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Irrungen, Wirrungen.
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Irrungen, Wirrungen.

Roman


Leipzig.:
Verlag von F. W. Steffens.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.

An dem Schnittpunkte von Kurfürſtendamm
und Kurfürſtenſtraße, ſchräg gegenüber dem „Zoolo¬
giſchen“, befand ſich in der Mitte der 70er Jahre
noch eine große, feldeinwärts ſich erſtreckende Gärtnerei,
deren kleines, dreifenſtriges, in einem Vorgärtchen
um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohn¬
haus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von
der vorübergehenden Straße her ſehr wohl erkannt
werden konnte. Was aber ſonſt noch zu dem Ge¬
ſammtgeweſe der Gärtnerei gehörte, ja die recht
eigentliche Hauptſache derſelben ausmachte, war durch
eben dies kleine Wohnhaus wie durch eine Kuliſſe
verſteckt und nur ein roth und grün geſtrichenes
Holzthürmchen mit einem halb weggebrochenen Ziffer¬
blatt unter der Thurmſpitze (von Uhr ſelbſt keine
Rede) ließ vermuthen, daß hinter dieſer Kuliſſe noch
etwas anderes verborgen ſein müſſe, welche Ver¬
muthung denn auch in einer von Zeit zu Zeit auf¬
ſteigenden, das Thürmchen umſchwärmenden Tauben¬
Fontane, Irrungen. 1[2] ſchaar und mehr noch in einem gelegentlichen Hunde¬
geblaff ihre Beſtätigung fand. Wo dieſer Hund
eigentlich ſteckte, das entzog ſich freilich der Wahr¬
nehmung, trotzdem die hart an der linken Ecke ge¬
legene, von früh bis ſpät aufſtehende Hausthür
einen Blick auf ein Stückchen Hofraum geſtattete.
Ueberhaupt ſchien ſich nichts mit Abſicht verbergen
zu wollen, und doch mußte jeder, der zu Beginn
unſerer Erzählung des Weges kam, ſich an dem
Anblick des dreifenſtrigen Häuschens und einiger
im Vorgarten ſtehenden Obſtbäume genügen laſſen.


Es war die Woche nach Pfingſten, die Zeit der
langen Tage, deren blendendes Licht mitunter kein
Ende nehmen wollte. Heut aber ſtand die Sonne
ſchon hinter dem Wilmersdorfer Kirchthurm und
ſtatt der Strahlen, die ſie den ganzen Tag über
herabgeſchickt hatte, lagen bereits abendliche Schatten
in dem Vorgarten, deſſen halbmärchenhafte Stille
nur noch von der Stille des von der alten Frau
Nimptſch und ihrer Pflegetochter Lene miethweiſe
bewohnten Häuschens übertroffen wurde. Frau
Nimptſch ſelbſt aber ſaß wie gewöhnlich an dem
großen, kaum fußhohen Herd ihres die ganze Haus¬
front einnehmenden Vorderzimmers und ſah, hockend
und vorgebeugt, auf einen rußigen alten Theekeſſel,
[3] deſſen Deckel, trotzdem der Wraſen auch vorn aus
der Tülle quoll, beſtändig hin und her klapperte.
Dabei hielt die Alte beide Hände gegen die Gluth
und war ſo verſunken in ihre Betrachtungen und
Träumereien, daß ſie nicht hörte, wie die nach dem
Flur hinausführende Thür aufging und eine robuſte
Frauensperſon ziemlich geräuſchvoll eintrat. Erſt
als dieſe letztre ſich geräuspert und ihre Freundin
und Nachbarin, eben unſre Frau Nimptſch, mit einer
gewiſſen Herzlichkeit bei Namen genannt hatte,
wandte ſich dieſe nach rückwärts und ſagte nun auch
ihrerſeits freundlich und mit einem Anfluge von
Schelmerei: „Na, das is recht, liebe Frau Dörr, daß
Sie 'mal wieder 'rüberkommen. Und noch dazu
von's „Schloß“. Denn ein Schloß is es und
bleibt es. Hat ja 'nen Thurm. Un nu ſetzen Sie
ſich . . Ihren lieben Mann hab' ich eben weggehen
ſehen. Und muß auch. Is ja heute ſein Kegel¬
abend.“


Die ſo freundlich als Frau Dörr Begrüßte war
nicht blos eine robuſte, ſondern vor allem auch eine
ſehr ſtattlich ausſehende Frau, die, neben dem Ein¬
druck des Gütigen und Zuverläſſigen, zugleich den
einer beſonderen Beſchränktheit machte. Die Nimptſch
indeſſen nahm ſichtlich keinen Anſtoß daran und
wiederholte nur: „Ja, ſein Kegelabend. Aber, was
ich ſagen wollte, liebe Frau Dörr, mit Dörren ſeinen
1*[4] Hut, das geht nicht mehr. Der is ja ſchon fuchs¬
blank und eigentlich ſchimpfierlich. Sie müſſen ihn
ihm wegnehmen und einen andern hinſtellen. Viel¬
leicht merkt er es nich . . Und nu rücken Sie 'ran
hier, liebe Frau Dörr, oder lieber da drüben auf
die Hutſche . . Lene, na Sie wiſſen ja, is ausge¬
flogen un hat mich mal wieder in Stich gelaſſen.“


„Er war woll hier?“


„Freilich war er. Und Beide ſind nu ein Bis¬
chen auf Wilmersdorf zu; den Fußweg 'lang, da
kommt keiner. Aber jeden Augenblick können ſie
wieder hier ſein.“


„Na, da will ich doch lieber gehn.“


„O nich doch, liebe Frau Dörr. Er bleibt ja
nich. Und wenn er auch bliebe, Sie wiſſen ja, der
is nicht ſo.“


„Weiß, weiß. Und wie ſteht es denn?“


„Ja, wie ſoll es ſtehn? Ich glaube, ſie denkt
ſo was, wenn ſie's auch nich wahr haben will, und
bildet ſich was ein.“


„O Du meine Güte,“ ſagte Frau Dörr, während
ſie, ſtatt der ihr angebotenen Fußbank, einen etwas
höheren Schemel heranſchob: „O Du meine Güte,
denn is es ſchlimm. Immer wenn das Einbilden
anfängt, fängt auch das Schlimme an. Das is wie
Amen in der Kirche. Sehen Sie, liebe Frau
Nimptſch, mit mir war es ja eigentlich ebenſo, man
[5] blos nichts von Einbildung. Und blos darum war
es auch wieder ganz anders.“


Frau Nimptſch verſtand augenſcheinlich nicht
recht, was die Dörr meinte, weshalb dieſe fortfuhr:
„Und weil ich mir nie was in'n Kopp ſetzte, darum
ging es immer ganz glatt und gut und ich habe
nu Dörren. Na, viel is es nich, aber es is doch
'was Anſtändiges und man kann ſich überall ſehen
laſſen. Und drum bin ich auch in die Kirche mit
ihm gefahren und nich blos Standesamt. Bei
Standesamt reden ſie immer noch.“ Die Nimptſch
nickte.


Frau Dörr aber wiederholte: „Ja, in die Kirche,
in die Matthäikirche un bei Büchſel'n. Aber was
ich eigentlich ſagen wollte, ſehen Sie, liebe Frau
Nimptſch, ich war ja woll eigentlich größer und
anziehlicher als die Lene, un wenn ich auch nicht
hübſcher war (denn ſo was kann man nie recht
wiſſen un die Geſchmäcker ſind ſo verſchieden), ſo
war ich doch ſo mehr im Vollen un das mögen
manche. Ja, ſo viel is richtig. Aber wenn ich
auch ſo zu ſagen feſter war un mehr im Gewicht
fiel un ſo was hatte, nu ja, ich hatte ſo was, ſo
war ich doch immer man ganz einfach un beinah
ſimpel un was nu er war, mein Graf, mit ſeine
fuffzig auf'm Puckel, na, der war auch man ganz
ſimpel und blos immer kreuzfidel un unanſtändig.
[6] Und da reichen ja keine hundert Mal, daß ich ihm
geſagt habe: „Ne, ne, Graf, das geht nicht, ſo was
verbitt' ich mir“ . . . Und immer die Alten ſind ſo.
Und ich ſage blos, liebe Frau Nimptſch, Sie können
ſich ſo was gar nich denken. Gräßlich war es.
Und wenn ich mir nu der Lene ihren Baron an¬
ſehe, denn ſchämt es mir immer noch, wenn ich
denke wie meiner war. Und nu gar erſt die Lene
ſelber. Jott, ein Engel is ſie woll grade auch nich,
aber propper und fleißig un kann alles und is für
Ordnung un für's Reelle. Und ſehen Sie, liebe
Frau Nimptſch, das is grade das Traurige. Was
da ſo 'rumfliegt, heute hier un morgen da, na, das
kommt nicht um, das fällt wie die Katz' immer
wieder auf die vier Beine, aber ſo'n gutes Kind,
das alles ernſthaft nimmt und alles aus Liebe thut,
ja, das iſt ſchlimm . . . Oder vielleicht is es auch
nich ſo ſchlimm; Sie haben ſie ja blos angenommen
un is nich Ihr eigen Fleiſch und Blut un vielleicht
is es eine Prinzeſſin oder ſo was.“


Frau Nimptſch ſchüttelte bei dieſer Vermuthung
den Kopf und ſchien antworten zu wollen. Aber
die Dörr war ſchon aufgeſtanden und ſagte, während
ſie den Gartenſteig hinunter ſah: „Gott, da kommen
ſie. Und blos in Zivil, un Rock un Hoſe ganz
egal. Aber man ſieht es doch! Und nu ſagt er ihr
was ins Ohr und ſie lacht ſo vor ſich hin. Aber
[7] ganz roth is ſie geworden . . . Und nu geht er.
Und nu . . . wahrhaftig, ich glaube, er dreht noch
mal um. Nei, nei, er grüßt blos noch mal und
ſie wirft ihm Kußfinger zu . . . Ja, das glaub' ich;
ſo was laß ich mir gefallen . . . Nei, ſo war meiner
nich.“


Frau Dörr ſprach noch weiter, bis Lene kam
und die beiden Frauen begrüßte.

[8]

Zweites Kapitel.

Andern Vormittags ſchien die ſchon ziemlich
hochſtehende Sonne auf den Hof der Dörr'ſchen
Gärtnerei und beleuchtete hier eine Welt von Bau¬
lichkeiten, unter denen auch das „Schloß“ war, von
dem Frau Nimptſch am Abend vorher mit einem
Anfluge von Spott und Schelmerei geſprochen hatte.
Ja, dies „Schloß“ ! In der Dämmerung hätt' es
bei ſeinen großen Umriſſen wirklich für etwas Der¬
artiges gelten können, heut aber, in unerbittlich
heller Beleuchtung daliegend, ſah man nur zu deutlich,
daß der ganze bis hoch hinauf mit gothiſchen Fenſtern
bemalte Bau nichts als ein jämmerlicher Holzkaſten
war, in deſſen beide Giebelwände man ein Stück
Fachwerk mit Stroh- und Lehmfüllung eingeſetzt
hatte, welchem vergleichsweiſe ſoliden Einſatze zwei
Giebelſtuben entſprachen. Alles andere war bloße
Steindiele, von der aus ein Gewirr von Leitern
zunächſt auf einen Boden und von dieſem höher
hinauf in das als Taubenhaus dienende Thürmchen
[9] führte. Früher, in Vor-Dörr'ſcher Zeit, hatte der
ganze rieſige Holzkaſten als bloße Remiſe zur Auf¬
bewahrung von Bohnenſtangen und Gießkannen,
vielleicht auch als Kartoffelkeller gedient, ſeit aber,
vor ſo und ſo viel Jahren, die Gärtnerei von ihrem
gegenwärtigen Beſitzer gekauft worden war, war das
eigentliche Wohnhaus an Frau Nimptſch vermiethet
und der gothiſch bemalte Kaſten, unter Einfügung
der ſchon erwähnten zwei Giebelſtuben, zum Aufent¬
halt für den damals verwittweten Dörr hergerichtet
worden, eine höchſt primitive Herrichtung, an der ſeine
bald danach erfolgende Wiederverheirathung nichts
geändert hatte. Sommers war dieſe beinah fenſter¬
loſe Remiſe mit ihren Steinflieſen und ihrer Kühle
kein übler Aufenthalt, um die Winterzeit aber hätte
Dörr und Frau, ſammt einem aus erſter Ehe ſtam¬
menden zwanzigjährigen, etwas geiſtesſchwachen Sohn,
einfach erfrieren müſſen, wenn nicht die beiden großen,
an der andern Seite des Hofes gelegenen Treib¬
häuſer geweſen wären. In dieſen verbrachten alle
drei Dörrs die Zeit von November bis März aus¬
ſchließlich, aber auch in der beſſeren und ſogar in
der heißen Jahreszeit ſpielte ſich das Leben der
Familie, wenn man nicht gerade vor der Sonne
Zuflucht ſuchte, zu großem Theile vor und in dieſen
Treibhäuſern ab, weil hier alles am bequemſten lag:
hier ſtanden die Treppchen und Eſtraden, auf denen
[10] die jeden Morgen aus den Treibhäuſern hervor¬
geholten Blumen ihre friſche Luft ſchöpfen durften,
hier war der Stall mit Kuh und Ziege, hier die
Hütte mit dem Ziehhund und von hier aus erſtreckte
ſich auch das wohl fünfzig Schritte lange Doppel-
Miſtbeet, mit einem ſchmalen Gange dazwiſchen, bis
an den großen, weiter zurückgelegenen Gemüſegarten.
In dieſem ſah es nicht ſonderlich ordentlich aus,
einmal weil Dörr keinen Sinn für Ordnung, außerdem
aber eine ſo große Hühnerpaſſion hatte, daß er dieſen
ſeinen Lieblingen, ohne Rückſicht auf den Schaden,
den ſie ſtifteten, überall umherzupicken geſtattete
Groß freilich war dieſer Schaden nie, da ſeiner
Gärtnerei, die Spargelanlagen abgerechnet, alles
Feinere fehlte. Dörr hielt das Gewöhnlichſte zu¬
gleich für das Vortheilhafteſte, zog deshalb Majoran
und andere Wurſtkräuter, beſonders aber Borré,
hinſichtlich deſſen er der Anſicht lebte, daß der richtige
Berliner überhaupt nur drei Dinge brauche: eine
Weiße, einen Gilka und Borré. „Bei Borré,“
ſchloß er dann regelmäßig, „iſt noch keiner zu kurz
gekommen.“ Er war überhaupt ein Original, von
ganz ſelbſtſtändigen Anſchauungen und einer ent¬
ſchiedenen Gleichgiltigkeit gegen das, was über ihn
geſagt wurde. Dem entſprach denn auch ſeine zweite
Heirath, eine Neigungsheirath, bei der die Vor¬
ſtellung von einer beſondren Schönheit ſeiner Frau
[11] mitgewirkt und ihr früheres Verhältniß zu dem
Grafen, ſtatt ihr ſchädlich zu ſein, gerad umgekehrt
den Ausſchlag zum Guten hin gegeben und einfach
den Vollbeweis ihrer Unwiderſtehlichkeit erbracht
hatte. Wenn ſich dabei mit gutem Grunde von
Ueberſchätzung ſprechen ließ, ſo doch freilich nicht
von Seiten Dörr's in Perſon, für den die Natur,
ſo weit Aeußerlichkeiten in Betracht kamen, ganz
ungewöhnlich wenig gethan hatte. Mager, mittel¬
groß und mit fünf grauen Haarſträhnen über Kopf
und Stirn, wär' er eine vollkommene Trivial-Er¬
ſcheinung geweſen, wenn ihm nicht eine zwiſchen
Augenwinkel und linker Schläfe ſitzende braune Pocke
'was Apartes gegeben hätte. Weshalb denn auch
ſeine Frau nicht mit Unrecht und in der ihr eigenen
ungenierten Weiſe zu ſagen pflegte: „Schrumplig
is er man, aber von links her hat er ſo was Bors¬
dorfriges“


Damit war er gut getroffen und hätte nach
dieſem Signalement überall erkannt werden müſſen,
wenn er nicht tagaus tagein eine mit einem großen
Schirm ausgeſtattete Leinwandmütze getragen hätte,
die, tief ins Geſicht gezogen, ſowohl das Alltägliche,
wie das Beſondere ſeiner Phyſiognomie verbarg.


Und ſo, die Mütze ſammt Schirm ins Geſicht
gezogen, ſtand er auch heute wieder, am Tage nach
dem zwiſchen Frau Dörr und Frau Nimptſch ge¬
[12] führten Zwiegeſpräche, vor einer an das vordere
Treibhaus ſich anlehnenden Blumen-Eſtrade, ver¬
ſchiedene Goldlack- und Geranium-Töpfe bei Seite
ſchiebend, die morgen mit auf den Wochenmarkt
ſollten. Es waren ſämmtlich ſolche, die nicht im
Topf gezogen, ſondern nur eingeſetzt waren, und mit
einer beſonderen Genugthuung und Freude ließ er
ſie vor ſich aufmarſchiren, ſchon im Voraus über
die „Madams“ lachend, die morgen kommen, ihre
herkömmlichen fünf Pfennig abhandeln und ſchlie߬
lich doch die Betrogenen ſein würden. Es zählte
das zu ſeinen größten Vergnügungen und war eigent¬
lich das Hauptgeiſtesleben, das er führte. „Das
biſchen Geſchimpfe . . . Wenn ich's nur mal mit
anhören könnte.“


So ſprach er noch vor ſich hin, als er, vom
Garten her, das Gebell eines kleinen Köters und
dazwiſchen das verzweifelte Krähen eines Hahns
hörte, ja, wenn nicht alles täuſchte, ſeines Hahns,
ſeines Lieblings mit dem Silbergefieder. Und ſein
Auge nach dem Garten hin richtend, ſah er in der
That, daß ein Haufen Hühner auseinander geſtoben,
der Hahn aber auf einen Birnbaum geflogen war,
von dem aus er gegen den unten kläffenden Hund
unausgeſetzt um Hilfe rief.


„Himmeldonnerwetter,“ ſchrie Dörr in Wuth,
„das is wieder Bollmann ſeiner . . . Wieder durch
[13] den Zaun . . . I, da ſoll doch“ . . . Und den Ge¬
raniumtopf, den er eben muſterte, raſch aus der
Hand ſetzend, lief er auf die Hundehütte zu, griff
nach dem Kettenzwickel und machte den großen Zieh¬
hund los, der nun ſofort auch wie ein Raſender
auf den Garten zuſchoß. Eh dieſer jedoch den Birn¬
baum erreichen konnte, gab „Bollmann ſeiner“ bereits
Ferſengeld und verſchwand unter dem Zaun weg
ins Freie, — der fuchsgelbe Ziehhund zunächſt noch
in großen Sätzen nach. Aber das Zaunloch, das
für den Affenpinſcher grad ausgereicht hatte, ver¬
weigerte ihm den Durchgang und zwang ihn, von
ſeiner Verfolgung Abſtand zu nehmen.


Nicht beſſer erging es Dörr ſelber, der inzwiſchen
mit einer Harke herangekommen war und mit ſeinem
Hunde Blicke wechſelte. „Ja, Sultan, diesmal war
es nichts.“ Und dabei trottete Sultan wieder auf
ſeine Hütte zu, langſam und verlegen, wie wenn er
einen kleinen Vorwurf herausgehört hätte. Dörr
ſelbſt aber ſah dem draußen in einer Ackerfurche
hinjagenden Affenpinſcher nach und ſagte nach einer
Weile: „Hol' mich der Deubel, wenn ich mir nich
'ne Windbüchſe anſchaffe, bei Mehles oder ſonſt wo.
Un denn puſt' ich das Bieſt ſo ſtille weg, und kräht
nich Huhn nich Hahn danach. Nich mal meiner.“


Von dieſer ihm von Seiten Dörr's zugemutheten
Ruhe ſchien der letztere jedoch vorläufig nichts wiſſen
[14] zu wollen, machte vielmehr von ſeiner Stimme nach
wie vor den ausgiebigſten Gebrauch. Und dabei
warf er den Silberhals ſo ſtolz, als ob er den
Hühnern zeigen wolle, daß ſeine Flucht in den Birn¬
baum hinein ein wohlüberlegter Coup oder eine
bloße Laune geweſen ſei.


Dörr aber ſagte: „Jott, ſo'n Hahn. Denkt nu
auch Wunder was er is. Un ſeine Courage is
doch auch man ſo ſo.“


Und damit ging er wieder auf ſeine Blumen-
Eſtrade zu.

[]

Drittes Kapitel.

Der ganze Hergang war auch von Frau Dörr,
die gerade beim Spargelſtechen war, beobachtet, aber
nur wenig beachtet worden, weil ſich Aehnliches jeden
dritten Tag wiederholte. Sie fuhr denn auch in
ihrer Arbeit fort und gab das Suchen erſt auf, als
auch die ſchärfſte Muſterung der Beete keine „weißen
Köppe“ mehr ergeben wollte. Nun erſt hing ſie den
Korb an ihren Arm, legte das Stechmeſſer hinein
und ging langſam und ein paar verirrte Küken vor
ſich her treibend, erſt auf den Mittelweg des Gartens
und dann auf den Hof und die Blumen-Eſtrade zu,
wo Dörr ſeine Markt-Arbeit wieder aufgenommen
hatte.


„Na, Suſelchen,“ empfing er ſeine beſſ're Hälfte,
„da biſt Du ja. Haſt Du woll geſeh'n? Bollmann
ſeiner war wieder da. Höre, der muß dran glauben
un denn brat' ich ihn aus; ein bischen Fett wird er
ja woll haben un Sultan kann denn die Grieben
kriegen . . . Und Hundefett, höre Suſel . . .“ und
[16] er wollte ſich augenſcheinlich in eine ſeit einiger
Zeit von ihm bevorzugte Gichtbehandlungsmethode
vertiefen. In dieſem Augenblick aber des Spargel¬
korbes am Arme ſeiner Frau gewahr werdend, unter¬
brach er ſich und ſagte: „Na, nu zeige mal her.
Hat's denn gefleckt?“


„I nu,“ ſagte Frau Dörr und hielt ihm den
kaum halbgefüllten Korb hin, deſſen Inhalt er kopf¬
ſchüttelnd durch die Finger gleiten ließ. Denn es
waren meiſt dünne Stangen und viel Bruch da¬
zwiſchen.


„Höre, Suſel, es bleibt dabei, Du haſt keine
Spargel-Augen.“


„O, ich habe ſchon. Man blos hexen kann ich
nich.“


„Na, wir wollen nich ſtreiten, Suſel; mehr wird
es doch nich. Aber zum Verhungern is es.“


„I, es denkt nich dran. Laß doch das ewige
Gerede, Dörr; ſie ſtecken ja drin un ob ſie nu heute
rauskommen oder morgen, is ja ganz egal. Eine
düchtige Huſche, ſo wie die vor Pfingſten, und Du
ſollſt mal ſehn. Und Regen giebt es. Die Waſſer¬
tonne riecht ſchon wieder un die große Kreuzſpinn
is in die Ecke gekrochen. Aber Du willſt jeden Dag
alles haben; das kannſt Du nich verlangen.“


Dörr lachte. „Na, binde man alles gut zu¬
[17] ſammen. Und den kleinen Murks auch. Und Du
kannſt ja denn auch was ablaſſen.“


„Ach, rede doch nicht ſo“, unterbrach ihn die
ſich über ſeinen Geiz beſtändig ärgernde Frau, zog
ihn aber, was er immer als Zärtlichkeit nahm, auch
heute wieder am Ohrzipfel und ging auf das
„Schloß“ zu, wo ſie ſich's auf dem Steinflieſen-
Flur bequem machen und die Spargelbündel binden
wollte. Kaum aber, daß ſie den hier immer bereit
ſtehenden Schemel bis an die Schwelle vorgerückt
hatte, ſo hörte ſie, wie ſchräg gegenüber in dem
von der Frau Nimptſch bewohnten dreifenſtrigen
Häuschen ein Hinterfenſter mit einem kräftigen
Ruck aufgeſtoßen und gleich darauf eingehakt wurde.
Zugleich ſah ſie Lene, die mit einer weiten, lila¬
gemuſterten Jacke über den Friesrock und einem
Häubchen auf dem aſchblonden Haar, freundlich zu
ihr hinüber grüßte.


Frau Dörr erwiderte den Gruß mit gleicher
Freundlichkeit und ſagte dann: „Immer Fenſter
auf; das iſt recht, Lenechen. Und fängt auch ſchon
an heiß zu werden. Es giebt heute noch was.“


„Ja. Und Mutter hat von der Hitze ſchon ihr
Kopfweh und da will ich doch lieber in der Hinter¬
ſtube plätten. Is auch hübſcher hier; vorne ſieht
man ja keinen Menſchen.“


„Haſt Recht,“ antwortete die Dörr. „Na, da
Fontane, Irrungen. 2[18] werd' ich man ein bischen ans Fenſter rücken.
Wenn man ſo ſpricht, geht einen alles beſſer von
der Hand.“


„Ach, das is lieb und gut von Ihnen, Frau
Dörr. Aber hier am Fenſter is ja grade die pralle
Sonne.“


„Schad't nichts, Lene. Da bring ich meinen
Marchtſchirm mit, altes Ding und lauter Flicken.
Aber thut immer noch ſeine Schuldigkeit.“


Und ehe 5 Minuten um waren, hatte die gute
Frau Dörr ihren Schemel bis an das Fenſter ge¬
ſchleppt und ſaß nun unter ihrer Schirm-Stellage
ſo behaglich und ſelbſtbewußt, als ob es auf dem
Gensdarmen-Markt geweſen wäre. Drinnen aber
hatte Lene das Plättbrett auf zwei dicht ans
Fenſter gerückte Stühle gelegt und ſtand nun ſo
nah, daß man ſich mit Leichtigkeit die Hand reichen
konnte. Dabei ging das Plätteiſen emſig hin und
her. Und auch Frau Dörr war fleißig beim Aus¬
ſuchen und Zuſammenbinden und wenn ſie dann
und wann von ihrer Arbeit aus ins Fenſter hinein
ſah, ſah ſie, wie nach hinten zu der kleine Plätt¬
ofen glühte der für neue heiße Bolzen zu ſorgen
hatte.


„Du könnteſt mir mal 'nen Teller geben, Lene,
Teller oder Schüſſel.“ Und als Lene gleich danach
brachte, was Frau Dörr gewünſcht hatte, that dieſe
[19] den Bruchſpargel hinein, den ſie während des Sor¬
tierens in ihrer Schürze behalten hatte. „Da,
Lene, das giebt 'ne Spargelſuppe. Un is ſo gut
wie das andre. Denn daß es immer die Köppe
ſein müſſen, is ja dummes Zeug. Ebenſo wie mit'n
Blumenkohl; immer Blume, Blume, die reine Ein¬
bildung. Der Strunk is eigentlich das Beſte, da
ſitzt die Kraft drin. Und die Kraft is immer die
Hauptſache.“


„Gott, Sie ſind immer ſo gut, Frau Dörr.
Aber was wird nur Ihr Alter ſagen?“


„Der? Ach, Leneken, was der ſagt, is ganz
egal. Der red't doch. Er will immer, daß ich den
Murks mit einbinde, wie wenn's richtige Stangen
wären; aber ſolche Bedrügerei mag ich nich, auch
wenn Bruch- und Stückenzeug grade ſo gut ſchmeckt
wie's Ganze. Was einer bezahlt, das muß er haben,
un ich ärgre mir blos, daß ſo'n Menſch, dem es
ſo zuwächſt, ſo'n alter Geizkragen is. Aber ſo
ſind die Gärtners alle, rapſchen und rapſchen un
können nie genug kriegen.“


„Ja,“ lachte Lene, „geizig is er und ein bischen
wunderlich. — Aber eigentlich doch ein guter
Mann.“


„Ja, Leneken, er wäre ſo weit ganz gut un
auch die Geizerei wäre nich ſo ſchlimm un is immer
noch beſſer als die Verbringerei, wenn er man nich
2*[20] ſo zärtlich wäre. Du glaubſt es nich, immer is er
da. Un nu ſieh ihn Dir an. Es is doch eigent¬
lich man ein Jammer mit ihm un dabei richtige 56
un vielleicht is es noch ein Jahr mehr. Denn
lügen thut er auch, wenn's ihm gerade paßt. Un
da hilft auch nichts, gar nichts. Ich erzähl' ihm
immer von Schlag und Schlag und zeig' ihm welche,
die ſo humpeln und einen ſchiefen Mund haben,
aber er lacht blos immer und glaubt es nich. Es
kommt aber doch ſo. Ja, Leneken, ich glaub' es
ganz gewiß, daß es ſo kommt. Und vielleicht balde.
Na, verſchrieben hat er mir alles un ſo ſag' ich
weiter nichts. Wie einer ſich legt, ſo liegt er.
Aber was reden wir von Schlag und Dörr un daß
er blos O-Beine hat. Jott, mein Lenechen, da
giebt es ganz andere Leute, die ſind ſo grade ge¬
wachſen wie 'ne Tanne. Nich wahr. Lene?“


Lene wurde hierbei noch röther, als ſie ſchon
war, und ſagte: „Der Bolzen iſt kalt geworden.“
Und vom Plättbrett zurücktretend, ging ſie bis an
den eiſernen Ofen und ſchüttete den Bolzen in die
Kohlen zurück, um einen neuen heraus zu nehmen.
Alles war das Werk eines Augenblicks. Und nun
ließ ſie mit einem geſchickten Ruck den neuen
glühenden Bolzen vom Feuerhaken in das Plätt¬
eiſen niedergleiten, klappte das Thürchen wieder ein
und ſah nun erſt, daß Frau Dörr noch immer auf
[21] Antwort wartete. Sicherheits halber aber ſtellte
die gute Frau die Frage noch mal und ſetzte gleich
hinzu: „Kommt er denn heute?“


„Ja. Wenigſtens hat er es verſprochen.“

„Nu ſage mal, Lene.“ fuhr Frau Dörr fort,
„wie kam es denn eigentlich? Mutter Nimptſch ſagt
nie was, un wenn ſie was ſagt, denn is es auch
man immer ſo ſo, nich hüh un nich hott. Und
immer blos halb un ſo confuſe. Nu, ſage Du
mal. Is es denn wahr, daß es in Stralau war?“

„Ja, Frau Dörr, in Stralau war es, den
zweiten Oſtertag, aber ſchon ſo warm, als ob
Pfingſten wär', und weil Lina Gansauge gern
Kahn fahren wollte, nahmen wir einen Kahn und
Rudolf, den Sie ja wohl auch kennen, und der ein
Bruder von Lina iſt, ſetzte ſich ans Steuer.“


„Jott, Rudolf. Rudolf is ja noch ein Junge.“

„Freilich. Aber er meinte, daß er's verſtünde,
und ſagte blos immer: „Mächens, ihr müßt ſtill
ſitzen; ihr ſchunkelt ſo,“ denn er ſpricht ſo furchtbar
berlinſch. Aber wir dachten gar nicht dran, weil
wir gleich ſahen, daß es mit ſeiner ganzen Steuerei
nicht weit her ſei. Zuletzt aber vergaßen wir's
wieder und ließen uns treiben und neckten uns mit
denen, die vorbei kamen und uns mit Waſſer be¬
ſpritzten. Und in dem einen Boote, das mit unſrem
dieſelbe Richtung hatte, ſaßen ein paar ſehr feine
[22] Herren, die beſtändig grüßten, und in unſrem Ueber¬
muthe grüßten wir wieder und Lina wehte ſogar
mit dem Taſchentuch und that als ob ſie die Herren
kenne, was aber gar nicht der Fall war, und wollte
ſich blos zeigen, weil ſie noch ſo ſehr jung iſt.
Und während wir noch ſo lachten und ſcherzten
und mit dem Ruder blos ſo ſpielten, ſahen wir mit
einem Male, daß von Treptow her das Dampfſchiff
auf uns zukam und wie Sie ſich denken können,
liebe Frau Dörr, waren wir auf den Tod erſchrocken
und riefen in unſerer Angſt Rudolfen zu, daß er
uns herausſteuern ſolle. Der Junge war aber aus
Rand und Band und ſteuerte blos ſo, daß wir uns
beſtändig im Kreiſe drehten. Und nun ſchrieen wir
und wären ſicherlich überfahren worden, wenn nicht
in eben dieſem Augenblicke das andre Boot mit den
zwei Herren ſich unſrer Noth erbarmt hätte. Mit
ein paar Schlägen war es neben uns und während
der eine mit einem Bootshaken uns feſt und ſcharf
heranzog und an das eigne Boot ankoppelte, ruderte
der andre ſich und uns aus dem Strudel heraus
und nur einmal war es noch‚ als ob die große,
vom Dampfſchiff her auf uns zukommende Welle
uns umwerfen wolle. Der Capitain drohte denn
auch wirklich mit dem Finger (ich ſah es inmitten
all meiner Angſt), aber auch das ging vorüber und
eine Minute ſpäter waren wir bis an Stralau
[23] heran und die beiden Herren, denen wir unſre
Rettung verdankten, ſprangen ans Ufer und reichten
uns die Hand und waren uns als richtige Cavaliere
beim Ausſteigen behülflich. Und da ſtanden wir denn
nun auf der Landungsbrücke bei Tübbecke's und
waren ſehr verlegen und Lina weinte jämmerlich
vor ſich hin und blos Rudolf, der überhaupt ein
ſtörriſcher und großmäuliger Bengel is und immer
gegen's Militär, blos Rudolf ſah ganz bockig vor
ſich hin, als ob er ſagen wollte: „Dummes Zeug,
ich hätt' euch auch 'raus geſteuert.“


„Ja, ſo is er, ein großmäuliger Bengel; ich
kenn' ihn. Aber nu die beiden Herren. Das iſt
doch die Hauptſache. . .“


„Nun die bemühten ſich erſt noch um uns und
blieben dann an dem andren Tiſch und ſahen immer
zu uns 'rüber. Und als wir ſo gegen 7, und es
ſchummerte ſchon, nach Hauſe wollten, kam der Eine
und fragte „ob er und ſein Kamerad uns ihre Be¬
gleitung anbieten dürften?“ Und da lacht' ich über¬
müthig und ſagte, „ſie hätten uns ja gerettet und
einem Retter dürfe man nichts abſchlagen. Uebrigens
ſollten ſie ſich's noch 'mal überlegen, denn wir
wohnten ſo gut wie am andern Ende der Welt.
Und ſei eigentlich eine Reiſe.“ Worauf er ver¬
bindlich antwortete: „deſto beſſer.“ Und mittler¬
weile war auch der andre herangekommen. Ach,
[24] liebe Frau Dörr, es mag wohl nicht recht geweſen
ſein, gleich ſo frei weg zu ſprechen, aber der Eine
gefiel mir und ſich zieren und zimperlich thun, das
hab' ich nie gekonnt Und ſo gingen wir denn den
weiten Weg, erſt an der Spree und dann an dem
Kanal hin.“


„Und Rudolf!“


„Der ging hinterher, als ob er gar nicht zuge¬
höre, ſah aber alles und paßte gut auf. Was auch
recht war; denn die Lina is ja erſt achtzehn und
noch ein gutes, unſchuldiges Kind!“


„Meinſt Du?“


„Gewiß, Frau Dörr. Sie brauchen ſie ja blos
anzuſehn. So was ſieht man gleich.“


„Ja, mehrſtens. Aber mitunter auch nich.
Und da haben ſie euch denn nach Hauſe gebracht?“


„Ja. Frau Dörr.“


„Und nachher?“


„Ja, nachher. Nun Sie wiſſen ja, wie's nach¬
her kam. Er kam dann den andern Tag und fragte
nach. Und ſeitdem iſt er oft gekommen und ich
freue mich immer, wenn er kommt. Gott, man
freut ſich doch, wenn man mal was erlebt. Es iſt
oft ſo einſam hier draußen. Und Sie wiſſen ja,
Frau Dörr, Mutter hat nichts dagegen und ſagt
immer: Kind, es ſchadt nichts. Eh man ſich's ver¬
ſieht, is man alt.“

[25]

„Ja, ja,“ ſagte die Dörr, „ſo was hab' ich die
Nimptſchen auch ſchon ſagen hören. Und hat auch
ganz recht. Das heißt, wie man's nehmen will und
nach'm Katechismus is doch eigentlich immer noch
beſſer und ſo zu ſagen überhaupt das Beſte. Das
kannſt Du mir ſchon glauben. Aber ich weiß woll,
es geht nich immer und mancher will auch nich.
Und wenn einer nich will, na, denn will er nich
un denn muß es auch ſo gehn und geht auch
mehrſtens, man blos, daß man ehrlich is un an¬
ſtändig und Wort hält. Un natürlich, was denn
kommt, das muß man aushalten un darf ſich nicht
wundern. Un wenn man all ſo was weiß und ſich
immer wieder zu Gemüthe führt, na, denn is es
nich ſo ſchlimm. Un ſchlimm is eigentlich man
blos das Einbilden.“


„Ach, liebe Frau Dörr,“ lachte Lene, „was Sie
nur denken. Einbilden! Ich bilde mir garnichts
ein. Wenn ich einen liebe, dann lieb' ich ihn.
Und das iſt mir genug. Und will weiter garnichts
von ihm, nichts, garnichts, und daß mir mein Herze
ſo ſchlägt und ich die Stunden zähle bis er kommt,
und nicht abwarten kann, bis er wieder da iſt, das
macht mich glücklich, das iſt mir genug.“


„Ja,“ ſchmunzelte die Dörr vor ſich hin, „das
is das Richtige, ſo muß es ſein. Aber is es denn
wahr, Lene, daß er Botho heißt? So kann doch
[26] einer eigentlich nich heißen; das is ja gar kein
chriſtlicher Name.“


„Doch, Frau Dörr.“ Und Lene machte Miene,
die Thatſache, daß es ſolchen Namen gäbe, des
Weiteren zu beſtätigen. Aber ehe ſie dazu kommen
konnte, ſchlug Sultan an und im ſelben Augen¬
blicke hörte man deutlich vom Hausflur her, daß
wer eingetreten ſei. Wirklich erſchien auch der Brief¬
träger und brachte zwei Beſtellkarten für Dörr und
einen Brief für Lene.


„Gott, Hahnke,“ rief die Dörr dem in großen
Schweißperlen vor ihr Stehenden zu, „Sie drippen
ja man ſo. Is es denn ſo'ne ſchwebende Hitze?
Un erſt halb zehn. Na ſo viel ſeh' ich woll, Brief¬
träger is auch kein Vergnügen.“


Und die gute Frau wollte gehn, um ein Glas
friſche Milch zu holen. Aber Hahnke dankte. „Habe
keine Zeit, Frau Dörr. Ein ander Mal.“ Und
damit ging er.


Lene hatte mittlerweile den Brief erbrochen.


„Na, was ſchreibt er?“


„Er kommt heute nicht, aber morgen. Ach, es
iſt ſo lange bis morgen. Ein Glück, daß ich Arbeit
habe; je mehr Arbeit, deſto beſſer. Und ich werde
heut Nachmittag in Ihren Garten kommen und
graben helfen. — Aber Dörr darf nicht dabei
ſein.“ —


[27]

„I Gott bewahre.“


Und danach trennte man ſich und Lene ging
in das Vorderzimmer, um der Alten das von der
Frau Dörr erhaltene Spargelgericht zu bringen.

[[28]]

Viertes Kapitel.

Und nun war der andre Abend da, zu dem
Baron Botho ſich angemeldet hatte. Lene ging im
Vorgarten auf und ab, drinnen aber, in der großen
Vorderſtube, ſaß wie gewöhnlich Frau Nimptſch am
Herd, um den herum ſich auch heute wieder die
vollzählig erſchienene Familie Dörr gruppirt hatte.
Frau Dörr ſtrickte mit großen Holznadeln an einer
blauen, für ihren Mann beſtimmten Wolljacke, die,
vorläufig noch ohne rechte Form, nach Art eines
großen Vließes auf ihrem Schooße lag. Neben ihr,
die Beine bequem übereinander geſchlagen, rauchte
Dörr aus einer Thonpfeife, während der Sohn in
einem dicht am Fenſter ſtehenden Großvaterſtuhle
ſaß und ſeinen Rothkopf an die Stuhlwange lehnte.
Jeden Morgen bei Hahnenſchrei aus dem Bett, war
er auch heute wieder vor Müdigkeit eingeſchlafen.
Geſprochen wurde wenig, und ſo hörte man denn
[29] nichts, als das Klappern der Holznadeln und das
Knabbern des Eichhörnchens, das mitunter aus ſeinem
Schilderhäuschen herauskam und ſich neugierig
umſah. Nur das Herdfeuer und der Wiederſchein
des Abendroths gaben etwas Licht.


Frau Dörr ſaß ſo, daß ſie den Gartenſteg hinauf¬
ſehen und trotz der Dämmerung erkennen konnte,
wer draußen, am Heckenzaun entlang, des Weges kam.


„Ah, da kommt er,“ ſagte ſie. „Nu, Dörr, laß
mal Deine Pfeife ausgehen. Du biſt heute wieder
wie'n Schornſtein un rauchſt und ſchmookſt den
ganzen Tag. Un ſon'n Knallerballer wie Deiner,
der is nich für jeden.“


Dörr ließ ſich ſolche Rede wenig anfechten und
ehe ſeine Frau mehr ſagen oder ihre Wahrſprüche
wiederholen konnte, trat der Baron ein. Er war
ſichtlich angeheitert, kam er doch von einer Mai¬
bowle, die Gegenſtand einer Klubwette geweſen war,
und ſagte, während er Frau Nimptſch die Hand
reichte: „Guten Tag, Mutterchen. Hoffentlich gut
bei Weg'. Ah, und Frau Dörr; und Herr Dörr,
mein alter Freund und Gönner. Hören Sie, Dörr,
was ſagen Sie zu dem Wetter? Eigens für Sie
beſtellt und für mich mit. Meine Wieſen zu Hauſe,
die vier Jahre von fünf immer unter Waſſer ſtehen
und nichts bringen als Ranunkeln, die können ſolch
Wetter brauchen. Und Lene kann's auch brauchen.
[30] daß ſie mehr draußen iſt; ſie wird mir ſonſt zu
blaß.“


Lene hatte derweilen einen Holzſtuhl neben die
Alte gerückt, weil ſie wußte, daß Baron Botho hier
am liebſten ſaß; Frau Dörr aber, in der eine ſtarke
Vorſtellung davon lebte, daß ein Baron auf einem
Ehrenplatz ſitzen müſſe, war inzwiſchen aufgeſtanden
und rief, immer das blaue Vließ nachſchleppend,
ihrem Pflegeſohn zu: „Will er woll auf! Ne, ich
ſage. Wo's nich drin ſteckt, da kommt es auch nich.“
Der arme Junge fuhr blöd und verſchlafen in die
Höh und wollte den Platz räumen, der Baron litt
es aber nicht. „Ums Himmelswillen, liebe Frau
Dörr, laſſen Sie doch den Jungen. Ich ſitz' am
liebſten auf einem Schemel, wie mein Freund Dörr
hier.“


Und damit ſchob er den Holzſtuhl, den Lene
noch immer in Bereitſchaft hatte, neben die Alte
und ſagte, während er ſich ſetzte: „Hier neben Frau
Nimptſch; das iſt der beſte Platz. Ich kenne keinen
Herd, auf den ich ſo gern ſähe; immer Feuer, immer
Wärme. Ja, Mutterchen, es iſt ſo; hier iſt es am
beſten.“


„Ach, du mein Gott,“ ſagte die Alte. „Hier am
beſten! Hier bei 'ner alten Waſch- und Plättefrau.“


„Freilich. Und warum nicht? Jeder Stand
hat ſeine Ehre. Waſchfrau auch. Wiſſen Sie denn,
[31] Mütterchen, daß es hier in Berlin einen berühmten
Dichter gegeben hat, der ein Gedicht auf ſeine alte
Waſchfrau gemacht hat?“


„Is es möglich?“


„Freilich iſt es möglich. Es iſt ſogar gewiß.
Und wiſſen Sie, was er zum Schluß geſagt hat?
Da hat er geſagt, er möchte ſo leben und ſterben
wie die alte Waſchfrau. Ja, das hat er geſagt.“


„Is es möglich?“ ſimperte die Alte noch einmal
vor ſich hin.


„Und wiſſen Sie, Mutterchen, um auch das nicht
zu vergeſſen, daß er ganz Recht gehabt hat und
daß ich ganz daſſelbe ſage? Ja, Sie lachen ſo vor
ſich hin. Aber ſehen Sie ſich mal um hier, wie
leben Sie? Wie Gott in Frankreich. Erſt haben
Sie das Haus und dieſen Herd und dann den
Garten und dann Frau Dörr. Und dann haben
Sie die Lene. Nicht wahr? Aber wo ſteckt ſie nur?“


Er wollte noch weiter ſprechen, aber im ſelben
Augenblicke kam Lene mit einem Kaffeebrett zurück,
auf dem eine Karaffe mit Waſſer ſammt Apfelwein
ſtand, Apfelwein, für den der Baron, weil er ihm
wunderbare Heilkraft zuſchrieb, eine ſonſt ſchwer
begreifliche Vorliebe hatte.


„Ach Lene, wie Du mich verwöhnſt. Aber Du
darfſt es mir nicht ſo feierlich präſentiren, das iſt
ja wie wenn ich im Klub wäre. Du mußt es mir
[32] aus der Hand bringen, da ſchmeckt es am beſten.
Und nun gieb mir Deine Patſche, daß ich ſie ſtreicheln
kann. Nein, nein, die Linke, die kommt von Herzen.
Und nun ſetze Dich da hin, zwiſchen Herr und
Frau Dörr, dann hab' ich Dich gegenüber und kann
Dich immer anſehn. Ich habe mich den ganzen
Tag auf dieſe Stunde gefreut.“

Lene lachte.


„Du glaubſt es wohl nicht? Ich kann es Dir
aber beweiſen, Lene, denn ich habe Dir von der
großen Herren- und Damen-Fête, die wir geſtern
hatten, 'was mitgebracht. Und wenn man 'was zum
Mitbringen hat, dann freut man ſich auch auf die,
die's kriegen ſollen. Nicht wahr, lieber Dörr?“


Dörr ſchmunzelte, Frau Dörr aber ſagte: „Jott,
der. Der un mitbringen. Dörr is blos für
rapſchen und ſparen. So ſind die Gärtners. Aber
neugierig bin ich doch, was der Herr Baron mit¬
gebracht haben.“


„Nun, da will ich nicht lange warten laſſen,
ſonſt denkt meine liebe Frau Dörr am Ende, daß
es ein goldener Pantoffel iſt oder ſonſt was aus
dem Märchen. Es iſt aber blos das.“


Und dabei gab er Lenen eine Tüte, daraus,
wenn nicht alles täuſchte, das gefranzte Papier
einiger Knallbonbons hervorguckte.


[33]

Wirklich, es waren Knallbonbons und die Tüte
ging reihum.


„Aber nun müſſen wir auch ziehen, Lene; halt'
feſt und Augen zu.“


Frau Dörr war entzückt, als es einen Knall
gab, und noch mehr, als Lene's Zeigefinger blutete.
„Das thut nich weh, Lene, das kenn' ich; das is,
wie wenn ſich 'ne Braut in'n Finger ſticht. Ich
kannte mal eine, die war ſo verſeſſen drauf, die ſtach
ſich immer zu un lutſchte und lutſchte, wie wenn
es Wunder 'was wäre.“


Lene wurde roth. Aber Frau Dörr ſah es
nicht und fuhr fort: „Und nu den Vers leſen, Herr
Baron.“


Und dieſer las denn auch:


In Liebe ſelbſtvergeſſen ſein,

Freut Gott und die lieben Engelein.

„Jott,“ ſagte Frau Dörr und faltete die Hände.
„Das is ja wie aus'n Geſangbuch. Is es denn
immer ſo fromm?“


„I bewahre,“ ſagte Botho. „Nicht immer.
Kommen Sie, liebe Frau Dörr, wir wollen auch
'mal ziehn und ſehn, was dabei herauskommt.“


Und nun zog er wieder und las:


Wo Amors Pfeil recht tief getroffen,

Da ſtehen Himmel und Hölle offen.
Fontane, Irrungen. 3[34]

„Nun, Frau Dörr, was ſagen Sie dazu? das
klingt ſchon anders; nicht wahr?“


„Ja,“ ſagte Frau Dörr, „anders klingt es. Aber
es gefällt mir nicht recht . . . Wenn ich einen Knall¬
bonbon ziehe . . .“


„Nun?“


„Da darf nichts von Hölle vorkommen, da will
ich nich hören, daß es ſo was giebt.“


„Ich auch nicht,“ lachte Lene. „Frau Dörr hat
ganz Recht; ſie hat überhaupt immer Recht. Aber
das iſt wahr, wenn man ſolchen Vers lieſt, da hat
man immer gleich was zum Anfangen, ich meine
zum Anfangen mit der Unterhaltung, denn anfangen
is immer das Schwerſte, gerade wie beim Brief¬
ſchreiben, und ich kann mir eigentlich keine Vor¬
ſtellung machen, wie man mit ſo viel fremden
Damen (und ihr kennt euch doch nicht alle) ſo
gleich mir nichts Dir nichts ein Geſpräch anfangen
kann.“


„Ach, meine liebe Lene,“ ſagte Botho, „das iſt
nicht ſo ſchwer, wie Du denkſt. Es iſt ſogar ganz
leicht. Und wenn Du willſt, will ich Dir gleich
eine Tiſch-Unterhaltung vormachen.“


Frau Dörr und Frau Nimptſch drückten ihre
Freude darüber aus und auch Lene nickte zuſtimmend.


„Nun,“ fuhr Baron Botho fort, „denke Dir
alſo, Du wärſt eine kleine Gräfin. Und eben hab'
[35] ich Dich zu Tiſche geführt und Platz genommen und
nun ſind wir beim erſten Löffel Suppe.“


„Gut. Gut. Aber nun?“


„Und nun ſag' ich: Irr' ich nicht, meine gnädigſte
Komteſſe, ſo ſah ich Sie geſtern in der Flora, Sie
und Ihre Frau Mama. Nicht zu verwundern. Das
Wetter lockt ja jetzt täglich heraus und man könnte
ſchon von Reiſewetter ſprechen. Haben Sie Pläne,
Sommerpläne, meine gnädigſte Gräfin? Und nun
antworteſt Du, daß leider noch nichts feſtſtünde,
weil der Papa durchaus nach dem Bayriſchen wolle,
daß aber die ſächſiſche Schweiz mit dem Königſtein
und der Baſtei Dein Herzenswunſch wäre.“


„Das iſt es auch wirklich,“ lachte Lene.


„Nun ſieh, das trifft ſich gut. Und ſo fahr' ich
denn fort: „Ja, gnädigſte Komteſſe, da begegnen
ſich unſere Geſchmacksrichtungen. Ich ziehe die ſäch¬
ſiſche Schweiz ebenfalls jedem anderen Theile der
Welt vor, namentlich auch der eigentlichen Schweiz.
Man kann nicht immer große Natur ſchwelgen, nicht
immer klettern und außer Athem ſein. Aber ſäch¬
ſiſche Schweiz! Himmliſch, ideal. Da hab' ich
Dresden; in einer Viertel- oder halben Stunde bin
ich da, da ſeh' ich Bilder, Theater, Großen Garten,
Zwinger, Grünes Gewölbe. Verſäumen Sie nicht,
ſich die Kanne mit den thörichten Jungfrauen zeigen
zu laſſen, und vor allem den Kirſchkern, auf dem
3 *[36] das ganze Vaterunſer ſteht. Alles blos durch die
Loupe zu ſehen.“


„Und ſo ſprecht Ihr!“


„Ganz ſo, mein Schatz. Und wenn ich mit
meiner Nachbarin zur Linken, alſo mit Komteſſe
Lene fertig bin, ſo wend' ich mich zu meiner Nach¬
barin zur Rechten, alſo zu Frau Baronin Dörr. . .“


Die Dörr ſchlug vor Entzücken mit der Hand
aufs Knie, daß es einen lauten Puff gab ...


