VOM
MODERNEN STAT.
ALLGEMEINE STATSLEHRE.
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1875.
[[III]]
STATSLEHRE
Fünfte umgearbeitete Auflage des ersten Bandes
des
ALLGEMEINEN STATSRECHTS.
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1875.
[[IV]]
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.
[[V]]
Vorwort.
Im Jahr 1852 ist dieses Werk zuerst unter dem
Titel erschienen: „Allgemeines Statsrecht ge-
schichtlich begründet“ in Einem Bande. Seither hat
dasselbe mehrere Auflagen erlebt und manche Er-
weiterung und Verbesserung im Einzelnen erfahren.
Als eine fünfte Auflage nöthig wurde, faszte ich
den Entschlusz, diese Statslehre durch die Aufnahme
der Politik zu vervollständigen und in drei Ab-
theilungen
- I. Allgemeine Statslehre,
- II. Allgemeines Statsrecht,
- III. Politik
den Fortschritten der Wissenschaft gemäsz darzu-
stellen. Das bisherige Werk muszte in Folge dessen
gänzlich umgearbeitet werden. Die beiden ersten
Bände entsprechen groszentheils den beiden Bänden
des früheren Allgemeinen Statsrechts. Nur habe ich
die gemeinsame Grundlage des Statsrechts und der
Politik in dem Ersten Bande als Allgemeine Stats-
[VI]Vorwort.
lehre voraus geschickt. Zu diesem Behuf habe ich
auch die bisher nicht beachtete Lehre vom Statszweck
neu hinzugefügt und die Begriffe der Souveränetät
und die allgemeine Institution des Statsamts in diesen
ersten Band aufgenommen. Dagegen habe ich die
bisher im ersten Bande enthaltene Lehre von der
Gesetzgebung nun dem zweiten Bande zugewiesen,
welcher als Allgemeines Statsrecht erscheint.
In diesen beiden ersten Bänden ist vieles im
Einzelnen neu bearbeitet. Der dritte Band Politik
ist ganz neu.
Ich habe in diesem für wissenschaftlich Gebil-
dete, insbesondere auch für Studirende der Stats-
und Rechtswissenschaft bestimmten Werke die Ergeb-
nisse vieljähriger Arbeit und wiederholten Nach-
denkens niedergelegt und betrachte dasselbe als den
schriftstellerischen Abschlusz eines reifen der Wissen-
schaft und der Praxis gewidmeten Lebens. Ich hoffe,
dasz dasselbe eine ebenso günstige Aufnahme finden
werde, wie die früheren Auflagen.
Heidelberg, 1. Mai 1875.
Bluntschli.
[[VII]]
Inhalt.
Einleitung.
Seite
Cap. I. Die Statswissenschaft 1- Cap. II. Wissenschaftliche Methoden 5
- Cap. III. Allgemeine und besondere Statswissenschaft 11
- Erstes Buch.
Der Statsbegriff.
Cap. I. Statsbegriff und Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff 14 - Cap. II. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich 25
- Cap. III. Entwicklungsgeschichte der Statsidee.
I. Die antike Welt 37 - Cap. IV. II. Das Mittelalter 42
- Cap. V. III. Die moderne Statsidee.
1. Wann beginnt das moderne Weltalter? 52 - Cap. VI. 2. Hauptunterschiede des modernen Statsbegriffs
von dem antiken und dem mittelalterlichen
Statsbegriff 60 - Cap. VII. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre 68
- Zweites Buch.
Die Grundbedingungen des Stats in der Menschen- und
Volksnatur.
Seite - Cap. I. I. Die Menschheit, die Menschenrassen und die Völker-
familien 85 - Cap. II. II. Die Begriffe Nation und Volk 91
- Cap. III. Nationale Rechte 99
- Cap. IV. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip 103
- Cap. V. III. Die Gesellschaft 118
- Cap. VI. IV. Die Stämme 121
- Cap. VII. V. Kasten. Stände. Classen.
A. Die Kasten 123 - Cap. VIII. B. Die Stände 129
- Cap. IX. 1. Der Klerus 134
- Cap. X. 2. Der Adel.
A. Der französische Adel 141 - Cap. XI. B. Der englische Adel 154
- Cap. XII. C. Der deutsche Adel.
I. Herrenadel 163 - Cap. XIII. II. Ritterschaftlicher Adel 170
- Cap. XIV. 3. Der Bürgerstand 176
- Cap. XV. 4. Der Bauernstand 186
- Cap. XVI. 5. Die Sclaverei und ihre Aufhebung 191
- Cap. XVII. 6. Die modernen Classen.
I. Das Princip 199 - Cap. XVIII. II. Die einzelnen Classen 203
- Cap. XIX. Verhältnisz des States zur Familie.
1. Geschlechterstat. Patriarchie. Ehe 216 - Cap. XX. 2. Die Frauen 228
- Seite
- Cap. XXI. Verhältnisz des Stats zu den Individuen.
1. Volksgenossen und Fremde 235 - Cap. XXII. 2. Die Statsbürger im engeren Sinne 246
- Drittes Buch.
Die Grundlagen des Stats in der äuszeren Natur.
Das Land.
Cap. I. I. Das Klima 254 - Cap. II. II. Bodengestalt und Naturerscheinungen 259
- Cap. III. III. Fruchtbarkeit des Bodens 263
- Cap. IV. IV. Das Land 270
- Cap. V. V. Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Statseigen-
thum) 278 - Cap. VI. VI. Eintheilung des Landes 283
- Cap. VII. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum 286
- Viertes Buch.
Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Cap. I. Einleitung 298 - Cap. II. A. Geschichtliche Entstehungsformen.
I. Ursprüngliche 301 - Cap. III. II. Secundäre Entstehungsformen 307
- Cap. IV. III. Abgeleitete Entstehungsformen 317
- Cap. V. IV. Untergang der Staten 319
- Cap. VI. B. Speculative Theorien.
I. Der sogenannte Naturstand 323 - Cap. VII. II. Der Stat als göttliche Institution 326
- Cap. VIII. III. Die Theorie der Gewalt 333
- Seite
- Cap. IX. IV. Die Vertragstheorie 335
- Cap. X. V. Der organische Statstrieb und das Stats-
bewusztsein 341 - Fünftes Buch.
Der Statszweck.
Cap. I. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und
Mittel? 345 - Cap. II. Falsche Bestimmung des Statszwecks 350
- Cap. III. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Stats-
zwecks 354 - Cap. IV. Der wahre Statszweck 358
- Sechstes Buch.
Die Statsformen.
Cap. I. Die Eintheilung des Aristoteles 369 - Cap. II. Der sogenannte gemischte Stat 372
- Cap. III. Neuere Fortbildung der Theorie 376
- Cap. IV. Das Princip der vier Grundformen 378
- Cap. V. Das Princip der vier Nebenformen 382
- Cap. VI. I. Die (Ideokratie) Theokratie 386
- Cap. VII. II. Monarchische Statsformen.
Die Hauptarten der Monarchie 399 - Cap. VIII. A. Hellenisches und altgermanisches Geschlechts-
königthum 403 - Cap. IX. B. Altrömisches Volkskönigthum 410
- Cap. X. C. Das römische Kaiserthum 415
- Cap. XI. D. Fränkisches Königthum 421
- Cap. XII. E. Die Lehensmonarchie und die ständische
beschränkte Monarchie 429 - Seite
- Cap. XIII. F. Die neuere absolute Monarchie 440
- Cap. XIV. G. Die constitutionelle Monarchie.
1. Die Entstehung und Verbreitung der
constitutionellen Monarchie448 - Cap. XV. 2. Falsche Vorstellungen von der con-
stitutionellen Monarchie 486 - Cap. XVI. 3. Das monarchische Princip und der Be-
griff der constitutionellen Monarchie 492 - Cap. XVII. III. Die Aristokratie.
A. Hellenische Form. Sparta 502 - Cap. XVIII. B. Die römische Aristokratie 508
- Cap. XIX. Bemerkungen über die Aristokratie 516
- Cap. XX. IV. Demokratische Statsformen.
A. Die unmittelbare (antike) Demokratie 525 - Cap. XXI. Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie 531
- Cap. XXII. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie,
die heutige Republik 537 - Cap. XXIII. Betrachtungen über die Repräsentativdemo-
kratie 549 - Cap. XXIV. V. Zusammengesetzte Statsformen 555
- Siebentes Buch.
Statshoheit und Statsgewalt (Souveränetät), ihre Gliederung.
Statsdienst und Statsamt.
Cap. I. Der Begriff der Statsgewalt (Souveränetät) 561 - Cap. II. Statssouveränetät (Volkssouveränetät) und Regentensouve-
ränetät 565 - Cap. III. I. Inhalt der Statssouveränetät 575
- Cap. IV. II. Die Fürstensouveränetät 581
- Cap. V. Die Sonderung der Gewalten. Antike Zustände 583
- Seite
- Cap. VI. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen 584
- Cap. VII. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten 588
- Cap. VIII. Statsdiener und Statsämter 599
- Cap. IX. Besetzung der Statsämter 605
- Cap. X. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten 615
- Cap. XI. Ende des Statsdienstes 627
Einleitung.
Erstes Capitel.
Die Statswissenschaft.
Unter Statswissenschaft im eigentlichen Sinne ver-
stehen wir die Wissenschaft, deren Gegenstand der Stat ist,
welche den Stat in seinen Grundlagen, in seinem Wesen,
seinen Erscheinungsformen, seiner Entwicklung zu erkennen
und zu begreifen sucht.
In diesem Sinne gehören manche Wissenschaften, welche
man zuweilen den Statswissenschaften beizählt, nicht zu
diesen, obwohl sie auch eine Beziehung auf den Stat haben
und immerhin als Hülfswissenschaft des Statslebens mit
in Betracht kommen, wie insbesondere:
a) nicht die Geschichte einer Nation eines Volkes,
insofern dieselbe nicht ausschliesslich Statsgeschichte ist, son-
dern zugleich die allgemeinen Erlebnisse eines Volkes oder
die That einzelner Personen darstellt, die Geschichte der
Kunst und Wissenschaft, der Wirthschaft und der Sitten, die
diplomatischen und politischen Kämpfe, die Kriegsereignisse
darstellt;
b) selbst nicht die Statistik, in wiefern sie sich nicht
auf die statlichen Zustände beschränkt, sondern auch die ge-
sellschaftlichen und Privatzustände mit umfasst;
Bluntschli, allgemeine Statslehre. I. 1
[2]Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
c) ebenso wenig die Nationalökonomie, insofern sie
die wirthschaftlichen Gesetze erforscht, welche für Jedermann
— nicht bloss für den Stat — gelten;
d) noch die Lehre von der Gesellschaft, insofern das
Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als
Statsleben erscheint.
Die alten Griechen nannten die gesammte Statswissen-
schaft Politik. Wir unterscheiden Statsrecht und Politik
sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen
denselben überdem noch manche besondere Lehren unter
eigenem Namen bei, wie z. B. die statliche Statistik, das
Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft
u. s. f.
Statsrecht und Politik betrachten beide den Stat im
Grossen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften
betrachtet ihn von einem andern Standpunkte aus und nach
anderer Richtung. Um den Stat gründlicher zu erkennen,
zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden Hauptseiten
seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Theile, da-
mit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaft-
lichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit, das
Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem
man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der
Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit,
wenn sie in ihrer Eigenthümlichkeit geschaut und erwogen
wird.
Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in
seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie
stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften
Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz,
die Nothwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Stat, wie er
ist, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Stats-
recht.
Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in [3]
Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele
hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt
die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie er-
wägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu er-
langen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts
auf die Gesammtzustände und überlegt, wie die schädlichen
Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden
Einrichtungen zu heben sind. Das Statsleben, die Stats-
praxis, das ist die Politik.
Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung
zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu
der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper
zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich
mannigfaltig ausspricht. Das Statsrecht prüft die Recht-
mässigkeit der Zustände, die Politik prüft die Zweck-
mässigkeit der Handlung.
Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sitt-
licher Gehalt. Der Stat ist ein sittliches Wesen und er hat
sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden
nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von
dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht
einzelne Capitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre
Grundlage im Stat und ihre Bestimmung für den Stat. Sie
sind Statswissenschaften. Die Sittenlehre aber ist keine Stats-
wissenschaft, weil ihre Grundgesetze nicht aus dem Stat zu
erklären sind, sondern eine breitere Basis in der Menschen-
natur überhaupt und eine höhere Begründung in der gött-
lichen Weltordnung und der göttlichen Bestimmung des
Menschengeschlechts haben.
Man darf Statsrecht und Politik nicht absolut von ein-
ander trennen. Der wirkliche Stat lebt; d. h. er ist Ver-
bindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist
nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung
der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht
[4]Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
blosz ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte;
und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden
Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall,
wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unter-
schied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechts-
geschichte unterscheidet sich gerade dadurch von der poli-
tischen Geschichte, dasz jene sich darauf beschränkt, den
Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des
States nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der
dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen,
diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale
und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise
der politischen Personen, die Thaten und Leiden beider legt,
und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und
reinste Ausdruck des Statsrechts ist das Gesetz (die Ver-
fassung), die klarste und lebendigste Aeuszerung der Politik
ist die practische Leitung des States selbst (die Regierung).
Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das
Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung
ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll
sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So
übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des
Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Er-
starrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des
Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der
Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne
die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die
Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zer-
störungswuth untergehen.
Lediglich Gründe der Klarheit und Vereinfachung be-
stimmen uns, den beiden Statslehren Statsrecht und Politik
noch als dritte, oder vielmehr erste Abtheilung der Stats-
wissenschaft die Allgemeine Statslehre voraus zu
schicken. Wir betrachten hier noch den Stat im Ganzen,
[5]Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
ohne vorerst die beiden Seiten in ihm, die unterlägliche des
Rechts und die eigenschaftliche der Politik zu unterscheiden.
Der Statsbegriff, seine Grundlagen und Bestandtheile (Volk
und Land), seine Entstehung, sein Zweck, die Hauptformen
seiner Verfassung, der Begriff und die Gliederung der Stats-
gewalt, bilden den Inhalt der allgemeinen Statslehre, welche
hinwieder den beiden besonderen Statswissenschaften, dem
Statsrecht und der Politik, zu Grunde liegt.
In diesem Sinn soll der erste Theil dieses Werks der
allgemeinen Statslehre, der zweite dem Statsrecht
und der dritte der Politik gewidmet sein.
Zweites Capitel.
Wissenschaftliche Methoden.
Die wissenschaftliche Betrachtung des Stats kann von
verschiedenem Standpunkte aus und in verschiedener Weise
unternommen werden. Wir unterscheiden zwei innerlich be-
gründete Methoden der wissenschaftlichen Untersuchung und
zwei falsche fehlerhafte Methoden, welche als einseitige Ab-
arten der ersten beiden Arten erscheinen. Wir bezeichnen
als richtige Methoden die philosophische und die histo-
rische Methode. Die Abarten entstehen aus der extremen
Uebertreibung je der einen vorherrschenden Seite jener erstern
Methoden; aus der philosophischen ist so die blosz abstract-
ideologische, aus der historischen die einseitig-empi-
rische wie aus dem Urbild das Zerrbild durch Verderbnisz
hervorgegangen.
Der Gegensatz der Methoden schlieszt sich an theils an
die Eigenschaften sowohl des Rechtes als der Politik, theils
an die Verschiedenheit der geistigen Anlagen derer, welche
in dieser Wissenschaft gearbeitet haben.
[6]Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
Alles Recht und alle Politik nämlich hat eine ideale
Seite, einen sittlichen und geistigen Gehalt in sich, aber beide
ruhen zugleich auf einem realen Boden, und haben auch
eine leibliche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite
ist von der abstracten Ideologie verkannt und übersehen
worden. Sie pflegt sich ein abgezogenes Statsprincip auszu-
denken, und daraus eine Reihe logischer Folgerungen zu ziehen,
ohne Rücksicht auf den wirklichen Stat und dessen reale Ver-
hältnisse. Selbst Platon ist in seiner Republik in diesen
Fehler verfallen und daher zu Sätzen gekommen, welche der
Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu wider-
sprechen. Indessen war Platon doch durch den Reichthum seines
Geistes und seinen Sinn für die Schönheit der Form vor der
armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben,
welche uns in den Statslehren der Neuern so häufig begegnen.
Der Stat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Pro-
duct der bloszen kalten Logik, und das Recht des States ist
nicht eine Sammlung speculativer Sätze.
Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Unter-
suchung betrieben wird, leicht zu unfruchtbaren Resultaten;
wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten
Geltendmachung fixer Ideen und zur Auflösung und Zerstörung
des bestehenden Stats. In Zeiten der Revolution, wo die los-
gebundenen Leidenschaften sich um so lieber solcher abstrac-
ten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hülfe die
Schranken des Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, er-
halten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht,
und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen,
mit dämonischer Gewalt Alles vor sich nieder. Die franzö-
sische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der
Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung
vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu
sagen: „Die Metaphysiker, die Ideologen haben Frank-
reich zu Grunde gerichtet.“ Die ideologische Auffassung der
[7]Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
„Freiheit und Gleichheit“ hat Frankreich mit Ruinen gefüllt
und mit Blut getränkt, die doctrinäre Ausbeutung des
„monarchischen Princips“ hat die politische Freiheit Deutsch-
lands niedergedrückt und seine Machtentwicklung gehemmt,
und die abstracte Durchführuung des Nationalitätengrundsatzes
hat dem Frieden von ganz Europa bedroht. Die fruchtbarsten
und wahrsten Ideen werden verderblich, wenn ideologisch
erfaszt und dann mit dem Fanatismus der Bornirtheit verwirk-
licht werden.
Der entgegengesetzten Einseitigkeit macht sich die aus-
schlieszlich empirische Methode schuldig, indem sie sich
blosz an vorhandene äuszerliche Form, an den Buchstaben
des Gesetzes oder an die thatsächlichen Erscheinungen hält.
Diese Methode, welche in der Wissenschaft höchstens durch
ihre Sammelwerke einen Werth hat, in denen sie groszen Stoff
anhäuft, findet in dem Statsleben häufig, zumal unter bureau-
kratisch gebildeten Beamten, zahlreichen Anhang. Sie gefährdet
dann zwar selten unmittelbar die ganze Statsordnung, wie die
ideologischen Gegenfüszler, aber sie setzt sich wie ein Rost
an das blanke Schwert der Gerechtigkeit an, umstrickt die
öffentliche Wohlfahrt mit Hemmnissen aller art, verursacht
eine Menge kleiner Schäden, entnervt die sittliche Kraft und
schwächt die Gesundheit des States dergestalt, dasz um ihret-
willen in kritischen Zeiten seine Rettung überaus erschwert,
zuweilen unmöglich gemacht wird. Führt die blosz ideolo-
gische Methode, wenn sie practisch wird, den Stat eher in
fieberhafte Stimmungen und Krisen hinein, so hat diese blosz
empirische Methode unter derselben Voraussetzung eher chro-
nische Uebel zur Folge.
Die historische Methode unterscheidet sich von der
letztern vortheilhaft dadurch, dasz sie nicht blosz das gerade
vorhandene Gesetz oder vorhandenen Thatsachen gedanken-
los und knechtisch verehrt, sondern den innern Zusammen-
hang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die orga-
[8]Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden
nische Entwicklung des Volkslebens und die in der
Geschichte offenbar gewordene sittliche Idee erkennt,
nachweist und beleuchtet. Sie geht zwar zunächst von
der realen Erscheinung aus, aber sie faszt diese als eine leben-
dige auf, nicht als eine todte.
Verwandt mit ihr ist die wahrhaft philosophische
Methode welche nicht blosz abstract speculirt, sondern concret
denkt und eben darum Idee und Realität verbindet. Wäh-
rend jene ihrer Betrachtung die geschichtliche Erscheinung und
Entwicklung zu Grunde legt, geht diese zunächst von der Er-
kenntniss der menschlichen Seele aus, und betrachtet von da
aus die in Geschichte geoffenbarten Aeuszerungen des
menschlichen Geistes.
Nur wenigen Individuen war es vergönnt, diese beiderlei
Betrachtungsweisen zugleich in sich zu vereinigen. Die meisten,
die sich auf einen höheren wissenschaftlichen Standpunkt er-
hoben haben, wurden durch ihre natürlichen Anlagen ent-
weder der einen oder der andern Richtung vorzugsweise zu-
geleitet. Unter jenen Erstern verdient Aristoteles voraus
unsere Bewunderung, dessen Statslehre, obwol in jener jugend-
lichen Periode der Geschichte der Menschheit geschrieben,
welche der reiferen Statenbildung vorausging, dennoch auf
Jahrtausende nach ihm eine der reinsten Quellen statlicher
Weisheit geblieben ist. Der Römer Cicero ahmte zwar in
der Form der Begründung und Darstellung die philosophische
Weise der darin reicher begabten Griechen nach, den besten
Theil des Inhaltes aber schöpfte er mit Recht aus der Fülle
practisch-römischer Politik. Unter den Neuern sind der Fran-
zose Bodin, der Italiener Vico und der Engländer Baco de
Verulam als frühe Repräsentanten der philosophisch-histo-
rischen Methode zu nennen. Cicero ähnlich an hinreiszender,
schwunghafter Beredsamkeit hat der Engländer Burke die
Lehren der englischen Statswissenschaft ebenso aus der Ge-
schichte und dem Leben seines Volkes gegriffen und in geist-
[9]Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
reicher und philosophischer Form verherrlicht. Der Italiener
Machiavelli, der in seinen Werken die reiche und schwere
Lebenserfahrung eines tiefen und klugen Menschenkenners nie-
dergelegt hat, und der Franzose Montesquieu, welcher mit
freiem und heiterm Blicke die Welt anschaut und reich ist
an feinen Bemerkungen und treffenden Beobachtungen, wech-
seln in ihren Schriften in der Methode; doch ist jener mehr
der historischen, dieser mehr der philosophischen ergeben.
Der welsche Schweizer Rousseau und der Engländer Ben-
tham dagegen halten sich, gleich den meisten Deutschen,
mehr an die philosophische Methode, verfallen aber häufiger
als ihr gröszeres Vorbild Platon in die einseitigen Ver-
irrungen der bloszen Idiologie.
Es ist somit klar: die beiden Methoden, die historische
und die philosophische, bestreiten sich nicht. Sie ergänzen
sich vielmehr und corrigiren sich. Der ist sicherlich ein bor-
nirter Historiker, der meint, mit ihm sei die Geschichte ab-
geschlossen, und es werde kein neues Recht mehr geboren,
und der ein eitler und thörichter Philosoph, der meint, er sei
der Anfang und das Ende aller Wahrheit. Der echte Histo-
riker ist als solcher genöthigt den Werth auch der Philosophie
anzuerkennen, und der wahre Philosoph ist ebenso darauf hin-
gewiesen auch die zu Rathe zu ziehen.
Wohl aber hat jede der beiden Methoden ihre eigenthüm-
lichen Vorzüge und hinwieder ihre besonderen Schwächen und
Gefahren. Der Hauptvorzug der historischen ist der Reich-
thum und die Positivität ihrer Resultate; denn die Ge-
schichte ist voll lebendiger Mannichfaltigkeit und zugleich
durch und durch positiv. Was der fruchtbarste Denker in
seinem Kopfe auszudenken vermag, wird doch immer, ver-
glichen mit den in der Geschichte der Menschheit geoffen-
barten Gedanken, nur ein ärmliches Stückwerk sein, und ge-
wöhnlich nur eine unsichere und nebelhafte Gestalt erlangen.
Aber daneben besteht allerdings die Gefahr, dasz man, dem
[10]Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
historischen Bahnen folgend, leicht über der reichen Mannich-
faltigkeit der Einheit vergiszt und die Einheit verliert, dasz
man von der Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von
der Massenhaftigkeit der geschichtlichen Erfahrungen über-
wältigt wird, dasz man insbesondere, von der Vergangenheit
angezogenen und gefesselt, den frischen Blick in das Leben der
Gegenwart und nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind
das keineswegs nothwendige Folgen der historischen Methode,
aber die Geschichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die
sich ihr leidenschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege
sich verirren.
Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind:
Reinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere
Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strebens nach Ver-
vollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vor-
zugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugweise ideales
Gepräge. Und wieder drohen ihr eigentliche Gefahren,
insbesondere dasz die Philosophen in dem Streben nach dem
Einen oft als einfach gedachten Ziele die innere Mannich-
faltgkeit der Natur und den reichen Inhalt des realen Daseins
folgend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken,
leere Formeln ohne Gehalt, Blase ohne Kern finden, und
dem Spiele mit diesen verfallen, dasz sie, die natürliche Ent-
wicklung verkennend, unreife Früchte pflücken, wurzellose
Bäume in die Erde stecken und in ideologischen Irrwahn ver-
sinken. Nur wenigen philosophischen Geistern ist es geglückt,
sich von diesen Verirrungen frei zu erhalten.
Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1841 in
der Schrift: „Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen“ in
ihrer Beziehung auf die deutsche Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite
Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler
Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Juris-
prudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit
der Philosophie die nöthige Reform der Rechtswissenschaft erwartet.
[11]Drittes Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
Drittes Capitel.
Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
Die besondere Statswissenschaft beschränkt die Unter-
suchung und Darstellung des Stats auf ein bestimmtes Volk
und einen einzelnen Stat, z. B. die alte römische Republik,
die neuere englische Verfassung, das heutige deutsche Reich.
Die allgemeine Statswissenschaft dagegen beruht auf uni-
verseller Auffassung nicht eines einzelnen, sondern des
States. Der besondere Stat geht von einem bestimmten
Volke aus, der allgemeine sieht voraus auf die menschliche
Natur und von der Menschheit aus. 1
Man faszt die allgemeine Statslehre und insbesondere das
allgemeine Statsrecht sehr oft als das Product idealer Spe-
culation auf und versucht dasselbe aus einer speculativen
Weltanschauung durch einfache logische Schluszfolgerung her-
zuleiten. Es sind so mancherlei Systeme entstanden eines
sogenannten philosophischen oder natürlichen Statsrechtes,
welches sodann dem sogenannten positiven und historischen
Statsrechte entgegengesetzt wurde.
Ich verstehe den Gegensatz anders. Der Stat musz so-
wohl philosophisch begriffen als historisch erkannt werden:
und das allgemeine Statsrecht kann so wenig als das beson-
dere dieser zweiseitigen Arbeit entbehren.
Die besondere Statslehre setzt die allgemeine voraus, wie
die besondere Volksart die gemeinsame Menschennatur vor-
aussetzt. Die allgemeine Statswissenschaft stellt die Grund-
[12]Drittel Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
begriffe dar, welche in den besonderen Statslehren zu mannig-
faltiger Erscheinung kommen. Die Geschichte, die jene
beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht die enge Landes-
geschichte, welche den besondern Stat erklärt. In der
Weltgeschichte finden wir die Probe der philosophischen Ge-
danken; und in ihr entdecken wir eine Fülle positiven Ge-
haltes, welche so oft der blosz speculativen Betrachtung fehlt.
Die Weltgeschichte zeigt uns die verschiedenen Entwicklungs-
stufen, welche die Menschheit seit ihrer Kindheit durchlebt
hat, und auf jeder finden wir eigenthümliche Anschauungen
vom State und verschiedene Statenbildungen. Sie lehrt uns
das Verhältnisz verstehen, in die mancherlei Natio-
nen an der gemeinsamen Aufgabe der Menschheit Theil ge-
nommen haben.
Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht
alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft.
Den Stat der Gegenwart, den modernen Stat zu er-
kennen, ist vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittel-
alterlichen Statenbildungen kommen nur als Vorstufen in Be-
tracht und um durch den Gegensatz gegen den heutigen Stat
diesen besser ins Licht zu setzen. Den Werth der verschie-
denen Völker für die moderne Statenbildung überhaupt be-
stimmen wir je nach ihrem Antheil an den Fortschritten der
politischen Civilisation, d. h. eines menschlich geordneten und
menschlich freien Gemeinwesens. Die arische Völkerfamilie
(Indo-Germanen) ist vorzugsweise für den Stat, wie die
semitische für die Religion welthistorisch bestimmend ge-
worden; aber erst in Europa haben es auch die arischen
Völker zu einer bewuszteren und edleren Statenbildung ge-
bracht. Sind unter ihnen hinwieder im Alterthum die Helle-
nen und die Römer, im Mittelalter die Germanen voran
gegangen, so beruht unsere heutige Statscultur vornehmlich
auf der Mischung der helleno-romanischen und germani-
schen Elemente. Die Engländer, in denen diese Mischung
[13]Drittes Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
auch in der Volksrasse am stärksten vollzogen worden ist,
sodann die Franzosen, in denen ebenfalls alt-keltische und
romanische Elemente mit germanischen gemischt worden, zu-
letzt die Preuszen, in denen germanischer Rechtssinn und
männlicher Trotz mit dem Autoritätsbedürfnisz und der Füg-
samkeit der Slaven verbunden worden, haben einen gröszeren
Antheil daran, als viele andere Völker. Das amerikanische
Statsleben ist von dem europäischen abgeleitet, aber es hat
nur in Nordamerika eigenthümliche Fortschritte gemacht.
Die allgemeine Statswissenschaft soll also das gemeinsame
statliche Bewusztsein der heutigen civilisirten Menschheit
und die Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen
Einrichtungen darstellen, welche in den besonderen Staten
zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine
Statsrecht ist keine blosze Lehre, es hat eine positive Wirk-
samkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da
es keinen allgemeinen Stat gibt, sondern eine durch die be-
sonderen Staten vermittelte. Es hat aber nicht blosz eine
ideale, es hat auch eine reale Wahrheit, so gewisz als die
Menschheit und die Weltgeschichte keine bloszen Gedanken-
dinge, sondern reale Wahrheiten sind.
Anmerkung. Der Gegensatz bei Aristoteles (Rhetor. I. 10. 13.)
zwischen νόμος ἴδιος (besonderes Recht) und νόμος ϰοινὁς (gemeines
Recht) hat doch noch einen andern Sinn. Unter jenem versteht er das
Recht, welches ein bestimmter Stat für sich hervorgebracht hat, sei es
nun geschrieben oder nicht, unter diesem das von Natur gerechte (φύσει
ϰοινὸν δέϰαιον) ohne Rücksicht auf statliche Gemeinschaft.
[[14]]
Erstes Buch.
Der Statsbegriff.
Erstes Capitel.
Statsbegriff und Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
Der Statsbegriff erkennt und bestimmt die Natur und
die wesentlichen Eigenschaften wirklicher Staten. Die Stats-
idee zeigt das Bild des noch nicht verwirklichten, aber an-
zustrebenden States in dem leuchtenden Glanze gedachter
Vollkommenheit. Der Statsbegriff kann nur durch geschicht-
liche Prüfung gefunden werden; die Statsidee wird von der
philosophischen Speculation erschaut. Der allgemeine Stats-
begriff wird erkannt, wenn man die vielen wirklichen Staten,
welche die Weltgeschichte hervorgebracht hat, überschaut und
die gemeinsamen Merkmale aufsucht. Die höchste Statsidee
wird geschaut, wenn die Anlage der Menschennatur zum State
erwogen und die höchste denkbare und mögliche Entwicklung
dieser Anlage als statliches Ziel der Menschheit betrachtet wird.
Wenn wir die grosze Anzahl von Staten überblicken,
welche uns die Geschichte vor die Augen führt, so werden
wir einzelne gemeinsame Merkmale aller Staten sofort gewahr,
andere aber stellen sich erst bei näherer Prüfung heraus.
1. Vorerst ist es klar, dasz in jedem State eine Masse
von Menschen verbunden ist. So sehr verschieden auch
[15]Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
die Volkszahl der einzelnen Staten sein kann, indem die einen
nur wenige Tausende, andere dagegen viele Millionen Menschen
umfassen, so steht doch das fest, dasz von Stat erst dann die
Rede ist, wenn der Kreis einer bloszen Familie über-
schritten ist, und sich eine Menge von Menschen (be-
ziehungsweise von Familien, Männer, Weiber und Kinder)
vereinigt finden. Eine Familie, ein Geschlecht wie das Haus
des jüdischen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den
sich mit der Zeit eine gröszere Menge Menschen ansammelt,
aber erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne
Familie sich in eine Reihe von Familien aufgelöst hat, und
die Verwandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, ist
eine wirkliche Statenbildung möglich. Die Horde ist noch
nicht Völkerschaft. Ohne Völkerschaft, oder auf den
höheren Stufen der Civilisation, ohne Volk kein Stat.
Eine Normalzahl für die Grösze des Volks im Stat gibt
es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Rousseau ge-
meint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten
wohl so kleine Staten sicher und würdig bestehen. Die neuere
Zeit treibt zu gröszerer Statenbildung an, theils weil die politi-
schen Aufgaben des modernen Stats einer reicheren Fülle von
Volkskräften bedürfen, theils weil die gesteigerte Macht der
Groszstaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Klein-
staten leicht gefährlich und bedrohlich wird.
2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des
Volkes zum Boden als nothwendig für die Fortdauer des
Stats. Der Stat verlangt ein Statsgebiet, zum Volke gehört
das Land.
Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze
stehen, und obwohl sie unter sich das Recht handhaben, be-
wegen sich doch nur in dem Vorhofe des States. Erst die
feste Niederlassung derselben bedingt das Statwerden. Moses
hat des jüdische Volk zum Stat erzogen, aber Josua erst hat
den jüdischen Stat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten
[16]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver-
lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich
in einem unsicheren Uebergangszustande. Der frühere Stat,
den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch
nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort,
der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wenn es
ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte
es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die
Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So
retteten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen
den Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder
einnahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter,
weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue er-
warben. Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn
sich die Römer nach dem Brande der Stadt nach Veji über-
gesiedelt hätten.
3. In dem State stellt sich die Einheit des Ganzen,
die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Innern
sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und
eigenthümlicher Selbständigkeit, wie in Rom der Populus
der Patricier und daneben die Plebes, wie im ältern ger-
manischen Mittelalter die Volksverfassung neben der
Lehensverfassung. Der Stat kann auch aus mehreren
Theilen zusammengesetzt sein, die in sich selber wieder Staten
bilden, wie aus dem alten deutschen Reich allmälich
Territorialstaten herausgewachsen sind, oder wie in den
modernen Bundesstaten Nordamerikas und der
Schweiz und ebenso in dem neuen deutschen Reich
ein gemeinsamer Gesammtstat und eine Anzahl verbün-
deter Länderstaten zugleich bestehen. Aber wenn die
Gemeinschaft nicht, sei es in ihrem innern Organismus, einen
einheitlichen Zusammenhang besizt, sei es im Verhältnisz zu
den auswärtigen Staten sich als ein zusammengehöriges Ganzes
darstellt, so ist kein Stat da.
[17]Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
4. In allen Staten tritt der Gegensatz zwischen Regie-
renden und Regierten, oder um uns eines alten, zuweilen
miszverstandenen und auch wohl miszbrauchten Ausdrucks zu
bedienen, der aber an und für sich weder gehässig noch un-
frei ist, zwischen Obrigkeit und Unterthanen, zwar in
den mannichfaltigsten Formen, aber immerhin als nothwendig
hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher
dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe den-
noch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Bürger
war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im Ver-
hältnisz zu jener Unterthanen.
Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, welche die Autorität
besizt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekündigt
haben, und Jeder thut wozu ihn die Lust treibt, wo Anar-
chie ist, da hat der Stat aufgehört. Die Anarchie kann aber,
wie alle Negation, so wenig dauern, dasz sich aus ihr sofort
wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer
Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer
Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so
jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Communisten
verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit ver-
neinen sie den Stat selbst. Auch ist es ihnen noch unter
keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des States ihren
blosz gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde
es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und
ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der
religiösen Communisten des XVI. Jahrhunderts, der Wieder-
täufer, und nach der innern Consequenz der Dinge, mit Sicher-
heit darauf zu rechnen, dasz auch sie wieder eine Herrschaft,
und zwar die härteste, die es je gegeben, aufrichten würden.
Bei den slavischen Völkern finden wir die alte Idee,
dasz nur die Einstimmigkeit aller Gemeindeglieder den
Gemeinwillen hervorbringe und nicht die Mehrheit noch eine
höhere Stimme entscheide. Das kann aber höchstens als
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 2
[18]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Gemeindeprincip und auch nur bei einer Nation gelten, in der
sich Alle leicht und rasch zusammen schlieszen, nicht aber als
Statsprincip; denn der Stat musz den unvermeidlichen Wider-
spruch Einzelner überwältigen.
5. Der Stat ist keineswegs ein lebloses Instrument, nicht
eine todte Maschine, sondern ein lebendiges und daher
organisches Wesen. Nicht immer wurde diese organische
Natur des States begriffen. Die politischen Völker hatten
freilich eine Vorstellung derselben und erkannten in der Sprache
dieselbe willig an. Aber der Wissenschaft blieb die Einsicht
in den statlichen Organismus lange verborgen und heute noch
haben manche Statsgelehrte kein Verständnisz dafür. Es ist
das Verdienst hauptsächlich der deutschen historischen Rechts-
schule, die organische Natur des Volkes und States erkannt
zu haben. Dadurch wurde sowohl die mathematisch-
mechanische Auffassung des States welche nur mit Zahlen
operirte, und die atomistische Behandlungsweise wider-
legt, welche über den Einzelnen das Ganze vergasz. Wie
das Oelgemälde etwas anderes ist als eine Anhäufung von
farbigen Oeltropfen, und eine Statue etwas anderes als eine
Verbindung von Körnchen Marmor, und wie der Mensch nicht
eine blosze Menge von Blutkügelchen und Zellengefässen ist, so
ist auch das Volk nicht eine blosze Summe von Bürgern und der
Stat nicht eine blosze Anhäufung von äuszeren Einrichtungen.
Allerdings ist der Stat kein Naturgeschöpf, und da-
her nicht ein natürlicher Organismus. Er ist ein mittel-
bares Werk der Menschen. Die Anlage zur Statenbildung
freilich ist schon in der Menschennatur zu finden. Insofern
hat der Stat selber eine natürliche Grundlage. Aber die
Natur hat es der menschlichen Arbeit und der menschlichen
Einrichtung überlassen, jene Statsanlage zu verwirklichen.
Insofern ist der Stat ein Product der menschlichen Thätigkeit
und seine organische Erscheinung eine Nachbildung des natür-
lichen Organismus.
[19]Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken
wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung
zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort-
zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften
der natürlichen Organismen:
a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib-
lich-materiellen Elementen mit belebt-seelischen
Kräften, oder kurz von Seele und Leib.
b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und
bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus-
gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten
beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch
des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver-
schaffen.
c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen
heraus und ein äuszeres Wachsthum.
In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur
des States:
a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats-
körper, der Statswille und die wirkenden Statsorgane
nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks-
geist, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der
gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine
Volkswille, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen
der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit
ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den
Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches
regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die
Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech-
tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für
die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem
Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats-
verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein
Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und
[20]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Form der Statsindividuen sind verschieden, ähnlich wie die
einzelnen Menschen von einander verschieden sind. Der Fort-
schritt der Menschheit beruht wesentlich auf dem Wettstreit
der Völker und Staten, aus denen sie besteht.
b) In der Statsverfassung offenbart sich auch die Glie-
derung des Statskörpers. Jedes Amt und jede statliche Ver-
sammlung ist ein besonderes Glied desselben, welchem eigen-
thümliche Functionen zukommen. Das Amt ist nicht wie ein
Theil einer Maschine, es hat nicht blosze mechanische Thä-
tigkeiten auszuüben, die sich immer gleich bleiben, wie die
Räder und die Spindeln einer Fabrik, welche immer dasselbe
in gleicher Weise thun. Seine Functionen haben einen
geistigen Charakter und ändern sich im Einzelnen je
nach den Bedürfnissen des öffentlichen Lebens, zu
deren Befriedigung sie bestimmt sind. Dem Leben dienend
sind sie in sich selber lebendig. Wo daher das Leben in
dem Amte erstirbt, wo dieses in einen gedankenlosen Forma-
lismus versinkt und sich der Natur einer Maschine annähert,
welche ohne Unterscheidung, ohne Berücksichtigung der eigen-
thümlichen und wandelbaren Verhältnisse, die vorliegen, nach
festen äuszern Gesetzen in regelmäsziger mechanischer Be-
wegung fortarbeitet, da ist das Amt selbst dem Verderben
verfallen, und der in eine Maschine verkommene Stat geht
sicher eben deszhalb zu Grunde.
Nicht allein der Mensch, welcher in dem Amte wirkt,
das Amt selbst hat in sich eine psychische Bedeutung, es
lebt in ihm ein seelisches Princip. Es gibt einen Cha-
rakter, einen Geist des Amtes, der hinwieder auf die
Person, welche, wie in dem Körper das Individuum, in dem
Amte waltet, einen Einfluss übt. In dem römischen Consu-
late lag eine würdevolle Hoheit und Machtfülle, welche auch
einen nicht bedeutenden Mann, der zum Consul erwählt wor-
den war, emporhob, und seine natürlichen Kräfte steigerte.
Das Richteramt ist ein so heiliges, der Gerechtigkeit ge-
[21]Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
weihtes, dasz diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele
eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird,
erfüllen und in ihm den Muth, für das Recht einzustehen,
wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die
Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug
diesen so zu durchdringen, dasz jederzeit die persönliche Er-
füllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen ent-
spricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psy-
chische Einwirkung des Amtes auf seinen individuellen
Geist und sein Gemüth, und wenn er einen offenen Sinn hat,
kann es ihm nicht entgehen, dasz in dem Amte selbst eine
Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine
enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist,
aber immerhin von jener verschieden ist und seine
Persönlichkeit überdauert.
c) Die Völker und Staten haben eine Entwicklung und
ein eigenthümliches Wachsthum. Die Perioden der Völker-
und Statengeschichte bemessen sich nach groszen, die Alters-
perioden der einzelnen Menschen weit überragenden Zeitaltern.
Wenn diese nach Jahren und nach Jahrzehnten sich unter-
scheiden, so sind jene über Jahrhunderte ausgebreitet. Jede
Periode hat wieder ihren besonderen Charakter und die Ge-
sammtgeschichte eines Volkes und States stellt sich als ein
zusammenhängendes Ganze dar. Die Kindheit der Völker hat
einen andern Charakter als ihr reifes Alter und jeder Stats-
mann ist genöthigt, die Lebenszeit, in welcher der Stat sich
befindet, zu beachten. Auch da gilt die Lebensweisheit: Ein
jedes Ding hat seine Zeit.
Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit
der Entwicklung der organischen Naturwesen auch ein beach-
tenswerther Gegensatz. Während nämlich das Leben der
Pflanze, des Thieres und des Menschen in regelmäszigen
Perioden und Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der
Entwicklungsgang der Staten und der statlichen Institutionen
[22]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
nicht immer ebenso regelmäszig. Die Einwirkungen der
menschlichen Freiheit oder äuszerer Schicksale bringen öfter
bedeutende Abweichungen hervor, und unterbrechen bald oder
fördern plötzlich die normale Stufenfolge oder wandeln sie
zuweilen um, je nachdem grosze und gewaltige Männer oder
wilde Leidenschaften auch des Volkes in dieselben eingreifen.
Diese Abweichungen sind zwar weder so zahlreich noch ge-
wöhnlich so grosz, dasz die Regel selbst um derselben willen
bedeutungslos würde. Im Gegentheil sie sind viel seltener,
und meistens auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich
in ihren Meinungen von den unmittelbaren Eindrücken der
jeweiligen Gegenwart bestimmen lassen. Aber sie sind doch
wichtig genug, um den Beweis zu führen, dasz der Gedanke
einer bloszen Naturwüchsigkeit des States einseitig
und unbefriedigend sei, und um der freien individuellen
That auch in dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.
6. Indem die Geschichte uns Aufschlusz gibt über die
organische Natur des Staates, läszt sie uns zugleich erkennen,
dasz der Stat nicht mit den niedern Organismen der Pflanzen
und der Thiere auf Einer Stufe stehe, sondern von höherer
Art sei. Sie stellt ihn als einen sittlich-geistigen Or-
ganismus dar, als einen groszen Körper, der fähig ist die
Gefühle und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und
als Gesetz auszusprechen, als That zu verwirklichen. Sie
berichtet uns von moralischen Eigenschaften, von dem
Charakter der einzelnen Staten. Sie schreibt dem State
eine Persönlichkeit zu, die mit Geist und Körper begabt
ihren eigenen Willen hat und kundgibt.
Der Ruhm und die Ehre des States haben von jeher auch
das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für
die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des States
haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten
und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und
die Macht des States zu erweitern, die Wohlfahrt und das
[23]Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
Glück desselben zu fördern, ist überall als eine der ehren-
vollsten Aufgaben der begabten Männer angesehen worden.
An den Freuden und Leiden des States haben jederzeit alle
Bürger desselben Antheil genommen. Die ganze grosze Idee
des Vaterlandes und die Liebe zum Vaterlande wäre undenk-
bar, wenn dem State nicht diese hohe sittlich-persönliche Natur
zukäme.
Die Anerkennung der Persönlichkeit des States ist
denn auch für das Statsrecht nicht weniger unerläszlich als
für das Völkerrecht.
Person im rechtlichen Sinn ist ein Wesen, dem wir einen
Rechtswillen zuschreiben, welches Rechte erwerben, schaffen,
haben kann. Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts ist
dieser Begriff ebenso bedeutsam, wie auf dem Gebiete des
Privatrechts. Doch ist der Stat die öffentlich-rechtliche
Person im höchsten Sinne. Die ganze Statsverfassung ist
dazu eingerichtet, dasz die Person des Stats ihren Stats-
willen, der verschieden ist von dem Individualwillen
aller Einzelnen und etwas anderes ist als die Summe der
Einzelwillen, einheitlich gestalten und bethätigen kann.
Allerdings ist die Persönlichkeit des States nur von freien
Völkern erkannt und nur in dem civilisirten Volksstat zur
vollen Wirksamkeit gelangt. Auf den Vorstufen der Staten-
bildung stellt sich noch der Fürst vor, er allein sei Person
und der Stat lediglich der Bereich seiner persönlichen Herr-
schaft.
7. Aehnlich verhält es sich mit der männlichen Eigen-
schaft des modernen States, welche erst im Gegensatze zu der
weiblichen Kirche erkannt worden ist. Es kann eine religiöse
Gemeinschaft alle andern Merkmale einer Statsgemeinschaft
an sich tragen; dennoch will sie nicht Stat sein und ist nicht
Stat, eben weil sie nicht in selbsbewuszter Weise sich männ-
lich selber beherrscht und im äuszern Leben frei bethätigt,
sondern nur Gott dienen und ihre religiösen Pflichten üben will.
[24]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung
zusammen, so läszt sich der allgemeine Begriff des States
so bestimmen: Der Stat ist eine Gesammtheit von Menschen,
in der Form von Regierung und Regierten auf einem be-
stimmten Gebiete verbunden zu einer sittlich-organischen,
männlichen Persönlichkeit. Oder kürzer ausgedrückt: Der
Stat ist die politisch organisirte Volksperson eines
bestimmten Landes.
Anmerkungen. 1. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die
verschiedenen Völker den Stat benannt haben. Die Griechen noch
bezeichneten Stadt und Stat mit dem nämlichen Wort (πόλις), zum
Zeichen, dasz ihr Begriff vom Stat auf die Stadt gegründet und durch
den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische
Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin,
als den Kern des States, aber ist persönlicher gehalten als das griechi-
sche Wort, und eher geeignet, gröszere Volksmassen in sich aufzu-
nehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des States,
dasz der Ausdruck Civilisation von dem Namen des Stats abgeleitet
ist, und practisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des States
zusammenfällt.
In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica
noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht blosz
auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt
(res populi), und die Rücksicht auf Volkswohlfahrt darin enthalten ist.
Im Sinne der Alten schlieszt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht
aus, paszt aber nicht auf despotisch geartete Staten.
In den modernen Sprachen hat nicht blosz unter den Romanen, son-
dern eben so unter den Germanen der Ausdruck Stat (stato, état, state)
überhand genommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprüng-
lich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich status rei
publicae, um eine nähere Beziehung zu dem State zu erlangen) ist die-
ser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei
Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifel-
haften Bezeichnung des States geworden. Obwohl darin das Feste, was
steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Ver-
gessenheit gerathen, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende
Statsordnung und Statsverfassung (πολιτεία), sondern den Stat, welcher
auch einige völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann.
Alle andern modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Gel-
tung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf grosze Staten paszt,
die überdem monarchisch organisirt, auch wohl aus mehreren beziehungs-
[25]Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
weise wieder selbständigen Ländern zusammengesetzt sind, ähnlich dem
romanischen Worte imperium, empire, in welchem zugleich auf die kai-
serliche Herrschaft angespielt wird. Enger ist der Sinn des Wortes
Land, welches zunächst das äuszere, und zwar ein zusammenhängendes
Statsgebiet, dann aber auch den auf diesem Gebiete ruhenden Stat be-
zeichnet. Es bildet übrigens dieser Ausdruck den natürlichen Gegensatz
zu der griechischen πόλις, indem er auf die Landschaft zunächst den
Stat gründet, wie dieses ihn aus der Stadt erwachsen läszt. Noch enger
— um der Beziehung auf das Individuum willen — aber zugleich durch
die persönliche Hinweisung auf den Zusammenhang und die Vererbung
der Blutsverwandtschaft im Lande gehobener und vergeistigter ist das
schöne Wort Vaterland, in welchem die ganze volle Liebe und Pietät
des einzelnen Statsbürgers zu dem groszen und lebendigen Ganzen, dem
er mit seinem Leibe angehört, mit dessen Dasein auch sein Dasein ver-
wachsen ist, dem sich zu opfern die höchste Ehre des Mannes ist, sich
so verständlich und gemüthlich ausprägt. 1
2. Ich habe in den psychologischen Studien über Stat und Kirche
(Zürich 1845) die Männlichkeit des States näher erörtert. Der französische
Ausdruck: L'état c'est l'homme bedeutet nicht blos: Der Stat ist der Mensch
im Groszen, sondern zugleich: Der Stat ist der Mann im Groszen, wie
die Kirche die weibliche Natur im Groszen, die Frau darstellt.
Zweites Capitel.
Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
Genügt der Statsbegriff, wie ihn die historische Betrach-
tung der verschiedenen Staten nachzuweisen vermag, dem
menschlichen Geiste? Die historische Schule fühlt sich wohl
befriedigt in der Annahme, dasz der Stat der Körper sei
[26]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur
und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die
Nation.
Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser
Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern
Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen
Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles
schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „Der
Mensch ist ein von Natur statliches Wesen“ (φύσει
πολιτιϰὸν ζῶον). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht
ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die
gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or-
ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir
die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr
verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein
gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen,
dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie
Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des
Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos-
sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere
Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind.
Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen,
ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk
untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit
ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be-
seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen
Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?
Die national beschränkten Staten haben daher nur eine
relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen
noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm
ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche
Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der
in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn
Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die
[27]Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
Person, und in einem nicht-menschlich organisirten Körper
kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Stats-
körper musz daher dem menschlichen Körper nachge-
bildet sein. Der vollkommene Stat ist also der körper-
lich sichtbaren Menschheit gleich. Der Weltstat
oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden
Menschheit.
Der einzelne Mensch als Individuum, und die Mensch-
heit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden
Gegensätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde
der Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das
gemeinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in
träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es
ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein-
heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher
ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst
die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk-
lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi-
sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis-
herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden,
und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe
Ziel fester ins Auge.
Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den
Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber
daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses
Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff-
nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um-
fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich-
keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christliche
Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allgemeine
zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht
aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee der
universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des
universellen Weltreichs.
[28]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes
zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin,
welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den
Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist,
als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen
versucht hat.
Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein
vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer
Weise gewagt.
Zuerst Alexander der Grosze. In dem hundertpaa-
rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt 1 ein Bild seiner
Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der
weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident
und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und
aus der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe“
die neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich-
menschliches Reich erfülle und in demselben ihre Befriedi-
gung finde. Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde
allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt; und
der griechische Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachs-
thum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht
blosz dem verhängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches
den Gründer des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre
wegraffte, bevor er noch die einheitlichen Institutionen be-
festigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte,
dasz dieser erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen,
keinen Bestand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode
Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war
zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst
war unklar.
Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver-
wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State
[29]Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
liesz sich nicht mit der religiösen Betrachtung der Perser
von dem göttlichen Königthum vereinigen. Die makedonische
Monarchie konnte nicht zugleich asiatische Theokratie sein.
Die Orientalen glaubten willig, dasz Alexander der Sohn des
höchsten Gottes sei, die Europäer wurden von der Zumuthung
angewidert, dem menschlichen Herrscher göttliche Ehre zu
erweisen.
Und die Völker wurden verwirrt. Die hellenische Wissen-
schaft und Cultur befreite wohl die orientalische Welt aus
den strengen Banden der religiös-politischen Beschränkung,
aber ihre Wirkung war mehr Auflösung der alten, nicht
Schöpfung einer neuen Welt. Die Vergöttlichung des Men-
schen verdrängte die Ehrfurcht vor den alten Göttern; und
die liederlich gewordene Cultur der Europäer half mit, den
Orient vollends zu entnerven.
Einen dauerhafteren und nachhaltigeren Erfolg hat der
Versuch der Römer gehabt, die Weltherrschaft zu er-
obern. Das römische Reich war ein Weltreich. Das ganze
römische Volk fühlte sich berufen, seine Statsidee über die
Erde zu verbreiten, und alle Völker der römischen Hoheit zu
unterwerfen. Die männliche Kraft und die eherne Gewalt des
römischen Charakters überwand die zahlreichen Nationen, die
sich ihrem Siegeszug über den Erdkreis entgegenzusetzen
wagten: und schon war der römische Stat mit seinen Rechts-
institutionen von Granit in drei Welttheilen auf festen Grund-
lagen aufgebaut. Der gröszte Römer Julius Cäsar hat der
Nachwelt die Kaiseridee als Erbgut hinterlassen und in ihr
eine Autorität begründet, welche über die nationalen Schran-
ken hinaus die Welt umspannt.
Aber auch das Streben der Römer ist von der Welt-
geschichte gerichtet. Es war nicht, wie das Alexanders auf
die Mischung der Völker, sondern auf die höhere
Natur Eines Volkes gegründet, welches der Menschheit
seinen Volkscharakter einprägen, die Welt romanisiren wollte.
[30]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist grosz ge-
nug, um die Menschheit zu umfassen, und die andern Natio-
nen in ihren Armen zu erdrücken. An dem Widerstand der
jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische
Weltstat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu
bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem
Andrang erlegen.
Die Idee des Weltstates hat seither nie mehr so glänzend
geleuchtet an dem politischen Horizont, aber sie ist doch nie
mehr untergegangen. Das romanisch-germanische Mittelalter
hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen gesucht, zu-
erst in der fränkischen Monarchie, dann in dem
römisch-deutschen Kaiserthum. In bescheideneren
Verhältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnisz
der Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es
sollte nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich herge-
stellt werden, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens
gleichmäszig beherrsche. Der grosze für die Menschheit so
folgenreiche Gegensatz von Stat und Kirche war inzwischen
durch das Christenthum offenbar geworden. Der Stat ver-
zichtete darauf, auch die Gewissen durch seine Gesetze zu
beherrschen. Er erkannte an, dasz es neben ihm auch eine
religiöse Gemeinschaft gebe, welche ein eigenes Lebensprincip
und ebenfalls einen sichtbaren Körper habe, verschieden von
seiner Existenz und wesentlich selbständig. Damit aber war
eine Schranke gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herr-
schaft zu üben. Er war genöthigt, das religiöse Leben der
Leitung der Kirche zu überlassen. Er gelangte über sein
Verhältnisz zur Kirche zwar nicht zu voller Klarheit, aber
die Freiheit des religiösen Glaubens und die Verehrung Gottes
war vor seiner Willkür gerettet, die Autorität des Christen-
thums war nicht von ihm abhängig.
Sodann sollte das christliche Weltreich nicht mehr die
verschiedenen Völker verschlingen und vernichten, sondern
[31]Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
allen Völkern Frieden und Recht gewähren. Der mittelalter-
liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle
Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Rechts
und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein
Statsmann wie Friedrich II. 2 und ein Denker wie
Dante3
begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Reich
umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten,
welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell
dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Be-
ziehungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem
Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes-
lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge-
pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick-
lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu
dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker
als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten,
der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland
getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile
zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver-
mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische
Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution
hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie
die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder
sind die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den
nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter-
lassen.
In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I.
den Gedanken, der eine Zeit lang im Dunkel geblieben,
[32]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
wieder zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler des
Mittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende
Centralgewalt; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des
Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die
fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf
die Bahn zurück, welche die Römer zuvor begangen hatten,
wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. Er wollte
Europa zu einem groszen völkerrechtlichen Gesammt-
stat organisiren, welcher sich nach Einzelstaten gliedere. Das
Kaiserthum sollte der französischen Nation angehören, und
diese in der groszen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes
einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen,
wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er ver-
mochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten
dieselben dieszmal nicht an dem Widerstand der deutschen
Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit
trug, schien sie sich doch, an dem alten eigenen Reiche ver-
zweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen,
der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden
groszen deutschen Staten, das aufstrebende Preuszen und das
länder- und völkerreiche Oesterreich, jenes für seine Existenz
besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Stat fühlend, suchten
in wiederholten Kriegen die französische Uebermacht zu be-
kämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Stats-
manne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand
Englands, in dem ein groszes historisches Nationalgefühl mit
germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napo-
leon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Russen wichen
besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht.
Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als sich das
verbundene Europa wider sie wandte. Der Napoleonische Ge-
danke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung,
wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich
bedroht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und
[33]Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
befriedigt von der neuen Weltregierung; und das französische
Volk war nicht mächtig genug, jene sich dauernd unter-
zuordnen.
Inzwischen arbeitet die unbesiegbare Zeit selbst unablässig
fort, die Völker einander näher zu bringen, und das allge-
meine Bewusztsein der menschlichen Gemeinschaft zu wecken.
Das ist aber die natürliche Vorbereitung einer gemeinsamen
Weltordnung. Es ist nicht zufällig, dasz die modernen Ent-
deckungen und die zahlreichen neuen Verbindungsmittel durch-
weg diesem Ziele dienen, dasz die gesammte Wissenschaft der
neueren Zeit diesem Impulse folgt und voraus der Menschheit
— erst in untergeordneter Beziehung den einzelnen Nationen
angehört, dasz eine Menge Hindernisse und Schranken, die
zwischen den Völkern lagen, wegfallen. Heute schon verspürt
die gesammte europäische Menschheit jede Störung, die einem
einzelnen State widerfährt, als ein Uebel, an dem sie mitzu-
leiden hat, und was an den äuszersten Grenzen des europäischen
Körpers begegnet, findet sofort allgemeines Interesse auch in
dem Innern desselben. Der europäische Geist wendet bereits
seine Blicke auf den Erdkreis und die arische Rasse fühlt sich
berufen, die Welt zu ordnen.
Wir sind noch nicht so weit. Es fehlt aber gegenwärtig
schon weniger an dem Willen und an der Macht als an der
geistigen Reife. Die Glieder der europäischen Völkerfamilie
kennen ihre Ueberlegenheit über die andern Völker gut genug,
aber sie sind unter sich und über sich selbst noch nicht ins
Klare gekommen. Ein endlicher Erfolg ist erst möglich, wenn
das lichtende Wort der Erkenntnisz darüber und über das
Wesen der Menschheit ausgesprochen sein wird, und die Völ-
ker bereit sind, es zu hören.
Bis dahin wird das Weltreich eine Idee sein, welcher
Viele nachstreben, welche keiner zu erfüllen im Stande ist.
Aber als Idee der Zukunft darf die Wissenschaft der allge-
meinen Statslehre sie nicht übersehen. Erst in dem Welt-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 3
[34]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
reiche wird der wahre menschliche Stat offenbar, in ihm
auch das Völkerrecht seine Vollendung und in höherer
Gestalt ein gesichertes Dasein finden. Zu dem Weltreich
verhalten sich die Einzelstaten, wie sich die Völker zur
Menschheit verhalten. Die Einzelstaten sind Glieder des
Weltreiches und erlangen in ihm ihre Ergänzung und ihre
volle Befriedigung, wie die Glieder im Körper. Das Welt-
reich hat nicht die Aufgabe, die Einzelstaten aufzulösen und
die Völker zu unterdrücken, sondern den Frieden jener und
die Freiheit dieser besser zu schützen.
Der höchste zur Zeit noch nicht realisirte Statsbegriff ist
also: Der Stat ist die organisirte Menschheit, aber
die Menschheit in ihrer männlichen Erscheinung, nicht in
der weiblichen Gestaltung. Der Stat ist der Mann.
Anmerkungen. 1. Einer der geistreichsten und wahrheitsliebend-
sten Männer, der Waadtländer Vinet (l'individualisme et le socialisme),
erhob das Bedenken gegen die Idee des humanen States, dasz durch
denselben alles menschliche Leben absorbirt, die individuelle Freiheit
im Princip aufgehoben, und über die Gewissen der Einzelnen wie über
die Wissenschaft eine ungebührliche weltliche Herrschaft geübt würde.
Dieser Einwurf nöthigt in der That zu einer genauern Begrenzung
jener Idee.
Vorerst ist anzuerkennen, dasz der Stat nicht die einzige humane
Gemeinschaft, nicht die einzige leibliche Darstellung der Menschheit ist.
Die Kirche ist in ihrer irdisch-sichtbaren Erscheinung auch eine Ge-
meinschaft, auch ein Leib der Menschheit. Damit ist aber zugleich an-
erkannt, dasz die politische Herrschaft des States nicht das religiöse
Leben der Menschen bestimmt, und dasz die Freiheit der Gewissen und
der Glaube des Individuums nicht durch den Stat gefährdet wird.
Sodann folgt aus der menschlichen Natur des States keineswegs,
dasz der Stat eine vollkommene Herrschaft über das Individuum
habe. In jedem einzelnen Menschen können wir vielmehr zwei Naturen
unterscheiden, die individuelle und die gemeinsam-menschliche.
Das Individuum mit seinem Leben gehört nicht ausschlieszlich, nicht
ganz weder der Gemeinschaft mit andern Individuen noch der Erde an,
somit auch nicht dem State, als einer irdischen Lebensgemeinschaft. Der
Stat beruht auf der menschlichen Natur nicht insofern als sie sich in
Millionen von Individuen mannichfaltig offenbart, sondern insofern als
die gemeinsame Natur der Menschheit in Einem Wesen erscheint,
[35]Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
und die Autorität des States erstreckt sich daher nicht weiter, als
die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinander-
bestehen und Zusammenleben der Menschen es erfordern. Der
Stat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet miszbräuchlich
übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft auch hier durchzusetzen;
denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die
Seele des Individuums kann er nicht tödten.
2. Neuestens hat sich auch Laurent gegen die Idee des Welt-
stats erklärt (Histoire du droit des gens I. S. 39 f.). Seine Gründe sind
folgende:
a) Der Weltstat wäre Universalmonarchie und diese unverträg-
lich mit der Souveränetät der Staten.
b) Die Individuen als natürliche und die Völker als künstliche Per-
sonen sind verschieden. Jene sind in sich mangelhaft und werden von
bösen Leidenschaften bewegt, diese sind vollkommene und moralische
Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fort-
dauernde Wirksamkeit der Statsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht
oder nur ausnahmsweise.
c) Das Individuum ist schwach und musz sich der Statsgewalt unter-
werfen; die Staten aber sind stark und werden sich daher nicht unter
eine höhere Gewalt beugen lassen.
d) Wäre der Weltstaat so mächtig, um auch die Staten wider ihren
Willen zu beugen, so würde diese Uebermacht das Recht und die Frei-
heit unterdrücken, denn wo Widerstand unmöglich ist, da kann die
Freiheit nicht bestehen.
e) Der Volksstat ist nöthig für die Entwicklung der Individuen, aber
er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des Welt-
states nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich.
Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht
überzeugt. Dagegen ist zu erinnern:
Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze
(Kaiserthum), aber auch in republikanischer Form denken, sei es als
Directorium (ich erinnere an die europäische Pentarchie) oder als
Conföderation oder Union sämmtlicher Staten. Keinenfalls aber
braucht man sich eine absolute Macht der Weltregierung zu denken; und
der Fortbestand der Volksstaten macht geradezu eine Ausscheidung der
Competenzen zwischen ihnen und dem Weltreich nothwendig. Es ist
kein Grund den Bereich des letztern über die gemeinsamen Welt-
angelegenheiten hinaus auszudehnen, wie insbesondere die Erhaltung
des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, überhaupt des Ge-
bietes, das wir heute Völkerrecht heiszen. Die Form des Bundes-
states oder des Bundesreiches, in welchem für die gemeinsamen
Bundesangelegenheiten eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechts-
pflege besteht, und für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso
[36]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
die Souveränetät der Einzelstaten anerkannt bleibt, kann hier als Vor-
bild dienen.
Zu b) Die Völker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähn-
lich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die
schwachen und hülflosen Völker die bequeme Beute der starken und
herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund, auf dem das Völkerrecht ruht,
ist auch die Grundlage des Weltreichs.
Zu c) Die Stärke der Volksstaten — auch dem Weltreich gegen-
über — ist die beste Garantie dafür, dasz jene nicht durch dieses unter-
drückt werden; aber so stark ist auch der gröszte Volksstat nicht, um
für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt auf-
zunehmen. Nur wenn Gruppen von Staten oder Parteien einander feind-
lich entgegen treten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen
andern Fällen wird sich derselbe in Execution der Weltrechts-
pflege verwandeln. Da wir durch die beszte Statseinrichtung doch nicht
völlig gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zu-
frieden sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den
Statenkrieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert
sich im beszten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie.
Zu d) Das Weltreich ist im Verhältnisz zu den Volksstaten unter
allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstat im Verhältnisz
zu den Bürgern; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht,
sondern geschützt durch die Statsordnung.
Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Stat
befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige
als materielle (Weltwissenschaft, Weltlitteratur, Weltkunst, Welthandel),
die eine volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können; wie
wenig aber heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweiszt
die europäische und amerikanische Völkergeschichte.
Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschen-
geschlechts, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber
wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines
Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dasz die innere Kraft sich
auch äuszerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen
ist, so musz sie sich auch in ihrer vollen Entwicklung als Eine Person
offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstat.
Ich weisz, dasz die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen
Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung
auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht
erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig ent-
scheiden.
[37]Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. 1. Die antike Welt.
Drittes Capitel.
Entwicklungsgeschichte der Statsidee.
I. Die antike Welt.
A. Die hellenische Statsidee.
Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den
Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt-
sein zuerst wie zu künstlerischer und philosophischer, so auch
zu politischer Entfaltung.
So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be-
schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war
die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke
erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die
griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf
die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im State
könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die
wahre Befriedigung finden. Der Stat ist ihnen die sittliche
Weltordnung, in welcher die Menschennatur ihre Bestim-
mung erfüllt.
Platon (Rep. V.) spricht das grosze Wort aus: „Je mehr
sich der Stat in seiner Organisation dem Menschen nähert,
desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers, oder
befindet er sich wohl, so wird der ganze Staatskörper diese
Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich
dessen erfreuen.“ Er hat somit die organische und zwar die
menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl
diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen
verfolgt.
Der Stat ist nach Platon die höchste Offenbarung der
menschlichen Tugend, die harmonische Darstellung der
menschlichen Seelenkräfte, die vollkommene Menschheit.
Wie die Seele des Menschen aus bewuszter Geisteskraft
[38]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
(Vernunft), männlichem Muthe und sinnlichen Begierden be-
steht, und wie Intelligenz und Muth die Begierde zu beherr-
schen bestimmt sind, so sollen in dem Platonischen Stats-
ideal die Weisen herrschen, die tapfern Krieger die Ge-
meinschaft schützen und sind die mit dem äuszern Erwerb
und der leiblichen Arbeit beschäftigten Classen den beiden
höheren Ständen unterthänig. In dem Staatskörper soll die
Gerechtigkeit alle Verhältnisse ihrer Natur nach ordnen.
Aristoteles, für dessen Statslehre unsere Bewunderung
steigt, je näher wir die Arbeiten seiner Nachfolger betrachten,
läszt sich weniger als Platon von der Phantasie leiten, prüft
vorsichtiger die realen Grundlagen und erkennt schärfer die
Bedürfnisse des Menschen. Während Platon die regierenden
Classen der Weisen und der Wächter, damit sie ganz und
gar dem State leben, von der Familie ablöst, und für sie
Weiber- und Gütergemeinschaft fordert, will Aristoteles im
Gegentheil die groszen Institutionen der Ehe, der Familie
und des Privateigenthums erhalten. Er erklärt den Stat als
die Gemeinschaft von Geschlechtern und Ortschaften (Volk
und Land) zu einem vollkommenen und in sich befriedigen-
den Leben. 1 Er nennt auch den Menschen ein „von Natur
politisches Wesen,“ und betrachtet den Stat als Product der
menschlichen Natur. Der Stat, sagt er, zunächst zur Sicher-
heit des gemeinsamen Lebens gegründet, wird im Verfolg
zur Wohlfahrt des gemeinen Lebens. 2
Es begegnen sich und mischen sich in dieser Stastidee
alle gemeinsamen Bestrebungen der Hellenen in Religion und
in Recht, in Sitte und Geselligkeit, in Kunst und Wissen-
schaft, in Eigenthum und Wirthschaft, in Handel und Hand-
werk. Nur im Stat wird der einzelne Mensch als ein Rechts-
[39]Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.
wesen anerkannt, ohne die Hülfe des Stats findet er weder
Sicherheit noch Freiheit. Der Barbare ist ein natürlicher
Feind, und die unterworfenen Feinde werden Sclaven, die aus-
geschlossen sind von der Statsgemeinschaft und deszhalb ver-
stoszen sind in einen herabgewürdigten, nicht mehr menschen-
würdigen Zustand.
Der hellenische Stat, wie der antike überhaupt, ist über-
mächtig, weil er als allmächtig gilt. Er ist Alles in Allem:
der Bürger ist nur Etwas, weil er ein Glied des States ist.
Seine ganze Existenz ist vom Stat abhängig, dem Stat unter-
than. Wenn die Athener auch die Geistesfreiheit besaszen
und übten, so war das nur, weil der Athenische Stat die Frei-
heit überhaupt hoch schätzte, nicht weil er die Menschenrechte
anerkannte. Derselbe freieste Stat liesz Sokrates hinrichten,
und glaubte dabei sein Recht zu üben. Die Selbständigkeit
der Familie, die elterliche Erziehung, sogar die eheliche Treue
sind in keiner Weise sicher vor den Uebergriffen des Stats;
noch weniger ist es natürlich das Privatvermögen der Bürger.
In alle Dinge mischt sich der Stat, er weisz von keinen sitt-
lichen und von keinen rechtlichen Schranken seiner Macht.
Er verfügt über die Körper und sogar über die Talente seiner
Bürger. Er nöthigt zu den Aemtern wie zum Kriegsdienst.
Das Individuum soll erst im State unter- und aufgehen, dann
erst kann es durch den Stat wieder zu freiem und edlem
Leben gewissermaszen neu geboren werden. Die absolute Ge-
walt des States wird abgesehen von der Macht der alten Sitte
fast nur dadurch gemäszigt, theils dasz die Bürger selbst
einen Antheil an ihrer Ausübung haben, und aus Besorgnisz,
die Despotie des Demos könnte auch ihnen schädlich werden,
die äuszersten Consequenzen des statlichen Communismus ver-
meiden, theils dasz in den kleinen Verhältnissen die Leiden-
schaften nur geringe Mittel finden, über die sie verfügen
können, und genöthigt sind, auch die Nachbarn zu berücksich-
tigen. Die hellenischen Staten sind doch nur aus Bruch-
[40]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
stücken der hellenischen Nation, aus Stämmen und Stammes-
theilen gebildet. Sie erheben sich nur wenig über blosze
Stadtgemeinden. Die hohe Idee gewinnt daher nur eine
niedere Gestalt; obwohl auf die Menschheit bezogen, kann sie
nur in dem engen Umkreis eines Gebirgsthals oder eines
Küstensaumes zu kindlicher Erscheinung gelangen.
Die Ueberspannung der Statsidee zur Allmacht und die
Ohnmacht in der Gestaltung der wirklichen Staten sind also
dicht beisammen; es sind das die beiden Hauptmängel des
im übrigen höchst würdigen und in anderer Hinsicht mensch-
lich-wahren und fruchtbaren hellenischen Statsbegriffs.
B. Die römische Statsidee.
Die Römer waren das genialste Rechts- und Stats-
volk des classischen Alterthums; und sie waren das mehr noch
durch ihren Charakter als ihren Geist. Sie übten daher auch
eine gröszere Wirkung auf die Welt aus als die Hellenen.
Zunächst freilich ist die römische Statsidee mit der grie-
chischen nahe verwandt. Cicero hat in seinen Werken über
den Stat beständig die Athenischen Vorbilder vor Augen; und
wenn die römischen Juristen das Recht und den Stat im All-
gemeinen erklären, so folgen sie den griechischen Philo-
sophen, vorzüglich den Stoikern nach.
So erklärt Cicero den Stat für die höchste Schöpfung der
menschlichen Kraft (virtus) und erhebt es preisend, „dasz in
Nichts mehr der Mensch sich dem Willen der Götter nähere,
als in der Begründung und Erhaltung der Staten.“3 Auch
er vergleicht gelegentlich den Stat mit dem Menschen und
das Statshaupt mit dem Geiste, der den Leib beherrsche. 4
[41]Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.
Aber in einigen wesentlichen Beziehungen unterscheidet
sich doch der römische Statsbegriff von der hellenischen Idee:
1) Indem die Römer zuerst das Recht von der Moral
ausscheiden und in bestimmter Form darstellen, prägen sie
die Rechtsnatur des States viel entschiedener aus. Sie be-
schränken dadurch den Stat und sie befestigen und bekräftigen
ihn. Er ist ihnen nicht mehr die gesammte ethische Welt-
ordnung, sondern zunächst die gemeinsame Rechtsord-
nung. Die Römer überlassen sehr Vieles der freien Sitte, der
Religiosität der Menschen. Die römische Familie ist freier
dem State gegenüber; das Privatvermögen und das Privatrecht
überhaupt wird besser geschützt, auch gegen die Willkür der
öffentlichen Gewalten. Zwar ist auch ihnen das Statswohl das
oberste Gesetz. Vom State aus ordnen sie auch die Götter-
verehrung. Niemand kann dem State widerstehen, wenn dieser
seinen Willen ausspricht. Aber der römische Stat beschränkt
sich selber; er bestimmt selber die Grenzen seines Macht-
bereichs und seiner Einwirkung.
2) Ferner erkennen die Römer den Volksbegriff und
bringen die Statsverfassung in einen organischen Zusammen-
hang mit dem Volk. Sie erklärten den Stat als „die Gestal-
tung des Volks“ und bezeichnen den Willen des Volks als die
Quelle alles Rechts. 5 Der römische Stat ist doch nicht eine
blosze Gemeinde, er erhebt sich zum Volksstat (res publica).
3) Der Römerstat ist überdem darauf angelegt, sich zum
Weltstat zu erweitern. Durch die ganze römische Ge-
schichte geht dieser Zug zur Weltherrschaft; an den natio-
nalen Kern des jus civile schlosz sich die menschlichere
[42]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Bildung des jus gentium an. Die ewige Stadt, die Urbs wurde
zur Hauptstadt des Orbis, das imperium der römischen Magi-
strate zum imperium mundi, der römische Senat zum Senat
aller Nationen und ihrer Könige. In der Majestät des Kaiser-
thums gipfelte die Majestät des römischen Volks. Die Ge-
schichte Roms wurde nach dem stolzen Ausdrucke von Florus
zur Geschichte der Menschheit. Dieses Streben gab der
römischen Staatsidee einen kühnen Schwung, dem die grie-
chischen Staten nicht zu folgen vermochten, und eine Grösze,
vor der sich diese beugen muszten. Es war das nicht ein
eitles Spiel der Phantasie, sondern eine leibhafte Wirklichkeit,
welche die antike Welt beherrschte, gegen die im Occident
nur noch die Germanen, im Orient die Perser anzukämpfen,
den Muth und die Kraft hatten.
Viertes Capitel.
II. Das Mittelalter.
Die beiden neuen Mächte, welche den römischen Weltstat
theils umgebildet, theils zerstört haben, sind das Christen-
thum und die Germanen.
A. Das Christenthum.
Im Widerspruch mit der Autorität sowohl des jüdischen
States als des römischen Kaiserreichs breitete die christliche
Religion ihre Macht über die Gemüther aus. Ihr Stifter war
kein Fürst dieser Welt. Der alte Stat verfolgte ihn und seine
Jünger bis zum Tode. Die ersten Christen waren, wenn nicht
geradezu statsfeindlich gesinnt, doch für andere Dinge als für
die Statsordnung und die Statsinteressen [begeistert]. Als die
christliche Welt ihren Frieden schlosz mit dem antiken helle-
nisch-römischen Stat, war doch bereits die religiöse Gemein-
schaft als Kirche ihrer geistigen Eigenthümlichkeit bewuszt,
[43]Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike
Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse
Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem
statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State
unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche,
die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent-
lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die
Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu-
gleich die Gemeinschaft der Religion und des
Cultus.
Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares
von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom
ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen
Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es
ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht
gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie-
drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich-
ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre
glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich
selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver-
gleichen; hinter dem „geistigen“ Reiche muszte das „leib-
liche“ bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat
und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt-
sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert
des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet,
als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2
So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun
die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet,
die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward
[44]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
die geistige Bedeutung des Stats übersehen und verkannt,
und da alles Geistesleben von der Kirche geleitet werden
sollte, der blosz leiblich geachtete Stat in eine untergeordnete
Stellung nieder gedrückt. Der Trost gegen diese Uebel, wel-
cher in der Erhebung der Statsidee über die enge Nationalität
lag, war doch unzureichend. Weniger die Menschheit, als die
Christenheit sollte er in äuszerlichen Dingen ordnen und
leiten. Das römische Reich ward so gut es ging, in mittel-
alterlichen Formen erneuert, aber die angesehenere Darstellung
desselben war die römische Kirche, die mindere das heilige
römische Reich deutscher Nation.
B. Die Germanen.
Das alt-römische Weltreich konnte sich auf die Dauer
nicht mehr behaupten gegen die germanischen Völker. Bald
mit Gewalt entrissen diese kriegerischen Völkerschaften eine
Provinz nach der andern der römischen Herrschaft, bald wur-
den die germanischen Fürsten mit ihren Volksheeren von den
romanischen Provincialen oder den Kaisern selber zum Schutz
herbeigerufen und übernahmen dann in friedlicher Weise die
Landeshoheit. Während des Mittelalters herrschten überall in
dem Abendlande die Germanen. Sie kamen unter die christ-
liche Erziehung der römischen Kirche und geriethen unter
den nachwirkenden Einfluss der römischen Cultur. Aber sie
behaupteten sich auf den Thronen der Fürsten und in den
Burgen der Aristokratie. Das Scepter und das Schwert waren
vornehmlich in ihren Händen.
Die Germanen sind nicht in dem eminenten Sinne eine
statliche Nation, wie die Römer. Nur widerwillig ordnen sie
sich dem groszen Ganzen unter. Ihr starkes, trotziges und
eigenwilliges Selbstgefühl tritt dem Gesammtbewusztsein hin-
dernd in den Weg und lähmt dessen Macht. Sie bedurften
daher erst der romanischen Erziehung für den Stat. Aber trotz
alledem hat die weltgeschichtliche Entwicklung des States
ihnen sehr viel zu verdanken. Die Germanen voraus haben
[45]Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
den Absolutismus des Römerstates gebrochen und sie haben
die spätere Statenbildung mit dem Geiste der persönlichen,
genossenschaftlichen und ständischen Freiheit er-
füllt. Montesquieu hat ein wahres Wort gesprochen, dasz in
den deutschen Wäldern unter den alten noch uncivilisirten
Germanen die Keime der spätern parlamentarischen Verfassung
zu finden seien. In den uralten Formen des Zusammenwirkens
der germanischen Volkskönige, mit den Gaufürsten und den
andern Häuptlingen einerseits, und mit der groszen Gemeinde
der freien Männer andrerseits, wie Tacitus uns das schildert,
erkennen wir deutlich die noch rohen Anfänge des freien Re-
präsentativstates, den die spätern Jahrhunderte hervorgebracht
haben.
Der Germane leitet das Recht nicht ab, wenigstens zu-
nächst nicht ab von dem Willen des Volks. Er nimmt für
sich ein angeborenes Recht in Anspruch, welches der Stat
wohl zu schützen berufen ist, aber nicht schafft, und er ver-
ficht sein natürliches Recht wider alle Welt, selbst gegen die
Obrigkeit. Den antiken Gedanken, dasz der Stat Alles in
Allem sei, verwirft er mit Eifer. Das ganze Verhältniss wird
umgedreht. Dem Germanen ist die individuelle Freiheit
das Höchste; dann erst hintendrein läszt er sich herbei, einen
Theil derselben dem State zu opfern, um das Uebrige desto
sicherer zu wahren.
Eine nothwendige Folge dieses Charakters ist es, dasz die
germanische Statsidee viel entschiedener als die römische die
Selbständigkeit des Privatrechts achten musz. Die
Freiheit der Person, der Familie, der genossenschaftlichen Ver-
bände ist damit gesicherter und ausgedehnter als in dem alten
Römerreich. Das Statsrecht musz sich die Beschränkung auch
durch das Privatrecht gefallen lassen.
Eine zweite öffentlich-rechtliche Folge ist, dasz die ger-
manischen Völker überhaupt keine absolute Statsgewalt,
auch nicht in den gemeinsamen Angelegenheiten kennen und
[46]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
dulden. Der römische Begriff des imperium ist ihnen fremd.
Sie wollen mitrathen und mitstimmen, wenn sie gehorchen
sollen. Ihre Stände sind eine politische Macht, mit welcher
die Königsmacht sich vereinbaren musz, um Gesetze zu geben.
Der Gedanke des Stats als einer Gesammtperson liegt ihnen
noch fern und ist ihnen meist unverständlich. Sie lösen den
Stat eher auf in leibhafte Personen oder Gruppen von Personen;
sie begreifen ihn zunächst in dem Könige oder andern Fürsten,
welche das Gericht und die Volksversammlung leiten, in den
Vorständen der Gaue und Zenten, in der Volksgemeinde. Je
durch die einen Personen werden die andern theils verstärkt,
theils beschränkt. So wird die ganze Einrichtung des Gemein-
wesens auch in ihren Theilen von dem Geiste der Freiheit
erfüllt. Die Einheit ist verhältniszmäszig schwach, aber die
relative Selbständigkeit der Glieder stark.
Diese Aenderungen der Statsidee, in denen wir erhebliche
Fortschritte erkennen, zeigten sich übrigens mehr in der Praxis
als in der Theorie. Eine germanische Statslehre gab es über-
haupt nicht. Die Wissenschaft ward im Mittelalter zuerst von
der Kirche beherrscht, später durch die Ueberlieferung der
römischen Jurisprudenz und der griechischen Philosophie be-
stimmt. Schon in den alten Volksgesetzen finden sich der-
artige Reminiscenzen. In dem westgothischen Gesetze z. B.
wird nach dem Vorbild der classischen Literatur der Stats-
körper mit dem Menschen, der König mit dem Haupt, das
Volk mit den Gliedern des Leibes verglichen. 3 Aber das war
nur ein erborgter Schmuck der Rede, ohne tiefere Bedeutung.
Der mittelalterliche Stat war damit gar nicht bezeichnet.
[47]Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
In einigen andern Beziehungen hatte die Statsidee auch
Rückschritte gemacht, und nicht blosz, weil der kirchliche
Glaube sie entwürdigte.
Man konnte auch den mittelalterlichen Stat einen Rechts-
stat nennen; aber in einem andern als in dem Sinne der
Römer. Er war nicht die reine Ordnung des öffentlichen
Rechts. Vielmehr wurden alle seine Institutionen mit privat-
rechtlichen Elementen versetzt und gemischt. Wie ein
Familiengut, wie ein Stammeseigenthum, wurde die Landes-
herrschaft betrachtet, und die öffentlichen Pflichten wurden wie
Reallasten behandelt. Das ganze Lehensrecht und alle Er-
scheinungen des Patrimonialstates leiden an dieser Mi-
schung. Das Statsrecht der Römer war nur eine Grundlage,
von der aus die öffentliche Wohlfahrt erstrebt wurde. Das
mittelalterliche Recht schien auch das wesentliche Ziel des
mittelalterlichen States zu sein. Die Volkswohlfahrt wurde
darob vernachlässigt.
Der Gedanke des Volksstats war nicht mehr lebendig.
Die Spaltung und Zerbröckelung der Volks- und Statseinheit
durch das Lehenswesen, durch den Gegensatz der Territorien,
der Stände, der Dynastien hatte ihn zerstört, und was endlich
von dem alten römischen Weltstat noch übrig geblieben war,
das war mehr eine ideale völkerrechtliche als eine stats-
rechtliche Verbindung der abendländischen Christenländer,
welche mehr noch durch die Autorität des Papstes und den
römischen Klerus als durch das Kaiserthum zusammengehalten
wurden.
Im Groszen und Ganzen waren die Saaten zu einer freieren
und richtigeren Statsentwicklung ausgestreut worden, aber die
Staatsidee selbst hatte im Mittelalter viel von der römischen
Klarheit und Energie verloren.
C. Der Einflusz der Renaissance.
Auch während des Mittelalters war die Erinnerung
an den antiken Stat nie völlig erloschen. Rom war die
[48]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
geistige Hauptstadt der Abendländer geblieben. Das alte,
römische Weltreich freilich war vor den Germanen in Stücke
geschlagen worden, aber die Germanen, welche aus den rö-
mischen Provinzen selbständige Königreiche geschaffen hatten,
erhielten ihre Bildung und voraus ihre Religion doch wieder
von Rom und an die Stelle der untergegangenen Römerstadt
trat nun die römische Kirche als herrschende Weltmacht
des Mittelalters, der sich auch die gläubigen Germanen unter-
warfen. In den Institutionen, in der Methode, in den Sitten,
im Recht und in der Sprache der römischen Kirche war
Vieles, ja das Meiste aus dem antiken römischen State über-
liefert. Das alte Kaiserreich hatte sich in das neuere Papst-
reich, der Weltstat in die Weltkirche umgewandelt, um in
dieser Form die Völker leichter zu beherrschen. Hatte der
alt-römische Kaiser durch seine Statthalter und Beamten mit
Hülfe des römischen Rechts und im Namen des römischen
Volks und Stats seine Herrschaft geübt und derselben mit
seinen Legionen Nachdruck gegeben, so verehrte man nun den
römischen Papst im Namen Gottes und der Kirche durch
die Bischöfe und mit Hülfe des kanonischen Rechts und der
Kirchenzucht und gab seinen Decreten Nachdruck durch die
zahlreichen Mönchsorden, welche den Wiederstand besiegten.
