[][][][][[I]]
KUNST-
HISTORISCHE
AUFSÄTZE
MIT 5 ABBILDUNGEN IM TEXT
UND 24 TAFELN
[figure]
MÜNCHEN/BERLIN: 1914
DRUCK u. VERLAG v. R. OLDENBOURG
[[II]][[III]]

GUSTAV VON BEZOLD
UND
FRIEDRICH VON BEZOLD
IN ALTER FREUNDSCHAFT

[[IV]][[V]]

Vorwort.


Die auf Anregung der Verlagsbuchhandlung hier ver-
einigten Aufsätze und Reden sind zum Teil vor
langer Zeit und meistens auf bestimmte Anlässe
hin konzipiert worden. Es schien deshalb nicht
ratsam, viel an ihnen zu ändern. Zum ersten
Stück bemerke ich, daß es als Beitrag für die »Kultur der
Gegenwart« schon 1904 niedergeschrieben war; der betreffende
Band wurde aber zurückgestellt und das ganze Sammelwerk
hat inzwischen einen anderen Charakter angenommen, insofern
ursprünglich den einzelnen Teilen ein viel engerer Rahmen zu-
gemessen war. Ausgeschieden habe ich aus der vorliegenden
Sammlung, was mir nur für einen engeren Kreis von Fach-
leuten Interesse zu haben schien: so fast alle meine architektur-
geschichtlichen Arbeiten (erschienen im Jahrbuch der Kunst-
sammlungen des preußischen Staates, im Repertorium für Kunst-
wissenschaft und in der Zeitschrift für Architekturgeschichte),
aber auch die Untersuchungen über die Glasgemälde des Straß-
burger Münsters (Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins n. F.
XXII 1907), die kritischen Beiträge zur Künstlergeschichte des
15. Jahrhunderts (Repertorium für Kunstwissenschaft XXXIII
1910), sowie die Aufsätze vermischten Inhalts, die ich in den
80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts hier und
dort, hauptsächlich in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung und
in den Preußischen Jahrbüchern, veröffentlichte. Meine größeren
Arbeiten haben mich lange Zeit bei der Architekturgeschichte
festgehalten; aus den vorliegenden kleinen Schriften wird man
erkennen, daß mein Interessenkreis doch eine größere Spann-
weite hatte, wenn es hier auch, wie immer, heißen mußte: ars
longa, vita brevis
.


Straßburg im März 1914
Der Verfasser.

[[VI]][[VII]]

Inhaltsverzeichnis.


  • Seite

  • Die Kunst des Mittelalters: 1
    (Internationale Wochenschrift Jahrg. 1, 2 u. 3.)
  • Über die Grenzen der Renaissance gegen die Gotik 49
    (Kunstchronik, Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst,
    Leipzig 1900.)
  • Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte 61
    (Historische Zeitschrift Bd. 100.)
  • Historische Betrachtung über die Kunst im Elsaß 75
    (Historische Zeitschrift Bd. 104.)
  • Zu den Skulpturen des Bamberger Doms 91
    (Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen Bd. 11.)
  • Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrich II. 101
    (Historische Zeitschrift Bd. 95.)
  • Anhang: Burg Egisheim 114
  • Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit 119
    • a) Konrad Witz (Zeitschrift für bildende Kunst, Jahrg. 37.)
    • b) Der Ulmer Apostelmeister (Monatshefte für Kunstwissen-
      schaft, Jahrg. 5.)
  • Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom 131
    (Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen Bd. 30.)
  • Die Krisis der deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert 145
    (Archiv für Kulturgeschichte Bd. 12.)
  • Die Bauprojekte Nikolaus' V. und L. B. Alberti 163
    (Repertorium für Kunstwissenschaft Bd. 3.)
  • Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl 187
    Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen Bd. 17.)
  • Zur Geschichte der Buchstabenreform in der Renaissance. 197
    (Repertorium für Kunstwissenschaft Bd. 4.)

[VIII]Inhaltsverzeichnis
  • Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo 211
    (Der Kunstfreund, Beiblatt zum Jahrbuch der preußischen
    Kunstsammlungen Bd. 6.)
  • Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust 221
    (Goethe-Jahrbuch Bd. 7.)
  • Das Verhältnis der geschichtlichen zu den kunstgeschicht-
    lichen Studien 235
    (Preußische Jahrbücher Bd. 60.)
  • Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden? 247
    Karl J. Trübner, Straßburg 1900.)
  • Denkmalschutz und Denkmalpflege 261
    (Akademische Festrede Heitz u. Mündel, Straßburg 1905.)
  • Denkmalpflege und Museen 283
    (Kunstchronik N. F. Jahrg. 22.)
  • Zum Gedächtnis 295
    • a) Heinrich v. Geymüller (Kunstchronik N. F. Jahrg. 20.)
    • b) Victor Hahn (Monatsschrift der Deutschen in Rußland).

[[IX]]

Tafelverzeichnis.


  • Seite

  • Tafel 1. Kathedrale zu Reims: Maria und Elisabeth 100
  • Tafel 2. Dom zu Bamberg: Elisabeth und Maria 100
  • Tafel 3. Castel del Monte: Grundriß und Aufriß 118
  • Tafel 4. Schloß Egisheim 118
  • Tafel 5. Museum zu Straßburg: Die hl. Magdalena und Katharina
    von K. Witz 130
  • Tafel 6. Museum zu Basel: Der hl. Christophorus von K. Witz 130
  • Tafel 7. Museum zu Genf: Petri Fischzug von K. Witz 130
  • Tafel 8. Ulmer Münster: Archivoltfiguren vom Westportal 130
  • Tafel 9. Dom zu Köln: Zwei Apostel vom Grabmal des Erzbischofs
    Friedrich von Saarwerden 130
  • Tafel 10. Frankfurt: Domhof, Kreuzigungsgruppe von Backofen 144
  • Tafel 11. Wimpfen am Berg: Der Kopf Christi aus der Kreuzi-
    gungsgruppe von Backofen 144
  • Tafel 12. Dom zu Mainz: Hennebergdenkmal von Backofen 144
  • Tafel 13. Dom zu Mainz: Liebensteindenkmal von Backofen 144
  • Tafel 14. Dom zu Mainz: Gemmingendenkmal, unterer Teil 144
  • Tafel 15. Weimar: Petrus; Straßburg: Petrus 196
  • Tafel 16. Museum zu Straßburg: Jacobus 196
  • Tafel 17. Museum in Straßburg: Andreas 196
  • Tafel 18. Museum in Straßburg: Judas und Johannes 196
  • Tafel 19. Museum in Straßburg: Christus 196
  • Tafel 20. Rom: Fresco in Saint' Agostino: Jesaias 220
  • Tafel 21. Rom: Accademia di S. Luca: Wappenhaltender Putto 220
  • Tafel 22. Pisa: Die Einsiedler der Thebais. Nach Lasinio 234
  • Tafel 23. Pisa: Der Triumph des Todes. Nach Lasinio 234
  • Tafel 24. Pisa: Jüngstes Gericht und Hölle. Nach Lasinio 234

[[X]][[1]]

DIE KUNST
DES MITTELALTERS


1904


1
[[2]][[3]]

Das Mittelalter beginnt kunstgeschichtlich dort, wo
die griechisch-römische Kunst, auf ihrem eigenen
Boden abgestorben, im Schoße fremden Volkstums
in neue, abartende Entwicklungen eintritt. In
diesem allgemeinsten Sinne hat die abendländische
Kunst denselben Ausgangspunkt wie die byzantinisch-orientalische.
Verschieden ist aber hier und dort nicht nur das aufnehmende Me-
dium, sondern auch formal die Art der Verbindung. Im Osten trifft
die griechisch-römische Kunst mit einer anderen, die ihre eigenen,
sehr alten und sehr bestimmt gerichteten Überlieferungen hat,
zusammen. Die jungen Völker des Westens dagegen, Kelten und
Romanen, haben ihr nichts Eigenes und Fertiges entgegenzustellen.
Ihre Götter wohnten nicht in Tempeln, ihre Könige nicht in Pa-
lästen. Sie waren ohne Kunst. Von einer Vermischung zweier
Systeme, wie sie im Osten sich vollzog, ist bei ihnen nicht die Rede.


Gewiß, alles, was nachher die mittleren und neueren Zeiten
künstlerisch geleistet haben, bliebe unverständlich ohne die An-
nahme, daß irgendwo in einem sehr verborgenen Winkel der ger-
manischen Volksseele auch ein Keim zu künstlerischer Anlage
bereitlag. Nur bleibt er für uns unsichtbar. Er besteht lediglich
als potentielle Energie und mußte lange schlummern, bis er in
aktuelle sich umwandeln konnte. Phantasiebegabung zwar war
das letzte, was der germanischen Volksseele gefehlt hätte. Die
ihr natürlichste Form, sich auszudrücken, war aber die Dichtung;
übergreifend selbst auf Gebiete, die ihrem Wesen nach dem Ver-
stand gehören, wie Recht und Staat; nicht vorhanden war jene
feinere sinnliche Reizbarkeit, die zur bildenden Kunst führt.
Es will etwas sagen, daß der dreihundertjährige Zeitraum römischer
Herrschaft in Germanien für die Erziehung der Unterworfenen
nach der künstlerischen Seite völlig unfruchtbar blieb: über ein
bescheidenes Begehren nach Schmückung ihres Leibes, ihrer Be-
hausungen, Geräte und Waffen kamen sie nicht hinaus, und die
Formen, die sie in Gebrauch hatten, waren von früh auf aus dem
Kunstkreise der Mittelmeervölker geborgt. Alles Suchen nach
einem ureigenen germanischen Formenschatz ist umsonst; was
man zuweilen dafür gehalten hat, besonders im Bereiche der Nord-
1*
[4]Die Kunst des Mittelalters
germanen, ist doch nichts anderes als barbarisiertes Lehngut, wenn
auch mit bestimmt gerichtetem eigenen Willen in der Art der Aus-
wahl und Abwandlung der Originale. Das Wesentliche ist das
Absehen von der Naturwirklichkeit, eine absolute Musik der
Linie. Auch die als Eroberer in die römischen Grenzen eindrin-
genden Stämme sind zur Kunst in kein aktiveres Verhältnis ge-
kommen; sie waren weitaus nicht die Zerstörer, die »Vandalen«,
zu denen die spätere Legende sie gestempelt hat; sie gründeten
ein Geschlecht von Herren, nicht von Handwerkern; sie nahmen
die Kunst hin als einen untrennbaren Bestandteil der vorgefun-
denen Kultur, aber kraft eigenen Geschmacks ihr Vorschriften zu
machen, lag ihnen fern. Genug, auch nach der germanischen
Eroberung wandelte sich die Kunst der lateinischen Länder genau so
ab, wie sie es ohne sie getan hätte.


Erst die um Jahrhunderte jüngere zweite Aussaat im Norden,
die von der christlichen Kirche unternommene, ging auf. Erst
jetzt kam die Zeit, wo der nordische Mensch auf die an ihn heran-
gebrachten Kunsteindrücke seelisch antwortete, wo er sie nach
seinem Sinne sich deutete, nach seinem Sinne umgewandelt
etwas Ähnliches und doch schon anderes hervorzubringen sich
gereizt fühlte. Zum erstenmal in greifbarer Gestalt tritt uns dies
neue Verhalten im Reiche Karls des Großen entgegen: hier ist schon
Mittelalter.


Zweierlei Veränderungen hatten sich inzwischen vollzogen:
die eine in der inneren Disposition des empfangenden Teils, der
Forschung verschlossen, aber notwendig vorauszusetzen; die
andere im überlieferten Stoffe selbst. Es handelte sich nicht
mehr um die echte Antike, sondern um die schon innerlichst ver-
wandelte, durch das Eindringen des wiedererwachten alten Orients
einer ersten Zerlegung und neuen Zielsetzung unterworfenen
Spätantike. Einen zweiten Zersetzungsprozeß leitete jetzt der
nordische Geist ein. War dies Geschäft vollbracht, so konnte
der Aufbau eines neuen Kunstkörpers folgen. Für das Verständnis
des Vorganges wesentlich ist, daß in der antiken Überlieferung
immer noch ein Rest von Leben geblieben war. Die Kunst des
karolingischen Zeitalters ist nicht Wiederbelebung, nicht
[5]Die Kunst des Mittelalters
Renaissance, wofür man sie öfters ausgegeben hat. Es ist nur in
sehr untergeordnetem Sinne wahr, daß sie nach rückwärts schaute;
in ihr wirkte noch ohne Unterbrechung der von der Antike kom-
mende Stoß fort, mit dem sich dann die neuen, bald als die stär-
keren sich erweisenden Kräfte verbanden.


Vermittlerin war, wie schon gesagt, die christliche Kirche.
Von ihr wurde die Rezeption verlangt, zugleich deren Maß vor-
geschrieben. Nur soviel, wie die Kirche von der antiken Kunst-
welt unter ihr rettendes Dach aufgenommen hatte, gewann Ein-
fluß auf die werdende mittelalterliche Kunst; was außerhalb
dieses Überlieferungsrahmens stand, war allerdings tot. Die
römischen Baudenkmäler, die in nicht geringer Zahl in den deut-
schen Rheinlanden, in größerer in verschiedenen Teilen Galliens
— von Italien nicht zu reden — sich erhalten hatten, sind kein
Faktor in der neuen Bewegung; nach wie vor sah der Barbar sie
mit blöden, verständnislosen Augen an; erst auf einer viel weiter
vorgerückten Stufe der mittelalterlichen Entwicklung haben sie
an einigen Orten etwas Renaissanceähnliches hervorgerufen. In
Betracht kommt für die Grundlegung nun: was brachte die christ-
liche Kirche von Kunstformen mit? Ein genaues Inventar davon
vermögen wir nach jetzigem Stande der Kenntnis nicht aufzu-
stellen. Sicher war der lateinische Okzident nicht die einzige
Quelle; jene große Transformation, in der die Antike im Orient
begriffen war, hatte frühzeitig, vor Karl dem Großen, ihre Wir-
kungen bis in die keltisch-germanische Welt, soweit sie christlich
wurde, hineinerstreckt. So ist denn nicht weniges von dem, was
uns als neu und unantik entgegentritt, gar nicht germanische,
sondern orientalische, dem Westen importierte Prägung. Die
Barbaren des Westens fühlten sich denen des Ostens in vielen
Punkten näher als beide der klassischen Antike.


So sehr die germanischen Völker zunächst als der bloß
empfangende, der anzutreibende und zu belehrende Teil erschienen,
lag doch bei ihnen die positive Kraft der Neubildung. Die irischen
Kelten, früher als die Germanen mit einer eigentümlich gefärbten
Kunst auftretend, erreichten sehr bald die Grenze ihrer Leistungs-
fähigkeit. In Frankreich zeigte sich anfänglich der Süden und
[6]Die Kunst des Mittelalters
der Westen dem halb germanisierten Norden überlegen, dann
aber trat dieser dauernd an die Spitze. Aber auch nicht das rein
romanische Blut ergab einen Vorzug. Die spezifisch mittelalter-
liche Kunst hatte ihren Herd in Deutschland, Nordfrankreich,
Burgund; in Italien beteiligte sich an ihrer Hervorbringung nur
der nördlich des Apennin gelegene Teil der Halbinsel, Rom schon
nicht mehr; Spanien hat eine originale Kunst überhaupt nicht
besessen.


National im eigentlichen Sinne ist indessen die Kunst des
Mittelalters niemals geworden. Nicht der Genius eines einzelnen
Volkes, wie im Altertum der hellenische, war Führer. Der Einheits-
punkt lag in einer Institution, die mit dem Begriff der Nationalität
nichts zu tun hatte, in der katholischen Kirche. Das auf Über-
lieferung beruhende Bedürfnis der Kirche hatte die Kunst ins
Leben gerufen; kirchlich blieb sie, solange sie mittelalterlich blieb;
das Emporkommen einer autonomen weltlichen Kunst ist eines
der ersten Zeichen des nahenden Verfalls der mittelalterlichen
Weltanschauung. Der Kirche verdankt die Kunst, daß sie nicht
in Anarchie verfiel; sie verdankt ihr ebenso die Stetigkeit ihrer
Fortentwicklung, denn es war der größte Segen für sie, daß sie
immer wieder an denselben Aufgaben sich zu üben und zu voll-
kommneren Lösungen sich emporzuheben hatte. Ebenso klar
ersichtlich ist freilich, daß die Verbindung mit der Kirche eine
Schranke bedeutete. Die Kirche hat ihre Oberhoheit zwar ohne
Engherzigkeit geübt; so umfassend, wie ihr Wirkungskreis ge-
nommen wurde, durfte als kirchliche Kunst vieles auftreten, was
unmittelbar mit der Religion nichts zu tun hatte; gleichwohl
blieb es bestehen, daß ein anderes Daseinsrecht, als das ihr die
Zwecke der Kirche gaben, für die Kunst nicht in Betracht kam.
Daher die Ungleichheit des Verhaltens in den verschiedenen Gat-
tungen. Unvergleichlich kräftiger und ergebnisreicher betätigte
sich der schöpferische Trieb in den tektonischen, als in den imi-
tativen Künsten. Jene, die stofflich indifferent sind, gestatteten
ein freies Ausleben der Phantasie. Auf diesen lastete die Autorität.
Das Bild, das der Maler und Plastiker hinstellte, war wieder nur
aus dem Bilde, dem überlieferten, nicht aus der Natur geschöpft.
[7]Die Kunst des Mittelalters
Die mittelalterliche Kunst ist der neuzeitlichen ebenso überlegen
in ihrer gewaltigen stilisierenden Potenz, wie unterwertig durch
ihre Naturfernheit. Einen Augenblick, auf ihrer Höhe im 13. Jahr-
hundert, schien es, als wollte sie auch nach dieser Seite zur Frei-
heit durchdringen; dann aber sank sie in Konventionalismus
zurück. Wer sie aufsuchen und schildern will, nicht in ihrer Be-
schränktheit, sondern ihrer schöpferischen Ursprünglichkeit, dort
wo sie wirksam blieb auf die nachfolgenden Zeiten bis herab auf
die unsrige, der hat in erster Linie die Baukunst und die mit dieser
unter gleichem Gesetz lebenden Kleinkünste ins Auge zu fassen.



Die Bauweise der germanischen Urzeit war reiner Holzbau;
ihr setzte sich der Kirchenbau als reiner Steinbau entgegen. Ein
stärkerer Gegensatz kann in der Welt architektonischer Möglich-
keiten nicht gedacht werden. Eine Vermischung trat nicht
ein; höchstens daß einige wenige aus der Behandlung des Holzes
sich ergebende Schmuckformen in den Steinbau sich einschlichen,
wozu wir aber z. B. das im romanischen Stil zu großer Verbreitung
gelangte Motiv des Würfelkapitells nicht rechnen möchten; auch
nicht die oft besprochenen Giebelchen als Ersatz für Bögen an
der Torhalle des Klosters Lorsch in einem sonst ganz antikisierenden
Formenensemble, da diese längst schon an altchristlichen Sarko-
phagen die gleiche Verwendung gefunden hatten. Der nationale
Holzbau wurde infolgedessen auf einer inferioren Stufe zurück-
gehalten: die Entwicklung der Baukunst als Kunst vollzog sich
allein im Steinbau. Für den autoritativen Charakter der Über-
lieferung ist das bezeichnend. Denn mit den konstruktiven Kennt-
nissen der Kirchenmänner, die jetzt als Bauleiter und Lehrer auf-
traten, war es schwach genug bestellt, und sie hatten große Mühe,
sich ihre Handwerker heranzuziehen. Immerhin, auch in der
rohesten Form hatte der Steinbau einen unersetzlichen Vorrang
in bezug auf Sicherheit und monumentale Würde. Der Fort-
schritt im Technischen nahm denn auch einen äußerst langsamen
Gang; erst mit dem Eintritt ins 12. Jahrhundert beschleunigte er
[8]Die Kunst des Mittelalters
sich; das dreizehnte sah in der Baukunst, wie auf allen andern
Gebieten des mittelalterlichen Kultursystems die Höhe. Immer
wird auch die Frühzeit für den Historiker kulturpsychologisch ein
großes Interesse bewahren. Wir wollen als ihre Grenzen in ab-
gerundeter Rechnung die Jahre 800 und 1000 annehmen. Sie als
bloße Übergangszeit einzuschätzen, halten wir für falsch: denn
gerade in ihr werden eine Anzahl der wichtigsten Grundlinien
für die Zukunft gezogen. Gegenüber der Spätantike, so gesunken
diese auch war, erscheint sie rauh und barbarisch; aber der müde
Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden;
eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im
Gange.


Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst
gingen die praktischen sachlichen Forderungen auf dem Wege
voran. Die Kirche hatte ein Recht, sich als die Achse in der vom
großen Kaiser neugeschaffenen Welt zu fühlen, und es gehörte
zu den Mitteln ihrer Herrschaft, daß dieses dem Volke sichtbar
werden sollte, wo immer sie sich feierlich zur Darstellung brachte,
in den Formen des Gottesdienstes, in der Gestalt des Gotteshauses.
Vor allem war der Abstand zwischen Geistlichkeit und Volk in
der liturgischen Ordnung schärfer herauszukehren, nicht mehr
bloß durch Schranken und Vorhänge, sondern durch eine neue
Gliederung des Gebäudes selbst; die Zahl der Altäre mehrte sich;
Reliquienkult und Wallfahrten wurden ein großes Wesen; vor allem
die tonangebend an der Spitze der Baukunst stehenden Klöster
hatten ihre besonderen Bedürfnisse. Die heilige Grundgestalt des
Gotteshauses, die Basilika, wollte niemand antasten, aber man
machte ihren Grundriß reicher, zusammengesetzter. Die fol-
genden neuen Motive sind die wichtigsten:


Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen
konzentrischen Seitenschiff umzogen, beide Raumteile durch
offene Bogenstellungen in Kommunikation; aus der Außenwand
kleine halbrunde Kapellen, radiant zum Kreiszentrum des inneren
Chors hervortretend. Diese Form — an welche älteren Vorformen
etwa anknüpfend, ist hier nicht zu erörtern — entstand spätestens
im 9. Jahrhundert in der großen Wallfahrtsbasilika zu Tours
[9]Die Kunst des Mittelalters
über dem Grabe des hl. Martin, des größten Heiligen der Franken.
Sie wurde die klassische Chorform des romanischen Stils im
westlichen, südwestlichen und zentralen Gallien; einzelne große
Kloster- und Pilgerkirchen des Nordens eigneten sie sich früh-
zeitig an, Burgund vom Ende des 11. Jahrhunderts ab; die Nor-
mandie kannte sie nicht, auch sonst kein außerfranzösisches Land
mit Ausnahme von Spanien; im gotischen Stil später erlangte
sie die größte Bedeutung.


Zweitens: Die Grundform des lateinischen Kreuzes, d. h. An-
lage eines Querschiffs, an das sich östlich ein rechteckiger Chor,
räumlich als Fortsetzung des Mittelschiffs gedacht, anschließt;
damit verbindet sich als Wesentliches die Festsetzung einer kon-
stanten Maßrelation zwischen den einzelnen Bauteilen in der Weise,
daß die Breite des Mittelschiffs der Breite des Querschiffs gleich-
gesetzt und das dadurch im Kreuzesmittel entstehende Quadrat
in der Ausmessung des Chors und der Kreuzflügel wiederholt,
häufig auch in der Abmessung des Langhauses zugrunde gelegt
wird, das dann als Summe mehrerer Quadrate erscheint. Die
Bedeutung dieser Neuerung gegenüber der unentwickelten und
schlaffen, nur selten überhaupt mit einem Querschiff begabten
Konfiguration der altchristlichen Basilika leuchtet ohne weiteres
ein. Sie ist typisch für das Ostfrankenreich. Im berühmten Bauriß
für Sankt Gallen vom Jahre 820 zum erstenmal sicher bezeugt,
doch gewiß um einiges früher schon entstanden. Für den deutsch-
romanischen Stil blieb sie während seiner ganzen Dauer ebenso
bezeichnend, wie die vorher betrachtete Form für den französisch-
romanischen.


Drittens: Der Grundriß des Ordens von Cluny: er erweitert
den zuletzt beschriebenen; der Hauptchor erhält Nebenchöre,
jeder mit einer apsidialen Nische geschlossen; ebensolche an der
Ostwand der Kreuzflügel, so daß ihre Zahl auf fünf steigt. Unter
dem Einfluß von Cluny dringt dieser Chortypus über Burgund
hinaus in andere Länder vor; in geschlossenen Gruppen erscheint
er in Deutschland (»Hirsauer Schule«) und der Normandie.


Viertens: Die Krypta; aus unentwickelten Vorformen des
altchristlichen Brauchs entsteht im 9. und 10. Jahrhundert die
[10]
Die Kunst des Mittelalters
bekannte Form einer halb unterirdischen Gewölbehalle, der be-
vorzugte Ort der Reliquienverehrung. Besonders den kreuzförmigen
Anlagen, deren Chor sie zu einer wirkungsvollen Bühne für den
Altardienst emporhebt, fügt sie sich glücklich ein und ist deshalb
in Deutschland, aber auch nur hier, ein unentbehrlicher Bestandteil
einer romanischen Kirchenanlage geworden. Der burgundisch-
kluniazensische Schulkreis (mit Einschluß der Hirsauer) lehnte sie
ab; auch im Westfrankenreich war sie wenigstens kein regel-
mäßiges Erfordernis.


Fünftens: Die Anlage eines zweiten Chors am westlichen
Ende des Gebäudes unter Verdrängung des traditionellen Eingangs;
meist mit eigener Krypta und nicht selten auch mit eigenem Quer-
schiff. Dieser Typus entfernt sich vom ursprünglichen Gedanken
der Basilika am weitesten. Nicht allein, aber am häufigsten kommt
er wieder in deutschen Kloster- und Domkirchen vor. Vom
12. Jahrhundert ab ist er im Rückgang.


Sechstens: Im inneren Aufbau vollziehen sich unter Bei-
behaltung der in der Idee der Basilika liegenden allgemeinen
Grundsätze folgende Veränderungen: an Stelle der leichten Back-
steinkonstruktion tritt massiges Bruchsteinmauerwerk; die Ar-
kadenöffnungen werden weiter, die Stützen niedriger und stärker;
die Säule wird häufig durch vierseitige Pfeiler ersetzt oder Säulen
und Pfeiler werden in einem bestimmten rhythmischen Wechsel
kombiniert; Zahl und Größe der Fenster, die einen Glasverschluß
nur selten empfangen, muß mit Rücksicht auf das nordische Klima
erheblich beschränkt werden; die Seitenschiffe erhalten häufig
ein zweites Geschoß, die Emporen, eine Einrichtung, die nach
dem Jahre 1000 etwa in vielen Schulen, z. B. fast in allen deut-
schen, jedoch wieder aufgegeben wird.


Siebentens: Die Türme, die dem frühchristlichen Kirchenbau
überhaupt gefehlt hatten und, als sie nach und nach in Aufnahme
kamen, als gesonderte Gebäude neben den Kirchen standen,
werden angegliedert, bald als Zentraltürme über dem Durch-
kreuzungspunkt des Querschiffs, bald als Fassadentürme, bald
in Kombination beider Motive.


[11]Die Kunst des Mittelalters

Die in diesen sieben Punkten enthaltenen Gedanken hat die
karolingische Epoche als reichen Rohstoff gleichsam aus den
Steinbrüchen gehoben; sie auszuarbeiten, zu verfeinern, zu beleben,
blieb die noch immer große Aufgabe der folgenden Jahrhunderte.
Ungeachtet der äußeren Anknüpfung an die altchristlichen Formen
wird der ästhetische Grundcharakter des romanischen Stils mit
einer schon früh sich zeigenden Entschiedenheit ein wesentlich
anderer: er ist gruppierender Massenbau von starker rhythmischer
Bewegung. Damit ist der Außenbau, der im Altchristlichen fast
rein nichts gewesen war, wieder in seine Rechte eingesetzt, ja in
der Blütezeit des Romanismus gehört ihm fast die größere Liebe.
Die Mannigfaltigkeit der Gestaltung ist zuerst in der Differenzierung
der Schulen, dann aber auch innerhalb der Schulen bei den ein-
zelnen Bauindividuen, eine so große, wie sie seither kein anderer
Stil mehr gekannt. Ein zweiter durchgehender Charakterzug
ist die monumentale Würde und sichere Kraft, selbstbewußt ohne
Ruhmredigkeit, ernst und gemessen auch in der Pracht, mit einem
unzerstörbaren Etwas von Vornehmheit selbst an technisch roh
geratenen oder zu kleinsten Abmessungen hinabsteigenden Bauten.
Keine moderne Nachahmung hat diese Stimmungswerte je er-
reichen können.


Am langsamsten gewannen die Zierformen ihre eigene Sprache
in der Zeit der Reife mit jener immer wieder anzustaunenden
Fülle des ornamentalen Wortschatzes. Das 9., 10. und 11. Jahr-
hundert waren noch sparsam im plastischen Detail. Man würde
sich jedoch irren, wollte man meinen, ihre Innenräume wären
nicht anders als so kahl und roh, wie sie heute erscheinen, be-
absichtigt gewesen. Die durchaus als notwendig empfundene
Ergänzung brachte die Malerei. Was der Baumeister nur halb
getan hatte, sollte der Maler weiterführen: die Flächen teilen,
Zwischenglieder herstellen, durch ornamentale Symbole die Lei-
stung der Bauglieder interpretieren, kurz, die ruhenden Massen
mit rhythmischem Leben erfüllen. Der Weg der weiteren Ent-
wicklung ist nun der, daß nach und nach der Steinmetz den Maler
ablöst. Was in der Frühzeit durch wage- und senkrecht gemalte
Bänder ausgedrückt worden war, für das treten Gesimse, Pilaster,
[12]Die Kunst des Mittelalters
Halbsäulen, kurz plastische Glieder; was den Kapitellen, Friesen,
Türbogenfeldern der Pinsel als Zierat gegeben hatte, wird in Meißel-
arbeit umgesetzt; Historienmalerei, figürliche Plastik und ornamen-
tale Kunst grenzen ihre Gebiete bestimmter ab, jedes auf dem
seinigen freier werdend, aber in der Wirkung sich unterstützend.
Die Existenz urgermanischer Formen ist unerwiesen und unglaub-
haft; die wahre Leistung des Mittelalters liegt in der Umdeutung
und Neubelebung dessen, was ihr die Antike, und zwar aus der
doppelten Quelle des Hellenismus und des Orients überliefert
hatte. Selbstverständlich konnte das ohne starke eigene Phantasie-
tätigkeit nicht zustande kommen. Nur zum kleinsten Teil gingen
die Motive direkt von der Baukunst auf die Baukunst über; weit-
aus zum größeren hatten sie gleichsam eine Seelenwanderung
durch den Körper anderer Kunstgattungen durchzumachen. In
der Frühzeit nahmen die Kleinkünste sie in Pflege, in Metall-
arbeiten, in Elfenbeinschnitzereien, in Fadenmalerei und Miniatur-
malerei waren die meisten Formen, deren sich die entfaltete Bau-
kunst bediente, schon von langer Hand vorbereitet. Weiterhin
hat sie die Dekorationsmalerei für den monumentalen Stil appretiert.
Und erst zum Schluß kehrten sie, nun aber völlig verwandelt,
zu dem der Baukunst eigensten Stoff, dem Stein, zurück. Um
das Ergebnis zu verstehen, muß man diese lange Folge technischer
Transformationen im Auge behalten. Es kam einer Neuschöpfung
gleich. Nur jugendliche Völker haben das Glück, das zu können.
Schon die Gotik war auf ornamentalem Gebiet weit unproduktiver.
Bildhauer von heute können romanisches Ornament nicht einmal
kopieren, es gerät ihnen unbegreiflich fade.


Neubildungen in Fülle! Aber immer noch im Rahmen des
Raumbildes und der Konstruktion der Basilika mit flacher Holz-
decke. An die Wurzel des überlieferten Systems griff erst die For-
derung der vollständigen Durchführung des Steinbaus, d. h. des
Übergangs von der flachen Holzdecke zum Gewölbe. Daß sie
nicht ausbleiben konnte, begreift sich leicht. Romanische Kirchen,
deren Holzdecken sich bis heute erhalten haben, gehören zu den
größten Seltenheiten, Brandnachrichten bilden in den Kloster-
chroniken eine stehende Rubrik. Nicht bloß von außen kam die
[13]Die Kunst des Mittelalters
Gefahr, durch Blitzschlag, Brandlegung in Kriegszeiten u. dgl.,
sie lag in der Einrichtung des Kirchengebäudes selbst, dessen
kleine, lichtarme, im Winter verschlossene Fenster zu ausgedehnter
Anwendung von Kerzen- und Lampenlicht hinführten. Von
der gewölbten Decke erwartete man praktisch größere Sicherheit,
ästhetisch den Eindruck größerer Monumentalität. Eine gewisse
Kenntnis der Wölbetechnik hatte sich erhalten, an den Halb-
kuppeln der Apsiden, in Krypten, Emporen, Kapellen wurde sie
überall geübt; zuweilen überrascht das Zustandekommen auch
größerer Gewölbebauten, die dann aber immer zentral disponiert
sind (wie z. B. S. Bénigne in Dijon, Ottmarsheim, beabsichtigt
in der Kapitolskirche in Köln, alles Bauten aus der ersten Hälfte
und Mitte des 11. Jahrhunderts). Die Schwierigkeit lag nicht
im Wölben an sich, sondern darin, daß die den Römern geläufig
gewesenen Gewölbeformen, an die man hätte anknüpfen können,
unvereinbar waren mit der Raumform der Basilika, die nun ein-
mal die historisch tief eingewurzelte, liturgisch wie künstlerisch
durch große Vorzüge gestützte Kirchenform war; denn die über
Pfeilern und Bögen schwebenden, oberwärts freiliegenden Hoch-
wände, wie sollten sie Gewölbe tragen, ohne durch deren Schub
seitlich auseinander geworfen zu werden?


So stand man vor dem Dilemma: das Gewölbe annehmen
und die Basilikenform fallen lassen — oder der Basilika treu-
bleiben und auf die Gewölbe verzichten. Verschiedene Schulen
haben sich hierin verschieden verhalten, lange Zeit ist mit wech-
selnden Versuchen hingegangen, die befriedigende Lösung brachte
erst das gotische System.


Das Auftauchen des Gewölbeproblems hatte aber noch eine
andere Folge, die eines Wandels im ganzen Baubetrieb. Wo sich
nicht, wie in Italien und vielleicht auch im südlichen Gallien,
alte Gewerkschaften erhalten hatten, da hatte die Geistlichkeit
die Leitung übernommen. Diese dilettantische Betriebsart ist in
den Folgen kenntlich genug; indessen unter den einfachen Be-
dingungen der Frühzeit genügte sie. Aber es kam die Zeit, wo mehr
verlangt werden mußte. Umsichtig regierte Klöster, wie Cluny
und Hirsau nebst ihren Anverwandten sahen sich schon genötigt,
[14]Die Kunst des Mittelalters
aus ihren Laienbrüdern Gesellschaften von Bauhandwerkern
berufsmäßig zu organisieren, womit alsbald bedeutende technische
Fortschritte sichtbar wurden. Das war aber nur eine Zwischen-
stufe. Der allgemeine Zug ging auf vollständige Laisierung. Und
das hieß zugleich Nationalisierung. Die Gleichförmigkeit der
früheren Jahrhunderte schwindet; je näher zur Höhe des Mittel-
alters, um so reicher werden die Differenzierungen, um so bestimmter
die Stilphysiognomien der einzelnen Landschaften. Versuchen wir,
so gut es mit wenigen skizzenhaften Strichen gelingen kann, die
Hauptcharaktere zu schildern.


Am weitesten in der Spaltung in regionale Sondertypen,
merkwürdigerweise ohne Schwächung der Triebkraft des ein-
zelnen Zweiges, ging das heutige Frankreich. Der damalige
Zustand unfertiger Rassenmengung und mangelnder Staatseinheit
erklärt diese Erscheinung wohl im allgemeinen, aber nur selten
in ihren konkreten Einzelheiten. Wo beim Bau eines einfluß-
reichen Klosters, einer vielbesuchten Wallfahrtskirche eine neue
technische oder künstlerische Entdeckung gemacht wurde, da
bildete sich für einige Zeit ein Schulmittelpunkt. Den Anlaß zu
einer durchgreifenden Scheidung der Schulen in zwei große Lager
gab die Wölbungsfrage, wobei die geographische Grenzlinie un-
gefähr dieselbe ist, wie zwischen der Sprache des oc und der
Sprache des oil. Das Gebiet der Langue d'oc ging mit raschem
Entschluß zur Wölbung über, etwa um das Jahr 1000, erheblich
früher als irgendein anderer Teil des Abendlandes; das Gebiet
der Langue d'oil verharrte bei der Flachdecke. Das 11. Jahr-
hundert hindurch bleiben die Gewölbebauten in der künstlerischen
Fassung roh und ungefüge; dann aber, in der Glut und Erregung
der Kreuzzugszeit gelingt ein neuer und großer Aufschwung.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Kreuzzug sind alle Meister-
werke des französisch-romanischen Stils entstanden. Freilich,
das Ziel der Wölbung war erreicht durch ein Opfer, auf dessen
Unvermeidlichkeit wir schon hingewiesen haben, durch das Opfer
der Basilika. Die unter den römischen Vorbildern gewählte Wöl-
bungsform war der nach der Längsachse des Gebäudes durch-
gehende Halbzylinder, das Tonnengewölbe; das System teils das
[15]Die Kunst des Mittelalters
des einschiffigen Saales, teils das der dreischiffigen Halle mit
parallelen Tonnen. Das Holz wurde in dieser Bauart so voll-
ständig ausgeschlossen, daß man selbst die Dächer aufgab, mit
steinernen Platten über dem Gewölberücken sich begnügte. Die
Mauern ungeheuer mächtig, die Fenster über Bedarf klein. Da
die letztere Erscheinung sich auch an den Basiliken Italiens und
Spaniens wiederholt, muß man annehmen, daß in jenem Zeit-
alter dunkle Stimmung der Innenräume von den Menschen des
Südens geflissentlich aufgesucht wurde als etwas die Andacht
Beförderndes. Das 12. Jahrhundert behielt in Südfrankreich die
obengenannten Systeme bei, aber es veredelte sie durch ein Raum-
gefühl, von dem man jahrhundertelang nichts gewußt hatte. Diese
einfachen, ruhevollen, wohlgestimmten Verhältnisse sind Ergebnis
eines neuerwachten Verständnisses für den in jenen Gegenden
noch aus zahlreichen Denkmälern sprechenden antiken Kunst-
geist; gleichzeitig wird das antike Detail wieder aufgenommen
und mit überraschender Feinfühligkeit, zuerst genau, dann freier
nachgebildet. Der Schauplatz dieser Protorenaissance ist die Mittel-
meerküste und das Rhonetal mit Ausläufern nach Burgund;
darf man etwa sagen, das griechische Blut sei hier noch nicht
verbraucht gewesen? — Wesentlich ein anderes Naturell, ein
keltisch gefärbtes, gibt sich in Aquitanien und im Poitou zu er-
kennen. Hier wird die dreischiffige Hallenanlage, mit gleicher
Höhe aller Schiffe, bevorzugt. Im Innenraum bleibt sie bedrückt
und dumpf, in einer unbeschreiblich fremdartigen, barbarischen
Stimmung; das Äußere prunkt in einem Überschwall von Zier-
formen; ihre Bildung ist weichlich und üppig, dabei ein Hang zur
Anhäufung spukhaft monströser Tiergestalten, deren Vorbilder,
durch Vermittelung sassanidischer Gewebe, aus der altorienta-
lischen Vorratskammer der Phantastik herstammten. Eine überaus
merkwürdige Umbildung des einschiffigen Saales vollzog sich in
der Landschaft Périgord: das Tonnengewölbe wurde durch eine
Folge von sphärischen Kuppeln ersetzt. Auch diese sind ein Er-
werb aus dem Osten, von den Kreuzfahrern mitgebracht; aber
nur als Element; Komposition und Geist der perigordinischen
Kunst ist nicht byzantinisch; es entsteht ein Bautypus von hoher
[16]Die Kunst des Mittelalters
Eigentümlichkeit, der in manchen Denkmälern eine rigorose Er-
habenheit erreicht, mit der sich in der Baukunst aller Zeiten und
Völker weniges vergleichen läßt. — Wieder ein anderes, sehr
prägnantes Gebilde entstand im zentralen Berglande der Auvergne.
Das innere System ist das der Hallenkirche mit Hinzufügung von
Emporen über den Abseiten; es zeichnet sich konstruktiv durch
große Festigkeit aus und nähert sich auch im Raumbilde einiger-
maßen wieder der Basilika. Künstlerisch reifer ist die Außen-
ansicht; durch Verbindung des Kapellenchors mit einem hohen,
staffelförmig gegliederten, von einem achteckigen Turm gekrönten
Querschiff gewinnt sie eine plastische Massengliederung von un-
gewöhnlichem Reiz. Der Typus blieb auch nicht auf seine auverg-
netische Heimat beschränkt. Einige hochberühmte Wallfahrts-
kirchen — S. Fides in Conques, S. Saturnin in Toulouse, S. Jago
in Compostella — gaben ihm weitere Ausbreitung. Alle diese
Schulen waren denen Nordfrankreichs und überhaupt dem ganzen
übrigen Europa voraus im konstruktiven Denken wie in der glanz-
voll gestaltenreichen Formphantasie. Aber sie hatten sich von
der gemein europäischen Entwicklung abgesondert. Bald nach
Erreichung ihrer höchsten Blüte gegen die Mitte des 12. Jahr-
hunderts sterben sie ab, ohne einen triebkräftigen Samen zu
hinterlassen.


Unter den Schulen Nordfrankreichs sind Isle de France,
Champagne und Picardie, der Heimatboden des künftigen gotischen
Stils, in der romanischen Epoche verhältnismäßig die schwächsten.
Ihr Stil ist eklektisch, am meisten verwandt dem der westlichen
Rheinlande. Von 1100 ab werden Versuche im Gewölbebau an-
gestellt, doch nur in kleinerem Maßstabe; im ganzen herrscht die
Flachdecke bis 1150. Nur die beiden an den Flügeln stehenden
Schulen, die burgundische und die normannische, waren dem Süden
ebenbürtig in der Kunstkraft, überlegen im Einfluß nach außen.
— Von Burgund gingen die beiden großen abendländischen Kloster-
reformen aus, die kluniazensische und die zisterziensische. Beide
propagierten wo nicht einen eigenen Stil, so doch ein bestimmt
formuliertes Bauprogramm; auch lehrten sie, darin zumal für
Deutschland wichtig, eine bessere Mauertechnik. Das Urbild
[17]Die Kunst des Mittelalters
der Kluniazenserkirchen wurde gegeben durch den Bau des Abtes
Majolus vom Jahre 981. Hundert Jahre später wurde er abge-
brochen unter Abt Hugo dem Großen und ein ganz kolossaler,
überaus prächtiger Neubau errichtet, das größte Kirchengebäude,
das in der romanischen Epoche überhaupt entstanden ist. Er er-
langte nicht mehr den gleichen internationalen Einfluß wie die
ältere Kirche. Gleichwohl ist er ein baugeschichtlicher Merkstein
dadurch, daß in ihm das Problem der Einwölbung der Basilika
zum erstenmal seine Lösung fand. Cluny war der Mittelpunkt
der jüngeren burgundischen Schule, die durch Größe der monu-
mentalen Gesinnung und vornehme künstlerische Kultur zu ihrer
Zeit, d. i. in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, den höchsten
Platz in der abendländischen Baukunst einnahm. In eigentüm-
licher Weise klingen in ihr Vorahnungen so der Gotik wie der
Renaissance zusammen: an jene erinnert die Raumgestaltung
und der Gliederbau im großen, an diese der Formenapparat. Nur
die konstruktive Lösung konnte nicht ganz befriedigen, da das
Wagnis der Überspannung des Mittelschiffes mit einem durch-
laufenden Tonnengewölbe als zu kühn sich erwies. — Der Auf-
schwung der normannischen Schule datiert von der Klosterreform
durch Abt Wilhelm von Fécamp. Er brachte von Cluny die Grund-
rißdisposition und die Doppeltürme der Fassade. Im übrigen ent-
wickelte sich die normannische Bauart selbständig. Ihr eignet
feste Willenskraft und klarer Verstand. Der Gedanke der Wöl-
bung, und zwar der Wölbung der Basilika, begann sie schon bald
nach der Mitte des 11. Jahrhunderts zu beschäftigen; hohe Em-
poren sollten die Mittelschiffswände gegen den Gewölbedruck sichern.
Indessen kamen die Hauptgewölbe nicht zur Ausführung; aber die
Emporen, die starken Bündelpfeiler verblieben dem System und
gaben ihm sein straffes und wehrhaftes Aussehen; dazu ein Detail,
dem antike Erinnerungen, überhaupt das Pflanzenornament,
gänzlich fremd waren, das nur mit starren geometrischen Formen,
mit Ecken und Spitzen, Schuppen und Kerben, Zacken und
Sternen operierte, das aus Eichenholz geschnitzt und aus Eisen
geschmiedet zu sein schien; der stärkste Gegensatz zu dem weich-
lichen, qualligen Formcharakter des Südwestens; ob aber im
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 2
[18]Die Kunst des Mittelalters
Zusammenhang mit altgermanischen Erinnerungen, ist eine schwer
zu beantwortende Frage. Mit den Normannen ist dieser Stil
übers Meer gegangen und hat sich die britische Insel so vollständig
unterworfen, daß dort von einem Nachleben sächsischer Art nichts
zu entdecken ist.


Über Italien ist im Rahmen dieser Übersicht nur kurz
zu sprechen. Es zeigt ein nicht weniger vielgestaltiges Bild als
Frankreich, aber nicht aus Überfluß an spontanen Trieben, sondern
aus Mangel an Widerstandskraft gegen fremde Einflüsse. Wo
diese nicht hinkamen, da war lange Zeit nur Stagnation und Ver-
wilderung. Der Dom von Pisa, 1063 begonnen, aber zu nicht
geringem Teile erst im 12. Jahrhundert ausgeführt, gibt das erste
Beispiel eines höheren Lebensgefühls, das in einem Hauptpunkt
mit der Tendenz der nordalpinen Länder, ohne von ihr abzu-
hängen, übereinstimmt: in der mit dem Innern gleichartigen
Behandlung des Außenbaus. Bis tief ins 13. Jahrhundert zehrt die
toskanische Architektur von den hier gegebenen Gedanken, zu
denen nur die Florentiner, durch selbständige Beobachtung und
Deutung der Antike — wie in Südfrankreich ein verfrühter Anlauf
zur Renaissance — einige neue Züge hinzubrachten. In Rom
wußte man nichts anderes, als die gebrechlichen Basiliken der
alten Zeit immer wieder aufs neue auszuflicken mit Bausteinen
aus dem antiken Trümmerfelde. Den ersten Platz, wenn nach
Menge und Glanz der Bauwerke zu urteilen wäre, dürften Apulien
und Sizilien beanspruchen, aber es fehlte zugleich Einheit und
Konsequenz; byzantinische, arabische, normannische, pisanische
und lombardische Motive geben mit älteren lokalen Erinnerungen
das bunteste Durcheinander. Fühlung mit den Bestrebungen
jenseits der Alpen hatte nur die Lombardei. Hier kam um dieselbe
Zeit wie in Burgund und am Rhein die Wölbung der Basilika
zustande. Es scheint, daß Versuche mit dem Hallensystem vor-
ausgegangen waren; ob als selbständige Erfindung oder als Import
aus Südfrankreich, ist nicht festzustellen. Der Vorzug des lom-
bardischen Systems ist seine große Festigkeit, sein Mangel die
befangene Raumbildung. Diagonalrippen und Strebemauern sind
bekannt, also der Idee nach ein Analogon zu den Anfängen des
[19]Die Kunst des Mittelalters
gotischen Stils: aber es wurden keine weiteren Folgerungen daraus
gezogen. Das Äußere ist Backsteinrohbau, sehr massig, in den
Gliederungsmotiven unorganisch. Aus der lombardischen Archi-
tektur spricht trotzige, schwere Größe, sehr selten Anmut. Man hat
ihre Hauptwerke — aus dem 12. Jahrhundert — lange für weit
älter gehalten als sie sind.


Im Vergleich mit Frankreich und Italien zeigt Deutsch-
land
im romanischen Stil ein einheitliches Bild; ein einheit-
licheres als nachmals im gotischen; die Entwicklung der beiden
Länder bewegte sich in dieser Hinsicht entgegengesetzt. Und
die deutsche Baukunst hatte, um nicht in primitiver Roheit
stecken zu bleiben, die Einheit auch viel nötiger. Ein doch nicht
ganz geringes Verdienst um sie möchten wir den Königen zu-
schreiben, teils durch die zahlreichen bedeutenden Kirchenbauten,
die sie unmittelbar beförderten, vielleicht noch mehr durch ihre
engen Beziehungen zur hohen Geistlichkeit. Großenteils aus dem
Hofklerus gingen die Bischöfe, das will sagen, die großen Bauherren,
hervor; im Dienste des Königs waren sie weit gereist, hatten sie
viel gesehen; auf der damaligen Entwicklungsstufe konnte der
wandernde Hof mehr für die Zirkulation der künstlerischen Ge-
danken und Kräfte tun, als es einer festen Hauptstadt möglich
gewesen wäre. Die größten Bauunternehmungen liegen in der
Zeit vor dem Investiturstreit; was in Mainz, Worms, Speyer,
Straßburg, Limburg, Hersfeld, Würzburg, Bamberg, Regensburg,
Magdeburg, Hildesheim, Bremen damals geschah, durchweg
durch Männer, die zum Hofe in naher Verbindung standen, ist in
der Größe der Intention im 12. Jahrhundert nicht wieder erreicht
worden. Einen gewissen Erfolg in anderer Form brachte die mit
Cluny zusammenhängende Hirsauer Schule, die vor allem für
Süddeutschland wichtig wurde, aber auch bis nach Thüringen
und Sachsen ihren Einfluß erstreckte. Im ganzen liegt doch die
beste Kraft des deutschen Bauwesens im sächsischen und frän-
kischen Stamm. Gegen das Ausland ist Deutschland in dieser
Zeit abgeschlossen, die Verbindung mit dem Westfrankenreich war
abgebrochen; mehr, doch auch nicht tiefgreifende Beziehungen
bestanden zu Italien. Die lombardischen Wanderarbeiter waren als
2*
[20]
Die Kunst des Mittelalters
Kenner der Steinbearbeitung geschätzt und brachten auch manche
neue Schmuckformen mit.


Die sächsischen Bauten gehen selten über mittlere Größe
hinaus; ihr Wert liegt in der klaren Grundrißdisposition — durch-
weg im Sinne des lateinischen Kreuzes —, den harmonischen
Raumverhältnissen, der sorgfältigen, maßvollen, in der Zeit der
Reife glänzenden, aber aller Phantastik abholden Einzelbehandlung.
Die Schwaben und Bayern, soweit sie nicht durch die Hirsauer
Schule auf neue Bahnen geführt werden, bleiben in altertümlichen,
schwach gegliederten Anlagen befangen und ihr Formensinn neigt
zum Derben oder Grotesken; kleine Architekturbilder von maleri-
scher Tendenz gelingen ihnen am besten.


Die rheinische Kunst erreicht die Meisterschaft in der groß-
artigen Gruppierung vieltürmiger Anlagen, wofür die Dome von
Mainz, Worms, Speyer (Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr-
hunderts umgestaltet) und zahlreiche Kirchen des Niederrheins all-
bekannte Beispiele geben. Hier auch wurde mit dem Gewölbebau
begonnen. Gleich mit Aufgaben ersten Ranges. An der Spitze
stehen die von Kaiser Heinrich IV. umgebauten Dome von Speyer
und Mainz. Ihr System ist das der Basilika mit Kreuzgewölben.
Das große Problem wurde also fast gleichzeitig mit Cluny in An-
griff genommen, für den Durchschnittsstand der deutschen Bau-
kunst vorerst noch zu kühn. Größere Verbreitung gewann der
Gewölbebau selbst in den Rheinlanden erst 50 Jahre später.
Bis er in Schwaben und Sachsen Wurzel faßte, vergingen weitere
50 Jahre, und noch immer verdrängte er die Holzdecke nicht ganz.
Zunächst war der Fortschritt ein unzweideutiger auch nur im
Praktischen; künstlerisch war das deutsche System, das sog.
gebundene, wenig ausgiebig.


So wurde am Schluß des 12. Jahrhunderts — das erstemal,
daß es in einer Hauptfrage geschah — die Erfahrung des Auslandes
zu Hilfe gerufen. Bis dahin hatte sich die deutsche Baukunst,
nach der großen Rezeption in der Karolingerzeit, wesentlich aus
eigener Kraft fortgebildet. Aus fremden Kunstkreisen nahm sie
gelegentlich ornamentale Anregungen an, wie die Handelsartikel
[21]Die Kunst des Mittelalters
der Kleinkunst sie vermittelten, oder allgemein gehaltene Vor-
schriften des Bauprogramms, wie sie die Kluniazenser und Zister-
zienser mitbrachten, oder es wurden italienische Maurer in Dienst
gestellt. Das alles griff nicht tief. Etwas anderes ist es mit der
jetzt angeknüpften Beziehung zur nordfranzösischen Schule. In
dieser waren wichtige konstruktive Entdeckungen im Gange.
Daß sie die Entstehung eines ganzen neuen Stils in sich schlossen,
wurde schwerlich erkannt. Jedenfalls ging die Absicht der Deut-
schen, indem sie Schüler der Franzosen wurden, nicht nach dieser
Richtung. Sie eigneten sich nicht das französische System im
ganzen an, sondern nur so viel herausgegriffene Glieder desselben,
als nötig schien, ihren eigenen Kompositionen mehr Bewegungs-
freiheit zu schaffen. Hiermit tritt der romanische Stil in seine
letzte, blühendste Phase. Man bezeichnet sie nach alter Gewohn-
heit noch immer als die Phase des Übergangsstils, obgleich die
diesem Namen zugrunde liegende historische Konstruktion als
irrig erkannt ist. Zum Schönsten dieses sog. Übergangsstils gehört
eine von Köln ausgehende, um und nach der Wende des 12. zum
13. Jahrhunderts entstandene Gruppe von Kirchen (Apostelkirche,
Groß-S. Martin, S. Quirin in Neuß u. a. m.), die sehr verschieden
vom gotischen Gedanken, in freier Weise an antike Nischensysteme
anknüpfen. So hat auch Deutschland eine Art Protorenaissance
gehabt. — Ein Hauptinteresse des Spätromanismus betrifft die
Detailformen. Diese verlieren nun den letzten Rest von dem
strengen und wortkargen Wesen der älteren Zeit. Geschmeidige
Kraft, Fülle ohne Unruhe, leichter Fluß der ornamentalen Er-
findung, schöne Sicherheit des plastischen Ausdrucks und vor
allem ein unbeschreibbarer, bis auf den heutigen Tag nicht ver-
flüchtigter poetischer Duft, dies zusammen läßt die Hohenstaufen-
zeit als die glücklichste in der Geschichte der deutschen Baukunst
erscheinen, jedenfalls als die Zeit, in welcher die Begriffe der
Vornehmheit und der Volkstümlichkeit in erfreuliche Nähe gerückt
waren; vornehm von Geburt und Sitte waren die Bauherren, aus
dem Volke kamen und in beneidenswerter Naivetät schufen die
Künstler. Volkstümlich ist die deutsche Kunst noch einmal, im
15. und frühen 16. Jahrhundert, gewesen, aber nicht mehr vor-
[22]Die Kunst des Mittelalters
nehm. Und vornehm noch einmal im 18. Jahrhundert, aber
nicht mehr volkstümlich.


Ein bedeutsamer Zug in der künstlerischen Kultur des Jahr-
hunderts der Staufen ist endlich das Eindringen künstlerischer
Absichten in den Wohnbau. Voran gingen die Klöster mit ihren
Refektorien, Kapitelsälen und Kreuzgängen. Doch konnte es
sich hier nach der Natur der Sache nur um Innenarchitekturen
handeln. Heitere und glänzende Repräsentation nach außen
kennzeichnet den vornehmen Profanbau. In der Burg waren der
Entfaltung dieser Tendenz bestimmte Grenzen gesetzt, doch wird
man nicht übersehen dürfen, daß auch die unmittelbar dem Wehr-
zweck dienenden Teile in der schönen und mächtigen Behandlung
der Quadertechnik und der ausdrucksvollen Führung der Sil-
houetten mit Bewußtsein auf den ästhetischen Eindruck ab-
gestimmt wurden. In den Städten greift der Steinbau um sich.
Das Patrizierhaus ist nicht mehr unter allen Umständen Stadt-
burg, ein neuer Typus mit offenen Fensterreihen und hohen
Giebeln, der Anfang zum Bürgerhaus des späten Mittelalters,
bahnt sich den Weg. Ja es nehmen sogar in Stadtbefestigungen
hier und da die Tore einen Charakter mehr des festlichen Emp-
fanges als der Abwehr an.



Das mittelalterliche Kultursystem war in die Phase sommer-
licher Reife getreten, als ein neuer Stil, der gotische, geboren
wurde. Neu ist er freilich nur bedingungsweise zu nennen. Er
tritt nicht in Opposition zu den Zielen der bisherigen Entwicklung,
es ist vielmehr das Hauptproblem derselben, die Gewölbebasilika,
das er mit vollkommeneren Mitteln zu lösen unternimmt. Der
Vielheit nationaler und landschaftlicher Varianten, in die der
romanische Stil immer mehr sich auseinandergelegt hatte, macht
er ein Ende; er siegt als künstlerischer Ausdruck des eben damals
kräftig vordringenden Einheitsstrebens im Geistesleben der abend-
ländischen Völker. Obgleich in seinem Ursprung landschaftlich
scharf begrenzt, ist er nach seiner Tendenz kosmopolitisch.


[23]Die Kunst des Mittelalters

Der gotische Stil nimmt seinen Ausgang vom konstruktiven
Gebiet, und zwar von einer bestimmten Einzelfrage. Wie ist die
Form des Kreuzgewölbes gemäß den Bedingungen des basilikalen
Aufbaues zu verbessern? Zugleich materiell fester und formell
biegsamer zu machen? Das vollentwickelte gotische Gebäude ist
in seiner Erscheinung unsäglich kompliziert, und doch sind die
Grundgedanken einfach und von so geschlossener Fügung, daß sie
sich in eine kurze, dreigliedrige Formel zusammenfassen lassen:
Konzentration des Gewölbedruckes auf die Eckpunkte mittels
selbständig gemauerter Diagonal- und Randbögen; Einführung
des Spitzbogens als desjenigen, der den geringsten Seitenschub
ergibt und für das Verhältnis von Grundlinie zu Scheitelhöhe
freie Wahl gestattet; Widerlagerung durch ein selbständiges
Strebesystem. Einzeln waren diese Formen schon alle, auch der
Spitzbogen, in der romanischen Baukunst verschiedener franzö-
sischer Schulen vorgekommen, das Neue liegt in ihrer Verbindung.
Daraus entwickeln sich alle übrigen Eigenschaften des Systems
mit fast naturgesetzlicher Folgerichtigkeit. Wurden die tragenden
Mauern für die Last des Gewölbes nur intermittierend von Punkt
zu Punkt in Anspruch genommen und wurde an jedem Punkt
der auf ihn wirkende Druck in eine seitliche und eine senkrechte
Komponente gespalten, so daß nur noch die letztere in Frage
kam, dann konnte auch die Mauer, ähnlich wie schon das Ge-
wölbe, zerlegt werden in aktive und passive Bestandteile, in solche,
welche struktive Arbeit leisten und solche, welche lediglich zum
Raumabschluß dienen. Die letzteren sind für die Stabilität des
Gebäudes entbehrlich. Sie werden angewendet, nur wo andere
Zwecke es erheischen, vor allem an der Decke; dagegen die Wände,
welche jetzt nur noch Füllungen zwischen Pfeilern sind, können
so vollständig von den Fensteröffnungen absorbiert werden, wie
man jeweils für gut befindet. Es war gleichsam eine Ehrenfrage
für das System, darin bis an die letzte Grenze zu gehen. Gewiß
hätte man sich soweit nicht vorgewagt, hätte nicht eine andere
inzwischen ebenfalls vervollkommnete Technik ihre Dienste an-
geboten: die Glasfabrikation. Das Korrelat zur Auflösung der
Steinwände ist ihr Ersatz durch Glaswände. Sie sollen aber nicht
[24]Die Kunst des Mittelalters
bloß vor Wind und Wetter schützen, sie haben auch eine ästhe-
tische Aufgabe. Ein Raum ohne Wände, ohne solche, die das
Auge als Raumgrenze empfindet, wäre ästhetisch ein Wider-
spruch in sich selbst. Es darf also die verglaste Fensteröffnung
nicht als ein Leeres erscheinen. So wird sie mit einem Gitter-
werk feiner steinerner Stäbe und Bögen ausgestattet, und die
Glastafeln werden gefärbt. Damit ist der zerstörte Flächen-
zusammenhang wiederhergestellt, sind gleichsam Teppiche zwischen
den Pfeilern ausgespannt von unerhörter Farbenpracht, durch-
lässig für das von außen eindringende Licht, eine Schranke für
das von innen vordringende Auge des Beschauers. Nichts mehr
im Steinwerk ist ruhende Masse (außer den Gewölbekappen),
alles Bewegung. Und diese teilt sich dem Raumbilde selber mit,
das sich nun gewaltig in die Höhe reckt. Neben allem, was un-
mittelbar im System liegt, sind die Veränderungen in den Pro-
portionen, dann aber auch in der Beleuchtung wesentliche Momente
in der Wandlung der Grundstimmung vom Romanischen zum Go-
tischen. Äußerste Vervielfältigung der Einzelglieder, Steigerung der
Höhen, Verringerung der Durchmesser, Schweifung der horizontalen
Linien, Verlegung des Gemäldeschmucks in die Fenster und Durch-
flutung des Raumes mit farbigem Licht; damit ist die Basilika,
obschon in den allgemeinsten Bestimmungen unverändert, doch
zu einem völlig neuen ästhetischen Charakter umgebildet. Die
Gotik ist in den Mitteln, die sie anwendet, ganz Logik, im Ge-
fühlsausdruck ganz Mystik. Kann ein vollkommeneres Symbol
der mittelalterlich-kirchlichen Weltanschauung als in dieser Syn-
these gedacht werden?


Noch eine andere Seite in der geschichtlichen Stellung des
gotischen Stils, die wir hier freilich nur ganz eilig streifen können,
verlangt gewürdigt zu werden. Sie bedeutet ein sehr merkwür-
diges Kapitel in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Wir
wissen, wie sehr den nordischen Völkern der Steinbau ursprünglich
etwas Fremdes und Mühsames war. Bis zum Jahre 1100 bleibt
der Mauerbau schlecht gefugt, die Meißelführung ungelenk. Von
dann ab ist der Fortschritt rapid, mit unverkennbarer Über-
legenheit der Romanen. Der gotische Stil ist recht eigentlich ein
[25]Die Kunst des Mittelalters
Triumph der Arbeit, und er stellt seinen Sieg über die Materie
mit heller Freude ins Licht. Kann man in runder Summe sagen,
daß ein gotischer Bau im Vergleich zu einem gleich großen ro-
manischen dreimal weniger Material braucht, so erfordert er das
Zehnfache an Arbeit. Der gotische Stil wurde nur möglich durch
einen großen Umschwung aller gewerblichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse. Die Entstehung des gotischen Stils fällt zusammen
mit den Anfängen der Geldwirtschaft. An die Energie, mit der
die neuen, nach modernem Maßstab noch immer sehr unvoll-
kommenen Hilfsmitteln ausgenutzt wurden, kann nicht ohne größte
Bewunderung gedacht werden.


Der gotische Stil zeigt sich vom romanischen durch einen tie-
feren Einschnitt nur dort getrennt, wo er als ein fremder eindrang.
Im Lande seines Ursprungs, in Nordfrankreich, ging er in fließen-
dem Übergange aus den älteren Zuständen hervor. Die Schule
der Isle de France war länger als irgendeine andere im Franken-
reich dem Wölbungsproblem ausgewichen; frühestens um 1100
hatte sie, in noch rein romanischen Formen, mit ihren ersten Ver-
suchen begonnen, und schon 1140 erstand der Bau, der den Ruhm
genießt, der Erstgeborene des gotischen Stils zu sein, die Abtei-
kirche St. Denis. Nebenher hatte auch in mehreren Nachbar-
schulen der gotische Kerngedanke, d. i. das Kranzrippengewölbe,
zu keimen begonnen, in der Normandie, im Anjou, in Nordbur-
gund. Entscheidend war doch, daß die frankopicardische, dank
einer eben jetzt einsetzenden, ungemein regsamen Bautätigkeit,
sich an die Spitze stellen konnte. Überall sonst war eine gewisse
Sättigung eingetreten durch die großartigen Leistungen der ersten
Hälfte des Jahrhunderts: hier im Norden war noch alles nach-
zuholen. Die Erfahrungen der älteren Schulen hatte man zur
Verfügung, man hatte frische Kräfte und freie Bahn. Die Schnel-
ligkeit, mit der das neue System sich entfaltete, mit der der Ge-
dankenprozeß sofort in Taten sich umsetzte, stellt das Werden des
gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß
der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind
alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden
sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa
[26]Die Kunst des Mittelalters
dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammenge-
nommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in
dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch
keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer
Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte.
Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in
einem einzigen Kopfe fertig dagelegen, während es doch die
stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht
prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.


Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis
zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt,
wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite
Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch
einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier
Phasen erhalten: Frühzeit 1140 - 1200; klassische Vollendung
1200 - 1270; doktrinäres Beharren 1270 - 1400; Auflösung und
letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 - 1550. Die letzte
Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im
Rahmen des Mittelalters.


Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem
Grundriß, wie üblich, so zeigt sich, daß die neuen Bestrebungen
mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend;
auffallend oft wird die auf dem Wege über die südlichen Nieder-
lande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch
ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spe-
zifische ist das System des Aufbaues. Das Prinzip der Zerlegung
ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als
die Intervalle sowohl in wagerechter als in senkrechter Richtung
kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet)
stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erd-
geschoßarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen
Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die
Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt.
Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.


Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoß
wird ausgeschaltet, der Aufbau auf den Dreiklang gestimmt.
[27]Die Kunst des Mittelalters
Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut.
Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerk-
gliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die
Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriß gewinnt eine
Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus,
fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine
Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen
Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am groß-
artigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen
von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218)
ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende
Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am
weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens,
schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Quer-
schiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathe-
drale von Paris.


Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in
schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut
zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben
werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung.
Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in
dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten
Westens für die Gotik gewonnen.


Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa.


Nicht zu vergessen ist hierbei, daß dem Siege der Gotik ein
merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausge-
gangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence
und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands,
hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Proto-
renaissancebewegung in Gang gekommen. Daß sie zurückgedrängt
wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der
Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein,
er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf
vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang.


Es ist sicher, daß der Übergang vom romanischen zum goti-
schen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch
[28]Die Kunst des Mittelalters
Berührung mit einer aus Frankreich kommenden Strömung.
Gerade für die erste Ausbreitung aber zeigt es sich wichtig, daß
in Frankreich die Wendung zur Gotik in mehreren Schulen gleich-
zeitig und in verschiedenen Formen ausgelöst worden war. Zu
Anfang war keineswegs die (im engeren Sinn) französische, d. i.
nordfranzösische Schule, deren überragende Bedeutung für die
innere Entwicklung unbestritten ist, auch die einflußreichste in
der Richtung auf das Ausland. Die erste große Welle der gotischen
Flut setzt sich von Burgund aus in Bewegung, eine zweite kleinere
vom Anjou.


Die primitive burgundische Gotik ist ein Produkt des Zi-
sterzienserordens,
die jüngere, aber wesentlich anders
geartete Schwester der Kluniazenserkunst. Der Zisterzienserorden
ist in der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten des 13. Jahr-
hunderts nach der Quantität der Leistung der größte Bauherr
im Abendlande. Um das Jahr 1200 besaß er, über alle Länder
verbreitet, 1800 Klöster, und alle wichtigeren unter ihnen hatten
Anlaß, in kurzem Abstand dreimal zu bauen: zuerst eine Not-
kirche, dann eine monumentale und bei der selten ausbleibenden
Vergrößerung des Konvents noch eine. Das meiste ließ er durch
seine eigenen Werkleute ausführen, die von Bau zu Bau wanderten,
wo sie im Augenblick gerade nötig waren. So erklärt sich, daß
die Zisterzienserkirchen aller Länder ein sehr bestimmtes und
gleichartiges Gepräge erhielten, auch ohne daß der Orden für ein
einzelnes Formensystem Partei ergriffen hätte. Die Benediktiner-
mönche des früheren Mittelalters waren die stolzen Vertreter einer
höheren Kultur gewesen, die Zisterzienser wollten die Auswüchse
der Kultur wieder beschneiden. Ihre Theorie, in der überweltliche
Mystik und scharfer praktischer Verstand einen seltsamen Bund
geschlossen hatten, war ausgesprochen kunstfeindlich. Nur der
Baukunst ließen sie einen gewissen Raum, insofern sie sich durch
Nützlichkeit rechtfertigte. Daher sie aus ihr alles entfernten,
was nicht unmittelbar zweckmäßig war. Die Kirchen turmlos,
bildlos, farblos, anderseits doch wieder von größter technischer
Gediegenheit. Sie sind Freunde des Gewölbebaues und für viele
Länder die ersten Lehrer darin; denn als nützlich erkennen sie
[29]Die Kunst des Mittelalters
ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen
Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon
gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche
Übergangsstil ist aufs stärkste über den engern Kreis des Ordens
hinaus von ihm beeinflußt; Italien hat am frühesten und längere
Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser
Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des
heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern
schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren
und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Er-
folge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus.


Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre
kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den
Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und
eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der
Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige
Anregungen von ihr — wie nicht zu verkennen ist, wennschon
die näheren Umstände im Dunkel bleiben — kamen auch nach
Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp
August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv.
— Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die franzö-
sische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die süd-
lichen Niederlande
zu und so vollständig, daß sie von
der Zentralschule kaum zu trennen sind.


Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die franzö-
sische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst
wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmacks-
wechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der
französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische
Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den fran-
zösischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich
aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung
ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen.
Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen
unverständlich oder gleichgültig. Sie faßten die Gotik als eine
neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen
[30]
Die Kunst des Mittelalters
Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die
ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der
französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen
von Salisbury, Lincoln, Wallis). — Die mittlere Epoche, die das
14. Jahrhundert einnimmt, nähert sich mehr der festländischen
Weise; ein innerlich geschlossener Stil entsteht auch jetzt nicht,
wenn auch einzelne ernste Raumschöpfungen für England nach
dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York,
Westminsterabtei). — Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe
Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert,
von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kon-
tinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen
und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht
abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader,
rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular-
oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudor-
bogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zier-
lich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der
Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London,
St. Georgskapelle in Schloß Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil
ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs-
und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast
noch in höherem Grade für seinen Charakter bestimmend gewesen.
Bemerkenswert ist, daß die Engländer selbst unter vollster Herr-
schaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien
behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche
in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Re-
staurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich
englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen,
der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches
Musterbuch heraus, und daß das 19. Jahrhundert selbst auf dem
Festlande bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens
im Schloßbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür
sind uns die Belege nur zu bekannt.


Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil
Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen
[31]Die Kunst des Mittelalters
Bauleute waren besser als die irgendeines anderen Landes mit den
Neuerungen der Franzosen bekannt; es sind sichere Anzeichen
dafür vorhanden, daß sie als Wanderarbeiter damals in ziemlicher
Menge auf den französischen Bauplätzen sich einfanden. Der
Grund ist der, daß in Deutschland der romanische Stil sich noch
keineswegs ausgelebt hatte, ja eben im Begriff war, durch Wieder-
aufnahme antiker Baugedanken sich neu zu stärken. Seine glän-
zendste Zeit geht der französischen Frühgotik, zum Teil noch dem
klassischen Stil, parallel. Hypothetisch darf wohl an die Möglich-
keit gedacht werden, daß mit dem deutsch-romanischen Stil bei
ungestörter Weiterentwicklung ein selbständiger Parallelstil zur
französischen Gotik hervorgetreten wäre. Aber der Zug der Zeit
zu weltbürgerlicher Kulturgemeinschaft und der zeitliche Vor-
sprung der Franzosen wurden entscheidend für die Rezeption.
Der historische Vorgang ist sehr verwickelt. Wir werden den
besten Überblick gewinnen, wenn wir drei Rezeptionsstufen unter-
scheiden, mit denen aber nicht ohne weiteres ein zeitliches Nach-
einander, vielmehr ein prinzipieller Unterschied in der Art der
Annäherung gemeint ist.


Die erste Stufe befaßt den sog. Übergangsstil, von dem be-
reits oben die Rede war. Bestimmte Vorzüge des französischen
Systems werden freudig anerkannt, man will sie als Hilfsmittel
zur Erreichung der eigenen, wesentlich anders gearteten Ziele be-
nutzen. Ein schönes Beispiel, wieviel entlehnt werden konnte
ohne Verlust der Selbständigkeit, bietet die Stiftskirche zu Lim-
burg an der Lahn. Das französische Vorbild (die Kathedrale von
Laon) ist in ihr ebenso wahr und innerlich verdeutscht, wie auf
ihrem Gebiete es die Gedichte Wolframs und Gottfrieds tun.


Auf der zweiten Stufe wird der Gedanke an die Verschmelzung
romanischer und gotischer Formen aufgegeben. Der französische
Formenapparat wird vollständig rezipiert, aber die mit ihm ge-
schaffenen Raumkompositionen bewegen sich auf der Linie der
deutschen Überlieferung; so die Liebfrauenkirche in Trier, ein
Zentralbau, desgleichen in der französischen Gotik weder früher
noch später versucht worden ist, und die Elisabethkirche in Mar-
burg, eine Hallenkirche, d. i. ein Typus, den die französische Schule
[32]Die Kunst des Mittelalters
förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn
vorfand, hat sie ihn ausgerottet.


Erst die dritte Stufe läßt jede nationale Klausel fallen und
bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der
glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten
in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so
verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten,
sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie
gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht er-
ledigt hatte, völlig kongenial und aufs herrlichste weiterzuführen.
Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.


Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst,
der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn
einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet,
der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war — im
Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts,
im Norden und Osten etwa 25 Jahre später — mußte notwendig
eine Umbildung im Sinne der Vereinfachung eintreten (besonders
augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien,
die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei
weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung;
der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so
ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen
in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums
waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen
repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Bau-
kunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben,
waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen
Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut — so viel, daß Deutsch-
land bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen
Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom
Mittelalter hinterlassenen Bestande decken konnte — aber nicht
von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten
in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich
wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und
an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen
[33]Die Kunst des Mittelalters
von gleicher Höhe, ein zweckmäßiger, aber, wenigstens so wie er
behandelt wurde, meist herzlich schwungloser Typus. Als eine
Ehrensache des großen Gemeinwesens wurde es empfunden, die
städtische Hauptkirche mit einem hohen, reichverzierten Turm
zu begeben, bei dem aber nicht mehr an Harmonie mit dem Ge-
bäude, sondern an die Silhouette des Stadtbildes gedacht wurde.
Das Beste dieser Art reifte jedoch erst im 15. Jahrhundert. Das
14. Jahrhundert zeigt ein zunehmend unerfreulicher werdendes
Bild: die Volksphantasie ernüchtert, die reichlich vorhandene
Arbeitstüchtigkeit in schulmäßigen Formeln erstarrt.


Nur in einem Teile Deutschlands war noch eine höhere monu-
mentale Gesinnung lebendig, wenn auch in rauher und harter
Form: im äußersten Norden und Osten, im Herrschaftsgebiet der
Hansa und des deutschen Ordens. Es ist merkwürdig, wie die
einst in der romanischen Epoche so milde und harmonische Stim-
mung der niedersächsischen Architektur sich in der gotischen
verwandelte. Der lange Kampf mit den Slawen und die Besitz-
ergreifung der See hatte andere Geister wachgerufen. Die Bau-
kunst der norddeutschen Tiefebene beruht auf der Backstein-
technik. Viel eigenster Reiz der ursprünglichen, durchaus auf die
Eigenschaften des Hausteins gegründeten Gotik war dem Back-
steinbau ein für allemal unerreichbar. Er machte eine sehr selb-
ständige Umarbeitung der gotischen Formen nötig. Der nord-
deutsche Backsteinbau bietet weitaus nicht die glänzendste, aber
sicher die originellste unter den Spielarten der deutschen Gotik.
Er ist Massenbau. Kolossal in den Abmessungen, im Sinne der
Massengliederung auch kraftvoll belebt, in der plastischen Aus-
bildung des Zierwerks sehr beschränkt. Die Denkmäler der Mark
Brandenburg zeigen, daß unter Ausnutzung farbiger Kontraste
aus dem Material, das die Ziegelöfen fertig liefern, sehr zierliche
und reiche Flachdekorationen zusammengesetzt werden können.
Echter und großartiger doch spricht der besondere Geist dieses
Stiles aus den schmucklosen, aber gewaltigen Stadtkirchen der
Ostsee, ein Geist des Stolzes und der Kühnheit auch in der Ent-
sagung. Diese Kirchen drängen das Hallensystem, das der Über-
gangsstil aus Westfalen eingeführt hatte, wieder zurück, sie sind
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 3
[34]Die Kunst des Mittelalters
hochräumige Basiliken, und vor ihre Fassaden stellten sie mächtige
Doppeltürme mit schlanken, kupfergedeckten Holzhelmen, weit-
hin sichtbare Landmarken für die Schiffer. Rathäuser werden
errichtet, denen das übrige Deutschland nichts Ähnliches ent-
gegenzustellen hat. Der Burgenbau, anderorts gegen die Hohen-
staufenzeit künstlerisch tief gesunken, stellt eine lange Reihe von
Denkmälern hin, die Marienburg an der Spitze, durch deren
Schlichtheit ein Atemzug echter Größe geht. In dieser kolonialen
Kunst ist die Gotik, so schroff einseitig immer, wirklich verdeutscht.


Skandinavien besaß eine Holzarchitektur, die im
Kirchenbau zu quasimonumentalem Charakter sich erhob. Ob
die norwegischen »Stabkirchen« völlig autochthon oder von den
irisch-schottischen Holzkirchen ausgegangen sind, ist nicht aus-
gemacht. Durch Eintragung von Motiven des Schiffbaus erhielten
sie einen sehr eigentümlichen Charakter. Der Steinbau ist im-
portiert und duldete Einfluß von seiten des Holzbaues ebenso-
wenig, wie er ihn ehemals in Deutschland geduldet hatte. Zu
nennenswerter Eigenart brachte er es nicht, es blickt immer der
Stil des Ursprungslandes durch. Norwegen liegt in der englischen,
Dänemark und Schweden, wie schon in der romanischen, so erst
recht in der gotischen Zeit, in der deutschen Einflußsphäre; am
Dom von Upsala waren vorübergehend sogar Franzosen tätig,
und einige Zisterzienserkirchen bewahren merkwürdig treu den
burgundischen Stempel.


So hatte sich die ganze germanische Welt dem zuerst im
Norden Frankreichs formulierten »gotischen« Stil unumwunden
angeschlossen; hie und da mit einiger Laxheit, öfters mit logisch
gedachten Vereinfachungen, nirgends mit der Absicht, an seinen
Grundgesetzen zu rütteln. Dieses zu tun, war Sache der Süd-
franzosen und Italiener. Beide haben den gotischen Stil nicht
herbeigerufen, sondern ihn an sich kommen lassen als ein »Schick-
sal«, und beide stehen innerlich in tiefster Opposition zu ihm.