„Zu Frau Baronin Dörr alſo. Und ſpreche
nun worüber? Nun, ſagen wir über Morcheln.“


„Aber mein Gott, Morcheln. Ueber Morcheln,
Herr Baron, das geht doch nicht.“


„O warum nicht, warum ſoll es nicht gehen,
liebe Frau Dörr? Das iſt ein ſehr ernſtes und
lehrreiches Geſpräch und hat für manche mehr Be¬
deutung, als Sie glauben. Ich beſuchte mal einen
Freund in Polen, Regiments- und Kriegskameraden,
der ein großes Schloß bewohnte, roth und mit zwei
dicken Thürmen, und ſo furchtbar alt, wie's eigent¬
lich gar nicht mehr vorkommt. Und das letzte Zimmer
war ſein Wohnzimmer; denn er war unverheirathet,
weil er ein Weiberfeind war . . .“


„Iſt es möglich?“


„Und überall waren morſche, durchgetretene Dielen
und immer, wo ein paar Dielen fehlten, da war
[37] ein Morchelbeet und an all den Morchelbeeten ging
ich vorbei, bis ich zuletzt in ſein Zimmer kam.“


„Iſt es möglich?“ wiederholte die Dörr und
ſetzte hinzu: „Morcheln. Aber man kann doch nicht
immer von Morcheln ſprechen.“


„Nein, nicht immer. Aber oft oder wenigſtens
manchmal und eigentlich iſt es ganz gleich, wovon
man ſpricht. Wenn es nicht Morcheln ſind, ſind es
Champignons und wenn es nicht das rothe polniſche
Schloß iſt, dann iſt es Schlößchen Tegel oder Saat¬
winkel, oder Valentinswerder. Oder Italien oder
Paris, oder die Stadtbahn, oder ob die Panke zu¬
geſchüttet werden ſoll. Es iſt alles ganz gleich.
Ueber jedes kann man ja was ſagen und ob's einem
gefällt oder nicht. Und „ja“ iſt gerade ſo viel wie
„nein“.“


„Aber,“ ſagte Lene, „wenn es alles ſo redens¬
artlich iſt, da wundert es mich, daß ihr ſolche Ge¬
ſellſchaften mitmacht.“


„O man ſieht doch ſchöne Damen und Toiletten
und mitunter auch Blicke, die, wenn man gut auf¬
paßt, einem eine ganze Geſchichte verrathen. Und
jedenfalls dauert es nicht lange, ſo daß man immer
noch Zeit hat, im Klub alles nachzuholen. Und im
Klub iſt es wirklich reizend, da hören die Redens¬
arten auf und die Wirklichkeiten fangen an. Ich
[38] habe geſtern Pitt ſeine Graditzer Rappſtute abge¬
nommen.“


„Wer iſt Pitt?“


„Ach, das ſind ſo Namen, die wir nebenher
führen, und wir nennen uns ſo, wenn wir unter
uns ſind. Der Kronprinz ſagt auch Vicky, wenn
er Victoria meint. Es iſt ein wahres Glück, daß
es ſolche Liebes- und Zärtlichkeitsnamen giebt. Aber
horch, eben fängt drüben das Concert an. Können
wir nicht die Fenſter aufmachen, daß wir's beſſer
hören? Du wippſt ja ſchon mit der Fußſpitze hin
und her. Wie wär' es, wenn wir anträten und
einen Contre verſuchten oder eine Françaiſe? Wir
ſind drei Paare: Vater Dörr und meine gute Frau
Nimptſch und dann Frau Dörr und ich (ich bitte
um die Ehre) und dann kommt Lene mit Hans.“


Frau Dörr war ſofort einverſtanden, Dörr und
Frau Nimptſch aber lehnten ab, dieſe weil ſie zu
alt ſei, jener weil er ſo was Feines nicht kenne.


„Gut, Vater Dörr. Aber dann müſſen Sie
den Takt ſchlagen; Lene gieb ihm das Kaffeebrett
und einen Löffel. Und nun antreten, meine Damen.
Frau Dörr, Ihren Arm. Und nun Hans, auf¬
wachen, flink, flink.“


Und wirklich, beide Paare ſtellten ſich auf und
Frau Dörr wuchs ordentlich noch an Stattlichkeit,
als ihr Partner in einem feierlichen Tanzmeiſter¬
[39] Franzöſiſch anhob: „en avant deux, Pas de
basque
.“ Der ſommerſproſſige, leider noch immer
verſchlafene Gärtnerjunge ſah ſich maſchinenmäßig
und ganz nach Art einer Puppe hin und her ge¬
ſchoben, die drei andern aber tanzten wie Leute,
die's verſtehen, und entzückten den alten Dörr derart,
daß er ſich von ſeinem Schemel erhob und ſtatt
mit dem Löffel mit ſeinem Knöchel an das Kaffee¬
brett ſchlug. Auch der alten Frau Nimptſch kam
die Luſt früherer Tage wieder und weil ſie nichts
Beſſeres thun konnte, wühlte ſie mit dem Feuer¬
haken ſo lang in der Kohlengluth umher, bis die
Flamme hoch aufſchlug.


So ging es bis die Muſik drüben ſchwieg;
Botho führte Frau Dörr wieder an ihren Platz
und nur Lene ſtand noch da, weil der ungeſchickte
Gärtnerjunge nicht wußte, was er mit ihr machen
ſollte. Das aber paßte Botho gerade, der, als die
Muſik drüben wieder anhob, mit Lene zu walzen
und ihr zuzuflüſtern begann, wie reizend ſie ſei,
reizender denn je.


Sie waren alle warm geworden, am meiſten die
gerade jetzt am offenen Fenſter ſtehende Frau Dörr.
„Jott, mir ſchuddert ſo,“ ſagte ſie mit einem Male,
weshalb Botho verbindlich aufſprang, um die Fenſter
zu ſchließen. Aber Frau Dörr wollte davon nichts
wiſſen und behauptete: „was die feinen Leute wären,
[40] die wären alle für friſche Luft und manche wären
ſo für's Friſche, daß ihnen im Winter das Deckbett
an den Mund fröre. Denn Athem wäre daſſelbe
wie Wraſen, grade wie der, der aus der Tülle käm'.
Alſo die Fenſter müßten aufbleiben, davon ließe ſie
nicht. Aber wenn Lenechen ſo für's Innerliche was
hätte, ſo 'was für Herz und Seele . . .“


„Gewiß, liebe Frau Dörr; alles was Sie wollen.
Ich kann einen Thee machen oder einen Punſch,
oder noch beſſer, ich habe ja noch das Kirſchwaſſer,
das Sie Mutter Nimptſchen und mir letzten Weih¬
nachten zu der großen Mandelſtolle geſchenkt haben. . .“


Und ehe ſich Frau Dörr zwiſchen Punſch und
Thee entſcheiden konnte, war auch die Kirſchwaſſer-
Flaſche ſchon da, mit Gläſern, großen und kleinen,
in die ſich nun jeder nach Gutdünken hinein that.
Und nun ging Lene, den rußigen Herdkeſſel in der
Hand, reihum und goß das kochſprudelnde Waſſer
ein. „Nicht zu viel, Leneken, nicht zu viel. Immer
auf's Ganze. Waſſer nimmt die Kraft.“ Und im
Nu füllte ſich der Raum mit dem aufſteigenden
Kirſchmandel-Arom.


„Ah, das haſt Du gut gemacht,“ ſagte Botho,
während er aus dem Glaſe nippte. „Weiß es Gott,
ich habe geſtern nichts gehabt und heute im Klub
erſt recht nicht, was mir ſo geſchmeckt hätte. Hoch
Lene! Das eigentliche Verdienſt in der Sache hat
[41] aber doch unſere Freundin, Frau Dörr, „weil's ihr
ſo geſchuddert hat“, und ſo bring' ich denn gleich
noch eine zweite Geſundheit aus: Frau Dörr, ſie
lebe hoch.“


„Sie lebe hoch,“ riefen alle durcheinander und
der alte Dörr ſchlug wieder mit ſeinem Knöchel ans
Brett.


Alle fanden, daß es ein feines Getränk ſei, viel
feiner als Punſchextrakt, der im Sommer immer
nach bittrer Zitrone ſchmecke, weil es meiſtens alte
Flaſchen ſeien, die ſchon, von Faſtnacht an, im
Ladenfenſter in der grellen Sonne geſtanden hätten.
Kirſchwaſſer aber, das ſei was Geſundes und nie
verdorben und ehe man ſich mit dem Bittermandel¬
gift vergifte, da müßte man doch ſchon was Ordent¬
liches einnehmen, wenigſtens eine Flaſche.


Dieſe Bemerkung machte Frau Dörr und der
Alte, der es nicht darauf ankommen laſſen wollte,
vielleicht weil er dieſe hervorragendſte Paſſion ſeiner
Frau kannte, drang auf Aufbruch: „Morgen ſei
auch noch ein Tag.“


Botho und Lene redeten zu, doch noch zu bleiben.
Aber die gute Frau Dörr, die wohl wußte, „daß
man zu Zeiten nachgeben müſſe, wenn man die
Herrſchaft behalten wolle“, ſagte nur: „Laß, Leneken,
ich kenn' ihn; er geht nu mal mit die Hühner zu
Bett,“ „Nun,“ ſagte Botho, „wenn es beſchloſſen
[42] iſt, iſt es beſchloſſen. Aber dann begleiten wir die
Familie Dörr bis an ihr Haus.“


Und damit brachen alle auf und ließen nur die
alte Frau Nimptſch zurück, die den Abgehenden
freundlich und kopfnickend nachſah und dann auf¬
ſtand und ſich in den Großvaterſtuhl ſetzte.

[[43]]

Fünftes Kapitel.

Vor dem „Schloß“ mit dem grün und roth¬
geſtrichenen Thurme machten Botho und Lene Halt
und baten Dörr in aller Förmlichkeit um Erlaubniß,
noch in den Garten gehn und eine halbe Stunde
darin promeniren zu dürfen. Der Abend ſei ſo
ſchön. Vater Dörr brummelte, daß er ſein Eigen¬
thum in keinem beſſren Schutz laſſen könne, worauf
das junge Paar unter artigen Verbeugungen Ab¬
ſchied nahm und auf den Garten zuſchritt. Alles
war ſchon zur Ruh und nur Sultan, an dem ſie
vorbei mußten, richtete ſich hoch auf und winſelte
ſo lange, bis ihn Lene geſtreichelt hatte. Dann erſt
kroch er wieder in ſeine Hütte zurück.


Drinnen im Garten war alles Duft und Friſche,
denn, den ganzen Hauptweg hinauf, zwiſchen den
Johannis- und Stachelbeerſträuchern, ſtanden Lev¬
kojen und Reſeda, deren feiner Duft ſich mit dem
kräftigeren der Thymianbeete miſchte. Nichts regte
[44] ſich in den Bäumen, und nur Leuchtkäfer ſchwirrten
durch die Luft.


Lene hatte ſich in Botho's Arm gehängt und
ſchritt mit ihm auf das Ende des Gartens zu, wo,
zwiſchen zwei Silberpappeln, eine Bank ſtand.


„Wollen wir uns ſetzen?“


„Nein,“ ſagte Lene, „nicht jetzt,“ und bog in
einen Seitenweg ein, deſſen hochſtehende Himbeer¬
büſche faſt über den Gartenzaun hinaus wuchſen.
„Ich gehe ſo gern an Deinem Arm, Erzähle mir
etwas. Aber etwas recht Hübſches. Oder frage.“


„Gut. Iſt es Dir recht, wenn ich mit den
Dörr's anfange?“


„Meinetwegen.“


„Ein ſonderbares Paar. Und dabei, glaub' ich,
glücklich. Er muß thun was ſie will und iſt doch
um vieles klüger.“


„Ja,“ ſagte Lene, „klüger iſt er, aber auch
geizig und hartherzig und das macht ihn gefügig,
weil er beſtändig ein ſchlechtes Gewiſſen hat. Sie
ſieht ihm ſcharf auf die Finger und leidet es nicht,
wenn er jemand übervortheilen will. Und das iſt
es, wovor er Furcht hat und was ihn nachgiebig
macht.“


„Und weiter nichts?“


„Vielleicht auch noch Liebe, ſo ſonderbar es klingt.
Das heißt Liebe von ſeiner Seite. Denn trotz ſeiner
[45] 56 oder mehr iſt er noch wie vernarrt in ſeine
Frau und blos weil ſie ſo groß iſt. Beide haben
mir die wunderlichſten Geſtändniſſe darüber ge¬
macht. Ich bekenne Dir offen, mein Geſchmack wäre
ſie nicht.“


„Da haſt Du aber Unrecht, Lene; ſie macht eine
Figur.“


„Ja,“ lachte Lene, „ſie macht eine Figur, aber
ſie hat keine. Siehſt Du denn gar nicht, daß ihr
die Hüften eine Hand breit zu hoch ſitzen? Aber
ſo was ſeht ihr nicht und „Figur“ und „ſtattlich“ iſt
immer euer drittes Wort, ohne daß ſich wer drum
kümmert, wo denn die Stattlichkeit eigentlich her¬
kommt.“


So plaudernd und neckend blieb ſie ſtehn und
bückte ſich, um auf einem langen und ſchmalen Erd¬
beerbeete, das ſich in Front von Zaun und Hecke
hinzog, nach einer Früh-Erdbeere zu ſuchen. Endlich
hatte ſie, was ſie wollte, nahm das Stengelchen
eines wahren Prachtexemplares zwiſchen die Lippen
und trat vor ihn hin und ſah ihn an.


Er war auch nicht ſäumig, pflückte die Beere
von ihrem Munde fort und umarmte ſie und
küßte ſie.


„Meine ſüße Lene, das haſt Du recht gemacht.
Aber höre nur, wie Sultan blafft; er will bei Dir
ſein; ſoll ich ihn losmachen?“[46]

„Nein, wenn er hier iſt, hab' ich Dich nur noch
halb. Und ſprichſt Du dann gar noch von der
ſtattlichen Frau Dörr, ſo hab' ich Dich ſo gut wie
garnicht mehr.“


„Gut,“ lachte Botho, „Sultan mag bleiben, wo
er iſt. Ich bin es zufrieden. Aber von Frau
Dörr muß ich noch weiter ſprechen. Iſt ſie wirklich
ſo gut?“


„Ja, das iſt ſie, trotzdem ſie ſonderbare Dinge
ſagt, Dinge, die wie Zweideutigkeiten klingen und
es auch ſein mögen. Aber ſie weiß nichts davon
und in ihrem Thun und Wandel iſt nicht das
Geringſte, was an ihre Vergangenheit erinnern
könnte.“


„Hat ſie denn eine?“


„Ja. Wenigſtens ſtand ſie jahrelang in einem
Verhältniß und „ging mit ihm“ wie ſie ſich aus¬
zudrücken pflegt. Und darüber iſt wohl kein Zweifel,
daß über dies Verhältniß und natürlich auch über
die gute Frau Dörr ſelbſt viel, ſehr viel geredet
worden iſt. Und ſie wird auch Anſtoß über Anſtoß
gegeben haben. Nur ſie ſelber hat ſich in ihrer
Einfalt nie Gedanken darüber gemacht und noch
weniger Vorwürfe. Sie ſpricht davon wie von einem
unbequemen Dienſt, den ſie getreulich und ehrlich
erfüllt hat, blos aus Pflichtgefühl. Du lachſt und
es klingt auch ſonderbar genug. Aber es läßt ſich
[47] nicht anders ſagen. Und nun laſſen wir die Frau
Dörr und ſetzen uns lieber und ſehen in die Mond¬
ſichel.“


Wirklich, der Mond ſtand drüben über dem
Elephantenhauſe, das in dem niederſtrömenden Silber¬
lichte, noch phantaſtiſcher ausſah, als gewöhnlich.
Lene wies darauf hin, zog die Mantelkapuze feſter
zuſammen und barg ſich an ſeine Bruſt.


So vergingen ihr Minuten, ſchweigend und
glücklich, und erſt als ſie ſich wie von einem Traume,
der ſich doch nicht feſthalten ließ, wieder aufrichtete,
ſagte ſie: „Woran haſt Du gedacht? Aber Du
mußt mir die Wahrheit ſagen.“


„Woran ich dachte, Lene? Ja, faſt ſchäm' ich
mich, es zu ſagen. Ich hatte ſentimentale Gedanken
und dachte nach Haus hin an unſren Küchengarten
in Schloß Zehden, der genau ſo daliegt wie dieſer
Dörr'ſche, dieſelben Salatbeete mit Kirſchbäumen da¬
zwiſchen und ich möchte wetten auch ebenſo viele
Meiſenkäſten. Und auch die Spargelbeete liefen ſo
hin. Und dazwiſchen ging ich mit meiner Mutter
und wenn ſie guter Laune war, gab ſie mir das
Meſſer und erlaubte, daß ich ihr half. Aber weh
mir, wenn ich ungeſchickt war und die Spargelſtange
zu lang oder zu kurz abſtach. Meine Mutter hatte
eine raſche Hand.“

[48]

„Glaub's. Und mir iſt immer, als ob ich Furcht
vor ihr haben müßte.“


„Furcht? Wie das? Warum, Lene?“


Lene lachte herzlich und doch war eine Spur
von Gezwungenheit darin. „Du mußt nicht gleich
denken, daß ich vorhabe, mich bei der Gnädigen
melden zu laſſen, und darfſt es nicht anders nehmen,
als ob ich geſagt hätte, ich fürchte mich vor der
Kaiſerin. Würdeſt Du deshalb denken, daß ich zu
Hofe wollte? Nein, ängſtige Dich nicht; ich verklage
Dich nicht.“


„Nein, das thuſt Du nicht. Dazu biſt Du viel
zu ſtolz und eigentlich eine kleine Demokratin und
ringſt Dir jedes freundliche Wort nur ſo von der
Seele. Hab' ich Recht? Aber wie's auch ſei, mache
Dir auf gut Glück hin ein Bild von meiner Mutter.
Wie ſieht ſie aus?“


„Genau ſo wie Du: groß und ſchlank und blau¬
äugig und blond.“


„Arme Lene (und das Lachen war diesmal auf
ſeiner Seite), da haſt Du fehl geſchoſſen. Meine
Mutter iſt eine kleine Frau mit lebhaften ſchwarzen
Augen und einer großen Naſe.“


„Glaub' es nicht. Das iſt nicht möglich.“


„Und iſt doch ſo. Du mußt nämlich bedenken,
daß ich auch einen Vater habe. Aber das fällt euch
nie ein. Ihr denkt immer, ihr ſeid die Hauptſache.
[49] Und nun ſage mir noch etwas über den Charakter
meiner Mutter. Aber rathe beſſer.“


„Ich denke mir ſie ſehr beſorgt um das Glück
ihrer Kinder.“


„Getroffen. . .“


„ . . . Und daß all' ihre Kinder reiche, das
heißt ſehr reiche Partieen machen. Und ich weiß
auch, wen ſie für Dich in Bereitſchaft hält.“


„Eine Unglückliche, die Du. . .“


„Wie Du mich verkennſt. Glaube mir, daß ich
Dich habe, dieſe Stunde habe, das iſt mein Glück.
Was daraus wird, das kümmert mich nicht. Eines
Tages biſt Du weggeflogen. . .“


Er ſchüttelte den Kopf.


„Schüttle nicht den Kopf; es iſt ſo, wie ich ſage.
Du liebſt mich und biſt mir treu, wenigſtens bin
ich in meiner Liebe kindiſch und eitel genug, es mir
einzubilden. Aber wegfliegen wirſt Du, das ſeh' ich
klar und gewiß. Du wirſt es müſſen. Es heißt
immer, die Liebe mache blind, aber ſie macht auch
hell und fernſichtig.“


„Ach, Lene, Du weißt gar nicht, wie lieb ich
Dich habe.“


„Doch, ich weiß es. Und weiß auch, daß Du
Deine Lene für 'was Beſondres hältſt und jeden
Tag denkſt, „wenn ſie doch eine Gräfin wäre“.
Damit iſt es nun aber zu ſpät, das bring' ich nicht
Fontane, Irrungen. 4[50] mehr zu Wege. Du liebſt mich und biſt ſchwach.
Daran iſt nichts zu ändern. Alle ſchönen Männer
ſind ſchwach und der Stärkre beherrſcht ſie. . . Und
der Stärkre. . . ja, wer iſt dieſer Stärkre? Nun ent¬
weder iſt's Deine Mutter, oder das Gerede der
Menſchen, oder die Verhältniſſe. Oder vielleicht alles
drei. . . Aber ſieh nur.“


Und ſie wies nach dem Zoologiſchen hinüber,
aus deſſen Baum- und Blätterdunkel eben eine Ra¬
kete ziſchend in die Luft fuhr und mit einem Puff
in zahlloſe Schwärmer zerſtob. Eine zweite folgte
der erſten und ſo ging es weiter, als ob ſie ſich
jagen und überholen wollten, bis es mit einem Male
vorbei war und die Gebüſche drüben in einem grünen
und rothen Lichte zu glühen anfingen. Ein paar
Vögel in ihren Käfigen kreiſchten dazwiſchen und
dann fiel nach einer langen Pauſe die Muſik
wieder ein.


„Weißt Du, Botho, wenn ich Dich nun ſo nehmen
und mit Dir die Läſter-Allee drüben auf- und ab¬
ſchreiten könnte, ſo ſicher wie hier zwiſchen den
Buchsbaumrabatten und könnte jedem ſagen: „ja
wundert euch nur, er iſt er und ich bin ich, und er
liebt mich und ich liebe ihn“, — ja Botho, was
glaubſt Du wohl, was ich dafür gäbe? Aber rathe
nicht, Du räthſt es doch nicht. Ihr kennt ja nur
[51] Euch und euren Klub und euer Leben. Ach, das
arme bischen Leben.“


„Sprich nicht ſo, Lene.“


„Warum nicht? Man muß allem ehrlich ins
Geſicht ſehn und ſich nichts weiß machen laſſen und
vor allem ſich ſelber nichts weiß machen. Aber es
wird kalt und drüben iſt es auch vorbei. Das iſt
das Schlußſtück, das ſie jetzt ſpielen. Komm, wir
wollen uns drin an den Herd ſetzen, das Feuer
wird noch nicht aus ſein und die Alte iſt längſt
zu Bett.“


So gingen ſie, während ſie ſich leicht an ſeine
Schulter lehnte, den Gartenſteig wieder hinauf. Im
„Schloß“ brannte kein Licht mehr und nur Sultan,
den Kopf aus ſeiner Hütte vorſtreckend, ſah ihnen
nach. Aber er rührte ſich nicht und hatte blos mür¬
riſche Gedanken.


4 *
[[52]]

SechſtesKapitel.

Es war die Woche darnach und die Kaſtanien
hatten bereits abgeblüht; auch in der Bellevueſtraße.
Hier hatte Baron Botho v. Rienäcker eine zwiſchen
einem Front- und einem Gartenbalkon gelegene
Parterre-Wohnung inne: Arbeitszimmer, Eßzimmer,
Schlafzimmer, die ſich ſämmtlich durch eine geſchmack¬
volle, ſeine Mittel ziemlich erheblich überſteigende
Einrichtung auszeichneten. In dem Eßzimmer be¬
fanden ſich zwei Hertel'ſche Stillleben und dazwiſchen
eine Bärenhatz, werthvolle Kopie nach Rubens,
während in dem Arbeitszimmer ein Andreas Achen¬
bach'ſcher Seeſturm, umgeben von einigen kleineren
Bildern deſſelben Meiſters, paradirte. Der See¬
ſturm war ihm bei Gelegenheit einer Verlooſung
zugefallen und an dieſem ſchönen und werthvollen
Beſitze hatte er ſich zum Kunſtkenner und ſpeziell
zum Achenbach-Enthuſiaſten herangebildet. Er ſcherzte
[53] gern darüber und pflegte zu verſichern, „daß ihm
ſein Lotterieglück, weil es ihn zu beſtändig neuen
Ankäufen verführt habe, theuer zu ſtehn gekommen
ſei,“ hinzuſetzend, „daß es vielleicht mit jedem Glücke
daſſelbe ſei.“


Vor dem Sopha, deſſen Plüſch mit einem per¬
ſiſchen Teppich überdeckt war, ſtand auf einem Malachit-
Tiſchchen das Kaffeegeſchirr, während auf dem Sopha
ſelbſt allerlei politiſche Zeitungen umher lagen,
unter ihnen auch ſolche, deren Vorkommen an dieſer
Stelle ziemlich verwunderlich war und nur aus dem
Baron Botho'ſchen Lieblingsſatze „Schnack gehe vor
Politik“ erklärt werden konnte. Geſchichten, die
den Stempel der Erfindung an der Stirn trugen,
ſogenannte „Perlen“, amüſirten ihn am meiſten.
Ein Kanarienvogel, deſſen Bauer während der Früh¬
ſtückszeit allemal offen ſtand, flog auch heute wieder
auf Hand und Schulter ſeines ihn nur zu ſehr
verwöhnenden Herrn, der, anſtatt ungeduldig zu
werden, das Blatt jedesmal bei Seite that, um den
kleinen Liebling zu ſtreicheln. Unterließ er es aber,
ſo drängte ſich das Thierchen an Hals und Bart
des Leſenden und piepte ſo lang und eigenſinnig,
bis ihm der Wille gethan war. „Alle Lieblinge
ſind gleich,“ ſagte Baron Rienäcker, „und fordern
Gehorſam und Unterwerfung.“


In dieſem Augenblicke ging die Korridorklingel
[54] und der Diener trat ein, um die draußen abgegebenen
Briefe zu bringen. Der eine, graues Kouvert in
Quadrat, war offen und mit einer Dreipfennigmarke
frankirt. „Hamburger Lotterieloos oder neue
Zigarren,“ ſagte Rienäcker und warf Kouvert und
Inhalt, ohne weiter nachzuſehen, bei Seite. „Aber
das hier . . . Ah, von Lene. Nun den verſpare ich
mir bis zuletzt, wenn ihm dieſer dritte, geſiegelte,
nicht den Rang ſtreitig macht. Oſten'ſches Wappen.
Alſo von Onkel Kurt Anton; Poſtſtempel „Berlin“,
will ſagen: ſchon da. Was wird er nur wollen?
Zehn gegen eins, ich ſoll mit ihm frühſtücken oder
einen Sattel kaufen oder ihn zu Renz begleiten,
vielleicht auch zu Kroll; am wahrſcheinlichſten das
eine thun und das andere nicht laſſen.“


Und er ſchnitt das Kouvert, auf dem er auch
Onkel Oſten's Handſchrift erkannt hatte, mit einem
auf dem Fenſterbrett liegenden Meſſerchen auf und
nahm den Brief heraus. Der aber lautete:


Hotel Brandenburg, Nummer 15. Mein
lieber Botho. Vor einer Stunde bin ich hier unter
eurer alten Berliner Deviſe „vor Taſchendieben wird
gewarnt“, auf dem Oſtbahnhofe glücklich eingetroffen
und habe mich in Hotel Brandenburg einquartiert,
will ſagen an alter Stelle; was ein richtiger Kon¬
ſervativer iſt, iſt es auch in kleinen Dingen. Ich
bleibe nur zwei Tage, denn eure Luft drückt mich.
[55] Es iſt ein ſtickiges Neſt. Alles andre mündlich.
Ich erwarte Dich 1 Uhr bei Hiller. Dann wollen
mir einen Sattel kaufen. Und dann Abends zu
Renz. Sei pünktlich. Dein alter Onkel Kurt
Anton.“


Rienäcker lachte. „Dacht' ich's doch! Und doch
eine Neuerung. Früher war es Borchardt, jetzt
Hiller. Ei, ei, Onkelchen, was ein richtiger Konſer¬
vativer iſt, iſt es auch in kleinen Dingen . . Und
nun meine liebe Lene . . . Was Onkel Kurt Anton
wohl ſagen würde, wenn er wüßte, in welcher Be¬
gleitung ſein Brief und ſeine Befehle hier ein¬
getroffen ſind.“


Und während er ſo ſprach, erbrach er Lene's
Billet und las.


„Es ſind nun ſchon volle fünf Tage, daß ich
Dich nicht geſehen habe. Soll es eine volle Woche
werden? Und ich dachte, Du müßteſt den andern
Tag wiederkommen, ſo glücklich war ich den Abend.
Und Du warſt ſo lieb und gut. Mutter neckt mich
ſchon und ſagt: „er kommt nicht wieder.“ Ach, wie
mir das immer einen Stich ins Herz giebt, weil es
ja mal ſo kommen muß und weil ich fühle, daß es
jeden Tag kommen kann. Daran wurd' ich geſtern
wieder erinnert. Denn wenn ich Dir eben ſchrieb,
ich hätte Dich fünf Tage lang nicht geſehen, ſo
hab' ich nicht die Wahrheit geſagt, ich habe Dich
[56] geſehn, geſtern, aber heimlich, verſtohlen, auf dem
Korſo. Denke Dir, ich war auch da, natürlich weit
zurück in einer Seiten-Alleh und habe Dich eine
Stunde lang auf- und abreiten ſehn. Ach, ich
freute mich über die Maßen, denn Du warſt der
ſtattlichſte (beinah ſo ſtattlich wie Frau Dörr, die
ſich Dir emphehlen läßt) und ich hatte ſolchen
Stolz Dich zu ſehn, daß ich nicht einmal eifer¬
ſüchtig wurde. Nur einmal kam es. Wer war
denn die ſchöne Blondine, mit den zwei Schimmeln,
die ganz in einer Blumengirrlande gingen? Und
die Blumen ſo dicht, ganz ohne Blatt und Stiehl.
So was Schönes hab' ich all mein Lebtag nicht
geſehn. Als Kind hätt' ich gedacht, es müſſ' eine
Prinzeſſin ſein, aber jetzt weiß ich, daß Prinzeſſinnen
nicht immer die ſchönſten ſind. Ja, ſie war ſchön
und gefiehl Dir, ich ſah es wohl, und Du gefiehlſt
ihr auch. Aber die Mutter, die neben der ſchönen
Blondine ſaß, der gefiehlſt Du noch beſſer. Und
das ärgerte mich. Einer ganz jungen gönne ich
Dich, wenn's durchaus ſein muß. Aber einer alten!
Und nun gar einer Mama? Nein, nein, die hat
ihr Theil. Jedenfalls, mein einziger Botho, ſiehſt
Du, daß Du mich wieder gut machen und beruhigen
mußt. Ich erwarte Dich morgen oder übermorgen.
Und wenn Du nicht Abend kannſt, ſo komme bei
Tag und wenn es nur eine Minute wäre. Ich
[57] habe ſolche Angſt um Dich, das heißt eigentlich um
mich. Du verſtheeſt mich ſchon. Deine Lene.“


„Deine Lene“, ſprach er, die Briefunterſchrift
wiederholend, noch einmal vor ſich hin und eine
Unruhe bemächtigte ſich ſeiner, weil ihm allerwider¬
ſtreitendſte Gefühle durch's Herz gingen: Liebe,
Sorge, Furcht. Dann durchlas er den Brief noch
einmal. An zwei, drei Stellen konnt' er ſich nicht
verſagen, ein Strichelchen mit dem ſilbernen Crayon
zu machen, aber nicht aus Schulmeiſterei, ſondern
aus eitel Freude. „Wie gut ſie ſchreibt! Kalli¬
graphiſch gewiß und orthographiſch beinah ... Stiehl
ſtatt Stiel ... Ja, warum nicht? Stiehl war
eigentlich ein gefürchteter Schulrath, aber, Gott ſei
Dank, ich bin keiner. Und „emphehlen“. Soll ich
wegen f und h mit ihr zürnen? Großer Gott, wer
kann „empfehlen“ richtig ſchreiben? Die ganz jungen
Comteſſen nicht immer und die ganz alten nie.
Alſo was ſchadt's! Wahrhaftig, der Brief iſt wie
Lene ſelber, gut, treu, zuverläſſig und die Fehler
machen ihn nur noch reizender.“


Er lehnte ſich in den Stuhl zurück und legte
die Hand über Stirn und Augen: „Arme Lene,
was ſoll werden! Es wär' uns beiden beſſer ge¬
weſen, der Oſtermontag wäre dies Mal ausgefallen.
Wozu giebt es auch zwei Feiertage? Wozu Trep¬
tow und Stralau und Waſſerfahrten? Und nun
[58] der Onkel! Entweder kommt er wieder als Abge¬
ſandter von meiner Mutter oder er hat Pläne für
mich aus ſich ſelbſt, aus eigner Initiative. Nun,
ich werde ja ſehen. Eine diplomatſche Verſtellungs¬
ſchule hat er nicht durchgemacht, und wenn er zehn
Eide geſchworen hat zu ſchweigen, es kommt doch
heraus. Ich will's ſchon erfahren, trotzdem ich in
der Kunſt der Intrigue gleich nach ihm ſelber
komme.“


Dabei zog er ein Fach ſeines Schreibtiſches auf,
darin, von einem rothen Bändchen umwunden, ſchon
andere Briefe Lenens lagen. Und nun klingelte er
nach dem Diener, der ihm beim Ankleiden behilflich
ſein ſollte. „So, Johann, das wäre gethan . . .
Und nun vergiß nicht, die Jalouſieen herunter zu
laſſen. Und wenn wer kommt und nach mir fragt, bis
12 bin ich in der Kaſerne, nach 1 bei Hiller und
am Abend bei Renz. Und zieh auch die Jalouſieen
zu rechter Zeit wieder auf, daß ich nicht wieder
einen Brütofen vorfinde. Und laß die Lampe vorn
brennen. Aber nicht in meinem Schlafzimmer; die
Mücken ſind wie toll in dieſem Jahr. Verſtanden?“


„Zu Befehl, Herr Baron.“


Und unter dieſem Geſpräche, das ſchon halb im
Korridor geführt worden war, trat Rienäcker in
den Hausflur, ziepte draußen im Vorgarten die
13 jährige, ſich gerad' über den Wagen ihres kleinen
[59] Bruders beugende Portiertochter von hinten her am
Zopf und empfing einen wüthenden, aber im Er¬
kennungsmoment ebenſo raſch in Zärtlichkeit über¬
gehenden Blick als Antwort darauf.


Und nun erſt trat er durch die Gitterthür auf
die Straße. Hier ſah er, unter der grünen Kaſtanien¬
laube hin, abwechſelnd auf das Thor und dann
wieder nach dem Thiergarten zu, wo ſich, wie auf
einem Camera obscura-Glaſe, die Menſchen und
Fuhrwerke geräuſchlos hin und her bewegten. „Wie
ſchön. Es iſt doch wohl eine der beſten Welten.“

[[60]]

Siebentes Kapitel.

Um Zwölf war der Dienſt in der Kaſerne gethan
und Botho v. Rienäcker ging die Linden hinunter
aufs Thor zu, lediglich in der Abſicht, die Stunde
bis zum Rendezvous bei Hiller, ſo gut ſich's thun
ließ, auszufüllen. Zwei, drei Bilderläden waren
ihm dabei ſehr willkommen. Bei Lepke ſtanden ein
paar Oswald Achenbach's im Schaufenſter, darunter
eine palermitaniſche Straße, ſchmutzig und ſonnig,
und von einer geradezu frappirenden Wahrheit des
Lebens und Kolorits. „Es giebt doch Dinge, worüber
man nie ins Reine kommt. So mit den Achen¬
bach's. Bis vor Kurzem hab' ich auf Andreas ge¬
ſchworen; aber wenn ich ſo was ſehe wie das hier,
ſo weiß ich nicht, ob ihm der Oswald nicht gleich¬
kommt oder ihn überholt. Jedenfalls iſt er bunter
und mannigfacher. All dergleichen aber iſt mir blos
zu denken erlaubt; vor den Leuten es ausſprechen,
[61] hieße meinen „Seeſturm“ ohne Noth auf den halben
Preis herabſetzen.“


Unter ſolchen Betrachtungen ſtand er eine Zeit¬
lang vor dem Lepke'ſchen Schaufenſter und ging
dann, über den Pariſer Platz hin, auf das Thor
und die ſchräg links führende Thiergarten-Allee zu,
bis er vor der Wolf'ſchen Löwengruppe Halt machte.
Hier ſah er nach der Uhr. „Halb eins. Alſo
Zeit.“ Und ſo wandt' er ſich wieder, um auf dem¬
ſelben Wege nach den „Linden“ hin zurückzukehren.
Vor dem Redern'ſchen Palais ſah er Leutnant
v. Wedell von den Garde-Dragonern auf ſich zu¬
kommen.


„Wohin. Wedell?“

„In den Club. Und Sie?“

„Zu Hiller.“

„Etwas früh.“


„Ja. Aber was hilft's? Ich ſoll mit einem
alten Onkel von mir frühſtücken, neumärkiſch Blut
und juſt in dem Winkel zu Hauſe, wo Bentſch,
Rentſch, Stentſch liegen, — lauter Reimwörter auf
Menſch, ſelbſtverſtändlich ohne weitre Konſequenz
oder Verpflichtung. Uebrigens hat er, ich meine
den Onkel, mal in Ihrem Regiment geſtanden.
Freilich lange her, erſte vierziger Jahre. Baron
Oſten.“


„Der Wietzendorfer?“

[62]

„Eben der.“


„O den kenn' ich, d. h. dem Namen nach. Etwas
Verwandtſchaft. Meine Großmutter war eine Oſten.
Iſt doch derſelbe, der mit Bismarck auf dem Kriegs¬
fuß ſteht?“


„Derſelbe. Wiſſen Sie was, Wedell, kommen
Sie mit. Der Club läuft Ihnen nicht weg und
Pitt und Serge auch nicht; Sie finden ſie um Drei
gerad ſo gut wie um Eins. Der Alte ſchwärmt
noch immer für Dragonerblau mit Gold und iſt
Neumärker genug, um ſich über jeden Wedell zu
freuen.“


„Gut, Rienäcker. Aber auf Ihre Verantwor¬
tung.“


„Mit Vergnügen.“


Unter ſolchem Geſpräche waren ſie bei Hiller
angelangt, wo der alte Baron bereits an der Glas¬
thür ſtand und ausſchaute, denn es war eine Minute
nach Eins. Er unterließ aber jede Bemerkung und
war augenſcheinlich erfreut, als Botho vorſtellte:
„Leutnant v. Wedell.“


„Ihr Herr Neffe . . .“


„Nichts von Entſchuldigungen, Herr v. Wedell,
Alles, was Wedell heißt, iſt mir willkommen und
wenn es dieſen Rock trägt, doppelt und dreifach.
Kommen Sie, meine Herren, wir wollen uns aus
dieſem Stuhl- und Tiſch-Defilé heraus ziehen und
[63] ſo gut es geht nach rückwärts hin konzentriren.
Sonſt nicht Preußenſache; hier aber rathſam.“


Und damit ging er, um gute Plätze zu finden,
vorauf und wählte nach Einblick in verſchiedene
kleine Kabinets ſchließlich ein mäßig großes, mit
einem lederfarbnen Stoff austapeziertes Zimmer,
das trotz eines breiten und dreigetheilten Fenſters
wenig Licht hatte, weil es auf einen engen und
dunklen Hof ſah. Von einem hier zu vier gedeckten
Tiſch wurde im Nu das vierte Couvert entfernt und
während die beiden Offiziere Pallaſch und Säbel in
die Fenſterecke ſtellten, wandte ſich der alte Baron
an den Oberkellner, der in einiger Entfernung gefolgt
war, und befahl einen Hummer und einen weißen
Burgunder. „Aber welchen, Botho?“


„Sagen wir Chablis.“


„Gut, Chablis. Und friſches Waſſer. Aber
nicht aus der Leitung; lieber ſo, daß die Karaffe
beſchlägt. Und nun, meine Herren, bitte Platz zu
nehmen: lieber Wedell hier, Botho Du da. Wenn
nur dieſe Gluth, dieſe verfrühte Hundstagshitze nicht
wäre. Luft, meine Herren, Luft. Ihr ſchönes Berlin,
das immer ſchöner wird (ſo verſichern einen wenig¬
ſtens alle, die nichts Beſſeres kennen), Ihr ſchönes
Berlin hat alles, aber keine Luft.“ Und dabei riß
er die großen Fenſterflügel auf und ſetzte ſich ſo,
daß er die breite Mittelöffnung gerade vor ſich hatte.


[64]

Der Hummer war noch nicht gekommen, aber
der Chablis ſtand ſchon da. Voll Unruhe nahm
der alte Oſten eins der Brötchen aus dem Korb und
ſchnitt es mit ebenſo viel Haſt wie Virtuoſität in
Schrägſtücke, blos um etwas zu thun zu haben.
Dann lies; er das Meſſer wieder fallen und reichte
Wedell die Hand, „Ihnen unendlich verbunden,
Herr v. Wedell, und brillanter Einfall von Botho,
Sie dem Club auf ein paar Stunden abſpänſtig
gemacht zu haben. Ich nehm' es als eine gute
Vorbedeutung, gleich bei meinem erſten Ausgang in
Berlin einen Wedell begrüßen zu dürfen.“


Und nun begann er einzuſchenken, weil er ſeiner
Unruhe nicht länger Herr bleiben konnte, befahl eine
Cliquot kalt zu ſtellen und fuhr dann fort: „Eigent¬
lich, lieber Wedell, ſind wir verwandt; es giebt keine
Wedell's, mit denen wir nicht verwandt wären, und
wenn's auch blos durch einen Scheffel Erbſen wäre;
neumärkiſch Blut iſt in allen. Und wenn ich nun
gar mein altes Dragonerblau wiederſehe, da ſchlägt
mir das Herz bis in den Hals hinein. Ja, Herr
v. Wedell, alte Liebe roſtet nicht. Aber da kommt
der Hummer . . . Bitte, hier die große Scheere.
Die Scheeren ſind immer das Beſte . . . Aber, was
ich ſagen wollte, alte Liebe roſtet nicht und der
Schneid auch nicht. Und ich ſetze hinzu, Gott ſei
Dank. Damals hatten wir noch den alten Dobeneck.
[65] Himmelwetter, war das ein Mann! Ein Mann
wie ein Kind. Aber wenn es mal ſchlecht ging
und nicht klappen wollte, wenn er einen dann anſah,
den hätt' ich ſehen wollen, der den Blick ausgehalten
hätte. Richtiger alter Oſtpreuße noch von Anno 13
und 14 her. Wir fürchteten ihn, aber wir liebten
ihn auch. Denn er war wie ein Vater. Und, wiſſen
Sie, Herr v. Wedell, wer mein Rittmeiſter war...?“


In dieſem Augenblicke kam auch der Champagner.


„Mein Rittmeiſter war Manteuffel, derſelbe, dem
wir alles verdanken, der uns die Armee gemacht hat
und mit der Armee den Sieg.“


Herr v. Wedell verbeugte ſich, während Botho
leicht hin ſagte: „Gewiß, man kann es ſagen.“


Aber das war nicht klug und weiſe von Botho,
wie ſich gleich herausſtellen ſollte, denn der ohnehin
an Kongeſtionen leidende alte Baron wurde roth
über den ganzen kahlen Kopf weg und das bischen
krauſe Haar an ſeinen Schläfen ſchien noch krauſer
werden zu wollen. „Ich verſtehe Dich nicht, Botho;
was ſoll dies ,Man kann es ſagen', das heißt ſo
viel wie ,man kann es auch nicht ſagen'. Und
ich weiß auch, worauf das alles hinaus will. Es
will andeuten, daß ein gewiſſer Küraſſieroffizier aus
der Reſerve, der im Uebrigen mit nichts in Reſerve
gehalten hat, am wenigſten mit revolutionären Ma߬
nahmen, es will andeuten, ſag' ich, daß ein gewiſſer
Fontane, Irrungen. 5[66] Halberſtädter mit ſchwefelgelbem Kragen eigentlich
auch St. Privat allerperſönlichſt geſtürmt und um
Sedan herum den großen Zirkel gezogen habe. Botho,
damit darfſt Du mir nicht kommen. Er war ein
Referendar und hat auf der Potsdamer Regierung
gearbeitet, ſogar unter dem alten Meding, der nie
gut auf ihn zu ſprechen war, ich weiß das, und hat
eigentlich nichts gelernt als Depeſchen ſchreiben.
Soviel will ich ihm laſſen, das verſteht er, oder
mit andern Worten, er iſt ein Federfuchſer. Aber
nicht die Federfuchſer haben Preußen groß gemacht.
War der bei Fehrbellin ein Federfuchſer? War der
bei Leuthen ein Federfuchſer? War Blücher ein
Federfuchſer oder York? Hier ſitzt die preußiſche
Feder. Ich kann dieſen Cultus nicht leiden.“


„Aber lieber Onkel . . .“


„Aber, aber, ich dulde kein aber. Glaube mir,
Botho, zu ſolcher Frage, dazu gehören Jahre; derlei
Dinge verſteh' ich beſſer. Wie ſteht es denn? Er
ſtößt die Leiter um, drauf er emporgeſtiegen, und
verbietet ſogar die Kreuzzeitung und rund heraus,
er ruinirt uns; er denkt klein von uns, er ſagt uns
Sottiſen und wenn ihm der Sinn danach ſteht,
verklagt er uns auf Diebſtahl oder Unterſchlagung
und ſchickt uns auf die Feſtung. Ach, was ſag' ich
auf die Feſtung. Feſtung iſt für anſtändige Leute,
nein, ins Landarmenhaus ſchickt er uns, um Wolle
[67] zu zupfen . . . Aber Luft, meine Herren, Luft. Sie
haben keine Luft hier. Verdammtes Neſt.“


Und er erhob ſich und riß zu dem bereits offen¬
ſtehenden Mittelflügel auch noch die beiden Neben¬
flügel auf, ſo daß von dem Zuge, der ging, die
Gardinen und das Tiſchtuch ins Wehen kamen.
Dann ſich wieder ſetzend, nahm er ein Stück Eis
aus dem Champagnerkühler und fuhr ſich damit
über die Stirn.


„Ah,“ fuhr er fort, „das Stück Eis hier, das
iſt das Beſte vom ganzen Frühſtück ... Und nun
ſagen Sie, Herr v. Wedell, hab' ich Recht oder nicht?
Botho, Hand aufs Herz, hab' ich Recht? Iſt es
nicht ſo, daß man ſich als ein Märkiſcher von Adel
aus reiner Edelmannsempörung einen Hochverraths¬
prozeß auf den Leib reden möchte? Solchen Mann
... aus unſrer ... Familie vornehmer als
die Bismarck's und ſo viele für Thron und Hohen¬
zollernthum gefallen, daß man eine ganze Leib¬
kompagnie daraus formiren könnte, Leibkompagnie
mit Blechmützen und der Boitzenburger kommandirt
ſie. Ja, meine Herren. Und ſolcher Familie ſolchen
Affront. Und warum? Unterſchlagung, Indiskretion,
Bruch von Amtsgeheimniß. Ich bitte Sie, fehlt
nur noch Kindsmord und Vergehen gegen die Sitt¬
lichkeit und wahrhaftig es bleibt verwunderlich genug,
daß nicht auch das noch herausgedrückt worden iſt.
5*[68] Aber die Herren ſchweigen. Ich bitte Sie, ſprechen
Sie. Glauben Sie mir, daß ich andre Meinungen
hören und ertragen kann; ich bin nicht wie er;
ſprechen Sie, Herr v. Wedell, ſprechen Sie.“


Wedell, in immer wachſender Verlegenheit, ſuchte
nach einem Ausgleichs- und Beruhigungsworte:
„Gewiß, Herr Baron, es iſt, wie Sie ſagen. Aber,
Pardon, ich habe damals, als die Sache zum Aus¬
trag kam, vielfach ausſprechen hören, und die Worte
ſind mir im Gedächtniß geblieben, daß der Schwächere
darauf verzichten müſſe, dem Stärkeren die Wege
kreuzen zu wollen, das verbiete ſich in Leben wie
Politik, es ſei nun mal ſo: Macht gehe vor Recht.“

„Und kein Widerſpruch dagegen, kein Appell?“

„Doch, Herr Baron. Unter Umſtänden auch
ein Appell. Und um nichts zu verſchweigen, ich
kenne ſolche Fälle gerechtfertigter Oppoſition. Was
die Schwäche nicht darf, das darf die Reinheit, die
Reinheit der Ueberzeugung, die Lauterkeit der Ge¬
ſinnung. Die hat das Recht der Auflehnung, ſie hat
ſogar die Pflicht dazu. Wer aber hat dieſe Lauter¬
keit? Hatte ſie . . . Doch ich ſchweige, weil ich weder
Sie, Herr Baron, noch die Familie, von der wir
ſprechen, verletzen möchte. Sie wiſſen aber, auch
ohne daß ich es ſage, daß er, der das Wagniß
wagte, dieſe Lauterkeit der Geſinnung nicht hatte.
[69] Der blos Schwächere darf nichts, nur der Reine
darf alles.“


„Nur der Reine darf alles,“ wiederholte der
alte Baron mit einem ſo ſchlauen Geſicht, daß es
zweifelhaft blieb, ob er mehr von der Wahrheit
oder der Anfechtbarkeit dieſer Theſe durchdrungen
ſei. Der Reine darf alles. Kapitaler Satz, den
ich mir mit nach Hauſe nehme. Der wird meinem
Paſtor gefallen, der letzten Herbſt den Kampf mit
mir aufgenommen und ein Stück von meinem Acker
zurückgefordert hat. Nicht ſeinetwegen, i Gott be¬
wahre, blos um des Prinzips und ſeines Nach¬
folgers willen, dem er nichts vergeben dürfe. Schlauer
Fuchs. Aber der Reine darf alles.“


„Du wirſt ſchon nachgeben in der Pfarracker¬
frage,“ ſagte Botho. „Kenn' ich doch Schönemann
noch von Sellenthin's her.“


„Ja, da war er noch Hauslehrer und kannte
nichts Beſſeres, als die Schulſtunden abkürzen und
die Spielſtunden in die Länge ziehen. Und konnte
Reifen ſpielen wie ein junger Marquis; wahrhaftig,
es war ein Vergnügen, ihm zuzuſehen. Aber nun
iſt er ſieben Jahre im Amt und Du würdeſt den
Schönemann, der der gnädigen Frau den Hof machte,
nicht wieder erkennen. Eins aber muß ich ihm
laſſen, er hat beide Frölens gut erzogen und am
beſten Deine Käthe . . .“

[70]

Botho ſah den Onkel verlegen an, faſt als ob
er ihn um Diskretion bitten wolle. Der alte Baron
aber, überfroh, das heikle Thema ſo glücklich beim
Schopfe gefaßt zu haben, fuhr in überſtrömender
und immer wachſender guter Laune fort: „Ach laß
doch, Botho. Diskretion, Unſinn. Wedell iſt Lands¬
mann und wird von der Geſchichte ſo gut wiſſen,
wie jeder andere. Weshalb ſchweigen über ſolche
Dinge. Du biſt doch ſo gut wie gebunden. Und
weiß es Gott, Junge, wenn ich ſo die Frölens Revue
paſſiren laſſe, 'ne beſſre findeſt Du nicht, Zähne
wie Perlen und lacht immer, daß man die ganze
Schnur ſieht. Eine Flachsblondine zum Küſſen und
wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, höre ... “


Wedell, der Botho's Verlegenheit bemerkte, wollte
ihm zu Hilfe kommen und ſagte: „Die Sellenthin'¬
ſchen Damen ſind alle ſehr anmuthig, Mutter wie
Töchter; ich war vorigen Sommer mit ihnen in
Norderney, charmant, aber ich würde der zweiten
den Vorzug geben . . .“


„Deſto beſſer, Wedell. Da kommt ihr euch nicht
in die Quer und wir können gleich eine Doppel¬
hochzeit feiern. Und Schönemann kann trauen,
wenn Kluckhuhn, der wie alle Alten empfindlich iſt,
es zugiebt, und ich will ihm nicht nur das Fuhr¬
werk ſtellen, ich will ihm auch das Stück Pfarr¬
acker ohne Weiteres cediren, wenn ich ſolche Hochzeit
[71] zwiſchen heut und einem Jahr erlebe. Sie ſind
reich, lieber Wedell, und mit Ihnen preſſirt es am
Ende nicht. Aber ſehen Sie ſich unſern Freund
Botho an. Daß er ſo wohlgenährt ausſieht, das
verdankt er nicht ſeiner Sandbüchſe, die, die paar
Wieſen abgerechnet, eigentlich nichts als eine Kiefern¬
ſchonung iſt, und noch weniger ſeinem Muränenſee.
„Muränenſee“, das klingt wundervoll und man
könnte beinah ſagen poetiſch. Aber das iſt auch alles.
Man kann von Muränen nicht leben. Ich weiß,
Du hörſt nicht gerne davon, aber da wir mal dabei
ſind, ſo muß es heraus. Wie liegt es denn? Dein
Großvater hat die Haide 'runterſchlagen laſſen und
Dein Vater ſelig — ein kapitaler Mann, aber ich
habe keinen Menſchen je ſo ſchlecht L'hombre ſpielen
ſehn und ſo hoch dazu — Dein Vater ſelig, ſag'
ich, hat die fünfhundert Morgen Bruchacker an die
Jeſeritzer Bauern parzellirt und was von gutem
Boden übrig geblieben iſt, iſt nicht viel, und die
dreißigtauſend Thaler ſind auch längſt wieder fort.
Wärſt Du allein, ſo möcht' es gehn, aber Du mußt
theilen mit Deinem Bruder und vorläufig hat die
Mama, meine Frau Schweſter Liebden, das Ganze
noch in Händen, eine prächtige Frau, klug und ge¬
ſcheidt, aber auch nicht auf die ſparſame Seite ge¬
fallen. Botho, wozu ſtehſt Du bei den Kaiſer¬
küraſſieren und wozu haſt Du eine reiche Couſine,
[72] die blos darauf wartet, daß Du kommſt und in
einem regelrechten Antrage das beſiegelſt und wahr¬
machſt, was die Eltern ſchon verabredet haben, als
ihr noch Kinder wart. Wozu noch überlegen? Höre,
wenn ich morgen auf der Rückreiſe bei Deiner Mama
mit vorfahren und ihr die Nachricht bringen könnte:
„Liebe Joſephine, Botho will, alles abgemacht,“
höre Junge, das wäre 'mal was, das einem alten
Onkel, der's gut mit Dir meint, eine Freude machen
könnte. Reden Sie zu, Wedell. Es iſt Zeit, daß
er aus der Garçonſchaft herauskommt. Er verthut
ſonſt ſein bischen Vermögen oder verplämpert ſich
wohl gar mit einer kleinen Bourgeoiſe. Hab' ich
Recht? Natürlich. Abgemacht. Und darauf müſſen
wir noch anſtoßen. Aber nicht mit dieſem Reſt . . .“
Und er drückte auf die Klingel.