Daneben aber erhielt sich die Erinnerung an das alte
Kaiserthum. Wir wissen nun, wie grundverschieden das
römische Kaiserthum, welches seit Karl dem Groszen die
Könige der Franken und seit Otto dem Groszen die deut-
schen Könige erneuert und sich zugeeignet hatten, von dem
antiken römischen Kaiserthum war, dessen Sitze Rom und
Konstantinopel gewesen waren. Aber das ganze Mittelalter
glaubte, dasz jenes nur die Fortsetzung dieses und der frän-
kisch-römische Kaiser oder der römische Kaiser deutscher
Nation der rechtmäszige Nachfolger der Claudier, der Antonine
und der Konstantine sei. Und jedenfalls bedeutete die er-
neuerte Würde der Kaiser eine Erinnerung an das antike
[49]Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
Römerreich und eine ideale Verbindung der mittelalterlichen
Ideen und Institutionen mit der antiken Welt.
Dazu kam nun die Wiederfindung des altrömischen kai-
serlichen Gesetzbuchs, des Corpus Juris Romani, welches
seit dem XII. Jahrhundert auf den italienischen Universitäten
ausgelegt und wie eine Offenbarung des universellen Men-
schenrechts verehrt wurde. Von Italien her breitete sich
diese Autorität erobernd aus über ganz Westeuropa, schon
seit dem XIII. Jahrhundert in Frankreich und mit gröszerem
Erfolge noch seit dem XV. Jahrhundert in Deutschland.
Allerdings hatten die gelehrten Juristen dabei eher das
Privatrecht und etwa noch das Strafrecht vor Augen, als das
Statsrecht. Aber manche Grundansichten vom State, seiner
Gesetzgebung, der souveränen Statsgewalt, welche von den
Römern ausgesprochen waren, wurden doch auf diesem Wege
vermittelt und gingen in den Vorstellungskreis der Studirten
über.
Auch Erinnerungen an die alte römische Republik
und ihre Herrlichkeit tauchten zuweilen auf und begeisterten
die Bürger der Städte in dem Streben, neue Städterepubliken
zu gründen. Schon der Name der städtischen Rathsherren
in Italien und in Deutschland ist eine freilich unklare Erin-
nerung an die Consuln der römischen Republik. Zweimal
unternahm es die Bürgerschaft von Rom im Mittelalter in
romantischer Begeisterung die längst verstorbene Römerrepu-
blik wieder aufzuerwecken und neuerdings ins Leben zu
rufen; das einemal unter der Führung von Arnold von
Brescia im XII. Jahrhundert, das anderemal unter dem
Tribunen Cola Rienzi im XIV. Jahrhundert. Beide Ver-
suche freilich scheiterten an der politischen Unfähigkeit der
mittelalterlichen Römer, aber beide zeugen für die Macht
der antiken Ueberlieferung.
Sogar die griechische Statslehre war dem romanischen
Mittelalter nicht völlig unbekannt. Die Politik des Aristo-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 4
[50]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
teles wurde in manchen Klosterschulen beachtet. Sogar
der gepriesenste Doktor der Theologie, Thomas von Aquino,
interpretirte das berühmte Werk des hellenischen Philosophen.
Aber trotz alledem war die Rechtsbildung und ganz be-
sonders die Statsordnung des Mittelalters grundverschieden
von dem antiken Recht und Stat. Der germanische Grund-
charakter in den Institutionen und die kirchlich-theologischen
Principien in den Ideen waren durchaus vorherrschend.
Erst in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts er-
wachte das Andenken an die klassische Periode wieder leb-
hafter und der klassische Geist der Griechen und der Römer
feierte seine Wiedergeburt (renaissance). Die Kunstwerke der
Alten wirken nun befreiend und verschönernd auf die italieni-
schen Künstler, in der Architektur, der Plastik, der Malerei
und in der Poesie. Die Gedanken der antiken Wissenschaft
kommen wieder zu Ehren und durchbrechen die klösterlich-
theologischen Gehäge der mittelalterlichen Scholastik. Der
Humanismus erhebt sich über die kirchliche Weltscheu und
eine hellere freudigere Weltanschauung findet an den Höfen
und in den Städten vielfältigen Beifall. Wie fast zweitausend
Jahre früher die Sophisten die Lehrer wurden der griechi-
schen Zöglinge aus angesehenen Familien, so werden nun
die Humanisten die bevorzugten Lehrer der aufstrebenden
Jugend in Italien, Frankreich und Deutschland. Die Gebil-
deten lassen sich nicht mehr durch den Vorwurf zurück-
schrecken, dasz sie wieder aus Christen zu Heiden werden.
Die Päpste selber gehen dieser Bewegung der Geister mit
leuchtendem Vorbilde voran: Nicolaus V. (1447-1455),
Pius II. (Aeneas Sylvius 1458-1464), Julius II. (1503
bis 1514), Leo X. (1513-1521) beschützen und fördern die
freiere Kunstrichtung der Renaissance. Die fürstlichen Me-
dici, voran Cosmo (1428-1464) und Lorenzo (1472-1492)
erheben das schöne Florenz zu einem neuen italienischen
Athen.
[51]Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
Auch der antike Statsbegriff und die antike Statslehre
erleben eine theilweise Erneuerung und wirken auf die öffent-
lichen Zustände ein.
Der Einflusz derselben zeigt sich vornehmlich in folgen-
den Wirkungen. Einzelne kühnere Denker wagen es wieder,
die Entstehung der Staten und das Wesen der statlichen
Obrigkeit in weltlichem Geiste aus menschlichen Erwägungen
zu begründen und zu erklären und daher der theokratischen
Denkweise entgegen zu treten.
Sodann: der Gedanke einer bewuszten, Mittel und Zweck
kalt berechnenden Politik, welche die Leitung des States
und die Herrschaft über die Völker bestimmen, wird in der
Statspraxis und in der Statstheorie entscheidend. Derselbe
gewinnt durch Macchiavelli (1469-1527) seinen schärf-
sten und klarsten Ausdruck. Sowohl seine Discorsi zu Livius,
in denen er die römische Republik verherrlicht, als sein Prin-
cipe, in dem er der fürstlichen Herrschsucht die Wege weist,
sind von dem Geist der politischen Renaissance erfüllt.
Ferner die Erneuerung eines statlichen Imperium und
einer statlichen Souveränetät, vor deren zwingender Ein-
heitsgewalt sich Alles beugen musz. In der Hand des Fürsten,
der den Stat beherrscht, wird diese Statsgewalt, in schroffem
Gegensatze zu allem Lehenswesen und zu allen ständischen
Schranken des Mittelalters, zu einem Absolutismus gesteigert,
der wohl an den Absolutismus der römischen Kaiser erinnert.
Endlich offenbart sich dieselbe Renaissance auch in der
Form des Widerspruchs, zu welchem diese ins Schrankenlose
wachsende „Tyrannei“ reizt. Mit der Erinnerung an die Cäsare
wird auch wieder die Erinnerung an Brutus geweckt, und
der Tyrannenmord wird als republikanische Tugend gepriesen.
Selbst die Catilinarier wiederholen sich als Verschwörer.1
Aber alle diese „Wiedergeburt“ antiker Statsideen
[52]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
und antiker Tendenzen bleibt doch auf einen verhältnisz-
mäszig engen Kreis von höher Gebildeten beschränkt. Die
Massen haben dafür kein Verständnisz und keine Empfäng-
lichkeit. Die ganze Einwirkung der Renaissance auf den Stat
ist nur eine theilweise und sie geht bald wieder vorüber.
Sie hilft mit den mittelalterlichen Stat auflösen und den
modernen Stat vorbereiten, aber sie bringt für sich keinen
neuen Stat hervor.
Fünftes Capitel.
III. Die moderne Statsidee.
1. Wann beginnt das moderne Weltalter?
Das heutige geschichtliche Bewusztsein der europäisch-
amerikanischen Menschheit ist einig in der Annahme eines
viele Jahrhunderte umfassenden Lebensalters der Menschheit,
welches wir das Mittelalter nennen; ebenso in der Wahr-
nehmung, dass wir gegenwärtig in einem neuen Weltalter
leben. Aber noch sind die Meinungen getheilt über den Zeit-
punkt, in welchem sich die Neuzeit von dem Mittelalter ent-
schieden abhebt. Wir wissen längst, dasz die Vergangenheit
mit der Zukunft verbunden bleibt. Die Ahnungen und die
ersten Triebe der kommenden Zeiten regen sich schon lange
zuvor in den früheren Zeiten und unzählige Nachwirkungen
vergangener Tage werden forterhalten in der veränderten
Altersperiode. Mitten im Mittelalter sprachen einzelne Geister
Gedanken aus, die erst in unserm Jahrhundert verstanden
werden und in den heutigen Zuständen noch sehen wir
manche Ueberreste der mittelalterlichen Bildung und zwar nicht
blosz in Klöstern und auf adelichen Schlössern sorgfältig erhalten.
Dieser Zusammenhang, der jeden scharfen Schnitt zwischen
Altem und Neuem wie eine unsinnige Verwundung empfindet.
[53]Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
ist schon durch die Einheit des Lebens bedingt. Es ist nicht
anders mit den Altersstufen des Einzellebens. Aber trotz dem
haben wir ein Bedürfnisz, uns über die verschiedenen Zeit-
perioden zurecht zu finden, die an den Grenzen in einander
übergehen, und die dennoch im Groszen betrachtet wohl zu
unterscheiden sind.
1. Manche datiren den Anfang der neuen Zeit schon
von der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Das Zeitalter
der Renaissance erscheint ihnen als die Wandlung aus
dem Mittelalter zur modernen Welt. Das Erwachen des philo-
sophischen Geistesbewusstseins aus mehr als tausendjährigem
Schlummer, das Wiederaufleben der antiken Ideen und Er-
innerungen im Gegensatze zu dem mittelalterlichen Glauben
und den mittelalterlichen Institutionen, die erneuerte Blüthe
einer freieren und froheren Kunst nach dem Vorbilde der
klassischen Kunstwerke, die Erhebung vorzüglich der italieni-
schen Städte, die sich nicht scheuten, der Vormundschaft der
päpstlichen Hierarchie sich gelegentlich zu entwinden, die
Ausbreitung des römischen Rechts und sein Vorzug vor dem
kanonischen Rechte, die Erfindung der Buchdruckerkunst und
die Ausstreuung der Druckschriften, die Erfindung des Pulvers
und die Umbildung der Heere; die kühnere Seefahrt und die
Entdeckung unbekannter Länder an den Küsten von Afrika
und in Indien und eines neuen Welttheils im Westen; all' das
weist allerdings auf eine Wendung hin aus dem Mittelalter in
die Neuzeit. Aber es ist doch noch nicht der Abschlusz des
Mittelalters, sondern nur die absteigende Entwicklung des
Mittelalters, welche der aufsteigenden Richtung der Neuzeit
vorarbeitet und vorausgeht. Der damalige Zeitgeist hat doch
eher einen reifen, als einen jugendlichen oder gar kindlichen
Charakter. Er will weniger Neues schaffen, als Altes erneuern.
Es sind durchweg antike Ideen und antike Vorbilder, denen
er nachstrebt. Er reformirt theilweise und er erschüttert
theilweise die mittelalterliche Weltordnung, aber er stürzt sie
[54]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
nicht und ersetzt sie nicht durch eine Neuschöpfung. Am
Ende erstarrt die Bewegung doch in der absoluten Herrschaft
groszer und kleiner Fürsten.
2. Oefter noch wird das Zeitalter der kirchlichen
Reformation als der Beginn der Neuzeit betrachtet. Man
denkt dabei weniger an die mangelhaften Reformversuche des
deutschen Reiches auf dem Wormser Reichstag von 1495, als
an die Kirchenreform des XVI. Jahrhunderts und rechnet
diese von dem Anschlag der Thesen Martin Luthers 31. Oct.
1517 an der Kirchenthüre zu Wittenberg.
In der That war damals der weltgeschichtliche Bruch mit
der mittelalterlichen Autorität der römischen Kirche ein voll-
ständiger und die Gründung von protestantischen Kir-
chen war wirklich eine neue Schöpfung auf kirchlichem Ge-
biete. Die damalige Befreiung des religiösen Gewissens von
der römischen Bedrängnisz und Knechtschaft gab auch unbe-
streitbar einen mächtigen Anstosz zu der spätern Befreiung
der Wissenschaft von der Autorität des kirchlichen Glaubens
überhaupt. Die sittliche Reinigung und Erhebung der Statsidee
wirkte vorbereitend auf die Gestaltung des modernen States.
Dennoch war der Grundgedanke der deutschen Kirchen-
reform nicht eine Neubildung, sondern die Säuberung der
alten Kirche von dem Wust verjährter Miszbräuche und die
Herstellung der ursprünglichen Reinheit des Christenthums.
Die alte geschichtliche Autorität der päpstlichen Kirche und
ihrer Tradition wurde gebrochen, aber die ältere ebenfalls
geschichtliche Autorität der heiligen Schrift strenger als vor-
dem gewahrt. Das ursprüngliche Christenthum war freilich
nicht mehr herzustellen, so wenig als die classische Kunst
der Athener und der Römer durch die Renaissance der ita-
lienischen Meister herzustellen war. Die erneuerten Ideen der
alten Welt bekamen in der inzwischen umgewandelten Mensch-
heit eine neue Gestalt. Das europäische Leben war noch im
Fortschritte begriffen, und die protestantische Kirche wie der
[55]Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
vom Protestantismus berührte Stat waren daher relativ neue
Erscheinungen. Die Staatsidee selbst aber blieb doch noch
wesentlich die mittelalterliche: der Stat galt noch als das
leiblich-irdische Reich, die Kirche noch als die vorzugsweise
geistige in den Himmel hinein ragende Gemeinschaft der Heiligen.
Der entscheidende Beweis aber dafür, dasz die reforma-
torische Bewegung des XVI. Jahrhunderts eher dem seinem
Ende zureifenden Weltalter des Mittelalters als der jugendlich
aufstrebenden Neuzeit angehört, liegt in dem Charakter der
beiden Jahrhunderte von 1540 - 1740. Diese lange Periode
macht auf den unbefangenen Betrachter den Eindruck nicht
der Jugend, sondern des Alters. Selbst in der protestanti-
schen Kirche nimmt sofort wieder eine starre, todte Ortho-
doxie überhand, die keine frischeren Triebe aufkommen läszt
und das wissenschaftliche Leben fesselt und niederdrückt.
In der katholischen Kirche breitet der Jesuitenorden, der
ausgesprochenste Träger der künstlich conservirten mittel-
alterlichen Hierarchie, seine Macht aus. Der fürstliche Abso-
lutismus unterwirft sich den mittelalterlichen Adel und löst
das Lehenswesen auf, aber es pulsirt in ihm doch vorzüglich
altes Leben. Die absolute Monarchie, die nun auf dem ganzen
Continente von Europa herrschend wird und nur in England
abgewehrt wird, stützt sich vornehmlich auf alte Ideen, dyna-
stische und römische, patrimoniale und theokratische. Auch
der behaglich ausschweifende Zopfstyl, der allmählich die
Renaissance verdrängt, ist eine ältliche Erscheinung. In alle-
dem zeigt sich eher Auflösung, das Absterben des Mittelalters,
als eine von Grund aus neue Zeit. Der junge Leibnitz hatte
einen so lebhaften Eindruck empfangen von dem ältlichen
Charakter seiner Zeit, dass er im Jahre 1669 schrieb: man
habe „Grund zu der Annahme, dass die Welt in ihr Greisen-
alter eingetreten sei.“ 1
[56]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
3. Diese Erwägung hindert uns auch, den Anfang des
modernen Weltalters in der englischen Revolution zu
erkennen, sei es der Revolution von 1640, sei es der soge-
nannten „glorreichen“ Revolution von 1688. Gewisz brachte
auch sie Neues. Die constitutionelle Monarchie kam
nun zum Durchbruch. Jede sorgfältigere Vergleichung aber
der englischen mit der französischen Revolution bestärkt unsere
Wahrnehmung, dasz jene noch in das Ende des Mittelalters,
diese in die Neuzeit gehört. Die Engländer kämpften noch
vorzugsweise für die alte angelsächsische Volksfreiheit und
die hergebrachten Rechte des Parlaments wider den Absolu-
tismus des Königs, während die Franzosen eine neue ratio-
nelle Gestaltung des Stats und eine neue gesellschaftliche
Freiheit zu verwirklichen suchten.
4. Viele sehen desshalb in dem Zeitalter der französi-
schen Revolution die ersten entschiedenen Regungen der
modernen Zeit und datiren dieselbe von 1789 an. Die An-
nahme schmeichelt überdem der französischen Eitelkeit. Aber
wenn gleich es unbestreitbar ist, dasz die französische Revo-
lution von dem modernen Geiste erfüllt und bewegt ist, so
hat derselbe doch früher schon seine Schwingen zu regen be-
gonnen. Das Zeitalter der Aufklärung ging voran und
trägt bereits den unverkennbaren Stempel der Neuzeit.
Schon Manche haben es bemerkt, insbesondere auch
Thomas Buckle, der gelehrte Verfasser der Geschichte der
neueren Civilisation, dasz mit dem Jahre 1740 eine veränderte
Strömung der Geister sichtbar wird. Wie die Sonne zuerst die
Spitzen der Berge beleuchtet und dann erst mit ihren Strahlen
in die Thäler niedersteigt, so zeigt sich der neue Geist zuerst
in hervorragenden Menschen, und breitet sich nur allmählich
aus über die Menge. Aber in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts sind es doch nicht blosz wenige Auserwählte, nicht
blosze Vorläufer und Propheten einer kommenden Zeit, die
von dem neuen Geiste ergriffen werden. Ueberall steigen neue
[57]Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Ideen auf an dem Horizont, und das Verlangen nach einer
Umgestaltung der Welt regt sich in weiten Kreisen. Die
Hoffnung auf ein neues Leben schwellt die Herzen. In der
Kunst und in der Literatur, im Stat und in der Gesellschaft
vollzieht sich eine Wandlung. Der Sinn der Welt wendet sich
entschieden ab von dem Mittelalter, einer Neuschöpfung zu.
Man vergleiche verwandte Personen und Erscheinungen
seit 1740 mit denen der letzten Jahrhunderte vorher, und man
wird die gewaltige Veränderung in dem Charakter der Zeiten
deutlich erkennen. Nicht blosz die Individuen sind andere,
auch die Bedingungen ihres Daseins, der Boden, auf dem sie
stehen, die Luft um sie her sind anders geworden. Man
vergleiche z. B. Friedrich den Groszen von Preuszen,
den bedeutendsten Repräsentanten des modernen Stats und
der modernen Weltanschauung, nicht nur mit Ludwig XIV. von
Frankreich, dem deutlichsten Repräsentanten des absoluten
Königthums von Gottes Gnaden, welcher das Mittelalter ab-
schlieszt, sondern selbst mit seinem groszen Ahnherrn, dem
Kurfürsten Friedrich Wilhelm; oder man vergleiche die
Befreiung der Niederlande von der spanischen Herrschaft
mit der Befreiung Nordamerikas von der englischen Nation,
oder die englische und die französische Revolution, oder
Rousseau mit Hutten, Lessing mit Luther, und man
wird den heftigen Gegensatz der Zeiten deutlich erkennen.
Die neue Zeit, in welche die civilisirte Menschheit seit
der Mitte des vorigen Jahrhunderts eingetreten ist, zeigt sich
auch in dem unsichern Tasten und Experimentiren der Stats-
theorie und der Statspraxis, in den kecken Versuchen einer
völligen Neuschöpfung und in der momentanen Verzweiflung,
welche dem Miszlingen auf dem Fusze folgt, in dem Schwan-
ken zwischen Revolution und Reaktion.
Wenn das moderne Weltalter im Grossen den Charakter
selbstbewuszter Männlichkeit zeigt, in höherem Grade
als irgend eine frühere Periode der Geschichte, so verrathen
[58]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
diese Züge doch, dasz wir nur die erste Entwicklungs-
stufe dieser männlichen Zeit erlebt haben, welche noch
ebenso ein unreifes jugendliches, zuweilen kindliches Antlitz
trägt, wie die letzten Jahrhunderte des Mittelalters ein ält-
liches Aussehen haben. Das organisch-psychologische Gesetz
der Altersentwicklung bestimmt nicht blosz das Gesammt-
leben der Menschheit in seinen Weltaltern, es wiederholt sich
in fortgesetztem Kreislauf auch in den einzelnen Perioden
innerhalb der verschiedenen Weltalter.
Wir datiren also das Moderne Weltalter seit dem
Jahre 1740. Die Erhebung des preuszischen Königs-
states, die Josephinische Bewegung in Oesterreich,
die Gründung der nordamerikanischen Union, die
Wandlungen der französischen Revolution und der
Napoleonische Staat, die Verpflanzung der constitu-
tionellen Monarchie aus England in die Continental-
staten, die Versuche, die repräsentative Demokratie
einzuführen, die Gründung nationaler Staten, die Los-
schälung des öffentlichen Rechts von der confessionellen
Umhüllung, die Sonderung oder Trennung von Stat und
Kirche, die Beseitigung alles Feudalismus, aller
ständischen Privilegien, die Erhebung des einheit-
lichen Volksbegriffs und die Anerkennung der freien
Gesellschaft sind sämmtlich theils erste Versuche, theils
erste Gestaltungen und Wirkungen des modernen Gesammt-
lebens und daher auch des modernen States.
Anmerkung. Wir sind gewohnt, die Geschichte der Menschheit
in ihrem innern Zusammenhang und in geregelter Folge zu betrachten.
Wir unterscheiden daher die verschiedenen Weltalter ähnlich wie wir
die Lebensalter der Einzelmenschen unterscheiden. Wir sprechen von
einem Kindesalter, von einem Jugendalter der Menschheit, und schlieszen
dieses mit der classischen Periode des hellenischen und römischen Cultur-
lebens ab. In dieser Weise scheiden wir auch das Mittelalter von den
jugendlich-genialen Weltaltern der alten Griechen und Römer ab und
ebenso nach der anderen Seite von der reiferen und männlicheren Neuzeit.
[59]Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Während das Leben des Einzelmenschen nach Jahren und nach Jahr-
zehnten bemessen wird, rechnen wir das Leben der Menschheit nach
Jahrhunderten und Jahrtausenden. Innerhalb der einzelnen Weltalter
entdecken wir nochmals denselben Kreislauf und dieselbe Folge der
Altersstufen und nehmen wir wieder erst aufsteigende, dann absteigende
Linien der Entwicklung wahr. Wie den Weltaltern im Groszen, so
sprechen wir ihren Perioden und Phasen im Kleinen einen bestimmten
Charakter und Geist zu. Die erste und die zweite Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts zeigen so einen durchaus verschiedenen Typus ähnlich wie die
erste und zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts.
Diese ganze weltgeschichtliche Betrachtungsweise hat aber eine Wahr-
heit nur unter der Voraussetzung, dasz die Menschheit nicht blosz eine
Summe von Einzelmenschen und dasz das Leben der Menschheit nicht
blosz eine Summe von Einzelleben sei. Sie ruht vielmehr auf der An-
nahme, dasz die Menschheit ein Ganzes sei und dasz es eine Entwick-
lung der Menschheit im Groszen gebe, welche zu ihrer Bewegung
und zu ihren Fortschritten gröszerer Zeitperioden bedürfe, als die Alters-
perioden der Einzelnen. Indem wir ganze Perioden von Jahrhunderten
und Jahrtausenden überschauen, können wir uns den Eindrücken jenes
groszartigen Zusammenhangs und dieser bestimmten Folge der Entwick-
lung nicht entziehen, und wir schlieszen daraus auf die Einheit des
Menschengeschlechts und auf die Bestimmung der Menschheit, deren
groszes Leben über das kleine Leben der Einzelmenschen hinschreitet,
dem aber das kleine Einzelleben bewuszt oder unbewuszt zu dienen hat.
Wenn diese Wahrnehmung richtig ist, so nöthigt sie uns zu einem
Rückschlusz auf die Dauer der Menschheit, deren Leben die Weltgeschichte
darstellt. Es ist nicht wahrscheinlich, dasz die uns unbekannte oder doch
nur wenig bekannte Kindheitsperiode der Menschheit sich ins Unermesz-
liche ausdehne, während die Jünglingszeit derselben und die seitherige
Entwicklung zu männlicher Reife einige Jahrtausende nicht übersteigt.
Der Unterschied kann nicht ein unverhältniszmäsziger sein. Indessen
scheint dieser Annahme die heutige Naturwissenschaft zu widersprechen.
Wie das Alter der Erdrinde, welches die semitische Schöpfungs-
geschichte auf eine kurze Zeit von wenigen Jahrtausenden zusammen-
gedrängt hat, in Folge einer gründlicheren Forschung ins Ungeheure
ausgedehnt worden ist, und wir hier nach Millionen oder gar nach
Milliarden von Jahren zu rechnen gelernt haben, so hat dieselbe Unter-
suchung auch die Anfänge der Menschheit in eine viel fernere Vorzeit
verlegt, deren weite, kaum näher bestimmbare Zeiten auszer Verhältnisz
sind zu den bekannten Weltaltern der späteren Geschichte. Es ist min-
destens sehr wahrscheinlich, wenn nicht gewisz, dasz es schon vor
Hunderttausenden von Jahren menschenartige Geschöpfe gegeben hat.
Die Naturforschung hat uralte menschliche Knochen- und Schädelreste
entdeckt, die in einer unbekannten Vorzeit mit den Höhlenbären gleich-
[60]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
zeitig gelebt haben. Sie unternimmt es sogar den leiblichen Zusammen-
hang und die Wandlungsstufen aufzuzeigen, welche den Menschenkörper
mit den älteren Körperformen der Thiere verbinden. Sie macht es wahr-
scheinlich, dasz die vorgeschichtlichen Menschenrassen mit den Affen und
andern Thieren noch näher verwandt waren, als die heutige Menschheit.
In dieser Beobachtung liegt zunächst eine Verschärfung, bei näherer Er-
wägung aber eine Lösung jenes Widerspruchs.
Mag immerhin die Geschichte der Menschenschöpfung, oder wie
Manche es nennen, der Menschenzüchtung, welche die Naturwissenschaft
aufsucht, auf sehr viel frühere Zeiten hinweisen, als die hergebrachte
Annahme eines Kindheitsalters der Menschheit vermuthet, so haben wir
doch keinen Grund, die Culturgeschichte der Menschheit, und das was
wir Weltgeschichte nennen, ebenso ins Weite auszudehnen. Die
Weltgeschichte konnte erst in der Zeit beginnen, als eine höhere
Menschenrasse die Fähigkeit offenbarte, selber schöpferisch an der
Vervollkommnung des Menschengeschlechts zu arbeiten. Sie fängt daher
erst an mit der Erscheinung der weiszen Menschenrasse, der Kinder
des Lichts, der Bildner und Träger der Weltgeschichte. Der weisze
Mensch ist keinenfalls so alt als der sogenannte Affenmensch.
Das Gesetz der organisch-psychologischen Entwicklung der
Weltgeschichte ist also nicht mit dem Naturgesetze der leiblichen
Abstammung zu verwechseln. Das menschliche Gemeingefühl und der
Gemeingeist, welche sich in jenem offenbaren und die Entwicklungsstufen,
die sich in dem wechselnden Vortreten der verschiedenen Geistes- und
Gemüthskräfte und in den Menschenwerken darstellen, gehören wesentlich
der höchsten Menschennatur an, und nicht der Natur der mancherlei
Thiergattungen.
Die niedrigeren ersten Erscheinungen von Menschenrassen mögen als
Vorstufen der höheren Menschheitsform eine stoffliche Bedeutung haben.
An der eigentlichen Geschichte der Menschheit haben sie kaum mehr An-
theil als die Farbe und der Pinsel an dem Gemälde des Künstlers.
Sechstes Capitel.
2. Hauptunterschiede des modernen Statsbegriffs von dem
antiken und dem mittelalterlichen Statsbegriff.
Der Gegensatz des modernen und des antiken Statsbegriffs
läszt sich in folgender Gegenüberstellung der Hauptunterschiede
darstellen.
[61]Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Antiker Stat.
1. Der antike Stat erkennt
noch nicht die persönlichen
Menschenrechte und daher
auch nicht die individuel-
len Freiheitsrechte an.
In allen antiken Staten be-
stand mindestens die Hälfte
der Bevölkerung aus recht-
losen Sclaven und nur die
kleinere Hälfte aus freien
Bürgern. Der Landbau, die
Viehzucht, das Handwerk, der
häusliche Gesindedienst und
sogar ein groszer Theil des
Handels wurden vorzugsweise
von Sclaven besorgt. In Folge
dessen wurde die Arbeit gering
geachtet, und die Arbeiter
galten wenig. Die Sclaven
waren nur durch ihren Herrn
mit dem State verbunden. Sie
hatten keinen Antheil an dem
State, kein Vaterland. Die
Menschenrechte waren ihnen
fast gänzlich versagt. Die Sitte
freilich war oft besser als das
Gesetz, aber auch die bessern
thatsächlichen Zustände waren
unsicher und konnten plötzlich
ein Ende nehmen mit Schrecken.
Von Zeit zu Zeit brachen Scla-
venaufstände los und wurden
dann blutig niedergeworfen.
Moderner Stat.
1. Der moderne Stat erkennt
die Menschenrechte in
Jedermann an. Ueberall
hat er die Sclaverei aufgeho-
ben als ein Unrecht, und so-
gar die mildere Hörigkeit
und die Erbunterthänig-
keit beseitigt, als eine Misz-
achtung der natürlichen Frei-
heit der Person. Der
Mensch hat kein Eigenthum
über den Menschen, denn nie
ist der Mensch eine Sache,
sondern immer eine Person,
d. h. ein Rechtswesen. Es
gibt nur freie Arbeit, und sie
wird geschätzt. Auch die po-
litische Theilnahme an dem
State ist allen Volksclassen
zugänglich, und das statliche
Stimmrecht ist auch auf die
Arbeiter und die Dienstboten
ausgebreitet worden. Die Ge-
fahr von Sclavenaufständen ist
verschwunden. Der ganze Stat
ruht auf breiterer Grundlage.
Seine Wurzeln sind über die
ganze Bevölkerung ausgedehnt.
[62]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Antiker Stat.
2. Die antike Statsidee um-
faszt das gesammte gemein-
same Menschenleben,
in Religion und Recht, Sitte
und Kunst, Cultur und Wissen-
schaft. Priesteramt ist Stats-
amt. Der antike Stat kennt
noch nicht die volle Geistes-
freiheit der Individuen.
3. Der antike Mensch ist
nur als Statsbürger voll-
berechtigt. Bei den Hellenen
waren noch Privatrecht und
öffentliches Recht un-
ausgeschieden durch einander
gemischt. Die Römer sonder-
ten zwar die beiden Ordnungen
grundsätzlich, aber noch blieb
ihr Privatrecht völlig von dem
Volks- und Statswillen ab-
hängig. Die individuelle Frei-
heit auch gegenüber dem Stat
war noch nicht anerkannt.
Moderner Stat.
2. Der moderne Stat ist
sich der Schranken seiner
Macht und seines Rechts
bewuszt geworden. Er be-
trachtet sich wesentlich als
Rechtsgemeinschaft und poli-
tische Gemeinschaft. Er ver-
zichtet darauf, die Religion
und den Cultus zu beherrschen,
und überlässt beides den Kir-
chen und den Individuen.
Priesteramt ist Kirchenamt.
Er nimmt auch keine wis-
senschaftliche und keine künst-
lerische Autorität für sich in
Anspruch. Er achtet und
schützt die wissenschaftliche
Freiheit der Forschung und
der Meinungsäuszerung.
3. Der moderne Mensch ist
als Individuum berechtigt.
Das Privatrecht wird von
dem öffentlichen Recht scharf
unterschieden. Jenes wird von
dem State eher erkannt als
geschaffen, mehr geschützt als
beherrscht. Die freie Person
geht nicht im State auf. Sie
entwickelt sich selbständig und
übt ihr Recht nicht nach dem
Willen der Staatsgewalt, son-
dern nach persönlichem Wil-
len aus.
[63]Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Antiker Stat.
4. Die antike Statsgewalt
hat einen absoluten Cha-
rakter.
5. Die öffentlichen Gewalten
werden unmittelbar von
den dazu Berechtigten aus-
geübt. In der antiken Re-
publik erscheint die Bürger-
schaft in groszen Volksver-
sammlungen (Ekklesien, Co-
mitien) und beschlieszt hier
selber über wichtige Stats-
angelegenheiten.
6. Die hellenischen Staten
sind wesentlich Städtesta-
ten, Politien. Aus einem
Städtestat hat sich Rom zum
Weltstat erweitert.
7. In dem antiken State
werden zwar die öffentli-
chen Thätigkeiten je
nach ihrer Art und Richtung
unterschieden. Aber gewöhn-
lich üben dieselben Ver-
sammlungen und Magistrate
verschiedenartige Functionen
aus, Gesetzgebung und Re-
gierung, Imperium und Juris-
dictio.
8. Der antike Stat fühlt sich
auch nach Auszen nur durch
Moderner Stat.
4. Die moderne Statsgewalt
ist verfassungsmäszig be-
schränkt.
5. Der moderne Stat ist
vorzugsweise Repräsenta-
tivstat. An die Stelle der
massenhaften Volksversamm-
lung tritt der gewählte Aus-
schusz der Bürger als Volks-
vertretung. Die heutigen
Repräsentativkörper sind be-
fähigter als die antiken Volks-
versammlungen, die Gesetze
zu prüfen, Beschlüsse zu er-
wägen und Controle zu üben.
6. Die modernen Staten sind
wesentlich Volksstaten. Die
Stadt ist nur eine Gemeinde
in dem State, nicht der Kern
des States.
7. In dem modernen State
werden für die verschiede-
nen Thätigkeiten auch
verschiedene Organe ge-
schaffen und so die frühere
nur gegenständliche Unter-
scheidung der Gewalten zu
persönlicher Sonderung
der Functionen fortgebildet.
8. Die modernen Staten er-
kennen in dem Völkerrecht
[64]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Antiker Stat.
den Widerstand andrer Sta-
ten, thatsächlich aber nicht
durch das gemeinsame Völ-
kerrecht beschränkt. Rom
strebte rücksichtslos die Welt-
herrschaft an wie sein na-
türliches Vorrecht.
Moderner Stat.
eine rechtliche Schranke ihrer
Herrschaft an. Das Völker-
recht schützt den Bestand und
die Freiheit aller Völker und
Staten und verwirft die Uni-
versalherrschaft Eines
States über alle Nationen.
Die Hauptunterschiede der modernen Statenbildung und
der mittelalterlichen sind:
Mittelalterlicher Stat.
1. Das Mittelalter leitet den
Stat und die Statsgewalt von
Gott ab. Der Stat ist eine
von Gott gewollte und ge-
schaffene Ordnung.
2. Die theologischen
Principien sind grundlegend
und maszgebend für den Stats-
begriff. Der ganz und gar
mittelalterliche Islam kennt
nur Ein Gottesreich, wel-
ches von Gott dem Sultan zur
Herrschaft verliehen ist. Das
christliche Mittelalter will den
Dualismus von Kirche und
Stat, aber es glaubt, dasz
beide Schwerter, das
geistliche und das weltliche,
von Gott verliehen werden,
das erste an den Papst, das
zweite an den Kaiser. Die
Moderner Stat.
1. Der moderne Stat wird aus
der Menschennatur mensch-
lich begründet. Der Stat ist
eine von den Menschen zu
menschlichen Zwecken ge-
schaffene und verwaltete ge-
meinsame Lebensordnung.
2. Die weltlichen Wissen-
schaften der Philosophie
und Geschichte bestimmen
die Grundprincipien des Stats.
Die moderne Statswissenschaft
geht von der Betrachtung des
Menschen aus, wenn sie den
Stat erklärt. Die einen den-
ken sich den Stat als eine
Gesellschaft von Einzel-
menschen, welche zum Schutz
ihrer Sicherheit und ihrer
Freiheit sich vereinbaren, die
andern als eine Verkörperung
des Volks in seiner Einheit.
Die moderne Statsidee ist
[65]Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Mittelalterlicher Stat.
protestantische Theologie ver-
warf die Idee des geistlichen
Schwertes und erkannte nur
das Eine Schwert des States
an; aber auch sie hielt an
dem religiösen Gedanken fest,
dasz die obrigkeitliche Gewalt
von Gott komme.
3. Das Ideal des mittelalter-
lichen States ist zwar nicht
mehr, wie das der alten orien-
talischen Völker, die unmittel-
bare Theokratie, aber die mit-
telbare Theokratie. Der
Herrscher ist Stellvertre-
ter Gottes.
4. Der mittelalterliche Stat
ruht auf der Glaubensge-
meinschaft und fordert
Glaubenseinheit. Die Un-
gläubigen und Irrgläubigen
Moderner Stat.
nicht religiös, aber sie ist
darum nicht irreligiös, d. h.
sie macht den Stat nicht ab-
hängig von dem religiösen
Glauben, aber sie läugnet
nicht, dasz Gott die mensch-
liche Natur geschaffen und an
der Weltregierung sich in dem
Schicksal eine Mitleitung vor-
behalten habe. Die moderne
Statswissenschaft bescheidet
sich, den Gedanken Gottes
nicht ergründen zu können,
aber sie bemüht sich, den
Stat menschlich zu begreifen.
3. Dem politischen Bewuszt-
sein der modernen Völker ist
alle Theokratie verhaszt. Der
moderne Stat ist eine mensch-
liche Verfassungsord-
nung. Die moderne Stats-
gewalt ist durch das öffent-
liche Recht bedingt, und ihre
Politik strebt die Volkswohl-
fahrt an, wie sie dieselbe mit
menschlichem Verstande be-
greift und mit menschlichen
Mitteln durchführt.
4. Der moderne Stat be-
trachtet die Religion nicht als
eine Bedingung des Rechts.
Das öffentliche und das Pri-
vatrecht sind unabhängig
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 5
[66]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Mittelalterlicher Stat.
haben kein statliches Recht.
Sie werden verfolgt und aus-
gerottet, im günstigsten Falle
nur geduldet.
5. Das christliche Mittel-
alter betrachtet die Kirche
als das geistige und daher
höhere, den Stat als das leib-
liche und daher niedere
Reich. Damit ist die Herr-
schaft oder doch die Vormund-
schaft des Priesterthums
über das Fürstenthum be-
gründet. Der Klerus steht
hoch über den Laien und ist
durch Immunitäten privi-
legirt.
6. Im Mittelalter leitet die
Kirche die Erziehung der
Jugend und übt ihre Autori-
tät auch über die Wissen-
schaft aus.
Moderner Stat.
von dem Glauben. Der
moderne Stat schützt die Be-
kenntniszfreiheit und einigt
friedlich verschiedene
Kirchen und Religions-
genossenschaften. Er ent-
hält sich jeder Verfolgung von
Andersgläubigen oder von Un-
gläubigen.
5. Der moderne Stat be-
trachtet sich als eine Per-
son, die zugleich aus Geist
(dem Volksgeist) und Leib,
der Verfassung, besteht. Er
fühlt sich auch der Kirche
gegenüber, die ebenfalls eine
aus Geist und Körper beste-
hende religiöse Gesammtper-
son ist, unabhängig und frei
und behauptet seine Hoheit
auch über die Kirche. Er
erkennt keine Ueberordnung
des Klerus an, verwirft die
Privilegien der Immunitäten
und breitet seine Rechtsherr-
schaft über alle Classen gleich-
mäszig aus.
6. Der moderne Stat über-
läszt nur die religiöse Er-
ziehung der Kirche. Die Schule
ist Statsschule. Die Wis-
senschaft ist frei von der
kirchlichen Autorität und wird
[67]Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Mittelalterlicher Stat.
7. Das Mittelalter vermengt
überall öffentliches und
Privatrecht. Es betrachtet
die Landeshoheit ähnlich dem
Grundeigenthum und das Für-
stenthum wie ein Familien-
recht.
8. Das Mittelalter hat die
Tendenz zur Lehensord-
nung (Feudalismus). Es
spaltet die Statsgewalt und
leitet ihre Stücke stufenweise
ab von Gott auf den König,
von diesem auf die Fürsten,
dann die Ritter und die Städte.
Die Rechtsbildung wird par-
ticularistisch.
9. Die Vertretung ist stän-
disch gegliedert. Die ari-
stokratischen Stände, Kle-
rus und Adel herrschen vor.
Das Recht ist ständisch
verschieden.
10. Das Mittelalter schützt
die dynastische und ständi-
sche Freiheit der groszen
und kleinen Herren in weitem
Moderner Stat.
von dem State in ihrer Frei-
heit geschützt.
7. Der moderne Stat unter-
scheidet öffentliches Recht
und Privatrecht und ver-
bindet mit dem öffentlichen
Recht die öffentliche
Pflicht.
8. Der moderne Stat ist
Volksordnung und bewahrt
die Einheit der Statsgewalt
im Centrum. Die Statenbil-
dung ist national geeint, zu
gröszeren Gemeinwesen hin-
strebend. Die Rechtsbildung
ist national und menschlich;
sie ordnet das gesammte Leben
gleichmäszig.
9. Der moderne Stat ver-
langt eine einheitliche
Volksvertretung. Die
groszen Volksclassen haben
das Uebergewicht. Die Grund-
lage ist demokratisch. Das
Statsbürgerthum umfaszt
alle Classen gleichmäszig. Das
Recht ist gemeines Landes-
und Volksrecht.
10. Der moderne Stat ent-
wickelt die gemeine bür-
gerliche Freiheit in allen
Classen und nöthigt Jeder-
[68]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Mittelalterlicher Stat.
Masze bis zur Lähmung der
Statsautorität. Dagegen hält
es die Bauern in der Un-
freiheit.
11. Der mittelalterliche Stat
ist bloszer Rechtsstat, aber
mit mangelhaftem Gerichts-
schutz und viel Selbsthülfe.
Regierung und Verwal-
tung sind im Mittelalter
wenig ausgebildet und
schwach.
12. Der mittelalterliche Stat
ist geistig wenig bewuszt.
Er läszt sich mehr durch In-
stincte und Neigungen be-
stimmen. Er macht den Ein-
druck der Naturwüchsig-
keit. Das Gewohnheits-
recht ist die Hauptquelle der
Rechtsbildung.
Moderner Stat.
mann, der Statsautorität zu
gehorchen.
11. Der moderne Stat ist
als Verfassungsstat zwar
ebenfalls Rechtsstat, aber er
ist zugleich volkswirth-
schaftlicher und Cultur-
stat und vor allen politi-
tischer Stat.
Die Regierung des mo-
dernen Stats ist mächtig und
seine Verwaltung mit Rück-
sicht auf die Wohlfahrt des
Volks und der Gesellschaft
sorgfältig durchgebildet.
12. Der moderne Stat ist
selbstbewuszt. Er han-
delt nach Principien. Er
ist eher rationell als in-
stinctiv. Das Gesetz ist die
wichtigste Rechtsquelle.
Siebentes Capitel.
Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
An der Umgestaltung der Statsidee und des wirklichen
Statsbegriffs hat auch die Statswissenschaft1 einen sehr
[69]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
bedeutenden Antheil. Es ging die moderne Statstheorie der
modernen Statspraxis voraus. Regelmäszig begleitete jene die
Wandlungen dieser, die Wege beleuchtend. Zuweilen folgte
sie dieser nach.
Es sind hauptsächlich folgende Phasen der wissenschaft-
lichen Entwicklung hervorzuheben:
1. Der Statsbegriff der Renaissance, welcher durch
Machiavelli, Bodin, zum Theil auch durch Hugo de
Grot vornehmlich vertreten wird, schlieszt sich noch an den
antiken Statsbegriff an, aber fängt doch an denselben umzu-
bilden.
Der Stat, wie ihn Machiavelli als das herrlichste Er-
zeugniss des menschlichen Geistes verehrt und mit Leiden-
schaft liebt, ist ihm höchstes Dasein. Unbedenklich opfert er
dem State Alles, selber die Religion und die Tugend. Sein
Stat ist aber nicht mehr Rechts- oder Verfassungsstat, wie
dieses der alte Römerstat gewesen war. Das öffentliche Recht
gilt ihm nur als ein Mittel, die Wohlfahrt des States zu för-
dern und die Machtentfaltung des States zu sichern. Sein
Statsideal ist ausschlieszlich von der Politik erfüllt und be-
stimmt. Der Stat ist für ihn weder ein sittliches noch ein
Rechtswesen, sondern nur ein politisches Wesen. Daher
ist der alleinige Maszstab aller statlichen Handlungen die
Zweckmäszigkeit. Was die Statsmacht und die Statsherr-
schaft fördert, das soll der Statsmann thun, unbekümmert um
alle Sittengesetze und um alles Recht. Was dem Statswohl
schädlich ist, das soll er vermeiden. Machiavelli hat das
grosze Verdienst, die Statswissenschaft ganz unabhängig ge-
macht zu haben von der Theologie, und den Gegensatz des
Statsrechts und der Politik aufgedeckt zu haben. Aber er hat
auch eine unsittliche und widerrechtliche Politik beschönigt,
seine klugen Rathschläge auch der Tyrannei zur Verfügung
gestellt und so das Verderbniss der Statspraxis in den letzten
Jahrhunderten mitverschuldet.
[70]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Bodin sieht in dem Stat „eine Rechtsordnung einer
Mehrzahl von Familien und ihrer gemeinsamen Güter in Form
der souveränen Gewalt.“ 2 Ihm ist der Stat vornehmlich auf
die Familie, das Gemeingut und die Souveränetät gegründet
und er tadelt es an dem antiken Statsgedanken, dasz auf das
Glück und Wohlergehen zu viel gesehen werde. Er hat dem
Absolutismus des französischen Königthums durch seine Lehre
von der Souveränetät des Statsherrschers eine wissenschaftliche
Stütze verschafft.
Hugo Grotius lehnt sich noch an die Begriffsbestimmung
von Cicero an; aber es ist bei ihm doch ganz deutlich die
Wendung zu bemerken zu dem modernen Statsgedanken. Er
gründet den Stat, wie die Alten, auf die menschliche Natur,
aber er denkt dabei weniger als die Alten an die Menschheit
oder ein ganzes Volk; er sieht voraus auf die Einzeln-
menschen, die Individuen. Sein Satz: „Hominis proprium
sociale“ ist keine glückliche Uebertragung des Aristotelischen:
ὁ ἄνϑϱωπος ζῶον πολιτιϰόν. Aber sie ist charakteristisch
dafür, dasz der moderne Geist nicht wie der antike erst den
Stat, und dann das Individuum, sondern vorerst an die Ein-
zelnen und dann an ihre Verbindung denkt. Ueberdem sind
die scharfe Sonderung der religiösen Gemeinschaft der Kirche
von der weltlichen und politischen Statsgemeinschaft und die
entschiedene Betonung der persönlichen Freiheit zwei Merk-
male der modernen Auffassung des holländischen Autors. Er
erklärt den Stat als „die vollkommene Vereinigung freier
Menschen, welche sich zum Genusz des Rechts und zum
Zwecke gemeinsamer Wohlfahrt verbinden.“ 3 Die Persönlich-
keit des States war ihm nicht unbekannt, aber sie beherrscht
[71]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
nicht seine Statslehre und indem er auf den Consens der
Menschen als die Hauptquelle auch des öffentlichen Rechts
hinweist, gibt er den Anstosz zu der späteren Vertragstheorie.
2. Naturrechtliche Theorien, Vertrags- und
Gesellschaftsstat. Von dieser Grundlage aus bildete sich
nun die moderne speculative und naturrechtliche
Statslehre weiter aus, und zwar selbständig, auch von der
antiken scharf getrennt. Die Gegensätze der philosophischen
Schulen und der politischen Parteien brachten freilich auch
hier eine grosze und lebhafte Meinungsverschiedenheit hervor;
und fast niemals stimmte der eine Schriftsteller mit dem
andern völlig zusammen. Aber bis in unser Jahrhundert hin-
ein herrschte in den vielerlei Darstellungen des Naturrechts
und des allgemeinen Statsbegriffs der Grundgedanke vor, dasz
der Stat wesentlich eine Gesellschaft von Einzelnen und
daher ein freies Werk der individuellen Willkür sei. Der
absolutistische Hobbes, 4 der die Statsgewalt des Monarchen
zu dem Alles verschlingenden Leviathan macht, ist darin mit
dem radicalen Rousseau5 einig, dessen Volkssouveränetät
den Fortbestand der ganzen Statsordnung jeden Augenblick
in Frage stellt. Der geistreiche Samuel Puffendorf6 be-
[72]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
zeichnet zwar den Stat als eine „sittliche Person,“ aber der
Statswille ist auch für ihn nur aus den Individualwillen Aller
zusammengesetzt und er bildet die Theorie des Gesellschafts-
vertrags, aus dem der Stat erklärt wird, mit Vorliebe aus.
John Locke vertheidigt ebenso die Vertragslehre mit Eifer
gegen die Angriffe der Frömmler und sieht in ihr eine Garantie
der englischen Bürgerfreiheit. Auch Kant kommt nicht dar-
über hinaus, obwohl er schon den Fusz erhebt, um über
die Schranken der Vertragslehre wegzukommen; 7 und selbst
Fichte in seinen früheren Schriften ist noch in jener An-
sicht befangen.
Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist
wesentlich Vertrags- und Gesellschaftsstat. Hatten die
alten Philosophen über dem Einen Stat die Rechte der Indi-
viduen nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern
Philosophen nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über
der Rücksicht auf die Einzelnmenschen die Bedeutung des
States als eines Ganzen verkannten.
3. Obrigkeitlicher Statsbegriff. Die naturrecht-
liche Lehre von dem Gesellschaftsstate konnte erst in dem
modernen Weltalter zu allgemeiner Verbreitung kommen und
zu Versuchen ihrer Verwirklichung führen. Dem absolutisti-
schen Charakter der beiden Jahrhunderte vor 1740 sagte nur
eine Statslehre zu, welche den Stat von oben her begriff und
vornehmlich auf die obrigkeitliche Gewalt gründete.
Woher diese stamme, wurde dann nicht näher geprüft. Bald
beruhigte man sich bei dem hergebrachten kirchlichen Glau-
ben, dasz die Obrigkeit ihr Schwert von Gott empfangen habe,
bald lehnte man sich an die patrimoniale Ueberlieferung an,
dasz der Fürst der Obereigenthümer des Landes sei. Indessen
[73]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
muszten sich diese ältern Doctrinen doch eine Umbildung
gefallen lassen theils durch die entschiedene Betonung des
öffentlich-rechtlichen Souveränetätsbegriffs, theils durch die
unabweisbare Rücksicht auf das öffentliche Wohl.
Der Stat erschien dann als das Reich der Herrschaft
von Oben und die Obrigkeit wurde geradezu mit dem
State selber identificirt. „Die Obrigkeit ist der Stat“
(das l'état c'est moi Ludwigs XIV.). Das war der Grund-
gedanke dieser absolutistischen Statslehre, welche durch Bo-
din und Hobbes vorbereitet vorzugsweise von dem Eng-
länder Filmer und dem Franzosen Bossuet theologisch
ausgebildet und in hunderterlei Variationen der Schuldoctrin
dargestellt wurde. Bei dieser einseitigen Beachtung der obrig-
keitlichen Gewalt wurde natürlich das Recht und die Freiheit
der Regierten gänzlich verdunkelt. Wie die römisch-katho-
lische Kirche ihr Wesen nur in dem Klerus, zuoberst in dem
Papste dargestellt hat, und die Laien wie eine Heerde Schafe
betrachtete, welche von den geistlichen Hirten zu führen und
zu scheeren sei, so hatten in dieser Statslehre nur der Fürst
und die obrigkeitlichen Beamten einen Werth und wurden die
Unterthanen nur als eine passive Masse angesehen, welche
von oben her verwaltet und regiert werden müsse, aber keinen
Anspruch auf Selbstverwaltung, noch auf Mitregierung, noch
auf Controle der obrigkeitlichen Führung habe.
4. Der Stat als Rechtsstat. Offenbar war es zunächst
eine Verengung sowohl des naturrechtlichen als des obrigkeit-
lichen Statsbegriffs, wenn Kant und Wilhelm von Hum-
boldt den Stat für einen Rechsstat in dem Sinne erklär-
ten, dasz seine einzige Aufgabe die Gewährung der Rechts-
sicherheit für Jedermann sei. Zwar durchbrach Fichte diese
engen Grenzen, indem er den Stat zugleich als Wirthschaft-
stat schilderte und ihm hier eine übermächtige Gewalt ein-
räumte und gegen das Ende seines Lebens von der nationalen
Erhebung für deutsche Freiheit begeistert, dem Stat noch
[74]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
höhere geistige Lebensaufgaben zuwies. Aber die meisten
deutschen Philosophen und Juristen der nächsten Generation
hielten sich doch in der Theorie an den engen kantischen
Begriff.
Wir begreifen es, dass der Gedanke bei Vielen Beifall
fand, welche gegen die Vielregiererei der Zeit und gegen die
Polizei- und Militärwillkür Schutz suchten. Aber wenn man
oft den „Rechtsstat“ dem „Polizeistat“ entgegen gesetzt
und es als die Aufgabe der neuen Zeit bezeichnet hat, diesen
durch jenen zu verdrängen und zu ersetzen, so war man dabei
der reichen Natur des Stats nicht klar bewuszt. Der Stat
darf eben so wenig zum bloszen Rechtsstat werden, als er ein
bloszer Polizeistat sein darf. Die Ausbildung des „Rechtsstats“
einseitig verfolgt, würde zuletzt den Stat zu einer bloszen
Anstalt für Rechtspflege verkrüppeln, in welcher die gesetz-
gebende Gewalt das Recht im allgemeinen festsetzen, das Ge-
richt dasselbe im einzelnen Falle zur Anerkennung bringen
und schützen würde, und der Regierung fast keine andere
Thätigkeit als die eines Gerichtsdieners oder der Gendarmerie
übrig bliebe. Die nationalen Interessen der Wirthschaft, der
Bildung, der Machtentfaltung würden verkümmern und von
einer groszen Politik könnte nicht mehr die Rede sein.
Umgekehrt würde eine einseitige Ausbildung des „Polizei-
states“ am Ende jede individuelle Rechtssicherheit und Frei-
heit der ausschlieszlichen Rücksicht auf das, was dem Ganzen
nützlich scheint, zum Opfer bringen und eine unerträgliche
Bevormundung freier Männer herbeiführen.
Versteht man daher unter Rechtsstat
1) den Gedanken, dasz der Stat nur eine Anstalt sei,
um die Rechte der Individuen zu schützen, so wird offenbar
das ganze Staatsrecht zu einem bloszen Mittel für das Privat-
recht, und der Stat zum bloszen Diener der Privatpersonen
erniedrigt.
Versteht man ferner unter „Rechtsstat“
[75]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
2) die Meinung, dasz der Stat die Rechte der Ge-
meinschaft zu ordnen und zugleich für Anerkennung der
individuellen Rechte zu sorgen habe, so ist das zwar
ganz richtig, aber durchaus ungenügend, indem gerade die
fruchtbarste Thätigkeit des Statsmannes, die Sorge für die
materielle Wohlfahrt und für die geistige Erhebung des Volks,
übersehen wird;
3) oder dasz der Stat zwar wohl dem Inhalte nach auch
die öffentliche Wohlfahrt befördern, aber der Form nach doch
nur insofern Zwang üben dürfe, als eine rechtliche Noth-
wendigkeit diesen begründe, so ist gegen diesen Gedanken
zwar schwerlich etwas einzuwenden, aber zugleich wiederum
klar, dasz damit nur eine Seite der statlichen Thätigkeit näher
bestimmt, die Aeuszerung der statlichen Sorge aber, z. B. für
Nahrungs-, Verkehrs- und Culturbedürfnisse, welche sich inner-
halb jener rechtlichen Schranken frei bewegt und keines-
wegs der Form des Zwanges bedarf, nicht begriffen
wird.
Versteht man unter dem Wort Rechtsstat
4) die Verneinung der religiösen Begründung des Stats
und die Behauptung seiner menschlichen Grundlage und Be-
schränkung, oder
5) die Bekämpfung jeder absoluten Statsgewalt und
auch des Patrimonialstats, der sich mit der Polizeiwill-
kür ganz trefflich abzufinden gewuszt hat, und die Behauptung,
dasz den Statsbürgern ein Antheil gebühre an den öffentlichen
Rechten;
so werden zwar damit charakteristische Merkmale des
modernen Stats gemeint, aber der Ausdruck ist sehr unglück-
lich gewählt, um diese Gedanken anzudeuten. Besser wird er
Verfassungstat genannt.
Wie es zwei Seiten gibt des statlichen Wesens, Ruhe
und Bewegung, Bestand und Entwicklung, Körper und Geist,
und wie es diesem innern organisch verbundenen Gegensatz
[76]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
entsprechend vornehmlich zwei Statswissenschaften gibt, Stats-
recht und Politik, so gibt es auch zwei grosze Stats-
principien, welche wie zwei leuchtende Gestirne das Leben
des States erhellen und befruchten, welche beide die Form
und den Inhalt des States bedingen: die Gerechtigkeit
(justitia) und die öffentliche Wohlfahrt (salus publica).
Statsmänner werden vorzugsweise die letztere, Juristen eher
die erste vor Augen haben. Die Idee des Rechts bestimmt
vorzugsweise das Statsrecht. Die Idee der Wohlfahrt leitet
vornehmlich die Politik.
Die Sorge der Regierung wird sich mehr noch auf die
öffentliche Wohlfahrt, obwohl innerhalb der Schranken des
Rechtes beziehen, wie denn auch die statlich fortgeschrittenen
Römer gerade den höchsten Magistraten die Sorge für die
öffentliche Wohlfahrt als ihre oberste Pflicht ans Herz gelegt
haben; 8 die Thätigkeit der Gerichte wird sich auf die Auf-
rechthaltung der Rechtsordnung beschränken. Der Stat selbst
aber bedarf zu seiner Existenz und zu seinem Gedeihen der
steten Rücksicht sowohl auf die öffentliche Wohlfahrt als auf
das Recht. Gerade der moderne Stat aber achtet in höherem
Masze, als der mittelalterliche auf die Bedürfnisse des ge-
meinen Wohles, und kann daher weniger als der letztere zu
einem bloszen „Rechtsstate“ werden.
5. Historische Schule. Organische Statslehre.
Ein Verdienst der historischen Schule ist es, den organi-
schen Charakter des States von neuem ins Bewusztsein ge-
bracht zu haben. Einzelne grosze Statsmänner hatten zwar
ein lebendiges Verständnisz des organischen States bewahrt.
Friedrich der Grosze von Preuszen z. B. sprach in seinem
Antimachiavell (c. 9.) es deutlich aus: „Wie die Menschen
geboren werden, dann eine Zeit lang leben, endlich aus
Krankheit oder Alter sterben, so bilden sich auch die Staten,
[77]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
gedeihen einige Jahrhunderte und gehen endlich wieder unter.“
Aber die Wissenschaft hatte diese Einsicht so sehr vernach-
läszigt, dasz die Erneuerung derselben von Seite der histori-
schen Schule wie eine neue Entdeckung wirkte, und die Fort-
bildung der Wissenschaft doch nun eine ganz andere und
fruchtbarere Richtung nahm. Indessen war die historische
Schule geneigt, den Begriff des States zu sehr als einen blosz
nationalen aufzufassen, und die höhere menschliche Be-
deutung desselben zu übersehen, oder geradezu zu bestreiten.
So erklärte Savigny den Stat als „die leibliche Gestalt der
geistigen Volksgemeinschaft,“ als „die organische Erscheinung
des Volks.“ 9 Der geniale Engländer Edm. Burke aber
brachte den historischen Stat, indem er die revolutionäre
Theorie bekämpfte, wieder in den Lichtkreis der göttlichen
Weltordnung in jener berühmten Stelle seiner Betrachtungen
über die französische Revolution: „Der Stat ist nicht eine
Genossenschaft in Dingen, welche nur dem rohen leiblichen
Dasein einer kurze Zeit währenden und vergänglichen Natur
frohnden. Er ist eine Genossenschaft in aller Wissenschaft,
in aller Kunst, in jeder Tugend und in jeder Vollkommenheit.
Da eine derartige Genossenschaft ihr Ziel nicht in einigen
Generationen erreichen kann, so wird sie zu einer Genossen-
schaft, welche nicht allein die Lebenden verbindet, sondern
auch die, welche bereits gestorben sind und die, welche noch
geboren werden. Jeder besondere Statsvertrag ist nur eine
Klausel in dem grossen Urvertrage der ewigen Weltordnung,
welcher die niedern Wesen mit den höhern verkettet, die sicht-
bare und die unsichtbare Welt verbindet und zu einem festen
Rechtsverhältnisz zusammenstimmt, das durch den unverletz-
baren Eid geheiligt wird, welcher alle physischen und mora-
lischen Naturen jede an ihrem angewiesenen Platze festhält.“ 10
[78]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte
die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver-
halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen.
Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er
geworden war; und der auf die Vergangenheit gewendete
Blick wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so
mächtig angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung dar-
über das Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an
der Vervollkommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken
einbüszten. Konnte man einem groszen Theil der naturrecht-
lichen Schule vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der
individuellen Willkür sei, so war auch die historische Schule
nicht von dem Vorwurf freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff
noch festgebunden sei an die herkömmlichen Autoritäten und
an die überlieferten Vorurtheile. 11
6. Neuere deutsche Statsphilosophen. Hegel.
Stahl. Obwohl die Arbeiten der historischen Schule fast
ausschlieszlich auf die Rechtsgeschichte und die politische Ge-
schichte einzelner bestimmter Staten beschränkt blieben, so
10
[79]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
zog doch auch die speculative Philosophie aus den neuen
Forschungen Gewinn.
Sogar Hegel nahm in seiner Rechtslehre mehr Rück-
sicht auf die geschichtliche Statenbildung, als es die früheren
Naturrechtslehrer gethan hatten. Freilich vermeinte er in der
Weltgeschichte einen dialektischen Procesz der Vernunftthätig-
keit zu begreifen. Das „Bestehende“ erschien ihm ver-
nünftig. Seine Lehre verherrlichte vorzüglich den damaligen
preuszischen Stat, der noch absolut, wenn gleich im Gefühl
der öffentlichen Pflichten regiert wurde. Sie vertheidigte die
monarchische Machtfülle und wirkte nicht förderlich für die
constitutionelle Freiheit. Aber mit Nachdruck hob er wieder
die sittliche Bedeutung des States hervor und pries den
Stat, im Gegensatze zu den jämmerlichen Vorstellungen, dasz
er ein nothwendiges Uebel sei, als die höchste und herrlichste
Verwirklichung der Rechtsidee.
Der Hegelsche Stat ist jedoch nur eine logische Abstrac-
tion, kein lebendiger Organismus, ein bloszer logischer Ge-
danke, keine Person. 12 Indem Hegel den Stat wie das Recht
lediglich auf den Willen gründet, übersieht er, dasz im State
nicht blosz der menschliche Gesammtwille thätig ist, sondern
alle menschlichen Geistes- und Gemüthskräfte zusammen
wirken.
Fr. J. Stahl, der nach Hegel der bedeutendste Vertreter
der philosophischen Statslehre in Berlin war, bekämpfte die
naturrechtliche Schule und die Hegelsche Lehre mit Eifer
und Geschick. Er unternahm es die geschichtliche Richtung
mit der phantasiereichen Speculation Schellings zu ver-
mählen.
In vielen Beziehungen hat Stahl durch seine dialektische
[80]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
und kritische Gewandtheit neue Gesichtspunkte zu finden und
durch den Scharfblick, mit dem er manche dunkle Stelle be-
leuchtete, die Statswissenschaft sehr gefördert; in anderer
Hinsicht aber hat sein Mangel an gründlicher historischer
Bildung und seine diensteifrige Sophistik, welche den roman-
tischen Liebhabereien groszer und kleiner Herren moderne
Formeln zur Verfügung stellte, auch in der Wissenschaft
groszen Schaden angerichtet. Stahl bezeichnet den Stat als
ein „sittlich-intellectuelles Reich.“ als „die Einigung der
Menge zu Einer geordneten Gemeinexistenz, die Aufrichtung
einer sittlichen Autorität und Macht mit ihrer Erhabenheit
und Majestät und der Hingebung der Unterthanen.“ Seine
Statsidee ist lebendiger als die Hegels, er erkennt auch an,
dasz die Herrschaft des States „beschränkt sei auf den Ge-
meinzustand“ und hütet sich so vor der Ueberspannung des
antiken Stats. Aber durch seine ganze Statslehre geht wie
ein rother Faden ein Zug der alttestamentlichen Theokratie
durch, welcher dieselbe für die moderne europäische Welt doch
ungenieszbar macht. Die göttliche — oder übermenschlich
gedachte — Majestät der Statsgewalt kann mit der menschlich
bürgerlichen Freiheit keinen Frieden schlieszen.
7. Verbindung der philosophischen und der
historischen Methode. Die nationale Statslehre.
Der alte Streit der philosophischen und der geschicht-
lichen Schule in Deutschland hat gänzlich aufgehört. Schon
zu Anfang der Vierzigerjahre wurde der Friede abgeschlossen.
Seitdem wird es allseitig anerkannt, dasz eine geschichtliche
Darstellung geistlos ist, wenn sie nicht die Erfahrungen und
Erscheinungen der Geschichte mit dem Lichte der Idee be-
leuchtet, und dasz eine Speculation kindisch ist, wenn sie
nicht die realen Voraussetzungen des Völkerlebens beachtet.
Diese Verbindung der beiden Methoden, die sich ergänzen
und berichtigen, hindert freilich nicht, dasz nicht bei den
einen die philosophische, bei den anderen die geschichtliche
[81]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
Betrachtung überwiegt, je nach der verschiedenen Geistesart
der Autoren.
Andere charakteristische Züge der neueren Statswissen-
schaft sind die schärfere Kritik, welche sowohl in der Prü-
fung der Thatsachen als bei der Abstraction aus den That-
sachen und der Construction der Begriffe geübt wird. Diese
Kritik betrachtet den Stat von den verschiedensten Stand-
punkten. Um einige der angesehensten Schriftsteller zu nen-
nen, so tritt in den Werken Roberts von Mohl vorzüglich
der litterarische Gesichtspunkt, aber verbunden mit einer
nüchtern verständigen Prüfung der Brauchbarkeit im Leben
hervor. Alexis de Tocqueville hat immer die Bewegung
der groszen Politik vor Augen, mag er die amerikanische
Demokratie, oder den Zusammenhang der französischen Revo-
lution mit dem ancien régime, oder die Zustände der engli-
schen Aristokratie schildern. Auf die Schriften des Barons
Eötvös hat das Misztrauen gegen die modernen Ideen ein-
gewirkt. John Stuart Mill kritisirt die öffentlichen Zu-
stände von dem radicalen aber durch englisches Naturell er-
mäszigten Standpunkt logischer Abstraction. Thomas Buckle
wendet die naturwissenschaftliche Methode auf die Statslehre
an und versucht das Statsleben aus der Berechnung der wir-
kenden Naturkräfte zu erklären.
Wieder bei andern hat die Kritik einen entschieden ge-
schichtlichen Charakter, wie vorzüglich bei Gneist, dem
gröszten Kenner der englischen Verfaszungsgeschichte, bei
Édouard Laboulaye, der mit Vorliebe den nordamerika-
nischen Stat beachtet, und bei Heinrich von Treitschke,
der zuerst die Bedeutung der preuszischen Monarchie glänzend
beleuchtet hat. Bei Lorenz von Stein folgt dieselbe mehr
noch der pragmatischen Richtung auf die Statsverwaltung
im Einzelnen.
In der neueren Schule Gerbers hat die Kritik vorzugs-
weise einen juristischen Charakter bekommen, der aber,
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 6
[82]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
wie manche Schriften seiner Schüler zeigen, die Gefahr in
sich birgt, die politische Entwicklung durch formale Abstrac-
tionen eher zu hemmen als zu fördern.
Im Gegensatze dazu versucht es die psychologische
Betrachtung des States, das Statsleben aus den Formen und
den Kräften des menschlichen Geistes gründlicher zu erklären.
Die damit verbundene Gefahr ist die entgegengesetzte, näm-
lich dasz der feste und gesicherte Rechtsboden von der Be-
wegung der Politik nicht hinreichend beachtet, sondern er-
schüttert und umgebildet würde.
Zu der neuen Richtung paszte die vergleichende
Methode vortrefflich, welche die wichtigsten Staten neben
einander betrachtete und darstellte. Die meisten der ge-
nannten Schriftsteller haben dieselbe mit Erfolg geübt. Für
die allgemeine Statslehre ist dieselbe unentbehrlich.
Endlich muszte in dem Zeitalter nationaler Statenbildung,
in welchem wir leben, die Statslehre entschiedener als früher
den nationalen Charakter des Stats betonen. Welcker
in Freiburg, Franz Lieber in New-York, Fr. Laurent in
Gent, Bluntschli in Zürich und München hatten diese
Richtung schon vor den nationalen Einigungsversuchen der
Italiener und der Deutschen in der Wissenschaft eingeschlagen.
Mit besonderem Nachdruck — anfangs nicht ohne einseitige
Leidenschaft — wurde die nationale Begründung des Stats
von der neu erstandenen, jugendlich-frischen Statswissenschaft
der Italiener vertreten, unter denen Mancini und Padeletti
in Rom, und Pierantoni in Neapel hervorragen. Auch die
Italiener wie die Deutschen verbinden fortwährend die histo-
rische und die philosophische Methode in ihren Arbeiten.
Anmerkung. Das Verständnisz des organischen oder höher
ausgedrückt des psychologisch-menschlichen Wesens des States
ist noch immer gering. Wie es Menschen, zuweilen gebildete Menschen
gibt, die kein musikalisches Gehör haben oder für die Schönheit eines
Gemäldes oder einer Zeichnung durchaus unempfindlich sind, so gibt es
auch unter den Gelehrten viele, welchen organisches oder psychologisches
[83]Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
Denken gänzlich fremd ist. Man darf ihnen das nicht zur Schuld an-
rechnen, denn Niemand kann über seine Naturanlage hinaus gehen. Aber
sie thun wohl, sich jedes Urtheils zu enthalten über die Dinge, die sie
nicht verstehen; denn sonst offenbaren sie mit dem Mangel ihres Ver-
ständnisses zugleich ihren anmaszlichen Sinn.
Einer der Ersten, welche der organischen Betrachtung Bahn gebrochen
haben, war Fr. Schmitthenner, der den Stat als „ethischen Organis-
mus“ erklärte, „bestimmt die öffentlichen Angelegenheiten des äuszern
Lebens, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Bildung zu vertreten.“
Einen merkwürdigen Versuch hat Vollgraff gemacht, die Stats-
lehre auf die Psychologie der Völker zu gründen (Erster Versuch einer
wissenschaftlichen Begründung, sowohl der allgemeinen Ethnologie durch
die Anthropologie wie auch der Stats- und Rechtsphilosophie durch die
Ethnologie oder Nationalität der Völker. III Theile. 1851-1853). Das
Werk gibt sich selbst als „ersten Versuch“ und ist als solcher ehrenwerth.
Aber dasselbe ist doch nicht geeignet, die psychologische Methode zu
Ehren zu bringen. Weder befriedigt die Darstellung der menschlichen
Seelenkräfte, noch die Schätzung der verschiedenen Temperamente; und
der angesammelte ansehnliche Stoff von historischen Notizen und mannig-
faltigen Beobachtungen und Reisebemerkungen ist zu wenig kritisch
verarbeitet und gar zu sehr mit bloszen Phantasiebildern gemischt, so
dasz auch das Gefühl der realen Sicherheit nicht aufkommt.
Ahrens, dem Philosophen Krause folgend, hat es unternommen,
eine „organische Statslehre“ zu schreiben (H. Ahrens, die or-
ganische Statslehre. Bd. I. Wien 1850). Aber er versteht unter dem
Organismus des Stats nicht so wohl ein lebendiges persönliches Gemein-
wesen, als vielmehr eine organische Einrichtung für Rechtsgemeinschaft.
Waitz (Politik. 1862. I. 1.) endlich sagt vom Stat: „Der Stat ist
nichts willkürlich Gemachtes, nicht durch Vertrag der Menschen, nicht
durch Gewalt eines oder einiger Einzelnen entstanden. Der Stat erwächst
organisch als ein Organismus, aber nicht nach den Gesetzen und für die
Zwecke des Naturlebens, sondern er ruht auf den höheren sittlichen
Anlagen der Menschen, in ihren wahren sittlichen Ideen; es ist kein
natürlicher, ein ethischer Organismus. Der Stat ist die Organisation
des Volks.“ Der Stat ist aber nicht die Verwirklichung des sittlichen
Lebens überhaupt. Die sittlichen Anlagen der Menschen und die sitt-
lichen Ideen bestimmen ebenso das Privat- wie das Statsleben, die Kirche
wie den Stat, die Familie und die Gesellschaft. Nur wenn die mensch-
liche Gesammt-Natur der Völker und der Menschheit psycho-
logisch verstanden wird, ist eine unterscheidende und erklärende Grund-
lage gewonnen für den Stats-Begriff. In meinen „Psychologischen
Studien über Stat und Kirche,“ Zürich 1844, ist der erste Versuch
gemacht, den Stat aus der Psychologie Fr. Rohmers zu erklären. Ich
setzte dabei irriger Weise einiges Verständnisz für diese in der „Lehre
[84]Erstes Buch. Der Statsbegriff.
von den Parteien“ zu Tag getretene Wissenschaft voraus, machte aber
die Erfahrung, dasz nicht allein jenes nicht vorhanden, sondern dasz
jedes psychologische Denken über den Stat der heutigen Schulbildung
abhanden gekommen sei und fremdartig erscheine. Die Studien wurden
von den Mitlebenden wie eine „unbegreifliche Narrheit eines sonst doch
verständigen Mannes“ verworfen. Die Früchte jener Studien aber, wie
sie später in diesem Werke herangereift sind, werden ziemlich allgemein
mit Gunst und Dank angenommen. Inzwischen ist die Zeit näher ge-
rückt, in der auch der Weg, den jene Studien eingeschlagen haben, nicht
mehr als abenteuerlich erscheinen und die organisch-psychologische Er-
kenntnisz des Stats mit Vorliebe gepflegt werden wird. Dann wird auch
der Werth oder Unwerth jener „Studien“ richtig beurtheilt werden können.
Inzwischen finde ich eine Genugthuung für manches Miszverständnisz und
manche Miszachtung, die ich erfahren habe in der Wahrnehmung, dasz
die beiden genialsten deutschen Statsmänner Friedrich der Grosze
und Fürst Bismarck ihr psychologisches Verständnisz des Völker- und
Statslebens durch That und Wort bewährt haben.
[[85]]
Zweites Buch.
Die Grundbedingungen des Stats in der Menschen-
und Volksnatur.
Erstes Capitel.
I. Die Menschheit, die Menschenrassen und die Völker-
familien.
Die Menschheit hat ihre Gesammtorganisation in dem
Weltreiche noch nicht gefunden. Vorerst kennt die Geschichte
nur einzelne Reiche und Staten, welche auf Bruchtheile der
Menschheit beschränkt sind. Das allgemeine Statsrecht unserer
Zeit musz daher voraus jene Theile beachten, und das Ver-
hältnisz der Völker zur Menschheit und zum State bestimmen.
Der Glaube an die Einheit des Menschengeschlechts
ist dem gereinigten religiösen Gefühl unentbehrlich. Das
Christenthum hat alle Menschen zur Kindschaft Gottes be-
rufen. Der civilisirte Stat setzt diese Einheit ebenfalls vor-
aus und achtet auch in den niedern Rassen und Stämmen
doch die gemeinsame Menschennatur. Für den Stat und das
Statsrecht aber ist neben jener Einheit der Menschheit die
Verschiedenheit der Rassen von höchster Bedeutung;
denn im State erscheinen die Menschen geordnet und Ordnung
ist nicht denkbar ohne Unterscheidung.
[86]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Die Wissenschaft hat bis jetzt den Schleier, welcher den
geheimniszvollen Ursprung der verschiedenen Hauptrassen
der Menschheit deckt, nicht zu heben vermocht. Beruhen die
Rassen auf verschiedenen Schöpfungsacten und sind die einen
Rassen früher, die andern später erschaffen worden? Oder
haben sich die verschiedenen Rassen aus der ursprünglichen
Einen Urrasse allmählich losgetrennt und kraft welcher Natur-
gewalten? Wir wissen es noch nicht. Die Verschiedenheit der
Hauptrassen aber sowohl in ihrem Körperbau und in ihrer
Farbe, als in ihrer geistigen Anlage ist schon da in den
ersten Anfängen der bekannten Entwicklungsgeschichte der
Menschheit und sie ist bis auf heute wesentlich dieselbe ge-
blieben. Es hat sich wohl keine derselben ganz rein erhalten
und mancherlei Mischungen der Geschichte haben grosze Be-
standtheile der Urrassen zum Theil losgerissen von der Ge-
meinschaft mit den übrigen Massen, zum Theil zu neuen
Völkern umgewandelt. Aber immerfort sind die Gegensätze
der weiszen, der schwarzen, der gelben und wohl auch
der rothen Rassen erkennbar und wirksam und mehr noch
in der Entwicklungsgeschichte als in ihren zuweilen trügeri-
schen Farben. Es gibt wohl manche selbst sehr geistreiche
Männer, welche die geistige Ungleichheit dieser Rassen in der
Theorie läugnen, aber schwerlich einen, der dieselbe im prac-
tischen Leben und Verkehr nicht fortwährend beachtet. Die
ganze Weltgeschichte zeugt von Jahrhundert zu Jahrhundert
für die verschiedene Begabung der Rassen, und selbst für die
ungleiche Fähigkeit der einzelnen Völker, die aus ihnen er-
wachsen sind.
1. Es ist wahrscheinlich, dasz die schwarze äthiopi-
sche Rasse, die Nachtvölker, wie Carus sie nennt, in
der Vorzeit nicht blosz Afrika, den vornehmlich für sie be-
stimmten Welttheil, sondern ebenso die südlichen Länder von
Asien überdeckt und sogar in den südlichen Ausläufern des
europäischen Festlandes Wohnsitze gehabt habe. Ueber das
[87]Erstes Cap. I. Die Menschheit, die Menschenrassen u. die Völkerfamilien.
hohe Alter dieser vielleicht erstgebornen Rasse kann kein
Zweifel sein. Aber nie und nirgends hat es diese Rasse von
sich aus zu einer auch nur einigermaszen civilisirten Rechts-
und Statenbildung gebracht. Sie hat keine wahre Geschichte.
In jedem Zusammentreffen mit Individuen oder Stämmen der
weiszen Rasse ist sie sofort unter deren Herrschaft gerathen.
So ausschweifend ihre Phantasie und so reizbar ihre Sinnlich-
keit ist, so mangelhaft ist ihr. Verstand ausgestattet und so
schwach ihr Wille. Von Natur kindisch ist sie auf die Er-
ziehung und Beherrschung durch höhere Völker angewiesen.
Schon im Alterthum wurde die schwarze Rasse in Indien
und in Aegypten von den weiszen Ariern und Semiten be-
herrscht. Heute noch sind die alten afrikanischen Negerherr-
schaften keine wirkliche Staten, sondern willkürliche und
launenhafte Despotien. Einen erheblichen Fortschritt machten
diese Stämme, wie sie unter die Leitung der mohammedani-
schen Religion und Cultur kamen, wie insbesondere in Nord-
afrika und in den Reichen des mittleren Sudan. Die Nach-
bildung des französischen Imperatorenthums durch die Neger
auf der Insel Hayti und der nordamerikanischen Republik in
dem Negerstate Liberia macht auf Europäer oder Amerikaner
eher den Eindruck eines Schauspiels, welches das Leben stat-
licher Völker nachahmt, aber nicht verwirklicht.
2. Einen ältlichen Ausdruck dagegen hat die röth-
liche Rasse der Amerikanischen Stämme, der Indianer.
Für den Stat haben aber auch sie nur eine geringe Begabung.
Zwar gab es in Amerika, vor der Colonisation durch die Euro-
päer, gröszere Staten, mit einer ansehnlichen und ehrwürdigen
Civilisation. Aber es scheint, dasz die theokratischen Reiche
von Peru und Mexiko nicht das Werk der einheimischen
Rasse, sondern von Einwanderern aus Ost- und Südasien ge-
gründet waren. Die Bezeichnung der Inkas in Peru als „weiszer
Sonnenkinder“ und die Verehrung der weiszen Männer als
„Göttersöhne“ weisen unverkennbar auf arischen Ursprung hin.
[88]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Wo die Indianer sich selbst überlassen blieben, da ver-
wilderten sie wieder als Jäger und zerfielen sie in kleine
Gruppen. Ihre Stammesrepubliken mit wechselnden Häuptern,
eifrigen Rednern und Versammlungen der Männer, haben
keinen festen Rechtsboden und keine gesicherten Institutionen.
Sie sind Jägergenossenschaften, nicht Staten. Die einzel-
nen Männer leben wohl in eigenwilliger und trotziger Freiheit,
aber der Verband des Ganzen ist roh und ungefüge. Dem
Fortschritte der weiszen Colonisation vermögen sie keinen
Widerstand zu leisten. Sie werden verdrängt und aufgezehrt.
3. Bedeutender für die statliche Entwicklung ist die so-
genannte gelbliche Rasse, deren Heimat Asien geblieben
ist, mit ihren beiden Hauptstämmen, dem bräunlicheren
Typus der Malajen und dem helleren der finnisch-
mongolischen Völker. Besonders die leztere Völkerfamilie
hat viele grosze Fürsten, Heerführer und Statsmänner hervor-
gebracht. Ein Theil freilich dieser Stämme blieb fortwährend
und bis auf den heutigen Tag in nomadischem Zustand,
als Hirten, Jäger und Räuber, vorzüglich in Mittelasien. Aber
andere Völker von dieser Rasse haben grosze Reiche gegründet.
Sie sind durchweg roher im Westen geblieben und humaner
im Osten geworden. Die ganze Rasse steht der kaukasischen
näher als die der Neger und der Indianer, und hat sich früh-
zeitig, zumal in den oberen Classen, mit Weiszen gemischt.
Zu einer höheren Civilisation als die Hunnen und die Tür-
ken haben es die Culturvölker von China und Japan ge-
bracht. Sogar eine feine Statsphilosophie ist ihr Werk; und
die Ideale der Humanität im Gegensatz zur Barbarei und des
persönlichen Verdienstes im Gegensatz zu dem Rang der Ge-
burt sind bei ihnen früher noch zur Geltung gelangt als unter
den arischen Europäern. Für die Landwirthschaft, die Gewerbe,
für die Schulen und die Polizei haben sie Bedeutendes ge-
leistet. Aber ihre Rechtsideen blieben gemischt mit den
moralischen Vorschriften und sind gebunden durch die Rück-
[89]Erstes Cap. I. Die Menschheit, die Menschenrassen u. die Völkerfamilien.
sichten auf das Familienleben und die Zucht der Unmündigen.
Ihr Regiment hat einen wohlwollenden, aber oft auch einen
despotischen Charakter. Das Ehrgefühl ist unempfindlich und
die Volksfreiheit bei ihnen nicht entwickelt.
4. Ueber alle diese Rassen erhebt sich aber die weisze
Rasse der sogenannten kaukasischen oder iranischen Völker
die Carus im Gegensatze zu den Nacht- und Dämmerungs-
(Morgen- und Abend-) Völkern als Tagvölker bezeichnet, die
Kinder der Sonne und des Himmels, wie das Alterthum sie
benannt hat. Sie sind vorzugsweise die historischen Völker.
Sie bestimmen die Geschichte der Welt. Alle höheren Reli-
gionen, welche den Menschen mit Gott verbinden, zind zuerst
durch Männer von ihrem Stamme geoffenbart worden, fast alle
Philosophie ist aus den Arbeiten ihres Geistes hervorgegangen.
Im Zusammenstosz mit den andern Rassen sind diese zuletzt
immer von ihnen besiegt und ihnen unterthan worden. Alle
höhere Statenbildung gehört ihrem Impuls an, und ist ihr
Werk. Die höchste Civilisation und die Vervollkommnung der
geistigen Zustände der Menschen verdanken wir — nächst
Gott — ihrem Verstande und der Energie ihres Willens.
Diese Tagvölker theilen sich aber in zwei grosze Völker-
familien, die semitischen und die arischen (indo-ger-
manischen) Völker. Die Semiten haben vorzugsweise eine
religiöse Mission für die Welt. Das Judenthum, das Christen-
thum und der Islam, alle diese Religionen sind zuerst unter
semitischen Völkern im Orient verkündet worden. Für den
Stat aber sind sie weniger begabt. Dagegen nimmt für die
politische Geschichte und die Rechtsbildung hinwieder die
arische Völkerfamilie, deren Sprache auch die formen- und
gedankenreichste ist, den obersten Rang ein, und diese hat
voraus in Europa ihre wahre Heimat gefunden und da ihren
männlichen Statsgeist zur Reife entfaltet. Darauf ist das Recht
dieser europäisch-arischen Völker begründet, die übrigen
Völker der Erde mit ihren Ideen und ihren Institutionen
[90]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
politisch zu leiten und so die Organisirung der Menschheit
zu vollziehen.
Wir betrachten so die Verschiedenheit der Menschenrassen
als ein Werk der schöpferisch erregten Natur, nicht als ein
Werk unserer menschlichen Geschichte, und erkennen in ihnen
natürliche Varietäten der Menschheit. Dagegen die
Völker, in welche die Rassen sich theilen, oder welche aus
der Mischung verschiedener Rassen entstanden sind, sind offen-
bar das Erzeugnisz unserer Geschichte. Die Völker sind
historische Glieder der Menschheit und ihrer Rassen.
Zwar kennen wir auch Urvölker, d. h. die uns schon in den
ersten Zeiten begegnen, aus welchen uns eine dürftige Kunde
zugekommen ist, oder deren Ursprung sich in ein dunkles
Alterthum verliert. Aber wir kennen eine sehr grosze Zahl
Völker, deren Entstehung in den Bereich unserer historischen
Kenntnisz fällt und haben Gründe genug für die Annahme,
dasz auch jene Urvölker in ähnlicher Weise entstanden seien.