Ganz schroff zeigt sich diese Lage der Dinge in Südfrank-
reich
. Hier, wo man nahe an die Renaissance der Antike heran-
gekommen war, hatten die Albigenserkriege und die ihnen folgende
Gewaltherrschaft der Nordfranzosen einen fast hundertjährigen
[35]Die Kunst des Mittelalters
Stillstand herbeigeführt. Von 1270 ab ließen Bischöfe, welche die
Gunst der Krone suchten, eine Reihe von Kathedralen in rein
nordfranzösischem Stil durch nordfranzösische Meister errichten.
Keine derselben gelangte weiter als bis zur Vollendung des Chores
(Kathedralen von Toulouse, Narbonne u. a. m.). Erst ganz zum
Schluß des 13. Jahrhunderts war das Selbstbewußtsein der Süd-
länder soweit wieder belebt, daß sie das Bauwesen in die eigene
Hand nahmen. Ihre erste Tat ist die Wiederherstellung des natio-
nalen Kirchentypus, des einschiffigen Saales (Alby, Toulouse,
Carcassonne, Perpignan; nahe verwandt einige besonders groß-
artige Bauten in Katalonien). Er wird jetzt gotisch konstruiert,
aber ästhetisch hat er mit der Gotik wenig gemein. Der mit
schmalen Kreuzgewölben überdeckte, fast immer gewaltig große
Raum wird eingeschlossen von breiten, nur durch magere Dienste
schwach gegliederten Wandflächen, darin stehen in weiten Ab-
ständen hohe schmale Fenster; der gotische Formenapparat ist
auf ein weniges zusammengeschmolzen; das Äußere sieht festungs-
artig aus, ist turmlos. Der Kunstgehalt dieser pseudogotischen
Architektur liegt durchaus im Raumfaktor, nicht im Glieder-
organismus. Ein spezifisch südliches, der Antike nahe gebliebenes
Gefühl spricht daraus, in seiner trotzigen Proteststimmung freilich
zum Herben und Harten gewendet.


Dasselbe Gefühl, doch freudig und schwungvoll, lebt in der
italienischen Gotik. Viel älter als das, was man allein so nennen
darf, ist eine gotische Importkunst, die gleichsam nur zufällig
auf italienischem Boden steht, aber innerlich dem italienischen
Genius fremd bleibt. Sie wurde sehr früh, seit 1187, durch die
Zisterzienser eingeführt. Die umfänglichste Gruppe befindet sich
im Süden Roms, in den Volskerbergen und in den Abruzzen,
einzelne Denkmäler sind über die ganze Halbinsel zerstreut. Eine
zweite Gruppe steht in Zusammenhang mit den Kreuzfahrer-
bauten im heiligen Lande; zu ihr gehören die prachtvollen Schlösser,
die Kaiser Friedrich II. in Apulien und Sizilien errichten ließ.
Eine dritte, ohne Zusammenhang mit der vorigen, rührt von der
Eroberung Neapels durch die Anjou her. Sie alle vermochten
keinen lebensfähigen Nachwuchs zu erzeugen. Wirkliche Ein-
3*
[36]Die Kunst des Mittelalters
bürgerung des nordischen Stils vollzog sich erst dadurch, daß die
Bettelorden, die neue Großmacht im Geistesleben Italiens, für ihn
Partei ergriffen. Sie empfingen ihn aus den Händen der Zister-
zienser, haben ihn aber sofort in italienischem Geiste umgestaltet.
Das System wechselt — bald sind es Basiliken, bald einschiffige
Kirchen, bald sind sie flach gedeckt, bald gewölbt — der Charakter
ist gleichartig. Er kann mit denselben Worten definiert werden,
die wir oben von den südfranzösischen Bauten brauchten: der
Schwerpunkt liegt in der Raumerscheinung, der sich dem (viel
einfacher als im französischen System behandelten) Gliederbau
ganz unterordnen muß. (Beispiele: Santa Maria novella und
Santa Croce in Florenz, Frari und Santi Giovanni e Paolo in
Venedig, Carmine in Pavia.) Die letzten und entscheidenden
Schritte zur Italisierung taten dann die großen seit Ende des
13. Jahrhunderts in Angriff genommenen, wesentlich im 14. Jahr-
hundert ausgeführten Kathedralbauten, an der Spitze der Dom
von Florenz. Hier handelt es sich nicht etwa um eine neue Ab-
wandlung und besondere Interpretation des gotischen Bauideals,
sondern um eine Abkehr von ihm: Raumbegrenzung durch ruhige,
von wenigen und kleinen Fenstern nur unterbrochenen Wand-
flächen, Raumgliederung in wenige, aber große und scharf gegen-
einander isolierte Abteilungen, Beschränkung des konstruktiven
Apparats und überhaupt Stillung des Bewegungsdranges, große
Vereinfachung der Außenansicht durch Wegfall des Strebewerkes
und der Türme, ganz neu die Steigerung durch einen gewaltigen
Kuppelbau. Genug: in allem, was wesentlich ist, keine Gotik —
auch keine mißverstandene — sondern eine sehr bewußt anti-
gotische Gotik — in Wahrheit latente Renaissance.


Genau in der Zeit, dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts,
in der die italienische Architektur den Umschwung von der la-
tenten zur offenen, von der halben zur vollen Renaissance vollzog,
trat auch die nordische in eine neue Epoche ein. Man nennt sie
herkömmlich die Spätgotik, womit aber nur die eine, und
zwar nicht die ausschlaggebende Seite ihres Wesens gekenn-
zeichnet ist. In der gotischen Formensprache, die sie beibehält,
immerhin mit starken Veränderungen im einzelnen, drückt sie
[37]Die Kunst des Mittelalters
ein Grundgefühl aus, das ebenso neu ist, wie von Claus Sluter und
den van Eycks ab dasjenige der Bildkünstler. Auch die Baukunst
des 15. Jahrhunderts bedeutet schon nicht mehr Mittelalter.



Der Baukunst des Mittelalters kam das populäre Empfin-
den des letzten Jahrhunderts mit aufgeschlossenem Sinn ent-
gegen, die Verehrung steigerte sich bis zur Unterwerfung und
Nachahmung; die Bildkunst des Mittelalters dagegen gilt für
schwerer genießbar, für etwas, das man den Gelehrten überlassen
müsse. Sicher ist, daß sie in der Mitte zwischen antiker und moderner
Kunst ganz fremdartig sich ausnimmt. Man irrt sich aber, wenn
man den Unterschied vornehmlich als einen graduellen, als Folge
eines geringeren Könnens ansieht; er liegt viel tiefer, in einem
prinzipiell anders gerichteten Wollen. Das Mittelalter hat dem
Bilde, in erster Linie dem Menschenbilde, von Anfang an einen aus-
gedehnten Platz zugewiesen, aber es tat es in einer anderen Ab-
sicht als in der uns selbstverständlich erscheinenden. Das Mittel-
alter ist erst sehr spät dabei angelangt, in der Kunst einen Spiegel
der Wirklichkeit anzusehen; sie war lange Zeit naturlos, an-
schauungslos, unzugänglich für diejenigen geistigen Anregungen
aus der sinnlichen Erscheinungswelt, die wir, in künstlerischer
Umsetzung, der Form zuschreiben. Es ist merkwürdig, wie die
späte Antike und die ursprüngliche Stimmung der germanisch-
keltischen Völker, auf die die Tradition jener überging, in diesem
negativen Moment völlig zusammentrafen. Die positiven Auf-
gaben der mittelalterlichen Bildkunst sind zwei, wie man aber
sogleich sieht, unter sich disparate: zu illustrieren und zu deko-
rieren, einen religiös-poetischen Gedankenstoff zu vermitteln und
ein tektonisches Objekt, sei es die Wand einer Kirche oder ein
Buch oder einen Reliquienkasten oder was sonst, zu schmücken.
Etwas anderes verlangte die Kirche nicht und etwas anderes
hätten auch die Völker nicht begriffen. Nach beiden Richtungen
ist nun die Malerei unvergleichlich leistungsfähiger als die Plastik.
Diese war schon aus der Spätantike fast verschwunden. In dem
[38]Die Kunst des Mittelalters
langen Zeitraum vom Siege der christlichen Kirche am Anfang
des 4. bis zum Kulminationspunkte der mittelalterlichen Kultur
am Anfang des 13. Jahrhunderts hat die Malerei die unbedingte
Vorherrschaft besessen. Daß dieses aber nicht eine Vorherrschaft
dessen bedeutet, was wir malerisches Empfinden nennen, braucht
nicht mehr nachgewiesen zu werden; es ist der Ausdruck des
vollkommenen Übergewichtes der stofflich-illustrativen und tek-
tonisch-dekorativen Interessen über das Forminteresse.


Mit der Malerei des Mittelalters sich damit abfinden zu
wollen, daß man sie für primitiv, für noch in den Kinderschuhen
steckend erklärt, wäre somit das verfehlteste. In Wahrheit steckt
in ihr uralte Tradition, nur zu viel! Es war kein fruchtbringendes
Zusammentreffen zwischen der Unreife der ästhetisch noch nicht
erwachten Nordländer und den welken Formen des antiken Greisen-
alters. Es konnte nur in der Vorstellung bestärken, daß Kunst
und Natur ganz getrennte Welten seien. Außerdem waren es
heilige Formen. Ihr religiöser Wert war durch möglichst genaue
Nachahmung, bei der mehr die Hand als das Auge in Frage kam,
sicherzustellen.


Innerhalb der ihr gezogenen Grenzen besitzt die Malerei das-
selbe hohe Stilgefühl, das wir am Kunstgewerbe rühmten; sie hat
die Achtung, in der sie stand, vollauf verdient. Für den modernen
Standpunkt ist sie nicht freie, nur angewandte Kunst. Die Ge-
stalten und Szenen standen fest; denn es war ja ihr Zweck, tunlichst
leicht nach ihrer Sachbedeutung verstanden zu werden; nur leise,
unvermerkt durften sie in den Jahrhunderten sich wandeln, diese
oder jene neue Darstellung in ihren Kreis aufnehmen. Der beste
Maler war der, der seine Vorbilder ohne Verzerrung so zu ver-
schieben verstand, daß sie den jeweiligen Forderungen der archi-
tektonischen Flächengliederung Genüge leisteten. Illusion körper-
licher Rundung oder räumlicher Vertiefung wäre für diesen Stil
Vernichtung gewesen. Die Fläche soll belebt, aber nicht durch-
brochen werden. Die Stellungen der Figuren sind so gewählt,
daß die im Gedächtnis als vorzüglich bezeichnend für Haltung,
Bewegung, Gebärde haftenbleibenden Züge schon in der Umriß-
linie Platz finden. Durch lange Erfahrung waren sie festgestellt,
[39]Die Kunst des Mittelalters
und es wäre Vermessenheit gewesen, daran zu rütteln. Mit großen
Mängeln der Form verbindet sich Stärke des Ausdrucks. Wenn
auch im höchsten Grade gebunden, ist diese Kunst nicht unwahr
und vermag auch heute noch zu wirken. In welchem Umfange
— es überrascht uns — schon in der Karolingischen Zeit die Wand-
malerei geübt wurde, lassen die in einigen Klöstern angelegten
Sammlungen versifizierter Unterschriften (tituli) erraten. Nichts
davon hat sich erhalten. Das wichtigste Denkmal der Jahrtau-
sendwende, die Wandmalerei in S. Georg auf Reichenau, zeigt das
Prinzip unverändert. Reichlicher sind die Überreste aus dem
12. und 13. Jahrhundert. Auch in ihnen ist die Einzelform völlig
konventionell, aber geschmeidiger und ausdrucksvoller; besonders
die Gewandung, die ja in ihrem Wesen etwas Tektonisches hat,
nimmt einen großartigen, frisch belebten Schwung; die Gebärden-
sprache erreicht seelische Wahrheit. Den Höhepunkt der Gattung
bezeichnen die sächsischen und rheinischen Wandgemälde dieser
Zeit. Aus Frankreich hat sich zu wenig erhalten, um einen Ver-
gleich zu gestatten.


Zahlreich haben sich die Denkmäler der Buchmalerei und
unter ihnen gewiß viele der besten Stücke erhalten. Wir dürfen
uns durch diese beiden ihnen günstigen Umstände nicht zur Über-
schätzung ihrer relativen Bedeutung verleiten lassen. Ihrem
Zwecke nach steht sie dem Kunstgewerbe nahe. Schönschreiber
nehmen es sich unbefangen heraus, gelegentlich auch Bilder ab-
zuschreiben, so daß sich hier wohl mehr Dilettantismus breit-
macht, als es in der Wandmalerei möglich gewesen sein kann.
Das Stilgesetz ist in dem weiteren Sinne, als es im Kunstgewerbe
überhaupt regiert, ebenfalls ein architektonisches. Man nehme
als Beispiel, daß Pferde beliebig durcheinander rot, blau und
grün gegeben werden, bloß weil an ihrer Stelle diese Farbenflecke
erwünscht waren. Im Vergleiche zur Wandmalerei gewährt die
Buchmalerei dank ihrer leichteren Technik der Erfindung mehr
Spielraum, und wenn da die erlernten Formen im Stiche lassen,
wird wohl ein kecker Griff in die Wirklichkeit gewagt; das er-
schrockene Straucheln vor dem Angesicht der Natur, das dann
regelmäßig eintritt, zeigt am besten, wieviel die feste Schulung
[40]
Die Kunst des Mittelalters
bedeutete. Ein Fortschritt von fleißiger Nachahmung alter Vor-
bilder zu stilistischer Selbständigkeit fand in der Miniaturmalerei
nur statt, insofern sie eigentlichst Buchschmuck ist; auf der Höhe
der romanischen Epoche ist darin Herrliches geleistet; die Probleme
aber, welche die Malerei als freie Kunst stellt, rücken, auch wenn
sie immer wieder gestreift werden, im ganzen nicht vorwärts.


Auf der Höhe des Mittelalters trat wie in der Baukunst so
auch in der Bildkunst ein Stilwechsel ein. Er steht im Zusammen-
hang mit Veränderungen tief auf dem Grunde des allgemeinen
Bewußtseins. Die Vorherrschaft des asketischen Ideals wurde
gebrochen, neben der Kirche erhob die Welt das Haupt, und so
fiel jetzt auch die Scheidewand zwischen Kunst und Natur. Nicht
als ob auf einen einzigen Schlag die Wandlung vom abstrakten
Stilismus zur Einfühlung in die Wirklichkeit sich durchgesetzt
hätte. Aber das neue Ziel war erkannt und wurde nicht mehr
aus dem Auge verloren. Sehr bezeichnend ist, wie jetzt sofort
das Verhältnis zwischen Malerei und Plastik umschlägt. Die
Führerin auf dem neuen Wege zur künstlerischen Welterkenntnis
wurde die Plastik. Mit gutem Recht, da in ihr das Problem der
Form einfacher und klarer gestellt ist. Das Zurückbleiben der
Malerei hat aber auch einen äußeren Grund. Er liegt in dem ver-
änderten Verhältnis zur Architektur. Schon das letzte Stadium
des romanischen Stils, von der Entwicklung des Gewölbebaus ab,
hatte durch die stärkere Zerlegung der Flächen die Malerei ins
Gedränge gebracht. Vollends nun die gotische Flächennegation
zog ihr, soweit sie monumental sein sollte, den Boden unter den
Füßen weg. Sie mußte sich in die kleineren Nebenräume und in
die architektonisch einfacher behandelten Landkirchen flüchten.
So starb die gotische Wandmalerei zwar nicht völlig aus, wurde
aber auf eine niedere Stufe herabgedrückt. An ihre Stelle trat in
der vornehmen Architektur die Glasmalerei, eine Gattung, die
ihren eigenen hohen Wert hat, aber die malerische Aufgabe ganz
auf das Dekorative zurückweist, noch viel einseitiger als einst
in der romanischen [Wandmalerei]. Die Glasmalerei ist nach ihrem
ganzen Wesen eine Kunst in der Fläche, die Probleme der Körper-
und Raumdarstellung konnten durch sie nicht gefördert werden.
[41]Die Kunst des Mittelalters
In ihr nimmt unbestritten Frankreich den ersten Platz ein. Der
Luxus darin, wenn wir zu dem immer noch vielen, was sich erhal-
ten hat, das Untergegangene hinzunehmen, scheint überschwenglich
groß, und doch ist er unentbehrlich, weil ohne ihn eine gotische
Kirche des aufgelösten Systems unfertig ist. Man begreift es, daß
lieber auf die Vollendung der Fassade und der Türme verzichtet
wurde, als auf den Besitz von Glasgemälden. Nächstdem hat sich
Deutschland ehrenvoll hervorgetan; das Beste vor 1300. Eng-
land und Italien sind an Glasmalereien arm.


Die Buchmalerei wird in den Verfall der klösterlichen Kunst
hineingezogen. Daß Handschriften weltlichen Inhalts jetzt häufiger
mit Bildern geschmückt werden, ist kulturgeschichtlich bemerkens-
wert; die Kunstentwicklung hat bedeutende Impulse daraus
nicht empfangen. Nur in den Niederlanden kommt in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Buchmalerei von und für Laien
in die Höhe, in der wir den Anfang einer neuen Auffassung erkennen;
sie führt alsbald aus dem Mittelalter heraus. Endgültige Befreiung
sowohl von der Einschnürung ins Kunstgewerbe als von der Ver-
flüchtigung in Baudekoration brachte dann das Altarbild. Seine
Geschichte, wenn sie auch im 14. Jahrhundert beginnt, gehört in
die Anfänge der Neuzeit.


Ungleich der Malerei hatte die Plastik der Frühzeit jeg-
liche Verbindung mit der monumentalen Kunst verloren. Die
altchristliche Kirche konnte auf diesem Gebiet der Anschauung
der nordischen Völker nichts darbieten. Geraume Zeit, bis zur
Mitte des 12. Jahrhunderts und länger, blieb die Bildhauerkunst
ausschließlich Kleinkunst im Gefolge des Kunsthandwerks: sie
schmückte Altarvorsätze, Kruzifixe, Leuchter, Diptychen, Buch-
deckel, Meßgeräte u. dgl. Kunstpsychologisch bemerkenswert ist
die Tatsache, daß Auge und Hand der Neulinge sich weit leichter
in die plastische Form einlebten als in die Abstraktionen der Malerei,
und so tritt denn hier, neben dem, was den Vorbildern verdankt
wird, verhältnismäßig früh auch Eigenes hervor. Die technischen
Gattungen sind scharf voneinander getrennt, jede hat ihre eigene
Formenüberlieferung. Den vornehmsten Eindruck macht die
Elfenbeinplastik an Diptychen, Hostienbüchsen und Reliquien-
[42]Die Kunst des Mittelalters
kästchen. Zu ihrer Schulung stand ein reicher Vorrat spätantiker
und byzantinischer Musterstücke zur Verfügung. Doch es wurde
nicht bloß kopiert, wir begegnen auch selbsterfundenen Kom-
positionen (z. B. in einer Reihe von Diptychen, die im 9. Jahr-
hundert in Metz oder Reims entstanden sind), ja sogar einer
Formenauffassung, die das überlieferte Schema durch Naturbeo-
bachtung zu ergänzen und zu beleben wagte (sächsische und
rheinische Werkstätten). Im Laufe des 11. Jahrhunderts stirbt
dieser Kunstzweig ab, um auf veränderten Grundlagen im 13., jetzt
vornehmlich in Frankreich, eine zweite Blüte zu erleben.


Wollte man eine Stufe höher hinauf gehen und auch der
Architektur plastischen Schmuck geben, so wandte man sich an
den den Germanen sehr früh vertraut gewordenen Erzguß. Solcher
Art sind aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts die großen Domtüren
zu Augsburg und Hildesheim und die sog. Bernwardsäule daselbst.
Monumental sind sie nur durch ihre Funktion; nach Stil und
Technik gehören sie völlig der Kleinkunst. Die Erinnerungen an
italienische Vorbilder erstrecken sich nur auf die Anordnung im
großen; der Einzelausdruck mußte selbständig gefunden werden.
Die Hildesheimer Tür zumal ist ein denkwürdiges Beispiel dafür,
was entstehen konnte, wenn ein begabter Künstler von energischem
Unabhängigkeitssinn sich voraussetzungslos dem Naturalismus in
die Arme warf: in der Stärke des Ausdrucks ist er unerreicht,
aber die Herrschaft über Form und Komposition hat er gänzlich
verloren. Mit so keckem Sturmlauf ließ sich das Ziel nicht ge-
winnen. Das Interesse an plastischen Aufgaben blieb im säch-
sischen Stammgebiet lebendig, mehr als in anderen Teilen Deutsch-
lands, aber das 11. Jahrhundert verging und ein großer Teil des 12.,
ohne daß ein nennenswerter Fortschritt gemacht wurde. Nur das
Programm erweiterte sich: Grabplatten mit lebensgroßen Gestalten
kamen in Aufnahme, nicht in Stein, sondern in dem noch immer
geläufigeren Bronzeguß oder in fügsamer Stuckmasse; in gleichem
Material dekorative Figuren an den Zwickeln zwischen den Arkaden
der Kirchenschiffe oder an Chorschranken; kolossale Kreuzigungs-
gruppen aus Holz. Man sieht, an monumentalen Aufgaben fehlte
es nicht mehr, wohl aber noch immer an einem monumentalen Stil.


[43]Die Kunst des Mittelalters

Bis zu diesem Punkte war der Stand der Plastik in Deutsch-
land, Frankreich, Italien ungefähr gleich hoch oder niedrig ge-
wesen, in Deutschland vielleicht etwas höher sogar als in den an-
deren Ländern trotz deren älterer Kultur. Der monumentale Stil
ist die alleinige Schöpfung Frankreichs. Er entstand um dieselbe
Zeit und in denselben Schulen, deren Energie sich auf die Vervoll-
kommnung des Gewölbebaus warf. Der innere Zusammenhang
ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens
nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich
auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik
tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber
von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden
die Führung. Die neue Stilbildung ist, daß die Plastik nicht mehr
als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem
architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in
viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht
wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das
Statuenportal. In bezug auf Prachtentfaltung als solche war
schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles,
Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der
Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht,
neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit,
sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienst-
verhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen
der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den
allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts
mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebel-
gruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar
tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plasti-
schen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie
sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der
Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedanken-
entwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie
erkennt, daß in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten
ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung
wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu
[44]Die Kunst des Mittelalters
einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maß-
stabe Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des
Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren
der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form
der heiligen Bilderfülle zu ihrem Rechte verhelfen. So blieb es
nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren auf-
nehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens,
außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vor-
handen waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der
Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon,
20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse
bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen
die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu
alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein deko-
rativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die
Berechnung, daß die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollstän-
digen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben,
ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen
Kunst ein so unermeßliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals
ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wich-
tigsten derselben ist der »Blockzwang«, d. h. jede Gestalt muß
in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen
bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen
den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen
Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders aus-
gedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein.
Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen
in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es
forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste
Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war
vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer?
Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser
Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungs-
motive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu
arbeiten — das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäu-
des — wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.


[45]Die Kunst des Mittelalters

Weiter war die gotische Bildhauerkunst durch die kirchliche
Gebundenheit ihres Programms von der schönsten aller plastischen
Aufgaben, der Darstellung des nackten Menschenleibes, ein für
allemal geschieden. (Die seltenen Ausnahmen, so u. a. einmal
das erste Menschenpaar oder die kleinen Figürchen in der Auf-
erstehung des Fleisches zum jüngsten Gericht, kommen dagegen
nicht in Betracht.) Den Köpfen fehlt nicht die Einsicht in das
Organische; der Knochenbau der Stirn, die fleischigen Weichteile
werden in großen breiten Zügen charakterisiert, die Augen sind
selbst nach Verlust der Bemalung voll Leben, selbst die Hände
gelingen zuweilen vortrefflich. Das Hauptobjekt der Darstellung
ist aber immer die Gewandung, und hierin ist der Fortschritt
der Zeiten besonders augenfällig. Noch im Anfang des 12. Jahr-
hunderts war nur die Gewandmasse im ganzen roh angelegt und
das Detail der Falten in schematischen Furchen eingegraben
worden. Hundert Jahre später ist die Ausdrucksweise hochplastisch;
durch kühne Unterschneidungen werden starke Schatten hervor-
gerufen; mit sicherer Berechnung wird auf Fernwirkung gearbeitet.
Die Gewandung vorzüglich hilft dazu, den engen Kreis der mög-
lichen Körpermotive zu erweitern. Durch sie werden Charaktere
geschildert, wird Stimmung gemacht. Es gehörte strenge Wahr-
heitsliebe dazu, um dies Mittel nicht zu mißbrauchen. Wie nahe
die Gefahr lag, den Körper zu einem bloßen Kleidergestell zu machen,
hat die nachklassische Zeit auf Schritt und Tritt erwiesen. Zweifel-
los hat es hochbegabter Künstler bedurft, um die Gesetze des
monumentalen Stils in vorbildlichen Typen festzustellen. Aber
es lag ihnen fern, als Individuen aus der Masse hervorzutreten.
Sie sollten und wollten nur einer Durchschnittsempfindung
dienen.


Ein vergleichsweise schmaler, an sich immer noch sehr im-
ponierender Nebenstrom monumentaler Plastik wurde nach Deutsch-
land geleitet, welches Land das einzige ist, das neben Frankreich
mit Ehren genannt werden darf. Die Blütezeit fällt in dieselben
Jahre, die wir oben für Frankreich genannt haben, d. i. dasselbe
Jahrhundert von 1220—1270. Der Unterschied ist der, daß sie
scheinbar ohne Vorbereitung ist. Für mehrere der besten deut-
[46]Die Kunst des Mittelalters
schen Meister des 13. Jahrhunderts hat die Forschung es bereits
klargestellt, daß sie ihre Schulung in Frankreich empfangen haben.
Ihre Kunst ist im Schulsinne eine Abzweigung der französischen,
doch eben nur in dem, was schulmäßig erlernt werden kann. Im
übrigen sind sie unabhängige Künstlerpersönlichkeiten, mehrere
von ihnen — wie der Straßburger, der Bamberger, der Naum-
burger — den besten Franzosen in der Begabung nichts nachgebend,
im Charakter individueller als diese. Schulung kann nur durch
die auf das gleiche Ziel gerichtete Anstrengung vieler erzeugt
werden, das Individuum braucht freien Raum. In Deutschland
war, bei unendlich lockerer stehendem Anbau, dieser noch zu
finden.


Indessen ist durch die französische Einströmung noch nicht
alles erklärt. Schon bevor sie kam, war in Obersachsen durch
glückliche ahnende Erfassung entfernter Nachklänge der Antike,
wie byzantinische Elfenbeine sie darboten, der Sinn für Reinheit
und Größe der Form erwacht. Dazu brachte die französische
Anregung das Element des Monumentalen. So entstanden in hoher
idealer Stimmung die herrlichen Skulpturen in Freiberg und
Wechselburg. Daneben lebte, eigentlichst sächsisch, jener tüchtige
Wirklichkeitssinn wieder auf, der sich einst in kindlichem Un-
gestüm an der Hildesheimer Domtür geäußert hatte. Ihm ver-
danken wir die Fürstenbilder des Naumburger Domes, eine groß-
artig naive Synthese des monumentalen und des realistischen Stils,
der einen jener Höhepunkte bezeichnet, auf denen zu verweilen
der Kunst selten gegeben ist. Die Naumburger Bildwerke zeigen,
was die Plastik leisten konnte, wenn die Architektur, nachdem
sie ihr den Geist des Monumentalen eingeflößt, zur Freiheit sie
entließ. In Wirklichkeit zog sie die Zügel nur noch fester an.


Das 14. Jahrhundert wurde auch in Deutschland eine Zeit
der Massenproduktion. Überschwengliche Programme zum Schmuck
der Portale und Strebepfeiler wurden entworfen und kamen sie
auch nur unvollständig zur Ausführung, so überstiegen sie auch
so die vorhandenen Kräfte. Die Kunst verflachte zur handwerk-
lichen Routine. Ein Element des Fortschrittes lag nur in der
Grabplastik, die den Sinn für individualisierende Charakteristik
[47]Die Kunst des Mittelalters
langsam schärfte. Daneben bestand als zweite Hauptgattung die
den Holzschnitzern zufallende Altarplastik. Ihre Blütezeit kam
jedoch erst später.


Nach Ablauf des 14. Jahrhunderts ist überall in Europa
der künstlerische Geist des Mittelalters am Ende seiner Zeugungs-
kraft angelangt. Die Kraft zur Verjüngung ist aber nicht überall
die gleiche. Auf den Verlauf und die Charakterbildung der mittel-
alterlichen Kunst hatten Deutschland und Frankreich den am
meisten bestimmenden Einfluß gehabt; der werdenden Kunst
der Neuzeit trugen die Niederlande und Italien die Fackel voraus.



Die Bildkunst hatte mit der Darstellung einer idealen Welt
begonnen, die mit der wirklichen weder in der Form noch im
Inhalt zusammenhing, deren Sinn und Bedeutung dem Volk
nur langsam sich erschloß. Der Zusammenhang der Kunst mit
dem praktischen Leben wird durch das Kunstgewerbe
dargestellt. Es hat sich in allen Epochen des Mittelalters größter
Wertschätzung und ununterbrochen hoher Blüte erfreut. Es
hat am meisten volkstümliche Elemente in sich aufgenommen.
In der Stammeszeit war es schlechthin die Kunst gewesen.
Das christliche Zeitalter wußte auch die altgermanische Freude
an kunstvoll bearbeiteten Edelmaterialien auf den kirchlichen
Zweck hinzulenken. Als liturgisches Prachtgerät und Priester-
ornat fanden die Kleinkünste ihre würdigste Verwendung. War
doch das ganze Kirchengebäude nur Rahmen für das glänzende
Bild des Altardienstes.


Das Kunstgewerbe, technisch in eine Menge von Gattungen
gespalten, steht ästhetisch unter demselben Grundgesetze wie
die Architektur und ist auch historisch mit deren Stilentwicklung
eng verbunden, nur daß das Verhältnis von Geben und Nehmen
ein anderes auf den primitiven als auf den hochentwickelten
Kunststufen ist. In der frühromanischen Epoche arbeitete das
Kunstgewerbe der Architektur vor in der Schaffung ornamen-
taler Motive, in der gotischen wurden selbst in dieser Welt des
Kleinen die Strukturformen der Architektur repetiert, natürlich auf
[48]Die Kunst des Mittelalters
winzigen Maßstab herabgedrückt. Noch größer ist die Abhängig-
keit der Bildhauerkunst; lange Zeit existierte sie überhaupt nur
in der kunstgewerblichen Hülle. Ja, auch die am meisten ge-
pflegten Gattungen der Malerei, die gewebten und gestickten
Darstellungen, die man bezeichnend unter dem Namen Faden-
malerei zusammenfaßt, die Emailmalerei, die Glasmalerei, im
Grunde auch die Buchmalerei, sie sind nicht nur im äußeren
Betriebe, sondern auch nach ihrem inneren Stilgesetz Kunstge-
werbe, d. h. nicht »freie«, sondern »angewandte« Kunst, und
der sichere Takt in der Findung und Anwendung dieses Gesetzes
ist eine der schönsten Seiten der mittelalterlichen Kunst. Ferner
ist den Kleinkünstlern, besonders wieder in der Frühzeit, die
wichtigste Vermittlerrolle zwischen räumlich entfernten Kunst-
gebieten zugefallen. Was der romanische Stil des Abendlandes
von Byzanz und dem Orient aufgenommen hat, kam großenteils
auf diesem Wege. Endlich liegen auf diesem Gebiet auch die
Keime der an der Grenze zur Neuzeit sich selbständig machenden
reproduktiven Künste: der Zeugdruck und die Schablonen der
Sticker sind Vorläufer des Holzschnittes, die Gravierungen der
Goldschmiede Vorläufer des Kupferstichs. So ist das Kunstgewerbe
gleichsam die mikrokosmische Zusammenfassung aller übrigen
Künste. Man kennt das Mittelalter nicht, wenn man nicht sein
Kunstgewerbe kennt.


[[49]]

ÜBER DIE GRENZE
DER RENAISSANCE
GEGEN DIE GOTIK


1900


4
[[50]]
[[51]]

Das ablaufende Jahrhundert hat keinem Gebiet der
Kunstgeschichte mehr Liebe und Arbeitseifer zu-
gewandt als der Renaissance. Das Schlußergebnis
aber muß ein seltsames genannt werden. Es ist
Infragestellung des Grundbegriffes. Immer mehr
Stimmen werden laut, die ihn dringend der Reform für bedürftig
erklären; es sei ein unvollständiger Begriff gewesen, womit wir
uns bisher behalfen; er müsse inhaltlich tiefer genommen und
darum auch in seinen historischen Grenzen weiter gefaßt werden1).


Der hiermit für überlebt erklärte Begriff war ausgegangen
von der Umwälzung der Architektur unter dem Einfluß der
Antike; dann wurden die Schwesterkünste angeschlossen; endlich
als gemeinsamer Untergrund eine spezifische Renaissancekultur
entdeckt. Alles dies Erzeugnis und Eigentum des modernen
italienischen Geistes, aber mannigfach gefärbt durch die »Wieder-
geburt des Altertums«, was hier in Italien jedoch nichts anderes
war als das Zurückgreifen auf die nationale Vergangenheit. Später
trat noch eine deutsche, französische usw. Renaissance hinzu,
als Umbildung der nordischen Kunst und Kultur unter italienischem
Einfluß. Wie man sieht, läßt diese Begriffsbildung an innerer
Präzision und straffer, konzentrischer Fügung nichts zu wünschen
übrig. Etwas ganz anderes ist diejenige »nordische Renaissance«,
von der man seit 10—15 Jahren bei uns zu sprechen begonnen hat.
Sie soll gerade das selbständige Erwachen des modernen Geistes
in der Kunst der germanischen Völker — von den van Eycks an
oder, wie neuestens behauptet wird, noch früher — bedeuten und
die neugeschaffene Gesamtrenaissance soll bis zum Beginn der
»archäologischen Renaissance«, d. h. bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts dauern.


4*
[52]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik

Lassen wir die Benennungsfrage einstweilen [beiseite]. Sach-
lich enthält die These etwas unbestreitbar Wahres und [einen] wert-
vollen Fortschritt der historischen Ansicht. Die Kunst des 15. Jahr-
hunderts ist auch im Norden nicht mehr einfach Mittelalter, sie
befindet sich zum italienischen Quattrocento nicht im Gegensatz,
wie man es früher darzustellen liebte, sondern in Parallele. Indem
wir dieses Sachverhältnis anerkennen — und wer wird es nicht
anerkennen? — geben wir auch das Bedürfnis zu, ihm in der stil-
geschichtlichen Terminologie einen passenden Ausdruck zu ver-
schaffen. Über die Problemstellung also werden wir alle einig
sein. Daß aber die vorgeschlagene Übertragung des Namens
Renaissance eine gute Lösung sei, bestreite ich sehr entschieden.


Betrachten wir sie zuerst von der Zweckmäßigkeitsseite her.
Da ist doch wohl eine der beherzigenswertesten Warnungen für
jede wissenschaftliche Terminologie: quieta non movere. Wenn
einem stilistischen Terminus, der lange Zeit unverändert im Ge-
brauch gewesen ist — in unserem Falle so lange, als es eine Kunst-
wissenschaft gibt — ein neuer Sachinhalt untergeschoben wird,
so werden Mißverständnisse an der Tagesordnung sein, bis der
ältere Sprachgebrauch völlig verdrängt ist. Schwerlich aber
werden die Reformfreunde uns das in Aussicht stellen können.
Wir werden es immer mit zwei Renaissancebegriffen zu tun haben,
einem engeren (dem alten) und einem weiteren (dem neuen), und es
wird eine stete Verlegenheit sein, wie man den Hörer oder Leser
vor Verwechslung behüten soll. Eine vorhandene Terminologie
verbessern heißt: sie verschärfen, verdeutlichen. Wir sind des-
halb immer weiter in der Differenzierung gegangen. Wir unter-
scheiden heute genau zwischen altchristlichem, byzantinischem,
romanischem Stil, die vor 50 Jahren noch als Einheit erschienen;
wir haben die süd- und nordniederländische Malerei trennen gelernt;
wir haben uns bemüht, das Barock von der Renaissance zu son-
dern und vom Barock das Rokoko und den Zopf. Was jetzt gefor-
dert wird, ist das Gegenteil von Differenzierung. Indem die Grenzen
der Renaissance einerseits tief ins Mittelalter zurückgeschoben,
anderseits bis ans Ende des 18. Jahrhunderts vorgerückt werden,
wird der ganze Begriff in eine andere Kategorie gestellt. Er umfaßt
[53]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
nicht mehr einen geschlossenen Stil, sondern ein langgedehntes
Zeitalter; er steht nicht mehr parallel den Begriffen »romanisch«,
»gotisch« usw., sondern parallel dem Begriff »Mittelalter«, ist also
nur ein anderer Ausdruck für das, was wir sonst »Kunst der Neu-
zeit« nennen. Was kann man praktisch mit einer Stilbezeichnung
anfangen, unter deren Dach die van Eycks, Raphael und Rem-
brandt, das Ulmer Münster, die Peterskirche in Rom und der
Zwinger in Dresden gleichmäßig Platz finden? Gesetzt, die Re-
form dränge durch, was wird man sich künftig dabei noch denken
können, wenn von einer Statue, einem Möbel, einem Ornament
gesagt wird, ihr Stil sei der der Renaissance?


Aber sehen wir auch von diesen weiteren Konsequenzen ab
— obschon sie unvermeidlich sind — und fassen allein das 15. Jahr-
hundert ins Auge, so muß auch hier die Mangelhaftigkeit einer
Terminologie, welche die italienische und die nordische Kunst
unter einen Namen stellen will, einleuchten. Denn selbstverständ-
lich könnte der Begriff nur aus solchen Eigenschaften bestimmt
werden, die beiden Teilen gemeinsam sind; was aber nicht ge-
meinsam ist, hätte mit ihm nichts zu tun. Nichts zu tun also hätte
mit diesem Renaissancebegriff die Antike; nichts zu tun die bis-
her sog. Renaissancekultur, da sie für den Norden im 5. Jahrh. nicht
besteht; ja nichts zu tun sogar ein großes Gebiet der Kunst selbst,
nämlich die tektonischen Künste, als welche im Süden handgreiflich
von der Antike abgeleitet, im Norden unerschüttert gotisch sind.
Genug, es blieben als einzige, weil allein beiderseits verwendbare
Bestimmungen: der Realismus und Individualismus. Ihre Wichtig-
keit für die Renaissancekunst ist längst erkannt. Aber unmöglich
können sie allein die Renaissance zur Renaissance machen, wie
es auch nicht die Renaissance allein ist, die auf sie Anspruch
erheben kann.


Dies führt uns zu den materiellen Irrtümern der neuen Lehre
hinüber. Die heute beliebte Meinung von der Unerheblichkeit
der Antike1) für die genetische Erklärung der Renaissance ist
[54]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
ebenso einseitig, wie früher ihre Überschätzung. Es ist wahr:
unmittelbare Entlehnungen kommen nur in den tektonischen Kün-
sten vor; Malerei und Plastik sind davon beinahe frei. Aber ist denn
damit schon alles gesagt? Gibt es nicht auch freiere, indirekte
und imponderable Einflüsse? Wo Maler und Bildhauer in innigem
Einvernehmen, ja oft in Personalunion mit der Architektur ihre
Werke schufen, wie könnten sie von dem antiken Geiste unberührt
geblieben sein? Und dann der ganze Untergrund erblicher Stammes-
eigenschaften, welche die Italiener der Renaissance zu einem noch
halbantiken Volke, nach Jakob Burckhardts Ausdruck, machten.
Darum war eine Renaissance im eigentlichen organischen Sinne,
als eine aus den tiefsten Wurzeln der Nation kommende Bewegung,
nur in Italien möglich. Was man sonst mit dem unbestimmten
Ausdruck »reinere Schönheit« der italienischen Renaissance als
Vorzug vor der nordischen zugesteht, ist eben diese noch un-
verbrauchte Erb- und Stammesanlage. Dagegen war im Norden
der durch das ganze Mittelalter hindurchgegangene Strom antiker
Rezeption eben beim Eintritt in das 15. Jahrhundert bis auf den
letzten Tropfen aufgebraucht und vertrocknet. In keinem Jahr-
hundert, von Karl dem Großen bis auf Wilhelm I., ist die deutsche
Kunst von der antiken durch einen so weiten Abstand getrennt
gewesen wie in diesem. Das ist sicher mit ein Grund, weshalb
der italienischen Kunst die Überwindung des Mittelalters so viel
leichter und folgerichtiger gelang als der nordischen. In dieser
machte, nach kräftigstem Einsatz mit den Sluter und van Eyck,
das moderne Prinzip nur fragmentarische und stockende Fort-
schritte und am Ende des 15. Jahrhunderts waren Norden und
Süden weiter auseinander, als sie es am Anfang desselben gewesen
waren. Der Norden fühlte sich zurückgeblieben, der Realismus
allein hatte nicht genügt, ihn künstlerisch frei zu machen, er
setzte schließlich neue Hoffnungen auf die »antikischen Art«.


Ich fasse zusammen: Die Bezeichnung Renaissance in dem
bisher üblichen Umfange ist unentbehrlich. Ein daneben aufkom-
mender zweiter Renaissancebegriff mit erweitertem Geltungs-
bereich wäre nichts als ein Spiel mit Worten, und ein durch seine
Zweideutigkeit verhängnisvolles. Wir sprechen ja von Renaissance
[55]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
nicht bloß in der Kunstgeschichte. Auch auf anderen Gebieten
wird Neubelebung eines vergessen gewesenen Alten so genannt;
und immer denkt man dabei besonders gern an die Antike, wie wenn
man z. B. das deutsche Geistesleben in der Zeit Winckelmanns
und Goethes eine zweite Renaissance heißt. Daß aber etwas
ganz Neues, ganz Eigenes, wie die van Eycksche Kunst, auch
Renaissance heißen soll, wird der gesunde Menschenverstand
niemals akzeptieren. Zur Kennzeichnung des der nordischen
und der italienischen Kunst gemeinsamen Gegensatzes gegen das
Mittelalter genügt die Kategorie »neuzeitliche Kunst«. Insoweit
also ist nach einer Reform der bestehenden Terminologie kein
Bedürfnis vorhanden. Wohl aber enthält dieselbe eine Lücke,
darin bestehend, daß die in sich geschlossene Epoche der nordischen
Kunst vom Ende des 14. Jahrhunderts bis zum Eintritt des
Italismus im 16. einen eigenen Stilnamen noch nicht besitzt. Will
man diese Lücke ausgefüllt haben, so kann das nur durch einen
neu zu erfindenden Namen geschehen. Wir haben dasselbe bei
Prägung des Namens »romanisch« getan und mit bestem Erfolg.
Ob ein ähnlicher Versuch auch hier gelingen würde, kann nie-
mand voraussehen.


Auch die eifrigsten Reformfreunde im Sinne des erweiterten
Renaissancebegriffes empfinden es peinlich, daß durch das Ver-
halten der nordischen Architektur im 15. und früheren 16. Jahr-
hundert ein Riß in ihr System gebracht wird. Diesen zu schließen,
haben jetzt A. Schmarsow und sein Schüler E. Haenel unter-
nommen. Ihnen dient dazu das ebenso wie der »Realismus und
Individualismus« aus der Burckhardtschen Hinterlassenschaft
genommene Zauberwort »Raumstil«. Renaissance ist Raumstil,
Spätgotik ist Raumstil, folglich ist Spätgotik Renaissance.


Diese Schlußkette ist offenbar logisch nicht richtig konstruiert.
Sie wäre es nur, wenn der erste Satz lautete: jeder Raumstil er-
gibt Renaissance. Das hat aber weder Burckhardt noch sonst
jemand bis jetzt behauptet. Nach Burckhardt bildet der Raumstil
ein allgemeines Prinzip, das sich durch eine ganze Reihe histo-
rischer Stile verfolgen läßt, den spätrömischen, den byzantinischen,
den italienisch-gotischen, bis es in der Renaissance seine feinste
[56]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
und kräftigste Entfaltung fand. Also: nicht jeder Raumstil ist
Renaissance und Renaissance ist nicht Raumstil allein — gerade
so wie sie im Bereiche der Bildkünste nicht Realismus allein ist.
Wäre die nordische Spätgotik wirklich Raumstil, so würde sie
immer nicht mehr sein als eine partielle Vorstufe zur Renaissance
und würde damit in gleiche Linie mit der italienischen Gotik
rücken, nicht weiter. Denn noch ist es nicht Brauch, Gebäude
wie den Dom von Florenz oder S. Petronio in Bologna nach ihrer
stilischen Totalität zur Renaissance zu rechnen, obschon viel
latente Renaissance in ihnen ist.


Nun aber die Hauptsache: ist die nordische Spätgotik
wirklich Raumstil im spezifischen Sinne? Um sie als solchen
charakterisieren zu dürfen, müßten wir an ihr folgendes nach-
weisen können: 1. daß das Interesse an der schönen Raumgestal-
tung über die anderen baukünstlerischen Interessen dominierte;
2. daß es ein bewußteres, helleres war als auf den früheren Stufen
der Gotik; 3. daß es in folgerichtiger Klärung, Befreiung und
Steigerung in die Renaissance als ihren Höhepunkt hinüberführte.


Keine einzige dieser Bedingungen trifft in Wirklichkeit zu.
Selbst das Schlußglied der postulierten Entwicklung, die deutsche
und niederländische Renaissancearchitektur des 16. Jahrhunderts,
war alles eher als Raumstil; sie war in keinem Punkte von der
primären, d. h. italienischen Renaissance so weit entfernt als in
diesem. Schmarsow läßt somit in der Spätgotik sich etwas
vorbereiten, was nie eingetreten ist. Aber auch nach rückwärts
verglichen kann ich nicht zugeben, daß die Spätgotik raum-
künstlerisch über die Hochgotik hinausgegangen wäre. Es liegt hier
eine leicht aufzulösende Täuschung vor. Schmarsow hat als Hebung
des Sinnes für Raumschönheit angesehen, was lediglich ein Sinken
des Sinnes für organische Schönheit war. Das ist, wie mich dünkt,
ohne weiteres klar, wenn man die von Schmarsow, als Hauptver-
treter dessen, was ihm deutsche Frührenaissance ist, aufgeführten
Denkmäler genannt hört. Eröffnet wird die Reihe durch die
Kreuzkirche in Schwäbisch-Gmünd (erbaut seit ca. 1330); es folgen
die Kirchen S. Georg in Nördlingen, S. Georg in Dinkelsbühl,
die Frauenkirche in München, die Martinikirche in Landshut,
[57]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
die Pfarrkirchen zu Schwaz und Hall in Tirol; in Norddeutsch-
land die Wiesenkirche in Soest, die Lambertikirche in Münster usw.
Alle diese Bauten gehören, wie man sieht, in eine bestimmte mor-
phologische Klasse, die der Hallenkirche. Die von Schmarsow
und Haenel gegebene Analyse ihres »Raumstils der deutschen
Frührenaissance« ist nichts anderes als eine Analyse der Hallen-
kirche überhaupt. Aber bekanntlich ist dieser Typus weder an
Deutschland noch an den gotischen Stil gebunden; er reicht in
Frankreich bis in die Anfänge der Gewölbearchitektur im frühen
11. Jahrhundert hinauf. Was der Hallenkirche in der Konkurrenz
mit der Basilika am meisten das Wort redete, war die Verein-
fachung der Konstruktion, die bequemere Widerlagerung der
Gewölbe. Dies ist auch durchaus die einleuchtendste Erklärung
für ihre große Beliebtheit in der deutschen Spätgotik. Sparsame
und einfache Konstruktion ist ja ein Hauptziel dieser vom bürger-
lichen Mittelstande regierten Kunst; auch die der Hallenkirche
eigene Klarheit und Übersichtlichkeit der Raumbildung war
gewiß nach ihrem Sinn. Ist damit aber auch schon ein Raumstil
in der zu verlangenden Bedeutung begründet? Den Maßstab
dafür können nur die vorangehenden Stilstufen geben. Hier muß
ich nun rund heraus sagen: wieso sich die Kreuzkirche in Gmünd
und was ihr folgt »der gotischen Raumbildung entfremdet« habe;
wodurch sie »eine Urkunde neuen Wollens« geworden sei, wie man
überhaupt den Unterschied zwischen spätgotischen und hoch-
gotischen Hallenkirchen allem voran in die Raumbehandlung
legen kann — das liegt außerhalb meines Verständnisses. Die
Veränderungen, die mit der Hallenkirche vor sich gehen, liegen
in der Form der Stützen, der umschließenden Mauern, der Ge-
wölbe, nur sekundär im Raum. Gerade unter den frühesten
gotischen Hallenkirchen sind einige, wie der Dom von Minden
in Deutschland, die Kathedrale von Poitiers in Frankreich, die
in freier Raumschönheit später nie wieder erreicht worden sind.
Es fehlt der Spätgotik überhaupt an einem bestimmt charak-
terisierten Raumideal. Wir finden nebeneinander langgestreckte
Anlagen mit schmaloblongen Jochen, wie die Kreuzkirche in
Gmünd, und quadratische Anlagen mit ebenfalls quadratischer
[58]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
Teilung, wie die Frauenkirche in Nürnberg, übermäßig steile
Querschnittprofile, wie in St. Martin zu Landshut, und breit-
gequetschte, wie in der Stiftskirche zu Stuttgart, und andere
Zeugnisse eines schwankenden Raumgefühles mehr. Sodann die
von Haenel gerühmte Einheitlichkeit des Grundrisses, d. i. Mangel
eines Querschiffes und einfache Gestaltung des Chors, hätte doch
nur etwas zu bedeuten, wenn sie etwas Neues wäre; allein sie war
in Süddeutschland von jeher zu Haus und in Norddeutschland
wenigstens an den Hallenkirchen die Regel. Den Gipfel der Einfach-
heit in der Grundrißdisposition hatte aber schon lange vorher
die Kathedrale von Poitiers erreicht. Hätten Schmarsow und
Haenel, wie sich ziemte, diese historischen Maßstäbe in die Hand
genommen, dann wären sie vor dem Irrtum bewahrt geblieben,
von der Gmündner Kreuzkirche den Eintritt einer neuen Ära,
den Eintritt der Frührenaissance, zu datieren. Aber auch ohne
Vergleichungen, allein aus den ihnen vorliegenden Denkmälern,
hätten sie merken müssen, daß der Sinn für einheitliche Raum-
gestaltung in der Spätgotik geradezu im Rückgang war. Ich
nenne zum Beweis zwei häufig vorkommende Eigentümlichkeiten.
Nach der einen wird die Decke, die nach Maßgabe der Raumidee
in gleicher Höhenlage bleiben müßte, beim Eintritt in den Chor
geknickt, d. h. in willkürlicher Weise bald höher, bald tiefer gelegt
als im Schiff (Beispiel die Kreuzkirche in Gmünd), nach der anderen
erhält das Mittelschiff eine Überhöhung im Sinne des Quer-
schnittes, woraus eine schlaffe Zwitterbildung zwischen Hallen-
und Basilikenanlage entsteht (Beispiel: die Frauenkirche in Ingol-
stadt); ferner die Verbindung eines basilikalen Langhauses mit
einem hallenmäßigen Chor (Beispiele: St. Sebald und S. Lorenz
in Nürnberg); es können damit anziehende malerische Wirkungen
erzielt werden, aber es ist ein Hohn auf die einfachsten Prinzipien
der Raumkunst. Dasselbe gilt von Ulrichs von Ensingen Plan
für das Ulmer Münster; ursprünglich als Hallenkirche gedacht,
wurde es zur Basilika umgebaut, aber so, daß die Seitenschiffe
sich bis zur gleichen Breite mit dem Mittelschiff erweiterten,
in völliger Verkennung des der Basilika eigentümlichen räumlichen
Rhythmus. Noch später wurden die Seitenschiffe geteilt, so daß
[59]Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
die Gesamtzahl fünf erreicht wird. — Wohin man auch blicken
mag, von einem einheitlichen Willen der spätgotischen Epoche,
die Raumschönheit in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen In-
tention zu stellen, kann gar nicht die Rede sein.


Wenn die italienische Renaissance darauf ausging, den Innen-
raum in seinen stereometrischen Verhältnissen klar darzulegen,
ihn fest zu umgrenzen, ihn nach leicht faßbaren und meßbaren
Proportionen zu gliedern: so ist der spätgotische Raum das Gegen-
teil davon, eine unbestimmt verschwimmende, geometrisch un-
definierbare, formlose Masse. Nein, die Spätgotik ist nicht »Raum-
stil«. Ihr Lebensprinzip liegt in einer ganz anderen ästhetischen
Kategorie. Es ist die Zusammenfassung der Architekturteile zu
einer malerischen Einheit. Noch mehr: die Architektur an
sich ist unfertig, sie bedarf der Ergänzung durch die in bekannter
Massenhaftigkeit in sie hineingestellten künstlerischen Sonder-
existenzen: die Altäre, Sakramentshäuser, Kanzeln, Lettner,
Schranken und Chorstühle, Grabmäler usw. Erst durch die opti-
schen Beziehungen dieser Stücke unter sich und mit dem architek-
tonischen Hintergrunde wird das gewollte Endergebnis gewonnen:
das Bild. Es hat dem Charakter dieser Innenräume wenig,
oft nichts geschadet, wenn die gotischen Mobilien durch barocke
ersetzt wurden, aber die nach modernen puristischen Restau-
rationen zurückbleibende Leere traf ihren Lebensnerv. Die schon
in der sog. deutschen Renaissance eintretende Vermischng der
Stilformen ist gar keine Inkonsequenz, sie paßt ganz zum Wesen
dieses nicht in Formen, Konstruktionen oder Raumkategorien,
sondern in malerischen Bildeindrücken denkenden Stils.


Wohin sollen wir nun diese »Spätgotik« geschichtlich ein-
ordnen? Mit der Gotik der Kathedrale von Amiens hat sie offen-
bar, außer in Äußerlichkeiten, nichts zu tun — aber auch nichts
mit der Renaissance eines Brunellesco und Bramante. Der funda-
mentale Irrtum bei Schmarsow liegt darin, zu meinen, daß wir
nur zwischen den zwei Möglichkeiten — entweder Ende der
Gotik, oder Anfang der Renaissance — die Wahl hätten. Ich sehe
in der nordischen Spätgotik ein neues Drittes wirksam. Ich finde,
daß dieses das Absterben der gotischen Zierformen überlebt, ja erst
[60]
Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
danach zu voller Klarheit über sich selbst kommt. Der Weg der
Entwicklung geht von der Spätgotik in gerader Linie zum Barock,
an der Renaissance vorbei, öfters durch Flankenangriffe der Re-
naissance beunruhigt, aber nie von ihr ganz durchbrochen. Vielleicht
wird weitere Überlegung — die aber im Rahmen dieser kritischen
Erörterung nicht mehr angestellt werden kann — noch einmal
zur Einsicht führen, daß das historische Verhältnis von Renaissance
und Barock nicht ein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander ist.
Damit wäre auch der eben so eifrig als fruchtlos geführte Streit
über die Spätgotik geschlichtet. Sie wäre dann nicht sowohl
Übergang zur Renaissance als Übergang zum Barock. Und viel-
leicht findet sich einmal in guter Stunde auch noch ein Name
für sie. Etwa »Vorbarock«? wie wir ja schon lange gewöhnt
sind, bekannte andere Erscheinungen als »Vorrenaissance« zu
bezeichnen. Oder noch präziser: »gotisierendes Barock«.


[[61]]

DEUTSCHE
KUNSTGESCHICHTE
UND DEUTSCHE
GESCHICHTE


1907
Aus dem 100. Bande der Historischen Zeitschrift


[[62]][[63]]

Es mag erlaubt sein, an dieser Stelle, wo regelmäßig
über neuerschienene Bücher Bericht erstattet
wird, einmal auch von einem Buche zu sprechen,
das wir nicht haben, aber haben sollten.


Auf dem Titel dieses Buches würde stehen:
»Geschichte der deutschen Kunst.« Warum hat die deutsche
Kunstwissenschaft, der man Regsamkeit gewiß nicht wird ab-
sprechen können, eben dieses Buch, von dem man unbefangen
meinen müßte, es sei das begehrteste unter allen denkbaren,
noch nicht hervorgebracht? noch kein Buch, in dem die deutsche
Kunst als historisches Ganzes erfaßt und dargestellt wird?


Das vor 20 Jahren im Verlage der G. Groteschen Buch-
handlung in Berlin herausgegebene bekannte fünfbändige Werk
trug zwar den vermißten Titel »Geschichte der deutschen Kunst«,
und es war ohne Zweifel auch ein gutes Buch; aber, was der Titel
verhieß, eine einheitliche Geschichtsdarstellung war es doch wohl
nicht. Von fünf Verfassern (Dohme, Bode, Janitschek, Lützow, Falke)
wurde in fünf Sonderbüchern Baukunst, Bildhauerkunst, Malerei,
Holzschnitt und Kupferstich, Kunstgewerbe jedes für sich vorge-
tragen — und dem Nachdenken des Lesers blieb das Letzte, Beste
und Schwerste überlassen, die Erkenntnis dessen, was über den
fünf Stücken als Einheit walte. Es ist retrospektiv von Interesse,
in der Vorrede (von Dohme) die Rechtfertigung dieses Verfahrens
nachzulesen. »Seit Schnaases grundlegender Arbeit ist es in der
Kunstgeschichte vielfach beliebt, die sachliche Nüchternheit
fachmännischer Erörterungen durch Einschiebung allgemeiner
kulturgeschichtlicher Exkurse zu würzen. Derartige Hintergrund-
stimmung aber ist unvermeidlich einseitig auf das jedesmalige
besondere Bedürfnis der Autoren getönt, wenn sie nicht einfach
als entbehrliches Ornament auftritt. Denn in erster Linie muß die
Entwicklung jedes Kunstzweiges aus sich selbst, d. h. aus den jedes-
maligen technischen und künstlerischen Voraussetzungen heraus er-
faßt werden.« Worauf ich damals in meiner Anzeige erwiderte: »Diese
Beschränkung ist gegenüber den »kulturhistorischen« Plattheiten
und verschwimmenden Allgemeinheiten eine gesunde Reaktion.
Aber eine Beschränkung bleibt es. Was Dohme vollkommen richtig
[64]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
als in erster Linie stehend bezeichnet, darf nicht vergessen machen,
daß es noch ein zweites, höheres Niveau der Betrachtung gibt,
auf dem die Einzelkunst nur als Ausfluß eines einheitlichen künst-
lerischen Gesamtbewußtseins, und dieses wiederum nur beschlossen
in dem geistig-materiellen Gesamtzustande der jeweiligen Epoche
erscheint.« Seitdem ist eine Geschichte der deutschen Kunst nicht
wieder geschrieben worden. Das ist sicher: die, die uns not tut,
kann nicht durch Assoziation entstehen. Sie wird das Werk eines
Einzelnen sein müssen.


In einer jeden Wissenschaft gibt es Entwicklungsepochen,
in denen die analytische Arbeit das Übergewicht über die syn-
thetische hat, unvermeidlich. Kein Glück ist es aber, wenn sich eine
solche Epoche zu sehr in die Länge zieht, was nachgerade der Fall
geworden ist. Nun wird man von der deutschen Kunstwissenschaft
der Gegenwart ohne Ungerechtigkeit nicht behaupten können,
daß sie synthetischer Betrachtung überhaupt abhold sei. Nur
die Kunst des eigenen Volkes ist es, die bis jetzt in dieser Hin-
sicht leer ausging. Warum das? Ein bloßer Zufall ist es nicht;
Ursachen müssen da sein, aber wahrscheinlich sind sie sehr kom-
plizierter Natur.


Die in Rede stehende Lücke macht sich noch auffallender
geltend, wenn wir auf den nächstliegenden Parallelzweig der
historischen Literatur, die Geschichte der deutschen Dichtkunst,
hinsehen, wo es Darstellungen jeder Art und jeden Umfanges seit
langem und in Fülle gibt, vom schweren gelehrten Kompendium
bis zur populären Übersicht in mannigfachster Abstufung. Sollte
etwa im Publikum das Interesse an der bildenden Kunst im glei-
chen Maßstabe kleiner sein? Diese Folgerung wäre irrig. Wie man
immer das Gewicht des ästhetischen Faktors im Gesamtleben
unserer Zeit abschätzen mag, — zum mindesten die äußere Be-
kanntschaft mit Werken der Kunst, alter wie neuer, geht in der
heute lebenden Generation in die Breite wie nie. Es ist die moderne
Technik, die auch nach dieser Seite hin für unsere Kultur ganz neue
Bedingungen hervorgerufen hat. Eisenbahnen und Photographie
haben den angesammelten Schatz alter Kunst aus seiner ört-
[65]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
lichen Gebundenheit gelöst, ihm wie durch ein Wunder gleichsam
Überallheit geliehen, sei es, daß wir als Reisende mit leichter
Mühe an ihn herankommen, sei es, daß er in der Vervielfältigung
durch den Kunstdruck uns ins Haus dringt. Poesien kann man
ungelesen lassen; Architekturen, Skulpturen, Bilder und ihre Nach-
bildungen nicht zu sehen, ist beinahe unmöglich. Der heutige
Mensch, mag er wollen oder nicht, er steht unter einer Überschwem-
mung von Eindrücken dieser Art, und seine größte Sorge müßte
sein, in seinem Geiste in dies Viele, Vielzuviele einigermaßen
Ordnung zu bringen. Betrachten wir die diesem Bedürfnis ent-
gegenkommende Betriebsamkeit des Büchermarktes, so wird die
Frage immer dringender: warum unter allem keine Geschichte
der deutschen Kunst?


Der Erklärungsversuch muß weiter ausholen. Offenbar be-
trachten wir Kunstwerke, wofern wir nicht schon in bestimmter
Weise wissenschaftlich diszipliniert sind, anders als alle anderen
historischen Erscheinungen. Sobald ihr künstlerischer Gehalt
spontan in Wirkung tritt, gewinnen sie die volle Kraft des Lebendig-
Gegenwärtigen; wir können es gänzlich vergessen, daß wir es mit
dem Niederschlag eines längst abgelaufenen geschichtlichen Pro-
zesses zu tun haben. Es bedarf hier der gar nicht leicht zu ge-
winnenden geistigen Schulung des Fachmannes, um das ästhetische
Interesse und das historische Interesse rein gegeneinander abzu-
grenzen. Nichts ist aber begreiflicher als dieses, daß der im all-
gemeinen kunstfreundlich gesinnte Laie, der sich mit alter Kunst
gelegentlich einmal beschäftigt, von der ästhetischen Seite viel
schneller und stärker ergriffen wird als von der historischen.
Darauf ist denn auch mehr und mehr unsere ganze populäre kunst-
geschichtliche Literatur (einigermaßen nur mit Ausnahme der auf
die Antike bezüglichen, für die schon durch unsere Gymnasial-
bildung andere Voraussetzungen geschaffen sind) abgestimmt.
Um es kurz zu sagen: wer als Nichtfachmann ein kunstgeschicht-
liches Buch in die Hand nimmt, sucht heute nicht in erster Linie
historische Erkenntnis, sondern Anleitung zu ästhetischem Genuß.
So angesehen hat ganz folgerichtig auch für den Deutschen die
deutsche Kunstgeschichte auch keinen Vorzug vor der Kunstge-
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 5
[66]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
schichte anderer Völker zu beanspruchen; ja es wäre begreiflich,
wenn sie, als Quelle des Genußes angesehen, geringeren Reiz
ausübte.


Dies führt hinüber auf einen zweiten Erklärungsgrund. Die
Sprache der bildenden Kunst ist nicht — so scheint es wenigstens
— wie die der Dichtkunst an ein einzelnes Volkstum gebunden,
sie ist international. Es bedarf schon eines viel tieferen Eindringens
in ihr Wesen, um zur Erkenntnis zu gelangen, daß das Wort:
»Wer den Dichter will verstehn, muß in Dichters Lande gehn« —
erst recht für die bildende Kunst eine Wahrheit ist. Wenn jemand
in der Betrachtung der Dichtkunst seinen Interessenkreis weiter
ausdehnt, so hat er doch immer mit der heimischen Dichtung
begonnen, um nach und nach sich den fremden Literaturen zuzu-
wenden. Bei der Beschäftigung mit der bildenden Kunst gehen
aber für jeden von Anfang an alle Nationen durcheinander; ja
praktisch wird es den allermeisten Deutschen noch heute so er-
gehen, daß sie die ältere deutsche Kunst sogar später kennen
lernen als die antike, die italienische, die niederländische (womit
ich nicht urteilen, noch weniger verurteilen, vielmehr nur Tat-
sächliches feststellen will).


Beachten wir dann noch, als Bestätigung des eben Gesagten
die Zurückhaltung des Verlagsbuchhandels. Er hätte, wäre ihm
die Stimmung des Publikums günstig erschienen, längst die Ini-
tiative ergriffen. Daß er es nicht getan hat, darum sind wir ihm
gewiß nicht gram. Denn er hätte nur unreife Früchte vom Baume
geschüttelt.


Nun der wichtigste Punkt: warum man auch in den Reihen
der Kunstwissenschaft zögert? Daß es die Größe und Schwierig-
keit der Aufgabe allein sein sollte, die abschreckt, möchte ich
nicht glauben. Eine gewisse Rolle spielt wohl die Befürchtung,
daß ein so umfassender Gegenstand zu schnell in den Einzel-
heiten überholt sein werde. Gewiß, eine Monographie kann auf
längere Lebensdauer rechnen und ist insofern lohnender. Aber
das ist nichts der Kunstgeschichte Eigentümliches und braucht
deshalb hier nicht weiter erörtert zu werden. Das am ernstlichsten
hemmende Motiv wird folgendes sein:


[67]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte

Zurzeit beschäftigt uns am meisten die Erforschung der
inneren Kunstgesetze und die aus ihnen hervorgehende
Stilentwicklung. Diese Betrachtungsweise verleugnet
nicht das geschichtliche Moment, das in dem Begriff der Entwick-
lung schon gegeben ist; aber sie beschränkt es. Ihr erscheint die
Kunst als eine autonome Macht. Sie fragt wenig, zu wenig nach
den anderen geistigen Mächten, in deren Umgebung die Kunst
ihr geschichtliches Leben führt, und von denen sie mitbedingt
wird; sie fragt noch weniger nach den materiellen Voraussetzungen.
Sie gibt eine Geschichte des künstlerischen Denkens, nicht eine
vollständige Darlegung des wirklichen Verlaufes in seinen ver-
wickelten Kausalzusammenhängen. Liegt nun einmal der Schwer-
punkt des Interesses nach der eben angegebenen Seite, dann wird
es ganz begreiflich, daß die deutsche Kunstgeschichte als Ganzes
keine besondere Anziehungskraft ausübt. Was die französische
Kunst des hohen Mittelalters, die italienische der Renaissance
dem Beobachter darbieten, die allein auf ihrer eigenen Achse
ruhende Abwandlung eines bestimmten Komplexes von Problemen,
in sich geschlossen, vom Auslande weder hemmend noch fördernd
beeinflußt, etwas dem Ähnliches hat die deutsche Kunstgeschichte
nicht zu geben. Angenommen, über die Kunst Italiens wären
alle historischen Nachrichten verloren gegangen, so könnten wir
doch allein aus den Denkmälern den ganzen Verlauf von Giotto
bis auf Bernini im wesentlichen richtig rekonstruieren. An-
gesichts der deutschen Kunst, im gleichen Falle, würde uns
wer weiß wie oft der Faden abreißen. Ihre Bewegungszentren
liegen eben zu einem nicht geringen Teil außerhalb ihres
eigenen Gebietes. Ihr 13. Jahrhundert ist nicht denkbar ohne
die französische, ihr 15. nicht ohne die niederländische, ihr
16. nicht ohne die italienische Kunst. Und mit diesen Ein-
wirkungen durchkreuzen sich außerkünstlerische Gewalten der
eigenen Volksgeschichte. So entstehen, ohne von innen heraus
motiviert zu sein, Hebungen und Senkungen, Abbiegungen,
Brüche, irrationale Erscheinungen an allen Enden. Der Nur-
kunsthistoriker hat ein Recht zu sagen: was ich hier sehe, ist
keine Einheit; mich interessieren die einzelnen Abschnitte, aber
5*
[68]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
das Ganze ist mir kein Gegenstand der Darstellung, weil es
für mich ein Ganzes nicht ist.


Also: die Kunstgeschichte im engeren Sinne kann das am
Eingang unserer Erörterung postulierte Buch wohl entbehren.
Aber es gibt eine andere Wissenschaft, die es nicht kann: das ist
die deutsche Geschichte. Die Kunstgeschichte fragt: was sind
die Deutschen der Kunst gewesen? Die deutsche Geschichte:
was ist die Kunst den Deutschen gewesen? Beide Frage-
stellungen sind an sich berechtigt. Zu einem organischen Aufbau
des Geschehens führt nur die zweite. Und auch nur sie zu einer
Wertbeurteilung nach einheitlichem Maßstabe.


Die ästhetische Analyse behält daneben ihren selbständigen
Wert, sie erst lehrt uns die Sprache des Kunstwerkes verstehen,
sie ist die grundlegende Arbeit. Die historische Betrachtung aber
verlangt mehr. Sie weiß, daß an der realen Existenz des Kunst-
werkes auch noch andere als ästhetische Kräfte mitarbeiten (man
erwäge beispielsweise das große Kapitel Kunst und Religion).
In der Geschichtsdarstellung, an die ich denke, soll nicht von den
Taten der Künstler allein die Rede sein, sondern ebensoviel vom
Gegenspieler, dem Publikum. Den Stoff zum Kunstwerk gibt das
Leben, die Kunst gibt die Form. Die eigentliche Aufgabe des
Historikers nun, die allein er lösen kann, ist die Aufdeckung des
Lebensstoffes, der danach getrachtet hat, in Kunstform überzu-
gehen und in dieser gereinigten Gestalt wieder ins Leben zurück-
zukehren. Für den Historiker haben hier auch die Mißerfolge —
die der Ästhetiker gleichgültig beiseite schiebt — eine Bedeutung,
und man erwartet von ihm Einsicht in ihre Ursachen. Ganze Epo-
chen, die dem Ästhetiker leer erscheinen, werden dem Historiker
einen Inhalt gewinnen; oft genug wohl einen, der uns nicht gefällt,
den wir aber mit anderen Augen und weit aufmerksamer ansehen
werden, wenn wir erkannt haben, wie eng er mit den allgemeinen
Schicksalen unserer Nation verknüpft ist.


Daß die Denkmäler der Kunst eine Geschichtsquelle ersten
Ranges sind, insofern sie Zustände der Volksseele beleuchten
und Geheimnisse an den Tag bringen, von denen keine andere
Quellengattung etwas auszusagen vermag, das ist eine nicht be-
[69]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
strittene Wahrheit, in ihrer praktischen Anwendung bleibt noch
sehr viel zu tun übrig. Es bedarf hier einer kombinierten Arbeit,
deren Voraussetzung allerdings eine andere als die heute be-
stehende Arbeitsorganisation der historischen Disziplinen wäre.
Kunstwissenschaft und Geschichte müßten sich viel nähertreten;
auch schon in der Erziehung durch die Universität. Was ich natür-
lich nicht für jeden Einzelnen fordere. Auf jeden Fall müssen wir,
um Kunst aus Kultur und Kultur aus Kunst zu erklären, über die
vagen hypothetischen Analogien, deren schon genug vorgebracht
sind, hinauskommen und auch hier in wirkliche Einzelforschung
eintreten. Glückliche Zufallsfunde haben schon manchmal ganz
unerwartete Lichter aus der Tiefe aufblitzen lassen. Noch fehlt
die Methode. Wenn sie erst gefunden ist, stehen der Arbeit auf
diesem Gebiete noch große Erfolge bevor.



Die Deutschen sind als eine Rasse ohne Kunst in die Geschichte
eingetreten; alle Versuche, eine urgermanische Kunst zu ent-
decken, bewegen sich in Illusionen. Nicht ästhetische Begabung
überhaupt fehlte den Deutschen der Frühzeit, wohl aber waren
die Kräfte seelisch-sinnlicher Anschauung, welche die nächste
Voraussetzung der bildenden Kunst sind, noch latent. Sprache,
Religion, Recht finden wir mit poetischer Phantasie getränkt: —
an der Stelle, wo wir die Ansätze zur Kunst zu suchen hätten,
eine absolute Lücke. Was in dieselbe eintritt, ist Lehngut, von
den ältesten Anfängen an bis herab auf die große umfassende
Rezeption unter Karl dem Großen. Gesetzt, die Deutschen wären
von der Berührung mit älteren Kulturvölkern gänzlich abge-
schieden geblieben, so könnten wir uns nicht denken, daß sie
kulturlose Wilde für immer geblieben wären; aber sehr gut könnten
wir uns denken, daß sie so gut wie ohne Kunst geblieben wären.
Die Kunst ist zu den Deutschen gekommen als untrennbarer
Bestandteil der christlich-antiken Kultur. Sie ist gekommen wie
die Rose und der Weinstock. Und etwas von dem Charakter eines
empfindlichen Fremdlandgewächses hat sie immer behalten. Wo
die Kunst Urbesitz eines Volkes ist, da folgen die kunstgeschicht-
[70]
Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
lichen Schwankungen genau denen der allgemeinen Volksge-
schichte. Steht bei Griechen oder Italienern das allgemeine Leben
der Nation in Kraft, so steht auch immer die Kunst in Blüte;
das Welken der einen läßt mit Sicherheit auf Erkrankung
des anderen schließen. Einen so genauen Parallelismus kennen wir
in Deutschland nicht. Wir haben Zeiten gehabt, in denen das
Salz unseres Volkes keineswegs dumm geworden war und dennoch
die bildende Kunst gar nicht gedeihen wollte. Ja, es ist klar,
die Bedeutung, die die Kunst im späteren Mittelalter und bis in
die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts für das deutsche
Leben gehabt hat, hat sie nie wieder erreicht. Wollten wir daraus
Rückschlüsse von allgemeiner Tragweite ziehen, so kämen wir zu
ungerechtfertigt pessimistischen Ergebnissen.


In der Zeit von Karl dem Großen bis auf die ersten Staufen
etwa war die Herrin und Pflegerin der Kunst allein die Kirche.
Die Kunst war Tradition der Kultur, religiöses Erziehungsmittel;
ohne dieses Motiv hätte sie keine Existenz gewonnen. Was die
Laien beim Anblick z. B. der großen Bilderfolgen, mit denen sich
die Wände der Kirchengebäude bedeckten, unmittelbar ästhetisch
empfanden, wir wüßten es gern; aber jede Möglichkeit, darüber
direkt etwas zu erfahren, fehlt. Wir dürfen aber für die Wissen-
schaft die Hoffnung nicht aufgeben, daß verfeinerte Methoden
in der Beobachtung des Verhältnisses von Inhalt und Form uns
tiefere Aufschlüsse noch geben werden, als bis zu denen wir zurzeit
gelangt sind. Wäre die Volksphantasie ästhetisch indifferent
geblieben, so hätte auch die Kunst niemals mehr erreicht als nach-
ahmende Konservierung der Formenwelt der christlichen Antike.
Die Geschichte des romanischen Stils zeigt uns mit Deutlichkeit
eine wirklich lebende Kunst; ohne aktiven Anteil der allgemeinen
Phantasie hätte sie niemals hervorgebracht werden können. Wir
wissen, daß im Leben des einzelnen Menschen die vielleicht größte
Leistung seines Gehirns das Sprechenlernen im Kindesalter ist:
etwas Ähnliches bedeutet im Verhältnis des deutschen Geistes
zur Kunst die karolingisch-ottonische Epoche. Fügen wir noch
hinzu, daß, nachdem die erste Rezeption vollzogen war, der
deutsch-romanische Stil sich ohne nennenswerte Mithilfe Frank-
[71]Deutsche Kunstgeschichte nnd Deutsche Geschichte
reichs oder Italiens weiterentwickelte. Was dann die Kunst für
ihren zweiten, oder wenn man will obersten Beruf, die Vermittlung
religiöser Vorstellungen, geleistet hat, ist noch nie zusammen-
hängend untersucht worden; eine wissenschaftlich nicht leichte
Aufgabe, aber Aufschlüsse verheißend, die auf keinem anderen
Wege gewonnen werden könnten. — Nun folgt das staufische
Zeitalter und gibt das schönste Beispiel von dem, was durch
Kulturgemeinschaft gewonnen werden kann. Der deutsche Kunst-
organismus öffnet seine Poren durstig nach allen Seiten. Von
Byzanz, von Italien, vor allem von Frankreich wird viel gelernt,
doch so, daß alles Erworbene wieder zur Entbindung und Er-
höhung der eigenen Kräfte dient. Das glückliche 13. Jahrhundert
ist das einzige in unserer Geschichte, in dem alle künstlerischen
Kräfte gleichmäßig tätig waren: die Baukunst, die Bildhauer-
kunst, die Malerei und ihnen das Gleichgewicht haltend, die Dicht-
kunst. Es ist das am meisten ästhetische Jahrhundert, das wir
erlebt haben. Die Ursachen, weshalb schon vor seinem Ende die
hohe Stimmung wieder sank, weshalb die Kunst akademisch
erstarrte oder handwerklich verflachte, sind gewiß zu finden,
aber nur für den, der die Geschichte der Zeit nach allen Seiten
übersieht, und eben hier, wo die ästhetische Teilnahme erkaltet,
wird die historische erst recht lebendig. — Die neue Blütezeit,
von 1430 etwa bis 1530, ist der des 13. Jahrhunderts durchaus
unähnlich. Mit einer Einheitlichkeit und physiognomischen Schärfe,
wie auf keinem anderen Beobachtungsfelde, macht die Kunst die
innere Wandlung der Nation offenbar. Sie ist demokratisch ge-
worden. Zu großen typischen Stilschöpfungen ist die Zeit nicht
angetan, es ist die drängende Wirklichkeit des Lebens, mit der sie
jetzt auch künstlerisch sich auseinanderzusetzen hat. Damit treten
die Bildkünste an die Spitze der Bewegung, während die alte
Königin im Reiche, die Architektur, beiseite steht und nichts als
ihre alten Schläuche für den neuen Wein zu bieten hat. Niemals
vorher oder nachher hat im deutschen Volke, und zwar so, daß in
ausgeprägtester Weise die mittleren und unteren Schichten den
Ton angeben, ein ähnlich überschwengliches Verlangen nach Kunst
sich Luft gemacht. Man denke beispielsweise nur an die eine
[72]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
Gattung der Schnitzaltäre, deren jede Dorfkirche drei besaß
und die Stadtkirchen oft 30 oder 40, und berechne die daraus sich
ergebenden Zahlen; man denke weiter an die nicht leicht einer
Kirche fehlende Ölbergs- oder Kreuzigungsgruppe; endlich an die
unermeßliche Summe sepulkralen Bildwerks: — das gibt schon
in der einen, der plastischen Kunst die Vorstellung von einer
Massenproduktion, gegen die die gleichzeitige Leistung der ita-
lienischen Renaissance (wobei natürlich nur nach der Seite der
Quantität der Vergleich gezogen wird) ärmlich erscheint. Dies
alles war noch öffentliche Kunst. Zu ihr addiere man die neue,
ebenfalls auf Massenproduktion gerichtete Kunst fürs Haus, den
Kupferstich und Holzschnitt. Technisch lange schon vorbereitet,
hat doch erst der demokratische Drang dieses Zeitalters sie ins
Leben gerufen. Unsere besten Künstler haben ihre besten Ge-
danken diesem unscheinbaren Vehikel anvertraut, wohl wissend,
was sie damit gewannen, eine Publizität, gegen welche die von der
Wandmalerei des Mittelalters gewährte eine ganz enge war. Es
will doch viel sagen, daß diese Nation, welche in ihrer Jugend
von Kunst nichts gewußt hatte, welche sie erst von Fremden
hatte erlernen müssen, jetzt am Vorabend größter innerer Ent-
scheidungen auf sie als Ausdrucksmittel ihrer Herzensregungen
so volles Vertrauen setzte. Denn das ist klar: bei diesem all-
verbreiteten Hunger nach Kunst handelt es sich nicht um die Kunst
allein. Wieder, doch in einem sehr anderen Sinne als in den An-
fängen, ist es die Religion, die mit der eindringlichen Stimme der
Kunst sprechen will. Kein Historiker kann den Seelenzustand
des deutschen Volkes am Vorabend der Reformation kennen, er
hätte denn die Bilderwelt dieser Zeit aufs gründlichste sich zu
eigen gemacht. Und ebenso wird kein Kunsthistoriker glauben
dürfen, sein Gegenstand sei hier mit Forschungen über Schul-
zusammenhänge und Stilprobleme erschöpft. — Dann kam im
16. Jahrhundert, nach kurzer Blüte, die Katastrophe. Die deutsche
Kunst hat sich von ihr nie wieder ganz erholt. Der ersten
Berührung mit der Antike, in der Karolingerzeit, hatte sie ihr
ganzes Dasein zu verdanken gehabt; die zweite, in der Re-
naissance, wurde ihr Verderben. Die Deutschen des 16. Jahr-
[73]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
hunderts haben das Wesen der Renaissance niemals begriffen,
nur das Äußerlichste ihrer Schale sich angeeignet und willkürlich
aufgebraucht. Vielleicht wäre ihnen die durch das neue Problem
geforderte Gedankenarbeit zu einem besseren Ende gediehen,
wenn nicht zur unglücklichsten Stunde die Reformation die Geister
auf ganz andere Zielpunkte abgelenkt hätte. Was die Kunst aus
dem Kampfe gegen Veräußerlichung des Religionswesens gewinnen
konnte, das hatte sie schon in den letzten vorreformatorischen
Jahrzehnten gezeigt, und wir dürfen ohne Klügelei sagen: schon
damals war sie reformatorischen Geistes voll. In den Jahren des
Streites verschob sich alles zu ihren Ungunsten. Auch ihre zweite
Lebensader, die volkstümliche, zeigt sich alsbald nach Nieder-
werfung der Bauernbewegung unterbunden. Sie weicht in die
Häuser der Reichen und an die Höfe der Fürsten zurück und
wird hier zu dem, was für das deutsche Gefühl das wenigst ange-
messene ist, zu einer Luxuskunst, einer Verzierung des täglichen
Lebens. Die große Schulung und Geschicklichkeit des Hand-
werks läßt ihr noch einen gewissen äußeren Glanz — mit den
tiefsten Interessen der Nation hat sie keinen Zusammenhang
mehr. Dem Dreißigjährigen Kriege blieb nur übrig zu vollenden.
— Als der Friede wiederkehrte, waren von volkstümlicher Kunst
noch einige verkümmerte Reste übrig, die aber weiterhin aus
Nahrungsmangel vollends zugrunde gingen mit einziger Ausnahme
des katholischen Südens, wo die Verwüstung nicht so tief ein-
gedrungen war, und wo die Kirche mit Aufbietung großer Mittel
die Wiederherstellung eines Kunstlebens durchsetzte. Daß die
Barockkunst in Bayern, Oberschwaben und den geistlichen Staaten
am Main und Rhein eines der glänzendsten Kapitel der deutschen
Kunstgeschichte ist, daß in der fremden Formensprache viel
deutsche Gedanken zum Ausdruck kommen, ja daß selbst volks-
tümliche Anpassung nicht fehlte, dieses wird heute nicht mehr
verkannt. Wir haben eher Anlaß vor Überschätzung — nicht
ästhetischer, aber historischer — zu warnen. Die Kunst des
18. Jahrhunderts gehört nicht zu den Mächten, welche die Er-
hebung unseres nationalen Lebens vorbereiteten. Je mehr dieses
sich in seiner eigentümlichen Kraft entfaltete, um so schwächer
[74]Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
wurde sie, die Kunst. Parallel aber dem Sinken der produktiven
Kraft geht eine Verfeinerung, Erweiterung und bewußte Pflege
der rezeptiven Fähigkeiten, die in der deutschen Kultur etwas
Neues ist. Goethe ist darin vorbildlich für den Deutschen des
19. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert wird in der Kunst-
geschichte keine tiefen Spuren hinterlassen; sicher ist doch diesem
Jahrhundert die Kunst etwas, sogar viel gewesen; nur war es nicht
die eigene Kunst. Das Jahrhundert Goethes gleicht in seiner
Traditionslosigkeit und seinem Vertrauen auf ein in der Zeiten
Ferne liegendes klassisches Ideal keinem früheren so sehr als der
Karolingerzeit.