„Ein Heidſieck. Beſte Marke.“

[[73]]

Achtes Kapitel.

Im Club befanden ſich um eben dieſe Zeit zwei
junge Kavaliere, der eine, von den Gardes du Corps,
ſchlank, groß und glatt, der andere, von den Paſe¬
walkern abkommandiert, etwas kleiner, mit Vollbart
und nur vorſchriftsmäßig freiem Kinn. Der weiße
Damaſt des Tiſches, dran ſie gefrühſtückt hatten,
war zurückgeſchlagen und an der freigewordenen
Hälfte ſaßen Beide beim Piquet.


„Sechs Blatt mit 'ner Quart.“


„Gut.“


„Und Du?“


„Vierzehn As, drei Könige, drei Damen . . .
Und Du machſt keinen Stich.“ Und er legte das
Spiel auf den Tiſch und ſchob im nächſten
Augenblicke die Karten zuſammen, während der An¬
dere miſchte.


„Weißt Du ſchon, Ella verheirathet ſich.“


„Schade.“


„Warum ſchade?“

[74]

„Sie kann dann nicht mehr durch den Reifen
ſpringen.“


„Unſinn. Je mehr ſie ſich verheirathen, deſto
ſchlanker werden ſie“


„Doch mit Ausnahme. Viele Namen aus der
Zirkus-Ariſtokratie blühen ſchon in der dritten und
vierten Generation, was denn doch einigermaßen
auf Wechſelzuſtände von ſchlank und nicht-ſchlank,
oder, wenn Du willſt, auf Neumond und erſtes
Viertel ꝛc. hinweiſt.“


„Irrthum. Error in calculo. Du vergißt
Adoption. Alle dieſe Zirkusleute ſind heimliche Gich¬
telianer und vererben nach Plan und Abmachung
ihr Vermögen, ihr Anſehen und ihren Namen. Es
ſcheinen dieſelben und ſind doch andere geworden.
Immer friſches Blut. Heb' ab. . Uebrigens hab' ich
noch eine zweite Nachricht. Afzelius kommt in den
Generalſtab.“


„Welcher?“


„Der von den Ulanen.“


„Unmöglich.“


„Moltke hält große Stücke auf ihn und er ſoll
eine vorzügliche Arbeit gemacht haben.“


„Imponirt mir nicht. Alles Bibliotheks- und
Abſchreibeſache. Wer nur ein Bischen findig iſt,
kann Bücher leiſten wie Humboldt oder Ranke.“


„Quart. Vierzehn As.“

[75]

„Quint vom König.“


Und während die Stiche gemacht wurden, hörte
man in dem Billardzimmer nebenan das Klappen
der Bälle und das Fallen der kleinen Boule¬
kegel.


Nur ſechs oder acht Herren waren alles in allem
in den zwei hintern Clubzimmern, die mit ihrer
Schmalſeite nach einem ſonnigen und ziemlich lang¬
weiligen Garten hinausſahen, verſammelt, alle ſchweig¬
ſam, alle mehr oder weniger in ihr Whiſt oder
Domino vertieft, nicht zum wenigſten die zwei piquet¬
ſpielenden Herren, die ſich eben über Ella und Afzelius
unterhalten hatten. Es ging hoch, weshalb beide
von ihrem Spiel erſt wieder aufſahen, als ſie, durch
eine offne Rundbogen-Niſche, von dem nebenher
laufenden Zimmer her eines neuen Ankömmlings
gewahr wurden. Es war Wedell.


„Aber Wedell, wenn Sie nicht eine Welt von
Neuigkeiten mitbringen, ſo belegen wir Sie mit dem
großen Bann.“


„Pardon, Serge, es war keine beſtimmte Ver¬
abredung.“


„Aber doch beinah. Uebrigens finden Sie mich
perſönlich in nachgiebigſter Stimmung. Wie ſie ſich
mit Pitt auseinander ſetzen wollen, der eben 150
Points verloren, iſt Ihre Sache.“

[76]

Dabei ſchoben beide die Karten bei Seit' und
der von dem herzukommenden Wedell als Serge
Begrüßte zog ſeine Remontoir-Uhr und ſagte: „3 Uhr
15. Alſo Kaffee. Irgend ein Philoſoph, und es
muß einer der größten geweſen ſein, hat einmal ge¬
ſagt, das ſei das Beſte am Kaffee, daß er in jede
Situation und Tagesſtunde hineinpaſſe. Wahrhaftig,
Wort eines Weiſen. Aber wo nehmen wir ihn?
Ich denke wir ſetzen uns draußen auf die Terraſſe,
mitten in die Sonne. Je mehr man das Wetter
brüskirt, deſto beſſer fährt man. Alſo, Pehlecke,
drei Taſſen. Ich kann das Umfallen der Boule¬
kegel nicht mehr mit anhören, es macht mich nervös;
draußen haben wir freilich auch Lärm, aber doch
anders und hören ſtatt des ſpitzen Klappertons das
Poltern und Donnern unſerer unterirdiſchen Kegel¬
bahn, wobei wir uns einbilden können, am Veſuv
oder Aetna zu ſitzen. Und warum auch nicht? Alle
Genüſſe ſind ſchließlich Einbildung und wer die beſte
Phantaſie hat, hat den größten Genuß. Nur das
Unwirkliche macht den Werth und iſt eigentlich das
einzig Reale.“


„Serge,“ ſagte der andere, der beim Piquet¬
ſpielen als Pitt angeredet worden war, „wenn Du
mit Deinen berühmten großen Sätzen ſo fortfährſt,
ſo beſtrafſt Du Wedell härter als er verdient.
Außerdem haſt Du Rückſicht auf mich zu nehmen,
[77] weil ich verloren habe. So, hier wollen wir bleiben,
den lawn im Rücken, dieſen Epheu neben uns und
eine kahle Wand en vue. Himmliſcher Aufenthalt
für Seiner Majeſtät Garde! Was wohl der alte
Fürſt Pückler zu dieſem Klubgarten geſagt haben
würde. Pehlecke . . . ſo, hier den Tiſch her, jetzt
geht's. Und zum Schluß eine Cuba von Ihrem
gelagertſten Lager. Und nun, Wedell, wenn Ihnen
verziehen werden ſoll, ſchütteln Sie Ihr Gewand,
bis ein neuer Krieg herausfällt oder irgend eine
andere große Nachricht. Sie ſind ja durch Putt¬
kamers mit unſerem lieben Herrgott verwandt. Mit
welchem, brauch' ich nicht erſt hinzuzuſetzen. Was
kocht er wieder?“


„Pitt,“ ſagte Wedell, „ich beſchwöre Sie, nur
keine Bismarckfragen. Denn erſtlich wiſſen Sie,
daß ich nichts weiß, weil Vettern im 17. Grad nicht
gerade zu den Intimen und Vertrauten des Fürſten
gehören, zum zweiten aber komme ich, ſtatt vom
Fürſten, recte von einem Bolzenſchießen her, das
ſich mit einigen Treffern und vielen, vielen Nicht-
Treffern gegen niemand anders als gegen Seine
Durchlaucht richtete.“


„Und wer war dieſer kühne Schütze?“

„Der alte Baron Oſten, Rienäcker's Onkel.
Charmanter alter Herr und Bon-Garçon. Aber
freilich auch Pfiffikus.“

[78]

„Wie alle Märker.“


„Bin auch einer.“


Tant mieux. Da wiſſen Sie's von ſich ſelbſt.
Aber heraus mit der Sprache. Was ſagte der
Alte?“


„Vielerlei. Das Politiſche kaum der Rede
werth, aber ein Anderes deſto wichtiger: Rienäcker
ſteht vor einer ſcharfen Ecke.“


„Und vor welcher?“


„Er ſoll heirathen.“


„Und das nennen Sie eine ſcharfe Ecke? Ich
bitte Sie, Wedell, Rienäcker ſteht vor einer viel
ſchärferen: er hat 9000 jährlich und giebt 12 000
aus und das iſt immer die ſchärfſte aller Ecken,
jedenfalls ſchärfer als die Heiraths-Ecke. Heirathen
iſt für Rienäcker keine Gefahr, ſondern die Rettung.
Uebrigens hab' ich es kommen ſehen. Und wer iſt
es denn?“


„Eine Couſine!“


„Natürlich. Retterin und Couſine ſind heut¬
zutage faſt identiſch. Und ich wette, daß ſie Paula
heißt. Alle Couſinen heißen jetzt Paula.“


„Dieſe nicht.“


„Sondern?“


„Käthe.“


„Käthe? Ah, da weiß ich's. Käthe Sellenthin.
Hm, nicht übel, glänzende Parthie. Der alte Sellen¬
[79] thin, es iſt doch der mit dem Pflaſter überm Auge,
hat ſechs Güter und die Vorwerke mit eingerechnet,
ſind es ſogar dreizehn. Geht zu gleichen Theilen
und das dreizehnte kriegt Käthe noch als Zuſchlag.
Gratulire. . .“


„Sie kennen ſie?“


„Gewiß. Wundervolle Flachsblondine mit Ver¬
gißmeinnicht-Augen, aber trotzdem nicht ſentimental,
weniger Mond als Sonne. Sie war hier bei der
Zülow in Penſion und wurde mit 14 ſchon umkurt
und umworben.“


„In der Penſion?“


„Nicht direkt und nicht Alltags, aber doch Sonn¬
tags, wenn ſie beim alten Oſten zu Tiſche war,
demſelben, von dem Sie jetzt herkommen. Käthe,
Käthe Sellenthin . . ſie war damals wie 'ne Bach¬
ſtelze und wir nannten ſie ſo und war der reizendſte
Backfiſch, den Sie ſich denken können. Ich ſeh' noch
ihren Haar-Dutt, den wir immer den Wocken
nannten. Und den ſoll Rienäcker nun abſpinnen.
Nun warum nicht? Es wird ihm ſo ſchwer nicht
werden.“


„Am Ende doch ſchwerer, als mancher denkt,“
antwortete Wedell. „Und ſo gewiß er der Auf¬
beſſerung ſeiner Finanzen bedarf, ſo bin ich doch
nicht ſicher, daß er ſich für die blonde Spezial-Lands¬
männin ohne Weiteres entſcheiden wird. Rienäcker
[80] iſt nämlich ſeit einiger Zeit in einen andren Farben¬
ton und zwar ins Aſchfarbene gefallen und wenn
es wahr iſt, was mir Balafré neulich ſagte, ſo hat
er ſich's ganz ernſthaft überlegt, ob er nicht ſeine
Weißzeug-Dame zur weißen Dame erheben ſoll.
Schloß Avenel oder Schloß Zehden macht ihm keinen
Unterſchied, Schloß iſt Schloß und Sie wiſſen,
Rienäcker, der überhaupt in manchem ſeinen eignen
Weg geht, war immer fürs Natürliche.“


„Ja,“ lachte Pitt. „Das war er. Aber Ba¬
lafré ſchneidet auf und erfindet ſich intereſſante
Geſchichten. Sie ſind nüchtern, Wedell, und
werden doch ſolch' erfundenes Zeug nicht glauben
wollen.“


„Nein. Erfundenes nicht,“ ſagte Wedell. „Aber
ich glaube, was ich weiß. Rienäcker, trotz ſeiner ſechs
Fuß, oder vielleicht auch gerade deßhalb, iſt ſchwach
und beſtimmbar und von einer ſeltenen Weichheit
und Herzensgüte.“


„Das iſt er. Aber die Verhältniſſe werden ihn
zwingen und er wird ſich löſen und frei machen,
ſchlimmſtenfalls wie der Fuchs aus dem Eiſen. Es
thut weh und ein Stückchen Leben bleibt dran
hängen. Aber das Hauptſtück iſt doch wieder
heraus, wieder frei. Vive Käthe. Und Rienäcker!
Wie ſagt das Sprichwort: „Mit dem Klugen iſt
Gott.“

[[81]]

Neuntes Kapitel.

Botho ſchrieb denſelben Abend noch an Lene,
daß er am andern Tage kommen würde, vielleicht
ſchon früher als gewöhnlich. Und er hielt Wort
und war eine Stunde vor Sonnenuntergang da.
Natürlich fand er auch Frau Dörr. Es war eine
prächtige Luft, nicht zu warm, und nachdem man
noch eine Weile geplaudert hatte, ſagte Botho: „Wir
könnten vielleicht in den Garten gehen.“


„Ja, in den Garten. Oder ſonſt wohin?“


„Wie meinſt Du?“


Lene lachte. „Sei nicht wieder in Sorge, Botho.
Niemand iſt in den Hinterhalt gelegt und die Dame
mit dem Schimmelgeſpann und der Blumenguirlande
wird Dir nicht in den Weg treten.“


„Alſo wohin, Lene?“


„Blos ins Feld, ins Grüne, wo Du nichts
haben wirſt als Gänſeblümchen und mich. Und
Fontane, Irrungen. 6[82] vielleicht auch Frau Dörr, wenn ſie die Güte haben
will, uns zu begleiten.“


„Ob ſie will.“ ſagte Frau Dörr. „Gewiß will
ſie. Große Ehre. Aber man muß ſich doch erſt
ein bischen zurechtmachen. Ich bin gleich wieder da.“


„Nicht nöthig, Frau Dörr, wir holen Sie ab.“


Und ſo geſchah es, und als das junge Paar
eine Viertelſtunde ſpäter auf den Garten zuſchritt,
ſtand Frau Dörr ſchon an der Thür, einen Umhang
überm Arm und einen prachtvollen Hut auf dem
Kopf, ein Geſchenk Dörr's, der, wie alle Geizhälſe,
mitunter etwas lächerlich Theures kaufte.


Botho ſagte der ſo Herausgeputzten etwas
Schmeichelhaftes und gleich danach gingen alle drei
den Gang hinunter und traten durch ein verſtecktes
Seitenpförtchen auf einen Feldweg hinaus, der hier,
wenigſtens zunächſt noch und eh er weiter abwärts in
das freie Wieſengrün einbog, an dem an ſeiner
Außenſeite hoch in Neſſeln ſtehenden Gartenzaun
hinlief.


„Hier bleiben wir,“ ſagte Lene. „Das iſt der
hübſcheſte Weg und der einſamſte. Da kommt
niemand.“


Und wirklich, es war der einſamſte Weg, um
vieles ſtiller und menſchenleerer als drei, vier andere,
die parallel mit ihm über die Wieſe hin auf
[83] Wilmersdorf zuführten und zum Theil ein eigen¬
thümliches Vorſtadtsleben zeigten. An dem einen
dieſer Wege befanden ſich allerlei Schuppen, zwiſchen
denen reckartige, wie für Turner beſtimmte Ge¬
rüſte ſtanden und Botho's Neugier weckten, aber eh'
er noch erkunden konnte, was es denn eigentlich
ſei, gab ihm das Thun drüben auch ſchon Antwort
auf ſeine Frage: Decken und Teppiche wurden über
die Gerüſte hin ausgebreitet und gleich danach be¬
gann ein Klopfen und Schlagen mit großen Rohr¬
ſtöcken, ſo daß der Weg drüben alsbald in einer
Staubwolke lag.


Botho wies darauf hin und wollte ſich eben
mit Frau Dörr in ein Geſpräch über den Werth
oder Unwerth der Teppiche vertiefen, die, bei Lichte
beſehen, doch blos Staubfänger ſeien „und wenn
einer nicht feſt auf der Bruſt ſei, ſo hätt' er die
Schwindſucht weg, er wiſſe nicht wie.“ Mitten im
Satz aber brach er ab, weil der von ihm einge¬
ſchlagene Weg in eben dieſem Augenblick an einer
Stelle vorüber führte, wo der Schutt einer Bild¬
hauer-Werkſtatt abgeladen ſein mußte, denn aller¬
hand Stuck-Ornamente, namentlich Engelsköpfe, lagen
in großer Zahl umher.


„Das iſt ein Engelskopf,“ ſagte Botho. „Sehen
Sie, Frau Dörr. Und hier iſt ſogar ein geflügelter.“


„Ja,“ ſagte Frau Dörr. „Und ein Pausback
6*[84] dazu. Aber is es denn ein Engel? Ich denke,
wenn er ſo klein is und Flügel hat, heißt er
Amor.“


„Amor oder Engel,“ ſagte Botho, „das iſt
immer daſſelbe. Fragen Sie nur Lene, die wird
es beſtätigen. Nicht wahr, Lene?“


Lene that empfindlich, aber er nahm ihre Hand
und alles war wieder gut.


Unmittelbar hinter dem Schutthaufen bog der
Pfad nach links hin ab und mündete gleich danach
in einen etwas größeren Feldweg ein, deſſen Pappel¬
weiden eben blühten und ihre flockenartigen Kätzchen
über die Wieſe hin ausſtreuten, auf der ſie nun
wie gezupfte Watte dalagen.


„Sieh, Lene,“ ſagte Frau Dörr, „weißt Du
denn, daß ſie jetzt Betten damit ſtopfen, ganz wie
mit Federn? Und ſie nennen es Waldwolle.“


„Ja, ich weiß, Frau Dörr. Und ich freue mich
immer, wenn die Leute ſo was ausfinden und ſich
zu Nutze machen. Aber für Sie wär' es nichts.“


„Nein, Lene, für mich wär' es nich. Da haſt
Du Recht. Ich bin ſo mehr fürs Feſte, für Pferde¬
haar und Sprungfedern und wenn es denn ſo
wuppt . . .“


„O ja,“ ſagte Lene, der dieſe Beſchreibung etwas
ängſtlich zu werden anfing. „Ich fürchte blos, daß
[85] wir Regen kriegen. Hören Sie nur die Fröſche,
Frau Dörr.“


„Ja. die Poggen,“ beſtätigte dieſe. „Nachts iſt
es mitunter ein Gequake, daß man nicht ſchlafen
kann. Und woher kommt es? Weil hier alles
Sumpf is und blos ſo thut, als ob es Wieſe wäre.
Sieh doch den Tümpel an, wo der Storch ſteht
und kuckt gerade hierher. Na, nach mir ſieht er
nich. Da könnt' er lange ſehn. Und is auch recht
gut ſo.“


„Wir müſſen am Ende doch wohl umkehren,“ ſagte
Lene verlegen, und eigentlich nur, um etwas zu
ſagen.


„I bewahre,“ lachte Frau Dörr. „Nun erſt
recht nich, Lene; Du wirſt Dich doch nich graulen
und noch dazu vor ſo was. Adebaar, Du Guter,
bring mir. . . Oder ſoll ich lieber ſingen: Adebaar,
Du Beſter?“


So ging es noch eine Weile weiter, denn Frau
Dörr brauchte Zeit, um von einem ſolchen Lieblings¬
thema wieder los zu kommen.


Endlich aber war doch eine Pauſe da, während
welcher man in langſamem Tempo weiter ſchritt,
bis man zuletzt an einen Höhenrücken kam, der ſich hier
plateauartig von der Spree nach der Havel hinüber¬
zieht. An eben dieſer Stelle hörten auch die Wieſen
auf und Korn- und Rapsfelder fingen an, die ſich
[86] bis an die vorderſte Häuſerreihe von Wilmersdorf
zogen.


„Nun blos da noch 'rauf,“ ſagte Frau Dörr,
„und dann ſetzen wir uns und pflücken Butterblumen
und flechten uns einen Stengelkranz. Jott, das
macht immer ſo viel Spaß, wenn man den einen
Stengel in den andern piekt, bis der Kranz fertig
is oder die Kette.“


„Wohl, wohl,“ ſagte Lene, der es heute beſchieden
war, aus kleinen Verlegenheiten gar nicht heraus
zu kommen. „Wohl, wohl. Aber nun kommen Sie,
Frau Dörr; hier geht der Weg.“


Und ſo ſprechend, ſtiegen ſie den niedrigen Ab¬
hang hinauf und ſetzten ſich, oben angekommen, auf
einen hier ſeit letztem Herbſt ſchon aus Peden und
Neſſeln zuſammengekarrten Unkrauthaufen Dieſer
Pedenhaufen war ein prächtiger Ruheplatz, zugleich
auch ein Ausſichtspunkt, von dem aus man über
einen von Werft und Weiden eingefaßten Graben
hin nicht nur die nördliche Häuſerreihe von Wilmers¬
dorf überblicken, ſondern auch von einer benachbarten
Kegelbahn-Tabagie her das Fallen der Kegel und
vor allem das Zurückrollen der Kugel auf zwei
klapprigen Latten in aller Deutlichkeit hören konnte.
Lene vergnügte ſich über die Maßen darüber, nahm
Botho's Hand und ſagte: „Sieh, Botho, ich weiß
ſo gut Beſcheid damit (denn als Kind wohnten wir
[87] auch neben einer ſolchen Tabagie), daß ich, wenn ich
die Kugel blos aufſetzen höre, gleich weiß, wie viel
ſie machen wird.“


„Nun,“ ſagte Botho, „da können wir ja wetten.“


„Und um was?“


„Das findet ſich.“


„Gut. Aber ich brauch' es nur dreimal zu
treffen und wenn ich ſchweige, ſo zählt es nicht.“


„Bin es zufrieden.“


Und nun horchten alle drei hinüber und die
mit jedem Moment erregter werdende Frau Dörr
verſchwor ſich hoch und theuer, ihr puppre das Herz
und ihr ſei gerade ſo, wie wenn ſie vor einem
Theatervorhang ſitze. „Lene, Lene, Du haſt Dir
zuviel zugetraut, Kind, das is ja gar nich möglich.“


So wär' es wohl noch weiter gegangen, wenn
man nicht in eben dieſem Augenblicke gehört hätte,
daß eine Kugel aufgeſetzt und nach einmaligem
dumpfen Anſchlag an die Seitenbande wieder ſtill
wurde. „Sandhaſe,“ rief Lene. Und richtig, ſo
war es.


„Das war leicht,“ ſagte Botho. „Zu leicht.
Das hätt' ich auch gerathen. Sehen wir alſo, was
kommt.“


Und ſiehe da, zwei weitere Würfe folgten, ohne
daß Lene geſprochen oder ſich auch nur gerührt
hätte. Nur Frau Dörr's Augen traten immer mehr
[88] aus dem Kopf. Jetzt aber, und Lene hob ſich ſofort
von ihrem Platz, kam eine kleine, feſte Kugel und
in einem eigenthümlichen Miſchton von Elaſtizität
und Härte hörte man ſie vibrirend über das Brett
hintanzen. „Alle neun,“ rief Lene. Und im Nu
gab es drüben ein Fallen und der Kegeljunge be¬
ſtätigte nur, was kaum noch der Beſtätigung bedurfte.


„Du ſollſt gewonnen haben, Lene. Wir eſſen
heute noch ein Vielliebchen und dann geht alles in
einem. Nicht wahr, Frau Dörr?“


„Verſteht ſich,“ zwinkerte dieſe, „alles in einem.“
Und dabei band ſie den Hut ab und beſchrieb Kreiſe
damit, wie wenn es ihr Markthut geweſen wäre.


Mittlerweile ſank die Sonne hinter den Wilmers¬
dorfer Kirchthurm und Lene ſchlug vor aufzubrechen
und den Rückweg anzutreten, „es werde ſo fröſtlich;
unterwegs aber wollte man ſpielen und ſich greifen:
ſie ſei ſicher, Botho werde ſie nicht fangen.“


„Ei, da wollen wir doch ſehn.“


Und nun begann ein Jagen und Haſchen, bei
dem Lene wirklich nicht gefangen werden konnte, bis
ſie zuletzt vor Lachen und Aufregung ſo abgeäſchert
war, daß ſie ſich hinter die ſtattliche Frau Dörr
flüchtete.


„Nun hab' ich meinen Baum,“ lachte ſie, „nun
kriegſt Du mich erſt recht nicht.“ Und dabei hielt ſie ſich
an Frau Dörr's etwas abſtehender Schooßjacke feſt
[89] und ſchob die gute Frau ſo geſchickt nach rechts
und links, daß ſie ſich eine Zeitlang mit Hilfe
derſelben deckte. Plötzlich aber war Botho neben
ihr, hielt ſie feſt und gab ihr einen Kuß.


„Das iſt gegen die Regel; wir haben nichts
ausgemacht.“ Aber trotz ſolcher Abweiſung hing ſie
ſich doch an ſeinen Arm und kommandirte, während
ſie die Garde-Schnarrſtimme nachahmte „Parade¬
marſch ... frei weg“ und ergötzte ſich an den be¬
wundernden und nicht enden wollenden Ausrufen,
womit die gute Frau Dörr das Spiel begleitete.


„Is es zu glauben?“ ſagte dieſe. „Nein, es
is nich zu glauben. Un immer ſo un nie anders.
Un wenn ich denn an meinen denke! Nicht zu
glauben, ſag' ich. Un war doch auch einer. Un¬
that auch immer ſo.“


„Was meint ſie nur?“ fragte Botho leiſe.


„O, ſie denkt wieder . . . Aber, Du ja . .
Ich habe Dir ja davon erzählt.“


„Ah, das iſt es. Der. Nun, er wird wohl
ſo ſchlimm nicht geweſen ſein.“


„Wer weiß. Zuletzt iſt einer wie der andere.“


„Meinſt Du?“


„Nein.“ Und dabei ſchüttelte ſie den Kopf und
in ihrem Auge lag etwas von Weichheit und
Rührung. Aber ſie wollte dieſe Stimmung nicht
[90] aufkommen laſſen und ſagte deshalb raſch: „Singen
wir, Frau Dörr. Singen wir. Aber was?“


„Morgenroth . . .“


„Nein, das nicht . . . ‚Morgen in das kühle
Grab',“ das iſt mir zu traurig. Nein, ſingen wir
„Uebers Jahr, übers Jahr“ oder noch lieber „Denkſt
Du daran.“


„Ja, das is recht, das is ſchön; das is mein
Leib- und Magenlied.“


Und mit gut eingeübter Stimme ſangen alle
drei das Lieblingslied der Frau Dörr und man
war ſchon bis in die Nähe der Gärtnerei gekommen,
als es noch immer über das Feld hinklang: „Ich
denke dran . . . ich danke Dir mein Leben“ und dann
von der andren Wegſeite her, wo die lange Reihe
der Schuppen und Remiſen ſtand, im Echo wieder¬
hallte.


Die Dörr war überglücklich. Aber Lene und
Botho waren ernſt geworden.

[[91]]

Zehntes Kapitel.

Es dunkelte ſchon, als man wieder vor der
Wohnung der Frau Nimptſch war und Botho, der
ſeine Heiterkeit und gute Laune raſch zurück ge¬
wonnen hatte, wollte nur einen Augenblick noch mit
hineinſehn und ſich gleich danach verabſchieden. Als
ihn Lene jedoch an allerlei Verſprechungen und
Frau Dörr mit Betonung und Augenſpiel an das
noch ausſtehende Vielliebchen erinnerte, gab er nach
und entſchloß ſich, den Abend über zu bleiben.


„Das is recht,“ ſagte die Dörr. „Und ich bleibe
nun auch. Das heißt, wenn ich bleiben darf und
bei dem Vielliebchen nicht ſtöre. Denn man kann
doch nie wiſſen. Und ich will blos noch den Hut
nach Hauſe bringen und den Umhang. Und denn
komm ich wieder.“


„Gewiß müſſen Sie wieder kommen,“ ſagte
Botho, während er ihr die Hand gab. „So jung
kommen wir nicht wieder zuſammen.“

[92]

„Nein, nein,“ lachte die Dörr, „ſo jung kommen
wir nich wieder zuſammen. Un is auch eigentlich
ganz unmöglich, un wenn wir auch morgen ſchon
wieder zuſammen kämen. Denn ein Tag is doch
immer ein Tag und macht auch ſchon was aus. Und
deshalb is es ganz richtig, daß wir ſo jung nich
wieder zuſammen kommen. Und muß ſich jeder ge¬
fallen laſſen.“


In dieſer Tonart ging es noch eine Weile
weiter und die von niemandem beſtrittene That¬
ſache des täglichen Aelterwerdens gefiel ihr ſo, daß
ſie dieſelbe noch einigemale wiederholte. Dann erſt
ging ſie. Lene begleitete ſie bis auf den Flur,
Botho ſeinerſeits aber ſetzte ſich neben Frau Nimptſch
und fragte, während er ihr das von der Schulter
gefallene Umſchlagetuch wieder umhing, „ob ſie noch
böſe ſei, daß er ihr die Lene wieder auf ein paar
Stunden entführt habe? Aber es ſei ſo hübſch ge¬
weſen und oben auf dem Pedenhaufen, wo ſie ſich
ausgeruht und geplaudert hätten, hätten ſie der Zeit
ganz vergeſſen.“


„Ja, die Glücklichen vergeſſen die Zeit,“ ſagte
die Alte. „Und die Jugend is glücklich un is auch
gut ſo un ſoll ſo ſein. Aber wenn man alt wird,
lieber Herr Baron, da werden einen die Stunden
lang un man wünſcht ſich die Tage fort un das
Leben auch.“

[93]

„Ach, das ſagen Sie ſo, Mutterchen. Alt oder
jung, eigentlich lebt doch jeder gern. Nicht wahr,
Lene, wir leben gern?“


Lene war eben wieder vom Flur her in die
Stube getreten und lief wie getroffen von dem
Wort auf ihn zu und umhalſte und küßte ihn und
war überhaupt von einer Leidenſchaftlichkeit, die ihr
ſonſt ganz fremd war.


„Lene, was haſt Du nur?“


Aber ſie hatte ſich ſchon wieder geſammelt und
wehrte mit raſcher Handbewegung ſeine Theilnahme
ab, wie wenn ſie ſagen wollte: „Frage nicht.“ Und
nun ging ſie, während Botho mit Frau Nimptſch
weiter ſprach, auf das Küchenſchapp zu, kramte drin
umher und kam gleich danach und völlig heitern
Geſichts mit einem kleinen, in blaues Zuckerpapier
genähten Buche zurück, das ganz das Ausſehen
hatte wie die, drin Hausfrauen ihre täglichen Aus¬
gaben aufſchreiben. Dazu diente das Büchelchen
denn auch wirklich und zugleich zu Fragen, mit
denen ſich Lene, ſei's aus Neugier oder gelegentlich
auch aus tieferem Intereſſe beſchäftigte. Sie ſchlug
es jetzt auf und wies auf die letzte Seite, drauf
Botho's Blick ſofort der dick unterſtrichenen Ueber¬
ſchrift begegnete: „Was zu wiſſen noth thut.“


„Alle Tauſend, Lene, das klingt ja wie Trak¬
tätchen oder Luſtſpieltitel.“

[94]

„Iſt auch ſo was. Lies nur weiter.“


Und nun las er: „Wer waren die beiden Damen
auf dem Corſo? Iſt es die ältere oder iſt es die
junge? Wer iſt Pitt? Wer iſt Serge? Wer iſt
Gaſton?“


Botho lachte. „Wenn ich Dir das alles beant¬
worten ſoll, Lene, ſo bleib' ich bis morgen früh.“


Ein Glück, daß Frau Dörr bei dieſer Antwort
fehlte, ſonſt hätt' es eine neue Verlegenheit gegeben.
Aber die ſonſt ſo flinke Freundin, flink wenigſtens
wenn es ſich um den Baron handelte, war noch
nicht wieder zurück, und ſo ſagte denn Lene: „Gut,
ſo will ich mich handeln laſſen. Und meinetwegen
denn von den zwei Damen ein andermal! Aber
was bedeuten die fremden Namen? Ich habe ſchon
neulich danach gefragt, als Du die Tüte brachteſt.
Aber was Du da ſagteſt, war keine rechte Antwort,
nur ſo halb. Iſt es ein Geheimniß?“


„Nein.“


„Nun denn ſage.“


„Gern, Lene. Dieſe Namen ſind blos Neck¬
namen.“


„Ich weiß. Das ſagteſt Du ſchon.“


„ . . Alſo Namen, die wir uns aus Bequemlich¬
keit beigelegt haben, mit und ohne Beziehung, je
nachdem.“


„Und was heißt Pitt?“

[95]

„Pitt war ein engliſcher Staatsmann.“

„Und iſt Dein Freund auch einer?“

„Um Gotteswillen. . .“

„Und Serge?“


„Das iſt ein ruſſiſcher Vorname, den ein Heiliger
und viele ruſſiſche Großfürſten führen.“


„Die aber nicht Heilige zu ſein brauchen, nicht
wahr? . . . Und Gaſton?“


„Iſt ein franzöſiſcher Name.“


„Ja, deſſen entſinn' ich mich. Ich habe mal als
ein ganz junges Ding, und ich war noch nicht ein¬
geſegnet, ein Stück geſehn: „Der Mann mit der
eiſernen Maske.“ Und der mit der Maske, der hieß
Gaſton. Und ich weinte jämmerlich.“


„Und lachſt jetzt, wenn ich Dir ſage: Gaſton
bin ich.“


„Nein, ich lache nicht. Du haſt auch eine
Maske.“


Botho wollte ſcherz- und ernſthaft das Gegen¬
theil verſichern, aber Frau Dörr, die gerade wieder
eintrat, ſchnitt das Geſpräch ab, indem ſie ſich ent¬
ſchuldigte, daß ſie ſo lange habe warten laſſen.
Aber eine Beſtellung ſei gekommen und ſie habe
raſch noch einen Begräbnißkranz flechten müſſen.


„Einen großen oder einen kleinen?“ fragte die
Nimptſch, die gern von Begräbniſſen ſprach und eine
[96] Paſſion hatte, ſich von allem dazu Gehörigen er¬
zählen zu laſſen.


„Nu,“ ſagte die Dörr, „es war ein mittelſcher;
kleine Leute. Epheu mit Azalie.“


„Jott.“ fuhr die Nimptſch fort, „alles is jetzt
für Epheu und Azalie, blos ich nich. Epheu is ganz
gut, wenn er aufs Grab kommt und alles ſo grün
und dicht einſpinnt, daß das Grab ſeine Ruhe hat
und der drunter liegt auch. Aber Epheu in'n Kranz,
das is nich richtig. Zu meiner Zeit, da nahmen
wir Immortellen, gelbe oder halbgelbe, und wenn
es ganz was Feines ſein ſollte, denn nahmen wir
rothe oder weiße und machten Kränze draus oder
auch blos einen und hingen ihn ans Kreuz und
da hing er denn den ganzen Winter und wenn der
Frühling kam, da hing er noch. Un manche hingen
noch länger. Aber ſo mit Epheu oder Azalie, das
is nichts. Un warum nich? Darum nicht, weil
es nich lange dauert. Un ich denke mir immer, je
länger der Kranz oben hängt, deſto länger denkt
der Menſch auch an ſeinen Todten unten. Un mit¬
unter auch 'ne Wittwe, wenn ſie nich zu jung is.
Un das is es, warum ich für Immortelle bin, gelbe
oder rothe oder auch weiße, un kann ja jeder einen
andern Kranz zuhängen, wenn er will. Das is
denn ſo für den Schein. Aber der immortellige,
das is der richtige.“

[97]

„Mutter,“ ſagte Lene, „Du ſprichſt wieder ſo
viel von Grab und Kranz.“


„Ja, Kind, jeder ſpricht, woran er denkt. Un
denkt einer an Hochzeit, denn redt er von Hochzeit,
un denkt einer an Begräbniß, denn redt er von
Grab. Un ich habe nich mal angefangen von Grab
un Kranz zu reden, Frau Dörr hat angefangen,
was auch ganz recht war. Un ich ſpreche blos
immer davon, weil ich immer 'ne Angſt habe
un immer denke: ja, wer wird Dir mal einen
bringen?“


„Ach, Mutter. .“


„Ja, Lene, Du biſt gut, Du biſt ein gutes Kind.
Aber der Menſch denkt un Gott lenkt, un heute
roth un morgen todt. Un Du kannſt ſterben ſo
gut wie ich, jeden Tag, den Gott werden läßt, wenn
ich es auch nich glaube. Un Frau Dörr kann auch
ſterben oder wohnt denn, wenn ich ſterbe, vielleicht
wo anders oder ich wohne wo anders un bin viel¬
leicht eben erſt eingezogen. Ach, meine liebe Lene,
man hat nichts ſicher, gar nichts, auch nich mal
einen Kranz aufs Grab.“


Doch, doch, Mutter Nimptſch,“ ſagte Botho,
„den haben Sie ſicher.“


„Na, na, Herr Baron, wenn es man wahr is.“


„Und wenn ich in Petersburg bin oder in
Paris und ich höre, daß meine alte Frau Nimptſch
Fontane, Irrungen. 7[98] geſtorben iſt, dann ſchick' ich einen Kranz und wenn
ich in Berlin bin oder in der Nähe, dann bring' ich
ihn ſelber.“


Der Alten Geſicht verklärte ſich ordentlich vor
Freude. „Na, das is ein Wort, Herr Baron. Un
da hab' ich doch nu meinen Kranz aufs Grab und
is mir lieb, daß ich ihn habe. Denn ich kann die
kahlen Gräber nich leiden, die ſo ausſehn wie'n
Waiſenhaus-Kirchhof oder für die Gefangenen oder
noch ſchlimmer. Aber nu mach' einen Thee, Lene,
das Waſſer kocht un bullert ſchon un Erdbeeren
und Milch ſind auch da. Un auch ſaure. Jott,
den armen Herrn Baron muß ja ſchon ganz jäm¬
lich ſein. Immer ankucken macht hungrig, ſoviel
weiß ich auch noch. Ja, Frau Dörr, man hat ja
doch auch mal ſeine Jugend gehabt un wenn es
auch lange her is. Aber die Menſchen waren da¬
mals ſo wie heut.“


Frau Nimptſch, die heut ihren Redetag hatte,
philoſophirte noch eine Weile weiter, während Lene
das Abendbrod auftrug und Botho ſeine Neckereien
mit der guten Frau Dörr fortſetzte. Das ſei gut,
daß ſie den Staats-Hut zu rechter Zeit zu Bette
gebracht habe, der ſei für Kroll oder fürs Theater,
aber nicht für den Wilmersdorfer Pedenhaufen.
Wo ſie den Hut denn eigentlich her habe? Sol¬
chen Hut habe keine Prinzeſſin. Und er habe ſo
[99] was Kleidſames überhaupt noch gar nicht geſehn; er
wolle nicht von ſich ſelber reden, aber ein Prinz
hätte ſich drin vergaffen können.“


Die gute Frau hörte wohl heraus, daß er ſich
einen Spaß mache. Trotzdem ſagte ſie: „Ja, wenn
Dörr mal anfängt, denn is er ſo forſch und fein,
daß ich mitunter gar nicht weiß, wo er's herhat.
Alltags is nich viel mit ihm, aber mit eins is er
wie vertauſcht un gar nich mehr derſelbe un ich
ſage denn immer: es is am Ende doch was mit
ihm un er kann es man blos nich ſo zeigen.“


So plauderte man beim Thee, bis 10 Uhr her¬
an war. Dann brach Botho auf und Lene und
Frau Dörr begleiteten ihn durch den Vorgarten bis
an die Gartenthür. Als ſie hier ſtanden, erinnerte
die Dörr daran, daß man das Vielliebchen noch
immer vergeſſen habe. Botho ſchien aber die
Mahnung überhören zu wollen und betonte nur
nochmals, wie hübſch der Nachmittag geweſen ſei.
„Wir müſſen öfter ſo gehn, Lene, und wenn ich
wiederkomme, dann überlegen wir wohin. O, ich
werde ſchon etwas finden, etwas Hübſches und Stil¬
les, und recht weit und nicht ſo blos über Feld.“


„Und dann nehmen wir Frau Dörr wieder
mit,“ ſagte Lene, „oder bitten ſie darum. Nicht
wahr, Botho?“

7*[100]

„Gewiß, Lene. Frau Dörr muß immer dabei
ſein. Ohne Frau Dörr geht es nicht.“


„Ach, Herr Baron, das kann ich ja gar nich
annehmen, das kann ich ja gar nich verlangen.“


„Doch, liebe Frau Dörr,“ lachte Botho. „Sie
können alles verlangen. Eine Frau wie Sie.“


Und damit trennte man ſich.

[[101]]

Elftes Kapitel.

Die Landpartie, die man nach dem Wilmers¬
dorfer Spaziergange verabredet oder wenigſtens ge¬
plant hatte, war nun auf einige Wochen hin das
Lieblingsgeſpräch und immer, wenn Botho kam,
überlegte man, wohin? Alle möglichen Plätze
wurden erwogen: Erkner und Kranichberge, Schwilow
und Baumgartenbrück, aber alle waren immer noch
zu beſucht, und ſo kam es, daß Botho ſchließlich
„Hankels Ablage“ nannte, von deſſen Schönheit und
Einſamkeit er wahre Wunderdinge gehört habe, Lene
war einverſtanden. Ihr lag nur daran, mal hinaus¬
zukommen und in Gottes freier Natur, möglichſt
fern von dem großſtädtiſchen Getreibe, mit dem ge¬
liebten Manne zuſammen zu ſein. Wo, war gleich¬
giltig.


Der nächſte Freitag wurde zu der Partie be¬
ſtimmt. „Abgemacht.“ Und nun fuhren ſie mit
[102] dem Görlitzer Nachmittagszuge nach Hankels Ablage
hinaus, wo ſie Nachtquartier nehmen und den andern
Tag in aller Stille zubringen wollten.


Der Zug hatte nur wenige Wagen, aber auch
dieſe waren ſchwach beſetzt und ſo kam es, daß ſich
Botho und Lene allein befanden. In dem Kupee
nebenan wurde lebhaft geſprochen, zugleich deutlich
genug, um heraus zu hören, daß es Weiterreiſende
waren, keine Mitpaſſagiere für Hankels Ablage.


Lene war glücklich, reichte Botho die Hand und
ſah ſchweigend in die Wald- und Haidelandſchaft
hinaus. Endlich ſagte ſie: „Was wird aber Frau
Dörr ſagen, daß wir ſie zu Hauſe gelaſſen?“

„Sie darf es gar nicht erfahren.“

„Mutter wird es ihr ausplaudern.“

„Ja, dann ſteht es ſchlimm und doch ließ ſich's
nicht anders thun. Sieh, auf der Wieſe neulich,
da ging es, da waren wir mutterwindallein. Aber
wenn wir in Hankels Ablage auch noch ſo viel Ein¬
ſamkeit finden, ſo finden wir doch immer noch einen
Wirth und eine Wirthin und vielleicht ſogar einen
Berliner Kellner. Und ſolch Kellner, der immer
ſo ſtill vor ſich hinlacht oder wenigſtens in ſich
hinein, den kann ich nicht aushalten, der verdirbt
mir die Freude. Frau Dörr, wenn ſie neben Deiner
Mutter ſitzt oder den alten Dörr erzieht, iſt un¬
bezahlbar, aber nicht unter Menſchen. Unter Men¬
[103] ſchen iſt ſie blos komiſche Figur und eine Ver¬
legenheit.“


Gegen Fünf hielt der Zug an einem Wald¬
rande . . . Wirklich, niemand außer Botho und Lene
ſtieg aus und beide ſchlenderten jetzt behaglich und
unter häufigem Verweilen auf ein Gaſthaus zu, das,
in etwa zehn Minuten Entfernung von dem kleinen
Stationsgebäude, hart an der Spree ſeinen Platz
hatte. Dies „Etabliſſement“, wie ſich's auf einem
ſchiefſtehenden Wegweiſer nannte, war urſprünglich
ein bloßes Fiſcherhaus geweſen, das ſich erſt ſehr
allmählich und mehr durch An- als Umbau in ein
Gaſthaus verwandelt hatte, der Blick über den Strom
aber hielt für alles, was ſonſt vielleicht fehlen
mochte, ſchadlos und ließ das glänzende Renommé,
deſſen ſich dieſe Stelle bei allen Eingeweihten er¬
freute, keinen Augenblick als übertrieben erſcheinen.
Auch Lene fühlte ſich ſofort angeheimelt und nahm
in einer verandaartig vorgebauten Holzhalle Platz,
deren eine Hälfte von dem Gezweig einer alten,
zwiſchen Haus und Ufer ſtehenden Ulme verdeckt
wurde.


„Hier bleiben wir,“ ſagte ſie. „Sieh doch nur
die Kähne, zwei, drei . . . und dort weiter hinauf
kommt eine ganze Flotte. Ja, das war ein glück¬
licher Gedanke, der uns hierher führte. Sieh doch
[104] nur, wie ſie drüben auf dem Kahne hin und her¬
laufen und ſich gegen die Ruder ſtemmen. Und
dabei alles ſo ſtill. O, mein einziger Botho, wie
ſchön das iſt und wie gut ich Dir bin.“


Botho freute ſich, Lene ſo glücklich zu ſehen.
Etwas Entſchloſſenes und beinah Herbes, das ſonſt
in ihrem Charakter lag, war wie von ihr genommen
und einer ihr ſonſt fremden Gefühlsweichheit ge¬
wichen und dieſer Wechſel ſchien ihr ſelber unendlich
wohl zu thun.


Nach einer Weile kam der ſein „Etabliſſement“
ſchon von Vater und Großvater her innehabende
Wirth, um nach den Befehlen der Herrſchaften zu
fragen, vor allem auch, „ob ſie zu Nacht bleiben
würden“, und bat, als dieſe Frage bejaht worden
war, über ihr Zimmer Beſchluß faſſen zu wollen.
Es ſtänden ihnen mehrere zur Verfügung, unter
denen die Giebelſtube wohl die beſte ſein würde.
Sie ſei zwar niedrig, aber ſonſt groß und geräumig
und hätte den Blick über die Spree bis an die
Müggelberge.


Der Wirth ging nun, als ſein Vorſchlag an¬
genommen war, um die nöthigen Vorbereitungen zu
treffen, und Botho und Lene waren nicht nur wieder
allein mit einander, ſondern genoſſen auch das Glück
dieſes Alleinſeins in vollen Zügen. Auf einem der
herabhängenden Ulmenzweige wiegte ſich ein in einem
[105] niedrigen Nachbargebüſche niſtender Fink, Schwalben
fuhren hin und her und zuletzt kam eine ſchwarze
Henne mit einem langen Gefolge von Entenküken
an der Veranda vorüber und ſtolzirte gravitätiſch
auf einen weit in den Fluß hineingebauten Waſſerſteg
zu. Mitten auf dieſem Steg aber blieb die Henne
ſtehn, während ſich die Küken ins Waſſer ſtürzten
und fortſchwammen.


„Lene ſah eifrig dem allen zu. „Sieh nur, Botho,
wie der Strom durch die Pfähle ſchießt.“ Aber
eigentlich war es weder der Steg noch die durch¬
ſchießende Fluth, was ſie feſſelte, ſondern die zwei
Boote, die vorn angekettet lagen. Sie liebäugelte
damit und erging ſich in kleinen Fragen und An¬
ſpielungen und erſt als Botho taub blieb und durchaus
nichts davon verſtehen wollte, rückte ſie klarer mit
der Sprache heraus und ſagte rundweg, daß ſie
gern Waſſer fahren möchte.


„Weiber ſind doch unverbeſſerlich. Unverbeſſerlich
in ihrem Leichtſinn. Denk' an den zweiten Oſtertag.
Um ein Haar . . .“


„... Wär' ich ertrunken Gewiß. Aber das
war nur das Eine. Nebenher lief die Bekanntſchaft
mit einem ſtattlichen Herrn, deſſen Du Dich viel¬
leicht entſinnſt. Er hieß Botho . . . Du wirſt doch,
denk' ich, den zweiten Oſtertag nicht als einen Un¬
[106] glückstag anſehen wollen? Da bin ich artiger und
galanter.“


„Nun, nun . . . Aber kannſt Du denn auch
rudern, Lene?“


„Freilich kann ich. Und kann auch ſogar ſteuern
und ein Segel ſtellen. Weil ich beinah ertrunken
wäre, denkſt Du gering von mir und meiner Kunſt.
Aber der Junge war ſchuld und ertrinken kann am
Ende jeder.“


Und dabei ging ſie von der Veranda her den
Steg entlang auf die zwei Boote zu, deren Segel
eingerefft waren, während ihre Wimpel, mit ein¬
geſticktem Namen, oben an der Maſtſpitze flatterten.


„Welches nehmen wir,“ ſagte Botho, „die ‚Forelle‛
oder die ,Hoffnung‛?“


„Natürlich die Forelle. Was ſollen wir mit der
Hoffnung?“


Botho hörte wohl heraus, daß dies von Lene
mit Abſicht und um zu ſticheln geſagt wurde, denn
ſo fein ſie fühlte, ſo verleugnete ſie doch nie das
an kleinen Spitzen Gefallen findende Berliner Kind.
Er verzieh ihr aber dies Spitzige, ſchwieg und war
ihr beim Einſteigen behilflich. Dann ſprang er
nach. Als er gleich darauf das Boot losketteln
wollte, kam der Wirth und brachte Jaquet und
Plaid, weil es bei Sonnenuntergang kalt würde.
Beide dankten und in Kürze waren ſie mitten auf
[107] dem Strom, der hier, durch Inſeln und Landzungen
eingeengt, keine dreihundert Schritte breit ſein mochte.
Lene that nur dann und wann einen Schlag mit
dem Ruder, aber auch dieſe wenigen Schläge reichten
ſchon aus, ſie nach einer kleinen Weile bis an eine
hoch in Gras ſtehende, zugleich als Schiffswerft
dienende Wieſe zu führen, auf der, in einiger Ent¬
fernung von ihnen, ein Spreekahn gebaut und alte,
leckgewordene Kähne kalfatert und getheert wurden.


„Dahin müſſen wir,“ jubelte Lene, während ſie
Botho mit ſich fortzog. Aber ehe Beide bis an die
Schiffsbauſtelle heran waren, hörte das Hämmern
der Zimmermannsaxt auf und das beginnende Läuten
der Glocke verkündete, daß Feierabend ſei. So
bogen ſie denn hundert Schritt von der Werft in
einen Pfad ein, der, ſchräg über die Wieſe hin, auf
einen Kiefernwald zuführte. Die rothen Stämme
deſſelben glühten prächtig im Wiederſchein der ſchon
tief ſtehenden Sonne, während über den Kronen ein
bläulicher Nebel lag.


„Ich möchte Dir einen recht ſchönen Strauß
pflücken,“ ſagte Botho, während er Lene bei der Hand
nahm. „Aber ſieh nur, die reine Wieſe, nichts als
Gras und keine Blume. Nicht eine.“


„Doch. Die Hülle und Fülle. Du ſiehſt nur
keine, weil Du zu anſpruchsvoll biſt.“

[108]

„Und wenn ich es wäre, ſo wär' ich es blos
für Dich.“


„O, keine Ausflüchte. Du wirſt ſehen, ich finde
welche.“


Und ſich niederbückend, ſuchte ſie nach rechts
und links hin und ſagte: „Sieh nur, hier . . und
da ... und hier wieder. Es ſtehen hier mehr als
in Dörr's Garten; man muß nur ein Auge dafür
haben.“ Und ſo pflückte ſie behend und emſig,
zugleich allerlei Unkraut und Grashalme mit aus¬
reißend, bis ſie, nach ganz kurzer Zeit, eine Menge
Brauchbares und Unbrauchbares in Händen hatte.


Während dem waren ſie bis an eine ſeit Jahr
und Tag leer ſtehende Fiſcherhütte gekommen, vor
der, auf einem mit Kienäpfeln überſtreuten Sand¬
ſtreifen (denn der Wald ſtieg unmittelbar dahinter
an) ein umgeſtülpter Kahn lag.