Die Geschichte durch ihre Trennungen und Vermischungen,
wie durch ihre Wandlungen und Entwicklungen hat im Laufe
der Zeit die Völker gesondert und neue Völker hervorgebracht.
Die Eigenthümlichkeit der Völker zeigt sich daher weniger
noch in ihrer physischen Erscheinung als in ihrem Geist und
in ihrem Charakter, d. h. in der Sprache und im Recht.
Anmerkungen. 1. Prichard hat in seinem Werke: Natur-
geschichte des Menschengeschlechtes (in deutscher Uebersetzung von
R. Wagner, Leipzig 1840, 4 Thle.) vorzüglich die physiologischen und
sprachlichen Unterschiede und Verwandtschaften der wesentlichen Rassen
behandelt; A. de Gobineau dagegen in seinem Essai sur
l'inégalité
des races humaines, Paris 1652-55, mehr die politischen Gegensätze
darzustellen gesucht. So anregend und interessant diese Untersuchungen
sind, so ist in beiderlei Hinsicht noch sehr viel zu thun, um sichere
wissenschaftliche Resultate zu erreichen. Das neueste und vielseitige
Werk ist von Th. Waitz, Anthropologie der Naturvölker.
2. Man hat die Bedeutung der Rasse für Recht und Stat lange in
der Wissenschaft übersehen und miszachtet. Das Werk von Gobineau
sucht diesem Mangel abzuhelfen, verirrt sich aber nicht selten in den
[91]Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
entgegengesetzten Fehler, Alles aus der Anlage der Rasse erklären zu
wollen. Er faszt die Rasse überdem zu sehr als Geburtsrasse auf
und betont die Einwirkung der Abstammung und des Geblüts zu aus-
schlieszlich. Es gibt aber nicht blosz eine angeborene Rasse —
allerdings die ursprüngliche und natürliche Bedeutung der Rasse — es
gibt auch eine anerzogene Rasse, die wir sowohl in den Familien
als in den Völkern deutlich wahrnehmen, und die obwohl secundär und
in höherem Grade von menschlicher Freiheit bestimmt, doch einen ge-
waltigen Einflusz auf die Rechtsbildung übt. Man denke nur an den
römischen Klerus in dem modernen Europa, um sich die Macht der an-
erzogenen Rasse zu vergegenwärtigen. Von der Rasse ist das Indi-
viduum zu unterscheiden, und die individuelle Einwirkung nicht minder
zu beachten. Die Weltgeschichte ist fast mehr noch von den Individuen
als von den Rassen bestimmt worden. Die wichtigen Aufschlüsse,
welche über diese Gegensätze in Friedr. Rohmers Lehre von den
politischen Parteien (dargestellt durch Theodor Rohmer, Zürich 1844)
gegeben werden, sind noch nicht so beachtet und gewürdigt worden,
wie das Werk es verdient.
Zweites Capitel.
II. Die Begriffe Nation und Volk.
Der vulgäre Sprachgebrauch vermischt und verwechselt
die beiden Ausdrücke Nation und Volk, welche die Wissen-
schaft sorgfältig zu unterscheiden genöthigt ist. Aber auch
die wissenschaftliche Sprache wird vielfältig dadurch verwirrt,
dasz die verschiedenen Culturvölker denselben Wörtern einen
verschiedenen Sinn beilegen.
Wir verstehen in der deutschen Sprache, ebenso wie die
alten Römer in der lateinischen Sprache unter Nation
(nationalità der Italiener) einen Culturbegriff, den die
neueren Franzosen und Engländer eher peuple und peeple
nennen. Wir heiszen den Statsbegriff Volk (populus),
welchen die Westvölker eher nation nennen. Die Etymologie
spricht für den deutschen Sprachgebrauch, denn das Wort
natio (von nasci) deutet auf die Geburt und die Rasse, und
[92]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche
Gemeinwesen (πόλις, res publica) hin.
Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich
eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten
wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs-
weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches
Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden,
aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen
Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob-
wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist,
als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch
heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig.
Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.
Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge-
schichte. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang-
sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all-
mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da-
seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der
erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich
zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine
Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und
der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag
nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die
Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu-
sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen,
wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien
und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge-
schlecht erblich geworden ist.
Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen
Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am
sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch
eine neue Organisation vollzogen werden.
Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere
Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die
[93]Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und
gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern,
fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent-
gegen zu setzen.
Die wichtigsten Motive sind:
a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich
in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in
Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise
der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als
Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen.
Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari-
schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein-
ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und
die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache
und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander
fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation
ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina,
sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im
Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer-
störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde
Nationen und Staten.
Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die
religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz
heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu-
bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist
sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität,
abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse
Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio-
nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum,
ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau-
ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von
fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen
dieser sind.
b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der
[94]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
Nationen der Gegensatz der Sprache. Die Nation erscheint
ganz besonders deutlich als Sprachgenossenschaft. In-
dem die Massen in verschiedenen Ländern allmählich ihre
Sprache eigenthümlich fortbilden, kommt eine Zeit, in der
sich die früheren Sprachgenossen nicht mehr verstehen, weil
ihre Sprachen sich nach und nach geschieden haben. Von
da an erkennen sich die, welche noch dieselbe Sprache reden
und verstehen, als Nationale, und die Anderen, deren Sprache
ihnen unverständlich geworden ist, als Fremde.
Die Sprache ist der Ausdruck des gemeinsamen Geistes
und das Werkzeug des geistigen Verkehrs. Sie wird in der
Familie fortgepflanzt und gleichsam vererbt. Die Mutter-
sprache hält daher das Bewusztsein der Nationalität in täg-
licher Uebung wach und lebendig. Selbst fremde Rassen
werden durch eine neue Sprache, welche sie in erblicher
Weise aufnehmen, nach und nach geistig umgebildet und er-
halten so die Nationalität, deren Sprache sie reden. In dieser
Weise sind die germanischen Ostgothen und Longobarden nach
und nach in Italien zu Italienern, die Kelten, die Franken
und die Burgunder in Frankreich zu Franzosen, die Slaven
und Wenden in Preuszen zu Deutschen geworden.
Wenn in unsern Tagen das Nationalbewusztsein kräftiger
und wirksamer geworden ist, als je zuvor, so haben die
Werke der Sprache, so hat die Litteratur und ganz vor-
züglich die periodische Presse in der Landessprache den
erheblichsten Antheil an dieser Erscheinung. Die nationale
Bewegung hat zumeist ihre Impulse von der nationalen Litte-
ratur empfangen, welche die Gemeinschaft des Denkens und
Empfindens vermittelt und den geistigen Gemeinbesitz er-
weitert.
Dennoch entscheidet auch die Sprache nicht immer über
die Nationalität. Daher sind die Begriffe Nation und erbliche
Sprachgenossenschaft nicht völlig gleichbedeutend. Die Be-
wohner der Bretagne und die Basken betrachten sich selbst
[95]Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
als nationale Franzosen, obwohl sie die französische Sprache
entweder gar nicht oder nur wie eine fremde erlernte Sprache
reden. Hier haben die statliche Verbindung zu Einem Volk,
die gemeinsamen Schicksale und Interessen, die Gemeinschaft
der Cultur das Gefühl der französischen Nationalität geweckt
und ausgebildet. Hinwieder betrachten sich Engländer und
Nordamerikaner trotz der fortdauernden Sprachgemeinschaft
doch als zwei getrennte, wenn gleich nahe verwandte Natio-
nalitäten. Nicht die Sprache sondern der Gegensatz zweier
Welttheile, zwischen denen das breite Weltmeer sich aus-
dehnt, die Verschiedenheit der Natur- und der Lebensauf-
gaben, die geschichtlichen, socialen und politischen Gegen-
sätze haben die Eine Nation in zwei Nationen gespalten.
Diese Beispiele zeigen, dasz auszer der Religion und der
Sprache auch a) die Gemeinschaft des Wohnsitzes und des
Landes, b) der Lebensart, der Lebensaufgaben und
der Sitten und c) der statlichen Verbindung auf die Bil-
dung neuer Nationen einwirken.
Endlich üben auf dieselbe die Mischungen einen be-
deutenden Einflusz aus, welche die Theile einer Nationalität
mit den Angehörigen einer andern Nation verbinden. Es
kann daraus ein neuer Typus und ein neuer Charakter der
Massengemeinschaft, folglich auch eine neue Nation entsprin-
gen. Die europäische und die amerikanische Geschichte ist
reich an Belegen dafür.
Die Nation ist ein Culturwesen, indem sowohl ihre
innere Zusammengehörigkeit als ihre Abtrennung von frem-
den Nationen vornehmlich aus der Culturentwicklung enstan-
den sind und vorzugsweise ihre Wirkung auf die Culturzu-
stände äuszern. Sie ist nur psychologisch zu verstehen,
indem ihr Wesen in dem Gemeingeist und Gemeincharakter
zu erkennen ist, der sie beseelt. Man kann sie insofern auch
einen Organismus nennen, als ihre Eigenart auch in dem
gleichartigen Körperbau der nationalen Rasse und in den
[96]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
äuszeren Kundgebungen der Sprache und der Sitte eine sicht-
bare Darstellung erhalten haben. Aber sie ist doch nicht ein
organisches Wesen in dem höheren Sinne, wie das Volk eine
Person ist. Die Gemeinschaft ist in ihr lebendig und die
Anlage zur Einheit. Aber die Einheit des Rechtswillens und
der That, die rechtliche Persönlichkeit hat sie nicht,
wenn sie nicht im Stat zum Volk geworden ist.
Obwohl der menschliche Geist und die menschliche Ar-
beit auch an der Bildung der Nationen einen sehr erheblichen
Antheil haben, so vollzieht sich dieselbe doch zumeist unbe-
wuszt, wie eine Naturnothwendigkeit. Indem sich die
Eine Menschheit in viele Nationen zertheilt, erhält sie die
Möglichkeit, alle die verborgenen Kräfte ihrer Natur, die der
gemeinsamen Entwicklung fähig sind, durch den Wettstreit
und die mannigfaltigen Arbeiten der verschiedenen Nationen
zu offenbaren und ihre Bestimmung reicher zu erfüllen. Das
Wachsthum und die Entfaltung der Nationen bildet daher
einen starken Hebel der Weltgeschichte und gehört sicher zu
den Grundlinien des göttlichen Weltplans.
Der Begriff der Nation läszt sich daher so bestimmen:
Nation ist die erblich gewordene Geistes-, Gemüths-
und Rassegemeinschaft von Menschenmassen der ver-
schiedenen Berufszweige und Gesellschaftsschichten, welche
auch abgesehen von dem Statsverband als culturverwandte
Stammesgenossenschaft vorzüglich in der Sprache, den
Sitten, der Cultur sich verbunden fühlt und von den übrigen
Massen als Fremden sich unterscheidet.
Die Grenzen einer Nation sind veränderlich und beweg-
lich. Sie kann fortwährend wachsen und sich ausbreiten,
wenn es ihr gelingt, ihre Sprache und ihre Sitte, ihre Cultur
auf fremde Massen auszudehnen und dieselben dadurch zu
assimiliren. Sie kann abnehmen, zusammenschrumpfen und
ganz aussterben, wenn eine fremde Cultur siegreich wider sie
vorgeht und ihre bisherigen Glieder für sich einnimmt und
[97]Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
umbildet. Eine höhere Cultur einer groszen Nation zehrt so
nach und nach die roheren Culturen kleiner Stämme auf und
ersetzt dieselben durch ihre reichere Bildung.
Unter Volk verstehen wir in der Regel die zum State
geeinigte und im State organisirte Gemeinschaft
aller Statsgenossen. Die Entstehung des Volkes kommt zu-
gleich mit der Schöpfung des Stats zur Wirksamkeit. Das
Gefühl, in höherer Stufe das Bewusztsein politischer Zu-
sammengehörigkeit und Einheit hebt das Volk über die Nation
empor. Es ist zwar denkbar dasz ein Volk, welches sein
Land verläszt, vorläufig noch Volk bleibt, aber es ist doch
nur provisorisch als Volk anzusehen, bis es ihm gelingt, in
einem neuen Lande einen Stat zu bilden. Ebenso kann ein
Volk dem State vorhergehen, wie das jüdische Volk unter
Moses dem jüdischen State; aber doch wieder nur, weil in
ihm der Statstrieb kräftig entwickelt ist und es zur Gründung
eines Stats einheitlich organisirt ist. Insofern ist die Be-
ziehung des Volksbegriffs zum Stat immer nothwendig und
man kann sagen: Kein Volk ohne Stat. Wir werden diese
Entstehung des States in dem vierten Buche besonders be-
trachten.
Wir pflegen aber die blosz passive, beherrschte Masse,
ohne politische Rechte, nicht Volk zu nennen. Insofern läszt
sich nicht sagen: Kein Stat ohne Volk. Die Despotie
weisz nichts von Völkern, sondern nur von Unterthanen.
Wenn das Volk entweder insgesammt oder in dem Kern
der Statsbewohner auf nationaler Grundlage steht, so hat es
natürlich auch seinen Antheil an der nationalen Geistes-,
Charakter-, Sprach- und Sittengemeinschaft. Wenn es dagegen
aus mehreren Nationen oder aus Bruchstücken solcher gemischt
ist, so ist diese Gemeinschaft weniger allgemein in ihm als
in der Nation.
Dagegen zeichnet sich das Volk vor der Nation haupt-
sächlich dadurch aus, dasz in ihm die Rechtsgemein-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 7
[98]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
schaft entschiedener ausgebildet und zu politischer Theil-
nahme an der Statsleitung gesteigert ist, und seine Fähig-
keit, einen Gesammtwillen auszusprechen und durch
Thaten zu bewähren, durch die Statsverfassung die erfor-
derlichen Organe erworben hat, mit Einem Worte, dasz es
eine rechtliche und statliche Gesammtperson ist.
Mit vollem Rechte spricht man daher von einem Volks-
geiste und von einem Volkswillen, der etwas anderes ist
als die blosze Summe des Geistes und des Willens aller zum
Volk gehörigen Individuen. Jener Geist und Wille ist seinen
Organen und seinem Inhalte nach einheitlicher Gemeingeist
und Statswillen, nicht individueller und mannigfaltig sich
widersprechender Einzelngeist und Einzelnwille.
Auch die Völker sind organische Wesen; und desz-
halb stehen sie unter den Naturgesetzen alles organischen
Lebens. In der Entwicklungsgeschichte der Völker lassen sich
dieselben Altersperioden unterscheiden, wie in dem Leben der
Individuen. Die natürlichen Kräfte und Anlagen eines Volkes,
seine Vorstellungen, seine Bedürfnisse sind anders in der Zeit
seiner Kindheit, und anders in der Zeit seines Alters. Wie
für den einzelnen Menschen, so ist auch für das Volk die
mittlere Periode seines Lebens regelmäszig die Zeit der höch-
sten Entwicklung seines Geistes und seiner Macht. Nur sind
diese Perioden bei den Völkern nach Jahrhunderten zu be-
messen, während sie bei den Individuen nach Jahrzehnten sich
unterscheiden. Unsterblichkeit aber scheint auch den Völkern
nicht verliehen zu sein.
Anmerkungen. 1. Es ist ein Verdienst Savigny's, die Bedeu-
tung des Volkes als eines organischen Wesens und den Einflusz seiner
Lebensalter auf die Rechtsbildung in Deutschland wieder nachdrucksam
hervorgehoben zu haben.
2. Die Familienverbindung ferner für sich allein erzeugt weder
eine Nation noch ein Volk, und der Satz Schleiermachers: „Wenn eine
Masse von Familien unter sich verbunden und von andern ausgeschlossen
ist durch Connubium, so stellt sich die Volkseinheit dar,“ wird in zwie-
[99]Drittes Capitel. Nationale Rechte.
facher Beziehung durch die Geschichte widerlegt. Die römischen Patricier
waren unter sich durch Connubium verbunden, die Plebejer ebenso. Aber
weder jene noch diese waren für sich allein das römische Volk; und
beide waren in älterer Zeit nicht durch Connubium mit einander ver-
bunden, und doch bestand das römische Volk aus ihrer Vereinigung.
Die germanischen Völker waren aus Ständen verbunden, von welchen
jeder nur in seinem Innern unter seines Gleichen die Ehegenossenschaft
zuliesz. In neuerer Zeit endlich besteht überall Ehegenossenschaft und
Familienverbindung auch unter verschiedenen Nationen, ohne dasz daraus
eine neue Nation entsteht.
3. Mancini (Della nazionalità come fondamento del Diritto delle
Genti Napoli 1873. S. 37) erklärt die „Nationalität“ ebenso als eine
„natürliche Genossenschaft von Menschen, welche durch die Einheit ihrer
Wohnsitze (des Landes), durch ihre Abstammung, ihre Sitten und ihre
Sprache zu einer Lebensgemeinschaft geeinigt sind und das Bewusztsein
dieser Gemeinschaft haben.“ Aber wenn er mit Recht in der Nationalität
die natürliche Anlage zur Statenbildung erkennt, so tritt in seiner Lehre
doch der Unterschied zwischen Nation und Volk nicht scharf genug her-
vor, und ist er geneigt, schon die Nation als Rechtsperson zu betrachten,
was sie nicht ist, und im günstigsten Fall erst werden kann, wenn sie
die statliche Organisation erlangt hat.
Drittes Capitel.
Nationale Rechte.
Es ist ein Fortschritt der Civilisation, dasz wir anfangen,
von nationalen Rechten zu sprechen und Achtung für dieselben
zu fordern. Da die Nationen Theile der Menschheit und das
Product eines groszen welthistorischen Entwicklungsprocesses
sind, so sollen sie auch in ihrem Bestande geachtet und ge-
schützt werden. Das erste und natürlichste Grundrecht ist
allezeit die menschliche Existenz. Welche menschliche
Existenz aber hätte ein besseres Recht von Natur als die des
nationalen Gemeingeistes? Sie ist ja zugleich die Unterlage
auch der individuellen Existenz und eine Grundbedingung der
Entwicklung der Menschheit.
[100]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Aber nur allmählich wird es gelingen, dieses zunächst
blosz sittliche Gebot in die entsprechende Rechtsformel zu
fassen. Die Hauptbedeutung des Nationalitätsprincips
liegt vorerst noch in der Politik, nicht im Statsrecht.
Als nationale Rechtsgrundsätze aber lassen sich folgende
anführen, die daher von den Genossen derselben Nation geltend
gemacht werden dürfen:
1. Das Recht auf die nationale Sprache.
Die Sprache ist das eigenste Gute jeder Nation, in der
Sprache vorzüglich gibt sich die Eigenart derselben kund, sie
ist das stärkste Band, welches die Genossen der Nation zu
einer Culturgemeinschaft verbindet.
Daher darf der Stat nicht der Nation ihre Sprache ver-
bieten, noch die Ausbildung derselben und ihre Litteratur
untersagen. Es ist im Gegentheil Statspflicht, die Cultur der
Sprache frei gewähren zu lassen und so weit die allgemeinen
Bildungsinteressen nicht dadurch verletzt werden, wohlwollend
zu fördern. 1 Die Unterdrückung der einheimischen Sprachen
der Provinzialen durch die Römer war ein furchtbarer Misz-
brauch der Statsgewalt, und das Verbot der wendischen Volks-
sprache in dem Gebiete des deutschen Ordens unter An-
drohung der Todesstrafe war eine widerrechtliche Barbarei.
Aus diesem Princip folgt aber nicht, dasz es in den
Statsangelegenheiten nicht eine bevorzugte Statssprache
geben dürfe mit Ausschlusz aller übrigen Volkssprachen. So
weit es sich nicht um das blosze Nationalleben, sondern um
das Statsleben handelt, da kann das Interesse des gesammten
Statsvolkes die Einheit der Sprache erfordern. So wird im
englischen Parlamente mit Recht nur englisch, nicht auch
irisch noch gälisch gesprochen, in den französischen Central-
behörden nur französisch, nicht auch keltisch oder baskisch,
[101]Drittes Capitel. Nationale Rechte.
und im deutschen Reichstag nur deutsch, nicht auch polnisch
oder dänisch oder französisch. Sorgfältiger aber achtet die
Schweiz die verschiedenen Nationalitäten, aus denen sie zu-
sammengesetzt ist, indem sie die deutsche mit der französi-
schen Statssprache verbindet, und nach Bedürfnisz auch die
italienische respectirt.
Ebenso wenig ist der Stat gehindert, dafür zu sorgen,
dasz in den Schulen die höhere Cultursprache gepflegt und die
Kinder einer noch ungebildeten Nation an der Errungenschaft
und Erbschaft einer veredelten Litteratur einen Antheil erhal-
ten. Dagegen wird es von einer civilisirten Nation als ein
bitteres Unrecht empfunden, wenn ihre Sprache aus der
Schule und der Kirche zu Gunsten einer fremden Sprache
verdrängt wird.
2. Die Nation hat ferner ein Recht, ihre nationale
Sitte zu üben, so weit dieselbe nicht dem höhern mensch-
lichen Sittengesetze widerstreitet, oder die Rechte des States
verletzt. Die herrschenden Engländer sind berechtigt, nicht
länger zu dulden, dasz die indischen Frauen zur Todtenfeier
ihrer Männer sich ebenfalls dem Tode opfern. Die Untersagung
aber unschädlicher Volksspiele ist eine nicht zu rechtfertigende
Anmaszung des States.
3. Auf dem Gebiete der eigentlichen Rechtsinsti-
tutionen ist die Berechtigung der bloszen Nation auf stat-
liche Anerkennung und Schutz geringer, weil hier theils die
Einheit und Harmonie des States, theils die Interessen des
statlichen Culturvolkes einen naturgemäszen höhern Einflusz
äuszern. Eine die Gesammtbevölkerung umfassende, und die
einzelnen Volksrechte umbildende oder aufhebende Gesetz-
gebung ist ein Bedürfnisz des entwickelten States. Man darf
es den Römern nicht verargen, dasz sie das römische Recht
überall in ihrem Reiche einzuführen suchten. Rücksichtsloses
Unmasz aber verdient Tadel. Einen der ärgsten Miszgriffe
der Art hat das englische Parlament begangen, als es 1773
[102]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
in Bengalen die Formen des englischen Gerichtsverfahrens
und des englischen Rechts den dafür unreifen Indiern auf-
nöthigen wollte. In den deutschen Staten aber verfuhr man
gleichzeitig in der Aufrechthaltung eines wahren Wustes von
hergebrachten Statutarrechten für kleine Volksparcellen über-
ängstlich, und in der Einführung eines fremden gemeinen
Rechtes für die Nation über die Maszen kühn und eingreifend.
Mit Bezug auf die Fortbildung des Rechts gewinnt da-
her das Volk die Oberhand über die Nation und vor der
Einheit des Gesetzes und der Rechtspflege müssen sich die
nationalen Verschiedenheiten beugen, die Rechtsgleichheit der
Statsbürger erhält den Vorzug vor der Mannigfaltigkeit der
nationalen Uebungen. Es ist den Römern doch sehr viel
leichter geworden, die unterthänigen Nationen im Recht zu
romanisiren als in der Sprache zu latinisiren, und wir neh-
men keinen Anstosz daran, dasz die Franzosen ihren Code
Napoleon auch auf das deutsche Elsasz und auf die alt-
gallische Bretagne angewendet haben. Wir tadeln es nicht,
wenn die englische Gesetzgebung auch das Recht der Iren
und der Walliser gleichmäszig ordnet. Aber wir erinnern uns
doch auch, dasz der Versuch der Römer, die noch rohen
Germanen der römischen Rechtspflege zu unterwerfen, den
groszen germanischen Freiheitskampf entzündet hat und es
während Jahrhunderten ein Princip der germanischen Rechts-
überzeugung war, man müsse jede Nation bei ihrem Rechte
lassen und jeden nach seinem angebornen (d. h. nationalen)
Rechte schützen. Die altrömische Maxime einseitig durchge-
führt, hätte alle nationale Freiheit mit dem nationalen Recht
zerstört, die alt-germanische Weise zähe bewahrt, hätte alle
höhere Stats- und Rechtscultur unmöglich gemacht. Es war
ein Glück für die Freiheit der Nationen und für die fort-
schreitende Civilisation, dasz Römer und Germanen feindlich
aufeinander trafen und keines der beiden Principien zu alleiniger
Herrschaft gelangte.
[103]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
4. Wird eine Nation in ihrer sittlichen und geistigen
Existenz von der Statsgewalt angegriffen, so sind ihre Ge-
nossen zum zähesten Widerstand dagegen veranlaszt.
Es gibt keine gerechtere Ursache zur Auflehnung wider die
Tyrannei, als die Vertheidigung der Nationalität. 2Die Lega-
lität kann dabei Schaden leiden, das Recht wird nicht verletzt.
Viertes Capitel.
Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
In allen Zeiten der Weltgeschichte hat die Nationalität
eine mächtige Wirkung auf die Staten und die Politik geübt.
Das Gefühl der nationalen Verwandtschaft und Eigenart hat
die Hellenen in ihren Kämpfen mit den Persern begeistert.
Für ihre nationale Freiheit haben die alten Germanen wider
die Römer gestritten. Nach nationalen Gegensätzen ist das
römische Weltreich in das lateinische und das griechische
Kaiserthum gespalten worden. An dem Zwiespalt in der
fränkischen Monarchie und der Scheidung von Frankreich und
Deutschland hat der Unterschied der romanischen und der
germanischen Sprache einen erheblichen Antheil gehabt. Auch
während des Mittelalters tritt zuweilen der Gegensatz der
Nationen scharf hervor. Aber zum erstenmal in der Ge-
schichte ist doch erst in unserm Zeitalter das Princip der
Nationalität als entscheidendes Statsprincip verkündet
worden.
[104]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Während des Mittelalters war der Grundcharakter der
Statenbildung dynastisch oder ständisch, eher noch
territorial als national. In den letzten Jahrhunderten
wuchsen die groszen europäischen Nationen heran, aber der
Stat bekam doch nicht eine nationale Begründung noch einen
nationalen Ausdruck. Vielmehr wurde damals der obrig-
keitliche Stat der Fürsten und ihrer Beamten ausgebildet.
Auch die naturrechtliche Statslehre gründete ihre Anfor-
derungen an den idealen Stat nicht auf die nationale Ge-
meinschaft, sondern auf die menschliche Natur, ihre Bedürf-
nisse und den freien Willen der Einzelmenschen. Rousseau
sah in der Gesellschaft, nicht in der Nation die Grund-
lage des Stats. Das „Volk“, dem er die oberste Statsgewalt,
die „Souveränetät“ zuschreibt, ist nicht die geeinte Nation,
sondern die „Gesammtheit“, beziehungsweise die
„Mehrheit
der Bürger“, die sich zu dem State willkürlich vereinigt haben,
gleichviel ob sie nur einen kleinen Bruchtheil einer Nation
bilden oder aus verschiedenen Nationalitäten zusammen ge-
treten sind. Von denselben Grundsätzen gingen noch die
französischen Verfassungen von 1791 bis 1793 (Art. 25-28),
und von 1795 (Art. 17) aus. Die Ausdrücke peuple und
nation wurden noch abwechselnd gebraucht, aber immer zur
Bezeichnung der „Gesammtheit der Bürger“ (universalité des
citoyens). Die statliche Herrschaft erhielt nur einen andern
Sitz. Sie wurde von dem Centrum in die Peripherie verlegt,
von dem Könige auf den Demos übergetragen.
Als zu Anfang unseres Jahrhunderts Napoleon I. es
unternahm, das Reich Karls des Groszen zu erneuern, und
gestützt auf die französische Nation eine Universalmonar-
chie über Europa aufzurichten, da stiesz er auf den Wider-
stand der übrigen Nationen, welche die französische Herr-
schaft mit Widerwillen und Hasz betrachteten. Trotz seines
Genies ist der Kaiser, der kein Verständnisz für die Eigenart
der Nationen hatte, schlieszlich dem nationalen Widerstand
[105]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
erlegen. Dennoch war auch damals das nationale Bewusztsein
nur wenig entwickelt. Die nationalen Gefühle wirkten wohl
unbewuszt in den Massen und begeisterten diese zum Kampf,
aber der Nationalgeist war noch nicht erwacht. Sogar die
ausdauernde und hartnäckige Feindschaft der Engländer
wider die Franzosen hatte nicht darin ihren Grund, dasz jene
die Freiheit der Nationen vor dem französischen Drucke retten
wollten, sondern weit mehr in dem Hasz der englischen Aristo-
kratie wider die französische Revolution, in der Besorgnisz
vor der Uebermacht Frankreichs in Europa, in den bedrohten
Handelsinteressen. Das englische Statsbewusztsein ist freilich
gehoben durch den männlichen Stolz und den freien Rechts-
sinn der angelsächsischen Rasse und der englischen Nationa-
lität. Aber trotzdem sind die Engländer misztrauisch gegen
das Nationalitätsprincip als Statsprincip. Sie wissen, dasz ihr
europäisches Inselreich verschiedene Nationen zusammenhält
und dasz insbesondere das aufgeregte Nationalgefühl der kelti-
schen Iren schon mehr als einmal an dem englischen Stats-
verband gerüttelt hat. Ihre Weltherrschaft in Ostindien und
in andern überseeischen Ländern wird nicht minder durch
eine scharfe Betonung jenes Princips in Frage gestellt. Auch
die Spanier fühlten sich in ihrem Kampfe wider die Fran-
zosen als eine eigenartige Nation und haszten diese als Fremde.
Aber sie betrachteten den Krieg doch weniger als einen natio-
nalen, sondern vielmehr als einen Kampf für ihren legitimen
König und für ihre katholische Religion wider die teuflischen
Revolutionäre. Den Deutschen war das politische National-
gefühl schon seit Jahrhunderten durch die confessionelle Zwie-
tracht und durch die Zerbröckelung des Reiches in selbstän-
dige dynastisch regierte Länder abhanden gekommen und nur
eine Anzahl Gebildeter hörte auf die begeisternden Reden
von Fichte und die Schriften von Arndt, welche das deutsche
Nationalbewusztsein wieder zu wecken suchten. Die Russen
gingen für ihren Kaiser und sein heiliges orthodoxes Reich
[106]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
wider den gottlosen Westen ins Feld und in den Tod. An
ihre nationale Berechtigung dachten sie nicht.
Selbst der unklare Ansatz der französischen Revolution,
den Nationen das Recht der Selbstbestimmung zu gewähren,
wurde in der Restaurationsperiode wieder gewaltsam zertreten.
Der Wiener Congresz kümmerte sich nichts um die Nationen.
Er vertheilte ohne Scheu und ohne Scham die Stücke groszer
Nationen unter die restaurirten Dynastien. Wie früher Polen
zerrissen und zwischen Russland, Oesterreich und Preuszen ge-
theilt worden war, so wurden nun Italien und Deutsch-
land in eine Anzahl souveräner Staten zertheilt, Belgien
und Holland aber, trotz des nationalen Gegensatzes, zu
Einem Königreich zusammen geschmiedet.
Weder das Revolutions- noch das Restaurationszeitalter
hat das Princip der Nationalität als Statsprincip anerkannt.
Um so entschiedener dagegen wird die Statengeschichte der
Gegenwart von dem Nationalbewusztsein aus bedingt und be-
stimmt. Die Wissenschaft und ganz vorzüglich die deutsche
und die italienische Wissenschaft hatte vorher schon auf die
nationale Idee hingewiesen und ihre politischen Aussprüche
beleuchtet. Die Statspraxis aber hat erst seit den Vierziger-
jahren sich auf das natürliche Recht der Nationen berufen,
sich statlich zu gestalten. Stärker als je zuvor regten sich
die nationalen Triebe auch in den Massen und verlangten
nicht blosz litterarische, sondern überdem politische Befrie-
digung. Die Nationen wollten ihre Gemeinschaft zu statlicher
Macht steigern und Völker werden. Das ganze aus dem
Mittelalter überlieferte dynastische Statensystem Europas wurde
nun von den nationalen Verlangen und Leidenschaften be-
droht. Alle Reiche, wie insbesondere Oesterreich, wurden
durch dieselben in ihrem Bestande erschüttert, weil die ver-
schiedenen in denselben politisch geeinigten Nationalitäten
nach Selbständigkeit strebten. Neue Reiche, wie voraus Ita-
lien und das deutsche Reich, wurden gebildet, kraft des
[107]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
nationalen Gedankens, welcher die zerstreuten Gliedmaszen
der Einen Nation sammelte und zu einem Statskörper organi-
sirte. Die Macht dieses nationalen Strebens ist unläugbar;
über den Umfang seines Rechts mag man noch streiten.
Die Beziehung der Nationalität zum State ist offenbar
enger und stärker als die zur Kirche, welche leichter einen
universellen Charakter bewahrt. Denn der Stat erscheint
als die Organisation eines Volks, und die Völker erhalten
ihren Charakter und Geist vornehmlich von den Nationen,
welche im State leben. Zwischen den Begriffen Nation und
Volk zeigt sich daher eine natürliche Verwandtschaft
und eine stetige Wechselwirkung.
Zunächst freilich ist die Nation nur Cultur- und nicht
Statsgemeinschaft. Aber wenn sie sich ihrer Geistesgemein-
schaft recht lebendig bewuszt wird, dann liegt der Gedanke
und das Verlangen nahe, dasz sie diese Gemeinschaft auch
zu voller Persönlichkeit ausbilde, dasz sie auch einen ge-
meinsamen Willen hervorbringe und ihren Willen machtvoll
bethätige, d. h. dasz sie den Stat bestimme oder zum State
werde.
Das ist die Begründung des politischen Nationali-
tätsprincips, wie dasselbe heute sich geltend macht. Das-
selbe begnügt sich nicht mehr damit, dasz der Stat die natio-
nale Sprache, Sitte und Cultur schütze, sondern es verlangt,
dasz der Stat selber zum Nationalstat werde. In seiner ab-
soluten Fassung bedeutet es: „Jede Nation ist berufen und
berechtigt, einen Stat zu bilden. Wie die Menschheit in eine
Anzahl von Nationen getheilt ist, so soll die Welt in eben
so viele Staten zerlegt werden. Jede Nation Ein Stat.
Jeder Stat ein nationales Wesen.“ Ist dieser Ge-
danke wahr?
Ueberschauen wir vorerst die hauptsächlichsten vorhan-
denen Gegensätze zwischen dem Umfang der Nation und der
Ausdehnung des States.
[108]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
I. Wenn das Statsgebiet kleiner ist als die Nation, so
werden wir zwei entgegen gesetzte Strömungen gewahr:
1) Ist das Statsbewusztsein in den Bürgern sehr
kräftig und lebendig, so zeigt sich das Streben des Stats,
seine Bevölkerung zu einer neuen Nation eigenthümlich
auszubilden. In dieser Weise sind im Alterthum die Athener
und Spartaner kraft ihrer statlichen Erziehung und Absonde-
rung zu relativen Nationen geworden; aber auch im Mittel-
alter die Venetianer und die Genuesen, und später die Hol-
länder und theilweise die Schweizer. Das groszartigste Bei-
spiel aber der Bildung einer neuen Nation durch die Kraft
des politischen Geistes, der freilich von dem Gegensatz der
Lage unterstüzt ward, ist die nationale Scheidung der Nord-
amerikaner von den Engländern.
2) Wenn dagegen die nationalen Triebe in dem engen
Statsgebiet sich unbefriedigt fühlen, dann streben sie umge-
kehrt, die Grenzen des Stats zu überschreiten und sich mit
ihren nationalen Genossen in andern Staten zu einem gröszeren
nationalen State zusammen zu schlieszen. Dieser Zug
bewegte schon früher die französische und sie bestimmt in
unserm Jahrhundert die italienische und die deutsche Staten-
bildung.
II. Wenn das Statsgebiet weiter ist als die Nation, d. h.
wenn es zwei oder mehrere Nationen oder doch Bruchtheile
von solchen umfaszt, dann sind mehrere Fälle zu unterscheiden:
A) Die verschiedenen Nationen oder Theile von Nationen
sind massenhaft neben einander in dem Einen Statsge-
biet gelagert. Dann zeigen sich folgende Strömungen:
1) Die Tendenz des States, gestützt auf die hervor-
ragende Cultur einer Nationalität, allmählich die andern
nationalen Elemente zu assimiliren und dadurch das ganze
Volk zu Einer Nation umzuwandeln. So wurde in dem
altrömischen Kaiserreiche der Occident latinisirt und der
Orient hellenisirt. In ähnlicher Weise sucht heute der
[109]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
belgische Stat, gestützt auf die Wallonen und auf die fran-
zösische Bildung der Hauptstadt Brüssel, die höheren Classen
auch der vlämischen Bevölkerung zu französiren. Ebenso
unternimmt es Russland, die polnische Nation gewaltsam zu
russificiren.
Diese Nationalisirung gelingt nur da, wo die herr-
schende Nation den übrigen an Bildung, Geist und Macht
entschieden überlegen ist. An dem Widerstand der Germanen
und der Perser ist doch auch die nationalisirende Politik von
Rom und Constantinopel gescheitert.
2) Die Tendenz der verschiedenen Nationen, den Stat
zu theilen und politisch aus einander zu gehen.
Die Repealbewegung der Iren gegen den englischen Stat, die
Lostrennung der Lombarden und der Venetianer von Oester-
reich, die Verfassungskämpfe in Oesterreich überhaupt, der
erneuerte Dualismus von Oesterreich und Ungarn, aber auch
der Streit zwischen Magyaren und Slaven, Deutschen und
Czechen offenbaren die zähe Kraft dieser Richtung.
3) Ihr entgegen zeigt sich ferner die Absicht des States,
die verschiedenen Nationen zusammen zu halten, ohne
sie zu Gunsten Einer Nationalität umzubilden. Dann aber
musz der Stat darauf verzichten, ein specifisch-nationaler zu
sein. Er verhält sich dann in nationaler Beziehung als neu-
tral oder vielmehr als gemeinsam. Er läszt jede Nation
in seinem Innern, soweit ihre Culturinteressen in Frage sind,
völlig frei gewähren und betrachtet sie alle als gleichbe-
rechtigt. Soweit die Politik zu bestimmen ist, vermeidet
er die nationale Einseitigkeit und bestimmt dieselbe lediglich
nach gemeinsamen politischen, nicht nach besonderen
nationalen Motiven.
Das ist die Methode, durch welche es früher der Schweiz
gelungen ist, das schwierige Problem des Nebeneinander ver-
schiedener Nationalitäten zu lösen und dieselben zu befrie-
digen, ohne die Einheit des States zu gefährden. In dem
[110]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
centralen Gebirgsstocke zwischen Deutschland, Frankreich und
Italien haben sich so Bruchstücke der drei groszen Nationen
zu kleinen republikanischen Gemeinwesen gestaltet und zu
einem friedlichen und neutralen Gesammtkörper geeinigt. Die
einzelnen Cantone freilich sind durchweg nationale Staten, sei
es weil ihre ganze Bevölkerung nur Einer Nation angehört,
wie in den deutschen Cantonen der nördlichen und östlichen
Schweiz oder in den französischen Cantonen der westlichen
Schweiz, oder in dem italienischen Tessin, sei es weil eine
Nationalität entschieden über die andern Elemente überwiegt,
wie in Bern und Graubündten die deutsche über die wälsche,
in Freiburg und in Wallis die französische über die deutsche.
Eine völlig andere Methode, die verschiedenen Nationen
statlich zusammen zu halten ohne sie umzugestalten, hatte die
österreichische Politik eine Zeit lang mit scheinbarem
Erfolge eingeschlagen, nachdem zuvor der Versuch Kaiser
Josephs II., Oesterreich zu germanisiren, verunglückt war.
Jeder einzelne Stat sollte mit den Kräften der übrigen be-
zwungen werden. 1 Diese mechanische Methode der gewalt-
samen Einigung kann wohl das Ganze künstlich zusammen
halten, aber nur so lange als die eiserne Gewalt gefürchtet
wird. Wenn ihr Zwang nachläszt oder unanwendbar wird,
dann treiben die gekränkten und miszhandelten Nationalitäten
nur um so leidenschaftlicher aus einander. Oesterreich hat
das seit 1848 erfahren.
B) Die verschiedenen Nationalitäten sind nicht massen-
haft neben einander gelagert, sondern durch einander ge-
[111]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
mischt. Dann ist keine Gefahr für die Einheit des Stats.
Eher entsteht die Gefahr für die schwächere Nationalität, dasz
sie von der stärkeren, die sie umschlingt, erdrückt und auf-
gezehrt werde. Die geistig überlegene Nationalität wird
dann herrschend und assimilirt sich nach und nach die ver-
einzelten Theile der fremden Nationalitäten. In dieser Weise
sind die Germanen in den vormaligen römischen Provinzen
mit der Zeit romanisirt worden, obwohl sie die herrschenden
Stämme waren. So werden Iren, Deutsche und Franzosen in
den Vereinigten Staten von Amerika nach ein paar Genera-
tionen von dem angelsächsischen Typus der Nordamerikaner
umgebildet.
Dieser Ueberblick beweist für die Wechselwirkung des
Nationalitäts- und des Statsprincips, aber zugleich gegen die
Annahme, dasz Nation und Volk nothwendig in Eins zusammen
treffen.
Wir können daher dem Nationalitätsprincip nur eine
relative, nicht eine absolute Berechtigung zugestehen, und
gelangen bei näherer Erwägung zu folgenden Sätzen:
I. Nicht jede Nation ist fähig, einen Stat zu erzeugen
und zu behaupten, und nur eine politisch befähigte
Nation kann berechtigt sein, ein selbständiges Volk zu
werden. Die unfähigen bedürfen der Leitung durch andere
begabtere Völker. Die schwachen sind genöthigt, sich mit
andern zu verbinden, oder sich dem Schutze stärkerer Mächte
unterzuordnen. So haben in ganz Westeuropa die keltischen
Nationen der römischen und der germanischen Statenbildung
als passiver Stoff gedient. Die mancherlei Nationalitäten in
Südosteuropa vermögen nur im Anschlusz an einander stat-
lich zu bestehen. Die Berechtigung der englischen Herrschaft
in Ostindien beruht auf dem Bedürfnisz jener Nationen nach
einer höheren Leitung.
Die volle Geistes- und Charakterkraft, um einen natio-
nalen Stat zu schaffen und zu erhalten, haben strenge
[112]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
genommen nur die Nationen, in welchen die männlichen
Seeleneigenschaften (wie Verstand und Muth) überwiegen.
Die mehr weiblich gearteten werden schlieszlich immer
durch andere ihnen überlegene Mächte statlich beherrscht
werden.
2. Da das Wesen der Nation vorerst Culturgemeinschaft,
nicht Statseinheit ist, so kann es vorkommen, dasz eine
Nation sich ihrer Culturverwandtschaft bewuszt ist, aber in
ihren politischen Ideen uneinig ist. Ein Theil der
Nation kann monarchisch, ein anderer republikanisch gesinnt
und jeder Theil entschlossen sein, das ihm zusagende Stats-
ideal zu verwirklichen. Dann kann es geschehen, dasz die-
selbe Nation in verschiedenen Statsformen ihre Eigen-
thümlichkeit darstellt und nur in dieser mannigfaltigen Staten-
bildung sich befriedigt fühlt. Dieser Zwiespalt ist zuweilen
eine politische Schwäche einer Nation. Die hellenische Nation
ist um solcher innerer Zerklüftung willen in eine Anzahl
kleiner Städtestaten die Beute erst der Makedonischen Könige,
dann der Römer geworden. Italien und Deutschland haben
sich in Folge ähnlicher Spaltungen der fremden Uebermacht
nur unvollkommen erwehren können und sind politisch ver-
kümmert worden. Der Gegensatz zweier oder mehrerer natio-
naler Staten kann aber auch die Wirkung einer ungewöhnlich
reichen Anlage einer Nation und ein Zeichen ihrer groszen
Lebenskraft sein. Das angelsächsische Brüderpaar der aristo-
kratischen Monarchie von England und der demokratischen
Republik in Nordamerika ist ein Beleg für diese letztere
Möglichkeit. Es ist ebenso ein Beweis für den Reichthum der
deutschen Nation, dasz es auszer dem deutschen Reiche noch
eine deutsche Schweiz und ein deutsches Oesterreich gibt.
3. Eine ihrer selbst bewuszte Nation, welche auch einen
politischen Beruf in sich fühlt, hat das natürliche Bedürfnisz,
in einem State zu wirksamer Offenbarung ihres Wesens zu
gelangen. Hat sie auch die Kraft dazu, diesen Trieb zu
[113]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
befriedigen, so hat sie zugleich ein natürliches Recht zur
Statenbildung. Dem höchsten Recht der ganzen Nation
auf ihre Existenz und ihre Entwicklung gegenüber sind
alle Rechte einzelner Glieder der Nation oder ihrer Fürsten
nur von untergeordneter Bedeutung. Die Bestimmung der
Menschheit kann nicht erfüllt werden, wenn nicht die Natio-
nen, aus denen sie besteht, im Stande sind, ihre Lebensauf-
gabe zu vollbringen. Die Nationen müssen, nach Fürst Bis-
marcks Ausdruck, athmen und ihre Glieder bewegen können,
damit sie leben. Darauf beruht das heilige Recht der Natio-
nen, sich zu gestalten und Organe zu bilden, mit denen sich
ihr Gesammtleben bewegen und äuszern kann; ein Recht, das
heiliger ist als alle andern Rechte, das Eine, der Menschheit
selber ausgenommen, das alle übrigen begründet und zusam-
men faszt.
4. Aber ein nationaler Stat kann entstehen und
dauern, wenn gleich nicht die ganze Nation in densel-
ben aufgenommen wird. Die nationale Statenbildung erfor-
dert nur die Erfüllung mit einem so groszen und so star-
ken Theil der Nation, dasz derselbe die Kraft hat, ihren
Charakter und ihren Geist in dem State ganz und voll zur
Geltung zu bringen. Es ist daher eine übertriebene Forde-
rung des Nationalitätsprincips, dasz der nationale Stat so
weit ausgedehnt werde, als die nationale Sprache reicht. Die
Consequenz würde dahin treiben, die Statsgrenzen ebenso be-
weglich zu machen wie die Sprachgrenzen, was mit der Festig-
keit der Statsperson und mit der allgemeinen Rechtssicher-
heit unverträglich wäre.
Frankreich, Italien und das deutsche Reich sind natio-
nale Staten, wenn gleich einzelne Bestandtheile der franzö-
sischen, der italienischen und der deutschen Nation nicht zu
ihnen gehören.
Wohl aber ist eine Nation, welche Volk geworden oder
im Begriffe ist, Volk zu werden, berechtigt, die zerstreuten
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 8
[114]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Glieder, deren sie zu ihrem Dasein bedarf, an sich
zu ziehen, aber sie ist nicht berechtigt, solche Theile, die
in einem andern Statsverband leben und ihre Befriedigung
finden, von diesem gewaltsam loszureiszen, wenn sie ihrer
entbehren kann.
5. Die höchste Statenbildung beschränkt sich nicht
auf eine einzelne Nationalität. Die Entwicklung der
Menschheit setzt nicht blosz die freie Offenbarung und den
Wettkampf der Nationen als Grundbedingung voraus, sondern
sie verlangt hinwieder die Verbindung der Nationen zu
höherer Einheit. Das Recht beruht in höherem Grade auf
der Menschennatur als auf den nationalen Besonderheiten.
Das ausgebildete Recht der Culturvölker wird mehr durch die
Bedürfnisse des menschlichen Verkehrs bestimmt als durch
die nationale Sitte. Die wesentlichen Einrichtungen des States
sind dieselben bei den verschiedenen Völkern. Die höchste
Statsidee ist menschlich.
Daher kann auch der Volksstat Bestandtheile von ver-
schiedenen Nationalitäten einigen. Sogar die entschieden
nationalen Staten erhalten durch die beigemischten Bruch-
stücke von fremden Nationen oft eine nützliche Ergänzung
ihrer nationalen Beschränktheit und es können diese fremden
Bestandtheile auch als Vermittlungsglieder dienen, welche
den Zusammenhang mit der Cultur andrer Nationen herstellen
und wirksam erhalten. Zuweilen wirkt diese Mischung eben-
so wohlthätig und förderlich für das Statsleben, wie die Legi-
rung der Edelmetalle mit Kupfer dieselben erst für die Ver-
kehrsmünzen brauchbar macht.
6. Dagegen ist es der Einheit des States allerdings sehr
förderlich, wenn das Volk wesentlich auf eine bestimmte
Hauptnation sich stützen kann und die übrigen Volksele-
mente nur in einem numerisch untergeordneten Verhält-
nisse zu demselben stehen, wie die Deutschen in Ruszland,
die slavischen Stämme in Preuszen, die Juden in Deutsch-
[115]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip
land, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger ist die
Einheit des Volkes zu begründen und zu bewahren, wenn
dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht und
Bedeutung mit einander wetteifern. Diese Schwierig-
keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen
und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zu-
letzt diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erlie-
gen ist für Oesterreich eine noch nicht überwundene Gefahr.
7. Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten be-
steht, die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politi-
schen Rechte nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, son-
dern es ist die politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung
ohne Unterschied der Nationalitäten zu bewahren.2
8. Ueber die Fähigkeit und Würdigkeit einer Nation zur
Statenbildung entscheidet freilich bei dem unvollkommenen
Zustande des Völkerrechts kein menschliches, sondern nur
das Gottesgericht, welches in der Weltgeschichte sich offenbart.
Nur in groszen Kämpfen durch seine Leiden und seine Thaten
bewährt das Volk gewöhnlich seine Berechtigung.
Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er-
füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze
auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Rücksicht
nehmen müssen, mit einem Worte, dasz der Stat volks-
thümlich sein musz. Eine Statsverfassung, welche zu dem
Charakter des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit
nicht beachtet, seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht
gemäsz ist, ist ein unnatürlicher und ein untauglicher
Körper. Wird dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation
aufgedrungen, oder wie wir das auch schon in Zeiten groszer
politischen Fieber gesehen haben, von dem miszleiteten und
kranken Volke selbst gewählt, so stürzt sie immer wieder
zusammen, sobald jene Gewalt nachläszt, oder das Volk seine
[116]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Besonnenheit wieder findet. In beiden Fällen ist aber das
Gebrechen in dem statlichen Organismus so grosz, dasz das-
selbe auch den Untergang des Volkes zur Folge haben kann und
jedenfalls seine volle Gesundheit auf lange Zeit hin verhindert.
Jede grosze Nation, die geeignet ist zum Statsvolk zu
werden, hat auch eine eigenthümliche politische Lebensan-
sicht, und eine besondere statliche Mission. Das Volk
erfüllt diese Bestimmung, indem es dem State das Gepräge
seines Wesens verleiht. Das ist das natürliche Recht des
Volkes auf eine volksthümliche Verfassung. Die Ver-
schiedenheit der Völker entspricht so der Verschiedenheit der
Nationen, und die Mannichfaltigkeit der statlichen Formen
beurkundet die Mannichfaltigkeit, welche Gott in die Natur
der Nationen gelegt hat.
Die Eigenthümlichkeit des Volkes spiegelt sich aber nicht
etwa ein für allemal in dem State ab. Das Volk durchlebt
verschiedene Phasen seiner Entwicklung, und es ändern sich,
obwohl es wesentlich dasselbe bleibt, doch seine Bedürfnisse
und seine Ansichten, je nach der Lebensperiode, in welcher
es gerade steht. Der nationale und volksthümliche Stat be-
gleitet das Volk auch in dieser Entwicklung, und macht auch
in seinem Organismus ähnliche Wandlungen und Um-
gestaltungen durch, ohne deszhalb völlig ein
anderer zu werden. Wie sehr verschieden war die
äuszere Erscheinung des römischen States in den verschiede-
nen Perioden seiner Geschichte, und dennoch wie klar stellt
sich fortwährend der national-römische Charakter derselben
dar. Die königliche, die republikanische, die kaiserliche
Statsform entsprechen den verschiedenen Lebensaltern des
römischen Volks, in allen aber wird das specifisch-römische
Gepräge sichtbar. Die englische Monarchie unter den Tudors
unterscheidet sich von der englischen Monarchie unter dem
Hause Hannover, wie sich die Entwicklungsstufen des eng-
lischen Volkes im XVI. und XVIII. Jahrhundert unterscheiden.
[117]Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
Das ist das natürliche Recht des Volkes auf zeitgemäsze
Umbildung seiner Verfassung.
Fassen wir diesz in Einem Satze zusammen: Die natur-
gemäsze Statsform entspricht jeder Zeit der Eigen-
thümlichkeit und der Entwicklungsperiode des
Volkes, welches in dem State lebt.
Anmerkungen. 1. Cato bei Cicero de Republ. II. 21. „Nec tem-
poris unius nec hominis est constitutio reipublicae.“
2. Friedrich der Grosze von Preuszen (im Antimachiav. 12.):
„Die Charaktere der Individuen sind verschieden, und die Natur hat
dieselbe Verschiedenheit in den Charakteren (dans les tempéraments)
der Staten hervorgebracht. Ich verstehe unter Charakter eines States
seine Lage, seine Ausdehnung, die Zahl und den eigenthümlichen Geist
seiner Völker, seinen Handel, seine Gewohnheiten, seine Gesetze, seine
Stärke, seine Mängel, seine Reichthümer, seine Hülfsquellen.“
3. De Maistre (1796): „Eine Verfassung, welche für alle Nationen
gemacht ist, taugt für gar keine; sie ist eine leere Abstraction, ein
Werk der Schule, nur geeignet, den Geist an idealen Voraussetzungen
zu üben, und für den reinen Menschen in den eingebildeten Räumen
bestimmt, wo er allein zu finden ist“ (qu'il faut adresser à l'homme
dans les espaces imaginaires où il habite).
4. Napoleon an die Schweizer (1803): „Eine Regierungsform, die
nicht das Resultat einer langen Reihe von Begebenheiten, Unglücks-
fällen, Anstrengungen und Unternehmungen eines Volkes ist, kann nie-
mals Wurzel fassen.“
5. Sismondi, Studien über die Verfassung freier Völker: „Die
Verfassung nicht minder als die Gesetze beruhen auf den Gewohnheiten
einer Nation, ihren Neigungen, Erinnerungen, auf den Bedürfnissen ihrer
Vorstellungsweise. Es ist ein unverkennbares Zeichen eines äuszerst
oberflächlichen und zugleich falschen Geistes, wenn er versucht wird,
eine neue Verfassung einem Volke nicht nach seinem eigenthümlichen
Geiste und seiner eigenen Geschichte, sondern nach einigen allgemeinen
Sätzen zu geben, welche man mit dem Namen von Principien fälschlich
ehrt. Die letzten fünfzig Jahre, welche so viele anspruchsvolle Ver-
fassungen haben entstehen sehen, und in welchen so viele Verfassungen
blosz entlehnt worden, können auch dafür Zeugnisz geben, dasz von all
diesen auch nicht eine den Erwartungen ihres Urhebers oder den Hoff-
nungen derer, welche sie angenommen, entsprochen habe.“
6. L. Ranke (Zeitschr. I. 91.): „Unsre Lehre ist, dasz ein jedes
Volk seine eigene Politik habe. Was will sie doch sagen, die National-
unabhängigkeit, von der alle Gemüther durchdrungen sind? Kann sie
[118]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
allein bedeuten, dasz kein fremder Intendant in unsern Städten sitze,
und keine fremde Truppe unser Land durchziehe? Heiszt es nicht viel-
mehr, dasz wir unsere geistigen Eigenschaften, ohne von Anderen ab-
zuhängen, zu dem Grade von Vollkommenheit bringen, deren sie in sich
selber fähig sind?“
Fünftes Capitel.
III. Die Gesellschaft.
Die französische Statslehre ist besonders seit Rousseau
geneigt, den Stat als Gesellschaft zu betrachten, und die Be-
griffe Volk (nation) und Gesellschaft, Nation (peuple) und
Gesellschaft für gleichbedeutend zu halten. Die Wissenschaft
vom State ist durch diese Verwechslung verschiedener Be-
griffe verwirrt worden und für die Statspraxis ist dieselbe
ebenso verderblich geworden.
Die deutsche Statslehre unterscheidet schärfer und sorg-
fältiger die verschiedenen Begriffe. Diese Unterscheidung be-
leuchtet die vorhandenen Gegensätze und bewahrt vor vielen
Täuschungen. Sie gibt auf der einen Seite dem State ein
festeres Fundament und eine gesicherte Wirksamkeit und
schützt die Freiheit der Gesellschaft besser gegen die Tyrannei
der Statsgewalt.
Das Volk ist ein nothwendig verbundenes Ganzes, die
Gesellschaft ist eine zufällige Verbindung von vielen Ein-
zelnen. Das Volk ist im State organisirt in Haupt und Glie-
dern, die Gesellschaft ist eine nicht organisirte Menge von
Individuen. Das Volk ist eine Rechtsperson, die Gesellschaft
hat keine Gesammtpersönlichkeit, sondern besteht nur aus
einer Masse von Privatpersonen. Dem Volke kommt Einheit
des Willens zu und die Macht, seinen Willen statlich zu ver-
wirklichen. Die Gesellschaft hat keinen Gesammtwillen und
keine ihm eigene Statsmacht. Die Gesellschaft kann weder
[119]Fünftes Capitel. III. Die Gesellschaft.
Gesetze geben, noch Regierungshandlungen vollziehen, noch
Recht sprechen. Sie hat nur eine öffentliche Meinung und
übt nur, je nach den Ansichten, Interessen, Verlangen Vieler
oder aller Einzelnen einen mittelbaren Einflusz aus auf
die Organe des Stats. Das Volk ist ein statlicher Be-
griff, die Gesellschaft ist kein Statsbegriff, sondern nur die
wechselnde Verbindung von Privatpersonen innerhalb
eines Statsgebiets.
Gewisz sind Volk und Gesellschaft, die doch aus densel-
ben Menschen bestehen, in einer engen und mannigfaltigen
Wechselbeziehung. Der Stat ordnet das Recht auch für die
Gesellschaft; der Stat schützt die Gesellschaft und fördert
ihre Interessen vielseitig. Hinwieder unterstützt die Gesell-
schaft den Stat mit ihren ökonomischen und geistigen Mitteln.
Eine leidende Gesellschaft ist auch für den Stat ein Leiden,
eine kranke Gesellschaft bedroht auch den Stat mit Gefahren.
Eine gesunde, wohlhabende, gebildete Gesellschaft stärkt den
Stat und bedingt auch seine Wohlfahrt.
Aber nicht immer besteht zwischen dem Stat und der
Gesellschaft volle Harmonie. Zuweilen stellt die Gesellschaft,
welche voraus ihre Privatinteressen vor Augen hat, oder sich
von wechselnden Windströmen der öffentlichen Meinung leiten
läszt, an den Stat Begehren, welche dieser als ungerecht
oder unzweckmäszig abzuschlagen genöthigt ist. Zuweilen
muthet der Stat der Gesellschaft Leistungen und Opfer zu,
welche diese nur widerwillig auf sich nimmt. Die dauernde
Sicherheit des States und die momentanen Interessen oder
Wünsche gerathen zuweilen in Conflict. Es zeigen sich von
Zeit zu Zeit Uebelstände in der Gesellschaft, deren Heilung
von der Statshülfe erwartet wird, und Mängel in der Stats-
verfassung oder der Statsverwaltung, deren Hebung die Ge-
sellschaft anregt. Es ist eine Hauptaufgabe des Statsrechts
und der Politik, diesen Widerstreit gerecht zu entscheiden
und zweckmäszig auszugleichen.
[120]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Auch die Begriffe Nation (peuple) und Gesellschaft
fallen nicht zusammen, obwohl auch zwischen ihnen eine Ver-
wandtschaft ist. Der erblichen Nation gegenüber erscheint
die Gesellschaft als eine dem Wechsel ausgesetzte Vereinigung
von Individuen. Die Nation hat in der Sprache einen orga-
nischen Ausdruck ihres Gemeingeistes geschaffen, die Gesell-
schaft bedient sich der nationalen Sprache, so weit es ihr
behagt, aber sie hat keine eigene Gesellschaftsprache. Die
Nation kann sich in verschiedene Staten verzweigen und
theilen. Wir beschränken den Begriff der Gesellschaft auf
die gegenwärtigen Bewohner Eines Statsgebiets; oder wenn
wir z. B. von europäischer Gesellschaft sprechen, so fassen
wir die Bewohner aller civilisirten europäischen Staten zu-
sammen, ungeachtet sie verschiedenen Nationen angehören.
Auch innerhalb eines States beachtet der Gesellschaftsbegriff
nicht die nationalen Unterschiede, sondern begreift die An-
gehörigen verschiedener Nationalitäten, die in Einem State
leben, in sich. In der Nation ist ein natürlicher Organis-
mus, wenigstens der physischen Anlage nach, erkennbar; die
Gesellschaft besteht nur aus einer Summe von Einzelmenschen.
Es ist ein Verdienst von Gneist um die Statswissen-
schaft, den Gegensatz der Begriffe Stat und Gesellschaft scharf
betont und auf die vielfältigen Reibungen zwischen Stat und
Gesellschaft aufmerksam gemacht zu haben. Die Bezeichnung
aber der heutigen Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft,
deren er sich mit Vorliebe bedient, ist augenscheinlich zu
enge. Gewisz ist der Vermögenserwerb eines der verbreitet-
sten und stärksten Interessen der Gesellschaft, aber durch-
aus nicht das einzige und kaum das wichtigste. Die Gesell-
schaft beachtet auch den Vermögensgenusz ebenso sehr wie
den Vermögenserwerb. Sie schätzt überdem das Familien-
leben, ganz abgesehen von allen Vermögensbeziehungen, sehr
hoch. Sie legt auf die Geselligkeit einen Werth. Sie hat
auch für die Cultur, die Litteratur, die Kunst offene Sinne
[121]Sechstes Capitel. IV. Die Stämme.
und lebhafte Theilnahme. Die Gesellschaft ist nicht in dem
Grade materiell und egoistisch gesinnt, als die Hinweisung
auf den Vermögenserwerb es darstellt; sie hat auch ein ideales
und ein gemeinnütziges Streben in sich. Man braucht nur
an die unzähligen Anstalten für Arme, Kranke, für Kunst
und Wissenschaft zu erinnern, welche freiwillig von der Ge-
sellschaft gegründet und reichlich ausgestattet worden sind,
ohne alle Nöthigung des States, um diese Wahrheit thatsäch-
lich bewährt zu finden.
Sechstes Capitel.
IV. Die Stämme.
Wie die Rassen der Menschheit in verschiedene Nationen
zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver-
wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher
auch in der Sprache, in den Sitten, im Rechte sichtbar. Aber
die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören,
verstehen sich nicht mehr, sie sind einander fremd geworden.
Dagegen die verschiedenen Stämme Einer Nation fühlen
sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens-
gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der gleichen
Nationalität tritt zwar in den Stämmen auch die Beson-
derheit und Verschiedenheit der Stämme entgegen
und scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen ge-
hört. Aber die nationale Sprache, welcher das Ohr aller
Stämme sich öffnet, hält das Gefühl der Volkseinheit und
der Verwandtschaft wach. In den Dialekten zeigt sich
beides, die Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie
verhalten sich zur Sprache, wie die particulären Stammes-
rechte zum gemeinen Volksrecht.
Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz
[122]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen-
haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber
nur Fractionen der Nationen, d. h. sie haben keinen
eigenen selbständigen Nationaltypus, sondern sind nur ein
eigenthümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemein-
samen Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort
und erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern
Gegensätze, welche auf die Natur der Nation einwirken. Der
Mannichfaltigkeit und dem Reichthum des nationalen Lebens
ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines
gröszeren nationalen States aber ist sie oft zum Hindernisz
geworden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien,
welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten,
stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen
der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge-
sammtstat bringen können. Die dorische Statenbildung war
verschieden von der jonischen und beide wieder von der äto-
lischen. Auch in der neueren Statenbildung Europas hat der
Gegensatz der Stämme stark gewirkt, besonders unter den
Deutschen, deren älteste Statenbildung Organisation der Stämme
bedeutete. Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand
darin eine reichliche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit
ein starkes Hemmnisz. Italien und Deutschland haben das
erfahren. Freilich wurden in beiden Ländern die alten Stämme
früher zerrissen, dort vornehmlich durch die selbständige Aus-
bildung der Städte, hier vorzüglich durch die Politik der
Könige und Sonderung der landesherrlichen Territorien. Aber
fortwährend war doch ein Stammesparticularismus in der
städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit der Zer-
schlagung der älteren Stammesherzogthümer die gröszeren
Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt
wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der
Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deut-
schen Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern
[123]Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
heute noch an die Stammesvorurtheile an, um die nationale
Entwicklung zu erschweren, wenn es auch nicht mehr angeht,
sie zu verhindern.
In dem Stamme ist, wie die Geschichte lehrt, auch ein
Ansatz zu einer neuen Volksbildung zu erkennen.
Indem sich der Stamm abschlieszt und trennt von der Nation,
der er von Natur angehört, kann er mit der Zeit zu einem
neuen Volke werden, leichter aber zu einem neuen — frei-
lich meistens kleinen Statsvolke, seltener zu einer neuen
Nation. Die letztere Bildung gelingt ihm nur, wenn er sich
mischt und in Folge der Mischung auch die Sprache ver-
ändert, wie es dem germanischen Stamme der Longobarden
in Italien geschehen ist, oder wenn er mit der Zeit seinen
Dialekt zu einer besondern Sprache ausbildet, wie die Hol-
länder es gethan haben.
Siebentes Capitel.
V. Kasten. Stände. Classen.
A. Die Kasten.
Innerhalb der Nationen, Völker und Stämme, welche
alle räumlich gesondert erscheinen, zeigen sich weitere, aber
räumlich verbundene Unterschiede, welche wieder eine
statsrechtliche Bedeutung haben; verschiedene feste Schichten
in dem Bau der Gesellschaft oder verschiedene Richtungen
des Gesammtlebens oder verschiedene Stufen der politischen
Bedeutung und Bildung, d. h. Kasten oder Stände oder
Classen.
Die Kastenordnung hat ihre wichtigste Anwendung
in Indien gefunden, ist aber auch in Aegypten und Persien
von Einflusz geworden. Sie gehört vorzugsweise dem alt-
[124]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
asiatisch-arischen Wesen an. In Europa ist sie niemals hei-
misch geworden. Aber in Amerika hat sie in dem Gegensatze
der weiszen und der farbigen Rassen eine neue Anwendung
gefunden. Die Ständeordnung zeigt sich unter sehr vielen
alten und neuen Völkern, ihre reichste Ausbildung aber hat
sie während des Mittelalters in Europa unter den germanischen
Völkern erhalten. Die Classenordnung endlich setzt einen
rationell eingerichteten Stat voraus, wie in Asien China, und
in Europa Athen oder Rom und manche moderne Staten.
Die Kasten werden betrachtet als ein Werk der Natur,
oder als eine unveränderliche Schöpfung Gottes, die Stände
erscheinen als ein Erzeugnisz der Völkergeschichte und
des Lebensberufs, die Classen endlich sind eine Institution
des Stats. In den Kasten offenbart sich die Autorität des
Glaubens, in den Ständen die Macht des socialen Lebens,
der wirthschaftlichen und Culturverhältnisse, in den Classen
die organisatorische Statspolitik. Die Kasten sind noth-
wendig erblich und unveränderlich, den festen, über
einander gelagerten Schichten des Gesteins vergleichbar. Die
Stände haben ein Wachsthum, wie die Pflanzen, und eine
organische Entwicklung, wie die Nationen und die Staten. Das
Erbrecht wird bei ihnen durch die freie Wahl des Berufs
geändert oder verdrängt. Die älteren Stände sind noch als
Erbstände den Kasten verwandt, die Stände der entwickelteren
Civilisation nähern sich als freie Berufsstände den Classen an.
Die Classen sind je nach den verschiedenen Zwecken des Stats
veränderlich wie künstlerische Zeichnungen.
Die indische Kastenordnung,[] die wir als Typus
der Kasteneinrichtung überhaupt betrachten können, wird in
dem Gesetzbuche Manu's als eine Schöpfung Brahma's dar-
gestellt. Dieser Glaube, den Plato seinem idealen Stat durch
künstliche Mittel einzupflanzen gewünscht hat, ist bei den In-
diern zu voller Wirksamkeit gelangt.
Die oberste Kaste der Brahmanen, in welcher das
[125]Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver-
mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach
dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie
sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der
reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen
gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Religion. Ihrer
Kunde und Sorge ist vornehmlich das Recht anvertraut. Der
geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der
König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn
ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern
zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so
erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz
ihre Reinheit. 1 Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm
schlägt, verfällt der Verdammnisz der Hölle.
Die zweite Kaste, die Kshatryias, aus denen der König
hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In ihnen
ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind
die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind
sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer
würdiger.
Die dritte Kaste, die Visas oder Visayas, sind aus den
Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger-
lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau
und Handel zu betreiben.
Die vierte dunkelste Kaste endlich, die Sudras, stam-
men aus den Füszen Gottes. Sie sind die dienende Bevöl-
kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht,
sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen.
Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor-
aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine
Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die
[126]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
höhere Frau den niedrigeren Mann. Aus den zahlreichen
Miszheirathen sind denn aber im Laufe der Zeit arge Misz-
stände und neue wieder erbliche Miszkasten der Verworfenen
und Ausgestoszenen erwachsen. Der Uebergang eines Indivi-
duums aus einer Kaste in die andere ist nur in äuszerst sel-
tenen Fällen möglich, die starre Abgeschlossenheit durchaus
die Regel. Sogar nach dem Tode wirkt die Kastenordnung
fort. Sie beherrscht ebenso das zukünftige Leben wie die
Gegenwart, und nur mit viel tausendjähriger Anstrengung
kann es in seltensten Fällen sogar einem Kshatriya gelingen,
bis auf die göttlichste Stufe des Brahmanenthums sich empor-
zuschwingen. Jeder Fehltritt aber stürzt leicht aus der Höhe
in die Tiefe und dann ist die Wiedererhebung unsäglich schwer.
Wir wissen nun, dasz jener Glaube der Indier auf Irr-
thum beruht und dasz diese Kastenbildung groszentheils ein
Werk menschlicher Geschichte ist. In den Veden noch ist
die Erinnerung an eine ältere Periode erhalten, in der es wohl
arische Stände, aber noch nicht indische Kasten gegeben hatte.
Nur der Gegensatz der drei oberen Kasten, die sämmtlich
Arier heiszen, zu den Sudras läszt sich auf einen ursprüng-
lichen Rassengegensatz zweier Völkermassen zurück führen,
indem die weissen Arier als Sieger das Land der dunkelfarbigen
Sudras eingenommen und sich da als Herren derselben nieder-
gelassen haben, ähnlich wie die weiszen europäischen Colonisten
unter der rothen Urbevölkerung in Amerika. Der alte Name
der Kaste „Varna“ bedeutet Farbe und beurkundet so den
ursprünglichen Gegensatz der Weiszen und der Farbigen. Je
höher die Kaste, desto reiner erscheint die weisze Rasse, je
tiefer, desto mehr ist sie gemischt mit dem Blut der ursprüng-
lich schwarzen Rasse. 2Die beiden obern Kasten erheben sich
[127]Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
über die dritte, wie die Aristokratie bei fast allen arischen
Völkern über den Demos. Die zuletzt entstandene Erhebung
der Brahmanen endlich über die Ritter- und Adelskaste, und
sogar über die Könige erklärt sich meines Erachtens nur aus
der neuen pantheistischen Brahmareligion, welche die alte Re-
ligion der mancherlei Naturgötter geistig überwand, aus dem
gesteigerten Gottesbewusztsein der brahmanischen Priester,
Weisen und Heiligen, und aus der Energie und Hingebung,
mit welcher sie ihrem göttlichen Beruf in allen Gefahren treu
blieben und den Königen die irdische Herrlichkeit willig über-
lieszen. 3
Die Kastenordnung ist also nur nach und nach aus ge-
schichtlichen Kämpfen und Erlebnissen entstanden. Aber dann
bekam sie den festen Ausdruck der unveränderlichen Noth-
wendigkeit und die religiöse Weihe der Heiligkeit. Sie wurde
so sorgfältig durch die ganze Erziehung der heranwachsenden
Jugend, durch die festbestimmten religiösen Pflichten, durch
alle Einrichtungen des privaten wie des öffentlichen Lebens
gepflegt, dasz Niemand mehr eine Abweichung für möglich
hielt und die starre Ordnung durch die Jahrhunderte von Ge-
schlecht zu Geschlecht überliefert wurde.
Die Kastenordnung ist nicht eine Einrichtung des Stats,
nicht ein Bestandtheil der Statsverfassung. Vielmehr ist der
Stat in die Kastenordnung eingefügt und derselben
untergeordnet. Sie ist eine allgemeine, alle Verhältnisse
beherrschende, in Ewigkeit wirkende Weltordnung. Um
deszwillen ist die höhere Statenbildung so lange unmöglich,
als der Stat der Kastenordnung zu dienen gezwungen ist. Er
kann sich nicht frei dem eigenen Lebensprincip gemäsz ent-
wickeln. Wie soll sich die politische Idee verwirklichen, wenn
ihr starre, unveränderliche Massen, die ein höheres Gesetz
scheidet und gefangen hält, widerstreben. Was hat die Stats-
[128]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
autorität zu bedeuten, und wie können die statlichen Nöthigungs-
mittel wirken, wenn ihnen der Glaube der Regierten entgegen
steht, dasz der Gehorsam gegen die Statsgewalt auf Tausende
von Jahren Unglück und Leiden über den Folgsamen bringt?
Wohl gebührt dem Erbrecht im State eine hohe Be-
deutung. Es bewahrt den innern Zusammenhang zwischen
der Vergangenheit und der Zukunft, es befestigt die Stätig-
keit — gleichsam den Knochenbau — des über das Leben
der einzelnen Menschen hinausreichenden Statskörpers. Aber
wo es absolut und ausschlieszlich das öffentliche Recht be-
herrscht, da werden die beszten Kräfte gebunden und gelähmt.
Der Stat wird zuletzt zur Mumie, welche die Züge des ver-
gangenen Lebens künstlich zu erhalten sucht, aber nicht den
Ausdruck des Todes verbergen kann.
Die Kastenordnung verhärtet und potenzirt die Unter-
schiede unter den Volksschichten. Eher noch können sich
in ihr die oberen aristokratischen Kasten befriedigt fühlen,
welche sie mit erblichen Vorrechten reichlich ausstattet. Um
so härter drückt sie die mittleren und untersten Schichten.
Sie brandmarkt die Zurücksetzung und Erniedrigung derselben
mit dem Mal der Verachtung und läszt dem Einzelnen keine
Hoffnung, aus den Banden frei zu werden, in denen sie ihn
gefangen hält. Sie steigert die Autorität der obern und sie
zerstört die Freiheit der untern Classen. Eine relative Voll-
kommenheit der einzelnen Berufszweige, selbst eine bewun-
dernswürdige Geistesthätigkeit der obersten Kreise ist mit ihr
wohl verträglich. Aber indem sie die Blutsüberlieferung und
die rassenmäszige Tradition zum obersten Gesetze macht, ver-
neint sie alle individuelle Freiheit, welche über die ererbten
Schranken hinausstrebt. Sie hat religiöse Einsiedler, grosze
Philosophen, ausgezeichnete Dichter, tapfere und groszherzige
Helden, treffliche Väter und Söhne, geschickte Arbeiter her-
vorgebracht, aber niemals grosze Statsmänner, und nirgends
hat sie freie Völker geduldet.
[129]Achtes Capitel V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände.
Alle ihre Institutionen sind auf die Erhaltung der
Lebensordnung berechnet, keine haben den Fortschritt des
Lebens zum Zwecke. Die Ruhe ist ihr Ideal, die Bewegung
ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts
Neues, ein Rad, das sich ewig in gleicher Weise und an der-
selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat
so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud-
dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer-
leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der
wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden
konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht
der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet
war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer
vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb-
ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung
zu schützen.
Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen
Reste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden; er setzt
dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und
erbaut von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich-
tungen auf ein anderes Fundament.
Achtes Capitel.
B. Die Stände.
Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt
der Kasten Stände. Wie jene sind auch diese eine organische
Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines
Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten
dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben
und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sind die
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 9
[130]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Kasten zu Ständen geworden und haben eine reiche Geschichte
und mannigfaltige Gestaltungen und Umwandlungen erlebt.
Die älteste Form der Stände erinnert noch sehr an die
Kasten. In der ersten Zeit waren die Stände noch regelmäszig
Erbstände, und die Eigenschaften, welche den Ständen zu-
geschrieben wurden, deuten auf eine innere Verwandtschaft mit
dem indischen Kastensysteme. Selbst die mythischen Vorstel-
lungen von der göttlichen Erzeugung der Stände sind ganz
ähnlich. Nach der Edda erzeugte der Gott Rigr auf seinen
Wanderungen zuerst den Thräl, den Stammvater der dienen-
den Bevölkerung, dann in besserem Hause den Freien Karl,
den Stammvater der freien Bauern, zuletzt den Edeln Jarl,
den er die Spiesze werfen und die Lanzen schwingen lehrte
und dem er das heilige Geheimnisz der Runen vertraute. Auch
diese Stände waren in Farbe und Körperbau verschieden, am
glänzendsten weisz, mit hellem Haar und leuchtenden Wangen
die Edeln, von häszlichem Gesicht und knotigen Gelenken die
Knechte.
1. Mit der Kaste der Brahmanen läszt sich der gallische
Stand der Druiden, welchen ebenfalls das Priesterthum, die
Wissenschaft und die Rechtskunde zukommt, vergleichen, 1 ob-
wohl auch sie, mehr aber noch die vorchristlichen Priester der
Germanen — ihr Name Godi ist ebenso von Gott abgeleitet,
wie die Bezeichnung der Brahmanen von Brahma — mit dem
nationalen Geschlechtsadel näher verwandt bleiben. Eine gröszere
Aehnlichkeit mit der Brahmanenkaste hat die mittelalterliche
Erhebung eines besondern christlichen Priesterstandes,
des Klerus.
2. Der alte Adel aber, den wir in der frühesten Geschichte
[131]Achtes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände.
überall in Europa finden, ist durchgehends Erbadel und hat
gewöhnlich die wichtigsten Funktionen der beiden obersten
Kasten in sich vereinigt. Die Erblichkeit des Uradels wird
gewöhnlich schon durch die Sprache bezeugt. Die griechischen
Eupatriden und die römischen Patricier sind schon um
ihrer Abstammung willen von edeln Vätern so benannt, die
germanischen Adalinge haben ihren Namen von dem Ge-
schlechte (adal), von dem sie ihr Blut erbten. 2 Auch die
Lucumonen der Etrurier und die gallischen Ritter waren
Erbadel. Die obersten Adelsgeschlechter, die fürstlichen Fami-
lien suchte die alte Sage überdem mit besonderer Vorliebe von
unmittelbarer Erzeugung der Götter oder der Heroen abzuleiten
und durch die Annahme göttlichen Blutes zu ehren Diesem
Uradel kommt gewöhnlich das Priesterthum und die Wissen-
schaft von den göttlichen Dingen, ihm auch die Kunde und
Pflege des Rechtes zu. Die höhern obrigkeitlichen Aemter
werden aus ihm vorzugsweise bestellt; und in der Kriegsver-
fassung nehmen die Edeln durchweg einen hohen Rang ein.
Dagegen sind ihnen die bürgerlichen Gewerbe meistens ver-
schlossen. Gewöhnlich haben sie hörige Leute in ihrem Schutze
und in ihrem Dienste, und sind auch im Privatrecht durch
ihre Gutsherrschaft ausgezeichnet. Sie lieben es auf Burgen
zu wohnen, und suchen auch in den Städten die Höhen aus.
Diese charakteristischen Züge finden sich mit geringen
Abweichungen in der historischen Jugendzeit der europäischen
Völker wieder. Je weiter wir in die Vorzeit hinauf steigen,
desto ähnlicher erscheint diese religiös-politische Institution.
3. Die Gemeinfreien bilden bei Griechen, Römern und
Germanen den eigentlichen Kern des Demos und des Volkes.
Ihnen gebührt das Volks- und Landrecht in vollem Masze.
Auf ihnen vornehmlich beruht die Kraft des States. Der Adel
hebt sich über sie empor, aber nicht wie die höhere indische
[132]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Kaste über die niedere als ein grundverschiedenes Wesen, son-
dern als ein wesentlich in demselben Volksrechte wurzelnder
und mit den Freien verbundener, wenn auch hervorragender
und ausgezeichneter Stand.
Die Gemeinfreien sind in der ältesten Zeit regelmäszig
Grundeigenthümer und Ackerbauer. Als solche zeigen sich
die Geomoren in der athenischen Verfassung zu Theseus
Zeit, die gewöhnlichen Spartiaten, die römischen Plebejer,
die Freien aller germanischen Stämme, bei denen freie Ge-
burt und freies Gut einer besondern Achtung in dem Rechts-
organismus genieszen. Auch mit dem Handel, obwohl anfangs
weniger gerne, beschäftigen sich die Freien. Ihre Lebensweise
ist somit der der Visas wohl zu vergleichen. Aber durch die
Waffenfähigkeit — sie voraus bilden die Massen des Fuszvolks
— werden sie in öffentlicher Ehre höher als diese gehoben,
und in der Gemeinde üben sie auch je nach der besondern
Verfassung politische Rechte aus.
Als Freie sind sie zwar der Obrigkeit unterthan, aber
nicht einem besondern Herrn zugehörig. Schutzherrschaft
kommt ihnen anfangs wohl nicht zu, aber Eigene können sie
besitzen. Auch ihr Stand ist ursprünglich ein Erbstand. In
der Regel wird man als Freier (ingenuus) geboren.
4. Endlich werden wir mancherlei Spuren eines freilich
schon in diesen ersten Zeiten offenbar in der Auflösung be-
griffenen und daher etwas räthselhaften Standes von hörigen
Leuten gewahr, welchem wie den indischen Sudras die niedern
Handthierungen des Lebens zukommen. Zuweilen besteht er
ebenfalls aus unterworfenen Landbewohnern, aber durchweg nur
von derselben Rasse, wie die Sieger, zuweilen kommen die
armen Leute durch spätern Herrendruck und wirthschaftliche
Verschuldung in die dauernde Abhängigkeit. Dahin gehören
die Pelaten und Theten in Griechenland, die Clienten
der Römer, der Gallier, der Britten, die Liten der Germanen.
Sie haben einen Mund- und Schutzherrn, bei den Griechen
[133]Achtes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände.
Prostates, bei den Römern Patronus genannt. Sie gehören
zum Volke und sind nicht den Eigenen gleich zu stellen; aber
ihre Freiheit, ihre Rechte, der Werth, der ihnen beigemessen
wird, sind geringer als die des echten Freien. Von ihnen
werden auch vornehmlich die Handwerke betrieben. Frei-
gelassene Knechte gelangen meist in ihren Stand.
Die Geschichte dieser Stände ist mit der Geschichte der
einzelnen Staten aufs engste verwoben; die Veränderungen und
Umwälzungen in den Verfassungen sind sehr häufig nur die
Wirkung und der Ausdruck der vorher oft wenig bemerkten
innern Umgestaltung der ständischen Verhältnisse und Begriffe.
Die ganze Rechtsbildung hatte während des Mittelalters
einen ständischen Ausdruck und eine ständische Färbung be-
kommen. Wie jeder Stand seine eigene Tracht, so hatte
jeder Stand auch sein besonderes Recht und eine ihm eigene
Rechtspflege. Der Klerus lebte nach kanonischem Recht,
die Fürsten nach Herrenrecht, die Ritter hatten ihr Lehens-
recht, die Dienstleute ihr Dienstrecht, für die Bürger galt
das Stadtrecht und für die Bauern das Recht der Weisthümer
und das Hofrecht.
Ebenso war der Statsverband durch den Gegensatz der
Stände zerklüftet und bedingt. Die Stände selber änderten
sich aber im Verlauf der mittelalterlichen Geschichte. Aus
Geblüts- und Erbständen wurden sie mehr und mehr Berufs-
stände. In den späteren Jahrhunderten unterschied man
hauptsächlich vier Stände: 1) den Klerus, 2) den Adel,
3) den Bürgerstand oder dritten Stand, 4) die Bauern.
Eine herrschende politische Stellung kam vorzüglich den bei-
den ersten, aristokratischen Ständen zu. Der dritte rettete
die bürgerliche Freiheit. Der vierte war machtlos und wurde
beherrscht.
Die Institution dieser vier mittelalterlichen Stände ist zu
Ende des Mittelalters verfallen und grösztentheils aufgelöst
worden. Aber einzelne Reste derselben ragen noch wie altes
[134]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
ruinenhaftes Gemäuer in die neue Zeit hinüber. Um den
modernen Stat richtig zu begreifen, musz man die ältere
mittelalterliche Bedeutung dieser Stände kennen. Aus dem
Gegensatze dazu gelangt das moderne Statsbewusztsein erst
zur Klarheit.
Neuntes Capitel.
1. Der Klerus.
Unter den mittelalterlichen Ständen nahm der Klerus
die oberste Stellung ein. Nach der strengen kirchlichen Lehre
freilich war der Klerus überhaupt kein Volksstand. Er war
ein ordo ecclesiasticus, nicht ein ordo civilis. Der Stat wurde
als eine blosze Laienordnung betrachtet, über welche die
Gott geweihte Priesterschaft erhaben war. Nicht wie die
Brahmanen beriefen sich die christlichen Priester auf ihre be-
sondere göttliche Abstammung, denn sie pflanzten nicht durch
die Ehe ihren Stand fort, wohl aber auf eine göttliche In-
stitution. Sie sind von dem heiligen Geist erfüllt und durch
die Weihen der Kirche geheiligt. Der niedrigste und sogar
der verdorbenste Kleriker steht dennoch in Folge seines Standes
hoch über dem vornehmsten und selbst dem tugendhaftesten
Laien, wie das Gold über dem Eisen, wie der Geist über
dem Leib.
Die Ideale des Klerus waren den Idealen des Brahmanen-
thums nahe verwandt. Nur verzichtete der christliche Klerus
nicht auf die Herrschaft im State, wie die Brahmanen es ge-
than hatten, und war weniger als diese geneigt, sich der Stats-
ordnung zu fügen. Nach der consequenten Lehre der mittel-
alterlichen Kirche haben die Statsgesetze für die Geistlich-
keit keine verbindliche Kraft; es hängt von ihrer Prüfung und
ihrem Urtheil ab, zu bestimmen, ob und in welchem Umfang
[135]Neuntes Capitel. 1. Der Klerus.
sie denselben willfährig gehorche. Sobald die behaupteten
geistlichen Vorzugsrechte oder die Interessen der Kirche ge-
fährdet erschienen, so verweigerte der Klerus jede Folge, ge-
stützt auf das Bibelwort, dasz man „Gott mehr als den Men-
schen gehorchen müsse,“ und auf seine geistliche Erhabenheit;
dagegen verlangte er von der weltlichen Obrigkeit, dass sie
ohne Widerrede den Kirchengesetzen folge und mit ihrer Macht
dieselben durchführe.