Mit dieser Skizze habe ich zeigen wollen, daß eine Darstel-
lung der Geschichte der deutschen Kunst erheblich mehr zu um-
fassen hätte, als was man gewöhnlich der Kunstgeschichte zuschiebt.
Nicht auf etwas mehr oder weniger »kulturgeschichtlichen Hinter-
grund« kommt es an, sondern darauf, das Verhältnis der Nation
zur Kunst in seiner Ganzheit, in seinen Bedingungen wie in seinen
Wirkungen, nach der produktiven wie nach der rezeptiven Seite
hin historisch zu erfassen. Unter den Aufgaben, die der Geschichts-
wissenschaft vorgelegt werden können, wird es freilich eine an den
Bearbeiter größere Anforderungen stellende nicht leicht geben.
Prinzipiell unlösbar ist sie nicht.


[[75]]

HISTORISCHE
BETRACHTUNG
ÜBER DIE KUNST
IM ELSASS


1909
Rede auf der Versammlung deutscher Historiker
zu Straſsburg


[[76]][[77]]

Die Redner der Historikertage wählen sich ihre
Gegenstände ohne Rücksicht auf den zufälligen Ort
der Zusammenkunft; nur einer von ihnen soll
eine Ausnahme machen, er soll dem Genius loci die
Huldigung bringen.


Was ich in diesem Sinne anzubieten habe, sind historische
Erwägungen auf Grund kunsthistorischen Materials. Ich werde
von Kunst, aber ich werde von ihr nicht um ihrer selbst willen
reden; wir wollen sie als einen Spiegel befragen, der auch Züge
des allgemeinen geschichtlichen Lebens auffängt und zurückwirft,
— hier im Elsaß, wie mich dünkt, mit einer vielsagenden Deutlich-
keit, wie anderswo nicht oft.


In ihrer konkreten Erscheinung in der Geschichte wird die
Kunst überall durch eine doppelte Tendenz bewegt. Insofern
sie idealisierende Selbstdarstellung der sie hervorbringenden
Menschen ist, wird sie bestrebt sein, sich abzuschließen, sich un-
vermischt zu halten; dann aber will sie auch einem allgemeinen
Vollkommenheitsideal sich nähern, und dies treibt sie, sich zu
öffnen, mit den Erfahrungen und Errungenschaften der Nachbarn
sich auseinanderzusetzen. Niemals herrscht eine dieser beiden
Tendenzen allein, aber in ihrer verhältnismäßigen Stärke sind
sie verschieden von Fall zu Fall. In der elsässischen Kunstgeschichte
steht in naher Beziehung zu ihnen eine äußere Bedingung, die stets
unverändert geblieben ist: von der karolingischen Zeit ab fiel
die politische Westgrenze des Elsaß mit der deutsch-romanischen
Sprachgrenze zusammen; ja auch die Südgrenze ist Auslands-
grenze, insofern als etwa aus Italien kommende Einströmungen
hier zuerst deutschen Boden erreichten.


Was hat nun diese Grenzlage für die Kunst des Elsaß in der
Geschichte bedeutet? Haben die Elsässer ein besonders offenes
Organ für das Fremde besessen, einen besonderen Eifer, es sich
anzueignen? Ist hier vielleicht eine germanisch-romanische Misch-
und Übergangskunst entstanden? Oder ist zum mindesten in
jenen Epochen, in denen auch das ganze übrige Deutschland der
Aufnahme westlicher Kultur- und Kunstformen sich geneigt
zeigte, dem Elsaß eine bedeutende Vermittlerrolle zugekommen?
[78]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Das sind Möglichkeiten, die durchaus im Bereich der Wahrschein-
lichkeiten liegen; immerhin nur Möglichkeiten. Wieviel davon ist
Wirklichkeit geworden? Diese Fragen, ohne daß ich sie jedesmal
laut wiederhole, mögen uns bei der Betrachtung des historischen
Verlaufs begleiten.


Von der römischen Epoche, aus der sich Denkmalüberreste
in ziemlicher Menge, wie Sie wissen, erhalten haben, brauche ich
nicht zu reden. Es führt keine Brücke, lokalgeschichtlich genommen,
von ihr zum Mittelalter hinüber. Eine zweite, weit spätere Ein-
strömung der Antike mußte kommen, um eine keimfähige Aussaat
zu bringen: die in der Kirche organisierte christliche Antike.
Aus ihr entstand im Reiche der Karolinger der sog. romanische
Stil. Denkmäler aus seiner Werdezeit besitzt das Elsaß nicht.
Zu überlegen bleibt, daß wir für die Ankunft fruchtbarer Anregungen
nicht ausschließlich an den westlichen Weg zu denken brauchen.
Literarische Quellen weisen beispielsweise auf nahe Beziehungen
zwischen Murbach, dem wichtigsten Kloster des Oberelsaß, und
dem Bodenseekloster Reichenau, und da ist es auch für die Kloster-
kunst ganz gut möglich, fast wahrscheinlich, daß dieselben
Beziehungen nicht wirkungslos gewesen sein mögen; dieser zweite
Weg aber würde nach Italien hinweisen.


Die durch Denkmäler dokumentierte Kunstgeschichte des
Elsaß beginnt erst diesseits des Jahres 1000.


Das älteste erhaltene Bauwerk romanischen Stils von Belang
in unserem Lande ist die Nonnenklosterkirche Ottmarsheim bei
Mülhausen. Papst Leo IX. vollzog hier eine Weihe, was einen un-
gefähren Anhaltspunkt für die Entstehungszeit gibt. Ottmars-
heim ist ein Zentralbau, im Grundriß achteckig, mit innerem
Umgang und Emporen, durchaus gewölbt, der Mittelraum mit
Kuppel. Die zentrale Anlage ist im Verhältnis zum Zweck un-
gewöhnlich, wenn auch nicht völlig alleinstehend; freilich im
Lande selbst waren sicher keine namhaften Vorbilder gegeben.
Wenn man nach einem solchen suchte, hätte man eines verhältnis-
mäßig nahe in Dijon, in der berühmten Benignuskirche, haben
können. (Dijon ist von Ottmarsheim in der Luftlinie nicht sehr viel
weiter entfernt als Straßburg.) Dieses aber ist nicht benutzt
[79]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
worden. Auch keine der ziemlich zahlreichen Zentralkirchen
Oberitaliens. Das Muster der Kirche zu Ottmarsheim liegt in
räumlichem Sinne in großer Entfernung. Es ist das Münster Karls
des Großen in Aachen. Die Nachahmung ist, von leichten Ver-
einfachungen abgesehen, so genau, daß jeder Zweifel über das
Verhältnis wegfällt. Welche Beziehungen darauf geführt haben,
wissen wir nicht; soviel aber ist deutlich, sie liegen kunstgeschicht-
lich durchaus in der deutschen Sphäre. Und ebendahin weisen
die wenigen charakterisierten Schmuckformen des schlichten
Baus, zumal das Würfelkapitell ist ein damals kaum vor 50 Jahren
erst in Aufnahme gekommenes selbständig deutsches Form-
erzeugnis.


Etwas weiter zurück, bis zum Jahre 1020, führt der Neubau
des Straßburger Münsters durch Bischof Werinher. Die unter
dem Fußboden des heutigen Münsters in den letzten Jahren an-
gestellten Nachforschungen haben in betreff seiner zu Ergebnissen
von weit mehr als bloß lokalem Interesse geführt.


Es steht jetzt fest, das Münster Werinhers hat schon dieselbe
Ausdehnung, dieselben Grundlinien gehabt wie das heutige. Das
sind für die Frühzeit des romanischen Stils außerordentliche
Abmessungen, in Deutschland erst vom Speierer Dom, in Frank-
reich noch später und auch nur dies eine Mal, von dem dritten
Neubau der Klosterkirche Cluny, übertroffen; ja in einem für
den Eindruck wesentlichen Punkte, in der machtvollen Breite des
Hauptschiffes, auch von jenen nicht erreicht. Nicht lange vorher
waren die Dome von Mainz und Worms neu aufgebaut worden;
offenbar wollte Straßburg mit ihnen in Wetteifer treten, sie be-
siegen. Ein lange nicht gekannter Baueifer, oft von hoher monu-
mentaler Gesinnung getragen, war damals, in der auf die ersten
Ottonen folgenden Generation, allenthalben in Deutschland er-
wacht. Er ist die solenne Besiegelung des nach einer Epoche der
Zagheit und Unkraft wiedergekehrten Vertrauens in die Stand-
festigkeit der öffentlichen Ordnung. Wir können es deutlich ver-
folgen, wie dieser Baueifer zuerst im Stammland des Königs-
hauses einsetzt, dann in den Süden sich fortsetzt. Dies ist der
Zusammenhang der Dinge, in dem der große Münsterneubau in
[80]
Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Straßburg geplant und begonnen wurde. Zum erstenmal drang
in das Elsaß ein belebender Impuls aus dem deutschen Norden.
Unser Münster ist das Denkmal dieses merkwürdigen Augen-
blickes.


Nun möchte ich noch auf ein baugeschichtlich ungemein
wichtiges Einzelergebnis der jüngsten Münsterforschung in aller
Kürze zu sprechen kommen. Es hat sich erwiesen: schon am
Bau von 1020 war die Fassade doppeltürmig. Das ist das älteste
Beispiel dieses für den mittelalterlichen Kirchentypus wichtigen
Motives. Bisher galt als solches die Klosterkirche Limburg a. d.
Hardt, und es wurde für sie die Ableitung aus dem burgundischen
Cluny als eine sich gut empfehlende Hypothese angenommen.
Jetzt, nach der Straßburger Entdeckung, wird die Selbständigkeit
des Oberrheins in der Entwicklung der Doppeltürme weit wahr-
scheinlicher, wobei an eine Wurzelgemeinschaft mit Burgund,
eine sehr alte müßte sie sein, aber nicht an Import der fertigen
Form von dort, immerhin noch gedacht werden kann.


Ich wende mich nun zu der Epoche des reifen und des späten
romanischen Stils, die für das Elsaß die staufische Epoche
noch in einem besonderen Sinne ist. Sie ist sehr fruchtbar ge-
wesen, im Kirchen- wie im Burgenbau. Ihren Denkmälern, trotz
massenhafter Zerstörungen, in denen besonders die Revolution
und das erste Kaiserreich eifrig waren, begegnen wir immer noch
auf Schritt und Tritt. Neben dem Straßburger Münster sind es
am meisten sie, durch die die historisch-künstlerische Physiognomie
unseres Landes ihre charakteristischen Linien empfängt. Es ist
eine durchaus einheitliche Kunst und mehr als in irgendeiner
anderen Epoche elsässische Eigenkunst; in der gei-
stigen Grundsubstanz deutsch, aber mit sehr bestimmter land-
schaftlicher Sonderfarbe. Man trete etwa vor die Fassade der
Abtei Maursmünster oder in das Schiff der Kirche von Rosheim
und man hat, in der symbolischen Sprache der architektonischen
Kunst, eine Schilderung alemannischer Stammesnatur so treu,
eindringlich und unmittelbar, wie sie durch nichts anderes über-
liefert ist. Diese ihrer selbst so sichere Kunst hatte jenseits der
Grenzen wenig zu suchen, aber sie brauchte auch keine Absper-
[81]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
rung, um sich zu behaupten. Von lombardischen Maurern, deren
Spuren bis nach Speier hin erkennbar sind, lernte man technische
Verbesserungen; einige burgundische Erinnerungen spielen in die
Schmuckformen hinein; um so bedeutsamer ist die unbefangene
Selbständigkeit in den für die künstlerische Gesinnung entschei-
denden Dingen. Wenn einige jenseits des Vogesenkamms liegende
Bauten Lothringens Ähnlichkeit mit elsässischen aufweisen, so ist
das Elsaß als der gebende Teil anzusehen. Dagegen ist ein Über-
greifen elsässischer Einflüsse auf das rechte Rheinufer in dieser
Zeit noch nicht zu bemerken; die wenigen romanischen Bauten
dieses Gebietes schließen sich eng der Schule von Hirsau an. Nur
gegen Basel und Speier, also entsprechend einem auf das linke
Rheinufer beschränkten nordsüdlichen Verkehr, finden sich stili-
stische Übergänge.


Das ist überhaupt der Charakter des 12. Jahrhunderts:
Gliederung der europäischen Baukunst in eine große Zahl land-
schaftlicher Partikularstile. Die entgegengesetzte Tendenz bringt
das 13. Jahrhundert: Erweiterung der Horizonte, belebten Aus-
tausch der Gedanken, als Resultat eine weltbürgerliche Kultur.
Das Volk, das die brauchbarsten Formeln aufstellte und dadurch
das Zentrum der ganzen Bewegung wurde, waren die Franzosen,
wohlverstanden in dem räumlich begrenzten Sinne, den der Name
damals hatte. In der Baukunst war die französische, und bald
die allgemeine, Formel diejenige, die wir heute die gotische nennen.
Wie hat sich das Elsaß bei der Ankunft der großen gotischen
Welle verhalten?


Ich habe es an anderem Ort als nützlich für das Verständnis
der gotischen Rezeption in Deutschland empfohlen, sie nach drei
prinzipiell verschiedenen Stufen zu betrachten. Die erste ist in
dem enthalten, was sonst Übergangsstil genannt wird, d. i. es wer-
den aus der gotischen Konstruktion einzelne Elemente unsyste-
matisch herausgegriffen und in die traditionelle deutsche Bauart
so eingefügt, daß diese künstlerisch genommen den romanischen
Charakter bewahrt. Die zweite Stufe ist schon ganz gotisch im
Sinne der französischen Frühgotik; aber sie ahmt diese nicht
unmittelbar nach, sondern erzeugt mit den gegebenen Mitteln
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 6
[82]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
eigenartige, immer sehr individuell behandelte Werke. Die dritte
Stufe bedeutet den bedingungs- und restlosen Anschluß an den
vollreifen, klassisch gewordenen Stil der Franzosen.


Im Elsaß beginnt die erste Stufe, mit dem übrigen Deutsch-
land verglichen, sehr früh, schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts.
Dann aber hält sie sich, ohne viel Fortschritte zu machen, lange
Zeit auf der erreichten Linie. Ihre Merkmale sind erstens die leicht
zugespitzten Bogenlinien im Nebeneinander mit halbkreisförmigen,
zweitens die Verstärkung der Kreuzgewölbe durch Diagonal-
rippen. Wenn in Frankreich hieraus in rapider Entwicklung eine
durchgreifende Reform des ganzen konstruktiven Gerüstes ab-
geleitet wurde, so geschah im Elsaß davon nichts. Es ist mir
auch zweifelhaft, ob diese Formen wirklich aus der französischen
Schule erworben sind. Für den Spitzbogen waren nähere Vor-
bilder in Burgund zu finden, für die Kreuzrippen in der Lombardei.
Da nun das Elsaß mit diesen beiden Schulen nachweislich in
Verkehr gestanden hat, mit der französischen aber, nach sonstigen
Merkmalen zu urteilen, nicht, so halte ich die elsässischen Spitz-
bögen und Kreuzrippen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts nur
für Analogien zur französischen Gotik, nicht für Wirkungen der-
selben. Solche liegen erst auf der zweiten Stufe vor. Doch ist
gerade diese im Elsaß nur durch wenige Bauten vertreten; weit-
aus der schönste die leider nicht genau zu datierende Kirche
St. Arbogast zu Rufach. Hält man daneben die Chronologie der
ersten gotisierenden Bauten in anderen deutschen Landschaften,
erinnert man an Maulbronn, Magdeburg, Bamberg, Limburg,
Trier, Marburg, so ist nur zu sagen: in dieser Epoche war die
Stellung des Elsaß zur gotischen Reform, trotz früher Bekannt-
schaft mit deren Grundgedanken, eine ausgesprochen retardierende.
Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren zahlreiche andere deutsche
Orte, viel weiter entfernt von der Westgrenze, mit der franzö-
sischen gotischen Kunst schon viel vertrauter geworden. Ich
glaubte mich in dem nicht zu irren, was mir die Baudenkmäler
sagen: das Elsaß blieb zurück nicht aus mangelndem Wissen,
sondern aus mangelndem Wollen; es fühlte sich gegen die fran-
zösische Kunst innerlich fremd. Ich empfehle zur Gegenprobe
[83]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
einen Blick auf die Saar- und Moselgegend bis Trier: sie sind im
Gegensatz zum Elsaß kunstgeschichtlich der Typus eines Grenz-
landes mit offenem Schlagbaum. Es ist doch nicht der Vogesen-
wall allein, der den Unterschied macht; ich meine, noch mehr
tat dazu der Unterschied zwischen alemannischem und fränki-
schem Temperament.


Auf einen Schlag änderte sich das geschilderte Verhalten
durch die Tat des großen Künstlers, der um das Jahr 1250 das
Langhaus des Straßburger Münsters zu bauen begann. Woher
er kam, ob er Rudolf geheißen hat oder wie sonst, das wissen wir
nicht; nur daß er sicher, wie aus bestimmten Merkmalen exakt
erwiesen werden kann, ein Deutscher war. Er hatte eine vollständige
französische Schulung durchgemacht, in seiner Denkweise lebte
etwas unvertilgbar Deutsches fort, das schon sein Zeitgenosse in
Köln nicht mehr besaß. Die Schnelligkeit ohnegleichen, mit der
die Energie der Bürgerschaft den Bau des Münsterlanghauses
zur Vollendung trieb, war nicht nur ein Gewinn für die Stadt,
sondern ein entscheidendes Ereignis für ganz Süddeutschland.
Längere Zeit ist das Straßburger Münster der einzige Bau auf
deutschem Boden gewesen, aus dem zu ersehen war, was wahre
und volle Gotik sei. Selten in der Baugeschichte ist die Wirkung
eines einzelnen Werkes so a tempo eingetreten. Das rechte Rhein-
ufer fiel noch während des Münsterbaues unter seine Herrschaft:
Allerheiligen, Lahr, vor allem Freiburg. Alsbald fortschreitender
Einfluß weit und breit in Schwaben und bis Nürnberg und
Regensburg. Was in Schwaben, Franken und Bayern vor
dem Straßburger Münster gotisch gebaut worden ist, läßt sich
Fall für Fall als von unmittelbar in Frankreich geschulten
Meistern herrührend erweisen. Der im Jahre der Vollendung
unseres Münsterlanghauses begonnene Dom zu Regensburg ist
der letzte dieser Fälle. Von da ab hörten die süddeutschen
Bauleute auf, nach Frankreich zu wandern: sie gingen nach
Straßburg. So hat also das Straßburger Münster französische
Kunstelemente in umfassendster Weise propagiert, zugleich aber
den unmittelbaren Einfluß Frankreichs abgeschnitten. Aus der
engeren Verbindung aber, in die das Elsaß jetzt mit dem
6*
[84]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Kunstleben Innerdeutschlands eingetreten war, wurde ein dauern-
des Verhältnis.


Als Einführung ganz neuer Werte hat der plastische
Schmuck des Musters fast noch mehr zu bedeuten als seine Archi-
tektur. Dem Historiker sagt er aber nichts anderes als diese,
und so darf ich über ihn hinweggehen.


Wie entwickelten sich nun die Dinge weiter? Folgte auf den
Münsterbau eine neue Blütezeit elsässischer Kunst? Das Gegenteil
trat ein. Die Baukunst des 14. Jahrhunderts kam in schnellem
Sinken auf ein hohles Epigonentum, das selbst dazu unfähig war,
den Abstand zwischen sich und der großen Zeit zu bemerken.
Von seiner Impotenz sind leider auch an unserer Münsterfassade
einige unvertilgbare Spuren haften geblieben. Die üblen all-
gemeinen Zustände unseres Landes in jener Zeit mögen vieles
erklären; der tiefste Grund dafür, daß der Münsterbau, eine Quelle
reicher Spenden an die deutsche Kunst im ganzen, für die be-
sondere elsässische, wie man bekennen muß, sehr wenig fruchtbar
gewesen ist, ist doch der, daß ein geschenktes Gut niemals den
Wert eines selbsterworbenen hat. Schließlich war es nur ein Zu-
fall, daß dieses hohe Werk gerade in Straßburg seinen Platz fand.
Es ist nicht aus der elsässischen Entwicklung motiviert. Ein genialer
Künstler war erschienen, hatte einem von ihm mitgebrachten Voll-
kommenheitsideal nachgestrebt; keine Volksüberlieferung trug ihn.


In Besitz einer breit gegründeten volkstümlichen
Kunst kam das Elsaß erst im 15. Jahrhundert wieder, zugleich
mit einer vollständigen Umdrehung der Frontstellung des 13.
Frankreich war ganz aus dem Gesichtskreis verschwunden, jeder
Zustrom frischer Kräfte aus den deutschen Nachbarländern wurde
willkommen geheißen. In der Baukunst finden wir nicht nur
sporadisch, sondern an allen wichtigen Plätzen Männer vom
Mittel- und Niederrhein, vor allem aus Schwaben. Die Vollendung
der Münster von Straßburg und Thann sind die Hauptleistungen
der Spätgotik. In Straßburg wurde in einem Momente schwieriger
Entscheidung eine Kommission berufen, in der wir einen Frank-
furter, einen Freiburger, einen Württemberger und neben ihnen
nur einen einzigen Elsässer sitzen sehen; Ulrich Ensinger von
[85]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Ulm und Johannes Hültz von Köln erfanden und vollendeten
den Turm; Jakob von Landshut errichtete den prachtvollen
Vorbau am nördlichen Querschiff; der Bau in Thann stand fort-
laufend in engstem Zusammenhang mit der schwäbischen Schule.


Ich wiederhole: von Beziehungen zu Frankreich nicht die
leiseste Spur. Dies ist auch sehr begreiflich, da sich zwischen
das Elsaß und Frankreich eine dritte, stärkere Kunstmacht damals
eingeschoben hatte, die burgundisch-niederländische. Der Hof in
Dijon war einer der Brennpunkte der neuen Bewegung. Hier
wirkte Klaus Slüter, der Donatello des Nordens, nach heutigem
Urteil kein Kleinerer als der Florentiner. Wie nahe lag Dijon,
wie weit Ulm! Die elsässische Kunst war vor die Möglichkeit
einer großen Entscheidung gestellt. Aber die Westgrenze war für
sie um diese Zeit nun einmal etwas Unübersteigliches. Es ist
für die Kunstgeschichte ein höchst schmerzlicher Verlust, daß
der Bestand elsässischer Plastik und Malerei des 15. Jahrhunderts
durch die Achtlosigkeit späterer Zeiten sich auf ein Minimum redu-
ziert hat; über die Hauptrichtungen werden wir uns schwerlich
täuschen. Was wir sehen, ist dieses: Die Elsässer sind von Natur
konservativ, aber sie waren es damals doch nicht so sehr, um
gegen die Weckrufe der neuen Zeit, die am vernehmlichsten aus
den Niederlanden herkamen, taub zu bleiben. Aus der eben ein-
geschlagenen Bahn, Hand in Hand mit den Schwaben, haben sie
sich dadurch nicht weglocken lassen. Vereinzelt hören wir einmal,
daß ein Maler in Schlettstadt geheißen wurde, gewisse Fresken
in Dijon sich zum Vorbild zu nehmen. Wichtiger waren allem
Anschein nach die Lehren, die es vom Schwaben Konrad Witz
erhielt. Dieser war einer der ersten Deutschen, die die nieder-
ländische Kunst an der Quelle kennen gelernt haben. Später hatte
er seinen Sitz in Basel, das man kunstgeschichtlich überhaupt
vom Elsaß nicht trennen kann. Dann ist in den 60er Jahren ein
wandernder Niederländer eine Zeitlang in Straßburg seßhaft
gewesen, der ausgezeichnete Bildhauer Nikolas von Leiden; er
zog später nach Wien, wo er für den Kaiser und seine Gemahlin
glänzende Grabdenkmäler ausführte. In Straßburg war er am
Schmuck des Rathauses beschäftigt gewesen; der einzige Überrest
[86]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
davon sind die beiden Büsten, die im Volksmund später Graf
Johann und das schöne Bärbel genannt wurden. Sicher ist auch
der erste große Maler, den die elsässische Kunstgeschichte zu
nennen hat, Martin Schongauer, in seiner Jugend irgendwo und wie
mit dem niederländischen Kreise in folgenreiche Berührung ge-
kommen. Aber gerade Schongauer zeigt zur Evidenz, was bei
aller Ähnlichkeit der formalen Prinzipien im seelischen Kern
deutsche und niederländische Kunst unterscheidet. Daß Schon-
gauer der Sohn eines eingewanderten schwäbischen Goldschmieds
war, soll von mir nicht urgiert werden; ganz gleichgültig ist es
doch nicht. Schließlich war er weit mehr Individuum als Vertreter
eines einzelnen Stammesnaturells. Die Wirkung seiner Kunst
erstreckte sich über ganz Deutschland. Man findet Kopien seiner
Kompositionen bis in thüringische Dorfkirchen, und man hat einiges
Recht, Dürer seinen Schüler zu nennen. Es geschah zum ersten-
mal wieder seit dem Straßburger Münsterbau des 13. Jahrhunderts,
daß eine im Elsaß sitzende Kunst so weit ausstrahlte. Schon-
gauer erreichte das allerdings nicht durch die Kunst seines Pinsels,
sondern als der erste bedeutende Maler, der seine Gedanken der
neuen Technik des Bilddrucks, des Kupferstichs, anvertraute.
Es ist eine nicht ganz grundlose Hypothese, daß auch der beste
unter seinen Vorläufern, der Stecher mit dem Monogramm ES,
ein Elsässer war. Die soziale Entwicklung des Zeitalters forderte
von der Kunst Eindringen in die Massen, Besitzergreifung des Bürger-
hauses. Es währte nicht lange, so ging der Bilddruck ein Bündnis
mit dem Buchdruck ein. Am Ende des 15. Jahrhunderts und das
ganze 16. hindurch war Straßburg im Wetteifer mit Basel einer der
betriebsamsten Verlagsorte in der Gattung der illustrierten Bücher.


Ich wiederhole: es ist ein schmählicher Verlust, daß die Er-
zeugnisse dieser Epoche des Vorabends der Reformation, der
lebenskräftigsten in der elsässischen Kunst nächst der staufischen,
aber farbiger, bewegter, beziehungsreicher als diese, daß gerade
sie auf wenige Reste zusammengeschmolzen, verkommen, ver-
schleudert sind. Von den Werken des Hauptrepräsentanten der
nachschongauerschen Zeit, Hans Baldungs, fanden wir 1870 kein
einziges mehr im Lande vor. Jetzt besitzen wir wieder einige als
[87]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Geschenke. Das erste kam 1890 aus dem Privatbesitz des Kaisers.
Was die elsässische Kunst damals war, wird uns fast deutlicher
als im eigenen Lande, auf der Nachbarseite des Rheins. Im älteren
Mittelalter, in der Zeit der Klosterkunst, ist von Beziehungen
zum Elsaß nichts zu bemerken; aber je mehr der Kunstbetrieb
sich in die Städte zog, um so mehr begab sich das städtearme
badische Land in die Klientel des Elsaß. Von Baden-Baden und
Lichtental bis Offenburg und Gengenbach ist alles, was uns von
guter Kunstarbeit in dieser Zeit begegnet, aus Straßburger Werk-
stätten hervorgegangen. Selbst in Freiburg wurde für das Haupt-
werk dieser Zeit, den Hochaltar des Münsters, Hans Baldung berufen.


Baldung lebte bis gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts.
In seiner Zeit zerfließen die provinziellen Schulgrenzen mehr und
mehr. Er selbst war Schüler Dürers, wie Dürer einst in seinen Wan-
derjahren in eine Straßburger Werkstatt eingetreten war. Als
Gäste erschienen ferner der ältere Holbein und Matthäus Grüne-
wald. Und hätte Holbeins des Jüngeren Aufenthalt in Basel
längere Dauer gehabt, so wäre er ohne Zweifel ein starker Faktor
auch im elsässischen Kunstleben geworden.


In der Baukunst und im Kunstgewerbe begann der Kampf
zwischen der Renaissance und der indigenen nordischen Tradition,
die mit dem Namen Spätgotik unvollkommen genug bezeichnet
wird. Es ist auffallend, wie wenig Anziehungskraft für die El-
sässer das welsche Wesen hatte. Kaum in einer anderen deutschen
Landschaft hat die Renaissance so zögernde Aufnahme gefunden.
Und nicht minder merkwürdig ist, daß, als es schließlich geschah,
die französische Renaissance gänzlich aus dem Spiele blieb.
In der Spätgotik war eine Komponente enthalten, die in ihrer
Weiterentwicklung immer deutlicher als Anfang zum Barock sich
zu erkennen gab. Erst als diese mit der Renaissance zusammen-
schmolz, wurde die Renaissance im Elsaß lebendig. Am Ende des
16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, während München und
Augsburg in tieferem Eingehen in die Gesetze der italienischen
Kunst ihr Heil suchten, war Straßburg in Süddeutschland der
wichtigste Sammelpunkt für das deutsche Frühbarock. Hier
lebte Wendes Dietterlin, aus Schaffhausen gebürtig, der Meister
[88]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß.
einer extravagant barocken Dekorationsmalerei. Der Stadtbau-
meister Hans Schoch, dessen »große Metzig« in seiner heutigen
Gestalt die künstlerische Absicht des Meisters nur unvollkommen
ahnen läßt, ist aller Welt bekannt durch seinen Friedrichsbau
auf dem Heidelberger Schlosse. Ein anderer Straßburger, Georg
Riedinger, erbaute das in der deutschen Baugeschichte einen
wichtigen Platz einnehmende Schloß zu Aschaffenburg. Den
tönendsten Ruhm aber bei den Zeitgenossen hatte der städtische
Festungsbaumeister Specklin.


Mit dem Dreißigjährigen Kriege kam alles ins Stocken, und
zwar noch bevor das Elsaß selbst ein Teil des Kriegstheaters wurde.
Der Westfälische Friede überlieferte das Land an Frankreich;
die politische Grenze verschob sich, aber noch keineswegs die der
künstlerischen Kultur. Zwei Menschenalter vergingen, bis sich
der Anfang dazu meldete. Die Kunst des 18. Jahrhunderts ist
allenthalben in Europa, gleich der des 13., international, wenn
auch wiederum die Franzosen mehr und mehr für diejenigen galten,
die den Sinn des Zeitalters am besten zu treffen wußten. Für
das Elsaß ist zu bemerken, daß die französische Einströmung
lange Zeit fast nur am Zentralsitz der französischen Verwaltung
und als unmittelbarer Ausdruck derselben Boden fand. Wie sehr
sich damit das Aussehen der alten Reichsstadt verwandelte, es
war nichts anderes, als was an so vielen deutschen Fürstensitzen
geschah. Daß Straßburg aber für die Propagierung der franzö-
sischen Kunst nach Deutschland irgendwelche Bedeutung ge-
wonnen hätte, habe ich nicht gefunden; die Vorgänge des 13. Jahr-
hunderts wiederholten sich in dieser Hinsicht nicht mehr. Ein
wesentlich anderes Bild bot neben dem offiziellen Straßburg das
übrige Elsaß. Die Kunstbewegung war schwach geworden, aber
sie veränderte nicht ihre alten Richtlinien. Ein französisches
Muster findet sich erst spät und nur ein einziges Mal, 1766 in der
Ritterstiftskirche zu Gebweiler; die Ausführung hatte aber doch
ein Meister aus Bregenz, und allen plastischen Schmuck übertrug
man einer schwäbischen Bildhauerfamilie. Die ansehnlichste
unter den nicht vielen Barockkirchen des Landes, die Abteikirche
zu Ebersheimmünster, vollendet 1750, ist ein Werk jener ober-
[89]Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
schwäbischen Schule, die im Neubau von Klöstern damals so über-
aus rührig sich betätigte. Weit merkwürdiger — fast möchte
man es nicht glauben — ist die Rückkehr zu den Formen des
Mittelalters. Die alte Klosterkirche Andlau wurde als ein
romanischer Bau erneuert, mit einiger Freiheit natürlich, zum Teil
aber mit wirklich archäologischer Treue. Dasselbe geschah, nur
mit Anwendung gotischer Formen, in Maursmünster, in St. Fides
in Schlettstadt, ja selbst bei der Anlage der neuen Kaufbuden
am Straßburger Münster. Hier hat die Anhänglichkeit an das
Alte und Heimische in einer innerhalb der Denkungsart des 18. Jahr-
hunderts ganz einzigartigen Weise getan, was wir sonst erst von
der gelehrten Romantik des 19. kennen.


Die kunstgeschichtliche Hauptleistung der Revolutionszeit
sind die Zerstörungen der historischen Denkmäler; darunter
235 Statuen vom Straßburger Münster; auch der Abbruch des
Münsterturms war schon beschlossene Sache. Eine positive Tat
ist das Denkmal für General Desaix an der Straße nach Kehl.
Merkwürdig bleibt doch, daß die Straßburger dies französische
Ruhmesmal ganz unbefangen zweien rechtsrheinischen Künstlern,
dem Badener Weinbrenner und dem Rottweiler Landolin Ohmacht,
in Auftrag gaben. Der letztere, vielgewandert, schon durch Ar-
beiten in München und Lübeck bekannt, nahm später seinen Wohn-
sitz ganz in Straßburg. Seine letzten Arbeiten sind die Grab-
denkmäler in der Thomaskirche für Jeremias Oberlin, den Alter-
tumsforscher, und Christoph Wilhelm Koch, den gefeierten
Rechtslehrer und mannhaften Politiker. Diese Gräber der
letzten berühmten Professoren der alten deutschen Universität,
errichtet in demselben Jahre, in dem die von Friedrich Rückert
besungene Straßburger Tanne im Hohwald fiel, sind die
letzten Werke deutscher Kunst im Elsaß: der Zusammenhang
war bis dahin nie ganz zerrissen gewesen. Von nun ab gab es
keine deutsche, aber auch keine elsässische Kunst mehr. Es
gab nur noch elsässische Einzelkünstler. Und diese wollten nichts
anderes sein als Tropfen in dem großen Sammelbecken der
Kunst von Paris.

[[90]]
[[91]]

ZU DEN
SKULPTUREN DES
BAMBERGER DOMES


1890


[[92]][[93]]

Wenn das 13. Jahrhundert als die Blütezeit der
deutschen Plastik des Mittelalters bezeichnet und
in ihr wieder den Arbeiten am Ostchor des Bam-
berger Domes neben denen des Naumburgers der
erste Platz zugewiesen wird, so liegt darin sicher
keine Überschätzung. Nach der treffenden Würdigung, die sie
hinsichtlich ihres allgemeinen Charakters bereits durch Lübke
und Bode erfahren haben, darf ich mich ohne Einleitung sogleich
dem besonderen Punkte zuwenden, von dem aus auf ihre kunst-
geschichtliche Stellung ein neues Licht fallen wird.


Bekanntlich sind in den Bamberger Skulpturen zwei ver-
schiedene Richtungen vertreten, die zeitlich zwar höchstens durch
zwei Menschenalter, stilistisch jedoch durch eine weite Kluft
voneinander getrennt sind. Wir haben es hier allein mit der jün-
geren zu tun. Daß zwischen ihr und der älteren die Bindeglieder
»leider fehlen«, hat schon Bode ausgesprochen; wir werden her-
nach sehen, warum sie fehlen: weil der entscheidene Anstoß
zum Stilumschwung von außen herzukam.


Unter den Statuen im Innern des Chores gibt man den Preis
ohne Zögern den dreien, die sich um den Mittelpfeiler der Nord-
seite gruppieren. Es sind, vom Seitenschiff aus gerechnet, links
Elisabeth (wahrscheinlicher als »Anna« und sicher nicht »eine
Sibylle«), an der Stirnseite Maria, rechts der Engel der Verkün-
digung. Bode rühmt an den Frauen die durch große Massen
und zugleich durch freie Durchbildung des Details wie durch
individuelle Mannigfaltigkeit ausgezeichnete Gewandung, welche
zur großen und vornehmen Wirkung der Gestalten ganz besonders
beitrage; Lübke spricht von »fast klassischem Stil«. In der Tat!
es ist klassischer Stil: nicht bloß im Sinne innerer Verwandtschaft
oder jenes allgemeinen, durch vielfache Zwischenstufen vermittelten
Anklanges, dem wir in den Werken des hohen Mittelalters häufig
begegnen. Bei längerer Betrachtung wurde es mir vielmehr sicher,
daß hier bestimmte antike Einzelvorbilder eingewirkt haben müssen.
Aber wie sollten solche nach Bamberg kommen, — wo niemals Römer
gesessen haben, wo die Bevölkerung zur Zeit der Begründung des
Bistums durch Heinrich II. noch halb slawisch war? Das Rätsel
[94]Zu den Skulpturen des Bamberger Domes
löste sich nun alsbald durch zwei in meiner Erinnerung auf-
tauchende Statuen vom Hauptportal der Kathedrale von Reims,
gleichfalls Maria und Elisabeth darstellend. Diese sind es, die
dem Bamberger Meister vorgeschwebt haben, während sie selbst
direkt nach der Antike kopiert sind. Die beistehenden Abbildungen
entheben mich der Beweispflicht im einzelnen.


Die um 1240 begonnene Fassade von Reims wurde zu Ende
des Jahrhunderts wieder abgebrochen, weil man eine Verlängerung
der Schiffe um zwei Joche nötig fand. Doch kamen, wie sich er-
kennen läßt, die alten Materialien, namentlich der Statuenschmuck,
beim Neubau teilweise zur Wiederverwendung. Das ist der Grund
der sich bunt durchkreuzenden Stildifferenzen der Portalfiguren.
Allen aber, sowohl denen des 13. als denen des 14. Jahrhunderts,
stehen die beiden für uns in Frage kommenden Frauengestalten
als Fremdlinge gegenüber. Es ist einigermaßen begreiflich, daß
Lübke (Gesch. d. Plastik II3, S. 458) sie für Arbeiten der Re-
naissance halten konnte. Die wahre Zeit ihres Ursprungs, die
Mitte des 13. Jahrhunderts, wird indes durch ihr Verhältnis zu
den Bambergern, wenn es dessen noch bedurfte, vollkommen
sichergestellt.


Ich habe in einem früheren Bande des Jahrbuchs der Kgl.
Preuß. Kunstsammlungen (Bd. VII, S. 129 ff.) die Renaissance-
bewegung in der französischen Baukunst besprochen, die nicht
lange vor 1100 in der Provence anhob, sich nach Burgund fort-
setzte und gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts auch Nord-
frankreich ergriff. Merkwürdigerweise sind es gerade Gebäude,
die in der Begründung des gotischen Konstruktionssystems eine
führende Rolle spielen, an denen das Bestreben bemerklich wird,
in den Zierformen die Antike nachzuahmen (die Überreste von
Sugers Bau in Saint-Denis, St. Laumer in Blois, Chor und Fassade
von St. Remy in Reims, einiges im Chor der Notre-Dame in
Paris usw.). Die konsequente Entfaltung des gotischen Ge-
dankens gebot freilich dieser Richtung Einhalt. Weniger wirkte
der Rückschlag auf die Plastik. Im 13. Jahrhundert weht
etwas wie Renaissanceluft nicht bloß in Italien, sondern auch
jenseits der Alpen, — das freier gewordene Verhältnis zur Natur
[95]Zu den Skulpturen des Bamberger Domes
öffnete zugleich das Verständnis für die Antike; wäre nur die
Gelegenheit zu ihrem Studium eine häufigere gewesen, so
hätte, das lehren unsere Reimser Arbeiten, der Norden wahr-
scheinlich ein ebenbürtiges, vielleicht ein überlegenes Seitenstück
zur Kunst des Niccolo Pisano hervorgebracht. Reims (Duro-
cortorum Remorum) war im römischen Gallien eine ansehnliche
Stadt gewesen; der Triumphbogen, Porte de Mars genannt, gibt
noch heute Zeugnis davon; von den plastischen Römerwerken,
die den Steinmetzen der Kathedrale vorlagen, ist allerdings nichts
mehr erhalten. Es müssen treffliche Arbeiten gewesen sein, der-
gleichen außerhalb Italiens nicht oft vorkamen, ich möchte glauben:
aus dem ersten Jahrhundert der Kaiserzeit. Maria erinnert in der
Haltung des Körpers, der Bewegung der Arme, der Anordnung
des Gewandes an die Livia des Museo Borbonico; in der Haar-
tracht und der Art, wie die Palla über den Kopf gezogen ist, an
die Herkulanerin in Dresden; ein klassischer Archäolog würde
vielleicht anderweitig noch eine genauere Ähnlichkeit nachweisen
können. Elisabeth ist ganz als Matrone charakterisiert, die Palla
um Brust und Hals dicht zusammengezogen, über die Stirn eine
Binde gelegt. Das für beide Statuen bezeichnende scharfkantige
kleine Gefältel war offenbar schon dem Vorbilde eigen; es wieder-
holt sich an einer dritten männlichen Figur mit einem Odysseus-
kopf. So treu der Kopist des 13. Jahrhunderts bemüht gewesen
ist, nur seine Urbilder wiederzugeben, es hat sich ihnen doch un-
vermerkt etwas vom Stilgefühl seiner Zeit, vornehmlich in der
Haltung und dem Gesichtsausdruck Mariens, beigemischt, und es
ist damit ein hold befangener Zug in sein Werk gekommen, der dem
korrekteren und kühleren Originale sicherlich fremd war. Ziem-
lich ungeschickt sogar ist die Ergänzung der Unterarme ausge-
fallen; an der Stellung von Mariens Gebetbuch erkennt man
deutlich, daß die Hand ursprünglich nicht bestimmt war, etwas
anderes als bloß den Gewandzipfel zu halten. — Noch ist ein Wort
über die Reihenfolge der Figuren zu sagen. Sie befinden sich am
rechten Portalgewände. Zunächst der Tür steht der Engel (Arbeit
des späten 13. wenn nicht schon 14. Jahrhunderts), dann eine
Maria (13. Jahrhundert, noch recht unfrei), beide zusammen die
[96]Zu den Skulpturen des Bamberger Domes
Szene der Verkündigung andeutend; darauf unsere Elisabeth
und Maria, also die Heimsuchung. Dieselbe Reihenfolge ist in
Bamberg beibehalten, nur in Umkehrung von rechts und links.
Es ist mir übrigens zweifelhaft, ob die Statuen für ihren
jetzigen Ort gearbeitet waren. Man könnte auch an ein Portal
denken.


Ob der Bamberger Meister nur die Statuen der Kathedrale
oder auch deren römische Vorbilder gekannt habe, bleibt dahin-
gestellt. Am tiefsten hatte sich seinem Gedächtnis die Gestalt
Mariens eingeprägt. Auffallend ist die Umwechselung der rechten
und der linken Körperhälfte. Ferner ist das Spielbein loser, die
Ausladung der entgegengesetzten Hüfte stärker, der Oberkörper
mehr zurückgebogen, im ganzen die Einsicht in die Struktur
des Körpers weniger klar. Im Gewande zeigen sich Anordnung
und Faltenzug im ganzen als dieselben, die Detailbehandlung weist
aber auf Modellstudium an einem etwas anders gearteten Stoff.
Der Kopftypus ist wiederum derselbe, nur im Ausdruck ein wenig
herber und individueller. — Stärker sind die Abweichungen bei
Elisabeth. Auch hier ist die Haltung der Arme zwischen rechts
und links gewechselt, während die der Beine die gleiche geblieben
ist. Infolgedessen wird der erhobene linke Unterarm vom Ge-
wande verhüllt, das übrigens mit dem Originale einstimmend
angeordnet ist. Die Hände entziehen sich leider der Vergleichung,
da sie in Reims stark beschädigt sind. Im Kopf ist der mild matro-
nale Ausdruck der Reimserin hier ins Erhabene, fast Kühne, ge-
wendet.


Worauf der Bamberger Meister sich stützte, war doch wohl
wesentlich die Kraft seines Gedächtnisses. Eine etwa in Reims
angefertigte Zeichnung könnte bei dem unvollkommenen Stande
dieser Kunst ihm nur wenig geholfen haben; eher wäre an ein kleines
Modell in Wachs, Ton oder Stuck zu denken. Jedenfalls muß
er die Urbilder so oft und anhaltend betrachtet haben, daß sie
seine innere Anschauung ganz erfüllten, ihm immer wie gegen-
wärtige vor Augen schwebten. Das heißt: er muß längere Zeit
in Reims gearbeitet haben. Vielleicht würde es bei genauer Nach-
forschung noch gelingen, seine Hand in Reims wiederzuerkennen.
[97]Zu den Skulpturen des Bamberger Domes
Ebenso würden in Bamberg wahrscheinlich noch viel mehr An-
klänge an Reims, als ich sie habe nachweisen können, zum
Vorschein kommen.


Zunächst im Innern des Chores ist sicher von derselben
Hand wie Elisabeth und Maria die Reiterstatue König Konrads
am nächstfolgenden Pfeiler gegen Westen; französische Parallelen
dazu sind mir nicht gegenwärtig. Wohl aber finde ich das
Akanthusornament am Sockel ungemein bezeichnend. Wenn mir
jemand dieses Stück, ohne daß ich von seiner Herkunft Kenntnis
hätte, vorlegte, so würde meine Antwort ohne Zaudern sein: es
stammt höchstwahrscheinlich aus Burgund oder der Champagne.
Es ist merkwürdig, daß unser Meister gerade von den antiken
Reminiszenzen, die ihm in Frankreich begegnet waren, sich
besonders angezogen fühlt.


Ferner gehören ihm nach Bodes Urteil noch die Statuen
des Nordostportals. Ich möchte etwas vorsichtiger sagen: falls
nicht ihm selbst, so einem ganz nahestehenden Genossen. Um
auch hier auf die Vergleichung mit Reims einzugehen, sind meine
Erinnerungen bei der verwirrenden Massenhaftigkeit der dortigen
Skulpturwerke nicht mehr vollständig und deutlich genug. Indes
finde ich unter den leider zu wenigen mir vorliegenden Photogra-
phien zwei mir beachtenswert scheinende Stücke. Es sind der
früher erwähnte Mann mit dem Odysseuskopf und neben ihm
eine gekrönte Frau. Beide sind in der Gewandung, die Frau
auch in der Gesichtsbildung, namentlich in den Augen und dem
lächelnden Munde, dem kaiserlichen Ehepaare des Bamberger
Portals sehr ähnlich. Da es einmal feststeht, daß der Urheber
der letzteren die erstere gekannt hat, zweifle ich nicht, daß sie
seine Vorbilder waren. Daneben ist ein Fortschreiten des Stiles
in naturalistischer Richtung nicht zu verkennen.


Wenn auch das Ergebnis meiner Untersuchung — die aus-
geprägt französische Schulung der jüngeren Bamberger Bild-
hauergruppe — von der bisher gültigen Auffassung abweicht,
so liegt darin doch nichts eigentlich Verwunderliches. Daß
in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts deutsche Bauleute
in großer Menge auf französischen Bauplätzen tätig waren,
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 7
[98]Zu den Skulpturen des Bamberger Domes
muß notwendig angenommen werden. Warum unter ihnen
nicht auch Bildhauer? Die Ableitung der Bamberger West-
türme von den Türmen der Kathedrale in Laon, also einem
Reims nahe benachbarten Orte, ist längst erkannt. Nun
finden sich diese Türme auch an einem der Statuenbalda-
chine, und zwar in noch genauerer Nachahmung. Damit ist die
gleiche Herkunft und Schulung der Bauleute und der Bild-
hauer erwiesen. Die Zeit ihrer Ankunft in Bamberg ist un-
sicher. Man pflegt die Türme in die sechziger oder siebziger
Jahre zu setzen. Sie könnten sehr wohl um einiges älter sein.


Nach obigem scheint es mir geboten, nun auch andere deustche
Bildhauerschulen auf etwaige französische Anregungen hin, sei es
direkte, sei es indirekte, in Untersuchung zu stellen, — welche
auszuführen ich mich zurzeit leider außerstande sehe. Eine
einzelne Bemerkung möchte ich mir indes gestatten. Wenn Bode
Beeinflussung der Bamberger Skulpturen durch die Naumburger
annahm, so wird das Verhältnis nunmehr umzukehren sein. Es
ist auch a priori das Wahrscheinlichere, da die Naumburger
Hütte sich im Architektonischen durchaus und fortdauernd, vom
Grundriß und dem System des Schiffes bis herab zu den Türmen,
von Bamberg abhängig zeigt. Es kann aber auch sein, daß
die Naumburger Bildhauer direkt an Reims angeknüpft haben.
Hier liegt noch ein weites Feld der Erforschung offen.



Nachwort 1892.


C. Frey sagt in einem Aufsatz über »Ursprung und Ent-
wicklung Staufischer Kunst in Süditalien« (Deutsche Rundschau,
1891, Augustheft), nachdem er eine mehr vaterländische Haltung
unserer kunstgeschichtlichen Forschung gefordert hat, zum Schluß:
»Wie kann ihm (dem Historiker) die intensive Kultur der Staufer
im XIII. Jahrhundert klar werden, wenn er von staufischer Kunst
nichts weiß, sie womöglich als Erzeugnis französischer überlegener
Kunst und Kultur preist, wie dies jüngst mit den Bamberger
Skulpturen versucht ist?« Offenbar ist das eine Anspielung auf
[99]Zu den Skulpturen des Bamberger Domes
meine Untersuchung im Jahrbuch 1890, Heft IV. Nicht um Frey
zu überzeugen, komme ich noch einmal auf die Angelegenheit
zurück; denn da derselbe gleichzeitig auch noch erklärt, daß er den
»Glaubensartikel« vom französischen Ursprung der gotischen Bau-
kunst verwerfe (!), so halte ich den Versuch von vornherein für
aussichtslos. Ich muß aber an die bekannte Erfahrung denken,
daß für Beweisführungen, die allein auf Stilvergleichung gestellt
sind, selten allgemeine Zustimmung zu finden ist. So mag es nicht
überflüssig sein, meine Ansicht noch durch eine rein logische Instanz
zu stützen.


Die Statue der Kaiserin Kunigunde am Südostportal trägt
in der Hand, um sie als Mitstifterin zu bezeichnen, das Modell
der Kirche. Dasselbe weicht von dem wirklichen Bau in einem
Punkt sehr merkwürdig ab: es gibt dem Westchor einen gotischen
Kapellenkranz mit freiliegenden Strebebögen. Um 1260 aber war
der gotische Kapellenkranz in Deutschland, mit Ausnahme weniger,
von Bamberg weit entlegener Orte, eine unbekannte Sache. Wer
einen solchen darstellte, vollends wer ihn als normales Attribut
einer Kathedrale ansah, mußte sich seine künstlerischen Grund-
anschauungen in Frankreich erworben haben. Ich glaube, daß
gegen diese Deduktion, im Zusammenhange mit dem, was ich
früher ausgeführt habe, insbesondere dem Hinweis auf die der
Kathedrale von Laon nachgebildeten Türme, kein plausibler Wider-
spruch mehr möglich ist. Der Wert der Leistung wird dadurch
ebensowenig herabgesetzt wie etwa die Dichtergröße Wolframs
von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg durch den Nach-
weis, daß sie sich ihre Stoffe und auch mehr als bloß ihre Stoffe
aus Frankreich geholt haben. Nichts wäre schlimmer, als wenn
die Unbefangenheit unserer wissenschaftlichen Forschung den
Gefühlsregungen eines mißverstandenen Patriotismus zum Opfer
fallen sollte.



7*
[[100]]
[]
[figure]
Figure 1. Kathedrale zu Reims: Maria und Elisabeth
[][[101]]

DIE KUNST
UNTERITALIENS IN
DER ZEIT KAISER
FRIEDRICHS II.


1905
Vortrag im Altertumsverein zu Karlsruhe


[[102]][]
[figure]
[figure]
Figure 2. Dom zu Bamberg: Elisabeth und Maria

[][[103]]

Salimbene legt Kaiser Friedrich II. das Wort in den
Mund: »Der liebe Gott hätte sein Land der Ver-
heißung wohl nicht so hoch angepriesen, wenn er
meine Provinzen Apulien, Kalabrien und Kam-
panien gekannt hätte.« Dies geflügelte Wort wird
gleich so vielen anderen vermutlich nie gesprochen worden sein;
aber wir finden darin bestätigt, daß der Süden Italiens damals
für den reichsten und beneidenswertesten Teil der Halbinsel galt.
Wie hat sich das seither geändert! Gleich nach der Katastrophe
des schwäbischen Hauses begann schon der Niedergang. An der
Wiedergeburt des italienischen Volkes seit dem Ende des 13. Jahr-
hunderts, an all den Geistestaten von Dante und Giotto ab hat
der Süden keinen Anteil mehr gehabt. Sein Ausscheiden aus
der nationalen Kulturbewegung ist ein Verhängnis, an dem
Italien noch heute schwer zu tragen hat. Jahrhundertelang blieb
der Süden nicht nur tot, sondern auch vergessen. Für die Re-
naissance haben die Tempel von Pästum nicht existiert. Vasari
wußte nichts von der glänzenden Baukunst Apuliens im 12. und
13. Jahrhundert. Erst das 19. Jahrhundert hat sie langsam
wiederentdeckt.


Wir Deutschen glaubten zu der Kunst Unteritaliens in der
staufischen Epoche noch in einem besonderen Verhältnis, einem
Gemütsverhältnis, zu stehen: Friedrich II. blieb uns einer der
unseren, wenn wir auch nach und nach erkennen mußten, daß er
selbst sich kaum als Deutschen gefühlt hat, jedenfalls nach Er-
ziehung, Sprache und Denkweise es nicht war. So ist die erste
systematische Erforschung und Darstellung der mittelalterlichen
Kunst dieser Gebiete von einem Deutschen in Angriff genommen,
von dem durch den Kronprinzen von Sachsen, nachmaligen König
Johann, unterstützten Architekten H. W. Schulz. Seine Arbeit
blieb unvollendet und wurde erst etliche Jahre nach seinem Tode
herausgegeben (1860). Sie blieb die längste Zeit, neben einer durch
den Herzog de Luynes veranlaßten Publikation, unsere fast einzige
Quelle. Ein vor etwa 15 Jahren angekündigtes Buch eines jün-
geren deutschen Gelehrten, das ganz neue Ansichten über »stau-
fische Kunst« zu eröffnen verhieß, ist nicht erschienen. Erst die
[104]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
letzten anderthalb Jahrzehnte haben diesen Abschnitt der Kunst-
geschichte wieder wesentlich gefördert, hauptsächlich durch die
Forschung italienischer und französischer Gelehrter, unter denen
das kürzlich erschienene Buch von Bertaux »L'art dans L'Italie
méridionale, 1903,« durch Umfang und Gediegenheit den ersten
Platz einnimmt. Hauptsächlich auf dies Buch stützt sich die
folgende Skizze, bei der sich zeigen wird, daß die Kunstdenkmäler
manche Züge im Leben jener Zeit, ja selbst im persönlichen Cha-
rakter Friedrichs II. deutlicher hervortreten lassen als die un-
mittelbaren Geschichtsquellen.


In erster Linie hat die Baukunst Anspruch auf unsere Auf-
merksamkeit. Wir finden in ihr nebeneinander die folgenden drei
Strömungen: ein Weiterleben der heimischen Traditionen des
romanischen Stils; die Erstlinge der gotischen Architektur; An-
sätze zur Renaissance der Antike. Es ist nur noch nötig, daran
zu erinnern, um welche Zeit es sich handelt — um das Ende des
12. und die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts —, um sogleich
erkennen zu lassen, daß wir eine sehr merkwürdige Kon-
stellation vor uns haben, wie sie kein anderer Teil Europas
damals darbot.


Die erste Gruppe berühre ich nur flüchtig. So fruchtbar
und glänzend sie äußerlich erscheint — ich nenne als Beispiel
die Kathedralen von Bari, Trani, Troja, Ruvo, Bitonto, Mol-
fetta, Altamura, die teils ganz, teils wenigstens als Umbau in
unsere Epoche gehören —, so erkennt man in ihr doch einen
schwachen Punkt, der das plötzliche Versiegen der Produktion
nach der Mitte des 13. Jahrhunderts im voraus erklärt. Diese
Kunstgruppe verdient den Namen einer heimischen nur in bedingtem
Sinne. Die Baukunst Unteritaliens entbehrte von jeher einer
bodenwüchsigen, ausdauernden Tradition. Über der altchristlich-
lateinischen Grundlage hatte sich eine starke byzantinische Schicht
abgelagert; hinzukamen aus dem Süden arabische und norman-
nische, aus dem Norden toskanische und lombardische, endlich,
durch die Kluinazenser vermittelt, burgundische Einflüsse. Aus
alledem entstand ein Amalgam, das dem Kirchenbau in der langen
Regierungszeit Friedrichs II. ein immerhin eigentümliches Ge-
[105]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
präge gab, dem aber die innere Entschiedenheit, die zu selbständiger
Weiterentwicklung hätte führen können, fehlte.


Auf diesem Boden nun, der sich zur Aufnahme fremden
Kunstgewächses stets so bereit zeigte, hat auch der gotische Stil
ungewöhnlich früh Wurzel geschlagen. Man glaubte bis vor
kurzem, erst die Anjous hätten ihn eingeführt. Jetzt wissen wir,
daß es weit früher geschehen ist, früher als in irgendeinem anderen
Teile Italiens. Die Klosterkirchen Fossanova am Rande der
pontinischen Sümpfe und Casameri im Saccotal, nicht weit von
Ferentino und Frosinone, sind die ältesten gotischen Bauten
Italiens. Sie sind unmittelbar von französischen Zisterziensern
ausgeführt, wie ich bei früherer Gelegenheit nachgewiesen habe,
und in jener primitiven burgundischen Gotik, die auch in
Deutschland ihre Denkmäler hat. Wenn man die mächtige
Zisterzienserkirche zu Ebrach in Franken, begonnen 1200, ihrer
Zopfdekoration entkleiden könnte, würde sie den genannten süd-
italienischen Kirchen zum Verwechseln ähnlich sehen. Fossanova
ist erbaut in den Jahren 1187—1204. Über dem Portal steht
die Inschrift Fridericus I imperator semper augustus hoc opus
fieri fecit.
Unter dem Einfluß der Zisterzienser entstanden
frühgotische Bauten hier und dort bis nach Sizilien hinunter;
aber sie blieben Fremdlinge; sie nahmen von der heimischen
Bauweise wenig an und wirkten auch fast nicht auf sie zurück.


Es hat aber noch einen zweiten Kanal für das Eindringen
der primitiven Gotik gegeben. Die Denkmäler, die darauf hin-
weisen, liegen an der Ostküste, in Apulien, und sie haben ihren
Stil nicht direkt aus Frankreich, sondern durch Rückflutung aus
dem lateinischen Orient empfangen. In den Kreuzfahrerstädten
des heiligen Landes lebte ein Stil, der wesentlich durch Bauleute
aus den französischen Mittelmeergebieten bestimmt wurde; Kon-
zessionen an den Orient machte er fast keine; seine Bauten sind
gewissen provenzalisch-burgundischen Typen durchaus ähnlich, nur
daß sie hinter der Stilentwicklung des Mutterlandes, was be-
zeichnend ist, um einiges zurückbleiben. Der lebhafte Seeverkehr
zwischen den apulischen Häfen und Palästina macht den Hergang
wohl begreiflich. Der Orden der Chorherren vom hl. Grabe er-
[106]
Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
baute eine Kirche in Barletta, die der St. Annenkirche in Jeru-
salem ungemein ähnlich ist; Augustiner von St. Jean d'Acre
bauten in Matera; so mögen auch sonst einzelne zurückkehrende
Baumeister aus Burgund oder der Provence hier Beschäftigung
gefunden haben.1)


Eine dritte Gruppe — bei der mein Bericht länger zu ver-
weilen hat — ist gegeben in den Bauten, die auf unmittelbaren
Befehl des Kaisers entstanden sind. Bertaux faßt sie mit gutem
Grund unter der Kapitelüberschrift »l'art impérial« zusammen.
Es fiel schon den Zeitgenossen auf, daß sich keine Kirche (mit
einer einzigen, durch besondere Umstände motivierten Ausnahme)
darunter befand. Sehr groß ist dagegen die Zahl der Schloß-
bauten. Sie gehörten zu den immer wiederkehrenden Anklage-
punkten der Päpste: Friedrich habe die Einkünfte der Bistümer
zu ihren Gunsten mißbraucht, ja es sei seine böse Gewohnheit
gewesen, diese oder jene Kirche für baufällig zu erklären, um ihre
Steine seinen Zwingburgen zuzuführen. Am dichtesten stehen die
Schlösser in Apulien, eine kleinere Anzahl besaßen die Basilikata
und Kampanien. Über die sizilischen sind wir noch nicht genauer
unterrichtet, doch haben auch für sie französische Forscher (Join-
Lambert und Chaussemiche) Aufnahmen vorbereitet. Interessant
ist zu hören, daß sie von wesentlich anderem Habitus sind als
die bekannten arabisierenden Normannenschlösser bei Palermo, die
Cuba und Ziza.


Auf dem Festlande können heute noch 18 von Friedrich er-
baute Kastelle nachgewiesen werden, einige reine Wehrbauten,
andere zugleich Lustschlösser ,»loca solatiorum nostrorum«.
Heute noch in ihrer Anlage erkennbar, in einzelnen Teilen sogar
gut erhalten, sind die Kastelle zu Bari, Trani, Foggia, Gioja,
[107]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
Lucera, Lagopesole und Castel del Monte. Unter ihnen nimmt
Castel del Monte in baulicher Hinsicht eine Sonderstellung ein
und wird später zu besprechen sein. Die übrigen sind unter sich
gleichartig. Der Grundriß viereckig, tunlichst, wenn das Gelände
es erlaubt, ein reines Quadrat, an den Ecken starke viereckige
Türme, durch Flügel verbunden, glatte Dächer von Wehrgängen
begleitet, nach außen sehr wenige und kleine Öffnungen, der Hof
zuweilen kreuzgangartig von Kolonnaden umgeben, Zierformen
ganz spärlich, aber stets eine sehr vornehme Mauerbehandlung
aus großen, leicht bossierten, sorgfältigst gefügten Quadern;
hauptsächlich auf diesem letzteren Merkmal, neben der grandiosen
Massenwirkung beruht das, was man den ästhetischen Charakter
dieser Bauten zu nennen hätte. Häufig haben sich, an augen-
fälligen Stellen, Inschriften erhalten, die den kaiserlichen Bau-
herrn nennen — z. B. Sic Caesar fieri jussit opus istum —, auch
wohl den Namen des Baumeisters. Die letzteren sind Einheimische,
wie auch, was von Details vorhanden ist, romanisch im Sinne der
heimischen Schule ist.


Diese wenigen Angaben zeigen schon, daß die Schlösser
Friedrichs II. in Apulien keine Ähnlichkeit haben mit den halb-
maurischen Schlössern in Palermo, in denen er seine Jugend
zugebracht hatte, und noch weniger Ähnlichkeit mit der maleri-
schen — von uns heute wenigstens so empfundenen — Unregel-
mäßigkeit nordischer Burgbauten oder gar dem festlichen Glanz
unserer staufischen Pfalzen. Nichts ist an ihnen, was uns ro-
mantisch anmutet, sie atmen den Geist streng rationeller Regel-
und Zweckmäßigkeit. Da sie unter den Augen des Kaisers er-
baut, vom Kaiser bewohnt wurden, und da Friedrich ein Ver-
waltungsfürst war, der sich um das Kleinste kümmerte, so wird
der Schluß berechtigt sein, daß wir eben seinen Geist in diesen
Bauten wiederzuerkennen haben.


Eine Gruppe nordischer Burgen gibt es jedoch, auf die der
eben hervorgehobene Gegensatz keine Anwendung findet, die sogar
die frappanteste Planverwandschaft mit den Kastellen Friedrichs II.
zeigt: die Burgen des deutschen Ordens in Preußen aus der land-
meisterlichen Zeit. Auch hier finden wir dieselben einfach massigen
[108]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
Kastenbauten in streng quadratischer Disposition1) und mit qua-
dratischen Ecktürmen. Ich kann diese Übereinstimmung nicht für
zufällig halten. Der Einwand, daß so einfache Gedanken auch
unabhängig voneinander auftauchen können, hat für diesen Fall
keine Gültigkeit. Es handelt sich nicht um die einzelne Form,
sondern um eine tiefe Verschiedenheit der Gesamtauffassung. In
der Tradition des deutschen Burgenbaues lag die größte Sorg-
losigkeit, ja ein Horror vor rechtwinkligen Grundrißkombinationen,
vor Symmetrie der Massenverteilung. Und nun in Preußen dieser
starr mathematische Geist! Das kann, ich wiederhole es, kein
Zufall sein. Steinbrecht hat das Urbild in der palästinensischen
Deutschordensburg Montfort gesucht. Dabei ist zu erinnern,
daß Montfort nichts Alleinstehendes bietet, sondern daß die
rektanguläre Anlage mit Ecktürmen dem byzantinisch-orientali-
schen Baugebiet überall geläufig ist. So wäre es gar nicht un-
wahrscheinlich, daß Friedrich II. für seine apulischen Bauten die
Anregung von dort empfangen hätte. Einwirkung palästinen-
sischer Kirchenbauten auf apulische wurde schon oben festgestellt.
Eine Inschrifttafel am Kastell von Trani nennt den cypriotischen
Emigranten Philipp Chinard als Bauleiter. Bezieht sie sich auch
nicht auf die erste Anlage von 1233, sondern auf die Erweiterung
von 1249, so ist doch damit auf eine Vermittlung hingewiesen,
die sehr wohl auch in früheren Fällen schon in Wirkung getreten
sein kann. Somit würde sich die Ähnlichkeit der apulischen und
preußischen Burgen aus Wurzelgemeinschaft erklären. Man könnte
aber, ohne diese Kombination auszuschließen, auch an einen direk-
ten Zusammenhang denken; hat es doch in der Zeit Friedrichs II.
an Beziehungen des deutschen Ordens zu Apulien nicht gefehlt.


Ein bevorzugter Ruhesitz des Kaisers in seinen letzten Lebens-
jahren war Castel del Monte. Es liegt in tiefer Einsamkeit auf
der Spitze eines sanft ansteigenden Kegels, etwa 10 Kilometer
von der Küste entfernt und 6 Kilometer von der Stadt Andria,
deren bewärte Treue Friedrich durch eine Hexameterinschrift
über einem ihrer Tore ehrte. In der Zeitfolge der kaiserlichen
[109]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrich II.
Schlösser ist es das vorletzte (begonnen bald nach 1240 und wohl
in schnellem Zug vollendet) und von allen bei weitem das am
besten erhaltene. Dieser Vorzug, die Majestät der Erscheinung,
das geheimnisvoll Einzigartige des Planes, haben von jeher die
Aufmerksamkeit erregt; die erste eingehende kunsthistorische
Würdigung verdanken wir jedoch Bertaux und den an seine Auf-
stellung1) sich knüpfenden Erörterungen. Castel del Monte teilt
mit den älteren friderizianischen Schlössern nur das allgemeinste,
den Sinn für Einfachheit und Regelmäßigkeit. Ohne Vorgang
in der Burgarchitektur und ohne Nachfolge ist die spezielle Plan-
gestaltung als regelmäßiges Achteck mit acht aus den Erkern vor-
tretenden wieder achteckigen Türmen. Ebenso regelmäßig die
innere Einteilung: zwei Stockwerke von gleicher Höhe, jedes mit
acht immer die gleiche Gestalt wiederholenden Einzelräumen. Die
weiteren Einzelheiten sind aus den beigegebenen Abbildungen zu
ersehen. (Tafel 3.) Alt sind die leicht nach zwei Seiten abfallenden
Terrassendächer, zerstört die Wehrgänge und Turmkrönungen.
Sie werden in sehr einfachen Linien gehalten gewesen sein und an
der geschlossenen Umrißlinie wenig geändert haben. Von den
Dächern gehen Wasserableitungen aus, die sich in einem großen (jetzt
zerstörten, aber auf Abbildungen des 18. Jahrhunderts noch ein-
gezeichneten) Marmorbassin im Mittelpunkt des Hofes vereinigten;
vier Sitze waren eingehauen, woraus sich die Bestimmung als
Bad ergibt. Ein Teil der Türme war als Zisternen eingerichtet.
Bleiröhren, die man noch in den Wänden findet, verteilten das
Wasser an die inneren Gemächer. Das Äußere zeigt prachtvoll
behandelte Quaderflächen mit verschwindend kleinen Fenster-
öffnungen, im Erdgeschoß kaum mehr als Mauerschlitze, im Ober-
geschoß etwas größer und reich detailliert; nur das Portal ist
mit Pracht ausgebildet. Die Dekoration der Zimmer ist ver-
schwunden, Fragmente von weißen Marmorplatten mit Musterung
in grünem und schwarzem Email lassen einen reichen Flächen-
schmuck erraten. Mit Recht wird Castel del Monte als Lust-
[110]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
und Jagdschloß klassifiziert. Und doch, wieviel Sorge hat auch hier
der Kaiser für seine persönliche Sicherung tragen müssen. Man
beachte z. B., wie der einzige Eingang nicht unmittelbar dem Hofe
zuführt, sondern wie der Eintretende erst durch eine schmale Tür
rechts einen zweiten geschlossenen Raum passieren mußte und dann
durch verwickelte Verbindungen eine der engen Wendeltreppen er-
reichte, die zu dem oberen, vom Kaiser bewohnten Geschoß
hinaufführten. Ein das Hauptgebäude umschließender dreifacher
Mauergürtel ist jetzt nur in den Fundamenten zu erkennen.


Welcher Art sind nun die Stilformen? Mit Ausnahme eines
einzigen, später noch zu erörternden Bauteils rein gotisch! Und
zwar nicht so, daß sie etwa als eine Weiterbildung der schon vor
längerer Zeit hier und da im süditalischen Kirchenbau aufge-
wiesenen primitiv gotischen Formen gelten könnten. Kein Zweifel,
französische Bauleute, denen der Stil der Champagne und Bour-
gogne in den Fingern lag, haben Castel del Monte erbaut. Mit
diesem von Bertaux unwiderleglich geführten Nachweis ist das
Rätsel aber keineswegs ganz gelöst. Es kann nicht übersehen
werden, daß wir nicht den Stil von 1240, sondern den von etwa
1210 vor uns haben. Also müssen jene Bauleute längere Zeit von
der Heimat getrennt gewesen sein. Unter allen sich zur Erklä-
rung darbietenden Möglichkeiten ist da die bei weitem wahr-
scheinlichste, daß wir es wieder (vgl. oben S. 105/6) mit einer Rück-
wanderung aus dem Orient, am wahrscheinlichsten aus Cypern1),
zu tun haben. Dieselben Formen, wenn auch nicht mehr immer
in gleicher Reinheit, finden sich an allen kaiserlichen Schlössern
wieder, die nach Castel del Monte errichtet wurden: in Lago-
pesole und Cosenza, und in den sizilianischen in Castrogiovanni,
Syrakus und Catania. »Es ist unmöglich,« sagt Bertaux, »den
persönlichen Geschmack des Kaisers für den Stil der Champagne
und Bourgogne zu verkennen; vielleicht hat dieser für so viel
[111]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
neue Ideen offene Geist es klar gesehen, daß die französische
Architektur des 13. Jahrhunderts den größten Fortschritt, der
seit dem Ende der Antike im Reiche der Kunst versucht war,
verwirklicht hat.« Mit alledem ist aber noch nicht gesagt, daß
Castel del Monte ein französischer Bau ist. Französisch ist daran
nur die Gewölbekonstruktion und die mit dieser zusammen-
hängende Detaillierung; die Konzeption im großen, das muß ich
meinerseits hervorheben, ist völlig unfranzösisch, unnordisch, ja
sie ist völlig singulär. Wie, wenn der Kaiser selbst die allgemeine
Disposition entworfen hätte? Der Übergang vom Quadrat, der
bisher gebrauchten Grundform der apulischen Burganlagen,
zum Oktogon ist für das abstrakte Denken ein kleiner; für
den an feste Traditionen gebundenen praktischen Architekten
wäre er ein ganz revolutionärer Schritt gewesen, während
man ihn einem geistreichen Dilettanten wohl zutrauen kann.
Überdies schildert Nikolaus von Ferrara den Kaiser als
omniun artium mecanicarum peritissimum. Zur Burg von
Capua, heißt es, hat er mit eigener Hand den Riß entworfen
(Historische Zeitschrift Bd. 83, S. 26). Es muß doch wohl eine
persönliche Ursache haben, daß alle für Friedrich II. errichtete
Bauten auf denselben Grundton gestimmt sind, einen Grundton,
der von dem, was sonst das 13. Jarhundert liebte, sehr ver-
schieden ist. Durchdringender Verstand, unerbittlicher Ordnungs-
geist, Verfeinerung und zugleich Zurückhaltung in den Schmuck-
formen, das ist ihr durchgehender Charakter. Friedrich, der auf
anderen Gebieten so viel Sympathie für die arabische Kultur
zeigte, der die schimmernde, phantastisch spielende Dekorations-
kunst der Araber von Jugend auf kannte, hat sie an seinen eigenen
Bauten, soviel bis jetzt bekannt, nirgends in Anwendung gebracht,
während noch unter Karl von Anjou ein Nicola Rufolo in seinem
bekannten Palast zu Ravello sich ganz im Banne dieser Reize
zeigte. Mag man mit Bertaux in seiner Inklination für die gotische
Bauart einen sicheren Instinkt für das zukunftsvolle Neue er-
kennen, wie er ihn auf dem Gebiete des Staatslebens so oft be-
währt hat: in Castel del Monte geht er schon über die Gotik hinaus.
Die friderizianische Architektur ist in ihrer Weltlichkeit und in
[112]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
ihrem starken Sinn sowohl für das Rationelle als für das Monu-
mentale durchaus ein Vorbote der Renaissance. Die ihm wohl-
verwandten Geister heißen Brunelleschi und Alberti. Man ver-
gleiche damit, wie schon vor 50 Jahren Jakob Burckhardt (der
seine Bauten nicht kannte) ihn »den ersten modernen Menschen
auf dem Throne« genannt hat.