„Der kommt uns zu paß,“ ſagte Botho, „hier
wollen wir uns ſetzen. Du mußt ja müde ſein.
Und nun laß ſehen, was Du gepflückt haſt. Ich
glaube, Du weißt es ſelber nicht und ich werde mich
auf den Botaniker hin ausſpielen müſſen. Gieb her.
Das iſt Ranunkel und das iſt Mäuſeohr und manche
nennen es auch falſches Vergißmeinnicht. Hörſt Du,
falſches. Und hier das mit dem gezackten Blatt,
das iſt Taraxacum, unſere gute alte Butterblume,
woraus die Franzoſen Salat machen. Nun meinet¬
[109] wegen. Aber Salat und Bouquet iſt ein Unter¬
ſchied.“


„Gieb nur wieder her,“ lachte Lene. „Du haſt
kein Auge für dieſe Dinge, weil Du keine Liebe
dafür haſt, und Auge und Liebe gehören immer
zuſammen. Erſt haſt Du der Wieſe die Blumen
abgeſprochen, und jetzt, wo ſie da ſind, willſt Du
ſie nicht als richtige Blumen gelten laſſen. Es ſind
aber Blumen und noch dazu ſehr gute. Was gilt
die Wette, daß ich Dir etwas Hübſches zuſammen¬
ſtelle.“


„Nun da bin ich doch neugierig, was Du wählen
wirſt.“


„Nur ſolche, denen Du ſelber zuſtimmſt. Und
nun laß uns anfangen. Hier iſt Vergißmeinnicht,
aber kein Mäuſeohr-Vergißmeinnicht, will ſagen kein
falſches, ſondern ein ächtes. Zugeſtanden?“


„Ja“


„Und das hier iſt Ehrenpreis, eine feine kleine
Blume. Die wirſt Du doch auch wohl gelten laſſen?
Da frag' ich gar nicht erſt. Und dieſe große roth¬
braune das iſt Teufels-Abbiß und eigens für Dich ge¬
wachſen. Ja, lache nur. Und das hier,“ und ſie
bückte ſich nach ein paar gelben Blumenköpfchen, die
gerade vor ihr auf der Sandſtelle blühten „das ſind
Immortellen.“

[110]

„Immortellen,“ ſagte Botho. „Die ſind ja die
Paſſion der alten Frau Nimptſch. Natürlich, die
nehmen wir, die dürfen nicht fehlen. Und nun
binde nur das Sträußchen zuſammen.“


„Gut. Aber womit? Wir wollen es laſſen, bis
wir eine Binſe finden.“


„Nein, ſo lange will ich nicht warten. Und ein
Binſenhalm iſt mir auch nicht gut genug, iſt zu
dick und zu grob. Ich will was Feines. Weißt Du,
Lene, Du haſt ſo ſchönes langes Haar; reiß ein's
aus und flicht den Strauß damit zuſammen.“


„Nein,“ ſagte ſie beſtimmt.


„Nein? warum nicht? warum nein?“


„Weil das Sprüchwort ſagt: „Haar bindet.' Und
wenn ich es um den Strauß binde, ſo biſt du mit¬
gebunden.“


„Ach das iſt Aberglauben. Das ſagt Frau
Dörr.“


„Nein, die alte Frau ſagt es. Und was die
mir von Jugend auf geſagt hat, auch wenn es wie
Aberglauben ausſah, das war immer richtig.“


„Nun meinetwegen. Ich ſtreite nicht. Aber ich
will kein ander Band um den Strauß, als ein Haar
von Dir. Und Du wirſt doch nicht ſo eigenſinnig
ſein und mir's abſchlagen.“


Sie ſah ihn an, zog ein Haar aus ihrem Scheitel
und wand es um den Strauß. Dann ſagte ſie:
[111] „Du haſt es gewollt. Hier, nimm es. Nun biſt
Du gebunden.“


Er verſuchte zu lachen, aber der Ernſt, mit dem
ſie das Geſpräch geführt und die letzten Worte ge¬
ſprochen hatte, war doch nicht ohne Eindruck auf ihn
geblieben.


„Es wird kühl,“ ſagte er nach einer Weile.
„Der Wirth hatte Recht, Dir Jaquet und Plaid
nachzubringen. Komm, laß uns aufbrechen.“


Und ſo gingen ſie wieder auf die Stelle zu,
wo das Boot lag, und eilten ſich, über den Fluß
zu kommen.


Jetzt erſt, im Rückfahren, ſahen ſie, wie maleriſch
das Gaſthaus dalag, dem ſie mit jedem Ruderſchlage
näher kamen. Eine hohe groteske Mütze, ſo ſaß das
Schilfdach auf dem niedrigen Fachwerkbau, deſſen
vier kleine Frontfenſter ſich eben zu erhellen begannen.
Und im ſelben Augenblicke wurden auch ein paar Wind¬
lichter in die Veranda getragen und durch das Ge¬
zweige der alten Ulme, das im Dunkel einem phan¬
taſtiſchen Gitterwerke glich, blitzten allerlei Lichtſtreifen
über den Strom hin.


Keiner ſprach. Jeder aber hing ſeinem Glück
und der Frage nach, wie lange das Glück noch
dauern werde.

[[112]]

Zwölftes Kapitel.

Es dunkelte ſchon, als ſie landeten.


„Laß uns dieſen Tiſch nehmen,“ ſagte Botho,
während ſie wieder unter die Veranda traten: „Hier
trifft Dich kein Wind und ich beſtelle Dir einen
Grog oder Glühwein, nicht wahr? Ich ſehe ja, Du
haſt es kalt.“


Er ſchlug ihr noch allerlei andres vor, aber Lene
bat, auf ihr Zimmer gehn zu dürfen, wenn er dann
komme, ſei ſie wieder munter. Sie ſei nur ange¬
griffen und brauche nichts und wenn ſie nur Ruhe
habe, ſo werd' es vorübergehen.


Damit verabſchiedete ſie ſich und ſtieg in die
mittlerweile hergerichtete Giebelſtube hinauf, begleitet
von der in durchaus irrigen Vermuthungen befan¬
genen Wirthin, die ſofort neugierig fragte, „was es
denn eigentlich ſei,“ und, einer Antwort unbedürftig,
im ſelben Augenblicke fortfuhr: ja, das ſei ſo bei
jungen Frauen, das wiſſe ſie von ſich ſelber, und eh'
[113] ihr Aelteſter geboren wurde (jetzt habe ſie ſchon vier
und eigentlich fünf, aber der mittelſte ſei zu früh
gekommen und gleich todt), da hätte ſie's auch ge¬
habt. Es flög' einen ſo an und ſei dann wie zum
ſterben. Aber eine Taſſe Meliſſenthee, das heißt
Kloſtermeliſſe, da fiele es gleich wieder ab und man
ſei mit eins wieder wie'n Fiſch im Waſſer und
ordentlich aufgekratzt und fidel und ganz zärtlich.
„Ja, ja, gnädge Frau, wenn erſt ſo vier um einen
'rumſtehn, ohne daß ich den kleinen Engel mit¬
rechne. . .“


Lene bezwang nur mit Müh' ihre Verlegenheit
und bat, um wenigſtens etwas zu ſagen, um etwas
Meliſſenthee, Kloſter-Meliſſe, wovon ſie auch ſchon
gehört habe.


Während oben in der Giebelſtube dies Geſpräch
geführt wurde, hatte Botho Platz genommen, aber
nicht innerhalb der windgeſchützten Veranda, ſondern
an einem urwüchſigen Brettertiſch, der, in Front
derſelben, auf vier Pfählen aufgenagelt war und
einen freien Blick hatte. Hier wollt' er ſein Abend¬
brod einnehmen. Er beſtellte ſich denn auch ein Fiſch¬
gericht und als der „Schlei mit Dill“, wofür das
Wirthshaus von alter Zeit her ein Renommee hatte,
aufgetragen wurde, kam der Wirth, um zu fragen,
Fontane, Irrungen. 8[114] welchen Wein der Herr Baron, er gab ihm dieſen
Titel auf gut Glück hin, beföhle?


„Nun ich denke,“ ſagte Botho, „zu dem delikaten
Schlei paßt am beſten ein Brauneberger oder
ſagen wir lieber ein Rüdesheimer und zum Zeichen,
daß er gut iſt, müſſen Sie ſich zu mir ſetzen und
bei Ihrem eigenen Weine mein Gaſt ſein.“


Der Wirth verbeugte ſich unter Lächeln und kam
bald danach mit einer angeſtaubten Flaſche zurück,
während die Magd, eine hübſche Wendin in Fries¬
rock und ſchwarzem Kopftuch, auf einem Tablett die
Gläſer brachte.


„Nun laſſen Sie ſehn,“ ſagte Botho. „Die
Flaſche verſpricht alles mögliche Gute. Zu viel
Staub und Spinnweb iſt allemal verdächtig, aber
dieſe hier. . . Ah, ſuperbe. Das iſt 70er, nicht
wahr? Und nun laſſen Sie uns anſtoßen, ja auf
was? Auf das Wohl von Hankels Ablage.“


Der Wirth war augenſcheinlich entzückt und
Botho, der wohl ſah, welchen guten Eindruck er
machte, fuhr deshalb in dem ihm eigenen leichten
und leutſeligen Tone fort: „Ich find' es reizend
hier und nur Eins läßt ſich gegen Hankels Ablage
ſagen: der Name.“


„Ja,“ beſtätigte der Wirth, „der Name, der läßt
viel zu wünſchen übrig und iſt eigentlich ein Mal¬
hör für uns. Und doch hat es ſeine Richtigkeit
[115] damit, Hankels Ablage war nämlich wirklich eine
Ablage und ſo heißt es denn auch ſo.“


„Gut. Aber das bringt uns nicht weiter. Warum
hieß es Ablage? Was iſt Ablage?“


„Nun wir könnten auch ſagen: Aus- und Ein¬
ladeſtelle. Das ganze Stück Land hier herum (und er
wies nach rückwärts) war nämlich immer ein großes
Dominium und hieß unter dem Alten Fritzen und
auch früher ſchon unter dem Soldatenkönige die
Herrſchaft Wuſterhauſen. Und es gehörten wohl
an die 30 Dörfer dazu, ſammt Forſt und Haide.
Nun ſehen Sie, die 30 Dörfer, die ſchafften natür¬
lich was und brauchten was, oder was dasſelbe
ſagen will, ſie hatten Ausfuhr und Einfuhr und
für Beides brauchten ſie von Anfang an einen
Hafen- oder Stapelplatz und konnte nur noch
zweifelhaft ſein, welche Stelle man dafür wählen
würde. Da wählten ſie dieſe hier, dieſe Bucht
wurde Hafen, Stapelplatz „Ablage“ für alles was
kam und ging und weil der Fiſcher, der damals hier
wohnte, beiläufig mein Ahnherr, Hankel hieß, ſo
hatten wir eine „Hankels Ablage“.


„Schade,“ ſagte Botho, „daß man's nicht jedem ſo
rund und nett erklären kann,“ und der Wirth, der ſich
hierdurch ermuthigt fühlen mochte, wollte fortfahren.
Eh er aber beginnen konnte, hörte man einen Vogel¬
ſchrei hoch oben in den Lüften, und als Botho neu¬
8 *[116] gierig hinaufſah, ſah er, daß zwei mächtige Vögel,
kaum noch erkennbar, im Halbdunkel über der
Waſſerfläche hinſchwebten.


„Waren das wilde Gänſe?“


„Nein, Reiher. Die ganze Forſt hier herum iſt
Reiher-Forſt. Ueberhaupt ein rechter Jagdgrund,
Schwarzwild und Damwild in Maſſen und in dem Schilf
und Rohr hier, Enten, Schnepfen und Bekaſſinen.“


„Entzückend,“ ſagte Botho, in dem ſich der
Jäger regte. „Wiſſen Sie, daß ich Sie beneide.
Was thut ſchließlich der Name? Enten, Schnepfen,
Bekaſſinen. Es überkommt einen eine Luſt, daß
man's auch ſo gut haben möchte. Nur einſam muß
es hier ſein, zu einſam.“


Der Wirth lächelte vor ſich hin und Botho,
dem es nicht entging, wurde neugierig und ſagte:
„Sie lächeln. Aber iſt es nicht ſo? Seit einer
halben Stunde hör' ich nichts als das Waſſer, das
unter dem Steg hingluckſt, und in dieſem Augenblick
oben den Reiherſchrei. Das nenn' ich einſam, ſo
hübſch es iſt. Und dann und wann ziehn ein paar
große Spreekähne vorüber, aber alle ſind einander
gleich oder ſehen ſich wenigſtens ähnlich. Und
eigentlich iſt jeder wie ein Geſpenſterſchiff. Eine
wahre Todtenſtille.“


„Gewiß,“ ſagte der Wirth. „Aber doch alles
nur ſo lang es dauert.“

[117]

„Wie das?“


„Ja,“ wiederholte der Gefragte, „ſo lang es
dauert. Sie ſprechen von Einſamkeit, Herr Baron,
und tagelang iſt es auch wirklich einſam hier. Und
es können auch Wochen werden. Aber kaum, daß
das Eis bricht und das Frühjahr kommt, ſo kommt
auch ſchon Beſuch und der Berliner iſt da.“


„Wann kommt er?“


„Unglaublich früh. Oculi, da kommen ſie.
Sehen Sie, Herr Baron, wenn ich, der ich doch
ausgewettert bin, immer noch drin in der Stube
bleibe, weil der Oſtwind puſtet und die Märzenſonne
ſticht, ſetzt ſich der Berliner ſchon ins Freie, legt
ſeinen Sommer-Ueberzieher über den Stuhl und
beſtellt eine Weiße. Denn ſo wie nur die Sonne
ſcheint, ſpricht der Berliner von ſchönem Wetter.
Ob in jedem Windzug eine Lungenentzündung oder
Diphtheritis ſitzt, iſt ihm egal. Er ſpielt dann am
liebſten mit Reifen, einige ſind auch für Boccia,
und wenn ſie dann abfahren, ganz gedunſen von
der Prallſonne, dann thut mir mitunter das Herz
weh, denn keiner iſt darunter, dem nicht wenigſtens
am andern Tage die Haut abſchülbert.“


Botho lachte. „Ja, die Berliner! Wobei mir
übrigens einfällt, Ihre Spree hier herum muß ja
auch die Gegend ſein, wo die Ruderer und Segler
zuſammenkommen und ihre Regatten haben.“

[118]

„Gewiß,“ ſagte der Wirth. „Aber das will
nicht viel ſagen. Wenn's viele ſind, dann ſind es
50 oder vielleicht auch mal hundert. Und dann
ruht es wieder und iſt auf Wochen und Monate
hin mit dem ganzen Waſſerſport vorbei. Nein, die
Klubleute, das iſt vergleichsweiſe bequem, das iſt
zum aushalten. Aber wenn dann im Juni die
Dampfſchiffe kommen, dann iſt es ſchlimm. Und
dann bleibt es ſo den ganzen Sommer über oder
doch eine lange, lange Weile.“


„Glaub's,“ ſagte Botho.


„ ... Dann trifft jeden Abend ein Telegramm
ein. „Morgen früh 9 Uhr Ankunft auf Spree¬
dampfer „Alſen“. Tagespartie. 240 Perſonen.“
Und dann folgen die Namen derer, die's arrangirt
haben. Einmal geht das. Aber die Länge hat die
Qual. Denn wie verläuft eine ſolche Partie? Bis
Dunkelwerden ſind ſie draußen in Wald und Wieſe,
dann aber kommt das Abendbrot und dann tanzen
ſie bis um 11. Nun werden Sie ſagen, „das iſt
nichts Großes,“ und wär' auch nichts Großes, wenn
der andre Tag ein Ruhetag wär'. Aber der zweite
Tag iſt wie der erſte und der dritte iſt wie der
zweite. Jeden Abend um 11 dampft ein Dampfer
mit 240 Perſonen ab und jeden Morgen um 9 iſt ein
Dampfer mit ebenſo viel Perſonen wieder da. Und
inzwiſchen muß doch aufgeräumt und alles wieder
[119] klar gemacht werden. Und ſo vergeht die Nacht
mit lüften, putzen und ſcheuern und wenn die letzte
Klinke wieder blank iſt, iſt auch das nächſte Schiff
ſchon wieder heran. Natürlich hat alles auch ſein
Gutes und wenn man um Mitternacht Kaſſe zählt,
ſo weiß man, wofür man ſich gequält hat. „Von
nichts, kommt nichts,“ ſagt das Sprüchwort und
hat auch ganz recht und wenn ich all' die Mai¬
bowlen auffüllen ſollte, die hier ſchon getrunken
ſind, ſo müßt' ich mir ein Heidelberger Faß an¬
ſchaffen. Es bringt was ein, gewiß, und iſt alles
ſchön und gut. Aber dafür, daß man vorwärts
kommt, kommt man doch auch rückwärts und bezahlt
mit dem Beſten, was man hat, mit Leben und Ge¬
ſundheit. Denn was iſt Leben ohne Schlaf?“


„Wohl, ich ſehe ſchon,“ ſagte Botho, „kein Glück
iſt vollkommen. Aber dann kommt der Winter
und dann ſchlafen Sie wie ſieben Dächſe.“


„Ja, wenn nicht gerade Sylveſter oder Drei¬
königstag oder Faſtnacht iſt. Und die ſind öfter
als der Kalender angiebt. Da ſollten Sie das
Leben hier ſehen, wenn ſie, von zehn Dörfern her,
zu Schlitten oder Schlittſchuh, in dem großen Saal,
den ich angebaut habe, zuſammen kommen. Dann
ſieht man kein großſtädtiſch Geſicht mehr und die
Berliner laſſen einen in Ruh, aber der Großknecht
und die Jungemagd, die haben dann ihren Tag.
[120] Da ſieht man Otterfellmützen und Mancheſterjacken
mit ſilbernen Buckelknöpfen und allerlei Soldaten,
die grad' auf Urlaub ſind, ſind mit dabei: Schwedter
Dragoner und Fürſtenwalder Ulanen, oder wohl
gar Potsdamer Huſaren. Und alles iſt eiferſüchtig
und ſtreitluſtig und man weiß nicht, was ihnen
lieber iſt, das Tanzen oder das Krakehlen, und bei
dem kleinſten Anlaß ſtehen die Dörfer gegen ein¬
ander und liefern ſich ihre Bataillen. Und ſo toben
und lärmen ſie die ganze Nacht durch und ganze
Pfannkuchenberge verſchwinden und erſt bei Morgen¬
grauen geht es über das Stromeis oder den Schnee
hin wieder nach Hauſe.“


„Da ſeh' ich freilich,“ lachte Botho, „daß ſich
von Einſamkeit und Todtenſtille nicht gut ſprechen
läßt. Ein Glück nur, daß ich von dem allen nicht
gewußt habe, ſonſt hätt' ich gar nicht den Muth
gehabt und wäre fortgeblieben. Und das wäre mir
doch leid geweſen, einen ſo hübſchen Fleck Erde gar
nicht geſehen zu haben . . . Aber Sie ſagten vorhin,
„was iſt Leben ohne Schlaf,“ und ich fühle, daß
Sie Recht haben. Ich bin müde trotz früher
Stunde; das macht, glaub' ich, die Luft und das
Waſſer. Und dann muß ich doch auch ſehn . . . Ihre
liebe Frau hat ſich ſo bemüht . . . Gute Nacht, Herr
Wirth. Ich habe mich verplaudert.“

[121]

Und damit ſtand er auf und ging auf das ſtill
gewordene Haus zu.


Lene, die Füße ſchräg auf dem herangerückten
Stuhl, hatte ſich aufs Bett gelegt und eine Taſſe
von dem Thee getrunken, den ihr die Wirthin ge¬
bracht hatte. Die Ruhe, die Wärme thaten ihr
wohl, der Anfall ging vorüber und ſie hätte ſchon
nach kurzer Zeit wieder in die Veranda hinunter¬
gehn und an dem Geſpräche, das Botho mit dem
Wirthe führte, theilnehmen können. Aber ihr war
nicht geſprächig zu Sinn und ſo ſtand ſie nur auf,
um ſich in dem Zimmer umzuſehen, für das ſie bis
dahin kein Auge gehabt hatte.


Und wohl verlohnte ſich's. Die Balkenlagen
und Lehmwände hatte man aus alter Zeit her fort¬
beſtehen laſſen und die geweißte Decke hing ſo tief
herab, daß man ſie mit dem Finger berühren konnte,
was aber zu beſſern geweſen war, das war auch
wirklich gebeſſert worden. An Stelle der kleinen
Scheiben, die man im Erdgeſchoß noch ſah, war hier
oben ein großes, bis faſt auf die Diele reichendes
Fenſter eingeſetzt worden, das ganz ſo, wie der
Wirth es geſchildert, einen prächtigen Blick auf die
geſammte Wald- und Waſſer-Szenerie geſtattete.
Das große Spiegelfenſter war aber nicht alles, was
[122] Neuzeit und Komfort hier gethan hatten. Auch
ein paar gute Bilder, muthmaßlich auf einer Auktion
erſtanden, hingen an den alten, überall Buckel und
Blaſen bildenden Lehmwänden umher, und juſt da,
wo der vorgebaute Fenſtergiebel nach hinten oder
was dasſelbe ſagen will nach dem eigentlichen Zimmer
zu, die Dachſchrägung traf, ſtanden ſich ein paar
elegante Toilettentiſche gegenüber. Alles zeigte, daß
man die Fiſcher- und Schiffer-Herberge mit Ge¬
fliſſentlichkeit beibehalten, aber ſie doch zugleich auch
in ein gefälliges Gaſthaus für die reichen Sports¬
leute vom Segler- und Ruderklub umgewandelt hatte.

Lene fühlte ſich angeheimelt von Allem, was ſie
ſah, und begann zunächſt die rechts und links in
breiter Umrahmung über den Bettſtänden hängenden
Bilder zu betrachten. Es waren Stiche, die ſie,
dem Gegenſtande nach, lebhaft intereſſirten, und ſo
wollte ſie gerne wiſſen, was es mit den Unter¬
ſchriften auf ſich habe. „Washington crossing
the Delaware
“ ſtand unter dem einen, „The last
hour at Trafalgar
“ unter dem andern. Aber ſie
kam über ein bloßes Silbenentziffern nicht hinaus,
und das gab ihr, ſo klein die Sache war, einen
Stich ins Herz, weil ſie ſich der Kluft dabei bewußt
wurde, die ſie von Botho trennte. Der ſpöttelte
freilich über Wiſſen und Bildung, aber ſie war klug
[123] genug, um zu fühlen, was von dieſem Spotte zu
halten war.


Dicht neben der Eingangsthür, über einem Rokoko¬
tiſch, auf dem rothe Gläſer und eine Waſſerkaraffe
ſtanden, hing noch eine buntfarbige, mit einer drei¬
ſprachigen Unterſchrift verſehene Lithographie: „Si
jeunesse savait“‚
— ein Bild, das ſie ſich entſann
in der Dörr'ſchen Wohnung geſehen zu haben. Dörr
liebte dergleichen. Als ſie's hier wieder ſah, fuhr
ſie verſtimmt zuſammen. Ihre feine Sinnlichkeit
fühlte ſich von dem Lüſternen in dem Bilde wie
von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt
und ſo ging ſie denn, den Eindruck wieder los zu
werden, bis an das Giebelfenſter und öffnete beide
Flügel, um die Nachtluft einzulaſſen. Ach, wie ſie
das erquickte! Dabei ſetzte ſie ſich auf das Fenſter¬
brett, das nur zwei Handbreit über der Diele war,
ſchlang ihren linken Arm um das Kreuzholz und
horchte nach der nicht allzu entfernten Veranda
hinüber. Aber ſie vernahm nichts. Eine tiefe
Stille herrſchte, nur in der alten Ulme ging ein
Wehen und Rauſchen und alles, was eben noch von
Verſtimmung in ihrer Seele geruht haben mochte,
das ſchwand jetzt hin, als ſie den Blick immer ein¬
dringlicher und immer entzückter auf das vor ihr
ausgebreitete Bild richtete. Das Waſſer fluthete
leiſe, der Wald und die Wieſe lagen im abendlichen
[124] Dämmer und der Mond, der eben wieder ſeinen
erſten Sichelſtreifen zeigte, warf einen Lichtſchein
über den Strom und ließ das Zittern ſeiner kleinen
Wellen erkennen.


„Wie ſchön,“ ſagte Lene hochaufathmend. „Und
ich bin doch glücklich,“ ſetzte ſie hinzu.


Sie mochte ſich nicht trennen von dem Bilde.
Zuletzt aber erhob ſie ſich, ſchob einen Stuhl vor
den Spiegel und begann ihr ſchönes Haar zu löſen
und wieder einzuflechten. Als ſie noch damit be¬
ſchäftigt war, kam Botho.


„Lene, noch auf! Ich dachte, daß ich Dich mit
einem Kuſſe wecken müßte.“


„Dazu kommſt Du zu früh, ſo ſpät Du kommſt.“


Und ſie ſtand auf und ging ihm entgegen.
„Mein einziger Botho. Wie lange Du bleibſt...“


„Und das Fieber? Und der Anfall?“


„Iſt vorüber und ich bin wieder munter, ſeit
einer halben Stunde ſchon. Und eben ſo lange
hab' ich Dich erwartet.“ Und ſie zog ihn mit ſich
fort an das noch offen ſtehende Fenſter: „Sieh nur.
Ein armes Menſchenherz, ſoll ihm keine Sehnſucht
kommen bei ſolchem Anblick?“


Und ſie ſchmiegte ſich an ihn und blickte, während
ſie die Augen ſchloß, mit einem Ausdruck höchſten
Glückes zu ihm auf.

[[125]]

Dreizehntes Kapitel.

Beide waren früh auf und die Sonne kämpfte
noch mit dem Morgennebel, als ſie ſchon die Stiege
herabkamen, um unten ihr Frühſtück zu nehmen.
Ein leiſer Wind ging, eine Frühbriſe, die die Schiffer
nicht gern ungenutzt laſſen, und ſo glitt denn auch,
als unſer junges Paar eben ins Freie trat, eine
ganze Flottille von Spreekähnen an ihnen vorüber.


Lene war noch in ihrem Morgenanzuge. Sie
nahm Botho's Arm und ſchlenderte mit ihm am
Ufer entlang an einer Stelle hin, die hoch in Schilf
und Binſen ſtand. Er ſah ſie zärtlich an. „Lene,
Du ſiehſt ja aus, wie ich Dich noch gar nicht ge¬
ſehen habe. Ja, wie ſag' ich nur? Ich finde kein
anderes Wort, Du ſiehſt ſo glücklich aus.“


Und ſo war es. Ja, ſie war glücklich, ganz
glücklich und ſah die Welt in einem roſigen Lichte.
Sie hatte den beſten, den liebſten Mann am Arm
[126] und genoß eine koſtbare Stunde. War das nicht
genug? Und wenn dieſe Stunde die letzte war, nun
ſo war ſie die letzte. War es nicht ſchon ein Vor¬
zug, einen ſolchen Tag durchleben zu können? Und
wenn auch nur einmal, ein einzig Mal.


So ſchwanden ihr alle Betrachtungen von Leid
und Sorge, die ſonſt wohl, ihr ſelbſt zum Trotz,
ihre Seele bedrückten und alles, was ſie fühlte, war
Stolz, Freude, Dank. Aber ſie ſagte nichts, ſie
war abergläubiſch und wollte das Glück nicht be¬
reden und nur an einem leiſen Zittern ihres Arms
gewahrte Botho, wie das Wort „ich glaube, Du
biſt glücklich, Lene“ ihr das innerſte Herz getroffen
hatte.


Der Wirth kam und erkundigte ſich artig, wenn
auch mit einem Anfluge von Verlegenheit, nach ihrer
Nachtruhe.


„Vorzüglich,“ ſagte Botho, „Der Meliſſenthee,
den Ihre liebe Frau verordnet, hat wahre Wunder
gethan und die Mondſichel, die uns gerade ins
Fenſter ſchien, und die Nachtigallen, die leiſe ſchlugen,
ſo leiſe, daß man ſie nur eben noch hören konnte,
ja wer wollte da nicht ſchlafen wie im Paradieſe?
Hoffentlich wird ſich kein Spreedampfer mit 240
Gäſten für heute Nachmittag angemeldet haben. Das
wäre dann freilich die Vertreibung aus dem Paradieſe.
Sie lächeln und denken „wer weiß“ und vielleicht
[127] hab' ich mit meinen Worten den Teufel ſchon an
die Wand gemalt. Aber noch iſt er nicht da, noch
ſeh' ich keinen Schlot und keine Rauchfahne, noch
iſt die Spree rein, und wenn auch ganz Berlin
ſchon unterwegs wäre, das Frühſtück wenigſtens
können wir noch in Ruhe nehmen. Nicht wahr?
Aber wo?“


„Die Herrſchaften haben zu befehlen.“

„Nun, dann denk' ich unter der Ulme. Die
Halle, ſo ſchön ſie iſt, iſt doch nur gut, wenn
draußen die Sonne brennt. Und ſie brennt noch
nicht und hat noch drüben am Walde mit dem Nebel
zu thun.“


Der Wirth ging das Frühſtück anzuordnen, das
junge Paar aber ſetzte ſeinen Spaziergang fort, bis
nach einer dieſſeitigen Landzunge hin, von der aus
ſie die rothen Dächer eines Nachbardorfes und rechts
daneben den ſpitzen Kirchthurm von Königs-Wuſter¬
hauſen erkennen konnten. Am Rande der Land¬
zunge lag ein angetriebener Weidenſtamm. Auf
dieſen ſetzten ſie ſich und ſahen von ihm aus zwei
Fiſchersleuten zu, Mann und Frau, die das um¬
ſtehende Rohr ſchnitten und die großen Bündel in
ihren Prahm warfen. Es war ein hübſches Bild,
an dem ſie ſich erfreuten, und als ſie nach einer
Weile wieder zurück waren, wurde das Frühſtück
eben aufgetragen, mehr ein engliſches als ein deutſches:
[128] Kaffee und Thee, ſammt Eiern und Fleiſch und in
einem ſilbernen Ständer ſogar Schnittchen von ge¬
röſtetem Weißbrot.


„Ah, ſchau, Lene. Hier müſſen wir öfter unſer
Frühſtück nehmen. Was meinſt Du? Himmliſch.
Und ſieh nur da drüben auf der Werft, da kalfatern
ſie ſchon wieder und geht ordentlich im Takt. Wahr¬
haftig, ſolch Arbeits-Taktſchlag iſt doch eigentlich die
ſchönſte Muſik.“


Lene nickte, war aber nur halb dabei, denn ihr
Intereſſe galt auch heute wieder dem Waſſerſteg,
freilich nicht den angekettelten Booten, die geſtern
ihre Paſſion geweckt hatten, wohl aber einer hübſchen
Magd, die mitten auf dem Brettergange neben ihrem
Küchen- und Kupfergeſchirr kniete. Mit einer herz¬
lichen Arbeitsluſt, die ſich in jeder Bewegung ihrer
Arme ausdrückte, ſcheuerte ſie die Kannen, Keſſel
und Kaſſerollen, und immer wenn ſie fertig war,
ließ ſie das plätſchernde Waſſer das blankgeſcheuerte
Stück umſpülen. Dann hob ſie's in die Höh', ließ
es einen Augenblick in der Sonne blitzen und that
es in einen nebenſtehenden Korb.


Lene war wie benommen von dem Bild. „Sieh
nur,“ und ſie wies auf die hübſche Perſon, die ſich,
ſo ſchien es, in ihrer Arbeit gar nicht genug thun
konnte.


„Weißt Du, Botho, das iſt kein Zufall, daß
[129] ſie da kniet, ſie kniet da für mich und ich fühle
deutlich, daß es mir ein Zeichen iſt und eine Fügung.“


„Aber was iſt Dir nur, Lene? Du veränderſt
Dich ja, Du biſt ja mit einem Male ganz blaß
geworden.“


„O nichts.“


„Nichts? Und haſt doch einen Flimmer im Auge,
wie wenn Dir das Weinen näher wäre als das
Lachen. Du wirſt doch ſchon Kupfergeſchirr geſehen
haben und auch eine Köchin, die's blank ſcheuert.
Es iſt ja faſt, als ob Du das Mädchen beneideteſt,
daß ſie da kniet und arbeitet wie für drei.“


Das Erſcheinen des Wirths unterbrach hier das
Geſpräch und Lene gewann ihre ruhige Haltung
und bald auch ihren Frohmuth wieder. Dann aber
ging ſie hinauf, um ſich umzukleiden.


Als ſie wiederkam, fand ſie, daß inzwiſchen ein
vom Wirth aufgeſtelltes Programm von Botho be¬
dingungslos angenommen war: ein Segelboot ſollte
das junge Paar nach dem nächſten Dorfe, dem reizend
an der wendiſchen Spree gelegenen Nieder-Löhme
bringen, von welchem Dorf aus ſie den Weg bis
Königs-Wuſterhauſen zu Fuß machen, daſelbſt Park
und Schloß beſuchen und dann auf demſelben Wege
zurückkommen wollten. Es war eine Halbtagspartie.
Ueber den Nachmittag ließ ſich dann weiter verfügen.


Lene war es zufrieden und ſchon wurden ein
Fontane, Irrungen. 9[130] paar Decken in das raſch in Stand geſetzte Boot
getragen, als man vom Garten her Stimmen und
herzliches Lachen hörte, was auf Beſuch zu deuten
und eine Störung ihrer Einſamkeit in Ausſicht zu
ſtellen ſchien.


„Ah, Segler und Ruderklubleute,“ ſagte Botho.
„Gott ſei Dank, daß wir ihnen entgehen, Lene. Laß
uns eilen.“


Und beide brachen auf, um ſo raſch wie möglich
ins Boot zu kommen. Aber ehe ſie noch den Waſſer¬
ſteg erreichen konnten, ſahen ſie ſich bereits umſtellt
und eingefangen. Es waren Kameraden und noch
dazu die intimſten: Pitt, Serge, Balafré. Alle drei
mit ihren Damen.


Ah les beaux esprits se rencontrent,“ ſagte
Balafré voll übermüthiger Laune, die jedoch raſch
einer geſetzteren Haltung wich, als er wahrnahm,
daß er von der Hausſchwelle her, auf der Wirth
und Wirthin ſtanden, beobachtet wurde. „Welche
glückliche Begegnung an dieſer Stelle. Geſtatten
Sie mir, Gaſton, Ihnen unſere Damen vorſtellen
zu dürfen: Königin Iſabeau, Fräulein Johanna,
Fräulein Margot.“


Botho ſah, welche Parole heute galt, und ſich
raſch hineinfindend, entgegnete er, nunmehr auch
ſeinerſeits vorſtellend, mit leichter Handbewegung
auf Lene: „Mademoiſelle Agnes Sorel.“

[131]

Alle drei Herren verneigten ſich artig, ja dem
Anſcheine nach ſogar reſpektvoll, während die beiden
Töchter Thibaut d'Arcs einen überaus kurzen Knix
machten und der um wenigſtens 15 Jahre älteren
Königin Iſabeau eine freundlichere Begrüßung der
ihnen unbekannten und ſichtlich unbequemen Agnes
Sorel überließen.


Das Ganze war eine Störung, vielleicht ſogar
eine geplante, je mehr dies aber zutreffen mochte,
deſto mehr gebot es ſich, gute Miene zum böſen
Spiel zu machen. Und dies gelang Botho voll¬
kommen. Er ſtellte Fragen über Fragen und er¬
fuhr bei der Gelegenheit, daß man, zu früher Stunde
ſchon, mit einem der kleineren Spreedampfer bis
Schmöckwitz und von dort aus mit einem Segel¬
boote bis Zeuthen gefahren ſei. Von Zeuthen aus
habe man den Weg zu Fuß gemacht, keine zwanzig
Minuten; es ſei reizend geweſen: alte Bäume, Wieſen
und rothe Dächer.


Während der geſammte neue Zuzug, beſonders
aber die wohlarrondirte Königin Iſabeau, die ſich
beinah mehr noch durch Sprechfähigkeit als durch
Abrundung auszeichnete, dieſe Mittheilungen machte,
hatte man, zwanglos promenirend, die Veranda er¬
reicht, wo man an einem der langen Tiſche Platz
nahm.


„Allerliebſt,“ ſagte Serge. „Weit, frei und
9*[132] offen und doch ſo verſchwiegen. Und die Wieſe
drüben wie geſchaffen für eine Mondſcheinpromenade.“


„Ja,“ ſetzte Balafrê hinzu, „Mondſcheinpromenade.
Hübſch, ſehr hübſch. Aber wir haben erſt zehn Uhr
früh, macht bis zur Mondſcheinpromenade runde
zwölf Stunden, die doch untergebracht ſein wollen.
Ich proponire Waſſerkorſo.“


„Nein,“ ſagte Iſabeau, „Waſſerkorſo geht nicht,
davon haben wir heute ſchon über und über gehabt.
Erſt Dampfſchiff, dann Boot und nun wieder Boot,
das iſt zu viel. Ich bin dagegen. Ueberhaupt, ich
begreife nicht, was dies ewige Pätſcheln ſoll; dann
fehlt blos noch, daß wir angeln oder die Ykleis
mit der Hand greifen und uns über die kleinen
Bieſter freuen. Nein, gepätſchelt wird heute nicht
mehr. Darum muß ich ſehr bitten.“


Die Herren, an die ſich dieſe Worte richteten,
amüſirten ſich erſichtlich über die Dezidirtheit der
Königin-Mutter und machten ſofort andre Vorſchläge,
deren Schickſal aber daſſelbe war. Iſabeau verwarf
alles und bat, als man ſchließlich ihr Gebahren
halb in Scherz und halb in Ernſt zu mißbilligen
anfing, einfach um Ruhe. „Meine Herren,“ ſagte
ſie, „Geduld. Ich bitte, mir wenigſtens einen Augen¬
blick das Wort zu gönnen.“ Ironiſcher Beifall
antwortete, denn nur ſie hatte bis dahin geſprochen.
Aber unbekümmert darum fuhr ſie fort: „Meine
[133] Herren, ich bitte Sie, lehren Sie mich die Herrens
kennen. Was heißt Landpartie? Landpartie heißt
frühſtücken und ein Jeu machen. Hab' ich Recht?“


„Iſabeau hat immer Recht,“ lachte Balafré und
gab ihr einen Schlag auf die Schulter. „Wir machen
ein Jeu. Der Platz hier iſt kapital; ich glaube
beinah, jeder muß hier gewinnen. Und die Damen
promeniren derweilen oder machen vielleicht ein Vor¬
mittagsſchläfchen. Das ſoll das geſundeſte ſein und
anderthalb Stunden wird ja wohl ausreichen. Und
um 12 Uhr Reunion. Menu nach dem Ermeſſen
unſerer Königin. Ja, Königin, das Leben iſt doch
ſchön. Zwar aus Don Carlos. Aber muß denn
alles aus der Jungfrau ſein?“


Das ſchlug ein und die zwei Jüngeren kicherten,
obwohl ſie blos das Stichwort verſtanden hatten.
Iſabeau dagegen, die bei ſolcher antippenden und
beſtändig in kleinen Anzüglichkeiten ſich ergehenden
Sprache groß geworden war, blieb vollkommen würde¬
voll und ſagte, während ſie ſich zu den drei anderen
Damen wandte: „Meine Damen, wenn ich bitten
darf: wir ſind jetzt entlaſſen und haben zwei Stunden
für uns. Uebrigens nicht das Schlimmſte.“


Damit erhoben ſie ſich und gingen auf das Haus
zu, wo die Königin in die Küche trat und unter
[134] freundlichem, aber doch überlegenem Gruße nach dem
Wirthe fragte. Dieſer war nicht zugegen, weshalb
die junge Frau verſprach, ihn aus dem Garten ab¬
rufen zu wollen, Iſabeau aber litt es nicht, „ſie
werde ſelber gehn“ und ging auch wirklich, immer
gefolgt von ihrem Drei-Damen-Cortège (Balafré
ſprach von Klucke mit Küken), nach dem Garten
hinaus, wo ſie den Wirth bei der Anlage neuer
Spargelbeete traf. Unmittelbar daneben lag ein
altmodiſches Treibhaus, vorne ganz niedrig, mit
großen ſchrägliegenden Fenſtern, auf deſſen etwas
abgebröckeltes Mauerwerk ſich Lene ſammt den Töchtern
Thibaut d'Arcs ſetzte, während Iſabeau die Verhand¬
lungen leitete.


„Wir kommen, Herr Wirth, um wegen des
Mittagsbrots mit Ihnen zu ſprechen. Was können
wir haben?“


„Alles was die Herrſchaften befehlen.“


„Alles? das iſt viel, beinah zu viel. Nun,
dann bin ich für Aal. Aber nicht ſo, ſondern ſo,“
Und ſie wies, während ſie das ſagte, von ihrem
Fingerring auf das breite, dicht anliegende Armband.


„Thut mir leid, meine Damen,“ erwiderte der
Wirth. „Aal is nicht. Ueberhaupt Fiſch; damit
kann ich nicht dienen, der iſt Ausnahme. Geſtern
hatten wir Schlei mit Dill, aber der war aus
[135] Berlin. Wenn ich einen Fiſch haben will, muß
ich ihn vom Köllniſchen Fiſchmarkt holen.“


„Schade. Da hätten wir einen mitbringn können.
Aber was dann?“


„Einen Rehrücken.“


„Hm, das läßt ſich hören. Und vorher etwas
Gemüſe. Spargel iſt ſchon eigentlich zu ſpät, oder
doch beinah. Aber Sie haben da, wie ich ſehe, noch
junge Bohnen. Und hier in dem Miſtbeet wird
ſich ja wohl auch noch etwas finden laſſen, ein paar
Gurken oder ein paar Rapunzeln. Und dann eine
ſüße Speiſe. So was mit Schlagſahne. Mir per¬
ſönlich liegt nicht daran, aber die Herren, die be¬
ſtändig ſo thun, als machten ſie ſich nichts daraus,
die ſind immer fürs Süße. Alſo drei, vier Gänge,
denk' ich. Und dann Butterbrot und Käſe.“


„Und bis wann befehlen die Herrſchaften?“


„Nun ich denke bald, oder doch wenigſtens ſo
bald wie möglich. Nicht wahr? Wir ſind hungrig
und wenn der Rehrücken eine halbe Stunde Feuer
hat, hat er genug. Alſo ſagen wir um 12. Und
wenn ich bitten darf, eine Bowle: 1 Rheinwein,
3 Moſel, 3 Champagner. Aber gute Marke. Glauben
Sie nicht, daß ſich's verthut. Ich kenne das und
ſchmecke heraus, ob Moet oder Mumm. Aber Sie
werden ſchon machen; ich darf ſagen, Sie flößen
mir ein Vertrauen ein. Apropos, können wir nicht
[136] aus Ihrem Garten gleich in den Wald? Ich haſſe
jeden unnützen Schritt. Und vielleicht finden wir
noch Champignons. Das wäre himmliſch. Die
können dann noch an den Rehrücken, Champignons
verderben nie 'was.“


Der Wirth bejahte nicht blos die hinſichtlich des
bequemeren Weges geſtellte Frage, ſondern begleitete
die Damen auch perſönlich bis an die Gartenpforte,
von der aus man bis zur Waldliſière nur ein paar
Schritte hatte. Blos eine chauſſirte Straße lief
dazwiſchen. Als dieſe paſſirt war, war man drüben
im Waldesſchatten und Iſabeau, die ſtark unter der
immer größer werdenden Hitze litt, pries ſich glück¬
lich, den verhältnißmäßig weiten Umweg über ein
baumloſes Stück Grasland vermieden zu haben. Sie
machte den eleganten, aber mit einem großen Fett¬
fleck ausſtaffirten Sonnenſchirm zu, hing ihn an
ihren Gürtel und nahm Lenens Arm, während die
beiden andern Damen folgten. Iſabeau war augen¬
ſcheinlich in beſter Stimmung und ſagte, ſich um¬
wendend, zu Margot und Johanna: „Wir müſſen
aber doch ein Ziel haben. So blos Wald und
wieder Wald is eigentlich ſchrecklich. Was meinen
Sie, Johanna?“


Johanna war die größere von den beiden d'Arcs,
ſehr hübſch, etwas blaß und mit raffinirter Einfach¬
heit gekleidet. Serge hielt darauf. Ihre Handſchuh
[137] ſaßen wundervoll und man hätte ſie für eine Dame
halten können, wenn ſie nicht, während Iſabeau mit
dem Wirthe ſprach, den einen Handſchuhknopf, der
aufgeſprungen war, mit den Zähnen wieder zuge¬
knöpft hätte.


„Was meinen Sie, Johanna?“ wiederholte die
Königin ihre Frage.


„Nun dann ſchlag' ich vor, daß wir nach dem
Dorfe zurück gehn, von dem wir gekommen ſind.
Es hieß ja wohl Zeuthen und ſah ſo romantiſch
und ſo melancholiſch aus und war ein ſo hübſcher
Weg hierher. Und zurück muß er eigentlich eben
ſo hübſch ſein oder vielleicht noch hübſcher. Und
an der rechten, das heißt alſo von hier aus an der
linken Seite, war ein Kirchhof mit lauter Kreuzer
drauf. Und ein ſehr großes von Marmohr.“


„Ja, liebe Johanna, das iſt alles ganz gut, aber
was ſollen wir damit? Wir haben ja den Weg ge¬
ſehen. Oder wollen Sie den Kirchhof . . .“


„Freilich will ich. Ich habe da ſo meine Ge¬
fühle, beſonders an ſolchem Tage wie heute. Und
es iſt immer gut, ſich zu erinnern, daß man ſterben
muß. Und wenn dann der Flieder ſo blüht . . .“


„Aber, Johanna, der Flieder blüht ja gar nicht
mehr, höchſtens noch der Goldregen und der hat
eigentlich auch ſchon Schoten. Du meine Güte,
wenn Sie ſo partout für Kirchhöfe ſind, ſo können
[138] Sie ſich ja den in der Oranienſtraße jeden Tag
anſehen. Aber ich weiß ſchon, mit Ihnen iſt nicht
zu reden. Zeuthen und Kirchhof, alles Unſinn.
Da bleiben wir doch lieber hier und ſehen gar
nichts. Kommen Sie, Kleine, geben Sie mir Ihren
Arm wieder.“


Die Kleine, die durchaus nicht klein war, war
Lene. Sie gehorchte. Die Königin aber fuhr jetzt,
indem ſie wieder voraufging, in vertraulichem Tone
fort: „Ach, dieſe Johanna, man kann eigentlich nicht
mit ihr umgehn; ſie hat keinen guten Ruf und is
eine Gans. Ach, Kind, Sie glauben gar nicht, was
jetzt alles ſo mitläuft; nu ja, ſie hat 'ne hübſche
Figur und hält auf ihre Handſchuh. Aber ſie ſollte
lieber auf 'was andres halten. Und ſehen Sie, die,
die ſo ſind, die reden immer von ſterben und Kirch¬
hof. Und nun ſollen Sie ſie nachher ſehn! So
lang es ſo geht, geht es. Aber wenn dann die
Bowle kommt und wieder leer is und wieder kommt,
dann quietſcht und johlt ſie. Keine Idee von An¬
ſtand. Aber wo ſoll es auch herkommen? Sie war
immer blos bei kleinen Leuten, draußen auf der
Chauſſee nach Tegel, wo kein Menſch recht hinkommt
und blos mal Artillerie vorbei fährt. Und Artillerie...
Nu ja . . . Sie glauben gar nich, wie verſchieden
das alles iſt. Und nun hat ſie der Serge da 'raus¬
genommen und will was aus ihr machen. Ja, Du
[139] meine Güte, ſo geht das nicht, oder wenigſtens nicht
ſo flink; gut Ding will Weile haben. Aber da ſind
ja noch Erdbeeren. Ei, das iſt nett. Kommen Sie,
Kleine, wir wollen welche pflücken (wenn nur das
verdammte Bücken nicht wär) und wenn wir eine
recht große finden, dann wollen wir ſie mitnehmen.
Die ſteck' ich ihm dann in den Mund und dann
freut er ſich. Denn Sie müſſen wiſſen, er iſt ein
Mann wie'n Kind und eigentlich der Beſte.“


Lene, die wohl merkte, daß es ſich um Balafré
handelte, that ein Paar fragen und frug unter
anderm auch wieder, warum die Herren eigentlich
die ſonderbaren Namen hätten? Sie habe ſchon
früher danach gefragt, aber nie was gehört, was
der Rede werth geweſen wäre.


„Jott,“ ſagte die Königin, „es ſoll ſo was ſein
und ſoll keiner was merken und is doch alles blos
Ziererei. Denn erſtens kümmert ſich keiner drum
und wenn ſich einer drum kümmert, is es auch noch
ſo. Und warum auch? Wen ſoll es denn ſchaden?
Sie haben ſich alle nichts vorzuwerfen und einer
iſt wie der andre.“


Lene ſah vor ſich hin und ſchwieg.


„Und eigentlich, Kind, und Sie werden das auch
noch ſehn, eigentlich is es alles blos langweilig.
Eine Weile geht es und ich will nichts dagegen
ſagen und will 's auch nicht abſchwören. Aber die
[140] Länge hat die Laſt. So von fuffzehn an und noch
nich mal eingeſegnet. Wahrhaftig, je bälder man
wieder 'raus iſt, deſto beſſer. Ich kaufe mir denn
(denn das Geld krieg' ich) 'ne Deſt'lation und weiß
auch ſchon wo und denn heirath' ich mir einen Witt¬
mann und weiß auch ſchon wen. Und er will auch.
Denn das muß ich Ihnen ſagen, ich bin für Ord¬
nung und Anſtändigkeit und die Kinder orndtlich
erziehn und ob es ſeine ſind oder meine, is janz
egal . . . Und wie is es denn eigentlich mit Ihnen?“


Lene ſagte kein Wort.


„Jott, Kind, Sie verfärben ſich ja; Sie ſind
woll am Ende mit hier dabei (und ſie wies aufs
Herz) und thun alles aus Liebe? Ja, Kind, denn
is es ſchlimm, denn giebt es 'nen Kladderadatſch.“


Johanna folgte mit Margot. Sie blieben ab¬
ſichtlich etwas zurück und brachen ſich Birkenreiſer
ab, wie wenn ſie vorhätten, einen Kranz daraus zu
flechten. „Wie gefällt ſie Dir denn?“ ſagte Margot.
„Ich meine die von Gaſton.“


„Gefallen? gar nich. Das fehlt auch noch, daß
ſolche mitſpielen und in Mode kommen! Sieh doch
nur, wie ihr die Handſchuh ſitzen. Und mit dem
Hut is auch nicht viel. Er dürfte ſie gar nicht ſo
[141] gehn laſſen. Und ſie muß auch dumm ſein, ſie
ſpricht ja kein Wort.“


„Nein,“ ſagte Margot, „dumm iſt ſie nicht; ſie
hat's blos noch nich weg. Und daß ſie ſich gleich
an die gute Dicke 'ran macht, das is doch auch
klug genug.“


„Ach, die gute Dicke. Geh mir mit der. Die
denkt, ſie is es. Aber es is gar nichts mit ihr.
Ich will ihr ſonſt nichts nachſagen, aber falſch iſt
ſie, falſch wie Galgenholz.“


„Nein, Johanna, falſch is ſie nu grade nich.
Und ſie hat Dir auch öfter aus der Patſche ge¬
holfen. Du weißt ſchon, was ich meine.“


„Gott, warum? Weil ſie ſelber mit drin ſaß
und weil ſie ſich ewig ziert und wichtig thut. Wer
ſo dick iſt, iſt nie gut.“


„Jott, Johanna, was Du nur redt'ſt. Umge¬
kehrt is es, die Dicken ſind immer gut.“


„Na meinetwegen. Aber das kannſt Du nicht
beſtreiten, daß ſie 'ne lächerliche Figur macht. Sieh
doch nur, wie ſie dahinwatſchelt; wie 'ne Fettente.
Und immer bis oben 'ran zu, blos weil ſie ſich ſonſt
vor anſtändigen Leuten gar nicht ſehen laſſen kann.
Und, Margot, das laß ich mir nicht nehmen, ein
biſchen ſchlanke Figur iſt doch die Hauptſache. Wir
ſind doch noch keine Türken. Und warum wollte
ſie nicht mit auf den Kirchhof? Weil ſie ſich jrault?
[142] I bewahre, ſie denkt nich dran, blos weil ſie ſich
wieder eingeknallt hat und es vor Hitze nicht aus¬
halten kann. Und is eigentlich nich 'mal ſo furcht¬
bar heiß heute.“


So gingen die Geſpräche, bis ſich die beiden
Paare ſchließlich wieder vereinigten und auf einen
mit Moos bewachſenen Grabenrand ſetzten.