Auch der weltlichen Gerichtsbarkeit entzog sich
der christliche Klerus, sowohl in bürgerlichen Streitigkeiten
als im Strafrecht. Die klerikalen Ansprüche ertragen nicht die
Ueberordnung der weltlichen Richter, „der Schafe über die
Hirten.“ Zum Kriegsdienste waren die Geistlichen nicht pflich-
tig, weil zu ihrem religiösen Beruf die eisernen Waffen nicht
paszten. Aber auch die Steuerpflicht lehnten sie von sich ab.
Bei jeder Gelegenheit beriefen sie sich auf ihre Immunitäten,
um jede statliche Last von sich abzuwälzen. Als römische
Geistlichkeit verachteten sie die nationale Beschränktheit. Ihr
Bürgerrecht gehörte keinem besonderen Volke, keinem bestimm-
ten Lande an, es bestand für sie nur der universelle Verband
mit der Christenheit und mit Rom, der Hauptstadt der Welt,
dem Sitz der Päpste. Das kanonische Recht war das
Gesetz ihres Lebens, nur der Gerichtsbarkeit der Kirche
mit ihren milden Censuren wollten sie Rechenschaft schulden.
Indessen diese Ausscheidung des Klerus aus dem Stats-
verband war nicht einmal in der Zeit seiner höchsten Macht
durchzuführen. Theils standen ihr geschichtliche Hindernisse
im Wege, theils waren damit die Interessen selbst der Geist-
lichen nicht völlig zu vereinigen.
Geschichtlich war die christliche Kirche mit ihrem Klerus
innerhalb des alten, alle Verhältnisse gemeinsam beherr-
schenden römischen Weltreichs entstanden und grosz ge-
worden, und die römischen Statsgewalten verzichteten nicht
auf ihre Autorität. Sie verlangten von allen Bewohnern des
[136]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
heiligen Reichs Gehorsam gegen die Gesetze, die kaiserliche
Regierung und die kaiserlichen Gerichte. Die Kleriker konnten
sich höchstens von den Kaisern einzelne Privilegien erwerben.
Ihre Unterthänigkeit war zweifellos.
Auch die fränkische Monarchie hielt noch fest an der
Unterordnung der Bischöfe und Priester unter die Hoheit des
Königs, die Reichsgesetze und die Reichsgerichte, obwohl die
Statsmacht beschränkter und die Selbständigkeit der Kirche
gröszer geworden war. Nur ganz allmählich breiteten sich
unter den germanischen Fürsten die kirchlichen Immunitäten
aus, anfangs eher aus frommer Gunst und Gnade der Könige,
als kraft des anerkannten Kirchenrechts, das nun anfing, die
eigene Autorität in stolzem Aufschwung zu erheben. Nur
Schritt vor Schritt und nicht ohne Widerspruch und Wider-
stand wurden die kirchlichen Rechte erweitert, nicht allent-
halben in gleicher Ausdehnung.
Aber auch die Interessen verbanden den Klerus aufs engste
mit der Laienordnung und dem Stat. Das Oberhaupt der
Kirche selbst, der römische Papst, erwarb während des
Mittelalters eine statliche Herrschaft über das sogenannte Patri-
monium Petri. Es entstand zum Theil durch königliche Ver-
leihung zum Theil durch Vergabung anderer Fürsten, theil-
weise sogar durch Eroberung ein von Geistlichen regierter
Kirchenstat. Die höchste geistliche Autorität war daher in
Rom und dem römischen Gebiet mit der weltlichen Souverä-
netät verbunden. Die Päpste waren nicht blosz als oberste
Bischöfe berufen, die Interessen der Kirche auch dem Kaiser
und den Staten gegenüber zu vertreten, sondern zugleich als
vornehmste italienische Fürsten in die Interessen der italieni-
schen Politik tief verflochten. Es war das freilich, nach dem
Urtheile Machiavellis, das Unglück Italiens. Nicht mächtig
genug, Italien unter ihrer Statshoheit zu einigen, waren sie stark
genug, die Spaltungen der Parteien zu unterhalten. Sie ver-
mochten nicht, Italien vor dem Einbruch feindlicher Heere zu
[137]Neuntes Capitel. 1. Der Klerus.
schützen, aber sie waren immer bereit, fremde Mächte zu ihrem
Schutze herbei zu rufen, wenn ihre Politik dieser Hülfe be-
durfte. Sie erhoben Rom wieder zur vornehmsten Stadt der
Christenheit und schmückten Rom mit Kirchen und Kunst-
werken, aber die begabten Römer blieben unter ihrer kirch-
lichen Regierung und Zucht in weltlichen Tugenden und Vor-
zügen hinter den Bürgern der italienischen Republiken zurück.
Der Kirchenstat ward nicht zum Vorbilde, sondern zum Zerr-
bilde der civilisirten Statenbildung. Die moderne Welt weisz
nun, dasz das geistliche Regiment untauglich ist für die ge-
sunde Statsleitung und die Römer selber errangen von der
Säcularisation des Kirchenstats die Verbesserung ihrer politisch
verkommenen Zustände.
Nächst Italien hat Deutschland voraus die politische
Macht der geistlichen Fürsten erhoben. Schon in der fränki-
schen Monarchie nahmen die Bischöfe eine hervorragende
Stellung ein auf den fränkischen Reichstagen, bald in Gemein-
schaft mit den weltlichen Groszen, insbesondere den Gaugrafen,
als Versammlung der Majores oder Seniores, bald ohne
diese in kirchlichen Versammlungen.
Die Mischung mit weltlicher Macht und Würde trat aber
nirgends entschiedener zu Tage, als in der Verfassung des
deutschen Reichs. Da finden wir unter den sieben Kur-
fürsten drei geistliche, die Erzbischöfe von Mainz, Cöln
und Trier, und bei den Königswahlen geht der Kurfürst von
Mainz als Erzkanzler für Deutschland voraus mit seiner Stimme.
In dem Kurcollegium nehmen sie die ersten Plätze ein. Zu-
gleich sind sie Landesfürsten und ihre Länder als Kurländer
erlangen am frühesten beinahe souveräne Selbständigkeit.
Daneben gibt es eine grosze Anzahl von Erzbischöfen,
Bischöfen und Aebten, welche in einem bestimmten Ge-
biete die Rechte der Landeshoheit erworben haben und auf den
Reichstagen Sitz und Stimme haben, entweder als wirkliche
Reichsfürsten eine Virilstimme, wie z. B. die Erzbischöfe
[138]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
von Bremen, Magdeburg und Salzburg, die Bischöfe von Würz-
burg, Augsburg, Basel u. s. f. oder doch an einer Curiatstimme
einen Antheil haben, indem sie auf den sogenannten Prälaten-
bänken, die hinwieder den Grafenbänken entsprechen, zu-
sammensitzen. In der Heerschildsordnung der Rechtsbücher
nehmen die geistlichen Fürsten den nächsten Rang nach dem
Könige ein, dem der erste Heerschild zukommt. Die welt-
lichen Fürsten, obwohl in der Reichsverfassung jenen wesent-
lich gleichgestellt, haben erst den dritten Heerschild, weil sie
unbedenklich Vasallen jener werden, aber es nicht schicklich
wäre, dasz der geistliche Fürst zum Vasallen des weltlichen
Fürsten würde. Vergeblich wurde in dem groszen Investitur-
Streit zwischen den Päpsten und den sächsischen Kaisern der
Vorschlag gemacht, die Kirchenfürsten sollten auf das welt-
liche Fürstenthum verzichten und nur der Kirche ihr Leben
widmen. Die deutschen geistlichen Fürsten wiesen diese Zu-
muthung selbst des Papstes mit Unwillen zurück. Damit aber
war auch in Deutschland die Verbindung der geistlichen
Aemter mit den statlichen Aemtern und politischen Interessen
gegeben. Es war unmöglich, den herrschenden Klerus auszer-
halb des States zu stellen, wenn er im State weltliche Herr-
schaft üben wollte.
Wie in der Reichsverfassung so war es auch in der Landes-
verfassung. Auch da bildeten die dem Lande angehörigen
Prälaten (Bischöfe, Aebte, Stiftspröbste, geistliche Ordens-
meister) einen besonderen zu den Landtagen berechtigten Stand,
sei es indem sie eine eigene Prälatencurie besetzten oder ge-
meinsam mit dem Adel (Herren und Ritterschaft) tagten, und
besaszen auf ihren Grundherrschaften eine mehr oder weniger
ausgedehnte Gerichtsbarkeit. Die grundherrliche Stellung war
regelmäszig die Grundlage ihrer landständischen Rechte. Wenn
sie daher auch ihre persönliche Freiheit von Kriegspflicht und
Steuer behaupten konnten, für ihre Ministerialen und bäuer-
lichen Hintersassen, welche durchweg Laien waren, konnten sie
[139]Neuntes Capitel. 1. Der Klerus.
doch nicht dieselben Ansprüche erheben. Das Land bedurfte
ihrer Steuern, und der Landesfürst als Lehensherr verlangte
auch von ihnen die Stellung von reisigen Reitern.
Ein Vorzug der geistlichen Aristokratie vor der weltlichen
war es, dasz sie nicht an das ererbte Geblüt gebunden war,
sondern auf individueller Bildung und Wahl beruhte. Der
Sohn eines Handwerkers konnte Papst, der Sohn eines Bauern
Erzbischof werden. 1
Mit der Zeit aber wurde der klerikale Vorrang und die
aristokratische Macht der geistlichen Fürsten und Prälaten er-
schüttert und zu Fall gebracht. Einen furchtbaren Stosz erlitt
die verweltlichte Kirche durch die deutsche Kirchenformation
des sechszehnten Jahrhunderts. Soweit der Protestantismus
sich ausbreitete, wurden die geistlichen Fürstenthümer säcu-
larisirt, die bischöflichen Aemter beseitigt, die Klöster aufge-
hoben, die geistlichen Orden aufgelöst. Vor der Reformation
saszen auf den deutschen Reichstagen drei geistliche Kurfürsten,
drei andere Erzbischöfe und einunddreiszig Bischöfe. Nach dem
westphälischen Frieden ist die Zahl vermindert auf drei Kur-
fürsten, einen Erzbischof (Salzburg) und zwanzig Bischöfe. Es
gibt nur noch eine schwäbische und eine rheinische Prälaten-
bank. Der ganze Norden und ein guter Theil des Südens hat
sich der geistlichen Herrschaft entwunden.
Die Säcularisation war aber auch in den katholisch ge-
bliebenen Ländern nur vertagt, nicht beseitigt. Den zweiten
Stosz der Revolutionskämpfe zu Anfang unseres Jahrhunderts
hielt die geistliche Herrschaft nirgends in Deutschland aus.
Auch die linksrheinischen Kurfürsten wurden von dem Sturme
weggeblasen und ihre Länder dem französischen State ein-
[140]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
verleibt. Die Länder der übrigen geistlichen Fürsten wurden
zur Entschädigung verwendet für weltliche Dynastien und mit
deren Ländern verbunden. Mit dem Untergang des Reichs ver-
loren die geistlichen Herren ihre reichständische Stellung und
die Prälaten konnten nur in einzelnen Ländern eine unsichere
Stellung in den verkommenen Landständen behaupten. Die
bischöfliche Würde wurde nun seit vielen Jahrhunderten zuerst
wieder ein rein-kirchliches Amt, ohne statliche Macht.
Die grundherrliche Gerichtsbarkeit ging rasch ebenso ihrem
Untergang zu, wie vorher die geistliche Landeshoheit.
Aber indem der katholische Klerus so seine weltliche
Hoheit und Macht einbüszte, konnte er nicht etwa nun das
Ideal des Mittelalters realisiren. Das Selbstgefühl des modernen
Stats duldete keine Ueberordnung mehr der Geistlichen über
die Laien, und verlangte nun umgekehrt Gehorsam gegen die
Gesetze, und die verfassungsmäszigen Statsgewalten von Jeder-
mann. Die Zeit der kirchlichen Immunitäten und des kirch-
lichen Sonderrechts war ebenfalls vorüber. Das gleiche Landes-
recht erstreckte sich ohne Unterschied über Geistliche und
Laien. Sie alle wurden derselben Gerichtsbarkeit unterworfen.
Eine ähnliche Entwicklung nahm der Klerus in England
und in Frankreich. In diesen Ländern hatte die Geistlich-
keit niemals eine in dem Grade landesherrliche Stellung er-
worben, wie in Deutschland. Das weltliche Statsgefühl war
auch der Geistlichkeit gegenüber in dem englischen Parlamente
und in dem französischen Königthum stärker vertreten. Aber
eine reichsständische Stellung hatte der Klerus in beiden Län-
dern; in England saszen die Bischöfe mit den weltlichen Lords
zusammen im Oberhaus; in Frankreich bildete der Klerus einen
besondern, den ersten Reichsstand. Dort wirkte die Reforma-
tion, hier die Revolution entscheidend auf die Rechte des
Klerus ein. Die mittelalterlichen Immunitäten verschwanden
vor der gemeinen und gleichen Rechtspflicht. Als die von
Ludwig XVI. berufenen États généraux 1789 in Paris zu-
[141]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. A. Der französische Adel.
sammentraten, da gab der Klerus seine Sonderstellung freiwillig
auf und trat noch vor dem Adel in die allgemeine National-
versammlung ein, welche nur ein freies Bürgerthum, aber nicht
mehr die mittelalterlichen Stände repräsentirte.
Damit aber war der mittelalterliche Stand des
Klerus überall aufgelöst. Die grosze Scheidung des
Klerus und der Laien hatte ihre Wirksamkeit verloren. Der
Stat erkannte sie für seine Rechtsordnung nicht mehr an. Die
Masse der Geistlichen ging in die groszen Bürgerclassen
über, die wenigen hohen Würdenträger der Kirche vermischten
sich mit der weltlichen Aristokratie.
Zehntes Capitel.
2. Der Adel.
A. Der französische Adel.
Auch in dem alten Rom hatte es ursprünglich einen
erblichen Geschlechtsadel gegeben, das Patriciat;
aber es war derselbe schon früh durch die inneren Partei-
kämpfe der Römer in eine politische Aristokratie um-
gebildet worden, welche nicht mehr auf der vornehmen Ab-
stammung, sondern auf dem freien Volkswillen zu den
öffentlichen Aemtern der Stadt beruhte.
Es gab in Rom auch in den letzten Jahrhunderten der
Republik und in der Kaiserzeit einen hohen Reichsadel von
politischer Natur, die senatorischen Familien. Die alten
patricischen Geschlechter, welche indessen zur Zeit von August
bis auf 50 Familien ausgestorben waren und nur sehr selten
einen Zuwachs erhielten — die kaiserlichen Familien waren
von Rechts wegen immer patricisch — mochten factisch, wenn
auch nicht mehr rechtlich, noch den Kern derselben bilden,
[142]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
indem der alte Glanz des Namens, die herkömmliche Vertraut-
heit mit den Statsgeschäften, häufig auch groszes Vermögen
und ihre persönlichen Verbindungen ihnen das Ansehen ver-
liehen, welchem sie die Aufnahme in den Senat verdankten.
Aber auszer ihnen wurde die hohe Aristokratie stets erneuert
und erfrischt durch hervorragende Männer, welche als Kriegs-
führer, Statsmänner, Redner, Rechtsgelehrte oder in anderer
Weise sich auszeichneten, und denen in den Zeiten der Re-
publik öffentliche Aemter, welche die Aufnahme in die Listen
der Senatoren begründeten, übertragen, oder die später von den
Kaisern in den Senat berufen wurden. Das politische Ver-
dienst und die nationale Auszeichnung waren somit
zum Princip des spätern römischen Adels erhoben worden, in
welchem selbst in den Zeiten der Entartung und des Verfalls noch
immer ein Rest der alten Freiheit und Würde erhalten blieb.
Die berühmte Rede von Mäcenas über den Principat ist
ein vortrefflicher Ausdruck der Grundgedanken, welche römische
Statsmänner von der Aristokratie in der Kaiserzeit hatten. Der
Freund des Kaisers gibt demselben den Rath, den Senat, in
den die Wirren der Bürgerkriege viele untaugliche Männer
hineingebracht, zu reinigen und durch neue sorgfältige Er-
nennungen zu ergänzen. Er empfiehlt, keinen Senator um seiner
Armuth willen auszustoszen, sondern eher unvermögliche, aber
taugliche Männer mit dem nöthigen Vermögen auszustatten.
Bei der Auswahl der neuen Senatoren möge der Kaiser nicht
blosz auf Italien, sondern ebenso auf die Bundesgenossen und
selbst die Provincialen Rücksicht nehmen, und je die Ersten
aus allen Völkern des Weltreiches, die durch Ge-
schlecht, Tugend oder Reichthum als die Führer des Volkes
gelten, um sich her versammeln, und ihnen die Theilnahme an
der Sorge für den Stat und an der Weltherrschaft eröffnen.
Je mehr angesehene Männer so in Rom zum Senate versam-
melt werden, desto besser werde für das Bedürfnisz des States
und die Treue der Provinzen gesorgt sein.
[143]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. A. Der französische Adel.
Als eine niedere Aristokratie bezeichnet er die vornehm-
lich durch Reichthum ausgezeichnete Ritterschaft, welche
in ähnlicher Weise aus den angesehenen Männern von zweitem
Range zu bilden sei. Damit auch die Söhne der Senatoren
fähig werden, den Rang der Väter später einzunehmen, fordert
er eine ihres Standes würdige Erziehung in den Wissenschaften
und den Waffen. 1
Die Geschichte des französischen Adels ist sehr
wechselreich. Wir können folgende Perioden unterscheiden,
von denen jede ihren besondern Charakter hat.
1. Der Merowingischen Zeit (481 bis 752) gehört
die Begründung des französischen Adels an. Auffallender
Weise sind die Spuren eines alten fränkischen Geschlechts-
adels nur unsicher. Dagegen bildete sich damals ein persön-
licher Treuadel aus, welcher seine Entstehung vorzugsweise
dem Verhältnisse zu dem Könige zu verdanken hatte. Es
mochten zwar die alten Adelsgeschlechter auch hier vorzugs-
weise bedacht worden sein. Aber auszer ihnen wurden auch
andere freie Franken und Germanen von dem Könige unter
die Antrustionen aufgenommen, und selbst Romanen er-
hielten als „Gäste des Königs“ (convivae regis) ähnlichen
Rang. Es sind sogar die Beispiele nicht ganz selten, dasz
Personen von ganz niederer Geburt, vormalige Sclaven und
Hörige, zu den höchsten Aemtern im Reiche und daher unter
die Magnaten emporstiegen.
Dieser Adel war somit aus sehr gemischten Bestandtheilen
erwachsen. Er war mindestens in seiner Mehrheit, wie Schäff-
ner 2 näher nachgewiesen hat, kein Erb- sondern ein persön-
licher Dienstadel, dem Könige durch den Eid der Treue
verbunden. Das erhöhte Wergeld, dessen er genosz, war ein
Zeichen und eine Folge der höheren Werthschätzung, die man
seinen Gliedern beilegte. Im übrigen hatte er wenig privat-
[144]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
rechtliche Vorzüge. Politisch aber war er ausgezeichnet theils
durch die Verbindung der Eigenschaft eines Antrustio mit den
hohen Reichsämtern, Hofstellen und kirchlichen Würden, theils
durch die Theilnahme an dem Rathe des Königs und die her-
vorragende Stellung auf den Nationalversammlungen und Reichs-
tagen. Romanische und germanische Elemente sind in dieser
Adelsinstitution ebenso gemischt, wie in den Personen, welche
zu diesem Adel gerechnet wurden.
Indessen war der germanische Charakter doch überwiegend,
und kam immer mehr zur Herrschaft. Diesem Charakter ge-
hört einerseits die persönliche Treuverbindung mit dem Könige
(trustis dominica) an, welche sich durch die Familiensitte und
dem Familieninteresse gemäsz fortpflanzte, und sich weiter auf
die Vasallen anderer Herren (Seniores) verzweigte, anderer-
seits die Ausstattung der Magnaten mit königlichen Beneficien,
meistens in Grundstücken bestehend, welche der König ihnen
verlieh. In diesen beiden Beziehungen vornehmlich wurzelt
das spätere Lehenswesen.
2. Die Periode der Karolinger (752-987).
Der Wechsel der königlichen Dynastie war groszentheils
das Werk einer Adelsrevolution. Die karolingischen Haus-
meier wuszten sich als Stellvertreter des Königs und Herzogs
an die Spitze des mächtigen und kriegerischen Adels zu setzen.
Als Führer desselben begünstigten sie das Streben der Edeln,
sich in ihrem Grundbesitze zu befestigen. Mit ihrer Hülfe
verdrängten sie dann die entarteten Scheinkönige.
Diese Bewegung hatte, worauf Guizot3 aufmerksam ge-
macht, vornehmlich in dem nördlichen Theile von Frankreich,
in welchem die Germanen vorherrschten, und welcher eben
deszhalb im Gegensatze zu dem „romanischen Frankreich“ des
Südens „deutsches Frankreich“ (Francia Teutonica) genannt
wurde, in Austrasien nachhaltige Unterstützung gefunden.
[145]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. A. Der französische Adel.
Neustrien, wo auch der Adel stärker mit Romanen gemischt war,
wurde von dem Impulse fortgerissen. Aus diesem Grunde er-
hielt der französische Adel nun ein bestimmtes germanisches
Gepräge.
Der Amts- und Dienstadel wurde mehr und mehr Lehens-
adel der Barone, Seniores und Vasallen, von denen
jeder in seinem Kreise sich als selbständigen Herrn fühlen
lernte. Die Zeit der Karolinger ist die Zeit des Ueberganges
aus der königlichen Beamtenhierarchie in die selbst-
herrliche Herrschaft der Seigneurs, und auch die
Erblichkeit des Adels kam allmählich wieder auf, in Ver-
bindung mit der zugestandenen Erblichkeit der Beneficien.
3. Die höchste Ausbildung und Macht erlangte und besasz
der neue Lehensadel in der dritten Periode der Kapetinger
(987 bis auf Ludwig den Heiligen 1226).
Karl der Grosze hatte noch die Einheit des States auf-
recht zu halten und die königliche Macht zu stärken gewuszt.
Aber unter seinen Nachfolgern zerfiel die fränkische Welt-
monarchie in mehrere von einander unabhängige Staten, und
in dem französischen Reiche selbst nahm die Selbständigkeit
der Aemter und der Lehen fortwährend zu. Schon Karl der
Kahle war genöthigt 4 die Erblichkeit der Grafenämter
und der Reichslehen für die Söhne der Vasallen anzuer-
kennen, und den nämlichen Grundsatz auch auf die Söhne der
Aftervasallen auszudehnen. In kurzem wurde auch den Seiten-
verwandten ein Erbrecht in die Lehen zugestanden.
Nur in der Kirche erhielt sich das Princip des indi-
viduellen Amtsadels, im State verwandelte sich derselbe
in einen feudalen Erbadel. Ueber ganz Frankreich breitete
sich so in mannichfaltigen Abstufungen und Formen die Herr-
schaft erblicher Seigneurs aus. Ein Theil derselben besasz die
volle obrigkeitliche Gewalt in allen wesentlichen Beziehungen
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 10
[146]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte
oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese
Seigneurs können als der hohe Adel bezeichnet werden.
Zu ihnen gehören die Herzoge, die Grafen, die Vicomtes, die
Barone; die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige
auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al-
lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte
ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die
nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet
zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder
dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten katten, war genau
begrenzt und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu-
stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten,
Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem
Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustim-
mung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft
wohnte, muszte ihnen Treue (fides), die Vasallen überdem
Hulde (homagium) schwören (foy et hommage); er war ihr
Unterthan. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in
eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter,
nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel
war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch
war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen,
die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel-
mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen
Lehensfürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte
die Souveränetät erlangt. 5
Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern
Stufen des niedern Adels. Dieser war vorzüglich aus zwei
Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so-
dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, welcher
[147]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. B. Der französische Adel.
die Ehre derer hob, die sich ihm weihten, und als Ritter oder
Dienstleute einem Herrn zu besonderer Treue verbunden wurden.
Waren die erstern gröstentheils Freie, so fanden sich dagegen
unter den Ministerialen auch viele ursprünglich hörige Leute.
Aber auch dieser Berufsadel wurde mit der Zeit zu einem
erblichen Lehensadel. Die Ritter bekamen Lehengüter,
die sich in ihrem Geschlechte vererbten, die Dienstleute wur-
den mit Hoflehen ausgestattet. Als begüterte Männer
(riches oms) unterschieden sie sich von der Rotüre, als Vasal-
len standen sie ihren Seigneurs nahe. Wie diese von alters-
her Tafelgenossen des Königs (convivae regis) waren, so galt
es im Mittelalter als ein Grundsatz des Feudalrechts: die
Ritter sind Tafelgenossen der Herren. 6 Ihre Kriegs- und Hof-
dienste waren mit den Gütern verbunden, wie die Hoheitsrechte
der Seigneurs mit den Grundherrschaften. Auch ihnen kam
eine — zwar beschränktere — Grundherrlichkeit zu; sie waren
gewöhnlieh hinwieder niedere Gerichtsherren über die Unter-
thanen ihrer Lehensherrn, welche durch sie mit demselben ver-
mittelt wurden. Ihr Stand schlosz sich mehr und mehr ab.
Und war derselbe ursprünglich eine Folge des Berufes, so
wurde nun die ritterbürtige Herkunft und die standesmäszige
Erziehung die regelmäszige Voraussetzung auch der Ritter-
schaft. Mit Rücksicht auf ihr Geschlecht wurden die neuen
Adeligen nun gentils hommes genannt. Die Abstammung allein
freilich machte den Sohn nicht zum Ritter, 7 aber wer nicht
von einem rittermäszigen Vater stammte — auf die Mutter
wurde nicht gesehen — konnte in der Regel auch nicht Ritter
werden. Nur dem Könige blieb es vorbehalten, in den Adel-
stand zu erheben. 8 Indessen war die Verbindung dieses Adels
[148]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
mit dem Besitze eines Lehens früher so enge, dasz der Rotu-
rier, welcher ein Lehensgut erkaufte und darauf lebte, um
seines Gutes willen zum franc-homme wurde, und sein Enkel,
der ihm in demselben nachfolgte, in jeder Beziehung zu den
gentils-hommes gehörte. 9 Daneben freilich entstand dann ein
freies Ritterthum ohne Lehensbesitz, das durch Geburt,
Erziehung und Beruf der ritterlichen Ehre theilhaftig wurde.
Auch unter diesem niedern Adel gab es mancherlei Ab-
stufungen, von den vavasseurs oder bas sires aufwärts zu den
Viguiers (vicarii), die besonders im Süden häufig waren, und
öfters eine mittlere Gerichtsbarkeit besaszen, den Chatelains,
von denen einzelne den Baronen nahe kamen, und den Vicom-
tes, von denen ein Theil zu den Baronen gehörte, ein anderer
Theil aber im Lehensdienste einzelner Grafen eine untergeord-
nete Stellung hatten.
Die Mannichfaltigkeit der verschiedenen Rangstufen und
Rechte ist zwar überaus grosz und im Einzelnen verwirrend.
Aber der Grundcharakter ist überall der des Lehenswesens.
4. In der vierten Periode, von Ludwig dem Heiligen (1226)
bis zur französischen Revolution (1789) sehen wir eine totale
Umgestaltung des Adels sich vollziehen.
In der ersten Zeit war es ein Kampf des Königthums mit
dem Adel um die Herrschaft. Die Könige vertraten in dem-
selben die mit neuer Stärke erwachende Nationaleinheit und
das wieder belebte Statsbewusztsein. In diesem Kampfe kamen
die Juristen, welche die Grundsätze des römischen Rechts
verfochten und neuerdings zur Anwendung brachten, den Königen
zu Hülfe. In dem königlichen Gerichtshofe, dem Parlament,
erhielten ihre Lehren ein mächtiges Organ. Das Volk, vor-
nehmlich die Einwohner der Städte, obwohl nur selten ein-
greifend, unterstützte dieselben mittelbar.
Ein neues königliches Beamtensystem, unabhängig
[149]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. A. Der französische Adel.
von dem Lehensverband, wurde nach und nach eingeführt. Be-
soldete königliche Truppen dienten ohne Beschränkung
und Vorbehalt der königlichen Macht. Die groszen Herzog-
thümer und Grafschaften wurden eine nach der andern, bald
durch die Erbfolge, bald durch Vertrag, oft durch kriegerische
Gewalt mit der Krone vereinigt, und so die entäuszerten
Hoheitsrechte wieder concentrirt. So wurde die selbstän-
dige Herrschaft des Adels gebrochen. Durch Lud-
wig XI. (1461-1493) wurde dieser Sieg der königlichen
Souveränetät über die Seigneurs vollendet.
Der Adel hatte nur Bruchstücke seiner früheren Landes-
hoheit in die folgenden Jahrhunderte hinüber gerettet. Nur
als Gouverneure in einzelnen Provinzen, nicht mehr als
Landesherren vermochten sich die Groszen zu halten. Der
Adel war nun zu einem bevorzugten Stande von Unterthanen
geworden. Die Auszeichnungen, deren er theilhaft war, nahmen
mehr und mehr den Charakter von Privilegien an, die viel-
fältig mit den neuen Begriffen und Meinungen in Conflict ge-
riethen und gehässig wurden. 10 Wohl gab es auch später noch
Kämpfe zwischen dem Könige und dem Adel, aber sie waren
von ganz anderer Art als vordem. Es waren das nun Kämpfe
der politischen und religiösen, häufig auch bloszer Hof-
parteien, an deren Spitze gewöhnlich Adelige standen. Woll-
ten Adelige zu Einfluss und Macht gelangen, so war das da-
mals nur im Dienste des Königs möglich. Die Theil-
[150]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
nahme des Adels an dem Nationalrathe war, weil dieser
selbst nicht zu fester und regelmäsziger Gestaltung kam, nicht
erheblich. Der alte Lehensadel wurde so in einen bloszen
Hofadel verwandelt. Sein Wesen bestand eher in äuszer-
lichem Rang und Ehren, als in politischen Rechten.
Heinrich IV. hatte den Adel angewiesen, auf seinen Gü-
tern zu leben. Aber Ludwig XIV. zog denselben im Gegen-
theil an den Hof, um ihn durch den Schein des Hofglanzes
völlig dienstbar zu machen. 11
Am höchsten standen die Pairs de France, anfänglich
XII, sechs geistliche Herren, sechs weltliche Kronvasallen und
später durch die königlichen Prinzen und eine Anzahl anderer
weltlicher Groszen vermehrt. Die Pairschaft war erblich.
Freier Zutritt zu dem Könige und zu dem Parlament in Paris,
von dem sie allein zur Verantwortung gezogen werden durften,
zeichnete sie aus. Bei der Krönung der Könige trugen sie
die Insignien der königlichen Gewalt.
Auf die Pairs folgten in der Rangordnung die Herzoge,
die Marquis, die Grafen, die Fürsten, Barone, Vi-
comtes, Chatelains. Titel und Wappen waren die äuszern
Kennzeichen des Ranges. Dann folgte der niedere Adel
der Écuyers und der einfachen Gentilshommes.
In dem alten Adel war die Geburt zunächst entschei-
dend, die Verbindung mit Grundherrschaft aber daneben
von Einflusz. Dem alten Adel trat nun aber ein neuer an
die Seite, der vornehmlich von königlicher Verleihung
abgeleitet wurde. Dahin gehörte voraus der Adel, der mit
der Ernennung zu höhern Civil- und Militärämtern ver-
bunden war, vorzüglich der Parlamentsadel der Räthe an
den souveränen Gerichtshöfen (noblesse de robe). Diese Stellen
waren nun nicht mehr wie in der Lehensverfassung an den
Boden geknüpft, noch erbliche Familienrechte, und es erhielt
[151]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. A. Der französische Adel.
daher dieser Adel fortwährend neue individuelle Zuflüsse. Ihm
verwandt war der Adel der Doctoren der Rechte (milites
litterati, legales), der einzige, der nicht von der königlichen
Gunst ertheilt wurde, sondern auf wissenschaftlicher Auszeich-
nung beruhte.
Einen schlimmeren Bestandtheil erhielt der Adel in der
groszen Zahl derer, welche durch Adelsbriefe, häufig blosz
um der Taxe willen, welche dafür bezahlt werden muszte,
nicht selten auch zur Belohnung für Dienste, die nicht immer
ehrenvoll waren, in den erblichen Adelsstand erhoben wurden 12
(noblesse par lettres).
5. Die kurze aber gewaltig eingreifende Zeit der fran-
zösischen Revolution (1789 bis 1799) zerstörte das ganze In-
stitut des Adels. Sie begann mit der Fusion der früher
getrennten Stände in einer allgemeinen Nationalversammlung.
Dann hob sie den Adel auf als eine dem demokratischen
Princip der Gleichheit (Égalité) widersprechende Auszeichnung.13
Endlich suchte sie die Adeligen mit Hülfe der gleichmachen-
den Guillotine auszurotten.
6. Als die Leidenschaften der Revolution sich in dem
Blute der hervorragenden Männer gesättigt und ihre Gleich-
heitstheorie die scharfe Schneide an dem Widerstande der
realen Verhältnisse abgestumpft hatte, wurden auch in Frank-
reich verschiedene Versuche gemacht, den Adel in neuer
[152]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Gestalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen.
Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand.
Am interessantesten ist der Versuch Napoleons, welcher
in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine
Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der Ehren-
legion schuf er gewissermaszen einen modernen Ritter-
adel, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten
Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine indivi-
duelle Ehrenauszeichnung war. Er hatte überdem vor,
eine höhere erbliche Aristokratie zu gründen, in welcher
die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels
mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle,
Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde-
träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte
daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit
den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi-
niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März
1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge-
legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach. 14
[153]Zehntes Capitel. 2. Der Adel. A. Der französische Adel.
Ludwig XVIII. (1815) schlosz sich in seiner Pairie
näher an das Vorbild der englischen Einrichtungen an. Aber
es gelang ihm nicht, einen politischen Pairsadel zu be-
festigen. Die Bestandtheile der alten Pairie waren durch die
Revolution zu sehr zerstört; der Geist der Nation war so ganz
für die Principien der Rechtsgleichheit und der freien Bewe-
gung auch des Eigenthums eingenommen, dasz ihm jede Er-
neuerung des Adels wie ein räuberischer Eingriff in die Volks-
rechte erschien; ein groszer Theil des alten Adels hatte die
Waffen gegen das Vaterland getragen und die erneuerten An-
sprüche desselben wurden auf die Besiegung Frankreichs durch
die fremden Heere gestützt. 15 Der alte Hasz fand immer
wieder neue Nahrung und nirgends wurden grosze neue Ver-
dienste der Aristokratie um das Volkswohl sichtbar, welche
mit einer neuen politischen Erhebung derselben versöhnt hätte.
Die Julirevolution von 1830 hob mit den Majoraten die
erbliche Pairie wieder auf, und die Februarstürme von 1848
stürzten auch die darauf folgende persönliche und lebens-
längliche, von dem Könige geschaffene Pairie. Neuerdings
sprach sich die Republik gegen alle Adelstitel und Adelsrechte
aus. 16 Eine Reorganisation hat der französische Adel nicht
wieder erlebt. Keime einer solchen werden zwar in der se-
natorischen Stellung sichtbar, welche Napoleon III. in
seine Verfassung aufnahm, aber mit diesem Versuch schei-
terte, als das kaiserliche Regiment Schiffbruch erlitt.
[154]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Seitdem ist der französische Adel nur insofern wieder
hergestellt worden, als die alten Titel von neuem gestattet 17
und gegen Miszbrauch gesichert worden sind. In der Nation
gibt es noch aristokratische Elemente und Neigungen, aber
sie können nicht aufkommen gegenüber dem demokratischen
Gleichheitssinn der Massen. Die Reste des französischen
Adels haben gegenwärtig nur die Bedeutung eines Titular-
adels ohne eigenthümliche Rechte und werden mehr durch die
Eitelkeit der Familien als durch die Statsinstitutionen er-
halten. 18
Eilftes Capitel.
B. Der englische Adel.
In den neuern europäischen Staten hat sich fast nur in
England der Adel auch in die Gegenwart als ein gesichertes
und groszartiges nationales Institut hinüber gerettet. Ver-
schiedene Gründe wirkten zusammen, um dieses Resultat her-
vorzubringen. Die Darstellung derselben dient zugleich dazu,
die Natur dieser englischen Aristokratie ins Licht zu setzen.
1. Der englische Adel des Mittelalters hatte wie der
französische zwei verschiedene nationale Bestandtheile in sich,
einen angelsächsischen und einen normannischen, aber
das Verhältnisz dieser beiden Theile war ein ganz anderes
als das der vornehmen Franken und Romanen in dem
französischen Adel. Die Normannen behaupteten zwar in den
ersten Jahrhunderten nach der Eroberung des Herzogs Wilhelm
von der Normandie (1066) ein factisches Uebergewicht über
[155]Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
die Sachsen, aber diese waren doch mit jenen viel näher ver-
wandt. Die Eorls waren ein ursprünglicher Nationaladel der
Sachsen, der vor den gemeinfreien Ceorls von altersher
hervorragte. Der sächsische Adelige hatte die nämliche Er-
ziehung, Lebensweise, Denkart wie der Normanne; und auch
den neuen Königen gegenüber hielten sie an ihrem alten von
denselben anerkannten Rechte fest. Gerade die factische Zurück-
setzung aber der Sachsen stählte ihren Freiheitssinn, und hatte
vorzugsweise die Wirkung, dasz dieselben um so eifersüchtiger
und kräftiger ihr Recht zu wahren suchten, und dem gesamm-
ten Adel jenen Geist politischer Freiheit einpflanzten,
durch den England grosz geworden ist.
2. Auf der andern Seite hatte die Eroberung die grosze
Wirkung, dasz die königliche Gewalt, auf welcher die
Einheit und die Sicherheit des States vorzüglich beruhte, nicht
wie in Frankreich durch den Adel verdrängt wurde, und nicht
ebenso eine in einzelne Herrschaften zersplitterte Souveränetät
der groszen Vasallen entstand.
Das Lehenswesen fand freilich, wie damals allenthalben,
auch in England Eingang, aber es bildete sich doch in anderer
Weise aus. Es ist zwar die früher ziemlich verbreitete Mei-
nung, dasz durch die Normannen das Lehenssystem in Eng-
land zuerst eingeführt worden sei, in Folge neuerer Unter-
suchungen als unrichtig erwiesen; auch die alten sächsischen
Thane hatten groszentheils Lehensbesitz, und waren um desz-
willen den Königen zu besonderer Treue und Kriegsdienst ver-
pflichtet. Aber wahr ist es, dasz die normannische Herrschaft
bei weitem mehr dem ganzen State einen lehensartigen Cha-
rakter und lehensmäszige Formen gab. Das Lehenswesen war
zur Zeit der Eroberung in der Normandie ausgebildeter als in
England, und die Sieger trugen die heimischen Vorstellungen
hinüber in das neu erworbene Land.
Im Princip — das Verständnisz der Neuerung wurde erst
später allgemein, als weitere Consequenzen derselben zur
[156]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Sprache kamen — wurden sogar alle Privatgüter in England
durch ein Gesetz Wilhelms I. als Lehensboden erklärt und
das Obereigenthum des Königs darüber behauptet. Auch
die bisherigen Allodialgüter wurden so in den Lehensnexus
hereingezogen, und die bisherigen blosz lebenslänglichen Bene-
ficien hinwieder zu erblichen Lehen erhoben. Alle freien Männer
im Reiche muszten überdem dem Könige den Eid der Lehens-
treue schwören und sich zum Kriegsdienst verpflichten; 1 und
es ging dieser Eid dem Treuschwur der freien Insassen an
ihren unmittelbaren Lehensherrn vor. Ueber 60,000 Ritter-
lehne gab es unter der Regierung Wilhelms I., die alle un-
mittelbar oder zum gröszern Theile mittelbar dem Könige als
oberstem Lehens- und Kriegsherrn verbunden waren. Man
sieht, die Zügel der Lehensherrschaft wurden von dem Könige
selbst in die Hand genommen und straffer angezogen, als da-
mals in Frankreich, dessen König über den Herzog von der
Normandie, welcher als solcher selbst ein französischer Vasall
war, nur eine geringe, mehr formelle als reale Souveränetät
besasz. Der normannische und sächsische Adel blieb somit,
wenn er auch nach der Weise des Mittelalters Rechte der
Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt über seine Hintersassen be-
sasz und ausübte, doch in seinem wirklichen Unterthanen-
[157]Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
verhältnisz zu dem König, und die Einheit des States
wurde den Baronen nicht hingeopfert.
3. Wenn so der englische Adel auf der einen Seite gerin-
gere Herrschaftsrechte hatte, so waren auf der andern Seite
seine politisch-nationalen Rechte um so bedeutender;
und hierauf vornehmlich beruht die Grösze und die bleibende
Wichtigkeit des englischen Adels.
Diese politisch-nationalen Rechte machten sich auf den
groszen Reichstagen geltend, die man frühe schon mit dem
bescheidenen Namen des Parlaments bezeichnet hat. Das
alte sächsische Witenagemot lebte in neuer veredelter Ge-
stalt als Parlament wieder auf, und in ihm einten nach und
nach die nämlichen Interessen und Schicksale auch die beiden
Stämme. Die einen älteren Versammlungen der groszen Vasallen
mochten wohl meistens nur den Zweck haben, den Glanz und
die Würde der Krone an den heiligen Festen zu Ostern,
Pfingsten und Weihnachten zu verherrlichen. Die andern aber
erhielten allmählich eine grosze politische Bedeutung, und es
wurden, anfangs ohne feste Normen und scharfe Competenz-
ausscheidung, auf ihnen je die wichtigsten Angelegenheiten
des States behandelt und entschieden. Während des XIII. Jahr-
hunderts erhielten dieselben eine regelmäszigere Gestaltung.
Die Magna Charta von 1215, welche dem Könige Johann
ohne Land von dem siegreichen Adel, der für die Behauptung
seiner Rechte die Waffen ergriffen hatte, in dem Friedens-
schlusse abgenöthigt wurde, setzte urkundlich fest, dasz „die
Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, und die Grafen und groszen
Barone persönlich durch königliche Briefe (sigillatim per
litteras nostras), die übrigen unmittelbaren Vasallen des Königs
aber insgesammt durch die königlichen Beamten (in generali
per vicecomites et ballivos nostros) zu dem Parlamente (com-
mune consilium regni) eingeladen“ werden sollen, und dasz
nur mit ihrer Zustimmung neue Steuern erhoben werden dürfen.
Aus den ersteren, welche vorzugsweise als geborene Räthe
[158]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
des Königs und Träger der obersten Hof- und Reichsämter
die öffentlichen Angelegenheiten im Lande verwalteten, bildete
sich im Verfolge der Zeit das Oberhaus; die letztern wurden
zu einem Bestandtheile des spätern Unterhauses. Beide
Classen hatten anfangs ein persönliches Recht der Reichs-
standschaft. Die erstere behielt es bei. Für die letztere aber
wurde es, in Verbindung mit andern Rittern des Landes After-
vasallen der groszen Kronvasallen und den Bewohnern der
Städte und Burgen, später zu einem politischen Repräsen-
tationsrechte. Nur die ersteren, die Lords, galten fortan
als hoher Adel. Dem niederen Adel der Gentry trat
die begüterte Bürgerschaft zur Seite.
In der vollendeten Verfassung des Parlaments, welche in
der Hauptsache in der zweiten Hälfte des XIII. und der ersten
Hälfte des XIV. Jahrhunderts zu Stande kam, 2 fand der Adel
seine natürliche Stellung im State. In den Zeiten Heinrichs III.
gewann es den Anschein, dasz die Barone, unter der Anfüh-
rung des Grafen von Leicester, die Monarchie selbst in ihrer
Existenz gefährden und die Regierung des States in ihre Hand
nehmen möchten. Dieser Uebergriff war aber doch nur vor-
übergehend, und sehr bald setzte sich von neuem das Princip
fest, dasz der Aristokratie wohl ein bestimmter Einflusz
auf die politischen Angelegenheiten der Nation und
insbesondere die Mitwirkung in der Gesetzgebung ge-
bühre, nicht aber die Ausübung der eigentlichen Herr-
schaft, nicht die Statsregierung. Aber auch den untern
Ständen gegenüber fand der Adel die nöthige Schranke seiner
politischen Macht in der Ergänzung des Parlaments durch die
Repräsentanten der Städte und Burgen und dadurch, dasz die
englischen Ritter von den Freisassen (libere tenentes) zum
Parlament gewählt, nicht wie auf dem Continent nur von dem
eigenen Stande bezeichnet wurden.
[159]Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
Die eigentliche nobility bestand lediglich aus den Lords,
und ward nie wie in Frankreich und Deutschland zu einem
landesherrlichen Dynastenadel, sondern nur zu einem reichs-
ständischen Adel, welcher in Unterordnung unter den König
und das Gesetz in der Kriegsordnung und im Gericht, sowie
über seine Aftervasallen hoheitliche Rechte ausübte.
Die Ritterschaft, d. h. die Classe der Freien, welche
im Besitz von Rittergütern war, sei es Lehen des Königs, sei
es Lehen anderer Groszen, nahm ebenfalls als erste Classe der
Grafschaftsmiliz, in Verbindung mit andern Classen und vor-
züglich als Träger des Friedensrichteramtes, mit der Polizei-
gewalt und der Verwaltung der Rechtspflege betraut, eine sehr
einfluszreiche Stellung ein. Aus ihr wurden die Abgeordneten
der Grafschaft zum Parlament gewählt. Durch die Verbindung
ihrer jüngern Söhne mit den hochbürgerlichen Classen und
ihre parlamentarische Gemeinschaft mit den Vertretern der
Städte, den „Honoratioren“, bildete sich im Gegensatz zu der
continentalen Abschlieszung des niedern Adels der seinem
Wesen nach eher moderne als mittelalterliche Begriff der
Gentry aus, welche alle die Personen als Gentlemen zu-
zusammenfaszt, die sich durch Geburt oder Aemter, oder durch
ihre Bildung und Vermögen als Honoratioren über die untern
Massen erheben. Die Gentry ist nicht wie der Stand der
Gentilshommes in Frankreich ein festgeschlossener Adelsstand,
sondern eine flüssige Aristokratie, welche täglich neue Zuflüsse
in sich aufnimmt und gelegentlich auch unwürdige Glieder
wieder auswirft. 3
4. Ein fernerer Charakterzug des englischen Adels, durch
[160]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
den er sich sehr zu seinem Ruhme von dem französischen und
zum Theil auch von dem deutschen Adel unterscheidet, ver-
dient besonders hervorgehoben zu werden. Schon in der Zeit,
als die Barone die einzige politische Macht im State waren,
hatten sie nicht blosz sich und ihre eigenen Rechte im Auge.
Sie fühlten sich frühzeitig als eine nationale Körper-
schaft, welche den Beruf habe, auch im allgemeinen öffent-
lichen Interesse die Rechte des Volkes zu schirmen und
für seine Freiheit zu sorgen. Die Magna Charta enthält zahl-
reiche und höchst wichtige Bestimmungen der Art. Die poli-
tische Freiheit der Engländer ist zu einem guten Theile
ein Werk der Aristokratie. Nachdem diese aber einmal fest
begründet war, da wurde die hohe Aristokratie mehr und
mehr zu einem festen Damme, welcher den Stat vor der Ueber-
fluthung der demokratischen Ströme sicherte, und wie sie vor-
her die Volksfreiheit begründet hatte, übernahm sie nun die
minder populäre aber nicht minder heilsame Aufgabe für die
Aufrechterhaltung des Thrones und der festen Statsord-
nung einzustehen. In der Mitte stehend zwischen König und
der Menge des Volkes, und weder so mächtig, dasz sie für
sich allein zu herrschen vermochte, noch so abhängig in ihrer
Existenz, dasz sie allen Strömungen von unten oder jedem
Ansinnen von oben folgen müszte, bewahrte sie die Freiheit
und die Rechte beider vor dem Uebergriff je des andern und
vor dem Miszbrauch beider. Der englische Adel ist auch
fortwährend thätig geblieben in den öffentlichen Geschäf-
ten, und wenn es sich um Uebung öffentlicher Pflichten
handelte, so stand er allezeit in erster Reihe. Schon die
Erziehung desselben wird von dem Geiste politischer Freiheit
durchdrungen, und ist auf persönliche Selbständigkeit gerichtet.
Die politischen Parteien, die Betheiligung an der Polizeiver-
waltung der Friedensrichter, die Mitwirkung bei den Wahlen,
die Theilnahme an den Grafschaftsverbänden und an den
Geschwornengerichten, die Uebung zu allen gemeinnützigen
[161]Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
Zwecken in Vereine zusammen zu treten, die freiwillige Selbst-
besteuerung für solche Zwecke, welche zu der Tragung der
Stats- und Gemeindesteuern hinzutritt, das Alles erhält die
Aristokratie im Zusammenhang mit dem Volksleben und übt
sie in den Pflichten der Selbstverwaltung und der patrioti-
schen Thätigkeit. Niemand kann ihr vorwerfen, dasz sie eine
Schmarotzerpflanze sei, welche die Volkssäfte gierig aufsauge
und die Fruchtbarkeit des Stammes und seiner Zweige ver-
mindere. 4
5. Das Princip des Erbrechtes ist für die englischen
Lords zur statsrechtlichen Regel erhoben worden, aber weder
in so absoluter Form noch so ausschlieszlich als auf dem
Continent.
In der ersten Zeit stand das Erbrecht und die Pairschaft
in enger Beziehung zu dem Grundbesitz oder den Aemtern;
die Pairie selber hatte damals einen territorialen Charakter.
Später aber wurde dieser Zusammenhang aufgelöst, und die
Pairie ging als persönliche Würde durch das Erbrecht
über. Von dieser frühern Verbindung mit einem bestimmten
Land, oder Schlosz oder Amte her erhielt sich aber der wich-
tige erbrechtliche Grundsatz, dasz nur Einer der Söhne oder
Anverwandten des verstorbenen Lords an dessen Stelle ins
Parlament trete. Nur der älteste Sohn wurde nach den Grund-
sätzen der Erstgeburt wieder Lord, die später geborenen er-
hielten mindern Rang und waren von den Rechten des hohen
Adels ausgeschlossen. Nicht blosz die jüngeren Söhne des
Lords sind vor dem Gesetze blosze Esquires, sondern selbst
der älteste wird, so lange der Vater lebt, nur von der Höf-
lichkeit der Gesellschaft, nicht von dem Rechte Lord genannt.
Auf diese Weise blieb einerseits das Ansehen und der Reich-
thum der groszen Familien fortdauernd in einem Familien-
haupte concentrirt, und gab es andererseits Uebergänge zu
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 11
[162]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
den übrigen Ständen, welche den Unterschied des Blutes
milderten. 5
6. Ebenso wurde die Familiengenossenschaft auch
der Pairs nicht auf das adelige Blut beschränkt. Auch die
bürgerlich geborne Frau, welche zur Gemalin eines Lords er-
hoben wird, wird um deszwillen ohne Bedenken zur Lady:
ein Grundsatz des natürlichen Familienrechts, dessen Beachtung
die Ehre des hohen Adels keineswegs verdunkelt, sondern im
Gegentheil vor gerechten Angriffen bei weitem mehr gesichert
hat als das kastenartige Princip der Ebenbürtigkeit, an welches
der deutsche hohe Adel so ängstlich sich anklammert.
7. Endlich wurde der Stand der Pairs von Zeit zu Zeit
durch neue Pairsernennungen ergänzt und erfrischt. Das
Recht, Pairs zu ernennen, wurde dem Könige vorbehalten.
Er galt als „die Quelle aller politischen Ehren.“ 6 Ihm allein
kam es daher zu, neue Glieder des Adels, sei es mit dem
Titel eines Herzogs, Marquis, Grafen (earl), Vizgrafen
(viscount) oder dem einfacheren eines Barons zu schaffen und
ihnen Pairsrechte zu verleihen. Aber es lag in der Natur der
Dinge, dasz zu der politisch-nationalen Würde nur Männer
erhoben werden konnten, welche durch ihre Verdienste beson-
ders als Feldherrn oder Statsmänner sich ausgezeichnet hatten,
und zugleich ein so bedeutendes Vermögen besaszen oder er-
hielten, dasz sie im Stande waren, den Ansprüchen des hohen
Standes zu genügen. Die englische Aristokratie erhielt auf
diese Weise einen stäten Zuflusz von wahrhaft aristokratischen
[163]Zwölftes Capitel. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. I. Herrenadel.
Kräften, und wurde vor der Gefahr in Abgeschlossenheit und
Unbeweglichkeit zu versumpfen und zu faulen, glücklich be-
wahrt. Den kräftigsten und begabtesten Männern des Volkes
aber war die ermuthigende Aussicht eröffnet, dasz sie durch
ihre Verdienste um den Stat sich und ihrer Familie den
dauernden Zutritt zu den sonnigen Höhen des Statslebens zu
erwerben vermögen. Vom Jahr 1700 bis 1800 sind so 34
Herzöge, 29 Marquis, 109 Grafen, 85 Viscounts, 248 Barone
neu creirt worden. Die Zahl der ebenfalls ernannten Baronets
beträgt in dieser Periode mehr als 500. Heute noch treten,
auch ohne Adelstitel, reiche Bürger, welche grosse Güter auf
dem Lande kaufen, in die Lordgentry über. 7
Wenn man sich den Gesammteindruck dieser Eigenschaften
der englischen Aristokratie vergegenwärtigt, so ist es nicht
mehr räthselhaft, weszhalb der englische Adel allein seine
Existenz bis auf unsere Tage unangefochten bewahrt hat und
fortwährend in der Verfassung eine fruchtbare und glänzende
Stellung einnimmt, während auf dem Continente der Adel
überall entweder gänzlich untergegangen ist oder doch nur
ein sehr bestrittenes und verkümmertes Dasein hat.
Zwölftes Capitel.
C. Der deutsche Adel.
I. Herrenadel.
Die Geschichte des deutschen Adels weist bei allen Stäm-
men auf eine Anzahl vornehmer Geschlechter hin, welche
durch Kriegsruhm, Reichthum und Führerschaft über die
übrigen Freien emporragen und thatsächlich eine fürstliche
Stellung behaupten. Dieser uralte oft nur aus wenigen Familien
[164]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
bestehende Stammesadel ist die Grundlage geworden für den
mittelalterlichen Dynasten- und Herrenadel. Erst während
des Mittelalters aber sind dazu noch andere Classen eines
ritterschaftlichen niederen Adels hinzugekommen.
1. Hoher Adel. Herrenadel. Standesherren.
Die Ausübung dieses höchsten weltlichen Standes geschah
im Mittelalter im Anschlusz an die deutsche Reichsverfassung.
Die Familien, deren Häupter zu höchster Selbständigkeit und
Selbstherrlichkeit im Reiche emporgestiegen waren, galten als
hochfrei (sendbarfrei, semperfrei). Bis gegen Ende des
XIII. Jahrhunderts wurden nur die Glieder dieser Familien
als wirklicher Reichsadel (nobiles) bezeichnet. Aber nur die
Häupter der Familien, welche im Besitz der reichsfürstlichen
oder gräflichen Stellung waren, oder reichsfreie Herrschaften
inne hatten, galten als eigentliche Herren. In den andern
Gliedern der Familien war der Stand ein ruhender, sie waren
nur Genossen der Fürsten und Herren und nicht selber
Fürsten und Herren.
Diese reichsständische Erhebung gründete sich
a) auf das Fürstenamt, d. h. ursprünglich auf die her-
zogliche Kriegsgewalt, welche mit der Fahne verliehen wurde.
Neben und theilweise vor den weltlichen Fürsten (Herzogen,
Mark- und Pfalzgrafen) stehen die geistlichen, mit dem
Scepter beliehenen Reichsfürsten. Das weltliche Fürstenamt
war erblich geworden und wurde in der Regel nur den Ab-
kommen aus hohem Adel verliehen. Das geistliche Fürsten-
amt war nicht ausschlieszlich diesem Stande vorbehalten; öfter
wurden auch Geistliche von blosz ritterschaftlicher Abkunft
oder bürgerliche Gelehrte dazu erwählt, in seltenen Fällen
sogar Bauernsöhne auf den bischöflichen Stuhl erhoben.
b) auf das Grafenamt, das ebenso zu einem erblichen
Landgrafenthum und zu erblicher Landesherrschaft befestigt
wurde. Nach dem Sturze der mächtigen Stammesherzoge und
der Vertheilung der herzoglichen Gebiete unter mehrere Fürsten
[165]Zwölftes Capitel. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. I. Herrenadel.
bekamen diese gräflichen Dynastien höheres Ansehen. Der
Form nach beruhte die Grafenwürde auf der Verleihung des
Königsbanns durch den König, dem Wesen nach war sie erb-
liche Landesherrschaft.
c) Daneben gab es eine Anzahl von groszen Allodial-
herrschaften, deren Herrn wieder durch Immunitäten und
Verleihung von Hoheitsrechten eine den Grafen ähnliche Hoheit
und Gerichtsmacht erlangt hatten, die sogenannten freien
Herrn (Barone).
Die Familien des alten Stammesadels, die nicht eine der-
artige Reichsstellung erwarben, konnten sich auf die Dauer
nicht als Glieder des hohen Reichsadels behaupten, sondern
verschwanden unter den übrigen Classen, vorzüglich des ritter-
schaftlichen Adels.
Dieser Reichsadel ist in seinen Häuptern hauptsächlich
durch zwei politische Rechte ausgezeichnet: 1) durch die
Landeshoheit; 2) durch die Reichsstandschaft. Er
ist also ein herrschender Stand im höchsten Sinn des
Worts, in den eigenen Ländern alleinherrschend, im Reiche
mitherrschend.
Dieser Zug nach Herrschaft ist charakteristisch für den
deutschen hohen Adel. Die Geschichte des deutschen Reiches
zeigt die unglücklichen Wirkungen dieses mächtigen Triebes,
welcher die angesehensten Geschlechter verführte, die Hoheit
des Kaiserthums den Anmaszungen des römischen Papstthums
Preis zu geben, das deutsche Königthum vollständig zu ent-
kräften und lahm zu legen, die nationale Einheit gänzlich
aufzulösen und deutsches Gebiet den Fremden dienstbar zu
machen. Diese schwere Verschuldung gegen das Gesammt-
vaterland und die Weltgeschichte wird nicht aufgewogen durch
die Blüthe der Höfe und der fürstlichen Residenzen und nicht
gut gemacht durch die veredelnden Werke der Cultur, welche
unter dem Schutz und mit der Förderung der Dynasten glück-
lich gediehen.
[166]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Die Landeshoheit wurde mit der Zeit zu einer seheinbaren
Souveränetät gesteigert, ohne innere Kraft und ohne Sicher-
heit für die Zukunft. Nur einige der gröszten fürstlichen Terri-
torien waren fähig, eine relative statliche Existenz zu
behaupten; die meisten waren auch dazu zu schwach an Mitteln
und zu beschränkt an Geist. Die Reichsstandschaft aber wurde
selten so geübt, dasz die Interessen der deutschen Nation ge-
fördert, die öffentlichen Rechte ausgebildet, und die Volks-
freiheit befestigt wurde, sondern vielmehr in der Richtung
ausgebeutet, die besondere Landesherrschaft der Reichsstände
zu erweitern und die nationalen Pflichten abzulehnen.
In diesem Stande war auch die Neigung sich familien-
artig abzuschlieszen besonders stark vertreten. Es zeigt
sich das in dem strengen Erfordernisz der Ebenbürtigkeit,
in der Verwerfung der sogenannten Miszheirath und in der
Ausbreitung des gleichen Standesrechts auf sämmtliche
Kinder. Nur die ebenbürtige Ehe zwischen Genossen von
beiderseitiger Abstammung aus hochfreien Familien galt als
völlig untadelhaft. Die Ehe eines Hochfreien selbst mit einer
Mittelfreien wurde in vielen dynastischen Familien schon als
Miszheirath betrachtet, welche die Ebenburt der Kinder und die
fürstliche Erbfolge der Söhne gefährde. Zwar konnte noch der
König durch persönliche Standeserhebung der Frau diesen
Mangel heben oder die Familie konnte kraft ihrer Autonomie auch
freieren Grundsätzen über Ehegenossenschaft huldigen oder im
einzelnen Fall ihre Zustimmung zur Vollwirkung einer an sich
ungleichen Ehe ertheilen. Keine deutsche Dynastie hat sich
ganz rein erhalten können nach den strengen Grundsätzen der
Ebenburt. Aber in sehr vielen Fällen wurden von Anfang
morganatische Ehen geschlossen, mit der ausdrücklichen
Bestimmung, dasz die Kinder dem fürstlichen Stande des
Vaters nicht folgen. Und in vielen andern Fällen wirkte die
unzweifelhafte Miszheirath, besonders mit einer Frau von nie-
derer Herkunft aus kleinbürgerlichem oder bäuerlichem oder
[167]Zwölftes Capitel. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. 1. Herrenadel.
gar aus hörigem Stamm ebenso und es konnten in solchen
Fällen nach den späteren Wahlcapitulationen selbst die Könige
einen solchen Flecken nicht reinigen. Zur Zeit der Rechts-
spiegel noch wurden Fürsten, Grafen und Freiherrn nur die
wirklichen Träger des Fürsten- und Grafenamts und die Be-
sitzer einer Freiherrschaft genannt. 1 Aber später kam der
verwirrende Sprachgebrauch auf, dasz auch alle Söhne der
Fürsten und Grafen, unbekümmert darum, ob sie ein Fürsten-
thum oder eine Grafschaft hatten, den Titel des Vaters an-
nahmen und weiter verpflanzten. Diese Vervielfältigung der
Titel ohne inneren Gehalt, scheinbar zur Ehre der Familien
durchgeführt, diente dazu, deren Ansehen im Volk zu unter-
graben und dieselben den gröszeren Landesherren gegenüber
zu schwächen. Das Princip einer unbeschränkten erb-
lichen Ausbreitung ward daher dem hohen Adel selbst,
der es in Anspruch nahm, verderblich. Ebenso diente der
festgehaltene Grundsatz der Ebenbürtigkeit dazu, die Quellen
seiner eigenen Erfrischung zu verstopfen und ihn von der Zu-
neigung des Volkes abzuschlieszen.
Die Institution des dynastischen Herrenadels war schon
seit dem dreiszigjährigen Kriege im Verfall. Sie stürzte in
unserm Jahrhundert vollends zusammen. Die entscheidenden
Momente sind:
a) die Säcularisation der geistlichen Fürsten-
thümer, welche schon vorher durch die Friedensschlüsse
zwischen der französischen Republik und dem deutschen Reiche
von Campo Formio 1797 und Lüneville 1801 vorbereitet und
durch den auszerordentlichen Reichsdeputationshaupt-
schlusz vom 25. Februar 1803 bestätigt und durchgeführt
wurde. Die deutschen Länder der geistlichen Fürsten wurden
verwendet, um die weltlichen Fürsten für ihre Abtretungen
[168]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
auf dem linken Rheinufer an Frankreich zu entschädigen, und
muszten sogar dazu dienen, auch italienische Fürsten, die
aus Italien verdrängt wurden, mit deutschem Gebiet auszu-
statten. Von den drei geistlichen Kurfürsten erhielt sich nur
der Kurfürst von Mainz, wurde aber als Fürstprimas nach
Regensburg und später nach Aschaffenburg versetzt. Die links-
rheinischen Länder hatte auch er verloren. Der Groszherzog
von Toscana erhielt das Erzbisthum Salzburg und die Probstei
Berchtesgaden. Pfalzbayern bekam die Bisthümer Würzburg,
Bamberg, Freising, Augsburg, Passau u. s. f., Preuszen die
Bisthümer Hildesheim und Paderborn, Baden Theile der Bis-
thümer Constanz, Straszburg, Speyer und Basel u. s. f.
Die Säcularisation war unzweifelhaft ein Bruch des ge-
schichtlichen Reichsrechts, aber sie war innerlich gerechtfertigt
durch die Wandlung des öffentlichen Geistes, der keine geist-
liche Statsherrschaft mehr ertrug, und durch die öffentlichen
Bedürfnisse der Bevölkerung, welche nach weltlicher Verwal-
tung begehrte.
b) die Mediatisirung einer groszen Anzahl von welt-
lichen Reichsfürsten und Landesherren, welche durch
die Rheinbundsacte vom 12. Juli 1806 vollzogen wurde.
Wie die Säcularisation so war auch die Mediatisirung vornehm-
lich das Werk Napoleons I. und der Ideen der französischen
Revolution. Aber sie bedeutete zugleich einen Fortschritt in
der statlichen Entwicklung Deutschlands, welche durch die
kleinen Herren nur gehemmt, nicht gefördert ward. Die 72
mediatisirten Fürsten und Herren verloren dadurch ihre Landes-
hoheit und wurden selber Unterthanen der gröszeren Landes-
fürsten, aber sie behielten noch die mittlere und niedere Ge-
richtsbarkeit bei und manche Privilegien. Bayern erhielt 13,
Württemberg 26, Baden 9, Hessen 7, Nassau 7, das
Groszherzogthum Berg 12 standesherrliche Gebiete.
Später wurden noch einige solche Herren „mediatisirt“
d. h. der Landesherrschaft anderer deutschen Fürsten unter-
[169]Zwölftes Capitel. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. I. Herrenadel.
worfen, die anfangs noch erhalten worden waren, wie die
Fürsten von Salm, Isenburg and der Herzog von Aremberg
u. s. f.; einige werden sogar erst in den Tagen der Restaura-
tion als Anhänger Napoleons geopfert.
Nach der Auflösung des deutschen Reichs (6.August 1806)
gab es auch keine Reichsstandschaft mehr dieser Herren.
c) Die deutsche Bundesacte vom 8. Juni 1815 stellte
die Institution nicht her, sondern wahrte nur die Erinnerung
an die vormals reichsständischen Geschlechter, indem sie ihre
Ebenbürtigkeit mit den souverän gewordenen deutschen Fürsten-
häusern anerkannte und ihnen gewisse Ehrenrechte und Privi-
legien, unter diesen auch die Landstandschaft in den Ersten
Kammern der Länderstaten garantirte. Die Bundesmatrikel
zählte anfangs 49 fürstliche und 49 gräfliche Häuser und ein
freiherrliches auf, von denen seither einige ausgestorben sind,
andere ihre Besitzungen verloren haben.
Die moderne Fortbildung des Verfassungsrechts in den
Länderstaten war aber den vorbehaltenen patrimonialen Rech-
ten der Standesherren ungünstig. Sie vermochten auch ihre
besondere Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt auf die Dauer vor
der Macht der Landesgesetze, welche die Rechtsgleichheit und
eine durchgreifende central geleitete Beamtenordnung durch-
setzten, nicht zu bewahren. Besonders seit der Revolution
von 1848 war kein Halt mehr möglich. Die Standesherren
selber verzichteten auf ihre Sonderherrschaft.
d) Die Zahl der 34 souveränen deutschen Fürsten-
häuser, welche die Bundesacte von 1815 anerkannte, hat sich
seither wieder vermindert, theils durch Aussterben, theils durch
Verzicht, theils durch Verlust der Herrschaft. Die Fürsten
von Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sig-
maringen gaben freiwillig ihre souveräne Stellung auf, zu
Gunsten der Krone Preuszen (7. Dec. 1849). Das Königshaus
von Hannover, das Kurhaus Hessen und das herzogliche
Haus Nassau verloren durch den Krieg von 1866 und die
[170]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Gründung des norddeutschen Reiches ihre Souveränetät an
Preuszen.
An dem deutschen Reiche haben noch 22 deutsche Für-
sten mit souveräner Landesherrschaft Antheil.
Es besteht aber, trotz des definitiven Untergangs der
alten Reichsinstitution des hohen Adels in Deutschland noch
eine hohe Aristokratie erlauchter Familien, deren Kern
durch die reichsständischen Geschlechter gebildet wird. Aber
es sind neue Familien hinzu gekommen, welche durch bedeu-
tende Männer, wie z. B. Fürst Bismarck, Graf Moltke, und
politische Leistungen, zuweilen auch durch fürstliche Gunst
und gesellschaftliche Vorzüge über die Stufe der Gentry empor
gehoben worden sind.
Es verdient hervorgehoben zu werden, dasz diese hohe
Aristokratie, obwohl sie meistens eher conservativ als liberal
gesinnt ist, doch durch einen weiten und freien Blick ausge-
zeichnet ist und im Gegensatze zu engherzigem und klein-
lichem Particularismus sich mit der nationalen Entwicklung
und Grösze des deutschen Reiches vielfältig befreundet hat.
Dreizehntes Capitel.
II. Ritterschaftlicher Adel.
In der Mitte zwischen dem alten Dynastenadel und den
einfachen Freien standen die aus den letzteren erhobe-
nen Mittelfreien, wie sie der Schwabenspiegel nennt. Im
Süden von Deutschland läszt sich dieser Stand bis in die Zeit
der fränkischen Monarchie hinauf verfolgen. Erst seit dem
vierzehnten Jahrhundert aber kam der Sprachgebrauch auf,
diese Mittelfreien ebenfalls Edelleute zu nennen, dadurch
dem Adel als niederen Adel näher zu bringen und gleich-
zeitig schärfer von den einfachen Freien zu trennen.
[171]Dreizehntes Cap. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. II. Ritterschaftl. Adel.
Die Hauptbestandtheile dieses Standes waren:
a) Die schöffenbar Freien, ursprünglich mit gröszern
Gütern (drei Huben oder mehr) 1 ausgestattet, und als die
angeseheneren und reicheren Freien zu dem Schöffenamte be-
rufen, welches wie alle Aemter im Mittelalter mit der Zeit
erblich ward. Sie konnten auch ihr Eigen länger als die
Masse der freien Bauern frei von Lasten und im Zusammen-
hange mit den Grafendingen, im Gegensatze zu den Vogtei-
gerichten erhalten. In den spätern Jahrhunderten gingen die
schöffenbar Freien gewöhnlich in dem Ritter- und Grundherren-
stande auf.
b) Die Vasallen des Adels, seitdem das Ritterwesen
aufgekommen, Ritter mit Ritterlehen. 2
c) Zu diesen kamen dann später auch manche Ritter
ohne Ritterlehen, groszentheils zwar Abkömmlinge der Va-
sallen, die eine rittermäszige Erziehung genossen hatten und
in die Ritterschaft aufgenommen wurden, in der Folge aber
auch andere Kriegsmänner, welche von dem Kaiser oder
berechtigten Stellvertretern desselben zu Rittern erhoben
wurden.
d) Die zahlreichen Dienstleute, Ministerialen (Edel-
knechte), noch im XIII. Jahrhunderte sehr scharf von den
ritterbürtigen Männern geschieden, ihrer Abstammung nach
groszentheils Hörige und Halbfreie, durch Hofämter und Hof-
dienst, groszen Grundbesitz und vornehme Lebensart empor-
gehoben, anfangs nicht des Lehensrechts, nur des Dienst- und
Hofrechtes theilhaftig, allmählich den Rittern zur Seite tretend
und mit ihnen in einen Stand zusammenschmelzend.
e) In manchen Reichsstädten, seltener in Landstädten, die
Geschlechter, Patrizier, ursprünglich meist von schöffenbar
[172]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
freier oder rittermäsziger Abstammung, durch den Antheil an
der städtischen Obrigkeit ausgezeichnet.
Auch unter diesen Classen des sogenannten niedern Adels
verdrängte das überhandnehmende Princip der persönlichen
Erblichkeit mehr und mehr die Rücksichten auf Grund-
besitz, ritterliche Lebensart, Hofdienst, und erzeugte eine
grosze Anzahl von Edelleuten, die keine andere edle Eigen-
schaft besaszen als den Nachweis eines alten Stammbaums.
Auch die Abschlieszung dieses Standes von den freien
Bürgern und Bauern wurde immer schroffer, und zwar gerade
in den Zeiten, als die innere Bedeutung des Gegensatzes ab-
starb. Im Zusammenhange damit erhielt die Sucht nach vor-
nehmen Titeln reichliche Befriedigung, und auch aus diesem
Stande gingen ganze Schaaren von Freiherren und sogar Grafen
und Fürsten hervor, theils durch Verleihung, theils geradezu
durch Anmaszung solcher Titel, denen im übrigen keine Rea-
lität mehr entsprach, die keine Freiherrschaft, keine Graf-
schaft, kein Fürstenthum hatten.
Ein so ausgebildeter Adel der Militär- und Civilämter
wie in Frankreich kam in Deutschland nicht auf. Höchstens
bildete der gelehrte Adel der Doctores juris eine individuelle
Ergänzung des im übrigen erblichen Standes. Um so eifriger
dagegen wurde der Briefadel zur Erweiterung des ohnehin
übermäszigen Titularadels den Franzosen nachgeahmt.
Dieser niedere Adel hatte weder auf Landeshoheit noch
auf Reichsstandschaft Anspruch. Nur die Reichsritterschaft
erlangte eine der Landeshoheit ähnliche Selbstständigkeit in ihren
durch das Reich zerstreuten Gebieten. Dagegen war er des
Lehensrechts theilhaft und hatte häufig gewisse Vorrechte
auf Stiftungen und Pfründen. Auch besasz ein Theil seiner
Glieder, jedoch nur in Verbindung mit bestimmten Herrschaften
und Gütern, erbliche Vogtei- und Grundherrschaft und
übte die damit verbundene Gerichtsbarkeit aus, im Zu-
sammenhang mit der mittelalterlichen Ausbreitung des Lehens-
[173]Dreizehntes Cap. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. II. Ritterschaftl. Adel.
systems. Endlich besasz er innerhalb der einzelnen Territorien
das Recht der Landstandschaft, und umgab regelmäszig die
Landesherren als Hofadel.
Die Macht dieses Standes war vorzüglich seit dem
XIII. Jahrhundert grosz geworden und hatte sich erhalten bis
gegen die Mitte des XVI. Jahrhunderts. Von da an beginnt
die allmähliche Zerstörung seiner Wurzeln und die Umwand-
lung der ökonomischen, militärischen, gesellschaftlichen und
Beamtenverhältnisse, welcher er nicht zu widerstehen vermochte.
Der dreiszigjährige Krieg wurde auch ihm verderblich.
Wo möglich noch tiefer zerrüttet als die Reichsinstitution
des hohen Adels ist heute die politische Institution des soge-
nannten niedern Adels in Deutschland. Die Auflösung des
Lehensverbandes, der Untergang der feudalen Statseinrichtun-
gen und der landständischen Verfassung, die Umgestaltung
der Armeen, die Ausbildung eines individuellen Beamtenstandes,
die Erhebung bürgerlicher Geschlechter und Personen, die Auf-
lösung des alten deutschen Reichs, die Fortbildung der Reprä-
sentativverfassung haben die Grundlagen zerstört, auf welchen
dieser Stand erwachsen ist. Die vielfältigen Neuerungen un-
serer Zeit haben sowohl von oben als von unten her die be-
sonderen Adelsrechte eines nach dem andern, zuweilen auch
alle zumal aufgelöst und aufgehoben. Auch in Deutschland,
wie zuvor in Frankreich, hat der dritte Stand von den Vor-
rechten des Adels nichts mehr wissen wollen und die ganze
Existenz desselben bestritten. Durch die unbegrenzte Aus-
breitung des adeligen Geschlechtes auf alle folgenden Genera-
tionen geriethen die äuszeren Ansprüche des Adels mit ihrer
realen Begründung in schreienden Widerspruch und wurden
die Miszverhältnisse besonders im Vergleich mit dem höheren
Bürgerstand gesteigert und die Verwirrung ärger.
Noch weniger als die kleineren Reichsstände vermochte
die deutsche Reichsritterschaft zur Zeit des Rheinbundes der
Ländergier der Bundesfürsten zu widerstehen. Die reichs-
[174]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
ritterschaftlichen Gebiete wurden ebenso den fürstlichen Län-
dern einverleibt und die Cantone aufgelöst. Die Bundesacte
von 1815 suchte noch den vormals reichsritterschaftlichen Ge-
schlechtern eine privilegirte Stellung zu wahren, und ihnen
Autonomie, Landstandschaft, grundherrliche Gerichtsbarkeit,
Patronatsrechte, Forsthoheit und einen privilegirten Gerichts-
stand zu erhalten. Aber diese Einbalsamirung vergangener
Zustände konnte das abgestorbene Leben nicht erneuern. Die
Patrimonialgerichtsbarkeit war so wenig als die Steuerprivile-
gien dem modernen Rechts- und Statsbewusztsein gegenüber
zu erhalten.
Im Groszen hat der sogenannte niedere Adel in Deutsch-
land keine besondere Rechtsstellung mehr. Als Rechtsinsti-
tution und als Statseinrichtung ist er untergegangen. Was
noch auszer den Namen und Wappen aus alter Zeit gelegent-
lich übrig geblieben ist, wie zuweilen eine besondere Ver-
tretung der Grundherrn in den Ersten Kammern, oder die
adeligen Familienfideicommisse, macht durchaus den Eindruck
der Antiquität. Aber heute noch nimmt der Grundadel,
zum Theil auch der Hofadel ohne Grundbesitz eine gesell-
schaftlich bedeutsame Stellung ein und übt mittelbar einen
nicht gering zu schätzenden Einflusz aus auf die Besetzung
der Aemter und die Politik. Die höheren Officierstellen, die
Hofämter, die diplomatischen Stellen werden vorzugsweise,
wenn auch nicht mehr mit rechtlicher Nothwendigkeit, aus
diesem Stande besetzt. Der übrige blosze Titularadel hat
sich mit den höheren Bürgerclassen nach und nach gemischt,
durch Heirathen und durch Berufswahl, in der Gesellschaft
und im politischen Leben.
Der deutsche ritterschaftliche Adel hat keineswegs eine
so patriotische und nationale Geschichte, wie die englische
Aristokratie. Ein groszer Theil des deutschen Grundadels
hatte sich lange Zeit den Ideen und den Reformen der Neu-
zeit feindlich entgegen gestemmt. Viele Grundherrn schwärmten
[175]Dreizehntes Cap. 2. Der Adel. C. Der deutsche Adel. II. Ritterschaftl. Adel.
in romantischen Gefühlen für mittelalterliche Zustände und
dienten williger dem landesherrlichen Absolutismus als der
Volksfreiheit. Daher ist der deutsche Adel nicht so volks-
thümlich wie der englische und wird oft, ähnlich dem fran-
zösischen Legitimistenadel, von den Massen vielfältig mit
Misztrauen und Abneigung betrachtet. Aber immer gab es
auch unter diesem Adel manche aufgeklärte Männer und aus-
gezeichnete Patrioten. Dem Heere lieferte er die besten Füh-
rer und in den groszen Entwicklungsmomenten der Nation
gingen die Vorkämpfer und Leiter der Bewegung und der
Reform doch zumeist aus diesem Stande hervor.
Die Frage der Reform der deutschen Adelsinstitution
ist in neuerer Zeit vielseitig erwogen worden. Die dafür
günstige Periode von 1852 bis 1860 wurde aber nicht benutzt.
Ein paar verunglückte Versuche bewiesen nur die geringe
Autorität der Reformfreunde unter ihren Standesgenossen und
den Widerwillen der Mehrzahl gegen jede aufrichtige und
wirksame Reform. Die Gründung des deutschen Kaiserreichs
gewährt nun die gesetzliche Möglichkeit einer zeitgemäszen
Neugestaltung einer nationalen Aristokratie, welche die
noch zahlreichen gesunden Elemente des alten Adels auf-
nimmt und schützend erhält, aber mit andern modernen ari-
stokratischen Bildungen verbindet, und alle innerlich kraft-
losen und lebensunfähigen Bestandtheile des bisherigen Adels
schonungslos beseitigt. Für eine grosze Nation, wie die
deutsche, ist auch eine kräftige, selbständige und hochgebil-
dete Aristokratie ein politisches Lebensbedürfnisz. Zumal
in unsrer Zeit, in welcher die demokratischen Massen so
schwer ins Gewicht fallen, wird es nöthig, das Schwergewicht
der Quantität durch die Höhe der Qualität zu ermäszigen und
zu ergänzen.
Die Erblichkeit wird indessen in einem so gereinigten
aristokratischen Mittelstande schwerlich allein Geltung haben
noch schrankenlos sich ausdehnen dürfen. Denn es gibt in
[176]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Wahrheit auch einen Individualadel, der Anerkennung
verlangt, neben dem (erblichen) Rasseadel, und auch eine
edle Rasse kann in folgenden Generationen und getrennt von
ihren socialen Grundlagen ihren Adel verlieren.
Anmerkungen. 1. Riehl hat in seinem Buch „die bürgerliche
Gesellschaft“ (1854) die sociale Bedeutung „der deutschen
Aristokratie“
in lebhaften Bildern gezeichnet. Der Adel hat gegenwärtig nur noch
eine sociale Geltung, die auch für sich einen Werth hat, aber ohne
politische Organisation weder auf die Dauer zu erhalten ist, noch zur
rechten Wirksamkeit gelangen kann. Die Stände sind als sociale Ge-
meinschaften nur eine Unterlage der organischen und dann erst
wirklichen politischen Classen.
2. Die Ansichten, welche ich im Deutschen Statswörterbuch I. S. 30 ff.
und S. 58 ff. ausgesprochen habe, heben vornehmlich den Unterschied
hervor zwischen ruhendem (passivem) und wirklichem (activem)
Adel und gründen darauf Vorschläge der Reform. Jener schon durch
die Geburt verliehen, hat nur die Möglichkeit in sich, wirklich zu wer-
den, aber gibt keinerlei Vorzüge; dieser setzt auch die persönliche Aus-
zeichnung voraus, durch die jene Möglichkeit erfüllt wird. Ich habe
seitdem die wenig tröstliche Entdeckung gemacht, dasz schon Justus
Möser auf denselben Gedanken vor zwei Menschenaltern gekommen
(Patriot. Phantasien, IV. 248) und dasz derselbe in der ganzen langen
Zwischenzeit gänzlich miszachtet geblieben war. Bluntschli Geschichte
der Statswissenschaft S. 423.
Vierzehntes Capitel.
3. Der Bürgerstand.
Der Bürgerstand ist in Europa später als der ritterschaft-
liche Stand des niedern Adels, aber noch im Mittelalter zu
einem mit politischen Rechten ausgestatteten Volksstande ge-
worden. Die Wurzeln der Institution sind in dem alten Erb-
stande der Gemeinfreien zu finden, welche ursprünglich
den eigentlichen Stamm der verschiedenen deutschen Stämme
und Völker gebildet hatten. Aber sie konnte nur in dem
[177]Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.
Weichbild der Städte und nur unter dem Schutze des Stadt-
rechts und der Stadtverfassung zu freiem Wachsthum gelangen.
Das Mittelalter war überhaupt der gemeinen Volksfreiheit
nicht günstig. Es begünstigte durchweg die hierarchischen,
dynastischen und aristokratischen Classen. Fast überall in
Europa erlagen die freien Grundeigenthümer des Landes der
um sich greifenden Herrschaft des Lehensadels und der Vogtei-
herren. Die Gesetzgebung Karls des Groszen vermochte, ob-
wohl sie, von einem starken Könige gehandhabt, die schlimm-
sten Bedrückungen hemmte, doch den Fortgang des Uebels
nicht aufzuhalten. Ein sehr groszer Theil der bäuerlichen
Bevölkerung in der fränkischen Monarchie, welcher durch
freie Geburt den echten germanischen Volksstämmen ange-
hörte, gerieth, weil er auf königlichen oder Kirchengütern,
oder in den Grundherrschaften des Adels sich niederliesz und
Boden bebaute, der nicht in seinem Eigenthum war, oder
weil er sein Eigenthum aus frommen Motiven oder auch aus
Noth an die Kirchen und Klöster vergabt, und nur als Zins-
gut zurück empfangen hatte, in die Hofhörigkeit, kam so
den auch persönlich hörigen Bauern näher und büszte man-
cherlei politische Freiheitsrechte ein. Und später konnten
auch die kleinern Güter, welche im Eigenthum ihrer freien
Bebauer geblieben waren, sich doch der Vogteigerichtsbarkeit
und der Lasten nicht erwehren, welche die herrschende Ari-
stokratie denselben auferlegte. Die veränderte Organisation
der Heere, erst auf den Ritter- und Lehensdienst basirt, später
auf Soldtruppen, hatte zur Folge, dasz auch die freien Bauern
die Kriegstüchtigkeit und Kriegerehre verloren. Sie wurden
mit Steuern in den mannichfaltigsten Formen und aus man-
cherlei Vorwänden oft willkürlich belegt; und auch in den
Gerichten, mehr aber noch in den politischen Körperschaften
des Landes verloren sie den Besitz und die Stimme, welche
die alt-germanische Verfassung ihnen gewährt hatte. Auch
die freien Grundeigenthümer wurden als Vogteileute nach
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 12
[178]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
und nach den hörigen Bauern gleichgestellt, und beide Be-
standtheile unter dem gemeinsamen Namen der Bauerschaft
zusammengefaszt. Der alte Erbstand wurde somit in einen
Berufsstand umgewandelt, und die politischen Rechte des
Bauernstandes meistens sehr verkürzt. Nur ein Theil der
freien Bauern, meistens die gröszeren Grundeigenthümer,
stieg unter die neu erstandene Classe der Ritterschaft empor.
Ausnahmsweise nur, unter günstigen Verhältnissen, ge-
lang es einzelnen Gemeinden von Freien sowohl ihr freies
Eigen als ihre höhere politische Berechtigung vor den drohen-
den Gefahren des Mittelalters in die neuere Zeit hinüber zu
erhalten. Eines der merkwürdigsten Beispiele der Art ist die
Schwyzer Markgenossenschaft, welche den Impuls gegeben
hat zu der nach ihr benannten schweizerischen Freiheit.
Während so auf dem Lande die alte Freiheit gewöhnlich
niedergedrückt wurde und unterging, so wurden im Gegen-
satze während des Mittelalters die Städte zum Sitz einer
neuen Bürgerfreiheit.