Friedrich II. hat sich der Renaissance aber noch auf anderem
Wege genähert. Wir sind heute einig darüber, daß die Renaissance
wesentlich Schöpfung und Ausdruck des modernen Geistes ist;
zugleich aber auch darüber, daß der erwachende moderne Geist
nach bestimmten Richtungen hin der griechisch-römischen Kultur
und Kunst sich näher verwandt fühlte als dem christlichen Mittel-
alter, das er zu überwinden trachtete. Mehr als einmal sind schon
im Mittelalter selbst Regungen der Auflehnung gegen das herr-
schende System mit Hinneigung zur Antike zusammengetroffen.
Im Lande der südfranzösischen Ketzer hatte es eine volle blühende
Protorenaissancearchitektur gegeben. Jetzt wurde in Süditalien
der Freidenker Friedrich Anreger und Protektor einer antiki-
sierenden Bildhauerschule. Sie hat gerade so wie die
friderizianische Architekturschule nur eine kurze Dauer gehabt,
und ihre Leistung ist uns nur in dürftigen Bruchstücken erhalten:
was sie uns sagt, spricht eine vollkommen deutliche Sprache.
Für Friedrich war die Wiederbelebung der Erinnerung an das
klassische Altertum, das er sich wesentlich als das kaiserliche Rom
dachte, wohl in erster Linie ein politischer Gedanke. Aber er war
ersichtlich auch noch mehr als das. In irgendeinem Maße verband
sich damit eine ästhetische Sympathie. In seinem Schloß zu
Lucera befand sich die sicherlich erste Antikensammlung
der neueren Jahrhunderte, Marmor- und Bronze-Skulpturen, die
er zum Teil aus nicht geringer Entfernung »mit großer Vorsicht,
auf den Rücken von Lastträgern hatte herbeischaffen lassen«.
An seine berühmten Augustalen braucht nur erinnert zu werden.
Viel wichtiger ist noch, daß er lebende Bildhauer fand, die seine
Bauten mit Statuen schmückten, in denen mit Erfolg die Antike
nachgeahmt wurde. Innerhalb unserer Kenntnis ist das Haupt-
beispiel das Brückentor von Capua. Es war ein sehr reich mit
[113]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
plastischem Bildwerk geschmückter Prachtbau. Der Herzog von
Alba ließ ihn im 16. Jahrhundert fast bis zur Erde rasieren, aber
ältere Beschreibungen und mehrere im Schutt gefundene Frag-
mente geben uns näherungsweise eine Vorstellung von ihm.
Ibique suam imaginem in eternam et immortalem memoriam
sculpi fecit,
, meldet eine Quelle noch aus dem 13. Jahrhundert.
Man sieht auch hier schon etwas von dem kommenden Ruhmes-
kultus der Renaissance. Eines der Fundstücke, eine sitzende
Togastatue, wird als dies Kaiserbild angesprochen. Leider fehlt
der Kopf. Als Ersatz dafür hat man ein anderes Porträt Fried-
richs II. in einer jetzt auf die Giebelspitze der Kathedrale von
Acerenza versetzten Büste erkennen wollen1). Ich kann Bertaux
in der Abweisung dieser Deutung nur zustimmen. Träfe sie zu,
so wäre doch nur »der Kaiser«, d. h. die Nachbildung irgend-
eines Imperatorenkopfes gegeben, nicht die individuellen Züge
des Hohenstaufen. Mir scheint der Kopf, soweit die Abbildung
ein Urteil gestattet, ein spätantikes Original. Auch zwei andere
angebliche Porträtköpfe von der Capuaner Pforte sind mir als
solche höchst zweifelhaft. Sie gelten für Pietro della Vigna und
Taddeo di Sessa. Diese Benennung taucht aber erst im 18. Jahr-
hundert auf. Sie hat die historische wie die kunsthistorische
Wahrscheinlichkeit gegen sich. Diese Bildhauerschule hat in sorg-
fältigem Anschluß an antike Muster, nicht nach der Natur ge-
arbeitet. Porträts in unserem Sinne werden erst seit dem 14. Jahr-
hundert beabsichtigt.


Die Pforte von Capua wurde 1240 vollendet. Die dort be-
schäftigt gewesene Künstlergruppe wurde dann nach Castel del
Monte gezogen. Sie hat das völlig in antiken Formen gehaltene
Portal geschaffen, das so seltsam von der gotischen Umgebung
absticht. Auch findet sich in Castel del Monte ein stark beschä-
digtes Fragment einer der Wand angegliederten Reiterstatue in
antikem Kostüm; vermutlich wieder der Kaiser der richtiger ein
Sinnbild des Kaisers.


Wir sehen also in den letzten Jahren Friedrichs II., unter
seinen Augen und nach seinem Willen, eine neue Kunst im Ent-
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 8
[114]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
stehen. Sie nimmt ein Element der damals neuen gotischen
Kunst in sich auf, noch stärker aber ist in ihr die Tendenz zur
Renaissance. Im Augenblick, da der Kaiser starb, war ihr der
Lebensnerv durchschnitten. Nur noch einige zerstreute Nachzügler
aus den kaiserlichen Werkstätten machen sich eine Zeitlang be-
merklich, dann ist alles wieder verschwunden. Die Kunstweise
der Anjous ist eine völlig andere, schnell verarmende, wenn nicht
wie in Neapel, toskanische Hilfskräfte ihr unter die Arme greifen.
Apulien, die einstige Lieblingsprovinz Friedrichs II., versank kunst-
geschichtlich ins Nichts. Zu fragen bleibt, ob diese »kaiserliche
Kunst« wirklich ganz ohne Folge dahingegangen ist. Es wird hiermit
eine Streitfrage berührt, die seit ein paar Jahrzehnten immer
wieder auftaucht und heute von der Schlichtung so weit entfernt
scheint als je. Ich meine die Frage nach der Herkunft Nicolo
Pisanos und seines Stils. Wenn die Partei, die diesen Stil in
Apulien wurzeln läßt — sie ist noch eben erst sowohl durch Ber-
taux als durch Venturi verstärkt worden —, im Recht ist, dann
stände allerdings der große Aufschwung der toskanischen Plastik
seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in einem unmittelbaren
Kausalverhältnis zu der friderizianischen Protorenaissance und
würde den Faden weiterspinnen, der im Süden zu Boden fiel.
Friedrichs Kunstpolitik, wenn man den Ausdruck hinnehmen will,
war, wie so vieles in seiner Staatspolitik, etwas zu früh erschienen.
Wer dauernde Nachwirkungen sucht, wird sie nicht am Mittel-
meer und an der Adria finden, sondern vielleicht — und auch
hier nur auf dem engen Gebiet des Burgenbaues — an der
Weichsel und am Pregel.

Anhang.
Burg Egisheim im Elsass. 1908.


Die Burg Egisheim im Oberelsaß ist durch das Grafen-
geschlecht, das nach ihr benannt war, »der Sage wohlbekannt«;
nur wenig, viel zu wenig bekannt der Geschichte der Baukunst.
Ich finde nirgends gesagt, daß sie unter den deutschen Burgen
[115]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrich II.
in ihrer Anlage eine der allermerkwürdigsten ist. Wenn schon aus
spärlichen Trümmern, kann dieselbe doch noch mit voller Deut-
lichkeit erkannt werden. Ein regulärer Zentralbau.


Die Burg war noch bewohnt, als sie 1795 als Nationaleigentum
verkauft und abgebrochen wurde. Innerhalb der erhaltenen Reste
der Ringmauer wurden Wohn- und Wirtschaftsgebäude eingebaut.
Ein Brand 1876 zerstörte sie. An ihrer Stelle erbaute Konser-
vator Baurat Winkler eine neuromanische Kapelle zum Ge-
dächtnis an Papst Leo IX. aus dem Geschlecht der Egisheimer
Grafen.


Die nachfolgenden Abbildungen (Taf. 4) geben 1. einen im
Bezirksarchiv zu Kolmar aufbewahrten Grundriß vom Jahre 1790,
2. die Ansicht aus Walters »Vues pittoresques de l'Alsace« 1785.
Die letztere zeigt, daß der ursprünglich romanische Bau schon im
späteren Mittelalter in seinen oberen Teilen erneuert und aus-
gebaut war. Nach Ausscheidung dieser späteren Zubauten ergibt
sich eine Anlage von strengster Regelmäßigkeit: eine achteckige
Ringmauer und in der Mitte ein achteckiger Turm. Der Durch-
messer der Ringmauer (im Sinne des umgeschriebenen Kreises)
mißt 34 m bei einer Mauerstärke von 1,60 m, der Durchmesser
des Turmes 10,60 m bei einer Mauerstärke von 3 m. Die Funda-
mente des Turmes sind jetzt von der Winklerschen Kapelle über-
baut und dadurch der Untersuchung entzogen. Von der Ring-
mauer stehen drei Polygonseiten, teilweise bis zu einer Höhe
von 5 m. Mauerwerk in Buckelquadern mit Schlagrand. Bei
Buckelquaderwerk dieser Art spricht die allgemeine Präsumption
für die Zeit zwischen 1150 und 1250, doch können auch diese
Zeitgrenzen noch weiter gezogen werden. Die äußere Geschichte
der Burg bietet wenig Aufschlüsse. Von den alten Egisheimer
Grafen war sie an die jüngere Linie, die Dagsburger, gekommen,
die aber, wie es scheint, hier nicht mehr gewohnt haben. Nach
dem Tode der letzten Dagsburgerin (Gräfin Gertrud, † 1225)
war um ihre Erbschaft langer Streit. 1228 können staufische
Ministerialen nachgewiesen werden. Vielleicht um diese Zeit,
jedenfalls nicht später, ist die Burg, deren Reste wir vor uns haben,
erbaut worden.


8*
[116]
Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.

Die Planform ist für die in Frage kommende Epoche ohne
Zweifel ein Unikum. Weder in Deutschland noch in Frankreich
ist die Anlage eines regulären Polygons mit zentralem Turm je
wieder zu finden. Es entsteht dadurch die dringende Vermutung,
daß ein fremder Einfluß gewaltet hat. Er kann entweder in zeit-
licher oder in räumlicher Ferne gesucht werden. Die bisherigen
Erklärungsversuche haben allein die erste Richtung eingeschlagen.
Krieg von Hochfelden hielt die Burg für römisch, Essenwein sah
in ihr eine »monumentale Mota«, Piper verwirft beides; mit Recht,
doch ohne eine neue Erklärung zu versuchen. Will man nicht
darauf überhaupt verzichten, so muß die zweite oben genannte
Möglichkeit, die einer zeitgenössischen, aber räumlich entfernten
Einwirkung, ins Auge gefaßt werden. Ich gehe dabei von der
zwar nicht unbedingt gesicherten, aber doch am meisten wahr-
scheinlichen Annahme aus, daß der Bau dem staufischen Jahr-
hundert gehört. Der Adel dieser Zeit, insbesondere die kaiser-
lichen Ministerialen, waren nicht Leute von Kirchturmshorizont.
Es liegt durchaus im Bereiche der Möglichkeit, daß gelegentlich
einmal eine Erinnerung aus dem Orient oder aus dem staufischen
Reich in Süditalien nach Deutschland verpflanzt worden wäre.
Daß der Typus der Deutschordensburgen in Preußen diesen Ur-
sprung hat (vgl. oben S. 107/8) ist kaum zweifelhaft. Hier nun in
der Tat, hier allein, gibt es im 13. Jahrhundert Burgen im
Grundplan des regulären Achtecks; die bekanntesten Scandelion
in Syrien und die Kaiserburg Castel del Monte in Apulien.


Ich will mit diesem Hinweis nichts mehr gegeben haben als
eine Hypothese. Aber unter allen, die möglich sind, darf sie
immerhin als die wahrscheinlichste gelten.


Die einzige einigermaßen als analog zu bezeichnende Anlage,
die ich in Deutschland sonst noch kenne, ist der »Flohturm« in
Diedenhofen1). Ein rätselhafter Bau. Auch er beschreibt im Grund-
riß ein reguläres Polygon, doch ist es ein Vierzehneck. Der
Durchmesser beträgt 19 m, also erheblich weniger als in Egis-
heim. Es handelt sich auch nicht, wie in Egisheim, um eine
[117]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
Ringmauer mit Zentralturm, sondern der ganze Innenraum (wir
kennen ihn freilich nur als spätmittelalterlichen Umbau) war
wohnbar ausgebaut, mit einem kleinen, unsymmetrisch an die
Seite geschobenen Hof. Es ist indes höchst fraglich, ob wir es mit
einer ursprünglichen Wehranlage zu tun haben. Das Mauerwerk
ist romanisch. Die Vermutung ist ausgesprochen worden, daß
der Turm auf den Fundamenten der 939 zerstörten karolingischen
Pfalzkapelle stehe. Sie hat viel Ansprechendes, aber ein gültiger
Beweis ist bis jetzt nicht erbracht worden. In jedem Fall liegt
hier etwas wesentlich anderes vor als in der Burg der Egisheimer.


Nun ist noch von einer Hypothese zu sprechen, die, wenn
sie zuträfe, die Burg Egisheim noch viel interessanter machen
würde, als sie jetzt schon ist. Es handelt sich dabei um die Kaiser-
pfalz in Hagenau. Ich will den nachgerade konfus gewordenen
Fall in tunlichster Kürze darlegen. Die Pfalz ist 1678 von den
Franzosen zerstört worden und ihre Steine wurden beim Bau
des Fort-Louis benutzt. Der Platz, auf dem sie stand, ist jetzt
überbaut. Von der angeblich durch Kaiser Friedrich Barbarossa
errichteten Kapelle, in der die Reichskleinodien aufbewahrt wur-
den, gibt ein Autor des 16. Jahrhunderts (und nach ihm Merian)
eine in bezug auf Anschaulichkeit viel zu wünschen übriglassende
Beschreibung, doch sagt er nichts von der Anlage im ganzen.
Alte Ansichten waren nicht bekannt, bis vor etwa 30 Jahren
eine angeblich aus dem Jahr 1614 stammende Zeichnung »ent-
deckt« wurde. Heute besteht kein Zweifel mehr, daß Guerber,
der sie zuerst publizierte1), das Opfer einer Mystifikation gewesen
ist2). Leider ist diese Fälschung in die Literatur übergegangen3),
zuletzt noch von Bodo Ebhardt wiedergegeben und, trotz der
auch inneren Unglaubwürdigkeit, für eine Quelle »von hohem
Wert« erklärt4). Nach Beseitigung der Fälschung lenkte Hanauer
mit Recht die Aufmerksamkeit auf das alte Stadtsiegel von Ha-
genau5) (vgl. die nachstehende Reproduktion). Ohne Zweifel zeigt
[118]Die Kunst Unteritaliens in der Zeit Kaiser Friedrichs II.
dasselbe, der Absicht nach, die Ansicht der kaiserlichen Burg.
Ich kann mich aber nicht entschließen, den Folgerungen, die
Hanauer daraus zieht zuzustimmen. Hanauer sieht in dem Siegel
den Beweis, daß die Anlage der Burg ein regelmäßiges Achteck
war — wie Egisheim. Dagegen ist einzuwenden: Erstens, was
das Siegel zeigt, ist kein Achteck, wie die Darstellung der hin-
teren Seite erweist. Zweitens, derartige Siegelansichten (vgl.
z. B. die der Burg Münzenberg sind stets schematisch vereinfacht;
sie geben wohl einige augenfällige Bestandteile, wie die Kapelle
und die zwei Türme, wieder, aber Schlüsse in bezug auf den
Grundriß dürfen nicht gezogen werden. Eben die Zweizahl der
Türme steht schon in Widerspruch mit der Annahme eines regulär
zentrischen Grundrisses.


Als Seitenstück zu Egisheim kann Hagenau nicht einmal
hypothetisch in Betracht kommen. So bleibt es bis auf weiteres
dabei: die Anlage von Egisheim ist in Deutschland einzig-
artig
. Und als ihre Quelle, wenn man nicht auf Ableitung un-
nötigerweise überhaupt verzichten will, ist der Orient anzunehmen.


[figure]
[]Dehio, Kunsthistorische Aufsätze Tafel 3
[figure]
[figure]
Figure 3. Castel del Monte: Grundriß und Aufriß

[][]
[figure]
[figure]
Figure 4. Schloß Egisheim
[][[119]]

AUS DEM
ÜBERGANG DES
MITTELALTERS ZUR
NEUZEIT


1902/1912


[[120]][[121]]

Konrad Witz


Das Altarbild mit den Heiligen Katharina und Maria
Magdalena, dessen Nachbildung beigegeben ist
(Taf. 5), kam aus dem Nachlaß des Kanonikus
Straub in die städtische Gemäldesammlung zu
Straßburg. Woher der Vorbesitzer es erworben hat,
ist nicht zu ermitteln gewesen. Der Öffentlichkeit bekannt wurde
es zuerst im Jahre 1895 durch die Ausstellung elsässischer Kunst-
altertümer im Orangeriegebäude. Die Kenner standen vor ihm
in Verwunderung und Ratlosigkeit. Einige dachten an einen
holländischen, andere an einen tirolischen Meister, alle aber
schätzten die Entstehung um ein Menschenalter zu spät ein.
Die Lösung des Rätsels erfolgte jedoch schon bald — ich
weiß nicht mit Sicherheit anzugeben, durch wen zuerst — mit
der Entdeckung, daß das Straßburger Bild offenbar von derselben
Hand herrühre, wie die bis dahin wenig beachteten Reste eines
Altaraufsatzes aus der Makkabäerkapelle des Domes von Genf
(jetzt im Kellergeschoß der dortigen Universität schlecht aufge-
stellt). Nun konnte auch der gleiche Ursprung der Baseler Tafeln,
die zuletzt als Werke des Gerrit von St. Jans gegolten hatten,
nicht mehr zweifelhaft sein. Auf dem Genfer Altar aber fand
sich die Inschrift: »hoc opus pinxit magister conradus sapientis
de basilea MOCCCCO X LIIO


Die Aufgabe, dem neuentdeckten Meister weiter nachzugehen,
fiel wie von selbst dem auf sie trefflichst vorbereiteten Baseler
Forscher Dr. Daniel Burckhardt zu. Das Ergebnis liegt jetzt der
Öffentlichkeit vor als Teil der »Festschrift zum vierhundertsten
Jahrestage des ewigen Bundes zwischen Basel und den Eidgenossen.
13. Juli 1901«. Es ist in Kürze das folgende:


Der Conradus Sapientis der Genfer Tafel hieß zu deutsch
Konrad Witz. Er stammte aus Rottweil in Oberschwaben. Dort
ist eine direkte Spur von ihm zwar nicht aufgefunden worden,
vielleicht aber dürfen wir ihn als ein Glied des seit dem 14. Jahr-
hundert nachweisbaren Bürgergeschlechts der Witzmann ansehen
(vgl. auch die Genitivform sapientis). Im Jahre 1434 wurde er
[122]
Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
in die Basler Zunft zum Himmel aufgenommen. 1435 leistete er
den Bürgereid. In einer gerichtlichen Zeugeneintragung zu 1442
erscheint er verschwägert mit dem angesehensten der älteren Basler
Maler, Nikolaus Rüsch, genannt Lawelin aus Tübingen. 1443 kaufte
er das Haus zum Pflug an der Freienstraße. 1444 signierte er
den Genfer Altar. 1447 und 1448 wurde seine Ehefrau als Witwe,
seine Kinder als Waisen bezeichnet.


Das ist nun zwar keine Lebensgeschichte, rund und lebendig
wie eine von Vasari erzählte, aber für den Kunsthistoriker be-
deutet sie doch viel: nichts Geringeres als die Nötigung, für eines
der wichtigsten Kapitel der deutschen Kunstgeschichte, die Wende
vom Mittelalter zur Neuzeit, nach neuen Grundlinien zu suchen.
Und gleichzeitig hat sich ja auch an anderen Punkten der Nebel
zu lichten begonnen. Lukas Moser! Hans Multscher! Sie im
Verein mit unserem Konrad Witz, diese plötzlich und in sehr
unerwarteter Gestalt vor uns aufgetauchte Trias schwäbischer
Meister (der noch Stephan Lochner, der aus Meersburg am Boden-
see kommende Maler des Kölner Dombildes beizugesellen wäre)
sagt uns, daß wir bis dahin allzu bescheiden gewesen sind, wenn
wir vermeinten, die deutsche Kunst hätte in das neue Weltalter
allein durch das von den Niederländern aufgestoßene Tor als
Nachzüglerin unsicheren Schrittes ihren Weg finden können. Man
beachte nur diese Daten nach Gebühr: 1431 der Tiefenbronner
Altar Mosers, 1434 der Beginn der Baseler Tätigkeit Witzens,
1437 der kürzlich aus England nach Berlin gekommene Zyklus
Multschers. Das ist alles nach dem Maße der Zeit modernste Kunst
und als die am weitesten fortgeschrittenen in Deutschland er-
scheinen nicht mehr die Nachbarn der Niederländer, die Kölner,
sondern die Schwaben. Niemanden wird es einfallen, unsere
wackeren Schwabenmeister den van Eyck und Masaccio gleich-
zustellen. Aber doch schwimmen sie mit diesen im selben Strom.
Wir beginnen zu ahnen und hoffen es nach und nach deutlicher
zu sehen, daß der große Umschwung des 15. Jahrhunderts gar
nicht das Werk einiger einsamer Genies gewesen ist, die die Laune
des Schicksals am Arno oder an der Maas geboren werden ließ,
sondern daß ein allgemein verbreiteter Drang ihn emporgenötigt hat.


[123]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit

Unter den drei uns jetzt bekannt gewordenen Initiatoren des
»Realismus« in Oberdeutschland steht Konrad Witz durch um-
fassende Einsicht in das Wesen des neuen Prinzips obenan. Ich
will versuchen, sein künstlerisches Wollen und Können an dem
Beispiel des Straßburger Bildes, das uns dasselbe, wo nicht in
vollem Umfange, so doch in voller Intensität vorführt, zu erläutern.


Die Tafel hat die ansehnliche Größe von 1,61 : 1,30 m. Sie
gehört in die in Deutschland um diese Zeit nicht häufig vorkom-
mende Klasse einfacher Altaraufsätze, ohne Teilung der Bild-
fläche, ohne Beigabe von Flügeln, wie ein solcher auch auf dem
Bilde selbst zur Darstellung gebracht ist; war also vermutlich,
gleich diesem, für einen Seitenaltar bestimmt. Daß man sich
hinsichtlich der Entstehungszeit anfänglich um ein reichliches
Menschenalter getäuscht hat, ist ganz begreiflich: so neu ist alles
darin empfunden und gegeben. Mit der Kompositionsweise des
Mittelalters ist restlos aufgeräumt. Keinerlei Rücksicht wird mehr
auf das architektonisch-dekorative Ensemble genommen: das Bild
trägt sein Stilgesetz in sich selbst, es will allein einen der Wirk-
lichkeit entnommenen optischen Tatbestand in unbefangenster,
überzeugendster Wiedergabe zur Erscheinung bringen. Was den
Maler an der neugewonnenen Betrachtungsweise der Dinge um ihn
her am meisten interessiert, ist erstens die Auffassung des Raumes
in voller Tiefenwirkung und zweitens der Einfluß des Lichtes auf
die Erscheinung der Körper. So sehr ist dies beides das Haupt-
thema des Bildes geworden, daß die geistige Bedeutung der dar-
gestellten Heiligen darüber fast vergessen ist. Den Schauplatz
bildet eine langgestreckte Bogenhalle, etwa der Flügel eines Kreuz-
ganges; wir sehen ihn in seiner ganzen Tiefe vor uns sich entwickeln,
der Horizont ist hochgenommen, der Augenpunkt an die seitliche
Bildgrenze geschoben. Das ist schon malerischer gedacht als die
meisten perspektivischen Konstruktionen bei den zeitgenössischen
Italienern. Viel bedeutsamer aber ist es, wie der Lichtfaktor hier
herangezogen wird, um unsere Vorstellung von der Räumlichkeit
über die Bildgrenze hinaus zu erweitern: wir können zwischen
den sich eng zusammenschließenden Säulen nicht hinaussehen ins
Freie, aber die einfallenden Lichter und Schatten lassen uns die
[124]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Bogenöffnungen ahnen: wir fühlen mit, was jenseits des Rahmens
liegt. Wiederum echt malerisch gedacht ist nach der linken Seite
hin die Erweiterung des Bogenganges durch ein Nebenschiff. Die
hier vorkommende doppelte Überschneidung des Wandaltars durch
die vor ihm stehende Deckenstütze und durch den Schlagschatten
des darauf folgenden Säulenbündels ist von frappantester Wir-
kung — nach dem Maßstabe der historischen Entwicklung der
malerischen Darstellungsmittel eine Kühnheit ersten Ranges. Die
Reproduktion gibt doch nur eine unvollkommene Vorstellung da-
von, wie frei auf dem Gemälde hier alles in der Luft steht, wie
klar die Gegenstände vor- und zurücktreten. Mit diesem teilweisen
Verdecken wird viel mehr gesagt, als die in solchen Fällen schein-
bar größere »Deutlichkeit« des mittelalterlichen Stiles jemals es
konnte. Von köstlicher Naivetät ist dann die Behandlung des
an der unteren Bildecke rechts einbrechenden Schlagschattens; ihn
über das vielfach gebrochene Gewand Katharinens hinzuführen
schien unserem Meister noch unmöglich; so läßt er die Heilige
einfach auf dem Schatten sitzen! Ihr Rad aber, das sie als ihr
Attribut überallhin begleitet, ist wieder sorglich so gelegt, daß
sich sein Schattenbild sauber und scharf auf dem Boden
abzeichnet. — Zu der Entdeckung der Schlagschatten macht
Witz die andere des zurückgeworfenen Lichtes. Ich wüßte
keinen Niederländer dieser Zeit, bei dem etwas Ähnliches vorkäme,
wie auf unserem Bilde der von Katharinens Gebetbuch abprallende,
die dunkle Seite von Wange und Nasenspitze mit einem hellen
Rande auflichtende Reflex (in der Reproduktion wieder nicht zu
voller Wirkung gekommen). — Noch aber ist Witz mit seinen Mit-
teln nicht zu Ende. Er hat an der Tiefe des Kreuzganges nicht
genug, er lockt uns zur Tür hinaus auf die Straße, wo eine höchst
belebte Szene, ein Bild im Bilde gleichsam, sich auftut. Demon-
strativ ist es auf der Fläche des Gemäldes dicht neben den Kopf
Katharinens gestellt. Dort soll ein jeder Betrachter an diesem
abmessen können, wie sehr die Entfernung die Gegenstände ver-
kleinert — eine Tatsache, die als malerisch darzustellende ebenso
neu war wie die andere, daß ein beleuchteter Körper Schlag-
schatten und Reflexlichter aussendet und mit ihnen in den ihn
[125]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
umgebenden Raum übergreift. Aber auch inhaltlich ist die Straßen-
szene höchst unterhaltend. Wir sehen an der Ecke des ganz indi-
viduell dargestellten Hauses — Burckhardt meint, es könne das
eigene des Meisters sein — einen Verkaufsladen, in dem Mal- und
Schnitzware feilgeboten wird; ein Kleriker steht davor und prüft
sie; ein Knabe tummelt sein Steckenpferd; ein paar Stutzer be-
grüßen sich — und es fehlt auch nicht eine Pfütze, in der die Fi-
guren sich spiegeln.


Sehet her! so scheint der Maler den Betrachtern seines Bildes,
den Menschen vom Jahre 1440, zurufen zu wollen, dies alles dringt
täglich und stündlich in euer Auge ein, und doch habt ihr es noch
nie bemerkt! es ist auch gleichgültig in der Wirklichkeit, aber
indem ich es zum Bilde mache, wird es interessant! bringt es in euch
Empfindungen hervor, von denen ihr noch nie etwas gewußt habt.


Und wie schildert er die Heiligen, die allein ihm eigentlich zu
malen aufgegeben waren? Auch sie werden derselben Betrach-
tungsweise unterworfen. Sie sollen exemplifizieren, wie sich auf
einer ebenen Fläche plastischer Schein hervorrufen läßt. Damit
ist das Interesse des Künstlers an ihnen zu Ende. Feierlicher,
inniger, stärker zum Gemüte sprechend waren sie von der älteren
Kunst oft gegeben worden; diese hier bedeuten als geistige Wesen
nichts, die Köpfe sind trivial in der Form und leer im Ausdruck,
über die Leiber erhalten wir nur geringen Aufschluß; um so aus-
führlicheren über Gewand und Schmuck.


Witzens Werke in Basel und Genf (Taf. 6, 7) vervollständigen
sein künstlerisches Charakterbild nach mehreren Seiten, ohne es zu
verändern. Auf sie näher einzugehen verbietet uns der diesem Auf-
satz zugemessene Raum; nur den zwei beistehend in Zinkätzung
wiedergegebenen Tafeln müssen wir ein paar Worte noch widmen.
Auf ihnen war und waren zusammengesetzte Szenen darzustellen.
Nichts Leichtes gewiß, diese Aufgabe mit derjenigen Auffassung
des Realismus, die wir vom Straßburger Bilde her kennen, in Ein-
klang zu bringen. Von Komposition nach Rücksichten der Sym-
metrie, des zusammenhängenden Linienflusses usw. ist nicht die
Rede; die Schilderung der räumlichen Umgebung behält einen
sehr breiten Raum; die Gewissenhaftigkeit in der Wiedergabe
[126]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
der Schlagschatten geht bis zur Pedanterie; die Figuren sind die-
selben gedrungenen, starkknochigen wie auf seinen älteren Bil-
dern; an Fähigkeit zu seelischem Ausdruck in den Gesichtszügen
hat er kaum zugenommen. Bedeutsam ist dagegen das Streben,
seine Menschen durch Haltung und Gebärde ihr Inneres verraten
zu lassen. Der wie ein Träumender aus dem Gefängnis geführte
Petrus wirkt in seiner Unbeholfenheit doch wahrhaft ergreifend
und nicht minder der schwungvoll bewegte himmlische Bote. Hier
kommt noch das spezielle Interesse an den Verkürzungen hinzu.
Beim Engel sind sie wohlgelungen, das Wagnis mit der verwickelten
Bewegung des Kriegsknechtes geht über Witzens Kraft. Nun aber
zeigt sie sich in ihrem eigensten Elemente und auf einer staunen-
erregenden Höhe in der Landschaft auf Petri Fischzug. Diese geht
über alles hinaus, was gleichzeitige Italiener oder Niederländer
erreicht oder überhaupt nur gewollt haben; in der deutschen Kunst
bis zum Schluß des 15. Jahrhunderts kommt ihr nichts auch nur
von ferne gleich. Die Landschaft auf dem Genter Altar der van
Eycks ist poetischer in ihrer Farbenschönheit; in der strengen,
großartigen Sachlichkeit erinnert Witz unmittelbar an die Aquarell-
studien Dürers. Wie ist die große Wasserfläche belebt und doch
durchaus in ihrem Charakter als ebener Spiegel festgehalten! Vorn
scheinen die Steine des Grundes dunkelgrün aus dem durchsich-
tigen Elemente hervor; weiter treten Luftreflexe und Windstreifen
ein; das vorwärts geruderte Boot regt leichte Wellenkreise auf;
und am jenseitigen Ufer erhebt sich hügelichtes Gelände mit Wiesen,
Straßen, Bäumen und Häusern, Schneeberge am Horizont, alles
in größter Deutlichkeit, dabei doch immer als Masse empfunden.
In der Tat ist es auch keine Phantasielandschaft, sondern ein ge-
naues Landschaftsporträt: die Ansicht des Genfer Sees nahe dem
Dorfe Pregny aufgenommen. Zu vergleichen ist der architektonische
Hintergrund auf dem Bilde des Museums von Neapel (zuerst von
Bayersdorfer für Witz reklamiert), insofern wieder eine bestimmte
Örtlichkeit, die Innenansicht des Basler Münsters, zur Darstellung
kommt. Soviel ich weiß, sind derartige genaue Individualisierungen
von Landschaft oder Architektur bei den Niederländern nicht
nachgewiesen. — —


[127]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit

Ich versuche zum Schluß, Witzens geschichtliche Stellung
zu bestimmen. Daß er über den in der Entwicklung der ober-
deutschen Malerei vorgefundenen Punkt weit hinausgekommen ist,
leuchtet sofort ein; zu fragen bleibt, wieviel davon er etwa schon
vorhandenen Ansätzen, wieviel sich selbst, wieviel möglicherweise
dem Auslande, als welches natürlich nur die Niederlande in Be-
tracht kommen können, verdankt? Eine genaue Bilanz läßt sich
so lange nicht ziehen, als wir die Jugendwerke Witzens nicht ken-
nen. Die von Burckhardt umsichtig und sachkundig angestellten
Erwägungen führen aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu dem
Schluß, daß er die niederländische Kunst nicht in den Niederlanden
selbt, sondern erst in Basel kennen gelernt hat, wo für die Konzils-
zeit die Anwesenheit niederländischer Händler und Handwerker
historisch nachgewiesen ist. Es ist ja auch schon die Hypothese
ausgesprochen worden, daß der Meister von Flémalle sich damals
dort aufgehalten habe; gerade an diesen erinnert wirklich manches
in Witzens Art; leider ist die Voraussetzung recht unsicher. Will
man hingegen an eine niederländische Reise denken, so müßte
sie vor 1430 stattgefunden haben. Damals aber war der Genter
Altar noch nicht aufgestellt, war der Ruhm der van Eycks noch
nicht in alle Welt gegangen. Was Witz dorthin gezogen haben
möchte, welche Bilder der neuen Richtung er gesehen haben könnte,
entzieht sich jeder Berechnung. Entscheidend ist nur, daß auch
aus inneren Gründen eine solche Reise eher unwahrscheinlich ist.
Hätte es erst der Niederländer bedurft, um Witz zum Realisten
zu machen, so wäre entweder die Abhängigkeit von jenen eine voll-
ständigere geworden, oder es hätte sich das Erworbene mit Archais-
men und Suabismen äußerlich vermengt. Weder das eine noch
das andere liegt vor. Witz ist ein ganzer und entschlossener Realist,
er hat das neue Prinzip in seinem innersten Wesen erfaßt, aber er
stellt es selbständig dar. Die Zahl der unmittelbar an Nieder-
ländisches erinnernden Züge ist gar nicht so groß und sie gehören
nur seinen späteren Werken an; noch der Basler Altar, der etwa
zehn Jahre vor dem Genfer entstanden ist, enthält nichts, das
notwendig auf diese Quelle zurückgeführt werden müßte.
Nebenher muß freilich noch eine andere Frage gestellt werden,
[128]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
auf deren Beantwortung allerdings die Forschung heute noch
nicht vorbereitet ist; wie verhält sich Witz zur gleichzeitigen
schwäbischen Mystik? und besteht vielleicht eine Verdingungs-
linie zwischen ihr und dem Slütenschen Kreise? Witz' Ge-
stalten, wie sie auch im neuen malerischen Sinne zu ihrer
Umgebung in Beziehung gesetzt sind, haben doch zugleich
etwas plastisch Festes und Abgeschlossenes, das nicht weniger
neu ist. In jedem Falle muß, als Witz die ersten nieder-
ländischen Bilder zu sehen bekam, schon in seiner bisherigen
Entwicklung etwas gelegen haben, das ihnen entgegen kam.
Wenn wir neben Witz seine Landsleute Lochner, Moser und
Multscher im selben Strome schwimmen sahen, so heißt das
doch, daß die schwäbische Ecke zwischen Bodensee und Ulm
frühzeitig — früher als irgendeine andere deutsche Landschaft
— in die Übergangsbewegung eingetreten war. Nicht völlig
beziehungslos zur burgundisch-niederländischen Bewegung, aber
doch auch nicht ohne eigenen Antrieb.


Der Ulmer Apostelmeister


Für wenige Entwicklungsepochen in der Geschichte der deut-
schen Kunst sind wir zurzeit so lebhaft interessiert, als für
die Anfänge des Realismus im 15. Jahrhundert. Das Schwierige
im Problem ist, daß es sich eigentlich um zwei Bewegungen handelt:
um fremde Einströmungen, daneben aber gewiß auch um ein
spontanes Erwachen. Und auch der erste Faktor ist nicht so
einfacher Natur, wie man es sich früher vorstellte. Den nieder-
ländisch-burgundischen Anregungen gingen italienische voraus,
und die Wege, auf denen die einen und die anderen kommen, sind
nichts weniger als geradlinig. Die Unruhe, die die Kunst von
innen heraus ergriffen hat, setzt sich in äußere Bewegung um;
sprunghaftes Eingreifen von Wanderkünstlern wird öfters wich-
tiger, als die normale Fortentwicklung der Schulen.


Der folgende Fall wird auf diese Verhältnisse ein in mancher
Hinsicht interessantes Streiflicht werfen.


[129]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit

Die Rolle, die für die Malerei das schwäbische Bodenseegebiet
gespielt hat, ist bekannt. Wollte man, einem Analogieschluß fol-
gend, die ersten Realisten in der Bildhauerkunst ebenfalls am
Bodensee suchen, so würde man sich jedoch getäuscht sehen. So-
viel wir zurzeit wissen, ist vielmehr Ulm der Ort. Paul Hartmann
hat die erste, noch ganz vereinzelte Regung des neuen Stils an den
Archivoltaposteln des Münsterwestportales (Taf. 8) nachgewiesen.
Die Entstehungszeit ist überraschend früh. Sie liegt sicher inner-
halb der beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, wahr-
scheinlich noch vor 1415. An eine rein bodenwüchsige Entwick-
lung kann nicht wohl gedacht werden, irgendwie muß ein Licht-
strahl aus der Gegend Klaus Slüters den Ulmer Apostelmeister
getroffen haben. Vermutungen über seine Vorgeschichte zu äußern,
wäre müßig. Auch ist er in Ulm oder sonstwo in Schwaben
nicht wieder anzutreffen. Irgendwo habe ich gelesen, daß man
ihn mit dem Meister Hartmann, der 1420 die Statuetten an der
Stirnwand der Vorhalle oberhalb der Bögen ablieferte, hat iden-
tifizieren wollen. Das ist aber völlig mißgegriffen.


Nun habe ich den Ulmer Apostelmeister an einem von Ulm
sehr weit entfernten Punkte wiedergefunden. Er ist der Urheber
der Reliefs an der Tumba des Erzbischofs Friedrich von Saar-
werden im Dom zu Köln (Tafel 9). Man vergleiche: dasselbe ge-
preßte Sitzen auf niedrigen Stühlen, dieselbe sehr bestimmt aus-
geprägte Gewandbehandlung, dieselbe Form der unter dem Saum
des Kleides vorlugenden Fußzehen, dieselben Kopftypen, dieselbe
Haar- und Bartbehandlung, zusammenfassend: dieselben mimischen
und physiognomischen Mittel zur Darstellung gespannten Nach-
denkens. Das sind Übereinstimmungen, die um so schwerer wiegen,
als sie in technisch verschiedener Form — das eine Mal Rund-
plastik, das andre Mal Relief — auftreten und die vollends ein-
deutig werden durch den großen Abstand, der sowohl das Ulmer
als das Kölner Werk von ihrer künstlerischen Umwelt trennt.
Dazu sind wir in der günstigen Lage, die zeitliche Nähe der Ent-
stehung bestimmter als in den meisten ähnlichen Fällen nach-
weisen zu können. Für die Ulmer Apostel verbürgt die Eigenschaft
als Archivoltfiguren das Zusammengehen mit der Architektur.
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 9
[130]Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Hartmann sagt mit vorsichtigem Spielraum: erstes oder zweites
Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Man wird aber, meine ich, die
Grenzen noch enger ziehen können. Die Statuen außen an der
Stirnwand der Eingangshalle wurden 1420 abgeliefert. Augen-
scheinlich ist dieser Teil um einiges später ausgeführt worden
als das Portal. Es wird deshalb für die Apostel die zweite Hälfte
des zweiten Jahrzehnts nicht mehr in Betracht kommen. Nun die
Datierung in Köln: Friedrich von Saarwerden starb 1414. Nichts
hindert anzunehmen, was je an sich das Nächstliegende ist, daß die
Ausführung in eines der folgenden Jahre fällt. Doch auch schon
ohne diese chronologischen Stützpunkte, allein nach den inneren
Merkmalen, erweisen sich die Kölner Arbeiten als die späteren.
Sie sind abgerundeter im Vortrag, weniger eigensinnig, aber auch
weniger frisch und energisch. Es ist auch nach der Natur dieser
Motive wahrscheinlicher, daß sie ihre erste Fassung in der Rund-
plastik, als im Relief gefunden haben. Das Saarwerdengrabmal
gilt von jeher und mit Recht für das Beste, was die Kölnische
Plastik des frühen 15. Jahrhunderts hervorgebracht hat, wie es
auch sicher die erste Probe des neuen Stils auf dem Kölnischen
Boden ist.


Mit dieser letzten Feststellung gewinnt der mitgeteilte Fall
allgemeines Interesse. Der erste Anstoß in der Richtung des neuen
Stils, so sehen wir nun, ist nach Köln nicht von den nahen Nieder-
landen gekommen, sondern auf weiten Umwegen über Dijon,
Oberrhein und Schwaben — genau auf denselben Wegen, auf denen
einige Jahre später der neue Stil in die Kölnische Malerei kommen
sollte, durch den Schwaben Stephan Lochner.



[]
[figure]
Figure 5. Museum zu Straßburg: Die hl. Magdalena und Katharina von C. Witz

[]
[]
[figure]
Figure 6. Museum zu Basel: Der hl. Christophorus von C. Witz

[][]
[figure]
Figure 7. Museum zu Genf: Petri Fischzug von C. Witz

[][]
[figure]
[figure]
Figure 8. Archivoltfiguren vom Westportal des Ulmer Münsters

[][]
[figure]
Figure 9. Zwei Apostel vom Grabmal des Erzbischofs Friedrich von Saarwerden im Dom zu Köln
[][[131]]

DER MEISTER DES
GEMMINGENDENK-
MALS IM MAINZER
DOM


1909


9*
[[132]]
[[133]]

Den Anstoß zu der nachfolgenden Untersuchung gaben
mir die bekannten, einander sehr nahestehenden
Kreuzigungsgruppen aus dem frühen XVI. Jahrhun-
dert in Frankfurt, Mainz und Wimpfen. Als ihren
Meister kennen wir den Mainzer Bildhauer Hans
Backofen
. Sein Name ist für zwei von ihnen urkundlich gesichert, für
die beiden anderen spricht die stilistische Übereinstimmung so deut-
lich, als irgend gewünscht werden kann. Das älteste und umfang-
reichste, siebenfigurige Exemplar ist das auf dem Domkirchhof in
Frankfurt (Taf. 10), gestiftet 1509 von Jakob Heller, demselben, der
Dürer beschäftigt hat. Das zweite, ebenfalls in Frankfurt, auf dem
Peterskirchhof, 1510. Das Wimpfener (Taf. 11), jetzt auf fünf Figuren
reduziert, ursprünglich sechsfigurig, muß in den nächstfolgenden
Jahren entstanden sein. Das Mainzer, gegenüber der Jesuitenkirche
St. Ignaz, sechsfigurig, nach 1519; die Inschrift lautet: a. d. 1519
uff den 21. Tag des Monats Septembris ist gestorben der ersame
Meister Hans Backoffen von Sultzpach, Bildhauer, dernach uff den
25. Tag des Monats Oktobris ist gestorben Catharina Fustin sein ehe-
lichen Husfrawe, welch dies Crucifix aus ihrem Testament haben
lassen machen, denen Gott genedig und barmhertzig syn wolle. Amen.


Daß der Künstler, dem so umfangreiche Unternehmungen
anvertraut wurden und dem seine Geschäftsbilanz ein so großes
und kostbares Geschenk seinen Mitbürgern zu vermachen erlaubte,
Meister einer sehr großen Werkstatt gewesen sein muß, versteht
sich von selbst. Sonderbar müßte es zugehen, wenn sich nicht anderes
noch, bisher unerkannt, von ihm erhalten hätte.


Ferner zeigen uns bereits die oben genannten Denkmäler,
trotz der Enge des Darstellungskreises, Backofen als einen jener
Künstler des frühen XVI. Jahrhunderts, die mit angestrengtem
Eifer einen neuen Stil sich zu erringen trachteten; und sie zeigen
ihn darin in hohem Grade selbständig. Ich glaube bestimmt,
wären sie inschriftlos auf uns gekommen, so würde die Datierung
peinliche Unsicherheit verursachen; meistens wohl würde man sie
beträchtlich jünger einschätzen, als sie sind.


Mit der Nachforschung nach bisher unerkannten Werken
Backofens werden wir naturgemäß zuerst in Mainz beginnen.
[134]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Im dortigen Dome steht die stolzeste Reihe von Grabdenkmälern,
vom XIII. Jahrhundert ab, die Deutschland besitzt. Drei von ihnen
könnten nach ihrer Zeitstellung für Backofen in Frage kommen:
das Denkmal Bertholds von Henneberg (gest. 1504) (Taf. 12), das
Jakobs von Liebenstein (gest. 1508) (Taf. 13), das Uriels von
Gemmingen (gest. 1514) (Taf. 14). Zunächst mag uns das letztere
allein beschäftigen, da es zeitlich in der Mitte zwischen den
großen Kreuzigungen liegt und etwaige Berührungspunkte am
deutlichsten erkennen lassen müßte.


Fragen wir, was uns am Gemmingendenkmal, gemessen an
dem Gleichzeitigen und unmittelbar Vorangehenden in der deut-
schen Plastik, als besonders bezeichnend erscheint, so werden wir
sagen: die intensive malerische Empfindungsweise. Sie ist in der
deutschen Plastik dieser Zeit nicht neu überhaupt. Denken wir
unter verwandten Aufgaben etwa an Riemenschneiders Bischofs-
gräber im Dom zu Würzburg oder an Päuerleins Hohenzollern-
denkmal in Augsburg und sein Reichenaudenkmal in Eichstätt,
so sind auch diese gewiß malerisch zu nennen. Aber um wieviel
geht darin das Mainzer Denkmal über sie hinaus in der Einheit-
lichkeit wie in der Kraft der Ausdrucksmittel! Was malerischer
Stil in der Plastik sei, brauche ich hier nicht weitläufig zu erörtern.
Er kann verschiedenes bedeuten. Unter anderem ist er eines der
wirksamsten Mittel, um den Eindruck des Bewegten hervorzu-
rufen. Sofort fällt, unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, die
tiefe innere Verwandtschaft des Gemmingendenkmals mit den
Kreuzigungsgruppen ins Auge. Bei den letzteren ist schon die Ge-
samtkomposition in ihrem Figurenreichtum aus einer entschiedenst
malerischen Tendenz hervorgegangen. Man hatte wohl schon früher
die drei Kreuze nebeneinandergestellt oder aber Maria Magdalena
zu den althergebrachten Gestalten der Mutter und des Jüngers
hinzugesellt; aber beide Motive vereinigt nur in Reliefs oder Altar-
schreinsgruppen. Indem Backofen diese Anordnung auf die Frei-
gruppe übertrug, gewann er die Möglichkeit zu einer für die Plastik
neuen Steigerung der Affekte. Im Vergleich zu der Darstellungs-
weise des XIII. und XIV. Jahrhunderts sind dabei die Rollen um-
gekehrt. Dort der Gekreuzigte in gliederverrenkender Todes-
[135]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
qual, Maria und Johannes in feierlich gemessener Trauergebärde.
Hier Christus strack und gerade, er allein in Ruhe, um ihn her die
Aufregung. Es ist der Gegensatz des Andachtbildes, das unmittelbar
auf Gefühlserregung des Beschauers hinzielt, und der in sich ge-
schlossenen dramatischen Szene.


Die Darstellung auf dem Grabmal ist ihrem Gegenstande nach
undramatisch. Der Kurfürst kniet in ritueller Andacht vor dem
Kreuze, neben ihm stehen zwei heilige Bischöfe (Martin und Bonifaz?)
als Patrone1). Und doch werden wir alles eher als feierliche Ruhe
auf uns übergehen fühlen. Die Heiligen sind ins Heroische gesteigert,
in weiser Gegensätzlichkeit zu der dem Alltäglichen sich nähernden,
immer noch würdevollen Bildung des Kurfürsten2). Wie sie ihre
Bücher, ihre Krummstäbe greifen, den Knienden empfehlend
vorschieben, das sind nur leichte Aktionen, aber so ausgeführt,
daß sie an eine gewaltige latente Kraft denken lassen. Wie von
kurzen, heftigen Windstößen die schweren Gewandfalten durch-
einander geworfen; schwarze Schattenflecken rasch mit fahrigen
Lichtern wechselnd; kühn zerklüftet die mächtigen Häupter der
hl. Bischöfe; endlich der den Sterbenden am Kreuze wehklagend um-
flatternde Schwarm der Engel. Den Frankfurter Kreuzigungen
fehlen die Engel, auf der Mainzer sind sie da, in dreister Grenz-
verletzung des der Plastik Zukömmlichen. Dann ist noch eine
Spezialität in der Gewandbehandlung zu beachten. Sie ist auf der
ersten Frankfurter Kreuzigung noch nicht sehr ausgeprägt, schärfer
auf der zweiten, zunehmend auf dem Gemmingendenkmal, ein
wenig schon mameristisch an dem posthumen Werk bei St. Ignazius.
[136]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom 1909
Diese Eigentümlichkeit besteht darin, daß der Rücken eines Falten-
zuges an einigen Stellen in zitternde, kräuselnde Bewegung gerät,
ferner daß am Anfang eines Faltentales ein mehrfach geteilter
Knick in Form eines Zweiblatts entsteht, ein Beispiel von der
Maria der zweiten Frankfurter
Kreuzigung, womit man etwa den
Mantel Gemmingens vergleichen
wolle. Etwas dieser Behandlungs-

[figure]
Figure 10. Von der Gruppe des Peterskirchhofs in Frankfurt.


[figure]
Figure 11. Vom Ottensteindenkmal in Oberwesel.


weise Ähnliches findet sich zuerst bei den Malern und Zeich-
nern; bei Dürer z. B. schon in der Apokalypse und der großen
Passion; bei den Bildhauern kommt es nach 1520 in Mode; vorher
habe ich es nirgends als in dem uns eben beschäftigenden Denk-
mälerkreis gefunden.


Meines Erachtens kann schon an diesem Punkte der Unter-
suchung als Urheber des Gemmingendenkmals mit Bestimmtheit
Backofen genannt werden. Abschließende Bestätigung bringt der
Vergleich der Kruzifixe: sie sind alle vier so gut wie identisch.
Man nehme selbst eine so geringfügige Einzelheit, wie am Lenden-
tuch den in der Richtung auf den Nabel nach oben gezogenen
Bausch.


Erst das Gemmingendenkmal gibt von der Kunst Backofens
einen vollen Begriff. Es zeigt, verglichen mit den Kreuzigungen,
innerhalb der Stilgleichheit die höhere Frische und Unmittelbar-
keit. Gerade die beiden urkundlich beglaubigten Stücke, die zweite
Frankfurter Kreuzigung und die Mainzer, sehen am meisten nach Ge-
[137]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
sellenhand aus, was bei dem letzteren nach der Art der Entstehung
auch an sich wahrscheinlich ist. Backofen wird Modellskizzen
hinterlassen haben, die Ausführung folgte nach seinem Tode.


Derselbe Meister, aus dessen Hand das Gemmingendenkmal
hervorgegangen ist, hat auch das Jakobs von Liebenstein geschaffen
(Taf. 13). Die Verschiedenheit des Gegenstandes macht den Ver-
gleich nicht ganz leicht. Zwar glaube ich, wenn ich eine tiefe
geistige Verwandtschaft erkenne, daß ich mit diesem Eindruck nicht
allein bleiben werde. Aber wir fühlen uns gegen Argumente dieser
Art mit Recht zur Behutsamkeit verpflichtet und verlangen nach
derberen Beweisen. Sie werden nicht fehlen. Man betrachte
zuerst in dem die Hauptgestalt umgebenden Rahmenwerk die Kon-
sölchen unter den Statuetten. Sie haben Renaissanceornament,
und es ist genau dasselbe wie am Gemmingendenkmal. Nur daß
es an dem jüngeren Werk nicht mehr, wie hier, bloß verstohlen ein-
geschoben wird, sondern mit Zuversicht sich ausbreitet. Nirgends
in Mainz und in einem weiten Umkreise um Mainz ist in so frühen
Jahren sonst eine Spur von Nachahmung der Italiener zu bemerken.
Man betrachte zweitens den Krummstab in der Hand des Kirchen-
fürsten mit dem höchst individuell behandelten Blattwerk; er
wiederholt sich im kleinen bei den Bischofsstatuetten des Rahmen-
werks, er wiederholt sich im großen bei den Patronen Gemmingens,
fünfmal dasselbe Modell ohne Veränderung. Offenbar hatte Back-
ofen keine kunstgewerblichen Interessen, es genügte ihm, seine
Erfindungsgabe einmal angestrengt zu haben, dies für allemal1).
Man beachte drittens die nackten Flügelknaben. Sie stammen
sichtlich vom italienischen Putto, der bekanntlich das erste ist,
was die Deutschen sich aus dem Formenvorrat der Renaissance
aneignen, vereinzelt schon vor 1500. Auf dem Gemmingendenkmal
wimmelt es von Putten, und sie zeigen eine so ausgeprägte per-
sönliche Auffassung des nackten Kinderkörpers, daß man meint,
allein aus ihnen müsse der Meister wiedererkannt werden können.
Und in der Tat nun: die (antike!) Inschrifttafel zu Füßen Lieben-
steins wird von zwei Putten aus derselben Familie getragen! Der
[138]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Naturalismus des XV. Jahrhunderts im Norden war in der Bildung
des Kindeskörpers — es handelt sich noch wesentlich um das Christ-
kind — von anfänglicher Magerkeit und Häßlichkeit nach und nach
zu einer immer noch lebenswahren, aber sehr anmutigen Darstellung
der weichen und unfertigen Form gelangt. Dagegen der Renais-
sanceputto der Deutschen erwächst nicht aus der Naturbeobach-
tung, er wird nach einem übernommenen Schema geformt. Be-
achten wir nun, wie Backofen demselben in seiner Weise Leben
einflößt: pralle Muskeln, gespannte Haut, grobe Füße, ältliche,
seltsam verkniffene Gesichter; kurz, das Gegenteil von kindlicher
Weichheit und Zartheit.


Ich nannte oben als drittes Kurfürstendenkmal, das nach
seiner Zeitstellung noch für Backofen in Frage kommen könnte,
dasjenige Bertholds von Henneberg (gest. 1504). Dieses gilt nun
freilich seit geraumer Zeit für eine »unverkennbare« Arbeit Tilmann
Riemenschneiders. Die Attribution scheint von Fr. Schneider
herzurühren; Bode hat ihr allgemeine Anerkennung verschafft.
Die von mir (»Denkmäler der deutschen Bildhauerkunst«) ver-
öffentlichten großen Photographien gestatten genauen Vergleich
mit den zwei sachlich und zeitlich zunächst in Betracht kom-
menden authentischen Arbeiten Riemenschneiders, den Denkmälern
des Fürstbischofs Scherenberg (etwa 1498) und des Fürstbischofs
Bibra (etwa 1519) im Dom zu Würzburg. Zeitlich steht das Henne-
bergdenkmal zwischen diesen in der Mitte. Legen wir in dieser Folge
die Abbildungen nebeneinander, wie springt da sofort das Mainzer
Denkmal aus der Reihe heraus! Die beiden Würzburger, obgleich
durch 20 Jahre voneinander getrennt, weichen nur im Rahmenwerk
(hier allerdings erheblich) voneinander ab; in den Hauptfiguren
volle Übereinstimmung der Empfindung wie der Durchbildung;
Riemenschneiders plastischer Stil ist in einem Stadium der Un-
veränderlichkeit angelangt1). Dagegen auf dem Mainzer: wieviel
energischer der Rhythmus, wieviel malerischer die Gruppierung der
[139]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Massen. Quer durch die Höhenentwicklung dreimal tiefe Schatten-
akzente. So nervige Greifhände als die, mit denen Kurfürst Bert-
hold sein Gebetbuch umspannt, sucht man bei Riemenschneider
überall umsonst. Und nun der uns schon wohlbekannte Bischofs-
stab1) in drei Exemplaren, wenn man die Statuetten des Rahmen-
werks hinzunimmt, und die ebenso wohlbekannten Putten! Back-
ofen hat es uns wirklich nicht schwer gemacht, ihn zu erkennen2).


Schließlich erwähne ich, als den drei Denkmälern des Mainzer
Domes gemeinsam, die gegen das Gotische speziell neue Auffassung
des Verhältnisses von Körper und Gewand. Alle gotischen Gestalten,
auch die spätesten und freiesten, wie die Riemenschneiders, sind
und bleiben Draperiefiguren, d. h. die Gewandung ist das Maß-
gebende für den Eindruck, und der Körper verschwindet hinter
ihr, wie etwas vergleichsweise Wesenloses; jedenfalls ist sie das,
was in der Phantasie des Künstlers zuerst Gestalt gewinnt. Backofen
ist der erste deutsche Plastiker, der den Körper zuvor fühlt, der
ihn als das Bedingende, und das Gewand, wie reich immer, als das
Bedingte darstellt. Im Henneberg rüttelt er noch an der alten
Schranke; im Liebenstein ist sie gefallen. In heiterer Sicherheit
steht der Kirchenfürst da, in vollkommen natürlicher, freier, dem
Beschauer faßlich gemachter Gewichtsausgleichung der Teile.
Seit langer Zeit zum erstenmal eine deutsche Arbeit ohne jeglichen
Rest von Spießbürgerlichkeit. Und schließlich, im Gemmingendenk-
mal, der Schritt ins Heroische.


[140]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom

Was ich über Backofen gesagt habe, wird manchem Leser so
geklungen haben, als müsse nun der Schlußsatz lauten: Backofen
war der erste Renaissancebildhauer in Deutschland. Ihn als solchen
zu proklamieren, ist meine Absicht nicht. Wo ist aber dann sein
Platz in der Stilbewegung seiner Zeit? Wir treten mit dieser Frage
auf ein Gebiet peinlichster Unsicherheit der Grundbegriffe. Es
wird mir nicht möglich sein, meine Meinung über Backofen zu be-
gründen, wenn ich nicht zuvor meine Stellung zu diesen Grund-
begriffen formuliert habe. — Was ist Renaissance? Was ist Spät-
gotik? Die eine Frage ist von der andern nicht zu lösen. Es gibt
unerschrockene Pragmatiker, welche alles, was man früher Spät-
gotik nannte, jetzt zur Renaissance schlagen wollen; es gibt andere,
in deren Augen noch das ganze XVI. Jahrhundert von Spätgotik
erfüllt ist, wenn auch unter einer Renaissanceverkleidung. Ich kann
mich weder zu den einen noch zu den anderen halten. Der Erb-
fehler ist, daß man es mit einem einfachen Entweder-Oder zu tun
zu haben meint. Ich finde im XV. wie im XVI. Jahrhundert Er-
scheinungen, und zwar in zusammenhängender Reihe, die ohne
Gewaltsamkeit oder Gedankenlosigkeit, weder aus dem Stilprinzip
der Gotik noch aus dem der Renaissance erklärt werden können.
Sie bedeuten ein drittes. Es begleitet und modifiziert die letzte
Phase der Gotik, es begleitet und modifiziert erst recht die Renais-
sance, es führt in gerader Linie zum Barock. Und von diesem End-
punkt aus fällt, wie mich dünkt, ein helleres Licht über den inneren
Zusammenhang der Dinge. Die entscheidende Zäsur in der Ge-
schichte der nordischen Baukunst — das ist auch meine Meinung
— liegt nicht erst im XVI., sondern schon im XV. Jahrhundert.
Unter der Hülle absterbender, aus ihrem Organismus gelöster
Formeln regt sich ein starkes neues Leben. Aber man verkennt
völlig das Gesetz desselben, wenn man es für wesensverwandt
mit derjenigen Kunst ansieht, deren Achse zwischen Brunnelleschi
und Bramante liegt und die allein Renaissance heißen darf; es
ist wesensverwandt mit dem Barock. Entschließt man sich, unter
»Barock«, wozu die Ansätze auch schon mehrfach gemacht sind1),
[141]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
nicht mehr bloß einen zeitlich bestimmten Stil zu verstehen,
sondern erkennt man darin ein allgemeineres Stilprinzip, das, ein
eigenes Formensystem entbehrend, eines jeden historischen Stils
sich bemächtigen kann, so wird der Begriff erst fruchtbar. Nach
meiner Auffassung sind Renaissance und Barock sich nicht gefolgt,
sie gehen von Anfang an nebeneinander her und scheiden die nach-
mittelalterliche Kunstwelt so: Renaissance ist, im Bunde mit der
nach ihr genannten Kultur, der Stil Italiens; Barock ist das spontane
neuzeitliche Produkt derselben nordischen Völker, die im Mittel-
alter den romanischen und gotischen Stil geschaffen hatten. Gleich-
wie die späte Gotik Italiens latente Renaissance ist, so ist die späte
Gotik der Germanen latentes Barock. Im XVI. Jahrhundert
in Deutschland begegnen sich beide. Man rede nicht länger von
spätgotischer Rückständigkeit als dem Hindernis eines reineren
Verständnisses der Renaissance: was der Renaissance in den Weg
trat, war nicht die tote Gotik, sondern das sehr lebendige Barock.
Die echte Renaissance hat es in Deutschland nur zu vorübergehenden
und auch da nur zu halben Siegen gebracht. Kongenial wurde sie
den Deutschen erst, wenn sie sich mit dem Barock verbündete.
Dies geschah schon bei den ersten Versuchen der Annäherung
an die Welschen; man nehme als Beispiele die Hofgalerie in der
Bischofsresidenz zu Freising, den Domkreuzgang zu Regensburg,
den St. Kiliansturm in Heilbronn und die ganze Reihe der ersten
sogenannten Renaissancegrabmäler. Wie sind hier mit sicherem
Instinkt alle barocken Elemente der oberitalienischen Früh-
renaissance herausgefunden! Daneben blieb ein wirklicher Renais-
sancebau, wie die Residenz in Landshut, ganz ohne Wirkung.


Nach dieser Zwischenbemerkung dürfen wir zu Backofen zurück-
kehren. Die Frage, wo sein stilgeschichtlicher Platz sei, beant-
wortet sich nun von selbst. Es ist genau der Punkt, wo Spätgotik
und Barock sich die Hand reichen — an der Renaissance vorbei.
Ich sage das, trotzdem Backofen einer der allerersten ist, der, nach
Ausweis seiner Ornamentik, mit der italienischen Kunst Fühlung
gesucht hat1). Die einzige Wirkung derselben auf ihn ist die,
[142]
Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
daß er noch schneller das letzte welke Herbstlaub der Gotik von
seinem frischen Saftes vollen Stamme abschüttelt.


Wie es aussieht, wenn Deutsche dieser Zeit ihr Verhältnis
zur Renaissance positiv nehmen, zeigt der Altersstil Peter Vischers
und der seiner Söhne: sie nehmen, soweit sie es vermögen, die
Richtung aufs Klassische. Vischer und Backofen sind nicht nur
die stärksten Potenzen der deutschen Bildhauerkunst ihrer Zeit,
sie sind auch deren äußerste Gegenpole. Nur einen Zeitgenossen
gibt es, dem Backofen innerlich ganz nahesteht1), der ist aber nicht
unter den Bildhauern zu suchen: es ist Matthias Grünewald.
Zu erörtern, ob es der deutschen Kunst nicht besser gewesen wäre,
sie hätte sich niemals mit der Renaissance eingelassen, ist müßig.
Denn es war nach der historischen Lage eine Notwendigkeit.
Wirklich wichtig ist aber, festzustellen, was die deutsche Kunst
vor der Dazwischenkunft der Renaissance war. Hier werden immer
Grünewald und Backofen die Hauptzeugen sein.


Die umfassende Tätigkeit, die wir für die letzten 15 Lebens-
jahre Backofens nachweisen konnten, hat eine mit tüchtigen Gesellen
reich besetzte Werkstatt zur Voraussetzung. Schon um dieses
äußeren Umstandes willen kann Backofens Einfluß auf die zeit-
genössische Kunst kein geringer gewesen sein. Aber mit der Aus-
breitung stellte sich naturgemäß auch Verflachung und Mischung
mit anderen Manieren ein. Ich nenne im folgenden einige Arbeiten,
bei denen der Zusammenhang mit dem Meister unzweideutig und
noch aus erster Hand ist.


In Mainz selbst, und zwar im Dom, das Votivrelief des Scho-
lastikus Dietrich von Zobel, errichtet 1526. Breite Renaissance-
konsole, kein Rahmenwerk. Thomas kniet vor dem Auferstandenen.
1)
[143]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Der Mantelzipfel des letzteren von einem schwebenden Putto
in die Luft gehoben. Ein zweiter, auf der Mandoline klimpernd,
hinter Thomas. Die phantastisch verwegene Komposition könnte
noch auf Backofen selbst zurückgehen. Die Bildung der Putten
und das Ornament lassen einen jüngeren Künstler erkennen, der in
die Renaissance schon tiefer eingedrungen ist als der Meister.
Der Kopf Christi unverkennbar inspiriert von dem großartigen
romanischen Weltenrichter aus der Schule des Naumburger Meisters
(jetzt über dem Ostportal).


Noch unveränderter ist Backofens Art in zwei hervorragend
schönen Bildnisepitaphen der Liebfrauenkirche in Oberwesel.
Das ältere derselben ist für mich unzweifelhaft sogar ein eigen-
händiges Werk Backofens. Ich meine das Epitaph des 1515 ver-
storbenen Kanonikus Petrus Lutern. Alle Qualitäten der Mainzer
Kurfürstengräber kehren gleichartig und gleichwertig wieder.
Zweitens das Ottensteinische Doppelepitaph gleich nach 1520.
Die Anlehnung an Backofen sehr ausgeprägt (s. die Faltenmotive
S. 136); aber die weichere Anmut des Ganzen verbietet, wie schon
das Datum, an den Meister selbst zu denken.


Die große Statuenfolge an den Hochwänden des Domes zu
Halle a. S., Christus und die Apostel. Einen Schüler Backofens
hier zu finden, hat nichts Überraschendes. Denn der Bauherr
war der Kurfürst von Mainz, Albrecht von Brandenburg. Die
Kirche ist sehr schnell zu Ende gebaut, 1520 - 1523; die Aus-
stattung trägt die Daten der nächsten Jahre. Hände, Gewandstil,
dekoratives Beiwerk lassen keinen Zweifel über die Herkunft.
Ich würde nicht widersprechen, wenn man denselben Schüler wieder-
erkennen wollte, der die Kreuzigung bei St. Ignatius nach des
Meisters Tode auszuführen bestimmt wurde.


Backofensche Anklänge bei Bildschnitzern fand ich auf dem
(irrig Riemenschneider zugeschriebenen) Marienaltar der Jakobs-
kirche in Rothenburg o. T., auf einem Altar in Wimpfen am
Berg und besonders im Mainzer Dom in den drei ganz ausge-
zeichneten Schnitzbildern des vorderen Altars in der ersten (von
West gerechnet) Kapelle am nördlichen Seitenschiff. Die Back-
ofenschen Elemente verbinden sich hier aber überall mit fremden.
[144]Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
Es scheint nicht, daß Backofen Bildschnitzer in seiner Werkstatt
gehabt hat, er ist durch und durch ein Künstler für den Stein.


Die umfangreichste auswärtige Arbeit der Werkstatt vermute
ich in Speier. Sie schmückte den Kreuzgang des Domes und ist
mit diesem untergegangen. Unter den spärlichen Trümmern von
Bildwerken, die jetzt an der Außenwand des südlichen Seiten-
schiffes eingemauert sind, befinden sich zwei Pilaster von einem zer-
störten Epitaph, welche, bis auf einige geringfügige Auslassungen,
sich als genaue Abschriften der Pilaster am Mainzer Gemmingen-
denkmal erweisen. Selbst die Wappenschilder sind strikt kopiert.
Die Tätigkeit der Backofenschen Werkstatt in Speier ist also ge-
sichert. Aus Urkunden erfahren wir aber noch anderes1) In der
Mitte des Kreuzganges stand der größte und merkwürdigste aller
deutschen Ölberge. Zentral disponiert, unter einer offenen sechs-
eckigen Halle. Den ersten Auftrag hatte Hans von Heilbronn er-
halten, der aber die Speierer in Stich ließ. Wirklich ausgeführt
ist er von einem Lorenz von Mainz. Die Kombination mit der obigen
Feststellung ergibt sich von selbst. Die auf der Bibliothek in
Göttingen erhaltenen Zeichnungen 2) des XVII. Jahrhunderts
zeigen eine aufs höchste malerische Komposition; stilistische Ein-
zelheiten lassen sie natürlich nicht erkennen.



[]
[figure]
Figure 12. Frankfurt: Domhof, Kreuzigungsgruppe von Backofen

[][]
[figure]
[figure]
Figure 13. Wimpfen am Berg: Der Kopf Christi aus der Kreuzigungsgruppe von Backofen

[][]
[figure]
Figure 14. Dom zu Mainz: Hennebergdenkmal von Backofen

[][]
[figure]
Figure 15. Dom zu Mainz: Liebensteindenkmal von Backofen

[]
[]
[figure]
Figure 16. Dom zu Mainz: Gemmingendenkmal, unterer Teil
[][[145]]

DIE KRISIS DER
DEUTSCHEN KUNST
IM XVI. JAHRHUNDERT


1913
Vortrag im Städelschen Museumsverein in Frankfurt a. M.


10
[[146]][[147]]

Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit,
der Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen
als die Geschichte der auf Verstand und Wissen
beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende
Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt
wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt.
Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozu-
sagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch
nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst
muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ist's,
das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristallisieren,
wobei ihr die von früheren Zeiten errungenen Werte nur insoweit
nützen, als sie sie umbildet und sich assimiliert. Die Fähigkeit,
diese Aufgabe zu erfüllen, ist aber offenbar nicht konstant. Wir
haben den Eindruck, daß in der Kunst es Zeiten der Blüte und
Zeiten des Verfalls gebe. Leicht zu erklären ist das nicht. Wenn
wir überzeugt sind, daß die Kunst zwar ein Spiel, aber keine Spie-
lerei, zwar ein Schein, aber doch sehr wirklich, zwar ein Überfluß,
aber doch ganz unentbehrlich ist; wenn wir wissen, daß schon die
Höhlenmenschen vor dreißigtausend Jahren Kunst geübt haben,
und glauben, daß der letzte Dichter der letzte Mensch sein wird
— woher kommt dann das sehr ungleiche Funktionieren der
kunsterzeugenden Seelenkräfte? dieser Wechsel von Blüte und
Verfall?


Eine sehr einfache und radikale Erklärung gibt eine Lehre,
die vor einiger Zeit erst aufgetaucht ist und, wie es scheint, nicht
wenig Anhänger sich erworben hat: sie durchhaut den Knoten,
indem sie die Tatsache selbst leugnet. Es gebe im kunstgeschicht-
lichen Verlauf, so behauptet sie, gar keine Höhen und Tiefen,
Blüte- und Verfallzeiten; was einer subalternen Auffassung so
erscheine, erweise sich einer höheren wissenschaftlichen Betrach-
tung als eine in ununterbrochener Stetigkeit abrollende Entwick-
lung, in der auf jedem Punkte alles gleich notwendig und immer
gleich wertvoll sei. Es dürfte dann natürlich auch von keiner
Krisis gesprochen werden, mein Vortrag wäre von vornherein auf
einen falschen Grund gestellt.


10*
[148]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert

Es ist kaum zu sagen nötig, daß die neue — wenigstens für
die Kunstgeschichte neue — Evolutionstheorie zustande gekom-
men ist unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Analogien. Ich
beabsichtige selbstverständlich an dieser Stelle keine eingehende
Auseinandersetzung. Solange wir daran festhalten, daß der Be-
griff der Gesetzlichkeit in der Geschichte nicht das bedeuten kann
wie in der Natur, so lange muß dasselbe vom Entwicklungsbegriff
gelten. Die geschichtliche Wirklichkeit, so wie wir sie allein kennen,
ist eine unlösliche Ineinanderschiebung von Notwendigkeit und
Freiheit, von Entwicklung und Verwicklung, von Kontinuität und
Diskontinuität. Auf die Kunstgeschichte angewendet heißt das:
alles Geschehen in ihr ist ein Zusammenwirken innerkünstlerischer
und außerkünstlerischer Komponenten. Ihre Stellung zueinander
ist in jedem Augenblick eine neue, geradeso noch nie dagewesene.
Wird die Spannung zwischen beiden so groß, daß die innere, d. i.
die innerkünstlerische Kraftlinie von ihrem logischen Ziel abge-
drängt wird, so entsteht das, was wir eine Krisis nennen.


Unter den vielen, welche die Geschichte der deutschen Kunst
durchzumachen gehabt hat, ist die Krisis des 16. Jahrhunderts
die größte und folgenschwerste; wir dürfen sagen, daß wir noch
heute unter ihrer direkten Wirkung stehen.


An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stand die deutsche
Kunst so voll im Saft wie vorher nur einmal, im 13. Jahrhundert,
und nachher nie wieder. Wie niemals wieder war in dieser Zeit
die deutsche Kunst volkstümlich, insofern alle gesellschaftlichen
Schichten an ihr teilhatten und in einem gleichgestimmten Ge-
fühl sich in ihr begegneten. Niemals hat das Bildungsprivileg für
unsere Kunst so wenig bedeutet und standen sich kirchliche und
profane Kunst in der Ausdrucksweise so nahe. Ganz überraschend
sind die Zahlen der Statistik. Um irgendein Beispiel herauszu-
greifen: die Stadt Erfurt, nach heutigen Begriffen gerade nur
eine Mittelstadt, besaß achtzig Kirchen und Kapellen, und jede
war mit Kunstwerken gefüllt, Kunstwerken, die keineswegs bloß
der Devotion dienten, sondern ebensosehr Denkmäler des Familien-
sinnes und des Korporationsgeistes waren. Aus dem damaligen
Besitz einer größeren städtischen Pfarrkirche würde sich heute
[149]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
ein ganzes Museum zusammenstellen lassen. Und wie sehen die
Landkirchen dieser Zeit aus? Mindestens drei Altäre waren vor-
handen, ein Hauptaltar und zwei Nebenaltäre, ein jeder reich
mit Schnitzbildern und bemalten Flügeln ausgestattet; an der
Decke des Altarhauses Freskogemälde; in der Sakristei ein oft
sehr auserlesenes Gerät und Parament; am Fußboden und an
den Wänden Grabdenkmäler des örtlichen Adels, manchmal in
den besten Werkstätten der benachbarten Städte angefertigt;
draußen vor der Kirche regelmäßig ein Ölberg und eine Kreuzi-
gungsgruppe. Die wenigen heute noch einigermaßen vollständig
erhaltenen Exemplare solcher Dorfkirchenausstattungen, wie etwa
Pipping bei München oder Kronberg bei Frankfurt, erfüllen uns
mit Staunen; damals aber gab es dergleichen Hunderte. Denken
wir dann noch an die elementar vordrängende Bilderlust, die im
15. Jahrhundert zur Ausbildung des Holzschnittes und Kupfer-
stichs führte und in der, wenn auch oft in derber Form, unendlich
viel mehr Geist steckte als in dem mechanischen Illustrationswesen,
durch das heute die rohe stoffliche Neugier befriedigt wird, so
können wir nur sagen: wir sind heute vergleichsweise Bettler und
Barbaren. Wir wollen es nicht verkennen, die künstlerische Mas-
senproduktion jener Zeit hatte auch ihre Gefahren; als Ganzes,
in der Leistung wie in der Wirkung, muß sie uns enorm impo-
nieren.


Auf die volkstümliche Kunst des 15. Jahrhunderts kam in
den drei ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die eigentlich große
Zeit, über die ich weiter nichts zu sagen nötig habe — und auf
diese folgte sofort eine ungeheure Senkung der Kurve. 1528 starb
Dürer, 1529 starben Grünewald und Peter Vischer, 1531 Riemen-
schneider und Burckmair, 1532 verschwand zum zweitenmal und
nun auf Nimmerwiedersehen Holbein aus seinem Vaterlande, er,
der am meisten dazu berufen gewesen wäre, das Problem der
Renaissance im deutschen Sinne zu lösen; Cranach und Baldung
lebten länger, bis gegen Ende der vierziger Jahre, waren aber mit
ihrer Altarskunst schon auf abschüssiger Bahn. Dann die Ange-
hörigen der jüngeren Generation, die Söhne Vischers, die Schüler
Dürers usw., sie haben um 1530, längstens 1535 ihre Erbschaft
[150]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
auch schon verbraucht. Schnell und gründlich vollzieht sich in
der Malerei wie in der Bildhauerkunst der Übergang zu einem
geistesarmen Epigonentum.


Die Architektur hatte sich zum Niedergang schon früher ge-
neigt. Denn Niedergang ist es doch, daß in der Hauptgattung
der monumentalen Baukunst, in der Kirchenbaukunst, ein so gut
wie vollständiger Stillstand eintrat. Es war dies schon am Vor-
abend der Reformation geschehen und dauerte fast bis zum Ende
des Jahrhunderts fort, auf katholischer Seite nicht weniger als
auf protestantischer. Die Profanarchitektur blieb rege; aber sie
war nicht monumental. Das Heidelberger Schloß, das fast die
einzige Ausnahme darstellt, ist kaum das Werk eines Deutschen.
Was wir in der Architektur des 16. Jahrhunderts frühe Renaissance
nennen, ist im Grunde nur ein erweitertes Kunsthandwerk, zwi-
schen den beiden großen Idealismen der mittelalterlichen Gotik
und der italienischen Neoantike eine sicher liebenswürdige, aber
sicher auch recht kleinbürgerliche Figur. Wenn wir sonst als
Kennzeichen der Renaissance eine erhöhte Geltendmachung des
Individuums ansehen, so ist diese deutsche Renaissancearchitektur
mit Fug und Recht anonym, denn sie ist auch in ihrem inneren
Wesen unpersönlich.


Wirkliche Architekten treten erst am Schluß des Jahrhun-
derts wieder auf, und einige von unleugbarer und ernster Be-
deutung, wie Hans Schoch, Jakob Wolff, Paul Franke, Elias Holl.
Die mit ihnen verheißungsvoll aufleuchtenden Anfänge versinken
aber schnell wieder in der Nacht des Dreißigjährigen Krieges.