Iſabeau ſah öfter nach der Uhr; der Zeiger
wollte nicht recht vom Fleck.


Als es aber halb zwölf war, ſagte ſie: „Nun,
meine Damen, iſt es Zeit; ich denke wir haben jetzt
gerade genug Natur gehabt und können mit Fug
und Recht zu was Andrem übergehen. Seit heute
früh um 7 eigentlich keinen Biſſen. Denn die
Grünauer Schinkenſtulle kann ich doch nicht rech¬
nen . . . Aber Gott ſei Dank, alles Entſagen, ſagt
Balafré, hat ſeinen Lohn in ſich und Hunger iſt
der beſte Koch. Kommen Sie, meine Damen, der
Rehrücken fängt an wichtiger zu werden, als alles
andre. Nicht wahr, Johanna?“


Dieſe gefiel ſich in einem Achſelzucken und ſuchte
die Zumuthung, als ob Dinge wie Rehrücken und
Bowle je Gewicht für ſie haben könnten, entſchieden
abzulehnen.


Iſabeau aber lachte. „Nun, wir werden ja ſehn,
[143] Johanna. Freilich der Zeuthner Kirchhof wäre
beſſer geweſen. Aber man muß nehmen, was
man hat.“


Und damit brachen alleſammt auf, um aus dem
Wald in den Garten und aus dieſem, drin ſich ein
paar Zitronenvögel eben haſchten, bis in die Front
des Hauſes wo gegeſſen werdenſollte, zurückzukehren.


Im Vorübergehen an der Gaſtſtube ſah Iſabeau
den mit dem Umſtülpen einer Moſelweinflaſche be¬
ſchäftigten Wirth.


„Schade,“ ſagte ſie, „daß ich grade das ſehen
mußte. Das Schickſal hätte mir auch einen beſſeren
Anblick gönnen können. Warum gerade Moſel?“

[[144]]

Vierzehntes Kapitel.

Eine rechte Heiterkeit hatte nach dieſem
Spaziergange trotz aller von Iſabeau gemachten An¬
ſtrengungen nicht mehr aufkommen wollen, was aber,
wenigſtens für Botho und Lene, das Schlimmere
war, war das, daß dieſe Heiterkeit auch ausblieb,
als ſich Beide von den Kameraden und ihren Damen
verabſchiedet und ganz allein, in einem nur von
ihnen beſetzten Kupee, die Rückfahrt angetreten hatten.
Eine Stunde ſpäter waren ſie, ziemlich herabgeſtimmt,
auf dem trübſelig erleuchteten Görlitzer Bahnhof
eingetroffen und hier, beim Ausſteigen, hatte Lene
ſofort und mit einer Art Dringlichkeit gebeten, ſie
den Weg durch die Stadt hin allein machen zu
laſſen, „ſie ſeien ermüdet und abgeſpannt und das
thue nicht gut,“ Botho aber war von dem, was er
als ſchuldige Rückſicht und Kavalierspflicht anſah,
nicht abzubringen geweſen und ſo hatten ſie denn
[145] in einer klapprigen alten Droſchke die lange, lange
Fahrt am Kanal hin gemeinſchaftlich gemacht, immer
bemüht, ein Geſpräch über die Parthie und „wie
hübſch ſie geweſen ſei“, zu Stande zu bringen —
eine ſchreckliche Zwangsunterhaltung, bei der Botho
nur zu ſehr gefühlt hatte, wie richtig Lenens Em¬
pfindung geweſen war, als ſie von dieſer Begleitung
in beinahe beſchwörendem Tone nichts hatte wiſſen
wollen. Ja, der Ausflug nach „Hankels Ablage“,
von dem man ſich ſo viel verſprochen und der auch
wirklich ſo ſchön und glücklich begonnen hatte, war
in ſeinem Ausgange nichts als eine Miſchung von
Verſtimmung, Müdigkeit und Abſpannung geweſen
und nur im letzten Augenblick, wo Botho liebevoll
freundlich und mit einem gewiſſen Schuldbewußtſein
ſein „gute Nacht, Lene“ geſagt hatte, war dieſe
noch einmal auf ihn zugeeilt und hatte, ſeine Hand
ergreifend, ihn mit beinah leidenſchaftlichem Ungeſtüm
geküßt: „Ach, Botho, es war heute nicht ſo, wie's
hätte ſein ſollen, und doch war Niemand Schuld . .
Auch die andern nicht.“


„Laß es, Lene.“


„Nein, nein. Es war Niemand Schuld, dabei
bleibt es, daran iſt nichts zu ändern. Aber daß
es ſo iſt, das iſt eben das Schlimme daran. Wenn
wer Schuld hat, dann bittet man um Verzeihung
Fontane, Irrungen. 10[146] und dann iſt es wieder gut. Aber das nutzt uns
nichts. Und es iſt auch nichts zu verzeihn.“


„Lene . . .“


„Du mußt noch einen Augenblick hören. Ach,
mein einziger Botho, Du willſt es mir verbergen,
aber es geht zu End'. Und raſch, ich weiß es.“


„Wie Du nur ſprichſt.“


„Ich hab' es freilich nur geträumt,“ fuhr Lene
fort. „Aber warum hab' ich es geträumt? weil es
mir den ganzen Tag vor der Seele ſteht. Mein
Traum war nur, was mir mein Herz eingab. Und
was ich Dir noch ſagen wollte, Botho, und warum
ich Dir die paar Schritte nachgelaufen bin: es bleibt
doch bei dem, was ich Dir geſtern Abend ſagte.
Daß ich dieſen Sommer leben konnte, war mir ein
Glück und bleibt mir ein Glück, auch wenn ich von
heut ab unglücklich werde.“


„Lene, Lene, ſprich nicht ſo . . .“


„Du fühlſt ſelbſt, daß ich Recht habe; Dein
gutes Herz ſträubt ſich nur, es zuzugeſtehen und
will es nicht wahr haben. Aber ich weiß es:
geſtern, als wir über die Wieſe gingen und plau¬
derten und ich Dir den Strauß pflückte, das war
unſer letztes Glück und unſere letzte ſchöne Stunde.“


Mit dieſem Geſpräche hatte der Tag geſchloſſen
und nun war der andre Morgen, und die Sommer¬
[147] ſonne ſchien hell in Botho's Zimmer. Beide Fenſter
ſtanden auf und in den Kaſtanien draußen quiri¬
lierten die Spatzen. Botho ſelbſt, aus einem Meer¬
ſchaum rauchend, lag zurückgelehnt in ſeinem Schaukel¬
ſtuhl und ſchlug dann und wann mit einem neben
ihm liegenden Taſchentuche nach einem großen
Brummer, der, wenn er zu dem einen Fenſter
hinaus war, ſofort wieder an dem andern erſchien,
um Botho hartnäckig und unerbittlich zu umſummen.


„Daß ich dieſe Beſtie doch los wäre. Quälen,
martern möcht' ich ſie. Dieſe Brummer ſind alle¬
mal Unglücksboten und ſo hämiſch zudringlich, als
freuten ſie ſich über den Aerger, deſſen Herold und
Verkündiger ſie ſind.“ In dieſem Augenblicke ſchlug
er wieder danach. „Wieder fort. Es hilft nichts.
Alſo Reſignation. Ergebung iſt überhaupt das
Beſte. Die Türken ſind die klügſten Leute.“


Das Zuſchlagen der kleinen Gitterthür draußen
ließ ihn während dieſes Selbſtgeſprächs auf den
Vorgarten blicken und dabei des eben eingetretenen
Briefträgers gewahr werden, der ihm gleich danach,
unter leichtem militäriſchen Gruß und mit einem
„guten Morgen, Herr Baron“ erſt eine Zeitung
und dann einen Brief in das nicht allzu hohe
Parterrefenſter hineinreichte. Botho warf die Zeitung
bei Seite, zugleich den Brief betrachtend, auf dem
er die kleine, dichtſtehende, trotzdem aber ſehr deut¬
10 *[148] liche Handſchrift ſeiner Mutter unſchwer erkannt
hatte. „Dacht' ich's doch . . Ich weiß ſchon, eh ich
geleſen. Arme Lene.“


Und nun brach er den Brief auf und las:


Schloß Zehden. 29. Juni 1875. Mein
lieber Botho. Was ich Dir als Befürchtung in
meinem letzten Briefe mittheilte, das hat ſich nun
erfüllt: Rothmüller in Arnswalde hat ſein Kapital
zum 1. Oktober gekündigt und nur „aus alter
Freundſchaft“ hinzugefügt, daß er bis Neujahr
warten wolle, wenn es mir eine Verlegenheit ſchaffe.
„Denn er wiſſe wohl, was er dem Andenken des
ſeligen Herrn Barons ſchuldig ſei.“ Dieſe Hinzu¬
fügung, ſo gut ſie gemeint ſein mag, iſt doch doppelt
empfindlich für mich: es miſcht ſich ſo viel prätentiöſe
Rückſichtnahme mit ein, die niemals angenehm be¬
rührt, am wenigſten von ſolcher Seite her. Du
begreifſt vielleicht die Verſtimmung und Sorge, die
mir dieſe Zeilen geſchaffen haben. Onkel Kurt
Anton würde helfen, wie ſchon bei frührer Gelegen¬
heit, er liebt mich und vor Allem Dich, aber ſeine
Geneigtheit immer wieder in Anſpruch zu nehmen,
hat doch etwas Bedrückliches und hat es um ſo
mehr, als er unſrer ganzen Familie, ſpeziell aber
uns beiden, die Schuld an unſren ewigen Verlegen¬
heiten zuſchiebt. Ich bin ihm, trotz meines redlichen
mich Kümmerns um die Wirthſchaft, nicht wirth¬
[149] ſchaftlich und anſpruchslos genug, worin er Recht
haben mag, und Du biſt ihm nicht praktiſch und
lebensklug genug, worin er wohl ebenfalls das
Richtige treffen wird. Ja, Botho, ſo liegt es.
Mein Bruder iſt ein Mann von einem ſehr feinen
Rechts- und Billigkeitsgefühl und von einer in
Geldangelegenheiten geradezu hervorragenden Gen¬
tilezza, was man nur von wenigen unſrer Edelleute
ſagen kann. Denn unſre gute Mark Brandenburg
iſt die Sparſamkeits- und wo geholfen werden ſoll
ſogar die Aengſtlichkeitsprovinz, aber ſo gentil er
iſt, er hat ſeine Launen und Eigenwilligkeiten, und
ſich in dieſen beharrlich gekreuzt zu ſehen, hat ihn
ſeit einiger Zeit aufs ernſthafteſte verſtimmt. Er
ſagte mir, als ich letzthin Veranlaſſung nahm, der
uns abermals drohenden Kapitalskündigung zu ge¬
denken: „Ich ſtehe gern zu Dienſten, Schweſter, wie
Du weißt, aber ich bekenne Dir offen, immer da
helfen zu ſollen, wo man ſich in jedem Augenblicke
ſelber helfen könnte, wenn man nur etwas ein¬
ſichtiger und etwas weniger eigenſinnig wäre, das
erhebt ſtarke Zumuthungen an die Seite meines
Charakters, die nie meine hervorragendſte war: an
meine Nachgiebigkeit. . .“ Du weißt, Botho, worauf
ſich dieſe ſeine Worte beziehen, und ich lege ſie heute
Dir ans Herz, wie ſie damals, von Onkel Kurt
Antons Seite mir ans Herz gelegt wurden. Es
[150] giebt nichts, was Du, Deinen Worten und Briefen
nach zu ſchließen, mehr perhorreszirſt als Senti¬
mentalitäten, und doch fürcht' ich, ſteckſt Du ſelber
drin und zwar tiefer als Du zugeben willſt oder
vielleicht weißt. Ich ſage nicht mehr.“


Rienäcker legte den Brief aus der Hand und
ſchritt im Zimmer auf und ab, während er den
Meerſchaum halb mechaniſch mit einer Zigarette
vertauſchte. Dann nahm er den Brief wieder und
las weiter. „Ja, Botho, Du haſt unſer Aller Zu¬
kunft in der Hand und haſt zu beſtimmen, ob dies
Gefühl einer beſtändigen Abhängigkeit fortdauern
oder aufhören ſoll. Du haſt es in der Hand, ſag'
ich, aber wie ich freilich hinzufügen muß, nur kurze
Zeit noch, jedenfalls nicht auf lange mehr. Auch
darüber hat Onkel Kurt Anton mit mir geſprochen,
namentlich im Hinblick auf die Sellenthiner Mama,
die ſich, bei ſeiner letzten Anweſenheit in Rothen¬
moor, in dieſer ſie lebhaft beſchäftigenden Sache
nicht nur mit großer Entſchiedenheit, ſondern auch
mit einem Anflug von Gereiztheit ausgeſprochen
hat. Ob das Haus Rienäcker vielleicht glaube, daß
ein immer kleiner werdender Beſitz, nach Art der
ſibylliniſchen Bücher (wo ſie den Vergleich her hat,
weiß ich nicht) immer werthvoller würde? Käthe
werde nun zweiundzwanzig, habe den Ton der
großen Welt und verfüge mit Hilfe der von ihrer
[151] Tante Kielmannsegge herſtammenden Erbſchaft über
ein Vermögen, deſſen Zinsbetrag hinter dem Kapi¬
talsbetrag der Rienäcker'ſchen Haide ſammt Muränen-
See nicht ſehr erheblich zurückbleiben werde. Solche
junge Dame laſſe man überhaupt nicht warten, am
wenigſten aber mit ſo viel Beharrlichkeit und Seelen¬
ruhe. Wenn es Herrn v. Rienäcker beliebe, das,
was früher darüber von Seiten der Familie geplant
und geſprochen ſei, fallen zu laſſen und ſtattgehabte
Verabredungen als bloßes Kinderſpiel anzuſehn, ſo
habe ſie nichts dagegen. Herr v. Rienäcker ſei frei
von dem Augenblick an, wo er frei ſein wolle.
Wenn er aber umgekehrt vorhabe, von dieſer unbe¬
dingten Rückzugs-Freiheit nicht Gebrauch machen zu
wollen, ſo ſei es an der Zeit, auch das zu zeigen.
Sie wünſche nicht, daß ihre Tochter in das Gerede
der Leute komme.


Du wirſt dem Tone, der hieraus ſpricht, un¬
ſchwer entnehmen, daß es durchaus nöthig iſt, Ent¬
ſchlüſſe zu faſſen und zu handeln. Was ich wünſche,
weißt Du. Meine Wünſche ſollen aber nicht ver¬
bindlich für Dich ſein. Handle, wie Dir eigene
Klugheit es eingiebt, entſcheide Dich ſo oder ſo, nur
handle überhaupt. Ein Rückzug iſt ehrenvoller als
fernere Hinausſchiebung. Säumſt Du länger, ſo
verlieren wir nicht nur die Braut, ſondern das
Sellenthiner Haus überhaupt und, was noch ſchlim¬
[152] mer, ja das Schlimmſte iſt, auch die freundlichen
und immer hilfebereiten Geſinnungen des Onkels.
Meine Gedanken begleiten Dich, möchten ſie Dich
auch leiten können. Ich wiederhole Dir, es wäre
der Weg zu Deinem und unſer Aller Glück. Wo¬
mit ich verbleibe Deine Dich liebende Mutter Jo¬
ſephine von R.“


Botho, als er geleſen, war in großer Erregung.
Es war ſo wie der Brief es ausſprach und ein
Hinausſchieben nicht länger möglich. Es ſtand nicht
gut mit dem Rienäcker'ſchen Vermögen und Ver¬
legenheiten waren da, die durch eigne Klugheit und
Energie zu heben, er durchaus nicht die Kraft in
ſich fühlte. „Wer bin ich? Durchſchnittsmenſch
aus der ſogenannten Oberſphäre der Geſellſchaft
Und was kann ich? Ich kann ein Pferd ſtall¬
meiſtern, einen Kapaun tranchiren und ein jeu
machen. Das iſt alles und ſo hab' ich denn die
Wahl zwiſchen Kunſtreiter, Oberkellner und Croupier.
Höchſtens kommt noch der Troupier hinzu, wenn ich
in eine Fremdenlegion eintreten will. Und Lene
dann mit mir als Tochter des Regiments. Ich
ſehe ſie ſchon in kurzem Rock und Hackenſtiefeln
und ein Tönnchen auf dem Rücken.“

[153]

In dieſem Tone ſprach er weiter und gefiel ſich
darin, ſich bittre Dinge zu ſagen. Endlich aber zog
er die Klingel und beorderte ſein Pferd, weil er
ausreiten wolle. Und nicht lange, ſo hielt ſeine
prächtige Fuchsſtute draußen, ein Geſchenk des
Onkels, zugleich der Neid der Kameraden. Er hob
ſich in den Sattel, gab dem Burſchen einige Weiſungen
und ritt auf die Moabiter Brücke zu, nach deren
Paſſirung er in einen breiten, über Fenn und Feld
in die Jungfernhaide hinüberführenden Weg einlenkte.
Hier ließ er ſein Pferd aus dem Trab in den
Schritt fallen und nahm ſich, während er bis dahin
allerhand unklaren Gedanken nachgehangen hatte,
mit jedem Augenblicke feſter und ſchärfer ins Ver¬
hör. „Was iſt es denn, was mich hindert, den
Schritt zu thun, den alle Welt erwartet? Will ich
Lene heirathen? Nein. Hab' ich's ihr verſprochen?
Nein. Erwartet ſie's? Nein. Oder wird uns die
Trennung leichter, wenn ich ſie hinausſchiebe? Nein.
Immer nein und wieder nein. Und doch ſäume und
ſchwanke ich, das Eine zu thun, was durchaus ge¬
than werden muß. Und weshalb ſäume ich? Woher
dieſe Schwankungen und Vertagungen? Thörichte
Frage. Weil ich ſie liebe.“


Kanonenſchüſſe, die vom Tegler Schießplatz her¬
überklangen, unterbrachen hier ſein Selbſtgeſpräch
[und] erſt als er das momentan unruhig gewordene
[154] Pferd wieder beruhigt hatte, nahm er den früheren
Gedankengang wieder auf und wiederholte: „Weil
ich ſie liebe! Ja. Und warum ſoll ich mich dieſer
Neigung ſchämen? Das Gefühl iſt ſouverän und
die Thatſache, daß man liebt, iſt auch das Recht
dazu, möge die Welt noch ſo ſehr den Kopf darüber
ſchütteln oder von Räthſel ſprechen, Uebrigens iſt
es kein Räthſel und wenn doch, ſo kann ich es löſen.
Jeder Menſch iſt ſeiner Natur nach auf beſtimmte,
mitunter ſehr, ſehr kleine Dinge geſtellt. Dinge, die,
trotzdem ſie klein ſind, für ihn das Leben oder doch
des Lebens Beſtes bedeuten. Und dies Beſte heißt
mir Einfachheit, Wahrheit, Natürlichkeit. Das alles
hat Lene, damit hat ſie mir's angethan, da liegt
der Zauber, aus dem mich zu löſen, mir jetzt ſo
ſchwer fällt.“


In dieſem Augenblicke ſtutzte ſein Pferd und er
wurde eines aus einem Wieſenſtreifen aufgeſcheuchten
Haſen gewahr, der dicht vor ihm auf die Jungfern¬
haide zujagte. Neugierig ſah er ihm nach und nahm
ſeine Betrachtungen erſt wieder auf, als der Flüch¬
tige zwiſchen den Stämmen der Haide verſchwunden
war. „Und war es denn,“ fuhr er fort, „etwas ſo
Thörichtes und Unmögliches, was ich wollte? Nein.
Es liegt nicht in mir, die Welt herauszufordern und
ihr und ihren Vorurtheilen öffentlich den Krieg zu
erklären; ich bin durchaus gegen ſolche Donquixo¬
[155] terien. Alles, was ich wollte, war ein verſchwiegenes
Glück, ein Glück, für das ich früher oder ſpäter, um
des ihr erſparten Affronts willen, die ſtille Gut¬
heißung der Geſellſchaft erwartete. So war mein
Traum, ſo gingen meine Hoffnungen und Gedanken.
Und nun ſoll ich heraus aus dieſem Glück und ſoll
ein andres eintauſchen, das mir keins iſt. Ich hab'
eine Gleichgiltigkeit gegen den Salon und einen
Widerwillen gegen alles Unwahre, Geſchraubte,
Zurechtgemachte. Chic, Tournüre, savoir-faire, —
mir alles ebenſo häßliche wie fremde Wörter.“


Hier bog das Pferd, das er ſchon ſeit einer
Viertelſtunde kaum noch im Zügel hatte, wie von
ſelbſt in einen Seitenweg ein, der zunächſt auf ein
Stück Ackerland und gleich dahinter auf einen von
Unterholz und ein paar Eichen eingefaßten Grasplatz
führte. Hier, im Schatten eines der älteren Bäume,
ſtand ein kurzes, gedrungenes Steinkreuz und als
er näher heranritt, um zu ſehen, was es mit dieſem
Kreuz eigentlich ſei, las er: „Ludwig v. Hinckel¬
dey
, geſt. 10. März 1856.“ Wie das ihn traf!
Er wußte, daß das Kreuz hier herumſtehe, war aber
nie bis an dieſe Stelle gekommen und ſah es nun
als ein Zeichen an, daß das ſeinem eigenen Willen
überlaſſene Pferd, ihn gerade hierher geführt hatte.


Hinckeldey! Das war nun an die zwanzig Jahr,
daß der damals Allmächtige zu Tode kam und alles
[156] was bei der Nachricht davon in ſeinem Elternhauſe
geſprochen worden war, das ſtand jetzt wieder leb¬
haft vor ſeiner Seele. Vor allem eine Geſchichte
kam ihm wieder in Erinnerung. Einer der bürger¬
lichen, ſeinem Chef beſonders vertrauten Räthe übri¬
gens, hatte gewarnt und abgemahnt und das Duell
überhaupt, und nun gar ein ſolches und unter
ſolchen Umſtänden, als einen Unſinn und ein
Verbrechen bezeichnet. Aber der ſich bei dieſer
Gelegenheit plötzlich auf den Edelmann hin aus¬
ſpielende Vorgeſetzte, hatte brüsk und hochmüthig
geantwortet: „Nörner, davon verſtehen Sie nichts.“
Und eine Stunde ſpäter war er in den Tod ge¬
gangen. Und warum? Einer Adelsvorſtellung,
einer Standesmarotte zu Liebe, die mächtiger war,
als alle Vernunft, auch mächtiger als das Geſetz,
deſſen Hüter und Schützer zu ſein, er recht eigentlich
die Pflicht hatte. „Lehrreich.“ Und was habe ich
ſpeziell daraus zu lernen? Was predigt dies Denk¬
mal mir? Jedenfalls das Eine, daß das Herkommen
unſer Thun beſtimmt. Wer ihm gehorcht, kann zu
Grunde gehn, aber er geht beſſer zu Grunde als der,
der ihm widerſpricht.“


Während er noch ſo ſann, warf er ſein Pferd
herum und ritt querfeldein auf ein großes Etab¬
liſſement, ein Walzwerk oder eine Maſchinenwerkſtatt,
zu, draus, aus zahlreichen Eſſen, Qualm und Feuer¬
[157] ſäulen in die Luft ſtiegen. Es war Mittag und
ein Theil der Arbeiter ſaß draußen im Schatten,
um die Mahlzeit einzunehmen. Die Frauen, die
das Eſſen gebracht hatten, ſtanden plaudernd daneben,
einige mit einem Säugling auf dem Arm, und
lachten ſich untereinander an, wenn ein ſchelmiſches
oder anzügliches Wort geſprochen wurde. Rienäcker,
der ſich den Sinn für das Natürliche mit nur zu
gutem Rechte zugeſchrieben, war entzückt von dem
Bilde, das ſich ihm bot, und mit einem Anfluge
von Neid ſah er auf die Gruppe glücklicher
Menſchen. „Arbeit und täglich Brot und Ordnung.
Wenn unſre märkiſchen Leute ſich verheirathen, ſo
reden ſie nicht von Leidenſchaft und Liebe, ſie ſagen
nur: ,ich muß doch meine Ordnung haben.‘ Und
das iſt ein ſchöner Zug im Leben unſres Volks
und nicht einmal proſaiſch. Denn Ordnung iſt viel
und mitunter alles. Und nun frag' ich mich, war
mein Leben in der ,Ordnung‘? Nein. Ordnung
iſt Ehe.“ So ſprach er noch eine Weile vor ſich
hin und dann ſah er wieder Lene vor ſich ſtehn,
aber in ihrem Auge lag nichts von Vorwurf und
Anklage, ſondern es war umgekehrt, als ob ſie
freundlich zuſtimme.


„Ja, meine liebe Lene, Du biſt auch für Arbeit
und Ordnung und ſiehſt es ein und machſt es mir
[158] nicht ſchwer ... aber ſchwer iſt es doch ... für Dich
und mich.“


Er ſetzte ſein Pferd wieder in Trab und hielt
ſich noch eine Strecke hart an der Spree hin. Dann
aber bog er, an den in Mittagsſtille daliegenden
Zelten vorüber, in einen Reitweg ein, der ihn bis an
den Wrangel-Brunnen und gleich danach bis vor
ſeine Thür führte.

[[159]]

Fünfzehntes Kapitel.

Botho wollte ſofort zu Lene hinaus, und als
er fühlte, daß er dazu keine Kraft habe, wollt' er
wenigſtens ſchreiben. Aber auch das ging nicht.
„Ich kann es nicht, heute nicht.“ Und ſo ließ er
den Tag vergehen und wartete bis zum andern
Morgen. Da ſchrieb er denn in aller Kürze.


„Liebe Lene. Nun kommt es doch ſo, wie Du
mir vorgeſtern geſagt: Abſchied. Und Abſchied
auf immer. Ich hatte Briefe von Haus, die mich
zwingen; es muß ſein und weil es ſein muß, ſo ſei
es ſchnell. . . Ach, ich wollte, dieſe Tage lägen hinter
uns. Ich ſage Dir weiter nichts, auch nicht wie
mir ums Herz iſt. . . Es war eine kurze ſchöne Zeit
und ich werde nichts davon vergeſſen. Gegen neun
bin ich bei Dir, nicht früher, denn es darf nicht
lange dauern. Auf Wiederſehen, nur noch einmal
auf Wiederſehn. Dein B. v. R.“

[160]

Und nun kam er. Lene ſtand am Gitter und
empfing ihn wie ſonſt; nicht der kleinſte Zug von
Vorwurf oder auch nur von ſchmerzlicher Entſagung
lag in ihrem Geſicht. Sie nahm ſeinen Arm und
ſo gingen ſie den Vorgartenſteig hinauf.


„Es iſt recht, daß Du kommſt. . . Ich freue mich,
daß Du da biſt. Und Du mußt Dich auch freuen.“


Unter dieſen Worten hatten ſie das Haus erreicht
und Botho machte Miene, wie gewöhnlich vom Flur her
in das große Vorderzimmer einzutreten. Aber Lene zog
ihn weiter fort und ſagte: „Nein, Frau Dörr iſt drin ..“


„Und iſt uns noch bös?“


„Das nicht. Ich habe ſie beruhigt. Aber was
ſollen wir heut mit ihr? Komm, es iſt ein ſo
ſchöner Abend und wir wollen allein ſein.“


Er war einverſtanden, und ſo gingen ſie denn
den Flur hinunter und über den Hof auf den
Garten zu. Sultan regte ſich nicht und blinzelte
nur Beiden nach, als ſie den großen Mittelſteig
hinauf und dann auf die zwiſchen den Himbeer¬
büſchen ſtehende Bank zuſchritten.


Als ſie hier ankamen, ſetzten ſie ſich. Es war
ſtill, nur vom Felde her hörte man ein Gezirp und
der Mond ſtand über ihnen.


Sie lehnte ſich an ihn und ſagte ruhig und
herzlich: „Und das iſt nun alſo das letzte Mal, daß
ich Deine Hand in meiner halte?“

[161]

„Ja, Lene. Kannſt Du mir verzeihn?“


„Wie Du nur immer frägſt. Was ſoll ich Dir
verzeihn?“


„Daß ich Deinem Herzen wehe thue.“


„Ja, weh thut es. Das iſt wahr.“


Und nun ſchwieg ſie wieder und ſah hinauf auf
die blaß am Himmel heraufziehenden Sterne.


„Woran denkſt Du, Lene?“


„Wie ſchön es wäre, dort oben zu ſein.“


„Sprich nicht ſo. Du darfſt Dir das Leben
nicht wegwünſchen; von ſolchem Wunſch iſt nur
noch ein Schritt . . .“


Sie lächelte. „Nein, das nicht. Ich bin nicht
wie das Mädchen, das an den Ziehbrunnen lief
und ſich hineinſtürzte, weil ihr Liebhaber mit einer
andern tanzte. Weißt Du noch, wie Du mir davon
erzählteſt?“


„Aber was ſoll es dann? Du biſt doch nicht
ſo, daß Du ſo was ſagſt, blos um etwas zu ſagen.“


„Nein, ich hab' es auch ernſthaft gemeint. Und
wirklich (und ſie wies hinauf), ich wäre gerne da.
Da hätt' ich Ruh. Aber ich kann es abwarten . . .
Und nun komm und laß uns ins Feld gehn. Ich
habe kein Tuch mit herausgenommen und find' es
kalt hier im Stillſitzen.“


Und ſo gingen ſie denn denſelben Feldweg hin¬
auf, der ſie damals bis an die vorderſte Häuſerreihe
Fontane, Irrungen. 11[162] von Wilmersdorf geführt hatte. Der Thurm war
deutlich ſichtbar unter dem ſternklaren Himmel und
nur über den Wieſengrund zog ein dünner Nebel¬
ſchleier.


„Weißt Du noch,“ ſagte Botho, „wie wir mit
Frau Dörr hier gingen?“


Sie nickte. „Deshalb hab' ich Dir's vor¬
geſchlagen, mich fror gar nicht oder doch kaum.
Ach, es war ein ſo ſchöner Tag damals und ſo
heiter und glücklich bin ich nie geweſen, nicht vor¬
her und nicht nachher. Noch in dieſem Augenblicke
lacht mir das Herz, wenn ich daran zurückdenke wie
wir gingen und ſangen: „Denkst Du daran“. Ja,
Erinnerung iſt viel, iſt alles. Und die hab' ich
nun und bleibt mir und kann mir nicht mehr ge¬
nommen werden. Und ich fühle ordentlich, wie mir
dabei leicht zu Muthe wird.“


Er umarmte ſie. „Du biſt ſo gut.“


Lene aber fuhr in ihrem ruhigen Tone fort:
„Und daß mir ſo leicht ums Herz iſt, das will ich
nicht vorübergehn laſſen und will Dir alles ſagen.
Eigentlich iſt es das Alte, was ich Dir immer
ſchon geſagt habe, noch vorgeſtern, als wir draußen
auf der halb geſcheiterten Partie waren und dann
nachher, als wir uns trennten. Ich hab' es ſo
kommen ſehn, von Anfang an, und es geſchieht nur,
was muß. Wenn man ſchön geträumt hat, ſo muß
[163] man Gott dafür danken und darf nicht klagen, daß
der Traum aufhört und die Wirklichkeit wieder an¬
fängt. Jetzt iſt es ſchwer, aber es vergißt ſich alles
oder gewinnt wieder ein freundliches Geſicht. Und
eines Tages biſt Du wieder glücklich und vielleicht
ich auch.“


„Glaubſt Du's? Und wenn nicht? was dann?“


„Dann lebt man ohne Glück.“


„Ach, Lene, Du ſagſt das ſo hin, als ob Glück
nichts wäre. Aber es iſt was und das quält mich
eben und iſt mir doch, als ob ich Dir ein Unrecht
gethan hätte.“


„Davon ſprech' ich Dich frei. Du haſt mir kein
Unrecht gethan, haſt mich nicht auf Irrwege geführt
und haſt mir nichts verſprochen. Alles war mein
freier Entſchluß. Ich habe Dich von Herzen lieb
gehabt, das war mein Schickſal, und wenn es eine
Schuld war, ſo war es meine Schuld. Und noch
dazu eine Schuld, deren ich mich, ich muß es Dir
immer wieder ſagen, von ganzer Seele freue, denn
ſie war mein Glück. Wenn ich nun dafür zahlen
muß, ſo zahle ich gern. Du haſt nicht gekränkt,
nicht verletzt, nicht beleidigt, oder doch höchſtens
das, was die Menſchen Anſtand nennen und gute
Sitte. Soll ich mich darum grämen? Nein. Es
rückt ſich alles wieder zurecht, auch das. Und nun
komm und laß uns umkehren. Sieh nur wie die
11*[164] Nebel ſteigen; ich denke, Frau Dörr iſt nun fort
und wir treffen die gute Alte allein. Sie weiß
von allem und hat den ganzen Tag über immer
nur ein und daſſelbe geſagt.“


„Und was?“


„Daß es ſo gut ſei.“


Frau Nimptſch war wirklich allein, als Botho
und Lene bei ihr eintraten. Alles war ſtill und
dämmerig und nur das Herdfeuer warf einen Licht¬
ſchein über die breiten Schatten, die ſich ſchräg durch
das Zimmer zogen. Der Stieglitz ſchlief ſchon lange
in ſeinem Bauer und man hörte nichts als dann
und wann das Ziſchen des überkochenden Waſſers.


„Guten Abend, Mutterchen,“ ſagte Botho.


Die Alte gab den Gruß zurück und wollte von
ihrer Fußbank aufſtehen, um den großen Lehnſtuhl
heran zu rücken. Aber Botho litt es nicht und
ſagte: „Nein, Mütterchen, ich ſetze mich auf meinen
alten Platz.“


Und dabei ſchob er den Schemel ans Feuer.


Eine kleine Pauſe trat ein; alsbald aber begann
er wieder: „Ich komme heut, um Abſchied zu nehmen
und Ihnen für alles Liebe und Gute zu danken,
das ich hier ſo lange gehabt habe. Ja, Mutterchen,
ſo recht von Herzen. Ich bin hier ſo gern geweſen
[165] und ſo glücklich. Aber nun muß ich fort und alles,
was ich noch ſagen kann, iſt blos das: es iſt doch
wohl das Beſte ſo.“


Die Alte ſchwieg und nickte zuſtimmend. „Aber
ich bin nicht aus der Welt,“ fuhr Botho fort, „und
ich werde Sie nicht vergeſſen, Mutterchen. Und
nun geben Sie mir die Hand. So. Und nun
gute Nacht.“


Hiernach ſtand er ſchnell auf und ſchritt auf
die Thür zu, während Lene ſich an ihn hing. So
gingen ſie bis an das Gartengitter, ohne daß weiter
ein Wort geſprochen wäre. Dann aber ſagte ſie:
„Nun kurz, Botho. Meine Kräfte reichen nicht
mehr; es war doch zu viel, dieſe zwei Tage. Lebe
wohl, mein Einziger, und ſei ſo glücklich, wie Du's
verdienſt, und ſo glücklich, wie Du mich gemacht haſt
Dann biſt Du glücklich. Und von dem Andern
rede nicht mehr, es iſt der Rede nicht werth.
So, ſo.“


Und ſie gab ihm einen Kuß und noch einen
und ſchloß dann das Gitter.


Als er an der andern Seite der Straße ſtand,
ſchien er, als er Lenens anſichtig wurde, noch ein¬
mal umkehren und Wort und Kuß mit ihr tauſchen
zu wollen. Aber ſie wehrte heftig mit der Hand.
Und ſo ging er denn weiter die Straße hinab,
während ſie, den Kopf auf den Arm und den Arm
[166] auf den Gitterpfoſten geſtützt, ihm mit großem Auge
nachſah.


So ſtand ſie noch lange, bis ſein Schritt in der
nächtlichen Stille verhallt war.

[[167]]

Sechzehntes Kapitel.

Mitte September hatte die Verheirathung auf
dem Sellenthin'ſchen Gute Rothenmoor ſtattgefunden,
Onkel Oſten, ſonſt kein Redner, hatte das Braut¬
paar in dem zweifellos längſten Toaſte ſeines Lebens
leben laſſen, und am Tage darauf hatte die Kreuz¬
zeitung unter ihren ſonſtigen Familienanzeigen auch
die folgende gebracht: „Ihre am geſtrigen Tage
ſtattgehabte eheliche Verbindung zeigen hierdurch er¬
gebenſt an Botho Freiherr von Rienäcker, Premier¬
lieutenant im Kaiſer-Küraſſier Regiment, Käthe Frei¬
frau von Rienäcker, geb. von Sellenthin.“ Die
Kreuzzeitung war begreiflicherweiſe nicht das Blatt,
das in die Dörr'ſche Gärtnerwohnung ſammt ihren
Dependenzien kam, aber ſchon am andern Morgen
traf ein an Fräulein Magdalene Nimptſch adreſſirter
Brief ein, in dem nichts lag als der Zeitungsaus¬
[168] ſchnitt mit der Vermählungsanzeige. Lene fuhr zu¬
ſammen, ſammelte ſich aber raſcher als der Abſender,
aller Wahrſcheinlichkeit nach eine neidiſche Kollegin,
erwartet haben mochte. Daß es von ſolcher Seite
her kam, war ſchon aus dem beigefügten „Hochwohl¬
geboren“ zu ſchließen. Aber gerade dieſer Extra¬
ſchabernack, der den ſchmerzhaften Stich verdoppeln
ſollte, kam Lenen zu ſtatten und verminderte das
bittere Gefühl, das ihr dieſe Nachricht ſonſt wohl
verurſacht hätte.


Botho und Käthe von Rienäcker waren noch
am Hochzeitstage ſelbſt nach Dresden hin auf¬
gebrochen, nachdem beide der Verlockung einer neu¬
märkiſchen Vetternreiſe glücklich widerſtanden hatten.
Und wahrlich, ſie hatten nicht Urſache ihre Wahl
zu bereuen, am wenigſten Botho, der ſich jeden Tag
nicht nur zu dem Dresdener Aufenthalte, ſondern
viel mehr noch zu dem Beſitze ſeiner jungen Frau
beglückwünſchte, die Capricen und üble Laune gar
nicht zu kennen ſchien. Wirklich, ſie lachte den
ganzen Tag über und ſo leuchtend und hellblond
ſie war, ſo war auch ihr Weſen. An allem ergötzte
ſie ſich und allem gewann ſie die heitre Seite ab.
In dem von ihnen bewohnten Hotel war ein Kellner
mit einem Toupet, das einem eben umkippenden
[169] Wellenkamme glich, und dieſer Kellner ſammt ſeiner
Friſur war ihre tagtägliche Freude, ſo ſehr, daß ſie,
wiewohl ſonſt ohne beſonderen Esprit, ſich in
Bildern und Vergleichen gar nicht genug thun
konnte. Botho freute ſich mit und lachte herzlich,
bis ſich mit einem Male doch etwas von Bedenken
und ſelbſt von Unbehagen in ſein Lachen einzumiſchen
begann. Er nahm nämlich wahr, daß ſie, was auch
geſchehen oder ihr zu Geſicht kommen mochte, ledig¬
lich am Kleinen und Komiſchen hing, und als Beide
nach etwa vierzehntägigem glücklichen Aufenthalt ihre
Heimreiſe nach Berlin antraten, ereignete ſich's, daß
ein kurzes, gleich zu Beginn der Fahrt geführtes
Geſpräch ihm über dieſe Charakterſeite ſeiner Frau
volle Gewißheit gab. Sie hatten ein Koupee für
ſich und als ſie, von der Elbbrücke her, noch einmal
zurückblickten, um nach Altſtadt-Dresden und der
Kuppel der Frauenkirche hinüber zu grüßen, ſagte
Botho, während er ihre Hand nahm: „Und nun
ſage mir, Käthe, was war eigentlich das Hübſcheſte
hier in Dresden?“


„Rathe.“


„Ja, das iſt ſchwer, denn Du haſt ſo Deinen
eignen Geſchmack, und mit Kirchengeſang und Hol¬
bein'ſcher Madonna darf ich Dir gar nicht kommen ...“


„Nein. Da haſt Du Recht. Und ich will
meinen geſtrengen Herrn auch nicht lange warten
[170] und ſich quälen laſſen. Es war dreierlei, was mich
entzückte: voran die Konditorei am Altmarkt und
der Scheffelgaſſen-Ecke mit den wundervollen Paſtet¬
chen und dem Likör. Da ſo zu ſitzen ...“


„Aber, Käthe, man konnte ja gar nicht ſitzen,
man konnte kaum ſtehn, und war eigentlich, als ob
man ſich jeden Biſſen erobern müſſe.“


„Das war es eben. Eben deshalb, mein Beſter.
Alles, was man ſich erobern muß...“


Und ſie wandte ſich ab und ſpielte neckiſch die
Schmollende, bis er ihr einen herzlichen Kuß gab.


„Ich ſehe,“ lachte ſie. „Du biſt ſchließlich ein¬
verſtanden und zur Belohnung höre nun auch das
Zweite und Dritte. Mein Zweites war das Sommer¬
theater draußen, wo wir „Monſieur Herkules“ ſahn
und Knaak den Tannhäuſermarſch auf einem
klapprigen alten Whiſttiſch trommelte. So was
Komiſches hab' ich all mein Lebtag nicht geſehn und
Du wahrſcheinlich auch nicht. Es war wirklich zu
komiſch ... Und das Dritte ... Nun das Dritte, das
war „Bacchus auf dem Ziegenbock“ im Grünen
Gewölbe und der ſich „kratzende Hund“ von Peter
Viſcher.“


„Ich dachte mir ſo 'was und wenn Onkel Oſten
davon hört, dann wird er Dir Recht geben und
Dich noch lieber haben als ſonſt und mir noch
[171] öfter wiederholen: Ich ſage Dir, Botho, die
Käthe ...“


„Soll er's nicht?“


„O gewiß ſoll er.“


Und damit brach auf Minuten hin ihr Geſpräch
ab, das in Botho's Seele, ſo zärtlich und liebevoll
er zu der jungen Frau hinüberſah, doch einiger¬
maßen ängſtlich nachklang. Die junge Frau ſelbſt
indeß hatte keine Ahnung von dem, was in ihres
Gatten Seele vorging, und ſagte nur: „Ich bin
müde, Botho. Die vielen Bilder. Es kommt doch
nach . . . Aber (der Zug hielt eben) was iſt denn
das für ein Lärm und Getreibe da draußen?“


„Das iſt ein Dresdener Vergnügungsort, ich
glaube Kötſchenbroda.“


„Kötſchenbroda? Zu komiſch.“


Und während der Zug weiter dampfte, ſtreckte
ſie ſich aus und ſchloß anſcheinend die Augen.
Aber ſie ſchlief nicht und ſah zwiſchen den Wimpern
hin nach dem geliebten Manne hinüber.


In der damals noch einreihigen Landgrafenſtraße
hatte Käthe's Mama mittlerweile die Wohnung ein¬
gerichtet und als zu Beginn des Oktobers das
junge Paar in Berlin wieder eintraf, war es ent¬
zückt von dem Komfort, den es vorfand. In den
[172] beiden Frontzimmern, die jedes einen Kamin hatten,
war geheizt, aber Thür und Fenſter ſtanden auf,
denn es war eine milde Herbſtluft und das Feuer
brannte nur des Anblicks und des Luftzuges halber.
Das Schönſte aber war der große Balkon mit ſeinem
weit herunter fallenden Zeltdach, unter dem hinweg
man in gerader Richtung ins Freie ſah, erſt über
das Birkenwäldchen und den Zoologiſchen Garten
fort und dahinter bis an die Nordſpitze des Grune¬
walds.


Käthe freute ſich, unter Händeklatſchen, dieſer
prächtig freien Ausſicht, umarmte die Mama, küßte
Botho und wies dann plötzlich nach links hin, wo
zwiſchen vereinzelten Pappeln und Weiden ein
Schindelthurm ſichtbar wurde. „Sieh, Botho, wie
komiſch. Er iſt ja wie dreimal eingeknickt. Und
das Dorf daneben. Wie heißt es?


„Ich glaube Wilmersdorf,“ ſtotterte Botho.


„Nun gut, Wilmersdorf. Aber was heißt das
ich glaube. Du wirſt doch wiſſen, wie die Dörfer
hier herum heißen. Sieh nur, Mama, macht er
nicht ein Geſicht, als ob er uns ein Staats¬
geheimniß verrathen hätte? Nichts komiſcher als
dieſe Männer.“


Und damit verließ man den Balkon wieder, um
in dem dahinter gelegenen Zimmer das erſte Mit¬
tagsmahl en famille einzunehmen: nur die Mama,
[173] das junge Paar und Serge, der als einziger Gaſt
geladen war.


Rienäcker's Wohnung lag keine tauſend Schritt
von dem Hauſe der Frau Nimptſch. Aber Lene
wußte nichts davon und nahm ihren Weg oft durch
die Landgrafenſtraße, was ſie vermieden haben
würde, wenn ſie von dieſer Nachbarſchaft auch nur
eine Ahnung gehabt hätte.


Doch es konnt' ihr nicht lange ein Geheimniß
bleiben.


Es ging ſchon in die dritte Oktoberwoche, trotz¬
dem war es noch wie im Sommer und die Sonne
ſchien ſo warm, daß man den ſchärferen Luftton
kaum empfand.


„Ich muß heut in die Stadt, Mutter.“ ſagte
Lene. „Goldſtein hat mir geſchrieben. Er will
mit mir über ein Muſter ſprechen, das in die
Wäſche der Waldeck'ſchen Prinzeſſin eingeſtickt werden
ſoll. Und wenn ich erſt in der Stadt bin, will ich
auch die Frau Demuth in der Alten Jakobſtraße
beſuchen. Man kommt ſonſt ganz von aller Menſch¬
heit los. Aber um Mittag bin ich wieder hier.
Ich werd' es Frau Dörr ſagen, daß ſie nach Dir
ſieht.“


„Laß nur, Lene, laß nur. Ich bin am liebſten
[174] allein. Und die Dörr, ſie red't ſo viel un immer
von ihrem Mann. Und ich habe ja mein Feuer.
Und wenn der Stieglitz piept, das is mir genug.
Aber wenn Du mir eine Tüte mitbringſt, ich habe
jetzt immer ſolch Kratzen und Malzbonbon löſt ſo. . .“


„Schön Mutter.“


Und damit hatte Lene die kleine ſtille Wohnung
verlaſſen und war erſt die Kurfürſten- und dann die
lange Potsdamer Straße hinunter gegangen, auf
den Spittelmarkt zu, wo die Gebrüder Goldſtein
ihr Geſchäft hatten. Alles verlief nach Wunſch
und es war nahezu Mittag, als ſie, heimkehrend,
diesmal anſtatt der Kurfürſten- lieber die Lützow¬
ſtraße paſſirte. Die Sonne that ihr wohl und das
Treiben auf dem Magdeburger Platze, wo gerade
Wochenmarkt war und alles eben wieder zum Auf¬
bruch rüſtete, vergnügte ſie ſo, daß ſie ſtehen blieb
und ſich das bunte Durcheinander mit anſah. Sie
war wie benommen davon und wurd' erſt auf¬
gerüttelt, als die Feuerwehr mit ungeheurem Lärm
an ihr vorbeiraſſelte.


Lene horchte, bis das Gebimmel und Geklingel
in der Ferne verhallt war, dann aber ſah ſie links
hinunter nach der Thurmuhr der Zwölf-Apoſtel¬
kirche. „Gerade Zwölf,“ ſagte ſie. „Nun iſt es
Zeit, daß ich mich eile; ſie wird immer unruhig,
wenn ich ſpäter komme als ſie denkt.“ Und ſo ging
[175] ſie weiter die Lützowſtraße hinunter auf den gleich¬
namigen Platz zu. Aber mit einem Male hielt ſie
und wußte nicht wohin, denn auf ganz kurze Entfernung
erkannte ſie Botho, der, mit einer jungen, ſchönen
Dame am Arm, grad' auf ſie zukam, Die junge
Dame ſprach lebhaft und anſcheinend lauter heitre
Dinge, denn Botho lachte beſtändig, während er zu
ihr niederblickte. Dieſem Umſtande verdankte ſie's
auch, daß ſie nicht ſchon lange bemerkt worden
war, und raſch entſchloſſen, eine Begegnung mit ihm
um jeden Preis zu vermeiden, wandte ſie ſich, vom
Trottoir her, nach rechts hin und trat an das zu¬
nächſt befindliche große Schaufenſter heran, vor dem,
muthmaßlich als Deckel für eine hier befindliche
Kelleröffnung, eine viereckige geriffelte Eiſenplatte
lag. Das Schaufenſter ſelbſt war das eines ge¬
wöhnlichen Materialwaarenladens, mit dem üblichen
Aufbau von Stearinlichten und Mixedpickles-Flaſchen,
nichts Beſonders, aber Lene ſtarrte drauf hin, als
ob ſie dergleichen noch nie geſehen habe. Und wahr¬
lich, Zeit war es, denn in eben dieſem Augenblicke
ſtreifte das junge Paar hart an ihr vorüber und
kein Wort entging ihr von dem Geſpräche, das
zwiſchen Beiden geführt wurde.


„Käthe, nicht ſo laut,“ ſagte Botho, „die Leute
ſehen uns ſchon an.“


„Laß ſie...“

[176]

„Sie denken am Ende, wir zanken uns . . .“


„Unter Lachen? Zanken unter Lachen?“


Und ſie lachte wieder.


Lene fühlte das Zittern der dünnen Eiſenplatte,
darauf ſie ſtand. Ein wagerecht liegender Meſſing¬
ſtab zog ſich zum Schutze der großen Glasſcheibe
vor dem Schaufenſter hin und einen Augenblick war
es ihr, als ob ſie, wie zu Beiſtand und Hilfe, nach
dem Meſſingſtab greifen müſſe, ſie hielt ſich aber
aufrecht und erſt als ſie ſicher ſein durfte, daß
Beide weit genug fort waren, wandte ſie ſich wieder,
um ihren Weg fortzuſetzen. Sie tappte ſich vor¬
ſichtig an den Häuſern hin und eine kurze Strecke
ging es. Aber bald war ihr doch, als ob ihr die
Sinne ſchwänden, und kaum, daß ſie die nächſte nach
dem Kanal hin abzweigende Querſtraße erreicht
hatte, ſo bog ſie hier ein und trat in einen Vor¬
garten, deſſen Gitterthür offen ſtand. Nur mit
Mühe noch ſchleppte ſie ſich bis an eine kleine zu
Veranda und Hochparterre hinauf führende Frei¬
treppe, wenige Stufen, und ſetzte ſich, einer Ohn¬
macht nah, auf eine derſelben.


Als ſie wieder erwachte, ſah ſie, daß ein halb¬
wachſenes Mädchen, ein Grabſcheit in der Hand,
mit dem ſie kleine Beete gegraben hatte, neben ihr
ſtand und ſie theilnahmvoll anblickte, während, von
der Verandabrüſtung aus, eine alte Kindermuhme
[177] ſie mit kaum geringerer Neugier muſterte. Niemand
war augenſcheinlich zu Haus als das Kind und die
Dienerin und Lene dankte beiden und erhob ſich
und ſchritt wieder auf die Pforte zu. Das halb¬
wachſene Mädchen aber ſah ihr traurig verwundert
nach und es war faſt, wie wenn in dem Kinder¬
herzen eine erſte Vorſtellung von dem Leid des
Lebens gedämmert hätte.


Lene war inzwiſchen, den Fahrdamm paſſirend,
bis an den Kanal gekommen und ging jetzt unten
an der Böſchung entlang, wo ſie ſicher ſein durfte,
Niemandem zu begegnen. Von den Kähnen her
blaffte dann und wann ein Spitz und ein dünner
Rauch, weil Mittag war, ſtieg aus den kleinen
Kajütenſchornſteinen auf. Aber ſie ſah und hörte
nichts oder war wenigſtens ohne Bewußtſein deſſen,
was um ſie her vorging, und erſt als jenſeits des
Zoologiſchen die Häuſer am Kanal hin aufhörten
und die große Schleuſe mit ihrem drüberwegſchäu¬
menden Waſſer ſichtbar wurde, blieb ſie ſtehn und
rang nach Luft. „Ach, wer weinen könnte.“ Und
ſie drückte die Hand gegen Bruſt und Herz.


Zu Hauſe traf ſie die Mutter an ihrem alten
Platz und ſetzte ſich ihr gegenüber, ohne daß ein
Wort oder Blick zwiſchen ihnen gewechſelt worden
Fontane, Irrungen. 12[178] wäre. Mit einem Mal aber ſah die Alte, deren
Auge bis dahin immer in derſelben Richtung ge¬
gangen war, von ihrem Herdfeuer auf und erſchrak,
als ſie der Veränderung in Lenens Geſicht gewahr
wurde.