Die Geschichte der Städte ist für die Entwicklung des
Begriffs der modernen Freiheit und des Bürgerthums von ent-
scheidendem Einflusse geworden. Beide Begriffe waren früher
städtische, bevor sie zu allgemeinen Statsbegriffen ge-
worden sind. Es bedurfte jahrhundertelanger Kämpfe und
Umwandlungen, bis das städtische Bürgerthum zu voller
Ausbildung gelangte, und wieder nach Jahrhunderten wurde
es zum Statsbürgerthum erweitert.
Die Mannichfaltigkeit und Gesondertheit des aus romani-
schen und mehr noch aus germanischen Wurzeln erwachsenen
Ständelebens, welches das Mittelalter vornehmlich charakteri-
sirt, spiegelte sich anfangs auch in den Städten wieder. Sie
zeigte sich gerade in den Städten, welche eine gröszere Be-
völkerung auf engem Raume zusammenfaszten, ursprünglich
in ihrer buntesten Gestalt. Da fanden sich, von denselben
Graben und Mauern umschlossen, oft beisammen:
[179]Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.
a) geistliche Fürsten mit ihrem Hofstate und be-
sondern Hoheitsrechten, Bischöfe, Aebte;
2) die niedere Geistlichkeit in mannichfaltigen Ab-
stufungen und Gliederungen;
3) weltliche Grosze von hohem Adel, z. B. könig-
liche Grafen oder sonst hohe Barone, in Italien Capitanei,
welche meistens, insofern sie nicht Burgen daselbst besaszen,
nur vorübergehend in den Städten lebten und ihren eigent-
lichen Stammsitz auf dem Lande hatten;
4) ritterliche Familien, häufig auch mit Lehens-
besitz auf dem Lande ausgestattet;
5) Ministerialen der geistlichen und weltlichen Herren;
6) Mittelfreie, in den romanischen Städten von Italien
und Frankreich häufig die Nachkommen der römischen Decu-
rionenfamilien, welche in der Stadt Grundeigenthum besaszen,
oder germanische Freie, die sich in der Stadt auf eigenem
Boden niedergelassen hatten und durch Vermögen und poli-
tische Stellung ausgezeichnet waren;
7) einfache Gemeinfreie, aber noch mit Grund-
eigenthum in der Stadt;
8) persönliche Freie, die aber auf Herrengütern in
der Stadt wohnten und um deszwillen dem Hofrechte, z. B.
einer Abtei unterworfen waren;
9) eine Menge höriger Leute verschiedener Herren,
und in den mannichfaltigsten Verhältnissen, die einen selb-
ständig lebend, als Handwerker,
10) die andern in Familienabhängigkeit, als Dienstboten,
Gesellen u. s. f.
Die Verbindung aller dieser Bruchstücke der mittelalter-
lichen Stände in Einer Stadt muszte mit der Zeit die Son-
derung derselben auflösen und eine neue Mischung hervor-
bringen. Gemeinsames Leben, gemeinsame Interessen und
Schicksale, oft auch die Kämpfe der Parteien brachten die
einen Bestandtheile den anderen näher, oder bewirkten neue
[180]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Gegensätze, welche nicht von der Geburt bestimmt waren.
Die Stadtverfassung brachte neue Genossenschaften und Räthe
hervor, in welchen die verschiedenen Stände zu einer neuen
Einheit verschmolzen wurden. Der Gang dieser Umgestaltung
war, obwohl in den verschiedenen Städten die Verschieden-
heit der Nationalität, der Zeiten und der localen Einflüsse
auch ihre Einwirkung übte, doch im Groszen überall der
nämliche. Es kommen hiebei vorzüglich folgende Momente
in Betracht:
1. Den eigentlichen Kern der alten städtischen Bür-
gerschaft bildeten zuerst die vornehmen Geschlechter
der Ritter, Ministerialen und Mittelfreien, welche in den
Räthen (als Consules) nach Selbständigkeit strebten und
die Herrschaft der alten Stadtherren beschränkten. Dann er-
weiterte sich dieser Kern durch die Verbindung mit den ge-
meinfreien Elementen und es traten neue Gegensätze zu Tage
zwischen den alten aristokratischen Geschlechtern und den
jungen aufstrebenden Genossenschaften freier Bürger. So hatte
sich zu Mailand schon um die Mitte des eilften Jahrhunderts
die „Motta“ als politische Genossenschaft gebildet aus Dok-
toren der Rechte, Aerzten, Banquiers, Groszhändlern und ein-
zelnen ritterbürtigen Leuten, Junkern, welche die ritterliche
Lebensweise nicht fortsetzten, später der „popolo grasso,“
Populares genannt und trat den adeligen Capitanei und Val-
vassores (Baronen und Rittern) entgegen, dann auch im zwölf-
ten Jahrhundert in dem Groszen Rathe (consilium gene-
rale), 1 als einem städtischen Gesammtrathe, zur Seite.
Die Erzeugung einer städtischen Obrigkeit in den
Consuln war der erste entscheidende Schritt zur Einigung
der höhern Stände in der Stadt, die Bildung von Groszen
Räthen und die Berufung von Gemeinden gewöhnlich ein
[181]Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.
zweiter und dritter. Zuletzt kamen die Zünfte, und so um-
fing von Zeit zu Zeit ein weiterer Kreis der Bürgerschaft die
ältern engern Genossenschaften.
Diese Entwicklung zeigte sich zuerst in der Lombardei,
wo die germanische Neigung zu genossenschaftlicher Bildung
und freier Selbständigkeit mit alt-romanischen Erinnerungen
sich verband. Von da aus ging die Bewegung auf die Städte
im südlichen Frankreich über, zum Theil noch während
des zwölften, zum Theil erst im dreizehnten Jahrhunderte.
Ihren Ausgang und Anhalt fand sie vornehmlich in den Resten
der alten freien, in Frankreich übrigens mehr als in der Lom-
bardei herabgekommenen Municipalbürgerschaft, die
sich durch gewählte Prudhommes vertreten liesz.
2. Eine entschiedener demokratische Richtung und cor-
porative Gestalt hatten die eidlichen Conföderationen
der Bürger in den Communen, welche um dieselbe Zeit
im Norden von Frankreich mit ihren Stadtherren oft blutige
Kämpfe bestanden. In ihnen zeigen sich schon neue Elemente
des Bürgerthums, voraus die Aufnahme in die Gildgenos-
senschaft (gildonia, conjuratio, fraternitas), 2 welche allein
zum Bürger der Commune machte, und mit eidlicher Ver-
pflichtung auf ihre Statuten verbunden war. Die bürgerliche
Freiheit und das bürgerliche Recht wurde somit theils von
der bloszen Fortpflanzung der freien Rasse, theils von dem
Zusammenhang mit dem Grundbesitz abgelöst, und der Nach-
druck auf die corporative Verbindung gelegt. Sowohl
das Lehensprincip als das Princip des altgermanischen Stände-
rechtes wurden durchbrochen und ein neues persönliches
Princip erzeugt.
Ferner war die Verfassung der Commune der Aus-
breitung der Freiheit und des Bürgerrechtes auch über die
[182]Zweites Buch. Die Grundbedingungen oes Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
tiefer stehenden Schichten der städtischen Bevölkerung
günstig. Auch die Menge der Handwerker, welche sich von
der Hörigkeit losgemacht hatten, fand Aufnahme in der Ge-
nossenschaft, und es wurde der Grundsatz ein- und durch-
geführt, dasz der Hörige, welcher Jahr und Tag in der Stadt
unangesprochen und unverfolgt von seinem Herrn gewohnt
habe, zum Freien geworden sei. Hunderte von Stadt-
rechten 3 in ganz Europa bezeugen den wichtigen Satz: „Die
Luft der Stadt macht frei.“
Die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Demokratie
in den Communen führten freilich öfter wieder zu Reactionen.
Die Könige, welche geholfen hatten, dieselben von der Herr-
schaft der Seigneurs zu befreien, bekamen dann Veranlassung,
die Zügel des Regiments selbst durch ihre Beamten in die
Hand zu nehmen und straffer anzuziehen. In ähnlicher Weise
ging auch die Selbstregierung der lombardischen Städte zu
Anfang des XIV. Jahrhunderts meistens unter, und die Ge-
walt fiel einzelnen Fürsten zu, nachdem im XIII. Jahrhun-
dert die neue groszentheils aus den niedern Elementen der
Stadtbewohner gebildete Bürgerschaft des Popolo unter ihren
demokratischen Hauptleuten (Capitani) mit dem städtischen
Adel den Kampf um die Herrschaft begonnen und denselben
häufig unterworfen oder verdrängt hatte.
Auszer den Städten mit Consulat- und mit Communal-
verfassung gab es damals freilich noch viele Städte in Frank-
reich, die in gröszerer Abhängigkeit von ihren Herren ge-
blieben waren und von Vögten (prévôts,
Prevotalstädte) oft
sehr willkürlich regiert wurden. Auch in diesen Städten
wurden indessen die Lasten der Hörigkeit aufgehoben oder
sehr gemildert, und bildete sich der Begriff der Bourgeoisie
als eines freien Standes aus, dessen man durch Nieder-
[183]Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.
lassung in der Stadt, auch wohl durch königliche Verleihung
des Bürgerrechts theilhaft werde. 4
3. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Bürger
bezeichnen auch in Deutschland verschiedene Stufen der
Entwicklung.
Im dreizehnten Jahrhundert pflegte man noch ähnlich wie
früher in Italien und Frankreich die Ritter und die Bur-
ger (milites et burgenses) zu unterscheiden, und unter diesen
die zu der städtischen Genossenschaft gehörigen und raths-
fähigen, aber nicht als Ritter lebenden Freien zu verstehen.
Die freien Häuserbesitzer in der Stadt waren der Grundstock
dieser Bürgerschaft, welche in Verbindung mit den ritterbür-
tigen Geschlechtern gewöhnlich die Schöffen- und die Raths-
stellen der Stadt inne hatten. Dann wurden auch wohl beide
Bestandtheile (die Ministerialen überdem den Rittern beigestellt)
in ihrer Vereinigung als die vollberechtigten Burger der
Stadt, oder als die Geschlechter bezeichnet und den Hand-
werkern und übrigen Einsassen der Stadt entgegengesetzt.
Seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts, der Zeit der
groszen Städtebünde zum Schutze des Handels, scheinen die
Kaufleute in vielen deutschen Städten, insofern sie persön-
lich frei waren, auch abgesehen von dem Grundbesitz, der
Bürgerschaft beigezählt worden zu sein, und ebenfalls Ver-
tretung in dem Rathe der Stadt erlangt zu haben. — Dadurch
wurde der Begriff der Bürgerschaft von dem Zusammenhang
mit dem Boden theilweise abgelöst, und dem Berufe und
der persönlichen Verbindung mehr Bedeutung als
früherhin zugestanden.
Die nämliche Richtung wurde sehr verstärkt, als in der
ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts gewöhnlich auch die
Handwerker, in ihren Zünften, als ein neuer Bestandtheil
der Bürgerschaft einverleibt wurden. Das Wort Bürger hatte
[184]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u.
Volksnatur.
somit einen umfassenderen Sinn gewonnen. Es bezeichnete
von da an regelmäszig alle Genossen des städtischen Lebens
und der städtischen Corporationen. Die Hörigkeit war, so
weit das Städtebürgerthum reichte, aufgelöst, die Unterschiede
der Geburt waren wesentlich modificirt und gemildert, das
Lehensrecht durch das gemeinsame und persönliche Stadt-
recht verdrängt, und alle Bürger als solche in eine unmittel-
bare Beziehung zu der Stadt gesetzt worden, zu welcher sie
gehörten.
Dieses bald mit mehr bald mit weniger Rechten der
Selbstverwaltung und Selbstregierung ausgestattete, aber immer-
hin persönlich-freie Stadtbürgerthum war indessen
auf den Umkreis der städtischen Interessen beschränkt. Im
Einzelnen war daher auch je nach der sonstigen Bedeutung und
Geschichte der Städte die bunteste Mannichfaltigkeit denkbar.
Die einen Städte waren der Landesherrschaft der Fürsten
unterworfen und daher Landstädte. Die andern erwarben
für ihre Räthe königliche Rechte und wurden selber zu
Landesherrn über die umliegenden Dörfer und die erworbenen
Herrschaften. Um ihrer unmittelbaren Beziehung zu Kaiser
und Reich wurden sie dann Reichsstädte genannt.
Im XVI. Jahrhunderte noch sind die deutschen Städte
voll Reichthum, Bildung, Blüthe. Die Baudenkmäler aus
jener Zeit haben ihren Ruhm erhalten, den damals Machia-
velli in seinen Berichten verkündet hatte. Aber der dreiszig-
jährige Krieg zerstörte den Wohlstand und die Macht der
Städte und sie geriethen in einen traurigen Verfall, von dem
sie sich nur sehr langsam nach mehr als einem Jahrhundert
des Leidens und der Kümmernisz erholten. Die Landstädte
büszten ihre landständische Stellung ein, die Reichsstädte
konnten kaum den Schein der Selbständigkeit erhalten. Die
Städte schloszen sich ängstlich ab von dem Lande und er-
gaben sich einem engen und kleinlichen Philistergeiste. Sie
waren verarmt und gedrückt.
[185]Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.
4. Die charakteristischen Merkmale des mittelalterlichen
Bürgerstandes sind:
a) Er bildet im Gegensatz zu dem Klerus und dem Adel
nicht einen privilegirten Stand, sondern einen ordentlichen
Regel- und Volksstand.
Er unterscheidet sich von den Bauern durch die Be-
ziehung zur Stadt, durch die städtische Cultur, städtische
Freiheit und städtisches Recht.
b) Die Bürgerschaft fühlt sich trotz der geschichtlichen
Gegensätze der Familien und der alten Geblütsstände und
ungeachtet der verschiedenen Berufsarten als Einen zu-
sammengehörigen Stand, welcher die bürgerliche
Freiheit wahrt und die Gleichheit Aller vor dem Ge-
setze achtet, und als eine städtische Rechtsgenossen-
schaft nach demselben Stadtrecht lebt und die Stadtver-
fassung selbständig ordnet. Die Bürger sind Söhne der
Stadt und Theilhaber an dem städtischen Gemeinwesen. Bür-
gerliche Ehre und städtische Cultur sind mit einander eng
verflochten.
c) Der Bürgerstand erlangte aber im Mittelalter auch
eine statliche Stellung und Bedeutung, welche über das
Weichbildrecht der einzelnen Stadt hinaus wirkte und die
Bürger der vielen Städte des Landes und des Reiches zu
einem gemeinsamen ständischen Körper zusammenfaszte.
Diese neue Entwicklung fand ihren Ausdruck in der Or-
ganisation der mittelalterlichen Reichs- und Landstände. Seit
der Mitte des XIII. Jahrhunderts erlangten in England die
Bürgerschaften der Städte eine ursprünglich von der Ritter-
schaft getrennte, dann mit dieser verbundene Vertretung im
Nationalparlament. Aus den Repräsentanten der Bürgerschaft
bestand in Frankreich der früher schon von Zeit zu Zeit
einzeln, seit dem Anfang des XIV. Jahrhunderts zu den all-
gemeinen Ständeversammlungen (états généraux) berufene
dritte Stand (tiers état) des Reiches. Auch die Bänke
[186]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u.
Volksnatur.
der Städte auf den deutschen Reichstagen seit der Er-
hebung Rudolfs von Habsburg zum Könige waren wenigstens
theilweise eine Stellvertretung des deutschen Bürgerstandes,
und auf den deutschen Landtagen erhielten die Städte
neben dem Adel und der Geistlichkeit als eine ständische Ge-
nossenschaft Sitz und Stimme.
5. Endlich wurden die neuen Rechtsgedanken, die sich
in dem Städtebürgerthum ausgeprägt fanden, auf die weiten
Kreise der Gesammtbevölkerung des States übertragen, und
aus dem Stadtbürgerthum wurde die Institution des modernen
Statsbürgerthums geboren.
Fünfzehntes Capitel.
4. Der Bauernstand.
Wenn das Mittelalter dem Fortbestande der alten Ge-
meinfreiheit nicht günstig war, so beförderte es auf der andern
Seite die Erhebung und Befreiung der hörigen Leute. Eben
indem es jene niederdrückte, hob es diese empor, und so
näherten und mischten sich beide Stände auf derselben Stufe.
Ein immerhin kleiner Theil der hörigen Leute wurde so-
gar über die Freien in den Stand des niedern Adels hinauf-
gerückt, die Ministerialen, welche durch Hofdienst den
Dynasten persönlich nahe traten, und durch höfische Bildung
und Sitten ausgezeichnet waren, mit reicherem Grundbesitz
ausgestattet und mit der Zeit den ritterlichen Vasallen an die
Seite gestellt wurden.
Ein anderer und zahlreicher Theil liesz sich in den
Städten nieder und gelangte hier, indem er städtische Ge-
werbe trieb und auf diese Weise auch zu Vermögen kam, zu-
gleich zu persönlicher und bürgerlicher Freiheit. Den italieni-
schen Städten gebührt der Ruhm, zuerst im Groszen die volle
[187]Fünfzehntes Capitel. 4. Der Bauernstand.
Befreiung der Hörigen ihres Gebiets durchgeführt zu haben.
Die Stadt Bologna, die allezeit für die Freiheit gekämpft hat,
faszte im Jahr 1256 auf Antrag ihres Podesta Accursius de
Sorrecina den hochherzigen Beschlusz, alle Hörigen ihres Ge-
biets freizukaufen und zu erklären, dasz es in Zukunft keine
Unfreiheit mehr geben dürfe. 1
Auch der Beruf der Handwerker, früherhin besonders
in dem germanischen Europa gering geschätzt und vorzugs-
weise den hörigen Leuten überlassen, wurde durch das ent-
wickeltere städtische Leben gehoben. Die Innungen, zuerst
wohl in Italien, wo auch sonst ein freies Bürgerthum zu
früher Blüthe gekommen, als scholae eingeführt, dann in
Frankreich unter Einwirkung der germanischen Neigung zu
corporativer Gestaltung in Form von ministeria (mestiers) und
Gheuden nachgebildet, zuletzt auch nach Deutschland ver-
pflanzt, stärkten das Recht der Corporationsgenossen und die
Ehre der Meister. Sorgfältigere Erziehung und stufenweise
Ausbildung der Handwerker, erhöhte Kunstfertigkeit, gröszerer
Vermögenserwerb, die neue Waffenfähigkeit im Dienste der
Stadt unter eigener Innungs- oder Zunftfahne, die dauernde
Verbindung mit den Interessen und dem Gedeihen der Stadt,
alles diesz weckte das Selbstgefühl und die natürlichen An-
sprüche der Handwerker; und wenn noch manche von höri-
gem Stamme waren, so erkauften sie nun die volle Befreiung
oder erlangten dieselbe durch massenhafte Erhebung. Das
eigentliche Bürgerrecht der Stadt konnte ihnen nicht ent-
zogen bleiben.
Mit gröszeren Schwierigkeiten war auf dem Lande der
Weg verlegt, auf welchem die hörigen Leute zur Freiheit
aufstiegen. In manchen Gegenden galt sogar der entgegen-
gesetzte Grundsatz: die Luft macht hörig. Aber wenn
auch die hörigen Bauern nur ausnahmsweise zu voller per-
[188]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
sönlicher und politischer Freiheit gelangten, so erreichten sie
doch, freilich langsamen Schrittes, in der Regel eine zwar
mit mancherlei Lasten beschwerte und politisch zurückgesetzte,
aber durch festen Rechtsschutz gesicherte und in ihrem In-
halt immerhin erweiterte persönliche Freiheit. Mit den ur-
sprünglich freien Bauern wurden sie zu einem gleichberech-
tigten Berufsstande.
Im Einzelnen sind die Verhältnisse äuszerst mannichfaltig,
und auch die Uebergangsstufen aus der Eigenschaft zur Frei-
heit zahlreich. Wie die Aufhebung der Sclaverei zu groszem
Theile den Einwirkungen der Kirche zu verdanken ist, so ist
auch die Erhebung der hörigen Leute von jeher voraus durch
die Kirche begünstigt worden. In der That, wo Kirchen und
Klöster Grundherrlichkeit besaszen, gingen sie meistens voran
in Ertheilung bestimmter Rechte und Gewährung wichtiger
Freiheiten für ihre Hörigen, und zuerst wurden die Gottes-
hausleute den freien Bauern angenähert. Dann folgten auch
die Könige dem Beispiele. Schon die Karolinger handelten
in dieser Richtung zu Gunsten der Fiscalinen, und Ludwig
der Heilige 2 erklärte, als er den Serfs auf den königlichen
Domänen die Freiheit schenkte (1315), seinen Beruf als König
des „Frankenreiches“ zu erfüllen.
Der nämliche Geist des Mittelalters, welcher die Hoheits-
rechte zu Gunsten der groszen Barone als erbliche Lehen an
[189]Fünfzehntes Capitel. 4. Der Bauernstand.
den Boden knüpfte, und welcher den Vasallen ihren Lehens-
herren gegenüber gesicherte und dauerhafte Rechte an den
Beneficien verlieh, stärkte und befestigte auch die Rechte der
hofhörigen Bauern an den verliehenen Gütern, und bildete
das hofrechtliche Erbe und eine eigenthümliche patrimoniale
Gerichtsverfassung aus, an welcher auch die Bauern unter
Leitung ihrer Maires oder Meyer (villici majores) Theil
hatten. Gedrückter war wohl die Lage der französischen Serfs
und Vilains, als die der deutschen Hofleute und Grund-
holden, wie schon die Sprache den Gegensatz andeutet, aber
immerhin ähnlich, und später als in Frankreich ging in
Deutschland die Entwicklung zu höherer Freiheit vor sich.
Doch standen auch in Frankreich die Coutumiers und
Roturiers, unter denen die Ostes (Hospites) als höhere
Classen berechtigter Bauern den Gemeinfreien ganz nahe.
In England dagegen erlangten die hörigen Leute nach der
groszen Pest 1348-49 wohl persönliche Freiheit, aber
ohne Grundbesitz. So wurde nicht ein Stand freier Bauern,
sondern freier Arbeiter geschaffen. 3
Diese bäuerliche Halbfreiheit bezog sich übrigens ge-
meiniglich nur auf das Privatrecht und auf die Gemeinde-
und Gerichtsverfassung.
Mit den freien Bauern, die unter die erbliche Vogtei-
herrschaft gerathen waren, und deren Güter nun auch man-
cherlei ewige Lasten zu Gunsten der „Herrn“ zu tragen hatten,
schmolzen sie zu dem Einen sogenannten Bauernstande
zusammen.
Zu einem politischen Stand im vollen Sinn wurde
der Bauernstand nur ausnahmsweise in wenig Ländern, nur
da, wo er, wie in dem skandinavischen Norden die alte Ge-
meinfreiheit und die alte Verfassung glücklich behauptet hatte,
oder im Tyrol von den Landesfürsten zu den Landtagen zu-
[190]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
gezogen ward, oder wo er, wie in der Schweiz, freie Bauern-
republiken gründete. In den meisten Ländern ward er nur
als ein unterthäniger Stand behandelt, dem keine poli-
tische und insbesondere keine repräsentative Rechte gebühren,
der aber von der Natur bestimmt sei, vornehmlich die öffent-
lichen Lasten zu tragen. Er war wesentlich ein wirthschaft-
licher, nicht wie die Bürgerschaft der Städte ein Culturstand.
Vergeblich machten die deutschen Bauern in dem groszen
Bauernkrieg des XVI. Jahrhunderts eine gewaltsame Anstren-
gung, die Herrschaft zu brechen, die schwer auf ihnen
drückte. Wenn man heute die bekannten XII Artikel liest,
welche die Bauern damals verlangten, und sich erinnert, dasz
dieses Verlangen die heftigste Entrüstung der damaligen Ge-
bildeten so gut wie der herrschenden Aristokratie über die
unerhörte Anmaszung der Bauern zur Folge hatte, so bemerkt
man nicht ohne Befriedigung den mächtigen Fortschritt der
Zeiten, indem die Bauern in unserm Jahrhundert überall
mehr ohne Streit als Menschen- und Bürgerrechte erhalten
haben, als sie damals zu fordern gewagt hatten.
Nur allmählich fing man an, sich an den Gedanken zu
gewöhnen, dasz die Bauern doch nicht eine blosz unterwür-
fige Menschenmasse bilden, aus der man nach Willkür Sol-
daten rekrutiren und der man beliebig Steuern abverlangen
dürfe. Die englische [Verfassung], welche den Yeomen (den
probi et legales homines), wenn sie ein gewisses nicht hohes
Masz von Einkünften von ihren Gütern zogen, das Recht gab,
an den Grafschaftswahlen für das Unterhaus Theil zu neh-
men, zeichnete sich in der Beachtung solcher Volksfreiheit
wiederum aus.
Erst die neue Zeit aber machte die Segnung der vollen
persönlichen Freiheit und damit zugleich der Fähigkeit zu
den politischen Rechten allgemein für alle Classen der Be-
völkerung. Die Philosophie des XVIII. Jahrhunderts hat zu
diesem groszen Fortschritte den geistigen Anstosz gegeben,
[191]Sechszehntes Capitel. 5. Die Sclaverei und ihre Aufhebung.
indem sie den Gedanken der natürlichen Menschenrechte zu
Ehren gebracht hat.
In Deutschland ging König Friedrich I. von Preuszen
voran, indem er auf den königlichen Domänen die Eigenschaft
aufhob 1702; Friedrich II. begünstigte und erweiterte die
Befreiung auch der übrigen Eigenen durch seine Gesetze,
und Kaiser Joseph II. folgte dem Beispiel für Deutschöster-
reich 1782, ebenso Karl Friedrich von Baden 1783. Die
meisten andern deutschen Staten blieben indessen noch zu-
rück. Erst die enthusiastische Erklärung vom 4. August 1789
und die Verkündung der Menschenrechte durch die franzö-
sische Nationalversammlung wirkten entscheidend auf das
civilisirte Europa. Die Befreiung auch der hörigen und
eigenen Classen wurde nun als eine allgemeine Pflicht und
als eine unwiderstehliche Forderung der neuen Zeit anerkannt,
und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in dem abend-
ländischen Europa, in der zweiten Hälfte nun auch in Ost-
europa vollzogen. Gleichzeitig oder bald nachher wurde denn
auch das Statsbürgererrecht auf die Bauern wie auf die
Städtebürger ausgebreitet.
Sechszehntes Capitel.
5. Die Sclaverei und ihre Aufhebung.
Der Sclave kommt ursprünglich als ein Fremder in die
Familie und in das Volk hinein, deren Gewalt er unterwor-
fen wird. So verbreitet das Institut der Sclaverei im Alter-
thum war, so weisz ich doch von keinem Volke, welches die-
selbe als einen nationalen Stand betrachtet hätte. Schon
das ist uns ein Zeugnisz, dasz die Sclaverei nicht ein Be-
dürfniss der menschlichen Natur sei.
[192]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Aristoteles (Polit. I. 2.) hat zwar mit vielem Aufwand
von Scharfsinn zu beweisen gesucht, dasz die einen von Natur
Herren und die andern von Natur Sclaven seien. Aber so-
weit seine Beweisführung Wahrheit enthält, ist sie blosz ge-
eignet, die Nothwendigkeit dienender Classen der Be-
völkerung zu begründen, nicht aber das Bedürfnisz der recht-
losen Sclaverei. Allerdings bedarf der höher begabte Mensch,
soll er seine Bestimmung erfüllen können, auch beseelte
Werkzeuge, wie Aristoteles sie nennt, zu seinem Dienste,
und allerdings gibt es Menschen, welche von der Natur selbst
vorzugsweise auf körperliche Thätigkeit angewiesen sind und
ebenso sehr der Leitung und des Befehles eines Herrn be-
dürfen, um ihren Beruf richtig auszuüben, als dieser ihrer
Dienstleistung. Aber daraus folgt doch nur, dasz Herrschaft
und Dienstboten, Meister und Gesellen, Bauer und Knechte,
Fabrikherr und Fabrikarbeiter einander gegenseitig bedürfen,
keineswegs aber, dasz das Unterordnungsverhältnisz des die-
nenden Theiles zum herrschenden dem der Hausthiere zum
Eigenthümer gleich zu achten sei; es folgt nicht daraus, dasz
die Arbeiter alle individuelle Freiheit und die menschliche
Persönlichkeit aufgeben und zu bloszen Sachen und
Werkzeugen eines bestimmten Herrn, d. h. eben zu Scla-
ven werden müssen. Der Mensch ist von Natur Person, da-
her kann er nicht Sache, d. h. nicht Sclave sein.
Die römischen Juristen, welche in ihrer Rechtstheorie
den absoluten Eigenthumsbegriff mit einer auch im Alterthum
auffallenden Härte auf die Sclaven anwendeten, und die-
selben durchweg als rechtlose Wesen, als blosze Sachen dar-
stellten, waren sich doch bewuszt, dasz die Sclaverei wider
die Natur und nur durch den gemeinen Gebrauch der Völ-
ker eingeführt worden sei. 1 Sie erklärten daher die Frei-
[193]Sechszehntes Capitel. 5. Die Sclaverei und ihre Aufhebung.
lassung als Wiederherstellung des natürlichen Rechtes. 2
Die römische Jurisprudenz wuszte das, und hielt dennoch mit
starrer Consequenz über ein Jahrtausend an dem gewaltsam
eingeführten Eigenthum über die Sclaven fest. Die kaiser-
lichen Verordnungen, dasz es den Herren nicht mehr gestattet
sei, ohne Masz und ohne Grund wider ihre Sclaven zu
wüthen, 3 schützten vor den Excessen roher Grausamkeit,
etwa so wie neuere Gesetze gegen die Thierquälerei gegeben
sind, sie änderten aber nichts an dem Grundbegriffe; und
nach wie vor war der Sclave nicht nur eigenthumslos, sondern
es waren ihm selbst die Rechte der Ehe und der Blutsver-
wandtschaft versagt.
Ebenso war es dem deutschen Rechtsbewusztsein klar,
dasz, wie der Verfasser des Sachsenspiegels 4 sich energisch
ausdrückt, alle Eigenschaft von Zwang, Gefangennehmung
und unrechtmäsziger Gewalt ihren Anfang genommen, und
dasz man später das für Recht ausgegeben habe, was nur
eine alte aber ungerechte Gewohnheit sei. Auch erkannten die
germanischen Völker von jeher eine relative Berech-
tigung der Eigenen 5 an. Die Vermögens- und Familien-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 13
[194]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
rechte derselben waren zwar unvollkommen und hatten in der
ältern Zeit einen sehr ungenügenden Schutz, es kam anfangs
wesentlich nur auf den guten Willen des Herrn an, ob er
dieselben achte oder nicht; aber der Keim der spätern all-
mählichen und stufenweise eintretenden Befreiung der Eigenen
war in den germanischen Rechten nicht ebenso zerstört, wie
in dem römischen. Die Persönlichkeit des deutschen Sclaven
war nie ganz verloren gegangen, und deszhalb war auch die
Perfectibilität seiner Zustände nicht ausgeschlossen.
Die Aufhebung der Sclaverei in dem abendländischen
Europa ist schon während des Mittelalters dadurch groszen-
theils vollzogen worden, dasz dieselbe in die mildere Form
der Hörigkeit überging. Ihre letzten Reste aber sind mit
der endlichen Beseitigung auch der Hörigkeit erst gegen Ende
des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts
weggeräumt worden. 6
Diese frühere allmähliche und die neue durchgreifende
Befreiung darf zum Theil als eine heranreifende Frucht des
Christenthums erklärt werden, dessen religiöse Ideen das posi-
tive Sclavenrecht zwar nicht gewaltsam durchbrachen, aber
geistig auflösten. Mit dem Glauben, dasz die Menschen alle
Kinder Gottes und unter sich Brüder seien, war das Eigen-
thum eines Menschen über einen andern nicht verträglich.
Mehr aber noch ist sie dem germanischen Rechts- und Frei-
heitsgefühl und dem fortschreitenden Geiste der Humanität
zu verdanken.
Eine eigenthümliche Geschichte hatte die russische
Leibeigenschaft. Es gab in Ruszland von Alters her eine per-
sönliche Knechtschaft, aber noch im XVI. Jahrhunderte war
die Masse der Bauern frei. In den weiten Räumen bedurften
die Grundherrn zahlreicher Arbeiter, und da die Bauern noch
den freien Zug hatten und der alte nomadische Wandertrieb
[195]Sechszehntes Capitel. 5. Die Sclaverei und ihre Aufhebung.
zu stätem Wechsel der Wohnsitze anreizte, so lag es im
Interesse der Herrn, die Bauern durch mancherlei Vergünsti-
gung auf ihren Gütern festzuhalten. Die bäuerliche Eigen-
schàft entstand erst, seitdem der Stat aus Gründen der Finan-
zen und des Militärsystems die Bauern immer fester an die
Scholle band und der Willkür der Herrn überlieferte. Das
siebenzehnte Jahrhundert hat sich auch in andern europäi-
schen Ländern der bäuerlichen Freiheit ungünstig erwiesen,
aber wohl nirgends ungünstiger als in Ruszland. Knechte
und Bauern wurden zu gemeinsamer Eigenschaft verbunden.
Der Herr erhielt eine fast unbeschränkte Verfügung über ihre
Personen und ihre Habe. Aber auch in Ruszland brachte
die neue Zeit erst Erleichterung der Lasten, und in unsern
Tagen Befreiung für die Bauern. Das Emancipationswerk,
welches der Kaiser Alexander II. trotz des Sträubens vieler
Adeliger durchführte (Gesetz vom 19. Febr. 1861), hat auch
da eine neue Periode privatrechtlicher Freiheit eingeleitet. 7
So wurde Europa allmählich gereinigt von dem uralten
Fluch der Sclaverei. Aber in der neuen Welt hatte dieselbe
einen neuen Boden und eine in mancher Hinsicht noch schlim-
mere Anwendung gefunden. Wie furchtbar sich dieser Frevel
an dem Geiste der Humanität gerächt hat, das hat der nord-
amerikanische Bürgerkrieg gezeigt (1861-1865).
Die Negersclaverei ist zwar insofern weniger verwerflich,
als die antike Sclaverei der europäischen Völker, als dort die
Herrschaft der weiszen Herrn nicht über ihres gleichen, wie
hier, sondern über eine von Natur untergeordnete schwarze
Rasse geübt wird. Aber diese Anlehnung an die natürliche
Ordnung begünstigt auch die leidenschaftliche und hoch-
müthige Ueberhebung der Weiszen, die weniger geneigt sind
und weniger genöthigt werden, in den Schwarzen die gemein-
same menschliche Natur zu ehren und die Grausamkeit der
[196]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Miszhandlung wird heftiger und häufiger, als sie im Alter-
thum gewesen war. Die bittere Ironie, mit welcher Montes-
quieu (Esprit des Lois XV. 5.) die übermüthige Verachtung
der Schwarzen von Seite ihrer weiszen Herrn geiszelt, wenn
er sagt: „Man kann sich nicht vorstellen, dasz Gott, der doch
ein höchst weises Wesen ist, eine Seele und vorzüglich eine
gute Seele in einen ganz schwarzen Körper versetzt habe“ —
diese Ironie schlägt nicht in den Wind.
Die amerikanische Sclaverei war daher auch viel härter
als je die europäische Eigenschaft gewesen war. Die Schonung
und Sorge, welche den farbigen Sclaven von ihren Herren that-
sächlich zu Theil ward, hatte keinen andern Charakter als
die wirthschaftliche Schonung und Pflege, welche der Bauer
seinem Ackervieh zuwendet. Die moralische und rechtliche
Erniedrigung, die sich in der Bestreitung jeder Menschenwürde,
in der Miszachtung der Ehe und der Familie, in dem Mangel
der religiösen und sittlichen Erziehung, in der Verweigerung
jedes Rechtsschutzes überhaupt, und in dem ungehemmten
Handel mit Sclaven und nicht selten in empörender Grausam-
keit zeigte, drückte dieselben ganz auf die Stufe der Haus-
thiere herab und verletzte so die göttliche und menschliche
Ordnung aufs tiefste.
Es war ein Unglück für Amerika, dasz der Antrag Jeffer-
sons, der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, welche
auch die Freiheit als ein unveräuszerliches Menschenrecht
verkündigt, die Beschwerde über die Zulassung und Begün-
stigung der Negersclaverei von Seite der königlichen Regie-
rung beizufügen, in der Minderheit geblieben war. Die an-
fängliche Absicht, allmählich und stufenweise die Sclaverei
zu beseitigen, fand eine weniger nachhaltige Unterstützung als
das Streben der Sclavenhalter, ihren Besitz zu schützen und
zu erweitern. Kaum konnte das Gleichgewicht der sclaven-
freien Staten mit den sclavenhaltenden in der Bundesregierung
behauptet werden. Seit einem Jahrhundert war die Masse der
[197]Sechszehntes Capitel. 5. Die Sclaverei und ihre Aufhebung.
Sclavenbevölkerung von einigen Hunderttausenden zu meh-
reren Millionen angewachsen. Die rasch entwickelte Cultur
der Baumwolle und des Zuckerrohrs wirkte nach dieser Seite
hin sehr verderblich.
Inzwischen fing man an, die Aufhebung der Sclaverei
von Europa auch nach Amerika überzupflanzen. England
ging hier und mit groszen Mitteln voran. Mögen dabei auch
unreine Motive, wie es in menschlichen Dingen nie anders ist,
mitlaufen, das Ziel dieses Strebens ist dennoch ein heiliges
und gerechtes und der Mann, der zuerst der Sclavenbefreiung
sein Leben widmete und mit erfolgreicher Energie in und auszer
dem Parlament diese Sache betrieb, William Wilberforce,
war auch von der Reinheit dieses Zieles erfüllt. Die Auf-
hebung der Sclaverei in den englischen Colonien, die Ent-
schädigung der sogenannten Eigenthümer, und die völkerrecht-
lichen Verträge zur Unterdrückung des Seehandels mit Neger-
sclaven sind doch trotz aller Miszgriffe im Einzelnen grosze
Verdienste um die Menschheit.
Der Sieg der Union über die sclavenhaltenden Staten des
Südbundes hat die Abschaffung der Negersclaverei zunächst für
Nordamerika entschieden. Die Union duldet keine Sclaverei
mehr in dem Bereich ihrer Statsmacht. (Verfassungsgesetz vom
1. Febr. 1865, proclamirt 18. Dec. 1865.) Damit ist die Frage
mittelbar für ganz Amerika entschieden. Es können sich die
Staten in Südamerika nicht lange mehr der Anerkennung des-
selben Princips entziehen. In Brasilien ist ebenso durch
Gesetz vom 28. Sept. 1871 die Sclaverei aufgehoben worden.
Freilich ist damit die schwierige Frage der politischen
Stellung und Rechte der Neger noch nicht erledigt. Es ist
nur die privatrechtliche Freiheit und Berechtigung auch der
dunkelfarbigen Rasse anerkannt. Ob die Neigung, den Negern
auch die vollen politischen Rechte einzuräumen, die gegen-
wärtig im Norden Amerikas vorherrscht, nachhaltig sei, ist
zweifelhaft. Politisches Recht setzt politische Fähigkeit voraus.
[198]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Dasz aber die repräsentative Demokratie, die bisher nur den
politisch gebildetsten Nationen geglückt ist, die naturgemäsze
Statsform sei für die Neger, wo sie massenhaft beisammen
sind, und dasz diese fähig seien, die demokratische Verfassung,
welche eine seltene männliche Selbstbeherrschung und Selbst-
thätigkeit erfordert, würdig zu erfüllen und tapfer zu ver-
theidigen, das wird kaum ein Kenner der menschlichen Natur
und der Statengeschichte zu behaupten wagen.
Immerhin lassen sich folgende allgemeine Sätze als aner-
kannte Folgerung des humanen Statsprincips aussprechen:
1) Der Stat ist berechtigt und verpflichtet, wo sich auf
seinem Gebiete noch Ueberreste von persönlicher Sclaverei
vorfinden, dieselben zu beseitigen. Indem er das thut, hebt
er nur altes Unrecht auf.
2) Der Stat darf keine neue Begründung der Sclaverei
dulden, auch dann nicht, wenn einer sich freiwillig zum Sclaven
ergeben möchte.
3) Der Stat verweigert mit Recht dem fremden Herrn
seinen Rechtsschutz, wenn dieser innerhalb des Statsgebietes
Eigenthum an seinen Sclaven verfolgen will. 8
4) Die Sclaven, welche den Boden freier Länder betreten,
werden ispo facto frei, und können den Schutz der Gerichte
für ihre Freiheit anrufen.
[199]Siebenzehntes Capitel. 6. Die modernen Classen. I. Das Princip.
Siebenzehntes Capitel.
6. Die modernen Classen.
I. Das Princip.
Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung
begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm,
weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm,
hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf-
gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne
Verfassung bringt die höheren geistlichen Würdeträger, die
Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der
höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In-
stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer-
rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere
Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be-
trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber
auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern
ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben
in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung, als
die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und
die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest-
haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und
den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In-
dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das
blosze Bauernwesen durchbrochen.
Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen
Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen,
völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden
misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen
sich dem Ständestat des Mittelalters entwachsen und
sie wollen keine — auch nicht eine revidirte und reformirte —
Wiederherstellung desselben.
[200]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Dennoch begreift man, dasz die blosze Fusion aller
Stände ebenso wenig ausreicht, und dasz die unläugbar
vorhandenen massenhaften Gegensätze in der Bevölkerung
auch eine politische Bedeutung haben. Will man dieselben
verfassungsmäszig ordnen, so bleibt daher kein andrer Weg
mehr übrig, als die Eintheilung nach Classen, statt nach
Ständen. Was wir in der neuen Sprache noch Stände heiszen,
das sind oft nicht wirkliche Stände, sondern Classen.
Die Classen unterscheiden sich von den Ständen dadurch,
dasz jene vom State aus und für den Stat geordnet sind,
während die Grundlage dieser zunächst auszerhalb des States
ruht. Die Classen setzen die Einheit des Volkes voraus, die
Stände ignoriren die Volkseinheit. Die Classen sind eine
nationale und statsrechtliche Institution zu politischen
Zwecken, die Stände sind voraus eine particuläre und privat-
rechtliche Gruppirung, deren Zwecke nicht ausschlieszlich und
nicht vorzüglich eine politische Bedeutung haben. Der Klerus
lebt voraus der Kirche, nicht dem Stat; der Adel denkt vor-
erst an sich und seine besondern socialen Interessen, der
Bürger lebt dem Gewerbe, der Bauer der Landwirthschaft.
Der Stat kommt nur mittelbar in Betracht. In den Ständen
zeigt sich die natürliche Verbindung gleichartiger Cultur und
Wirthschaft, und deszhalb sondern sich die einen Berufskreise
von den andern. Die Rücksichten auf den Stat üben darauf
keinen Einflusz. Die Classen dagegen sind ein rationelles
Product der organisatorischen Statsweisheit. Die Stände sind
naturwüchsig, die Classen eine Culturerscheinung. Daher
finden wir das Classensystem nur bei civilisirten Völkern mit
einem ausgebildeten statlichen Bewustsein. So bei den Hellenen,
wie besonders zu Athen nach der Solonischen Verfassung, in
Rom nach der Servianischen Verfassung, der wir den Ausdruck
Classen entlehnen, so auch in unsern modernen Staten Europas.
Nichts hindert, bei der Classeneintheilung auch die vor-
handenen Stände zu berücksichtigen, aber es ist weder nöthig
[201]Siebenzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. I. Das Princip.
noch wünschenswerth, dasz Classen und Stände zusammen treffen.
Wenn sie zusammen fallen, so ist die ständische Ordnung zur
Statsordnung erhoben, wie wir das zum Theil im Mittelalter
finden. Damit ist aber auch die ständische Gebundenheit und die
Spaltung des Stats unvermeidlich mitbegründet. Die ständischen
Interessen und die ständischen Vorurtheile bekommen, weil sie
zugleich politische Macht erhalten, allzu leicht das Ueber-
gewicht über die allgemeinen Volksinteressen und die bessere
Volkseinsicht. Wenn dagegen einzelne Classen die Stände
durchschneiden und Bruchtheile aus verschiedenen Ständen
zusammen fassen, so ist das eine schätzbare Garantie der
nationalen Gemeinschaft und des höheren politischen Lebens,
welches eine vielseitigere Anregung empfängt.
Sehr oft sind die Classen je nach der Grösze des Ver-
mögens unterschieden worden. Es ist das die Censusver-
fassung. Dadurch wird aber das Vermögen zu der wichtig-
sten politischen Potenz erklärt und der Werth der Bürger für
den Stat nach der Zahl der Geldstücke abgestuft, über welche
sie verfügen, was doch selten der Wahrheit entspricht. Auch
dieses Eintheilungsprincip ist doch wieder in erster Linie
wirthschaftlich und privatrechtlich, und nur in zweiter Linie
mittelbar statsrechtlich und politisch. Daher ist eine orga-
nische Eintheilung, welche vorzugsweise die Fähigkeit
und Tauglichkeit für den Stat, soweit dieselbe überhaupt in
verschiedenen Abstufungen sichtbar wird, beachtet, jenem blos
mathematischen Princip vorzuziehen. Das aber richtig zu er-
kennen und zu bestimmen, ist eine schwere Aufgabe für den
Statsmann.
Im Groszen lassen sich für den modernen Stat haupt-
sächlich folgende vier Classen des Volks unterscheiden:
1) Die regierende Classe: Fürsten und Beamte, mit
obrigkeitlicher Gewalt. Ihre Stellung überragt alle anderen
Classen durch die Statsmacht, die in ihren Händen ist. Sie
stehen an der Spitze des Stats.
[202]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
2) Die aristokratische Classe, die als solche nicht
mehr regiert, aber zwischen der regierenden Classe und den
Volksclassen eine selbständige und ausgezeichnete
politische Stellung einnimmt.
3) Der sogenannte dritte Stand, d. h. die Classe des ge-
bildeten und freien Statsbürgerthums, ohne Rücksicht auf
Stadt und Land: die eigentlichen Mittelclassen.
4) Die groszen Volksclassen, die auch unter dem
Namen des vierten Standes zusammengefaszt werden, sowohl
die Kleinbürger in den Städten als die Bauern begreifend
und die übrigen Massen der Arbeiter, soweit sie nicht schon
in den andern Schichten eingereiht sind, in weiteren Kreisen
umfassend.
Die erste Classe ist die Krone, die letzte ist die Wurzel
und der Stamm des States. Die Volksclassen sind die Basis,
die regierende Classe ist das Haupt des Stats. Auf dem ge-
sunden Rapport dieser beiden Classen beruht vornehmlich die
Energie [und] die solide Kraft des Volksstats. Die beiden
mittleren Classen ergänzen, controliren und beschränken die
Thätigkeit der ersten Classe bald mehr in aristokratischer,
bald mehr in repräsentativ-demokratischer Weise, und sie sind
durch ihre höhere Bildung und ihre günstigere sociale Lebens-
stellung auch vorzüglich befähigt, und durch ihr gehobenes
Rechtsbewusztsein und Freiheitsgefühl veranlaszt, darüber zu
wachen, dasz die Bedingungen der allgemeinen Volkswohlfahrt
und die Interessen der ganzen Nation wohl gewahrt und be-
achtet werden. Sie sind die natürlichen Patrone, Führer und
Vertreter der letzten und gröszten Classe.
[203]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen.
Achtzehntes Capitel.
II. Die einzelnen Classen.
1. Die heutige regierende Classe steht in ihren Häup-
tern, den Fürsten, noch in geschichtlichem Zusammenhange
mit der früheren Institution des hohen Adels, über den
sie sich zu einer statsrechtlich souveränen Stellung erhoben
hat. Ihre untergeordneten Glieder, die Beamten und Offi-
ciere, in der Republik auch die obersten Beamten, stammen
grösztentheils aus den beiden Mittelclassen ab, und bleiben
gesellschaftlich mit denselben verbunden; oder wenn ihre
Eltern den groszen, unteren Volksclassen angehören, so sind
sie doch durch ihre höhere Bildung und ihr Berufsleben auf
die gesellschaftliche Höhe jener mittleren Classen der Aristo-
kratie oder des höheren Bürgerthums aufgestiegen und blei-
ben mit denselben verbunden, wenn sie ihr Amt aufgeben
oder verlieren. Durch ihre Autorität und ihre Amtsgewalt
überragen sie dieselben noch. Die untersten Stufen der nie-
deren Aemter und Stellen verzweigen sich auch in die wei-
tere vierte Classe hinein, der weniger gebildeten Massen.
2. Die heutige Aristokratie ist nicht mehr wie die
mittelalterliche ein fester, abgeschlossener Stand, mit beson-
deren Rechten. Sie wird mit den übrigen Classen durch das
gemeinsame Statsbürgerrecht und durch die wesentliche
Rechtsgleichheit sowohl des öffentlichen als des Privat-
rechts in eine rechtliche Gemeinschaft und Genossenschaft
verbunden. Von Zeit zu Zeit steigen aus den übrigen Classen
einzelne ausgezeichnete Männer mit ihren Familien auf ihre
gesellschaftliche Höhe empor und werden nach und nach als
neue Glieder der bestehenden Aristokratie anerkannt. Oefter
noch verlieren andere bisherige Mitglieder derselben oder
deren Abkömmlinge die Bedingungen einer aristokratischen
Auszeichnung und werden genöthigt, von der sonnigen Höhe
[204]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
der aristokratischen Gesellschaft auszuscheiden und den übri-
gen Classen und Schichten der Gesellschaft beizutreten. Ohne
Vermögen, ohne liberalen Lebensberuf, ohne feinere Bildung,
ist das aristokratische Ansehen und die Eigenschaft der Ari-
stokratie weder zu erwerben noch zu behaupten. Um desz-
willen ist der Begriff der ganzen Classe ein flüssiger, kein
fester. Sie ist einer beständigen Aenderung durch neue Zu-
flüsse und Abflüsse ausgesetzt. Gerade deszhalb ist sie zu-
nächst mit der verwandten dritten Classe, dem höhergebil-
deten Bürgerthum, durch zahlreiche Uebergänge eng verbun-
den. Aus demselben Grunde darf auch die Ehegenossenschaft
derselben mit den übrigen Classen nicht verhindert oder zer-
rissen werden.
Zuerst ist die Umbildung des mittelalterlichen Adels in
die moderne Aristokratie in England, unter einer aristokra-
tisch gesinnten Nation langsam vollzogen worden. Auf dem
europäischen Continent dagegen ist die mittelalterliche Insti-
tution des Adels eine Ruine, deren Trümmer gelegentlich
die Bahnen des öffentlichen Lebens hemmen und stören und
die neue Aristokratie ist noch in ganz unklaren Verhält-
nissen und in einem vielfältig bestrittenen Dasein. In der
[Gesellschaft] und sogar thatsächlich in den Sitten der Höfe
und in den Ernennungen zu den höheren Aemtern und Stellen
sind allenthalben die Wirkungen der Aristokratie wahrnehm-
bar, aber in dem Rechts- und Statsbewusztsein der euro-
päischen Nationen hat sie noch keinen anerkannten Platz.
Es ist eine Aufgabe für das deutsche Reich, diesen
Mangel durch eine zeitgemäsze Reform zu corrigiren. Grund-
sätzlich ist übrigens an dem Ergebnisz der Weltgeschichte
festzuhalten. Die Aristokratie darf weder ein abgeschlossener
Stand sein, noch gebührt ihr die Herrschaft im State. Es
kommt ihr nur eine die Gewalt der Obrigkeit ermäszigende
und die Leidenschaften der Masse beschränkende, die öffent-
lichen Zustände veredelnde Mittelstellung im State zu.
[205]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen.
3. Gebildetes Bürgerthum. (Sogenannter dritter
Stand.)
Die Geschichte der französischen Revolution wirft auf
die Natur dieser Classe ein helles Licht. In Frankreich war
der Ausdruck dritter Stand der ständischen Verfassung des
Mittelalters entlehnt, und bezeichnete den in die General-
stände berufenen Bürgerstand, welcher hinter den aristokra-
tischen Ständen des Klerus und Adels eine bescheidene, fast
demüthige Stellung bekommen hatte.
Der Abt Sieyes, dessen berühmte Schrift über den
dritten Stand zu einer Leuchte und zu einer Brandfackel für
die erste französische Revolution geworden ist, hat bekanntlich
die beiden Fragen aufgeworfen: Was ist der dritte Stand?
und: Was ist der dritte Stand bisher in dem politischen
Organismus gewesen? und die erste mit: Alles, die letzte
mit: Nichts beantwortet. Die Antwort auf die erste Frage
— so outrirt als die auf die zweite — hebt, indem sie die
Ansprüche des dritten Standes steigert, den Begriff des drit-
ten Standes auf. Wenn der dritte Stand wirklich im State
Alles ist, so kann es auszer ihm weder einen ersten und
zweiten, noch einen vierten Stand geben. Er ist dann sel-
ber kein Stand und keine besondere Classe mehr, er ist das
gesammte Volk.
In der ersten französischen Revolution verlangte denn
auch der dritte Stand wirklich, dasz die beiden ersten Stände
Frankreichs, Geistlichkeit und Adel, sich mit ihm in Einer
Nationalversammlung vereinigen. 1 Als das
durchgesetzt war,
löste er jene Stände in sich auf, und schlug als das Eine und
gleiche ständelose Volk die ganze bisherige Statsordnung
in Stücke. Aber damals schon reagirten trotz der gleich-
[206]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
machenden Theorie die natürlichen Gegensätze in dem Volke.
Der Geistlichkeit und dem Adel half es nicht, dasz die Theorie
sie in den dritten Stand aufgenommen hatte. Sie wurden
dennoch in ihrer Eigenschaft als Geistlichkeit und Adel, als
Pfaffen und „Aristokraten“ zu zwei mit blutiger Gewalt ver-
folgten Ständen, sie wurden die Schlachtopfer der Revolution.
In der chaotischen Masse aber, welche die Herrschaft übte,
gährten bisher unbeachtete ständische Gegensätze. Da schon
gab der vierte Stand in den wichtigsten Krisen den Aus-
schlag, und unter der rothen Herrschaft des Conventes, welcher
vornehmlich aus den Führern des fieberisch erhitzten vierten
Standes gebildet war, erbleichte in der Gironde der bürger-
liche Glanz des dritten Standes.
Eben indem die französische Revolution die Wahrheit
der obigen Sätze von Sieyes an den Tag legen wollte, stellte
sich das Ungenügende und Falsche derselben heraus. 2 Der
dritte Stand der Gebildeten hatte sich als Stellvertreter des
Volkes benommen, und sich selbst mit dem Volke identificirt.
Nun muszte er erfahren, dasz es auszer ihm noch grosze
Volksmassen gebe, die sich mit der allgemeinen Fusion unter
seiner Leitung nicht befriedigt fühlten.
Nochmals ist der Gegensatz zwischen dem gebildeten
Bürgerthum, dem sogenannten dritten Stande und den un-
teren Volksmassen in der französischen Revolution von 1848
und in der Napoleonischen Restauration von 1850 sehr
schroff hervorgetreten und er hat neuerdings wieder in dem
Toben der Commune von 1871 ein schreckliches Antlitz ge-
zeigt. Napoleon III. hatte gestützt auf den Beifall des vier-
ten Standes den dritten Stand, der in der Nationalversamm-
[207]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen.
lung die grosze Majorität besasz, gewaltsam zu Boden ge-
worfen, wurde dann aber selber nach seiner Niederlage von
Sedan von den aufgeregten Massen des dritten und des vier-
ten Standes (4. Sept. 1870) des Thrones verlustig erklärt;
aber bald darauf entrisz in Paris wieder der vierte Stand
dem dritten die Herrschaft und gründete die wilde Commune.
Derselbe Gegensatz hatte sich innerhalb der deutschen
Nation schon zur Zeit des deutschen Bauernkrieges deutlich
gezeigt. Aber es ist ein Glück für Deutschland, dasz er in
der neueren Entwicklung der Nation nicht so schroff und
nicht so feindlich wirkt, wie in der Hauptstadt von Frank-
reich. Unverkennbar wirkt er aber auch hier von der Tiefe
aus und zeigt sowohl in der Landbevölkerung, als in der
städtischen Bevölkerung seine Macht, dort vorzüglich in den
Fragen von religiöser Bedeutung und in den Beziehungen der
ungebildeten Massen zu den kirchlichen Autoritäten, hier
mehr auf dem wirthschaftlichen und socialen Gebiete.
Der Ausdruck dritter Stand paszt nicht mehr zur Be-
zeichnung dieser Classe; wenn gleich sie geschichtlich mit
dem mittelalterlichen dritten Stande zusammenhängt. Sie
bildet überhaupt nicht mehr einen festen, in sich abgeschlos-
senen Stand mit besonderem Recht. Auch sie ist flüssig und
fortwährend treten ihr neue Mitglieder bei und scheiden alte
Mitglieder aus.
Immerhin aber unterscheiden sich in ganz wesentlichen
Beziehungen, die ihre Wirkung äuszern auf die Verfassung
des Stats und mehr noch auf die Politik und die Verwaltung
des Stats, die Classen der höhergebildeten Bürger, oder
wie wir schlechtweg sagen, der Gebildeten sowohl von der
Aristokratie, als von den groszen Volksclassen. Der
Unterschied von der Aristokratie liegt darin, dasz ihre Mit-
glieder keine ausgezeichnete Machtstellung ansprechen noch
behaupten und daher auch keine besonderen Vorzüge, sei es
des Titels oder Ranges, sei es der Repräsentation in Ober-
[208]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
häusern und Ersten Kammern verlangen, sondern dasz ihre
Bildung einen bürgerlichen Charakter hat, und ihre gesell-
schaftliche und politische Stellung auf der Grundlage der
Volksgemeinschaft und des gemeinsamen Rechts ruht, ihre
Repräsentation daher auch in der Volksvertretung ihren na-
türlichen Platz hat.
Von den übrigen, zahlreicheren Volksclassen hebt sie
sich ab durch die höhere wissenschaftliche oder künstlerische
oder doch durch die feinere gesellschaftliche Bildung, da-
durch dasz sie liberale Berufsarten betreibt, oder doch mehr
mit dem Kopf als mit den Armen und Händen arbeitet, mehr
den idealen Bestrebungen des Menschenlebens als den mate-
riellen Nöthen und Sorgen desselben zugewendet ist.
Sie ist auch ein Volksstand, aber ein emporragender
Volksstand und sie ist ein Mittelstand, ähnlich der Ari-
stokratie, aber näher der vierten Classe, aus der sie fort-
während starke Zuflüsse erhält. In England rechnen wir hie-
her den Begriff der Gentlemen, der freilich da enger und
vornehmer ist, als das höhere Bürgerthum in Deutschland,
in Frankreich und in Italien.
Wir rechnen dahin folgende Classen der Bevölkerung:
1) Die Statsbeamten, welche keine obrigkeitliche
Macht üben, im Unterschiede zu den Beamten mit Stats-
gewalt, welche zu der ersten regierenden Classe gehören und
im Gegensatze zu den niederen Stufen der bloszen Kanzlisten
und Diener.
2) Die Geistlichen und die Lehrer in der Regel.
3) Die Doktoren, Notare, Advokaten, Aerzte,
Apotheker, Privatgelehrte, Schriftsteller.
4) Die Künstler, Ingenieure und höhern Tech-
niker.
5) Die Groszhändler und Fabrikanten.
6) Höhere (künstlerische) Handwerker.
7) Die Capitalisten (Rentiers).
[209]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen.
8) Die groszen Gutsbesitzer, die nicht zur Aristo-
kratie gehören.
Eine höhere Erziehung und Bildung — wenn auch nicht
nothwendig die Bildung, welche die Universität und polytech-
nischen Schulen verbreiten — ist für die Bestimmung dieser
Classe ein wesentliches Moment, und eine behaglichere Stel-
lung im Leben, welche auch für öffentliche Geschäfte Musze
gewährt, eine gewöhnliche Eigenschaft derselben. Die Wähl-
barkeit zu Statsämtern setzt regelmäszig Universitätsbildung
voraus, und die erhöhte Fähigkeit der Mitglieder dieser Classe,
an den Verhandlungen repräsentativer Körper Theil zu neh-
men, begründet meistens, wenn nicht durch besondere Ge-
setze Vorsorge getroffen wird, ein Uebergewicht derselben in
den Nationalversammlungen und gesetzgebenden Kammern.
In dem jetzigen Statsleben ist diese Classe meistens die
einfluszreichste und in dem gewöhnlichen Gang des öffent-
lichen Lebens geht sie voran. Die öffentliche Meinung ist
regelmäszig die Meinung dieser Classe. Sie läszt sich auch,
obwohl nun Bildung, Vermögen und Beruf entscheiden
und die Abstammung von Eltern desselben Standes nicht
mehr als nothwendiges Erfordernisz gilt, füglich mit dem
alten Stande der Vollfreien oder der mittelalterlichen Mit-
telfreien vergleichen. Wie dieser im alten State die Grund-
lage des politisch berechtigten Volkes gewesen war, so wer-
den die Gebildeten vorzüglich bei der heutigen Organisation
des Stats berücksichtigt und mehr noch bei der thatsäch-
lichen Besetzung der Aemter und der Stellen, denen die
öffentlichen Angelegenheiten anvertraut sind.
4. Die groszen Volksclassen, der sogenannte vierte
Stand und das Proletariat.
Wir fassen in der vierten Classe die ganze grosze Masse
des Volks zusammen, die nicht zu den drei oberen Classen
gehören, und die man zuweilen auch „das Volk“ im eng-
sten Sinne nennt.
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 14
[210]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Sie vereinigt die verschiedensten Berufsclassen, die in
den mannigfaltigsten Verhältnissen leben aber wieder durch
das gemeinsame Vaterland, die Nationalität und voraus durch
das Statsbürgerrecht mit einander verbunden werden. Es
gehören dazu folgende grosze Gruppen von Menschen, mit
verschiedener wirthschaftlicher Stellung:
a) Die Masse der Bauern, welche zunächst selber mit
ihren Knechten die Aecker pflügen, die Wiesen mähen, den
Weinstock beschneiden, die Ernten sammeln, das Hausvieh
züchten. Es ist das der zahlreichste und kräftigste Bestand-
theil dieser Classe und der grosze Sammler der Volkskräfte,
aus dem die anderen Classen wie aus einem reichen Brunn-
quell ihre Erfrischung schöpfen und ihre Brunnen ableiten.
b) Eben dahin rechnen wir die Gruppen der Hirten,
der Fischer, der Jäger, der Schiffleute und der Berg-
knappen und überhaupt alle arbeitenden Classen, deren
Beruf in fortwährender Beziehung zu der äuszeren Natur
(Land und Gewässer, Thiere und Früchte) verbleibt.
c) Sodann den niedern Bürgerstand, wohne er nun
in der Stadt oder auf dem Lande, zunächst die kleinen
Handwerksmeister sammt Gesellen und die Krämer, dann
auch die übrigen industriellen untern Berufsclassen umfassend,
mögen sie nun vereinzelt in ihren Wohnungen, wie viele
Weber, oder in Fabriken gemeinsam als Arbeiter ihre Dienste
der Industrie leisten.
d) Die untern Angestellten und Diener des Stats
und der höheren liberalen Berufsformen, im Heere von den
Unterofficieren an abwärts, in den Bureau's die Schreiber und
Copisten u. s. f.
e) Das sogenannte Proletariat der Dienstboten, Fabrik-
Tagelöhner u. s. f.
Allen diesen Gruppen gemeinsam ist die Eigenschaft,
dasz sie auf einen wesentlich materiellen Lebensberuf an-
gewiesen und durch denselben in Anspruch genommen sind.
[211]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
Sie sind alle leiblicher Arbeit zugewendet. Eine absolute
Scheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ist frei-
lich undenkbar; denn regelmäszig bedarf es auch zu dieser
der Thätigkeit des Kopfes und häufig zu jener der Mitwir-
kung der Hand. Aber der Gegensatz zwischen beiden hat
dennoch einen guten Sinn und ist auch von jeher von den
Völkern wohl begriffen worden. Wo die Thätigkeit des Kopfes,
die Speculation inbegriffen, überwiegt, ist feinere Geistesbil-
dung Erfordernisz, und die Art des Berufes und der Lebens-
weise gehoben. Wo die materielle Arbeit des übrigen Kör-
pers überwiegt, da ist jenes Masz von Geistesbildung entbehrlich,
und das ganze Leben bewegt sich in schlichteren und einfache-
ren Formen. Um deszwillen gehören die Kopfarbeiter regel-
mäszig zu der dritten und die Handarbeiter regelmäszig zu der
vierten Classe.
Gemeinsam dieser vierten Classe ist überdem, sowohl
dasz sie die nothwendige Unterlage aller Staten, wie
überhaupt des gesammten Volkslebens bildet, als dasz sie in
sich selbst nicht die Fähigkeit hat, den Stat zu regieren.
Sie bedarf dazu immer der Führer und der Stellvertreter.
In der Regel ist die dienende und passive Seite des öffent-
lichen Daseins in ihr dargestellt; aber aufgeregt und in der
Leidenschaft erhebt sie sich und durchbricht mit unwider-
stehlicher Kraft die Schranken der äuszern Ordnung und setzt
gewaltsam ihren Willen durch. Sie ist stark genug, auch die
Herrschaft im State zu wechseln, und neue Verfassungen zu
erzwingen. Sie wirft Throne um und gibt neuen Männern
oder Dynastien die Gewalt in die Hand. Aber sie kann nicht
selber regieren, und wo sie es eine Weile lang versucht, hat
der Stat das Ansehen eines Menschen, der auf dem Kopfe
steht und die Beine in die Höhe streckt.
Seitdem es eine menschliche Geschichte gibt, ist diese
Classe oder, wie sie oft genannt wird, der vierte Stand noch
niemals zu einer so groszen Bedeutung für das Statsleben
[212]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
gelangt, wie unter den europäischen Völkern unserer Zeit.
Zum erstenmal in der Geschichte sind selbst die dienenden
Classen im engeren Sinne zu dem Range von Freien erhoben
worden; und auch die untersten Schichten fühlen sich be-
theiligt bei der Wohlfahrt des States und machen Anspruch
auf politische Rechte. Der heutige Statsmann wird von der
Macht der Verhältnisse genöthigt, ganz besonders den Zu-
ständen dieses vierten Standes seine Aufmerksamkeit und
Sorge zuzuwenden. Es ist nicht mehr genügend, die öffent-
liche Meinung der Gebildeten zu hören und zu erwägen.
Mehr als zuvor wirken nun die Massen mit ihren Instincten
und ihren Neigungen und Leidenschaften. Der moderne Stat
— freilich zunächst nur unter den Völkern von europäischer
und daher wesentlich arischer Rasse — ist auch in dieser
Beziehung allgemeiner menschlich geworden.
Die vierte Classe ist aber so grosz, dasz sie selber wieder
ganze grosze Berufsstände umfaszt, und beachtenswerthe Ab-
stufungen begreift. Die gesundesten und krankhaftesten Ele-
mente in dem ganzen heutigen Volkskörper sind dicht neben
einander in ihr geeinigt. Die Rettung und Erhaltung des
States ist ohne ihre Hülfe unmöglich, die Existenz desselben
aus ihr fortwährend bedroht. Die gesundesten Bestandtheile
sind auf dem Land in dem Bauernstande zu finden, ob-
wohl auch sie, ohne eine neue geistig-sittliche Belebung, die
in ihren Fundamenten schwankende Statsordnung auf die
Dauer nicht zu erhalten vermögen. Ihnen zunächst stehen
die Kleinbürger. Beide sind noch in den Gemeinden
organisirt. Aber für die massenhaften in den Städten ange-
häuften Bürger ist die Gemeindeorganisation nicht mehr ge-
nügend, und die übrigen genossenschaftlichen Verbindungen
sind der Auflösung verfallen. Die organische Beziehung der
Meister unter sich und zu den Gesellen ist überall durch-
brochen, und was naturgemäsz zusammen gehört, aus ein-
ander gerissen. Die alte ständische Organisation ist zerstört,
[213]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
oder hat ganze Berufsclassen, wie insbesondere die Fabrik-
arbeiter, noch nicht geordnet. Zu einer neuen Organisation
ist es noch nirgends gekommen und nur die freiwilligen Ge-
nossenschaften und neben ihnen die Parteiverbände der
Arbeiter offenbaren die ersten Triebe und Keime zu neuer
Organisation.
Unsere heutige Gesellschaft leidet an dieser Desorgani-
sation. Die Gemeinschaft der Bildung, der Interessen, des
Geistes unter den verschiedenen Berufsclassen wird durch die
Desorganisation zwar nicht völlig aufgehoben, aber in einen
Zustand der Unruhe und der Gährung versetzt, und der
schranken- und ziellose Krieg Aller gegen Alle eröffnet. Ver-
geblich schreitet dann die Polizei ein. Sie vermag das Uebel
nur in einzelnen Ausbrüchen zu hemmen oder zu unterdrücken,
und häufig vermehrt sie es noch, indem sie da, wo Sorge
und Heilung Bedürfnisz ist, statt dieser Miszhandlung und
Plage zum Gefolge hat. Wie kann man sich wundern, wenn
gerade in den untern Schichten des vierten Standes auch die
Saat atheistischer Vorstellungen und communistischer Lehren
einen fruchtbaren Boden gefunden hat, und fast überall in
den groszen Städten und theilweise sogar auf dem Land das
Unkraut üppig aufgewuchert ist, welches die edleren Pflan-
zungen der Vergangenheit zu ersticken droht?
Das Proletariat bildet die unterste Stufe innerhalb der
vierten Classe. Es ist aber weder der vierten Classe gleich zu
stellen, noch ist es überhaupt als Classe oder Stand zu orga-
nisiren. Da ist es umgekehrt die Aufgabe des Statsmannes,
das Proletariat möglichst in den übrigen Ständen oder Classen
unterzubringen, und so sein besonderes Wachsthum zu
hemmen. Das Proletariat besteht zumeist aus den Abfällen
der andern Berufsclassen. Die vermögenslosen und ver-
einzelten Theile der Bevölkerung, die sich deszhalb auch der
befestigten Ordnung sicher entziehen, heiszen wir das Proletariat.
Es ist eine falsche und für den Stat überaus gefährliche
[214]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Vorstellung, die Bewohner lediglich mathematisch nach dem
Vermögen in Besitzende und Nichtbesitzende zu trennen
und die letzteren gar als Proletariat zusammen zu fassen und
den ersteren feindlich entgegen zu stellen. Würde diese un-
organische Meinung, der viel zu viel Vorschub geleistet wor-
den ist, allgemein durchdringen und leitend werden, so müszte
unsere ganze Civilisation von einer neuen Barbarei überfluthet
und zertreten werden, denn das wäre die practische Conse-
quenz jener gedankenlosen Lehre. Die grosze Mehrzahl der
nichtbesitzenden Bevölkerung ist aber glücklicher Weise mit
den übrigen Berufssständen noch organisch verbun-
den und wird durch diese Verbindung befriedigt. Die be-
sitzlosen Kinder sind keine Proletarier, weil sie in der
Familie ihrer Eltern Pflege, Erziehung, Unterhalt finden. Sie
theilen den Stand der Eltern, und selbst über die armen
Waisen ergänzt und ersetzt der Organismus der Gemeinde
die Familie. Die grosze Zahl der besitzlosen Bauern-
knechte und Mägde sind wieder keine proletarische Bevöl-
kerung, weil sie nicht vereinzelt in der Welt stehen, son-
dern auf dem Hofe und in der Familie des Bauern eine
Heimat und gesicherten Theil an dem ständischen Leben
finden. Als das Handwerk besser organisirt war, als heut zu
Tage, waren auch die Gesellen Familienglieder der Meister,
und selbst in der jetzigen Auflösung ist in ihnen noch das
Gefühl des Handwerkstandes lebendig und hebt sie hoch em-
por über das Proletariat. Auch die Dienstboten erhalten
in der Verbindung mit der Dienstherrschaft eine beruhigte
Existenz und haben Theil als Gefolge ihrer Herrn an den
Verhältnissen dieser. Den Soldaten endlich gibt die Ein-
reihung in den Körper der Armee Sold und Ehre. Der
Mangel einer Organisation der Fabrikarbeiter aber ist
eine der krankhaftesten Seiten unserer heutigen Classen und
deszhalb ist in dieser Classe die Masse des Proletariats so
unverhältniszmäszig und drohend angewachsen.
[215]Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
Die wahre Kunst des Statsmannes ist also zu bewirken,
dasz so wenig als möglich Abfälle der organisirten Berufs-
stände in das nothwendig unorganisirte atomistische Prole-
tariat versinken und dahin zu arbeiten, dasz aus diesen so
viel Individuen als möglich in die organisirten Stände auf-
steigen und da auch den relativen Besitz des gesicherten
Lebensunterhaltes erwerben. Das so verminderte Proletariat
bedarf dann nicht einer selbständigen Organisation, zu dem
es keine Fähigkeit hat, sondern des Patronates, welches sich
seiner Interessen annimmt und für dasselbe spricht und handelt.
Der vierten Classe gebricht es, was die Statsverfassung
betrifft, durchweg an der Fähigkeit, die eigentlichen Stats-
ämter zu verwalten. Die obern Classen desselben aber
besitzen regelmäszig die Fähigkeit, Gemeindeämter zu be-
kleiden, und dürfen daher von diesen nicht ausgeschlossen
werden.
An der Volksvertretung gebührt ihr neben der drit-
ten Classe ein Antheil, und der Stat thut wohl, näher dafür
zu sorgen, dasz dieser Antheil, der bei völlig gleicher Be-
handlung leicht von der gebildeten und in freierer Musze
lebenden dritten Classe ihr factisch ganz entzogen wird, ge-
sichert bleibe. Indessen da die Glieder dieser Classe oft
weder Musze haben, noch hinreichende Gewandtheit, in Person
ihre Interessen zu vertreten, wird immerhin die Wählbar-
keit auch für diesen Antheil nicht ganz auf die Classe be-
schränkt werden dürfen.
Das Stimmrecht endlich gebührt dieser Classe nach
Verhältnisz seiner groszen Bedeutung; unrichtig aber ist es,
alle Individuen desselben, deren gesellschaftliche Bedeutung
und Fähigkeit so sehr verschieden ist, auf gleiche Linie zu
stellen.
Das eigentliche Proletariat insbesondere bedarf in seinem
wirklichen Interesse weit eher der Patrone (Schutzherren,
Mundherren) als der Repräsentanten, die es doch nicht in
[216]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
seiner Mitte finden kann. Je höher dann durch Ansehen
und Einflusz der Patron gestellt wäre, um so wirksamer wür-
den die Interessen des Proletariats gewahrt werden.
Neunzehntes Capitel.
Verhältnisz des States zur Familie.
1. Geschlechterstat. Patriarchie. Ehe.
Sehr oft schon wurde in alter und in neuer Zeit der
Satz ausgesprochen: „Die Familie ist das Urbild des States.
Der Stat ist die erweiterte grosze Familie.“ 1 Man verglich
dann das Staatshaupt mit dem Vater, das Volk mit den
Kindern.
Indessen jener Satz und diese Vergleichung sind nur in sehr
beschränktem Sinne wahr. Sie gelten nur mit Bezug auf
die patriarchalische Statsform, nicht aber für den höhern
nationalen und menschlichen Stat. Es ist daher nöthig, die
durchgreifenden Gegensätze zwischen Familie und Stat zu
bezeichnen:
1) Die Familie beruht auf der Ehe und ehelicher
Kinderzeugung. Die Familienglieder sind entweder als
Ehegatten oder durch gemeinsames Blut verbunden. Diese
Grundbegriffe des Familienrechts sind aber keineswegs Grund-
begriffe des Statsrechtes. Die Statsgenossen sind als solche
weder durch die Ehe noch durch das Blut mit einander ver-
bunden. Sie haben nicht einmal nothwendig Ehegemeinschaft
unter sich, noch weniger gemeinsame Abstammung. Die Grund-
[217]Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc.
rechte der Familie sind daher auch von dem State unab-
hängig. 2
2) Der Stat beruht auf der Organisation des Volks
und ihrer Beziehung zum Land. Diese statlichen Begriffe
sind hinwieder keine Begriffe des Familienrechtes. Das Volk
besteht eben so sehr und noch mehr aus Individuen, Ständen,
Classen, als aus Familien, und die Beziehungen des States
zu jenen werden nur ausnahmsweise durch die Familie ver-
mittelt, gewöhnlich nur insofern die Rücksicht auf das Fami-
lienleben, wie bei der Vormundschaft solches erheischt. Die
Familie endlich hat als solche gar keine Beziehung zu dem
Boden.
3) Die Art und der Charakter des Organismus ist
verschieden in dem Stat und der Familie. Als Haupt der
Familie erscheint der Vater, der für sein eigen Fleisch und
Blut sorgt, wenn er über die Kinder Gewalt übt; er der reife
Mann über die unmündige Nachkommenschaft. Das Wesen
seiner Leitung ist Vormundschaft. Der Fürst dagegen
erscheint als Haupt des Volkes, dessen Classen selbständige
Interessen haben, dessen Familien von der fürstlichen Dynastie
getrennt sind und dessen Individuen weder von ihm ihr Dasein
ableiten noch als unreife und unmündige Wesen ihm unter-
geordnet sind. Das Princip des States ist die politische
Regierung.
Die Familie ist somit nicht das Urbild des States, son-
dern höchstens einer bestimmten, der Familie ausnahms-
weise nachgebildeten (der patriarchalischen 3) Statsform.
[218]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Das Familienrecht ist daher auch ein Theil des Privat-, nicht
des öffentlichen Rechtes.
Aber allerdings sind die Anfänge der Statenbildung, sogar
der arischen Völker an die Familien und die Geschlechter ge-
bunden. In dem Familien- und Geschlechtsverband fanden
die ersten väterlichen Führer, Richter, Obrigkeiten noch die
unentbehrliche Stütze ihrer Autorität. Nur allmählich konnte
der Stat aus diesen Verbänden zu einer politischen Ordnung
herauswachsen.
Die Geschlechterverfassung diente zur Brücke aus
dem bloszen Familienverband in den Stat. Als dieser einmal
gesichert war, wurde dann jene Brücke abgetragen und weg-
geräumt. Bei den meisten alten Nationen finden sich anfäng-
lich Geschlechter mit politischer Bedeutung, die später ver-
schwinden. Die alt-mosaische Verfassung kennt sie so gut
wie die alt-hellenische oder alt-römische Verfassung. Wie bei
den alt-arabischen Stämmen die Geschlechter ihre Häuptlinge
wie Väter ehren, so zeigen sich die ähnlichen Verbände der
Klans bei den alten Schotten. Die alten germanischen Dörfer-
namen weisen ebenso auf die Ansiedlung und den Gemeinde-
verband der Geschlechter hin, welche sich zu Genossen-
schaften organisirt haben, 4 wie die alte slavische Bauern-
gemeinde einen familienartigen Charakter hat.
Der Geschlechtsverband unterscheidet sich von dem Fa-
milienverband durch die Ausdehnung über den Kreis Einer
Sippschaft hinaus, indem das Geschlecht auch mehrere Fami-
lien und Sippschaften zusammenfaszt, aber er bleibt mit diesem
insofern verwandt, als er seine Ordnung nach Art der Fami-
lienordnung gestaltet. Die Geschlechtshäuptlinge sind meistens
hierin durch ihre erhöhte Familienstellung bezeichnet. Indessen
zwingt das Bedürfnisz nach Einheit dazu, nur Ein Familien-
haupt als Geschlechtshaupt zu ehren, und es kommt wohl vor,
[219]Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc.
dasz sogar die Wahl oder vielmehr die Kur das Erbrecht er-
gänzt oder ersetzt.
Der eigentliche familienartige Stat aber ist die Patri-
archie. Am zähesten hält das chinesische Reich „der
Mitte“ (d. h. der Vollkommenheit) seit Jahrtausenden an der
Fiction fest, dasz das Statshaupt der Vater der Nation sei.
Die ersten Gründer und Bildner auch dieses States waren, wie
Gobineau es wahrscheinlich gemacht hat, von arischem Ge-
schlecht. Ihnen schreibt er auch die erste Mittheilung der
patriarchalischen Idee zu. Aber die ungeheure Masse der
Bevölkerung, welche nach und nach in dem groszen Reiche zu
Einer Familie vereinigt wurde, ist von malayischem Stamme,
in welchem die Elemente der gelben Rasse überwiegend, wenn
gleich durch die [Beimischung] mit schwarzen einigermaszen
getrübt sind, und diese Bevölkerung, von Natur zu ruhigem
materiellem Lebensgenusz geneigt, fügt sich willig dem väter-
lichen Absolutismus ihrer Beherrscher und verehrt in der
überlieferten Statsordnung die heilige Civilisation. Der trotzige
Freiheitssinn, wie er allen arischen Völkern eingepflanzt ist,
regt sie nicht auf und nach höheren Ideen sehnt sie sich
nicht. Die Autorität des Kaisers ist zwar in der Theorie ab-
solut, in der Realität aber wird sie durch den ruheliebenden
Geist sämmtlicher Volksclassen, durch die gelehrte Schul-
bildung der Mandarinen, und vor allem durch die Macht des
hergebrachten Familienbrauches vielfältig beschränkt. „Der
Sohn des Himmels vermag Alles, unter der Bedingung, dasz
er nur das Bekannte und Herkömmliche wolle.“ (Gobineau.)
Eine männlich-politische Entwicklung aber ist in dem väter-
lichen State unmöglich. Die Menschen werden von ihm in
dem Zustand der Kindheit zurück gehalten, in welchem die
Statsform selbst verharrt.
Eine ganz andere Frage ist die nach dem Einflusse des
Familienlebens auf die Statswohlfahrt. Dieser meistens
mittelbare aber tief greifende Einflusz kann nicht leicht zu hoch
[220]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
angeschlagen werden. Daher hat der Stat nicht allein, wie
in dem übrigen Privatrecht, die Pflicht, das Familienrecht zu
schützen und zu erhalten, sondern er hat zugleich ein hohes
Interesse, so viel bei ihm steht, die Gesundheit des Familien-
lebens zu fördern und zu erhalten. Es ist zwar seine Macht
hier eine geringe — eben weil die Familie keine Statsinsti-
tution ist — meistens auch nur eine mittelbar wirkende; in
einigen Beziehungen aber kann und darf der Stat wohl die
individuelle Willkür beschränken:
I. Mit Bezug auf die Ehe:
1. Die politisch höher gebildeten Völker legen alle einen
entschiedenen Werth auf die Monogamie. Mehrere Männer
verwirren sogar die Abstammung, mehrere Frauen bringen
Zwietracht in die Familie. Die volle Einheit der Ehe ist nur
gedenkbar in der Einigung eines Mannes und einer Frau.
Die Zweiheit der Geschlechter, in welche die Menschheit ge-
theilt ist, wird in der Monogamie zur Einheit verbunden.
Eine Mehrheit von Ehegenossen entspricht daher weder der
Natur, noch der sittlichen Idee. Daher soll der Stat sie nicht
dulden. Als die gallischen Bischöfe gegen die Doppelehen
der Merowingischen Könige eiferten, und nicht nachlieszen,
bis dieselben auf das alte Privilegium germanischer Fürsten,
mehrere Frauen zu halten, verzichteten, vertheidigten sie
nicht blosz ein christliches, sondern zugleich ein statliches
Princip. Die Monogamie hebt die Frau zu voller Genossen-
schaft mit dem Manne empor und die erhobenen Frauen ver-
edeln hinwieder die Männer. Die Polygamie dagegen drückt
die Frauen zu bloszen Werkzeugen der sinnlichen Lust der
Männer nieder, und die ungebildeten entwürdigten Frauen
ziehen hinwieder die Männer abwärts. Die Monogamie ist
der Vorzug der europäischen und der christlichen Nationen.
Die Polygamie ist das Erbübel vieler orientalischer Nationen.
2. Eine würdige Auffassung des rechtlichen Ver-
hältnisses der Ehegatten ist nicht minder wichtig.
[221]Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc.
In dieser Hinsicht blieb das römische Recht hinter der
römischen Idee von der Ehe zurück. Während die Römer die
Ehe als eine innige und alle Verhältnisse umfassende Lebens-
gemeinsehaft von Mann und Frau auffaszten, 5 behandelte ihr
älteres Recht die Frau ähnlich einer Tochter, und räumte dem
Manne eine absolute Herrschaft über sie ein, wie dem Vater
über die Kinder und dem Herrn über die Sclaven, und löste
das spätere Recht die Gemeinschaft auf in ein lockeres Neben-
einandersein der beiden von einander ganz unabhängigen Per-
sonen. Das Ueberhandnehmen der sogenannten freien Ehe
ging mit der zunehmenden Sittenverderbnisz in den letzten
Zeiten der römischen Republik Arm in Arm, und bereitete
den Untergang dieser vor.
Das deutsche Recht dagegen sowohl in seiner ältern Ge-
stalt, wornach Frau und Mann zwar ihr eigenes Vermögen
beibehalten, aber dessen ungeachtet die eheliche Gemeinschaft
und Einigung in der ehelichen Vormundschaft des Mannes
ihren rechtlichen Ausdruck findet, als in der neueren Form
der Gütergemeinschaft, ist in Uebereinstimmung mit der Idee,
welche wir am schönsten in den uralten, und schon in den
heiligen Büchern der Juden enthaltenen zwei Sätzen aus-
gesprochen finden: „Mann und Weib sind nur ein Leib,“ 6
und: „Der Mann ist das Haupt der Ehe.“ 7
[222]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
3. Selbst die Form der Eingehung der Ehe ist nicht
gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist, die Innigkeit
und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und
zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu-
ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product
einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt-römische
Grundsatsz „consensus facit nuptias“ hat daher seine bedenk-
liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die
Ehe ein blosz conventionelles Verhältnisz sei, und man
kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine
religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker
auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger
noch ist die Rechtssicherheit der Familie, welche sich
mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die
öffentliche, urkundlich beglaubigte Form befriedigt
wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge-
nannte Civilform vollständig gewahrt. Wäre nicht die
kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht
worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe-
schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den
Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu
machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der
kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche
und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der
heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger-
lichen Form hervorgerufen.
Wir haben nun in der modernen Rechtsbildung eine
zweifache Form in Uebung: 1) die für das Rechtsinstitut der
7
[223]Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.
Ehe nothwendige bürgerliche Eheschlieszung vor dem
statlichen Standesbeamten; 2) die der freien Sitte überlassene
nachfolgende kirchliche Trauung durch den Geistlichen,
welcher der geschlossenen Ehe die religiöse Weihe und den
Segen der Kirche hinzufügt. Die erste ist nothwendig, die
zweite freiwillig.