Die Kunst des Mittelalters, auf die wir einen Augenblick
zurückschauen wollen, war als vorwaltend kirchliche eine vor-
waltend öffentliche gewesen; es hatte, wie die fortschreitende
Demokratisierung ihres Charakters es handgreiflich zeigt, wirklich
das ganze Volk hinter ihr gestanden. Die Kunst des 16. Jahr-
hunderts verlor mit der Kirchlichkeit zugleich die Öffentlichkeit,
ohne daß ihr an anderer Stelle dafür ein Ersatz geboten wäre.
Und nun verkettete sich mit diesem Verlust ganz verhängnisvoll
ein zweiter: der Verlust an Volkstümlichkeit. Von der Nieder-
werfung des Bauernkrieges ab, nicht allein durch ihn veranlaßt,
[151]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
aber sicher sehr beschleunigt, begann die Verschiebung der Ge-
wichte in der sozialen Ordnung, die wir alle kennen. Es ist merk-
würdig, wie prompt die Kunst darauf reagiert. Ich nenne als
leicht zu überschauende Belege die beiden großen populären Gat-
tungen der Holzplastik und des Bilddruckes in Gestalt des Holz-
schnittes. Wie schnell verfallen sie! Man kann sagen, daß in dem
einen Jahrzehnt von 1500 bis 1510 mehr Holzplastik und vor
allem unendlich viel besser produziert worden ist als in dem Halb-
jahrhundert von 1550 bis 1600. Als Kaiser Maximilian I. auf
den Gedanken kam, die Kunst zum Herold seines Ruhmes aufzu-
bieten, da war es ihm das natürlichste und zeitgemäßeste, sich
dem Holzschnitt anzuvertrauen; Karl V. oder Ferdinand hätten
alles eher gewählt als ihn. Im 15. und frühen 16. Jahrhundert
hatte zwischen höfischer und bürgerlicher Kunst ein Unterschied
der Gesinnung noch nicht bestanden; mit der Renaissance drang
von den romanischen Ländern her eine neue Idee von Vornehm-
heit ein, bei deren Assimilierung aber, wie wir gestehen müssen,
die Deutschen über die äußerste Schale nicht vordrangen. Diese
derben Genußmenschen, die an den damaligen Höfen jagten, tur-
nierten und zechten; wie viel oder wenig sie an der höheren Ge-
dankenwelt ihrer Zeit Anteil hatten, ist doch genugsam bekannt
Die Kunst, die in diesen Kreisen begehrt und befördert wurde,
war eine sinnlich kräftige, einigermaßen prahlerische Repräsen-
tationskunst ohne Mitklingen der tieferen Gemütslagen, hierin das
vollendete Gegenteil zu dem, was am Anfang des Jahrhunderts
den Deutschen als Wertvollstes erschienen war. Ihr bestes Teil
bleibt die unverwüstliche Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit der
handwerklichen Faktur. Ich will nur ein einziges Beispiel aus
einer langen Reihe ähnlicher Erscheinungen herausheben: die Wand-
lung im Typus des Grabmals. Schon in den ersten Dezennien
des Jahrhunderts war die Grabkunst stark beschäftigt gewesen,
aber das einzelne Denkmal war in der Regel noch von beschei-
denem Umfang; es herrschte der Typus des Bildnisepitaphs; die
Fähigkeit, kraftvoll und geschmackvoll zu charakterisieren, war
verbreitet, ungezählte namenlose Handwerksmeister hatten teil an
ihr. Im zweiten Drittel des Jahrhunderts, als sich das Renaissance-
[152]
Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
grab durchsetzte, wuchsen Verschwendung wie Prunksucht, aber
in umgekehrtem Verhältnis zur künstlerischen Gestaltungskraft.
Der Schwerpunkt liegt bei diesem Typus im architektonischen
Aufbau und seiner Ornamentierung, das Figürliche aber verfällt
öder Banalität, die Porträtgestalten sind selten mehr als fleißige
Kostümbilder, die überreichen Reliefs biblischen und allegorischen
Inhalts Virtuosenstücke ohne Leben, ohne Liebe.


An den wenigen Höfen, an denen die nordische Renaissance-
bildung je tiefer und feiner aufgefaßt wurde, entstand alsbald das
Verlangen nach Berufung künstlerischer Kräfte aus dem Heimat-
lande der neuen Kunst. Das ist ein Neues in der deutschen Kunst-
geschichte. Zwar schon früher einmal, im 12. Jahrhundert, waren
Italiener in ziemlicher Menge in Deutschland beschäftigt worden,
aber ohne den Gang der deutschen Kunst tiefer zu beeinflussen.
Im 13. Jahrhundert, als es darauf ankam, das in Frankreich ent-
standene gotische Bausystem kennen zu lernen, wanderten deutsche
Bauleute in Scharen dorthin; nach Hause zurückgekehrt, opferten
sie in der Reproduktion der fremden Formen doch nicht den eigenen
Willen. Jetzt aber galt zum erstenmal der fremde Künstler als
solcher und grundsätzlich für den besseren. Dies Vorurteil behielt
von nun ab an den deutschen Höfen, wie man weiß, mehrere Jahr-
hunderte hindurch Bestand. Dagegen war die Zahl der Deut-
schen, die im 16. Jahrhundert die Renaissancekunst an der Quelle
studierten, verhältnismäßig klein, man begnügte sich mit abge-
leiteten Erkenntnissen zweiter Hand. Jener bairische Herzog, der
im Jahre 1537 einen großen Trupp von Bauhandwerkern aus
Mantua nach Landshut berief, tat nur, was die meisten seiner
Standesgenossen gern getan hätten, aber nicht oft erreichen konn-
ten. Die meisten dieser als Ratgeber und Entwerfer berufenen
italienischen Künstler waren mediokre Leute. Aber sie besaßen
die geistige Geschmeidigkeit, mit der deutschen Tradition Kom-
promisse einzugehen, gerade wie ihre nach Frankreich berufenen
— übrigens im künstlerischen Range durchgehend höher stehen-
den — Landsleute es für das beste hielten. Seitdem wir wissen,
daß das Schloß von Chambord, das wir immer als ein besonders
bezeichnendes Abbild französischen Wesens angesehen hatten, von
[153]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
einem Italiener herrührt, werden wir uns leichter in den schein-
baren Widersinn finden, daß unser Heidelberger Schloß höchst-
wahrscheinlich von keinem Deutschen entworfen ist; und falls
etwa doch von einem Deutschen, so von einem ganz kosmopolitisch
durchtränkten. Und noch wichtiger als die unmittelbar italienischen
waren die italistisch-niederländischen Künstlerkolonien und Im-
porte; in München und Augsburg, in Westfalen und Schlesien,
an der ganzen Seeküste von Emden bis Königsberg rührt vieles,
was wir zum Besten in unserer späteren Renaissance rechnen,
von ihnen her.


Unleugbar ist die Kunst in Deutschland am Ende des Jahr-
derts eine andere geworden, als sie im Anfang zu werden ver-
sprach. Ihre Wurzeln reichen nicht mehr in das Grundwasser
des nationalen Lebens herab, und es ist nur folgerichtig, daß sie
in so umfassender Weise Fremden zur Ausübung überlassen wird.
So wird sie ganz profan, eine Kunst neutraler Augenlust, in einer
Zeit, die sonst alles und jedes auf die Religion bezieht, die leiden-
schaftlich und rettungslos dem langen Glaubenskrieg entgegen-
treibt. Wie stattlich, selbst glänzend sie noch aufzutreten vermag,
sie sagt nur sehr unvollständig die Wahrheit über den inneren
Zustand unseres Volkes in jener Zeit.


Daß die Kunst der nachdürerischen Epoche in der Summe
Verfall bedeutet, ist heute allgemeines Urteil. Aber es pflegt
immer nur ästhetisch, also mit einem schwankenden Maßstab,
begründet zu werden. Ich glaube, mit meinen Ausführungen auch
objektiv-historisch nachgewiesen zu haben, daß es so ist, daß
Verfall vorliegt.


Nun aber erhebt sich die Frage nach dem Warum.


Mit dieser Fragestellung komme ich zum zweiten Teil meiner
Erörterungen, mit dem erst sie problematisch werden. Für mich
besteht kein Zweifel, daß es nicht im eigenen Kern und Wesen
der Kunst gelegene Ursachen waren, keine inneren Entwick-
lungsnotwendigkeiten, die die Krisis herbeiführten und sie so
unglücklich ablaufen ließen. Wenn die Kunst eines Dürer und
Grünewald und ihrer Zeitgenossen, wie wir überzeugt sind, im
Gesamtleben der Nation begründet und das organische Produkt
[154]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
der vorangehenden Entwicklung war, so ist nicht einzusehen,
warum sie auf erreichtem Höhepunkte plötzlich abbrechen mußte.
Wollte man sagen, es kam daher, daß auf einmal die Talente fehlten,
so wäre das keine Erklärung, nur eine Tautologie. Nein, die Er-
klärung kann nur in der Richtung gesucht werden, daß nicht
sowohl in der Kunst selbst als in ihrer geistigen Umwelt Ver-
änderungen vor sich gegangen sein müssen, die unheilbringend in
die Welt der Kunst eindrangen, ihren Zusammenhang mit dem
allgemeinen Bewußtsein lockerten; und zwar so tief lockerten,
daß die bildende Kunst im Gesamtleben unseres Volkes niemals
— ja, so ist es leider, niemals — die Bedeutung wiedererlangt hat,
die sie im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, bis zu der Krisis,
von der wir sprachen, besessen hatte. Die geistige Struktur des
deutschen Volkes konnte sich nach und nach so einseitig umlagern,
daß selbst ein so durch und durch ästhetisch angelegtes Zeitalter
wie das Goethes und Schillers, Mozarts und Beethovens für die
bildende Kunst vergleichsweise so gut wie unfruchtbar blieb.


Also was waren die Ursachen? Die am öftesten gehörte Ant-
wort lautet: es war die Reformation. Die einen sprechen
sie im Tone bitterer Anklage aus, die anderen als ein verschämtes
Zugeständnis. Ich sehe nicht ein, warum hier nicht ein von Be-
schuldigung oder Rettung absehendes, rein historisches Urteil mög-
lich sein sollte, und will gleich zu Anfang meine Meinung dahin
abgeben, daß zwar zweifellos die Reformation mit eine Ursache
war, aber daß sie doch als einzige Erklärung nicht genügt. Daß
ein in das deutsche Leben so tief und dauernd eingreifendes Er-
eignis die Kunst hätte unberührt lassen können, ist von vornherein
undenkbar. Und nun gar diese deutsche Kunst, sie, die in ihrer
ganzen bisherigen Geschichte aufs engste an das Institut der
Kirche gebunden gewesen war. Wenn die alte Kirche stürzte,
so war es notwendig auch mit der alten Kunst vorbei. Das fühlte
auch das katholische Deutschland. Auch hier war die kirchliche
Kunst wenn nicht vernichtet, so doch auf den toten Punkt ge-
bracht, über den sie erst hinwegkam, als sie sich ins Schlepptau
der romanischen Gegenreformationskunst begab. Die deutsche
Reformation war an sich nicht kunstfeindlich — die gelegentlichen
[155]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
Aufwallungen der Bilderstürmer sind unter anderem Gesichts-
punkte zu beurteilen —, sie hat die Hinterlassenschaft des Mittel-
alters sogar schonender behandelt als der Neukatholizismus, woher
es z. B. kommt, daß wir heute intakte mittelalterliche Altäre
weitaus am häufigsten in protestantischen, genauer lutherischen,
Landschaften finden, in Altwürttemberg, Sachsen, Mecklenburg
und Holstein. Aber — dies waren für den Protestantismus doch
nur Antiquitäten. In seinem eigenen Ideenkreise war nichts, das
nach bildkünstlerischem Ausdruck verlangt hätte. Wenn er nach
Abbruch der alten Traditionen eine neue kirchliche Kunst sich
hätte aufbauen sollen, auf welchem Boden und aus welchen Stoffen
hätte das geschehen können? Daß eine Kirche, welche Mythologie
und Symbolik, also die beiden Hauptquellen der mittelalterlichen
Kunst, für heidnische Greuel erklärt, welche in ihrem Gottesdienst
auf die Mitwirkung der Sinne und der Phantasie verzichtet, welche
das gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt, welche die guten
Werke verdammt und folglich auch für fromme Stiftungen keinen
Anreiz mehr bietet — daß eine so gewandelte Kirche die bildende
Kunst nicht nötig hatte, höchstens nebenher einen schmalen Raum
ihr übriglassen konnte, ist so selbstverständlich, daß darüber
kein Wort zu verlieren ist. Die Reformation, ich wiederhole es,
war nicht der bildenden Kunst feindlich, aber sie war der Kunst
unbedürftig; sie glich darin, bewußt oder unbewußt, dem Ur-
christentum. Überhaupt war ja die große Stellung der Kunst
im mittelalterlichen Kirchenwesen gar keine Forderung des christ-
lichen Geistes, sondern eine Forderung der in das Christentum
aufgenommenen griechischen Bildung gewesen, wodurch die merk-
würdige Antinomie entsteht, daß der letzte noch in unmittelbarer
Kontinuität aus der Antike herstammende Kulturbesitz unserer
Nation aufgegeben wurde in demselben Augenblick, in dem sie
sich unter der Form des Humanismus wieder vertrauensvoll der
antiken Bildungsquelle zuwendete. Und noch eine zweite Anti-
nomie, die uns an einer früheren Stelle unserer Betrachtung rätsel-
haft erschien, erklärt sich auf diese Weise: jene, daß die Reforma-
tion, die doch zweifellos den religiösen Idealismus in unserem
Volksleben gestärkt hat, durch die Kunst ihrer Zeit einseitig
[156]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
auf die profane und realistische Seite hindrängte. Die Kunst des
nachreformatorischen 16. Jahrhunderts ist zweifellos am besten
dort, wo sie in rein ornamentaler Phantasie sich ergeht — und
so könnte man sagen, sie sei wieder auf dem Standpunkte des
deutschen Altertums angelangt.


Nun aber sind Kirche und Religion nicht dasselbe. Hatte
die Reformation das Band zwischen der Kunst und der Kirche
gelöst — eine religiöse Kunst, die freilich nur noch eine freie,
subjektivistische Kunst der einzelnen sein konnte, war auch im
Protestantismus noch möglich. Das hat schon Dürer mit seinen
ganz aus persönlichen Erlebnissen heraus zu begreifenden Apostel-
bildern für sich in Anspruch genommen. Das hat gewaltig ergrei-
fend Rembrandt dargetan. Aber Rembrandt steht fast allein.


Wenn wir nun doch wissen, daß von den zwei evangelischen
Bekenntnissen der Kalvinismus dogmatisch, ethisch und liturgisch
weit schroffer als das Luthertum die Kunst ablehnte, und wenn
trotzdem im kalvinistischen Holland die große Kunstblüte ein-
trat, während das lutherische Deutschland der Kunst abstarb,
so ist dieser Gegensatz eine Mahnung, nicht alle negativen Posten
der Rechnung dem Protestantismus als solchem aufzubürden. Es
sind auch noch andere Ursachen dagewesen, einige sehr hand-
greifliche, wie die wirtschaftliche Verarmung im Dreißigjährigen
Krieg, andere im Psychischen zu suchen, aber so kompliziert,
daß wir ihnen hier nicht mehr nachgehen können. Es genüge,
das deutliche Ergebnis hinzustellen: die norddeutschen Protestanten
waren keineswegs Menschen ohne künstlerisches Bedürfen und Ver-
langen, aber dasselbe wandte sich bei ihnen mit einseitiger Ent-
schiedenheit vom sinnlichen Bilde weg einer anderen Kunst zu:
die protestantische Kunst wurde die Musik. Die Namen Schütz,
Bach und Händel geben die Antwort auf die Frage, warum der
deutsche Protestantismus keinen Rembrandt hervorgebracht hat.


Allein noch die Baukunst, diese »gefrorene Musik«, hätte die
gleiche Bedeutung erlangen können. Und eine Zeitlang schien es
auch so werden zu wollen. Um dieselbe Zeit, als der katholische
Kirchenbau sich aus seiner Lähmung erhob, und als sein erstes
bedeutendes Werk, die Jesuitenkirche St. Michael in München,
[157]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
errichtet wurde — allerdings nicht von einem Deutschen, sondern
von einem verwelschten Niederländer —, entstand in Norddeutsch-
land die nach ihrem wahren und hohen Wert zu wenig erst bei
uns bekannte Wolfenbütteler Marienkirche Paul Frankes, der
Münchener Jesuitenkirche künstlerisch ebenbürtig und viel ori-
gineller, besonders genetisch viel deutscher. Daß sie keinen Nach-
wuchs fand, dafür liegen die Gründe wieder nicht in der Kunst-
entwicklung an sich, noch auch in der Religion, sondern in den
allgemeinen Verhältnissen.


Alles in allem: es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Refor-
mation und ihre Folgeerscheinungen haben der bildenden Kunst
sehr wenig neue Lebenssäfte zugeführt und sehr viel alte ein-
trocknen lassen. Mag ein jeder von uns, aus seiner Grundgesin-
nung heraus, sich entscheiden, worin er den durch die Reformation
unserem Volke gebrachten Gewinn erkennt: zu den Opfern, mit
denen er erkauft wurde, hat jedenfalls die Kunst eine starke Bei-
steuer geliefert.


Hiermit ist aber über das Thema »Reformation und bildende
Kunst« noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt auf
den Begriff der Reformation an. Läßt man sie erst mit dem
Jahre 1517 beginnen, dann allerdings wäre viel mehr nicht zu
sagen. Ist man aber davon überzeugt, daß es lange vor dem Auf-
treten Luthers schon eine latente Vorreformation gegeben hat,
dann wird man bei einem anderen Urteil angelangen. Ich halte
die bildende Kunst im letzten Menschenalter des 15. und im ersten
des 16. Jahrhunderts für eine Hauptquelle zur Erkenntnis dieser
latenten Vorreformation. Es sind noch die alten Schläuche, aber
in ihnen ist ein neuer Wein. Aus dieser Vorabendkunst spricht
ein Gemütszustand, der durchaus ein anderer ist als der des klas-
sischen Katholizismus im hohen Mittelalter, der in gerader Linie
auf den religiösen Kern der Reformationsbewegung hinführt. Es
wurden hier in aller Stille Blütenträume geträumt, von denen
freilich in den rauhen Frühlingstagen der Reformation nur ein
kleiner Teil zur Reife kam. Ich kann dies hier nicht weiter aus-
führen. Wie ich es meine, wird schon ein einziges Beispiel erläu-
[158]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
tern. So sage ich: Albrecht Dürer steht im Grunde seines Emp-
findens Sebastian Bach sehr viel näher als nach der anderen Rich-
tung dem Mittelalter, Dürer ist mehr als bloß ein Vorbote, schon
ein Vollbürger der Reformation. Wäre der reformatorischen Be-
wegung, wie es in einem kurzen Augenblick wohl scheinen konnte,
im ganzen ungeteilten Deutschland der Sieg zugefallen, so wären
die Folgen für die bildende Kunst wahrscheinlich sehr andere
und glücklichere geworden. Die Spaltung brachte aber den Kampf,
und der Kampf trieb einseitig eben in die Richtungen, die von
der bildenden Kunst wegführten.



Würde ich meine Betrachtung schon hier schließen, so würde
ein schiefes Bild zurückbleiben. Die Krisis der deutschen Kunst
im 16. Jahrhundert war eine Doppelkrisis. Um dieselbe
Zeit, als die Kunst durch die Kirchenreform einer der wichtigsten
ihrer alten Grundlagen verlustig ging, drang von Italien und bald
auch von den Niederlanden die große Welle der Renaissance vor,
von einem anderen Angriffspunkte aus, dem künstlerisch-formalen,
das historisch entwickelte Kunstwollen an sich selbst irre machend
und erschütternd. Die begeisterte Parteinahme für die Renaissance
in unseren Tagen ließ diese Dazwischenkunft fast nur als eine
glückbringende ansehen. Man vergaß dabei dasselbe, was schon
das 16. Jahrhundert selbst nicht richtig erfaßt hatte, nämlich
daß die Renaissance nicht gleich Antike, sondern eine spezifisch
italienische, also national gebundene Kunst ist. So kam zu dem
einen Zwiespalt jetzt noch ein zweiter hinzu. Die Renaissance
trat in Gegensatz zu der deutschen Kunstüberlieferung und die
Reformation in Gegensatz zu beiden. Denn es ist ein Irrtum,
daß Renaissance und Reformation gleichsam Geschwister gewesen
seien. Praktisch waren sie in manchen Momenten Bundesgenossen,
aber innerlich einander fremd, aus gänzlich verschiedenen Ent-
wicklungsreihen hervorgegangen. So entstand eine höchst ver-
worrene und gefährliche Komplikation. Die herkömmliche Auf-
fassung der Kunstgeschichte hat ihre Bedeutung bei weitem noch
nicht richtig eingeschätzt.


[159]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert

War etwa in dem Augenblick, wo sie von diesen zwei Gegnern
in die Mitte genommen wurde, die deutsche Kunst gealtert, de-
generiert, innerlich unsicher und hilfebedürftig? Sie war es nicht.
Und so war es auch die Sendung und Leistung der Renaissance
nicht, die nordische Welt etwa von abgelebten Resten mittel-
alterlicher Kunst zu befreien, wie man es lange sich vorgestellt
hat. Diese Auffassung wäre nur im Recht, wenn die Renaissance
die einzige und allein gültige künstlerische Ausdrucksform für den
Menschen der Neuzeit wäre. So ist es aber nicht. Allzulange
hat die bequeme Schematisierung der Kunstgeschichte nach kon-
ventionellen Stilnamen den Weg zur Einsicht in die Sache ver-
sperrt. Die Wahrheit ist: so wenig die italienische Kunst am Be-
ginn der Neuzeit bloß Wiedergeburt der Antike ist, so wenig ist
die nordische derselben Zeit bloßes Fortdauern einer gealterten
Gotik. Heute, nachdem wir gelernt haben, Namen und Sache,
Formalismus und Form, besser zu scheiden, sehen wir in der spät-
gotischen — wir müssen nun schon sagen: sog. spätgotischen —
Baukunst eine tiefgreifende Umwertung des Überlieferten. Man
denke dann in der Bildhauerkunst an Erscheinungen wie Veit
Stoß oder Hans Backofen oder den Meister des Isenheimer Altars;
in der Malerei und Graphik an Grünewald und den jungen Dürer
— hier ist in Klarheit und Kraft ein neues Wollen auf dem Plan,
das mit der klassischen Gotik nichts mehr zu tun hat, ebensowenig
aber auch der Renaissance geistesverwandt ist. Daß dieser aus
der sich auflösenden Gotik selbstbewußt und lebenskräftig empor-
steigende neue Stil ohne Namen geblieben ist, darf uns nicht irre-
machen. Suchen wir nach inneren Analogien, so finden wir sie
am meisten in dem, was wir im 17. Jahrhundert Barockstil nennen1).
Ob nun der Name Frühbarock sich einbürgern wird oder nicht,
die Tatsache wird immer deutlicher, daß nach dem Schluß des
Mittelalters die Verjüngung der Kunst kein Privilegium Italiens
war, vielmehr einen doppelten Ursprung hatte. Das Leben der
europäischen Völker war zu reich geworden, zu komplex in der
Verschlingung alter Traditionen mit neuem Ausdrucksverlangen,
[160]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
als daß es noch einen Einheitsstil, wie im Mittelalter die Gotik
es gewesen war, hätte hervorbringen können. Die Größe und
Fülle der neuzeitlichen Kunst Europas beruht auf der Spannung
zweier verschieden gestimmter Grundkräfte, deren Entwicklungs-
linien zuweilen getrennt verlaufen, öfter sich überschneiden und
mischen, niemals ihren Sonderwert ganz aufgeben. Es ist ein
Spiel und Gegenspiel des Klassischen und Barocken, des Klas-
sischen und Romantischen, wenn man diesen Namen vorziehen
will; noch unsere letzte Vergangenheit im 19. Jahrhundert steht
deutlich unter diesem Zeichen. Im 16. Jahrhundert hat es in Deutsch-
land wohl nur einen einzigen Künstler gegeben, der den Konflikt
in seiner ganzen Tiefe empfand und mit höchster seelischer An-
strengung für seine Person zu harmonischem Austrag zu bringen
trachtete: Albrecht Dürer. Nichts Ergreifenderes als sein Ringen
nach der Wahrheit. Zugleich aber werden wir uns gestehen müssen,
daß diesem Mann, der zugleich ein Künstler und ein Denker
sein wollte, darüber ein gut Teil von Unmittelbarkeit des Emp-
findens verloren ging. Wir Deutschen haben eine Erbeigenschaft,
die sich nur mit negativem Ausdruck bezeichnen läßt: die Form-
losigkeit. Von Zeit zu Zeit ergreift uns die Sehnsucht, aus dem
Dämmernden, Verworrenen, Unnennbaren, Überschwenglichen uns
zu retten ins Helle und fest Begrenzte, in die Form. Dann wen-
den wir uns zum ewigen Schatzbehalter reiner Form, zur Antike.
Sehr oft aber verwirrt uns ihr Anblick aufs neue, und wir ver-
wechseln Form und Formalismus. So ist es der Generation
nach Dürer geschehen. Auf Grund dessen, was Dürer am Ende
seines Lebens erreicht hatte, hätte eine neue Kunst entstehen
können, die zugleich Renaissance und deutsch gewesen wäre. Was
wirklich kam, war nur halb Renaissance und zugleich nur halb
deutsch. Die Epigonen Dürers begriffen nur unvollkommen, was
die Renaissance eigentlich von ihnen verlangte: daß sie einen
ganz neuen Menschen anzögen. Sie begnügten sich mit einem
oberflächlichen Kompromiß, sie verstanden an der Renaissance
nicht die Form, nur den Formalismus. Es ist überhaupt fraglich,
ob die Renaissance, wäre sie auf das Gebiet der Kunst beschränkt
geblieben, es im damaligen Deutschland, wo sie auf so starke
[161]Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
innere Widerstände stieß, je zu einem großen Erfolg gebracht
hätte. Notwendig gemacht wurde sie erst, insofern sie eine Forde-
rung der allgemeinen Kultur war. Der deutsche Humanismus war
von der künstlerischen Seite der neuen Bildung kaum berührt;
wenn er dennoch starke Propaganda auch für die Formen der Re-
naissance machte, so galt das wesentlich den von ihnen umschlos-
senen antikischen Stoffen. Man hat sehr richtig gesagt, daß das
Größte und Beste in der italienischen Renaissancekunst allenfalls
auch ohne die Antike denkbar sei, die deutsche Kunst aber wandte
sich zur Renaissance, weil ihr Publikum aus ganz anderen als
künstlerischen Überzeugungen in ihr das Bessere vermutete. Von
dem Irrtum der Gleichsetzung von Italienisch und Antik habe
ich schon gesprochen. Niemand kann sagen, was entstanden wäre,
wenn die deutschen Künstler die Antike selbst kennen gelernt
hätten. Tatsächlich machten sie ihre Studien nur an der ober-
italienischen Kunst, die schon etwas eine Mischkunst mit barockem
Anflug war; Florenz und Rom haben sie so gut wie nicht gekannt,
es ist, als ob sie sich davor heimlich gefürchtet hätten.


Ich möchte mit meiner Kritik nicht mißverstanden werden.
Sie gilt nicht der Rezeption als solcher. Es ist durchaus eine
Stärke des deutschen Geistes, daß er das Wertvolle fremder Kul-
turen in sich aufzunehmen fähig ist. Die früheren Rezeptionen,
die antike im 9., die gotische im 13., die niederländische im 15. Jahr-
hundert, wenn es ganz ohne Opfer auch bei ihnen nicht abging,
waren im wesentlichen Bereicherungen gewesen. Die des sech-
zehnten traf uns in einem Augenblick, in dem wir auf sie nicht
vorbereitet waren.


Die Deutschen der damaligen Zeit, als von Natur ganz un-
klassische Menschen, haben von der Renaissance nur die Schale,
nicht den Kern ergriffen. Erst dann, als auch die italienische
Kunst aufhörte, klassisch zu sein, erst im Barock, verstanden die
Deutschen die Italiener und konnten sie die fremde Gabe für sich
fruchtbar machen. Im Friedrichsbau von Heidelberg, in den
Bauten Paul Frankes und Elias Holls sehen wir Ansätze zu einem
deutschen Barock, der in seiner weiteren Entwicklung doch noch
etwas anderes bedeutet hätte, als was nach der Unterbrechung
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 11
[162]
Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
durch den großen Krieg die Kunst des 18. Jahrhunderts tatsäch-
lich gebracht hat. Wie vieles wir an dieser Kunst des 18. Jahr-
hunderts bewundern und wie falsch es ist, sie einfach als Ver-
welschung zu charakterisieren — eine Erfüllung der in dem Namen
Dürer enthaltenen Verheißungen war sie in keinem Sinn.


Unser Schlußurteil über das Eindringen der Renaissance und
seine Folgen wird also ganz ähnlich zu lauten haben wie unter
anderen Gesichtspunkten das über die Reformation: beide waren
historische Notwendigkeiten, aber beide haben dem künstlerischen
Teil des deutschen Lebens schwere Verluste gebracht; wohl dazu
auch einiges Wertvolle, aber nichts, was den Verlusten das Gleich-
gewicht gehalten hätte. Mit der Reformation allein oder mit der
Renaissance allein hätte die deutsche Kunst vielleicht noch sich
auseinandersetzen können; beides gleichzeitig war zu viel. Ich
spreche dies offen aus, meine aber damit keine Anklage weder
gegen die Reformation noch gegen die Renaissance zu erheben.
Beide hatten ihre besonderen Aufgaben zu erfüllen; der deutschen
Kunst zu helfen waren sie nicht verpflichtet. Von dem Worte
tragisch wird zu oft und leichthin Gebrauch gemacht: hierin aber
liegt wirkliche historische Tragik, daß im 16. Jahrhundert die
höchsten Angelegenheiten im Geistes- und Gemütsleben unserer
Nation miteinander in einen Konflikt gerieten, für den die Lösung
nicht gefunden wurde. Wohl auch nicht gefunden werden konnte.


[[163]]

DIE BAUPROJEKTE
NIKOLAUS V. UND
L. B. ALBERTI


1880


11*
[[164]][[165]]

Wer jemals Rom in Rom ganz empfunden hat, wird
die berühmte Schilderung Gianozzo Manettis von
den Bauabsichten Nikolaus V., des ersten der
Renaissancepäpste, nicht lesen können, ohne seine
Einbildungskraft lebhaft aufgeregt zu fühlen.
Nicht lange aber, so zeigen sich Zweifel, Bedenken, offene Fragen
schwierigster Art, welche die fröhlich ausgreifende Phantasie in
ihrer Arbeit stocken machen.


Die Frage, die mich insbesondere anzog, war: wem wohl das
geistige Eigentumsrecht zukomme an der architektonischen Aus-
bildung dieser Entwürfe eines neuen St. Peter, eines neuen Va-
tikanpalastes, schließlich einer ganzen neuen Papststadt? Mehr
als einmal ist es versucht worden, auf diese Frage eine Antwort
zu geben; dennoch schien mir eine nochmalige methodische Prü-
fung des bekannt gewordenen Materiales eine nicht überflüssige
Arbeit zu sein.


Die Mehrzahl der neueren Schriftsteller nennt als den Schöpfer
jener Projekte unbedenklich den großen Florentiner Leon Bat-
tista Alberti. Der Gewährsmann, auf welchen sie sich berufen,
ist Vasari. An zwei Stellen spricht dieser von Nikolaus V.
Bautätigkeit. Das eine Mal bezeichnet er als den planentwerfenden
Architekten Leon Battista, als den ausführenden Bernardo Ros-
sellino; das andere Mal schreibt er beide Tätigkeiten allein dem
letzteren zu. Man braucht zwar auf diesen Widerspruch nicht viel
Gewicht zu lagen, da Vasari ähnliche Nachlässigkeiten sich oft
zu schulden kommen läßt. Höchst bedenklich aber ist, daß die
Alberti betreffende Angabe in keiner Übereinstimmung steht mit
den Aussagen Manettis, der unbedingt den Rang des Haupt-
zeugen einnimmt. Manetti nämlich nennt als den Urheber des
Planes — »Architekten« nennt er ihn geradezu — den Papst
selber,
als jenen aber, welcher bestimmt war, als Werkmeister
die Baupläne auszuführen, den Bernardo von Florenz; Albertis
erwähnt er mit keiner Silbe. Die Unzuverlässigkeit Vasaris hat
sich schon oft genug erwiesen. Im vorliegenden Falle scheint
man ihm um so weniger trauen zu dürfen, da er an der Hauptstelle,
d. i. im Leben Rossellinos, durchweg Manetti ausschreibt; hin-
[166]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
gegen ist seine Biographie Albertis aus so kärglichen und fragmen-
tarischen Nachrichten zusammengeschweißt, daß der Verdacht
kaum zu unterdrücken ist, der Autor habe die hier gegebene ab-
weichende Nachricht als seine eigene, willkürliche Kombination
zu verantworten. Die Hoffnung endlich, archivalische Funde
möchten neue Aufschlüsse, vielleicht die glückliche Bestätigung
Vasaris, bringen, ist nun auch auf ein geringes reduziert. Eugen
Müntz, der durch seine Publikation »Les arts à la cour des Papes«
der Künstlergeschichte Roms so unschätzbare Bereicherung zu-
führte, hat die Tätigkeit Rossellinos im Dienste Nikolaus' V. end-
gültig festgestellt; in betreff Albertis aber gesteht er, nicht eine
einzige Notiz in den Archiven gefunden zu haben.1) Und die
Nachforschungen Janitscheks schlossen mit demselben negativen
Resultat.


Soll mit diesem »non liquet« die Forschung an ihrer Weis-
heit Ende angelangt sein?


Vielleicht doch noch nicht. Eine Instanz ist noch unbefragt:
Alberti selbst in seinen »De re aedificatoria libri decem«. Die
vergleichende Nebeneinanderstellung der hier niedergelegten Lehren
und der aus Manettis Beschreibung entgegentretenden Bau-
gedanken: das ist der Weg, auf dem die letzte Entscheidung zu
suchen ist.



Ich stelle der Untersuchung ein paar Erwägungen allgemeiner
Natur voraus. Fünf große Unternehmungen, sagt Manetti, lagen
dem Papst im Sinn: die Herstellung der Stadtmauern, Wasser-
leitungen, Brücken; die Restauration und Ausschmückung der
40 sog. Stationskirchen; der Neubau des vatikanischen Borgo,
des päpstlichen Palastes, der Peterskathedrale. Ersichtlich treten,
sobald wir die Schilderung uns näher vergegenwärtigen, die drei
letztgenannten Projekte, als eine Einheit für sich, aus der Reihe
[167]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
der übrigen heraus, als etwas Besonderes, aus einem anderen Geist
und einer neuen Zeit Geborenes, als echte Renaissancegedanken,
während jene auf der hergebrachten Linie mittelaltrig-päpst-
licher Bautätigkeit beharren. Mit Nikolaus V. beginnt über-
haupt eine neue Ära in der Geschichte des Papsttums. Es ist
überaus merkwürdig, zu sehen, mit welcher Unbefangenheit —
man weiß nicht, geschieht es mehr aus Blindheit oder aus wahrer
furchtloser Erkenntnisgröße? — das Papsttum seit dieser Zeit
den Geist der Renaissance in Gestalt des Humanismus zu seinem
vertrauten Hausgenossen macht, da doch dieser gegen alle mora-
lischen Wurzeln der Papstmacht die Axt erhebt. Nichts bezeichnet
den vollzogenen Bruch schärfer, als eben Nikolaus' Beschluß der
Niederreißung des alten, der Errichtung eines neuen Petersdomes.
Dieses glorreiche Symbol der völkerbeherrschenden Macht des
Apostelfürsten, dieser durch seinen Stifter, seine Bestimmung,
seine tausendjährigen Erinnerungen ehrwürdigste Tempel der
abendländischen Christenheit sollte fallen vor moderner Schön-
heitsbegeisterung und moderner Ruhmessehnsucht! Nikolaus, der
als ein bescheidener Mann gerühmt wird, war in diesem Punkte
ganz ein Kind seiner Zeit. »Er wollte die Ehre des apostolischen
Stuhles und die Devotion der Völker befördern, drittens aber
auch, wonach er sehr begierig war, seinen eigenen Ruhm,
indem er erkannte, daß nichts so sehr imstande wäre, dem Ge-
dächtnis eines Menschen ewige Dauer zu schaffen, wie Denkmale
der Baukunst und der Literatur« — so schreibt Manetti, der eine
so ehrliche Kirchengläubigkeit hegte als der Papst selbst. Bei-
läufig sei es bemerkt: ein ähnlicher innerer Widerspruch ist auch
bei Alberti wahrzunehmen. In seinem Werke »Della famiglia«
hält er die christliche Glaubens- und Lebenstradition mit einer
Entschiedenheit aufrecht, wie kaum ein anderer seiner humani-
stischen Genossen; und doch äußert er sich, wo er als Architekt
auf den Kirchenbau zu sprechen kommt, mit einer rein ästhetischen,
man muß sagen: heidnischen Begeisterung. Anderthalb Jahr-
hunderte später freilich, als die Konsequenzen der Renaissance-
bildung zutage getreten sind, hat ihr die Kirche und das Papsttum
den unversöhnlichen Krieg erklärt: und wieder wird der Bau
[168]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
der Peterskirche zum Spiegel der Wandlung, welche sich in der
Weltanschauung vollzogen hatte. Das Werk Bramantes und
Michelangelos muß mißhandelt, die Zentralanlage, das höchste
Bauideal der Renaissance, muß verfälscht werden durch die Vor-
schiebung eines Langhauses, das den ganzen von der alten
Basilika eingenommenen Flächenraum umschließen soll, »damit
der heilige Ort nicht durch einen profanen Zweck entweiht werde
und um die Spuren der heiligen Reliquien, das Andenken S. Syl-
vesters und die Ehrfurcht für Konstantin den Großen zu be-
wahren«. So strafte das zum rechten Kirchensinn zurückgekehrte
Papsttum des restaurierten Katholizismus die heidnische Schön-
heitsfreudigkeit der Renaissancepäpste Nikolaus und Julius.


Doch will ich nicht länger bei der kulturgeschichtlichen Seite
unseres Themas verweilen; denn nicht nur hier sondern eben-
sosehr im speziellen baukünstlerischen Gedankengehalt liegt das
Neue im Projekte des Papstes. Im Vergleich zum Mittelalter ist
es einer der erheblichsten Schritte nach vorwärts, der von der
Renaissance getan wird, daß sie das Bauwerk nicht mehr, wie jenes
Zeitalter es tat, als ein allein und bloß für sich bestehendes nimmt,
sondern daß sie es mit ausgesprochener Beziehung auf seine Um-
gebung konzipiert. Die nicht ohne gewaltsame Anstrengung von
der diesseitigen Welt sich abkehrende Sinnesart des Mittelalters
hatte es sozusagen verachtet, ihre hoch über den irdischen Dunst
hinausstrebenden Kathedralen mit den kleinen Menschenbehau-
sungen zu deren Füßen in ein künstlerisches Wechselverhältnis
zu setzen; sie hatte kein Bedürfnis verspürt, die Anlage der Straßen
und Plätze einer höheren Ordnung und Symmetrie zu unter-
werfen. In Italien, wo an manchen Orten Spuren antiker Grund-
risse zu Hilfe kamen, stand es damit allerdings etwas besser; man
denke an den (nach Burckhardt übrigens schon den Stempel der
Protorenaissance tragenden) Domplatz zu Pisa oder die Piazza
del Campo zu Siena. Von solchen hier und da auftretenden Vor-
boten indes abgesehen, war es doch erst die Renaissance, welche,
wo immer es gestattet war, ins Ganze komponierte, welche in
dieselben Harmoniegesetze, die für das einzelne Bauwerk maß-
gebend waren, die ganze natürliche und bauliche Umgebung ein-
[169]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
bezog, die ganze Stadt als eine monumentale Einheit behandelt
wissen wollte.


Fragen wir nun: wo ist diese Denkweise zum erstenmal klar
und folgerichtig entwickelt und als die höchste Forderung bau-
licher Schönheitsvollendung verkündet worden? In den Theorien
L. B. Albertis. Und wo ist ihr zum erstenmal praktisch
entsprochen worden? In den Bauplänen Nikolaus' V.


Hierbei muß der geschichtliche Zeitpunkt noch in besondere
Erwägung gezogen werden. Ein Menschenalter später war die in
Rede stehende Anschauung Gemeingut des gebildeten Italiens
geworden, und ein uns etwa begegnender Parallelismus ähnlich
dem oben bezeichneten würde nicht mehr auf direkte Abhängig-
keit zu schließen nötigen. Wohl aber in unserem Fall. Damals,
um die Mitte des Jahrhunderts, ist es noch ein leicht zu über-
sehender Kreis von Architekten, in dem der neue Stil gepflegt
wurde; sie hatten die ihnen gestellten Aufgaben als echte Künstler
ganz konkret erfaßt, und keine derselben war danach beschaffen
gewesen, das genannte große Prinzip zum Ausdruck zu bringen.
L. B. Alberti ist der erste der Renaissancearchitekten, welcher,
der praktischen Entwicklung vorausgreifend, die in der Künstler-
welt halb unbewußt keimenden Anschauungen in energischem
Gedankenprozeß durchgearbeitet, als Begriffe und Gesetze for-
muliert, sie systematisch geordnet, und dann mit seiner auf die
Alten, den oft zitierten Plato zumal, gegründeten allgemeinen
Weltansicht in Einklang zu bringen gesucht hat. Alberti ist der
einzige, müssen wir gleich hinzufügen, unter den Architekten jener
Zeit, dem es vermöge seiner Bildungsvoraussetzungen (archäo-
logische und philosophische Studien führten ihn erst zur Kunst)
überhaupt möglich war, zu einem so hohen und umfassenden
Begriff von den künstlerischen Zielen des Bauwesens vorzudringen.
Das römische Projekt aber, wie es uns geschildert wird, bezeugt
durch sich selbst, daß es im Kopfe eines Mannes entsprungen ist,
welcher nicht nur die antiken Monumente, sondern auch die an-
tiken Schriftsteller gut gekannt hat. Zum Überfluß versichert
Manetti ausdrücklich, man habe »die alten Lehren bewährter
Architekten« treulich befolgt. Vitruv! wird hier sogleich ein jeder
[170]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
ausrufen, und mit Recht. Wer aber dabei an eine direkte
Inspiration des Papstes durch diesen Alten denkt, wird bald
finden, daß eine solche nichts weniger als wahrscheinlich ist, wie
wir bequemer an späterer Stelle darzulegen hoffen. Einstweilen
haben, wie uns dünkt, schon die obigen Erörterungen eine
Übereinstimmung zwischen den Bauplänen des Papstes und den
Theorien Albertis, zunächst in ihren allgemeinen Grundlagen,
nachgewiesen, eine Übereinstimmung, welche zu bedeutsam ist,
als daß man sie für eine bloß zufällige erklären könnte. Die
Art und der Grad des vermuteten Einflusses bleibt in des
noch ungewiß.


Einer der wirksamsten Triebe im Bauwesen der italienischen
Renaissance, der zum erstenmal durch unsern Philosophen-Archi-
tekten in aller Breite zum Ausdruck kommt, ist der Sinn für das
Rationelle. »Salubritas, firmitas, amoenitas« sind ihm die drei
Hauptbedingungen baulicher Vollkommenheit (1. I, c. 2); zumal
die erstere, auf die er an verschiedenen Stellen seines Buches mit
besonderem Nachdruck zurückkommt. Ganz ähnlich nennt Ma-
netti (S. 930)1) als die maßgebenden Gesichtspunkte für Nikolaus V.:
die Befestigung, die Gesundheit, die Verschönerung seiner Resi-
denz, dazu als Viertes die Beförderung der religiösen Andacht. —
Mit der Korrektion der engen Straßen des Mittelalters hatte man
seit einiger Zeit hier und da schon begonnen. Alberti warnt nun
aber auch, die modisch werdende Breite nicht zu übertreiben,
weil solches eine Stadt heiß, mithin ungesund mache, wie sich
vor Zeiten bei der Erneuerung Roms durch Kaiser Nero gezeigt
habe. Die Straße, sagt er, darf nie ohne Schatten sein; doch so,
daß in jedes Haus die Sonnenstrahlen während einiger Stunden
Zutritt haben und ein leichter Zugwind die Luft rein erhält, die
stärkeren Winde aber gebrochen werden (IV, c. 5). Eben darauf
war es beim Neubau des als ungesund verrufenen vatikanischen
Borgo abgesehen: fast mit den gleichen Worten wie Alberti schildert
der Biograph des Papstes die Annehmlichkeiten, die man sich von
[171]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
den geplanten Anstalten versprach.1) — Von einem wohlein-
gerichteten Hause fordert Alberti, daß es zwei Säle besitze, den
einen für den Sommer, den andern für den Winter (V, c. 3). Dieser
Gesichtspunkt beherrscht nun ganz und gar die Einteilung des
päpstlichen Palastes: das Erdgeschoß mit weitläufigen Hallen,
Wandelbahnen, Portiken, die einen herrlichen, von kühlen Wassern
durchrieselten Garten einschließen, ist zum Sommeraufenthalt
bestimmt; das zweite Stockwerk ist mit allen Bequemlichkeiten
ausgestattet, die den Winter erträglich machen; das luftige Ober-
geschoß soll im Frühling und Herbst bewohnt werden (S. 934).


Die Behausung eines jeden, sagt Alberti im fünften Buche,
solle seiner besonderen Lebensweise entsprechen. Er zieht eine für
sein Jahrhundert höchst bezeichnende Unterscheidung zwischen
Königsschloß und Tyrannenburg (»principe nuovo« sagt der ita-
lienische Text) und entwickelt dann die allgemeinen Eigenschaften
einer fürstlichen Residenz. Sie soll abseits von den Mittelpunkten
des Verkehrs, dem Lärm der Werkstätten, dem Getümmel des
gemeinen Volkes ihren Platz suchen, am besten ganz außerhalb
der Stadt, damit kein Untertan den Fürsten belästige, außer in
wirklich wichtigen Angelegenheiten; wozu noch der spezielle
Vorzug komme, daß die Anlage weiter Gärten gestattet ist. Wenn
aber der Fürst zugleich Priester ist? Dann soll sein Wohnsitz
in Einem einen Tempel und ein befestigtes Lager darstellen, weil
der Pontifex samt seinen Amtsgehilfen in einem beständigen
Kriege lebt: der Tugenden wider die Laster. Der Haupttempel, an
welchem der oberste Priester selbst den Kultus versieht, läge wohl
bequemer im Mittelpunkte der Stadt; aber seine Würde heischt
Entfernung vom Volksgedränge. Eben deshalb ist, obschon die
Niederung größere Sicherheit vor Erdbeben gibt, die Lage auf
einem Hügel, wo alle Verunreinigung ferngehalten und der Ein-
druck der Ehrwürdigkeit und Majestät am vollkommensten er-
reicht wird, die schicklichere (V, c. 6). — Es fällt in die Augen,
[172]
Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
daß Albertis Programm durch die Situation der Leonina in wünsch-
barster Vollständigkeit verwirklicht wird; ja, man könnte glauben,
er habe sein Idealbild einer Bischofstadt erst von den lokalen Ver-
hältnissen Roms hergenommen: der St. Peter und der Palast auf
ansteigendem Hügel, gegen den Fluß die Wohnungen der Kurialen,
das Ganze durch Tiber und Janiculus von der eigentlichen Stadt
völlig abgeschieden.


Eine Priesterresidenz, fährt Alberti fort (V, c. 7), soll denen
zur Wohnung dienen, die sich dem Dienste des Höchsten weihen,
oder als Religiose Keuschheit geloben; ebensosehr aber auch denen,
die ihren Geist in der Erkenntnis menschlicher und göttlicher
Dinge üben. Denn wenn es das Amt des obersten Pontifex ist, die
Menschen zu einem allseitig vollkommenen Leben hinzuleiten:
auf welche schönere Weise könnte das geschehen als durch die
Philosophie? Dieweil der menschlichen Natur zweierlei ge-
geben ist, dadurch jenes erreicht werden kann: die Wahrheit und
die Tugend. Diese beschwichtigt und läutert die Unruhe der Seele,
jene offenbart die Gesetze und Geheimnisse der Natur, wodurch der
Geist von der Unwissenheit, die Seele von der Befleckung durch
den Körper befreit wird. — Gewiß, nichts hätte Nikolaus, den
überzeugungsfesten Humanisten auf dem Papstthron, in seiner
Baulust geeigneter bestärken können als diese ihm wie aus der
Seele gesprochene Betrachtung: Nikolaus, der die Kurie in eine
Sozietät von Poeten und Philologen verwandelte, der, ehemals
Kustos der Markusbibliothek in Florenz, jetzt in der vatikanischen
Bibliothek seine Lieblingsschöpfung sah und für sie einen eigenen
Prachtbau zu errichten gedachte. So zählt auch Leon Battista,
unter Anführung vieler Beispiele aus dem Altertum, die Biblio-
theken zu den vornehmsten Schmuckstücken einer Stadt (VIII, c. 9).


Die Figuration der von Nikolaus geplanten Anlage ist nicht
konzentrisch geordnet, sondern wird durch die von der Engels-
brücke zum St. Peter gezogene Gerade als Längenachse bestimmt:
das Grab des Apostels ist räumlich der Endpunkt, ideell der
Mittelpunkt des Ganzen: denn wesentlich als Vorbereitung auf
dieses Ziel sind die längs der Achse sich entwickelnden Räume
gedacht. Den Anfang bildet ein freizulegender Platz bei Ponte
[173]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
und Castell Sant' Angelo. Von diesem laufen (kaum parallel, wie
Manetti insgemein verstanden wird, sondern eher radial diver-
gierend) drei mit Hallen eingefaßte Straßen auf einen zweiten,
den am Fuße des vatikanischen Hügels sich ausbreitenden Haupt-
platz. — Schlagen wir nun die von den Straßen handelnden Kapitel
Albertis auf: Die zum Haupttempel führenden sollen unter allen
die am reichsten geschmückten sein; als Beispiel wird der (in
der Zeit Theodosius des Großen angelegte) Portikus genannt, der
einst von der Brücke zur Petersbasilika geführt hatte, mit Marmor-
säulen und Bleibedachung köstlich ausgestattet; eine derartige
Ausschmückung, fügt der Autor hinzu, empfehle sich höchlichst
für alle Straßen ähnlicher Bestimmung (VIII, c. 6). Kein Zweifel,
daß diese Reminiszenz für die neue Anlage mitbestimmend ge-
worden ist.


Der Hauptplatz, in den die drei Straßen ausmünden und
den rechts der Eingang zum päpstlichen Palast, links die Wohnungen
der Geistlichen und Regularen begrenzen, sollte eine Länge von
200, eine Breite von 100 Ellen erhalten. Dies die Angabe Manettis
(S. 934). Die Griechen, so lehrt hinwieder der Theoretiker, hätten
ihr Fora quadratisch, die alten Italer um ein Drittel länger als
breit angelegt; er selbst aber rate zu einer im Vergleich mit der
Breite doppelten Länge (VIII, c. 6). Wie man sogleich erkennt,
befinden sich also die für den Petersplatz gewählten Proportionen
in genauer Übereinstimmung mit einer ganz persönlichen, von dem,
was man für die Regel der Alten hielt, abweichenden Ansicht
Leon Battistas.


Vom Ende des Platzes sodann — so fährt Manetti in seiner
Schilderung fort —, wo die Steigung des Terrains beginnt, schreitet
man breite Stufen hinan zu einer Plattform; rechts und links
Glockentürme, in der Tiefe eine Doppelhalle mit je fünf Portalen,
von denen die drei mittleren (wahrscheinlich zu einer engeren
Gruppe zusammengefaßt) der von der Engelsbrücke herkom-
menden Hauptstraße, die beiden andern den seitlichen entsprechen;
auf diese triumphbogenartige Halle folgt ein von Säulengängen
eingefaßter Vorhof mit einem Brunnen und endlich die Kirche
selbst. Hiermit vergleiche man die Vorschriften des Lehrbuches:
[174]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
Die Bevorzugung erhöhter Lage ist schon erwähnt. Dann: wohin
du auch den Tempel setzest, er soll eine glänzende, edle, und daß
ich so sage, stolze Erscheinung geben und jeder profanen Berührung
entrückt sein. Er wird deshalb vor seiner Fronte einen weiten
und würdevollen Platz haben müssen, zu welchem wieder breite
Straßen führen, damit man ihn von jedem Standpunkt klar über-
schauen könne (VII, c. 3). Der Eingang soll durch einen vor der
Fassade hinlaufenden Portikus ausgezeichnet werden. Freilich
entstände dabei das mißliche Dilemma, daß zu weite Säulen-
stellung die Tragkraft des Gebälkes übersteige, zu enge die Be-
wegung, die Aussicht und den Zutritt des Lichtes behindere.
Deshalb schlägt der Autor ein Drittes vor, nämlich die Mitte
als einen besonderen und größeren Intervall auszubilden (VII, c. 5).
Das Projekt zum St. Peter hat alle diese Wünsche, wie man sieht,
vollständiger erfüllt, als es in Albertis ausgeführten und seinem
Namen gesicherten Kirchenbauten je geschehen ist.


Die im Sinne der Renaissance unstreitig idealste Kompo-
sitionsform ist der Zentralbau, aber sie ist erst mit dem Eintritt
des 16. Jahrhunderts zur Reife gelangt. Die Frührenaissance be-
schäftigte sich vielmehr mit der Neubelebung des Longitudinal-
baues (siehe Brunellescos S. Lorenzo und S. Spirito, Albertis
S. Francesco und S. Andrea). So sollte denn auch der neue St. Peter
eine Basilika mit fünf Schiffen werden. Und man muß bekennen:
ein Zentralbau wäre in dem gegebenen Zusammenhange eine
Inkonsequenz gewesen, da der Plan des Ganzen, dessen Abschluß
und Krone der Dom zu bilden bestimmt war, auch für diesen
das Vorwalten der Längenrichtung verlangte. Manetti (S. 335, 36)
gibt nun folgende Maße an: für die Schiffe bis zur Vierung 160 Ellen,
für die Vierung 40 Ellen, für den Chorraum 40 Ellen Breite und
75 Ellen Länge. Von letzterer Ziffer entfallen, wie man annehmen
muß, 35 Ellen auf die Apsis, nach deren Abzug die Gesamtlänge
des Langhauses sich auf 240 Ellen summiert; ihr stellt sich die
Breite mit 120 Ellen gegenüber. Diese Zahlen sind für unsere
Untersuchung von besonderem Wert. Denn es erweist sich die in
ihnen enthaltene Proportion wiederum als die präzise Ausführung
einer von Alberti hingestellten Regel: nämlich daß in einer als
[175]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
mehrschiffige Basilika gestalteten Kirche die Maße (gerade so,
wie er es für das Forum forderte) gegründet sein sollen auf das
Verhältnis 1 : 2 (VII, c. 13).


Die Reihe der Analogien ist hiermit nicht zu Ende. Noch
bevor Alberti seinen berühmt gewordenen, für die Kunstansicht
der Renaissance höchst bezeichnenden Satz von der gemein-
schaftlichen Grundlage der architektonischen und der musika-
lischen Harmoniegesetze ausführt, wirft er einmal den Gedanken
hin: wie bei einer lebenden Kreatur Kopf, Füße und ein jedes
Glied zu den übrigen Gliedern wie zu dem Ganzen des Körpers
in einem bestimmten Verhältnis stehen, in solcher Weise sollen
auch in einem Gebäude, allermeist in einem Tempel, alle Teile
dem Körper nachgebildet werden, also daß sie untereinander im
Einklang sich befinden und in jedem einzelnen Gliede, welches
es auch sei, die Maße aller andern schon erkennbar sind. Dieses
Gleichnis scheint besonderen Beifall gefunden zu haben. Manetti
(S. 937) wiederholt es und führt es mit sichtlichem Wohlgefallen
nach seiner Art weiter aus. Er glaubt im Grundriß der künftigen
Basilika die Gestalt eines am Boden ausgestreckten Menschen
wiederzuerkennen: die Vorhalle und die Schiffe bedeuten Beine
und Rumpf, das Querhaus die ausgespreiteten Arme, die Tribuna
das Haupt.


Wichtiger ist folgendes. Es war beschlossen, aus dem St. Peter
die Gräber allesamt zu verbannen und demgemäß am äußersten
Rande des ganzen Bezirks, halblinks hinter dem Dom, einen
Kamposanto einzurichten, »damit nicht« — das von Manetti
(S. 936) mitgeteilte Motiv ist bemerkenswert — »ein so gewaltiger,
herrlicher, erlesener, eher wie ein göttliches, denn wie ein mensch-
liches Werk erscheinender Tempel durch die Bergung der Leichname
von Päpsten und Prälaten verunreinigt werde.« Welch ein
völliges Widerspiel zur Denkweise des Mittelalters! Auch in der
Renaissance ist diese Ansicht nirgends zur Herrschaft durch-
gedrungen, Alberti aber hat sie ausführlich entwickelt und be-
gründet, meines Wissens als der erste (VIII, c. 1—4). Nach einer
begeisterten Schilderung der Via Appia und der andern Gräber-
straßen vor den Toren Roms sagt er: Indes unterfange ich mich
[176]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
nicht, die Unsrigen, welche innerhalb der Stadtmauern den Toten
eine heilige Stätte bereitet haben, deshalb zu tadeln; nur dürfen
niemals Leichen im Innern der Kirchen eingesenkt werden, auf
daß nicht Verwesungshauch die heilige Reinheit des Ortes be-
flecke. Wieviel angemessener handelten doch jene, die ihre Toten
verbrannten! Plato hielt dafür, daß der Mensch weder lebend
noch tot seinen Mitmenschen beschwerlich fallen solle, weshalb
er die Begräbnisplätze nur draußen vor der Stadt und auch dort
nur auf völlig unfruchtbarem Felde dulden wollte. Seiner Weisung
wird gerecht, wer für die Gräber einen umfriedeten Ort unter
freiem Himmel auswählt, entfernt von jeglichem Verkehr. Diese
Weise lobe ich aufs entschiedenste.



Damit sei die vergleichende Untersuchung abgeschlossen. Sie
hat zur Evidenz erwiesen, daß das Projekt Nikolaus' V. nicht
anders als unter starkem und unmittelbarem, den Geist des Ganzen
wie die Formation des Einzelnen Stück um Stück beherrschenden
Einfluß der Albertischen Theorien entstanden sein kann. Un-
entschieden bleibt aber noch dieses: ob Alberti selbst die Pläne
in der Gestalt, wie sie zur Ausführung bestimmt waren, entworfen
und detailliert hat, — oder ob wir die konstatierte Mitwirkung
möglicherweise nur so zu denken haben, daß es einem andern
überlassen wurde, seine Lehren ins Praktische zu übersetzen.
Diese Frage — die übrigens ein vergleichsweise nur untergeordnetes
Interesse hat, da das Projekt nach dem nicht lange darauf er-
folgten Tode des Papstes († 24. März 1455), als kaum der kleinste
Teil davon in Angriff genommen war, ad acta gelegt wurde —
kann auf dem bisher beschrittenen Wege der Untersuchung nicht
weiter gefördert werden. Wir werden noch einmal die Historiker,
soviel ihrer neben Manetti noch in Betracht kommen, um Rat
angehen müssen, nun im willkommenen Besitze eines von ihnen
unabhängigen Urteilsmaßstabes.


Wie billig, haben die zeitgenössischen den Vortritt. Pla-
tina, Vespasiano da Bisticci, Pietro
[177]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
de' Godi
1) berühren die Bauten Nikolaus' V. nur flüchtig und
ohne den Namen, dem wir nachspüren, zu nennen. Albertis ano-
nymer Biograph,
der leider sehr fragmentarisch ist, redet von
den architektonischen Leistungen seines Helden gar nicht. Alberti
selbst, in dessen Relation über die Verschwörung Porcaris man
etwa eine beiläufige Andeutung vermuten könnte, schweigt von
sich. Enea Silvio de' Piccolomini, ein feiner Kenner,
sagt in seiner »Europa« (ed. Venet. 1501, fol. 72): »Die Stadt Rom
schmückte er (Nikolaus) in wunderbarer Weise mit vielen und
gewaltigen Bauten; hätten sie vollendet werden können, so würden
sie keinem Werke der alten Imperatoren an Großartigkeit zu
weichen brauchen; nun aber liegen sie da wie ungeheure Ruinen.«
Und an einer andern Stelle (fol. 73) nennt er unter den Autoren,
die durch Überreichung ihrer Werke die Gunst des Papstes ge-
wonnen, »den Florentiner Alberti mit seinem ausgezeichneten
Buche über die Baukunst,« — von einer unmittelbaren Beziehung
zu den Projekten spricht er nicht. Vasari endlich muß aus
den früher bezeichneten Gründen bis auf weiteres aus dem Spiel
bleiben. Nach so viel umsonst aufgerufenen Zeugen bietet sich
schließlich nun doch eine, erst neuerdings wieder beachtete, Aus-
sage von Bedeutung. Matteo Palmieri schreibt in seiner
knappen Zeitchronik2) zum Jahre 1452: »Da der Papst dem hl. Petrus
eine schönere Kirche bauen wollte, legte er gewaltige Fundamente
und führte die Mauer bis zu 13 Ellen in die Höhe3); aber das große
und jedem antiken ebenbürtige Werk wurde zuerst nach dem
Rate Leon Battistas unterbrochen, dann durch den vorzeitigen
Tod des Papstes zum Stillstand gebracht. L. B. Alberti, ein
Mann von scharfem und durchdringendem Geiste und in den
Künsten und Wissenschaften geschult, überreichte dem Papste
seine ungemein kenntnisreich geschriebenen Bücher von der
Architektur.«4) Diese aus dem Florentiner Literatenkreise, von
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 12
[178]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
einem mit Alberti und Parentucelli-Nicolaus vielleicht persön-
lich bekannten Manne stammende Notiz, ist in all' ihrer Kürze
doch in erwünschtester Weise geeignet, unsere aus den decem
libri
und deren Vergleichung mit Manetti gezogenen Schlüsse
zu bekräftigen und zu ergänzen.


Wir unterschieden oben in Nikolaus' Bauintentionen einen
zwiefachen Geist: den in der Restauration der 40 Stationskirchen
noch waltenden mittelaltrigen und den in dem vatikanischen
Projekt zutage tretenden neu-antikischen. In jene erste Richtung
stellen sich die längste Zeit auch noch die Absichten in betreff
des St. Peter. Um einen Neubau von Grund aus handelte es
sich hier lediglich für einen kleinen Teil der Kirche, für die Chor-
partien, welche von der Baufälligkeit, an der das ganze Gebäude
krankte, am meisten mitgenommen sein mochten: die Schiffe da-
gegen sollten, wie die von Eugen Müntz mitgeteilten Baurechnungen
jetzt mit völliger Klarheit dartun, konserviert und restauriert
werden. Die neueren Schriftsteller kombinieren insgemein, es sei
die unermeßlich reiche Goldernte des Jubeljahres 1450 gewesen,
welche die Bauphantasie des Papstes ins unerhört Grandiose
habe ausschweifen lassen. Ein solcher unmittelbarer Zusammen-
hang kann aber nicht zugegeben werden. Allerdings beginnen
laut Zeugnis der Rechnungsbücher eben in dem dem Jubiläum
folgenden Jahre, 1451, die Arbeiten an der Basilika; jedoch die
Natur dieser Arbeiten — glänzende Erneuerungen der Glasmalereien,
Mosaiken, Pavimente usw. — enthüllt als Ziel gerade die Auf-
frischung und Befestigung des altehrwürdigen Heiligtums zu
möglichst langer weiterer Dauer, das ausgesprochene Gegenteil
von den in Manettis Schilderung sich offenbarenden Umsturz-
gedanken.


So können also diese nicht früher als in den letzten der nur
noch kurz zugemessenen Lebensjahre des Papstes auf die Bahn
gekommen sein. Ich glaube, wir dürfen mit Bestimmtheit aus-
sprechen, woher der Anstoß dazu kam: — von Alberti.


Man mag sich vorstellen, daß dem Papste die Werkmeister,
deren er sich bis dahin bedient hatte, im Fortgang der Arbeit
nicht mehr genügten. Wie eine Notwendigkeit erscheint es und
[179]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
läßt die Geistesrichtung Nikolaus' V. ganz rein zum Ausdruck
kommen, daß er unter allen gerade Alberti sich nun zum Bau-
berater ausersieht: nicht einen der berühmten und bewährten
Praktiker, sondern den durch die Schriften der Alten gebildeten
Theoretiker. Der humanistische Bauherr und der humanistische
Baumeister gehören eben zueinander, nur von einem solchen
erwartete jener befriedigt werden zu können. Nach Vasari wäre
Leon Battista erst in Rom und erst durch Vermittelung Flavio
Biondos mit dem Papst bekannt geworden. Es fällt schwer, diese
Notiz für richtig zu halten. Denn nahezu undenkbar ist mir,
daß dem ehemaligen Tommaso Parentucelli während des in Florenz
als tätiger Mitbürger der Musenrepublik verlebten Jahrzehntes
der in diesem Kreise wie im Hause der Medici und bei der damals
in der Arnostadt im Exil weilenden Kurie bereits hoch geltende
Alberti, der Neffe eines Kardinals, fremd geblieben sein sollte;
sie müßten sich denn fast geflissentlich gemieden haben. Genug,
wenn etwa wirklich nicht Albertis Person, so doch gewiß Albertis
Ruhm kannte Nikolaus. Und so kannte Alberti seinerseits so
viel von der Gesinnung des Papstes, daß er, die Heimat und den
soeben (1451) ihm angetragenen Bau der Annunziatenkirche hinter
sich lassend, alsbald dem Rufe nach Rom folgte. Seine zehn Bücher
»De re aedificatoria« nahm er mit sich, gewiß nicht ein mit rascher
Hand hingeworfenes Werk, sondern in langer Arbeit vorbereitet;
er schloß es jetzt ab, überreichte es dem Papst: das Programm
seines Wissens und Wollens. Der Eindruck war gewaltig, durch-
schlagend, bezwingend. Die Aussage Palmieris, verglichen nach
der einen Seite mit den in den Baurechnungen der früheren Jahre
liegenden Zeugnissen, nach der andern mit der Schilderung Ma-
nettis, setzt es außer Zweifel: das Studium dieses Buches, in seinem
Eindruck, wie man sich denken kann, gesteigert durch die münd-
liche Beredsamkeit seines Verfassers, wurde die Peripetie in
Nikolaus' V. Bauintentionen. Ich brauche nicht eingänglich zu
begründen, wie sehr die Lehren des Künstler-Philosophen dem
Papste kongenial erscheinen mußte, die Erfüllung vielleicht schon
lange unreif und gestaltlos gehegter eigner Wünsche und Phan-
tasien: — die Tatsache steht fest, daß der alte Konservierungs-
12*
[180]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
plan zur Seite geworfen wurde, »nach Leon Battistas Rat«, und
der neue grandiose konzipiert, den wir genugsam kennen. —


Hier ist der Ort, auf einige der Aufklärung noch bedürftige
Momente in Manettis Darstellung zurückzukommen. Der Lob-
redner schließt seine Parallele zwischen Nikolaus V. und König
Salomo, welcher zum Tempel den Werkmeister Hirams von Tyrus
benötigt habe, mit den Worten (S. 938): »um wieviel lauter müssen
wir Nikolaus preisen, der, seinem eigenen Ingenium folgend,
Aufseher und Bauführer bestellte und ihnen allen unsern treff-
lichen Bernardo von Florenz als Oberbaumeister vorstehen hieß.«
— Bevor wir uns dem ersten Teile des Satzes zuwenden, sind ein
paar Bemerkungen über Meister Bernardo zu erledigen. Man hat
die Wahl, in diesem den Bernardo, Sohn des Lorenzo, zu sehen,
— oder den Sohn des Matteo Gamberelli, genannt Rossellino;
sie ist bekanntlich jüngst zugunsten des letzteren definitiv ent-
schieden, und hiermit wieder einmal ein Punkt in der stark an-
gefochtenen Glaubwürdigkeit Vasaris gerettet. Weiter ist Ros-
sellino neuerdings auch als der Techniker erkannt worden, der
unmittelbar vor der Übersiedelung nach Rom beim Palazzo Ru-
cellai in Florenz als Albertis Bauführer fungiert hat. Man be-
merke, daß gerade wie in Rom, so auch hier, die Baurechnungen
nur den Namen des ausführenden Meisters, Rossellinos, verzeichnen,
von Alberti aber, dem Planleger, schweigen. Nimmt man hinzu,
daß Rossellino in Rom zuerst im Dezember 1451 auftaucht (Müntz),
gleichzeitig mit seinem bisherigen Meister oder wenig früher nur1),
so wird man wohl das Richtige treffen, wenn man annimmt, daß
er nicht selbständig, sondern als Gefolgsgenosse Albertis auf den
neuen größeren Schauplatz befördert worden, und daß das Ver-
hältnis zwischen den beiden dasselbe geblieben sei, wie früher
in Florenz, — oder richtiger: in Zukunft bleiben sollte.


Ich sage: bleiben sollte. Denn ich bin der Meinung, daß
kaum ein erheblicher Schritt zur Ausführung des großen Planes
[181]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
getan gewesen sein kann, als schon der vorzeitige Tod des Papstes
alles weitere abschnitt. Ich übersehe nicht, daß ich mich hierdurch
zu der geläufigen Ansicht in Widerspruch setze. Man bezeichnet
allgemein jenes Fragment der Chortribuna, welches nachmals
zur Zeit Bramantes und Raphaels in der Baugeschichte des
St. Peter eine so verhängnisvolle Rolle spielen sollte, als das Werk
Rossellinos. Und allerdings kann man nicht nur Vasari, sondern
auch Grimaldi (Müntz I, 118) dafür anrufen. Ich glaube jedoch:
beide irren; und zwar durch die vieldeutige Ausdrucksweise Ma-
nettis zu diesem Fehlschluß verleitet. Wir wissen durch Palmieri,
daß bereits vor der Ankunft Albertis (und Rossellinos) an einem
Teil der Kirche die Fundamente erneuert und die Mauern bis zu
13 Ellen Höhe gefördert waren: offenbar diese sind es, die den
Dombaumeistern des 16. Jahrhunderts im Wege standen und
die seitdem unter dem falschen Namen »Fundamente Rossellinos«
in die Kunstgeschichte eingeführt sind. Als ihren wahren Urheber
muß man vielmehr jenen Antonio di Francesco annehmen, den
wir erst durch Eugen Müntzs Entdeckungen kennen gelernt haben.
Noch im Jahre 1454 empfing derselbe 50 Dukaten »per parte di
pianele deba fare per la trebuna di santo Pietro« (Müntz 124).
So spricht auch im Jahre 1453 Pietro de' Godi (1. c. p. 21), indem
er die Bauunternehmungen Nikolaus' V. aufzählt, nur vom »tri-
bunal magnificum ac sumptuosum basilise S. Petri«, — von dem
Plane der allgemeinen Erneuerung weiß er nichts. Es ist also
einstweilen nach dem alten Plane fortgebaut worden, vermutlich
in der Absicht, ihn irgendwie in den neuen Albertischen aufzu-
nehmen. Daß aber dieser überhaupt schon in Angriff genommen
worden sei, zeigt sich nirgends. Bernardo Rossellino, der
zur Leitung der Ausführungsarbeiten bestimmt war, wurde,
wie die Rechnungsbücher zeigen, bis auf weiteres anders ver-
wandt, am Palast und bei der Restauration von S. Stefano
Rotondo.


Wir vermögen nun darüber abzuschließen, wieviel in Vasaris
Bericht wahr, und wieviel falsch ist. Er übertreibt, indem
er im Leben Rossellinos diesem auch den Entwurf des von
Manetti geschilderten Planes zuzählt; aber er folgt einer wahr-
[182]
Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
heitsgemäßen, obschon nur magern Überlieferung in dem
der Biographie Albertis eingefügten Satze: »Costui (B. Rossellino),
come volle il papa, da indi inanzi si consigliò sempre con Leon
Batista; onde il pontefice col parere dell' uno di questi duoi, e
coll' eseguire dell' altro, fece (welches Wort auch schon zuviel
sagt) molte cose utili e degne di esser lodate.« —


Nicht das Schweigen der Rechnungsbücher über Alberti1),
wohl aber das Schweigen Manettis bleibt immerhin auffällig; auf-
fällig, doch nicht unerklärlich. Es gehört mit zum panegyrischen
Stil seiner Lebensbeschreibung — man weiß, wie weit in dieser
Hinsicht Humanisten gehen können, — daß alles Licht auf die
Gestalt des Helden gesammelt, jede Ruhmeskonkurrenz abge-
lenkt wird.2) Und ganz gewiß hat Nikolaus die Entstehung der
Pläne mit lebhaftem Anteil begleitet, dieses oder jenes wohl auch
selbst angegeben. Der geniale erfindende Kopf aber ist er nicht
gewesen. Er war es überhaupt nirgends. Sogar auf seinem eigen-
sten, dem gelehrten Gebiete, zeigte er sich als eine so eminent
unproduktive Natur, daß er selbst nur mit Scheu an die Abfassung
einer Epistel ging. Desto stärker war seine rezeptive Fähigkeit,
die Offenheit seines Sinnes für Interessen aller Art, seine Begabung
aufzunehmen, zu sammeln, zu ordnen. So steht denn unsere, den
emphatischen Übertreibungen des Lobredners entgegengesetzte
Annahme von dem persönlichen Verhältnisse Nikolaus' V. zu
seinen Bauprojekten im Einklang mit dem aus allen andern Be-
obachtungen sich ergebenden Charakterbilde, das G. Voigt so
vortrefflich gezeichnet hat. Sein eigentliches und wahrlich nicht
geringes Verdienst ist: daß er die Intentionen Leon Battistas be-
griffen und mit der ganzen ihm eigenen Begeisterungsfähigkeit
und Energie gefördert hat. »Nicht ablassen! fortbauen! vollenden!«
das war seine letzte Bitte an die um sein Sterbelager versammelten
Kardinäle.


Ich schließe mit einer kurzen Erwägung in betreff Vitruvs;
ist ja doch die Möglichkeit, daß dieser nicht bloß durch Vermitte-
[183]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
lung Albertis, sondern auch direkt auf den gelehrten Papst gewirkt
habe, wenigstens von vornherein, nicht ausgeschlossen. Viel
Wahrscheinlichkeit hat sie aber nicht. Soweit ich mich habe unter-
richten können, ist der von Poggio wiederaufgefundene Bau-
lehrer der augusteischen Zeit bis in die achtziger Jahre des 15. Jahr-
hunderts, wo die Bemühungen eines Francesco di Giorgio, Fra
Francesco Colonna, Sulpicius (der den ersten Druck veranstaltete)
seinem künftigen außerordentlichen Ansehen den Weg bahnten,
fast für jedermann, allein Alberti ausgenommen, ein mit sieben
Siegeln verschlossenes Buch geblieben. Der Text war in üblem
Zustand, die Schreibart dunkel und schwerfällig, mehrere wichtige
Materien unerörtert. Den Architekten fehlte es an den zu seinem
Verständnis unentbehrlichen philologischen, den Philologen an
den technischen Kenntnissen. Alberti, der beide Bedingungen
vereinigte, wie damals kein Zweiter, ist deshalb auch der einzige
in der Frühzeit der Renaissance, bei welchem aus dem Vitruv-
studium etwas herauskommt. Aber er ist weit entfernt von der
überschwenglichen Hochschätzung des alten Lehrers, in der sich
das folgende Jahrhundert gefiel; er beklagt es, daß von so vielen
ausgezeichneten Bauschriftstellern des Altertums nur der eine
mit so viel Mängeln behaftete gerettet sei; ja, er läßt sich zu der
Exklamation fortreißen: ebensogut für uns wäre es, er hätte gar
nicht geschrieben, als daß er so geschrieben hat, daß wir ihn nicht
verstehen! (VI, c. 1). Doch ist das eine Ungerechtigkeit, sowohl
gegen Vitruv als gegen sich selbst, da er doch vieles von ihm ge-
lernt hat; ebensoviel allerdings von den Monumenten unmittelbar,
»ex optimis professoribus«. — Man wird zugeben: wenn schon
Alberti so spricht, so bleibt wenig oder gar kein Boden für die
Vermutung übrig, daß Nikolaus selbständig zu einem fruchtbrin-
genden Verständnis des schwierigen Autors durchgedrungen sein
könnte. Desto lieber wird man glauben, daß ihm Alberti als Inter-
pret Vitruvs aufs höchste willkommen war, und daß er dessen
Entwürfe gerade deshalb so hoch schätzte, weil in sie von den
Lehren des letzteren alles irgend verwendbare hineinverarbeitet
war. Übrigens handelt es sich hier ja um eine bloß hypothetische
Frage, und das für sie Maßgebende liegt darin: daß in Manettis
[184]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
Beschreibung nichts Vitruvisches enthalten ist, das nicht nach
nächster Wahrscheinlichkeit durch Alberti vermittelt wäre, dagegen
außerdem viele Gedanken, die Albertis originales Eigentum sind.


Mit der speziellen Frage, um derentwillen wir das Wort er-
griffen, hoffen wir zugleich die allgemeine kunstgeschichtliche
Stellung Albertis in ein helleres Licht gesetzt zu haben. Man hat
ihn bis jetzt vorzugsweise als den grundlegenden Theoretiker der
Renaissance beachtet; man hat auch die von seiner konsequenten
Kunstlogik vollzogene Antizipation vieler erst in der Hochrenais-
sance allgemein werdenden Motive wahrgenommen; aber noch
nicht genügend ist er als der entscheidende Propagator der
wiedergeborenen »guten« Architektur, der er war, gewürdigt.
Er hat ihr, nachdem sie bis gegen die Mitte des Jahrhunderts
auf Florenz und dessen nächsten Wirkungskreis eingeschränkt
geblieben, siegreich die Bahn gebrochen im Norden wie im Süden:
1447 beginnt er für den Malatesta von Rimini die Kirche S. Fran-
cesco; 1451 überträgt ihm der Markgraf von Mantua den Chorbau
der Annunziatenkirche in Florenz, der freilich erst zwei Jahrzehnte
später durchgeführt wurde; dann von S. Sebastiano in seiner
Residenzstadt; 1452 Rom.1) In allen drei Fällen sind die Bau-
[185]Die Bauprojekte Nikolaus V. und L. B. Alberti
herren zunächst durch die Literatur für das Altertum gewonnen,
und wesentlich das Ansehen, welches Alberti als Gelehrter der
nov-antiken Richtung genoß, erweckte in jenen ein unbedingtes
Vorurteil für seine noch kaum erprobte künstlerische Befähigung.
Der Bundesgenossenschaft mit dem Humanismus, im unmittel-
barsten Bezug, verdankt die in Florenz als Lokalstil ans Licht
getrene Renaissance ihre ersten und zugleich entscheidenden
Triumphe bei der Nation.


[[186]][[187]]

ZU DEN KOPIEN
NACH LIONARDOS
ABENDMAHL


1896


[[188]][[189]]

Die Städtische Gemäldesammlung in Straßburg hat
vor einiger Zeit in England sechs farbige Kartons
mit Köpfen aus Lionardos Abendmahl (Taf. 15—19)
erworben. Indem ich dies sage, wird jeder sogleich
an die berühmten Blätter im Besitz der Frau Groß-
herzogin von Weimar denken; und in der Tat sind die Straßburger
Stücke den Weimarern im allgemeinen Eindruck sehr ähnlich. Von
diesem Verhältnis hat die Kritik auszugehen. Sind die Weimarer
Exemplare wirklich, wie viele glauben, Originale von der Hand Lio-
nardos, so müssen die Straßburger selbstverständlich Kopien nach
ihnen sein, und es bliebe nur die Frage nach der Zeit ihrer Ent-
stehung zu erörtern übrig. Haben dagegen die andern recht, welche
das Weimarer Exemplar nicht sowohl als Vorbereitung zu, denn als
Kopie nach dem Wandgemälde des Mailänder Klosterrefektoriums
ansehen, dann tritt die Untersuchung des Verhältnisses unter
viel kompliziertere Bedingungen.


Die Besitztradition reicht nicht weit zurück. Auffallend ist
dabei, daß beide Exemplare aus England stammen. Die Anno-
tatoren zu Vasari wissen aus der älteren italienischen Überlieferung
nur ein Exemplar anzuführen, das nach mehrfachem Wechsel
zuletzt (es scheint, daß das Ende des 18. Jahrhunderts gemeint
ist) an die Familie Sagredo in Venedig kam und von dieser
an den englischen Konsul Uduny verkauft wurde, welcher sie
wieder an zwei Maler, Landsleute von ihm, vermachte, derart,
daß der eine zehn, der andere drei von den Köpfen erhielt. Hier
bricht die Tradition ab. Daß Sir Thomas Lawrence seine acht
Blätter, die in der Tat zehn Köpfe enthalten, von dem einen der
obgenannten Maler erworben habe, scheint bloße Kombination
zu sein. Nach Lawrences Tode kamen sie an den König der Nieder-
lande, von diesem an seine Tochter, die jetzige hohe Besitzerin.