„Lene, Kind, was haſt Du? Lene, wie ſiehſt Du
nur aus?“ Und ſo ſchwer beweglich ſie ſonſten war,
heute machte ſie ſich im Umſehn von ihrer Fußbank
los und ſuchte nach dem Krug, um die noch immer
wie halbtodt Daſitzende mit Waſſer zu beſprengen.
Aber der Krug war leer und ſo humpelte ſie nach
dem Flur und vom Flur nach Hof und Garten
hinaus, um die gute Frau Dörr zu rufen, die gerade
Goldlack und Jelänger-Jelieber abſchnitt, um Markt¬
ſträuße daraus zu binden. Ihr Alter aber ſtand
neben ihr und ſagte: „Nimm nich wieder zu viel
Strippe.“


Frau Dörr, als ſie das jämmerliche Rufen der
alten Frau von fernher hörte, verfärbte ſich und
antwortete mit lauter Stimme: „Komme ſchon,
Mutter Nimptſch, komme ſchon,“ und alles weg¬
werfend, was ſie von Blumen und Baſt in der
Hand hatte, lief ſie gleich auf das kleine Vorder¬
haus zu, weil ſie ſich ſagte, daß da was los ſein
müſſe.


„Richtig, dacht' ich's doch . . . Leneken.“ Und
dabei rüttelte und ſchüttelte ſie die nach wie vor
[179] leblos Daſitzende, während die Alte langſam nach¬
kam und über den Flur hinſchlurrte.


„Wir müſſen ſie zu Bett bringen,“ rief Frau
Dörr und die Nimptſch wollte ſelber mit anfaſſen.
Aber ſo war das „wir“ der ſtattlichen Frau Dörr
nicht gemeint geweſen. „Ich mache ſo was allein,
Mutter Nimptſch,“ und Lenen in ihre Arme nehmend,
trug ſie ſie nebenan in die Kammer und deckte ſie
hier zu.


„So, Mutter Nimptſch. Nu 'ne heiße Stürze.
Das kenn' ich, das kommt von's Blut. Erſt 'ne
Stürze un denn'n Ziegelſtein an die Fußſohlen;
aber grad untern Spann, da ſitzt das Leben . . .
Wovon is es denn eigentlich? Is gewiß 'ne Al¬
tration.“


„Weiß nich. Sie hat nichts geſagt. Aber ich
denke mir, daß ſie'n vielleicht geſehn hat.“


„Richtig. Das is es. Das kenn' ich . . . Aber
nu die Fenſter zu un 'runter mit's Rollo . . .
Manche ſind für Kampfer und Hoffmannstropfen,
aber Kampfer ſchwächt ſo und is eigentlich blos
für Motten. Nein, liebe Nimptſchen, was 'ne Natur
is un noch dazu ſolche junge, die muß ſich immer
ſelber helfen un darum bin ich für ſchwitzen. Aber
orntlich. Un wovon kommt es? Von die Männer
kommt es. Un doch hat man ſie nöthig un braucht
ſie . . Na, ſie kriegt ja ſchon wieder Farbe.“

12 *[180]

„Woll'n wir nich lieber nach'n Doktor ſchicken?“

„J, Jott bewahre. Die kutſchiren jetzt 'rum
un eh' einer kommt, is ſie ſchon dreimal dod und
lebendig “

[[181]]

Siebzehntes Kapitel.

Drittehalb Jahre waren ſeit jener Begegnung
vergangen, während welcher Zeit ſich manches in
unſerem Bekannten- und Freundeskreiſe verändert
hatte, nur nicht in dem in der Landgrafenſtraße.


Hier herrſchte dieſelbe gute Laune weiter, der
Frohmuth der Flitterwochen war geblieben, und
Käthe lachte nach wie vor. Was andere junge
Frauen vielleicht betrübt hätte: daß das Paar ein¬
fach ein Paar blieb, wurde von Käthe keinen Augen¬
blick ſchmerzlich empfunden. Sie lebte ſo gern und
fand an Putz und Plaudern, an Reiten und Fahren
ein ſo volles Genüge, daß ſie vor einer Veränderung
ihrer Häuslichkeit eher erſchrak, als ſie herbeiwünſchte.
Der Sinn für Familie, geſchweige die Sehnſucht
danach, war ihr noch nicht aufgegangen und als die
Mama brieflich eine Bemerkung über dieſe Dinge
[182] machte, ſchrieb Käthe ziemlich ketzeriſch zurück:
„Sorge Dich nicht, Mama. Botho's Bruder hat
ſich ja nun ebenfalls verlobt, in einem halben Jahr
iſt Hochzeit und ich überlaſſ' es gern meiner zu¬
künftigen Schwägerin, ſich die Fortdauer des Hauſes
Rienäcker angelegen ſein zu laſſen.“


Botho ſah es anders an, aber auch ſein Glück
wurde durch das, was fehlte, nicht ſonderlich getrübt,
und wenn ihn trotzdem von Zeit zu Zeit eine Mi߬
ſtimmung anwandelte, ſo war es, wie ſchon damals
auf ſeiner Dresdener Hochzeitsreiſe, vorwiegend dar¬
über, daß mit Käthe wohl ein leidlich vernünftiges,
aber durchaus kein ernſtes Wort zu reden war. Sie
war unterhaltlich und konnte ſich mitunter bis zu
glücklichen Einfällen ſteigern, aber auch das Beſte,
was ſie ſagte, war oberflächlich und „ſpielrig“, als
ob ſie der Fähigkeit entbehrt hätte, zwiſchen wich¬
tigen und unwichtigen Dingen zu unterſcheiden.
Und was das Schlimmſte war, ſie betrachtete das
alles als einen Vorzug, wußte ſich was damit und
dachte nicht daran, es abzulegen. „Aber, Käthe,
Käthe,“ rief Botho dann wohl und ließ in dieſem
Zuruf etwas von Mißbilligung mit durchklingen,
ihr glückliches Naturell aber wußt' ihn immer wieder
zu entwaffnen, ja, ſo ſehr, daß er ſich mit dem An¬
ſpruch, den er erhob, faſt pedantiſch vorkam.


Lene mit ihrer Einfachheit, Wahrheit und Un¬
[183] redensartlichkeit ſtand ihm öfters vor der Seele,
ſchwand aber ebenſo raſch wieder hin und nur wenn
Zufälligkeiten einen ganz beſtimmten Vorfall in
aller Lebendigkeit wieder in ihm wachriefen, kam
ihm mit dieſer größeren Lebendigkeit des Bildes auch
wohl ein ſtärkeres Gefühl und mitunter ſelbſt eine
Verlegenheit.


Eine ſolche Zufälligkeit ereignete ſich gleich im
erſten Sommer, als das junge Paar, von einem
Diner bei Graf Alten zurückgekehrt, auf dem
Balkon ſaß und ſeinen Thee nahm. Käthe lag
zurückgelehnt in ihrem Stuhl und ließ ſich aus der
Zeitung einen mit Zahlenangaben reichgeſpickten
Artikel über Pfarr- und Stolgebühren vorleſen.
Eigentlich verſtand ſie wenig davon, um ſo weniger
als die vielen Zahlen ſie ſtörten, aber ſie hörte doch
ziemlich aufmerkſam zu, weil alle märkiſchen Frölens
ihre halbe Jugend „bei Predigers“ zubringen und
ſo den Pfarrhausintereſſen ihre Theilnahme be¬
wahren. So war es auch heut. Endlich brach der
Abend herein und im ſelben Augenblicke wo's dunkelte,
begann drüben im „Zoologiſchen“ das Konzert und
ein entzückender Strauß'ſcher Walzer klang herüber.


„Höre nur, Botho,“ ſagte Käthe, ſich aufrichtend,
während ſie voll Uebermuth hinzuſetzte: „Komm, laß
uns tanzen.“ Und ohne ſeine Zuſtimmung abzu¬
warten, zog ſie ihn aus ſeinem Stuhl in die Höh'
[[184]] und walzte mit ihm in das große Balkonzimmer
hinein und in dieſem noch ein paar Mal herum.
Dann gab ſie ihm einen Kuß und ſagte, während
ſie ſich an ihn ſchmiegte: „Weißt Du, Botho, ſo
wundervoll hab' ich noch nie getanzt, auch nicht auf
meinem erſten Ball, den ich noch bei der Zülow
mitmachte, ja, daß ich's nur geſtehe, noch eh ich
eingeſegnet war. Onkel Oſten nahm mich auf ſeine
Verantwortung mit und die Mama weiß es bis
dieſen Tag nicht. Aber ſelbſt da war es nicht ſo
ſchön wie heut. Und doch iſt verbotene Furcht die
ſchönſte. Nicht wahr? Aber Du ſagſt ja nichts, Du
biſt ja verlegen, Botho. Sieh' ſo ertapp' ich Dich
'mal wieder.“


Er wollte ſo gut es ging etwas ſagen, aber ſie
ließ ihn nicht dazu kommen. „Ich glaube wirklich,
Botho, meine Schweſter Ine hat es Dir angethan
und Du darfſt mich nicht damit tröſten wollen, ſie
ſei noch ein halber Backfiſch oder nicht weit darüber
hinaus. Das ſind immer die gefährlichſten. Iſt es
nicht ſo? Nun ich will nichts geſehen haben und ich
gönn' es ihr und Dir. Aber auf alte, ganz alte
Geſchichten bin ich eiferſüchtig, viel, viel eiferſüchtiger
als auf neue.“


„Sonderbar,“ ſagte Botho und verſuchte zu
lachen.


„Und doch am Ende nicht ſo ſonderbar wie's
[185] ausſieht,“ fuhr Käthe fort. „Sieh, neue Geſchichten
hat man doch immer halb unter Augen und es muß
ſchon ſchlimm kommen und ein wirklicher Meiſter-
Verräther ſein, wenn man gar nichts merken und
ſo reinweg betrogen werden ſoll. Aber alte Ge¬
ſchichten, da hört alle Kontrolle auf, da kann es
tauſend und drei geben und man weiß es kaum.“


„Und was man nicht weiß . . .“


„Kann einen doch heiß machen. Aber laſſen
wir's und lies mir lieber weiter aus Deiner Zeitung vor.
Ich habe beſtändig an unſere Kluckhuhns denken
müſſen und die gute Frau verſteht es nicht Und
der Aelteſte ſoll jetzt gerade ſtudiren.“


Solche Geſchichten ereigneten ſich häufiger und
beſchworen in Botho's Seele mit den alten Zeiten
auch Lenens Bild herauf, aber ſie ſelbſt ſah er nicht,
was ihm auffiel, weil er ja wußte, daß ſie halbe
Nachbarn waren.


Es fiel ihm auf und wär' ihm doch leicht er¬
klärlich geweſen, wenn er rechtzeitig in Erfahrung
gebracht hätte, daß Frau Nimptſch und Lene gar
nicht mehr an alter Stelle zu finden ſeien. Und
doch war es ſo. Von dem Tag an, wo Lene dem
jungen Paar in der Lützowſtraße begegnet war,
hatte ſie der Alten erklärt, in der Dörr'ſchen Woh¬
[186] nung nicht mehr bleiben zu können, und als Mutter
Nimptſch, die ſonſt nie widerſprach, den Kopf ge¬
ſchüttelt und geweimert und in einem fort auf den
Herd hingewieſen hatte, hatte Lene geſagt: „Mutter ‚
Du kennſt mich doch. Ich werde Dir doch Deinen
Herd und Dein Feuer nicht nehmen; Du ſollſt alles
wieder haben; ich habe das Geld dazu geſpart und
wenn ich's nicht hätte, ſo wollt' ich arbeiten, bis es
beiſammen wär'. Aber hier müſſen wir fort. Ich
muß jeden Tag da vorbei, das halt' ich nicht aus,
Mutter. Ich gönn' ihm ſein Glück, ja mehr noch,
ich freue mich, daß er's hat. Gott iſt mein Zeuge,
denn er war ein guter, lieber Menſch und hat mir
zu Liebe gelebt und kein Hochmuth und keine
Haberei. Und daß ich's rund heraus ſage, trotzdem
ich die feinen Herren nicht leiden kann, ein richtiger
Edelmann, ſo recht einer‚ der das Herz auf dem
rechten Flecke hat. Ja, mein einziger Botho, Du
ſollſt glücklich ſein, ſo glücklich wie Du's verdienſt.
Aber ich kann es nicht ſehn, Mutter, ich muß weg
hier, denn ſo wie ich zehn Schritte gehe, denk' ich,
er ſteht vor mir. Und da bin ich in einem ewigen
Zittern. Nein, nein, das geht nicht. Aber Deine
Herdſtelle ſollſt Du haben. Das verſprech' ich Dir,
ich, Deine Lene.“


Nach dieſem Geſpräche war ſeitens der Alten
aller Widerſtand aufgegeben worden und auch Frau
[187] Dörr hatte geſagt: „Verſteht ſich, ihr müßt aus¬
ziehen. Und dem alten Geizkragen, dem Dörr, dem
gönn' ich's. Immer hat er mir was vorgebrummt,
daß ihr zu billig einſäß't und daß nich die Steuer
un die Repratur dabei 'raus käme. Nu mag er ſich
freuen, wenn ihm alles leer ſteht. Und ſo wird's
kommen. Denn wer zieht denn in ſolchen Puppen¬
kaſten, wo jeder Kater ins Fenſter kuckt un kein
Gas nich un keine Waſſerleitung. I, verſteht ſich;
ihr habt ja vierteljährliche Kündigung und Oſtern
könnt ihr 'raus, da helfen ihm keine Sperenzchen.
Und ich freue mich ordentlich; ja, Lene, ſo ſchlecht
bin ich. Aber ich muß auch gleich für meine
Schadenfreude bezahlen. Denn wenn Du weg biſt,
Kind, und die gute Frau Nimptſch mit ihrem Feuer
und ihrem Theekeſſel und immer kochend Waſſer, ja,
Lene, was hab' ich denn noch? Doch blos ihn un
Sultan und den dummen Jungen, der immer dummer
wird. Un ſonſt keinen Menſchen nich. Un wenn's
denn kalt wird und Schnee fällt, is es mitunter
zum kattol'ſch werden vor lauter Stillſitzen und
Einſamkeit.“


Das waren ſo die erſten Verhandlungen geweſen,
als der Umzugsplan in Lene feſtſtand, und als
Oſtern herankam, war wirklich ein Möbelwagen vor¬
gefahren, um aufzuladen, was an Habſeligkeiten da
war. Der alte Dörr hatte ſich bis zuletzt über¬
[188] raſchend gut benommen und nach erfolgtem feier¬
lichen Abſchiede war Frau Nimptſch in eine Droſchke
gepackt und mit ihrem Eichkätzchen und Stieglitz bis
an das Luiſen-Ufer gefahren worden, wo Lene, drei
Treppen hoch, eine kleine Prachtwohnung gemiethet
und nicht nur ein paar neue Möbeln angeſchafft,
ſondern, in Erinnerung an ihr Verſprechen, vor allem
auch für einen an den großen Vorderzimmer-Ofen
angebauten Kamin geſorgt hatte. Seitens des
Wirths waren anfänglich allerlei Schwierigkeiten
gemacht worden, „weil ſolch Vorbau den Ofen
ruinire.“ Lene hatte jedoch unter Angabe der
Gründe darauf beſtanden, was dem Wirth, einem
alten braven Tiſchlermeiſter, dem ſo was gefiel, einen
großen Eindruck gemacht und ihn zum Nachgeben
beſtimmt hatte.


Beide wohnten nun ziemlich ebenſo, wie ſie vor¬
dem im Dörr'ſchen Gartenhauſe gewohnt hatten, nur
mit dem Unterſchiede, daß ſie jetzt 3 Treppen hoch
ſaßen und ſtatt auf die phantaſtiſchen Thürme des
Elephantenhauſes auf die hübſche Kuppel der Michaels¬
kirche ſahen. Ja, der Blick, deſſen ſie ſich erfreuten,
war entzückend und ſo ſchön und frei, daß er ſelbſt
auf die Lebensgewohnheiten der alten Nimptſch einen
Einfluß gewann und ſie beſtimmte, nicht mehr blos
auf der Fußbank am Feuer, ſondern, wenn die
Sonne ſchien, auch am offenen Fenſter zu ſitzen,
[189] wo Lene für einen Tritt geſorgt hatte. Das alles
that der alten Frau Nimptſch ungemein wohl und
half ihr auch geſundheitlich auf, ſo daß ſie, ſeit dem
Wohnungswechſel, weniger an Reißen litt als draußen
in dem Dörr'ſchen Gartenhauſe, das, ſo poetiſch es
lag, nicht viel beſſer als ein Keller geweſen war.


Im Uebrigen verging keine Woche, wo nicht,
trotz des endlos weiten Weges, Frau Dörr vom
„Zoologiſchen“ her am Luiſen-Ufer erſchienen wäre,
blos „um zu ſehen, wie's ſtehe.“ Sie ſprach dann,
nach Art aller Berliner Ehefrauen, ausſchließlich
von ihrem Manne, dabei regelmäßig einen Ton
anſchlagend, als ob die Verheirathung mit ihm eine
der ſchwerſten Mesalliancen und eigentlich etwas
halb Unerklärliches geweſen wäre. In Wahrheit
aber ſtand es ſo, daß ſie ſich nicht nur äußerſt be¬
haglich und zufrieden fühlte, ſondern ſich auch freute,
daß Dörr gerade ſo war wie er war. Denn ſie
hatte nur Vortheile davon, einmal den, beſtändig
reicher zu werden, und nebenher den zweiten, ihr
ebenſo wichtigen, ohne jede Gefahr vor Aenderung
und Vermögens-Einbuße ſich unausgeſetzt über den
alten Geizkragen erheben und ihm Vorhaltungen
über ſeine niedrige Geſinnung machen zu können.
Ja, Dörr war das Hauptthema bei dieſen Geſprächen
und Lene, wenn ſie nicht bei Goldſtein's oder ſonſt
wo in der Stadt war, lachte jedesmal herzlich mit
[190] und um ſo herzlicher, als ſie ſich, ebenſo wie die
Nimptſch, ſeit dem Umzuge ſichtlich erholt hatte.
Das Einrichten, Anſchaffen und Inſtandſetzen hatte
ſie, wie ſich denken läßt, von Anfang an von ihren
Betrachtungen abgezogen und was noch wichtiger
und für ihre Geſundheit und Erholung erſt recht
von Vortheil geweſen war, war das, daß ſie nun
keine Furcht mehr vor einer Begegnung mit Botho
zu haben brauchte. Wer kam nach dem Luiſen-Ufer?
Botho gewiß nicht. All das vereinigte ſich, ſie ver¬
gleichsweiſe wieder friſch und munter erſcheinen zu
laſſen, und nur Eines war geblieben, das auch
äußerlich an zurückliegende Kämpfe gemahnte: mitten
durch ihr Scheitelhaar zog ſich eine weiße Strähne.
Mutter Nimptſch hatte kein Auge dafür oder machte
nicht viel davon, die Dörr aber, die nach ihrer
Art mit der Mode ging und vor allem ungemein
ſtolz auf ihren ächten Zopf war, ſah die weiße
Strähne gleich und ſagte zu Lene: „Jott, Lene. Un
grade links. Aber natürlich . . . da ſitzt ja . . .
links muß es ja ſein.“


Es war bald nach dem Umzuge, daß dies Ge¬
ſpräch geführt wurde. Sonſt geſchah im Allgemeinen
weder Botho's noch der alten Zeiten Erwähnung,
was einfach darin ſeinen Grund hatte, daß Lene,
wenn die Plauderei ſpeziell dieſem Thema ſich zu¬
wandte, jedesmal raſch abbrach oder auch wohl aus
[191] dem Zimmer ging. Das hatte ſich die Dörr, als
es mal auf mal wiederkehrte, gemerkt und ſo ſchwieg
ſie denn über Dinge, von denen man ganz erſichtlich
weder reden noch hören wollte. So ging es ein
Jahr lang und als das Jahr um war, war noch
ein anderer Grund da, der es nicht räthlich erſcheinen
ließ, auf die alten Geſchichten zurück zu kommen.
Nebenan nämlich war, Wand an Wand mit der
Nimptſch, ein Miether eingezogen, der, von Anfang
an auf gute Nachbarſchaft haltend, bald noch mehr
als ein guter Nachbar zu werden verſprach. Er
kam jeden Abend und plauderte, ſo daß es mitunter
an die Zeiten erinnerte, wo Dörr auf ſeinem Schemel
geſeſſen und ſeine Pfeife geraucht hatte, nur daß
der neue Nachbar in vielen Stücken doch anders
war: ein ordentlicher und gebildeter Mann, von
nicht gerade feinen, aber ſehr anſtändigen Manieren,
dabei guter Unterhalter, der, wenn Lene mit zu¬
gegen war, von allerlei ſtädtiſchen Angelegenheiten,
von Schulen, Gasanſtalten und Kanaliſation und
mitunter auch von ſeinen Reiſen zu ſprechen wußte.
Traf es ſich, daß er mit der Alten allein war, ſo
verdroß ihn auch das nicht, und er ſpielte dann Tod
und Leben mit ihr oder Dambrett oder half ihr auch
wohl eine Patience legen, trotzdem er eigentlich alle
Karten verabſcheute. Denn er war ein Konventikler und
hatte, nachdem er erſt bei den Menoniten und dann
[192] ſpäter bei den Irvingianern eine Rolle geſpielt hatte,
neuerdings eine ſelbſtändige Sekte geſtiftet.


Wie ſich denken läßt, erregte dies alles die
höchſte Neugier der Frau Dörr, die denn auch nicht
müde wurde, Fragen zu ſtellen und Anſpielungen
zu machen, aber immer nur, wenn Lene wirthſchaft¬
lich zu thun oder in der Stadt allerlei Beſorgungen
hatte. „Sagen Sie, liebe Frau Nimptſch, was is
er denn eigentlich? Ich habe nachgeſchlagen, aber er
ſteht noch nich drin; Dörr hat blos immer den vor¬
jährigen. Franke heißt er?“


„Ja, Franke.“


„Franke. Da war mal einer in der Ohmgaſſe,
Großböttchermeiſter, und hatte blos ein Auge; das
heißt, das andre war auch noch da, man blos ganz
weiß und ſah eigentlich aus wie 'ne Fiſchblaſe, Un
wovon war es? Ein Reifen, als er ihn umlegen
wollte, war abgeſprungen und mit der Spitze grad'
ins Auge. Davon war es. Ob er von da her¬
ſtammt?“


„Nein, Frau Dörr, er is gar nich von hier. Er
is aus Bremen.“


„Ach ſo. Na denn is es ja ganz natürlich.“


Frau Nimptſch nickte zuſtimmend, ohne ſich über
dieſe Natürlichkeitsverſicherung weiter aufklären zu
laſſen, und fuhr ihrerſeits fort: „Un von Bremen
bis Amerika dauert blos 14 Tage. Da ging er hin.
[193] Un er war ſo was wie Klempner oder Schloſſer
oder Maſchinenarbeiter, aber als er ſah, daß es nich
ging, wurd er Doktor und zog ’rum mit lauter
kleine Flaſchen und ſoll auch gepredigt haben. Un
weil er ſo gut predigte, wurd' er angeſtellt bei. . .
Ja, nun hab' ich es wieder vergeſſen. Aber es
ſollen lauter ſehr fromme Leute ſein und auch ſehr
anſtändige.“


„Herr Du meine Güte,“ſagte Frau Dörr.„Er
wird doch nich. . . Jott, wie heißen ſie doch, die ſo
viele Frauen haben, immer gleich ſechs oder ſieben
und manche noch mehre. . . Ich weiß nich was ſie
mit ſo viele machen.“


Es war ein Thema, wie geſchaffen für Frau
Dörr. Aber die Nimptſch beruhigte die Freundin
und ſagte: „Nein, liebe Dörr, es is doch anders.
Ich hab' erſt auch ſo was gedacht, aber da hat er
gelacht und geſagt: „I bewahre, Frau Nimptſch.
Ich bin Junggeſell. Und wenn ich mich verheirathe,
da denk' ich mir, eine iſt grade genug.“


„Na, da fällt mir ein Stein vom Herzen,“ ſagte
die Dörr. „Und wie kam es denn nachher?“ Ich
meine drüben in Amerika.“


„Nu, nachher kam es ganz gut und dauerte gar
nich lange, ſo war ihm geholfen. Denn was die
Frommen ſind, die helfen ſich immer untereinander.
Und hatte wieder Kundſchaft gekriegt und auch ſein
Fontane, Irrungen. 13[194] altes Metier wieder. Und das hat er noch und is
in einer großen Fabrik hier in der Köpnicker Straße,
wo ſie kleine Röhren machen und Brenner und
Hähne und alles, was ſie für den Gas brauchen.
Und er iſt da der Oberſte, ſo wie Zimmer- oder
Mauerpolier un hat wohl hundert unter ſich. Un
is ein ſehr reputierlicher Mann mit Zylinder un
ſchwarze Handſchuh. Un hat auch ein gutes Gehalt.“


„Un Lene?“


„Nu, Lene, die nähm' ihn ſchon. Und warum
mich nich? Aber ſie kann ja den Mund nich halten
und wenn er kommt und ihr was ſagt, dann wird
ſie ihm alles erzählen, all die alten Geſchichten, erſt
die mit Kuhlwein (un is doch nu ſchon ſo lang,
als wär's eigentlich gar nich geweſen) und denn die
mit dem Baron. Und Franke, müſſen Sie wiſſen,
iſt ein feiner un anſtändiger Mann, un eigentlich
ſchon ein Herr.“


„Wir müſſen es ihr ausreden. Er braucht ja
nich alles zu wiſſen; wozu denn? wir wiſſen ja auch
nich alles.“


„Woll, woll. Aber die Lene . . .“

[[195]]

Achtzehntes Kapitel.

Nun war Juni 78. Frau von Rienäcker
und Frau von Sellenthin waren den Mai über
auf Beſuch bei dem jungen Paare geweſen und
Mutter und Schwiegermutter, die ſich mit jedem
Tage mehr einredeten, ihre Käthe blaſſer, blutloſer
und matter als ſonſt vorgefunden zu haben, hatten,
wie ſich denken läßt, nicht aufgehört, auf einen
Spezialarzt zu dringen, mit deſſen Hilfe, nach bei¬
läufig ſehr koſtſpieligen gynäkologiſchen Unterſuchun¬
gen, eine vierwöchentliche Schlangenbader Kur als
vorläufig unerläßlich feſtgeſetzt worden war. Schwal¬
bach könne dann folgen, Käthe hatte gelacht und
nichts davon wiſſen wollen, am wenigſten von
Schlangenbad, „es ſei ſo 'was Unheimliches in dem
Namen und ſie fühle ſchon die Viper an der Bruſt,“
aber ſchließlich hatte ſie nachgegeben und in den
13 *[196] nun beginnenden Reiſevorbereitungen eine Be¬
friedigung gefunden, die größer war als die, die
ſie ſich von der Kur verſprach. Sie fuhr täglich
in die Stadt, um Einkäufe zu machen, und wurde
nicht müde zu verſichern, wie ſie jetzt erſt das ſo
hoch in Gunſt und Geltung ſtehende „shopping“
der engliſchen Damen begreifen lerne: ſo von Laden
zu Laden zu wandern und immer hübſche Sachen
und höfliche Menſchen zu finden, das ſei doch
wirklich ein Vergnügen und lehrreich dazu, weil
man ſo vieles ſehe, was man gar nicht kenne, ja,
wovon man bis dahin nicht einmal den Namen
gehört hätte. Botho nahm in der Regel an dieſen
Gängen und Ausfahrten Theil und ehe die letzte
Juniwoche heran war, war die halbe Rienäcker'ſche
Wohnung in eine kleine Ausſtellung von Reiſe¬
effekten umgewandelt: ein Rieſenkoffer mit Meſſing¬
beſchlag, den Botho, nicht ganz mit Unrecht, den
Sarg ſeines Vermögens nannte, leitete den Reigen
ein, dann kamen zwei kleinere von Juchtenleder,
ſammt Taſchen, Decken und Kiſſen, und über das
Sopha hin ausgebreitet lag die Reiſegarderobe mit
einem Staubmantel obenan und einem Paar wun¬
dervoller dickſohliger Schnürſtiefel, als ob es ſich
um irgend eine Gletſcherpartie gehandelt hätte.


Den 24. Juni, Johannistag, ſollte die Reiſe
beginnen, aber am Tage vorher wollte Käthe den
[197]cercle intime noch einmal um ſich verſammeln
und ſo waren denn Wedell und ein junger Oſten
und ſelbſtverſtändlich auch Pitt und Serge zu ver¬
hältnißmäßig früher Stunde geladen wurden. Da¬
zu Käthe's beſonderer Liebling Balafré, der, bei
Mars la Tour, damals noch als „Halberſtädter“,
die große Attacke mitgeritten und wegen eines wahren
Prachthiebes ſchräg über Stirn und Backe ſeinen
Beinamen erhalten hatte.


Käthe ſaß zwiſchen Wedell und Balafré und
ſah nicht aus, als ob ſie Schlangenbads oder irgend
einer Badekur der Welt beſonders bedürftig ſei, ſie
hatte Farbe, lachte, that hundert Fragen und be¬
gnügte ſich, wenn der Gefragte zu ſprechen anhob,
mit einem Minimum von Antwort. Eigentlich
führte ſie das Wort und keiner nahm Anſtoß daran,
weil ſie die Kunſt des gefälligen Nichtſagens mit
einer wahren Meiſterſchaft übte. Balafré fragte,
wie ſie ſich ihr Leben in den Kurtagen denke?
Schlangenbad ſei nicht blos wegen ſeiner Heil¬
wunder, ſondern viel viel mehr noch wegen ſeiner
Langenweile berühmt und vier Wochen Bade-Lange¬
weile ſeien ſelbſt unter den günſtigſten Kurverhält¬
niſſen etwas viel.“


„O, lieber Balafré,“ ſagte Käthe, „Sie dürfen
mich nicht ängſtigen und würden es auch nicht,
wenn Sie wüßten, wie viel Botho für mich gethan
[198] hat. Er hat mir nämlich acht Bände Novellen als
freilich unterſte Schicht in den Koffer gelegt und
damit ſich meine Phantaſie nicht kurwidrig erhitze,
hat er gleich noch ein Buch über künſtliche Fiſch¬
zucht mitzugethan.“


Balafré lachte.


„Ja, Sie lachen, lieber Freund, und wiſſen doch
erſt die kleinere Hälfte, die Haupthälfte (Botho thut
nämlich nichts ohne Grund und Urſache) iſt ſeine
Motivirung. Es war natürlich blos Scherz, was
ich da vorhin von meiner mit Hilfe der Fiſchzuchts¬
broſchüre nicht zu ſchädigenden Phantaſie ſagte, das
Ernſte von der Sache lief darauf hinaus, ich müſſe
dergleichen, die Broſchüre nämlich, endlich leſen und
zwar aus Lokalpatriotismus, denn die Neumark,
unſere gemeinſame glückliche Heimath, ſei ſeit Jahr
und Tag ſchon die Brut- und Geburtsſtätte der
künſtlichen Fiſchzucht und wenn ich von dieſem
national-ökonomiſch ſo wichtigen neuen Ernährungs¬
faktor nichts wüßte, ſo dürft' ich mich jenſeits der
Oder im Landsberger Kreiſe gar nicht mehr ſehen
laſſen, am allerwenigſten aber in Berneuchen, bei
meinem Vetter Borne.“


Botho wollte das Wort nehmen, aber ſie ſchnitt
es ihm ab und fuhr fort: „Ich weiß, was Du
ſagen willſt und daß es wenigſtens mit den acht
Novellen nur ſo für alle Fälle ſei. Gewiß, gewiß,
[199] Du biſt immer ſo ſchrecklich vorſichtig. Aber ich
denke, „alle Fälle“ ſollen gar nicht kommen. Ich
hatte nämlich geſtern noch einen Brief von meiner
Schweſter Ine, die mir ſchrieb, Anna Grävenitz ſei
ſeit acht Tagen auch da. Sie kennen Sie ja, Wedell,
eine geborene Rohr, charmante Blondine, mit der
ich bei der alten Zülow in Penſion und ſogar in
derſelben Klaſſe war. Und ich entſinne mich noch,
wie wir unſern vergötterten Felix Bachmann ge¬
meinſchaftlich anſchwärmten und ſogar Verſe machten,
bis die gute alte Zülow ſagte, ſie verbäte ſich ſolchen
Unſinn. Und Elly Winterfeld, wie mir Ine ſchreibt,
käme wahrſcheinlich auch. Und nun ſag' ich mir,
in Geſellſchaft von zwei reizenden jungen Frauen
— und ich als Dritte, wenn auch mit den beiden
andern gar nicht zu vergleichen — in ſo guter Ge¬
ſellſchaft, ſag' ich, muß man doch am Ende leben
können. Nicht wahr, lieber Balafré?“


Dieſer verneigte ſich unter einem grotesken
Mienenſpiel, das in allem, nur nicht hinſichtlich
eines von ihr ſelbſt verſicherten Zurückſtehens gegen
irgend wen ſonſt in der Welt, ſeine Zuſtimmung
ausdrücken ſollte, nahm aber nichts deſto weniger
ſein urſprüngliches Examen wieder auf und ſagte:
„Wenn ich Details hören könnte, meine Gnädigſte!
Das Einzelne, ſo zu ſagen die Minute beſtimmt
[200] unſer Glück und Unglück. Und der Tag hat der
Minuten ſo viele,“


„Nun, ich denk' es mir ſo. Jeden Morgen
Briefe. Dann Promenaden-Konzert und Spazier¬
gang mit den zwei Damen, am liebſten in einer
verſchwiegenen Allee. Da ſetzen wir uns dann und
leſen uns die Briefe vor, die wir doch hoffentlich
erhalten werden, und lachen, wenn er zärtlich ſchreibt
und ſagen „ja, ja“. Und dann kommt das Bad
und nach dem Bade die Toilette, natürlich mit
Sorglichkeit und Liebe, was doch in Schlangenbad
nicht ununterhaltlicher ſein kann als in Berlin.
Eher das Gegentheil. Und dann gehen wir zu
Tiſch und haben einen alten General zur Rechten
und einen reichen Induſtriellen zur Linken und für
Induſtrielle hab' ich von Jugend an eine Paſſion
gehabt. Eine Paſſion, deren ich mich recht ſchäme.
Denn entweder haben ſie neue Panzerplatten er¬
funden oder unterſeeiſche Telegraphen gelegt oder
einen Tunnel gebohrt oder eine Kletter-Eiſenbahn
angelegt. Und dabei, was ich auch nicht verachte,
ſind ſie reich. Und nach Tiſche Leſezimmer und
Kaffee bei heruntergelaſſenen Jalouſieen, ſo daß
einem die Schatten und Lichter immer auf der
Zeitung umhertanzen. Und dann Spaziergang
Und vielleicht, wenn wir Glück haben, haben ſich
ſogar ein paar Frankfurter oder Mainzer Kavaliere
[201] herüber verirrt und reiten neben dem Wagen her
und das muß ich Ihnen ſagen, meine Herren, gegen
Huſaren, gleichviel ob roth oder blau, kommen Sie
nicht auf und von meinem militäriſchen Standpunkt
aus iſt und bleibt es ein entſchiedener Fehler, daß
man die Garde-Dragoner verdoppelt, aber die
Garde-Huſaren ſo zu ſagen einfach gelaſſen hat.
Und noch unbegreiflicher iſt es mir, daß man ſie
drüben läßt. So was Apartes gehört in die
Hauptſtadt.“


Botho, den das enorme Sprechtalent ſeiner
Frau zu geniren anfing, ſuchte durch kleine Schrau¬
bereien ihrer Schwatzhaftigkeit Einhalt zu thun.
Aber ſeine Gäſte waren viel unkritiſcher als er,
ja erheiterten ſich mehr denn je über die „reizende
kleine Frau“ und Balafré, der in Käthebewunderung
obenan ſtand, ſagte: „Rienäcker, wenn Sie noch
ein Wort gegen Ihre Frau ſagen, ſo ſind Sie des
Todes. Meine Gnädigſte, was dieſer Oger von
Ehemann nur überhaupt will? was er nur krittelt?
Ich weiß es nicht. Und am Ende muß ich gar
glauben, daß er ſich in ſeiner Schwerenkavallerie-
Ehre gekränkt fühlt und Pardon wegen der Wort¬
ſpielerei lediglich um ſeines Harniſch willen in
Harniſch geräth. Rienäcker, ich beſchwöre Sie!
Wenn ich ſolche Frau hätte wie Sie, ſo wäre mir
jede Laune Befehl, und wenn mich die Gnädigſte
[202] zum Huſaren machen wollte, nun ſo würd' ich
ſchlankweg Huſar und damit Baſta. Soviel aber
weiß ich gewiß und möchte Leben und Ehre darauf
verwetten, wenn Seine Majeſtät ſolche beredten
Worte hören könnte, ſo hätten die Garde-Huſaren
drüben keine ruhige Stunde mehr, lägen morgen
ſchon in Marſchquartier in Zehlendorf und rückten
übermorgen durchs Brandenburger Thor hier ein.
O dies Haus Sellenthin, das ich, die Gelegenheit
beim Schopf ergreifend, in dieſem erſten Toaſte zum
erſten, zum zweiten und zum dritten Male leben
laſſe! Warum haben Sie keine Schweſter mehr,
meine Gnädigſte? Warum hat ſich Fräulein Ine
bereits verlobt? Vor der Zeit und jedenfalls mir
zum Tort.“


Käthe war glücklich über derlei kleine Huldi¬
gungen und verſicherte, daß ſie, trotz Ine, die nun
freilich rettungslos für ihn verloren ſei, alles thun
wolle, was ſich thun laſſe, wiewohl ſie recht gut
wiſſe, daß er, als ein unverbeſſerlicher Junggeſelle,
nur blos ſo rede. Gleich danach aber ließ ſie die
Neckerei mit Balafré fallen und nahm das Reiſe¬
geſpräch wieder auf, am eingehendſten das Thema,
wie ſie ſich die Korreſpondenz eigentlich denke. Sie
hoffe, wie ſie nur wiederholen könne, jeden Tag
einen Brief zu empfangen, das ſei nun mal Pflicht
eines zärtlichen Gatten, werd' es aber ihrerſeits an
[203] ſich kommen laſſen und nur am erſten Tage von
Station zu Station ein Lebenszeichen geben. Dieſer
Vorſchlag fand Beifall, ſogar bei Rienäcker, und
wurde nur ſchließlich dahin abgeändert, daß ſie zwar
auf jeder Hauptſtation bis Köln hin, über das ſie
trotz des Umwegs ihre Route nahm, eine Karte
ſchreiben, alle ihre Karten aber, ſo viel oder ſo
wenig ihrer ſein möchten, in ein gemeinſchaftliches
Couvert ſtecken ſolle. Das habe dann den Vorzug,
daß ſie ſich ohne Furcht vor Poſtexpedienten und
Briefträgern über ihre Reiſegenoſſen in aller Un¬
genirtheit ausſprechen könne.


Nach dem Diner nahm man draußen auf dem
Balkon den Kaffee, bei welcher Gelegenheit ſich
Käthe, nachdem ſie ſich eine Weile geſträubt, in
ihrem Reiſecoſtüm: in Rembrandthut und Staub¬
mantel ſammt umgehängter Reiſetaſche präſentirte.
Sie ſah reizend aus. Balafré war entzückter denn
je und bat ſie, nicht allzu ſehr überraſcht ſein zu
wollen, wenn ſie ihn am andern Morgen, ängſtlich
in eine Kupee-Ecke gedrückt, als Reiſe-Cavalier vor¬
finden ſollte.


„Vorausgeſetzt, daß er Urlaub kriegt.“ lachte
Pitt.


„Oder deſertirt,“ ſetzte Serge hinzu, „was den
Huldigungsakt freilich erſt vollkommen machen
würde.“

[204]

So ging die Plauderei noch eine Weile. Dann
verabſchiedete man ſich bei den liebenswürdigen
Wirthen und kam überein, bis zur Lützowplatzbrücke
zuſammen zu bleiben. Hier aber theilte man ſich
in zwei Parteien und während Balafré ſammt
Wedell und Oſten am Kanal hin weiter ſchlenderten,
gingen Pitt und Serge, die noch zu Kroll wollten
auf den Thiergarten zu.


„Reizendes Geſchöpf, dieſe Käthe,“ ſagte Serge.
„Rienäcker wirkt etwas proſaiſch daneben und mit¬
unter ſieht er ſo ſauertöpfiſch und neunmalweiſe
drein, als ob er die kleine Frau, die bei Lichte be¬
ſehn eigentlich klüger iſt als er, vor aller Welt
entſchuldigen müſſe.“


Pitt ſchwieg.


„Und was ſie nur in Schwalbach oder Schlan¬
genbad ſoll?“ fuhr Serge fort. „Es hilft doch
nichts. Und wenn es hilft, iſt es meiſt eine ſehr
ſonderbare Hilfe.“


Pitt ſah ihn von der Seite her an. „Ich finde,
Serge, Du ruſſifizirſt Dich immer mehr oder was
daſſelbe ſagen will, wächſt Dich immer mehr in
Deinen Namen hinein.“


„Immer noch nicht genug. Aber Scherz bei
Seite, Freund, eines iſt Ernſt in der Sache:
Rienäcker ärgert mich. Was hat er gegen die
reizende kleine Frau. Weißt Du's?“

[205]

„Ja.“


„Nun?“


She is rather a little silly. Oder wenn
Du's deutſch hören willſt: ſie dalbert ein bischen.
Jedenfalls ihm zu viel.“

[[206]]

Neunzehntes Kapitel.

Käthe zog zwiſchen Berlin und Potsdam ſchon
die gelben Vorhänge vor ihr Kupeefenſter, um Schutz
gegen die beſtändig ſtärker werdende Blendung zu
haben, am Luiſenufer aber waren an demſelben Tage
keine Vorhänge herabgelaſſen und die Vormittags¬
ſonne ſchien hell in die Fenſter der Frau Nimptſch
und füllte die ganze Stube mit Licht. Nur der
Hintergrund lag im Schatten und hier ſtand ein
altmodiſches Bett mit hoch aufgethürmten und roth-
und weißkarrirten Kiſſen, an die Frau Nimptſch
ſich lehnte. Sie ſaß mehr als ſie lag, denn ſie
hatte Waſſer in der Bruſt und litt heftig an aſth¬
matiſchen Beſchwerden. Immer wieder wandte ſie
den Kopf nach dem einen offenſtehenden Fenſter,
aber doch noch häufiger nach dem Kaminofen, auf
deſſen Herdſtelle heute kein Feuer brannte.


[207]

Lene ſaß neben ihr, ihre Hand haltend, und als
ſie ſah, daß der Blick der Alten immer in derſelben
Richtung ging, ſagte ſie: „Soll ich ein Feuer machen,
Mutter? Ich dachte, weil Du liegſt und die Bett¬
wärme haſt und weil es ſo heiß iſt. . .“


Die Alte ſagte nichts, aber es kam Lenen doch
ſo vor, als ob ſie's wohl gern hätte. So ging ſie
denn hin und bückte ſich und machte ein Feuer.


Als ſie wieder an's Bett kam, lächelte die Alte
zufrieden und ſagte: „Ja, Lene, heiß iſt es. Aber
Du weißt ja, ich muß es immer ſehn. Und wenn
ich es nicht ſehe, dann denk' ich, es iſt alles aus
und kein Leben und kein Funke mehr. Und man
hat doch ſo ſeine Angſt hier . . .“


Und dabei wies ſie nach Bruſt und Herz.


„Ach, Mutter, Du denkſt immer gleich an Sterben.
Und iſt doch ſo oft ſchon vorüber gegangen.“


„Ja, Kind, oft is es vorüber gegangen, aber
mal kommt es und mit 70 da kann es jeden Tag
kommen. Weißt Du, mache das andere Fenſter auch
noch auf, dann is mehr Luft hier und das Feuer
brennt beſſer. Sieh doch blos, es will nicht mehr
recht, es raucht ſo . . .“


„Das macht die Sonne, die grade drauf ſteht...“


„Und dann gieb mir von den grünen Tropfen,
die mir die Dörr gebracht hat. Ein bischen hilft
es doch immer.“

[208]

Lene that wie geheißen und der Kranken, als
ſie die Tropfen genommen hatte, ſchien wirklich etwas
beſſer und leichter ums Herz zu werden. Sie ſtemmte
die Hand aufs Bett und ſchob ſich höher hinauf,
und als ihr Lene noch ein Kiſſen ins Kreuz geſtopft
hatte, ſagte ſie: „War Franke ſchon hier?“


„Ja; gleich heute früh. Er fragt immer, eh'
er in die Fabrik geht.“


„Is ein ſehr guter Mann.“


„Ja, das iſt er.“


„Und mit das Conventikelſche . . .“


„. . . Wird es ſo ſchlimm nicht ſein. Und ich
glaube beinah, daß er ſeine guten Grundſätze da
her hat. Glaubſt Du nicht auch?“


Die Alte lächelte. „Nein, Lene, die kommen vom
lieben Gott. Und der eine hat ſie un der andre
hat ſie nicht. Ich glaube nich recht ans lernen un
erziehen . . . Und hat er noch nichts geſagt?“


„Ja, geſtern Abend.“


„Un was haſt Du ihm geantwortet?“


„Ich hab' ihm geantwortet, daß ich ihn nehmen
wolle, weil ich ihn für einen ehrlichen und zuver¬
läſſigen Mann hielte, der nicht blos für mich, ſondern
auch für Dich ſorgen würde ...“


Die Alte nickte zuſtimmend.


„Und,“ fuhr Lene fort „als ich das ſo geſagt
hatte, nahm er meine Hand und rief in guter Laune:
[209] „Na, Lene, denn alſo abgemacht!“ Ich aber ſchüttelte
den Kopf und ſagte, daß das ſo ſchnell nicht ginge,
denn ich hätt ihm noch was zu bekennen. Und als
er fragte was, erzählt' ich ihm, ich hätte zweimal
ein Verhältniß gehabt: erſt . . . na, Du weißt ja,
Mutter . . . und den erſten hätt' ich ganz gern ge¬
habt und den andern hätt' ich ſehr geliebt und mein
Herz hinge noch an ihm. Aber er ſei jetzt glücklich
verheirathet und ich hätt' ihn nie wiedergeſehen,
außer ein einzig Mal, und ich wollt' ihn auch nicht
wiederſehn. Ihm aber, der es ſo gut mit uns
meine, hätt' ich das alles ſagen müſſen, weil ich
keinen und am wenigſten ihn hintergehen wolle . . .“


„Jott, Jott,“ weimerte die Alte dazwiſchen.


„. . . Und gleich danach iſt er aufgeſtanden und
in ſeine Wohnung 'rüber gegangen. Aber er war
nicht böſe, was ich ganz deutlich ſehen konnte. Nur
litt er's nicht, als ich ihn, wie ſonſt, bis an die
Flurthür bringen wollte.“


Frau Nimptſch war erſichtlich in Angſt und Un¬
ruhe, wobei ſich freilich nicht recht erkennen ließ,
ob es um des eben Gehörten willen oder aus Athem¬
noth war. Es ſchien aber faſt das Letztre, denn
mit einem Male ſagte ſie: „Lene, Kind, ich liege
nicht hoch genug. Du mußt mir noch das Geſang¬
buch unterlegen.“


Lene widerſprach nicht, ging vielmehr und holte
Fontane, Irrungen. 14[210] das Geſangbuch. Als ſie's aber brachte, ſagte die
Alte: „Nein, nich das, das iſt das neue. Das
alte will ich, das dicke mit den zwei Klappen.“ Und
erſt als Lene mit dem dicken Geſangbuche wieder
da war, fuhr die Alte fort: „Das hab' ich meiner
Mutter ſelig auch holen müſſen und war noch ein
halbes Kind damals und meine Mutter noch keine
fuffzig und ſaß ihr auch hier und konnte keine Luft
kriegen und die großen Angſtaugen kuckten mich
immer ſo an. Als ich ihr aber das Porſt'ſche, das
ſie bei der Einſegnung gehabt, unterſchob, da wurde
ſie ganz ſtill und iſt ruhig eingeſchlafen. Und das
möcht' ich auch. Ach, Lene. Der Tod iſt es nich . . .
Aber das Sterben . . . So, ſo. Ah, das hilft.”


Lene weinte ſtill vor ſich hin und weil ſie nun
wohl ſah, daß der guten alten Frau letzte Stunde
nahe ſei, ſchickte ſie zu Frau Dörr und ließ ſagen,
„es ſtehe ſchlecht und ob Frau Dörr nicht kommen
wolle“. Die ließ denn auch zurück ſagen, „ja, ſie
werde kommen . . .“, und um die ſechſte Stunde kam
ſie wirklich mit Lärm und Trara, weil Leiſeſein,
auch bei Kranken, nicht ihre Sache war. Sie ſtappſte
nur ſo durch die Stube hin, daß alles ſchütterte
und klirrte, was auf und neben dem Herde lag,
und dabei verklagte ſie Dörr, der immer grad' in
der Stadt ſei, wenn er mal zu Hauſe ſein ſolle,
und immer zu Hauſe wär', wenn ſie ihn zum Kuckuck
[211] wünſche. Dabei hatte ſie der Kranken die Hand
gedrückt und Lene gefragt, „ob ſie denn auch tüchtig
von den Tropfen eingegeben habe?“


„Ja.“


„Wie viel denn?“


„Fünf . . . fünf alle zwei Stunden.“


Das ſei zu wenig, hatte die Dörr darauf
verſichert und unter Auskramung ihrer geſammten
mediziniſchen Kenntniß hinzugeſetzt: „ſie habe die
Tropfen 14 Tage lang in der Sonne ziehn laſſen
und wenn man ſie richtig einnehme, ſo ginge das
Waſſer weg wie mit 'ner Plumpe. Der alte Selke
drüben im Zoologiſchen ſei ſchon wie 'ne Tonne
geweſen und habe ſchon ein Vierteljahr lang keinen
Bettzippel mehr geſehn, immer aufrecht in'n Stuhl
un alle Fenſter weit aufgeriſſen, als er aber vier
Tage lang die Tropfen genommen, ſei's geweſen,
wie wenn man auf eine Schweinsblaſe drücke: haſt
Du nich geſehn, alles 'raus un wieder lapp un
ſchlapp.“


Unter dieſen Worten hatte die robuſte Frau der
alten Nimptſch eine doppelte Portion von ihrem
Fingerhut eingezwungen.


Lene, die bei dieſer energiſchen Hilfe von einer
doppelten und nur zu berechtigten Angſt befallen
wurde, nahm ihr Tuch und ſchickte ſich an, einen
14*[212] Arzt zu holen. Und die Dörr, die ſonſt immer
gegen die Doktors war, hatte diesmal nichts dagegen.


„Geh,“ ſagte ſie, „ſie kann's nicht lange mehr
machen. Kuck' blos mal hier (und ſie wies auf die
Naſenflügel), da ſitzt der Dod.“


Lene ging; aber ſie konnte den Michaelkirchplatz
noch kaum erreicht haben, als die bis dahin in einem
Halbſchlummer gelegene Alte ſich aufrichtete und
nach ihr rief: „Lene ...“


„Lene is nich da.“


„Wer is denn da?“


„Ich, Mutter Nimptſch. Ich, Frau Dörr.“


„Ach, Frau Dörr, das is recht. So, hierher;
hier auf die Hutſche.“


Frau Dörr, gar nicht gewöhnt, ſich kommandiren
zu laſſen, ſchüttelte ſich ein wenig, war aber doch
zu gutmüthig, um dem Kommando nicht nachzu¬
kommen. Und ſo ſetzte ſie ſich denn auf die Fu߬
bank.