4. Eine Beförderung der Ehen und der Kinderzeugung
von Stats wegen ist in groszem Maszstab durch den Kaiser
Augustus versucht worden. Das Bedürfnisz zu derartigen
Gesetzen setzt indessen jeder Zeit kranke Zustände einer
Nation voraus, in denen der natürliche Trieb der Individuen,
sich zu verbinden, entweder ausschweift oder gehemmt ist.
Dieses Uebel ist besonders dem Leben in groszen Städten
eigen. Die zahlreicheren Gelegenheiten, geschlechtliche Be-
dürfnisse auch auszer der Ehe zu befriedigen, befördern
den Hang zu einem ungebundenen und liederlichen Leben,
und die erhöhte Schwierigkeit, die gesteigerten Ansprüche
einer städtischen Familie auf Lebensgenusz zu erfüllen, ist
ein bedeutendes Hindernisz der Heirathen gerade unter den
höheren Classen der Gesellschaft. In Rom kam die über-
mäszige Testirfreiheit der römischen Bürger als ein Motiv
der Ehelosigkeit hinzu, indem unverheirathete Reiche sicher
waren, in ihren alten Tagen von erbsüchtigen Verwandten
und Freunden mit dienstgefälliger Zuvorkommenheit gepflegt
und geschmeichelt zu werden. Augustus konnte mit Recht
sagen: „Die Stadt besteht nicht aus Häusern, Säulenhallen
und leeren Märkten, sondern die Menschen bilden die Stadt.
Würde die Ehelosigkeit unter den Bürgern Roms um sich
greifen, so würde am Ende Rom den Griechen oder gar den
Barbaren anheimfallen.“
Aber auch auf dem Lande kommen ähnliche Beschrän-
kungen vor im Interesse der Erhaltung des bäuerlichen Grund-
besitzes und der Verhinderung von Gutstheilungen. In man-
chen Gegenden ist so das Zweikindersystem in Uebung, in
[224]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
andern werden die übrigen Söhne auszer dem Erbsohn als
Knechte des Hofes betrachtet oder in die Fremde geschickt
und vor weiterer Heirath abgemahnt.
Die Mittel des States, die Ehen und die Kinderzeugung
zu befördern, sind freilich beschränkt, und selbst in der Be-
schränkung werden sie, wie solches auch den Gesetzen Au-
gusts widerfahren ist, dem Volke so wenig munden, als eine
bittere Arznei dem kranken Körper. Ein directer Zwang zur
Ehe ist nicht zulässig, weil die Ehe ihrem Wesen nach die
eheliche Gesinnung und den freien Willen der Individuen
voraussetzt. Selbst in dem Falle, wo die Statsinteressen die
Ehe des Statshauptes dringend wünschbar machen, ist doch
eine Nöthigung desselben zur Eingehung einer Ehe ein so
tiefer Eingriff in die menschliche Freiheit, dasz vor diesen
natürlichen Schranken des individuellen Rechtes auch der
Wille des States zurücktreten musz. Die jungfräuliche Köni-
gin von England hat diese persönliche Freiheit auch des
Monarchen, dessen Leben mehr als ein anderes mit der
Wohlfahrt des States verwachsen ist, siegreich gegen die an-
dringenden Statsrücksichten behauptet.
Der Stat kann somit nur mittelbar den Zweck fördern,
indem er mit der Ehe äuszere Vortheile verbindet, und die
Ehe- und Kinderlosigkeit mit äuszeren Nachtheilen, nicht aber
wie ein Vergehen mit eigentlicher Strafe bedroht. Diesen
Weg hat denn auch die römische Gesetzgebung eingeschlagen.
5. Häufiger finden sich in den neuern Staten umgekehrt
gesetzliche Beschränkungen der Ehe aus Gründen der
öffentlichen Wohlfahrt. Dieselben setzen ebenfalls krankhafte
Zustände voraus, insbesondere das sociale Uebel eigenthums-
oder erwerbloser Classen der Bevölkerung. Da können es
unter Umständen die Interessen der Gemeinschaft nöthig
machen, dasz von denen, welche durch die Ehe neue Fami-
lien begründen wollen, Garantien dafür verlangt werden, dasz
sie im Stande seien, ohne Belästigung der Gemeinden oder
[225]Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.
des States, der Familie die erforderliche Nahrung und den
nöthigen Unterhalt zu verschaffen. Ein weiteres Verbot der
Ehe dagegen, insbesondere der Vorbehalt einer willkürlichen
Genehmigung der Gemeinden, ist ein nicht zu rechtfertigen-
der Eingriff in das natürliche Recht des Individuums.
Die gesetzliche Erschwerung der Ehen vermag überdem
die Erzeugung unehelicher Kinder nicht zu hindern; im
Gegentheil das Uebel einer groszen Zahl familienloser und
daher ärmlich genährter und mangelhaft erzogener Unehe-
licher wird dadurch vermehrt. Die Gründung einer Familie
und die Hülfe der Frau üben einen sittigenden Einflusz aus
auf die Männer und wirken für den ökonomischen Bestand
der Haushaltung im Groszen und Ganzen eher wohlthätig als
schädlich. Daher ist als Regel nicht die Beschränkung, son-
dern umgekehrt die volle Freiheit der Eheschlieszung
zu empfehlen. Die Gesetzgebung, welche für Alle zu sorgen
hat, musz es auch dem armen Mann ermöglichen, eine Ge-
nossin seiner Armuth und eine ehrliche und eheliche Mutter
seiner Kinder zu wählen.
6. Mit Recht enthält sich der Stat einläszlicher Vorschrif-
ten über das geschlechtliche Verhältnisz der Ehegatten. 8
Sie gehören vorzugsweise dem individuellen Leben und der
Sitte an. Wohl aber ist er befugt und veranlaszt, offenbare,
über den Kreis des engen Familienkreises hinaus wirkende
Immoralität und den Bruch der ehelichen Treue auf Klage des
verletzten Ehegatten mit Strafe zu bedrohen, und so durch seine
Gesetzgebung die gute Sitte und die Reinheit der Ehe zu stützen.
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 15
[226]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Die Weibergemeinschaft, wie sie Plato für die Wächter
seines idealen States vorgeschlagen hat, ist eine Entwürdigung
der Ehe und Zerstörung der Familie. Die Preisgebung der
Frauen, wie sie unter Umständen von den Spartanern begün-
stigt worden, ist eine Barbarei. Die Emancipation des Flei-
sches aber, wie sie die radical-socialistische Schule in unsern
Tagen als einen neuen Fortschritt der individuellen Freiheit,
über seinen Körper nach Lust zu verfügen, auch für die beiden
Ehegatten in Anspruch nimmt, ist die Erniedrigung der sitt-
lichen Freiheit des Menschen auf die Stufe der sinnlichen
Freiheit der Hunde.
7. Endlich ist der Sorge des States für die Fortdauer
der Ehe und der Behinderung leichtfertiger Scheidung zu
erwähnen.
Schon in der vorchristlichen Periode wird die Auflösung
der Ehe nicht überall der Willkür der einzelnen Ehegatten
überlassen. Manche Rechte gestatteten es zwar dem Manne,
seine Frau zu entlassen, nicht aber der Frau, sich von dem
Manne loszusagen. Auch für den ersten Fall war die Ver-
stoszung der Frau öfter an bestimmte wichtige Ursachen ge-
bunden, oder zog, wie in den ältern germanischen Rechten,
wenn sie ohne zureichende Gründe geschah, bedeutende Nach-
theile auch für den Mann nach sich. In diesen beschrän-
kenden Bestimmungen des Rechts, welche überdem durch die
Sitte verstärkt waren, äuszert sich die Ehrfurcht des States
vor dem Princip der Ehe als einer das ganze Leben erfüllen-
den Gemeinschaft. Es war daher schon eine Auflösung der
älteren sittlichen Ordnung, wenn das spätere römische
Recht, die in Athen herrschende Ansicht adoptirend, für
die sogenannte freie Ehe den Ehegatten das Recht der ein-
seitigen freien Kündigung einräumte. Die Aufnahme dieses
Grundsatzes war zu groszem Theile eine Folge des in Rom
überhand nehmenden Sittenverderbnisses, und ward hinwieder
eine Quelle der Entartung.
[227]Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.
Das Christenthum hat in dieser Frage ein neues und
vollkommneres Recht eingeleitet. Christus selbst sprach sich
im Gegensatze zu dem mosaischen Rechte so nachdrücklich
gegen die Scheidung aus, 9 dasz seine Worte nicht ohne
Wirkung auf die spätere Rechtsbildung in den christlichen
Staten sein konnten, obwohl er auch hier nicht unmittelbar
das bestehende Recht änderte noch ein neues schuf, sondern
nur auf den Geist und die moralische Gesinnung wirkte. Die
katholische Kirche aber bildete nachher ein strenges System
des Eherechts aus und gelangte, ungeachtet Christus selbst
die Scheidung aus dem Grunde des Ehebruchs ausgenommen
und anerkannt hatte, im Verfolge der Zeit dazu, die volle
Scheidung überall zu untersagen und nur eine äuszer-
liche Trennung (die separatio a toro et mensa), aber auch
diese nur aus wichtigen und seltenen Gründen zu gestatten.
Sie setzte ihre Ansicht in den christlichen Staten des Mittel-
alters in der Weise durch, dasz sie die Frage der ehelichen
Trennung und Scheidung der Einwirkung des States ganz
zu entziehen und ausschlieszlich vor die kirchliche Ge-
richtsbarkeit zu bringen wuszte.
In den letztern Jahrhunderten hat indessen der Stat
auch diese Seite der Rechtsverhältnisse mit Recht wieder
seiner Gesetzgebung und seiner Rechtspflege unterworfen,
und die protestantische Kirche erklärte von ihrem kirchlichen
Standpunkte aus die Ehescheidung wegen Ehebruchs, öfter
auch aus Gründen, welche diesem an Bedeutung gleich kom-
men, als zulässig.
Endlich hat die Gesetzgebung, theils von modernen natur-
rechtlichen Ideen geleitet, theils im Interesse der individuel-
len Freiheit, manche ältere Scheidungsgründe erweitert und
die Scheidung erleichtert.
Regelmäszig geblieben aber und allgemein anerkannt
[228]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der
Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden
Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf,
sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht-
licher Erlaubnisz zuläszig ist;
b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze.
Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un-
auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird,
vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und
zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich
um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im
Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit
der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner-
lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von Rechts-
wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran,
soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die
individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf-
lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der
Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.
Zwanzigstes Capitel.
2. Die Frauen.
Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die
Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke
gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur
mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe-
rechtigte Statsglieder und Statsgenossen. Erst in
unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen
einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re-
volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König,
dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte
[229]Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz des States zur Familie. 2. Die Frauen.
(Stimmrecht und Wählbarkeit) verliehen werden. Obwohl der
Philosoph Condorcet die Petition empfahl, wurde sie doch
von der Nationalversammlung mit Spott und Hohn zurück
gewiesen. In unsern Tagen findet dasselbe Begehren unter
verschiedenen Nationen eifrige Fürsprecher. Vor allen hat
Stuart Mill1 dasselbe in seinen Werken und im englischen
Parlament vertheidigt, freilich ohne Erfolg. In Frankreich
hat sich Edouard Laboulaye2 dafür ausgesprochen. In
einzelnen Länderstaten Amerikas ist man sogar zu Versuchen
vorgeschritten, die Frauen zu den politischen Rechten und
Pflichten herbeizuziehen.
Die hauptsächlich von Stuart Mill angeführten Gründe
für die unmittelbare Betheiligung der Frauen am Stat sind:
a) Die Frauen haben dasselbe Recht wie die Männer,
gut regiert zu werden; und eben dafür zu sorgen sei die
Volksvertretung eingerichtet. Aber auch die Kinder haben
ein natürliches Recht, dasz sie von dem State geschützt und
dasz für ihre gemeinsamen Interessen gut gesorgt, d. h. dasz
sie gut regiert werden, und dennoch leitet Niemand daraus
ein Stimmrecht der Kinder im State ab. Aus dem Rechte,
gut regiert zu werden, folgt keineswegs das Recht, sei es an
der Regierung Theil zu nehmen, sei es die Regierung zu
controliren; denn das letztere Recht setzt die persönliche
Fähigkeit zur Ausübung derselben voraus; das erste Recht
dagegen verlangt keine besondere Fähigkeit, sondern hat
nur einen passiven Charakter.
b) Zwischen der Entwicklung des Privatrechts und des
öffentlichen Rechts bestehe ein offenbarer Widerspruch, der
beseitigt werden müsse. Auch im Privatrecht seien anfäng-
lich die Weiber in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt ge-
wesen und überall unter einer Geschlechtsvormundschaft der
Männer gestanden. Später aber habe man erkannt, dasz die
[230]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Frauen ebenso ihr Vermögen verwalten können, wie die
Männer, die Geschlechtsvormundschaft abgeschafft und beide
Geschlechter einander gleich gestellt. Im öffentlichen Rechte
dagegen bestehe der Gegensatz fort. Man fordere von den
Frauen, dasz sie ebenso dem State ihre Steuer bezahlen wie
die Männer und bestreite ihnen das Recht, gleich den Män-
nern Steuern zu bewilligen und die Rechnung zu prüfen.
Es sei daher ein Unrecht, den Frauen eine Fähigkeit abzu-
sprechen, die man im Privatverkehr anerkannt habe, und
eine Gleichstellung im öffentlichen Leben zu verhindern, die
im Privatleben bestehe und sich wohlthätig erweise.
c) Es sei überdem eine arge Inconsequenz in der bis-
herigen Rechtsbildung, dasz viele Völker, welche allen Frauen
jedes politische Recht versagen, ausnahmsweise das höchste
politische Recht der Regierungsgewalt an ihre Königinnen
überlassen und sich als Unterthanen einer Frau bekennen.
Freilich war den Griechen und den Römern auch diese
Ausnahme durchaus fremd. Als der weibische Kaiser Helio-
gabalus seine Mutter in den Senat eingeführt und dadurch
die römische Sitte und Denkart schwer verletzt hatte, wurde
nach seiner und ihrer Ermordung ein Senatusconsult be-
schlossen, dasz dessen Haupt den unterirdischen Göttern ge-
weiht sei, welches je es wieder wagen sollte, eine Frau in
den Senat zu bringen. Auch die meisten germanischen Völ-
ker gehorchten nur Männern als ihren Königen.
Aber schon Aristoteles (Pol. III. 6, 16) berichtet uns,
dasz viele fremde Staten unter Frauenherrschaft stehen, und
Tacitus (Agricola, 16) erwähnt es als eine Eigenthümlichkeit
der Britten, dasz sie auch dem weiblichen Geschlechte Herr-
schaft verstatten. Von den Longobarden wissen wir, dasz die
Folge in das Königthum öfter durch erbberechtigte Frauen
vermittelt worden ist. In dem spätern europäischen Stats-
recht ist häufig den Frauen ein Recht auf den Thron eröff-
net worden, und wir haben in den letzten Jahrhunderten
[231]Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz des States zur Familie. 2. Die Frauen.
nicht blosz in England, sondern auch in Oesterreich, Rusz-
land, Spanien, Portugal und anderwärts unter verschiedenen
Regierungssystemen Frauen als Regenten gesehen.
Woher diese sonderbare Ausnahme? Wenn den Frauen
politische Rechte überhaupt nicht zukommen, wie können sie
denn an dem höchsten politischen Rechte Theil haben? Sollte
es nicht natürlicher sein, dasz eine Frau ein untergeordnetes
Statsamt verwalte, oder in dem Rathe ihre Meinung äuszere,
als dasz sie Oberhaupt des States werde? Diese Ausnahme
läszt sich nur daraus erklären, dasz die Würde und Macht
des Statsoberhauptes als ein politisches Familiengut betrach-
tet und behandelt und der Frau die nämlichen Rechte auf
die Thronfolge wie auf die Beerbung der väterlichen Liegen-
schaften zugestanden wurden. Das Land wurde wie ein Gut
(Allod oder Lehensgut) angesehen, und das privatrechtliche
Erbsystem auch für die statsrechtliche Folge festgehalten.
Auf solche Weise ist die Fähigkeit königlicher Frauen zur
Thronfolge schon im Alterthum begründet und in der neuern
Zeit ausgedehnt worden; und es haben manche neuere Staten,
welche im übrigen zwischen Stats- und Privatrecht schärfer
gesondert haben und der mittelalterlichen Vorstellung des
Lehens- oder des Patrimonialstates entwachsen sind, dennoch
diesen Rest der früheren Anschauungsweise beibehalten, und
auf die Blutsverbindung in der königlichen Familie ein grösze-
res Gewicht gelegt, als auf die Natur des States und die Be-
stimmung der Frau. 3
d) Da die meisten Frauen in der Familie leben, so
würden sie thatsächlich in der Regel sich zu ihrem Familien-
haupte halten; die Frauen würden mit dem Ehemann, die
[232]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Töchter mit dem Vater stimmen. Dadurch würde das poli-
tische Gewicht der Hausväter, der solidesten Bestandtheile in
der Nation, erheblich verstärkt werden gegenüber den ehe-
losen und auszer der Familie lebenden Elementen.
e) Der Einflusz der Frauen auf die Politik, der sich
auch heute in der Gesellschaft und innerhalb des Hauses
geltend mache, sei überhaupt nicht zu vermeiden. Gegen-
wärtig aber äuszere sich dieser Einflusz in ungeordneter
Weise, meist insgeheim, immer ohne dasz die Frauen das
Gefühl der Verantwortlichkeit haben. Da wäre es doch besser,
diesem Einflusz eine wohl angelegte Bahn zu eröffnen, den-
selben vor Ausschreitungen zu bewahren und den Frauen, in-
dem man sie bei dem State mitbetheilige, auch die Verant-
wortlichkeit ihrer Abstimmungen und Meinungsäuszerungen
klar zu machen.
Unter diesen Gründen für die Ausdehnung des Frauen-
stimmrechts hat der vierte wohl das meiste Gewicht. Mir
scheinen aber die Gegengründe noch gewichtiger. Sie sind:
a) Die übereinstimmende Sitte aller Culturvölker,
welche freilich keine absolute Beweiskraft hat, aber entschie-
den vor einer Aenderung warnt, welche den beharrlichen
Zuständen und Gefühlen der Menschheit widerspricht.
b) Die Natur der Frauen, welche vornehmlich für die
Familie geschaffen und bestimmt sind und durch massen-
haftes Hineinziehen in die politischen Kämpfe und Arbeiten
ihrem eigentlichen Beruf eher entfremdet würden. Die weib-
lichen Tugenden der Gatten- und Mutterliebe, der häuslichen
Sorge, die zarte Feinfühligkeit und Liebenswürdigkeit der
Frauen würden sicher Schaden leiden, und die Frauen wür-
den die Fähigkeit zu den Arbeiten und dem offenen Kampfe
des äuszern Lebens doch nicht gewinnen.
c) Die männliche Natur des States, als der bewusz-
ten Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung des Volks,
welche die Kraft des männlichen Charakters und Geistes nicht
[233]Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz des States zur Familie. 2. Die Frauen.
und niemals entbehren und nicht durch die Beimischung der
weiblichen Empfindsamkeit und Schwäche verdorben werden
dürfen.
d) Die grosze Gefahr, dasz die politischen Parteikämpfe
noch leidenschaftlicher und noch weniger durch den männ-
lichen Verstand geleitet und in Schranken gehalten würden.
Die passiven Seelenkräfte würden zum Schaden des States
vermehrt, die activen geschwächt werden.
Einzelne Ausnahmen, wie die Thronfolgefähigkeit von
Frauen, welche durch günstige Verhältnisse und eine hohe
Ausbildung unschädlich gemacht werden können, sind daher
erträglich, eine allgemeine Aufnahme der Frauen in das Stats-
bürgerrecht wäre verderblich.
Sind daher die Frauen von einer regelmäszigen unmittel-
baren Theilnahme an den Statsgeschäften ausgeschlossen, so
ist dagegen ihre mittelbare Einwirkung auf die Wohlfahrt
des States nicht gering zu achten. Aber auch da artet der
Einflusz der Frauen auf das Statswohl leicht aus, wenn der-
selbe von politischen Motiven geleitet wird. Rein und
heilsam erweist er sich fast nur, wenn religiöse oder mora-
lische Gründe die Handlungen der Frauen bestimmen. Die
berühmten politischen Frauen haben meistens den Staten und
den Ihrigen Schaden gebracht. Die weibliche Klugheit und
List in kleinen Dingen wird auf politischem Gebiete zu ge-
fährlicher Intrigue. Und wenn einmal die politischen Leiden-
schaften des Hasses, der Rache, des Ehrgeizes in der Brust
des Weibes eingekehrt sind, werden sie leicht zu maszloser
Gier entzündet und theilen sich so den Männern mit. Es
gilt das nicht blosz von den Maitressen der Fürsten, es gilt
das auch von manchen Ehefrauen und Müttern, die sich in
der Geschichte einen Namen erworben haben. Die römische
Geschichte ist nicht arm an Beispielen dafür, und die fran-
zösiche Revolution kennt solche nicht minder als das Hofleben
der französischen Könige.
[234]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Auf der andern Seite ist der Segen grosz, den Frauen
in stiller, von der Geschichte nur selten berichteter Wirk-
samkeit auch politischen Männern bereitet haben. Wie viele
haben in dem häuslichen Kreise wieder den Frieden gefun-
den, der sie für die Kämpfe und Leiden des bewegten äuszern
Lebens entschädigte und von neuem zu ihrer Pflicht stärkte.
Wie oft haben die Frauen die Rohheit und Wildheit der
Männer ermäszigt und diese vor Ausschweifung bewahrt! wie
oft dieselben durch ihre kluge Vorsicht von Miszgriffen zu-
rückgehalten, oder durch ihr lebhaftes Gefühl für Sitte und
Moral an Fehltritten gehindert, wie oft auch in der Noth ge-
rettet.
Vorzüglich in den Leiden des Gemeinwesens, im Unglück
und bei Gefahren des States zeigt sich der Einflusz der Frauen
besonders wohlthätig. Im Dulden stärker als der Mann hilft
die Frau ihm das unvermeidliche Uebel ertragen, ohne sich
von demselben demüthigen zu lassen; ihr bereiter Opfermuth
regt auch in ihm den Muth auf, dem Vaterlande seine Kräfte
willig zu opfern, und ihre Verehrung der männlichen Tapfer-
keit, die ihr selber versagt ist, treibt den Mann, dieser Ehre
würdig zu handeln und zu wagen.
Es ist daher ein schöner Zug des Statsrechtes besonders
unter den germanischen Völkern, dasz die Frau auch als
Genossin der politischen Ehre und Würde ihres Mannes be-
trachtet wird. Es liegt darin die Anerkennung der wahren
mittelbaren Beziehung des Weibes zu dem Organismus des
States, und ein würdiger Ersatz für die den Frauen versagte
Theilnahme an den eigentlichen politischen Rechten.
Anmerkung. Eine Reihe feiner Beobachtungen hat Riehl in
seiner social-politischen Studie „Die Frauen“ (Deutsche Vierteljahrs-
schrift 1852) und später in seinem Buch: „Die Familie“ mitgetheilt, und
mit Recht auf die ständischen Unterschiede in dem Geschlechtsverhält-
nisz aufmerksam gemacht. Die Bäuerin ist in Lebensart und Sitte dem
Bauern näher und gleicher, als die gebildete Städterin des höhern Bürger-
standes ihrem Gatten; aber jene ist einem strengeren Hausregiment unter-
[235]Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz des Stats etc. 1. Volksgenossen etc.
worfen als diese, die sich freier und selbständiger in ihrer Sphäre be-
wegt. Wenn aber Riehl der Frau auch einen politischen Parteicharakter,
den „conservativen“ beilegt, und sie eine Aristokratin von Natur
nennt, so habe ich dagegen einzuwenden, dasz alle politischen Parteien
dem Leben der Männer, keine anders als mittelbar dem der Frauen
angehören, mittelbar aber die Frauen wieder bei allen Parteien be-
theiligt sind. Will man aber einzelne Parteien, wie das in der Parteien-
lehre Fr. Rohmers unwiderleglich erwiesen worden ist, als vorzugs-
weise männlich unterscheiden, und diesen dann die andern als
unmännlich (relativ weiblich) entgegensetzen, so ist es klar, dasz die
liberale und die conservative männlich und nur die extremen
Parteien, die radicale und absolutistische, unmännlich sind.
Einundzwanzigstes Capitel.
Verhältnisz des Stats zu den Individuen.
1. Volksgenossen und Fremde.
Endlich stehen auch die Individuen in einem unmittel-
baren Verhältnisz zu dem State, nicht blosz als Glieder
der Familien, Stände, Classen. In der modernen Statslehre
und Statsverfassung ist diese Beziehung ebenso nachdrücklich
hervorgehoben und zuweilen ausschlieszlich beachtet, als die
mittelbaren Beziehungen zu der Familie und den Ständen
gewöhnlich zurückgesetzt sind.
Es kommen hier folgende Gegensätze in Betracht:
1) der der Einheimischen, der Volksgenossen oder
Statsangehörigen und der Fremden;
2) der der Statsbürger und der übrigen Volks-
genossen.
Die verschiedenen Abstufungen innerhalb des Stats-
bürgerthums können erst bei der nähern Betrachtung der
Verfassung zur Sprache kommen.
Der erste Gegensatz beruht vornehmlich auf dem Unter-
schied der Volksrassen und ist zunächst ein persönlicher.
[236]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Erst in zweiter Linie kommt auch die Beziehung zu einem
Ort als der Heimat in Betracht. Entscheidend ist die Ver-
bindung des Individuums mit dem Volk, von secundären Ein-
flusz der Zusammenhang mit dem Land.
Die Meinung der alten Völker, dasz den Fremden kein
Recht zu halten sei, die Fremden also relativ rechtlose 1 Wesen
seien, so lange sie nicht in einen besondern Schutz aufge-
nommen und von demselben gedeckt werden, obwohl von
Hellenen und Römern behauptet, darf wohl als ein Stück
Barbarei betrachtet werden, welches die antike Kultur ent-
stellt. Humaner war der Grundsatz der Germanen: „Jeder
nach seinem angeborenen Volksrecht.“ Die neuere Rechts-
bildung erkennt auch in dem Fremden den berechtigten Men-
schen und gewährt demselben ihren Schutz.
1. Die Frage aber, wer als Einheimischer anzusehen sei
und wie die Volksgenossenschaft erworben werde, hat
verschiedene Antworten erfahren. Die Rücksichten auf die
Abstammung und auf die Heimat lassen verschiedene Com-
binationen zu. Wir können folgende Systeme unterscheiden:
a) Das System des Geburtsorts. Es entspricht vor-
züglich der Anschauung des spätern Mittelalters. Seine Regel
ist: Die Geburt im Lande begründet die Eigenschaft des
Indigenats. Es ist das heute noch die Regel des englischen
Rechts, welches zwischen natural-born subjects und aliens
unterscheidet. Als in England geboren wird aber auch an-
gesehen, wer auf einem englischen Schiffe oder in einer eng-
lischen Gesandtschaftswohnung im Auslande geboren ward. In
neuerer Zeit ist aber auch in England die Strenge dieses ört-
lichen Princips dadurch ermäszigt worden, dasz die Kinder
[237]Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz des Stats etc. 1. Volksgenossen etc.
von Engländern, obwohl im Ausland geboren, dennoch das
englische Bürgerrecht erhalten. Ueberdem ist die Naturali-
sation bedeutend erleichtert worden.2 Auf ähnlichen Grund-
sätzen ruht das nordamerikanische Recht.3
b) Das System des Wohnorts. Das Territorialsystem
kommt noch in einer andern Form zur Anwendung, welche
eher den neueren Ansichten zusagt, indem der Nachdruck
nicht auf den zufälligen Ort der Geburt, sondern auf den
dauernden Wohnort der Eltern, und in der Folge auf
den eigenen Wohnort gelegt wird. Daneben sind immer
noch bedeutende Unterschiede möglich in der Gestattung oder
Erschwerung der Ansiedlung. In diesem Sinne wird Stats-
angehörigkeit zum Theil in Oesterreich und in einzelnen
deutschen Staten verstanden.4 Auch da wird aber die
Wirkung des Wohnorts ergänzt durch die Formen einer per-
sönlichen Ertheilung des Heimatsrechts.
c) Eine eigenthümliche Zwischenstufe nimmt das schwei-
zerische System des Gemeindeverbands ein, welches die
Grundlage bildet des Cantonsbürgerrechts (Landrechts)
und des allgemeinen Schweizerbürgerrechts. Das Ge-
meindebürgerrecht ist hier weder von der Geburt noch von
dem Wohnort in einer Gemeinde abhängig, sondern wird durch
die Abstammung von Eltern bestimmt, welche Gemeinde-
[238]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
bürger sind und bleiben, auch wenn sie auszerhalb ihrer
Heimatsgemeinde in einer sogenannten Niederlassungsgemeinde
wohnen.5 Es erinnert an das alt-römische Municipalrecht,
welches ebenfalls durch die origo aus einem bestimmten Mu-
nicipium begründet war.
d) Das nationale System des persönlichen Volks-
verbands hat in neuerer Zeit eine allgemeine Anerkennung
erhalten, und sein Einflusz wird nun auch in den Staten ver-
spürt, deren Recht auf einer andern Grundlage ruht. Nach
diesem System kommt es nicht hauptsächlich auf den Ort der
Geburt an, auch nicht auf den Wohnort, sondern vorerst auf
die Abstammung von Volksgenossen und sodann auf
die ebenfalls persönliche, nicht örtliche Aufnahme in den
Volksverband. Daneben kommt auch eine ergänzende Rück-
sicht auf den Geburts- oder Wohnort vor.
Im Allgemeinen folgen das französische Recht,6, das
preuszische Landrecht 7 und nun das deutsche Reichsrecht8
diesem System. Der modernen Statsanschauung, welche in
[239]Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz des Stats etc. 1. Volksgenossen etc.
dem persönlichen Volksverband den lebendigen Kern des
Statsbegriffes erkennt, entspricht dieses System am beszten.
Uebrigens nähern die Systeme sich einander in neuerer
Zeit, indem jedes seine Lücken durch Grundsätze aus dem an-
dern zu ergänzen sucht. Abstammung und Geburtsort, Wohn-
ort und Naturalisation, Heirath und Legitimation werden so
mit einander verbunden, und wenn einer dieser Ursachen nicht
eine directe Wirkung des Bürgerrechts zugeschrieben wird, so
wird sie doch durchweg indirect, als Voraussetzung besonders
der Naturalisation berücksichtigt.
Die regelmäszigen Entstehungsgründe der Statsangehörig-
keit sind also im Sinne der neueren Rechtsbildung:
1) die Geburt, beziehungsweise die Abstammung der
ehelichen Kinder von einem landesangehörigen Vater, der
unehelichen Kinder von einer landesangehörigen Mutter.
Im Groszen ist das die hauptsächliche Begründung der Stats-
genossenschaft. Eine Ausnahme machen die Findelkinder,
welche dem Lande zugehören, in dem sie gefunden werden;
2) die Heirath, indem die fremdgeborene Ehefrau
durch die Eheschlieszung in die Familie und in das Volks-
recht des Ehemannes eintritt;
3) die Naturalisation, d. h. die Aufnahme eines bisher
Fremden, der in einen neuen Statsverband eintreten will,
von Seite dieser Statsgewalt. Die Bedingungen der Natura-
lisation sind freilich noch sehr verschieden in den verschie-
denen Ländern. Die einen erleichtern die Einwanderung,
die andern erschweren dieselbe. In manchen Ländern be-
wirkt schon die Niederlassung, welche einen dauernden Wohn-
sitz begründet, von selber oder doch in Verbindung mit einer
Anmeldung die Naturalisation; in andern Ländern bedarf diese
eines ausdrücklichen Aufnahmeactes der Landesregierung oder
gar der Gesetzgebung. In vielen Staten hat die statliche An-
stellung von bisher Fremden in dem einheimischen Statsdienste
die Folge der Aufnahme in die Statsangehörigkeit, in andern
[240]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
nicht. Manche Staten verlangen die ausdrückliche Entlassung
aus dem bisherigen Statsverband, oder doch den Verzicht
darauf, andere Staten sehen von dieser Bedingung ab.
2. Dem Erwerb der Volksgenossenschaft entspricht der
Verlust derselben. Hieher gehören folgende Gründe:
1) der Tod. Die meisten Menschen bleiben während
ihres ganzen Lebens demselben State verbunden, in den sie
durch ihre Geburt eingetreten sind;
2) die Heirath. Indem die Frau durch Heirath die ihr
bisher fremde Statsangehörigkeit ihres Ehemannes erwirbt,
verliert sie gleichzeitig ihre bisherige Statsangehörigkeit;
3) die Entlassung aus dem angeborenen oder inzwi-
schen erworbenen Statsverband. Da die Volksgenossenschaft
in dem modernen State als ein persönliches Recht be-
trachtet wird, so wird sie durch den Aufenthalt, selbst durch
die dauernde Niederlassung in einem fremden Lande nicht
sofort aufgehoben. Vielmehr ist als die Auflösungsform,
welche mit der Natur dieses Rechts am besten harmonirt,
die Verzichtleistung von Seite des berechtigten Indivi-
duums, verbunden mit der Entlassung von Seite des States
anzusehen, indem in ihr sich die wechselseitige Lösung des
persönlichen Verbandes darstellt. Die meisten neuern Staten
halten es aber ihrer nicht für würdig, ein Individuum,
welches sich aus dem Statsverbande lossagen will, zurück-
zuhalten, und haben so im Interesse der individuellen Frei-
heit das Princip freier Verzichtleistung anerkannt. In
vielen Fällen wird geradezu aus der Handlungsweise des
Individuums auf Verzichtleistung geschlossen, auch wenn
keine ausdrückliche Erklärung desselben vorliegt. Ganz
besonders gilt das von der Auswanderung, in welcher
sich die Absicht zu erkennen gibt, nicht wieder zurück-
zukehren.9
[241]Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz des Stats etc. 1. Volksgenossen etc.
Nur das englische Statsrecht, obwohl es vielleicht zu-
erst unter den neuen Rechten das Recht der freien Auswan-
derung (des freien Zugs) anerkannt hat, hat den mittelalter-
lichen Gesichtspunkt, dasz der Unterthan sich von der Lehens-
treue gegen den Fürsten nicht ohne dessen Zustimmung
losmachen könne, länger festgehalten, so dasz auch die Aus-
wanderung nicht sofort die Auflösung des englischen Unter-
thanenverbandes nach sich zieht. 10
Als Auswanderung behandelt das französische Recht
auch jede Naturalisation in einem fremden Lande und den
Eintritt in auswärtige Statsdienste ohne Bewilligung der fran-
zösischen Statsregierung; 11 eine Ausdehnung, welche unter
Umständen weiter reicht, als die wirkliche Verzichtleistung,
denn es kann wohl vorkommen, dasz ein Individuum in einen
andern Statsverband eintritt, ohne deszhalb seine bisherige
Statsverbindung aufgeben zu wollen. Indessen sorgt in
solchen Fällen das französische Recht dafür, dasz dem nach
Frankreich zurückkehrenden Individuum die Erneuerung des
französischen Indigenats leicht wird. 12
Die Vereinigung zweier Heimatsrechte in Einer Person
9
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 16
[242]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
ist nicht unmöglich, 13 und theilweise durch die Cultur-
verhältnisse der Gegenwart veranlaszt. Wenn daraus ein
wirklicher Conflict widerstreitender Pflichten sich ergibt —
ein immerhin seltener Fall — so kann die Lösung desselben
wohl schwierig werden. Nicht immer hilft der Satz aus, dasz
der ältere Statsverband dem neueren vorgehe; insbesondere
dann nicht, wenn das ältere Heimatsrecht ein ruhendes, und
das neuere ein wirksames (actuelles) ist, wenn also der
Doppelbürger wohl in der neuen Heimat wohnt, aber nicht
mehr in der alten. In diesen Fällen wird z. B. die Militär-
pflicht in der letzteren geleistet werden müssen. 14 Deszhalb
kommt auch zunächst dem State, welcher einem Ausländer
die Naturalisation ertheilt, oder ihm eine Beamtung überträgt,
die Befugnisz zu, entweder die vorherige Entlassung aus dem
frühern Statsverbande zu verlangen, oder den Vorbehalt der
Fortdauer desselben zuzugestehen. 15
3. Weil die Landesrechte die Bedingungen des Erwerbs
und des Verlustes der Statsangehörigkeit verschieden bestim-
men, so kann daraus leicht ein Conflict entstehen zwischen
[243]Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz des Stats etc. 1. Volksgenossen etc.
zwei Staten, welche entweder beide zugleich ein Individuum
als Statsgenossen betrachten und je nach Umständen schützen
oder verpflichten, oder von denen keiner dem andern gegen-
über sich für verpflichtet hält, einen früher ihm Angehörigen
aufzunehmen.
Um derartige Conflicte zu beseitigen, ist vornehmlich
auf Betrieb des nordamerikanischen Gesandten bei dem Nord-
deutschen Bunde, Bancroft, der Vertrag vom 22. Februar
1868 zwischen diesem Bunde und der Union der Vereinigten
Staten zu Stande gekommen, durch welchen bestimmt wurde,
dasz die fünf Jahre lang fortwirkende Naturalisation in einem
der beiden Staten von da an auch in dem andern als wirk-
sam anerkannt, folglich der bisherige Statsverband nach
dieser Frist als erloschen betrachtet werde. Auf derselben
Grundlage hat denn auch England mit den Vereinigten Staten
ebenfalls 1868 sich vereinbart und es scheint das neue Princip
allgemeine Billigung zu erwerben.
4. Die Wirkungen der Volksgenossenschaft beziehen
sich theils auf das Gebiet des Privatrechts, theils auf das
Gebiet des Oeffentlichen. In dem Privatrechte war früherhin
der Gegensatz zwischen Einheimischen und Fremden viel be-
deutender als gegenwärtig. Die moderne Zeit ist geeignet, die
beiden Gebiete schärfer zu sondern und daher auch in dem
Privatrechte dem seiner Natur nach politischen Statsverbande
keine besondere Bedeutung beizulegen. Regel ist daher nun-
mehr, dasz Einheimische und Fremde in privatrechtlicher
Hinsicht gleich behandelt, und diese wie jene zunächst
des vollen Privatrechts fähig erachtet werden. 16
[244]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Nur ausnahmsweise hat sich noch der früher allgemein
angenommene Grundsatz erhalten, dasz Fremde kein Grund-
eigenthum in dem Lande erwerben können. 17 Häufiger sind
dieselben in der Ausübung gewisser Gewerbe, namentlich in
der selbständigen Betreibung von Handwerken, auch
etwa von Kramladen beschränkt. 18 Das Fremdlings-
recht (jus albinagii) dagegen, welches dem Landesherrn die
Verlassenschaft des Fremden preisgab und der Abschosz
(gabella hereditaria), welcher von Verlassenschaften, die ins
Ausland kamen, erhoben wurde, sind nun fast überall als
unpassende Reste einer untergegangenen Zeit weggeräumt
und die Freizügigkeit auch insofern zur Regel erhoben
worden. 19
In dem öffentlichen Rechte aber ist der Gegensatz zwi-
schen Einheimischen und Fremden noch vollwirksam. Nur den
erstern, nicht ebenso den letztern stehen von Rechtes wegen,
und ohne dasz es einer besondern Zusicherung bedarf, zu:
a) das Recht zu ständigem Aufenthalt und Wohn-
sitz in dem Statsgebiete, 20 in Folge dessen der Einheimische
[245]Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz des Stats etc. 1. Volksgenossen etc.
auch nicht an einen fremden Stat ausgeliefert noch ohne
höhere Statsgründe verbannt werden darf;
b) das Recht auf Statsschutz, auch wenn er auszer-
halb des eigenen Statsgebietes sich aufhält;
c) die Vorbedingung zur Ausübung politischer
Stimmrechte und zum Erwerb des eigentlichen Stats-
bürgerrechts; 21
d) ebenso die Vorbedingung zur Fähigkeit, ein öffent-
liches Amt im State zu bekleiden; 21
e)zuweilen ist auch die Ausübung allgemeiner poli-
tischer Rechte, wie z. B. des Vereinsrechtes, oder des Peti-
tionsrechtes, oder der freien Presse an die Eigenschaft des
Einheimischen geknüpft. 22
Daraus folgt nun freilich nicht, dasz den Fremden die
Betheiligung bei politischen Vereinen, Petitionen, der Presse
untersagt sei, sondern nur, dasz dieselben kein in ihrer
Person begründetes Recht darauf haben, somit diese Theil-
nahme von der Duldung des States abhängig sei, in dem
sie wohnen ohne ihm anzugehören.
[246]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Zweiundzwanzigstes Capitel.
2. Die Statsbürger im engeren Sinne.
Aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen erhebt
sich die höhere Stufe der Statsbürger im eigentlichen Sinne.
Die Statsbürger als solche haben Theil an den politischen
Rechten, und insbesondere in der Repräsentativverfassung an
dem Stimmrechte für die Wahlen der Volksvertreter. Das
Statsbürgerrecht in diesem Sinne setzt die Volksgenossenschaft
als Grundbedingung voraus, verbindet aber mit derselben über-
dem die politische Vollberechtigung im State, und in
ihm vorzüglich erhält die politische Beziehung der Individuen
zum State ihren vollen Ausdruck.
In dem griechischen und in dem römischen Stat des Alter-
thums war diese Eigenschaft mit dem Bürgerthum der regie-
renden Stadt, in dem ältern Mittelalter mit dem Stande der
Volksfreiheit in dem spätern Mittelalter mit ständischem Recht
und Grundbesitz verbunden. In dem modernen State hat die-
selbe einen weiteren Umfang gewonnen und sich in manchen
Ländern der Volksgenossenschaft an Ausdehnung sehr ange-
nähert.
Als allgemein anerkannte Beschränkungen des neuen
Statsrechts sind anerkannt:
1. Ausschlieszung des weiblichen Geschlechts. Die
Politik ist Sache des Mannes, die politischen Rechte stehen
daher auch nur den Männern zu. Vgl. oben Capitel XX.
2. Ausschlieszung der Minderjährigen. Die selbstän-
dige Ausübung der politischen Rechte erfordert eine gewisse
geistige Reife. Weil es ihnen daran gebricht, sind die Un-
mündigen und die Minderjährigen ausgeschlossen.
In einzelnen neuern Staten wird die politische Voll-
jährigkeit von der privatrechtlichen unterschieden. Eher
läszt es sich rechtfertigen, wenn jene nach dieser, als wenn
[247]Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
umgekehrt diese nach jener eintritt; denn leichter ist es in
den Geschäften des täglichen Lebens zu einem klaren Urtheile
zu gelangen, als da, wo es sich um politische Interessen und
auch — wie bei Wahlen — um Beurtheilung politischer Per-
sonen handelt. In Frankreich, in England, in Nord-
amerika beginnt die politische und bürgerliche Volljährig-
keit zugleich mit der Vollendung des einundzwanzigsten
Altersjahres, 1 in einigen deutschen Staten, wie in Bayern
ebenso; 2 in Preuszen und im deutschen Reiche3 da-
gegen und ebenso in Spanien4 und in Italien5 u. s. f.
beginnt das politische Stimmrecht mit dem zurückgelegten
fünfundzwanzigsten, in Oesterreich mit dem vollendeten
sechsundzwanzigsten Altersjahre. 6 In der Schweiz lassen
einzelne Kantone das Alter der politischen Volljährigkeit
sogar früher eintreten, nun fast durchweg mit der Voll-
endung von zwanzig Jahren, als dem Alter der bürgerlichen
Majorennität. 7
3. Ausschlieszung der Personen, deren bürgerliche
Ehrenfähigkeit vermindert oder aufgehoben worden ist:
z. B. der Sträflinge, der erklärten Verschwender, der Falliten
und der Personen, welche der öffentlichen Armenunterstützung
anheimfallen.
In vielen Staten treten überdem noch folgende Erforder-
nisse hinzu:
[248]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
4. Ein gewisses Masz von Selbständigkeit der äuszeren
Existenz des Statsangehörigen. Die Art, diese Selbständig-
keit zu bestimmen, ist freilich sehr verschieden in den ver-
schiedenen Staten.
Im Geiste des ältern germanischen Rechts wird dieselbe
vorzüglich in dem Grundbesitze oder der Haushäblich-
keit („wer einen eigenen Rauch führt“), im Sinne des neuern
germanischen Rechts mehr in der selbständigen Betreibung
irgend eines Berufes auf eigene Rechnung und in der Auf-
nahme in den Verband der activen Gemeindebürger
erkannt. Die erstere Auffassung hat sich zum Theil bis auf
die neueste Zeit in England8 und in einzelnen nordame-
rikanischen Staten erhalten, die letztere ist in die neueren
Statsverfassungen deutscher Staten übergegangen. 9 Es
bleiben somit diejenigen Personen ausgeschlossen, welche als
Bediente oder Knechte sich einer Herrschaft verdungen haben,
öfter auch die Fabrikarbeiter, wenigstens der unteren Classen,
und die gröszere Zahl der Handwerksgesellen.
Dagegen haben andere Staten in neuerer Zeit, dem Rufe
nach dem allgemeinen Stimmrecht folgend, dieses Erfordernisz
entweder in laxerem Sinne behandelt oder ganz aufgegeben.
Dahin gehören die neueren Schweizerverfassungen seit 1830,
die Verfassung der französischen Republik von 1848 und
des französischen Kaiserreichs, und die Verfassung des
norddeutschen Bundes von 1867, nunmehr des deut-
[249]Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
schen Reiches von 1871 und die spanische Verfassung
von 1868. Auch die Vereinigten Staten von Nordamerika
streben gegenwärtig dieselbe Ausdehnung des Stimmrechts
auf Jedermann an. Sie entspricht offenbar der demokrati-
schen Neigung unseres Zeitalters.
5. Das Statsbürgerrecht wird überdem in einzelnen
Staten von einem bestimmten Masze des Vermögens ab-
hängig gemacht. Bei der Vertheilung der Stimmrechte
kann das Vermögen gar wohl als ein wichtiger Factor in
Betracht gezogen werden; aber es widerspricht der Statsidee,
dasz ein Mann, welcher moralisch und geistig in jeder Weise
befähigt und berufen ist, an dem politischen Leben des Volks
Theil zu nehmen, und welcher auch als Privatmann völlig
unabhängig zu handeln gewohnt ist, blosz darum von dem
Statsbürgerrechte ganz ausgeschlossen bleiben soll, weil er
kein oder nicht das geforderte Vermögen besitzt. Wird dabei
nicht blosz das Grund- oder überhaupt das Capitalvermögen,
sondern auch das Einkommen und der Erwerb in Anschlag
gebracht, und das Masz so niedrig angesetzt als dasselbe für
eine ganz bescheidene Existenz eines Menschen unentbehrlich
ist, dann freilich ist gegen dieses Requisit nicht viel zu
haben. Dann fällt es dem Effecte nach so ziemlich mit dem
vorher erörterten der Selbständigkeit zusammen. Es wird
dann diese nach dem Vermögen beurtheilt. Die Bestimmung
mancher Verfassungen, wie z. B. der nordamerikani-
schen, der bayerischen von 1848, theilweise auch der
österreichischen und der preuszischen, welche das
politische Stimmrecht von der Bezahlung directer Statssteuern
abhängig machen, hat eine ähnliche Bedeutung.
6. In den christlichen Staten wurde bis auf die neueste
Zeit herab auch das Bekenntnisz der christlichen Re-
ligion gefordert. Anhänger einer andern, wenn auch gedul-
deten Religion, z. B. Juden oder Muhammedaner, waren somit
von dem Statsbürgerrechte ausgeschlossen. Während des
[250]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
ganzen Mittelalters waren Religion und Recht, Kirche und
Stat in der engsten Verbindung und Wechselwirkung. Wer
von der religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen war, wurde es
auch von der politischen. Der „Ungläubige“ konnte im gün-
stigsten Falle auf Duldung, und selbst auf diese nur aus-
nahmsweise hoffen; an politische Gleichberechtigung mit den
„Gläubigen“ war nicht zu denken.
Selbst innerhalb der christlichen Religion wurde, als
die Confessionen sich schieden, auf die bestimmte Con-
fession auch in dem Statsrechte groszer Werth gelegt. In
vorzugsweise katholischen Ländern wurde nur den Katholiken,
in protestantischen nur den Protestanten das volle Statsbürger-
recht zuerkannt. Auch der westphälische Frieden sicherte für
Deutschland nur die privatrechtliche, keineswegs die politische
Rechtsgleichheit der Katholiken und der Protestanten. 10 Die
deutsche Bundesacte von 1815 stellte die anerkannten christ-
lichen Religionsparteien der Katholiken, Lutheraner und Re-
formirten auch in dieser Beziehung in Deutschland gleich,
liesz es aber noch ungewisz, ob auch die Anhänger von an-
dern Secten der nämlichen Rechte theilhaftig seien. 11
Die neuere Rechtsentwicklung in manchen Staten hat nun
eine entschiedene Tendenz, die Ausübung der politischen Rechte
unabhängig zu erklären von irgend einem religiösen
Bekenntnisz. Es wäre irrig, diese Tendenz als die Frucht
des religiösen Indifferentismus zu erklären, obwohl nicht zu
[251]Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
läugnen ist, dasz auch dieser seinen Antheil an der neuen
Gestaltung hat. Als zuerst der nordamerikanische Con-
gresz 1791 untersagte, „ein Gesetz zu geben, wodurch eine
Religion zur herrschenden erklärt werde,“ war die Meinung
keineswegs die, dasz es für die Wohlfahrt des States gleich-
gültig sei, ob seine Bürger von der Wahrheit und Kraft der
christlichen Religion beseelt seien oder nicht, noch die, den
Stat an der Ausübung seiner Pflicht, die Anstalten der christ-
lichen Religion zu schützen und zu fördern, irgend zu be-
hindern. 12
Das neuere Princip erhält vielmehr seine tiefere Begrün-
dung in der Anerkennung der Idee, dasz der religiöse Glaube
und das religiöse Bekenntnisz ihrem Wesen nach von statlichem
Zwange frei sein und der Mahnung des Gewissens allein an-
heim gegeben werden müssen, dasz daher auch keine politi-
schen Nachtheile, keine Rechtsverminderung die Abweichung
von dem christlichen Glauben bedrohen dürfe. Dazu kam die
Neigung der Nordamerikaner, die beiden Gebiete des statlichen
und des kirchlichen Lebens scharf von einander auszuscheiden,
und auf dem einen den Stat, auf dem andern die Kirche mög-
lichst frei gewähren zu lassen. In diesem Sinne wurden die
politischen Rechte Keinem versagt, der, wenn auch einer
andern Religion zugethan, doch fähig schien, die politischen
Pflichten auszuüben.
Als dagegen die französische Revolution ähnliche
Grundsätze adoptirte, war nicht lediglich die Sorge für die
Gewissensfreiheit das bestimmende Motiv, vielmehr hatte, wie
die auch an religiösen Verfolgungen reiche Geschichte jener
Zeit beweist, auch der aus der früheren Frivolität zu wildem
Hasse des Christenthums fortgeschrittene Geist der Verneinung
einen Antheil daran. 13
[252]Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Auch in Deutschland ist das nämliche Princip, nun
schärfer noch ausgesprochen seit der Bewegung vom Jahr
1848, anerkannt worden. Die österreichischen Grund-
rechte von 1849. §. 1. sowohl als die preuszische Ver-
fassung von 1850 stimmen darin mit dem Frankfurter und
dem Berliner Entwurf der Reichsverfassung überein, dasz
„der Genusz der bürgerlichen und der statsbürgerlichen Rechte
von dem Religionsbekenntnisse unabhängig sein“ soll. Vor-
sichtig aber fügen dieselben hinzu, dasz „den statsbürgerlichen
Pflichten durch das Religionsbekenntnisz kein Abbruch ge-
schehen“ dürfe.
Das norddeutsche Bundes-, nun deutsche Reichs-
gesetz vom 3. Juli 1869 endlich bestimmt: „Alle noch be-
stehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekennt-
nisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und
statsbürgerlichen Rechte werden hiedurch aufgehoben. Ins-
besondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Ge-
meinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffent-
licher Aemter vom religiösen Bekenntnisz unabhängig sein.“
In Folge dieser neuerlich anerkannten Grundsätze ist denn
auch die Stellung der Juden in diesen Ländern eine von
Grund aus andere geworden. Waren dieselben früher von dem
Genusse des Statsbürgerrechtes in Deutschland meistens ganz
ausgeschlossen, so darf nun von der jüdischen Religion her
kein Grund mehr genommen werden, denselben jenes Recht
zu versagen.
Zu allgemeiner Geltung ist das neue Princip noch
nicht gelangt. Von dem Papstthum wird es fortwährend als
Irrthum verdammt. Aber nicht blosz wird es noch von den
katholischen Staten, welche unter dem Einflusse des Klerus
13
[253]Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
stehen, entweder verneint oder doch schlecht gehandhabt, es
besteht auch in Norwegen und Ruszland noch nicht. In
der Schweiz hat erst das Verfassungsgesetz von 1866 die
politischen Rechte für unabhängig erklärt von der christlichen
Confession und selbst in England hat das moderne Princip
— obwohl die frühere Zurücksetzung der Dissenters und der
Katholiken in diesem Jahrhunderte ebenfalls aufgehoben wor-
den ist — nur unter bedeutenden Einschränkungen eine un-
vollständige Autorität erlangt.
Der moderne Stat hat jedenfalls, seiner menschlichen und
nationalen Begründung getreu, die entschiedene Tendenz, die
Anhänger verschiedener Glaubensbekenntnisse durch seine ge-
meinsamen Institutionen zu einigen und allmählich die mittel-
alterliche Verflechtung des öffentlichen Rechts mit bestimmten
religiösen Bedingungen oder kirchlichen Vorschriften aufzu-
lösen.
[[254]]
Drittes Buch.
Die Grundlagen des Stats in der äuszeren Natur.
Das Land.
Erstes Capitel.
I. Das Klima.
Im Gegensatze zu der gesammten Thierwelt besitzt der
Mensch die Fähigkeit, überall auf der Erde zu wohnen. Er
hat eine gröszere Widerstandskraft in seiner Natur gegen die
Einwirkung der Atmosphäre und eine reichere Fülle von
Mitteln zur Verfügung, um den Gefahren zu begegnen, wo-
mit das Klima das mikrokosmische Leben bedroht. Er kann
in allen Zonen seine Eigenart behaupten.
Aber die tellurischen Gegensätze von Wärme und Kälte,
Tag und Nacht wirken doch auf seinen Körper und Geist ein.
Die Bedingungen seines Lebens sind verschieden, je nach
dem er näher dem Aequator oder näher den Polen lebt.
Wenn auch der Einzelne sich wenig verändert, indem er den
Süden oder den Norden bereist, und sich eine Zeit lang auf
einem verschiedenen Breitegrad aufhält; die Massen empfinden
den Einflusz des Klimas doch stark genug und mit der Zeit,
in den folgenden Generationen wird derselbe so mächtig, dasz
er ihren Charakter fast noch mehr ändert, als ihre leibliche
[255]Erstes Capitel. I. Das Klima.
Erscheinung. Die Römer sind im Orient schlaff geworden, die
Germanen haben an der afrikanischen Küste des Mittelmeers
ihre active Willensstärke eingebüszt, auch die Engländer wer-
den leicht träge und wollüstig in Ostindien. Bodin (lib. V.),
Montesquieu (lib. XIV.), Filangieri (I. 14, 15) und
neuestens Buckle (Geschichte der Civilisation I. c. 2) haben
dieser Einwirkung des Klimas auch auf das Statsleben ihre
Aufmerksamkeit zugewendet und die Gesetze derselben zu
bestimmen versucht.
Schon längst hat man die Bemerkung gemacht, dasz so-
wohl die heiszen Tropenländer (bis 23° 28′) als die kalten
Polarzonen (über 66° 23′) für die Bildung und Entwicklung
der Staten weniger günstig sind, als die zwischen denselben
liegenden gemäszigten Zonen. Mehr als die Hälfte der festen
Erdrinde gehört diesen Zonen an; und überdem ist auf der
nördlichen Hemisphäre, wo die Hauptsitze der Culturvölker
sich finden, festes Land und Wasser in nahezu gleicher Aus-
dehnung vertheilt, 1,117,600 Quadratmeilen Land und 1,231,000
Quadratmeilen Wasser, während sonst überall die Wasserfläche
einen sehr viel gröszeren Raum einnimmt. In kalten Län-
dern wird das Zusammenleben der Menschen sehr erschwert,
weil dieselben weder die Ernährung noch die Erwärmung aus
der Nähe beschaffen können und die zerstreuten einzelnen
Familien haben einen allzuschweren Kampf für ihre Leibes-
noth mit der Natur zu bestehen, als dasz sie die Musze und
die Lust fänden, sich mit den Fragen der Civilisation ernst-
lich zu beschäftigen. Die heiszen Länder aber stimmen die
Massen träge und nur die Leidenschaften flammen von Zeit
zu Zeit heftig auf. Die activen Kräfte werden wenig ent-
wickelt, die passiven Neigungen überwiegen. Der Stat aber
ist auf Selbstbeherrschung und Freiheit angewiesen und be-
darf daher der activen Mannestugend. Die Bevölkerung der
kalten Zonen bewahren wohl eine persönliche Unabhängigkeit,
aber bringen es nicht zur Statseinheit und Statsgemeinschaft,
[256]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
die der heiszen Zonen erträgt leichter die Despotie als sie
ihr Recht zu behaupten und einen freien Stat darzustellen
vermag. Schon Bodin (V. p. 671): „Les peuples des régions
moyennes ont plus de force que ceux du midi, et moins de
ruses, et plus d'esprit que ceux de Septentrion et moins de
force. Et sont plus propres à commander et gouverner les
républiques et plus justes en leurs actions.“
Die heutige Naturwissenschaft beobachtet neben dem
mathematischen (solaren) Klima, welches lediglich durch
den Breitegrad bestimmt wird und von der Stellung der Erd-
oberfläche zur Sonne abhängt, auch das sogenannte phy-
sische Klima, indem sie die Durchschnittswärme der ver-
schiedenen Oerter miszt und darnach die Isothermen be-
stimmt, deren Linien mit den Kreisen der Breitegrade nicht
völlig zusammentreffen, sondern bald nach Norden, bald nach
Süden abbiegen, je nachdem noch andere Factoren, wie z. B.
die wechselnde Höhe des Festlandes über dem Meere und die
Nähe der Gewässer, die Wind- und Wasserströmungen u. s. f.
die Jahrestemperatur abändern. Die Unterscheidungen sind
so zahlreicher und feiner geworden, die Haupterfahrung aber
hat nur neue Bestätigung gewonnen: die gemäszigten mitt-
leren Zonen sind der Statenbildung weit günstiger als die
extremen, sei es der Hitze, sei es der Kälte.
Es ist eine auffallende Thatsache, dasz fast alle Staten von
geschichtlicher Bedeutung in der mittelsten, gemäszigten
Zone, wo die Durchschnittswärme des Jahres zwischen
8° und 16° C. schwankt, ihren eigentlichen Stammsitz und
ihre Hauptstädte haben. Die meisten europäischen Staten,
ein groszer Theil der asiatischen Staten — die Curve der
Isothermen senkt sich in Asien auffallend stark nach Süden —,
ebenso die nordamerikanischen Staten wurzeln in dieser Zone.
Rom (15, 4) und Madrid (14, 2), Paris (10, 8) und London
(9, 8), Wien (10, 5) und Konstantinopel (13, 7), Berlin (9, 1),
Hamburg (8, 9), Kopenhagen (8, 2) und Zürich (8, 8),
[257]Erstes Capitel. I. Das Klima.
Haag (10, 5), aber auch Dresden (8, 3) und München (9, 1),
Boston (9, 6) und Washington (13, 5), Philadelphia (11, 9) und
Richmond (13, 8) und ebenso Peking (11, 3) haben Theil an
dieser gemäszigten Temperatur. In Europa gehören fast nur
die russischen Hauptstädte Moskau (3, 6) und Petersburg
(3, 1) und die scandinavischen Christiania (5, 3) und Stock-
holm (5, 6) einer kälteren Zone an; indessen auch da steigt
die mittlere Sommerwärme bis 15° und 16°, in Montreal
(Canada mit 6, 4 Jahreswärme) sogar bis 20° 5. Die süd-
licheren Städte Neapel (16, 4), Lissabon (16, 4), Mexico
(16, 6), Buenos-Aires (16, 9), Palermo (17, 2), Sidney (18, 1),
Nangasaki (18, 3) übersteigen die Wärmegrade der gemäszig-
ten Zone doch nur um wenige Grade. Dagegen erhebt sich
die Jahreswärme von Canton auf 21, 6, von Cairo auf 22, 4,
Rio de Janeiro 23, 1, Calcutta 25, 8, Singapore 26, 5; wo-
bei jedoch zu beachten ist, dasz China von Peking aus be-
herrscht wird und dasz Indien von dem milderen Fünfstrom-
land aus und von den oberen Ufern des Ganges her seine
Civilisation empfangen hat.
Auch der Wechsel der vier Jahreszeiten, welcher
nur in der gemäszigten Zone deutlich ist, scheint den Men-
schengeist wohlthätig anzuregen. Er gibt demselben verän-
derte Bilder der Natur und stellt ihm nach wenigen Monaten
wieder neue Aufgaben.
Der Gegensatz der Zonen wiederholt sich in weniger
schroffen, aber immer noch deutlichen Verhältnissen inner-
halb derselben Zone. Bei derselben Nation und in dem-
selben Land finden wir in den kühleren Theilen desselben
eher verständige Nüchternheit, gröszere Muskelkraft, zäheren
Muth, in den wärmeren eher kluge List, lebhaftere Phan-
tasie, ein heiszeres Temperament und reizbarere Nerven.
Man braucht nur die Italiener, Franzosen, Deutschen, Russen,
im Norden und im Süden von Italien, Frankreich,
Deutsch-
land, Russland mit einander zu vergleichen, so springen einem
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 17
[258]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
diese Gegensätze in die Augen. Einzelne Individuen ent-
scheiden hier nicht, aber die Massen empfinden den Unter-
schied des Klimas. Bodin geht zu weit, wenn er sagt, die
Nordländer überwinden die Südländer gewöhnlich in der
offenen Feldschlacht, aber diese gewinnen jenen wieder den
Vortheil ab in der diplomatischen Verhandlung. Aber immer-
hin ist es bei politischen Fragen rathsam, die ausdauernde
Körperkraft und den zähen Willen der Nordländer wie die
leidenschaftliche Reizbarkeit und Geistesfeinheit der Südlän-
der innerhalb der gemäszigten Zone wohl in Betracht zu ziehen.
Die Politik vermag sehr wenig wider die zuweilen unbe-
queme Macht des Klimas. Sie kann dasselbe nicht ändern
und die makrokosmischen Wirkungen der Natur nicht auf-
heben. Es bleibt ihr nur die eine Aufgabe, dasz sie die Vor-
züge, welche das Klima darbietet, zu menschlichen Zwecken
benutze und so viel als möglich den Stat vor den schädlichen
Einwirkungen behüte.
Einiges kann die Erziehung und die Gesetzgebung in
dieser Hinsicht allerdings leisten. Wenn in den kälteren
Ländern der Mensch mehr zur Trunkenheit, in den südlichen
mehr zur Geschlechtslust geneigt ist, so wird dort der einen,
hier der anderen Ausschweifung mit strengerer Sorge entgegen
zu wirken sein. Aber man wird dabei nicht vergessen dürfen,
dasz in dem kälteren Himmelsstrich der Arbeiter zu seiner
Erwärmung mehr Nahrung und mehr Getränke bedarf. Auf
der andern Seite wird in warmen Ländern der Genusz gei-
stiger Getränke leicht gefährlich für die Gesundheit, während
er in kälteren Zonen unentbehrlich ist. Das Verbot Muham-
meds, Wein zu trinken, hatte daher einen Sinn für die Be-
wohner Arabiens, wäre aber sinnlos für die Europäer. Ebenso
wird in der gemäszigt-kühleren Zone eher die Freiheit der
Arbeit, in der gemäszigt-wärmeren eher die Anregung zur
Arbeit zu befördern sein. Trotz aller Modificationen, welche
die Verschiedenheit des Klimas hervorbringt, die menschliche
[259]Zweites Capitel. II. Bodengestalt und Naturerscheinungen.
Natur bleibt doch im Grunde dieselbe in allen Zonen, und
eben deszhalb ist ein relativer Kampf derselben auch mit den
schädlichen Einflüssen einzelner Klimate nicht unmöglich.
Energische und gut ausgestattete Individuen lassen sich das
Klima wenig anfechten.
In Einer Hinsicht ist die politische Vorsicht voraus wichtig.
Sowohl die Natur des Landes, als der Kern eines Volkes ist
geschichtlich gegeben. Da läszt sich nicht viel ändern. Aber
wenn die Frage entsteht, wo der Hauptsitz eines States, die
Hauptstadt zu gründen oder wohin zu verlegen sei, dann sind
auch die klimatischen Rücksichten bei ihrer Entscheidung
nicht auszer Acht zu lassen. Es war ein kolossaler politischer
Fehlgriff als Kaiser Otto III. die Hauptstadt des deutschen
Reichs nach Rom verlegen wollte und es ist kein glücklicher
Gedanke, Ostindien von Calcutta aus zu verwalten. Obwohl
gegen die Wahl Berlins zur preuszischen Hauptstadt vieles
einzuwenden ist, so paszt der Ort doch weit besser als Königs-
berg zu dieser Aufgabe. Die — freilich nur vorübergehende
— Wahl von Florenz zur Hauptstadt des Königreichs Italien
hatte auch aus klimatischen Gründen den Vorzug vor dem
rauheren Turin oder dem weicheren Neapel verdient, indem
das Klima von Florenz eine glückliche Mitte hält, welche
jenem Gleichgewicht des Volksgeistes, der sich selber beherr-
schen soll, vorzugsweise günstig ist.
Zweites Capitel.
II. Bodengestalt und Naturerscheinungen.
Seit Carl Ritter pflegen die Geographen sorgfältigere
Rücksicht auf den Zusammenhang zu nehmen zwischen der
Bodengestalt und der Culturentwicklung der Menschen, welche
ein Land bewohnen. Die Einwirkung des Landes auf die
[260]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Menschen und auf den Stat war aber viel früher, insbeson-
dere schon von den Hellenen beachtet worden.
Die Wahrnehmung, dasz die ältesten groszartigen Staten-
bildungen in Stromgebieten stattfinden — wir erinnern
nur an das Fünfstromland und an den oberen Ganges in In-
dien, an den Nil in Aegypten, an den Tigris und Euphrat für
die westasiatischen Reiche, an den Pei-ho in China — läszt
schlieszen, dasz das Leben an einem groszen Strom für die
frühe Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und des
menschlichen Selbstbewusztseins vorzugsweise günstig sei.
Indem der Mensch lernt, das Wasser sich dienstbar zu
machen, indem er Schiffe und Kanäle baut, gewinnt er
Selbstvertrauen und vermehrt seinen Besitz, und indem er
sich von der Strömung tragen und treiben läszt, entwickelt er
die Lust zum Abenteuer und zum Handel.
Aus ähnlichen Gründen erwerben auch die Küsten-
länder, am Meeresstrande, und die Inseln eine frühzeitige
Cultur. Wenn Hellas und Italien in der classischen Periode
voraus gegangen sind in Europa, wenn von Spanien und
Portugal aus die transatlantische Welt zuerst in Besitz ge-
nommen worden ist, wenn Holland und England früher als
der grosze europäische Continent freie Volksstaten hervor-
gebracht haben, so bildet ihre Lage am Meere sicher einen
Factor zu dieser Frühreife. Die Macht des Meeres ist frei-
lich gröszer als die des Stromes und es kostet den Menschen
gröszere Anstrengung und längere Arbeit, um auch das Meer
sich nützlich zu machen.
Die Gebirgsländer sind ferner ausgezeichnet durch
ihre mächtige Wirkung auf das Gemüth und den Charakter
der Menschen. Schon der Anblick der herrlichen und man-
nigfaltigen Gebirgsnatur wie des gewaltigen und weiten Meeres
erhebt und stählt die Menschenbrust. Die Gebirgsbewohner
sind genöthigt, ihre persönlichen Kräfte täglich anzuspornen
und zu üben. In Folge dessen wächst ihre Stärke und sie
[261]Zweites Capitel. II. Bodengestalt und Naturerscheinungen.
lernen sich selber helfen in der Gefahr. Sie werden zu Män-
nern erzogen. Die vielverzweigte und durchklüftete Natur
des Bodens begünstigt die Entstehung kleiner Gemeinwesen
in den mancherlei Bergthälern, die sich ihrer Eigenart selb-
ständig erfreuen und sich trotzig wehren wider fremde Ge-
walt. Die Perser, wie die Israeliten und Araber, die Völker
am Kaukasus wie die Hellenen, die Samniter wie die Schweizer
bezeugen diese Eigenthümlichkeit. Aber der Freiheitssinn der
Gebirgsvölker hat einen etwas anderen Charakter als die Frei-
heitsliebe der Küstenbewohner. Jener hat, wie das Gebirg,
mehr ruhige Härte und Festigkeit, dieser ist gleich dem
Meere beweglicher und zur Veränderung geneigter. Es war
für die Römer eine besonders glückliche Lage, dasz sie zugleich
von einem Gebirgskreis umlagert und der See nahe waren.
Langsamer entwickeln sich die Binnenländer, zumal
mit breiten gleichmäszigen Ebenen. Die Natur wirkt hier
nicht so anregend auf die Menschen und deszhalb wächst die
Cultur, welche jene Mängel ersetzen musz, nur allmählich
heran. Später als in Italien hat sich in Frankreich, später
als in England hat sich in Deutschland der Stat entwickelt.
Am ungünstigsten ist die Lage weiter vom Meere aus-
geschlossener Flachländer, ohne grosze Ströme und ohne
Gebirge, aber mit weiten Steppen oder gar Wüsten. Man
braucht nur Europa mit Afrika, oder Mittelasien mit den
asiatischen Küstenländern oder Westeuropa mit Osteuropa zu
vergleichen, um diesen Unterschied anschaulich zu machen.
Von jeher haben die Despotien in solchen Flachländern eine
duldsame Bevölkerung vorgefunden, welche stumpfsinnig und
widerstandslos der absoluten Monarchie gehorcht.
Zwar sind auch diese Bedingungen der Natur vorerst an-
zunehmen, wie sie sind. Indessen hat der Mensch in dieser
Hinsicht mehr Macht, als gegenüber dem Klima. Die Politik
kann freilich im Groszen auch nicht Berge versetzen, noch
Meere herbei zaubern. Aber sie kann ungezähmte Flüsse
[262]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
schiffbar machen, Canäle anlegen, Straszen und Eisenbahnen
bauen, ein Netz von Telegraphen ausspannen. Sie kann die
Einförmigkeit der Landschaft durch den Verkehr beleben und
das Innere des Festlandes mit dem Weltmeer verbinden.
Die menschliche Cultur findet also hier grosze und lösbare
Aufgaben vor und der zunehmenden Civilisation wird es
schlieszlich gelingen, alle Theile der bewohnbaren Erdober-
fläche in einen segensreichen Zusammenhang zu bringen.
Auf die Einwirkung wechselnder und momentaner Natur-
erscheinungen hat neuerlich besonders Thomas Buckle
aufmerksam gemacht. Auch in dieser Beziehung sind die
Küsten- und die Gebirgsländer vor den ebenen Binnenländern
sehr ausgezeichnet und prägen ihre groszartigen Bilder ihren
Bewohnern tief ins Herz ein. Aber es kommen hier noch
andere Erscheinungen in Betracht. Es kann die äuszere
Natur, wie das in manchen Tropenländern geschieht, auf den
gewöhnlichen Menschen auch einen übermächtigen Eindruck
machen, welcher ihm jede Hoffnung raubt, dasz er im
Kampfe mit der Natur siegreich werde und ihn deszhalb
zum Verzicht auf jede Kraftanstrengung treibt, dagegen seine
Phantasie mit ungeheuren Bildern der Naturgewalt, sein Herz
mit Furcht und sein Gemüth mit Aberglauben erfüllt. Der
überwältigende Schneefall, das Vorrücken der Gletscher-
massen, die Lawinenstürze im kalten Norden und im Hoch-
gebirg, die mächtigen Regengüsse und Ueberschwemmungen,
die erschütternden Gewitter und Orkane in manchen heiszen
Ländern, der rasche Wechsel zwischen einer undurchdring-
lichen Ueppigkeit der Vegetation und einer versengten Dürre,
die verheerenden Insektenschwärme und die Wuth der wilden
Thiere, das Alles kann eher niederdrückend als anregend auf
die Menschen wirken, welche da leben. Wie überhaupt nicht
die extremen, sondern die gemäszigten Naturzustände vor-
zugsweise dem Menschen günstig sind, dessen Kräfte nicht
absolut, sondern körperlich enge beschränkt sind, so wirken
[263]Drittes Capitel. III. Fruchtbarkeit des Bodens.
auch die gemäszigten Erscheinungen der äuszeren Natur am
besten auf die Entfaltung seines Verstandes. Das einförmige
Einerlei übt zu wenig Reiz auf den Menschen aus, die offen-
bare Uebergewalt der Natur schreckt ihn. Eine öfter wech-
selnde, aber gemäszigte Naturerscheinung regt sein Nach-
denken an und fordert seine Arbeit heraus. In den tropischen
Ländern wird die Phantasie der Völker bis zu fratzenhafter
Unnatur überreizt, in den gemäszigten kann der Masz haltende
und ordnende Verstand der Völker eher zur Geltung kommen.
Uebrigens musz man sich davor hüten, die Wirksamkeit
dieser Naturerscheinungen zu überschätzen. Es kommt doch
noch mehr auf die sittliche und intellectuelle Erziehung an,
welche der Mensch dem Menschen ertheilt, als auf die Ein-
drücke der Natur. Auch in heiszen Ländern kann der Ver-
stand ausgebildeter und die Phantasie durch das Schönheits-
gefühl gezügelt werden; auch unter einem gemäszigten
Himmelsstrich kann der Aberglaube üppig wuchern und die
Denkkraft gebunden werden. Die Natur der Erdoberfläche
herrscht nicht absolut über den Menschen, der Mensch kann
und soll sich ihr selbständig gegenüber stellen, und je nach
Umständen ihre Hülfe benutzen oder ihre schädlichen Wir-
kungen bekämpfen.
Drittes Capitel.
III. Fruchtbarkeit des Bodens.
Je fruchtbarer der Boden ist, um so leichter wird es
den daselbst wohnenden Menschen, sich zu ernähren; und
je freigebiger ihnen die Natur die erforderliche Nahrung ge-
währt, um so rascher vermehren sich die Familien und die
Bevölkerung. Es scheint also, dasz je fruchtbarer der Boden
ist, um so günstiger die natürliche Vorbedingung für die
[264]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Wohlfahrt der Gesellschaft und des States sei. Dieser ober-
flächliche Gedanke hat das kindliche Ideal des Paradieses er-
zeugt, jenes wonnigen Gartens mit mancherlei Fruchtbäumen,
welche dem Menschen reichliche Nahrung spenden, ohne von
ihm mühevolle Arbeit zu fordern. Noch heute erscheint dem
kindischen wie dem trägen Menschen der arbeitslose Genusz
als höchste Seligkeit. Aber das reifere Alter und der streb-
same Mensch betrachtet mit Geringschätzung einen Zustand,
welcher von der eigentlichen Lebensaufgabe, der Entwick-
lung und Vervollkommnung der Menschennatur noch keine
Ahnung hat.
Allerdings ist ein völlig unfruchtbarer Boden sehr
ungünstig für das Gemeinleben; denn der Mensch ist da ge-
nöthigt, die Nahrung, deren er an seinem Wohnort bedarf,
und die er da nicht findet, sich aus der Ferne zu verschaffen,
d. h. er musz durch den Handel ergänzen, woran es der Natur
seines Wohnorts gebricht. Es können daher etwa Handels-
städte da entstehen und gedeihen, wie denn Venedig sich un-
mittelbar aus dem unfruchtbaren Meere erhebt. Aber ganze
Nationen werden in unfruchtbaren Ländern nur mühsam und
ärmlich sich durchbringen und die dünne Bevölkerung hat
nur ein dürftiges Wachsthum. Menschen können hier schwer
zu einem festen Sitze gelangen und müssen in Familien und
Horden zerstreut, ein unstätes Wanderleben führen. Buckle
hat darauf hingewiesen, dasz die mongolischen und tartari-
schen Horden in ihren Steppenländern nur geringe Fort-
schritte gemacht und erst in den Ackerländern China und
Indien es zu einer Civilisation gebracht haben, und dasz
ebenso die muhammedanischen Araber nicht in dem steinigen
Arabien, sondern erst in den fruchtbaren Ländern Persiens
und an der Küste des Mittelmeers zu einer höheren Staten-
bildung gelangt sind.
Wenn in kaltem Klima die Statenbildung nicht gedeiht,
so ist die Ursache nicht blosz in der Schwierigkeit, sich zu
[265]Drittes Capitel. III. Fruchtbarkeit des Bodens.
erwärmen und in dem harten Kampf mit der Natur zu suchen,
sondern vorzüglich auch darin, dasz die kalte Zone zugleich
einen unfruchtbaren Boden hat. Indessen ganz ähnliche Wir-
kungen zeigen sich zuweilen auch in heiszen Ländern, wo
scheinbar die Fruchtbarkeit sehr grosz, aber zugleich wegen
öfterer und plötzlicher Zerstörung der Früchte z. B. durch
Insektenschwärme oder Ueberschwemmungen sehr unsicher
ist; denn für das dauernde Gemeindeleben der Menschen ist
es ebenso nachtheilig, wenn man die reichlich wachsenden
Früchte nicht einsammeln und nicht bewahren kann, als
wenn wenig Früchte reifen.
Der höchst fruchtbare Boden, welcher den Menschen,
ohne von ihnen Arbeit zu verlangen, regelmäszig hinreichende
Nahrung darbietet, ist zwar eine bessere Vorbedingung für
das Gemeinleben, als das unwirthliche Land, aber doch
nichts weniger als die günstigste Unterlage des Stats, haupt-
sächlich aus folgenden Gründen:
1) Die Nahrungssorge ist bekanntlich ein Haupthebel der
menschlichen Arbeit. Ist sie dem Menschen abgenommen
durch die Freigebigkeit der Natur, so arbeiten die Menschen
wenig oder nichts. Viele versinken in trägen Müsziggang
und in eitle Sinnenlust. Wo aber die Arbeit fehlt, da
entwickeln sich die menschlichen Kräfte nicht, oder nur sehr
unvollständig und ungenügend. Der Reichthum der Men-
schennatur gelangt nicht zur Entfaltung, er bleibt ein ver-
borgener Schatz und eine höhere Gesammtbildung wird
nicht erreicht. Die Zustände der Bevölkerung auf manchen
Inseln der tropischen Zone zeigen deszhalb ein glückliches
Sinnenleben, aber eine geringe Bildung der Massen. Als die
müszigen Lazzaroni von Neapel in fleiszige Arbeiter verwan-
delt wurden, machte die schöne Hafenstadt einen groszen
Fortschritt in menschlicher Cultur.
2) Nur wo man der Arbeit bedarf, da bekommt sie
einen Werth, und nur wenn die Arbeit geschätzt wird,
[266]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
werden auch die Arbeiter werth gehalten. Wo die Arbeit
nichts gilt, da gilt auch das Menschenleben in den groszen
Massen nur wenig. Nirgends wird mit mehr Grausamkeit
und Leichtsinn das Menschenleben hingeopfert, als in den
afrikanischen Negerdespotien, wo keine Industrie die Arbeit
schätzen lehrt und der Boden, ohne geackert zu werden,
reiche Früchte spendet.
3) Die höchste Fruchtbarkeit des Bodens veranlaszt und
befördert überdem eine ungünstige Vertheilung des
Vermögens, bei der es wenige Reiche gibt, die im Ueber-
flusz leben, fast keine Mittelclassen und eine sehr zahlreiche
arme und in Knechtschaft versunkene Menge.
Da die Fruchtbarkeit des Bodens auch die Fruchtbarkeit
der Menschen befördert, indem sich leicht neue Familien
bilden, und keine Nahrungssorge die Kindererzeugung und
die Erziehung schmälert, so vermehrt sich in solchen Län-
dern die Bevölkerung rasch. Aber zuweilen kommt doch ein
Miszjahr oder ein Kriegszug über die sorglos dahin lebende
Menge und bringt dieselbe in Noth. Dann werden die we-
nigen Sparer, welche die Früchte angesammelt haben und
nun ihre Vorräthe benutzen können, übermächtig und nöthi-
gen, indem sie Nahrung gewähren, die hülfsbedürftige Menge
ihre Fruchtbäume und ihren Boden abzutreten. Kriegerische
Führer, welche den Bewohnern Schutz gewähren, machen
dieselben steuerpflichtig und dienstbar; Priester, welche die
Götter versöhnen und ihren Segen herbei rufen, erhalten von
den Gläubigen weite Güter. Allmählich entsteht so eine
Classe von reichen Grundherren und Fürsten, von Adel und
Priesterschaft, denen zuletzt das ganze Land zu eigen gehört.
In diesen aristokratischen Classen entfaltet sich dann eine
grosze, zum Theil sogar eine hohe Bildung und ihr kommen
reichliche Lebensgenüsse zu. Sie fordern dann auch Arbeit
von den unterthänigen Leuten, ohne dieselbe hoch zu schätzen,
weil an Arbeitern Ueberflusz ist und die Menschen als solche
[267]Drittes Capitel. III. Fruchtbarkeit des Bodens.
nur geringen Werth haben. Die Massen werden arm, ver-
achtet und gänzlich abhängig. Jede höhere Bildung bleibt
ihnen verschlossen. Im Dienste des Herrn leben sie stumpf-
sinnig und roh dahin.
Buckle hat das Verdienst, zuerst mit vollem Nachdruck
auf diese Nachtheile einer allzugroszen Bodenfruchtbarkeit
hingewiesen und dieselben geschichtlich belegt zu haben. Er
geht freilich zu weit, wenn er die alte indische Civili-
sation und das indische Kastenwesen daraus erklärt
und geradezu behauptet, dasz höhere Cultur Ueberflusz vor-
aussetze. Er legt, nach der Weise seiner Nation, zu viel
Gewicht auf die ökonomischen Verhältnisse. Die angesehen-
sten Brahmanen und Buddhisten zogen die freiwillige Armuth
den Genüssen des Reichthums vor, die Kshatrijas liebten die
Macht und ehrten die Tapferkeit mehr als die Schätze und
die Visajas gehörten nicht zur Aristokratie, aber schätzten
den Reichthum hoch, den sie durch Industrie, Handel und
Darlehen ansammelten. Die Sudras aber waren zur Dienst-
barkeit herabgedrückt, nicht weil sie arm, sondern weil sie
eine unterworfene Nationalität von geringerer Rasse waren.
Trotzdem bleibt es wahr: Die üppigen Reispflanzungen ernäh-
ren leicht eine zahlreiche Bevölkerung, und da der Boden
allmählich Eigenthum oder Lehen der Fürsten und der
aristokratischen Classen wurde, so erhielt sich der allmäh-
lich herausgebildete Gegensatz weniger Reichen und vieler
Armen während Jahrtausenden bis auf die Gegenwart. Die
Menge blieb verachtet und gedrückt, die Vornehmen erfreuten
sich einer feineren Cultur und reichlicher Lebensgenüsse.
Aehnlich war es in Aegypten. Auch die Dattelbäume
erfordern wenig Pflege und gewähren reiche Ernten. Die un-
geheuren Bauwerke der ägyptischen Könige zeugen für die
furchtbare Verschwendung von Arbeitskräften und Menschen-
leben im Dienste der Macht. Wie bejammernswürdig und
elend die Zustände der arbeitenden Knechte waren, haben
[268]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
die alten Berichte der Juden der Nachwelt überliefert. Der
Rath Josephs war nützlich für die Schatzkammer des Pharao,
aber verderblich für das arme Volk.
In Mexiko und Peru war es nicht anders. Auch da
treffen wir auf die Ausbeutung der vermögenslosen Massen
durch die wenigen Reichen und Mächtigen, und wiederum
wird dieser Zustand begünstigt durch die Fruchtbarkeit des
Bodens und durch die scheinbare Gunst der Natur, welche
Mais, Bananen, Kartoffeln im Uebermasz liefert. Nacktheit
und Knechtschaft unten, Luxus, Künste und Herrschaft oben;
Schwäche nach auszen, riesige Bauten und ärmliche Hütten,
das ist auch das Bild dieser gesegneten Länder.
Kann hier die Politik entgegen wirken? Allerdings, wenn
sie ihrer hohen Aufgabe, ein gesundes Volksleben zu fördern,
bewuszt wird und ernstlich an der Erfüllung derselben ar-
beitet. Es ist trotz der Fruchtbarkeit des Bodens möglich,
die unteren Classen gegen die maszlose Ausbeutung der Reichen
zu schützen, und zu gebildeten und freien Menschen zu er-
ziehen, und möglich, eine bessere Vertheilung auch des Ver-
mögens zu begünstigen und die nothwendigen Mittelclassen
zu heben.
Die günstigste Vorbedingung für das Gemeinleben der
Menschen ist offenbar ein Boden von mäsziger Frucht-
barkeit, d. h. der nur dann seine Bewohner ernährt, wenn
ernste und nachhaltige Arbeit hinzutritt. Weder
Bodenfruchtbarkeit allein, noch Arbeit allein wirkt günstig,
wohl aber die Verbindung beider. Dann erhalten die Ar-
beit und die Arbeiter einen Werth, aber es werden diese
auch nicht übermäszig angestrengt. Es ist kein Nothstand
vorhanden. Die menschlichen Kräfte entwickeln sich, die
Zustände werden vervollkommnet; die Familien genieszen
ein gesichertes Dasein und gelangen zu mäsziger Wohlhaben-
heit, das Vermögen ist so vertheilt, dasz die Mittelclassen
zahlreich und begütert werden. Es zeigen sich viele Uebergänge
[269]Drittes Capitel. III. Fruchtbarkeit des Bodens.
aus der einen Classe in die andere. Dadurch wird der Zusam-
menhang in der Nation und ihr Gemeingefühl gewahrt und
zugleich eine grosze Mannichfaltigkeit von Berufsarten hervor-
gerufen. Die unteren Classen können weniger leicht in die
Sclaverei niedergedrückt, die obersten weniger leicht zu einer
privilegirten Kaste werden.