Bei solcher Sachlage hat sich die Untersuchung allein an die
technischen und stilistischen Kriterien zu halten. Gefühlsurteile,
wie sie unlängst H. Thode in einem feurigen Lobgesang auf die
Weimarer Blätter vorgetragen hat, sind niemanden verwehrt,
haben aber das Mißliche, daß dritte Personen damit vielleicht
überredet, nie überzeugt werden können. Sehen wir also zu,
[190]Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
die Untersuchung so lange als möglich in der Bahn des logisch
Beweisbaren zu halten. Ich beginne mit der Schilderung und dem
Vergleich der äußeren Merkmale, wobei ich der Kürze halber die
beiden Exemplare durch die Zeichen St und W unterscheiden will.


Der Maßstab der Köpfe ist beidemal gleich, d. i. etwas mehr
als Lebensgröße. Bei W ist der Grund um einiges ausgedehnter;
bei St ist er durch Beschädigung oder ausgleichende Beschneidung
des Randes mit der Zeit kleiner geworden. Die jetzige Bildfläche
von W ist 62 : 48 cm, von St 57 : 44 cm.


Das Papier konnte, weil es derzeit auf Leinwand gezogen ist,
nicht geprüft werden.


Hinsichtlich der technischen Ausführung ist, zunächst über St,
dieses zu bemerken. Die Haupttöne — Fleisch, Haar, Gewand,
Hintergrund — sind mit dünnflüssiger Farbe, wahrscheinlich
Tempera, in gleichförmigem Auftrage unterlegt, Haar und Fleisch
durchsichtig, das stumpfe Rot und Gelb der Gewänder leicht
deckend. Darüber in Kohle der Umriß und die Modellierung.
Auf dem dunkeln Hintergrunde und in den tiefsten Schatten zeigt
die Farbsubstanz einen matten Glanz, von dem ich dahingestellt
lasse, ob er von einer Schlußübermalung oder nur von stärkerer
Tränkung mit Fixativ herrühre. Die Erhaltung ist, abgerechnet
einige Wasserflecken und eine gewisse, nicht allzu erhebliche
Verreibung, vortrefflich. Von etwaiger Auffrischung durch Re-
tuschen habe ich, außer an den beschädigten Randpartien, keine
Spur entdeckt. Der leichte und sichere Gang der Reißkohle in
weichen Parallelstrichen ist genau zu verfolgen. Auf bildmäßige
Wirkung wird nicht ausgegangen; überall ist nur das Notwendigste,
und auf dem kürzesten Wege, mit den einfachsten Mitteln gegeben,
wie es ein Künstler tut, der nicht für die Augen Dritter, sondern
zur eigenen Belehrung arbeitet. Besonders zu beachten ist die
Zeichnung der Augen mit der für Lionardo charakteristischen
scharfen Umrandung der Regenbogenhaut (am ausgeprägtesten
auf dem Kopf des Andreas). Genug, wenn schon St aus Gründen,
die ich später ausführen werde, eine eigenhändige Arbeit Lionardos
sicher nicht ist, so spricht doch in der zeichnerischen Behandlung
alles für die Hand eines ihm nahestehenden Schülers.


[191]Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl

Wende ich mich nun zu W, so ist der erste und allgemeinste
Eindruck zwar ähnlich, aber die Ausführung im einzelnen doch
erheblich verschieden. Zuerst ist das Zeichenmaterial ein anderes,
nicht Kohle, sondern eine gröbere, schwärzere Substanz, Kreide
allem Anschein nach. Von einem in flüssiger Farbe, wie bei St,
gemalten Grunde habe ich nichts entdecken können, vielmehr
sind die Farbennuancen ebenfalls mit Stiften hervorgerufen.
Der Unterschied zwischen dem leichteren, kühleren Fleischton
der jugendlichen Personen und der gebräunten Haut der alten
kommt in W härter heraus als in St. Die Umrisse sind derber
und zugleich unsicherer, die Modellierungsflächen nicht in ge-
sonderten Strichen hingesetzt, sondern massig verrieben. Ein
malerischer Effekt und eine Art von flotter Eleganz ist angestrebt,
die beide Lionardo und seiner Zeit fremd sind. An einigen Stellen
wollte es mir scheinen, als schimmerten unter der Kreide Spuren
einer älteren Kohlezeichnung durch; bis zur Gewißheit habe ich
diese Beobachtung jedoch nicht gebracht. Ich bemerke noch,
daß ich die Weimarer Blätter nicht etwa im Vorübergehen, sondern
in aller Ruhe und Gründlichkeit betrachtet habe, unmittelbar
vom Studium der Straßburger kommend und dazu zurückkehrend.
Der technische Befund läßt für mich nur zwei Möglichkeiten zu:
entweder ist W eine Kopie, gleich St, jedoch aus bedeutend jüngerer
Zeit, oder — weniger wahrscheinlich — die ausgedehnte und
systematische Überarbeitung einer nicht mehr zu beurteilenden
Unterlage.


Aber ich weiß wohl, daß auch die Kunstforscher von Beruf
von der Geltung des Satzes noch nicht ausgeschlossen sind: wenn
zwei das gleiche sehen, so sehen sie es nicht immer gleich. Ich
werde mich deshalb um »objektivere« Beweismittel bemühen müssen.
Schon von andern ist hervorgehoben worden, daß auf mehreren
Blättern von W Bruchstücke der Umgebung, der Kopfumriß
und die übergreifende Hand des Nachbars mitgezeichnet sind,
was durchaus für eine Kopie nach der fertigen und nicht für eine
Studie nach der noch im Fluß begriffenen Komposition spreche;
ich füge hinzu: daß überall auch die Gewandfalten genau so liegen
wie auf dem Gemälde. Es müßte also, wenn die Deutung von W
[192]
Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
als vorbereitende Studie festgehalten werden sollte, der über
alle Massen seltsame Fall gegeben sein, daß Lionardo in den
Körpern und Gewändern alles bis auf die letzte Linie festgestellt
hätte, bevor er sich an die Ausarbeitung der Köpfe machte. Dann
aber wird es von der andern Seite wieder unverständlich, wozu er
die für diesen Zweck ganz gleichgültigen Nebendinge noch
einmal in aller Ausführlichkeit wiederholte. Selbstverständlich
gelten diese gegen die Originalität von W gerichteten Erwägungen
ganz ebenso gegen St. So arbeitet nicht der schöpfende Künstler,
so arbeitet nur der Kopist. Wie man weiß, sind alsbald nach
Vollendung des Abendmahls in S. Maria delle Grazie Nachbil-
dungen in Menge entstanden, darunter Wandgemälde von einer
dem Original sich nähernden Größe. Zu ihrer Ausführung brauchte
der Kopist, mindestens für die Köpfe, Reproduktionen großen
Maßstabes, während er für die Komposition im ganzen sich mit
einem kleinen Hilfskarton begnügt haben mag. Dagegen ist es
ganz unwahrscheinlich, daß Lionardo seine Gedankenentwicklung
im Karton abgeschlossen hätte; wäre das der Fall gewesen, wäre
für die Ausführung an der Wand nichts mehr nötig gewesen, als
den Karton abzuschreiben — wie die Verteidiger der Authentizität
von W implicite behaupten —, dann wäre die Langsamkeit
der Ausführung kaum zu begreifen. Alle auf die Entstehung des
Abendmahls sich beziehenden Erzählungen haben aber den über-
einstimmenden Sinn, daß Lionardo eben deshalb so stockend und
sprungweise vorging, weil er mit der inneren Arbeit, an den Cha-
rakteren, nicht fertig war, und dieses wird auch mit ein Grund
für die Wahl der Öltechnik gewesen sein, die ihm gestattete, die
Malerei beliebig zu unterbrechen und wieder aufzunehmen. Der
beiläufigen Bemerkung Lomazzos: ».... fu molto usato (il colo-
rire a pastello) da Lionardo Vinci, il quale fece le teste di Cristo
e degli Apostoli a questo modo eccellenti e miraculose, in carta«
— kann ich großes Gewicht nicht zugestehen. Aus ihr folgt
nicht mehr, als daß um das Jahr 1585, als Lomazzo schrieb,
mithin fast 100 Jahre nach der Entstehung von Lionardos
Gemälde, es Blätter dieser Art gab, die Lionardo zugeschrieben
wurden.


[193]Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl

C. Ruland sieht einen untrüglichen Beweis für die Authen-
tizität der Weimarer Zeichnungen in ihren häufigen Pentimenti.
Hiergegen erlaube ich mir zu bemerken, daß ihr Verhandensein an
sich nichts beweist, da ebensogut ein Kopist in dieser Weise sich
verbessern kann. So wie die Pentimenti von W beschaffen sind,
beweisen sie geradezu das Gegenteil. Um das zu erkennen, worauf
ich hinauswill, bedarf es nicht einmal der Kenntnis der Originale,
sondern genügt es, die beigegebenen Reproduktionen zu vergleichen
(Taf. 15). Man wird da auf den ersten Blick eine starke Ver-
schiedenheit der Schädelproportionen im Sinne der Längsachse ge-
wahr werden und als Folge eine ebensogroße Verschiedenheit des
physiognomischen Ausdrucks: in St eine um einen Schritt nur von
der Karikatur entfernte Kühnheit und Macht der Charakteristik,
in W zahmes akademisches Durchschnittsmaß. Sieht man dann
schärfer hin, so bemerkt man, daß ursprünglich auch der Zeichner
von W dem Hinterkopf denselben stark ausladenden Kontur
gegeben hatte wie St, nachher jedoch ihn erheblich weiter nach
innen zog. Außerdem ist aber noch ein zweites Pentimento vor-
handen, am Ohr, und dieses ist beiden Exemplaren,
W und St, gemeinsam. Also hat W den Kopf genau so
gesehen, wie St, mit Einschluß des Pentimento am Ohr, nur
eben die Linie des Hinterkopfes verändert.


Aus diesem zwiefachen Verhältnis folgt unweigerlich: erstens,
daß W keine Originalstudie sein kann, zweitens, daß W nicht
einmal eine Kopie nach dem Gemälde ist, sondern einfach eine
Kopie von St, welches W gemäß einem akademischen Schönheits-
ideal willkürlich zu verbessern nicht hat unterlassen können.
Von den übrigen Pentimenti erlaubte ich mir schon zu sagen,
daß sie nach meinem Gefühl geistlos und roh seien. Aber noch
etwas anderes fällt an ihnen auf. Wer so viel Zeit und Mühe auf
den bildmäßigen Effekt seiner Arbeit verwendet, wie der Zeichner
von W, dem müßte es ein leichtes gewesen sein, die im ersten
Griff falsch geratenen Umrisse wegzuwischen; anstatt dessen
läßt er sie geradezu aufdringlich in die Augen springen, und was
das Bedenklichste ist, an mehreren Stellen (z. B. an der dem Petrus
gehörenden Hand auf dem Blatt mit Johannes) (Taf. 18) tritt
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 13
[194]Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
deutlich zutage, daß das Pentimento nicht unter, sondern
sinnwidrig über der definitiven Form liegt.


So legen diese verräterischen Pentimenti, gewiß sehr gegen
den Willen ihres Urhebers, dasselbe Zeugnis ab, das wir aus dem
Vergleich der zeichnerischen Behandlung schon entnahmen, und
wir werden unser Urteil jetzt so zusammenfassen dürfen: Original
von der Hand Lionardos ist weder das Weimarer noch das Straß-
burger Exemplar, vielmehr sind beide Exemplare Kopien, das
Straßburger eine alte, wohl dem Original annähernd gleichzeitige
Kopie, das Weimarer eine moderne Kopie zweiter Hand. Er-
innert man sich, daß beide aus England stammen, so liegt die
Vermutung nicht weit, daß bei der Teilung des alten Exemplares
zwischen die zwei ungenannten Maler derjenige von ihnen, der
sich mit dem kleineren Teil begnügen mußte, die übrigen nach-
gezeichnet habe; ob bona oder mala fide, bleibt eine ziemlich
gleichgültige Frage.


Ein eigentümliches Interesse knüpft sich noch an den Straß-
burger Christuskopf (Taf. 19). Er ist bartlos, im Unterschied zum
Original in S. Maria delle Grazie und zu allen sonstigen Kopien, im
Widerspruch auch mit der ikonographischen Regel. Denken wir
dann noch an die Überlieferung, von der sowohl Vasari als Lomazzo
Kenntnis hatten, che quella (testa) del Cristo lasciò imperfetta,
non pensando poterle dare quella divinità celeste, che all' imagine
di Cristo si richiede — so erklärt sich daraus der Zustand der
Straßburger Kopie aufs beste. Der Kopf ist unfertig, nicht bloß
insofern ihm der Bart fehlt, sondern es scheint die ganze untere
Hälfte des Gesichtes noch nicht in der rechten Ordnung zu sein.
Wann der Bart hinzugefügt wurde, ob etwa von Lionardo selbst
bei seinem zweiten Aufenthalt in Mailand, oder ob vielleicht gar
von anderer Hand, das entzieht sich der Beantwortung.


Nun bleibt noch die Frage übrig: wer ist der Urheber der
Straßburger Kartons? Ich hoffe, daß sich auch darauf eine Ant-
wort wird geben lassen; allerdings nur von einem, der die sämt-
lichen bedeutenderen Kopien genau kennt. Meine Bemühungen
um photographische Reproduktionen derselben sind großenteils
erfolglos geblieben. Mich in unbestimmten Vermutungen zu
[195]Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
ergehen, wäre aber zwecklos. Nur so viel möchte ich sagen, daß
wohl in erster Linie Boltraffio in Frage kommen wird. Ihm schreibt
man jetzt die große Londoner Kopie zu und ebenso die beiden,
offiziell den Namen Lionardos führenden Porträtzeichnungen der
Ambrosiana (Nr. 260, 261), die, sofern meine Erinnerung mich
nicht trügt, in der zeichnerischen Behandlung den Straßburger
Kartons ähnlich genug sind. Wie immer hierüber das schließliche
Urteil ausfallen mag, daran wird es, wie ich glaube, nichts ändern,
daß das Straßburger Exemplar die älteste, unmittelbarste, treueste
Wiedergabe von Lionardos Abendmahl ist, die wir bis jetzt kennen,
unschätzbar, nachdem das Wandbild in Mailand in einen Zustand
geraten ist, der ihm auf den Namen Original nur noch sehr un-
eigentlichen Anspruch gibt.



13*
[[196]][]
[figure]
Figure 17. Weimar: Petrus
[figure]
Figure 18. Straßburg: Petrus

[][]
[figure]
Figure 19. Museum zu Straßburg: Jacobus

[][]
[figure]
Figure 20. Museum in Straßburg: Andreas

[]
[]
[figure]
Figure 21. Judas
[figure]
Figure 22. Johannes

[][]
[figure]
Figure 23. Museum in Straßburg: Christus
[][[197]]

ZUR GESCHICHTE
DER BUCHSTABEN-
REFORM IN DER
RENAISSANCE


1880


[[198]][[199]]

Es ist bekanntlich das Zeitalter der Renaissance, das
uns — ein Seitenstück im kleinen zu so vielen gro-
ßen auf halbem Wege erlahmten Reformbestrebungen
und den daraus zurückbleibenden Spaltungen im
geistigen Leben — die fatale Doppelwährung im
Bereiche der Schriftzeichen hinterlassen hat, die wir Deutschen,
scheint es, sobald noch nicht überwunden haben werden. Wie es
unter den Zeichen der Zeit kein solches ist, auf das wir stolz sein
dürften, daß unser viellesendes Geschlecht in dem alten Pro-
zesse zwischen »deutscher« und »lateinischer« Schrift gerade für
die Schönheitsfrage am wenigsten Teilnahme zeigt: so war es ganz
echt aus der Gesinnung der Renaissance gedacht, daß damals die
erlesensten Geister, Vertreter der Altertumswissenschaft, der bil-
denden Kunst, der Mathematik, ihre Bemühungen vereinigten als
zu einer großen und würdigen Aufgabe: — die Gestalt der Buch-
staben so zu reformieren, daß sie nach jeder der genannten Richtungen
für vollkommen gelten mußten. — Ein bislang unbeachtet geblie-
benes Denkmal dieser Bestrebungen fand ich in einem Manuskripte
der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, cod. lat. 451 40.


Es ist gleich ein willkommener Umstand, daß wir die Persön-
lichkeit, wo nicht des Verfassers, so doch des Schreibers, feststellen
können. Herr Bibliotheksekretär Dr. Wilhelm Meyer erkannte in
den sauberen Schriftzügen die Hand eines in der Geschichte des
deutschen Humanismus und neuerlich auch in der kunstgeschicht-
lichen Forschung öfters genannten Mannes, des Nürnberger Stadt-
physikus Hartmann Schedel; nach Ablösung des später ein-
geklebten Schmutzblattes kam auf der Innenseite des Deckels
überdies sein Name zum Vorschein. Wer die Art dieses mit unglaub-
licher Emsigkeit sammelnden und abschreibenden, selber aber durch-
aus unfruchtbaren Gelehrten aus seinem reichen Handschriften-
nachlaß kennen gelernt hat, wird von vornherein überzeugt sein,
daß er auch in bezug auf dieses Buch nur Kopist, nicht Autor ist.
Ich lasse in Kürze die Beschreibung folgen.


Der Einbanddeckel, noch der ursprüngliche, trägt die Auf-
schrift »ars litteraria«. Die ersten drei Blätter fehlen und sind
wohl überhaupt unbeschrieben geblieben. Auf Fol. 4 beginnt ein
[200]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
Brief des Johannes Lascaris an Piero de Medici (»Cum graecas
litteras etc.«) über die Notwendigkeit, der wiederhergestellten
griechischen und lateinischen Literatur nun auch die alte, echte,
edle Gestalt ihrer Schriftzeichen wiederzugeben. Die Epistel um-
faßte zehn Blätter, wovon jedoch nur das erste unversehrt geblieben,
die übrigen aber ausgeschnitten sind. — Mit Fol. 14 beginnt der
Traktat, auf den der Titel »ars litteraria« in vorzugsweisem Sinne
sich bezieht. Nach einigen einleitenden Sätzen (»Litteras antiquae
formae deducturus, quas plerique majusculas appellant« etc.)
kommen die ausführlichen Vorschriften für die Konstruktion
der einzelnen Buchstaben, zunächst der römischen Kapitale;
erläuternde Figuren sind jedesmal beigezeichnet; Fol. 32—40
gibt das griechische, Fol. 46—53 das hebräische Alphabet, diese
beiden nur in Zeichnungen, ohne Text. Nach einigen leeren Blät-
tern ist dann der ganze Traktat noch einmal wiederholt, Wort
für Wort unverändert, mit der gleichen unermüdeten kalligraphi-
schen Sorgfalt — eine Leistung des fast zur Manie gewordenen
Abschreibefleißes, dergleichen in den Schedelschen Handschriften
mehrfach zu finden ist. Da die dicke Papierlage hiermit aber noch
immer nicht aufgebraucht war, so sind die übriggebliebenen Blätter
nach und nach, wie der Zufall es brachte, mit Mustern der in Deutsch-
land damals noch die Alleinherrschaft genießenden »Textur«
ausgefüllt, teils mit der Hand eingezeichnete Alphabete, teils ein-
geklebte Holzschnitte und Kupferstiche1), alles ohne erklärende
Beischriften. — Aus dem, wie man deutlich erkennt, allmählichem
Anwachsen des Kodex ist zu schließen, daß die erste Eintragung
mehr oder minder lange Zeit vor 1514, d. i. dem Todesjahre Schedels,
gemacht sein müsse; anderseits die Grenze nach rückwärts ergibt
sich aus der Epistel des Lascaris, wie sich gleich zeigen wird.


Deren arge Verstümmelung in unserem Kodex ist nämlich ein
wohl zu verschmerzender Verlust. Ich habe gefunden, daß sie an
einem anderen Orte vollständig überliefert ist, als Beilage zu einigen,
[201]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
allerdings ganz wenigen Exemplaren — ich kenne das Pariser —
von Lascaris' Ausgabe der griechischen Anthologie, Florentiae
per Laurentium Francisci de Alopa 1494. Die nächste Frage ist:
war es Schedels eigener Einfall, des Lascaris Epistel, besser gesagt
in Epistelform eingekleidete Abhandlung, mit der »ars litteraria«,
ihrer inhaltlichen Verwandtschaft wegen, zusammenzustellen?
oder hat er die beiden Stücke in dieser Verbindung schon vor-
gefunden? Wer die Unselbständigkeit der ehrlichen Schreiber-
seele an seinen anderen Produkten beobachtet hat, wird eher das
letztere zu glauben geneigt sein; woraus ich jedoch keineswegs
die Annahme ableiten möchte, daß Lascaris nun auch der Verfasser
des zweiten Stückes sei. Ich wage in diesem Punkt vorerst nicht
einmal eine Vermutung. Immerhin ist ein ideeller Zusammenhang
vorhanden. Denn was der Unbekannte lehrt, ist tatsächlich die
praktische Lösung der von Lascaris theoretisch gestellten und be-
gründeten Forderungen. Hören wir zunächst die letzteren. —
»Nachdem die griechischen Studien,« sagt Lascaris, »gleich den la-
teinischen aus dem tiefen Schlafe, in dem sie durch lange Zeit be-
fangen waren, nun erwacht seien und man auf ihre Wiedergeburt
zum alten Glanze und Werte vertrauen dürfe, glaube er etwas seinem
Berufe nicht Fremdes begonnen zu haben, indem er, zumal im Hin-
blick auf die neue den wissenschaftlichen Studien so nützliche
Kunst des Buchdruckes, bei sich beschloß, die Form der grie-
chischen Schriftzeichen von den eingeschlichenen überaus häß-
lichen und unwürdigen Verunstaltungen zu befreien. Auch habe
er bemerkt, daß die bisher üblichen krausen und gewundenen Zeichen
sowohl für das Formen als für das Setzen äußerst unbequem seien,
und habe deshalb die Drucker die von ihm selbst sorgfältig erforsch-
ten alten und echten Charaktere nachzubilden angewiesen.« So-
dann wendet er sich persönlich an seinen Gönner Piero de' Medici.
Er ruft ihn an, dafür einzutreten, daß alle künftig unter seinem
Schutze zu edierenden Druckwerke in dieser von der alten Bar-
barei gereinigten Gestalt ans Licht treten möchten. Niemand aber
solle sagen dürfen, daß es sich um eine willkürliche Neuerung handle.
Es habe bei den alten Griechen ursprünglich nur eine Schrift ge-
geben; eben derselben hätten sich im Anfang auch die Römer be-
[202]
Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
dient, ja sie sei zu den verschiedensten Nationen, als Kolonistin
gleichsam, ausgewandert. Erst im Verlaufe der Zeiten habe sie sich
in eine Mehrheit von Gattungen gespalten, sie sei entstellt und
barbarisiert worden. Dies habe dann verschuldet, daß fast in allen
griechischen wie lateinischen Codices schlimmste Verderbnis der
Lesart Platz gegriffen. Nur der bare Unverstand könne jetzt,
wo man zum Verfahren des Druckes überginge, die korrumpierten,
häßlichen, verworrenen Lettern beibehalten wollen, da doch die
alten und echten in ihrer Einfachheit, Schönheit und Majestät
soviel leichter zu formen und wegen ihrer gleichen Höhe soviel
bequemer zusammenzusetzen sind. O daß man doch die Hand der
Drucker dazu zu zwingen vermöchte! . . . .« Nun folgen Aus-
einandersetzungen über die einzelnen Buchstaben, eine ziemlich
wüste Gelehrsamkeit, mit der ich den Leser nicht behelligen
möchte. Das bemerkenswerte ist, daß neben dem antiqua-
rischen das Schönheitsinteresse mit Nachdruck zu Worte kommt,
und daß mit der Realisierung der verkündeten Grundsätze
gleich Ernst gemacht wird. Das ganze Buch, der griechische
Epigrammentext wie die lateinische Epistel, ist durchweg in
Kapitalen gedruckt, ohne Vergleich die bis dahin glänzendste
und nicht so bald übertroffene Leistung der jungen typographi-
schen Kunst.


Ich wende mich dem zweiten Traktate zu. Ob derselbe auf
Anregung von Lascaris' Sendschreiben entstanden ist oder sonst
irgendwie in positiver Beziehung dazu steht, kann, wie gesagt,
vorerst nicht beantwortet werden. Dagegen steht ein anderer Weg
der Untersuchung uns offen, ich meine die Vergleichung mit den
übrigen aus jener Zeit erhaltenen Lehrschriften verwandten Inhalts.
Von Schedel führt der nächste Gedanke auf seinen großen Mitbürger,
Freund und Nachbar Albrecht Dürer. Der den Buchstaben ge-
widmete Abschnitt in dessen Buch von der »Underweysung der
messung mit dem zirckel und richtscheyt« ist allbekannt. Wir wissen
jetzt, daß Dürer nicht, wofür er lange gegolten hatte, der erste über-
haupt auf dieser Bahn ist, sondern daß er, wie in den anderen,
so auch in diesem Teile seiner Kunstlehre die Arbeit seiner italieni-
schen Vorläufer nach Kräften sich zunutze gemacht hat. R. Schöne,
[203]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
der zuletzt über diesen Gegenstand gehandelt hat1), glaubt als
Dürers Quelle den entsprechenden Teil von Luca Paciolis, des be-
rühmten Mathematikers, »divina proportione« erkannt zu haben,
wie seinerseits Pacioli — nach Schöne — einen Traktat des als In-
schriftensammler bekannten Felix Felicianus benutzt hätte.
Diese Behauptungen, mit so gutem Schein sie ausgesprochen sind,
gehen dennoch auf falscher Fährte. Der Eintritt des Schedelschen
Anonymus in die Reihe der zu diskutierenden Schriften2) führt
zu einem wesentlich anderen Resultat, zu diesem nämlich: weder
hat Dürer aus Pacioli geschöpft, noch Pacioli aus Felicianus;
sondern die beiden ersteren gewiß, vielleicht auch der dritte,
haben ihren gemeinschaftlichen Meister in dem Unbekannten ge-
funden, dessen Werk durch Schedel — wir wissen nicht, ob
völlig getreu, jedenfalls aber getreuer als sonstwo — auf uns ge-
kommen ist.


Einleitungsweise bezeichnet der Anonymus das seinen Kon-
struktionen zugrunde liegende Prinzip folgendermaßen: »Litteras
antiquae formae deducturus, quas pleriquae majusculas appellant,
in primis altitudinem litterae formamque ipsius mente concipiat:
quod pro arbitrio fieri potest. Ex qua altitudine figurae quadrangu-
larem speciem designare debet. Hujus deinde quadri duodecima
pars vel decima aut etiam nona pro litterarum formatione venit
accipienda: secundum quod graciliorem vel crassiorem litterae
stipitem formare voluerit. Id quod in deducentis erit voluntate.
In characteribus autem infra pro exemplo designatis decimam
quadri partem accepimus.« Von Dürer wird dies so wiedergegeben:
»Zu dem ersten und Lateinischen bustaben mach zu einem
yetlichen ein rechte fierung, darein er verfasst werd, aber so du
den bustaben darein zeuchst so mach sein grösseren zug breyt
[204]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
ein zehenteyl von der fierung seiten lang, und den dünneren zug
mach eyns driteyls breyt von dem breyten, das merk durch alle
Bustaben durch das gantz abc.« Nachdem er das Alphabet nach
dieser Regel in großer Ausführlichkeit (auf 16 Seiten in Folio)
durchgearbeitet hat, bemerkt er, man könne die Buchstaben auch
von neun Teilen der Vierung machen, und solches besser zu ver-
stehen, habe er danach die Buchstaben noch einmal aufgerissen:
es folgen demgemäß die Figuren, doch keine Erläuterung mehr.
Betrachten wir daraufhin weiter Felicianus und Pacioli, so fehlen
bei diesen die einleitenden allgemeinen Grundsätze: sie geben ihr
Rezept für jede Letter einzeln, und zwar konstruiert Felicianus
immer aus ⅒ (also übereinstimmend mit dem Anonymus), da-
gegen Pacioli, um sich einen Schein von Selbständigkeit zu geben,
aus ⅑, jedoch ohne für diese Wahl einen Grund anzugeben. Wir
werden später sehen, daß diese Nichtberücksichtigung der Dezimal-
teilung bei den Fachgenossen Tadel fand. — Um das oben statuierte
Verhältnis von Quelle und Ableitung anschaulicher zu machen,
will ich Proben der vier Fassungen nebeneinander stellen und wähle
dafür, wegen seiner verhältnismäßig einfach behandelten Kon-
struktion, den Buchstaben C.


Anon. Schedel:


Hujus litterae figura sic deduci
potest. Formato quadro factaque
cruce ab angularibus lineis deducitur
alia linea per centrum, duorum sti-
pitum spatio ab angulis. In qua
ab utroque latere centri duo fi-
genda sunt puncta. Ex quibus
litterae ventriculus formatur: qui
crassitudinis majoris stipitis tumet.
Cetera autem rotunditas ab utroque
latere ventriculi paulatim minuitur
ad tertiam usque partem majoris
stipitis. Cornua autem sive capita
hujus elementi terminantur prope
lineam perpendicularem quadri a
dextera, spatio majoris stipitis. Cum
autem hujus figurae rotunditas ex
uno centro circumduci non possit,
frequenter mutandum est centrum.
Ita tamen quod terciam stipitis par-
tem non excedat. Quemadmodum
in figura subscripta cernere licet.


NB. Die erläuternden Buchstaben
sind am Schedelschen Original nicht
vorhanden, sondern von mir ein-
gesetzt.


Figure 24. Anon. Schedel:

[figure]
Figure 25. Felicianus:

[figure]
[205]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance

Felicianus:


Sappi la presente littera non
passar di grosseza lordine de laltre
littere, cioe uno decimo, et in-
grosso dentro e di fuore la sua cir-
conferentia come tu vedi, ne vol
passar le sue teste dove si crea la
linia che si taglia col tondo et quadro,
salvo che quella di sotto passa piu
oltre, come tu vedi.


Pacioli:


Questa littera c se cava del tondo
e del suo quadro ingrossando la
quarta parte de fore e ancora de
dentro. La testa de sopra finesci
sopra la croci del diametro e circon-
ferentia. Quella de sotto passando
la croci mezo nono a presso la
costa del quadrato comme appare in
la figura e caase comme uno O.


Dürer:


Darnach mach das c also in sein
fierung. Zeuch ein zwerchlini e f
mitten durch die fierung und setz
ein punkten i mitten auf die lini e f,
darauss reyss ein circkelriss, der die
vier seyten der fierung a b c d anrür.
Darnach setz den unverruckten cirkel
auf der lini e f so weyt hinder das
i so breyt des bustaben grösser strich
ist in einem punkten k und reyss
auch einen circkelriss mit herumb,
der streicht uber di lini b d und
gibt foren dem bustaben in der
rundung sein rechte dicken. Dar-
nach reyss ein aufrechte lini g h, ein
zehenteyl von b d herfür. Diser strich
schneidet ab oben und unden disen
bustaben c, wie das die alten ge-
braucht haben. Aber hie will ich
das under im mittel zwischen g h
und b d abschneyden. Darnach
zeuch innerhalb des bustaben von
der hand oben und unden, da die
zwen circkel durch einander lauffen,
die runden des dünneren strichs am
bustaben folkomen, und zeuch auch
an den selben orten die rundung
ob und underhalb des bustaben
an die seyten der fierung a b und
d c. Aber unden, da der bustab g h
furdrit, da zeuch die gestalt des
bustaben under der circkellini ein
wenig eingebogner, und das er doch
pey der spitz mit seinem end die
circkellini weyter rür. Des gleychen
nimm das ober teyl inwendig auch
ein wenig holer auss, dann das der
circkelriss gibt, also geben die zwo
circkellini schier alle Gestalt des
bustaben. Wie ich denn hernach
hab aufgerissen.


Figure 26. Dürer:

[figure]
Figure 27. Pacioli:

[figure]

Als Resultat der durchgeführten Vergleichung erweist sich,
was zunächst Dürer betrifft, sein Text als freie Umarbeitung
des Schedelschen; trotz mancher sachlichen Abweichungen ist
selbst noch in der Anordnung und in der Wahl der Worte der Ein-
[206]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
fluß der Vorlage zu erkennen; über die Zeichnungen später. Sehr
sonderbar auf den ersten Blick erscheint dagegen das Verhältnis
zwischen der Schedelschen Version und Pacioli: Schedel verweist
überall auf Hilfspunkte und -linien, nach denen man in seiner
Zeichnung vergeblich sucht; und umgekehrt Pacioli gibt die kom-
pliziertesten Konstruktionen, ohne daß ihr Zweck aus seinen kurzen
Anmerkungen ersichtlich würde: ein verständliches Ganzes erhalten
wir erst durch die wechselseitige Zuhilfenahme des Textes von jenem,
der Figuren von diesem. Beide zusammengenommen ergeben die
mutmaßliche Gestalt des Archytypus. Für die Richtigkeit dieses
Fazits liefert der Vergleich mit Dürer die Probe. Während die Be-
schaffenheit seines Textes die Möglichkeit ausschließt, daß er aus
Pacioli geschöpft habe, beweist anderseits, verglichen mit Schedel,
die größere Vollständigkeit seiner Konstruktionen und deren re-
lative Ähnlichkeit mit den Paciolischen, daß ein der Urschrift näher-
stehendes Exemplar, und zwar eben in der von uns angenommenen
Gestalt, ihm vorgelegen haben muß. Er hat seine Quelle voll-
ständiger ausgenutzt wie die beiden anderen, und doch zugleich
mit größerer Selbständigkeit; namentlich geht sein Bestreben
auf Vereinfachung des unnötig komplizierten Konstruktions-
verfahrens. Man betrachte z. B. die oben mitgeteilte Littera c.
Die Diagonalen m n und p q, welche nach dem Schedel-Pacioli-
schen Schema außerdem noch für die Buchstaben D, G, O, Q in
Anwendung kommen, hat er in allen diesen Fällen ausfallen lassen;
andere Abweichungen kann ich ohne Zeichnung nicht deutlich
machen. Dagegen ist es bei Pacioli bloße Vergeßlichkeit, daß er die
Linie g h wegläßt, denn sie wird durch den Konstruktionsgedanken
gefordert. — Um auch dieses schließlich nicht unbemerkt zu lassen:
Pacioli gibt nur das lateinische Alphabet, Schedel dazu noch das
griechische und hebräische. In dem Widmungsbrief an seine
Schüler aber nimmt Pacioli ausdrücklich auch auf die beiden letz-
teren Bezug, woraus wieder der Schluß auf den Archytyp sich
von selbst ergibt.


Viel schwerer als bei den bisher betrachteten ist es, über den
Ursprung von Felicianos Schrift eine Ansicht zu gewinnen. Er
bezeichnet das »cavare la littera di tondo e quadro« als eine »usanza
[207]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
antiqua«; durch Messung vieler Steininschriften in Rom habe er
deren Richtigkeit erprobt. Nun versucht er aber gar nicht ihre
Anwendung, sondern die Schriftmuster, die er gibt, sind einfach
Kopien nach antiken Inschriftsteinen, durch die Facettierung
noch deutlich auf diesen empirischen Ursprung hinweisend. Hier-
nach scheint mir, daß Feliciano, da von direkter Benutzung der
für Pacioli und Dürer maßgebend gewordenen Schrift nichts
sichtbar wird, von dem Prinzipe des tondo e quadro durch irgend-
eine Mittelsperson zwar Nachricht erhalten hat, aber nur in un-
bestimmten Umrissen. — —


Im zweiten und vollends im dritten Viertel des 16. Jahrhun-
derts treten die Anweisungen zur Formung der Lettern sehr zahl-
reich auf dem Büchermarkte auf. Vornehmlich auf Brauchbarkeit
in der Praxis der Kalligraphen, Schriftgießer, Steinmetzen usw.
ausgehend, bieten sie doch manches Interessante zur Kenntnis der
allgemeinen Kunstanschauung ihrer Zeit, so z. B. die Einschachte-
lung in die fünf Säulenordnungen1). Bei weitem das merkwürdigste
Spezimen dieser Literatur ist der in Paris 1529, in zweiter Auflage
1549 erschienene »Champ Fleury, auquel est contenu l'art et
science de la deve et vraye proportion des lettres Attiques qu'on
dit autrement Antiques et vulgairement Romaines, selon le corps
et visage humain etc. etc. par maistre Geoffroy Tory de Bour-
ges
«. Unter einer Anhäufung abstrusester Gelehrsamkeit und phan-
tasievoll-unsinniger Symbolik bietet das wunderliche, seinerzeit
hochgeschätzte Buch manchen guten Gedanken, manche dem
Historiker willkommene Notiz. Darunter fand ich eine, welche,
nach langem vergeblichen Suchen zu angenehmster Überraschung,
die obigen Erörterungen in ein neues Licht rückt, ihnen ein weiter-
reichendes Interesse verleiht, als nach dem bisherigen zu erwarten
war. Es ist die Stelle Fol. 27: »Frere Lucas Paciol de bourg sainct
Sepulchre, de l'ordre des freres mineurs et Theologien, qui a faict
[208]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
en vulgar Italien un livre intitulé Divina proportione, et qui a
voulu figurer lesdictes lettres Attiques, n'en a point aussi parlé
ne baillé raison: et je ne m'en esbays point, car j'ay ententu
par aulcuns Italiens qu'il a desrobé sesdictes lettres, et
prinses de feu messire Leonard Vince
, qui est trespassé à
Amboise et estait tresexcellent Philosophe et admirable painctre
et quasi un aultre Archimedes. Cedict frere Lucas a faict imprimer
ses lettres Attiques comme siennes. De vray, elles peuvent bien
estre à luy, car il ne les a pas faictes en leur deve proportion.«
Und weiter Fol. 71v: ... qu'A veult avoir sa jambe droite grosse
de la dixiesme partie de sa hauteur ... et non pas de la neufi-
eusme partie, comme dict frere Lucas Paciolus ... J'ay entendu
que tout ce qu'il en a faict il a prins secretement de feu messire
Leonard Vince, qui estait grand Mathemacien, paintre et imageur.«


Maistre Tory zeigt sich in seinem Buche mit Vitruv und dessen
italienischen Auslegern wohlvertraut; er hatte während eines zwei-
maligen Aufenthaltes in Italien, namentlich in Rom und Bologna,
grammatische, antiquarische und artistische Studien betrieben,
bevor er sich, im Jahr 1518, in Paris niederließ; mithin ist er ein
der Zeit und den Personen unmittelbar nahestehender Gewährs-
mann, und seine gegen Pacioli erhobene Anklage wird, wäre es nötig,
dadurch noch glaubwürdiger, daß Fra Luca jüngst schon eines
ähnlichen plagiatorischen Vergehens, an einem anderen Freunde
verübt, unwiderleglich überwiesen ist. Es handelt sich um den gleich-
falls der Divina proportione angehängten »libellus de quinque
corporibus regularibus«. Da hat nun die Behauptung Vasaris
und Dantis, er habe diese von seinem Lehrer Piero della Francesca
herrührende Schrift betrügerischerweise unter seinem eigenen Namen
drucken lassen, lange zugunsten Lucas bestritten, durch Max
Jordans Entdeckung von Pieros Original in vollem Umfange
sich bewahrheitet. Und jetzt folgt auch der zweiten Anklage
der Beweis auf dem Fuße nach! Denn sollen wir mit dem Schlusse,
zu dem die Enthüllung Torys berechtigt, seitdem das Verhältnis Fra
Lucas zu dem hinter Schedel stehenden Unbekannten an den Tag ge-
kommen ist, ja logischerweise uns nötigt, noch länger zurückhalten?
Er kann nur lauten: dieser Unbekannte ist Lionardo da Vinci.


[209]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance

Allerdings ist die Sachlage hiermit noch keineswegs bis in alle
Einzelheiten aufgeklärt. Haben wir den Schedelschen Text als den
unmittelbaren Wortlaut von Lionardos Aufzeichnung zu betrachten?
In der lateinischen Fassung gewiß nicht. Zwar, ob dieselbe eine
bloße Übersetzung, ob eine tiefergehende Bearbeitung, darauf
würde nicht einmal viel ankommen. Wichtiger ist, ob und wie
Lascaris dazu in Beziehung zu denken sei? Eine solche voraus-
gesetzt, hat er, oder einer seiner humanistischen Genossen, die erste
Anregung gegeben, daß Lionardo die Lösung der Aufgabe in die Hand
nahm? oder hat er nur die uns vorliegende spätere Redaktion ver-
anlaßt? Weiter: welche Stelle und Bedeutung hat die ars litteraria
in dem Zusammenklang der universalen Spekulationen des großen
Künstler-Gelehrten? ... Alle diese Fragen müssen offen bleiben,
bis der literarische Nachlaß Lionardos vollständig zusammenge-
bracht und durch den Druck zugänglich gemacht sein wird. Mit
aller Zuversicht aber getraue ich mir schon jetzt anzugeben, und das
ist schließlich das Wichtigste, auf welchem Wege Lionardo zu den
Normen seiner Letternkonstruktion gekommen ist. Durch Vitruv.
Und zwar durch die beiden Sätze im ersten Kapitel des dritten
Buches: daß der Körper des Menschen seiner Länge nach in zehn
Teile zerlegt werden kann, wofür die Einheit in der Gesichtslänge
vom Kinn bis zum Haaransatz zu finden sei; sodann daß die mensch-
liche Gestalt, mit ausgespreiteten Armen und Beinen gedacht,
sowohl in einen Kreis als in ein Quadrat sich einschreiben lasse;
dem Gliederungsgesetze der menschlichen Gestalt aber sollen die
Maßverhältnisse eines Bauwerkes entsprechen (namque non potest
aedes ulla sine symmetria atque proportione rationem habere
compositionis, nisi ut ad hominis bene figurati membrorum habuerit
exactam rationem). — Diese Analogie einmal anerkannt — und
man weiß, wie sehr sie den italienischen Theoretikern, von L.
B. Alberti ab, behagt hat — war es für Lionardo ein durch-
aus angemessener Gedanke, die Figuration der Buchstaben dem-
selben Gesetze zu unterstellen, in dem richtigen Gefühle, daß Schreib-
kunst und Baukunst von Grund aus Verwandte seien. Abgesehen
von der schlagenden Übereinstimmung der angewandten Prin-
zipien, wissen wir durch Luca Pacioli, daß Lionardo sich ernstlich
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 14
[210]Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
mit Vitruvstudien abgegeben hat; ja es ist sogar noch ein Notiz-
blatt von ihm erhalten, auf dem er eben die zwei in Rede stehenden
Vitruvischen Sätze durch Figuren exemplifiziert hat1). Dieselben
sind, in Holzschnitt, in die Vitruvausgaben des Fra Giocondo
(Venedig 1511 Fol., Florenz 1513 80) und des Cesariano (Como
1521) übergegangen; wobei nicht unbemerkt bleiben soll, daß in
der erstgenannten Ausgabe auch die Initialen genau nach Lio-
nardoscher Vorschrift gebildet sind; vgl. z. B. gleich auf der ersten
Seite die charakteristische Gestalt des A. Vielleicht war es auch
Fra Giocondo, durch den Feliciano, gleich jenem ein Veroneser,
von der Sache Kenntnis erhalten hat.


Jedenfalls sehen wir, daß im ersten Jahrzehnt des 16. Jahr-
hunderts, nach Auflösung der Mailänder »Akademie«, abgerissene
Bruchstücke Lionardoscher Lehren in Oberitalien hier und da ver-
breitet waren. Auf welchem Wege aber ist das von Schedel ko-
pierte Stück nach Nürnberg gekommen? Ich glaube am ehesten:
Dürer selbst hat es aus Italien mitgebracht. Und so werden wir
wieder einmal auf die Frage hingedrängt: mit welchen von den ehe-
maligen Angehörigen des Lionardoschen Kreises ist Dürer dort
in Berührung gekommen? wieviel hat er durch Vermittlung dieser
von der Wissenschaft des großen Kunst- und Gesinnungsgenossen
erkundet und in sich aufgenommen? Eine Anzahl sehr bestimmt
auf solche Beziehungen hinweisender Indizien hat sein jüngster
Biograph zusammengestellt; aber wenn Thausing hier den Namen
des Luca Pacioli nannte, so sehen wir jetzt, daß diese Hypothese
zwar nicht geradezu unmöglich gemacht, aber doch ihres einzigen
positiven Stützpunktes beraubt ist. —


Es ist kein erfreuliches Ding, eine Untersuchung mit einer ganzen
Reihe von Fragezeichen zu beschließen. Allein ich sehe mich für
jetzt und wohl für längere Zeit außerstande, die Sache weiter zu
verfolgen. Darum habe ich die Resultate, die sich mir aus dem
Schedelschen Codex ergaben, so unvollständig sie sind, den Arbeits-
genossen doch mitteilen wollen, in der Hoffnung, daß der eine oder
der andere von ihnen im Zusammenhange reicheren Materials
sie wird verwerten können.

[[211]]

DIE RIVALITÄT
ZWISCHEN
RAPHAEL UND
MICHELANGELO


1885


14*
[[212]]
[[213]]

Vasari schreibt im Leben Raphaels: »Raphael hatte
zu dieser Zeit in Rom großen Ruhm erworben;
und obschon er einen edlen, allgemein für schön
geltenden Stil besaß und so viele Antiken in jener
Stadt gesehen hatte, die er unermüdlich stu-
dierte, so hatte er darum doch seinen Gestalten noch nicht
eine gewisse Größe und Majestät gegeben, die er ihnen von
nun an gab. Es geschah nämlich zu dieser Zeit, daß Michel-
angelo dem Papst in der Kapelle jenen Skandal und den Schrecken
bereitete, durch den er genötigt wurde, nach Florenz zu flüchten;
daher ließ Bramante, der den Schlüssel der Kapelle hatte, seinen
Freund Raphael sie sehen, damit er die Manier Michelangelos
in sich aufnehmen möchte. Dieser Anblick bewirkte, daß Raphael
in Sant' Agostino in Rom den Propheten Jesaias, den man dort
über der heiligen Anna von Sansovino sieht und den er bereits
vollendet hatte, sogleich neu machte; in diesem Werk verbesserte
und vergrößerte er seinen Stil über die Maßen mit Hilfe der Werke
Michelangelos, die er gesehen hatte, und gab ihnen mehr Majestät;
daher dachte Michelangelo dann beim Anblick des Werkes von Ra-
phael, daß Bramante ihm, wie es ja wirklich der Fall war, diesen
Schaden bereitet hatte, um Raphael Nutzen und Ehre zu verschaffen.


Sicher paßt diese häßliche Geschichte, die Raphael rundweg
einen geistigen Diebstahl vorwirft, schlecht zu dem sonst von Vasari
einheitlich licht gestimmtem Charakterbilde des »göttlichen«
Urbinaten. Die neueren Raphaelbiographen pflegen deshalb
mit kurzer Erwähnung über sie wegzugehen. Sind wir aber be-
rechtigt, uns so leichthin ihrer zu entledigen? Sie ist kein ano-
nymer Klatsch: Vasari deutet in den Schlußworten sehr verständ-
lich an, woher er sie hat: von Michelangelo selbst, zum mindesten
aus dessen nächster Umgebung. Daß Michelangelo Raphael als
seinen Feind ansah, ist bekannt. Noch in einem zweiundzwanzig
Jahre nach dessen Tode geschriebenen Brief behauptet er, alle
Schwierigkeiten, die er mit dem Papste gehabt habe, seien ihm durch
Bramante und Raphael bereitet worden, und vom letzteren sagt
er wegwerfend: was er von seiner Kunst verstand, hatte er von mir.
Dies paßt genau zu Vasaris Erzählung. Wir werden dieselbe ernster
[214]Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
prüfen müssen, als bisher geschehen ist und leider mit der uner-
freulichen Aussicht, daß einer von beiden schlecht dabei fahren muß:
Raphael, wenn sie sich als wahr, Michelangelo, wenn sie sich als
erfunden erweist.


Ohne weiteres falsch ist es, wenn Vasari den hinterlistigen Ein-
bruch in die Kapelle in die Zeit von Michelangelos Flucht nach
Florenz verlegt. Damals (1506) war Raphael noch nicht in Rom
und hatte Michelangelo in der Sistina zu malen noch nicht begonnen.
Aber allerdings lag der Ursprung der Feindschaft mit Bramante
in jener Zeit: die Grundsteinlegung zur neuen Peterskirche brachte
das Juliusdenkmal zu Fall. Ist also die Kombination falsch, ob
durch Vasaris eigene Schuld oder die seines Gewährsmannes, in dem
Kern der Geschichte könnte immerhin etwas Wahres sein. Vergessen
wir nicht: Michelangelo selbst hat in seinem Alter an sie geglaubt.
Da uns in der äußeren Überlieferung weitere Kontrollmittel nicht
gegeben sind, wird es um so nötiger sein, das Corpus delicti, nämlich
das Bild in Sant' Agostino (Taf. 20), eingehend zu prüfen.


Der Prophet ist sitzend dargestellt, eine Schriftrolle in beiden
Händen; wie von einer plötzlichen Inspiration durchschauert
läßt er die Rolle halb sinken, wendet den Kopf nach der entgegen-
gesetzten Seite; den rechten Arm läßt er in erhobener Haltung
beharren, das linke Bein zieht er an, als wolle er im nächsten Augen-
blick emporschnellen: das Ganze ein durchaus im Sinne der plasti-
schen Kunst erfundenes Motiv. Als Begleiter zwei nackte Knaben,
auf den Seitenlehnen der Steinbank, stehend, mit erhobenen Armen
eine Inschriftentafel über dem Kopfe des Propheten haltend, eine
Laubgirlande von Schulter zu Schulter.


Der Eindruck, den das Bild auf uns macht, ist heute noch der-
selbe, den Vasari davon hatte: das ist nicht Raphaels, es ist Michel-
angelos Art! Seine Bedeutung wird durch den Hinweis A. Springers,
daß ein Anhänger Michelangelos, Daniele da Volterra, die erste
Restauration vorgenommen habe, nicht abgeschwächt, da Vasari das
Bild vor der Herstellung gesehen hat, welche erst unter Papst Paul IV.
(1555—59) vorgenommen wurde. In der Tat, von der Art der Zu-
sammenordnung des Propheten mit dem Paare knabenhafter Genien
bis zu der Durchbildung des Contraposto in der Bewegung der Haupt-
[215]Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
figur, der Gegenüberstellung des nackten linken Beines gegen das
unter Faltenmassen verschwindende rechte, der ganzen wuchtigen
Körperlichkeit des Mannes usw., setzt alles und jedes eindringende
Studien an der Decke der Sistina voraus. In dieser Tatsache als solcher
läge ja freilich noch nichts Befremdliches. Es gibt Zeugnisse genug,
daß Raphael von der Kunst seines Rivalen starke Eindrücke emp-
fangen und dieselben nichts weniger als verhehlt hat. In welchem
Geiste er sie reproduzierte, zeigen seine Sibyllen in S. Maria della
Pace, seine Schöpfungsbilder in den vatikanischen Loggien. Das ist
nun freilch ein anderer Geist, als der in S. Agostino gewaltet hat.
Hier ist die Nachahmung Michelangelos befangen und äußerlich,
wie sonst bei Raphael nirgends. Die begleitenden Genien z. B.,
auf den Sistinabildern jedesmal in innigstem Bezug zu der seelischen
Bewegung des Propheten (und so nicht minder die zu Raphaels
Sibyllen heranschwebenden Engel), sind hier doch zu bloß deko-
rativen Füllfiguren herabgesetzt. Nur in einem Augenblick, wo
gleichermaßen Selbstbewußtsein wie Selbstkritik ihn verlassen
hatten, konnte Raphael mit diesem Jesaias in den Wettkampf
einzutreten denken.


Ganz anders erzeigen sich die Knabengestalten, wenn wir sie
einzeln für sich betrachten. Suchten wir in allem bisher Betrach-
teten die bekannten künstlerischen Charakterzüge Raphaels um-
sonst wiederzufinden, so sind sie allerdings hier von so echt raphaeli-
schem Geblüt als nur ihr Bruder auf der Madonna Foligno oder
sonst einer aus dieser reizenden Schar. Anstatt aber hierin die ge-
forderte Bekräftigung für die Angabe Vasaris zu finden, sehen wir
nur neue Zweifel rege werden. Der Putto der linken Bildseite hat
nämlich auf dem jetzt in der Akademie S. Luca zu Rom aufbewahr-
ten Fragmente eines anderen, gleichfalls Raphaels Namen tragenden
Freskogemäldes (Taf. 21) einen Doppelgänger, der ihm völligst,
bis auf die letzte Haarlocke, gleichsieht. Mit zuversichtlichster
Bestimmtheit dürfen wir behaupten, daß eine derartig mechaische
Selbstwiederholung bei Raphael ein Ding der Unmöglichkeit ist1)
[216]Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
und wir stehen somit unausweichlich vor der Alternative: eines
von den beiden Bildern muß eine ohne Zutun Raphaels zustande-
gekommene Kopie sein.


Leider befindet sich das zweite Exemplar in kaum minder
verderbtem Zustande wie das erste. Bei der Untersuchung der
Originalität kann es sich also auch hier nur um die Komposition,
nicht um die Ausführung handeln.


Der Putto der Akademie gehörte ursprünglich, mit einem zweiten
Genossen, zu einem gemalten Wappenschilde des Papstes Julius II.
in einem Zimmer des vatikanischen Palastes, von dessen Wand beide
gelegentlich baulicher Veränderungen im vorigen Jahrhundert
abgesägt wurden. Der andere kam nach England und ist in diesem
schon für so viele Kunstschätze verderblich gewordenen Abgrunde
verschwunden; wahrscheinlich wird er mit dem Putto rechts
auf dem Jesaiasbilde in gleicher Weise übereingestimmt haben,
wie sein Partner mit dem linken1). Man sieht also: bei völlig gleicher
Körperbildung und Haltung ist die den Zwillingsbrüdern zuge-
wiesene körperliche Funktion nicht ebenso die gleiche: das einemal
dient der erhobene linke Arm zur lässig-bequemen Anlehnung an
den auf dem Boden feststehend gedachten Wappenschild, das
anderemal hält er die Inschrifttafel schwebend über dem Haupte
des Propheten (vgl. die beistehende Abbildung). Da somit Last und
Widerstand in beiden Fällen ganz verschieden verteilt sind kann
das Bewegungsmotiv nur in einem von ihnen richtig und natür-
lich dargestellt sein. Niemand, denke ich, wird dem Exemplar
der Akademie diesen Vorzug einzuräumen zögern.


Und damit wäre eigentlich auch schon die Ursprünglichkeits-
frage entschieden.


Indessen wollen wir nicht unterlassen, uns nach weiteren Kon-
trollmitteln umzusehen, und versuchen zuerst die chronologischen.
1)
[217]Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
— Für die Entstehung des Wappens haben wir den sicheren ter-
minus ad quem
in dem Todesdatum des Papstes, 20. Februar 1513;
für die Entstehung des Jesaias hinwieder den terminus a quo in
der Aufstellung der Gruppe Sansovinos im Jahre 1512. Das Fresko
ist inhaltlich — wovon unten noch mehr — eine theologische Er-
läuterung zur Gruppe; es kann nicht vor 1512 ausgeführt sein,
wohl aber vielleicht später. Und nach der Version Vasaris muß
es sogar später ausgeführt sein. Denn danach hätte Raphael
seine erste Darstellung zerstört, um eine neue, in michelangelesker
Majestät, an ihre Stelle zu setzen, was erst nach 1512 oder aller-
frühestens ganz am Ende dieses Jahres geschehen sein könnte.
Um diese Zeit aber hätte Raphael es gar nicht mehr nötig gehabt,
auf Schleichwegen in die Sistina einzudringen. Die Decke war am
Allerseelentage 1512 enthüllt worden und publiei juris geworden.
Wenn nun, was bisher allgemein angenommen wurde (zuletzt
noch von Springer), der Putto des Papstwappens eine Kopie nach
dem Putto von S. Agostino wäre, so bliebe für seine Ausführung
— wie wir gesehen haben, muß das Wappen allerspätestens im
Februar 1513 fertig gewesen sein — überhaupt keine Zeit mehr.
Das Ergebnis der chronologischen Untersuchung deckt sich also
mit dem der stilistischen: das Wappen ist früher gemalt als der
Jesaias.


Das Jesaiasbild ist die Stiftung eines weniger durch vornehme
Stellung als durch seine Beziehungen zum Humanistenkreise wohl-
bekannten Kurialen, Johann Goritz aus Luxemburg. Doch war
es ursprünglich kein selbstständiges Werk, wie wir es heute sehen,
vielmehr nur Hintergrund und Ergänzung zu der damals unter dem
Pfeiler aufgestellten (jetzt in eine Kapelle versetzten) herrlichen
Marmorgruppe Sansovinos, der hl. Anna mit Maria und dem
Christuskinde. Der Prophet ist in diesem Ensemble eigentlich
nur dazu da, um die Schriftrolle mit der Weissagung, die Knaben,
um die Tafel mit der Weihe-Inschrift an die hl. Anna, Goritzens
Schutzpatronin, dem Beschauer zu präsentieren. Man hebt mit
Recht hervor, daß der Jesaias das einzige Freskobild sei, welches
Raphael unter dem Pontifikate Julius' II., der seine ganze Arbeits-
kraft für sich allein forderte, für einen Privatmann ausgeführt habe.
[218]Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
Doppelt befremdlich erscheint dies, nachdem wir die der Arbeit zu-
gedachte, untergeordnete Bedeutung kennen gelernt haben. In
diesem Zusammenhange wird die von Eugen Müntz gemachte Mit-
teilung über eine Sammlung von Poesien zum Lobe der hl. Anna und
ihres Verehrers Goritz besonders beachtenswert: unter den zahl-
reichen und enthusiastischen Lobpreisungen der Arbeit Sansovinos
befindet sich nur ein einziges Epigramm, das auch auf das Gemälde
anspielt, in vagen Worten nur und ohne Nennung des Malers:
— wenn dieser Raphael war, wäre solche Gleichgültigkeit denkbar?


Auf der anderen Seite weiß ich nichts, was gegen die Wappen-
dekoration als von Raphael wenn nicht ausgeführt, so doch ent-
worfen, einzuwenden wäre. Sieht man von den nicht zahlreichen
Tafelbildern dieser Jahre ab, so geht Raphaels ganze Tätigkeit
in der Ausschmückung des päpstlichen Palastes auf. E. Müntz
hat aus dem Archiv des S. Peter die urkundliche Nachricht ge-
zogen, daß Papst Julius ihm die Dekoration des vom Vatikan zum
Belvedere führenden Arkadenganges aufgetragen, und daß er
einen Teil der Arbeit wirklich geleistet hat, von welchem allem
Vasari nichts weiß. Ja, der Umstand, daß das Wappen in einem
nach Innocenz VIII. benannten Zimmer, das im vorigen Jahrhundert
einem Erweiterungsbau des vatikanischen Museums weichen mußte,
sich befunden hat, läßt sogar — bei der räumlichen Nachbarschaft
— einen Zusammenhang zwischen beiden Arbeiten mutmaßen.


Man sieht, die begleitenden geschichtlichen Umstände be-
kräftigen nur alle miteinander die aus dem formalen Verhältnis
der beiden in Vergleich gebrachten Bilder gezogene Folgerung:
daß das Jesaiasbild das jüngere ist, und daß es mit Raphael direkt
nichts zu schaffen hat. Ich vermag in ihm nichts zu sehen als das
Machwerk eines Malers zweiten Ranges, der, sei es aus eigenem
Antriebe, sei es nach Vorschrift seines Auftraggebers, die nur für
die Hausgenossen des Papstes sichtbaren reizenden Knabenge-
stalten an diesen öffentlichen Ort herübernahm, in der Haupt-
sache aber doch ein Bekenntnis der Unterwerfung unter Michel-
angelo ablegte. Kompromisse dieser Art kamen selbst bei den
nächsten Schülern Raphaels gelegentlich vor, wie die Decken-
bilder der Stanza d'Eliodoro bekunden. Ja, es könnten am Ende
[219]Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
wohl diese letzteren und der Jesaias von einer und derselben Hand
herrühren, — etwa Giulio Romanos?


Vasaris Buch zeigt auch an anderen zahlreichen Stellen deut-
lich genug, welche Kluft zwischen seiner Zeit und der Zeit Ra-
phaels schon sich geöffnet hatte. Es lag vor allem der Sacco di
Roma dazwischen, der die dortige Künstlergenossenschaft in alle
Winde versprengte, nicht wenige Fäden der Überlieferung abriß.


Daß auch Michelangelo zwischen einem von Raphael selbst
entworfenen Bilde und einem Schülerwerk nicht sicher unterschied,
ist bei den Gepflogenheiten der raphaelischen Werkstatt und nach
Ablauf fast eines Menschenalters wohl zu begreifen; vollends dann,
wenn der Irrtum ihm erwünscht kam, indem er seinem unver-
söhnlichen Haß Nahrung gab. So beweist also Vasaris Erzählung
etwas ganz anderes als sie beweisen soll. Sie ist ein Beitrag nicht
sowohl zur Charakteristik Raphaels, als zu der Michelangelos,
dieses zeitlebens von seiner mißtrauischen Phantasie gepeinigten
Gespenstersehers. Für die feindliche Gesinnung gegen Raphael
läßt sich nach unserer Kenntnis der Dinge kein objektiver Grund
nachweisen, als der dem Temperamente Michelangelo allerdings
genügende daß Raphael mit Bramante, dem Verderber des Julius-
denkmals, befreundet war.



[[220]][]
[figure]
Figure 28. Fresco in Sant' Agostino in Rom: Jesaias

[]
[]
[figure]
Figure 29. Rom: Accademia di S. Luca:
Wappenhaltender Putto
[][[221]]

ALT-ITALIENISCHE
GEMÄLDE ALS
QUELLE ZUM FAUST


1886
Vortrag in der Deutschen Gesellschaft in Königsberg


[[222]][[223]]

Ludwig Friedländer veröffentlichte vor einiger Zeit eine
merkwürdige Notiz »Zu Goethes Faust« (Deutsche
Rundschau 1881, Januar). Danach ist das Vor-
bild zu der im Eingang zur letzten Szene des zweiten
Teiles geschilderten Örtlichkeit: »Bergschluchten,
Wald, Fels, Einöde, heilige Anachoreten gebirgauf verteilt, ge-
lagert zwischen Klüften«, ferner der Chor »Waldung, sie schwankt
heran — Löwen, sie schleichen stumm« usw. nicht in literarisch
vermittelten Anschauungen zu suchen, wie bis dahin die Kom-
mentatoren annahmen (Monserrat oder Berg Athos oder Jesaias
65, 25), sondern — so weist Friedländer nach, und zwar bedin-
gungslos überzeugend — in einem Gemälde, einem Werke der
italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts: dem von einem Nach-
folger Giottos an einer Wand des Camposanto zu Pisa geschilderten
Leben der thebaischen Einsiedler (Taf. 22).


Es ist eine spezifisch moderne Aufgabe, welche die kunstge-
schichtliche Forschung (die literargeschichtliche natürlich ein-
begriffen) darin sich stellt: das Kunstwerk als ein bedingtes und
gewordenes aufzufassen, wobei das letzte und freilich immer nur
annäherungsweise erreichbare Ziel bleibt, geleitet durch die erkann-
ten äußeren Bedingungen in das Innere des schöpferischen Phan-
tasieprozesses selbst einzudringen. Eben dieses ist auch eine der
vornehmsten Aufgaben der »Goethephilologie«, und es muß be-
fremdlich genannt werden, daß noch so viele gebildete Deutsche,
die sich Goethefreunde nennen, den Wert dieser Bemühungen
nicht einsehen wollen, ja wohl mit ihrer Verspottung etwas Rechtes
zu tun meinen. Verhältnismäßig am leichtesten sind die aus der
Literatur selbst oder aus persönlich Erlebtem fließenden An-
regungen zu erkennen, weshalb denn auch die genetische Forschung
in der Hauptsache auf diese beiden Quellenkreise sich zu be-
schränken pflegt. Unendlich öfter aber wird der empfangene
Keim in dem neuen Boden zu einem so neuartigen Gebilde heran-
gezogen, daß sein Ursprung Geheimnis bleibt. Ja, wie oft weiß
der Künstler oder Dichter selbst es nicht, aus welcher Ferne,
aus welchem entlegenen Winkel der Samenstaub ihm zugeweht
ist, den er in seiner Phantasie aufsprießen sieht. Es muß immer
[224]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
eine Glücksstunde kommen, bis uns eine Entdeckung von der Art,
wie die oben mitgeteilte Friedländers, gelingt.


Allein es handelt sich bei dieser noch um mehr, als unmittel-
bar durch sie ausgedrückt scheint. Ich kann meine Verwunderung
nicht unterdrücken, daß unter den Goetheforschern von Beruf
noch niemand dem durch Friedländers Beobachtung gegebenen
Fingerzeig nachzugehen versucht hat. Ist Goethe hier nur von
einem vereinzelten Bruchstück aus der Bilderwelt des Mittel-
alters gestreift worden? oder liegt vielleicht hinter dem Einen
ein Mehr?


Von dieser Frage zur Antwort ist der Weg überraschend kurz.
Eben an demselben Orte, dem berühmten Camposanto zu Pisa,
befinden sich noch zwei andere Gemälde, die ähnlich wie das
oben genannte, nur viel umfassender, an Goethes Gedicht, daß
ich so sage, mitgearbeitet haben. Es sind »Der Triumph des Todes«
und »Die Hölle«.


Sei es gestattet, alle Vor- und Nebenfragen einstweilen ruhen
zu lassen, um das behauptete Verhältnis sogleich ad oculos zu
demonstrieren. Den zum Vergleiche beigegebenen Abbildungen
habe ich nicht die Originale, sondern die Kupfertafeln der großen,
1822 vollendeten Publikation Lasinios über das Camposanto zu-
grunde gelegt. Als charakteristische Wiedergabe der Originale
können sie keineswegs gelten, vielmehr ist die herbe Größe des
Trecentostils vom Stecher in ganz unleidlicher Weise in die zopfige
Manier seiner Zeit travestiert. Ich habe ihnen dennoch den
Vorzug gegeben, weil eben sie Goethen als maßgebende Vorlage
dienten. Wichtig schien ferner, nicht etwa bloß die von Goethe
unmittelbar verwerteten Teile aus den szenen- und figurenreichen
Kompositionen herauszuheben, sondern die ganze Masse des vom
Maler dargebotenen Stoffes vorzulegen, damit man beobachten
könne, welche Motive daraus der Dichter aufnahm und welche er
liegen ließ, welche er einfach wie sie waren reproduzierte und welche
ihm Keime zu neuen Gestaltungen wurden. Im Fortgang der Be-
trachtung wird sich zeigen, daß unter den drei in Frage kommenden
Bildern für Goethe das Hauptbild und der Ausgangspunkt für seine
dichtende Phantasie der »Triumph des Todes« war. (Taf. 23.)
[225]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Wer sich näher über das Werk unterrichten will, lese die vor-
trefflichen Aufsätze von H. Hettner in den »Italienischen Studien«
1879 und von E. Dobbert im »Repertorium für Kunstwissenschaft«
IV, 1881. Hier genügt es, eine übersichtliche Erklärung voraus-
zuschicken.


Es ist nicht anders zu nennen als eine gemalte Predigt, was
wir vor uns haben, eine Predigt auf das Thema: memento mori.
Aber mit staunenswerter Genialität ist das Unkünstlerische, das
in der didaktischen Tendenz liegt, überwunden. Der unbekannte
große Meister zwingt uns, nicht nur den Gedankenreichtum, die
Vielseitigkeit, die Tiefe seiner Konzeption zu bewundern, sondern
ihm ist das Höchste gelungen: die Lehre und Ermahnung ist in
lauter lebendiges Geschehen umgesetzt; das Auge sieht und so-
gleich ist das Herz im Innersten erschüttert; und haben wir so
den Umkreis drastischer Szenen durchmessen, so stellt die zu-
sammenfassende Reflexion sich ganz von selber ein. — Wir er-
blicken zuerst unten links, aus der engen Schlucht des Waldgebirges
hervorkommend, eine glänzende Jagdgesellschaft, drei Gekrönte
an der Spitze, plötzlich aufgehalten durch den Anblick dreier offener
Särge, darinnen drei verwesende Leichname: eine selbst die un-
vernünftige Kreatur mit dunklem Grauen erfüllende Mahnung an
den Tod. — Darüber, in den Szenen aus dem Einsiedlerleben,
die bewußte sittliche Vorbereitung auf ihn und hiermit die Über-
windung seines Stachels. Dann, auf der rechten Bildseite, des
Todes Walten selbst und die sich erfüllenden Geschicke der Seelen
nach der Trennung vom Leibe. Der Tod, »la morte«, ein weib-
licher Dämon von grandios-schreckhafter Erscheinung, braust
über die grüne Erde daher: an den Elenden und Kranken, die
nach ihr rufen, eilt die Unerbittliche vorüber, die Lebensfreudigen,
Genießenden sind ihr liebstes Ziel; in der Mitte zwischen beiden
Gruppen das bereits vollbrachte Erntewerk der mörderischen
Sense, in dichten Reihen langhingestreckt ungezählte Tote, Mann
und Weib, Geistliche und Laien, Gerechte und Ungerechte. Und
schon eilen aus den Lüften hier die Engel, dort die Teufel herbei,
um die Seelen in Empfang zu nehmen: — die Seelen, die, als nackte
Kinder gebildet, dem Munde mit dem letzten Atemzuge ent-
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 15
[226]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
fliehen. Indes nicht einer jeden Seele Schicksal ist sogleich ent-
schieden; um etliche entspinnt ein Kampf sich zwischen den
Boten des Himmels und denen der Hölle, ein Hin- und Herzerren
der Beute, ein Gefecht, das hüben mit Feuerhaken, drüben mit
Kreuzstäben geführt wird, bis endlich die Teilung vollzogen ist
und nach rechts hin die Engel entschweben, die Geretteten mit
zärtlicher Sorgfalt in den Armen tragend, während nach links
die Teufelsfratzen in wilder Schadenfreude mit den Verdammten
davonjagen, um sie in die offenen Krater feuerspeiender Berge,
die Pforten der Hölle nach italienischem Volksglauben, hinab-
zustürzen.


Die Analogie dieser Darstellung mit den in Goethes Gedicht
auf Fausts Tod folgenden Geschehnissen ist, zunächst im ganzen
betrachtet, augenfällig; ein Kausalverhältnis, wie das von mir
behauptete, brauchte darum noch nicht zu bestehen. Allein man
bemerkt alsbald, wie die Übereinstimmung sich auch auf Details
von so individueller Art erstreckt, daß jeder Gedanke an eine
bloß zufällige oder mittelbare Beziehung ausgeschlossen wird.
Man braucht nur den Teufelsgesellen mit dem Katzenkopf, zu-
nächst unter der Morte, ins Auge zu fassen, wie er die mit den
Fußspitzen noch im Munde des Leichnams steckende, mit den
Armen ängstlich sich wehrende Seele erschnappt, — und dann
den Monolog des Mephistopheles zu lesen:
(554—557) Der Körper liegt und will der Geist entfliehn
Ich zeig' ihm rasch den blutgeschriebnen Titel; —
Doch leider hat man jetzt so viele Mittel,
Dem Teufel Seelen zu entziehn ....
(565—569) Sonst mit dem letzten Atem fuhr sie aus,
Ich paßt' ihr auf und, wie die schnellste Maus,
Schnapps, hielt ich sie in fest verschloßnen Klauen.
Nun zaudert sie und will den düstern Ort,
Des schlechten Leichnams ekles Haus nicht lassen.
()


Dann:
(582, 583) Zwar hat die Hölle Rachen viele, viele,
Nach Standsgebühr und Würden schlingt sie ein —
()

Verse, die Goethe ohne Frage nie in den Sinn gekommen wären
ohne den Anblick der unten, echt mittelalterlich nach Ständen,
[227]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
durch ihre Abzeichen kenntlich genug, geordneten Toten und oben
der gruppenhaft sich auftürmenden vulkanischen Krater.


Endlich, indem die himmlischen Heerscharen erscheinen:
(635—637) Sie kommen gleißnerisch, die Laffen!
So haben sie uns manchen weggeschnappt —
Bekriegen uns mit unsern eignen Waffen.
()


Der Gründlichkeit zuliebe wollen wir die Zwischenfrage nicht
unerörtert lassen, ob Goethe die Auffassung der vom Leichnam
getrennten Seele als nackten Kindes etwa noch aus anderen Bei-
spielen gekannt haben mag? Denn es ist eine uralte, der Volks-
phantasie offenbar tief eingegrabene, aus der Antike auf die
christliche Kunst unversehrt übergegangene Vorstellung. In
betreff der letztern muß aber gleich die Beschränkung konstatiert
werden, daß das Motiv mehr dem frühern als dem spätern Mittel-
alter, mehr der romanischen als der germanischen Region geläufig
war. Zudem handelt es sich meist um entlegene und unschein-
bare, zu Goethes Zeit noch völlig unbeachtete Denkmäler. Ich
wüßte nur eines, als in Goethes Gesichtskreis liegend, zu nennen:
das Relief über dem Südportal des Straßburger Münsters, wo die
Seele der sterbenden Maria in dieser Gestalt von Christus in die
Arme genommen wird; wobei mir jedoch mehr wie zweifelhaft ist,
ob der junge Goethe die richtige Deutung schon gefunden, ja über-
haupt nur um sie sich bemüht haben wird. Für uns handelt es
sich überdies um eine andere Wendung: die Entführung der Seele
durch Engel oder Teufel und den Kampf um sie. E. Dobbert hat
in der zitierten Abhandlung (S. 17) eine Anzahl von Parallel-
beispielen aufgeführt, welche jedoch sämtlich Bilderhandschriften,
byzantinischen und französischen, angehören; einige andere habe
ich auf französischen Skulpturwerken des 12. und 13. Jahrhunderts
bemerkt: sämtlich also Beispiele, die Goethe sicher nicht ge-
kannt hat. So darf mit hoher Wahrscheinlichkeit die oben ge-
stellte Frage mit nein beantwortet werden.


In welchem Maße das Pisaner Fresko, nicht nur in drastischen
Einzelheiten, sondern auch in der Anordnung des Ganzen, die
Phantasie des Dichters erfüllte, zeigen besonders schlagend die
Bühnenweisungen »Glorie von oben, rechts« und vorher »der
15*
[228]
Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
gräuliche Höllenrachen tut sich links auf«; besonders schlagend,
weil auf allen anderen bildlichen Darstellungen, die etwa noch
in Betracht kommen könnten, d. i. in der Gattung der Gerichts-
bilder, der Himmel immer links, die Hölle immer rechts (im Sinne
des Beschauers) zu stehen kommt. Die umgekehrte Stellung, wie
Goethe sie vorschreibt, ist nur dem »Triumph des Todes« eigen.


Die Hölle selbst zwar wird auf dem Triumphbilde nicht sicht-
bar, nur ihre Eingänge. Ihr Inneres schildert ein zweites benach-
bartes Gemälde (Taf. 24). Bemerkt muß werden, daß dasselbe in
Wirklichkeit nicht unmittelbar an den »Triumph« anstößt, sondern,
durch das »jüngste Gericht« hiervon getrennt, weiter rechts
sich befindet. In Lasinios Publikation ist dagegen die wirkliche
Reihenfolge verkehrt: so, daß Goethe, wenn er die mächtigen
Kupfertafeln nach den ihnen aufgedruckten Nummern vor sich auf
dem Tische ausbreitete, eben das Höllenbild neben dem Trionfo
zu sehen bekam, — und zwar zu dessen linker Hand!
Man möchte sagen, daß hier der Zufall geistreich geworden sei.
Denn durch diese irrtümliche Zusammenstellung erst erzeugt
sich in Goethes Imagination das große einheitliche Raumbild, an
dem er konsequent festhält. Er glaubt die Höllenszene als die innere
Höhle desselben Berges, der auf dem »Trionfo« seine oberwelt-
liche Seite zeigte, auffassen zu sollen. Und er findet es ange-
messen, auch das hier Gesehene seiner Dichtung nicht fremd
bleiben zu lassen. Zwar wäre unmöglich, die ganze Fülle des
Erschauten zu wiederholen, denn
»In Winkeln bleibt noch vieles zu entdecken,
So viel Erschrecklichstes im engsten Raum!«
()

aber wenigstens die auffallendsten Stücke will er nicht ungezeigt
lassen. Zuerst den scheußlichen Krokodilsrachen —
»Bringt ihr zugleich den Höllenrachen mit«. ()


Nun steht freilich dieser singularische Rachen mit der Plu-
ralität der Höllenpforten (der Krater) auf dem »Trionfo« in ge-
wissem Widerspruch. Deshalb korrigiert sich der Dichter:
»Zwar hat die Hölle Rachen viele, viele«. ()
kehrt aber sogleich wieder zum Singular zurück mit der Szenen-
weisung: ‘»Der gräuliche Höllenrachen tut sich auf«.’ ()
[229]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
(586—589) »Eckzähne klaffen; dem Gewölb des Schlundes
Entquillt der Feuerstrom in Wut,
Und in dem Siedequalm des Hintergrundes
Seh' ich die Flammenstadt in ew'ger Glut«.
()


Weiter fällt sein Blick auf den infernalischen Teich, der mit
Verdammten angefüllt ist, welche ans Ufer wollen, aber Satans
Badeknechte stoßen sie immer zurück:
(591—593) »Verdammte, Rettung hoffend, schwimmen an,
Doch kolossal zerknirscht sie die Hyäne,
Und sie erneuen ängstlich heiße Bahn«.
()


Jetzt hinweg über das Gedränge unendlicher Marterszenen
und zum Höllenfürsten selbst. Ein Ungeheuer mit dreifachem
Haupt, zwischen jedem Kinnbackenpaare einen der drei Erz-
verräter — Judas, Brutus, Cassius — zermalmend, wie man es
von Dante her kennt; weiter unten im Leibe des Scheusals, in
einer von Dante unabhängigen Auffassung, die Verbrecher der
Völlerei und Wollust. Gerade diese letztere Erfindung in ihrer
verwegenen Bizarrerie hat auf Goethe Eindruck gemacht, und
er kann sich nicht enthalten, das Unsagbare wenigstens anzu-
deuten:
(606—611) Paßt auf die niedern Regionen,
Ihr Schläuche, das ist eure Pflicht;
Ob's ihr [der Seele] beliebte, da zu wohnen,
So akkurat weiß man das nicht.
Im Nabel ist sie gern zu Haus;
Nehmt es in acht, sie wischt euch dort heraus.
()


Wäre es nur diese eine Stelle, sie allein schon gäbe den
Beweis.


Nach dieser Höllenfahrt kehrt Goethe, gerade wie Dante
einst es getan, zur Oberwelt, d. i. zum Schauplatz des »Trionfo
della Morte«, zurück, und indem er hier, auf der bewaldeten, von
tiefen Schluchten umgrenzten mittlern Stufe des Gebirges, von
den infernalen Schrecknissen sich gleichsam erholt, empfängt ihn
eine wunderbare Inspiration. Er ist hier in der Wüste der Thebais
bei den heiligen Einsiedlern, die, während draußen der Tod dräut
und wütet, in ihrem Herzen den Tod überwunden haben, Natur-
frieden um sich, Gottesfrieden in sich. Es gibt in der Kunst aller
Zeiten weniges, was an Kraft und Tiefe der Poesie mit dieser
[230]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Szene sich vergleichen könnte. Und da alle echte Poesie unendlich
ist und immer fortzeugt, so wird bei diesem Anblick in Goethes
Geist die langgesuchte Schlußszene der Faustdichtung lebendig
und findet ihren Körper:
Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde.
Heilige Anachoreten
(gebirgauf verteilt, gelagert zwischen Klüften).
Chor und Echo.