Und ſieh da, im ſelben Augenblick begann auch
die alte Frau ſchon: „Ich will einen gelben Sarg
haben un blauen Beſchlag. Aber nich zu viel . . .“


„Gut, Frau Nimptſch.“


„Un ich will auf'n neuen Jakobikirchhof liegen,
hinter'n Rollkrug un ganz weit weg nach Britz zu.“


„Gut, Frau Nimptſch.“


„Und geſpart hab' ich alles dazu, ſchon vordem,
[213] als ich noch ſparen konnte. Un es liegt in der
oberſten Schublade. Un da liegt auch das Hemd
un das Kamiſol und ein Paar weiße Strümpfe mit
N. Und dazwiſchen liegt es.“


„Gut, Frau Nimptſch. Es ſoll alles geſchehn,
wie Sie geſagt haben. Und is ſonſt noch was?“


Aber die Alte ſchien von Frau Dörr's Frage
nichts mehr gehört zu haben und ohne Antwort zu
geben, faltete ſie blos die Hände, ſah mit einem
frommen und freundlichen Ausdruck zur Decke hin¬
auf und betete: „Lieber Gott im Himmel, nimm ſie
in Deinen Schutz und vergilt ihr alles, was ſie mir
alten Frau gethan hat.“


„Ah, die Lene,“ ſagte Frau Dörr vor ſich hin
und ſetzte dann hinzu: „Das wird der liebe Gott
auch, Frau Nimptſch, den kenn' ich und habe noch
keine verkommen ſehn, die ſo war wie die Lene und
ſolch' Herz und ſolche Hand hatte.“


Die Alte nickte und ein freundlich Bild ſtand
ſichtlich vor ihrer Seele.


So vergingen Minuten und als Lene zurückkam
und vom Flur her an die Korridorthür klopfte,
ſaß Frau Dörr noch immer auf der Fußbank und
hielt die Hand ihrer alten Freundin. Und jetzt erſt
wo ſie das Klopfen draußen hörte, ließ ſie die Hand
los und ſtand auf und öffnete.


[214]

Lene war noch außer Athem. „Er iſt gleich
hier... er wird gleich kommen.“


Aber die Dörr ſagte nur: „Jott, die Doktors“
und wies auf die Todte.

[[215]]

Zwanzigſtes Kapitel.

Käthe's erſter Reiſebrief war in Köln auf die
Poſt gegeben und traf, wie verſprochen, am andern
Morgen in Berlin ein. Die gleich mitgegebene
Adreſſe rührte noch von Botho her, der jetzt,
lächelnd und in guter Laune, den ſich etwas feſt
anfühlenden Brief in Händen hielt. Wirklich,
es waren drei mit blaſſem Bleiſtift und auf beiden
Seiten beſchriebene Karten in das Kuvert geſteckt
worden, alle ſchwer lesbar, ſo daß Rienäcker auf
den Balkon hinaustrat, um das undeutliche Gekritzel
beſſer entziffern zu können.


„Nun laß ſehn, Käthe.“


Und er las:


Brandenburg a. H., 8 Uhr früh. Der
Zug, mein lieber Botho, hält hier nur 3 Minuten,
aber ſie ſollen nicht ungenutzt vorüber gehen,
[216] nöthigen Falles ſchreib' ich unterwegs im Fahren
weiter, ſo gut oder ſo ſchlecht es geht. Ich reiſe
mit einer jungen, ſehr reizenden Banquierfrau,
Madame Salinger, geb. Saling, aus Wien. Als
ich mich über die Namensähnlichkeit wunderte, ſagte
ſie: „Joa, ſchaun's, i hoab halt mei Comp'rativ
g'heirath't.“ Sie ſpricht in einem fort dergleichen
und geht trotz einer zehnjährigen Tochter (blond; die
Mutter brünett) ebenfalls nach Schlangenbad. Und
auch über Köln und auch, wie ich, eines dort
abzuſtattenden Beſuches halber. Das Kind iſt gut
geartet, aber nicht gut erzogen und hat mir bei dem
beſtändigen Umherklettern im Kupee bereits meinen
Sonnenſchirm zerbrochen, was die Mutter ſehr in
Verlegenheit brachte. Auf dem Bahnhofe, wo wir
eben halten, d. h. in dieſem Augenblicke ſetzt ſich der
Zug ſchon wieder in Bewegung, wimmelt es von
Militär, darunter auch Brandenburger Küraſſiere
mit einem quittgelben Namenszug auf der Achſel¬
klappe; wahrſcheinlich Nicolaus. Es macht ſich ſehr
gut. Auch Füſiliere waren da, 35er, kleine Leute,
die mir doch kleiner vorkamen als nöthig, obſchon
Onkel Oſten immer zu ſagen pflegte: der beſte
Füſilier ſei der, der nur mit bewaffnetem Auge
geſehen werden könne. Doch ich ſchließe. Die
Kleine (leider) rennt nach wie vor von einem
Kupeefenſter zum andern und erſchwert mir das
[217] Schreiben. Und dabei naſcht ſie beſtändig Kuchen,
kleine mit Kirſchen und Piſtazien belegte Torten¬
ſtücke. Schon zwiſchen Potsdam und Werder fing
ſie damit an. Die Mutter iſt doch zu ſchwach.
Ich würde ſtrenger ſein.“


Botho legte die Karte bei Seit' und überflog,
ſo gut es ging, die zweite. Sie lautete:


Hannover, 12 Uhr 30 Minuten. In Magde¬
burg war Goltz am Bahnhofe und ſagte mir, Du
hätteſt ihm geſchrieben, ich käme. Wie gut und lieb
wieder von Dir. Du biſt doch immer der Beſte,
der Aufmerkſamſte. Goltz hat jetzt die Vermeſſungen
am Harz, d. h. am 1. Juli fängt er an. — Der
Aufenthalt hier in Hannover währt eine Viertel¬
ſtunde, was ich benutzt habe, mir den unmittelbar
am Bahnhofe gelegenen Platz anzuſehen: lauter erſt
unter unſerer Herrſchaft entſtandene Hotels und Bier-
Etabliſſements, von denen eines ganz im gothiſchen
Stile gebaut iſt. Die Hannoveraner, wie mir ein
Mitreiſender erzählte, nennen es die „preußiſche
Bierkirche“, blos aus welfiſchem Antagonismus.
Wie ſchmerzlich dergleichen! Die Zeit wird aber
auch hier vieles mildern. Das walte Gott. —
Die Kleine knabbert in einem fort weiter, was mich
zu beunruhigen anfängt. Wohin ſoll das führen?
Die Mutter aber iſt wirklich reizend und hat mir
ſchon alles erzählt. Sie war auch in Würzburg,
[218] bei Scanzoni, für den ſie ſchwärmt. Ihr Vertrauen
gegen mich iſt beſchämend und beinahe peinlich. Im
Uebrigen iſt ſie, wie ich nur wiederholen kann,
durchaus comme il faut. Um Dir blos eines zu
nennen, welch' Reiſeneceſſaire! Die Wiener ſind uns
in ſolchen Dingen doch ſehr überlegen; man merkt
die ältere Kultur.“


„Wundervoll,“ lachte Botho. „Wenn Käthe
kulturhiſtoriſche Betrachtungen anſtellt, übertrifft ſie
ſich ſelbſt. Aber aller guten Dinge ſind drei. Laß ſehn.“


Und dabei nahm er die dritte Karte.


Köln, 8 Uhr Abends. Kommandantur. Ich
will meine Karten doch lieber noch hier zur Poſt
geben und nicht bis Schlangenbad warten, wo Frau
Salinger und ich morgen Mittag einzutreffen ge¬
denken. Mir geht es gut. Schroffenſteins ſehr
liebenswürdig; beſonders er. Uebrigens, um nichts
zu vergeſſen, Frau Salinger wurde durch Oppenheim's
Equipage vom Bahnhofe abgeholt. Unſere Fahrt,
anfangs ſo reizvoll, geſtaltete ſich von Hamm aus
einigermaßen beſchwerlich und unſchön. Die Kleine
litt ſchwer und leider durch Schuld der Mutter.
„Was möchteſt Du noch,“ fragte ſie, nachdem unſer
Zug eben den Bahnhof Hamm paſſirt hatte, worauf
das Kind antwortete: „Drops.“ Und erſt von
dem Augenblicke an wurd' es ſo ſchlimm . . Ach,
[l]ieber Botho, jung oder alt, unſere Wünſche
[219] bedürfen doch beſtändig einer ſtrengen und ge¬
wiſſenhaften Kontrolle. Dieſer Gedanke beſchäftigt
mich ſeitdem unausgeſetzt und die Begegnung mit
dieſer liebenswürdigen Frau war vielleicht kein
Zufall in meinem Leben. Wie oft habe ich Kluck¬
huhn in dieſem Sinne ſprechen hören. Und er hat
Recht. Morgen mehr. Deine Käthe.“


Botho ſchob die drei Karten wieder ins Kuvert und
ſagte: „Ganz Käthe. Welch' Talent für die
Plauderei! Und ich könnte mich eigentlich freuen,
daß ſie ſo ſchreibt, wie ſie ſchreibt. Aber es fehlt
etwas. Es iſt alles ſo angeflogen, ſo bloßes
Geſellſchaftsecho. Aber ſie wird ſich ändern, wenn
ſie Pflichten hat. Oder doch vielleicht. Jedenfalls
will ich die Hoffnung darauf nicht aufgeben.“


Am Tage danach kam ein kurzer Brief aus
Schlangenbad, in dem viel, viel weniger ſtand als
auf den drei Karten, und von dieſem Tage an
ſchrieb ſie nur alle halbe Woche noch und plauderte
von Anna Grävenitz und der wirklich auch noch
erſchienenen Elly Winterfeld, am meiſten aber von
Madame Salinger und der reizenden kleinen Sarah.
Es waren immer dieſelben Verſicherungen und nur
am Schluſſe der dritten Woche hieß es einigermaßen
abweichend: „Ich finde jetzt die Kleine reizender
als die Mutter. Dieſe gefällt ſich in einem
Toilettenluxus, den ich kaum paſſend finden kann
[220] um ſo weniger, als eigentlich keine Herren hier ſind.
Auch ſeh' ich jetzt, daß ſie Farbe auflegt und na¬
mentlich die Augenbrauen malt und vielleicht auch
die Lippen, denn ſie ſind kirſchroth. Das Kind
aber iſt ſehr natürlich. Immer wenn ſie mich ſieht,
ſtürzt ſie mit Vehemenz auf mich zu und küßt mir
die Hand und entſchuldigt ſich zum hundertſten
Male wegen der Drops, „aber die Mama ſei
Schuld“, worin ich dem Kinde nur zuſtimmen kann.
Und doch muß andererſeits ein geheimnißvoll
naſchiger Zug in Sarah's Natur liegen, ich möchte
beinahe ſagen, etwas wie Erbſünde (glaubſt Du
daran? ich glaube daran, mein lieber Botho), denn
ſie kann von den Süßigkeiten nicht laſſen und kauft
ſich in einem fort Oblaten, nicht Berliner, die wie
Schaumkringel ſchmecken, ſondern Karlsbader mit
eingeſtreutem Zucker. Aber nichts mehr ſchriftlich
davon. Wenn ich Dich wiederſehe, was ſehr bald
ſein kann — denn ich möchte gern mit Anna
Grävenitz zuſammen reiſen, man iſt doch ſo mehr
unter ſich — ſprechen wir darüber und über vieles
andere noch. Ach, wie freu' ich mich, Dich wieder¬
ſehn und mit Dir auf dem Balkon ſitzen zu können.
Es iſt doch am ſchönſten in Berlin, und wenn
dann die Sonne ſo hinter Charlottenburg und dem
Grunewald ſteht, und man ſo träumt und ſo müde
wird, o, wie herrlich iſt das! Nicht wahr! Und
[221] weißt Du wohl, was Frau Salinger geſtern zu mir
ſagte? „Ich ſei noch blonder geworden,“ ſagte ſie.
Nun, du wirſt ja ſeh'n. Wie immer Deine Käthe.“

Rienäcker nickte mit dem Kopf und lächelte.
„Reizende, kleine Frau. Von ihrer Kur ſchreibt ſie
nichts; ich wette, ſie fährt ſpazieren und hat noch
keine zehn Bäder genommen.“ Und nach dieſem
Selbſtgeſpräche gab er dem eben eintretenden
Burſchen einige Weiſungen und ging, durch Thier¬
garten und Brandenburger Thor, erſt die Linden
hinunter und dann auf die Kaſerne zu, wo der
Dienſt ihn bis Mittag in Anſpruch nahm.


Als er bald nach 12 Uhr wieder zu Hauſe war
und ſich's, nach eingenommenem Imbiß, eben ein
wenig bequem machen wollte, meldete der Burſche,
„daß ein Herr . . ein Mann (er ſchwankte, in der
Titulatur) draußen ſei, der den Herrn Baron zu
ſprechen wünſche.“


„Wer?“


„Gideon Franke . . Er ſagte ſo.“


„Franke? Sonderbar. Nie gehört. Laß ihn
eintreten.“


Der Burſche ging wieder, während Botho
wiederholte: „Franke . . . Gideon Franke . . . Nie
gehört. Kenn' ich nicht.“


Einen Augenblick ſpäter trat der Angemeldete
[222] ein und verbeugte ſich von der Thür her etwas
ſteif. Er trug einen bis oben hin zugeknöpften
ſchwarzbraunen Rock, übermäßig blanke Stiefel und
blankes ſchwarzes Haar, das an beiden Schläfen
dicht anlag. Dazu ſchwarze Handſchuh und hohe
Vatermörder von untadliger Weiße.


Botho ging ihm mit der ihm eigenen chevale¬
resken Artigkeit entgegen und ſagte: „Herr Franke?“


Dieſer nickte.


„Womit kann ich dienen? Darf ich Sie bitten,
Platz zu nehmen . . Hier . . Oder vielleicht hier.
Polſterſtühle ſind immer unbequem.“


Franke lächelte zuſtimmend und ſetzte ſich auf
einen Rohrſtuhl, auf den Rienäcker hingewieſen hatte.


„Womit kann ich dienen?“ wiederholte Rienäcker.


„Ich komme mit einer Frage, Herr Baron.“


„Die mir zu beantworten eine Freude ſein
wird, vorausgeſetzt, daß ich ſie beantworten kann.“


„O, niemand beſſer als Sie, Herr von Rienäcker.
. . . Ich komme nämlich wegen der Lene Nimptſch.“


Botho fuhr zurück.


„ . . Und möchte,“ fuhr Franke fort „gleich
hinzuſetzen dürfen, daß es nichts Genirliches iſt,
was mich herführt. Alles, was ich zu ſagen oder,
wenn Sie's geſtatten, Herr Baron, zu fragen habe,
wird Ihnen und Ihrem Hauſe keine Verlegenheiten
ſchaffen. Ich weiß auch von der Abreiſe der
[223] gnädigen Frau, der Frau Baronin, und habe mit
allem Vorbedacht auf Ihr Alleinſein gewartet, oder
wenn ich ſo ſagen darf, auf Ihre Strohwittwertage.“


Botho hörte mit feinem Ohre heraus, daß der,
der da ſprach, trotz ſeines ſpießbürgerlichen Aufzuges
ein Mann von Freimuth und untadeliger Geſinnung
ſei. Das half ihm raſch aus ſeiner Verwirrung
heraus und er hatte Haltung und Ruhe ziemlich
wieder gewonnen, als er über den Tiſch hin fragte:
„Sie ſind ein Anverwandter Lenens? Verzeihung,
Herr Franke, daß ich meine alte Freundin bei
dieſem alten mir ſo lieben Namen nenne.“


Franke verbeugte ſich und erwiderte: „Nein,
Herr Baron, kein Verwandter; ich habe nicht dieſe
Legitimation. Aber meine Legitimation iſt vielleicht
keine ſchlechtere: ich kenne die Lene ſeit Jahr und
Tag und habe die Abſicht, ſie zu heirathen. Sie
hat auch zugeſagt, aber mir bei der Gelegenheit
auch von ihrem Vorleben erzählt und dabei mit ſo
großer Liebe von Ihnen geſprochen, daß es mir auf
der Stelle feſtſtand, Sie ſelbſt, Herr Baron, offen
und unumwunden fragen zu wollen, was es mit der
Lene eigentlich ſei. Worin Lene ſelbſt, als ich ihr
von meiner Abſicht erzählte, mich mit ſichtlicher
Freude beſtärkte, freilich gleich hinzuſetzend: ich ſolle
es lieber nicht thun, denn Sie würden zu gut von
ihr ſprechen.“

[224]

Botho ſah vor ſich hin und hatte Mühe, die
Bewegung ſeines Herzens zu bezwingen. Endlich
aber war er wieder Herr ſeiner ſelbſt und ſagte:
„Sie ſind ein ordentlicher Mann, Herr Franke,
der das Glück der Lene will, ſo viel hör' und ſeh'
ich, und das giebt Ihnen ein gutes Recht auf
Antwort. Was ich Ihnen zu ſagen habe, darüber
iſt mir kein Zweifel, und ich ſchwanke nur noch
wie. Das Beſte wird ſein, ich erzähl' Ihnen,
wie's kam und weiter ging und dann abſchloß.“


Franke verbeugte ſich abermals, zum Zeichen,
daß er auch ſeinerſeits dies für das Beſte halte.


„Nun denn,“ hob Rienäcker an, „es geht jetzt
ins dritte Jahr oder iſt auch ſchon ein paar Monate
darüber, daß ich bei Gelegenheit einer Kahnfahrt
um die Treptower Liebesinſel herum in die Lage
kam, zwei jungen Mädchen einen Dienſt zu leiſten
und ſie vor dem Kentern ihres Bootes zu bewahren.
Eins der beiden Mädchen war die Lene und an der
Art, wie ſie dankte, ſah ich gleich, daß ſie anders
war als andere. Von Redensarten keine Spur,
auch ſpäter nicht, was ich gleich hier hervorheben
möchte. Denn ſo heiter und mitunter beinahe
ausgelaſſen ſie ſein kann, von Natur iſt ſie
nachdenklich, ernſt und einfach.“


Botho ſchob mechaniſch das noch auf dem Tiſche
ſtehende Tablett bei Seite, ſtrich die Decke glatt und
[225] fuhr dann fort: „Ich bat ſie, ſie nach Hauſe be¬
gleiten zu dürfen, und ſie nahm es ohne Weiteres
an, was mich damals einen Augenblick überraſchte.
Denn ich kannte ſie noch nicht. Aber ich ſah ſehr
bald, woran es lag; ſie hatte ſich von Jugend an
daran gewöhnt, nach ihren eigenen Entſchlüſſen zu
handeln, ohne viel Rückſicht auf die Menſchen und
jedenfalls ohne Furcht vor ihrem Urtheil.“


Franke nickte.


„So machten wir denn den weiten Weg und ich
begleitete ſie nach Haus und war entzückt von Allem,
was ich da ſah, von der alten Frau, von dem Herd,
an dem ſie ſaß, von dem Garten, darin das Haus
lag, und von der Abgeſchiedenheit und Stille. Nach
einer Viertelſtunde ging ich wieder, und als ich mich
draußen am Gartengitter von der Lene verabſchiedete,
frug ich, „ob ich wiederkommen dürfe,“ welche Frage
ſie mit einem einfachen „ja“ beantwortete. Nichts
von falſcher Scham, aber noch weniger von Unweib¬
lichkeit. Umgekehrt, es lag etwas Rührendes in
ihrem Weſen und ihrer Stimme.“


Rienäcker, als das alles wieder vor ſeine Seele
trat, ſtand in ſichtlicher Erregung auf und öffnete
beide Flügel der Balkonthür, als ob es ihm in
ſeinem Zimmer zu heiß werde. Dann, auf und ab
ſchreitend, fuhr er in einem raſcheren Tempo fort
„Ich habe kaum noch etwas hinzuzuſetzen. Das war
Fontane, Irrungen. 15[226] um Oſtern und wir hatten einen Sommer lang
allerglücklichſte Tage. Soll ich davon erzählen?
Nein. Und dann kam das Leben mit ſeinem Ernſt
und ſeinen Anſprüchen. Und das war es, was uns
trennte.“


Botho hatte mittlerweile ſeinen Platz wieder
eingenommen und der all die Zeit über mit Glatt¬
ſtreichung ſeines Hutes beſchäftigte Franke ſagte
ruhig vor ſich hin: „Ja, ſo hat ſie mir's auch
erzählt.“


„Was nicht anders ſein kann, Herr Franke.
Denn die Lene — und ich freue mich von ganzem
Herzen, auch gerade das noch ſagen zu können —
die Lene lügt nicht und biſſe ſich eher die Zunge
ab, als daß ſie flunkerte. Sie hat einen doppelten
Stolz und neben dem, von ihrer Hände Arbeit leben
zu wollen, hat ſie noch den andern, alles grad
heraus zu ſagen und keine Flauſen zu machen und
nichts zu vergrößern und nichts zu verkleinern. „Ich
brauche es nicht und ich will es nicht,“ das hab'
ich ſie viele Male ſagen hören. Ja, ſie hat ihren
eigenen Willen, vielleicht etwas mehr, als recht iſt,
und wer ſie tadeln will, kann ihr vorwerfen, eigen¬
willig zu ſein. Aber ſie will nur, was ſie glaubt
verantworten zu können und wohl auch wirklich
verantworten kann, und ſolch' Wille, mein' ich, iſt
doch mehr Charakter als Selbſtgerechtigkeit. Sie
[227] nicken und ich ſehe daraus, daß wir einerlei Meinung
ſind, was mich aufrichtig freut. Und nun noch ein
Schlußwort, Herr Franke. Was zurückliegt, liegt
zurück. Können Sie darüber nicht hin, ſo muß ich
das reſpektiren. Aber können Sie's, ſo ſag' ich
Ihnen, Sie kriegen da eine ſelten gute Frau. Denn
ſie hat das Herz auf dem rechten Fleck und ein
ſtarkes Gefühl für Pflicht und Recht und Ordnung.“


„So hab ich Lenen auch immer gefunden und
ich verſpreche mir von ihr, ganz ſo wie der Herr
Baron ſagen, eine ſelten gute Frau. Ja, der Menſch
ſoll die Gebote halten, alle ſoll er ſie halten, aber
es iſt doch ein Unterſchied, je nachdem die Gebote
ſind, und wer das eine nicht hält, der kann immer
noch was taugen, wer aber das andere nicht hält
und wenn's auch im Katechismus dicht daneben
ſtünde, der taugt nichts und iſt verworfen, von An¬
fang an und ſteht außerhalb der Gnade.“


Botho ſah ihn verwundert an und wußte ſicht¬
lich nicht, was er aus dieſer feierlichen Anſprache
machen ſollte. Gideon Franke aber, der nun auch
ſeinerſeits im Gange war, hatte kein Auge mehr für
den Eindruck, den ſeine ganz auf eigenem Boden
gewachſenen Anſchauungen hervorbrachten, und fuhr
deshalb in einem immer predigerhafter werdenden
Tone fort: „Und wer in ſeines Fleiſches Schwäche
gegen das ſechſte verſtößt, dem kann verziehen
15*[228] werden, wenn er in gutem Wandel und in der Reue
ſteht, wer aber gegen das ſiebente verſtößt, der
ſteckt nicht blos in des Fleiſches Schwäche, der ſteckt
[in] der Seele Niedrigkeit und wer lügt und trügt
oder verleumdet und falſch Zeugniß redet, der iſt
von Grund aus verdorben und aus der Finſterniß
geboren und iſt keine Rettung mehr und gleicht
einem Felde, darinnen die Neſſeln ſo tief liegen,
daß das Unkraut immer wieder aufſchießt, ſo viel
gutes Korn auch geſäet werden mag. Und darauf
leb' ich und ſterb' ich und hab' es durch alle Tage
hin erfahren. Ja, Herr Baron, auf die Proppertät
kommt es an und auf die Honnettität kommt es an
und auf die Reellität. Und auch im Eheſtande.
Denn ehrlich währt am längſten und Wort und
Verlaß muß ſein. Aber was geweſen iſt, das iſt
geweſen, das gehört vor Gott. Und denk' ich anders
darüber, was ich auch reſpektire, gerade ſo wie der
Herr Baron, ſo muß ich davon bleiben und mit
meiner Neigung und Liebe gar nicht erſt anfangen.
Ich war lange drüben in den States und wenn
auch drüben, gerade ſo wie hier, nicht alles Gold
iſt was glänzt, das iſt doch wahr, man lernt drüben
anders ſehen und nicht immer durch's ſelbe Glas.
Und lernt auch, daß es viele Heilswege giebt und
viele Glückswege. Ja, Herr Baron, es giebt viele
Wege, die zu Gott führen, und es giebt viele
[229] Wege, die zu Glück führen, deſſen bin ich in
meinem Herzen gleicherweiſe gewiß. Und der eine
Weg iſt gut und der andre Weg iſt gut. Aber
jeder gute Weg muß ein offner Weg und ein ge¬
rader Weg ſein und in der Sonne liegen und ohne
Moraſt und ohne Sumpf und ohne Irrlicht. Auf
die Wahrheit kommt es an und auf die Zuverläſſig¬
keit kommt es an und auf die Ehrlichkeit.“


Franke hatte ſich bei dieſen Worten erhoben
und Botho, der ihm artig bis an die Thür hin
folgte, gab ihm hier die Hand.


„Und nun, Herr Franke, bitt' ich zum Abſchied
noch um das Eine: grüßen Sie mir die Frau Dörr,
wenn Sie ſie ſehn und der alte Verkehr mit ihr
noch andauert, und vor allem grüßen Sie mir die
gute alte Frau Nimptſch. Hat ſie denn noch ihre
Gicht und ihre „Wehdage“, worüber ſie ſonſt be¬
ſtändig klagte?“


„Damit iſt es vorbei.“


„Wie das?“ fragte Botho.


„Wir haben ſie vor drei Wochen ſchon begraben,
Herr Baron. Gerade heut vor drei Wochen.“


„Begraben?“ wiederholte Botho. „Und wo?“


„Draußen hinterm Rollkrug, auf dem neuen
Jakobi-Kirchhof . . . Eine gute alte Frau. Und wie
ſie an der Lene hing. Ja, Herr Baron, die Mutter
Nimptſch iſt todt. Aber Frau Dörr, die lebt noch
[230] (und er lachte), die lebt noch lange. Und wenn
ſie kommt, ein weiter Weg iſt es, dann werd' ich
ſie grüßen. Und ich ſehe ſchon, wie ſie ſich freut.
Sie kennen ſie ja, Herr Baron. Ja, ja, die Frau
Dörr...“


Und Gideon Franke zog noch einmal ſeinen Hut
und die Thür fiel ins Schloß.

[[231]]

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Rienäcker, als er wieder allein war, war von
dieſer Begegnung und vor allem von dem, was er
zuletzt gehört, wie benommen. Wenn er ſich, in der
zwiſchenliegenden Zeit, des kleinen Gärtnerhauſes
und ſeiner Inſaſſen erinnert hatte, ſo hatte ſich ihm
ſelbſtverſtändlich alles ſo vor die Seele geſtellt, wie's
einſt geweſen war, und nun war alles anders und
er hatte ſich in einer ganz neuen Welt zurechtzu¬
finden: in dem Häuschen wohnten Fremde, wenn es
überhaupt noch bewohnt war, auf dem Herde brannte
kein Feuer mehr, wenigſtens nicht tagaus tagein,
und Frau Nimptſch, die das Feuer gehütet hatte,
war todt und lag draußen auf dem Jakobikirchhof.
Alles das ging in ihm um und mit einem Male
ſtand auch der Tag wieder vor ihm, an dem er der
alten Frau, halb humoriſtiſch, halb feierlich, ver¬
[232] ſprochen hatte, ihr einen Immortellenkranz aufs
Grab zu legen. In der Unruhe, darin er ſich be¬
a nd, war es ihm ſchon eine Freude, daß ihm das
Verſprechen wieder einfiel und ſo beſchloß er denn
die damalige Zuſage ſofort wahr zu machen. „Roll¬
krug und Mittag und pralle Sonne, — die reine
Reiſe nach Mittelafrika. Aber die gute Alte ſoll
ihren Kranz haben.“


Und gleich danach nahm er Degen und Mütze
und machte ſich auf den Weg.


An der Ecke war ein Droſchkenſtand, freilich nur
ein kleiner, und ſo kam es, daß trotz der Inſchrift¬
tafel: „Halteplatz für drei Droſchken“ immer nur
der Platz und höchſt ſelten eine Droſchke da war.
So war es auch heute wieder, was mit Rück¬
ſicht auf die Mittagsſtunde (wo die Droſchken über¬
all, als ob die Erde ſie verſchlänge, zu verſchwinden
pflegen) an dieſem ohnehin nur auf ein Pflichttheil
geſetzten Halteplatz kaum überraſchen konnte. Botho
ging alſo weiter, bis ihm, in Nähe der Van der
Heydt-Brücke, ein ziemlich klappriges Gefährt ent¬
gegen kam, hellgrün mit rothem Plüſchſitz und einem
Schimmel davor. Der Schimmel ſchlich nur ſo hin
und Rienäcker konnte ſich angeſichts der „Tour“,
die dem armen Thiere bevorſtand, eines wehmüthigen
Lächelns nicht erwehren. Aber ſo weit er auch das
Auge ſchicken mochte, nichts Beſſeres war in Sicht
[233] und ſo trat er denn an den Kutſcher heran und
ſagte: „Nach dem Rollkrug. Jakobi-Kirchhof.“


„Zu Befehl, Herr Baron.“


„ . . . Aber unterwegs müſſen wir halten. Ich
will nämlich noch einen Kranz kaufen.“


„Zu Befehl, Herr Baron.“


Botho war einigermaßen verwundert über die
mit ſo viel Promptheit wiederkehrende Titulatur
und ſagte deshalb: „Kennen Sie mich?“


„Zu Befehl, Herr Baron. Baron Rienäcker
Landgrafenſtraße. Dicht bei'n Halteplatz. Hab' Ihnen
ſchon öfter gefahren.“


Bei dieſem Geſpräche war Botho eingeſtiegen
gewillt, ſich's in der Plüſchecke nach Möglichkeit be¬
quem zu machen, er gab es aber bald wieder auf,
denn die Ecke war heiß wie ein Ofen.


Rienäcker hatte den hübſchen und herzerquicken¬
den Zug aller märkiſchen Edelleute, mit Perſonen
aus dem Volke gern zu plaudern, lieber als mit
„Gebildeten“, und begann denn auch ohne Weiteres,
während ſie im Halbſchatten der jungen Kanal¬
bäume dahinfuhren: „Is das eine Hitze! Ihr Schimmel
wird ſich auch nicht gefreut haben, wenn er „Roll¬
krug“ gehört hat.“


„Na, Rollkrug geht noch; Rollkrug geht noch
von wegen der Haide. Wenn er da durchkommt un
die Fichten riecht, freut er ſich immer. Er is näm¬
[234] lich von's Land . . . Oder vielleicht is es auch die
Muſike. Wenigſtens ſpitzt er immer die Ohren.“


„So, ſo,“ ſagte Botho. „Blos nach tanzen ſieht
er mir nicht aus . . . Aber wo werden wir denn den
Kranz kaufen? Ich möchte nicht gern ohne Kranz
auf den Kirchhof kommen.“


„O damit is noch Zeit, Herr Baron. Wenn
erſt die Kirchhofsgegend kommt, von's Hallſche Thor
an un die ganze Pionierſtraße 'runter.“


„Ja, ja, Sie haben recht; ich entſinne mich . . .“


„Un nachher, bis dicht an den Kirchhof 'ran,
hat's ihrer auch noch.“
Botho lächelte. „Sie ſind wohl ein Schleſier?“


„Ja,“ ſagte der Kutſcher. „Die meiſten ſind.
Aber ich bin ſchon lange hier und eigentlich ein
halber Richtiger-Berliner.“


„Und's geht Ihnen gut?“


„Na, von gut is nu woll keine Rede nich. Es
koſt't allens zu viel un ſoll immer von's Beſte ſein.
Und der Haber is theuer. Aber das ginge noch,
wenn man blos ſonſt nichts paſſirte. Paſſiren thut
aber immer was, heute bricht 'ne Achſe un morgen
fällt en Pferd. Ich habe noch einen Fuchs zu
Hauſe, der bei den Fürſtenwalder Ulanen geſtanden
hat; propres Pferd, man blos keine Luft nich un
wird es woll nich lange mehr machen. Un mit
eins is er weg . . . Un denn die Fahrpolizei; nie
[235] zufrieden, hier nich un da nich. Immer muß man
friſch anſtreichen. Un der rothe Plüſch is auch nich
von umſonſt.“


Während ſie noch ſo plauderten, waren ſie, den
Kanal entlang, bis an das Halleſche Thor gekommen;
vom Kreuzberg her aber kam gerad' ein Infanterie-
Bataillon mit voller Muſik, und Botho, der keine
Begegnungen wünſchte, trieb deshalb etwas zur Eile.
So ging es denn raſch an der Belle-Alliance-Brücke
vorbei, jenſeits derſelben aber ließ er halten, weil
er gleich an einem der erſten Häuſer geleſen hatte:
„Kunſt- und Handelsgärtnerei“. Drei, vier Stufen
führten in einen Laden hinaus, in deſſen großem
Schaufenſter allerlei Kränze lagen.


Rienäcker ſtieg aus und die Stufen hinauf. Die
Thür oben aber gab beim Eintreten einen ſcharfen
Klingelton. „Darf ich Sie bitten, mir einen hüb¬
ſchen Kranz zeigen zu wollen?“


„Begräbniß?“


„Ja.“


Das ſchwarzgekleidete Fräulein, das, vielleicht
mit Rückſicht auf den Umſtand, daß hier meiſt Grab¬
kränze verkauft wurden, in ſeiner Geſammthaltung
(ſelbſt die Scheere fehlte nicht) etwas ridikül Parzen¬
haftes hatte, kam alsbald mit einem Immergrün¬
kranze zurück, in den weiße Roſen eingeflochten
waren. Zugleich entſchuldigte ſie ſich, daß es nur
[236] weiße Roſen ſeien. Weiße Kamelien ſtünden höher.
Botho ſeinerſeits war zufrieden, enthielt ſich aller
Ausſtellungen und fragte nur, ob er zu dem friſchen
Kranz auch einen Immortellenkranz haben könne?
Das Fräulein ſchien über das Altmodiſche, das
ſich in dieſer Frage kundgab, einigermaßen ver¬
wundert, bejahte jedoch und erſchien gleich danach
mit einem Karton, in dem fünf, ſechs Immortellen¬
kränze lagen, gelbe, rothe, weiße.


„Zu welcher Farbe rathen Sie mir?“


Das Fräulein lächelte: „Immortellenkränze ſind
ganz außer Mode. Höchſtens in Winterzeit . . .
Und dann immer nur ...“


„Es wird das Beſte ſein, ich entſcheide mich
ohne Weiteres für dieſen hier.“ Und damit ſchob
Botho den ihm zunächſt liegenden gelben Kranz
über den Arm, ließ den von Immergrün mit den
weißen Roſen folgen und ſtieg raſch wieder in ſeine
Droſchke. Beide Kränze waren ziemlich groß und
fielen auf dem rothen Plüſchrückſitz, auf dem ſie
lagen, hinreichend auf, um in Botho die Frage zu
wecken, ob er ſie nicht lieber dem Kutſcher hinüber
reichen ſolle? Raſch aber entſchlug er ſich dieſer
Anwandlung wieder und ſagte: „Wenn man der
alten Frau Nimptſch einen Kranz bringen will,
muß man ſich auch zu dem Kranz bekennen. Und
[237] wer ſich deſſen ſchämt, muß es überhaupt nicht
verſprechen.“


So ließ er denn die Kränze liegen, wo ſie
lagen, und vergaß ihrer beinah ganz, als ſie gleich
danach in einen Straßentheil einbogen, der ihn
durch ſeine bunte, hier und da groteske Szenerie
von ſeinen bisherigen Betrachtungen abzog. Rechts,
auf wohl 500 Schritt Entfernung hin, zog ſich ein
Plankenzaun, über den hinweg allerlei Buden, Pa¬
villons und Lampenportale ragten, alle mit einer
Welt von Inſchriften bedeckt. Die meiſten derſelben
waren neueren und neuſten Datums, einige dagegen,
und gerade die größten und bunteſten, griffen weit
zurück und hatten ſich, wenn auch in einem regen¬
verwaſchenen Zuſtande, vom letzten Jahr her ge¬
rettet. Mitten unter dieſen Vergnügungslokalen und
mit ihnen abwechſelnd, hatten verſchiedene Hand¬
werksmeiſter ihre Werkſtätten aufgerichtet, vorwiegend
Bildhauer und Steinmetze, die hier, mit Rückſicht
auf die zahlreichen Kirchhöfe, meiſt nur Kreuze,
Säulen und Obelisken ausſtellten. All' das konnte
nicht verfehlen, auf jeden hier des Weges Kommen¬
den einen Eindruck zu machen und dieſem Eindruck
unterlag auch Rienäcker, der von ſeiner Droſchke
her, unter wachſender Neugier, die nicht enden
wollenden und untereinander im tiefſten Gegenſatze
ſtehenden Anpreiſungen las und die dazu gehörigen
[238] Bilder muſterte. „Fräulein Roſella das Wunder¬
mädchen, lebend zu ſehen; Grabkreuze zu billigſten
Preiſen; amerikaniſche Schnellphotographie; ruſſiſches
Ballwerfen, ſechs Wurf 10 Pfennig; ſchwediſcher
Punſch mit Waffeln; Figaros ſchönſte Gelegenheit
oder erſter Friſir-Salon der Welt; Grabkreuze zu
billigſten Preiſen; Schweizer Schießhalle:


Schieße gut und ſchieße ſchnell,

Schieß und triff wie Wilhelm Tell.“

Und darunter Tell ſelbſt mit Armbruſt, Sohn
und Apfel.


Endlich war man am Ende der langen Bretter¬
wand und an eben dieſem Endpunkte machte der
Weg eine ſcharfe Biegung auf die Haſenhaide zu,
von deren Schießſtänden her man in der mittäg¬
lichen Stille das Knattern der Gewehre hörte. Sonſt
blieb alles auch in dieſer Fortſetzung der Straße
ſo ziemlich daſſelbe: Blondin, nur in Trikot und
Medaillen gekleidet, ſtand balanzirend auf dem Seil,
überall von Feuerwerk umblitzt, während um und
neben ihm allerlei kleinere Plakate ſowohl Ballon-
Auffahrten, wie Tanzvergnügungen ankündigten. Eins
lautete: „Sizilianiſche Nacht. Um 2 Uhr Wiener
Bonbonwalzer.“


Botho, der dieſe Stelle wohl ſeit Jahr und Tag
nicht paſſirt hatte, las alles mit ungeheucheltem
Intereſſe, bis er nach Paſſirung der „Haide“, deren
[239] Schatten ihn ein paar Minuten lang erquickt hatte,
jenſeits derſelben in den Hauptweg einer ſehr be¬
lebten und in ihrer Verlängerung auf Rixdorf zu¬
laufenden Vorſtadt einbog. Wagen, in doppelter
und dreifacher Reihe, bewegten ſich vor ihm her,
bis mit einem Male alles ſtillſtand und der Ver¬
kehr ſtockte. „Warum halten wir?“ Aber ehe der
Kutſcher antworten konnte, hörte Botho ſchon das
Fluchen und Schimpfen aus der Front her und
ſah, daß alles in einander gefahren war. Sich
vorbeugend und dabei neugierig nach allen Seiten
hin ausſpähend, würde ihm, bei der ihm eigenen
Vorliebe für das Volksthümliche, der ganze Zwiſchen¬
fall ſehr wahrſcheinlich mehr Vergnügen als Mi߬
ſtimmung bereitet haben, wenn ihn nicht ein vor
ihm haltender Wagen ſowohl durch Ladung wie
Inſchrift zu trübſeliger Betrachtung angeregt hätte.
„Glasbruch-Ein- und Verkauf von Max Zippel in
Rixdorf“ ſtand in großen Buchſtaben auf einem
wandartigen Hinterbrett und ein ganzer Berg von
Scherben thürmte ſich in dem Wagenkaſten auf.
„Glück und Glas“ . . . Und mit Widerſtreben ſah
er hin und dabei war ihm in allen Fingerſpitzen
als ſchnitten ihn die Scherben.


Endlich aber kam die Wagenreihe nicht nur
wieder in Fluß, ſondern der Schimmel that auch
ſein Beſtes, Verſäumtes einzuholen, und eine kleine
[240] Weile, ſo hielt man vor einem lehnan gebauten,
mit hohem Dach und vorſpringendem Giebel aus¬
ſtaffirten Eckhauſe, deſſen Erdgeſchoßfenſter ſo niedrig
über der Straße lagen, daß ſie mit dieſer faſt
daſſelbe Niveau hatten. Ein eiſerner Arm ſtreckte
ſich aus dem Giebel vor und trug einen aufrecht
ſtehenden vergoldeten Schlüſſel.


„Was iſt das?“ fragte Botho.


„Der Rollkrug.“


„Gut. Dann ſind wir bald da. Blos hier noch
bergan. Thut mir leid um den Schimmel, aber es
hilft nichts.“


Der Kutſcher gab dem Pferd einen Knips und
gleich darnach fuhren ſie die mäßig anſteigende Berg¬
ſtraße hinauf, an deren einer Seite der alte, wegen
Ueberfüllung ſchon wieder halb geſchloſſene Jakobi-
Kirchhof lag, während an der dem Kirchhofszaun
gegenüber gelegenen Seite hohe Miethskaſernen auf¬
ſtiegen.


Vor dem letzten Hauſe ſtanden umherziehende
Spielleute, Horn und Harfe, dem Anſcheine nach
Mann und Frau. Die Frau ſang auch, aber der
Wind, der hier ziemlich ſcharf ging, trieb alles
hügelan und erſt als Botho zehn Schritt und mehr
an dem armen Muſikantenpaare vorüber war, war
er in der Lage, Text und Melodie zu hören. Es
war daſſelbe Lied, das ſie damals auf dem Wilmers¬
[241] dorfer Spaziergange ſo heiter und ſo glücklich ge¬
ſungen hatten, und er erhob ſich und blickte, wie
wenn es ihm nachgerufen würde, nach dem Muſi¬
kantenpaare zurück. Die ſtanden abgekehrt und ſahen
nichts, ein hübſches Dienſtmädchen aber, das an der
Giebelſeite des Hauſes mit Fenſterputzen beſchäftigt
war und den um- und rückſchauhaltenden Blick des
jungen Offiziers ſich zuſchreiben mochte, ſchwenkte
luſtig von ihrem Fenſterbrett her den Lederlappen
und fiel übermüthig mit ein: „Ich denke dran, ich
danke Dir mein Leben, doch Du Soldat, Soldat
denkſt Du daran?“


Botho, die Stirn in die Hand drückend, warf
ſich in die Droſchke zurück und ein Gefühl, unend¬
lich ſüß und unendlich ſchmerzlich, ergriff ihn. Aber
freilich das Schmerzliche wog vor und fiel erſt ab
von ihm, als die Stadt hinter ihm lag und fern
am Horizont im blauen Mittagsdämmer die Müg¬
gelberge ſichtbar wurden.


Endlich hielten ſie vor dem Neuen Jakobi-
Kirchhof.


„Soll ich warten?“


„Ja. Aber nicht hier. Unten beim Rollkrug.
Und wenn Sie die Muſikantenleute noch treffen . . .
hier, das iſt für die arme Frau.“


Fontane, Irrungen. 16
[[242]]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel.

Botho hatte ſich der Führung eines gleich am
Kirchhofs-Eingange beſchäftigten Alten anvertraut
und das Grab der Frau Nimptſch in guter Pflege
gefunden: Epheuranken waren eingeſetzt, ein Ge¬
raniumtopf ſtand dazwiſchen und an einem Eiſen¬
ſtänderchen hing bereits ein Immortellenkranz. „Ah,
Lene,“ ſagte Botho vor ſich hin. „Immer dieſelbe . . .
Ich komme zu ſpät.“ Und dann wandt' er ſich zu
dem neben ihm ſtehenden Alten und ſagte: „War
wohl blos 'ne kleine Leiche?“


„Ja, klein war ſie man.“


„Drei oder vier?“


„Juſtement vier. Und verſteht ſich unſer alter
Supperndent. Er ſprach blos 's Gebet und die
große mittelaltſche Frau, die mit dabei war, ſo 40
oder drum rum, die blieb in einem Weinen. Und
[243] auch 'ne Jungſche war mit dabei. Die kommt jetzt
alle Woche 'mal und den letzten Sonntag hat ſie
den Geranium gebracht. Und will auch noch 'n
Stein haben, wie ſie jetzt Mode ſind: grünpolirt
mit Namen und Datum drauf.“


Und hiernach zog ſich der Alte mit der allen
Kirchhofsleuten eigenen Geſchäfts-Politeſſe wieder
zurück, während Botho ſeinen Immortellenkranz an
den ſchon vorher von Lene gebrachten anhing, den
aus Immergrün und weißen Roſen aber um den
Geraniumtopf herumlegte. Dann ging er, nachdem
er noch eine Weile das ſchlichte Grab betrachtet
und der guten Frau Nimptſch liebevoll gedacht
hatte, wieder auf den Kirchhofs-Ausgang zu. Der
Alte, der hier inzwiſchen ſeine Spalier-Arbeit wieder
aufgenommen, ſah ihm, die Mütze ziehend, nach und
beſchäftigte ſich mit der Frage, was einen ſo vor¬
nehmen Herrn, über deſſen Vornehmheit ihm, ſeinem
letzten Händedruck nach, kein Zweifel war, wohl an
das Grab der alten Frau geführt haben könne.
„Da muß ſo was ſein. Und hat die Droſchke nicht
warten laſſen.“ Aber er kam zu keinem Abſchluß,
und um ſich wenigſtens auch ſeinerſeits ſo dankbar
wie möglich zu zeigen, nahm er eine der in ſeiner
Nähe ſtehenden Gießkannen und ging erſt auf den
kleinen eiſernen Brunnen und dann auf das Grab
16 *[244] der Frau Nimptſch zu, um den im Sonnenbrand
etwas trocken gewordenen Epheu zu bewäſſern.


Botho war mittlerweile bis an die dicht am
Rollkruge haltende Droſchke zurückgegangen, ſtieg
hier ein und hielt eine Stunde ſpäter wieder in der
Landgrafenſtraße. Der Kutſcher ſprang dienſtfertig
ab und öffnete den Schlag.


„Da,“ ſagte Botho . . . „Und dies extra. War
ja 'ne halbe Landpartie . . .“


„Na, man kann's auch woll vor 'ne ganze
nehmen.“


„Ich verſtehe,“ lachte Rienäcker. „Da muß ich
wohl noch zulegen?“


„Schaden wird's nich . . . Danke ſchön, Herr
Baron.“


„Aber nun futtert mir auch den Schimmel beſſer
'raus. Is ja ein Jammer.“


Und er grüßte und ſtieg die Treppe hinauf.


Oben in ſeiner Wohnung war alles ſtill, ſelbſt
die Dienſtboten fort, weil ſie wußten, daß er um
dieſe Zeit immer im Klub war. Wenigſtens ſeit
ſeinen Strohwittwertagen. „Unzuverläſſiges Volk,“
brummte er vor ſich hin und ſchien ärgerlich. Trotz¬
dem war es ihm lieb, allein zu ſein. Er wollte
niemand ſehn und ſetzte ſich draußen auf den
[245] Balkon, um ſo vor ſich hin zu träumen. Aber es
war ſtickig unter der herabgelaſſenen Marquiſe, dran
zum Ueberfluß auch noch lange blauweiße Franzen
hingen, und ſo ſtand er wieder auf, um die große
Leinwand in die Höh zu ziehn. Das half. Die
ſich nun einſtellende friſche Luftſtrömung that ihm
wohl und aufathmend und bis an die Brüſtung
vortretend, ſah er über Feld und Wald hin bis auf
die Charlottenburger Schloßkuppel, deren malachit¬
farbne Kupferbekleidung im Glanz der Nachmittags¬
ſonne ſchimmerte.


„Dahinter liegt Spandau,“ ſprach er vor ſich
hin. „Und hinter Spandau zieht ſich ein Bahn¬
damm und ein Schienengeleiſe, das bis an den
Rhein läuft. Und auf dem Geleiſe ſeh' ich einen
Zug, viele Wagen und in einem der Wagen ſitzt
Käthe. Wie ſie wohl ausſehen mag? O gut; ge¬
wiß. Und wovon ſie wohl ſprechen mag? Nun,
ich denke mir von allerlei: pikante Badegeſchichten
und vielleicht auch von Frau Salinger's Toiletten
und daß es in Berlin doch eigentlich am beſten ſei.
Und muß ich mich nicht freuen, daß ſie wieder¬
kommt? Eine ſo hübſche Frau, ſo jung, ſo glück¬
lich, ſo heiter. Und ich freue mich auch. Aber
heute darf ſie nicht kommen. Um Gottes willen
nicht. Und doch iſt es ihr zuzutrauen. Sie hat
[246] ſeit drei Tagen nicht geſchrieben und ſteht noch ganz
auf dem Standpunkt der Ueberraſchungen.“


Er hing dem noch eine Weile nach, dann aber
wechſelten die Bilder und längſt Zurückliegendes
trat ſtatt Käthe's wieder vor ſeine Seele: der
Dörr'ſche Garten, der Gang nach Wilmersdorf, die
Partie nach Hankel's Ablage. Das war der letzte
ſchöne Tag geweſen, die letzte glückliche Stunde . . .
„Sie ſagte damals, daß ein Haar zu feſt binde,
darum weigerte ſie ſich und wollt' es nicht. Und
ich? warum beſtand ich darauf? Ja, es giebt ſolche
räthſelhaften Kräfte, ſolche Sympathieen aus Himmel
oder Hölle und nun bin ich gebunden und kann
nicht los. Ach ſie war ſo lieb und gut an jenem
Nachmittag, als wir noch allein waren und an
Störung nicht dachten, und ich vergeſſe das Bild
nicht, wie ſie da zwiſchen den Gräſern ſtand und
nach rechts und links hin die Blumen pflückte. Die
Blumen, — ich habe ſie noch. Aber ich will ein
Ende damit machen. Was ſollen mir dieſe todten
Dinge, die mir nur Unruhe ſtiften und mir mein
bischen Glück und meinen Ehefrieden koſten, wenn
je ein fremdes Auge darauf fällt.“


Und er erhob ſich von ſeinem Balkonplatz und
ging, durch die ganze Wohnung hin, in ſein nach
dem Hofe hinaus gelegenes Arbeitszimmer, das des
Morgens in heller Sonne, jetzt aber in tiefem
[247] Schatten lag. Die Kühle that ihm wohl und er
trat an einen eleganten, noch aus ſeiner Jung¬
geſellenzeit herſtammenden Schreibtiſch heran, deſſen
Ebenholzkäſtchen mit allerlei kleinen Silberguirlanden
ausgelegt waren. In der Mitte dieſer Käſtchen
aber baute ſich ein mit einem Giebelfeld aus¬
geſtattetes und zur Aufbewahrung von Werthſachen
dienendes Säulentempelchen auf, deſſen nach hintenzu
gelegenes Geheimfach durch eine Feder geſchloſſen
wurde. Botho drückte jetzt auf die Feder und nahm,
als das Fach aufſprang, ein kleines Briefbündel
heraus, das mit einem rothen Faden umwunden
war, obenauf aber, und wie nachträglich eingeſchoben,
lagen die Blumen, von denen er eben geſprochen.
Er wog das Päckchen in Händen und ſagte, während
er den Faden ablöſte: „Viel Freud, viel Leid.
Irrungen, Wirrungen. Das alte Lied.“


Er war allein und an Ueberraſchung nicht zu
denken. In ſeiner Vorſtellung aber immer noch
nicht ſicher genug, ſtand er auf und ſchloß die Thür.
Und nun erſt nahm er den obenauf liegenden Brief
und las. Es waren die den Tag vor dem Wilmers¬
dorfer Spaziergange geſchriebenen Zeilen, und mit
Rührung ſah er jetzt im Wiederleſen auf alles das,
was er damals mit einem Bleiſtiftſtrichelchen be¬
zeichnet hatte. „Stiehl... Alléh ... Wie dieſe
liebenswürdigen „h's“ mich auch heute wieder an¬
[248] blicken, beſſer als alle Orthographie der Welt. Und
wie klar die Handſchrift. Und wie gut und
ſchelmiſch, was ſie da ſchreibt. Ach, ſie hatte die
glücklichſte Miſchung und war vernünftig und leiden¬
ſchaftlich zugleich. Alles was ſie ſagte, hatte Charak¬
ter und Tiefe des Gemüths. Arme Bildung, wie
weit bleibſt du dahinter zurück.“


Er nahm nun auch den zweiten Brief und
wollte ſich überhaupt vom Schluß her bis an den
Anfang der Korreſpondenz durchleſen. Aber es that
ihm zu weh. „Wozu? Wozu beleben und auf¬
friſchen, was todt iſt und todt bleiben muß? Ich
muß aufräumen damit und dabei hoffen, daß mit
dieſen Trägern der Erinnerung auch die Erinnerungen
ſelbſt hinſchwinden werden.“


Und wirklich, er war es entſchloſſen und ſich
raſch von ſeinem Schreibtiſch erhebend, ſchob er einen
Kaminſchirm bei Seit' und trat an den kleinen
Herd, um die Briefe darauf zu verbrennen. Und
ſiehe da, langſam, als ob er ſich das Gefühl eines
ſüßen Schmerzes verlängern wolle, ließ er jetzt Blatt
auf Blatt auf die Herdſtelle fallen und in Feuer
aufgehen. Das Letzte, was er in Händen hielt,
war das Sträußchen und während er ſann und
grübelte, kam ihm eine Anwandlung, als ob er jede
Blume noch einmal einzeln betrachten und zu dieſem
Zwecke das Haarfädchen löſen müſſe. Plötzlich aber,
[249] wie von abergläubiſcher Furcht erfaßt, warf er die
Blumen den Briefen nach.