Freilich überzeugt uns die Geschichte, dasz nicht mit
mathematischer Nothwendigkeit eine gleichmäszige Verthei-
lung des Vermögens und gesunde Volkszustände daraus her-
vorgehen. Es kommen noch viele andere, sogar mächtigere
Factoren mit in Betracht. Aber nicht blosz eine Vergleichung
von Europa mit West- und Süd-Asien oder von Nordamerika
mit Mittel- und Südamerika, sondern sogar die Vergleichung
von Süditalien mit der Lombardei oder der Schweiz, von
Spanien mit Frankreich und Belgien, weist deutlich auf den
Vorzug hin, welchen die Verbindung eines mäszig frucht-
baren Bodens mit mäsziger Arbeit vor jeder einseitigen Be-
günstigung des Bodens hat.
Die Thätigkeit der Politik soll hier vornehmlich darauf
gerichtet sein, gesunde Zustände, wo sie in der Natur be-
gründet sind, gegen die menschliche Zerstörung zu bewahren
und das Gleichgewicht der Kräfte so weit zu erhalten, als es
zugleich zu wechselseitiger Ergänzung und Förderung dient.
Eine Reihe von gesetzgeberischen und wirthschaftlichen Masz-
regeln können dazu beitragen, die fortdauernde Fruchtbarkeit
des Bodens gegen Verwüstung und Aussaugung zu schützen,
einer übermäszigen Ansammlung des Grundeigenthums in we-
nigen, vielleicht todten Händen entgegen zu wirken und eine
naturgemäsze Vertheilung des Vermögens zu sichern. Unter
Umständen kann der Stat sogar, indem er Sümpfe entwässert,
oder für Bewässerung von öden Weiden sorgt, den unfrucht-
baren Boden in einen mäszig fruchtbaren umwandeln und so
neue Bedingungen einer glücklichen Wirthschaft schaffen.
[270]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Viertes Capitel.
IV. Das Land.
1. Das Volk ist die persönliche Grundlage des States.
Das Land ist die dingliche Beziehung desselben. Erst wenn
das Volk ein Land erworben hat, wenn ein Statsgebiet hinzu-
gekommen ist, hat der Stat die erforderliche Festigkeit erlangt.
Der Theil der Erdoberfläche, welcher von dem Volke be-
setzt und von dem State beherrscht wird, heiszt Land oder
Statsgebiet. Die Grösze desselben wird ähnlich wie die Bil-
dung des Volks durch geschichtliche Vorgänge bestimmt.
Die Ausdehnung eines Landes scheint zunächst unerheb-
lich für die rechtliche Existenz der verschiedenen Staten. Es
hat nämlich zu allen Zeiten grosze und kleine Fürstenthümer
und grosze und kleine Republiken gegeben; und die einen wie
die andern haben gleichmäszig ihr persönliches Recht und
eine gewisse Gleichstellung behauptet. Auch ist es sicherlich
verkehrt, ein bestimmtes Normalmasz eines Statsgebiets,
welches der regelrechte Stat erreichen müsse und nicht über-
schreiten dürfe, aufsuchen und fixiren zu wollen. Die Welt
hat grosze und kleine Staten blühen und hinwieder verkommen
gesehen. Gegenüber dem römischen Weltreiche erschienen
die hellenischen Städtestaten winzig klein, und dennoch nimmt
Athen neben Rom einen hohen Platz in der Weltgeschichte ein.
Trotzdem ist der Umfang eines Statsgebietes von groszem
Einflusz auf die politische Gestaltung und Bedeutung dessel-
ben und mancherlei politische Aufgaben ersten Ranges knü-
pfen sich an die Ausdehnung des Landes.
Offenbar sind die beiden nothwendigen Bestandtheile
eines jeden States Volk und Land auch bezüglich der Grösze
in einer Wechselwirkung zu einander. Es ist möglich, dasz
das Land dem Volke zu enge wird, sei es um da die nö-
thige Nahrung zu finden, sei es, weil das kleine Gebiet den
[271]Viertes Capitel. IV. Das Land.
geistigen und materiellen Lebensbedürfnissen des Volkes nicht
genügt. Das Wachsthum der Bevölkerung kann zur Coloni-
sation den Anstosz geben, indem ein Theil derselben neue
Wohnsitze auszerhalb des bisherigen Statsgebietes aufsucht
oder fremde Gebiete besetzt werden, welche den Ueberflusz
der Bevölkerung aufnehmen. Oder es kann das entwickelte
Culturbedürfnisz oder Machtgefühl eine Erweiterung des Ge-
bietes verlangen und damit die Politik der Annexion und
Eroberung begründen. Dann entsteht die oft schwierige
Aufgabe, das natürliche Recht des eigenen Wachsthums und
der vollen Entwicklung mit den Rechten der andern Nationen
auf ihr Gebiet und den geschichtlichen Verhältnissen auszu-
gleichen.
Ebenso kann ein Gebiet mit der Zeit zu klein werden,
um gegenüber dem Wachsthum anderer Staten sich auf die
Dauer sicher zu fühlen, und es ergibt sich daraus eine Politik
der Verbündung mit andern Ländern oder der Anlehnung
oder Anschlieszung an einen andern mächtigeren Stat.
Aber auch das Gegentheil kommt vor. Das Gebiet kann
zu weit sein für die dünne Bevölkerung oder zu ausge-
dehnt für die Neigung der Bewohner einer einzelnen Ge-
gend selbständig für sich zu sein. Im einen Fall erwacht
das Interesse, die Einwanderung zu begünstigen und
die Colonisation herbeizuziehen, im andern das Streben
nach Absonderung der Theile des bisher verbundenen
Statsgebiets und der Spaltung und Zerbröckelung der
Reiche.
Durchaus entgegen gesetzt ist die Tendenz des modernen
Zeitalters im Gegensatze zu der des Mittelalters. Das Mittel-
alter begünstigte die Entstehung kleiner Staten; die neue
Zeit hat die Neigung zur Bildung groszer Statsgebiete.
Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, anfangs auch die
britischen Inseln und selbst die slavischen Länder waren
während des Mittelalters in eine grosze Anzahl kleiner
[272]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Fürstenthümer und Republiken zerfallen. Die Einigung des
römischen Reiches bestand eher in dem Ideal als in der
Wirklichkeit. Früher in England, seit der zweiten Hälfte des
XV. Jahrhunderts auf dem Continent bilden sich allmählich
gröszere Staten aus, und noch sind wir nicht an den Abschlusz
dieser Bewegung gelangt.
Die Zahl der mittelalterlichen Staten ist geradezu un-
übersehbar. Fast jede Herrschaft, eine Menge von Städten
und von Klöstern und sogar von Dörfern versuchten es mit
Glück ein selbständiges, statenähnliches Dasein zu gewinnen.
Gegenwärtig sind nur einige wenige kleinste Gemeinwesen
der Art übrig geblieben und haben nur eine geringe Aus-
sicht auf Fortbestand. Der Mangel an Straszen und Posten,
die Dürftigkeit der Bewegungsmittel, die particuläre Rechts-
bildung, die unentwickelte Polizei, die Lehensverfassung mit
ihrer beschränkten Dienstpflicht und ihren schwachen Kriegs-
mitteln, der geringe Geldverkehr, die Trennung der Stände,
die dynastische und privatrechtliche Grundanschauung, die
Verdunkelung des nationalen Bewusztseins, der germanische
Trieb der körperschaftlichen Gliederung und eigenwilliger
Freiheit waren früher einer Auflösung der alt-römischen
Statsgemeinschaft in zahllose kleine Gemeinwesen günstig.
Dagegen wird das moderne Verlangen nach gröszerer Staten-
bildung fortwährend gefördert und gestärkt durch die Ver-
vollkommnung und Ausbreitung der neuen Verkehrsmittel,
durch Kunststraszen und Eisenbahnen, Posten, Dampfschiff-
fahrt und Telegraphen, durch den lebhaften Aufschwung der
Industrie und des Handels, durch die gewaltigen Kriegs- und
die mächtigen Geldmittel, durch die ganze moderne Cultur
und durch das erwachte National- und Statsbewusztsein und
eine rationellere Gesetzgebung.
Der moderne Stat bedarf in der That einer breiteren
Grundlage, als der eines bloszen Gemeinde- und Gerichts-
bezirks. Wie der Stand und der Stamm sich der Nation und
[273]Viertes Capitel. IV. Das Land.
dem Volk hat unterordnen müssen, so werden auch die Orte
und Herrschaften genöthigt, in dem breiteren Land aufzu-
gehen. Nur in einem Lande kann es ein Volk oder mindestens
eine Völkerschaft geben, in dem Orte gibt es nur eine Orts-
bürgerschaft, in der Herrschaft nur eine Genossenschaft der
Angehörigen. Für den modernen Stat erscheint daher wie
das Volk so auch das Land eine nothwendige Grundlage
seiner Existenz. Wo es an einem Lande fehlt, da hat folg-
lich ein sogenannter aus dem Mittelalter zurück gebliebener
Stat nur eine höchst unsichere und unwirksame Existenz.
Er kann wie eine Merkwürdigkeit noch eine Weile erhalten
werden, aber er hat keinen Antheil an dem modernen Leben
und ist deszhalb der allgemeinen Abneigung gegen die soge-
nannte Kleinstaterei ausgesetzt.
Damit ist die Grenze nach der Kleine hin bezeichnet;
freilich nicht in einer bestimmten Zahl von Quadratmeilen,
aber in einem Princip. In derselben Weise läszt sich auch
nach der Grösze hin eine Grenze bezeichnen, denn das Stats-
gebiet darf nicht ausgedehnter sein, als die Beherrschung
desselben von dem Centrum der Statsgewalt aus noch mög-
lich ist. Freilich ist auch diese Grenzbestimmung sehr rela-
tiv. Seitdem es Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen
gibt, ist kein Land so entlegen, dasz nicht die Verbindung
desselben mit der Hauptstadt möglich wäre. Man kann heute
nicht mehr die Möglichkeit läugnen, den ganzen Erdball po-
litisch zu ordnen und zu einigen, denn das heutige Völker-
recht breitet sich bereits über den gröszten Theil der be-
wohnten Erdoberfläche aus und setzt die Verbindung vieler
Staten zu Einer Menschheit als selbstverständlich voraus.
Wird die feste Erdrinde auf ungefähr 2,448,347 Quadrat-
meilen berechnet, so beherrscht das groszbritannische Reich
allein 382,164 Quadratmeilen, das russische Reich etwa
376,463 Quadratmeilen, das chinesische nahezu 180,000
Quadratmeilen, die Vereinigten Staten von Nordamerika
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 18
[274]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
169,510 Quadratmeilen. Es sind das ungeheure und weit ent-
legene Gebiete, welche dennoch von Einem Statsgeiste erfüllt
werden. Freilich ist die Macht eines States nicht nach dem
Masz des Gebietsumfangs zu bemessen. Das deutsche Reich
hat einen Umfang nur von 9818 Quadratmeilen und ist den-
noch der mächtigste Stat von Europa. Frankreich hat in
Europa nur 9599 Quadratmeilen und ist dennoch mindestens
so mächtig als Ruszland, dessen europäisches Gebiet zehnmal
gröszer ist. Groszbritannien miszt in Europa nur 5719 Quadrat-
meilen und beherrscht von da aus seine viel gröszeren fernen
Colonien und Nebenländer. Die Zahl der Bevölkerung ist
ein sehr viel wichtigerer Factor bei Bestimmung der Macht
eines Stats als der Gebietsumfang. Aber bedeutungslos auch
für die Machtverhältnisse ist die Grösze der Länder doch
nicht.
Je weiter sich ein Gebiet ausdehnt, um so schwerer
wird die Bewegung auf demselben und um so schwie-
riger auch die Regierung desselben. Nur langsam kön-
nen die zerstreuten Kräfte gesammelt, nur unvollkommen die
entlegenen Provinzen von dem Centrum her bestimmt werden.
Selbst die verbesserten Communicationsmittel der neuen Zeit
können diese Schwerbeweglichkeit nur ermäszigen, nicht über-
winden. Das geflügelte Wort kann blitzschnell an die äuszerste
Peripherie versendet werden, aber es fehlt ihm der Nach-
druck der gegenwärtigen Obermacht und das Verständnisz ist
unsicher; es bieten sich vielerlei Ausflüchte, wenn der Wille
des Empfängers der Depesche ungeneigt ist. Menschenmassen,
Lebensmittel, Geräthschaften können auch mit den Eisen-
bahnen nur langsam befördert werden und nicht überall hin
in so weiten dünnbevölkerten Provinzen können Eisenbahnen
hergestellt werden. Oft fehlt es sogar an den gewöhnlichen
Fahrstraszen.
Die Ausdehnung eines Statsgebiets ist schon deszhalb
nicht immer ein Machtzuwachs. Ein Stat kann in Folge von
[275]Viertes Capitel. IV. Das Land.
Eroberungen schwächer werden als er war, so lange er sein
kleineres Gebiet leichter beherrschen konnte.
Ein Stat mit so weitem Gebiet ist daher auch leicht
hier oder dort zu überfallen und gleichsam anzurupfen, aber
sehr schwer, ernstlich anzugreifen, mit dauerhaftem Erfolg.
Der Feind kann ungehindert weite Strecken durchziehen,
aber es wird ihm schwer, sich zu verpflegen und noch
schwerer sich in den weiten Räumen zu behaupten. Nur
wenn es ihm gelingt, die concentrirte Macht anzugreifen
und zu schlagen, kann er gröszere Erfolge erreichen. Die
russischen und nordamerikanischen Kriege der neuern Zeit
machen diese Behauptung anschaulich.
Wenn diese breiten Staten an Unbehülflichkeit und
Schwerbeweglichkeit leiden, so kommt ihnen doch das furcht-
bare Schwergewicht der ungeheuren Massen zu statten; sie
können über gewaltige Mittel verfügen, die momentan gar
nicht auszunutzen und auszuleeren sind. Sie sind daher im
Stande, auch in gefährlichen Krisen lange auszuharren und
eine Wendung der Dinge abzuwarten, die ihnen hinwieder
günstige Chancen eröffnet. Ihre plötzliche Unterwerfung ist
fast unmöglich.
Auch auf die Verfassungsform eines States ist die
Ausdehnung des Statsgebietes von Einflusz. Die unmittelbare
Demokratie ist nur in einem kleinen Lande möglich, weil
nur da die Bürger zur Volksversammlung öfter zusammen-
treten können. Die constitutionelle Monarchie bedarf eines
weiteren Bodens zu ihrem vielgliedrigen repräsentativen Bau.
Die ungeheure Ausdehnung des römischen Weltreichs war
eine Hauptursache des Untergangs der römischen Republik
und der Concentrirung aller Statsgewalt in dem Einen abso-
luten Kaiserthum. Die Kraft des Massengewichts ist auch in
Ruszland eine Ursache der absoluten Kaisergewalt und selbst
die liberalen Engländer denken nicht daran, ihrem ostindi-
schen Reich eine parlamentarische Verfassung zu bewilligen.
[276]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Demgemäsz musz die Verfassungspolitik auch eine lan-
desmäszige sein, d. h. sie musz sich nach der Natur und
dem Umfang des Landes richten, für welchen die Verfassung
bestimmt ist.
2. Die Geschichte kennt keinen ewigen unveränderlichen
Umfang der Statsgebiete. Auch der Raum, den die Staten
einnehmen, ist abhängig von dem Wachsthum oder der Ab-
nahme der Volkskräfte in ihm. Aber das Statsgebiet hat
doch einen dauernden Charakter und seine Grenzen sind nicht
wie die Volkszahl einer unaufhörlichen Wandlung unterworfen.
Nur von Zeit zu Zeit in Folge groszer Ereignisse wird der
Gebietsumfang geändert. In der Regel bleibt er in feste
Grenzen eingeschlossen.
Die Grenzen scheiden entweder das eigene Statsgebiet von
dem fremden ab, oder sie scheiden das Statsgebiet von den
Theilen der Erdoberfläche ab, welche keinem State angehören.
Im ersten Fall denkt man sich die Grenze als eine feste
Linie und bezeichnet sie so gut es geht mit Grenzmarken,
Pfählen, Steinen, Gräben, Wällen u. s. f. Im letzteren Fall
bedarf es einer solchen scharfen Linie nicht, und es kann
auch je nach Umständen ohne Verwicklung mit andern Staten
die Grenze vorgeschoben oder zurückgezogen werden.
Zu der ersten Classe sind zu rechnen:
a) Strom- und Fluszgrenzen, obwohl dieselben nicht
in dem Masze fest und unbeweglich sind, wie die Landgrenzen.
Zuweilen wird die Mitte des Flusses, zuweilen der Thalweg
desselben, d. h. die durch die Strömung bestimmte Fahrbahn,
als die eigentliche Grenze der beiderseitigen Statshoheit be-
trachtet, aber weil die Mitte oder der Thalweg vorzüglich be-
nutzt wird, mit Rücksicht auf Schifffahrt und Verkehr, die
Benutzung des Flusses zugleich als eine gemeinschaftliche
behandelt. Sowohl die Mitte des Flusses als der Thalweg sind
aber öfteren Aenderungen unterworfen, in Folge der An- und
Abspülung der Ufer und in Folge veränderten Wasserlaufs.
[277]Viertes Capitel. IV. Das Land.
b) Die Gebirgsgrenzen. Die Gebirgszüge trennen
gewöhnlich Stämme und Cultur von einander. Die Bewohner
sehen nicht hinüber und gelangen nur mit Anstrengung, ge-
wöhnlich nur auf einzelnen Bergwegen zu einander. Regel-
mäszig wird dann der oberste Grat des Gebirges, welcher
auch die Gewässer scheidet, als die natürliche Grenzlinie an-
gesehen.
Zu der zweiten Classe gehören:
a) die Meere, seltener grosze Seen, die von Natur der
Sonderherrschaft einzelner Staten entzogen sind, und der ge-
meinsamen freien Benützung aller Welt offen stehen.
b) Die Wüsten und unwirthliche Steppen, zuweilen
auch Wälder und wildes Gebirge. Die fortschreitende
Cultur und die allmählige Aneignung auch dieser Gebiete
durch den Stat macht aber solche Naturgrenzen seltener.
Die nähere Bestimmung der Grenzverhältnisse ist dem
Völkerrechte vorbehalten.
3. Zuweilen werden mehrere Länder mit einander
verbunden, so dasz ein neues gröszeres Ganzes, ein Reich
entsteht. Es kann das wieder in verschiedener Weise ge-
schehen:
a) mit relativer Fortdauer der verbundenen Län-
der auf dem Fusze der Gleichheit. Beispiele: die Union
der Vereinigten Staten von Amerika, das deutsche Reich;
b) mit Fortdauer der besonderen Länder, aber auf dem
Fusze der Ungleichheit, so dasz eines derselben als herr-
schendes Hauptland, die andern als unterthänige Neben-
länder erscheinen. Beispiele: Groszbritannien mit seinen
überseeischen Colonien und Nebenländern. Frankreich mit
Algier;
c) mit Umwandlung der bisherigen Länder in Provin-
zen des Einen Reiches. Beispiel: die Ausbreitung der
russischen Herrschaft.
4. Wie aber die Menschheit, nicht das Volk die wahre
[278]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Unterlage des vollkommenen States ist, so ist auch die Erde,
nicht das Land das vollkommene Statsgebiet, die Erde,
welche die Mannichfaltigkeit aller Länder in das richtige Ver-
hältnisz bringt und harmonisch einigt, welche alle Gegensätze
nicht als Mängel, sondern als Ergänzung und Reichthum em-
pfindet. Für die heutige Statenbildung aber, welche dem
höchsten Ziele noch ferne steht, folgt daraus der auch prac-
tisch längst bewährte Satz: am günstigsten auch für den Ein-
zelstat ist ein mannichfaltig geartetes Land, mit Ber-
gen und Thälern, Flüssen, Seen, Meeresküsten und Ebenen:
nicht gerade der erhöhten Fruchtbarkeit wegen, denn diese
Hebungen und Senkungen des Bodens machen einen Theil
des Bodens unfähig für die Cultur; sondern weil sie die eben-
falls mannichfaltigen Anlagen der Bewohner allseitig
anregen und die menschlichen Kräfte steigern. Am ungün-
stigsten dagegen sind grosze unwirthliche Steppen des Bin-
nenlandes. Diese sind daher auch der uralte Boden, auf dem
die unstatlichen Nomadenvölker noch ihr Wesen treiben.
Fünftes Capitel.
V. Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Statseigenthum.)
Man nennt das Hoheitsrecht des States über das
ganze Statsgebiet oft Statseigenthum. Diese Be-
zeichnung hatte in dem mittelalterlichen Lehensstat wie in
den absoluten Staten der asiatischen Vorzeit eine relative
Wahrheit. Zu dem modernen Statsbegriffe aber paszt die-
selbe in keiner Beziehung.
Das „Eigenthum“ ist ein privatrechtlicher, nicht ein
politischer Begriff. So lange daher der Stat oder dessen Ober-
haupt, wie in dem altjüdischen State Gott, wie die ägypti-
schen Pharaone als alleinige Eigenthümer des Bodens be-
[279]Fünftes Capitel. V. Von der Gebietshoheit.
trachtet worden, an dem den einzelnen Privaten kein Eigen-
thum, sondern nur ein vorübergehendes Gebrauchs- und
Nutzungsrecht zugestanden war, oder so lange wie in dem
römischen Reiche wenigstens der Boden der unterworfenen
Provinzen als in dem formellen Eigenthum des römischen
Volkes oder Kaisers stehend angesehen wurde, und den Pro-
vinzialen nur ein minderes, obwohl ein reales Eigenthum (in
bonis) an ihren Grundstücken zukam, oder so lange wie in
einzelnen mittelalterlichen Staten, z. B. in England nach der
Eroberung der Normannen, der König als Obereigenthümer
und Lehensherr des ganzen Landes galt und die Unterthanen
nur einen lehensmäszig abgeleiteten Grundbesitz hatten, so
lange bildete die Vereinigung und Vermischung von privat-
rechtlichem Eigenthum und statlicher Hoheit die natürliche
Unterlage für den Begriff des Statseigenthums. Seitdem aber
die Ausscheidung des Privatrechtes und des Statsrechtes voll-
zogen ist, ist derselbe durchaus unhaltbar geworden.
Das Hoheitsrecht des States über das Gebiet, die
Gebietshoheit (imperium), ist somit von dem Eigenthum
(dominium) des States wohl zu unterscheiden. Das letztere
hat einen privatrechtlichen Inhalt, auch wenn der Stat das
Rechtssubject ist, das erstere dagegen hat einen wesentlich
politischen Charakter, und kann seiner Natur nach nur dem
State (beziehungsweise dem Statsoberhaupte) zustehen. 1
Die Gebietshoheit hat vorerst den positiven Inhalt,
dasz dem State vollkommene statliche Herrschaft über
das ganze Gebiet zusteht. Soweit dasselbe sich erstreckt, ist
somit der Stat berechtigt, seiner Gesetzgebung Anerkennung
[280]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
zu verschaffen, seine Regierungsbeschlüsse durchzuführen, seine
Gerichtsbarkeit zu üben. Der Stat hat nicht blosz Gewalt
über die Personen, er hat sie auch über das Land und über
die Sachen darin.
Diese Herrschaft ist aber statlich, nicht privatrechtlich.
Die wirthschaftliche Sachenherrschaft, die wir Eigenthum
nennen, gehört dagegen dem Privatrecht an, und ist jeder
Privatperson zugänglich.
Der negative Inhalt der Gebietshoheit besteht in dem
Rechte des States, jeden andern Stat oder überhaupt jede
andere Macht von jeder statlichen Herrschaft innerhalb seines
Gebietes und von jedem Uebergriff in dasselbe abzuhalten.
Es ist eine einfache Folge dieses Grundsatzes, wenn der mo-
derne Stat nicht zugibt, dasz in seinem Lande ein fremder
Stat Gerichtsbarkeit oder Polizeigewalt übe, und wenn er
auch eine privatrechtliche Begründung solcher fremden Herr-
schaft nicht anerkennt.
Die Veräuszerung endlich des Statsgebietes oder eines
Theiles desselben in den Formen und nach den Begriffen des
Privatrechtes, wie dieselbe im Mittelalter ganz allgemein von
den Landesherren geübt wurde, welche ihre Herrschaften wie
ihre Grundstücke verkauften, verpfändeten, oft auch vertheil-
ten, 2 ist hinwieder mit dem öffentlichen Charakter der Ge-
bietshoheit nicht mehr vereinbar. Nach dem modernen Stats-
rechte ist vielmehr der Grundsatz der Unveräuszerlich-
keit und Untheilbarkeit des Statsgebietes als Regel 3
fest zu halten. Ausnahmsweise aber ist eine Veräuszerung
nur zulässig in öffentlich rechtlicher Form, auf Grund-
[281]Fünftes Capitel. V. Von der Gebietshoheit.
lage eines Gesetzes oder in Folge von völkerrecht-
lichen Verträgen, wohin denn auch die Friedens-
schlüsse gehören. 4
Hugo Grotius fordert überdem nach natürlichem Rechte,
wenn ein Theil des Statsgebietes veräuszert werden soll, nicht
blosz die Zustimmung des ganzen Statskörpers, sondern
auch die der Einwohner dieses Gebietstheiles: ein
gerechtes Erfordernisz, da es sich um die ganze statliche
Existenz derselben handelt und sie durch die Gesetzgebung
des ganzen States unmöglich in einem Momente genügend
vertreten werden, in welchem diese zur Auflösung der Ge-
meinschaft geneigt ist. Aber die Noth der Umstände wird
in den meisten Fällen der Art stärker sein, als jener Grund-
satz des natürlichen Rechts. 5
Beschränkungen der Gebietshoheit zu Gunsten an-
derer Staten (statsrechtliche Dienstbarkeiten) können
vorkommen, und zwar analog den Servituten des Privatrechtes.
Nur bedürfen auch diese Beschränkungen, damit das Statsrecht
sie anerkenne, einer statsrechtlichen oder völkerrechtlichen
Begründung im einzelnen Fall und eines statsrechtlichen
Inhalts. Z. B. durch Statsvertrag wird dem benachbarten
State die freie Benutzung einer Militärstrasze über das Stats-
gebiet zugesichert; oder eine Stadt wird mit Rücksicht auf
die Begehren des Nachbarstates als Freihafen erklärt; oder
die Ausübung des Postregals wird an eine fremde Postver-
waltung überlassen. In höherem Masze aber, als im Privat-
rechte zweifelhafte Fälle zu Gunsten der Freiheit des Eigen-
[282]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
thums interpretirt werden und die Ausdehnung der Servituten
möglichst beschränkt wird, musz im Statsrechte die Freiheit
der Gebietshoheit gegenüber derartigen Beschränkungen ge-
wahrt werden; denn die Harmonie und Einheit des Stats-
organismus, sowie das Bedürfnisz freier Umgestaltung der
statlichen Einrichtungen, je nach den Erfordernissen der öffent-
lichen Wohlfahrt, werden durch dauernde Beschränkungen und
Hemmungen von auszen sehr leicht in einer unerträglichen
Weise gestört und verletzt. 6
Anmerkungen. 1. Die Umwandlung des Titels der französischen
Könige aus Roi de France in Roi des Français in Folge der Revolution
war ein Protest gegen die frühere Vorstellung, dasz Frankreich ein
patrimonium regis sei. Insofern bezeichnet sie einen Fortschritt des
statlichen Geistes. Aber sobald man die Gebietshoheit in ihrer wahren
Bedeutung erfaszt hat, so ist kein Grund mehr, die Benennung der Könige
von dem Lande oder Reiche her für bedenklicher zu halten als die von
dem Volke her. Zu weit aber geht Stahl, wenn er (Statslehre II.
S. 38) der letzteren Bezeichnung vorwirft, sie rufe ein „Bild der Bar-
barei“ hervor. Die römischen Kaiser und die deutschen Kaiser haben
bekanntlich den Namen des Volks dem des Landes in ihren Titeln vor-
gezogen. Wer wollte sie deszhalb der Barbarei bezichtigen? Die Be-
nennung vom Volke her ist sogar edler als die vom Lande her, weil das
Volk über dem Lande ist.
2. Blosze Grenzberichtigungen fallen nicht unter den Begriff
der Veräuszerung des Statsgebietes. Es wird durch dieselben nicht ein
Theil des Statsgebietes entfremdet, sondern der Umfang des wirklichen
Statsgebietes näher bestimmt. Wenn aber zum Behuf der Arrondirung
eines States ganze, zumal bewohnte Gebietsstrecken, welche unzweifelhaft
bisher demselben zugehörten, abgetrennt und umgetauscht werden, so ist
das allerdings nicht mehr eine blosze Grenzberichtigung.
[283]Sechstes Capitel. VI. Eintheilung des Landes.
Sechstes Capitel.
VI. Eintheilung des Landes.
Das Statsgebiet ist gewöhnlich so umfassend, dasz es
regelmäszig zum Behuf der politischen Beherrschung in ver-
schiedene Abtheilungen getheilt werden musz. Es lassen sich
hier vier Hauptarten unterscheiden:
1. Die Provinzen.
Die Provinzen des römischen Reiches waren ursprünglich
selbständige Statsgebiete, welche aber der Herrschaft des rö-
mischen States unterworfen worden waren. Auch die neuern
Provinzen erklären sich häufig aus früherer Besonderheit der
später zu einem gröszeren Ganzen vereinigten Länder. Zu-
weilen sind aber neue Provinzen erst von dem State geschaf-
fen worden, dem sie angehören, und oft sind, wie im deut-
schen Reich, aus den Provinzen (Herzogthümern) neue Län-
der geworden.
Das Charakteristische dieser obersten Stufe der statlichen
Eintheilung liegt immer in der relativen statlichen Be-
sonderheit dieser Theile. In Folge derselben haben sie
eine zwar der Gesammtregierung untergeordnete, aber immer-
hin mit Rücksicht auf die eigenthümliche Bedeutung der Pro-
vinz mit ausgedehnteren Vollmachten ausgerüstetere relativ
selbständige Provinzialregierung. Ueberdem haben die-
selben in der Repräsentativ-Verfassung zuweilen selbst eine —
freilich auf die besondern Interessen der Provinz beschränkte —
besondere Provinzial-Gesetzgebung, Provinzialstände.
Der moderne Einheitsstat ist dieser Eintheilung nicht
günstig. In Frankreich, in Spanien und in England, nun
auch in Preuszen ist die gesetzgeberische Besonderheit der
Provinzen aufgelöst, in Oesterreich in den sogenannten Kron-
ländern vornehmlich auf die Interessen der Cultur und Wirth-
schaft beschränkt worden. So grosz aber das Interesse des
[284]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
States an voller und durchgreifender Einheit im Organismus
ist, so zerstört doch eine gänzliche Beseitigung der provin-
ziellen Freiheit viele natürliche Eigenthümlichkeiten und Be-
dürfnisse, und leicht verletzt eine übertriebene Uniformität
gesunde und fruchtbare Theile des Volkslebens. Die germa-
nischen Völker bedürfen mehr als die romanischen zu ihrer
Befriedigung auch der provinziellen Selbständigkeit.
2. Die Kreise (Bezirke).
Die Kreise sind noch gröszere Statsbezirke; aber sie
haben doch nur die Bedeutung von bloszen Theilen des
Statsgebietes. Sie haben nicht wie die Provinzen einen An-
spruch darauf, zugleich besondere Länder zu sein. In
der alten fränkischen und deutschen Reichsverfassung hatten
die Herzogthümer und Fürstenthümer den Charakter
von Provinzen, die Gaue den von Kreisen. Eben dahin sind
die englischen und nordamerikanischen Grafschaften, die
französischen Departemente, die deutschen Kreise und die
preuszischen Regierungsbezirke zu rechnen.
Der wahre Grund dieser Eintheilung liegt nicht in der
Eigenthümlichkeit eines Landes oder eines Volksstammes,
sondern in dem politischen Bedürfnisse der Statsverwal-
tung selbst, ihre Thätigkeit stufenweise zu gliedern. Sie
ist daher vorzugsweise das Product des Statsorganismus, ob-
wohl im Einzelnen auch auf die historische Verbindung der
Bevölkerung eines Kreises und auf die natürlichen Verkehrs-
beziehungen derselben Rücksicht zu nehmen ist. Lassen sich
die Provinzen mit verschiedenen Häusern vergleichen, die zu
einem Schlosse gehören, so sind die Kreise eher den ver-
schiedenen Stockwerken eines Hauses vergleichbar.
Den Kreisen kommt gewöhnlich eine besondere Concen-
tration der Verwaltung und der obern Gerichtsbar-
keit zu. Ueberdem zeigt sich in den modernen Staten die
Neigung, die besonderen Interessen des Kreises in dem-
selben eigenartig zu pflegen, die Interessengemeinschaft
[285]Sechstes Capitel. VI. Eintheilung des Landes.
der Bevölkerung zu organisiren, und je nach Bedürfnisz ge-
meinnützliche Kreisanstalten (Straszen, Magazine, Kranken-
häuser, Schulen, Armenhäuser, Correctionshäuser) zu gründen.
Es eröffnet sich hier ein fruchtbares Feld für die Selbst-
verwaltung oder die Repräsentativ-Verwaltung des Kreises. 1
3. Die Bezirke (Kreise).
Sie bilden regelmäszig Unterabtheilungen der Kreise, und
haben dann eine besondere der Kreisregierung untergeordnete
Verwaltung und eine mittlere Gerichtsbarkeit. Auch
diese Bezirke können als Körperschaften anerkannt sein
und ein eigenes Vermögen und besondere Bezirksanstalten
haben. 2
Die alten Centenen (Huntari) der germanischen Ver-
fassung, die Landgerichte und Oberamteien in Deutsch-
land, die Cantone in Frankreich und die Kreise in
Preuszen nehmen diese Stellung ein.
Blosze Wahlkreise zum Behufe der Volksrepräsentation
gehören nicht hieher, da sie nur für einen vorübergehenden
politischen Zweck geschaffen, nicht ein organisches Glied im
Statskörper sind. Der Mangel an bleibenden gemeinsamen
Insitutionen spricht übrigens gegen die Zweckmäszigkeit sol-
cher unorganischer Kreise.
4. Die Gemeinden, sowohl die Stadt- als die Land-
gemeinden mit ihrem Bann.
Sie sind die unterste Stufe der Eintheilung des Stats-
gebietes, haben aber eine höchst lebensvolle Bedeutung, welche
eine gewisse Analogie mit dem Statsgebiete selbst gewährt.
Wie das politisch organisirte Volk zum Land, so verhält sich
die persönliche (corporative) Gemeinde zum Gemeindebezirk
[286]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
(Gemeindebann). Sie erfüllt es mit ihrem gemeinsamen Leben.
Freilich ist dieses selbst nicht wie dort ein höheres politi-
sches, sondern zunächst ein den gemeinen Cultur- und Wirth-
schaftsinteressen zugewendetes. Gröszere Städte bilden zu-
gleich Bezirke (Cantone), die gröszten Hauptstädte haben zu-
gleich die Bedeutung der Kreise (Departements), ja sogar von
Provinzen (Berlin).
Veränderungen in der politischen Eintheilung des
Statsgebietes sind Sache des Gesetzes. Der Stat hat in
allen Stufen der Abtheilung auch seine Gesammtinteressen
und die Harmonie seines Organismus zu wahren. Je höher
aber die Stufe, um so entscheidender wirken die öffentlichen
Interessen, um so freiere Hand hat der Stat in der Bestim-
mung der Grenzen. Die tiefste Stufe dagegen, die Gemeinde,
steht ihrem Zwecke nach in so vielfältigen und engen Be-
ziehungen zu den bestehenden Gemeindecorporationen, dasz
hier der Wille auch dieser vorzüglich in Betracht kommt.
Die Hauptrücksichten, welche der Stat bei seinen Anordnun-
gen zu nehmen hat, sind a) die politische Zweckmäszig-
keit der Eintheilung; b) die natürlichen Verbindungen und
Gegensätze, z. B. zusammengehörige Fluszgebiete oder Thäler;
c) die historischen Beziehungen der Bevölkerung; d) ihre
Verkehrsbeziehung, z. B. zu einer Stadt als Central-
punkt. Untergeordnet dagegen sind die blosz mathemati-
schen Rücksichten, die sich abzählen oder mit dem Zirkel
bemessen lassen.
Siebentes Capitel.
VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Das Privateigenthum, d. h. die Herrschaft des Indi-
viduums über die Sachen, ist so alt als der Mensch. Als die
ersten Menschen die Früchte pflückten, welche die Bäume
[287]Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
ihnen zur Nahrung darboten, übten sie mit Bewusztsein Herr-
schaft aus, d. h. sie nahmen dieselben zu Eigenthum. Und
als sie sich eine Höhle wählten, und ein festes, wenn auch
vorübergehendes Lager bereiteten, ergriffen sie auch daran
Eigenthum. Als sie ihre Blösze mit Zweigen bedeckten und
ein Thierfell um ihren Leib warfen, hatten sie wieder Eigen-
thum erworben.
Das Eigenthum ist nicht erst durch den Stat er-
zeugt worden. Es ist in seiner ersten, freilich unvollkomme-
nen und noch wenig gesicherten Gestalt das Werk des in-
dividuellen Lebens, gewissermaszen die Erweiterung
des leiblichen Daseins der Individuen. Das Indivi-
duum ergreift Besitz von den Dingen um es her, die in
den Bereich seiner Herrschaft fallen, es macht sich dieselben
dienstbar und nutzbar, es eignet sich dieselben an. Indem
zum Besitz das Bewusztsein der berechtigten Herrschaft der
Person über die Sache hinzutritt, ist das Eigenthum voll-
endet. Auch der Nomade, der keiner festen Statsverbindung
angehört, hat dennoch Eigenthum an seinen Kleidern, seinen
Waffen, seinen Heerden, seinen Geräthschaften. Auch jener
schiffbrüchige Robinson auf dem einsamen Eilande erweiterte
sein Eigenthum.
Der Communismus, welcher die Rechtmäszigkeit des
Privateigenthums läugnet, und das Eigenthum als „Dieb-
stahl“ 1an der Gesammtheit erklärt, ist somit im Widerspruch
mit der individuellen Natur des Menschen, wie Gott ihn ge-
schaffen, der dem Menschen „Herrschaft verliehen hat über
die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel
und über das Vieh und über die ganze Erde“ (1. Mose 1, 26).
Er ist ebenso im Widerspruch mit der ganzen Geschichte der
Menschheit, welche unter allen Völkern und in allen Zeiten
das Eigenthum anerkennt, und in ihrer Entwicklung unver-
[288]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
kennbar bemüht ist, das Eigenthum möglichst vollkommen
auszubilden.
Die Aufhebung des Eigenthums im Sinne der Commu-
nisten würde den Untergang jeglicher individuellen Freiheit,
die Zerstörung der Cultur, die Auflösung der Familie, mit
Einem Worte eine Barbarei zur Folge haben, wie sie selbst
in den rohesten Zuständen der menschlichen Gesellschaft nie
da gewesen ist. 2
Scheinbar gemäszigter und humaner ist die Lehre der
Socialisten, aber ebenso verkehrt und minder noch conse-
quent. Als Vertreter dieser Ansicht mag Fröbel gelten,
welcher das Eigenthum nur als „Lehen der Statsgesellschaft
in der Hand seines Besitzers“ gelten lassen will und das
Recht der Individuen nur als „eine Folge eines Gesammt-
willens anerkennt von Vielen, die eine souveräne Gesellschaft
bilden.“ 3 Diese Lehre miszkennt die individuelle Natur und
Freiheit des Menschen nicht minder als der Communismus;
und indem sie blosz von abgeleitetem und vorübergehendem
Besitze weisz, bietet sie uns das übertriebene Zerrbild des
mittelalterlichen Lehenswesens als Ersatz an für das freie
Eigenthum, welches eine höhere Gesittung glücklich errungen
hat. Es ist das die nämliche, nur mit demokratischen Phra-
sen umhängte Theorie der Knechtschaft, welche in den dun-
kelsten Zeiten der Geschichte eine niederträchtige Schmeiche-
lei willkürlichen Despoten gelehrt hatte.
Dem State kommt somit keineswegs absolute Verfügung
zu über das Privateigenthum. Vielmehr liegt dieses als Pri-
vatrecht zunächst auszerhalb der Sphäre des Statsrechtes.
Der Stat schafft das Eigenthum nicht und erhält es nicht, er
darf es daher auch nicht nehmen. Er schützt es, wie er
[289]Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
überhaupt alle individuellen Rechte schützt. Er übt statliche
Herrschaft darüber wie über die Menschen, die im Lande
wohnen. Die Hauptgrundsätze über das Verhältnisz des States
zum Privateigenthum sind demnach:
1. Der Stat gewährleistet die Freiheit und Sicher-
heit des Eigenthums. 4
2. Dem State kommt keine willkürliche Dispo-
sition zu über das Eigenthum.
3. Der Stat hat das Recht, das Eigenthum für öffentliche
Zwecke zu besteuern.
Indessen wird damit das Verhältnisz des Stats zu dem
Privateigenthum nicht erschöpft. Die Freiheit des Privateigen-
thums erleidet Beschränkungen unter Voraussetzungen,
welche zugleich das Recht des States erweitern:
1. Aus der Natur der Sachen selbst ergeben sich
solche.
Gewisse Sachen nämlich sind um ihrer natürlichen Be-
schaffenheit willen dem ausschlieszlichen Privatbesitz und
Privateigenthum entrückt und dem gemeinen öffentlichen Ge-
brauche hingegeben. Oeffentliche Sachen (res publicae).
So die öffentlichen Flüsse und Gewässer, die Seeküsten, wo
Ebbe und Fluth wechseln, Seehäfen. 5
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 19
[290]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Es gehören hieher auch die unwirthlichen Theile der
Erdoberfläche, die Eis- und Schneefelder der Hochgebirge,
die unzugänglichen Schluchten und Moore und dergleichen.
Freilich ist diese Unwirthlichkeit nur eine relative. Auch
das Gletschereis ist zu einer Handelswaare ausgebeutet und
auf Felsgräthen sind Gasthöfe gebaut worden. Das Privat-
eigenthum daran ist dann regelmäszig von dem State abge-
leitet worden.
Den von Natur öffentlichen Sachen stehen zur Seite die
Sachen, welche die statliche Cultur dem Privatverkehr
entzogen und dem öffentlichen Dienste Aller oder des Stats
zugewiesen hat, wie insbesondere öffentliche Straszen und
Canäle, öffentliche Plätze u. s. w. Alle diese Sachen sind res
publicae (Domaine public), und so lange sie in diesem Zu-
stand verharren, gibt es überhaupt kein Privateigenthum daran,
auch nicht des Stats, obwohl man zuweilen die Herrschaft
des Stats über dieselben Eigenthum nennt.
2. Andere Sachen sind zwar ihrer Natur nach fähig des
Privateigenthums, aber im Sinne des modernen Rechtes, weil
sie immerhin eine nähere Beziehung auf die allgemeine Wohl-
fahrt haben, oder weil ihre Ausbeutung eine über die Schran-
ken des gewöhnlichen und theilbaren Privateigenthums hin-
ausreichende umfassende Wirthschaft erfordert, dem höheren
Rechte des States unterworfen. Dahin gehören insbesondere
Bergwerke, Salinen und ähnliche Regale.
3. Von den öffentlichen Sachen im engeren Sinne unter-
scheiden wir die dem State zugehörigen und für besondere
öffentliche Functionen des States bestimmten Sachen, wie
5
[291]Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
insbesondere öffentliche Gebäude, Residenzen, Amtshäuser,
Festungen, Zeughäuser, Casernen u. s. f. Hier läszt sich,
der äuszeren Art dieser Sachen gemäsz, füglich von Eigen-
thum des States daran sprechen. Aber die nahe Beziehung
dieses Eigenthums zu den öffentlichen Statszwecken hebt das-
selbe doch von dem gewöhnlichen Privateigenthum ab, und
hemmt auch, so lange diese Bestimmung dauert, den Privat-
verkehr. Diese Sachen müssen in der Gewalt des Stats als
öffentliches Gut (relatives Domaine public) verbleiben, damit
ihre Bestimmung gesichert sei.
4. Die geschichtliche Thatsache, dasz das meiste Privat-
eigenthum an Liegenschaften ursprünglich von dem State
abgeleitet worden ist, welcher das eingenommene Land unter
die Krieger oder die Familien des Stammes zu Eigenthum
vertheilte, wirkt insofern noch nach, dasz nach vielen Lan-
desrechten, das spätere Erlöschen des Privateigenthums an
dem Boden — z. B. durch Auswanderung oder Aussterben
der Familien — nicht eine herrenlose Sache, sondern den
Rückfall an den Stat zur Folge hat, der darüber neu ver-
fügen kann. Auch heute noch ist es ein Grundsatz der eng-
lischen und der nordamerikanischen Rechtsbildung, dasz der
Boden in den neu zu colonisirenden Territorien dem State
gehöre, und dasz daher die Colonisten ihre Grundstücke von
dem State erkaufen müssen.
Mir scheint, diese Behandlung des noch nicht oder nicht
mehr im Privateigenthum befindlichen Bodens als von Sachen,
über die es dem State zukommt, zu verfügen, rechtfertige
sich aus der Idee der Landesherrschaft, welche auch die Pri-
vatherrschaft zu ordnen hat, und wo diese fehlt, vorerst alle
Rechtsmacht verwaltet. 6
Den Liegenschaften sind die erblosen Erbschaften
[292]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
gleich zu stellen, zumal auch hier ein Eingreifen beliebiger
Occupanten ohne grobe Unordnung nicht möglich ist.
Dagegen ist es ein Irrthum, der aus jener falschen Vor-
stellung von Statseigenthum entsprungen ist, wenn ein natür-
liches Eigenthum des States an herrenlosen Sachen über-
haupt behauptet wird, die in seinem Gebiete vorhanden sind
oder wenn die Fremden von der Occupation solcher
Sachen ausgeschlossen sind und diese ausschlieszlich dem
State selbst oder seinen Angehörigen vorbehalten wird.
Dem römischen Rechte ist denn auch jene irrthümliche
Ansicht fremd. An den eigentlichen res nullius hatte der
Stat gerade so wenig Rechte als jede andere Privatperson.
Wer immer, ob Fremder, ob römischer Bürger, dieselben
occupirte, wurde durch die Occupation Eigenthümer. 7 In dem
Mittelalter dagegen war allerdings die Vorstellung der lehens-
herrlichen Oberhoheit und die des Patrimonialstates einer
Ausdehnung der Statsherrschaft auch auf Gegenstände des
Privatrechtes günstig: und in manchen neuern Rechten hat
sich diese frühere Anschauung groszentheils noch erhalten.
Wir erwähnen:
a) Das preuszische Landrecht, welches mit Bezug
auf gewisse Arten von Sachen, insbesondere auf Liegenschaf-
ten, Erbschaften, nutzbare Landthiere, auf welche noch kein
Individuum ein besonderes Recht erlangt hat, oder die von
ihrem frühern Eigenthümer verlassen worden, dem State ein
Vorzugsrecht zur Occupation zuschreibt, in Folge dessen
ein Anderer dieselben nicht ohne Einwilligung des States in
[293]Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Besitz nehmen darf. An andern herrenlosen Sachen dagegen
erkennt auch das preuszische Landrecht die Occupationsfrei-
heit an. 8
b) Das englische Recht hält auch hierin die mittel-
alterliche Vorstellung strenger fest, indem es in der Regel
dem Könige das Eigenthum an herrenlosen Sachen zuschreibt. 9
Nur ausnahmsweise erkennt dasselbe an einzelnen beweg-
lichen Sachen ein freies Occupationsrecht an. 10
c) Das französische Recht ist dem englischen ähnlich.
Es stellt ganz allgemein das Princip auf: „Die herrenlosen
Sachen gehören dem State.“ 11
d) Das österreichische Gesetz nähert sich dagegen
der römischen Ansicht. Es erkennt die umgekehrte Regel
an, dasz die herrenlosen Sachen (dort „freistehende Sachen“
genannt) der freien „Zueignung“ anheimfallen. 12
5. In Folge der (politischen) Oberherrschaft des States
über Land und Leute, und aus seiner Verpflichtung, auch
das Nebeneinanderbestehen und das Nacheinander-
bestehen der Individuen zu schützen. Dahin gehören die
Besteuerung und die sämmtlichen polizeilichen Be-
schränkungen des Privateigenthums.
6. In Folge des Rechtes der Enteignung (expropriatio).
Gewöhnlich nimmt man an, das Recht der Enteignung
sei von den Römern nicht anerkannt, vielmehr die Freiheit
des Eigenthums auch dann unbedingt geschützt worden, wenn
der Stat der Abtretung im Interesse allgemein nützlicher
Unternehmungen bedurft habe. Indessen steht nur so viel
[294]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
fest, dasz die Römer kein allgemeines Abtretungsrecht zu-
gelassen haben. Ihre groszen Canäle, ihre in gerader Rich-
tung durchgeführten Heerstraszen, ihre Wasserleitungen und
Befestigungswerke aber wären unerklärbar, hätte nicht der
Stat im einzelnen Falle die Macht besessen, die Grund-
eigenthümer zur Abtretung zu nöthigen. Wahrscheinlich ver-
fuhren die Römer, wenn solche Bedürfnisse vorlagen, ähnlich,
wie bis auf die neueste Zeit die Engländer, d. h. sie erlieszen
ein Specialgesetz für den besondern Fall. Auch gegen-
wärtig noch bedarf es, wie in frühern Zeiten, in England
einer Parlamentsacte, wenn die Eigenthümer zum Bedarf
einer öffentlichen Unternehmung angehalten werden sollen,
ihr Eigenthum abzutreten. 13
Auf dem Continente dagegen ist das Recht der Enteig-
nung gewöhnlich in neuerer Zeit allgemein anerkannt und
regulirt worden. Viele neuere Verfassungen enthalten das
Princip, dasz der Stat berechtigt sei, aus Gründen der öffent-
lichen Wohlfahrt und gegen volle Entschädigung die Abtre-
tretung des Eigenthums zu erzwingen. 14
[295]Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Dieses Princip wird vollständig durch die Erwägung ge-
rechtfertigt, dasz im Conflicte bloszer individueller Privat-
rechte und allgemeiner öffentlicher Rechte den letztern der
Vorzug, aber nicht in weiterem Umfange gebührt, als die
Lösung des Conflictes es erheischt. Das öffentliche Interesse
wird durch das Recht des States auf Abtretung, das indivi-
duelle Interesse durch das Recht des Privaten auf volle Ent-
schädigung gewahrt.
Die Ermittlung des öffentlichen Interesses im einzelnen
Falle, d. h. die Beantwortung der Frage, ob ein öffent-
liches Bedürfnisz die Abtretung erheische, gehört
ihrer Natur nach dem öffentlichen Rechte an, und ist
somit nicht von den Civilgerichten zu entscheiden, sondern
von den Organen der eigentlichen Statsgewalt, sei es nun,
dasz der Gesetzgeber selbst, wie in England und Nordame-
rika, das Unternehmen für nöthig erklärt, oder dasz die Ver-
waltungsbehörden, wie in Deutschland gewöhnlich, diese Com-
petenz haben oder Verwaltungsgerichte darüber erkennen.
Die leztere Verfahrungsweise ist im Princip richtiger; denn
Sache der Regierung ist es, im einzelnen Falle das anzuord-
nen, was das öffentliche Wohl erfordert, und in höherem
Masze kommt auch die Fähigkeit ihr zu, die Zweckmäszig-
keit der Mittel zu beurtheilen. Nur allerdings müssen die
Formen des Verfahrens Garantien dafür bieten, dasz nicht
blosze Willkür und Laune einen Eingriff in das Privatrecht
veranlassen. 14
Das Recht auf Zwangsabtretung gebührt zunächst nur dem
State, und für den engern Kreis der öffentlichen Gemeinde-
interessen der Gemeinde, nicht aber Privatpersonen.
Indessen kann der Stat, sowie er die Ausführung einzelner
Unternehmungen in öffentlichem Interesse an Privatpersonen
[296]Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
überläszt, diesen — einzelnen Individuen oder Gesellschaften
— ausnahmsweise auch die Befugnisz einräumen, für diesen
besonderen Zweck die Abtretung zu verlangen. Selbst in
England und Nordamerika ist diese Uebertragung des Rechts
auf Abtretung häufig von dem gesetzgebenden Körper an
Actiengesellschaften, z. B. für Erbauung von Eisenbahnen,
zugestanden worden.
Viele Gesetzgebungen beschränken die Abtretungspflicht
theils auf Liegenschaften, theils auf bestimmte einzeln be-
nannte Zwecke. Das Princip in seiner Reinheit aber wider-
streitet diesen Beschränkungen, indem ganz die nämlichen
Gründe, welche diese engere Anwendung rechtfertigen, auch
auf fahrendes Gut oder andere Vermögensrechte und auf
Zwecke passen, welche erst nach der gesetzlichen Aufzählung
durch neue Erfindungen und erweiterte Culturbedürfnisse sich
ergeben.
Die Frage dagegen, wie hoch die Entschädigung zu be-
stimmen sei, welche dem Abtretungspflichtigen zukomme, ist
von durchaus privatrechtlicher Natur, somit auch, wenn
sie nicht durch freien Vertrag zur Erledigung gelangt, auf
dem Wege des Civilprocesses zum Entscheide zu bringen.
Der Stat ist immerhin zu voller Entschädigung verpflichtet.
Dem Privaten darf kein Schaden zugemuthet werden, welcher
ihn allein betrifft. Demgemäsz ist nicht blosz der gemeine
Verkaufswerth, sondern es ist auch der besondere
Mehrwerth, welchen die Sache für den zur Abtretung ge-
zwungenen Eigenthümer hat, diesem zu ersetzen, nicht blosz
das unmittelbare, sondern auch das mittelbare Interesse. Da-
gegen ein blosz eingebildeter Mehrwerth, der über den
wirklichen hinaus reicht, also insbesondere auch der blosze
Affectionswerth, den der Eigenthümer der Sache beilegt oder
beizulegen vorgibt, braucht nicht vergütet zu werden.
Einzelne Rechte lassen bei Berechnung zwar nicht des
unmittelbaren Schadens, der jedenfalls vergütet werden musz,
[297]Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
wohl aber des mittelbaren Schadens, den der Eigenthümer
erleidet, als Gegenwerth den mittelbaren Vortheil, den er aus
dem Unternehmen gewinnt, in Abzug bringen. 15 Andere da-
gegen lassen keinerlei Compensation der Vortheile zu, welche
aus dem Unternehmen dem Abtretungspflichtigen erwachsen. 16
In der Beschränkung, wie sie das Züricher Gesetz formulirt,
ist die erstere Meinung doch wohl die richtigere, weil sie
den wirklichen Werth- und Schadensverhältnissen genauer
entspricht.
[298]
Viertes Buch.
Von der Entstehung und dem Untergang
des States.
Erstes Capitel.
Einleitung.
Die Frage nach der Entstehung des States läszt
sich von zwei verschiedenen Standpunkten aus stellen. Ent-
weder will man die Bedingungen und die Vorgänge prüfen,
unter denen die vorhandenen Staten entstanden sind. Oder
man fragt nach der nothwendigen Ursache, welche aller Staten-
bildung zu Grunde liegt, nach dem Rechtsgrunde des Stats.
Auf die erste Frage kann nur die Geschichte Antwort geben.
Die zweite Frage wird von der Speculation beantwortet. Die
Geschichte findet mannigfaltige Vorgänge, die sie beobachtet,
und unterscheidet daher verschiedene Erscheinungen und Ent-
stehungsformen. Die Speculation, von der Einheit des Stats-
begriffs ausgehend, verlangt auch Einheit der Begründung.
Ziehen wir vorerst die Geschichte zu Rathe, und ver-
trauen wir dann erst der philosophischen Betrachtung, wenn
wir die Erfahrung der Völker kennen.
Die Entstehung der ersten Staten ist älter als unsere
Wissenschaft der Geschichte. Diese ist erst zu einigem Be-
[299]Erstes Capitel. Einleitung.
wusztsein gelangt, als es schon mancherlei Staten auf der
Erde gab. Selbst die uralten heiligen Bücher der Juden,
welche uns über die erste Entstehung des jüdischen States ein
Zeugnisz geben, setzen doch den ältern ägyptischen voraus,
ohne uns von dessen Geburt zu berichten. Und dem ägypti-
schen Stat hat vielleicht der indische als Vorbild gedient,
dessen erste Pflanzung auch die heiligen Schriften der Indier
nicht beleuchten.
Wohl aber hat die Geschichte seither den Anfang und
das Ende sehr vieler Staten beobachtet, und ertheilt uns so
einen viel reichhaltigeren Aufschlusz über die Gründung und
den Untergang der Staten, als die blosze Speculation. Die
Staten des Alterthums sind in Europa alle, in Asien fast alle
schon seit Jahrhunderten verstorben; die Geburt der meisten
gegenwärtig bestehenden Staten fällt in eine historisch be-
kannte Zeit. Manche derselben sind noch von sehr jungem
Alter. Die Vorbedingungen ihrer Enstehung, und die Mo-
mente, durch deren Einwirkung sie geworden, sind unserm
Blicke keineswegs verborgen, wenn uns schon, wie in aller
geistigen und physischen Schöpfung, die schöpferische Kraft
selbst wie durch ein göttliches Geheimnisz verhüllt bleibt.
Die Art des Ursprungs eines States ist aber nicht blosz
ein Phänomen von groszem psychologischem und historischem
Interesse. Sie übt auch einen fortwährenden Einflusz aus auf
das ganze übrige Leben des States, und bestimmt groszen-
theils auch sein Verhältnisz zu andern Staten. 1
Daher hat es für das Statsrecht noch mehr Interesse, die
verschiedenen Entstehungsformen der Staten zu betrachten,
als für das Privatrecht die mancherlei Formen des Eigen-
thumserwerbs, obwohl die Neuern die erstere Lehre fast ganz
[300]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
vernachlässigt, die letztere aber fortwährend sorgfältig behan-
delt haben. Wir können drei verschiedene Gruppen der Ent-
stehungsformen unterscheiden:
1) Die ursprünglichen (originären) Entstehungs-
formen, in denen die Statenbildung ganz neu, in dem Volke
und Lande ihren Ursprung nimmt, ohne Ableitung von be-
reits vorhandenen Staten.
2) Die secundären Entstehungsformen, welche zwar
auch von Innen heraus, aus dem Volke den Stat hervorbrin-
gen, aber in Anlehnung und mit Beachtung schon früher vor-
handener Staten, die entweder zu einem neuen Gesammtstate
sich verbinden und einigen, oder durch Theilung in mehrere
neue Staten zerfallen.
3) Die abgeleitete Statenbildung, die nicht von Innen
heraus, sondern von Auszen her Anstosz und Richtung em-
pfängt.
Immerhin aber darf die neue Statenbildung, von
welcher hier allein die Rede ist, nicht verwechselt werden
mit bloszen Verfassungsänderungen eines States, ein
Unterschied, auf den schon Bodin2 mit Recht
aufmerksam
gemacht hat. Durch die Umgestaltung des alt-römischen König-
thums in die Republik kam nicht ein neuer Stat ins Dasein;
so wenig als durch die Abschaffung der republikanischen Stats-
form und die Einführung des Kaiserthums. Diese Wandlun-
gen in der Regierungsform bezeichnen verschiedene Lebens-
perioden und Zustände desselben States, sie sind nicht die
Anfänge verschiedener Staten.
[301]Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
Zweites Capitel.
A. Geschichtliche Entstehungsformen.
I. Ursprüngliche.
1. Die originärste Statenbildung unter all den
mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der
Gründung Roms dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das
Volk, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiede-
ner Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und
zum römischen Volke wird, als das unwirthliche und herren-
lose Land, welches in Besitz genommen und zu dem Boden
der ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der
Gedanke einer von Grund aus neuen Schöpfung. Die
Organisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke
geht der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile
vorher, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprüng-
lich. Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die
neue Statengründung wird sofort durch die erbetene Gut-
heiszung der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen
Könige dem geordneten Volke gegebene und von diesem ge-
billigte Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist
des Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich
in dem Statsgesetz als in einem einheitlichen Constitui-
rungsact, 1 und der Stat ist da als das freie Werk des be-
wuszten Volkswillens.
Ob diese Form eines schöpferischen Statsactes,
[302]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
wie wir sie nennen können, jemals wirklich vorgekommen
sei, mag immerhin bezweifelt werden. Jedenfalls entspricht
sie der Statsidee, welche gewissermaszen in ihr vollendet, wie
die Athene aus dem Haupte des Zeus, in das Leben über-
tritt, am vollkommensten.
2. Das Land ist vorher da, aber in dem Lande gelangt
später erst das Volk zu dem Bewusztsein einer statlichen
Zusammengehörigkeit. Hier liegt das statenbildende Moment
in der Volksorganisation. Auch dafür finden wir in der
alten Sage ein berühmtes Vorbild. Die Athener gelten als
Kinder des attischen Landes (Autochthonen), welches sie Jahr-
hunderte lang bebauten, bevor der Stat Athen gegründet
wurde. Mag man nun die Entstehung dieses States von Kekrops
herleiten, der zuerst unter den noch rohen Landeseingebor-
nen die Verehrung der Götter, ein gesittetes Familienrecht,
den Ackerbau und die Pflanzung des Oelbaums eingeführt,
das gesammte Volk in kastenartige Stämme geordnet und
Regierung und Gericht eingesetzt habe, oder mag man die-
selbe erst dem Könige Theseus zuschreiben, welcher die zer-
streuten Gemeinden des Landes zu einem einheitlichen Ge-
meinwesen verbunden und die Leitung desselben in Athen
concentrirt habe: 2 unter beiden Voraussetzungen liegt in der
Organisation des Volks, welchem das Land gehörte, die Ver-
wirklichung des States.
Eine historisch genau beobachtete 3 Anwendung dieser
Statenbildung durch Volksorganisation in einem bestimmten
Lande ist die Gründung der Republik Island im Jahr 930
n. Chr. Zuvor gab es nur vereinzelte Niederlassungen der
zahlreichen Häuptlinge (Goden) auf der Insel, unverbundene
[303]Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
Herrschaften selbständiger Godorde mit ihren Tempeln und
Dingstätten. Damals aber wurde auf den Antrag Ulfljots mit
Zustimmung der Goden ein für die ganze Bevölkerung der
Insel gemeinsames Allding beschlossen und so für die Gesetz-
gebung und Rechtspflege ein Gesammtorgan geschaffen, dem
alle Godorde untergeordnet waren. Damit aber hatte sich
die Bevölkerung der Insel zu einem statlichen Volke con-
stituirt.
Auch die Gründung des States Kalifornien, die vor
den Augen der mit uns Lebenden vollzogen worden ist, er-
scheint als freie Constituirung eines neuen Volkes auf einem
den Vereinigten Staten von Nordamerika zugehörigen Gebiete.
Der Hunger nach Gold hatte aus aller Welt eine unverbun-
dene Menge verschiedener Individuen zusammen getrieben,
und diese wählten am 1. September 1849 Abgeordnete zu
einem Verfassungsrathe und schon am 13. October lag die
Verfassungsurkunde des neuen States dem neuen Volke zur
Genehmigung vor. Es ist schwerlich ein Beispiel in der Ge-
schichte zu finden, welches leichter für die Möglichkeit einer
Statenbildung durch freie Uebereinkunft der betheiligten In-
dividuen gedeutet werden kann, als dieses; und dennoch kann
es einer genaueren Betrachtung dieses Falles nicht verborgen
bleiben, dasz auch da nicht der Vertrag aller Individuen, 4
sondern der Beschlusz und Wille der Mehrheit den Ent-
scheid gab und dasz die Einheit der Gemeinschaft als
nothwendig vorausgesetzt wurde. Nicht der Einzelwille der
Individuen, der Gesammtwille der ganzen Bevölkerung schuf
die Verfassung.
Die heutige amerikanische Statenbildung innerhalb der
Union der Vereinigten Staten hat durchaus diesen Charakter.
Vorerst wird ein Land (ein sogenanntes Territorium) abge-
[304]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
messen und den Colonisten zum Anbau eröffnet. Dieses Land
wird vorerst noch als Provinz der Union betrachtet und für
die Verwaltung derselben von der Unionsregierung gesorgt.
Wenn aber nach und nach die Bewohner sich vermehren und
zu einer Völkerschaft heranwachsen, dann erhalten sie durch
die neue Verfassung die noch fehlende Organisation und das
so statlich geordnete Territorium wird nun von dem Congresz
als ein neuer Stat anerkannt.
3. Weit häufiger kommt es vor, dasz die Bildung eines
Volkes vorhergeht, und die Besitznahme des Landes
als des zweiten zum Dasein eines States unentbehrlichen Ele-
mentes nachfolgt. Wir können diese Form die Landnahme
heiszen.
Sie kann zunächst als Eroberungeines bewohnten
Landes sich darstellen. Diese Form von Statenbildung ist
sehr häufig zur Anwendung gekommen. Die erste jüdische,
ein bedeutender Theil der griechischen (der dorischen)
und die ganze Statenbildung der germanischen Völker auf
römischem Provinzialboden und in slavischen Ländern tragen
diesen Charakter. In ihr stellt sich die kriegerische Ueber-
macht eines Volkes über die Einwohner des eroberten Lan-
des dar, und wie der Krieg nach der einen Seite hin zer-
störend wirkt, so offenbart sich auf der andern Seite in ihm
eine positive gewissermaszen Staten zeugende Kraft. Die stat-
lichen Eigenschaften der Unterordnung und männlichen Herr-
schaft werden im Kriege gesteigert, und so das siegreiche
Volk zur Gründung eines neuen States in dem unterworfenen
Lande vorzüglich befähigt.
Die so entstandenen Staten haben in den ersten Zeiten
ihres Daseins, abgesehen von den äuszern Verhältnissen, grosze
innere Schwierigkeiten zu überwinden. Auch wenn der Kampf
der Waffen nicht erneuert wird, so beginnt doch gewöhnlich
ein innerer Geistes- und Culturkampf zwischen dem erobern-
den und dem unterworfenen Volke, und dauert fort bis die
[305]Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
völlige politische Einheit der gemischten Nation vollzogen ist.
Um vor dieser Gefahr sein neu organisirtes Volk zu bewah-
ren, hatte Moses den Juden zur Pflicht gemacht, dasz sie
die Einwohner des heiligen Landes, das ihnen Jehovah ver-
leihen werde, mit Feuer und Schwert vertilgen sollen. Dieser
Gefahr sind auch manche siegreiche Völker erlegen, indem
die höhere Cultur der Besiegten dieselben in kurzem wieder
unterwarf.
Von jeher ist die Eroberung, obwohl in Form der Ge-
walt auftretend, als eine Quelle des statlichen Rechtes unter
allen Völkern angesehen worden, und das Wort Alexanders
des Groszen, 5 dasz der Sieger das Gesetz gebe, der Besiegte
es annehme, ist noch heute nicht verschollen.
Gewisz ist der Rechtszustand noch ein unvollkommener,
in welchem die äuszere Gewalt einen so übermächtigen Ein-
flusz übt auf die Begründung neuen und die Zerstörung alten
Rechtes. Aber so roh auch die Form der Eroberung ist, es
liegt in ihr doch ein geistiger Gehalt verborgen, welcher jene
rechtliche Bedeutung erklärt. Die alten, in vorzüglichem Sinne
die germanischen Völker betrachten den Krieg als einen
groszen Völkerprocesz, und den Sieg, welcher von den Göttern
verliehen werde, als ein Gottesurtheil zu Gunsten des Siegers. 6
In der Eroberung also stellte sich nicht die blosze physische
Uebermacht dar, sondern sie galt auch als eine Beurkundung
der moralischen Uebermacht, welche zur Herrschaft im
State berechtigt. Daran kann auch das moderne Statsbewuszt-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 20
[306]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
sein anknüpfen, welches den Stat menschlich begreifen will.
Zwar wird es sich weigern, jeden Sieg für eine Bewährung
des Rechts und jede Niederlage als ein Zeichen des Unrechts
anzuerkennen; es wird die Ueberlegenheit der Kriegswaffen
nicht mehr als einen Rechtsgrund betrachten. Aber es wird
das Resultat der groszen geschichtlichen Entwick-
lung, die von Zeit zu Zeit wieder die streitenden Kräfte der
Nationen zur Ruhe bringt, als eine natur- und zeitgemäsze
Erledigung des Volks- und Statsprocesses betrachten und ihr,
da auch die sittlichen und rechtbildenden Momente darin wir-
ken, die Bedeutung eines weltgeschichtlichen Urtheils
zuschreiben: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Die
nachfolgende Anerkennung des neuen Rechtszustandes, 7 sei
es durch den Friedensvertrag oder durch freiwillige Unter-
werfung der Bewohner, als eines nothwendigen durch die Be-
völkerung heilt die rechtlichen Mängel der anfänglichen Be-
sitznahme.
Eine andere friedlichere Form solcher Landnahme ist die
Ansiedlung von politischen Genossenschaften in einem un-
bewohnten Land oder in einem wenig cultivirten Lande in
der Absicht, da einen neuen Stat zu gründen. Manche Colo-
nien der Europäer in fremden Welttheilen haben diesen Cha-
rakter. Nur wenn die Colonisation von dem Mutterstate ge-
leitet wird, gehört sie zu den abgeleiteten Entstehungsformen
(Cap. IV. 1.); wenn die bereits als Körperschaft geordneten
Colonisten, wie jene Pilger nach Neu-England, aus eigener
Kraft und mit eigener Gefahr neue Gemeinwesen auf Boden
begründen, der bisher noch keinem State angehört, so ist
das wesentlich ursprüngliche Statenbildung. Bleiben die bar-
barischen Urbewohner auf dem Gebiete des neuen Coloni-
stenstats zurück, so ist die Schwierigkeit, das Verhältnisz
[307]Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
der beiderlei Bevölkerungen zu ordnen, fast ebenso grosz,
wie in dem eroberten Lande. Die Ueberlegenheit eines Cul-
turvolks über die Barbaren führt aber durchweg zur Herr-
schaft jener über diese.
Drittes Capitel.
II. Secundäre Entstehungsformen.
A. Es können zwei oder mehrere Staten, die sich in
ihrer Isolirung zu schwach fühlen, oder um für ihre nationale
Gemeinschaft Einheit zu gewinnen, zu einem neuen gröszeren
Statswesen sich zusammen schlieszen. Wir nennen diese For-
men Bünde. Das neue gröszere Statswesen wird hier nicht
durch den Vertrag der Individuen, sondern durch Vertrag
der verbündeten Staten entweder begründet oder doch vor-
bereitet. Ein neuer Gesammtstat kommt aber erst durch die
neue Bundesverfassung zu Stande.
Von der Art waren schon die alten griechischen Con-
föderationen der böotischen Orte, der verunglückte Versuch
des Epaminondas, die Arkader zu einigen, die Symmachie,
über die Sparta Hegemonie übte, der ätolische und der
achäische Bund. Von der Art in Italien die Bünde der
Samniter, im spätern Mittelalter die Bünde der deutschen
Hansestädte, der schweizerischen Eidgenossen, der
niederländischen Staten.
Diese Form erzeugt zunächst immer zusammenge-
setzte, nicht einfache Staten, indem sie die verbündeten
Staten nicht aufhebt, sondern zu einer neuen Statsgenossen-
schaft vereinigt. Indem sie anfänglich auf Statsvertrag be-
ruht, mehr als auf Statsgesetz, so überliefert sie auch den
folgenden Geschlechtern den Gegensatz mehrerer in wesent-
lichen Dingen selbständiger, in andern nicht minder wesent-
lichen aber von der Gesammtheit abhängiger Staten, und mit
[308]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
diesem Gegensatze eine stete Wechselwirkung, häufig auch
einen Kampf des particulären und des allgemeinen
Statsgeistes als Erbtheil ihrer Weise.
Wenn dann im Verfolg das Gefühl der Einheit des Ge-
sammtstates stärker und die Organisation desselben ausgebil-
deter wird, dann weicht die Form des Statsvertrags der stat-
lichen Form des Verfassungsgesetzes.
Auf diesem Gegensatze beruhen die beiden Hauptformen
der statlichen Verbündung: die Conföderation oder der Staten-
bund und die Föderation oder der Bundesstat. Beide sind
zusammengesetzte Statskörper, und insofern von bloszen Allian-
zen, die keinen neuen Stat bilden, verschieden. Nur die erste
aber hält den Charakter der vertragsmäszigen Verbündung
von Staten fest, die letztere macht den Fortschritt zur Bil-
dung eines Gesammtstats (Union).
1. Die Conföderation oder der Statenbund, indem
sie mehrere Staten zu einer Statsgenossenschaft verbindet, die
wenigstens nach auszen als Gesammtstat als eine völker-
rechtliche Statsperson erscheint, organisirt sich doch nicht
als einen von den Einzelstaten verschiedenen Centralstat, son-
dern überläszt die Leitung des Gesammtstates entweder einem
Einzelstate als Hegemon oder Vorort, oder der Versamm-
lung von Gesandten und Stellvertretern aller ver-
bundenen Einzelstaten.
Von jener Art waren die griechischen Statenbünde unter
der Hegemonie von Sparta und Athen, von dieser die schwei-
zerische Eidgenossenschaft bis 1848 und der deutsche Bund
von 1815.
2. In der Föderation oder dem Bundesstate dagegen
gibt es nicht blosz vollständig organisirte Einzelstaten, son-
dern voraus einen selbständig organisirten Gesammt-
stat, Centralstat. Die Bundesgewalt ist nicht einem der
Einzelstaten (Länderstaten) überlassen, noch der Versamm-
lung der Einzelstaten anheim gegeben. Sondern sie hat ihre
[309]Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
eigenen bundesmäszigen oder nationalen Organe hervorgebracht,
welche nur der Gesammtheit angehören. Der achäische Bund
mit seiner gemeinsamen Volksversammlung als gesetzgeben-
dem Körper, dem Bundesstrategen als dem Bundeshaupte,
dem Bundesrathe und dem Bundesgerichte war schon einiger-
maszen ein solcher Bundesstat. Zuerst ist diese Statsform
als eine moderne in den Vereinigten Staten von Nordamerika,
aber erst in der Unionsverfassung von 1787 ausgebildet und
dann von der Schweiz in der Bundesverfassung von 1848
nachgebildet worden. Beide Verfassungen beruhen nicht mehr
auf einem eigentlichen Statenvertrage, sondern setzen in
der Idee die Existenz eines Gesammtvolkes und eines Ge-
sammtstates voraus, deren einheitlicher Wille die Ver-
fassung schafft, und von der Minderheit — auch der Einzel-
staten — Gehorsam fordert. Dadurch wird die Vorstufe der
Conföderation von Staten überschritten und die höhere Stufe
der Föderation oder Union betreten. 1
3. Beide Formen der zusammengesetzten Statenbildung
sind eher für Republiken als für Monarchien geeignet, wovon
man sich leicht überzeugt, wenn man die Geschichte der nord-
amerikanischen und der schweizerischen Bundesverfassung mit
den Kämpfen über die deutsche Bundesreform vergleicht.
Die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867
und die Verfassung des deutschen Reiches von 1871 einigt
zwar thatsächlich und rechtlich die verschiedenen in Deutsch-
land wirksamen politischen Mächte und Kräfte zu nationalem
Zusammenwirken, aber sie macht der principiellen Betrach-
tung den Eindruck eines Schmetterlings, der noch einen Theil
seiner Puppe und selbst die Reste seines frühern Raupenzu-
stands mitschleppt. Ihre Entstehungsform weist einerseits
auf den freien Vertrag aller Einzelstaten (Fürsten und Kam-
[310]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
mern) hin, die Verfassung ist aber ihrem Inhalte nach durch
den leitenden Willen der preuszischen Regierung in Verbin-
dung mit den Arbeiten des einheitlichen Reichstags als der
Vertretung des deutschen Volkes zu Stande gekommen. Wie
hier Vertrag und Gesetz sich seltsam verbinden, so er-
innert die Vertretung der verbündeten Regierungen in dem
Bundesrathe noch ganz an den früheren statenbündlichen
deutschen Bundestag. Auch die anfängliche Bezeichnung
„Bundespräsidium“, welches der königlichen Krone Preuszen
zukam, hatte noch dasselbe statenbündliche Gepräge. Aber
wenn daneben die wirkliche Machtstellung dieses Bundesprä-
sidiums und die verfassungsmäszigen Befugnisse desselben —
insbesondere auch als Bundesfeldherrn — erwogen werden,
so trat schon damals aus der Verhüllung das deutsche
Reichsoberhaupt — in deutlichen Umrissen hervor, wel-
ches nun in der deutschen Reichsverfassung unter dem maje-
stätischen Namen der deutsche Kaiser zur Anerkennung
gelangt ist. Die Institution des Reichstags aber ist von
Anfang an einheitlicher gedacht und durchgeführt als
selbst der nordamerikanische Congresz und die schweizerische
Bundesversammlung.
Von den republikanischen Föderationen unterscheidet sich
also die Verfassung des deutschen Reiches hauptsächlich durch
folgende Dinge:
a) Dadurch, dasz in diesem manche leitenden Organe
des Gesammtstats mit den obrigkeitlichen Organen
der einzelnen Landesstaten nothwendig oder thatsäch-
lich verbunden sind, wie der deutsche Kaiser mit dem
Könige von Preuszen. die Mitglieder des Bundesraths mit den
Regierungen der Länderstaten, der Reichskanzler und groszen
Theils die höheren Beamten des Reichskanzleramtes mit den
preuszischen Ministerien, während in jenen Bundesstaten
die Trennung der beiden Organismen grundsätzlich durch-
geführt ist.
[311]Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
b) Dadurch, dasz in letztern die Länderstaten zwar un-
gleich an Grösze und Macht, aber doch sämmtlich schwach
sind gegenüber dem Gesammtstat und insofern einander nahe
stehen, während im deutschen Reich das Königreich Preuszen
viel mächtiger ist als alle andern verbündeten Staten zusam-
mengenommen, und deszhalb als Haupt- und Vormacht
betrachtet werden musz, auf welche die Macht des Reichs
hauptsächlich gestützt ist, ohne welche sie nichts ist, an welche
die übrigen deutschen Staten sich anschlieszen und anlehnen.
c) Durch ihre monarchische Verfassung sowohl im
Reich als in den meisten Länderstaten.
Diese Abweichungen sind so grosz, dasz man besser thut,
die neue deutsche Entstehungsform nicht einfach unter den
bisherigen Begriff des Bundesstates unterzuschieben, sondern
als eine neue Form, unter dem Namen Bundesreich, diesem
an die Seite zu stellen.
B. Verwandt mit der Verbündung ist die Einigung
zweier oder mehrerer Staten unter Einem gemeinsamen
Herrscher, oder zu einem einzigen neuen State, vor-
zugsweise Union genannt. Auch hier lassen sich verschie-
dene Stufen und Arten der Einigung unterscheiden. In jeder
Weise unvollkommen ist dieselbe:
4. In Gestalt einer bloszen Personalunion. Diese
kann sogar blosz vorübergehend eintreten, wenn die
Thronfolgeordnungen zweier verschiedener Staten zufällig die-
selbe Person zu beiden Kronen berufen, somit wieder auf-
hören, wenn später die Succession wieder zwei verschiedene
Personen trifft. Von der Art war die Verbindung des deut-
schen Reiches und von Spanien unter Karl V., von Polen
und Sachsen unter August, von England und Hannover unter
dem Könige Georg IV., von Schleswig-Holstein und Dänemark
nach dem Vertrage von 1620. Diese Form der Union, die
loseste von allen, erzeugt auch nicht einen neuen Vereins-
stat, sondern beschränkt sich darauf, zwei selbständige Staten
[312]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
in eine blosz äuszerliche Beziehung zu dem nämlichen Für-
sten als Statsoberhaupt zu bringen.
Auszer ihr kommt aber auch eine dauernde Personal-
union vor, indem die Kronen zweier Staten derselben Dynastie
und nach dem nämlichen Successionsgesetze zugehören. Bei-
spiele dieser Art sind die pragmatische Sanction von 1713
für die unter dem österreichischen Scepter vereinigten Staten,
welcher 1722 auch der ungarische Reichstag für das König-
reich Ungarn beitrat, die Erwerbung des Fürstenthums Neu-
chatel von Seite der Krone Preuszens von 1707, die Verbin-
dung von Norwegen und Schweden seit 1814, die Ueberein-
kunft zwischen dem Königreich Ungarn und dem kaiserlichen
Oesterreich von 1867.
Eine solche dauerhafte Vereinigung kann zwar einen neuen
Gesammtstat begründen; aber die Einheit ist doch eine sehr
unvollständige und fast nur unter der Voraussetzung von ent-
scheidender practischer Geltung, wenn eine absolute Macht in
der Person des Herrschers wirklich concentrirt ist. Unter
jeder anderen Voraussetzung wird der unversöhnte innere
Widerspruch zweier verschiedener Staten mit abweichenden
Interessen und Stimmungen und eines gemeinsamen Fürsten
sich fühlbar machen und es kann in Folge desselben sogar
die unsinnige Forderung an den Fürsten gerichtet werden,
dasz er in seiner Eigenschaft als Oberhaupt eines States
Feindschaft über wider den andern Stat, an dessen Spitze er
nicht minder steht. Mit der Repräsentativverfassung ist da-
her diese Form der Personalunion nicht wohl zu vereinigen.
5. Eine höhere Einigung liegt in der sogenannten Real-
union, welche mit der Föderation ebenso verwandt ist, wie
die Personalunion mit der Conföderation. In ihr ist nicht blosz
die Person des Herrschers geeinigt, sondern die oberste Stats-
leitung selbst in Gesetzgebung und Regierung. 2
[313]Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
Zwar verträgt sie sich mit einer relativen Selbständigkeit
der unirten Staten, denen innerhalb gewisser Schranken eine
particuläre Gesetzgebung und Regierung vergönnt werden mag,
aber der Gesammtstat ist in ihr doch einheitlich organisirt,
und die höchsten gemeinsamen Statsinteressen sind in den
einheitlichen Organen concentrirt. Die Vereinigung Norwegens
mit dem Königreich Dänemark durch das Reichsgesetz von
1536, die Einigung von Castilien und Aragon, wenn auch
nicht sofort von Anfang an, 1474, so doch unter den öster-
reichischen Fürsten, ganz vorzüglich aber die österreichische
Monarchie nach dem Grundgesetze von 1849 und der Februar-
verfassung von 1861 sind Beispiele solcher Realunion.
Die neue Verfassung von Oesterreich-Ungarn vom Jahr
1867 nähert sich in dem Dualismus der beiden Hauptstaten
Oesterreich und Ungarn den Formen der Personalunion, hat
aber in den Instituten der gemeinsamen Ministerien des
Aeuszern, des Reichsheers und der Reichsfinanzen, sowie in
der gemeinsamen Delegation der zwei repräsentativen Körper
der beiden Hauptstaten, Anfänge und Ansatz zur Realunion.
Diese Hauptstaten sind in sich selber anfänglich als Personal-
union entstanden, aber nun als Realunionen ausgebildet.
6. Die volle Union endlich löst die Besonderheit der
unirten Staten auf, und bildet nicht einen aus mehreren Staten
zusammengesetzten, sondern einen einfachen Stat.
Die Vereinigung der beiden ursprünglich durch blosze
Personalunion verbundenen Königreiche England und Schott-
land zu dem Gesammtkönigreich Groszbritannien vom Jahr
1707, und die spätere Union zwischen Groszbritannien und
Irland von 1800 haben diesen Charakter einer vollen Union,
indem die particularen Parlamente aufgehoben und für das
ganze Reich ein gemeinsames einheitliches Parlament ange-
2
[314]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
ordnet wurde. Die Einverleibung der Hohenzollerischen Für-
stenthümer in Preuszen im Jahr 1849, die Annexion der ita-
lienischen Herzogthümer und des Königreichs Neapel mit Pie-
mont zu dem neuen Königreich Italien im Jahr 1860 und
1861 und vorzüglich die Umwandlung des Königreichs Han-
nover und der Fürstenthümer Kurhessen, Nassau, Schleswig
und Holstein und der freien Stadt Frankfurt in preuszische
Provinzen sind neuere Beispiele solcher vollen Union.
Das ältere Statsrecht war geneigt diese Verbindung und
Wandlung ausschlieszlich aus dem dynastischen Standpuncte
und nicht anders zu beurtheilen, als ob es sich um die Zu-
sammenlegung oder den Erwerb von mehreren Grundstücken
durch dieselbe Privatperson handelte. Es wurden daher wie
die privatrechtlichen Formen der Veräuszerung unter Leben-
den, so auch von Todes wegen (Testament, Erbvertrag) an-
erkannt; wie wenn Volk und Land eine Verlassenschaft wären,
über die ein einzelner Mensch nach seinem Belieben zu ver-
fügen hätte. Das neuere Statsrecht musz diese dem modernen
Statsbegriff widerstreitende Ansicht verwerfen, und daran fest
halten, dasz solche Veränderungen wesentlich die öffentliche
Verfassung des Volks betreffen und daher nicht ohne Zu-
stimmung der Volksvertretung geordnet werden
dürfen.
C. Den Gegensatz der Verbindung bildet die Theilung
und Zertrennung eines gröszeren States in zwei oder meh-
rere neuere Staten.
7. Nationale Scheidung. Diese Erscheinung wird
sich besonders da ergeben, wo verschiedene, zumal auch dem
Gebiete nach getrennte Völker zu einem State verbunden
waren, ohne innerlich eins zu werden. Wenn die Macht der
Concentration, welche sie bisher zusammenhielt, nachläszt,
so treiben die natürlichen Gegensätze auseinander, und es
geht der grosze Scheidungsprocesz vor sich, welcher das bis-
herige Ganze in eine Anzahl neuer selbständiger Staten auf-
[315]Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
löst. So ging die grosze durch Alexanders Genie einen Augen-
blick zusammengeschmiedete Weltmonarchie nach seinem Tode
sofort auseinander. Ebenso wurde im IX. Jahrhundert die
fränkische Monarchie nach den Nationalitäten, freilich nicht
ohne wesentliche Mitwirkung der dynastischen Gegensätze ge-
spalten. Auch der Zerfall des Napoleonischen Kaiserreiches
mit seinen Schöpfungen abhängiger Lehenskönigreiche in
diesem Jahrhundert läszt sich groszentheils so erklären. Die
Trennung von Belgien und Holland im Jahr 1830 hat diesen
Charakter.