(786—795) Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an,
Stamm dicht am Stamm hinan;
Woge nach Woge spritzt,
Höhle, die tiefste, schützt;
Löwen, sie schleichen stumm-
Freundlich um uns herum,
Ehren geweihten Ort,
Heiligen Liebeshort.


Wer diese Strophe ohne Kenntnis ihrer Bildquelle liest, wird
leicht zum Glauben kommen, der Dichter habe bei der Auswahl
der Bilder ganz wesentlich durch den stimmungsvollen Klang-
reiz der Assonanzenreihe a-o-ö sich leiten lassen. Allein Goethe
hat hier das technische Wunder vollbracht, die stärkste musika-
lische Wirkung mit der gewissenhaftesten Wiedergabe des ge-
gebenen malerischen Vorbildes zu vereinigen. Ja, selbst solche
Züge, die wie selbsterfundene Zugaben sich ausnehmen: — die
spritzende Woge, die schützende Höhle, die schleichenden Löwen,
— sind dies ganz und gar nicht, sondern wiederum nur Eingebungen
einer Bildquelle. Es ist eben jene, auf welche Friedländer hin-
gewiesen hat1). Jetzt können wir freilich bestimmter sagen, daß
der für Goethe entscheidende Eindruck nicht von diesem Ge-
mälde, sondern vom »Triumph des Todes« ausging; wohl aber
nahm Goethe es zu Hilfe, um durch eine Anzahl bedeutender
Einzelzüge die Schilderung zu bereichern. Auf dieser zweiten
Darstellung der thebaischen Wüste ist das Leben der Einsiedler
nicht bloß kontrastierende Episode, wie auf dem »Triumph des
[231]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Todes«, sondern das alleinige Thema; auch nicht idyllisches Zu-
standsbild, wie dort, sondern Erzählung. Nach einem noch sehr
primitiven Kunstprinzip werden die legendarischen Einzelereig-
nisse formell zusammenhanglos neben- und übereinander gestellt,
so daß allein die angenommene Einheit des Schauplatzes dem
Bilde eine gewisse Einheit der Wirkung sichert. Lehrreich ist zu
sehen, wie gerade die landschaftliche Szenerie mit ihrem ganz
naiv-idealen Raumgefühl und ihrem bloß andeutenden Vortrag in
der Phantasie des Dichters eine Wirkung hervorrief, die ein
modern-realistisches Landschaftsbild niemals hätte erreichen können.
Das Wichtigste ist die Stimmung im ganzen; doch finden auch
mehrere Einzelheiten beim Dichter ihren Platz: das von den Wellen
des Nils bespülte Ufer, der Wald, vor allem der Terrassenaufbau
des Felsgebirges. In der Behandlung des letztern hat der Maler
von perspektivischer Raumvertiefung, wie wir sie fordern, völlig
abgesehen; er gibt als Übereinander, was in Wirklichkeit nur
Hintereinander sein kann; aber Goethe geht auf die scheinbare
Stufenüberhöhung ein, um sie nach seinem Sinne zu tiefsinniger
Symbolik zu wenden. Gerade wie auf dem Bilde und doch in ganz
anderer Bedeutung zeigt er
Wie Felsenabgrund mir zu Füßen
Auf tiefem Abgrund lastend ruht;
()

führt er uns an »die letzte, reinlichste Zelle«; nimmt er die Löwen
auf, die im Gemälde in nicht weniger wie drei Paaren vertreten
sind, als freundliche Gehilfen der Einsiedler; ja endlich selbst
die dritte der großen Sünderinnen, Maria Aegyptiaca, zu äußerst
links abgebildet, wie sie vom Mönche Zosimos die letzte Eucharistie
empfängt, also gerade in dem von Goethe festgehaltenen Momente:
(999—1002) Bei der vierzigjährigen Buße,
Der ich treu in Wüsten blieb;
Bei dem seligen Scheidegruße,
Den im Sand ich niederschrieb —
()


Die Wanderung und Wandelung künstlerischer Motive wird
zuweilen Rückbildung auf frühere Zustände. Vielleicht ist auch
hier eine solche im Spiel. Man weiß, daß die von der Kirche be-
förderten dramatischen Aufführungen auf die bildende Kunst des
[232]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Mittelalters einen nicht unerheblichen Einfluß geübt haben. Die
Vermutung liegt nahe und läßt sich durch mancherlei Neben-
umstände noch wahrscheinlicher machen, daß auch im »Triumph
des Todes« Mysterienspiele nachklingen. Dann wären es also
echte alte Dramenmotive, die sich im Malerwerke verpuppten,
um nach einem halben Jahrtausend in Drama wieder aufzuleben: —
ein neuer Blick in den unendlichen Weltzusammenhang der Faust-
dichtung.



Es versteht sich, daß mit der oben gegebenen Aufzählung
von Einzelbeziehungen zwischen dem größten Malerwerke des
14. und dem größten Dichterwerke des 19. Jahrhunderts das
Verhältnis der beiden noch nicht erschöpfend definiert sein kann.
Es muß noch ein tieferer und allgemeinerer Einfluß vorhanden
sein. Denselben auf feste Größen zu berechnen, wird natürlich
niemals gelingen. Aber auch nur, um eine ungefähre Schätzung oder
Ahnung zu erreichen, müßten mehrere, fürs erste noch dunkle
Vorfragen gelöst sein. Vorab die chronologische Frage.


Auf welchem Punkte im langgestreckten Werdegang der
Faustdichtung sind die Camposantobilder wirkend eingetreten?
Wieviel vom Plane der Schlußszenen stand schon vor der Be-
kanntschaft mit ihnen fest? Wieviel ist erst durch sie angeregt
worden? Goethe selbst hat freilich alles getan, diese Erkenntnis
uns zu erschweren. Man weiß ja, wie behutsam, fast ängstlich, er
die innere Werkstatt seiner werdenden Dichtungen vor fremden
Augen zu verwahren gewohnt war. Gleichwohl fehlt es nicht ganz
an zerstreuten Andeutungen, welche das Resultat unserer Unter-
suchung bekräftigen, auf der andern Seite freilich auch wieder
neue Rätsel aufgeben. Ob das eröffnete Archiv in Weimar auch
hierüber Aufklärung bringen wird? Jedenfalls wäre es müßig,
bevor nicht dieser Weg versucht ist, mit einer bestimmten Mei-
nungsäußerung hervorzutreten. Ich beschränke mich deshalb
auf die folgenden kurzen Hinweisungen.


Am 6. Juni 1831, unmittelbar nach der Vollendung des
Ganzen, sagte Goethe zu Eckermann: Ȇbrigens werden Sie zu-
[233]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
geben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben
geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinn-
lichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen
hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Inten-
tionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen
Figuren
und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form
und Festigkeit gegeben hätte.« Ich zweifle jetzt nicht, daß, wo
nicht allein, so doch ganz an erster Stelle die Camposantobilder in
diesem nur halb verschleierten Bekenntnis gemeint sind. Es ist der
plastische Sinn und ist der historische Sinn in Goethe, die es ihm
beide gleich sehr verwehrten, Himmel und Hölle nach Klop-
stockscher Art sich zurecht zu phantasieren: er wollte sie zuvor
gesehen haben, so wie sie im Geist und Glauben der Menschen
des Mittelalters Wirklichkeiten waren.


Zum andern lesen wir in den »Annalen« zum Schluß des
Jahres 1818: »Das Kupferwerk vom Campo Santo in Pisa erneute
das Studium jener älteren Epoche.« »Das« Kupferwerk vom
Campo Santo kann nur das Lasiniosche sein, ein anderes gibt es
nicht. Das auf dem Titelblatt vermerkte Erscheinungsjahr 1822
bringt kein Hindernis, da das umfangreiche Werk, gleich den
meisten seiner Art, lieferungsweise auf Subskription erschienen
sein wird und die in Frage kommenden Tafeln näher zum Anfang
stehen. Wie ist aber bei Goethe die Wendung »erneute das
Studium jener älteren Epoche« zu verstehen? Meint er jene
Kunstepoche im allgemeinen oder hat er speziell die Camposanto-
bilder schon früher einmal studiert? Für die Deutung im letzteren
Sinne fehlt, soviel ich sehe, jede bestimmtere Unterlage. Daß
Goethe Pisa besucht habe, ist nicht bekannt; daß jemand, etwa
Meyer, ihm Kopien zugebracht, nicht recht wahrscheinlich, denn
Stichreproduktionen nach dem »Trionfo« gab es vor Lasinio
keine1). Nicht Meyer, sondern Boisserée und die Romantiker haben
Goethe der während der italienischen Reise noch so schroff ab-
gelehnten Kunst des Mittelalters näher gebracht. Es würde ge-
nügen, bei »erneute« an die Jahre 1814—1815 zu denken. Sodann
[234]Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
findet sich aus dem Jahre 1826 in der Anmerkung zu Dante der
Satz: »Man beschaue das Gemälde des Orcagna und man wird
eine umgekehrte Tafel des Cebes zu sehen glauben, statt eines
Kegels ein Trichter.« Nach Vasari ist Orcagna der Maler des
Pisaner Höllenbildes. Goethes Bekanntschaft mit diesem Bilde
ist damit bewiesen. Nach alledem scheint des Dichters Äußerung
gegen Sulpiz Boisserée vom 3. August 1815 »das Ende ist fertig
und sehr gut und grandios geraten, aus der besten Zeit« — doch
nur in einem irgendwie beschränkten Sinne verstanden werden zu
dürfen. Hätte Goethe jene »scharf umrissenen christlich-kirch-
lichen Figuren« früher kennen gelernt, so hätte er eben auch
seine Dichtung früher zu Ende gebracht.


Höchst merkwürdig bleibt, daß die anscheinend erste Be-
kanntschaft mit den Camposantobildern (1818) gerade ein Jahr
nach Veröffentlichung des Manifestes gegen die Nazarener (1817)
erfolgt. Es ist, als habe Goethe durch die Aufnahme eines so
großen Stückes echtest mittelalterlicher Kunst in sein abschlie-
ßendes Lebenswerk die positive Ergänzung zu jener Polemik
geben wollen. Der Dichtung kann erlaubt und heilbringend sein,
was aus der bildenden Kunst fernzuhalten ist.



[]
[figure]
Figure 30. Pisa: Die Einsiedler der Thebais. Nach Lasinio

[][]
[figure]
Figure 31. Pisa: Der Triumph des Todes. Nach Lasinio

[]
[]
[figure]
Figure 32. Pisa: Jüngstes Gericht und Hölle. Nach Lasinio
[][[235]]

DAS VERHÄLTNIS
DER GESCHICHT-
LICHEN ZU DEN
KUNSTGESCHICHT-
LICHEN STUDIEN


1887


[[236]][[237]]

Nicht ohne einigen Stolz bemerken wir es, wie eifrig
die junge Generation der französischen Gelehrten,
zumal innerhalb der historischen Fächer, sich be-
fleißigt, von der Methode der deutschen Wissen-
schaft in Forschung und Unterricht, was sie als
deren Vorzüge anerkannt, sich zu eigen zu machen. Möchten
wir darüber nicht vergessen, wachsam uns umzuschauen, was
wir wiederum von den Franzosen in diesen Dingen noch zu lernen
hätten.


Von einer Beobachtung dieser Art sind die nachfolgenden
Erwägungen eingegeben. Den nächsten Anstoß, sie niederzu-
schreiben, gab mir die Lektüre der jüngst gesammelt heraus-
gegebenen kleinen Schriften von Jules Quicherat, des
1882 verstorbenen langjährigen Direktors der École des Chartes.
Die eigentümliche Zusammensetzung dieser Bände machte es mir
zum Bedürfnis, von der Tätigkeit des ausgezeichneten Mannes
als Forscher und Lehrer eine zusammenhängende Übersicht zu
gewinnen.1) Beim ersten Blick auf den überaus mannigfaltigen
Inhalt könnte man wohl glauben, daß es nur der Gelegenheits-
ertrag eines planlos in die Kreuz und Quer fahrenden unruhigen
Wißbegierde sei; alsbald aber werden wir inne, daß wir etwas
anderes, Besseres vor uns haben: die wohlgewählten und sorgsam
zugerichteten Bausteine zu einem wissenschaftlichen Gebäude,
das von dem einzelnen zwar nie vollendet werden konnte, dessen
Plan aber klar und streng aus einem einheitlichen Gedanken-
mittelpunkte heraus entworfen war. Indem ich die Titel einiger
seiner Arbeiten nenne — die Prozeßakten der Jeanne d'Arc, die
Alesia-Frage, die Fragmente zur spätlateinischen Literatur, die
Bildung der alten französischen Ortsnamen, die Geschichte der
Wollindustrie (unvollendet), das Lehrbuch der Kunstarchäologie
Frankreichs im Mittelalter (gleichfalls unvollendet), die franzö-
sische Kostümgeschichte, die Geschichte des Collège de Sainte-
[238]Das Verhältnis d. Geschichtlichen z. d. Kunstgeschichtlichen Studien
Barbe, die zahlreichen Einzeluntersuchungen zur Epigraphik,
Diplomatik, Numismatik, über gallorömische und merowingische
Antiquitäten — bezeichne ich annähernd die Grenzen des Arbeits-
feldes, das Quicherat sich abgesteckt hatte. Es ist die Geschichte
Frankreichs vom Untergang der Römerherrschaft bis zum Ende
des Mittelalters, diese Geschichte aber im umfassendsten Sinne
genommen.


Als Lehrer an der École des Chartes vertrat Quicherat die zwei
Fächer der Archäologie und der Diplomatik. Ich habe hier nicht
auszuführen, wie sehr der Historiker in Quicherat dem Kunst-
historiker Vorschub leistete, — so sehr, daß er streng genommen
als der einzige in der dahingegangenen Generation mittelalterlicher
Kunstforscher in Frankreich zu bezeichnen ist, der sich über den
Dilettantismus erhob. Mit allem Nachdruck aber möchte ich auf
den Gewinn, den sein kunstwissenschaftlicher Unterricht
als integrierender Bestandteil der historischen Studien an der
École des Chartes den letzteren gebracht hat, hinweisen. Ihm
ist es zu danken, daß die Zöglinge dieser Anstalt, die als Pro-
fessoren, Archivare, Bibliothekare in die Provinzen gehen, ein wo
nicht allseitiges, so doch im Sine des nationalen Altertums höchst
gründliches kunstgeschichtliches Wissen mitbringen. Und wer
das Vergnügen gehabt hat, einige dieser Herren auf Reisen per-
sönlich kennen zu lernen oder ihnen in den Schriften der provin-
ziellen gelehrten Gesellschaften zu begegnen, findet sie nicht nur
durchweg über die Denkmäler ihres Kreises trefflich unterrichtet,
sondern häufig auch an der Erforschung derselben in fruchtbarer
Weise aktiv teilnehmend. Ja, unverkennbar ist die zunehmende
methodische Sicherheit, wodurch die Lokalforschung der beiden
letzten Jahrzehnte vor dem naiven Umhertappen der früheren
Zeit sich auszeichnet, zu nicht geringem Teil eine Wirkung des
Fermentes, das eben die Schüler der École des Chartes ihr zu-
geführt haben.


Was haben unsere deutschen Universitäten an ähnlichen
Resultaten aufzuweisen? Nichts. Wohl ist der mittleren und
neueren Kunstgeschichte nachgerade ein Anspruch auf akade-
misches Bürgerrecht zugestanden, wohl hat sich die Zahl der Uni-
[239]Das Verhältnis d. Geschichtlichen z. d. Kunstgeschichtlichen Studien
versitäten, an denen Kunstgeschichte von Professoren oder Privat-
dozenten gelehrt wird, neuerdings erfreulich vermehrt. Aber daß
dieselben in der bestimmten Richtung, von der allein ich hier
spreche, d. i. für die Bildung unserer jungen Hi-
storiker,
irgend Nennenswertes bis jetzt auszurichten ver-
mochten, hat man nicht entdecken können. Die seltenen Fälle,
wo ausgeprägte persönliche Neigung ins Spiel kommt, zählen bei
unserer Betrachtung nicht mit. Dem Durchschnittsstudenten der
Geschichte aber ist es ein durchaus fremder Gedanke, daß er mit
der Kunstgeschichte irgend etwas zu schaffen habe, und sein
Lehrer tun meines Wissens auch nur selten etwas dazu, diesen
Gedanken ihm näher zu bringen. Der sonst anerkannte Grund-
satz, daß man den Geist einer geschichtlichen Epoche auf keinem
Punkte völlig verstehen könne, wenn man nicht die Gesamtheit
seiner Äußerungen einmal überblickt habe, scheint für die Kunst,
wo nicht theoretisch, so doch tatsächlich, keine Anwendung zu
finden. Wenn es dem Studenten, der nicht geradezu zu den Ba-
nausen gehören will, schon geläufig ist, daß ohne etwas Rechts-
geschichte, etwas Wirtschaftslehre, etwas Sprach- und Literatur-
kenntnis seine Bildung als Historiker eine bedenklich enge und
isolierte bleibt, so liegt die Kunstgeschichte ihm noch so fern,
daß er in der Regel sich überhaupt nicht einmal die Frage vorlegt,
ob und wieweit er sich mit ihr einlassen solle. Er hält sie für ein
Ding, das für den Liebhaber wahrscheinlich recht ergötzlich, für
ihn als Historiker aber ohne Nutzen sein werde. Er glaubt in aller
Unbefangenheit z. B. den Geist des Mittelalters ganz wohl fassen
zu können, ohne je zu fragen, wie jene Zeit ihre Klöster und Dome,
ihre Burgen und Rathäuser baute und schmückte; oder im Re-
formationsalter sich heimisch zu machen, ohne je ein Werk Dürers
oder Holbeins, ein Stück aus dem unermeßlichen Schatze der volks-
tümlichen Stich- und Formschneidekunst mit Bedacht angesehen
zu haben. Seltsam! Denn auf einem Gebiete wenigstens hat
die Einsicht schon längst getagt. Die griechisch-römische Alter-
tumswissenschaft hat sich die Kunstarchäologie unlöslich zu-
gesellt, kein Philologe darf sich mehr erlauben, in ihr ganz un-
wissend zu bleiben.


[240]Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichlichen Studien

Wir brauchen diesen Gedankengang nicht fortzusetzen. Die
Lücke in der Durchschnittsbildung unserer Historiker, von der
wir reden, ist eine offenbare, und wir hoffen, daß die Zeit noch
kommen wird, in der man auf sie zurückblickend voll Staunens
fragen wird: wie war das nur möglich? wie konnte dies so ruhig
ertragen werden? Für sich betrachtet, würde die Erscheinung
in der Tat schwer zu verstehen sein. Sie ist aber nur Symptom
eines viel tieferen, allgemeineren Schadens. Als der deutsche
Geist aus der schweren Ermattung, in welche die Glaubensstreitig-
keiten des 16. und der große Krieg des 17. Jahrhunderts ihn ge-
stürzt hatten, allgemach sich erhob, da war sein Organismus kein
intakter mehr. Alles Große, was in den letzten 150 Jahren Musik
und Dichtkunst, danach Philosophie und endlich historische und
exakte Wissenschaften bei uns geleistet haben, kann es nicht
verschmerzen machen, daß während dessen ein weites Feld, ein
Feld, auf dem wir einmal reiche Ernten gehalten hatten, brach
liegen blieb, verödete, verdorrte: die bildende Kunst und alles,
was in deren Herrschaftskreis gehört. Sie vegetierte nur noch
als Luxus weniger Reicher, als exklusives Vergnügen weniger
Kenner: — das Volk im ganzen hatte jeglichen Anteil verloren.
So mußten die großen Künstlertalente, mit denen seit dem Ende
des vorigen Jahrhunderts die Nation beschenkt wurde, sich in die
Wolken flüchten, da der Boden des Vaterlandes Raum und Nahrung
ihnen versagte. Welch ein trauriger Abstand von der Zeit, da
etwas von jener »Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes«, die
Goethe in Pompeji anstaunte, »von der jetzt der eifrigste Lieb-
haber weder Begriff, noch Gefühl, noch Bedürfnis hat«, auch bei
uns Deutschen gelebt hatte. So weit waren wir innerlich von jener
Zeit getrennt, daß selbst die Erinnerung an sie, obgleich ihre
Zeugen vor jedermanns Augen standen, erloschen war.


Unverkennbar ist seit einigen Dezennien eine Wendung zum
Besseren eingetreten. Und die Wissenschaft der Kunstgeschichte
darf sich Glück wünschen, zu dieser Wendung kräftig beigetragen
zu haben. Erst indem sie in den Spiegel der Vergangenheit schaute,
wurde die Gegenwart ihres Mangels inne. Sie vermag heute, kraft
der modernen Organisation des Staates und der modernen Fort-
[241]Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichtlichen Studien
schritte der Technik, Hilfsmittel in den Dienst der Kunst zu
stellen, wie keine andere Zeit sie besessen hat: öffentliche Samm-
lungen, periodische Ausstellungen, eine im Sinne der Massen-
produktion beispiellose Vervollkommnung der Vervielfältigungs-
methoden usw. Man hat sich dieser und anderer Errungenschaften
aufrichtig zu freuen, aber man täusche sich nicht darüber, daß
die Nation nur allmählich dieser Schätze wieder innerlich Herr
werden kann. Das Organ der Volksseele, um das es sich hier fragt,
ist durch anhaltenden Nichtgebrauch träge und stumpf geworden;
es bedarf langer Übung und Pflege, bis es zu normaler Leistungs-
fähigkeit wieder herangewöhnt sein wird. Wir fassen die Kunst-
pflege noch viel zu einseitig als Förderung der künstlerischen
Produktion; was nützt diese, wenn nicht gleichzeitig die
Genußfähigkeit des Publikums gesteigert und veredelt, das Auge
der Betrachter sehtüchtiger gemacht wird? Es ist ein Problem
der allgemeinen Volkserziehung, das der Lösung
wartet, und dieses muß an möglichst vielen Stellen zugleich erfaßt
werden.


Die steigende Welle der öffentlichen Gunst hat der Kunst-
wissenschaft nun auch an unseren Universitäten, — an einigen,
noch nicht vielen — Einlaß verschafft. (Im Deutschen Reich sind
fünf ordentliche Professuren vorhanden, davon drei in Preußen;
in Bayern, selbst in München (!) keine). Sie ist nicht gerufen
worden, sie hat um Einlaß gebeten. Und es fehlt viel, daß die Bahn
schon frei und eben vor ihr läge.


Zum ersten fehlt ihr, das ist der Grundschaden, der Unterbau,
den nur die Elementar- und Mittelschule legen kann. Die Frage,
die ich hiermit berühre, ist eine zu weit ausgreifende, als daß ich
an dieser Stelle ihr nachgehen dürfte. Nur um nicht am Ende
ganz mißverstanden zu werden, möchte ich in aller Kürze meine
Meinung vorlegen. Ich denke nicht — wovon in der Tat schon die
Rede gewesen ist — an Einrichtung eines besonderen kunstge-
schichtlichen Unterrichts auf dem Gymnasium. Zwar würde es
gewiß keine der vielbeschrieenen »Überbürdungen«, vielmehr Er-
frischung und Belebung des Geschichtsunterrichtes sein, wenn
der Lehrer einiges aus der Kunstgeschichte miteinfließen ließe, —
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 16
[242]
Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichtlichen Studien
selbstverständlich nur unter der Bedingung, daß er, was mit
den heutigen Mitteln leicht zu erreichen ist, das Wort durch das
Bild unterstütze. Das wäre gewiß recht ersprießlich, trifft aber
noch nicht den Kern der Sache. Unser Schulunterricht geht aus-
schließlich auf Übung des Denkens, auf Bereicherung des Begriffes
aus: für Übung und Bereicherung der Anschauung geschieht
nichts. Ein so großer und mit dem ganzen System unserer Bil-
dung zusammenhängender Mangel läßt sich nicht durch eine
einzelne Reform aufheben. Der wirksamste Anfang dazu läge in
der Erweiterung und Verbesserung des Zeichenunterrichts, darin
scheinen alle Einsichtigen mehr und mehr übereinzustimmen.
Möchten zu den hierauf zielenden Forderungen erfahrener Lehrer
der Kunstwissenschaft1) auch die Stimmen der nicht weniger
dabei interessierten Naturforscher recht bald und nachdrücklich
sich hinzugesellen!


Ein zweites Hindernis erfolgreicher Wirkung des Unterrichts
in der Kunstgeschichte möchte ich eingänglicher besprechen. Es
liegt darin, daß sie mit keiner der großen Studiengruppen in fester
Fühlung steht. Man läßt sie gelten wie einen Zierrat am Giebel
des Werkhauses; eine bestimmte Stellung und Leistung im inneren
Arbeitsbetriebe hat man ihr noch nicht angewiesen. Es war in
der Tat kein Vorteil für die neuere Kunstgeschichte, daß sie nicht
wie ihre Schwester, die klassische Archäologie, aus einem seit
langer Zeit festorganisierten Lehrfach allmählich zu Selbständig-
keit herangewachsen ist, sondern daß sie sogleich auf ihren eigenen
Füßen stehen sollte. Die herrschende Neigung zur Partikulari-
sierung der Wissenschaft sieht in ihr nichts als ein neues Spezial-
fach. Es sind vielfach gerade die sog. »guten«, die auf strenge
Wissenschaftlichkeit gerichteten Studenten, die sich, vielleicht
einer inneren Hinneigung zum Trotz, von ihr fernhalten, um nicht
verpöntem Dilettantismus zu verfallen. In Wahrheit liegt die
Sache nun so, daß die Zahl der jungen Leute, welche Kunstforscher
[243]Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichtlichen Studien
von Beruf werden wollen, immer nur eine kleine sein kann, und
diese werden sich naturgemäß an den wenigen Universitätsstädten,
die zugleich durch den Besitz größerer Sammlungen bevorzugt
sind, konzentrieren. Hätte der Kunsthistoriker seine einzige oder
auch nur vornehmste Aufgabe wirklich darin zu suchen, daß er
wieder Kunsthistoriker heranzieht, dann wäre er an der Mehrzahl
unserer Universitäten zweifellos vom Überfluß. Sein Anspruch
auf die Stellung wenigstens eines »superflu très-nécessaire« kann
sich nur darauf gründen, daß er in die Breite wirkt, daß er anderen
Studienkreisen ergänzend und vervollständigend sich anschließt,
ein Element der allgemeinen Erziehung in dem oben angedeuteten
Sinne wird.


Mehr als in irgendeiner anderen Wissenschaft ist in der Kunst-
geschichte die Scheidung in einen exoterischen und esoterischen
Unterricht durch die Verhältnisse geboten. Zu dem letzteren nur
ausnahmsweise Gelegenheit zu finden oder mitunter auch wohl
ganz auf ihn verzichten zu müssen, fordert nicht leichte Resignation.
Ist aber dafür nicht die erstere Aufgabe, auch schon für sich
allein, eine um so dankbarere? Gewiß, sie könnte es werden, aber
durchschnittlich ist sie es noch nicht. Eben die unbegrenzte Weite
des sich auftuenden Wirkungskreises ist es, die uns bange macht.
Wir müssen für Gäste aus allen Fakultäten unsere Tafel offen
halten. Die Zuhörer bringen ganz verschiedene Voraussetzungen,
ganz verschiedene Wünsche mit; gemeinsam ist allen fast nur das
eine: die gering oder gar nicht erst entwickelte Fähigkeit zum
künstlerischen Sehen. Da man also den natürlichen und geraden
Weg nicht betreten, d. h. nicht von der lebendigen Empfindung
des Schönen und Charakteristischen im vorgeführten einzelnen
Kunstwerk bei den Zuhörern ausgehen und von hier aus zur Dar-
legung des Zusammenhanges und der allgemeinen Bedingnisse
der Kunstentwicklung fortschreiten kann: so bleibt nur übrig, von
der Peripherie her auf den Mittelpunkt loszugehen. An welchem
Punkte aber soll man da einsetzen? was soll man als das Bekannte
und Feste betrachten, woran man sich anzulehnen hätte?


Ich will in diese methodischen Schwierigkeiten nicht tiefer
eingehen. Es leuchtet ja ohne weiteres ein, daß der Unterricht
16*
[244]Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichtlichen Studien
der Kunstgeschichte ein viel leichteres Spiel haben müßte, wenn
er zu einem andern größern Studienkreise in dem nämlichen
Verhältnis stände, wie die klassische Archäologie zur klassischen
Philologie. Das ist es, was nach meiner Überzeugung mit allen
Kräften erstrebt werden muß und was allein die Kunstgeschichte
aus ihrer jetzigen schwankenden und schwebenden Stellung er-
lösen, was allein ihr die Bedingungen zu erfolgreichem Eingreifen
in den Arbeitsorganismus unserer Universitäten gewähren kann.
Welches nun der andere größere Studienkreis sei, in dessen Ge-
meinschaft aufgenommen zu werden, sie verlangen soll, kann
keinem Zweifel unterliegen: der historische. In erster Linie die
Historiker im engern Sinne, dann die germanischen Philologen,
endlich die Theologen, insofern sie sich gründlicher mit der Kirchen-
geschichte befassen, — für sie alle fordere ich Beschäftigung
mit der Kunstgeschichte ex officio.


Es sei erlaubt, ein paar Bemerkungen in betreff der Historiker
hinzuzufügen. Ohne dem Selbstbestimmungsrecht der einzelnen
Schranken anzulegen, wird es sich doch empfehlen, im Hinblick
auf die praktische Stellung, welche die Mehrzahl derselben künftig
im Leben einnimmt, als Lehrer, Archivare, Bibliothekare usw., ein
Durchschnittsmaß der zu stellenden Forderungen zu fixieren.


Hier meine ich nun, und komme damit auf den Ausgangs-
punkt meiner Erörterungen zurück, daß das von der École des
Chartes befolgte Programm mutatis mutandis auch für uns das
richtige wäre, Also: im Mittelpunkte Kenntnis der vaterländischen
Kunst, ihrer Entwicklung und ihrer wichtigsten Denkmäler; so-
dann Übersicht über die Kunst der andern Völker, soweit als
zum Verständnis der heimischen nötig ist. Der Stoff der dem
Gedächtnis einzuprägenden positiven Daten ließe sich in zwei
vierstündigen oder vier zwei- bis dreistündigen Vorlesungen ganz
wohl bewältigen. Als Wesentliches käme hinzu das unter Leitung
des Professors zu beginnende und durch Privatfleiß fortzusetzende
Studium des Anschauungsapparates. Gewiß, nur den Begabteren
wird es gelingen, tiefer in die Welt des Kunstschönen einzudringen.
Bei den übrigen wird zunächst nur eine Orientierung mehr äußer-
licher Art erreicht werden; aber es ist dadurch der Boden wenigstens
[245]Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichtlichen Studien
so weit vorbereitet, daß die später im Leben zu gewinnenden
Eindrücke und Beobachtungen Wurzel fassen und fortwachsen
können. Die also Vorgebildeten können den vaterländischen
Denkmälern nicht mehr ganz blöde gegenüberstehen; sie können,
wenn ihr künftiger Wohnort sie dazu auffordern wird, an der
Denkmälerforschung und Denkmälerpflege nützlich mitwirken;
sie können, wofern sie Lehrer werden, ihren Unterricht in der oben
angedeuteten Weise dankenswert beleben und bereichern. Aller-
dings setzt die vorgeschlagene Reform voraus, daß an sämt-
lichen
Universitäten die Kunstgeschichte ordnungsmäßig
gelehrt werde.



Nachwort 1914.


Von den obigen im Jahre 1887 ausgesprochenen Wünschen
ist seither einer in Erfüllung gegangen: es sind jetzt alle deut-
schen Universitäten, mit Ausnahme von zweien, wirklich im
Besitz kunstgeschichtlicher Lehrstühle. Dagegen ist eine engere
Verbindung zwischen den kunstgeschichtlichen und geschicht-
lichen Studien, wie ich sie forderte, nicht eingetreten. Man
könnte eher sagen: sie haben sich weiter voneinander entfernt.
Zu einem nicht geringen Teil ist die Kunsthistorie selbst daran
schuld. Daß in den letzten Jahrzehnten ästhetische und psycho-
logische Gesichtspunkte stärker als früher in die Gedankengänge
der Kunsthistoriker hineingezogen wurden, war an sich gewiß
kein Fehler. Aber zu einer verhängnisvollen Verwirrung führte
es, wenn darüber in Vergessenheit geriet, daß die Kunstgeschichte,
wie besonders geartet auch ihre Methoden sind und sein müssen,
doch im letzten Grunde immer Geschichte ist. Auf der
andern Seite habe ich nicht bemerkt, daß die Neigung der
studierenden Historiker, ihren Gesichtskreis nach der Kunstge-
schichte hin zu erweitern, nennenswert zugenommen habe. Wo
persönliche Neigung der einzelnen vorhanden ist, findet sie zwar
heute auf der Universität leichter Befriedigung als damals,
vor 27 Jahren; organisatorische Fortschritte hat der Unterricht
nicht gemacht. Besonders auf die Notwendigkeit, die Archivare
[246]Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichtlichen Studien
kunstgeschichtlich auszubilden, möchte ich heute noch einmal
mit Nachdruck hinweisen. Das Beispiel Frankreich von dem
meine Erörterung ausgegangen war, ist inzwischen durch die
wachsenden Erfolge des dortigen Systems nur noch überzeu-
gender geworden. Bei uns hat sich in demselben Zeitraum
das Arbeitsfeld der heimischen Denkmälerforschung erheblich
ausgedehnt; der Ernteertrag auf ihm wird sich aber noch sehr
verbessern lassen, wenn einmal die Archivare als die berufenen
Vertreter der Lokalhistorie in geregelter Weise mitarbeiten.


[[247]]

WAS WIRD AUS DEM
HEIDELBERGER
SCHLOSS WERDEN?


1901


[[248]][[249]]

Es werden für das Heidelberger Schloß umfangreiche
bauliche Veränderungen geplant. Wer kann die
Nachricht hören ohne Erregung? In dies wunder-
bare Ganze, aus Vergänglichkeit und Ewigkeit, aus
Kunst, Natur und Geschichte zu einem Eindruck
zusammengewoben, wie ihn niemals menschlicher Verstand allein,
auch nicht des größten Künstlers, hätte hervorrufen können, will
man gewaltsam eingreifen — will es verbessern! Also wieder einmal
ist der vandalisme restaurateur, wie die Franzosen das Ding treffend
nennen, auf dem Kriegspfad, und welch edelste Beute hat er sich
ausgewählt.


Bekämpfen wir indessen unser in Wallung geratendes Blut und
suchen in Ruhe uns klarzumachen, worum es sich handelt.


Von vornherein versteht es sich von selbst, daß die Heidel-
berger Schloßruine, wenn man sie sich selbst überläßt, nicht in alle
Zeiten unverändert in ihrem jetzigen Zustande verharren kann: un-
widerstehlich, wenn auch langsam, werden die Elemente an ihrer
Auflösung arbeiten; das ist ein Schicksal, dem ein jedes Bauwerk,
eigentlich schon vom Momente seiner Vollendung an, entgegengeht.
Die oberste Aufsichtsbehörde, das Großherzoglich Badische Finanz-
ministerium, hat deshalb seine volle Schuldigkeit getan, als es sich
an die Bauverständigen mit der Frage wendete: »Was hat zu ge-
schehen, um das Heidelberger Schloß vor weiterem Verfall zu
schützen und vornehmlich seine künstlerisch wertvollen Teile mög-
lichst lange zu erhalten?«


Das erste war, im Jahre 1883, die Einsetzung eines Baubureaus
zur technischen Untersuchung des tatsächlichen Bestandes. Auf
Grund der hieraus gewonnenen Einsicht haben zwei große Kom-
missionen, die eine im Jahre 1891, die andere im Jahre 1901, auf
die obige Frage Antwort gegeben. Die erste — in ihr waren außer
den dem Lande Baden angehörenden Sachverständigen wie Durm,
Lübke usw. die urteilsfähigsten Männer Deutschlands vertreten:
Essenwein aus Nürnberg, Egle aus Stuttgart, Thiersch aus München,
Wagner aus Darmstadt, Raschdorff aus Berlin — stellte einstimmig
einen in sieben Sätzen gegliederten Beschluß auf, dessen Quint-
essenz war: Abweisung jedes Gedankens an Wie-
[250]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
derherstellung heute nicht mehr vorhandener
Teile, allein Erhaltung des Bestehenden.

Dieses Votum wurde allgemein beifällig aufgenommen, ebenso in
dem großen Kreise der Gebildeten wie in dem engeren der Fach-
leute. So z. B. verwies auf der Versammlung der deutschen Archi-
tekten und Ingenieurvereine des Jahres 1896 Steinbrecht, der hoch-
geschätzte Restaurator der Marienburg, auf das Heidelberger
Schloß als auf ein typisches Beispiel für jene Fälle, in denen eine
über die Erhaltungsarbeiten hinausgehende Restauration nicht
statthaft sei. Warum nun ist in diesem Herbst eine neue Kom-
mission berufen worden? Sind neue Tatsachen bekannt geworden,
welche eine Revision des Votums von 1891 nötig machten? Keines-
wegs — das Neue, das eingetreten ist, liegt nicht im Kreise der
Sachen, sondern in dem der Personen. Die treibende Kraft der
neuen Projekte war der neue, um die Mitte der 90er Jahre als
Lehrer an die Technische Hochschule in Karlsruhe berufene Archi-
tekt, Oberbaurat Schäfer. Derselbe übernahm die Ausbesserung
des Friedrichsbaues, des einzigen Gebäudes in der Heidelberger
Schloßgruppe, das nicht als Ruine auf uns gekommen ist. Die
Kommission, der er selbst angehörte, gab ihm als Richtschnur, den
altertümlichen Charakter des Bauwerks durchaus zu schonen. In
welchem Maße er seinen Auftrag überschritten hat, ist bekannt.
Wie es dabei geschehen konnte, daß die bisher verantwortliche
Instanz, das ist die badische Oberbaubehörde, von jeder Mitwirkung
und Kritik ausgeschlossen wurde, braucht uns als eine interne An-
gelegenheit nicht zu beschäftigen. Inzwischen ist Herrn Schäfer,
dessen künstlerische Begabung ebenso allgemein anerkannt wird
wie seine Tatkraft, beim Essen der Appetit gewachsen. Er will den
Otto-Heinrichsbau (der bekanntlich in ganz anderem Sinn und
Maß als der Friedrichsbau Ruine ist) so wiederherstellen, wie er,
Schäfer, glaubt, daß er gewesen ist. Sein Projekt zu begutachten,
war der Anlaß zur Berufung der zweiten großen Kommission. Ihr
gehörten von den Mitgliedern der ersten von 1891 nur ganz wenige
an, und ihr Ergebnis war ein Zwiespalt. Die Architekten G. v. Seidl
(München) und Oberbaurat Kircher (Karlsruhe) sowie die Kunst-
historiker Thode (Heidelberg) und v. Oechelhäuser (Karlsruhe) er-
[251]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
neuerten das Votum von 1891; eine andere Partei, diese nur aus
Architekten bestehend, trat auf die Seite Schäfers, der, wie be-
hauptet wird, mit Zuversicht darauf rechnet, an höchster Stelle
mit seinem Plane durchzudringen.


An einem Denkmal von der Art und Bedeutung des Heidel-
berger Schlosses ist, wie man sich wohl ausdrücken darf, das ganze
deutsche Volk ideeller Mitbesitzer. Es ist nicht anzunehmen, daß
die letzte Entscheidung im Widerspruch mit der öffentlichen
Meinung erfolgen könnte. Pflicht der öffentlichen Meinung ist es
um so mehr, sich über die geplante Maßregel ein Urteil zu bilden.
Sie kann es. Denn in allen wichtigen Punkten kommt es hier nicht
auf eine Geheimwissenschaft an; sie sind allgemein verständlich.



Wie zu erwarten war, wird nun allerdings das Recht auf eine
Meinung von einem sehr kleinen Kreise für sich allein in Anspruch
genommen. Es sind die Architekten, wenigstens die um Schäfer
gruppierten, die als die einzigen wahren Sachverständigen gelten
wollen. Der Gegensatz zwischen Architekten und Kunstgelehrten
pflegt bedauerlicherweise bei ähnlichen Anlässen immer wieder auf-
zutauchen. Es ist deshalb keine müßige Abschweifung, zu unter-
suchen, wie weit er innerlich berechtigt sei. Was ist denn ein Archi-
tekt? und in welchem Verhältnis steht er qua Architekt zu den
Denkmälern der Vergangenheit? Ein Architekt ist teils Techniker,
ein Mann der angewandten Mathematik und Physik, teils Künstler,
Organ der schaffenden Phantasie. Zu den Kunstwerken der Ver-
gangenheit kann er sich aber nur als Forschender, Nachfühlender,
nicht als Schaffender verhalten. Von dem Augenblick, in dem er
in dieses Verhältnis eintritt, wird er — mag er es anerkennen oder
nicht — seiner Aufgabe nach zum Kunstgelehrten, und
was er auf diesem Boden denkt, spricht oder tut, kann nur nach
dem allgemeinen Maße der Kunstwissenschaft gemessen werden.
Der so oft behauptete Gegensatz ist also theoretisch gar nicht vor-
handen. Praktisch tritt er dennoch hervor in dem andern Augen-
blicke, wo der Architekt berufen wird, an ein historisches Kunst-
denkmal irgendwie die Hand zu legen, um zu erhalten oder zu er-
[252]
Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
gänzen oder wiederherzustellen. In dieser Lage wird es erfahrungs-
mäßig sehr vielen Architekten unmöglich, in ihrem Geiste die
wissenschaftliche Funktion und die künstlerische Funktion aus-
einanderzuhalten. Was sie als Künstler im Geiste schauen,
wird ihnen zur historischen Gewißheit; eine psychologisch
ganz begreifliche Verwechslung, aber für das Denkmal eine akute
Gefahr. Als im »historisch« gesinnten 19. Jahrhundert ein Pietäts-
verhältnis zu den Resten der Vergangenheit erwachte, glaubte man,
diesen etwas Gutes zu erweisen, wenn man sie auf diejenige Gestalt
zurückführte, die man sich als die ursprüngliche dachte. Aber der
feinere historische Sinn konnte dabei keine Befriedigung finden:
es hieß, den historischen Verlauf rückwärts korrigieren, und zwar
auf fast immer unsicherer Basis. Nach langen Erfahrungen und
schweren Mißgriffen ist die Denkmalspflege nun zu dem Grundsatze
gelangt, den sie nie mehr verlassen kann: erhalten und nur er-
halten! ergänzen erst dann, wenn die Erhaltung materiell unmög-
lich geworden ist; Untergegangenes wiederherstellen nur unter ganz
bestimmten, beschränkten Bedingungen. Ein Architekt, der unter
diesen allein zulässigen Voraussetzungen eine Restauration über-
nimmt, muß wissen, daß es ein entsagungsvolles, durchaus unfreies
Geschäft ist. Allein archäologisches und technisches Wissen, nicht
künstlerisches Können kommt dabei in Betracht. Es gab und gibt
immer Architekten, Gott sei Dank, die diese Selbstbeschränkung
geübt und sich damit großen Dank verdient haben; es gibt aber
auch — andere.


Ja, leider recht viel andere! Es will uns sogar scheinen, als
hätte zurzeit eine Strömung wieder Oberwasser gewonnen, die eine
beklagenswerte Rückständigkeit der Grundsätze sich zum Ver-
dienst anrechnet. Statuen ergänzen, Bilder übermalen war in
früheren Jahrhunderten allgemeiner Brauch. Heute wird er ver-
urteilt. Der Venus von Milo ihre Arme wiederzugeben oder Leo-
nardos Abendmahl mit einer frischen Farbendecke zu überziehen,
gilt für eine heute unmöglich gewordene Barbarei. Nur gewisse
Architekten glauben dergleichen noch täglich verüben zu dürfen.
Was berechtigt uns denn, soviel Zeit, Arbeit und Geld dem Schaffen
der Gegenwart zu entziehen, um sie den Werken der Vergangen-
[253]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
heit zuzuwenden? Doch hoffentlich nicht das Verlangen, sie einem
bequemeren Genuß mundgerechter zu machen? Nein, das Recht
dazu gibt uns allein die Ehrfurcht vor der Vergangenheit.
Zu solcher Ehrfurcht gehört auch, daß wir uns in unsere Verluste
schicken. Den Raub der Zeit durch Trugbilder ersetzen zu wollen,
ist das Gegenteil von historischer Pietät. Wir sollen unsere Ehre
darin suchen, die Schätze der Vergangenheit möglichst unverkürzt
der Zukunft zu überliefern, nicht, ihnen den Stempel irgendeiner
heutigen, dem Irrtum unterworfenen Deutung aufzudrücken. Wenn
archäologisch gerichtete Architekten ihr Nachdenken auf Restau-
rationszeichnungen wenden, so sind wir ihnen dankbar dafür. Aus-
geführt bedeuten sie eine Vergewaltigung, eine Barbarei trüb-
seligster Art: Gelehrsamkeitsbarbarei.



Sehen wir nun zu, was Schäfer mit dem Heidelberger Schloß
im Sinne hat. Er will hier nicht Denkmalspflege in dem oben
definierten Sinne, sondern Denkmalserneuerung betreiben. Das
Objekt, auf das er hinstrebt, ist der Otto-Heinrichsbau; vielleicht
aber wird es ihm aus taktischen Gründen zweckmäßig erscheinen,
vorher noch den sogenannten gläsernen Saalbau in Angriff zu
nehmen, jenen Frührenaissancebau in der Ecke zwischen Friedrichs-
bau und Otto-Heinrichsbau. Es wäre damit das A gesprochen, auf
welches zwangsmäßig das B folgen müßte. Der Entwurf für den Otto-
Heinrichsbau ist noch nicht veröffentlicht. Von seinen Grundzügen
kann man sich aber ein vollkommen deutliches Bild machen nach
der Restaurationszeichnung von Koch und Seitz, der sich Schäfer
nach Aussage seines Freundes Seitz im wesentlichen anschließt. Der
Ausbau des Innern, der selbstverständlich eine fast ganz freie
Schöpfung Schäfers werden müßte, braucht uns nicht zu beschäf-
tigen; es wäre eine zwar zwecklose und kostspielige, aber sonst un-
schädliche Stilübung; uns interessiert als seinen Folgen nach wich-
tigstes die Umgestaltung der Außenansicht. Für sie projektiert
Schäfer einen kolossalen, die ganze Fassade einnehmenden Zwil-
lingsgiebel und dahinter ein entsprechend kolossales Dach. Dieser
Aufbau würde vom Sockel ab die Höhe des Gebäudes beinahe ver
[254]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
doppeln. Also vollständige Verschiebung der
Proportionen, eine total veränderte Bedeu-
tung und Wirkung der ganzen Fassade
.



Die Freunde des Schäferschen Projekts empfehlen es aus zwei
Gründen: 1. es sei das technische beste Mittel zur Erhaltung des
Bestehenden; 2. es sei an und für sich von großartiger »Originalität
und Schönheit«. Lassen wir unsere Verwunderung über das zweite
Argument vorläufig beiseite und wenden uns zum ersten, das ge-
wiß Anspruch erheben darf, ernstlich geprüft zu werden.


Bei mäßigem Nachdenken drängen sich schon dem Laien einige
ungläubige Fragen auf. Wenn die bestehende Fassadenmauer zu
mürbe ist, um sich selbst zu halten, wie sollen die großen schweren
Giebel, die Schäfer über ihr aufrichten will, ihre Standfestigkeit er-
höhen? Und wie soll das Dach, das nirgends überhängen wird, ein
Mittel sein, die aus dem Mauergrunde vortretenden plastischen Glie-
derungen vor Verwitterung schützen? Weiter: werden nicht die neu
aufzubauenden Giebel mit dem die sichtlichen Spuren des Alters tra-
genden Unterbau in einen ästhetisch unerträglichen Zwiespalt gera-
ten? Die notwendige Folge wird dann sein, daß Schäfer, der schon
an dem relativ gut erhaltenen Friedrichsbau ein Drittel aller Steine
ausgewechselt hat, in noch viel größerem Umfange hier am Otto-
Heinrichsbau die sichtbare Oberhaut des Baukörpers erneuern muß.
Das heißt: der Otto-Heinrichsbau, der ist, wird verschwinden, und
an seine Stelle wird teils eine Kopie, teils ein Neubau treten. Das
sind Erwägungen, die, wie gesagt, schon dem Laienverstande sich
aufdrängen und von den Verteidigern des Schäferschen Projektes
auch nicht widerlegt sind. Hören wir nun die Techniker. Fritz
Seitz, der von 1883 ab die Untersuchung geführt hat, resumierte in
seinem, auch durch den Druck veröffentlichten Gutachten von
1891: »Fundament vorzüglich; Geschoßmauerwerk der Ost- und
Süd- und Westfassaden, abgesehen von den obersten Teilen, gut;
Mauerstärke groß; Hoffassade übersteht im ganzen unbedeutend;
Senkungen nirgends bemerkbar.« Durch die große Kommission des-
selben Jahres wurde sein Urteil bestätigt. Der bei der damaligen
[255]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
Untersuchung nicht beteiligte, zu der diesjährigen Kommission hin-
zugezogene Architekt Gabriel Seidl (Erbauer des neuen Münchener
Nationalmuseums) wiederholte es. Ebenso in freiwilligen Äuße-
rungen Oberbaudirektor Dr. Durm und Oberbaurat Dr. Warth.
Der letztere verneint in längerer Auseinandersetzung aufs be-
stimmteste, daß die Ausführung eines Daches Vorteile für die Er-
haltung bringen würde, die sich nicht auch mit anderen technischen
Mitteln erreichen ließen. »Bei dem geplanten Ausbau werden die
Verhältnisse nicht günstiger werden, denn die Fassade des Otto-
Heinrichsbaus erhält durch das Dach keinen Schutz gegen die
Witterungseinflüsse, sie wird in ihrer Ausdehnung nur vergrößert
durch die gewaltigen, die Dachflächen überragenden Doppelgiebel,
die in erhöhtem Maße der Verwitterung und dem Verfall preisge-
geben sind. Der einzige Erfolg wird darin bestehen, daß sich die
Unterhaltungskosten der neuen Fassade verdoppeln.« Genug, die
überwiegende Majorität der Techniker ist überzeugt, daß die Er-
haltung der Ruine ohne augenfällige Änderung der äußeren Er-
scheinung auf Jahrhunderte verbürgt werden kann. Und
sollte in ferner Zukunft der Augenblick eintreten, wo das nicht mehr
möglich wäre, so ist durch genaueste Zeichnungen und Messungen
schon jetzt vorgesorgt, daß ein Ersatzbau, wenn man ihn dann
haben will, eintreten kann. Eine Gefahr für den Bestand
des Heidelberger Schlosses, außer der durch
Karl Schäfer ihr drohenden, ist heute nicht
vorhanden
.


Es erübrigt, das Schäfersche Projekt auf seinen archäologischen
Wert zu prüfen. Da das Gebäude selbst für die Restauration keine
Anhaltspunkte gibt, muß man die in ziemlicher Zahl erhaltenen
alten Ansichten um Auskunft fragen (vgl. deren Publikation durch
Zangemeister in den Mitteilungen des Schloßvereins Bd. I). Die-
selben zerfallen in zwei Gruppen: solche, die vor, und solche, die nach
dem Brande im Dreißigjährigen Kriege aufgenommen sind. Es
wird daraus ersichtlich, daß die nach dieser Katastrophe vorge-
nommene Restauration der Dachregion eine wesentliche veränderte
Gestalt gegeben hat; ihr gehören die noch jetzt vorhandenen
Giebelansätze über dem Hauptgesims. Die Grundlage für Schäfers
[256]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
Projekt bilden die älteren Zeichnungen. Leider nur sind sie von
ganz kleinem Maßstabe und halten sich in flüchtigen Andeutungen;
mehr als das Allgemeinste, nämlich, daß auf der Westseite ein
Zwillingsgiebel, auf der Ostseite zwei getrennte Giebel und zwischen
ihnen rechtwinkelig zur Fassade stehende Dächer vorhanden waren,
verraten sie nicht; wer danach bauen will, muß seiner Phantasie
einen großen Spielraum geben, was denn auch Schäfer reichlichst
getan hat. Das ist aber noch nicht das schwerste Bedenken. Es
sind nämlich die ältesten der in Frage stehenden Zeugnisse nicht
älter als das Ende des 16. Jahrhunderts; durch nichts wird verbürgt,
daß sie die unveränderte erste Bauidee wiedergeben. Der Bau
war begonnen 1556, vollendet 1563. Der Pfalzgraf war schon vor-
her gestorben. Die Bauleitung scheint gewechselt zu haben.
Vollends für die Epoche von 1563 bis zum Ende des Jahrhunderts
liegt für etwaige Veränderungen jede Möglichkeit offen. Mehrere
Kritiker glauben gemäß dem mit Alexander Colins geschlossenen
Vertrag vom Jahre 1558 die Absicht auf Fassadengiebel mit Be-
stimmtheit verneinen zu sollen. Zwingend ist ihre Beweisführung
wohl nicht, da das argumentum ex silentio eine zu große Rolle darin
spielt. Gewisse, aus dem Bauwerk selbst zu entnehmende Argu-
mente führen jedoch, wenigstens mit Wahrscheinlichkeit, zu dem-
selben Ergebnis. Wie Oberbaudirektor Durm längst nachgewiesen
hat (im Zentralblatt der Bauverwaltung 1884), haben die durch
Merian usw. überlieferten Ansichten, sobald man sie auf dem be-
stehenden Grundriß nachkonstruiert, höchst wunderliche und unge-
schickte Gestaltung der Dächer zur Folge; es ist schwer zu glauben,
daß ein Architekt, der freie Hand hatte, ein Architekt vollends,
der sichtlich aus italienischer Tradition hervorgegangen war, auf
dergleichen soll geraten sein; anders, wenn die Giebel ein später
hinzugetretener Baugedanke waren und wenn mit dem Zwang ge-
gebener Verhältnisse gerechnet werden mußte. Sodann das Ver-
hältnis von Giebel und Fassade? Niemand kann in ihr etwas
anderes sehen, als eine italienisch inspirierte, in sich völlig ab-
geschlossene
Komposition; in ihren Linien ist nicht die
leiseste Andeutung von etwas, das nach weiterer Entwicklung und
Lösung verlangte; nicht die leiseste Andeutung, daß über dem
[257]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
Hauptgesims (außer der selbstverständlich vorauszusetzenden Krö-
nung durch Ballustraden, o. dgl.) noch ein wichtiger Bauteil folgen
müßte oder auch nur könnte. Die hohen Giebel, wann immer sie
hinzugekommen sein mögen, sind unmöglich mit dieser Fassade
zugleich erdacht. Und gesetzt, sie wären schon unter Otto Heinrich
beschlossen worden, so wäre es doch immer eine von der ersten Idee ab-
biegende, nachträgliche Konzession an die nordischen Gewohnheiten.


Archäologisch liegt also der Fall so: das Versprechen,
den Otto-Heinrichsbau so wieder herzustellen,
wie er gewesen ist, kann nicht eingelöst wer-
den, weil niemand, auch nicht Karl Schäfer,
mit Sicherheit angeben kann, wie er ausge-
sehen hat. Das relativ Wahrscheinlichere
ist, daß er anders ausgesehen hat, als auf
Schäfers Projekt
.


Den Rest der Kritik besorgt wirksamst das Lob der Gesinnungs-
genossen. Architekt Fritz Seitz rühmt die »Originalität« des Ent-
wurfes. Architekt Ludwig Dihm protestiert dagegen, daß man darin
eine bloße Kopie sehen wolle; nein, »es handelt sich um eine ganz
hervorragende selbständige Kunstleistung im Geiste der
Alten. Schäfers Wiederaufbau wird eine Tat ersten Ranges werden.«
Das ist so deutlich gesprochen, als wir Antirestauratoren es nur
irgend wünschen können. Im Namen der Denkmalserhaltung wird
Schäfer ans Werk gerufen, — und das Ende ist, daß das Denkmal
verschwinden soll, um der »selbständigen Tat« Schäfers Platz zu
machen. Im übrigen vergesse man nicht, ein wie bedingter Wert
derselben auch im günstigsten Falle nur zukommen kann. Es steht
damit nicht anders, als wie wenn ein geschickter Philolog zu einem
fragmentierten alten Gedicht das fehlende Stück nach ungefährer
Inhaltsüberlieferung hinzudichtet. Es kann dabei ein amüsantes
Virtuosenstück entstehen, niemals echte Kunst. Die Philologen-
dichtung aber braucht niemand zu lesen, und sie alteriert nicht den
Eindruck der echten Teile; Schäfers Rekonstruktion — ich muß
es wiederholen — würde den künstlerischen Charakter des Otto-
Heinrichsbaus innerlichst umwandeln.



Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 17
[258]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?

Wir haben bis dahin das Gebäude für sich allein betrachtet.
Nun aber denke man sich, welchen Eindruck der funkelnagelneue
Schäfersche Ersatz-Otto-Heinrichsbau im ganzen der Schloßruine
machen wird! Er wird als eine schreiende Dissonanz dastehen. Er
und die ihn umgebenden Ruinen werden sich wechselseitig un-
möglich machen. Es wäre dasselbe, wie wenn man auf der Akro-
polis von Athen einen einzelnen Tempel wiederaufbauen und alles
übrige liegen lassen wollte, wie es ist. Wer hier höhnisch von »Senti-
mentalität« und »Romantik« spricht, beweist nur seinen gänzlichen
Mangel an ästhetischem Takt. Daß Altes auch alt erscheinen soll
mit allen Spuren des Erlebten, und wären es Runzeln, Risse und
Wunden, ist ein psychologisch tief begründetes Verlangen. Der
ästhetische Wert des Heidelberger Schlosses liegt nicht in erster
Linie in dieser oder jener Einzelheit, er liegt in dem unvergleich-
lichen, über alles, was man mit bloß architektonischen
Mitteln erreichen könnte, weit hinausgehenden Stimmungsakkord
des Ganzen.


Verlust und Gewinn im Falle fortgesetzter Verschäferung des
Schlosses lassen sich deutlich übersehen. Verlieren würden wir das
Echte und gewinnen die Imitation; verlieren das historisch Ge-
wordene und gewinnen das zeitlos Willkürliche; verlieren die Ruine,
die altersgraue und doch so lebendig zu uns sprechende, und ge-
winnen ein Ding, das weder alt noch neu ist, eine tote akademische
Abstraktion.


Zwischen diesen beiden wird man sich zu entscheiden haben.



Wir haben Grund zu hoffen, daß die »schicksalskundige Burg«
auch diese neueste, seltsamste Gefahr noch überstehen wird. Wer
dies Blatt in die Hand bekommt, soll sich aber klar machen, daß
die Gefahr keine vereinzelte ist. Möchte doch das vertrauensvolle
Publikum es endlich bemerken, daß der Sache nach Ähnliches, mag
es auch in kleinerem Maßstabe sein, fortwährend bei uns geschieht.
Das bedrohte Heidelberg liegt überall.



[259]Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?

Nachwort 1914.


Die obige Flugschrift aus dem Jahre 1901 war eine der ersten
Stimmen in dem bald gewaltig anschwellenden Chor einer Er-
örterung, die jahrelang von der öffentlichen Meinung Deutsch-
lands mit leidenschaftlicher, nie müde werdender Teilnahme ver-
folgt wurde. Die vielen Worte, die damals gewechselt wurden, sind
nicht ohne Frucht geblieben. Die Frage ist jetzt praktisch be-
antwortet, und Deutschland weiß, warum sie nicht anders beant-
wortet werden durfte. Aus jenem Streite bleibt das Gute zurück,
daß auch die weiteren Kreise über die Grundfragen der Denkmals-
pflege nachdenken gelernt haben.



[[260]][[261]]

DENKMALSCHUTZ
UND
DENKMALPFLEGE
IM NEUNZEHNTEN
JAHRHUNDERT


1905
Festrede an der Kaiser-Wilhelms-Universität
zu Straßburg, den 27. Januar 1905


[[262]]
[[263]]

Hochansehnliche Festversammlung!


Der Tag des Kaisers ist gekommen, und wie alljähr-
lich haben wir uns vereinigt, ihn festlich zu be-
gehen. Das Arbeitsleben der Gegenwart gönnt sich
selten Unterbrechungen. Die Zahl der Feste, die
wir feiern, hat sich gegen die Unersättlichkeit
früherer Zeiten sehr verringert; noch mehr die Stimmung und Be-
gabung, solchen erhöhten Momenten unseres Daseins künstlerische
Gestalt zu geben. Ein neues Fest doch haben wir uns geschaffen:
Das Fest des Deutschen Kaisers! Lange bevor dieses Fest möglich
wurde, als ein allgemeines, politisches, haben Akademien und
Universitäten die Feier des landesväterlichen Geburtstages als ein
Ehrenvorrecht sich gesichert. Und dieser Tradition verdanken wir
es, daß wir, die akademische Korporation und die jungen Komili-
tonen, den Kaiserlichen Statthalter und die Häupter des Heeres,
der Landesverwaltung, der Kirchen und der Stadt alljährlich hier
als Gäste begrüßen dürfen, um mit ihnen vereinigt Seiner Maje-
stät unsere Glückwünsche in Ehrfurcht und herzlicher Wärme
entgegenzubringen.


Was wir von festlichen Formen dieser hohen Versammlung an-
bieten können, bleibt in den Grenzen unseres Berufes. Wir müssen
unsere Gäste bitten, es sich gefallen zu lassen, daß einer aus
unserer Mitte vortritt, redend, zu erkennen gebend, daß auch in
der Enge der einzelnen Werkstatt bei uns gearbeitet wird im Ge-
danken an die Gesamtheit. So entlegen und verborgen alltags diese
Werkstatt sein mag, wenn nur ein Weg von ihr zum Mittelpunkt
hinführt, so können wir sicher sein auf diesem Wege der Gestalt
unseres Kaisers zu begegnen. Er glaubt nicht wahrhaft Kaiser sein
zu können, ohne auch als Mensch das Leben seines Volkes mensch-
lich mitzuleben, mitbewegt von jeder Bewegung, von jedem Streben
und Widerstreben. In der Jahrtausende alten Reihe fürstlicher
Mäzene ist er ein neuer Typus. Die Art, wie er persönliche Teil-
nahme an den Problemen der heutigen Kunst und Wissenschaft
mit seinem staatlichen Pflichtgefühl verbindet, wird einem künf-
tigen Historiker zu Betrachtungen eigenartigsten Interesses Anlaß
[264]Denkmalschutz und Denkmalpflege
geben. Wir wissen, wie sehr ihm insonderheit die Pflege der Kunst-
und Altertumsdenkmäler unseres Vaterlandes am Herzen liegt. Es
ist ein Gebiet, auf dem Theorie und Praxis noch keinen vollen Aus-
gleich gefunden haben, wo noch viele Probleme zu lösen sind. So
erlauben Sie mir, heute von diesen Problemen auf Grund der schon
hinter uns liegenden Erfahrungen zu sprechen; zu sprechen von
Denkmalschutz und Denkmalpflege im 19. Jahr-
hundert.


Ich weiß nicht genau anzugeben, wann das Wort »Denkmal-
pflege« zuerst bei uns aufgetaucht ist. Älter als 25 Jahre wird es
kaum sein. In der Sprache der Wissenschaft und im Gebrauch der
Verwaltungen ist es jetzt rezipiert; in der Sprache des täglichen
Lebens versteht man unter Denkmälern wohl in erster Linie nur
solche Werke, die in der Absicht errichtet sind, bestimmte Er-
innerungen, am häufigsten die Erinnerung an Personen, festzu-
halten. Der Begriff des Denkmals, den die Denkmalpflege im Auge
hat, geht erheblich weiter: er umfaßt, um es kurz zu sagen, alles,
was wir sonst wohl auch mit dem Doppelnamen »Kunst- und Alter-
tum« zu bezeichnen pflegten. Diese Definition ist keine vollkom-
mene, aber als Grundlage für die heutige Erörterung mag sie ge-
nügen, indem sie die aus ästhetischen und historischen Merkmalen
gemischte Doppelnatur des Objektes wohl erkennen läßt.


Das in der Denkmalpflege angegriffene Problem ist ein Teil
des großen und allgemeinen: Wie kann die Menschheit
die geistigen Werte, die sie hervorbringt, sich
dauernd erhalten?
Es wäre wahrlich ein schöner Gedanke:
fortlaufende, verlustlose Aneinanderreihung dieser Werte zu einem
stetig anwachsenden Kapital. Die Wirklichkeit der Dinge sieht
nicht danach aus. Zunächst verändert sich schon von Geschlecht
zu Geschlecht die subjektive Aufnahmefähigkeit. Es ist sicher, daß
Phidias oder Giotto auf uns anders wirken, als sie auf ihre Zeit-
genossen gewirkt haben, und ebenso sicher, daß man in fünfhundert
Jahren Goethe nicht mehr ganz verstehen wird. Verlusten dieser
Art durch Verfeinerung des historischen Sensoriums entgegenzu-
wirken ist eine Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft. Eine
zweite Gefahr für die Fortexistenz geistiger Werte liegt in ihrer
[265]Denkmalschutz und Denkmalpflege
Bindung an materielle Substrate. Offenbar sehr ungleich sind hier
die Aussichten. Um nur im Gebiete der Künste zu bleiben: Unter-
gang der Werke Goethes oder Beethovens ist nicht vorauszusehen,
es wäre denn, daß vorher ungeheure Kulturkatastrophen einträten.
Dagegen ist es völlig gewiß, daß wir die Werke Raphaels schon
heute nur in sehr abgeschwächter Form besitzen, und daß die Zeit
nicht allzu ferne ist, wo man sie nur aus Kopien kennen wird. Das
Schicksal hat die Werke der bildenden Kunst nicht gut gestellt.


Und eiliger noch als die Naturgewalten haben es die Menschen
selbst mit ihrer Vernichtung. Die Baukunst zerstört die Baukunst.
So war es immer und man nahm es hin, wie eine Naturnotwendigkeit.


Wäre nun aber nicht möglich, durch planmäßig und gesell-
schaftlich geübten Schutz den zerstörenden Mächten entgegenzu-
treten und damit die Daseinsdauer unseres Kunst- und Denkmäler-
schatzes um eine gute Frist wenigstens zu verlängern? Der Gedanke
ist in Wahrheit nicht älter als das 19. Jahrhundert und trägt
durchaus dessen geistiges Gepräge an der Stirn. Er gehört in die
Reihe der von der großen Revolution hervorgerufenen Gegen-
wirkungen. Das 19. Jahrhundert kam zu ihm nicht durch ein
neues Wissen, sondern durch eine neue Gesinnung.


Zerstörung der Werke älterer Kunstepochen ist nicht ohne
weiteres ein Zeichen von Barbarei; es kann auch die Folge über-
strömender Schaffenslust einer sich selbstvertrauenden Gegenwart
sein. Das 16., 17., 18. Jahrhundert betrachteten es als ihr gutes
Recht, Altes zu beseitigen, wenn für sie ein Neues, in ihrem Sinne
selbstverständlich zugleich ein Besseres, Raum schaffen wollten.
Wieviel alte Kunst so zugrunde gegangen ist, ist nicht zu ermessen.
Aber immer trat ein Neues an ihre Stelle. Der großen Revolution
erst war es vorbehalten zu zerstören aus Grundsatz, zu Ehren der
Aufklärung und zur Evidentmachung des Rechtes der Lebenden.
Die Geschichte unseres Münsters ist typisch für beide Epochen.
Die herrliche Innenausstattung aus dem Jahrhundert Erwins, die
das Reformationsjahr 1524 zum größten Teil noch geschont hatte,
wurde 1681 bei der Katholisierung, durch barockes Mobiliar, das
damals für besonders katholisch galt ersetzt. Und im Herbst 1793
wurden auf Befehl des vom Konvent eingesetzten Bürgermeisters
[266]Denkmalschutz und Denkmalpflege
Monet binnen 3 Tagen 235 Statuen, wie das amtliche Protokoll
mit Genugtuung feststellt, in Stücke geschlagen; der Münsterturm
selbst sollte abgetragen werden. An ungezählten Kirchen Frank-
reichs wiederholten sich diese Orgien des Vernunftsfanatismus.
Mehrere der allerersten Bauwerke, wie die Abteikirchen zu Cluny
und S. Martin in Tours, wurden dem Erdboden gleichgemacht.


Leider haben die Grundsätze der Revolution sie selbst weit
überdauert. Unter dem Kaiserreich, unter den hergestellten Bour-
bonen, in den deutschen Rheinbundstaaten — überall blieben in
der Behandlung der Denkmäler die rohesten und niedrigsten Nütz-
lichkeitserwägungen in Kraft. Als typisches Beispiel diene die Ge-
schichte der Abtei Schwarzach unweit Würzburg. Kirche und
Klostergebäude waren erst fünfzig Jahre vor der Säkularisation
neu aufgebaut worden, eine der vornehmsten Schöpfungen Bal-
thasar Neumanns, den wir heute zu den größten deutschen Bau-
künstlern aller Zeiten rechnen, geschmückt mit Deckengemälden
Tiepolos. Die neue bayerische Verwaltung wollte die Unterhaltungs-
kosten der kleinen Dorfgemeinde zuschieben; die Gemeinde wehrte
sich; endlich wurde man einig die Prachtbauten abzubrechen und
ihre Steine als Chausseematerial zu zerklopfen; das wurde langsam
und bedächtig ausgeführt von 1820 - 30. Ungefähr nach diesem
Muster ging es ungezählten anderen. Verlassene Burgen und
Kirchen als Steinbrüche den Umwohnern preiszugeben, war bis
ins 19. Jahrhundert eine verbreitete Sitte, wie es z. B. das Nieder-
münster am Odilienberg erfahren mußte, dessen in Schutt ver-
sunkenen Reste wir in den letzten Jahren wieder ausgegraben haben.
Der englisch-hannoverschen Regierung genügte ein Angebot von
1505 Talern, um den Abbruch des unlängst erst, unter der kurzen
preußischen Verwaltung, ausgebesserten Doms von Goslar zu be-
schließen. Glücklich noch die, die würdig befunden wurden, eine
Fabrik oder eine Strafanstalt aufzunehmen.


Man kann ungefähr die 1830er Jahre als die Zeitgrenze an-
sehen, um welche der von Obrigkeits wegen betriebene Denkmals-
frevel aufhörte als eine gute Verwaltungsmaxime zu gelten. Er
stand schon längst im Widerspruch, man kann nicht sagen mit der
Volksmeinung, aber mit der Meinung aller Gebildeten.


[267]Denkmalschutz und Denkmalpflege

Es war ein Verdienst der Revolution, daß sie die Menschen
über die Irrtümer der Weltanschauung, aus der sie hervorgegangen
war, gründlich aufklärte. Der Glaube an die Aufklärungsideale
schwand, das 19. Jahrhundert vertraute sich einem neuen Geiste
an, dem historischen Geiste. Der trat mit völlig veränderten
Maßstäben an die Wertung der Dinge heran. Er durchdrang alle
Wissenschaften, ihm unterwarf sich auch die Kunst — ich will
hier nicht fragen, ob zu ihrem Glück. Herrliche Entdeckerfreuden
hat unter seiner Führung das 19. Jahrhundert erlebt. Es ist nicht
zu sagen, um wieviel das Weltbild an Tiefe der Perspektive gewann.
Man war beglückt, wenn man im Gegenwärtigen ein fortlebendes
Altes nachweisen konnte. Man forschte nach Altertümern der
Sprache, nach Altertümern des Rechts, nach Altertümern der
Sitte; wie sollten da nicht — allen, freilich sehr fest gewurzelten,
ästhetischen Vorurteilen zum Trotz — auch die Altertümer der
Kunst an die Reihe kommen, sie, die über wichtige Regionen der
innersten Volksgeschichte Auskünfte zu geben hatten, wie sie in
keiner anderen Quelle zu finden wären. Dies ist der Ursprung der
Denkmalspflege. Ohne die Dichter der Romantik, die Gelehrten
der historischen Schule wäre sie niemals möglich geworden, wie sie
durch diese zur Notwendigkeit wurde. Im Laufe ihrer weiteren,
sich abklärenden Entwicklung hat die Denkmalspflege Mühe genug
gehabt, mehr noch als irgendeine andere der historischen Diszi-
plinen, ihre Mitgift romantischer Illusionen wieder abzustoßen; ja
sie ist bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig von ihnen befreit;
vergessen wollen wir nie, woher die Grundgesinnung stammt, mit
der unsere Denkmalpflege steht und fällt.


Sie ist nach ihrem Wesen am leichtesten deutlich zu machen
durch den Vergleich mit der Sammlertätigkeit früherer Zeiten. Die
Sammler des 16., 17., 18. Jahrhunderts sammelten aus ästhetischen
Motiven oder aus irgendeiner sonst begründeten Liebhaberei; sie
kannten Kunstepochen, die sie bevorzugten, und andere, sehr viele
meist, die sie verachteten; immer war der Maßstab der Wert-
schätzung ein subjektiver. Die Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts
kennt grundsätzlich solche Unterscheidungen nicht. Ihr letzter
Beweggrund ist die Achtung vor der historischen
[268]Denkmalschutz und Denkmalpflege
Existenz als solcher. Wir konservieren ein Denkmal nicht,
weil wir es für schön halten, sondern weil es ein Stück unseres
nationalen Daseins ist. Denkmäler schützen heißt nicht Genuß
suchen, sondern Pietät üben. Ästhetische und selbst kunsthisto-
rische Urteile schwanken, hier ist ein unveränderliches Wertkenn-
zeichen gefunden.


Nun aber zeigt sich noch von einer ganz anderen Seite her der
Gedanke des Denkmalschutzes als Angehöriger einer neuen Zeit.
Anscheinend lediglich konservativ in seiner Tendenz, wie es auch
seiner Entstehung in der Restaurationsepoche entspricht, führt er
zu Konsequenzen, die, zunächst noch unbewußt, aber ganz unwider-
stehlich, nach einer völlig anderen Richtung hindrängen: ich weiß
keinen Namen dafür, als nur den des Sozialismus. Diese soziali-
stische Tendenz ist es fast noch mehr als die konservative, die die
Interessen des Denkmalschutzes praktisch nicht selten mit dem
Liberalismus in Konflikt geraten lassen. Wie ich am Eingang
meines Vortrages sagte, die Werke der bildenden Kunst seien
in bezug auf Dauer am schlechtesten gestellt, so muß ich jetzt hin-
zufügen: sie sind auch durch unser Rechtssystem und unser Wirt-
schaftssystem am schlechtesten gestellt. Das ist die Folge ihrer
geistig-körperlichen Doppelnatur. Das herrschende Recht berück-
sichtigt sie nur als körperliche Wesen, und doch ist es die allge-
meine Überzeugung, daß ihr wahres Wesen ein geistiges sei. Das
Interesse, das die Gesamtheit an ihnen hat, überwiegt ganz uner-
meßlich das Interesse des Individuums — soll es ungeschützt
bleiben?


Der verstorbene Baron Rothschild in Frankfurt wußte die
schönste Sammlung von Werken der Goldschmiedekunst zusam-
menzubringen, die bekanntlich ein Stolz der künstlerischen Ver-
gangenheit Deutschlands ist. Er ruhte nicht, bis er auch das be-
rühmteste dieser Werke, den Jamnitzerpokal, in Händen hatte.
Derselbe hatte bis dahin im Germanischen Museum in Nürnberg
gestanden, als Eigentum zwar einer in unendlich viele Zweige ge-
spaltenen Nürnberger Patrizierfamilie, die sich schließlich genötigt
sah, ihn an den Meistbietenden zu veräußern. Bald darauf starb
Rothschild und vermachte seinen goldenen Hort einem Vetter in
[269]Denkmalschutz und Denkmalpflege
Paris. Die Franzosen haben aber ihre Rothschilds besser erzogen,
als wir die unsrigen. Der Jamnitzerpokal ging alsbald als Geschenk
in Besitz des Louvremuseums über und dort müssen wir Deutsche
ihn nun aufsuchen. — Theoretisch läßt sich dieser Fall zu be-
liebigen Dimensionen ausdehnen. Es stände rechtlich nichts dem
entgegen, daß irgendein Krösus sämtliche Bilder Rembrandts in
seine Hand brächte und für die übrige Welt unsichtbar machte,
vielleicht in einer herostratischen Laune sie vernichtete. — Was
ich mit diesen grellen Beispielen ins Licht setze, geschieht in
kleinerem Maßstabe täglich in tausendfältiger Wiederholung. Man
muß eine Zeitlang in diese Verhältnisse mit eigenen Augen hinein-
gesehen haben, sonst hält man es nicht für glaublich, wie groß
noch heute — obgleich die schlimmsten Zeiten längst vorüber sind
— der fortlaufende Schwund an alter Kunst sich summiert. Eine
Hauptrolle spielt hiebei der mit wundergleicher Findigkeit begabte
Antiquitätenhandel: er ist vergleichbar den Staubaufsaugemaschi-
nen, mit denen neuestens unsere Wohnungen gereinigt werden: so
dringt er in die verborgensten Winkel ein und befreit sie von ihrem
Kunstbesitz. Ich verkenne keineswegs, daß dieser Handel auch
Guts tut, indem er Verborgenes ans Licht zieht, das sonst unbe-
merkt verkümmern würde. Ganz überwiegend ist aber doch seine
Wirkung destruktiv. Denn die Mehrzahl der in Frage kommenden
Objekte haben ihre historische und künstlerische Bedeutung nur
in dem bestimmten Zusammenhang, für den sie geschaffen waren;
sie aus demselben loslösen, heißt meistens die größere Hälfte ihres
Wertes auslöschen. Der Handel führt hier also nicht bloß zu einem
Besitzwechsel, sondern auch zur Wertverminderung. In diesem
Sinne sind selbst die staatlichen Museen, wie wir mehr und mehr
einsehen, keineswegs die ideale Form der Denkmalbewahrung. Ein
alter Schnitzaltar kann in der traulichen Mitte einer Dorfkirche
und als Zeugnis einer alten lokalen Kunstübung Eindruck machen;
im Altertumsmuseum, in einer Reihe mit 50 anderen ähnlichen
Stücken, verliert er seine Individualität und wird uns gleichgültig
Der Kunsthandel arbeitet aber nur zum kleinsten Teil für Museen,
zum größeren für Private und für das Ausland. Die wirtschaftlich
stärkeren Völker erhalten auch nach dieser Seite die Übermacht.
[270]Denkmalschutz und Denkmalpflege
Die angelsächsische Rasse ist diejenige, die am wenigsten Kunst
geschaffen hat: jetzt erweist sie den ärmeren, aber geistreicheren
Völkern die Ehre einer Ausplünderung, die, seitdem Amerika mittut,
für den Kunstbestand des historischen Europas eine schwere Ge-
fahr bedeutet.


Ich habe zuletzt nur von der Klasse der beweglichen Denk-
mäler gesprochen. Eigentlich einen noch schwereren Stand haben
die unbeweglichen. Der Strom des modernen Wirtschafslebens
sieht in ihnen nur Hindernisse; er unterspült sie, verschlingt ein
Stück nach dem andern von Tag zu Tag.


Genug! Von dem Augenblicke an, wo ein ernstlicher Wille
zum Denkmalschutz da war, mußte man auch darüber sich klar
werden: er sei nicht durchführbar ohne Beschränkung des Privat-
eigentums, ohne Beschränkung der Interessen des Verkehrs, der
Arbeit, der individuellen Nützlichkeitsmotive überhaupt. Das ist
es, weshalb ich ihn sozialistisch nannte.


Wie weit ist nun der Staat solchen Forderungen entgegenge-
kommen? Ich werde hierüber im Rahmen meines heutigen Vor-
trages sehr kurz sein müssen.