Ein Aufflackern noch und nun war alles vorbei,
verglommen.


„Ob ich nun frei bin?... Will ich's denn? Ich
will es nicht. Alles Aſche. Und doch gebunden.“

[[250]]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel.

Botho ſah in die Aſche. „Wie wenig und wie
viel.“ Und dann ſchob er den eleganten Kamin¬
ſchirm wieder vor, in deſſen Mitte ſich die Nach¬
bildung einer pompejaniſchen Wandfigur befand.
Hundertmal war ſein Auge darüber hinweg geglitten,
ohne zu beachten, was es eigentlich ſei, heute ſah
er es und ſagte: „Minerva mit Schild und Speer.
Aber Speer bei Fuß. Vielleicht bedeutet es Ruhe . . .
Wär' es ſo.“ Und dann ſtand er auf, ſchloß das
um ſeinen beſten Schatz ärmer gewordene Geheim¬
fach und ging wieder nach vorn.


Unterwegs, auf dem ebenſo ſchmalen wie langen
Korridore, traf er Köchin und Hausmädchen, die
dieſen Augenblick erſt von einem Thiergartenſpazier¬
gange zurückkamen. Als er Beide verlegen und
ängſtlich daſtehen ſah, überkam ihn ein menſchlich
[251] Rühren, aber er bezwang ſich und rief ſich zu, wenn
auch freilich mit einem Anfluge von Ironie, „daß
endlich einmal ein Exempel ſtatuirt werden müſſe.“
So begann er denn, ſo gut er konnte, die Rolle
des donnernden Zeus zu ſpielen. Wo ſie nur ge¬
ſteckt hätten? Ob das Ordnung und gute Sitte
ſei? Er habe nicht Luſt, der gnädigen Frau, wenn
ſie zurück komme (vielleicht heute ſchon), einen aus
Rand und Band gegangenen Hausſtand zu über¬
liefern. Und der Burſche? „Nun, ich will nichts
wiſſen, nichts hören, am wenigſten Entſchuldigungen.“
Und als dies heraus war, ging er weiter und
lächelte, zumeiſt über ſich ſelbſt. „Wie leicht iſt
doch predigen und wie ſchwer iſt danach handeln
und thun. Armer Kanzelheld ich! Bin ich nicht
ſelbſt aus Rand und Band? Bin ich nicht ſelber
aus Ordnung und guter Sitte? Daß es war, das
möchte gehn, aber daß es noch iſt, das iſt das
Schlimme.“


Dabei nahm er wieder ſeinen Platz auf dem
Balkon und klingelte. Jetzt kam auch der Burſche,
faſt noch ängſtlicher und verlegener als die Mädchen,
aber es hatte keine Noth mehr, das Wetter war
vorüber. „Sage der Köchin, daß ich etwas eſſen
will. Nun, warum ſtehſt Du noch? Ah, ich ſehe
ſchon (und er lachte), nichts im Hauſe. Trifft ſich
alles vorzüglich . . . — Alſo Thee; bringe mir
[252] Thee, der wird doch wohl da ſein. Und laß ein
paar Schnitten machen; alle Wetter, ich habe Hun¬
ger . . . Und ſind die Abendzeitungen ſchon da?“


„Zu Befehl, Herr Rittmeiſter.“


Nicht lange, ſo war der Theetiſch draußen auf
dem Balkon ſervirt und ſelbſt ein Imbiß hatte ſich
gefunden. Botho ſaß zurückgelehnt in den Schaukel¬
ſtuhl und ſtarrte nachdenklich in die kleine blaue
Flamme. Dann nahm er zunächſt den Moniteur
ſeiner kleinen Frau, „das Fremdenblatt“, und erſt
in weiterer Folge die „Kreuzzeitung“ zur Hand
und ſah auf die letzte Seite. „Gott, wie wird
Käthe ſich freuen, dieſe letzte Seite jeden Tag wieder
friſch an der Quelle ſtudiren zu können, will ſagen
zwölf Stunden früher als in Schlangenbad. Und
hat ſie nicht Recht? „Unſere heut vollzogene ehe¬
liche Verbindung beehren ſich anzuzeigen Adalbert
v. Lichterloh, Regierungsreferendar und Lieutenant
der Reſerve, Hildegard v. Lichterloh, geb. Holtze.“
Wundervoll. Und wahrhaftig, ſo zu ſehn, wie ſich's
weiter lebt und liebt in der Welt iſt eigentlich das
Beſte. Hochzeit und Kindtaufen! Und ein paar
Todesfälle dazwiſchen. Nun, die braucht man ja
nicht zu leſen, Käthe thut es nicht und ich thu' es
auch nicht und blos wenn die Vandalen 'mal einen
ihrer „alten Herrn“ verloren haben und ich das
Korpszeichen inmitten der Trauer-Annonce ſehe, das
[253] leſ' ich, das erheitert mich und iſt mir immer, als
ob der alte Korps-Kämpe zu Hofbräu nach Wal¬
halla geladen wäre Spatenbräu paßt eigentlich
noch beſſer.“


Er legte das Blatt wieder bei Seit', weil es
klingelte . . „Sollte wirklich . .“ Nein, es
war nichts, blos eine vom Wirth heraufgeſchickte
Suppenliſte, drauf erſt 50 Pfennig gezeichnet ſtanden.
Aber den ganzen Abend über blieb er trotzdem in
Aufregung, weil ihm beſtändig die Möglichkeit einer
Ueberraſchung vorſchwebte, und ſo oft er eine Droſchke
mit einem Koffer vorn und einem Damenreiſehute
dahinter in die Landgrafenſtraße einbiegen ſah, rief
er ſich zu: „Das iſt ſie; ſie liebt dergleichen und
ich höre ſie ſchon ſagen: ich dacht' es mir ſo komiſch,
Botho.“


Käthe war nicht gekommen, Statt ihrer kam
am anderen Morgen ein Brief, worin ſie ihre Rück¬
kehr für den dritten Tag anmeldete. „Sie werde
wieder mit Frau Salinger reiſen, die doch, Alles
in Allem, eine ſehr nette Frau ſei, mit viel guter
Laune, viel chic und viel Reiſe-Comfort.“


Botho legte den Brief aus der Hand und freute
ſich momentan ganz aufrichtig, ſeine ſchöne junge
Frau binnen drei Tagen wiederzuſehen. „Unſer
Herz hat Platz für allerlei Widerſprüche. . . Sie
[254] dalbert, nun ja, aber eine dalbrige junge Frau iſt
immer noch beſſer als keine.“


Danach rief er die Leute zuſammen und ließ
ſie wiſſen, daß die gnädige Frau in drei Tagen
wieder da ſein werde; ſie ſollten Alles in Stand
ſetzen und die Schlöſſer putzen. Und kein Fliegen¬
fleck auf dem großen Spiegel.


Als er ſo Vorkehrungen getroffen, ging er zum
Dienſt in die Kaſerne. „Wenn wer fragt, ich bin
von 5 an wieder zu Haus.“


Sein Programm für die zwiſchenliegende Zeit
ging dahin, daß er bis Mittag auf dem Eskadron¬
hofe bleiben, dann ein paar Stunden reiten und
nach dem Ritt im Klub eſſen wollte. Wenn er
niemand anders dort traf, ſo traf er doch Balafré,
was gleichbedeutend war mit Whiſt en deux und
einer Fülle von Hofgeſchichten, wahren und un¬
wahren. Denn Balafré, ſo zuverläſſig er war,
legte doch grundſätzlich eine Stunde des Tags für
Humbug und Aufſchneidereien an. Ja, dieſe Be¬
ſchäftigung ſtand ihm, nach Art eines geiſtigen
Sports, unter ſeinen Vergnügungen obenan.


Und wie das Programm war, ſo wurd' es auch
ausgeführt. Die Hofuhr in der Kaſerne ſchlug eben
12, als er ſich in den Sattel hob und nach
Paſſirung erſt der „Linden“ und gleich danach der
Luiſenſtraße, ſchließlich in einen neben dem Kanal
[255] hinlaufenden Weg einbog, der weiterhin ſeine Rich¬
tung auf Plötzenſee zu nahm. Dabei kam ihm der
Tag wieder in Erinnerung, an dem er hier auch
herumgeritten war, um ſich Muth für den Abſchied
von Lene zu gewinnen, für den Abſchied, der ihm
ſo ſchwer ward und der doch ſein mußte. Das
war nun drei Jahre. Was lag alles dazwiſchen?
Viel Freude; gewiß. Aber es war doch keine rechte
Freude geweſen. Ein Bonbon, nicht viel mehr.
Und wer kann von Süßigkeiten leben!


Er hing dem noch nach, als er auf einem von
der Jungfernhaide her nach dem Kanal hinüber¬
führenden Reitwege zwei Kameraden herankommen
ſah, Ulanen, wie die deutlich erkennbaren Czapkas
ſchon von fernher verriethen. Aber wer waren ſie?
Freilich, die Zweifel auch darüber konnten nicht
lange währen und noch ehe man ſich von hüben
und drüben bis auf hundert Schritte genähert hatte,
ſah Botho, daß es die Rexins waren, Vettern und
beide vom ſelben Regiment.


„Ah, Rienäcker,“ ſagte der Aeltere. „Wohin?“


„So weit der Himmel blau iſt.“


„Das iſt mir zu weit.“


„Nun dann bis Saatwinkel.“


„Das läßt ſich hören. Da bin ich mit von der
Partie, vorausgeſetzt, daß ich nicht ſtöre. . . Kurt
(und hiermit wandt' er ſich an ſeinen jüngeren Be¬
[256] gleiter), Pardon! Aber ich habe mit Rienäcker zu
ſprechen. Und unter Umſtänden. . .“


„. . Spricht ſich's beſſer zu Zweien. Ganz
nach Deiner Bequemlichkeit, Bozel,“ und dabei grüßte
Kurt von Rexin und ritt weiter. Der mit Bozel
angeredete Vetter aber warf ſein Pferd herum, nahm
die linke Seite neben dem ihm in der Rangliſte
weit vorſtehenden Rienäcker und ſagte: „Nun denn
alſo Saatwinkel. In die Tegeler Schußlinie werden
wir ja wohl nicht einreiten.“


„Ich werd' es wenigſtens zu vermeiden ſuchen,“
entgegnete Rienäcker, „erſtens mir ſelbſt und zweitens
Ihnen zu Liebe. Und drittens und letztens um
Henriettens willen. Was würde die ſchwarze Hen¬
riette ſagen, wenn ihr ihr Bogislaw todtgeſchoſſen
würde und noch dazu durch eine befreundete
Granate?“


„Das würd' ihr freilich einen Stich ins Herz
geben“, erwiderte Rexin, „und ihr und mir einen
Strich durch die Rechnung machen.“


„Durch welche Rechnung?“


„Das iſt eben der Punkt, Rienäcker, über den
ich mit Ihnen ſprechen wollte.“


„Mit mir? Und von welchem Punkte?“


„Sie ſollten es eigentlich errathen und iſt auch
nicht ſchwer. Ich ſpreche natürlich von einem Ver¬
hältniß, meinem Verhältniß.“


[257]

„Verhältniß!“ lachte Botho. „Nun, ich ſtehe
zu Dienſten, Rexin. Aber offen geſtanden, ich weiß
nicht recht, was ſpeziell mir Ihr Vertrauen einträgt.
Ich bin nach keiner Seite hin, am wenigſten aber
nach dieſer, eine beſondere Weisheitsquelle. Da
haben wir ganz andere Autoritäten. Eine davon
kennen Sie gut. Noch dazu Ihr und Ihres Vetters
beſonderer Freund.“


„Balafré?“


„Ja.“


Rexin fühlte was von Nüchternheit und Ab¬
lehnung heraus und ſchwieg einigermaßen verſtimmt.
Das aber war mehr, als Botho bezweckt hatte, wes¬
halb er ſofort wieder einlenkte. „Verhältniſſe.
Pardon, Rexin, es giebt ihrer ſo viele.“


„Gewiß. Aber ſo viel ihrer ſind, ſo verſchieden
ſind ſie auch.“


Botho zuckte mit den Achſeln und lächelte.
Rexin aber, ſichtlich gewillt, ſich nicht zum zweiten
Male durch Empfindelei ſtören zu laſſen, wiederholte
nur in gleichmüthigem Tone: „Ja, ſo viel ihrer,
ſo verſchieden auch. Und ich wundre mich, Rienäcker,
gerade Sie mit den Achſeln zucken zu ſehn. Ich
dachte mir . . .“


„Nun denn heraus mit der Sprache.“


„Soll geſchehn.“


Und nach einer Weile fuhr Rexin fort: „Ich
Fontane, Irrungen. 17[258] habe die hohe Schule durchgemacht, bei den Ulanen
und ſchon vorher (Sie wiſſen, daß ich erſt ſpät
dazu kam) in Bonn und Göttingen und brauche
keine Lehren und Rathſchläge, wenn ſich's um das
Uebliche handelt. Aber wenn ich mich ehrlich be¬
frage, ſo handelt ſich's in meinem Falle nicht um
das Uebliche, ſondern um einen Ausnahmefall,“


„Glaubt jeder.“


„Kurz und gut, ich fühle mich engagirt, mehr
als das, ich liebe Henrietten, oder um Ihnen ſo
recht meine Stimmung zu zeigen, ich liebe die
ſchwarze Jette. Ja, dieſer anzügliche Trivialname
mit ſeinem Anklang an Kantine paßt mir am beſten,
weil ich alle feierlichen Allüren in dieſer Sache ver¬
meiden möchte. Mir iſt ernſthaft genug zu Muth
und weil mir ernſthaft zu Muth iſt, kann ich alles,
was wie Feierlichkeit und ſchöne Redensarten aus¬
ſieht, nicht brauchen. Das ſchwächt blos ab.“


Botho nickte zuſtimmend und entſchlug ſich mehr
und mehr jedes Anfluges von Spott und Superiorität,
den er bis dahin allerdings gezeigt hatte.


„Jette,“ fuhr Rexin fort, „ſtammt aus keiner
Ahnenreihe von Engeln und iſt ſelber keiner Aber
wo findet man dergleichen? In unſrer Sphäre?
Lächerlich. Alle dieſe Unterſchiede ſind ja gekünſtelt
und die gekünſteltſten liegen auf dem Gebiete der
Tugend. Natürlich giebt es Tugend und ähnliche
[259] ſchöne Sachen, aber Unſchuld und Tugend ſind wie
Bismarck und Moltke, das heißt rar. Ich habe
mich ganz in Anſchauungen wie dieſe hineingelebt,
halte ſie für richtig und habe vor, danach zu han¬
deln ſo weit es geht. Und nun hören Sie,
Rienäcker. Ritten wir hier ſtatt an dieſem lang¬
weiligen Kanal, ſo langweilig und ſtrippengerade
wie die Formen und Formeln unſrer Geſellſchaft,
ich ſage, ritten wir hier ſtatt an dieſem elenden
Graben am Sacramento hin und hätten wir ſtatt
der Tegeler Schießſtände die Diggings vor uns, ſo
würd' ich die Jette freiweg heirathen; ich kann
ohne ſie nicht leben, ſie hat es mir angethan und
ihre Natürlichkeit, Schlichtheit und wirkliche Liebe
wiegen mir zehn Komteſſen auf. Aber es geht nicht.
Ich kann es meinen Eltern nicht anthun und mag
auch nicht mit 27 aus dem Dienſt heraus, um in
Texas Cowboy zu werden oder Kellner auf einem
Miſſiſſippi-Dampfer. Alſo Mittelkurs. . .“


„Was verſtehen Sie darunter?“


„Einigung ohne Sanktion.“


„Alſo Ehe ohne Ehe.“


„Wenn Sie wollen, ja. Mir liegt nichts am
Wort, ebenſo wenig wie an Legaliſirung, Sakra¬
mentirung, oder wie ſonſt noch dieſe Dinge heißen
mögen; ich bin etwas nihiliſtiſch angeflogen und
habe keinen rechten Glauben an paſtorale Heilig¬
17*[260] ſprechung. Aber, um's kurz zu machen, ich bin,
weil ich nicht anders kann, für Monogamie, nicht
aus Gründen der Moral, ſondern aus Gründen
meiner mir eingebornen Natur. Mir widerſtehen
alle Verhältniſſe, wo knüpfen und löſen ſo zu ſagen
in dieſelbe Stunde fällt, und wenn ich mich eben
einen Nihiliſten nannte, ſo kann ich mich mit noch
größerem Recht einen Philiſter nennen. Ich ſehne
mich nach einfachen Formen, nach einer ſtillen, na¬
türlichen Lebensweiſe, wo Herz zum Herzen ſpricht
und wo man das Beſte hat, was man haben kann,
Ehrlichkeit, Liebe, Freiheit.“


„Freiheit,“ wiederholte Botho.


„Ja, Rienäcker. Aber weil ich wohl weiß, daß
auch Gefahren dahinter lauern und dies Glück der
Freiheit, vielleicht aller Freiheit, ein zweiſchneidig
Schwert iſt, das verletzen kann, man weiß nicht
wie, ſo hab' ich Sie fragen wollen.“


„Und ich will Ihnen antworten.“ ſagte der mit
jedem Augenblick ernſter gewordene Rienäcker, dem
bei dieſen Konfidenzen das eigne Leben, das zurück¬
liegende, wie das gegenwärtige, wieder vor die Seele
treten mochte. „Ja, Rexin, ich will Ihnen antworten,
ſo gut ich kann, und ich glaube, daß ich es kann.
Und ſo beſchwör' ich Sie denn, bleiben Sie davon.
Bei dem, was Sie vorhaben, iſt immer nur zweierlei
möglich und das eine iſt gerade ſo ſchlimm wie das
[261] andre. Spielen Sie den Treuen und Ausharrenden
oder was daſſelbe ſagen will, brechen Sie von Grund
aus mit Stand und Herkommen und Sitte, ſo
werden Sie, wenn Sie nicht verſumpfen, über kurz
oder lang ſich ſelbſt ein Gräuel und eine Laſt ſein,
verläuft es aber anders und ſchließen Sie, wie's
die Regel iſt, nach Jahr und Tag Ihren Frieden
mit Geſellſchaft und Familie, dann iſt der Jammer
da, dann muß gelöſt werden, was durch glückliche
Stunden und ach, was mehr bedeutet, durch un¬
glückliche, durch Noth und Aengſte verwebt und ver¬
wachſen iſt. Und das thut weh.“


Rexin ſchien antworten zu wollen, aber Botho
ſah es nicht und fuhr fort: „Lieber Rexin, Sie
haben vorhin in einem wahren Muſterſtücke dezenter
Ausdrucksweiſe von Verhältniſſen geſprochen, „wo
knüpfen und löſen in dieſelbe Stunde fällt“, aber
dieſe Verhältniſſe, die keine ſind, ſind nicht die
ſchlimmſten, die ſchlimmſten ſind die, die, um Sie
noch 'mal zu zitiren, den „Mittelkurs“ halten. Ich
warne Sie, hüten Sie ſich vor dieſem Mittelkurs,
hüten Sie ſich vor dem Halben. Was Ihnen Ge¬
winn dünkt, iſt Bankrutt und was Ihnen Hafen
ſcheint, iſt Scheiterung. Es führt nie zum Guten,
auch wenn äußerlich alles glatt abläuft und keine
Verwünſchung ausgeſprochen und kaum ein ſtiller
Vorwurf erhoben wird. Und es kann auch nicht
[262] anders ſein. Denn alles hat ſeine natürliche Kon¬
ſequenz, deſſen müſſen wir eingedenk ſein. Es kann
nichts ungeſchehen gemacht werden und ein Bild,
das uns in die Seele gegraben wurde, verblaßt nie
ganz wieder, ſchwindet nie ganz wieder dahin. Er¬
innerungen bleiben und Vergleiche kommen. Und
ſo denn noch einmal, Freund, zurück von Ihrem
Vorhaben oder Ihr Leben empfängt eine Trübung
und Sie ringen ſich nie mehr zu Klarheit und Helle
durch. Vieles iſt erlaubt, nur nicht das, was die
Seele trifft, nur nicht Herzen hineinziehen und wenn's
auch blos das eigne wäre.“

[[263]]

Vierundzwanzigſtes Kapitel.

Am dritten Tage traf ein im Abreiſemoment
aufgegebenes Telegramm ein: „Ich komme heut
Abend. K.“


Und wirklich ſie kam. Botho war am Anhalter
Bahnhof und wurde der Frau Salinger vorgeſtellt,
die von Dank für gute Reiſekameradſchaft nichts
hören wollte, vielmehr immer nur wiederholte, wie
glücklich ſie geweſen ſei, vor allem aber wie glück¬
lich er ſein müſſe, ſolche reizende junge Frau zu
haben. „Schaun's, Herr Baron, wann i das Glück
hätt' und der Herr Gemoahl wär', i würd' mi
kein' drei Tag' von ſolch ane Frau trenne. Woran
ſie dann klagen über die geſammte Männerwelt,
aber im ſelben Augenblick auch eine dringende Ein¬
ladung nach Wien knüpfte. „Wir hoab'n a nett's
Häusl kei Stund von Wian und a paar Reitpferd
[264] und a Küch'. In Preußen hoaben's die Schul und
in Wian hoaben wir die Küch'. Und i weiß halt
nit, was i vorzieh.“


„Ich weiß es.“ ſagte Käthe „und ich glaube
Botho auch.“


Damit trennte man ſich und unſer junges Paar
ſtieg in einen offenen Wagen, nachdem Ordre gegeben
war, das Gepäck nachzuſchicken.


Käthe warf ſich zurück und ſtemmte den kleinen
Fuß gegen den Rückſitz, auf dem ein Rieſenbouquet,
die letzte Huldigung der von der reizenden Berliner
Dame ganz entzückten Schlangenbader Hauswirthin
lag. Käthe ſelbſt nahm Botho's Arm und ſchmiegte
ſich an ihn, aber auf wenig Augenblicke nur, dann
richtete ſie ſich wieder auf und ſagte, während ſie
mit dem Sonnenſchirm das immer aufs neue her¬
unterfallende Bouquet feſthielt: „Es iſt doch eigent¬
lich reizend hier, all die Menſchen und die vielen
Spreekähne, die vor Enge nicht ein noch aus wiſſen.
Und ſo wenig Staub. Ich find' es doch einen
rechten Segen, daß ſie jetzt ſprengen und Alles unter
Waſſer ſetzen; freilich lange Kleider darf man dabei
nicht tragen. Und ſieh nur den Brodwagen da mit
dem vorgeſpannten Hund. Es iſt doch zu komiſch.
Nur der Kanal... Ich weiß nicht, er iſt immer
noch ſo...“


„Ja,“ lachte Botho, „er iſt immer noch ſo.
[265] Vier Wochen Julihitze haben ihn nicht verbeſſern
können.“


Sie fuhren unter den jungen Bäumen hin,
Käthe riß ein Lindenblatt ab, nahm's in die hohle
Hand und ſchlug drauf, daß es knallte. „So machten
wir's immer zu Haus. Und in Schlangenbad, wenn
wir nichts Beſſeres zu thun hatten, haben wir's
auch ſo gemacht und alle die Spielereien aus der
Kinderzeit wieder aufgenommen. Kannſt Du Dir's
denken, ich hänge ganz ernſthaft an ſolchen Thorheiten
und bin doch eigentlich eine alte Perſon und habe
abgeſchloſſen.“


„Aber Käthe ...“


„Ja, ja, Matrone, Du wirſt es ſehn . . . Aber
ſieh doch nur, Botho, da iſt ja noch der Staketen¬
zaun und das alte Weißbierlokal mit dem komiſchen
und etwas unanſtändigen Namen, über den wir in
der Penſion immer ſo ſchrecklich gelacht haben. Ich
dachte, das Lokal wäre längſt eingegangen. Aber ſo
was laſſen ſich die Berliner nicht nehmen, ſo was
hält ſich; alles muß nur einen ſonderbaren Namen
haben, über den ſie ſich amüſiren können.“


Botho ſchwankte zwiſchen Glücklichſein und Anflug
von Verſtimmung. „Ich finde, Du biſt ganz unver¬
ändert, Käthe.“


„Gewiß bin ich. Und warum ſollt' ich auch ver¬
ändert ſein? Ich bin ja nicht nach Schlangenbad
[266] geſchickt worden, um mich zu verändern, wenigſtens
nicht in meinem Charakter und meiner Unterhaltung.
Und ob ich mich ſonſt verändert habe? Nun, cher
ami, nous verrons
.“


„Matrone?“


Sie hielt ihm den Finger auf den Mund und
ſchlug den Reiſeſchleier wieder zurück, der ihr halb
über das Geſicht gefallen war, gleich danach aber
paſſirten ſie den Potsdamer Bahnviadukt, über deſſen
Eiſengebälk eben ein Courierzug hinbrauſte. Das
gab ein Zittern und Donnern zugleich und als ſie
die Brücke hinter ſich hatten, ſagte ſie: „Mir iſt es
immer unangenehm gerade drunter zu ſein.“


„Aber die drüber haben es nicht beſſer.“


„Vielleicht nicht. Aber es liegt in der Vorſtellung.
Vorſtellungen ſind überhaupt ſo mächtig. Meinſt
Du nicht auch?“ Und ſie ſeufzte, wie wenn ſich ihr
plötzlich etwas Schreckliches und tief in ihr Leben
Eingreifendes vor die Seele geſtellt hätte. Dann
aber fuhr ſie fort: „In England, ſo ſagte mir Mr.
Armſtrong, eine Badebekanntſchaft, von der ich Dir
noch ausführlicher erzählen muß, übrigens mit einer
Alvensleben verheirathet, in England, ſagte er,
würden die Todten 15 Fuß tief begraben. Nun
15 Fuß tief iſt nicht ſchlimmer als 5, aber ich fühlte
ordentlich, während er mir's erzählte, wie ſich mir
der clay, das iſt nämlich das richtige engliſche Wort,
[267] centnerſchwer auf die Bruſt legte. Denn in Eng¬
land haben ſie ſchweren Lehmboden.“


„Armſtrong ſagteſt Du... Bei den badiſchen
Dragonern war ein Armſtrong.“


„Ein Vetter von dem. Sie ſind alle Vettern,
ganz wie bei uns. Ich freue mich ſchon, Dir ihn
in all ſeinen kleinen Eigenheiten ſchildern zu können.
Ein vollkommener Kavalier mit aufgeſetztem Schnurr¬
bart, worin er freilich etwas zu weit ging. Er ſah ſehr
komiſch aus, dieſe gewribbelte Spitze, dran er immer
noch weiter wribbelte.“


Zehn Minuten ſpäter hielt ihr Wagen vor ihrer
Wohnung und Botho, während er ihr den Arm
reichte, führte ſie hinauf. Eine Guirlande zog ſich
um die große Korridorthür und eine Tafel mit dem
Inſchriftsworte „Willkommen“, in dem leider ein „l“
fehlte, hing etwas ſchief an der Guirlande. Käthe
ſah hinauf und las und lachte.


„Willkommen! Aber blos mit einem „I“, will
ſagen nur halb. Ei, ei. Und „L“ iſt noch dazu
der Liebesbuchſtabe. Nun, Du ſollſt auch Alles nur
halb haben.“


Und ſo trat ſie durch die Thür in den Korridor
ein, wo Köchin und Hausmädchen bereits ſtanden
und ihr die Hand küßten.


„Guten Tag, Bertha; guten Tag, Minette. Ja,
Kinder, da bin ich wieder. Nun, wie findet Ihr
[268] mich? hab' ich mich erholt?“ Und eh' die Mädchen
antworten konnten, worauf auch gar nicht gerechnet
war, fuhr ſie fort: „Aber Ihr habt Euch erholt.
Namentlich Du, Minette, Du biſt ja ordentlich ſtark
geworden.“


Minette ſah verlegen vor ſich hin, weshalb Käthe
gutmüthig hinzuſetzte: „Ich meine nur hier ſo um
Kinn und Hals.“


Indem kam auch der Burſche. „Nun, Orth, ich
war ſchon in Sorge um Sie. Gott ſei Dank, ohne
Noth; ganz unverfallen, blos ein bischen bläßlich.
Aber das macht die Hitze. Und immer noch dieſel¬
ben Sommerſproſſen.“


„Ja, gnädige Frau, die ſitzen.“


„Nun das iſt recht. Immer ächt in der Farbe.“


Unter ſolchem Geſpräche war ſie bis in ihr
Schlafzimmer gegangen, wohin Botho und Minette
ihr folgten, während die beiden andern ſich in ihre
Küchenregion zurückzogen.


„Nun, Minette, hilf mir. Erſt den Mantel.
Und nun nimm den Hut. Aber ſei vorſichtig, wir
wiſſen uns ſonſt vor Staub nicht zu retten. Und
nun ſage Orth, daß er den Tiſch deckt vorn auf
dem Balkon, ich habe den ganzen Tag keinen Biſſen
genoſſen, weil ich wollte, daß es mir recht gut bei
Euch ſchmecken ſolle. Und nun geh, liebe Seele; geh,
Minette.“

[269]

Minette beeilte ſich und ging, während Käthe vor
dem hohen Stehſpiegel ſtehen blieb und ſich das in
Unordnung gerathene Haar arrangirte. Zugleich ſah
ſie im Spiegel auf Botho, der neben ihr ſtand und
die ſchöne junge Frau muſterte.


„Nun, Botho,“ ſagte ſie ſchelmiſch und kokett und
ohne ſich nach ihm umzuſehen.


Und ihre liebenswürdige Koketterie war klug
genug berechnet und er umarmte ſie, wobei ſie ſich
ſeinen Liebkoſungen überließ. Und nun umſpannte
er ihre Taille und hob ſie hoch in die Höh'. „Käthe,
Puppe, liebe Puppe.“


„Puppe, liebe Puppe, das ſollt' ich eigentlich
übelnehmen, Botho. Denn mit Puppen ſpielt man.
Aber ich nehm' es nicht übel, im Gegentheil. Puppen
werden am meiſten geliebt und am beſten behandelt.
Und darauf kommt es mir an.“

[[270]]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel.

Es war ein herrlicher Morgen, der Himmel
halb bewölkt und in dem leiſen Weſtwinde, der
ging, ſaß das junge Paar auf dem Balkon und ſah,
während Minette den Kaffeetiſch abräumte, nach dem
Zoologiſchen und ſeinen Elephantenhäuſern hinüber,
deren bunte Kuppeln im Morgendämmer lagen.


„Ich weiß eigentlich noch nichts,“ ſagte Botho,
„Du biſt ja gleich eingeſchlafen und der Schlaf iſt
mir heilig. Aber nun will ich auch Alles wiſſen.
Erzähle.“


„Ja, erzählen; was ſoll ich erzählen? Ich habe
Dir ja ſo viele Briefe geſchrieben, und Anna
Grävenitz und Frau Salinger mußt Du ja ſo gut
kennen wie ich oder eigentlich noch beſſer, denn ich
habe mitunter mehr geſchrieben, als ich wußte.“


„Wohl. Aber eben ſo oft hieß es „davon
[271] mündlich.“ Und dieſer Moment iſt nun da, ſonſt
denk' ich, Du willſt mir etwas verſchweigen. Von
Deinen Ausflügen weiß ich eigentlich gar nichts und
Du warſt doch in Wiesbaden. Es heißt zwar, daß
es in Wiesbaden nur Oberſten und alte Generale
gäbe, aber es ſind doch auch Engländer da. Und
bei Engländern fällt mir wieder Dein Schotte ein,
von dem Du mir erzählen wollteſt. Wie hieß er
doch?“


„Armſtrong; Mr. Armſtrong. Ja, das war ein
entzückender Mann und ich begriff ſeine Frau nicht
eine Alvensleben, wie ich Dir, glaub' ich, ſchon
ſagte, die beſtändig in Verlegenheit kam, wenn er
ſprach. Und er war doch ein vollkommener Gentle¬
man, der ſehr auf ſich hielt, auch dann noch, wenn
er ſich gehen ließ und eine gewiſſe Nonchalance
zeigte. Gentlemen bewähren ſich in ſolchen Mo¬
menten immer am beſten. Meinſt du nicht auch?
Er trug einen blauen Schlips und einen gelben
Sommeranzug und ſah aus, als ob er darin einge¬
näht wäre, weshalb Anna Grävenitz immer ſagte:
Da kommt das Pennal. Und immer ging er mit
einem großen aufgeſpannten Sonnenſchirm, was er
ſich in Indien angewöhnt hatte. Denn er war
Offizier in einem ſchottiſchen Regiment, das lange
in Madras oder Bombay geſtanden, oder vielleicht
[war es] auch Delhi. Das iſt aber am Ende gleich.
[272] Was der alles erlebt hatte! Seine Konverſation
war reizend, wenn man auch mitunter nicht wußte,
wie man's nehmen ſollte.“


„Alſo zudringlich? Inſolent?“


„Ich bitte Dich, Botho, wie Du nur ſprichſt.
Ein Mann wie der; Kavalier comme-il-faut.
Nun, ich will Dir ein Beiſpiel von ſeiner Art zu
ſprechen geben. Uns gegenüber ſaß die alte Gene¬
ralin von Wedell und Anna Grävenitz fragte ſie
(ich glaube, es war gerade der Jahrestag von
Königgrätz), ob es wahr ſei, daß 33 Wedells im
ſiebenjährigen Kriege gefallen ſeien? was die alte
Generalin bejahte, hinzuſetzend, es wären eigentlich
noch einige mehr geweſen. Alle, die zunächſt ſaßen,
waren über die große Zahl erſtaunt, nur Mr.
Armſtrong nicht, und als ich ihn wegen ſeiner
Gleichgiltigkeit ſcherzhaft zur Rede ſtellte, ſagte er,
daß er ſich über ſo kleine Zahlen nicht aufregen
könne. „Kleine Zahlen,“ unterbrach ich ihn, aber
er ſetzte lachend und um mich zu widerlegen, hinzu:
von den Armſtrongs ſeien 133 in den verſchiedenen
Kriegsfehden ſeines Clans umgekommen. Und als
die alte Generalin dies Anfangs nicht glauben
wollte, [ſchließlich] aber (als Mr. A. dabei beharrte,)
neugierig frug: ob denn alle 133 auch wirklich „ge¬
fallen“ ſeien? ſagte er „Nein, meine Gnädigſte,
nicht gerade gefallen, die meiſten ſind wegen Pferde¬
[273] diebſtahl von den Engländern, unſeren damaligen
Feinden, gehenkt worden.“ Und als ſich alles über
dies unſtandesgemäße, ja, man kann wohl ſagen,
etwas genirliche Gehenktwerden entſetzte, ſchwor er,
„wir thäten Unrecht, Anſtoß daran zu nehmen, die
Zeiten und Anſchauungen änderten ſich und was
ſeine doch zunächſt betheiligte Familie betreffe, ſo
ſähe dieſelbe mit Stolz auf dieſe Heldenvorfahren
zurück. Die ſchottiſche Kriegsführung habe drei¬
hundert Jahre lang aus Viehraub und Pferdedieb¬
ſtahl beſtanden, ländlich ſittlich und er könne nicht
finden, daß ein großer Unterſchied ſei zwiſchen
Länderraub und Viehraub.“


„Verkappter Welfe,“ ſagte Botho. „Aber es hat
manches für ſich.“


„Gewiß. Und ich ſtand immer auf ſeiner Seite,
wenn er ſich in ſolchen Sätzen erging. Ach, er war
zum Todtlachen. Er ſagte, man müſſe nichts
feierlich nehmen, es verlohne ſich nicht, und nur das
Angeln ſei eine ernſte Beſchäftigung. Er angle
mitunter 14 Tage lang im Loch Neß oder im Loch
Lochy, denke Dir, ſolche komiſche Namen giebt es in
Schottland, und ſchliefe dann im Boot und mit
Sonnenaufgang ſtünd' er wieder da und wenn dann
die 14 Tage um wären, dann mauſ're er ſich, dann
ginge die ganze ſchülbrige Haut ab und dann hab'
er eine Haut wie ein Baby. Und er thäte das alles
Fontane, Irrungen. 18[274] aus Eitelkeit, denn ein glatter egaler Teint ſei doch
eigentlich das Beſte, was' man haben könne. Und
dabei ſah er mich ſo an, daß ich nicht gleich eine
Antwort finden konnte. Ach, Ihr Männer! Aber
das iſt doch wahr, ich hatte von Anfang an ein
rechtes Attachement für ihn und nahm nicht Anſtoß
an ſeiner Redeweiſe, die ſich mitunter in langen
Ausführungen, aber doch viel, viel lieber noch in
einem beſtändigen Hin und Her erging. Einer
ſeiner Lieblingsſätze war: „Ich kann es nicht leiden,
wenn ein einziges Gericht eine Stunde lang auf
dem Tiſche ſteht; nur nicht immer dasſelbe, mir iſt
es angenehmer, wenn die Gänge raſch wechſeln.“
Und ſo ſprang er immer vom Hundertſten ins
Tauſendſte.


„Nun, da müßt' ihr euch freilich gefunden
haben.“ lachte Botho.


„Haben wir auch. Und wir wollen uns Briefe
ſchreiben, ganz in dem Stil, wie wir mit einander
geſprochen; das haben wir beim Abſchied gleich
ausgemacht. Unſere Herren, auch Deine Freunde,
ſind immer ſo gründlich. Und Du biſt der gründ¬
lichſte, was mich mitunter recht bedrückt und unge¬
duldig macht. Und Du mußt mir verſprechen, auch
ſo zu ſein, wie Mr. Armſtrong und ein bischen
mehr einfach und harmlos plaudern zu wollen und
ein bischen raſcher und nicht immer dasſelbe Thema.“

[275]

Botho verſprach Beſſerung, und als Käthe, die
die Superlative liebte, nach Vorführung eines
phänomenal reichen Amerikaners, eines abſolut
kakerlakigen Schweden mit Kaninchenaugen und einer
faszinirend ſchönen Spanierin — mit einem Nach¬
mittagsausfluge nach Limburg, Oranienſtein und
Naſſau geſchloſſen und ihrem Gatten abwechſelnd die
Krypt, die Kadettenanſtalt und die Waſſerheilanſtalt
beſchrieben hatte, zeigte ſie plötzlich auf die Schlo߬
kuppel nach Charlottenburg und ſagte: „Weißt Du,
Botho, da müſſen wir heute noch hin oder nach
Weſtend oder nach Halenſee. Die Berliner Luft iſt
doch etwas ſtickig und hat nichts von dem Athem
Gottes, der draußen weht und den die Dichter mit
Recht ſo preiſen. Und wenn man aus der Natur
kommt, ſo wie ich, ſo hat man das, was ich die
Reinheit und Unſchuld nennen möchte, wieder lieb
gewonnen. Ach, Botho, welcher Schatz iſt doch ein
unſchuldiges Herz. Ich habe mir feſt vorgenommen,
mir ein reines Herz zu bewahren. Und Du mußt
mir darin helfen. Ja, das mußt Du, verſprich es
mir. Nein, nicht ſo; Du mußt mir dreimal einen
Kuß auf die Stirn geben, bräutlich, ich will keine
Zärtlichkeit, ich will einen Weihekuß. . . Und wenn
wir uns mit einem Lunch begnügen, natürlich ein
warmes Gericht, ſo können wir um drei draußen ſein.“


18 *[276]

Und wirklich, ſie fuhren hinaus und wiewohl die
Charlottenburger Luft noch mehr hinter dem „Athem
Gottes“ zurückblieb als die Berliner, ſo war Käthe
doch feſt entſchloſſen, im Schloßpark zu bleiben und
Halenſee fallen zu laſſen. Weſtend ſei ſo lang¬
weilig und Halenſee ſei noch wieder eine halbe
Reiſe, faſt wie nach Schlangenbad, im Schloßpark
aber könne man das Mauſoleum ſehen, wo die
blaue Beleuchtung einen immer ſo ſonderbar berühre,
ja, ſie möchte ſagen, wie wenn einem ein Stück
Himmel in die Seele falle. Das ſtimme dann
andächtig und zu frommer Betrachtung. Und wenn
auch das Mauſoleum nicht wäre, ſo wäre doch die
Karpfenbrücke da, mit der Klingel dran und wenn
dann ein großer Mooskarpfen käme, ſo wär' es ihr
immer, als käm' ein Krokodil. Und vielleicht wär'
auch eine Frau mit Kringeln und Oblaten da, von
der man etwas kaufen und dadurch im Kleinen ein
gutes Werk thun könne, ſie ſage mit Abſicht ein
„gutes Werk“ und vermeide das Wort chriſtlich,
denn Frau Salinger habe auch immer gegeben.


Und alles verlief programmmäßig und als die
Karpfen gefüttert waren, gingen beide weiter in den
Park hinein, bis ſie bis dicht an das Belvedere
kamen mit ſeinen Rokokofiguren und ſeinen hiſto¬
riſchen Erinnerungen. Von dieſen Erinnerungen
wußte Käthe nichts und Botho nahm deshalb
[277] Veranlaſſung, ihr von den Geiſtern abgeſchiedener
Kaiſer und Kurfürſten zu erzählen, die der General
von Biſchofswerder an eben dieſer Stelle habe
erſcheinen laſſen, um den König Friedrich Wilhelm II.
aus ſeinen lethargiſchen Zuſtänden oder was
dasſelbe geweſen, aus den Händen ſeiner Geliebten
zu befreien und ihn auf den Pfad der Tugend
zurückzuführen.


„Und hat es geholfen?“ fragte Käthe.


„Nein.“


„Schade. Dergleichen berührt mich immer tief
ſchmerzlich. Und wenn ich mir dann denke, daß der
unglückliche Fürſt (denn unglücklich muß er geweſen
ſein) der Schwiegervater der Königin Luiſe war, ſo
blutet mir das Herz. Wie muß ſie gelitten
haben! Ich kann mir immer in unſerem Preußen
ſolche Dinge gar nicht recht denken. Und Biſchofs¬
werder, ſagteſt Du, hieß der General, der die
Geiſter erſcheinen ließ?“


„Ja. Bei Hofe hieß er der Laubfroſch.“


„Weil er das Wetter machte?“


„Nein, weil er einen grünen Rock trug.“


„Ach, das iſt zu komiſch . . . Der Laubfroſch.“

[]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel.

Bei Sonnenuntergang waren beide wieder da¬
heim und Käthe, nachdem ſie Hut und Mantel an
Minette gegeben und den Thee beordert hatte, folgte
Botho in ſein Zimmer, weil es ſie nach dem Be¬
wußtſein und der Genugthuung verlangte, den erſten
Tag nach der Reiſe ganz und gar an ſeiner Seite
zugebracht zu haben.


Botho war es zufrieden und weil ſie fröſtelte,
ſchob er ihr ein Kiſſen unter die Füße, während
er ſie zugleich mit einem Plaid zudeckte. Bald da¬
nach aber wurd' er abgerufen, um Dienſtliches, das
der Erledigung bedurfte, raſch abzumachen.


Minuten vergingen und da Kiſſen und Plaid
nicht recht helfen und die gewünſchte Wärme nicht
geben wollten, ſo zog Käthe die Klingel und ſagte
[279] dem eintretenden Diener, „daß er ein Paar Stücke
Holz bringen ſolle; ſie friere ſo.“


Zugleich erhob ſie ſich, um den Kaminſchirm bei
Seite zu ſchieben, und ſah, als dies geſchehen war,
das Häuflein Aſche, das noch auf der Eiſenplatte lag.


Im ſelben Momente trat Botho wieder ein und
erſchrak bei dem Anblick, der ſich ihm bot. Aber
er beruhigte ſich ſogleich wieder, als Käthe mit dem
Zeigefinger auf die Aſche wies und in ihrem ſcherz¬
hafteſten Tone ſagte: „Was bedeutet das, Botho?
Sieh', da hab' ich Dich mal wieder ertappt. Nun
bekenne. Liebesbriefe? Ja oder nein?“


„Du wirſt doch glauben, was Du willſt?“


„Ja oder nein?“


„Gut denn; ja.“


Das war Recht. Nun kann ich mich beruhigen.
Liebesbriefe, zu komiſch. Aber wir wollen ſie doch
lieber zweimal verbrennen: erſt zu Aſche und dann
zu Rauch. Vielleicht glückt es.“


Und ſie legte die Holzſtücke, die der Diener
mittlerweile gebracht hatte, geſchickt zuſammen und
verſuchte ſie mit ein paar Zündhölzchen anzuzünden.
Und es gelang auch. Im Nu brannte das Feuer
hell auf und während ſie den Fauteuil an die
Flamme ſchob und die Füße bequem und, um ſie
zu wärmen, bis an die Eiſenſtäbe vorſtreckte, ſagte
ſie: „Und nun will ich Dir auch die Geſchichte
[280] von der Ruſſin auserzählen, die natürlich gar keine
Ruſſin war. Aber eine ſehr kluge Perſon. Sie
hatte Mandelaugen, alle dieſe Perſonen haben
Mandelaugen, und gab vor, daß ſie zur Kur in
Schlangenbad ſei. Nun, das kennt man. Einen
Arzt hatte ſie nicht, wenigſtens keinen ordentlichen,
aber jeden Tag war ſie drüben in Frankfurt oder
in Wiesbaden oder auch in Darmſtadt und immer
in Begleitung. Und Einige ſagen ſogar, es ſei nicht
mal derſelbe geweſen. Und nun hätteſt Du ſehen
ſollen, welche Toilette und welche Suffiſance! Kaum,
daß ſie grüßte, wenn ſie mit ihrer Ehrendame zur
Table d'hote kam. Denn eine Ehrendame hatte ſie,
das iſt immer das Erſte bei ſolchen Damen. Und
wir nannten ſie „die Pompadour“, ich meine die
Ruſſin, und ſie wußt' es auch, daß wir ſie ſo
nannten. Und die alte Generalin Wedell, die ganz
auf unſrer Seite ſtand und ſich über die zweifelhafte
Perſon ärgerte (denn eine Perſon war es, darüber
war kein Zweifel), die alte Wedell, ſag' ich, ſagte
ganz laut über den Tiſch hin: „Ja, meine Damen,
die Mode wechſelt in allem, auch in den Taſchen
und Täſchchen und ſogar in den Beuteln und
Beutelchen. Als ich noch jung war, gab es noch
Pompadours, aber heute giebt es keine Pompadours
mehr. Nicht wahr? Es giebt keine Pompadours
mehr.“ Und dabei lachten wir und ſahen alle die
[281] Pompadour an. Aber die ſchreckliche Perſon ge¬
wann trotzdem einen Sieg über uns und ſagte mit
ſcharfer und lauter Stimme, denn die alte Wedell
hörte ſchlecht: „Ja, Frau Generalin, es iſt ſo, wie
Sie ſagen. Nur ſonderbar, als die Pompadours
abgelöſt wurden, kamen die Reticules an die Reihe,
die man dann ſpäter die Ridicules nannte. Und
ſolche Ridicules giebt es noch.“ Und dabei ſah ſie
die gute alte Wedell an, die, weil ſie nicht antworten
konnte, vom Tiſche aufſtand und den Saal verließ.
Und nun frag' ich Dich, was ſagſt Du dazu? Was
ſagſt Du zu ſolcher Impertinenz?.., Aber Botho,
Du ſprichſt ja nicht, Du hörſt ja gar nicht..“


„Doch, doch, Käthe..“


Drei Wochen ſpäter war eine Trauung in der
Jakobi-Kirche, deren kreuzgangartiger Vorhof auch
heute von einer dichten und neugierigen Menſchen¬
menge, meiſt Arbeiterfrauen, einige mit ihren Kindern
auf dem Arm, beſetzt war. Aber auch Schul- und
Straßenjugend hatte ſich eingefunden. Allerlei Kut¬
ſchen fuhren vor, und gleich aus einer der erſten
ſtieg ein Paar, das, ſo lang es im Geſichtskreiſe
der Anweſenden verblieb, mit Lachen und Getuſchel
begleitet wurde.


[282]

„Die Taille“, ſagte eine der zunächſt ſtehenden
Frauen.


„Taille?“


„Na denn Hüfte.“


„Schon mehr Walfiſchrippe...“


Das ſtimmt.“


Und kein Zweifel, daß ſich dies Geſpräch noch
fortgeſetzt hätte, wenn nicht in eben dieſem Augen¬
blicke die Brautkutſche vorgefahren wäre. Der vom
Bock herabſpringende Diener eilte den Kutſchen¬
ſchlag zu öffnen, aber der Bräutigam ſelbſt, ein
hagerer Herr mit hohem Hut und ſpitzen Vater¬
mördern, war ihm bereits zuvorgekommen und reichte
ſeiner Braut die Hand, einem ſehr hübſchen Mädchen,
das übrigens, wie gewöhnlich bei Bräuten, weniger
um ſeines hübſchen Ausſehens, als um ſeines weißen
Atlaskleides willen bewundert wurde. Dann ſtiegen
Beide die mit einem etwas abgetretenen Teppich
belegte, nur wenig Stufen zählende Steintreppe hin¬
auf, um zunächſt in den Kreuzgang und gleich da¬
nach in das Kirchenportal einzutreten. Aller Blicke
folgten ihnen.


„Un kein Kranz nich?“ ſagte dieſelbe Frau, vor
deren kritiſchem Auge kurz vorher die Taille der
Frau Dörr ſo ſchlecht beſtanden hatte.


„Kranz?. . Kranz?. . Wiſſen Sie denn . denn
Haben Sie denn nichts munkeln hören?“

[283]

„Ach ſo. Freilich hab' ich. Aber, liebe Kor¬
natzki, wenn es nach's Munkeln ginge, gäb' es gar
keine Kränze mehr un Schmidt in der Friedrichs¬
ſtraße könnte man gleich zumachen.“


„Ja, ja,“ lachte jetzt die Kornatzki „das könnt'
er. Un am Ende für ſo 'nen Alten! Fuffzig jute
hat er doch woll auf'n Puckel un ſah eigentlich aus,
als ob er ſeine ſilberne gleich mitfeiern wollte.“


„Woll. So ſah er aus. Un haben Sie denn
ſeine Vatermörder geſehn? So was lebt nich.“


„Damit kann er ſie gleich dod machen, wenn's
wieder munkelt.“


„Ja, das kann er.“


„Und ſo ging es noch eine Weile weiter, während
aus der Kirche ſchon das Präludium der Orgel
hörbar wurde.


Den anderen Morgen ſaßen Rienäcker und Käthe
beim Frühſtück, diesmal in Botho's Arbeitszimmer,
deſſen beide Fenſter, um Luft und Licht einzulaſſen,
weit offen ſtanden. Rings um den Hof her niſtende
Schwalben flogen zwitſchernd vorüber und Botho,
der ihnen allmorgendlich einige Krumen hinzu¬
ſtreuen pflegte, griff eben wieder zu gleichem Zweck
nach dem Frühſtückskorb, als ihm das ausgelaſſene
Lachen ſeiner ſeit fünf Minuten ſchon in ihre
[284] Lieblingszeitung vertieften jungen Frau Veranlaſſung
gab, den Korb wieder hinzuſtellen.


„Nun, Käthe, was iſt? Du ſcheinſt ja was ganz
beſonders Nettes gefunden zu haben.“


„Hab' ich auch.. Es iſt doch zu komiſch, was
es für Namen giebt! Und immer gerade bei Hei¬
raths- und Verlobungsanzeigen. Höre doch nur.“


„Ich bin ganz Ohr.“


„ . . . Ihre heute vollzogene eheliche Verbindung
zeigen ergebenſt an: Gideon Franke, Fabrik¬
meiſter, Magdalene Franke, geb. Nimptſch . .,
Nimptſch. Kannſt Du Dir 'was Komiſcheres denken?
Und dann Gideon!“


Botho nahm das Blatt, aber freilich nur weil
er ſeine Verlegenheit dahinter verbergen wollte.
Dann gab er es ihr zurück und ſagte mit ſo viel
Leichtigkeit im Ton, als er aufbringen konnte: „Was
haſt Du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon iſt
beſſer als Botho.“

Appendix A

Druck von G. Pätz, Naumburg, a. S.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Irrungen, Wirrungen. Irrungen, Wirrungen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjfm.0