Eine Zeitlang schien es, als wolle Deutschland mit der Ver-
wirklichung sich an die Spitze stellen. In den schönen, ideen-
reichen Jahren der Befreiungskriege tauchten, zuerst in Preußen,
weitgehende Pläne auf; Sulpiz Boisserée und Karl Friedrich
Schinkel sind hier an erster Stelle zu nennen, beide Schüler der
Romantik; auch Goethe warf sein Wort und seinen Namen in die
Wagschale. Bald aber wurde es wieder still. Und ich kann das
nicht unbedingt bedauern. Gerade Schinkel, den ich als Künstler
noch immer höher bewundere als es heute im allgemeinen üblich
ist, er, der den Ausbau der Akropolis von Athen zum Königspalast
unter seine Lieblingsgedanken zählte, wäre, eben weil er so sehr
Künstler war, ein gefährlicher Denkmalspfleger geworden.


Der Ruhm der ersten gelungenen Initiative, der ersten plan-
mäßigen Ordnung des Denkmalschutzes durch den Staat, gehört
Frankreich. Den Anstoß gab auch hier die romantische Schule.
Zwei ihrer Häupter, Viktor Hugo vom linken, Graf Montalembert
vom rechten Flügel, eröffneten den Kampf. Ihre Forderungen
[271]Denkmalschutz und Denkmalpflege
nahm der Historiker Guizot auf. Minister des Julikönigtums ge-
worden, ließ er die Errichtung einer Generalinspektion der Denk-
mäler eine seiner ersten Taten sein, im Jahre 1830 noch. Erster
Inhaber dieses Amtes war der Historiker Vitet, ihm folgte bald in
langer fruchtbarer Amtszeit Prosper Mérimée. Der Ursprung der
Denkmalpflege aus dem Kreise der Literaten und Gelehrten liegt
hier in unmittelbarer Deutlichkeit vor Augen; die Heranziehung
der Künstlerwelt ist erst eine jüngere Folgeerscheinung.


Sehr bald aber wurde Frankreich überflügelt, theoretisch
wenigstens, vom jüngsten der europäischen Staaten, von Griechen-
land. Am 10. Mai 1834 erschien hier ein umfangreiches Gesetz,
das ebenso durch den sorgfältig durchdachten Ausführungsapparat,
den es anordnet, als durch den kühnen Idealismus seines Grund-
gedankens überrascht: — die Gesamtheit beweglicher und unbe-
weglicher Altertümer erklärt es für Nationaleigentum aller Hellenen,
wofern nicht auf dem Wege eines besonderen Verfahrens die Un-
erheblichkeit einzelner Gegenstände amtlich ausgesprochen ist. Der
Verfasser war ein deutscher Professor, Ludwig Maurer. Was die
neuen Hellenen damit praktisch angefangen haben, ist natürlich
eine andere Frage.


Hinter dem hier aufgestellten Ideale blieb das alte Europa
weit zurück. Ich habe schon angedeutet, aus welchen Gründen.
England hat auf einen staatlichen Denkmalschutz verzichtet bis
heute; es gibt ein Gesetz von 1873, das faßt aber nur die kleine
Gruppe der sog. megalythischen Denkmäler der Urzeit ins Auge,
läßt also das Hauptproblem ungelöst. Die festländischen Staaten
halfen sich mit vereinzelten Verordnungen auf dem Verwaltungs-
wege, oft auch nur aus polizeilichen und fiskalischen Motiven. Was
damit erreicht wurde, war ein keineswegs zu unterschätzender
Fortschritt gegen den grundsätzlich freigegebenen Vandalismus
früherer Zeiten, im ganzen aber sind es doch nur Abschlagszahlungen
und Kompromisse. Vor einer Regelung durch Gesetz scheute man
lange zurück. Sie ist zuerst versucht worden, abgesehen von
Griechenland, in Schweden 1867, wo von Gustav Adolf her eine
besonders denkmalfreundliche Tradition sich erhalten hatte. Da-
nach in Frankreich 1887. In Deutschland zuerst im Großherzog
[272]
Denkmalschutz und Denkmalpflege
tum Hessen 1902 und bis jetzt auch noch allein. Doch wird Preußen
in kurzer Frist folgen.


Gestatten Sie mir einige nähere Mitteilungen über das hessische
Gesetz. Verfaßt von einem denkmalsfreundlichen Juristen und an-
genommen von einer wohlwollenden Kammer, stellt es wohl das
Maximum dessen dar, was heute erreicht werden kann. Von juri-
stischer Seite hat es schon den Vorwurf erfahren, daß es zu weit
gehe. Mir erscheint es so schonend, als mit dem gewollten Zweck
irgend zu vereinigen ist. Das Gesetz hat sich gleich darin eine
große Zurückhaltung auferlegt, daß es die weite Klasse der beweg-
lichen Gegenstände in Privatbesitz — andere Länder, z. B. Italien,
halten gerade deren Schutz für besonders dringlich — außer Be-
tracht läßt. Bewegliche Denkmäler (zu denen sehr zweckmäßig
auch Urkunden gerechnet werden) sind also nur geschützt, insofern
sie Eigentum des Staates, der Kirche und der Gemeinden sind.
Dagegen schützt das Gesetz die Baudenkmäler in vollem Umfange,
auch die in Privatbesitz. Für jede an diesen beabsichtigte Ver-
änderung besteht Anzeigepflicht und wird nötigenfalls Entschädi-
gung oder Enteignung in Aussicht genommen. Beaufsichtigt werden
die Denkmäler durch einen oder mehrere vom Staate bestellte Denk-
malpfleger. In wichtigeren Fällen aber soll ein Denkmalrat hin-
zugezogen werden, bestehend aus je einem Vertreter der evan-
gelischen und katholischen Kirche, mindestens zwei Mitgliedern
hessischer Altertums- und Geschichtsvereine und zwei hessischen
Denkmalsbesitzern. Endlich soll außer dem Denkmal selbst auch
seine Umgebung geschützt werden. Die Aufnahme dieser Bestim-
mung ist besonders dankbar zu begrüßen. Man kann Bauwerke
nicht isolieren, sie sind nicht Museumsstücke. Es kann ein Denkmal
auch indirekt zerstört werden: durch Mißklänge in seiner Um-
gebung. Ein modernes Warenhaus auf den Marktplatz einer alten
Stadt gestellt, oder ein grell aufdringliches Reklameschild auf einem
alten Hause genügt, dies trauliche und charaktervolle Bild in ein
abstoßendes zu verwandeln. Für Forderungen der Gesundheits-
polizei haben wir ein offenes Ohr bekommen; daß es auch eine
Hygiene für unsere seelische Hälfte geben sollte, hat man nicht
wissen wollen. Mit lebhafter Freude ist es zu begrüßen, daß seit
[273]Denkmalschutz und Denkmalpflege
kurzer Zeit auch hier die Einsicht zu tagen beginnt. Was das
hessische Gesetz generell regeln will, ist hie und da von einzelnen
Stadtverwaltungen schon praktisch in die Hände genommen.
Möchte es nur immer ohne Pedanterie geschehen! Es kommt gar
nicht darauf an, bei Neubauten in altertümlicher Umgebung das
zu wahren, was die Leute »Stil« nennen und was in der Regel nichts
ist als eine künstliche, unwahre Altertümelei: sondern allein darauf,
in den Massenverhältnissen und in der künstlerischen Gesamt-
haltung sich dem überlieferten Straßenbilde anzupassen, was ganz
wohl auch in modernen Formen geschehen kann. Die Institution
des Denkmalsrates, die das hessische Gesetz für das Land im ganzen
anordnet, sollte im kleinen in jeder Stadt von historischem Ge-
präge wiederholt werden als eine Schutzwehr nicht nur für die
einzelnen eingetragenen Denkmäler, sondern für den genius loci
überhaupt.


Ich komme hiermit zu der Erwägung, die sich mir bei Betrach-
tung der Versuche, den Denkmalschutz vom Staate aus zu reali-
sieren, am stärksten aufdrängt: sie ist die, daß der Staat, so uner-
läßlich sein Eingreifen ist, die Aufgabe nur halb lösen kann. Der
Staat hat nicht Augen genug, er kann nicht all das Viele und
Kleine, auf das es ankommt, sehen; seine Organe sind auch nicht
geschmeidig genug, den immer wechselnden örtlichen Verhältnissen
sich prompt anzupassen. Einen ganz wirksamen Schutz wird nur
das Volk selbst ausüben, und nur wenn es selbst es tut, wird aus
den Denkmälern lebendige Kraft in die Gegenwart überströmen.
Das Volk! Möge es nicht scheinen, daß ich das tönende Erz der
Phrase damit in Bewegung setze. Ich denke mir darunter völlig
Bestimmtes. Ich denke zunächst an die kommunalen Verbände,
vor allem die städtischen. Fast möchte ich hier den Schwerpunkt
der praktischen Denkmalpflege suchen. Hier vor allem wird dafür
zu sorgen sein, was ich oben den Schutz des genius loci nannte.
Ich denke an die Vereine. Ich denke besonders auch an die Schule.
Sie sollte von der Volksschule an auf allen Stufen der Denkmal-
kunde von Stadt und Provinz ihre Aufmerksamkeit schenken.
Unsere ruhelose Zeit hat nichts nötiger, als daß der Jugend ein
örtliches Heimatsgefühl in klaren, unvergeßlichen Bildern ins Leben
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 18
[274]Denkmalschutz und Denkmalpflege
mitgegeben werde, zumal in den höheren Ständen, deren Leben
nichts als ein ewiger Ortswechsel ist. Ich denke endlich an Er-
ziehung zur Denkmalsfreundschaft mit allen jenen Mitteln von
Wort, Schrift und Bilddruck, die uns heute in so mannigfaltiger
Anwendbarkeit zur Verfügung stehen. Und indem ich dieses aus-
spreche, kann ich nicht umhin, mit warmem Dankesgefühl dessen
zu gedenken, daß erst kürzlich S. M. der Kaiser durch sein persön-
liches Eingreifen den Wunsch des Denkmalpflegetages nach Her-
stellung eines den ganzen deutschen Denkmälerschatz übersichtlich
zusammenfassenden Handbuchs erfüllbar gemacht hat. In alle
Schichten muß das Gefühl eindringen, daß das Volk, das viele und
alte Denkmäler besitzt, ein vornehmes Volk ist. Wenn das Volk erst
darüber unterrichtet ist, worum es sich handelt, mag es, wo Gegen-
wart und Vergangenheit in Konflikt kommen, die Wahl und Verant-
wortung übernehmen. One Sentimentalität, ohne Pedanterie, ohne
romantische Willkür wollen wir Denkmalpflege üben als eine selbst-
verständliche und natürliche Äußerung der Selbstachtung, als Aner-
kennung des Rechtes der Toten zum Besten der Lebendigen. Nie-
mals zwar werden wir für die Denkmäler der bildenden Kunst die-
selbe Lebensdauer erreichen können wie für die Denkmäler der
Literatur, aber sie über den bisherigen Durchschnitt verlängern,
durch Rechtsschutz und technischen Schutz, das können wir. Und
dieses zuerst gewollt zu haben, wird dem 19. Jahrhundert immer
ein Ruhm bleiben.



Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat aber außer seiner
echten Tochter, der Denkmalpflege, auch ein illegitimes Kind ge-
zeugt, das Restaurationswesen. Sie werden oft miteinander ver-
wechselt und sind doch Antipoden. Die Denkmalpflege will Be-
stehendes erhalten, die Restauration will Nichtbestehendes wieder-
herstellen. Der Unterschied ist durchschlagend. Auf der einen
Seite, die vielleicht verkürzte, verblaßte Wirklichkeit, aber immer
Wirklichkeit — auf der andern die Fiktion. Hier wie überall hat
die Romantik den gesunden Sinn des konservativen Prinzips ver-
fälscht. Man kann eben nur konservieren was noch ist — »was ver-
[275]Denkmalschutz und Denkmalpflege
gangen, kehrt nicht wieder«. Nichts ist berechtigter gewiß als
Trauer und Zorn über ein entstelltes, zerstörtes Kunstwerk; aber
wir stehen hier einer Tatsache gegenüber, die wir hinnehmen
müssen, wie die Tatsache von Alter und Tod überhaupt; in Täu-
schungen Trost suchen wollen wir nicht. Mitten unter die ehrliche
Wirklichkeit Masken und Gespenster sich mischen sehen, erfüllt
mit Grauen. Sollen wir uns dazu die Beschränkungen und Opfer
auferlegen, die die Denkmalpflege fordert, damit wir Denkmäler
erhalten, an die wir selbst nicht glauben? etwas wie eine unechte
Ahnengalerie?


Die Vertreter der Kunstwissenschaft sind heute darin einig,
das Restaurieren grundsätzlich zu verwerfen. Es wird damit keines-
wegs gesagt, der Weisheit letzter Schluß sei, die Hände in den
Schoß legen und der fortschreitenden Auflösung mit fatalistischer
Ergebung zusehen. Unsere Losung lautet: allerdings nicht restau-
rieren — wohl aber konservieren. Nach dieser Zweckunterscheidung
ist jede einzelne Maßregel zu beurteilen. Man konserviere, solange
es irgend geht, und erst in letzter Not frage man sich, ob man
restaurieren will. Man bereite beizeiten alles auf diese Möglichkeit
vor, durch Messungen, Zeichnungen, Photographie und Abguß —
wie man um des Friedens willen den Krieg vorbereitet —, aber tue
alles, diesen Augenblick hinauszuschieben. Nichts ist der Konser-
vierung abträglicher gewesen, als daß die Architekten das Restau-
rieren interessanter und ruhmvoller fanden. Mir ist nicht zweifel-
haft, daß die Konservierungstechnik — wenn erst anerkannt ist,
daß in ihr das einzige wahre Heil der Denkmalpflege liegt — noch
eine erhebliche Vervollkommnung vor sich hat. Von vornherein
freizugeben sind ja jene kleineren Ausbesserungsarbeiten, ohne die
eine Konservierung materiell nicht möglich wäre. Wir sehen sie
nicht eben gern, aber nehmen sie als ein kleineres unter zwei Übeln
hin. Weiter werden wir ausnahmsweise auch umfassende Wieder-
herstellungen gelten lassen; es kann sehr gute Gründe für sie geben,
nur werden sie anderwärts als im Gedankenkreise der Denkmal-
pflege zu suchen sein. Die Möglichkeiten dieser Art sind so mannig-
faltig, daß hier nur von Fall zu Fall geurteilt werden kann. Um
ein Beispiel zu nennen: so scheint es mir ganz wohlgetan, daß man
18*
[276]Denkmalschutz und Denkmalpflege
vor einigen Jahren den Hauptraum eines Hauses in Pompeji völlig,
in Konstruktion und Schmuck, wiederhergestellt hat, im Sinne
eines typischen Modells. Ein gleiches dürfte man, wenn die Prä-
missen der Ergänzung ähnlich günstig liegen, an irgendeiner mittel-
alterlichen Burgruine einmal versuchen. In beiden Fällen handelt
es sich um eine durch viele Hunderte von Exemplaren vertretene
Denkmälergruppe, für die der Verlust eines einzelnen Exemplares
nicht ernstlich in Betracht kommt, wogegen sie, besonders den
Laien, vieles anschaulich machen, was bloße Zeichnungen oder
Modelle nicht hinreichend beurteilen lassen. Aber niemand wird
auch nur wünschen, in dieser Weise alle Häuser Pompejis oder
alle deutschen Burgen behandelt zu sehen. Man muß solche Wieder-
herstellungen nehmen als das, was sie sind: als eindrucksvolle
naturgroße Illustrationen zum dermaligen archäologischen Wissen.
Wir werden solche Veranschaulichungen dankbar entgegennehmen,
dabei aber nicht vergessen, das Beiwort »dermalig« zu unter-
streichen; daß unser Wissen Stückwerk sei, dafür könnten wir
Kunstgelehrten wohl als unverdächtige Zeugen gelten. Man kennt
bis heute keine einzige Restauration, auch nicht unter den zu iher
Zeit bewundertsten, die nicht nach zwanzig Jahren den Nimbus
sog. Echtheit schon wieder verloren gehabt hätte. Unbegreiflich,
wie, nachdem eine an Enttäuschungen und Reue übervolle Er-
fahrung hinter uns liegt, gewisse Zauberer es noch immer zustande
bringen, den vertrauensvollen Laien zu suggerieren, sie, sie endlich
und ganz gewiß, hätten das große Arkanum gefunden. Es wird
nie gefunden werden. Der Geist lebt fort nur in Verwandlungen;
in seine abgelegten Schlangenhäute läßt er niemals sich zurück-
zwingen.


Frühere Jahrhunderte haben diesen Wahn nicht gekannt.
Wenn an einem Bauwerk aus alter Zeit einzelne Teile erneuert oder
hinzugefügt werden mußten, so tat man es stets in der jeweilig
üblichen Bauweise. Die Stileinheit wurde dabei geopfert, aber nicht
notwendig die künstlerische Harmonie überhaupt. Wir Straßburger
wissen darüber Bescheid. Welche Fülle historischen Lebens strömt
noch immer, trotz vieler Verluste, unser die Geschichte von acht
Jahrhunderten widerspiegelndes Münster aus und was bedeutet
[277]Denkmalschutz und Denkmalpflege
dagegen die kalte archäologische Abstraktion, die man im Kölner
Dom hingestellt hat!


Die Künstler des 19. Jahrhunderts blieben indes nicht beim
Restaurierungswesen im oben betrachteten Sinn, d. h. der Er-
neuerung schadhafter und der Ergänzung zerstörter Bauteile,
stehen; sie glaubten, ihr neugewonnenes Wohlwollen für die Denk-
mäler viel umfassender noch betätigen zu sollen, indem sie sie —
auch die ganz gesunden, einer Restauration gar nicht bedürftigen
Denkmäler — zum mindesten einer gründlichen Stilreinigung und
Stilverbesserung unterzogen, in der Weise, daß aus einem gegebenen
Gebäude, sagen wir des Mittelalters, alles entfernt ward, was an
seine Fortexistenz in späteren Jahrhunderten erinnerte. Sehr selt-
sam, wie bei diesen Unternehmungen romantische und klassizi-
stische Grundsätze sich vermischten. Durch die Romantik war die
Künstlerwelt stofflich für das Mittelalter gewonnen; in ihren
formal-ästhetischen Anschauungen blieb sie im Banne ihrer aka-
demisch-klassizistischen Erziehung. Die im 19. Jahrhundert ent-
standenen neu-mittelalterlichen Bauten sind hinsichtlich der
Komposition im großen immer nach klassischem Rezept entworfen
und mittelalterlich nur in den Schmuckformen. So sah man auch
die alten Denkmäler mit einer zwiespältigen Empfindung an. Die
klassizistische Schulregel lautete, eine Hauptbedingung künst-
lerischer Vollkommenheit sei die Einheit der Erscheinung. Daß
die Denkmäler, so wie man sie vorfand, dieser Forderung nicht ge-
nügten, war nur zu gewiß: sie hatten nicht unter einer Glasglocke
gestanden, sondern im lebendigen Strom der Geschichte; in einer
romanisch gebauten Kirche sah man vielleicht spätgotische Chor-
stühle, Grabmäler der Renaissance, einen barocken Hochaltar, eine
Rokokoorgel. Der historisch empfindende Mensch freut sich daran,
die Stimme der Vergangenheit in so reicher Polyphonie zu ver-
nehmen; dem korrekten Stilisten ist es ein Ärgernis. So kam es
zu der in einem großen Teil des 19. Jahrhunderts mit grausamer
Konsequenz durchgeführten Regel, von der ich oben sprach: aus
einer mittelalterlichen Kirche muß alles Nachmittelalterliche ausge-
tilgt werden. In das damit geschaffene Vakuum schob man dann
die eigenen blutlosen Stilübungen ein. Dies Treiben ist öde Schul-
[278]Denkmalschutz und Denkmalpflege
meisterei. Man könnte die Künstler, die durch eine unverstandene
historische Bildung sich darein verstricken lassen, bemitleiden,
wären sie nicht so schädlich. Es ist nicht zu sagen, wieviel gute
alte Kunst durch den Purismus verschleudert worden ist. Und
schlimmer noch als der Untergang der einzelnen Stücke ist der
Verlust an Lebenswärme, an historischer und künstlerischer Gesamt-
stimmung, an jener Vornehmheit, die nur das Alter hat. Will man
heute echte Ensemblewirkungen sehen, so muß man sie schon in ent-
legenen Dorfkirchen aufsuchen oder in Spanien und einzelnen Teilen
Italiens, die durch ihre Armut vor den restaurierenden Pedanten
geschützt geblieben sind. Dort lernt man ihren unersetzlichen Wert
erkennen. Habe ich noch hinzuzufügen nötig, daß, wie jede Regel,
so auch die hieraus folgende, zur Ausführung nach dem Geiste und
nicht nach dem Buchstaben da ist? Das konservative Prinzip be-
deutet hier nicht Verzicht auf jegliche Wertunterscheidung. Würde
z. B. an einem Gebäude aus dem 13. Jahrhundert ein bedeutsamer
Teil durch einen banalen Anbau des 18. Jahrhunderts verdeckt, so
wäre die Entfernung des letzteren nur gut zu heißen; aber nicht des-
halb, weil er aus dem 18. Jahrhundert stammt, sondern weil er
auch nach dem Maßstab seiner Entstehungszeit wertlos ist. Jeder-
mann kennt die seltsamen, nicht gotischen sondern gotisierenden,
Überreste der ehemaligen Kaufbuden an unserem Münster; sie sind
nach 1770 erbaut, noch 1850 in ihre heutige Gestalt gebracht; sie
haben keinen Denkmalswert. Ihre Entfernung könnte nur ein Ge-
winn für das Münster sein.


Restaurationen und Purifikationen haben auch noch das an
sich, daß sie Schritte sind, die nie zurückgetan werden können.
Dadurch unterscheiden sie sich von den ähnlichen Versuchen an
der literarischen Überlieferung. Wenn heute jemand zu einem frag-
mentarisch überlieferten alten Gedicht die fehlenden Stücke hinzu-
komponiert, so nötigt er doch niemanden damit, sie zu lesen; jeden-
falls wird man das Urteil über das Gedicht nicht von den Ergän-
zungen abhängig machen. Fügt aber ein Architekt einem unfertig,
turmlos auf uns gekommenen Dome die Türme aus eigener Phan-
tasie hinzu, so wird damit auch die Wirkung der echten alten Teile
unweigerlich verändert. Eine als irrig sich erweisende Konjektur
[279]Denkmalschutz und Denkmalpflege
in einem alten Text kann man jederzeit wieder ausstreichen; ein
verpfuschtes Denkmal bleibt verpfuscht
. Re-
staurationen auf dem Papier sind lehrreich; in die Wirklichkeit
übertragen schneiden sie die Debatte für immer ab. Unsere heutigen
Künstler sind die ersten, die vor 40 oder 70 Jahren ausgeführten
Restaurationen samt und sonders für mangelhaft zu erklären; wo-
her haben sie die Gewißheit, daß nach 40 oder 70 Jahren die
ihrigen die Kritik aushalten werden?



Überschlage ich das für das 19. Jahrhundert vorliegende
Resultat, so kann ich denen nicht widersprechen, die behaupten,
der durch übereifrige Liebe mit dem Restaurationswesen ange-
richtete Schaden sei für die Denkmäler größer, als er je durch ein-
faches Gehenlassen hätte werden können. Es ist nicht anders: die
Ärzte sind gefährlicher geworden als die Krankheit selbst; sie haben
»mit ihren höllischen Latwergen
In unsern Tälern, unsern Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt«.
()


An der Sache ist nichts zu beschönigen, gegen die Personen
wird man deshalb nicht hart im Urteil sein. Jene Denkmälerärzte
handelten gerade ebenso in gutem Glauben, wie Fausts Vater, der
dunkle Ehrenmann. Wenn nach der Schuld gefragt werden soll,
so wird man finden, daß sie sich auf sehr viele und verschieden-
artige Faktoren verteilt hat. Möchte man endlich einsehen, daß es
gar nicht anders kommen konnte, als es gekommen ist. Deshalb
nicht anders konnte, weil die öffentliche Meinung, in Unklarheit
über das wahre Wesen des Denkmals, dem Irrtum verfiel, es handle
sich hier um eine Aufgabe für Künstler, während sie doch wesent-
lich im Bereich des historisch-kritischen Denkens liegt. Heißt
Denkmalpflege soviel als Denkmalverschönerung — wie es tat-
sächlich lange die Meinung war — dann ist ohne Zweifel der Künstler
der rechte Mann für sie; legt man aber den Schwerpunkt der Auf-
gabe in die Erhaltung, dann hat der Künstler nur mitzusprechen,
insofern er einerseits Techniker, anderseits Stilkenner, d. h. Archäo-
[280]Denkmalschutz und Denkmalpflege
loge ist — seine Künstlerschaft hat zu schweigen. Muß man
Dichter sein, um die Schätze alter Literatur zu hüten? Das Ver-
hältnis des Künstlers zu den Denkmälern ist kein anderes. Ist der-
selbe ein klarblickender, gewissenhafter Denkmalpfleger — auch
unter Künstlern hat es immer solche gegeben — so kommt dabei
eine zweite Begabung und Geistesrichtung an den Tag, die mit der
künstlerischen an sich nichts zu tun hat, ja von ihr hart bedrängt
wird. Der Künstler — wenn er wirklich einer ist — braucht die
Freiheit wie der Fisch das Wasser; wie könnte er durch eine Auf-
gabe geehrt sein, die als erstes die Hingabe seiner Freiheit verlangt?
Wenn Restauratoren, die Erfolg haben wollen, durch ihre Anhänger
ihre »Genialität« sich bescheinigen lassen, so kann ich nur sagen:
Gott bewahre die Denkmäler vor genialen Restauratoren! Offen-
bar besteht zwischen der Aufgabe der Denkmälererhaltung und der
natürlichen Anlage des Künstlers eine nie ganz zu hebende Span-
nung. Mag in der heutigen Architektengeneration das archäo-
logische Wissen sich gegen früher sehr vervollkommnet haben
dank der ausgezeichneten Vorbildung auf den technischen Hoch-
schulen; mögen es einzelne zu einer ganz erstaunlichen Detail-
kenntnis in diesem oder jenem historischen Stile gebracht haben:
trotzdem wird sich niemals ein künstlerischer Kopf in einen histo-
rischen Kopf verwandeln oder gar diese Wandlung beliebig von
Tag zu Tag wiederholen hin und her.


Dies sei genug, um verständlich zu machen, daß der alles
durchsäuernde historische Geist des 19. Jahrhunderts, als er die
Künstler ergriff und zu den Denkmälern hintrieb, doch auf sie
ganz anders wirken mußte, als auf die Gelehrten, die ihn ge-
rufen hatten. Es handelt sich um eine grundsätzliche, nie zu
überbrückende Verschiedenheit in der Auffassung vom Wesen
des Denkmals. Dem Künstler ist es immer Künstlerwerk, dem
Historiker ein Produkt aus Kunst und Geschichte; und der
Historiker fordert auch für diese umschaffenden Kräfte Achtung
als für eine Wirklichkeit.


Aus der Betrachtung des bisherigen Ganges der Dinge ziehe
ich den Schluß: Das Gebot »konservieren, nicht restaurieren« aus-
zuführen ist der Beruf nicht sowohl von Künstlern, als von künst-
[281]Denkmalschutz und Denkmalpflege
lerisch und technisch gebildeten oder von Künstlern und Tech-
nikern unterstützten Archäologen. Das zwanzigste Jahrhundert
wird die vom neunzehnten begangenen Fehler nicht wieder gut
machen können, aber es wird sie nicht wiederholen. Unter den
Künstlern selbst beginnen sich die Anschauungen zu klären; ein-
zelne erschreckende Rückfälle in romantische Willkür auch noch
in neuester Zeit sollen mich nicht abhalten, dies anzuerkennen. Was
die Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts zu ihren Irrgängen ver-
leitet hat, war ein Hinüberwirken anormaler Zustände in der
schaffenden Kunst, die nicht ewig dauern können. Wir kommen
der letzten Ursache auf die Spur, wenn wir von der Wahrnehmung
ausgehen, daß die verschiedenen Kunstgattungen in sehr verschie-
denem Grade vom Übel betroffen gewesen sind. Museen der
Malerei und Plastik werden längst nicht mehr von Malern und Bild-
hauern verwaltet, sondern von Kunsthistorikern mit technischen
Hilfsarbeitern; daß Maler von Rang sich mit Bilderrestauration
abgeben, kommt nicht vor; einer beschädigten Statue den fehlenden
Arm oder Kopf hinzuzudichten ist heute verpönt, — es wäre denn
an einem Abguß, aber nie am Original. Woher nun das völlig andere
Verhalten der Architekten? Die Antwort gibt die Kunstgeschichte
des 19. Jahrhunderts. Es begann mit völliger Erschöpfung der
originalen Stilkraft. Maler und Bildhauer sind dann nach und nach
zu einer relativ eigenartigen Ausdrucksweise vorgedrungen. Die
Architektur konnte die Offenbarungen, die ihr der historische Geist
des Jahrhunderts darbrachte, nicht ertragen, als Ganzes bietet sie,
soviel hochbegabte und edelgesinnte Meister es auch gegeben hat,
ein Bild der Anarchie. Sie war unfrei und willkürlich zugleich. Sie
kannte alle je gesprochenen toten Sprachen der Kunst und bediente
sich nach Wunsch abwechselnd einer jeden; nur eine eigene Sprache
hatte sie nicht. Von hier aus erklärt sich alles; sowohl was gefehlt
worden ist, als von woher die Besserung kommen muß. Von dem
Augenblick ab, wo wir wieder eine klare und einheitliche baukünst-
lerische Überzeugung haben werden — von diesem Augenblick ab
wird der vom Hauptstrom der schaffenden Kunst verirrte Neben-
arm, der unter dem Namen der Wiederherstellung unsere alten
Denkmäler bedroht, in sein natürliches Bett zurückkehren.


[282]
Denkmalschutz und Denkmalpflege

Eine echte, gesunde, moderne, deutsche Baukunst — werden
wir ihre Geburt noch erleben? Ich glaube, wir kennen alle einen,
der sie am heißesten herbeiwünscht: unsern Kaiser. Möge dem
Kaiser auch in dieser Sache der Glaube an die Zukunft Deutsch-
lands stark bleiben. Ohne Glaube gelingt kein Werk.


Gott segne den Kaiser auf allen seinen Wegen!


[[283]]

DENKMALPFLEGE
UND MUSEEN


1911
Referat auf dem Tage für Denkmalpflege und
Heimatschutz in Salzburg 1911


[[284]][[285]]

Denkmalpflege und Museen sind geborene' Bundes-
genossen. Es scheint das eine selbstverständliche,
kaum noch zu weiterer Überlegung auffordernde
Wahrheit zu sein. Aber auch unter guten Bundes-
genossen ist es erlaubt, das gegenseitige Verhältnis
von Zeit zu Zeit einmal einer Prüfung zu unterziehen, ob es tat-
sächlich ganz das leiste, was es der Idee nach leisten soll.


Wollen wir uns von vornherein darüber klar sein: die Ge-
nossen sind von Natur recht ungleich beschaffen. Die Denkmal-
pflege, das jüngste Glied der unter dem allgemeinen Namen Kunst-
pflege zusammengefaßten Bestrebungen, geht von einem einfachen
Grundgedanken aus und verfolgt ein einseitliches Ziel; in den moder-
nen Museen setzt ein sehr altes Sammelwesen sich fort, Traditionen
und Motive allerverschiedenster Art treffen in ihnen zusammen.
Die Denkmalpflege verteidigt, das Sammelwesen greift aus. Die
Denkmalpflege sieht das einzelne Kunstwerk als untrennbaren Teil
eines historisch gewordenen Kulturorganismus an und um dessent-
willen, nicht zuerst wegen eines erwarteten ästhetischen Gewinnes,
schützt und pflegt sie es; das Sammelwesen hat es mit entwurzelten
Gewächsen zu tun, mit Gliedern, die von ihren Körpern getrennt
und nach Gutdünken in neue Verbindungen gebracht werden;
es will gewinnen, besitzen und genießen; es macht das Kunstwerk
zur Ware, zur Beute. Die ersten Sammler fremder und alter Kunst,
von denen wir Näheres wissen, waren die selbst Kunst nicht produ-
zierenden Römer, und wir wissen auch, wie sie dabei zu Werke
gingen. Rom wurde reich durch Plünderung der Provinzen. Sagen
wir anstatt Plünderung Ausnutzung materieller Überlegenheit, so
müssen wir bekennen, daß die römischen Methoden bis auf den
heutigen Tag nicht ausgestorben sind.


Da hat nun das 19. Jahrhundert zum erstenmal den ihm für
immer zum Ruhm gereichenden Versuch gemacht, mit dem alten,
rein privatrechtlichen und individualistischen System zu brechen.
Es hat zum erstenmal den Gedanken auf den Schild gehoben:
Kunstsammlungen haben einem öffentlichen
Interesse zu dienen
. Soll denn diese Ungleichheit ewig
bestehen bleiben, die nur durch Nebeneigenschaften hervorgerufene
[286]Denkmalpflege und Museen
Ungleichheit zwischen den Werken der Dicht- und Tonkunst auf
der einen, der Bildkunst auf der anderen Seite? Jene gehören,
sobald ihr Schöpfer sie von sich entlassen hat, niemanden mehr
und darum allen; diese bleiben eingesperrt in dem Käfig des
privaten Besitzrechtes, und der Besitzer darf mit ihnen tun und
lassen, was er will, bis zu den äußersten und absurdesten Kon-
sequenzen. An einem Bildwerk ist doch nicht anders als an einem
Dicht- und Tonwerk das Wesentliche die künstlerische Idee und
nicht deren körperliches Gefäß. Kann eine höher entwickelte Kul-
tur es dulden, daß Ideen nach privatem Besitzrecht behandelt
werden? Gibt es noch andere als bloß technisch-materielle Gründe
dafür, daß ein Gemälde Dürers nicht ebenso unbeschränkt der
ganzen Nation gehört, wie ein Gedicht Goethes, eine Melodie
Mozarts? Und ist nicht alte, einem abgeschlossenen Lebensprozeß
angehörende Kunst überhaupt etwas anderes als heute entstehende,
ihr historisches Existenzrecht erst sich suchende Kunst? Viel-
leicht kommen wir in Zukunft noch dahin, für alle alte Kunst
einen Verjährungstermin des Privateigentumes anzunehmen, nach
dessen Ablauf sie in Gemeinbesitz übergeht. Das wäre ohne Frage
das logische Endziel ... Aber niemand braucht sich zu fürchten:
Der Weltenlauf ist nicht immer logisch; dagegen ist überall dafür
gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Jedenfalls
sind wir von jenem Endziel, ob wir nun es fürchten oder wünschen
mögen, reichlich weit entfernt. Indes auch ohne Radikalismus
bleibt uns ein hinlänglich großes Feld, um den Grundsatz des
öffentlichen Interesses tiefer durchzudenken und kräftiger zur Tat
zu machen. Hier ist es, wo der Gedanke der Denkmalpflege mit
dem Museumswesen zusammentrifft.


Wenn der Begriff des öffentlichen Interesses damit schon er-
schöpft wäre, daß die Museen jedermann zu bequemer Benutzung
offen stehen sollen, dann in der Tat wären wir schon am Ziele.
Ein öffentliches Interesse besteht vor allem auch an dem, was
gesammelt und wie gesammelt wird. Hier, wo die theoretisch
angenommene Bundesgenossenschaft sich in der Praxis zu be-
währen hätte, kann die Denkmalpflege zurzeit nicht sagen: bei
den Museen ist alles gut. Den Grund dafür sehe ich vornehmlich
[287]Denkmalpflege und Museen
in zwei Hindernissen: Das eine ist das fortdauernde, heute mehr
als je betriebsame private Sammelwesen und der von diesem un-
zertrennliche Kunsthandel. Das andere sind unter den öffentlichen
Museen die mit internationalem Programm. In beiden Formen hat
das Sammelwesen — ich bin der letzte, es zu verkennen — der
Denkmalpflege gelegentlich wichtige Dienste geleistet, aber ohne
es bewußt zu bezwecken; im Prinzip stehen sie außerhalb der
Denkmalpflege, sind oft ihre direkten Widersacher. Sie schüt-
zen
nicht, was doch der Denkmalpflege oberstes Gesetz ist, den
historischen Besitzstand, das historische Milieu, sondern sie leben
von dessen Unterhöhlung und Zertrümmerung; sonst würden sie
ja überhaupt nicht weiterwachsen können. Ihr bloßes Dasein
schon wirkt wie der Magnetberg der Sage. Seien wir ehrlich!
Was heißt denn das, wenn wir mit Pathos für unser eigenes Land
Denkmal- und Heimatschutz proklamieren und in gleichem Atem
unsere Sammler loben, die in den Besitzstand fremder Völker
einbrechen und diesen das antun, was wir für uns verwünschen?
Inkonsequenz ist doch wohl nur ein schwacher Name dafür. Und
notwendig hat sie ihre Folgen. Jeder von Ihnen kennt den wilden
Konkurrenzkampf im internationalen Kauf- und Sammelwesen,
durch den das Kunsterbe der Jahrhunderte immer schneller aus
seinem natürlichen Rahmen hinausgedrängt, atomisiert und durch-
einander gewürfelt wird. Ja, wir dürfen uns über ein Ereignis,
wie neulich den Raub der Mona Lisa, gar nicht wundern. Es
mußte unvermeidlich etwas derart kommen. Wir kennen es aus
der politischen Geschichte, daß in Zeiten heftig aufgestachelter
politischer Leidenschaften plötzlich irgendwo eine Untat, ein Mord
herausspringt. Ebenso ist es hier. Wenn die Verehrung für das
Edelste, weil im gemeinen Sinn Unnützeste im menschlichen
Schaffen, die Verehrung für die Kunst umschlägt in überhitzte
Besitzgier, dann treten Entartungserscheinungen in allen mög-
lichen Formen auf. Die alltäglichen kleinen Händlertricks und der
Monalisenraub sind nur Stufen einer und derselben Leiter. Ob
die Entfernung eines Kunstwerks durch Raub oder durch Kauf
vollzogen wird, ist schließlich nur eine juristische Unterscheidung;
für die nationale Denkmalpflege ist es einerlei, Verlust ist
[288]Denkmalpflege und Museen
Verlust. Wir in Deutschland fühlten uns dem Ausland gegen-
über lange Zeit in leidlicher Sicherheit; aber doch nur deshalb,
weil deutsche Kunst im Auslande gering geschätzt und darum
wenig begehrt wurde. Wenn jetzt der Spieß gelegentlich umge-
kehrt wird, so dürfen wir uns nicht wundern. Und handelt es
sich dabei nur um das Ausland? Sind wir ganz sicher, daß nicht
die deutschen Landschaften einander behandeln, als wären sie
Ausland?


Ja, es ist nicht anders: bei der engen Verzahnung des Lebens
der europäischen Kulturvölker können die Wohltaten des Denk-
malschutzes niemals einseitig genossen werden. Es ist nicht mög-
lich, zu Hause denkmalpflegerisch tugendhaft zu bleiben, wenn
man draußen mit Glück und Behagen dagegen sündigt. Der je-
weilig lebenden Kunst das Ausland verbieten zu wollen, wäre ein
Unding. Etwas gänzlich anderes ist es aber mit der alten Kunst.
Ihre Werke sind nicht mehr Kunstwerke allein, sondern Denk-
mäler! Ein Volk, das diese nicht zu hüten vermag, das den kri-
stallenen Niederschlag aus dem besten Seelenleben seiner Vor-
fahren dem Meistbietenden feilhält — ein solches Volk erniedrigt
und verstümmelt sich selbst. Ist es anständig, ein anderes Volk
dazu zu verführen? Völker mit einer in der Vergangenheit über-
quellend reichen Kunst, wie etwa die Italiener oder Niederländer,
können ja einen leichten Aderlaß, ohne es sehr zu merken, ver-
tragen. Heute aber hat die Jagd nach fremdem Kunstgut einen
Umfang angenommen, der schlechthin kulturfeindlich zu werden
droht. Es ist höchste Zeit, daß der historische Kunstbesitz Europas
zur Ruhe gelangt. Dies Interesse ist ein so überragendes, daß
wir auch von unseren öffentlichen Museen, und gerade von ihnen
zuerst, Resignation verlangen müssen. Sonst kommen wir aus
dem circulus vitiosus niemals heraus.


Es ist aber noch ein anderer, im feinsten Wesen der Kunst
selbst wurzelnder Grund vorhanden, weshalb ich glauben muß,
daß für die Museen — wenigstens soweit es die internationale
Kunst betrifft — die hohe Zeit vorüber ist. Sie leisteten ihr Bestes
damals, als uns Europa noch groß erschien, als das Reisen noch
schwierig und selten war. Heute gilt es als eine Wahrheit, der
[289]Denkmalpflege und Museen
niemand mehr sich entzieht: »Wer den Dichter will verstehen,
muß in Dichters Lande gehen.« Das ist der Schlüssel zu aller
Kunsterkenntnis für und für. Museen sind Herbarien. Herbarien
sind nützlich; aber man läßt sie liegen, wenn man die lebenden
Pflanzen sehen kann mitsamt ihren Nachbarn, ihrer Wurzelerde,
ihrer Atmosphäre. Das natürliche Verhältnis ist doch nicht dieses,
daß wir die Denkmäler zu uns her, sondern daß wir uns zu ihnen
hin bewegen. In diesem Sinne haben die Museen — ich spreche
immer von denen mit internationalem Programm — ihre stärksten
Antagonisten in den Eisenbahnen gefunden —, und wir werden
diesen nicht gram sein deshalb.


Die Museen sind ebensowohl Folge als Ursache eines schweren
Übels: der Zerreißung des Bandes zwischen mobiler und monumen-
taler Kunst. Die Folge ist, daß die große Masse von der Bedeutung
dieses Bandes nichts mehr weiß. Man will von alter Kunst wohl
Kenntnis nehmen, aber man will es sich damit bequem machen.
Einige Stunden im Museum zuzubringen, ist sehr viel bequemer,
als monumentale Kunst aufzusuchen. Man hat in wenigen Stun-
den eine Menge von Dingen gesehen — hat man auch ihren künst-
lerischen Sinn verstanden? Das Publikum kennt ja auch die
Gegenwartskunst fast nur aus der barbarischen Institution der
Ausstellungen; es findet es ganz natürlich, auch alte Kunst in
eben dieser Form zu sehen. Ja, es sieht es als das ehrenvollste
Glück für ein altes Kunstwerk an, wenn es den Lauf seiner Schick-
sale im Hafen eines Museums endet. Vielleicht reicht diese Mei-
nung weiter nach oben, als wir uns eingestehen wollen.


Was bedeutet denn für ein Kunstwerk die Aufnahme ins
Museum? Zunächst eine sehr gute materielle Bewahrung und
Pflege. Ist aber damit schon alles gerettet, was seinen Wert aus-
macht? Ein Kunstwerk ist nur technisch eine in sich abgeschlos-
sene Vollexistenz, geistig hängt es mit hundert Fäden mit der
Umwelt, in der und für die es einst geschaffen war, zusammen;
diese — kann man nicht mit verpflanzen. Wären Kunstwerke
nur zum Studium der Kenner da, so böte ihre Aufbewahrung
in Museen allerdings überwiegende Vorteile; wir können sie dort
meist in besserer Beleuchtung, schärfer, deutlicher als am ursprüng-
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 19
[290]Denkmalpflege und Museen
lichen Ort betrachten, aber wir sehen sie deshalb nicht richtiger;
meist schon nicht mit unserem physischen Auge richtiger, nie mit
unserem geistigen; denn es fehlen alle Erreger der so notwendigen
Phantasieassoziationen, es fehlen die unwägbaren Verbindungs-
werte. Nur wenige Werke von allerstärkster individueller Potenz
behalten wohl überall etwas Zwingendes; eine Sixtinische Madonna
macht, wo sie auch sei, ihre Umgebung vergessen. Aber von wie-
vielen Kunstwerken kann man das sagen? Wenn z. B. aus einem
schwäbischen Kloster ein Grabstein in ein norddeutsches Museum
geschleppt würde, ein Grabstein, dessen absoluter Kunstwert nur
mäßig ist, der aber durch die mit ihm verbundenen örtlichen
Erinnerungen voll Lebens noch ist — was bleibt von ihm übrig?
Ich brauche in dieser Versammlung den Gedanken nicht weiter
auszuführen, denn ich bin sicher, ohne Widerspruch zu bleiben,
wenn ich sage: jede Ortsentfremdung eines Kunstwerks bedeutet
einen Wertverlust. Dieselbe wird je nach der Art des Werkes
dem Grade nach sehr verschieden sein; aber etwas Wertver-
lust ist immer da. Und oft genug heißt es ganz einfach:
»Zum Teufel ist der Spiritus,
Das Phlegma ist geblieben.«
()


Meine Herren! Die hinter uns liegenden zwölf Tage für Denk-
malpflege haben ein deutliches Zeugnis dafür abgelegt, daß in
unseren Anschauungen über das Verhältnis der jeweiligen Gegen-
wart zur künstlerischen Hinterlassenschaft der Vergangenheit ein
tiefgründiger Wandel sich vollzogen hat. Wir messen den Wert
eines alten Kunstwerkes nicht mehr allein nach der Höhe des
Vergnügens, das uns aus ihm quillt; wir haben erkannt, daß es
außer seinen ästhetischen und außer seinen antiquarischen Eigen-
schaften noch andere besitzt; wir fassen sie in das Wort Denk-
mal
zusammen. Ein einfacher Satz, der aber sehr weitgehende
Konsequenzen hat. Wie stehen unsere Museen dazu? Sie leben
noch sehr im Bann der alten Anschauung, die großen, führenden,
bewunderten am meisten. Sie betrachten noch immer das ganze
Reich der alten Kunst als ein freies Gut, das jedesmal dem gehört,
der den Verstand und die Energie hat, es in Besitz zu nehmen.
Und das Publikum lebt noch immer in der Vorstellung, das Ideal
[291]Denkmalpflege und Museen
sei: möglichst viele, gefüllte und glänzende Museen. Nichts ist
bezeichnender, als daß immer in gleichem Atem gesagt wird:
»Museen und Theater.« Hier bleibt noch eine ganz große Auf-
klärungsarbeit zu tun. In bezug auf die monumentale Kunst
haben ja auch schon die weiteren Kreise einigermaßen begriffen,
worauf es ankommt; in bezug auf die mobile ist ihr Gewissen
noch nicht erwacht, und ich kann nicht anders sagen, die Museen
sind mit daran schuld. Das Publikum muß es einsehen lernen,
daß man diese durch den fürstlichen Sammeleifer des 17. und
18. Jahrhunderts geschaffenen Schatzkammern sehr wohl über
alles kostbar halten kann und doch zugleich anerkennen, daß die
Grundsätze, aus denen sie hervorgingen, nicht mehr die unserigen
sein dürfen. Mit ihrem Glanze zu wetteifern, ist in jedem Sinn
ein falscher Ehrgeiz. Wir haben sie als abgeschlossene Bildungen
anzusehen.


Soll unser Museumswesen eine neue Entwicklung erleben, so
wird der fundamentale Satz dafür zu lauten haben: Museen
sind nicht Selbstzweck, Museen sind Glieder
in dem allgemeinen System der Denkmalpflege
.
Sie werden damit alles Zufällige und Willkürliche von sich abtun.
Es wird nicht mehr das Museum zuerst da sein und dann in aller
Welt umher gespürt werden, was man Kostbares und Merkwürdiges
hineinbringen könne. Museen werden nicht mehr gemacht werden,
sie werden entstehen; entstehen, wenn ein Inhalt da ist,
der nach ihrem Schutze verlangt. Den naturgemäß gegebenen
Inhalt bringt die örtliche und landschaftliche Kunstgeschichte.
Die mobile Kunst muß so nahe als möglich bei der monumentalen,
unter deren Dach sie einmal geboren war, erhalten bleiben. Unsere
Kirchen und Rathäuser sind zu einem großen Teil entleert, puri-
fiziert, aber man soll doch nur ein Haus weitergehen müssen,
um wiederzufinden, was sie einst schmückte und belebte. Ein
Museum soll Individualität besitzen, und zwar diejenige seines
Ortes. Die deutsche Kunstgeschichte ist durchaus partikularistisch
verlaufen. Also werden auch die deutschen Kunstmuseen partiku-
laristisch sein müssen. Wir hatten nie und haben auch heute
nicht eine Kulturhauptstadt, ein Paris. Das Leben der Gegen-
19*
[292]
Denkmalpflege und Museen
wart bringt schon in Genüge nivellierende Tendenzen mit sich;
mindestens das historische Bild der Mannigfaltigkeit, die einst
unser Leben eigentümlich und reich machte, wollen wir uns un-
verrückt und unzerstückt bewahren.


Meine Herren! Ein Redner am zweiten Tage einer Versamm-
lung tut gut daran, kurz zu sein. Ich habe mein Thema nur aphori-
stisch behandeln können. Doch hoffe ich, daß der innere Zusam-
menhang meiner Gedanken Ihnen nicht entgangen sein wird. So
darf ich denn, ohne sie noch weiter vorzubereiten, meine These
hinstellen. Sie kann nur lauten: was wir jetzt am meisten brau-
chen, ist Stärkung der Landes- und Provinzial-
museen
.


Einschalten und schnell miterledigen möchte ich, daß natür-
lich die großen Kommunalmuseen hier mitbegriffen sind. Dagegen
die ganz kleinen, gleichviel ob in kirchlicher oder weltlicher Hand,
bieten uns keine genügenden Garantien. Auf sachkundige Leitung
kann bei ihnen nur sehr ausnahmsweise gerechnet werden, auch
die äußere Sicherheit läßt oft zu wünschen übrig; ja, es sind bis
in die neueste Zeit Beispiele bekannt, daß sie durch Anerbietungen
nicht bloß des Kunsthandels sondern auch direkt der großen
Museen in Versuchung geführt wurden. Man muß sie, da sie nun
einmal da sind, unter eine liebevolle, aber strenge Kuratel stellen,
am besten seitens der Provinzialmuseen. Diese, die Provinzial-
museen, sind ja direkt im denkmalpflegerischen Gedanken gegrün-
det worden. Bis jetzt, wir müssen es leider sagen, sind sie etwas
blasse Schattengewächse geblieben. Das Publikum, durch den
Glanz der großen hauptstädtischen Universalmuseen irregeführt,
weiß nicht recht, worin ihr besonderer Wert liegt. Auch sie selbst
sind sich manchmal untreu geworden, indem sie von den Haupt-
stadtmuseen allerlei Abfälle minderwertiger internationaler Kunst
aufgenommen haben. Sie sollten sich von dieser schädlichen Be-
reicherung schleunigst befreien und nichts sein wollen, als was
ihr Name sagt, Landes- und Provinzialmuseen, in strenger Be-
grenzung aber auch mit voller Energie. Selbstverständlich be-
dürfen sie dazu finanzieller Stärkung. Und ebenso notwendig
wäre ein gewissenhaft durchgeführtes Kartell der Museen unter
[293]Denkmalpflege und Museen
sich. Mit diesen beiden Mitteln muß es gelingen, den Kunsthandel
in seinen schädlichen Wirkungen zu paralysieren, in seinen guten
zu heben. Denn daß es auch gute gibt, erkenne ich selbstverständ-
lich an.


Es geht ein seltsam buntes Spiel zwischen Denkmalpflege,
Sammelwesen und Kunsthandel hin und her; manchmal sieht es
aus, als habe die hohe Politik zum Muster gedient. Ich nannte
am Anfang meiner Rede Denkmalpflege und Museen natürliche
Bundesgenossen; nur so lange, als dies Verhältnis richtig balanciert
bleibt, kann man den Dritten als unschädlichen, selbst nützlichen
Gesellschafter gelten lassen. Es ist ja ein unvermeidliches Schicksal
nicht nur, daß die monumentale alte Kunst allmählich zerbröckelt,
sondern auch daß die mobile aus ihren historischen Verbänden
gelöst wird. Aber wehe dem, der diesen Prozeß willkürlich be-
schleunigt!


[[294]][[295]]

Appendix A ZUM GEDÄCHTNIS


1909/1913


[[296]][[297]]

Appendix A.1 Am Grabe Heinrichs Freiherrn v. Geymüller


den 21. Dezember 1909


Ich habe den Freund, von dem wir nun Abschied nehmen,
zum letztenmal gesehen an jenem leuchtenden Maientage, an dem
wir seinen 70. Geburtstag feierten. Die Antithese ist zu schmerz-
lich! Lassen Sie uns den Blick zu dem hinwenden, was dauert.


Gemeinsame Interessen des Faches führten mich zum ersten-
mal mit Heinrich v. Geymüller zusammen. Schon in dieser ersten
Stunde wußte ich, daß ich noch einen anderen Gewinn als den
gesuchten, einen sehr großen, davongetragen hatte: ich hatte einen
edlen Menschen kennen gelernt.


Wie mir, so ist es allen den vielen gegangen, deren Gedanken
aus der weiten Welt in diesem Augenblick hier zusammentreffen:
aus Fachgenossen wurden Freunde. Heinrich v. Geymüller gekannt
zu haben, rechne ich zu den Glücksfällen meines Lebens. Ich suche
nach einem Gleichnis: wie wenn man in der Konstruktion einer
modernen Maschinenhalle plötzlich ein edles Bramantesches Profil
auftauchen sähe, so ist er mir in dieser Zeit erschienen. Sein
Lebenswerk als Forscher und Schriftsteller zu schildern, wäre der
gegebene Ort die Sitzung einer Akademie, nicht hier. In der großen
Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, die wir uns eingerichtet
haben, verschwindet so leicht der einzelne hinter seinem Werk.
Heinrich v. Geymüllers Werke waren Früchte an einem Baum, der
auch an sich, als Baum, schön war; einem Baum, den man nicht
klassifizieren konnte, weil er nur in diesem einen Exemplar vorkam.
Ein merkwürdiger Reichtum lag in seiner Persönlichkeit, ein eigener
poetischer Schimmer umfloß ihn. Das kam daher: drei Wesen, die
wir sonst nur getrennt zu sehen gewohnt sind, hatten in ihm sich
zu einer kostbaren Einheit verschmolzen: der Edelmann, der
Künstler, der Gelehrte. Den meisten, die Erfahrung lehrt es, ge-
reicht eine solche Mehrseitigkeit der Begabung und Lebensführung
nicht zum Heil; bei starken Charaktern entstehen schwere innere
Konflikte, bei schwachen Zersplitterung und Verflachung. Bei
Heinrich v. Geymüller war alles in Harmonie. Dies habe ich an
ihm am meisten bewundert, und ich weiß, es war nicht nur Gabe
[298]Zum Gedächtnis
eines glücklichen Temperaments, sondern sein persönlichstes, er-
worbenes Verdienst. Seine Beschäftigung mit der alten Kunst be-
deutete nicht die Ergötzlichkeit eines ästhetisch angelegten Men-
schen, sondern war erfüllt von ganzem Ernst, ich darf es wohl
sagen: von heiligem Ernst. Denn jene heitere glänzende Dreiheit,
von der ich sprach — des Edelmannes, des Künstlers und des Ge-
lehrten — sie ruhte auf dem Grunde eines tief religiös gestimmten
Idealismus. Kunst war ihm eine der Offenbarungen Gottes.


So glaube ich ihn verstanden zu haben, und aus dieser hohen
Auffassung seiner Lebensaufgabe deute ich mir die tiefe Bescheiden-
heit, mit der er von seinen Leistungen dachte. Oft habe ich mich
versucht gefühlt, dieser Bescheidenheit als einer Selbstverkennung
zu widersprechen. Aber sie nötigte mir so große Achtung ab, daß
ich schwieg. Und diese selbe Achtung verbietet es mir, ihn hier laut
zu preisen. Uns bedaure ich, daß er nicht alle seine Arbeitspläne
hat zu Ende führen können; nur uns, nicht ihn. Was für ihn selbst
der Ertrag seiner Lebensarbeit gewesen ist, das war kein Stück-
werk. Denn sein schönstes Werk war er selbst. Wir nehmen Ab-
schied von einem Vollendeten.


[[299]]

Appendix A.2 Viktor Hehn.


Zum hundertsten Geburtstag, 8. Oktober 1913.


Viktor Hehn gehört als Schriftsteller der deutschen Literatur,
als Gelehrter der Welt. Von Geburt aber war er Livländer. Wir
haben ein Recht, mit Freude und Stolz ihn den Unsrigen zu
nennen. Denn dieser sein Geburtsstand ist bei ihm kein in-
differenter Nebenumstand. Daß hinter dem Schriftsteller und Ge-
lehrten Hehn eine ausgeprägte Persönlichkeit steht und daß wesent-
lich auf dieser die Tiefe und Dauer der von seinen Büchern aus-
gehenden Wirkungen beruht, ist längst bemerkt worden. Aber nur
wir, seine Landsleute, vermögen herauszufühlen, wieviel bedingtes,
und zwar baltisch bedingtes, in seinem Wesen war. Er hat sich
als junger Mensch heftig aus unserem Lande weggesehnt, er hat
wirklich auch nur den kürzeren Teil seines Lebens in ihm verbracht
und wissenschaftlich mit den Heimatproblemen nur vorübergehend
sich beschäftigt: und doch kann man sagen, bis in die Wahl seiner
wissenschaftlichen Lieblingsthemata, wie in seinem ganzen Urteil
über Welt und Menschen blieb dieser wurzelechte Sohn seiner
Heimat zeitlebens von dem unzerstörbaren Etwas abhängig, das
dieselbe ihm in Saft und Blut mitgegeben hatte.


Die baltischen Deutschen, die in das alte Mutterland zurück-
wandern, sind regelmäßig erstaunt durch die Beobachtung, wie
wenig man dort für die baltische Art in ihrer Besonderheit ein
Verständnis hat. Auch Hehn hat dies an sich erfahren. Als er nach
Quittierung seines Petersburger Amtes als Oberbibliothekar der
kaiserlichen Bibliothek nach Berlin übersiedelte (1873), erfüllte sich
ihm ein Lebenswunsch. Aber er wurde dessen nie ganz froh. Berlin,
wo er noch 17 Jahre gelebt hat und wo man ihm mit auszeich-
nendster Liebenswürdigkeit entgegengekommen war, wurde ihm
keine zweite Heimat. Diese Erscheinung, durch die ja viele von uns
zu schmerzlicher Enttäuschung geführt worden sind, hat nach
beiden Seiten ihren guten Grund. Wir Deutschlivländer, obschon
unsere Geschichte schon länger als 700 Jahre währt, sind immer-
dar im Zustande des Kolonistentums verblieben; das einst so
kolonialstarke deutsche Volk aber wurde jahrhundertelang in
[300]Zum Gedächtnis
binnenländische Enge zusammengepreßt. Das ist der Grund, wes-
halb der heutige Durchschnittsdeutsche («Reichsdeutsche») sich in
die seelische Konstitution nicht hineinzufühlen vermag, die ent-
stehen muß, wo ein abgesplitterter und im Stich gelassener
Bruchteil seines Volkes säkular im Zusammenleben oder Kampf mit
fremden Nationalitäten sich auf eigene Hand zu behaupten hat.
Wenn es den heutigen Deutschen gelingen wird, was sie wollen,
wieder Kolonien auszusenden, dann werden sie auch uns, unsere
Geschichte und was dieselbe aus uns gemacht hat, mit anderen,
besser verstehenden Augen ansehen; aber allerdings wird es dann
zu spät sein.


Kehre ich von dieser erläuternden Einschaltung zu Viktor
Hehn zurück, so erkenne ich in ihm den in der Kolonie Geborenen
zuerst an seinem allzeit regen Interesse und seinem geschärften
Blick für Fragen der Rassenpsychologie. Schon aus dem, was er
selbst in den Druck gegeben hat, besonders aus seinen glänzenden
(anonymen) Beiträgen zur »Baltischen Monatsschrift«, geht dies
hervor; noch umfassender aus den Fragmenten seines Nachlasses.
Sympathie und Antipathie spielen dabei eine große Rolle. Immer
aber reagiert sein angeborenes Naturell gegen das Fremde mit un-
endlich feiner Sensibilität. Slawen, Franzosen, Juden haben an
ihm einen oft einseitigen, niemals willkürlichen Kritiker, die
Italiener einen innigst verstehenden gefunden. Ob Scharfblick der
Abneigung, ob Scharfblick der Liebe — immer ist es ein Scharf-
blick, der bewunderungswürdig von der Oberfläche zur Tiefe hin-
führt.


Als geborener Kolonist ist Hehn sodann geborener Aristokrat.
Und zwar mehr mit ästhetischer als mit politischer Färbung. Seine
wechselnde Stellungnahme zu den vorhandenen Parteien — in
seiner Jugend war er liberal, in seinem Alter konservativ — be-
deutet deshalb keine innere Veränderung. »Was Bismarck betrifft,
so bekenne ich in meiner Einfalt, daß mitten in der demokratischen
Plattheit und Seichtigkeit, von der man millionenfach in Wort und
Schrift und Tat umwimmelt wird, dieser einzige Mann mein Trost
und meine Erbauung ist«, so heißt es in einem Brief aus dem Ende
der 80 er Jahre. Trotzdem hat Hehn, das ist bezeichnend für seine
[301]Zum Gedächtnis
Zurückhaltung, niemals den Versuch gemacht, — was er durch seine
Berliner Verbindungen leicht hätte erreichen können, — mit Bis-
marck in persönliche Berührung zu treten. Als ich die einige Zeit
nach seinem Tode von einem Freund veröffentlichte Briefreihe dem
alten Kanzler nach Friedrichsruh schickte, antwortete mir dieser,
Hehns Urteil über ihn sei ihm eine wertvolle Genugtuung, da er
ihn aus seinen Schriften schon seit längerer Zeit schätzen gelernt
habe.


Aus Hehns Kolonistentum erklärt sich weiter die Einsamkeit
seines Lebensweges als Gelehrter wie aus seiner aristokratischen
Grundstimmung seine spröde Zurückhaltung vom literarischen
Markt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts haben baltische
Gelehrte in beträchtlicher Zahl eine Tätigkeit in Deutschland ge-
funden. Zu Hehns Zeiten wurde daran noch nicht gedacht. Die
wenigen, die es in ihrer Jugend versuchten, wie Karl Ernst v. Baer
und Graf Alexander Keyserling, sind doch bald in die Heimat zu-
rückgekehrt. Das natürliche Arbeitsfeld für uns Kolonisten erschien
damals die Verwaltung des eigenen Landes und für den Überschuß
unserer Kräfte das weite Reich des Ostens, wo wir vom Diplomaten,
General und Akademiker bis zum Apotheker, Gutsverwalter und
Hauslehrer immer ein gesuchter Kulturdünger waren. Diese
Generation war reich an Talenten und es blieben nach allen An-
sprüchen durch das praktische Leben noch viele übrig, die durch
Interesse und Anlage zu idealem Schaffen berufen schienen; aber
nur die wenigsten damals haben es zu rechter Entfaltung ihrer
Kräfte gebracht. Dies Schicksal sah auch Hehn vor sich. Seine
Jugendbriefe sind wahre Angstrufe. Die Sehnsucht nach dem
Westen und Süden im Herzen, sah er sich von der Woge, die ihn
umfangen hielt, immer wieder nach dem Osten getrieben, als Haus-
lehrer nach Wilna, als politischer Verbannter nach Tula, endlich
in ehrenvoller Stellung als kaiserlicher Bibliothekar nach St.
Petersburg. Die erduldeten Leiden hatten die Sprungfedern seiner
zarten Seele nicht gebrochen, aber sicher an manchen Punkten ge-
schwächt. Still und ehrgeizlos saß er unter seinen Bücherschätzen
und baute an seiner Gedankenwelt. Nach Zuschauern für sie be-
gehrte er nicht. Wie er eigentlich keine Lehrer gehabt hat, keiner
[302]Zum Gedächtnis
Schule sich anschloß, vollends vor jeder Kameraderie in wissen-
schaftlichen Dingen einen tiefen Abscheu hatte, so bereitete ihm,
dem geborenen und höchstbegabten Schriftsteller, der Gedanke,
vors Publikum zu treten, ein tiefes, oft unüberwindliches Unbe-
hagen. Er wollte von den Dingen, die ihm die wertesten waren,
»lieber in Ehrfurcht schweigen, als auf die Straße herabsteigen oder
auf die Dächer treten, wo so laut und mit so viel Dünkel geredet
wird«. Nicht das Publikum, dem er mißtraute, ist an dem späten
Eintritt seiner Erfolge schuld, er hat es selbst nicht anders gewollt.
Ohne starkes Drängen seiner Freunde hätte er vielleicht keines
seiner Manuskripte je druckfertig gemacht, und auch dieses hätte
nicht genügt, wäre nicht in dem Gelehrten ein großes Stück von
einem Künstler gewesen; den Künstler aber zwingt seine Natur,
seine Gedanken in Form zu bringen, rund und fertig hinzustellen.
Erst Hehns Nachlaß hat unsern erstaunten Blicken den Umfang
der wissenschaftlichen Pläne, mit denen er sich trug, enthüllt. In
dieser Fülle ist aber nichts von Unruhe. Seine weit verzweigte Ge-
dankenwelt ist durchaus organisch beschaffen; alles ist in ihr zu-
sammenhängend; zu dem, was er in der Muße oder Abschieds-
stimmung des hohen Alters niederschrieb, finden sich die Ansätze
schon in der Arbeit des Jünglings und jungen Mannes.


Keine Frage, das Schicksal, das Hehn zum Livländer machte,
hat ihn manche Entbehrungen kosten lassen und ist Ursache ge-
worden, daß nicht alles zur Reife kam, was seine Anlage versprach;
aber der Originalität seines Geistes und der Selbständigkeit seiner
Anschauungen ist es günstig gewesen. Es hat ihn nicht verhindert,
einer der wenigen zu werden, die man in der deutschen Literatur
des 19. Jahrhunderts zu den Klassikern rechnet. Eben das ist an
diesem Sprößling einer weit unter fremde Völker vorgeschobenen
Kolonistengesellschaft das Überraschende, daß er ein so voll-
endet gutes und schönes Deutsch schrieb, ja, daß ihm schon in
seinen Jugendbriefen dies möglich war; Kulturdeutsch selbstver-
ständlich, kein bodenwüchsiges; aber durch Stärke des sprach-
künstlerischen Empfindens zu voller Natürlichkeit zurückgeführt.
Es setzt dies selbstverständlich eine große Begabung voraus, doch
gestattet es auch Rückschlüsse auf das gesprochene Deutsch in
[303]Zum Gedächtnis
seiner Umgebung. Durch bloße Lektüre konnte sein Ohr so fein
nicht gestimmt werden. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet
ist Hehns Deutsch eine unschätzbare Quelle für die Geistesge-
schichte unserer Heimat, ein Zeugnis, das uns zugleich stolz und
traurig macht. Denn dieser Boden wird einen zweiten Hehn heute
nicht mehr hervorbringen können.


[[304]][[305]][[306]][[307]][[308]][[309]][[310]][[311]][[312]][[313]][[314]][[315]]
Notes
1).
Allein das verflossene Jahr hat drei hierauf bezügliche Reform-
schriften gebracht: August Schmarsow, Reformvorschläge zur Geschichte
der deutschen Renaissance (Berichte der k. sächsischen Gesellsch. d. Wissensch.
1899); Erich Haenel, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; Kurt Moritz-
Eichborn
, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters,
Straßburg 1899. Die folgende Erörterung beschäftigt sich nur mit dem all-
gemeinen, allen drei Arbeiten gemeinsamen Problem. Auf die Einzelheiten,
auch wo sie zu kritischem Widerspruch auffordern, gehe ich nicht ein.
1).
Noch schärfer Moriz-Eichborn a. a. O. S. 337: »Die Antike hat
zur Entwicklung der Renaissancekunst des 15. Jahrhunderts nicht das
mindeste beigetragen.«
1).
In diesem Zusammenhang ist auch ein merkwürdiger deutscher
Bau zu beachten: die Krypta der südlich von Eßlingen gelegenen Stifts-
kirche Denkendorf. Sie erinnert in Konstruktion und Zierformen ganz
lebhaft an Südfranzösisches! Die Erklärung kann ich nur in der Tat-
sache finden, daß das Stift mit Chorherrn vom hl. Grabe, gerade wie in
Barletta, besetzt war. Auf Grund dieser Beziehung können sehr leicht
Werkleute des Klosters nach Palästina gekommen, oder auch umgekehrt
palästinensische Franken nach Denkendorf berufen worden sein.
1).
Die seltenen Abweichungen (Balga und Graudenz) sind ersichtlich
durch das Terrain bedingt.
1).
Zuerst in den Comptes rendues de l'Académie 4e sér., t. XXI, 1897.
Vgl. hierzu H. Ehrenberg in der Kunstchronik 1899. P. Schubring in Die
Baukunst 2. Serie, 5. Heft, 1903.
1).

Seine frühere Hypothese mit Philipp Chinard hat Bertaux jetzt,
auf den Einspruch italienischer Forscher, aufgegeben. An dem sachlichen
Kern der Hypothese wird dadurch nichts geändert. Die französische Archi-
tektur auf Cypern hat C. Enlart in einem zweibändigen Werke geschildert,
vgl. meine Besprechung im Repertorium für Kunstwissenschaft 1900.
1).
R. Delbrück in der Zeitschrift für bildende Kunst 1903.
1).
Vgl. den Aufsatz von Baurat Knitterscheid im Jahrbuch für loth-
ringische Geschichte XII.
1).
In Bulletin de la société d'Alsace, II. série, I, VIII.
2).
A. Hanauer, Le Procès d'un faux moderne in Revue d'Alsace 1903.
3).
Z. B. in Karl Simons Studien zum romanischen Wohnbau 1902.
4).
Die Burgen des Elsaß, Vortrag vor S. M. dem Kaiser 1904.
5).
Revue d'Alsace 1905.
1).
Der von der Mitte des XVI. Jahrhunderts ab so überaus beliebte
Gegenstand war damals ungewöhnlich. Er scheint aus der Malerei auf
dem Wege durch das Votivrelief in die Grabmalsplastik eingedrungen zu
sein. (Vgl. in Mainz das nach 1485 ausgeführte Relief im Kreuzgang von
St. Stephan.) Das früheste künstlerisch bedeutende Beispiel, an das ich
mich erinnern kann, ist das große Hohenzollerndenkmal von 1505 im Dom
zu Augsburg. Besteller des Gemmingendenkmals war Albrecht von Bran-
denburg. Also ein auf die Stellung des Programms einwirkender persön-
licher Zusammenhang wohl möglich.
2).
Der Kopf neu.
1).
Als Gegenbeispiel Riemenschneider, der die Krummstäbe stets variiert,
während ihre Träger über einen gleichförmigen Typus nicht hinauskommen.
1).
Nach meiner Überzeugung rührt übrigens am Bibradenkmal auch
nur die Hauptfigur nebst den zwei kleinen Heiligen unmittelbar von
Riemenschneider her, die zum erstenmal in dieser Werkstatt renaissancemäßig
durchgeführte Architektur und die Putten von einem jüngeren Gehilfen.
1).
Die Platte des eigentlichen Grabes ist noch erhalten. Sie gibt noch
einmal die Bildnisfigur des Verstorbenen. Aber ganz deutlich nicht von
Backofens Hand. Und sogleich hat auch der Hirtenstab ein ganz anderes,
spätgotisches Gepräge.
2).
Trotzdem war die bisherige Zuschreibung an Riemenschneider, wie
mich dünkt, nicht ganz auf falscher Fährte. Wenn ich mich frage, aus
welcher Schule wohl Backofen hervorgegangen sein möchte, so weiß ich
keine zu nennen, die besser dazu paßte als die unterfränkische. Auch
ein äußerlicher Umstand scheint dies hypothetisch zu bestätigen. Sein
Geburtsort war, laut der Testamentsinschrift, Sulzbach. Es gibt in Deutsch-
land zwar ein halbes Dutzend Orte dieses Namens. Aber nur einer steht
in näherer Beziehung zu Mainz: das Sulzbach bei Aschaffenburg, auf kur-
fürstlichem Territorium gelegen.
1).
Dehio und v. Bezold, Die kirchliche Baukunst II, S. 190.
1).
Bezeichnend für Backofens Stellung zur Renaissance sind die am
Sockel des Gemmingendenkmals, zu beiden Seiten der Inschrifttafel, mit
1).
Und auch äußerlich: sie dienten demselben Herrn, Albrecht von
Brandenburg. Daß sie nicht unwahrscheinlich auch nahe Landsleute
waren, wurde oben besprochen, worauf ich aber kein Gewicht legen will.
1).
großer Willkür eingeschalteten Kapitelle. Ihnen liegt nicht ein Muster
aus der italienischen Renaissance, sondern eines aus der spätesten Antike,
noch wahrscheinlicher ein karolingisches, zugrunde. Einstreuung romaniscber
Formen kommt auch sonst im frühesten Stadium der deutschen Renaissance
öfters vor; sie galten als Äquivalente der Renaissance.
1).
Schwarzenberg. Der Dom zu Speier II (1902), S. 465.
2).
Reproduziert in der Zeitschr. f. bild. Kunst 1897, S. 30 und in den
Baudenkmälern der Pfalz IV, 1898.
1).
Vgl. den Aufsatz über den Meister des Gemmingendenkmals.
1).
Vorliegende Arbeit war schon niedergeschrieben, bevor mir das
Müntzsche Buch zu Gesicht kam. Wenn es auch die Lösung der Haupt-
frage nicht förderte, so bot es mir doch Stoff, im Detail einige wichtige
Ergänzungen nachtragen zu können.
1).
Ich zitiere Manetti nach der Ausgabe Muratori SS. rer. Ital.
tom. III, pars II.
1).
Manetti 931 — 32: Ac per hunc modum quocumque tempore sub
porticibus incedentes homines et voluptate pulcherrimi aspectus capieban-
tur et omni quoque, immoderata et hyemali et aestiva tempestate, partim
ab jugibus pluviis, partim ab intemperie algoris et aestus se tutabantur.
1).
Dialogon de conjuratione Porcaria, nach einer Königsberger Hand-
schrift herausgegeben von M. Perlbach, Greifswald 1879.
2).
Scriptores rer. Ital. (ed. Tartinius) I. Flor. 1748.
3).
Nur an der Chorapsis.
4).
Der letzte Satz ist wörtlich aufgenommen in die bis 1508 geführte
Chronik des Passauers Joh. Staindel (Oefele: SS. rer. Boicarum I, p. 537).
1).
Das von Palmieri öberlieferte Datum 1452 bezieht sich nur auf
die Überreichung der X libri. Alberti muß aber um einige Zeit früher
in Rom eingetroffen sein, da er die von ihm geleitete Hebung der in den
Nemi-See versunkenen Prachtgaleere Trajans (näher beschrieben von Biondo)
in seinem Buche bereits erwähnt. I. V, c. 12.
1).
S. die plausible Erklärung Janitschek's: Repertorium II, 380.
2).
Man vgl. die nicht mindere Bewunderung atmende, jedoch viel
naivere Biographie Nikolaus' V. aus der Feder Vespasianos da Bisticci.
1).
Es muß auch die Frage nach einem möglicherweise vorhandenen
Verhältnis Albertis zu den Bauten von Pienza aufgeworfen werden. Hier
ein paar vorläufige Anhaltspunkte. Daß der Palast Piccolomini nur eine
Variation des Palastes Ruccellai sei, ist längst bemerkt. Doch auch die
Fassade des Domes, mit ihren hier zum ersten Male in der ganzen Höhe
durchgeführten Pilastern, erscheint als ein Anklang an den Stil Albertis,
als eine Vorstufe zu S. Andrea in Mantua. Der Autorschaftsanspruch
schwankt (nachdem Francesco di Georgio beseitigt ist) wiederum zwischen
Bernardo Rosselino und Bernardo di Lorenzo. Für den letzteren entschied
sich Carlo Promis in Cesare Saluzzos Ausgabe des Trattato di Francesco
di Georgio I, p. 10. Da jetzt aber Rosselinos Beziehung zu Alberti und
dem P. Ruccellai deutlich geworden ist, zögere ich nicht, ihn auch für Pienza
anzusprechen. Hiermit wäre mindestens eine indirekte Einwirkung Albertis
konstatiert. Ob auch noch mehr? das verdiente eigens untersucht zu werden.
Nachschrift 1914. Nach meiner später gewonnenen Überzeugung
geht auf Albertis Entwurf auch das Grabmal Leonardo Brunis in Sta. Croce
zurück: der Prototyp des spezifischen Renaissancgrabmals, von da ab in
unzähligen Exemplaren wiederholt. Auch mein verstorbener Freund G.
v. Geymüller neigte derselben Ansicht zu.
1).
Unter den letzteren befindet sich ein seltener Schatz, ein voll-
ständiges Exemplar des Figurenalphabetes von 1464. Ich werde es dem-
nächst in photographischer Reproduktion herausgeben im Verlage von
J. Aumüller in München.
1).
In der Ephemeris epigraphica I, 1872.
2).
Der Text des Felicianus ist in Parallele mit dem betreffenden Stück
von Pacioli's Buch von Schöne a. a. O. abgedruckt. Zu einem deutlichen
Resultate gelangte ich jedoch erst, als ich Gelegenheit fand, auf der Pariser
Nationalbibliothek von einem vollständigen Exemplar der außerhalb Italiens
äußerst seltenen »divina proportione« Einsicht zu nehmen.
1).
Die früheste Anwendung finde ich in »Ain gute Aussthailung der
der Römischen oder Lateinischen Buchstaben Menniglich zu nutz durch
Wolfgang Fugger Burger zu Nürnberg in Truck verordnet a. 1553«.
Dann im deutschen Serlio von 1609; in den italienischen Ausgaben merk-
würdigerweise nicht.
1).
Braun, Venedig Nr. 45; vgl. C. Brun i. d. Zeitschr. f. bild. Kunst. XV, S. 23.
1).
Eine lehrreiche Parallele geben die folgenden drei Bilder: 1. die
Madonna del Baldachino in der Pittigallerie, 2. die Opferung Isaaks an der
Decke der Stanza d'Eliodoro, 3. die Sibyllen in S. Maria della Pace. Ein
1).
Die von Passavant zitierten älteren Beschreibungen von Taja,
Descrizione del palazzo Apost. Vatic. 1750 und von Richardson, Traité de
la peinture stehen mir leider nicht zu Gebote.
1).
und derselbe fliegende Engel kehrt auf diesen jedesmal wieder; aber auf 1
hat man ihn längst als Zusatz einer späteren Hand nachgewiesen, und bei
2 teilt neuerdings Robinson mit Recht die ganze Komposition einem Schüler
zu, so daß Raphael selbst allein für 3 verantwortlich ist.
1).
Unsere Tafel 3 gibt nur die linke Hälfte des umfangreichen Ge-
mäldes, der die rechte in der allgemeinen Anordnung genau entspricht.
1).
Bei Morrona, Pisa illustrata, 2. A. Livorno 1812 (I. A. 1786?), ist
allein die Hölle abgebildet.
1).
Als willkommener Führer diente mir dabei der von Arthur Giry,
einem seiner ehemaligen Schüler, verfaßte Lebensabriß in der Revue histo-
rique t. XIX., dessen Separatausgabe eine sorgfältige Bibliographie (von
363 Nummern) beigegeben ist.
1).
Vgl. H. Brunn: Archäologie und Anschauung. Münchener Rekto-
ratsrede am 21. November 1885, — E. Dobbert: Die Kunstgeschichte als
Wissenschaft und Lehrgegenstand. Festrede an der Berliner Technischen
Hochschule am 12. März 1886.

License
CC-BY-4.0
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Dehio, Georg. Kunsthistorische Aufsätze. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjg1.0