8. Erbrechtliche Theilung. Während des Mittel-
alters kam öfter die Theilung eines Statsganzen wie einer
Erbschaft unter mehrere Erben vor, so unter mehrere Söhne
des verstorbenen Statsoberhauptes, und es dauerte lange, bis
diese privatrechtliche mit dem Recht eines zusammengehöri-
gen Volkes und der Wohlfahrt eines States durchaus unver-
einbare Behandlung durch das politische Princip der Un-
theilbarkeit in Europa verdrängt wurde.
9. Eine ähnliche Form ist die Lossagung eines Thei-
les des States und Constituirung dieses Theiles zu einem
selbständigen State.
In der Regel ist der Theil als solcher nicht berechtigt,
sich wider das Ganze zu empören und sich von demselben
gewaltsam loszureiszen. Die Geschichte hat uns von vielen
ungerechtfertigten und unheilvollen Lostrennungsversuchen der
Art warnende Berichte überliefert. Aber sie weisz auch von
andern Lossagungen, welche volle Anerkennung errungen haben,
und deren innere Berechtigung nicht zu bezweifeln ist. Er-
innern wir uns an die Lossagung der niederländischen Gene-
ralstaten von Spanien von 1579, an die Unabhängigkeits-
erklärung der nordamerikanischen Freistaten von 1776, an die
Befreiung Griechenlands von türkischer Herrschaft in unsern
Tagen. Jene Regel bedarf somit einer Beschränkung, die wohl
so zu fassen ist: zur Lossagung ist der Theil ausnahmsweise
[316]Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
berechtigt, wenn seine dauernden und wichtigen Interessen
von dem Statsganzen, dem er angehört, nicht geschützt noch
befriedigt werden, und er zugleich befähigt ist, für sich selber
zu sorgen und seine selbständige Stellung zu behaupten. Nur
wirkliche Noth und ein unerträglich gewordenes Leiden gibt
somit gegründete Veranlassung zu der Lossagung, und nur
die moralische Kraft, welche sich in dem Kampfe um Selb-
ständigkeit siegreich bewährt und alle Schwierigkeiten über-
windet, gewährt einen Anspruch auf Anerkennung derselben.
Unter diesen beiden Voraussetzungen wird dieselbe denn auch
von dem groszen Gerichte ausgesprochen, welches durch die
Weltgeschichte spricht. 3
[317]Viertes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. III. Abgeleitete.
Viertes Capitel.
III. Abgeleitete Entstehungsformen.
1. Colonisation.
Die Colonisation, wie sie von den hellenischen Staten
geübt wurde, und die Küsten des Mittelmeeres in Kleinasien,
Italien, Sicilien, auf den Inseln des Archipels mit neuen
Städten und Staten bevölkerte, war in der That bewuszte
neue Statenbildung. Die Pflanzstadt ging aus der Mutterstadt
hervor, wie der Sohn, der aus der Familie des Vaters aus-
tritt, um ein eigenes Hauswesen zu gründen. Sie wurde so-
fort zum selbständigen neuen State, unabhängig von der
Mutterstadt, aber mit ihr durch ihre Abstammung, Sitten,
Recht, Religion verbunden. Aus dem Prytaneum der Mutter-
stadt nahm die Tochterstadt das heilige Feuer mit, und die
väterlichen Götter zogen mit in den neuen Wohnsitz hinüber. 1
Die Hellenen vermochten nicht ein groszes Reich zu gründen
und zusammen zu halten, aber durch ihre zerstreute Städte-
colonien hellenisirten sie den Orient. 2
Anders die römischen Colonien. Sie waren bestimmt,
die römische Herrschaft in weiteren Kreisen zu sichern und
zu befestigen, und blieben daher in einem strengen Abhängig-
keitsverhältnisz zu der Hauptstadt. Hier ist somit nicht von
neuer Statenbildung, sondern nur von Ausdehnung des be-
stehenden Einen States die Rede.
Wieder von anderer Art ist die moderne Colonisation.
Sehen wir auf den Ursprung der modernen, besonders in Ame-
rika von den europäischen Staten aus gestifteten Colonien, so
handelt es sich dabei in der Regel nicht um Gründung neuer
[318]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und
Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer
neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung
der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden
war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten
Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpo-
rationstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens
einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren,
diese theilweise sogar hervorgerufen hatten.
Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge-
schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb-
ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue
Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen
Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt
eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie
als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach-
dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich
absondert und eine neue eigene Familie begründet.
2. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem
Mittelalter öfter vor in Gestalt der Verleihung von Ho-
heitsrechten an einzelne Bestandtheile des States. Eine
ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr-
schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem
sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und
diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige
nur ein idealer Schein von Oberhoheit zurückblieb, alle reale
Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die frühe-
ren Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu
selbständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Ver-
leihung war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes
durch Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet
für das moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittel-
alter nicht wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit
die practische Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat
[319]Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.
mit klarem Bewusztsein einen Theil seines Gebietes zur Selb-
ständigkeit heranziehe und denselben mit statlichen Hoheits-
rechten ausstatte. In dieser Weise verfährt England in unserer
Zeit gegen Canada und andere englische Nebenländer.
3. Endlich kommt vor die Institution eines neuen
States durch einen fremden Herrscher, insbesondere
durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um
ihr Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat
in den Jahren der Napoleonischen Herrschaft gesehen, wie
eine Reihe von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder
nach dem Willen des französischen Kaisers neu errichtet
wurden. Europa hat aber auch erlebt, dasz diese willkür-
lichen Schöpfungen momentaner Uebermacht zu keinem inner-
lich kräftigen Leben gelangten, und kaum ins Dasein gerufen
wieder abstarben oder getödtet wurden. Es ist das ein be-
redter Beweis, dasz unter allen Formen der Statenbildung
diese die unvollkommenste ist, und am wenigsten Gewähr
darbietet für die Fortdauer solcher Staten.
Fünftes Capitel.
IV. Untergang der Staten.
Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten
überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte
zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas-
sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich
verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber
daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine
gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit schlieszen.
Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie-
gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht
gleichmäszig vorhanden, und die Geschichte lehrt uns, dasz
[320]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie im-
moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen.
Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon
mehrere Generationen schlechter Regenten überdauert. Aber
auch nicht, wie neuerlich Gobineau behauptet hat, in der
Mischung und Entartung der Volksrassen; manche Staten sind
gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig
geworden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen
wesentlich verändert worden; ich erinnere an Rom, an Eng-
land, an Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem
groszen Gesetz alles irdisch-organischen Lebens, dasz
es durch die Geschichte entwickelt und aufgezehrt
werde. Das Leben der Völker und der Staten entfaltet sich,
und indem es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt
es seine Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich
fortschreitenden Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten
kann, überholt und zurückgelassen.
So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der
fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie-
digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf
der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er-
scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange
dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit
selbst.
Die besonderen Formen des Statenuntergangs
aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung,
und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be-
gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft
die Geburt des andern sich unmittelbar an.
1. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet
die Desorganisation oder Auflösung des Volkes.
Eine eigenthümliche Art der Desorganisation ist die Anar-
chie. Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke
nicht mehr geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeit-
[321]Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.
liche Gewalt anerkennt, wenn jeder Einzelne nur seinen Lüsten
den losen Lauf läszt, und keiner mehr sich um das Ganze
kümmert, noch der Gemeinschaft Opfer bringt, so wird der
Stat selbst negirt, und das organisirte Volk ist in diesem
Falle zur chaotischen Masse herabgesunken. Die Anarchie
hebt somit im Princip den Stat, nicht etwa nur die bisherige
Statsform auf. Allein eine so entschiedene und so andauernde
Anarchie, die dann freilich immer der Tod des States ist,
findet sich doch in der Geschichte der Völker höchst selten.
Weit häufiger sind die anarchischen Zustände blosz vorüber-
gehend und momentane Fieberkrisen, welche zwar
das Leben des States bedrohen, aber oft nur eine andere Ge-
staltung der Statsverfassung vorbereiten. Gerade in den Zeiten
heftiger Erschütterungen der Revolution offenbart sich die
entschieden statliche Natur der arischen Völkerstämme in
höchst merkwürdiger Weise. Selbst in dem Augenblick, wo
sie die statliche Ordnung mit wüthendem Hasse stürzen, unter-
werfen sie sich doch den nothwendigen Formen des statlichen
Daseins, und während sie in der Verwirrung der Ideen für
Anarchie schwärmen, gehorchen sie blindlings je den wilde-
sten und strengsten Führern. Dicht hinter dem Triumphzug
der entfesselten und freiheitstrunkenen Massen erscheinen die
kalten, ehernen Züge der Dictatoren, und in den Trümmern
der zerstörten Statsordnung macht sich sofort wieder das Volk
eine neue, wenn auch vielleicht schlechtere statliche Wohnung
zurecht. Auch die Völker der groszen arischen Familie sind
nicht unsterblich, aber so lange ihr Leben dauert, können
sie der statlichen Form ihres Daseins so wenig entbehren, als
der Fisch des Wassers, oder der Vogel der Luft. Es gibt
kein einziges Beispiel in der Geschichte, dasz ein arisches
Volk sich dauernd losgemacht hätte von dem State, oder dasz
ein solches auch nur in den Zustand der Nomaden zurück-
gesunken wäre. Im sechszehnten Jahrhundert haben die Wie-
dertäufer die Idee des States vollständig verworfen, ähnlich
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 21
[322]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
wie in unsern Tagen die Communisten. Aber als ihnen die
Gelegenheit geboten ward, einen Versuch zur Einführung ihrer
unstatlichen Gemeinschaft zu machen, haben sie doch wieder
— obwohl in karikirter Form — einen Stat eingerichtet.
2. Die Auswanderung eines Volkes aus dem Lande
seiner Väter, wie die Helvetier zu Cäsars Zeit sie unternom-
men, oder die Vertreibung eines Volkes aus seiner Heimat,
wie sie während der groszen Völkerwanderungen in Europa oft
erzwungen worden, zerstört den bisherigen Stat jedenfalls; und
es ist gewöhnlich unsicher, ob es dem weiterziehenden Volke
gelinge, eine neue feste Herrschaft über ein anderes Land zu
erwerben, und so einen neuen Stat zu gründen.
3. Die Eroberung eines Landes und die Unter-
werfung eines bisher selbständigen Volkes durch eine fremde
Macht ist öfter noch Zerstörung alter als Gründung neuer
Staten, indem sie meistens eine blosze Erweiterung des sieg-
reichen States zur Folge hat. In dieser Weise hat einst Rom
eine Reihe von Staten verschlungen, und über deren Bevölke-
rung und Gebiet seine Herrschaft ausgebreitet. Die Ergebung
(deditio) des schwächern Volkes hat zwar den Schein der
Freiwilligkeit, ist aber regelmäszig doch das Werk der Noth
und äuszeren Zwanges und fällt dann mit der Unterwerfung
zusammen.
4. Die volle Union ferner zieht den Untergang der
unirten Staten nach sich. Da in ihr aber zugleich der An-
fang eines neuen gröszeren States liegt, dessen Volk aus den
Völkern der aufgelösten Staten besteht, so ist hier eher eine
freiwillige Entäuszerung der bisherigen statlichen Son-
derexistenz denkbar.
5. Den Gegensatz zu dem Aufgehen der kleineren Staten
in dem gröszeren Gesammtstat bildet die Theilung eines
Reiches in mehrere Staten oder die Vertheilung eines
States unter mehrere fremde Staten. Die erstere kann ohne
äuszeren Zwang auf organische Weise vor sich gehen, indem
[323]Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
die verschiedenen Bestandtheile eines States ihre Besonderheit
schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist
gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei-
lungen Polens (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele
solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre
Aufklärung und Humanität eitel war.
6. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne
Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch
Entzug oder Abtretung von Hoheitsrechten bisher selb-
ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen.
Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des
deutschen Reiches, für diese Art des Statenuntergangs
ist die Geschichte Frankreichs besonders lehrreich. Die
Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XI., hat
so eine Masse von „souveränen Seigneurien,“ in welche das
Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch
Deutschland hat durch die zahlreichen Mediatisirungen
seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei-
ner Staten eingeschlagen.
Sechstes Capitel.
B. Speculative Theorien.
I. Der sogenannte Naturstand.
Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand
zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten,
und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit
habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die
Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern
Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt,
und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es
noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in
[324]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
unbeschränkter Freiheit und Glückseligkeit sich des friedlichen
Daseins erfreut haben. In dieser Vorzeit gab es nach jenen
Vorstellungen noch kein Eigenthum, da der Ueberflusz der
Natur jedem in Fülle darbot, wornach sein unverkünstelter
und unverdorbener Sinn verlangen mochte; damals noch keine
Unterschiede der Stände noch selbst der Berufsarten, jeder
war dem andern gleich; damals auch weder Obrigkeit noch
Unterthanen, keine Beamte, keine Richter, keine Heere, keine
Steuern. 1
Einem solchen Ideale gegenüber muszte der spätere stat-
liche Zustand der Menschen als Entartung und Verfall erschei-
nen. Erst als vorher unbekannte Plagen die Menschen trafen,
erst als die Leidenschaften in ihrer Brust erwachten und neue
Gefahren hervorriefen, erst als die Schuld den Seelenfrieden
störte, da bedurfte es einer Macht, welche die Bösen schreckte
und strafte, und den vielfach verkümmerten Genusz Aller
[325]Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
sicherte. So dachte man sich den Stat, wenn auch nicht
immer als ein nothwendiges Uebel, doch als eine Noth-
und Zwangsanstalt, um gröszern Uebeln zu entgehen.
Im Gegensatze zu dieser kindlich heitern Vorstellung von
dem Paradiese dachten sich andere und zuweilen griesgräm-
liche Philosophen den Zustand des ersten, noch unstatlichen,
Menschen viel schlimmer. Ihre ängstliche Phantasie malte
statt des göttlichen Friedens einen unablässigen Hader und
Krieg aus aller gegen alle: und wenn auch ihnen der Stat als
ein Uebel erschien, so war dieses Uebel doch erträglicher und
geringer als der ursprüngliche Naturstand, in welchem die
Menschen dem Wilde des Waldes glichen. Dieser philoso-
phische Gedanke fand in der theologischen Speculation, welche
den Stat die Ordnung nicht des Paradieses, sondern der „ge-
fallenen Menschheit“ nannte, eine willkommene Bekräftigung.
Die beiderlei Vorstellungen übersehen die statliche
Natur des Menschen. Sie haben beide keine Ahnung von
der Wahrheit, 2 die Aristoteles so schön ausgesprochen, dasz
der Mensch ein „statliches Wesen“ sei. Mag man sich
immer einen Zustand der Menschen vorstellen, welcher der
Entstehung des States vorausging, dieser Zustand konnte un-
möglich den höhern Bedürfnissen derselben genügen, 3 und
es war ein unermeszlicher Fortschritt in der Entwicklungs-
[326]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
geschichte der Menschheit, als der von Anfang an ihr ein-
gepflanzte Keim zur Statenbildung sich entfaltete und zur Er-
scheinung kam.
Siebentes Capitel.
II. Der Stat als göttliche Institution.
In dem Alterthum sowohl als während des Mittelalters
war der Glaube an die göttliche Institution des States viel
verbreiteter und intensiver als in unserer Zeit. Auch damals
aber war in ganz verschiedenem Sinne von einer göttlichen
Begründung des States die Rede.
1. Nach der einen Vorstellung war der Stat das unmit-
telbare Werk Gottes, die directe Offenbarung der
göttlichen Herrschaft auf Erden.
Diese Vorstellung lag der jüdischen Theokratie zu Grunde,
und die volle Consequenz derselben führt jederzeit zu der
theokratischen Statsform, zu welcher sie allein paszt.
Wenn Gott den Stat unmittelbar geschaffen hat, so ist es
natürlich, dasz er denselben unmittelbar erhalte und regiere.
2. Nach der andern Vorstellung dagegen ist der Stat
nur mittelbar von Gott gegründet, und wird auch nur
mittelbar von Gott geleitet. 1
Diese Ansicht wurde auch von den Griechen und Römern
getheilt, deren Statsformen keineswegs theokratisch waren,
sondern durch und durch einen menschlichen Charakter hatten.
Kein Statsgeschäft von irgend welcher Bedeutung wurde im
[327]Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
Alterthum unternommen, ohne dasz Gebet und Opfer vorher-
gegangen waren und in dem Statsrechte der Römer nahm die
Sorge der Auspicien, durch welche der Wille der Götter er-
forscht wurde, eine sehr wichtige Stellung ein. Sie verbanden
mit dem Bewusztsein menschlicher Freiheit und Selbstbestim-
mung den Glauben an eine göttliche Leitung der menschlichen
Dinge; und wenn sie schon in dem Schicksal des einzelnen
Individuums die Macht der Götter erfuhren, so schien es ihnen
noch klarer, dasz das Schicksal jener groszen sittlichen Lebens-
gemeinschaft, die wir Stat nennen, nicht losgerissen sei von
dem Willen und dem Walten der Gottheit. 2 Hatten sie etwa
hierin Unrecht?
Es versteht sich von selbst, dasz das Christenthum den
Stat nicht auszerhalb der göttlichen Weltordnung und
Weltregierung zu denken vermag, und es ist für die christ-
liche Auffassung bezeichnend, dasz der Apostel Paulus zu
einer Zeit, als der Kaiser Nero von Statswegen die Christen
verfolgte, jenes berühmte Wort an die christlich gesinnten
Römer richtete: „Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von
Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“
(Römerbrief 13, 1.) Daher kann es uns auch nicht befremden,
[328]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
wenn während des ganzen Mittelalters in allen christlichen
Staten die obrigkeitliche Gewalt von Gott, die höchste des
Kaisers ohne Vermittlung durch eine Zwischenperson von
Gott abgeleitet 1 wurde.
Aber so würdig auch diese Ansicht die Entstehung und
das Schicksal des States an die göttliche Weltherrschaft an-
knüpft, und so hoch ihre sittliche Bedeutung immerhin anzu-
schlagen ist, so darf doch nicht übersehen werden, dasz die-
selbe ihrem Wesen nach religiös, nicht politisch ist, und
dasz sie gerade darum, wenn sie zum politischen Stats-
princip erhoben und als Rechtssatz gehandhabt wird,
leicht Irrthümer und Miszbräuche veranlaszt und beschönigt.
Heben wir einzelne hervor:
1. Gott hat zwar den Menschen als ein statliches Wesen
erschaffen, aber zugleich hat er ihm die Freiheit verliehen,
die eingepflanzte Idee des States durch eigene Thätigkeit und
zunächst nach seinem Urtheil und in den ihm geeignet schei-
nenden Formen zu verwirklichen. Es ist schon ein grobes
Miszverständnisz, wenn einzelne Statsformen, z. B. die repu-
blikanische, deszhalb verworfen werden, weil Gott als Monarch
die Welt regiere.
2. Die obrigkeitliche Gewalt ist zwar in ihrer Idee und
Erscheinung von Gott abhängig, aber nicht in dem Sinne, dasz
etwa Gott einzelne bevorzugte Menschen über die Beschränkt-
heit der menschlichen Natur emporhöbe, sich selber näher
setzte und gewissermaszen zu Halbgöttern für die Erde be-
stellte, noch in dem Sinne, dasz Gott die menschlichen Re-
[329]Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
genten zu seinen persönlichen und mit ihm, so weit ihre
statliche Herrschaft reicht, identischen Stellvertretern
ernennte und mit seiner Macht und seiner Autorität aus-
rüstete. 4 Derlei theokratische Vorstellungen widerstreiten
der menschlichen Natur derer, welchen die Regierung des
States anvertraut ist. Die hochmüthige Rede Ludwigs XIV.:
„Wir Fürsten sind die lebenden Bilder dessen, der allheilig
und allmächtig ist,“ 5 klingt im Verhältnisz zu Gott wie Blas-
phemie und ist im Verhältnisz zu seinen Unterthanen —
Menschen wie er — ein unwürdiger Hohn.
3. Manche fassen die obrigkeitliche Gewalt selbst, unter-
schieden von den Personen, welche dieselbe verwalten, als eine
politisch-göttliche und „übermenschliche“ auf.
Stahl z. B. 6 sagt: „Die Gewalt des States ist von Gott nicht
blosz in dem Sinne, wie alle Rechte von Gott sind, Eigen-
thum, Ehe, väterliche Gewalt, sondern in dem ganz specifischen
Sinne, dasz es das Werk Gottes ist, das er versieht. Er
herrscht nicht blosz kraft Gottes Ermächtigung, wie auch der
Vater über seine Kinder, sondern er herrscht in Gottes Namen.
Darum ist auch der Stat mit der Majestät umkleidet.“
Das ist aber wieder eine objective Theokratie, welche
practisch zu der auch von Stahl verworfenen persönlichen
Stellvertretung Gottes führen, und allen mit dieser verbunde-
nen Anmaszungen und Miszbräuchen von neuem freien Einzug
[330]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gestatten würde. Christus selbst hat durch sein groszes Wort:
„Gebet Gott was Gott, und dem Kaiser was dem Kaiser ge-
bührt,“ viel schärfer und entschiedener auf die menschliche
Natur des States hingewiesen und jede Identificirung
statlicher Gewalt mit specifisch-göttlicher Herr-
schaft verworfen. Die weltliche Statslehre thut daher wohl
daran, die Existenz und die Einrichtungen des States von dem
menschlichen Standpunkte zu betrachten und menschlich zu
nehmen.
4. Nicht selten wurde die Unveränderlichkeit der be-
stehenden Statsverfassungen und insbesondere auch die Un-
veränderlichkeit der Person des Regenten oder seiner Dynastie
mit dem Princip verfochten, dasz die obrigkeitliche Gewalt
von Gott geordnet sei. Allein dasz die Unveränderlichkeit der
äuszeren Formen und der persönlichen Beziehungen nicht zu
den nothwendigen Eigenschaften der göttlichen Weltordnung
und Weltleitung gehöre, beweist die ganze Weltgeschichte,
und Paulus hat gerade durch seine Mahnung, der jeweilig
bestehenden Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die Wandel-
barkeit auch der statlichen Ordnung und Regierung mittel-
bar anerkannt. Wohl mochte im XVII. Jahrhundert jene
Vorschrift in der Seele vieler frommen Engländer ernste Be-
denken darüber erregen, ob der Widerstand gegen die tyran-
nischen Gebote Jakobs II. erlaubt sei, und Gewissensscrupel
hervorrufen, ob die Entsetzung des Königs zu rechtfertigen
sei. Aber nachdem Wilhelm von Oranien von der Nation und
von dem Parlamente als König anerkannt war, konnte auch
der in religiöser Hinsicht ängstlichste und gewissenhafteste
Tory unbedenklich in diesem die „von Gott geordnete Obrig-
keit“ verehren.
5. Aehnlich verhält es sich mit der Frage der Verant-
wortlichkeit. Dasz die Statsmänner, welchen viel anvertraut
ist, und dasz die Fürsten, welchen Macht verliehen ist, Gott
verantwortlich seien für das was sie thun oder unterlassen,
[331]Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
das allerdings folgt aus dem obigen Princip, aber die Beant-
wortung der ferneren Streitfrage, ob und wie dieselben auch
einem menschlichen Richter verantwortlich seien, läszt
sich nicht schon von da aus entscheiden. Nicht weil die
oberste obrigkeitliche Macht im State specifisch göttlich, son-
dern weil sie die oberste ist, wird für sie Unverantwort-
lichkeit vor menschlichen Richtern in Anspruch genommen.
Ebensowenig darf der Statsmann, im Glauben, dasz Gott
die Schicksale der Völker und Staten bestimme, und lenke,
und im Vertrauen, dasz Gott wohl regiere, gewissermaszen
Gott versuchen und die Verantwortlichkeit von sich ab auf
diesen wälzen. Vielmehr wird er von der eigenen Verant-
wortlichkeit nur dann frei, wenn er die ihm gewordene Auf-
gabe, so weit seine Kräfte reichen, gewissenhaft erfüllt hat. 7
Anmerkung. Die Geschichte des Ausdrucks: „von Gottes Gna-
den“, welcher dem Titel der Könige beigefügt wird, verdient Beachtung.
Es wurde in verschiedenen Zeitaltern damit ein verschiedener Sinn ver-
bunden.
a) Der Ausdruck kam vorzüglich während des Mittelalters in Uebung.
Die alten fränkischen Könige brauchten noch abwechselnd die Ausdrücke:
Gratia Dei, Divina ordinante providentia, Divina favente gratia, Divina
favente clementia, per Dei misericordiam. Damals bedeutete der Ausdruck
lediglich die demüthige Verehrung und die religiöse Dankbarkeit des
Königs gegen Gott, dem die persönliche Erhebung zugeschrieben wurde;
aber ebenso von der Seite der gewählten, wie von Seite der durch Erbrecht
berufenen Fürsten. Der König Pipin, der seine Erhebung einer Revolution
verdankte, brauchte die Formel ebenso unbedenklich, wie sein Sohn
König Ludwig.
Es war in der fränkischen Periode damit noch keine souveräne Ge-
walt angedeutet. Auch Bischöfe und Aebte, obwohl gesetzlich ge-
wählt, oder von den Königen gesetzt, und weltliche Grafen, obwohl
königliche Reichsbeamte, fügten dieselbe Formel ihrem Titel bei.
b) Zur Zeit des römischen Reiches deutscher Nation dauerte der Aus-
druck anfangs in derselben Weise fort. Die gewählten Könige, aber
[332]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
ebenso die Herzoge, Grafen, welche von dem Könige mit ihren
Aemtern beliehen wurden und die Bischöfe und Aebte huldigten noch
immer in derselben Weise der göttlichen Gnade.
Zuweilen wird nun aber der Gnade Gottes die Gnade des Kaisers:
„Dei et Imperiali gratia“ von den weltlichen Groszen, und die Gnade des
Papstes von den geistlichen Fürsten „Dei et apostolicae sedis gratia“
hinzugefügt.
Allmählich aber bekommt die ausschlieszliche Berufung auf die
Gnade Gottes die Nebenbedeutung der Unmittelbarkeit der obrig-
keitlichen Gewalt, im Gegensatze zu einer übergeordneten Lehensherr-
schaft. Der Ausdruck entsprach überhaupt der Neigung des Mittelalters,
alle Gewalt von Gott abzuleiten.
c) Nach der Kirchenreform fingen die Lutherischen Theologen
an, den Satz von Paulus: „Alle Obrigkeit von Gott“ als ein christliches
Dogma nachdrücklich zu verkünden, und die Träger der Statsgewalt als
Gesalbte und Stellvertreter Gottes zu erklären. Luther selber war darin
viel freier. Wir erinnern uns, dasz er einst an König Heinrich VIII. von
England schrieb: „Ich Martin Luther von Gottes Gnaden ecclesiastes an
Heinrich, von Gottes Ungnaden König von England.“ Die buchstaben-
gläubigen Theologen bedachten auch nicht, dasz der Apostel Paulus
jenen Satz, ganz im Gegensatze zu den theokratisch gesinnten Juden-
christen, welche den heidnischen Kaiser verachteten, mit Absicht auf
den römischen Kaiser Nero bezog, der seine Gewalt nach dem römischen
Statsrecht von dem römischen Volke empfangen hatte. Sie übersahen,
dasz der Apostel Petrus ganz dasselbe wollte, wenn er den Christen
„Gehorsam gegen die menschliche Ordnung“ empfahl. Sie berühmten
sich, vorzugsweise die Vertreter des göttlichen Rechts der weltlichen
Fürsten zu sein.
d) Entschiedener noch versuchten es König Ludwig XIV. von Frank-
reich und Jakob II. von England, aus dem Gottesgnadenthum der Könige
ein neues Statsdogma zu machen und dadurch der angestrebten absoluten
Gewalt der Könige eine höhere Sanction zu verleihen. Das Königsrecht
sollte nun, im Gegensatz zu allen andern menschlichen Rechten des
Eigenthums, der Familie, der Parlamente, ein specifisch göttliches d. h.
absolutes sein. Es sollte über die Sphäre der menschlichen Rechtsordnung
erhoben werden. Indessen widersetzten sich die französischen Stände der
gesetzlichen Sanction der behaupteten Göttlichkeit der Könige und heftiger
noch widersprach das englische Parlament. In England wurde das theo-
kratisirende Princip durch die Revolution von 1688, in Frankreich durch
die Revolution von 1789 definitiv verworfen.
e) Am entschiedensten sprachen sich dagegen die Männer der deut-
schen Wissenschaft Puffendorf und Thomasius aus, vor allen aber
Friedrich der Grosze, der darin das Grundgebrechen der europäischen
Statszustände erkannte.
[333]Achtes Capitel. B. Speculative Theorien. III. Die Theorie der Gewalt.
f) Stahl hat seither versucht, dem falschen Gedanken eine neue
Fassung zu geben und denselben in Gestalt eines objectiven göttlichen
Rechts der Obrigkeit, im Gegensatze zu der persönlichen Vergöttlichung
der absoluten Könige in die Statslehre neuerdings einzuschmuggeln.
Vergeblich. Die moderne Welt läszt sich mit dieser Ausgeburt einer
krankhaften Einbildung nicht mehr verzaubern.
Achtes Capitel.
III. Die Theorie der Gewalt.
„Der Stat ist das Werk gewaltsamer Unterwerfung. Er
beruht auf dem Rechte des Stärkern.“ So versichern uns
einzelne Philosophen, öfter aber noch einzelne gewaltsame
Machthaber. 1
Diese Lehre ist dem Despotismus günstig, denn sie recht-
fertigt jede Gewaltthat; in zweiter Linie aber dient sie auch
der Revolution, sobald sich diese stark genug fühlt, offene
Gewalt zu üben. Gewöhnlich wird sie eben da als Waffe her-
beigeholt, wo die Schranken des wahren Rechtes überschritten
werden und die rohe Uebermacht waltet. Sie ist ein Sophis-
mus, nur für Mächtige verlockend, den Schwachen leichter
vernichtend als täuschend, eher zur Selbsttäuschung als zur
Täuschung anderer geschickt.
Man hat gesagt, die Geschichte erweise die Wahrheit
jenes Satzes, und allerdings zeigt in der Geschichte die Ge-
walt sich öfter wirksam bei der Begründung von Staten als
der Vertrag; aber nur äuszerst selten hat die rohe Gewalt
für sich allein, nach eigener Willkür, Staten geschaffen, nie-
mals dauernde und grosze Staten. In der Regel, wenn auch
[334]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten
an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die
Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht
die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider-
stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht
das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An-
erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst
in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig
nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der
Zerstörung und des Todes.
Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem
Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren
und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens
Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der
Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt-
lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy-
sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte
zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will,
Empörung wider das Recht. 2
Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein
Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-
entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in-
sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber,
welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und
in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt
führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck
auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht-
verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die
[335]Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
Träume bloszer Speculation und die Wünsche abstracter Doc-
trinen da zu verwirklichen, wo die natürlichen Verhältnisse
und Kräfte widerstreiten.
Ohne Macht kann weder ein Stat entstehen, noch sich
behaupten. Der Stat bedarf der Macht nach innen sowohl
als nach auszen; wo die Machtverhältnisse fest und dauernd
geworden sind, da sucht und erlangt gewöhnlich auch die
Macht die Verbindung mit dem Recht, d. h. die Anerkennung,
Reinigung und Heiligung durch das Recht. Denn ohne das
Recht ist die Macht des Stärkern von thierischer Natur, sie
ist der Wolf, der das Lamm zerreiszt. Mit dem Rechte ver-
einigt aber ist sie der sittlichen Natur des Menschen würdig
geworden.
Neuntes Capitel.
IV. Die Vertragstheorie.
Vorzüglich seit Rousseau hat die Lehre, dasz „der
Stat ein freies Werk des Vertrages, der Uebereinkunft
seiner Bürger“ sei, eine grosze Verbreitung und Popularität
genossen. Sie schmeichelte der Selbstgefälligkeit der Indivi-
duen, von denen sich jeder Einzelne nach ihr als Statengrün-
der denken konnte, und schien ihre Lüsternheit zu befriedigen,
indem sie jeden beliebigen Inhalt aufzunehmen verhiesz.
Diese Theorie hat vorzüglich in den Zeiten der französischen
Revolution eine furchtbare Autorität erlangt. Mit ihrer Hülfe
vornehmlich wurde die alte Statsform niedergerissen und wur-
den mannichfaltige aber verunglückte Versuche unternommen,
über dem Schutthaufen ein neues allen zusagendes Statsge-
bäude aufzurichten. Aber wenn sie auch vorzugsweise als die
Lieblingstheorie der Revolution Geltung gefunden hat, so hat
sie doch öfter schon auch dazu dienen müssen, die Recht-
[336]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
mäszigkeit absoluter Herrschaft vertheidigen zu helfen. Es
verhält sich mit ihr umgekehrt wie mit der Lehre von der
Gewalt.
Wie diese vorzugsweise den Despotismus roher Ueber-
macht begünstigt, ausnahmsweise aber auch die gewaltsamen
Vorgänge der Empörung deckt, so ist die Vertragstheorie
voraus der Anarchie günstig, schützt aber ausnahmsweise auch
die Unterdrückung verhaszter Minderheiten durch willkürliche
Mehrheiten oder die Tyrannei des Siegers über die Besiegten,
welche sich ihm ergeben haben.
Diese Theorie erhebt den Anspruch auf allgemeine Gül-
tigkeit. Nach derselben beruht die Entstehung aller Staten
und in gewissen Betracht auch die Fortdauer aller Staten
auf Vertrag. Die Geschichte aber, welche uns so reiche Auf-
schlüsse über die Statenbildung eröffnet, weisz auch nicht ein
einziges Beispiel, in welchem wirklich durch Verabredung und
Vertrag der Individuen ein Stat „contrahirt“ worden wäre.
Wohl kennt sie einzelne Fälle von Verträgen zweier oder
mehrerer Staten, durch welche ein neuer Stat gegründet
wurde, auch einige Fälle, in denen Fürsten und Häuptlinge
sich mit einzelnen Classen oder Ständen des Volks vertrags-
mäszig zu neuen Statsformen vereinbarten, aber sie kennt
keinen Fall, in welchem ein Stat wie eine Handelsgesellschaft
oder eine „Brandkasse“ durch seine „gleichen“ Bürger errich-
tet worden wäre. Eben so wenig unterstützt die Geschichte
die Meinung, dasz auch die Fortsetzung der Staten aus einer
steten Vertragserneuerung der Individuen abzuleiten sei. Viel-
mehr zeigt sie uns, dasz das Individuum schon als Glied des
States geboren und erzogen wird, und mit seiner Erzeugung,
Geburt und Erziehung auch das bestimmte Gepräge des Volks
und des Vaterlandes empfängt, dem es zugehört, bevor es im
Stande ist, einen eigenen selbständigen Willen zu haben und
zu äuszern.
Das Zeugnisz der Geschichte steht somit jener Theorie
[337]Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
schroff entgegen, es verwirft dieselbe unzweideutig. Selbst in
den Zeiten, als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die zahl-
reichsten Anhänger hatte und am wirksamsten war, konnte
sie doch niemals die entgegenstehende Realität der Natur
überwältigen. Das Volk wurde zwar in lauter „freie und
gleiche Bürger“ aufgelöst, aber die Minderheiten auch in den
Urversammlungen „vertrugen“ sich nicht mit den Mehrheiten,
welche ihren Willen als den übergeordneten und allein gel-
tenden durchsetzten. Die „constituirende“ Versammlung wurde
zwar als ein Auszug und als eine Stellvertretung der sämmt-
lichen Bürger angesehen, und ihr die Aufgabe gestellt, sich
über eine Verfassung zu vereinbaren; aber auch in ihr über-
wog die einheitliche Form des Beschlusses durchweg
über die vielheitliche des Vertrages. Man „fingirte“ einen
Vertrag, wo kein wirklicher zu erkennen war, und täuschte
sich und andere mit der fingirten Freiwilligkeit der Einzelnen,
da wo die Mehrheit als Organ der Gesammtheit eine häufig
unerträgliche Herrschaft 1 übte.
Wie die Unwahrheit der Theorie durch die Geschichte
nachgewiesen ist, so hält dieselbe auch der Kritik der Ver-
nunft nicht Stand. Sie geht aus von der Freiheit und von
der Gleichheit der Individuen, die den Vertrag abschlieszen.
Aber politische Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist
nur im State, nicht auszerhalb desselben denkbar. Der Mensch
hat wohl die Anlage zu dieser Freiheit schon in sich, wie den
Trieb und das Bedürfnisz des States; die Wirklichkeit dieser
Freiheit dagegen kann erst in der organischen Gemeinschaft
des States zu Tage treten. Wären die Individuen ferner nur
gleich, so könnte nie ein Stat entstehen, 2 denn dieser setzt
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 22
[338]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
die (politische) Ungleichheit — ohne welche es weder
Regierende noch Regierte geben kann — als nothwendige
Grundlage voraus.
Noch mehr. Der Grundirrthum jener Anschauung ist
der, dasz sie sich die Individuen als Contrahenten vorstellt.
Wenn die Individuen Verträge schlieszen, so entsteht Privat-
recht, nie aber Statsrecht. Das was dem Individuum als
solchem zugehört, ist sein individuelles Vermögen, sein Privat-
gut. Darüber kann er verfügen, der eine wie der andere dar-
über auch Verträge schlieszen. Einen politischen Inhalt
aber können die Verträge nur haben, wenn schon eine Ge-
meinschaft da ist, welche über den Individuen steht,
denn dieser Inhalt ist nicht Privatgut der Individuen, sondern
öffentliches Gut der Gemeinschaft.
Durch Vertrag von Individuen kann somit weder ein Volk
noch ein Stat entstehen. Wie viele Einzelwillen auch ange-
häuft werden, es entsteht kein Gesammtwille daraus;
wenn noch so viel Privatrecht abgetreten wird, es entsteht
kein Statsrecht daraus.
Für die Politik ist übrigens jene Lehre im höchsten
Grade gefährlich. Indem sie den Stat und dessen Rechts-
ordnung zu dem Producte individueller Willkür stempelt, und
je nach dem Willen der gerade lebenden Individuen für ver-
änderlich erklärt, hebt sie den Begriff des Statsrechts auf,
reizt die Bürger zu statswidriger Willkür, und gibt den Stat
der äuszersten Unsicherheit und Verwirrung preis. Viel eher
ist sie daher eine Theorie der Anarchie als eine Stats-
lehre zu nennen.
Auch sie enthält indessen ein Stück Wahrheit verhüllt,
wie denn überhaupt der Irrthum der täuschendste und gefähr-
lichste ist, in welchem eine allgemein faszliche Wahrheit durch-
schimmert. Im Gegensatze nämlich zu der Theorie, welche
in dem State ein bloszes Naturproduct sieht, hebt sie die
Wahrheit hervor, dasz der menschliche Wille auch
[339]Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
bestimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und
darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie
vindicirt sie der menschlichen Freiheit mit dem Be-
wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Recht.
Anmerkungen. 1. Der berühmte Satz des Aristoteles (Polit.
I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das
Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz
von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin-
reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in
dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen-
hang mit dem State als solches keine Existenz hat.
2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün-
den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch
von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr-
thum, dasz das Recht überhaupt das Erzeugnisz des freien Wil-
lens sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht
gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um-
zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die
Existenz der Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält-
nisse gegeben, und von dem Willen der Menschen durchaus unab-
hängig. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern gefunden und
erkannt, „geschöpft,“ nicht geschaffen; und mehr noch als das
„Wir wollen“ der menschlichen Subjecte ist das „Ihr sollt“ von
entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch Hegel,
indem er das Recht zwar nicht aus dem „particularen Einzelwillen,“
sondern aus dem „wahren,“ dem „an und für sich seienden“ Willen
hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen,
obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen
hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.
3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. Rousseau, hatte der
Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik
vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer
Schweizer, der Bernerische Patricier Ludwig von Haller, griff die
ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und
überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll-
ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der
Statswissenschaft, die er „Restauration“ nannte. Es geschieht ihm frei-
lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr-
schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis-
mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der
Lehrer der Revolution.
Haller gründet den Stat auf das „Naturgesetz, dasz der Mäch-
[340]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
tigere herrsche,“ und erkennt in der Ueberlegenheit des einen
und in dem Bedürfnisz des andern den Grund aller Herrschaft und
aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord-
nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht
gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. —
„Jene wird beschränkt durch die Pflicht. Durch das moralische Pflicht-
gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches
sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten
unter allen Völkern offenbar wurde: „Meide Böses und thue Gutes,“
und: „Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;“ durch das Gesetz
der „Gerechtigkeit“ und das Gesetz der „Liebe“ wird dafür gesorgt,
dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte.
Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind
diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab-
änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten,
denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von
denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten
und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht
der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine Wohl, auch nicht die
Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist
der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt daher auch für die Mächtigen.
Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt
von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf,
eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf
man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie
selbst beobachtet, Liebe und Wohlwollen von dem bessern Theil des
menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der
höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen.
Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. „Es
gibt nirgends Hülfe als bei Gott.“ „Der Glaube an Gott,“ wie Plutarch
sagt, „ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und
die Stütze der Gerechtigkeit.“ Die Religion allein vermag die Macht in
ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken.“
Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eigenen
Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das Recht
und den Stat nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Macht
ableitet, und jene nur als die Schranke dieser erfaszt. Die Macht
gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer die
Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für sich
allein nur ein thatsächliches, nicht ein Rechtsverhältnisz bildet. Dieser
Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht vor der
realen Macht, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen äuszerlich
sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt ihm öfter
die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Rechts und in das
[341]Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.
Werden desselben; die Neigung, die höchste Macht und das höchste
Recht der Obrigkeit vor jeder Beeinträchtigung zu sichern, wird in ihm
zuweilen bis zum Hohn und Hasz gegen jeden Versuch gesteigert, die
Rechte der Unterthanen vor Miszbrauch der obrigkeitlichen Gewalt zu
sichern und die Ausübung dieser zu beschränken, als ob es ein Frevel
wäre, das göttliche Pflichtgesetz auch durch menschliche Einrichtungen
vor menschlichen Verletzungen zu bewahren. Er ist daher auch ein
erklärter Gegner des ganzen constitutionellen Systems und bildet die
mittelalterliche Vorstellung, dasz die statliche Herrschaft dem Eigenthum
gleich sei, in schroffer Weise aus.
Zehntes Capitel.
V. Der organische Statstrieb und das Statsbewusztsein.
Es genügt nicht, die gewöhnlichen speculativen Theorien
zu verwerfen. Das Bedürfnisz, die Eine Ursache der Staten-
bildung im Gegensatz zu den mannichfaltigen Formen der
Erscheinung zu erkennen, bleibt unbefriedigt.
Indem wir auf die menschliche Natur zurückgehen,
finden wir in ihr die gemeinsame Ursache aller Statenbildung.
Die Menschennatur hat neben der individuellen Mannichfaltig-
keit auch die Gemeinschaft und Einheit als Anlage in
sich; und indem diese Anlage entwickelt wird und zunächst
die Nationen als Völker sich in ihrer innern Gemeinschaft
und Einheit erfahren und demgemäsz äuszerlich gestalten,
bringt der innere Statstrieb die äuszere Organisation des
Gesammtdaseins in Form männlicher Selbstbeherrschung, d. h.
in Form des States hervor.
Dieser Statstrieb wirkt anfänglich instinctiv und unbe-
wuszt in den Menschen. Die Menge schaut halb mit Ver-
trauen, halb mit Furcht zu einem Häuptling auf, dessen über-
legener Muth und Geist ihr imponirt, den sie als den höch-
sten Führer und Ausdruck ihrer Gemeinschaft verehrt. Sie
ordnet sich ihm unter und gehorcht seinem Befehle.
[342]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Allmählich aber, bei steigender Cultur und nach sicheren
Lebenserfahrungen erhellt sich der dunkle Trieb und es bildet
sich das Statsbewusztsein und der Statswille aus.
Naturgemäsz zuerst in den Führern und Häuptern des Volks.
In ihnen wird der Statstrieb zu activem Statsbewuszt-
sein erhöht und zu ordnendem und wirkendem Stats-
willen gekräftigt. Die Masse der Regierten gelangt einst-
weilen nur zu einem passiven Statsbewusztsein.
Nach und nach breitet sich das Statsbewusztsein aber
auch in den höhern, zuletzt in den unteren Ständen und
Classen der Bevölkerung aus und wird auch da wirksam und
thätig.
Diese Annahme eines in der menschlichen Natur vorerst
unbewuszt wirkenden Statstriebs, später bewuszt wirkenden
Statsgeistes steht mit den geschichtlichen Entstehungsformen
der Staten nicht im Widerspruch, sondern erklärt dieselben.
In den Mächtigen steigert er sich leidenschaftlich bis
zur Herrschaft, in den Schwachen bis zur knechtischen
Unterwürfigkeit. In den Freien aber ist er durch den Ver-
stand erleuchtet und durch das sittliche Selbstgefühl, welches
mit dem ebenfalls sittlichen Gesammtgefühl in Harmonie ist,
würdig erfüllt. Nur der freie Stat ist wahrer Stat, weil nur
in ihm der Statsgeist allgemein und in allen Classen des
Volks wirksam ist.
Was Wahres in den falschen speculativen Theorien ent-
halten war, finden wir in dieser Auffassung, welche die Alten
schon ausgesprochen hatten, 1 wieder, ohne die entstellenden
Irrthümer jener Theorien. Mittelbar erscheint dann der
Stat auch als etwas Göttliches, indem Gott den Statstrieb
in die menschliche Natur gelegt und in sofern die Verwirk-
lichung des Stats gewollt hat. Das gesunde religiöse Gefühl
[343]Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.
wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie
als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird.
Auch was von realer Machtfülle zur Statenbildung unent-
behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die
wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten-
bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End-
lich wird auch dem geistig-sittlichen Momente des Willens
sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte
und zerfahrene Einzelwillen, sondern den von Natur gemein-
samen und einheitlichen Volks- oder Statswillen.
Der Anlage nach ist der Gesammtwille in den Nationen
ebenso rassenmäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs-
und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heiszen. Dieser
Gesammtwille in der Offenbarung wird zum Statswillen, wäh-
rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt,
wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen.
Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver-
trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt,
das einheitliche Gesetz, wie der Befehl, wenn es sich um
polizeiliche Functionen, das Urtheil, wenn es sich um Ver-
waltung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe
in sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln,
seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern.
Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung
der schlechten Leidenschaften, nicht ein nothwendiges Uebel,
sondern ein nothwendiges Gut. Die Völker als Gesammt-
wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht
anders zu Darstellung ihrer innern Gemeinschaft und Einheit,
nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge-
langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirk-
lichen. Der Stat ist die Erfüllung der Gesammtordnung und
die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in
allen öffentlichen Dingen.
So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine
[344]Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
irdisch-menschliche Gestaltung. Aber nichts hindert uns,
dem religiösen Ideal einer unsichtbaren Kirche, welche die
Gemeinschaft der religiös verbundenen Geister bedeutet, auch
das politische Ideal eines unsichtbaren States, welcher
die Gemeinschaft der politisch geeinigten Geisterwelt bedeutet,
an die Seite zu stellen. Wie die Theologen von einer voll-
kommneren Kirche im Himmel sprechen, so können auch die
Männer des States den irdischen Stat nur als eine Vorstufe
des himmlischen States betrachten.
Der wirkliche Stat aber ist wie die wirkliche Kirche nur
die wir hier erkennen, in denen wir leben und arbeiten. Nur
mit diesem wirklichen State hat es die Wissenschaft im State
zu thun, und dieser Stat wird vollständig aus der mensch-
lichen Natur erklärt und begriffen.
[[345]]
Fünftes Buch.
Der Statszweck.
Erstes Capitel.
Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
1. Die Frage wird oft so gestellt: Ist der Stat Zweck
oder Mittel? d. h. hat der Stat einen ihm eigenen Zweck in
sich, einen Selbstzweck, oder hat er lediglich den einzelnen
Menschen als Mittel für ihre Lebenszwecke zu dienen?
Die antike Statslehre, vorzüglich der Hellenen, betrach-
tete den Stat als das höchste Ziel des Menschenlebens über-
haupt, als die vollkommene Menschheit und war desz-
halb geneigt, nur den Selbstzweck des Stats zu sehen.
Verglichen mit dem State erschienen ihr dann die Einzel-
menschen nur als Theile des States, aber nicht als selbstbe-
rechtigte Wesen. Nicht der Stat diente den Individuen, son-
dern umgekehrt die Individuen dienten dem State, als die
Theile dem Ganzen, als die Glieder dem Körper. Unbedenk-
lich wurde daher die Privatwohlfahrt der Statswohlfahrt ge-
opfert. Sie hatte nur insofern eine Berechtigung und einen
Werth, als sie zugleich der Statswohlfahrt nützlich war.
Ebenso wurde die Privatfreiheit nur als ein Theil der Volks-
freiheit verstanden. Auch sie fand weder Schutz noch För-
[346]Fünftes Buch. Der Statszweck.
derung, wenn die private Selbständigkeit der Individuen ihre
eigenen Wege gehen wollte, im Gegensatze zu der allgemei-
nen Richtung der Volkswohlfahrt und des Stats.
Ganz im Gegensatze zu dieser antiken Grundansicht ist
voraus von englischen und nordamerikanischen Schriftstellern
die Meinung vielfältig verfochten worden, dasz der Stat kei-
nen Selbstzweck in sich, sondern ausschlieszlich ein Mittel
sei für die Wohlfahrt der Einzelmenschen. Macaulay
(Kleine Schriften und wiederholt in seinen Werken) bezeich-
net es als einen Hauptmangel in der Politik der Alten und
Machiavelli's, dasz sie nicht, wie die Neuern, den groszen
Grundsatz erkannt haben: „Gesellschaften und Gesetze be-
stehen lediglich zu dem Zweck, die Summe des Privat-
glücks zu vermehren.“ Der Stat wird von dieser modernen
Schule dann nur als eine blosze Einrichtung, gleichsam eine
Maschine, betrachtet, welche als Mittel diene, um den Ein-
zelnen mehr Sicherheit zu gewähren für ihr Dasein, ihr Ver-
mögen, ihre persönliche Freiheit und höchstens noch als eine
künstliche Anstalt gerühmt, welche gemacht sei, das Glück
und die Wohlfahrt aller Einzelnen, oder doch der groszen
Mehrzahl zu erhöhen und zu fördern.
Seit Bacon ist diese Meinung oft von Politikern und
selbst von Männern der Wissenschaft mit Eifer vertheidigt
worden. Wer im State nur eine Gesellschaft von Individuen
sieht, kann dieselbe nicht abweisen. Macaulay glaubt so-
gar, dasz die Vervollkommnung der öffentlichen Zustände in
der neueren Zeit vornehmlich der Wirksamkeit dieser An-
sicht zu verdanken sei. Robert von Mohl findet es abge-
schmackt, wo Menschen und eine blosze Einrichtung für die-
selben in Frage seien, von einer gleichen Bedeutung beider
zu reden.
Ich denke: In beiden Behauptungen, jener antiken und
dieser modernen ist ein Wahrheitskern zu finden; aber beide
verfallen in einen Irrthum, indem sie nur Eine Seite vor
[347]Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
Augen haben und die angrenzende Gegenseite übersehen oder
verneinen.
Schon die obige Fragenstellung: Zweck oder Mittel? ver-
leitet zu solcher Einseitigkeit und daher zu dem Irrthum.
Dasselbe Ding kann, nach der einen Beziehung betrachtet,
ein Mittel sein für andere Lebenszwecke und es kann, von
einem anderen Standpunkte aus in anderer Richtung ange-
sehen, den Zweck seines Daseins in sich haben. Wie oft ist
ein Gemälde oder eine Statue ein Mittel, um dem arbeiten-
den Künstler den erforderlichen Lebensunterhalt oder dem
Kunsthändler einen Gewinn zu verschaffen? Dennoch ist das
echte Kunstwerk für den Künstler das Ziel seines höchsten
Strebens. In dem Kunstwerk erkennt der Künstler den Aus-
druck seiner lebendigsten Empfindungen, die leibhafte Dar-
stellung seiner Ideale. Es trägt so seinen Zweck in sich.
Die Ehe dient unzweifelhaft den beiden Ehegatten als ein
Mittel, ihre individuellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen
und beiden ein glücklicheres Dasein möglich zu machen.
Die Ehe ist aber auszerdem auch eine Einigung der in Ge-
schlechter gespaltenen Menschennatur, indem sie die Ehe-
gatten zu einer höheren Lebenseinheit verbindet, begründet
sie die Familie und insofern ein höheres Gesammtdasein,
welches dem Einzelleben der Ehegatten und der Familien-
glieder übergeordnet ist. Jeder Ehegatte und jedes Familien-
glied opfert dann willig einen Theil seiner Selbstsucht und
seiner Eigenwilligkeit dem höheren Zwecke, welcher der Ehe
und der Familie inwohnt.
Ganz ebenso ist auch der Stat, je nachdem man ihn
von der einen oder von der andern Seite aus betrachtet, ein
Mittel, um den Individuen zu dienen, die in ihm leben
und hat hinwieder den Selbstzweck in sich, um deszwillen
auch die Individuen ihm untergeordnet sind und ihm dienen.
Die antike Einseitigkeit, welche über dem ganzen Volke
den einzelnen Menschen übersah, gefährdete die Privatfrei-
[348]Fünftes Buch. Der Statszweck.
heit und die Privatwohlfahrt ernstlich und verleitete in
ihren Consequenzen zu der Vorstellung der Statsallmacht,
die dann leicht zur Statstyrannei ausartet.
Die moderne Einseitigkeit, welche vor den Bäumen den
Wald nicht sieht, verkannte umgekehrt die Majestät des
Stats und löste in ihren Consequenzen den Einen Stat in
ein wirres Gewusel von Einzelmenschen auf und be-
günstigte daher die Anarchie.
Allerdings haben die Alten die wichtige Aufgabe des
Stats, die Privatfreiheit zu schützen und die Privatwohlfahrt
der Menge durch seine Anstalten zu fördern, nicht genug
beachtet. Es ist wirklich ein Vorzug der modernen Stats-
praxis, dasz diese Sorge des Stats besser erkannt und viel-
seitiger geübt wird, als im Alterthum. Mit Recht erscheint
den heutigen Menschen eine Politik verächtlich und hassens-
werth, welche die Wohlfahrt der Privaten als einen Spielball
behandelt, der je nach der Laune der statlichen Gewalt-
haber hin- und hergeschleudert oder gelegentlich fallen und
liegen gelassen wird. Wir wissen, dasz das Gesetz und das
Amt nicht blosz Herrschaft über die Individuen üben, son-
dern in sehr wesentlichen Beziehungen ein Dienst für die
Privaten sind. Eine grosze Anzahl wohlthätiger und ge-
meinnützlicher Anstalten und Einrichtungen der modernen
Staten sind dieser Einsicht zu verdanken. Die moderne Aus-
bildung der Privatfreiheit und vor allen Dingen der indivi-
duellen Geistesfreiheit ist nur von dieser Grundansicht aus
zu erklären, welche hauptsächlich durch das Christenthum für
das religiöse Leben und durch den germanischen Rechtssinn
für das ganze persönliche Rechtsleben begründet und ver-
breitet worden ist.
Aber trotz alledem ist es ein logischer und politischer
Fehler, zu meinen, der Stat sei nur um der Privatper-
sonen willen da, die Statsverwaltung habe nur für die all-
gemeine Privatwohlfahrt zu sorgen. Der ganze Stat
[349]Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
würde so in seinem Wesen zerstört und das Statsrecht hätte
nur einen Sinn, als eine Vorbedingung des Privatrechts.
Wenn unter allen männlichen Völkern Hunderttausende von
Menschen in irgend einer Gefahr und Noth des Stats willig
schwere Lasten auf sich nehmen und sogar die Ruhe ihrer
Familien und ihr Leben für den Stat in Gefahr bringen, so
ist diese Opferwilligkeit doch nur aus der Annahme zu er-
klären, dasz diese Männer die Sicherheit, die Wohlfahrt ihres
Volkes und States höher schätzen als die eigene. Die Grosz-
thaten der Helden aller Zeiten wären eitle Thorheit und
Schwärmerei, wenn der Stat nur ein Mittel wäre, um den
Einzelmenschen zu dienen, wenn nicht das Gesammtleben
des Volkes einen höheren Werth hätte als das Leben vieler
Einzelmenschen. In den groszen Gefahren und Krisen des
Völkerlebens wird es den Menschen klar, dasz der Stat etwas
Besseres und Höheres sei als eine wechselseitige Versicherungs-
gesellschaft. Die entzündete Liebe zum Vaterland schmilzt
dann die spröde Selbstsucht der Einzelnen und das wachge-
wordene Gefühl der Pflicht gegen den Stat durchdringt dann
und erhebt auch die Massen.
Wie das Volk etwas anderes ist als die Summe der zum
Stat gehörigen Privatpersonen, so ist auch die Volkswohl-
fahrt nicht gleichbedeutend mit der Summe der jeweiligen
Privatwohlfahrt. Wohl besteht zwischen der Wohlfahrt
des Stats und der Wohlfahrt der Privaten eine nahe
Verwandschaft und eine enge Wechselbeziehung. Sie steigen
und fallen beide meistens gleichzeitig. Wenn die Privatwohl-
fahrt der Menge krankt und schwach ist, dann leidet ge-
wöhnlich auch die Statswohlfahrt an schweren Uebeln. Aber
nicht immer gehen die Linien und Richtungen beider Arten
der Wohlfahrt parallel. Zuweilen durchkreuzen sie sich oder
entfernen sie sich von einander. Von Zeit zu Zeit ist der
Stat genöthigt, zu seiner Rettung, oder im Interesse der
künftigen Geschlechter harte Zumuthungen an die gegen-
[350]Fünftes Buch. Der Statszweck.
wärtigen Privaten zu machen und ihnen schwere Lasten auf-
zubürden. Es kommt auch wohl vor, dasz die Bedürfnisse
der Privatwohlfahrt von dem State auszergewöhnliche Hülfe
und Unterstützung fordern, welche diesen mit groszen Schul-
den belasten.
Es kommt also darauf an, näher zu prüfen, unter wel-
chen Voraussetzungen der Stat ein Mittel ist für die Privaten,
und unter welchen Bedingungen und bis zu welchen Grenzen
der Selbstzweck des States Unterordnung der Privaten zu for-
dern berechtigt ist.
Zweites Capitel.
Falsche Bestimmung des Statszwecks.
1. In der Praxis mehr noch als in der Theorie ist oft
als der eigentliche Selbstzweck die Herrschaft der Obrig-
keit, insbesondere der Fürsten über die Unterthanen ver-
kündet worden.
Wäre die Herrschaft der Zweck des States, so würde die
Consequenz dieses Gedankens zu einer möglichst absoluten
und zu einer möglichst allgemeinen Herrschaft führen, als
dem eigentlichen Statsideal, d. h. die absolute Universal-
monarchie oder vielmehr die Universaldespotie wäre
das letzte Ziel des statlichen Strebens. Damit aber wären
die Freiheit der Völker und die Entfaltung der in der Mensch-
heit ruhenden Kräfte unvereinbar.
Der ganze Gedanke hat seinen Grund nicht in der ge-
meinsamen Menschennatur, nicht in der natürlichen Anlage
und Begabung der Menschen zum Stat. Seine Wurzel findet
er nur in der Herrschsucht und in der eiteln und anmaszenden
Selbstüberhebung der Führer.
Schon Aristoteles (Politik III. 5) hat diese falsche
[351]Zweites Capitel. Falsche Bestimmung des Statszwecks.
Meinung durch den berühmten Satz verurtheilt: „Eine Stats-
verfassung, welche nur den Vortheil des Regenten bezweckt,
ist eine ungesunde Ausartung.“ Diese Meinung vergiszt, dasz
im State ein Volk lebt. Sie übersieht, dasz die Regierten
ebenfalls Personen sind, wie die Regenten, dasz die Unter-
thanen wesentlich dieselben menschlichen Fähigkeiten, Em-
pfindungen, Kräfte haben, wie die Fürsten und dasz es da-
her ungereimt ist, nur diese als berechtigte Personen und
jene als bloszen Gegenstand ihrer Herrschaft, wie Sachen zu
betrachten. Alle Gründe, welche gegen die Sclaverei sprechen,
sind auch gegen diese Despotie wirksam.
Die Herrschaft im State ist freilich eine Eigenschaft der
Statsgewalt, nicht aber der Zweck des Stats, ein Mittel, den
Statszweck zu realisiren, nicht das Ziel des Statslebens. Sie
ist mehr noch eine Pflicht gegen das Volk, als ein Ge-
nusz des Herrschers.
Um deszwillen bedarf die Herrschaft auch der näheren
Begrenzung und der verfassungsmäszigen Bestimmung. Nicht
die absolute, sondern die constitutionelle, d. h. relative
Statsherrschaft entspricht dem Ideal eines möglichst vollkom-
menen Stats. Wenn eine bestimmte Form der Herrschaft,
die ursprünglich einen guten Sinn gehabt hatte, mit der Zeit
nicht mehr paszt zu den veränderten Zuständen eines Volks,
wenn sie schädlich wird für die Vervollkommnung des Volks,
dann kann es daher auch nicht mehr die Aufgabe einer ge-
sunden Politik sein, die Herrschaft, wie sie von den Vor-
fahren ererbt worden, unversehrt und ungeschmälert an die
Nachkommen zu hinterlassen. Vielmehr ist dann die politische
Aufgabe, die unbrauchbare Form der Herrschaft zu verbessern
und die Harmonie mit den übrigen Lebensbedingungen des
Volks herzustellen.
2. Die theokratische Statslehre gibt als Statszweck die
Verwirklichung des Gottesreichs auf der Erde an.
Stahl (Rechtsphilosophie II. 2.) sagt: „Es ruht der Beruf
[352]Fünftes Buch. Der Statszweck.
des States auf dem Dienste Gottes. Es ist Gottes Gebot für
das Gemeinleben — Gerechtigkeit, Zucht und Sitte — das
er handhaben, es ist Gottes Herrschaft, die er aufrichten
soll.“ Im Mittelalter war diese Vorstellung sowohl unter den
Christen als unter den Muhammedanern allgemein geglaubt.
Die moderne Welt bestreitet nicht die religiöse Bedeutung
dieses Gedankens. Sie begreift es, dasz dem frommen Ge-
müthe die ganze Welt verklärt wird durch das Licht des gött-
lichen Wesens und Waltens. Aber sie verwirft entschieden
die unrichtige und verderbliche Anwendung der Gottesherr-
schaft auf die menschliche Statsleitung.
Die theokratisirende Gleichung: „Gott regiert über die
Welt, wie der Fürst über das Volk“ ist augenscheinlich falsch,
denn die Regierung Gottes über die Menschheit (die Welt)
ist die Regierung des absoluten Wesens über relative Wesen,
des Schöpfers über die Geschöpfe, die wir weder in ihren Ur-
sachen zu ergründen, noch in ihren Mitteln und in ihrem
Ziele mit Sicherheit zu bestimmen vermögen. Die Regierung
des Fürsten aber über das Volk ist die Regierung eines Men-
schen über andere Menschen, d. h. über gleichartige Wesen,
deren Leben ebenso ein abgeleitetes und deren Eigenschaften
eben so beschränkt sind, wie die des Fürsten auch, die
menschlich zu beurtheilen auch die Regierten wohl im
Stande sind.
Die Gleichstellung des Fürsten mit Gott ist daher in
jeder Hinsicht unwahr und weil sie zur Ueberschätzung und
zum Uebermuthe verleitet, verderblich. Der Statszweck musz
menschlich erkennbar, menschlich bestimmbar und wenigstens
annähernd menschlich erreichbar sein.
3. Durchaus verwerflich ist es, den Statszweck auszer-
halb des Volkes und Landes zu setzen, welche den Stat
bilden, so dasz der ganze Stat nur ein Mittel würde für
auszerstatliche und fremde Zwecke.
Wenn die klerikale Partei die Nothwendigkeit eines
[353]Zweites Capitel. Falsche Bestimmung des Statszwecks.
päpstlichen Kirchenstates gewöhnlich damit zu begründen ver-
sucht haben, dasz die Unabhängigkeit und die Autorität der
römisch-katholischen Kirche einen Papst erfordere, der zu-
gleich in Rom souveräner König sei, so haben sie durch
diese Beweisführung, ohne es zu wissen, die Unzulässigkeit
des römischen Kirchenstats ins Licht gestellt. Denn es wird
damit die Selbständigkeit dieses States, d. h. der Begriff des
States geläugnet, der nie der willenlose und rechtlose Diener
einer auszer ihm vorhandenen Macht, und wäre diese die
römisch-katholische Kirche, sein darf. Es wird dadurch auch
dem römischen Volk, welches in diesem State lebt, die wider-
sinnige Zumuthung gemacht, dasz es ein statliches Heloten-
thum auf sich nehme, im Interesse einer unstatlichen Glau-
bensgemeinschaft, eine Zumuthung, welche im Widerspruch
ist sowohl mit der politischen Eigenart des Volks, als mit
der religiösen Natur der Kirche.
Die Weltgeschichte hat über diese Ungeheuerlichkeit ge-
richtet. Rom gehört politisch nicht der katholischen Christen-
heit, die in viele Staten zertheilt ist, sondern den Römern
oder richtiger, dem italienischen Volke, dessen Glieder die
Römer sind.
Aber es gibt heute noch ähnliche Verirrungen. Die Exi-
stenz des Fürstenthums Lichtenstein ist augenscheinlich
nicht mit Rücksicht auf das Ländchen und die kleine Völker-
schaft von Lichtenstein erhalten worden. Das Stätchen hat
in sich keine Bedeutung. Es dient blosz einem fremden
Zwecke, nämlich dazu, die Würde und den Rang der fürst-
lichen Dynastie, die auszerhalb des Landes lebt, an dem
österreichischen Kaiserhofe als Unterlage empor zu heben.
Es hat also den Zweck nicht in sich.
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 23
[354]Fünftes Buch. Der Statszweck.
Drittes Capitel.
Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des
Statszwecks.
1. Seit Kant und Fichte wurde die Meinung in
Deutschland eine Zeit lang herrschend, der wahre Statszweck
sei lediglich die Rechtssicherheit. Dabei dachte man
vorzugsweise oder gar ausschlieszlich an das Recht der Einzel-
menschen, der Privaten.
Kant hatte ausdrücklich erklärt (Rechtslehre §. 47-49):
„Nicht das Wohl der Statsbürger und ihre Glückseligkeit,
sondern der Zustand der Uebereinstimmung der Verfassung
mit Rechtsprincipien ist das Heil (Ziel) des Stats.“ Fichte
(Naturrecht in den Werken III. 152): „Die Sicherheit der
Rechte Aller ist der alleinige gemeinsame Wille“, d. h. Stats-
wille. Von dieser Kant'schen Ansicht aus hat Wilhelm von
Humboldt die „Grenzen der Wirksamkeit des Stats“ sehr
enge bestimmt. Er erklärt: „Die Erhaltung der Sicherheit
sowohl gegen auswärtige Feinde, als gegen innerliche Zwi-
stigkeiten“ ist der Zweck des States. Aber noch in unserem
nationalen Zeitalter behauptete Eötvös (Moderne Ideen II.
S. 91): „Der Zweck des States ist die Sicherheit der Ein-
zelnen.“
Diese Meinung ist in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts aufgekommen. Man suchte damals nach einer
grundsätzlichen Beschränkung jener wohlwollenden aber über-
aus lästigen und die Freiheit des Privatlebens drückenden
Vielregiererei des aufgeklärten Absolutismus jener Zeit, wel-
cher jede Einmischung in das Familienleben, die Berufsfrei-
heit, die Vermögensverwaltung der Privaten mit der Sorge für
die allgemeine Wohlfahrt zu begründen und zu rechtfertigen
pflegte. Man meinte in der Bestimmung des Statszwecks als
Rechtssicherheit das Mittel gefunden zu haben, um jener Viel-
[355]Drittes Cap. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Statszwecks.
regiererei erfolgreich entgegen zu treten und nannte den so
begrenzten Stat „Rechtsstat“ im Gegensatz zu dem ver-
haszten „Polizeistat.“
Indessen befriedigte diese Einengung des Statslebens
durch den beschränkten Statszweck weder die Instincte noch
die Bedürfnisse der modernen Völker. Niemand zweifelte
daran, dasz die Erhaltung und Wahrung der Rechtssicherheit
mit zu den Aufgaben des States gehöre. Aber kein modernes
Volk und keine Statsregierung konnten ihre politische Thätig-
keit auf diesen engen Bereich beschränken lassen. Die Haupt-
vertreter jener Meinung wurden selber durch ihre Lebens-
erfahrungen veranlaszt, jene Schranken zu durchbrechen und
nach höheren Zielen der Politik zu streben. Fichte, der
anfangs gemeint hatte, „Schutz des Eigenthums“ sei der
Hauptzweck des States, erhob sich im Kampf wider die Na-
poleonische Universalmonarchie, welche das Eigenthum und
den Erwerb willig schützte, zu der Idee eines nationalen
Volksstats, der dem Volksgeiste zum Organ diene. Wilhelm
von Humboldt arbeitete als preuszischer Minister für die gei-
stige Erhebung des preuszischen Volkes durch Statsschulen,
die er vorher in seiner Theorie verworfen hatte und für die
Machtentfaltung des preuszischen Stats, die für die Civil- und
Strafrechtspflege schon vorher vollkommen genügt hatte.
In der That, jene Hinweisung auf die Rechtssicherheit
erschöpft den Zweck des Stats nicht, und am wenigsten den
Zweck des civilisirten modernen Stats. Sie würde eher den
mittelalterlichen an das Privatrecht gebundenen Ansichten als
den Bedürfnissen der heutigen Culturvölker zusagen.
In dem Volk wirkt nicht blosz der Rechtssinn. Es be-
darf schon eine Menge wirthschaftlicher Anstalten,
die mit der Rechtssicherheit nichts zu schaffen haben, der
Straszen, der Canäle, der Eisenbahnen, der Posten und Tele-
graphen für den gesellschaftlichen Verkehr. Nur der Stat
kann dieses Bedürfnisz befriedigen und er dürfte es nicht,
[356]Fünftes Buch. Der Statszweck.
wenn jene Vorstellung des „Rechtsstats“ maszgebend wäre.
Das Volk hat auch wichtige Culturinteressen, für welche
die Statssorge unentbehrlich ist. Es bedarf der Volksschulen,
der wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen Schulen,
die nicht der zufälligen Privatwillkür und nicht der berech-
nenden Kirchenautorität überlassen werden darf, welche der
Stat unter ihre Herrschaft zu bringen sucht. Wenn diese In-
teressen im Mittelalter vernachlässigt worden sind, so erklärt
sich das groszentheils aus dem engen Begriff des mittelalter-
lichen Rechtsstats.
Das Volk ist überdem ein politisches Wesen, welches
berufen ist, seinen Charakter zu bewähren und seinen Geist
in der Welt zu offenbaren, und zwar nicht blosz in der Ge-
setzgebung und Rechtspflege für die Rechtssicherheit der Pri-
vaten, sondern in höherem Masze in der politischen Regie-
rung und Entfaltung seiner Freiheit.
Jene ungenügende Zweckbestimmung hat, wo sie in der
Praxis wirksam wird, zur Folge:
a) die Vernachlässigung der wirthschaftlichen Gemein-
interessen;
b) die Vernachlässigung der gemeinsamen Culturinter-
essen;
c) die Lähmung und Ertödtung des politischen Geistes
in dem Volke, und daher auch die Schwächung der Stats-
macht;
d) die Begünstigung einer kleinlichen, engherzigen und
kurzsichtigen Juristerei und Rechthaberei, und in Folge da-
von einer die Statsautorität lähmenden Streitsucht.
2. Eine andere ebenfalls oft behauptete Meinung, die
„allgemeine Glückseligkeit“ sei der wahre Statszweck,
leidet an dem entgegengesetzten Fehler. Sie ist zu weit
gefaszt. Die Glückseligkeit der Menschen ist groszentheils
von dem State unabhängig und keineswegs dem State zu ver-
danken. Selbst die meisten materiellen Güter, welche die
[357]Drittes Cap. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Statszwecks.
Wohlfahrt der Menschen bedingen und bereichern, die Be-
schaffenheit der Wohnung, der Nahrung, der Kleidung wer-
den nicht durch den Stat bestimmt und geschaffen, sondern
durch die Thätigkeit der Privaten. Der Vermögenserwerb
beruht vornehmlich auf der individuellen Arbeit und der
privaten Ersparnisz. Noch mehr gilt das von den geistigen
Gütern, welche den idealen Reichthum und das Glück der
Menschen begründen. Die mancherlei Talente und Fähigkeiten
werden nicht durch den Stat verliehen, sondern durch die
Gaben der Natur und sind individuell verschieden nicht ge-
meinsam. Das Glück der Freundschaft und der Liebe wird
nicht von dem State abgeleitet. Die Freude der wissenschaft-
lichen Erkenntnisz, des künstlerischen Dichtens und Bildens
ist nicht dem State zu verdanken. Der religiöse Trost der
Seele, und die innige Reinigung und Heiligung des Gott ver-
bundenen Gemüthes kann nicht von dem State hervorgerufen
und verliehen werden.
Die Menschen sind nicht in ihrem ganzen Sein und
Leben Statsbürger; sie haben in ihrer individuellen Anlage
eine ihnen eigene Ausstattung und besondere Lebensaufgaben.
Der Stat ruht auf der Volksgemeinschaft, nicht auf der indi-
viduellen Eigenart. Der Statszweck kann daher die Zwecke
des Privatlebens nicht umfassen.
Auch dieser Irrthum hat, wenn er auf die Praxis ein-
wirkt, sehr bedenkliche und schädliche Folgen:
a) Der Stat wird durch denselben verleitet, seine Herr-
schaft über Gebiete auszudehnen, auf welchen ihm keine
Herrschaft gebührt und Tyrannei auszuüben, wo er sich darauf
beschränken sollte, die Privatfreiheit zu schützen.
b) Da dem State die Fähigkeit abgeht, diese Gebiete
des Privatlebens zu beherrschen, so wird er, trotz des guten
Willens das Privatglück zu fördern, durch seine ungeschickte
Thätigkeit dasselbe eher schädigen und die naturgemäsze
Entwicklung stören.
[358]Fünftes Buch. Der Statszweck.
c) Indem der Stat Zielen nachstrebt, die für ihn uner-
reichbar sind und seine Kräfte in falscher Richtung vergeudet,
wird er von seinen wahren Zielen abgelenkt, und verliert er
einen Theil seines Vermögens, um die lösbaren Aufgaben zu
erfüllen.
Das antike Statsleben hat an diesem Irrthum schwer ge-
litten; aber auch die Politik der Aufklärung im achtzehnten
Jahrhundert ist auf ähnliche Abwege gerathen. Der Stats-
zweck des modernen Stats musz genauer bestimmt und be-
grenzt werden.
Viertes Capitel.
Der wahre Statszweck.
1. Da es nur Einen Statsbegriff gibt, der freilich durch
die verschiedenen Völker in verschiedenen Ländern und Zeiten
in mannichfaltiger Weise erfüllt wird, so nöthigt uns die
Logik auch Eine allgemeine Bestimmung des Statszwecks an-
zunehmen, wenn gleich die Geschichte bezeugt, dasz die be-
sonderen Völker, die in den Staten leben, auch mannichfaltige
Ziele ihres Strebens verfolgen. Die Einheit des Gesammt-
zwecks läszt die Mannichfaltigkeit im Einzelnen zu, aber ver-
bindet sie. Robert von Mohl hat Recht, wenn er (Ency-
clopädie S. 73) jedem Volke, je nach seiner besonderen Art
und seinen eigenthümlichen Bedürfnissen die Förderung ver-
schiedenartiger Lebenszwecke als Aufgabe zuweist; aber es
fehlt seiner Lehre die Einheit des Begriffs, welche die Zer-
fahrenheit hindert und die Abwege verschlieszt. Dagegen
nennt von Holtzendorff (Politik, Buch III), welcher die
Lehre vom Statszweck mit besonderer Aufmerksamkeit behan-
delt, was wir Einheit des Statszwecks nennen, „Harmonie
der Statszwecke.“
[359]Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
2. Wie ist dieser Eine oberste Statszweck zu bezeichnen?
Manche sagen: die Gerechtigkeit, die Verwirklichung
des Rechts. Wir halten diese Bestimmung auch dann für
zu enge und für unrichtig, wenn man unter Recht auch das
Statsrecht und das Völkerrecht begreift, und nicht blosz die
Rechtssicherheit der Privaten (vergl. Cap. 3). Das Recht ist
eher noch eine Bedingung als das Ziel der Politik. „Ju-
stitia fundamentum regni.“ Und das Leben der Völker ist
nicht bloszes Rechtsleben, es ist auch wirthschaftliches Leben,
Culturleben, nationales Machtleben. Die rechtskundigen Rö-
mer haben nie das Jus als obersten Statszweck betrachtet.
Hegel sagt uns, ähnlich wie lange vor ihm Platon, die
„Sittlichkeit“ und die Verwirklichung des Sittengesetzes
sei der Statszweck. Aber die beiden entscheidenden Mächte,
welche das sittliche Leben bestimmen und bedingen, der gött-
liche Geist und der individuelle Menschengeist sind auszer-
halb des Statsbereichs. Das Reich der Sittlichkeit ist viel
umfassender als das Reich des Stats. Wenn der Stat dasselbe
beherrschen will, so überschreitet er die Schranken, die ihm
gesetzt sind und wirkt schädlich für die Sittlichkeit.
3. Die Römer haben die öffentliche Wohlfahrt als
die wahre Aufgabe des Stats erklärt. Ihre beiden Begriffe:
Res publica und Salus publica stehen in einem sprach-
lichen und logischen Zusammenhang. Sie verhalten sich wie
Unterlage und Eigenschaft, wie Anlage und Entwicklung.
Es ist diese Bezeichnung des Statszwecks vielfältig misz-
verstanden worden, hauptsächlich, weil man nicht an das Ge-
meinwesen (die res publica), sondern an die Menge der Ein-
zelnen, oder an die Laune der Herrscher gedacht hat. Man
hat damit nur zu oft die despotische Willkür und die Tyran-
nei bald der Fürsten, bald der Volksmehrheiten zu beschö-
nigen gesucht. Die entsetzlichen Erfahrungen, welche die
Welt mit den Gräueln des Pariser Wohlfahrtsausschusses
(Comité du Salut public) in den Neunzigerjahren des vorigen
[360]Fünftes Buch. Der Statszweck.
Jahrhunderts gemacht hat, haben das Wort vollends in Misz-
credit gebracht.
Wenn man aber die naturgemäszen Schranken des States
beachtet, insbesondere die Rechtsordnung und nicht in
fremde Gebiete übergreift, wie vorzüglich des freien Indi-
viduallebens und des religiösen Gemeinlebens,
dann ist der Ausdruck nicht zu tadeln. In der That hat es
nie und nirgends einen Statsmann gegeben, dem nicht das
Wohl seines Volkes voraus als das Ziel seines Strebens
vorgeschwebt hätte, und jeder patriotische Bürger wird für
das Heil seines Vaterlands begeistert.
Die Idee der öffentlichen Wohlfahrt ist daher für die
Politik nicht zu entbehren, und es ist unzweifelhaft die Haupt-
aufgabe des States, das Volkswohl zu befördern.
Diese Zweckbestimmung umfaszt auch die Fortbildung
und die Vervollkommnung des Rechts, wie überhaupt die
Verbesserung aller gemeinsamen Lebensverhältnisse und Le-
bensbedingungen. Ebenso die Rechtspflege, deren Wirksam-
keit den ruhigen Fortgang des Gemeinlebens sichert und
welche das gemeinschädliche Unrecht beseitigt und bestraft.
Die bedenkliche Seite des römischen Statsprincips: „Salus
Populi suprema lex esto“ liegt überhaupt nicht darin, dasz
der Statszweck zu enge gefaszt sei, sondern darin, dasz die
Statsmacht überspannt und auf fremde Lebensgebiete aus-
gedehnt werde.
4. Aber in Einer Beziehung erscheint der Ausdruck doch
als unzureichend. Die regelmäszige Politik wird sich aller-
dings durch das Streben für das Volkswohl bestimmen lassen.
Aber es gibt im Völkerleben auch auszergewöhnliche Auf-
gaben. Unter Umständen musz der Stat, wie ein Einzel-
mensch, seine Existenz im Kampfe einsetzen und mit dieser
auch die Volkswohlfahrt. Es kann dann zur patriotischen
Pflicht werden, ein Leben aufzugeben, das mit Ehren nicht
fortzuführen ist. Vielleicht dasz einem kleinen Volke ein über-
[361]Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
mächtiger Feind mancherlei äuszere Vortheile anbietet, eine
geringere Steuerlast, einen gesicherten Frieden, eine bessere
Verwaltung. Von dem bloszen Gedanken der öffentlichen
Wohlfahrt aus wäre vielleicht das Anerbieten annehmbar,
seine Ablehnung bedeutet eher Leiden, wahrscheinlich Unter-
gang des Stats. Dennoch kann es eine schicksalsmäszige,
verhängniszvolle Pflicht sein, lieber mit Ehren zu fallen, als
sich freiwillig dem fremden Machtgebot zu unterwerfen. Viel-
leicht ist der heldenmäszige Todeskampf eine Bürgschaft für
ein späteres Wiederauferstehen des Stats. Die Athener zur
Zeit von Themistokles haben der Welt ein herrliches Bei-
spiel der Art hinterlassen.
Zuweilen bildet der Untergang den nothwendigen und
würdigen Abschlusz eines Lebens, das nicht länger noch be-
stehen kann. Man mag den tragischen Fall von Karthago
oder Jerusalem beklagen. Zu vermeiden war er nicht.
Oder es musz ein Stat untergehen, weil seine Völker-
schaft unfähig geworden ist, sich selbständig zu behaupten,
weil sie in ein höheres, nationales Gesammtleben überzugehen
berufen ist. Welcher vorurtheilsfreie echte Deutsche oder
Italiener wird den Untergang der unhaltbar gewordenen,
unfähigen Kleinstaten bedauern und sich nicht der Wandlung
freuen in das gröszere Statsganze? Auch in solchen Fällen
reicht die Hinweisung auf die öffentliche Wohlfahrt nur aus,
wenn man sie nicht auf das bisherige Gemeinwesen bezieht.
Allen diesen Bedenken entgehen wir, wenn wir den
eigentlichen, unmittelbaren Statszweck so formuliren: Ent-
wicklung der Volksanlage, Vervollkommnung des
Volkslebens, zuletzt Vollendung, wobei freilich die
zugleich sittliche und politische Forderung als selbstverständ-
lich gedacht wird, dasz diese Entwicklung des Volks nicht
im Widerspruch sein dürfe mit der Bestimmung der
Menschheit.
Darin ist Alles enthalten, was man als eigentliche Stats-
[362]Fünftes Buch. Der Statszweck.
aufgabe betrachten kann und Nichts inbegriffen, was auszer-
halb des Statsbereiches liegt. Diese Zweckbestimmung nimmt
überdem Rücksicht auf die besondern Individualitäten und
Lebensbedürfnisse der verschiedenen Völker. Sie hält die
Einheit des Statszwecks fest und sichert zugleich die Mannich-
faltigkeit seiner Ausbildung.
Wenn es überhaupt die Lebensaufgabe einer jeden Per-
son ist, ihre Anlage zu entwickeln und ihr Wesen zu offen-
baren, so ist es auch die Bestimmung der Statsperson, die
in dem Volke ruhenden Kräfte zu entfalten, und seine An-
lage in der Welt zu offenbaren. Darin liegt die zwiefache
Pflicht des States, erstens für die Erhaltung der Volks-
kräfte zu sorgen, zweitens ihre Ausbildung zu fördern.
Die Erhaltung bewahrt die Errungenschaften der Vergan-
genheit, die Ausbildung bedeutet den Fortschritt der Zu-
kunft.
5. Innerhalb dieses Gesammtzwecks treten einige beson-
dere Richtungen hervor, deren einseitige Verfolgung oft
der eigenthümlichen Natur eines bestimmten Volkes zusagt,
aber nicht ohne Gefahr für den Stat im Ganzen ist. Wir er-
wähnen:
1) die Machtentfaltung des Stats. Der Stat bedarf
der Macht, um seine Selbständigkeit zu behaupten und um
seine Anordnungen wirksam zu machen. Nur als ein macht-
volles Wesen kann der Stat bestehen und leben. Aber dem
Grade und der Art der Macht nach sind doch die Völker und
Staten sehr verschieden.
Wir nennen a) Weltmächte solche Staten, deren Be-
deutung und Wirksamkeit weit über ihr Statsgebiet hinaus-
reicht, welche an der groszen Politik zweier Welttheile oder
der gesammten Welt einen mitbestimmenden Antheil haben,
denen daher auch vorzüglich die Sorge für den Weltfrie-
den und die Weltordnung (das Völkerrecht) zukommt.
b) Groszmächte. Nicht jede Groszmacht ist eine
[363]Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
Weltmacht, aber es gibt keine Weltmacht, die nicht zugleich
Groszmacht ist. Die Weltmacht musz Seemacht sein, weil
der Einflusz auf die Geschicke der Welt ohne die Verbindung
zur See nicht möglich ist. Die Groszmacht kann auch blosze
Landmacht sein. So war das Königreich Preuszen vor der
Gründung des deutschen Reiches eine Groszmacht, aber keine
Weltmacht. Ebenso konnte und kann noch Oesterreich-
Ungarn eher als Groszmacht, nicht als Weltmacht gelten. Auch
die Groszmacht übt eine weitwirkende Politik aus über die
Grenzen ihres Landes hinaus. Auch die Groszmacht darf
nicht übersehen werden, wenn die Verhältnisse des Welttheils,
in der sie ist, erhebliche Aenderungen erfahren. Man kann
ihre Stimme nicht ohne Gefahr miszachten.
Wenn aber, sei es eine Groszmacht oder eine Weltmacht,
ihre Uebermacht zur Unterdrückung anderer berechtigter
Staten miszbraucht, dann ist der Widerstand der übrigen
Mächte berechtigt. Auch ein Genie, wie der Kaiser Napo-
leon I. vermochte doch nicht die grosze Macht des franzö-
sischen Volks bis zur Herrschaft über Europa zu steigern,
und ist in Folge dieses verfehlten Unternehmens gestürzt
worden. Ebenso war Russland nicht stark genug, die Tür-
kei unter seine Oberherrlichkeit zu bringen. Oesterreichs
Herrschaft über Italien war nicht haltbar. Die englische
Seeherrschaft muszte sich doch schlieszlich die Concurrenz
der andern Nationen gefallen lassen.
c) Mittelmächte und Friedensmächte (neutrale
Staten), die nicht stark genug sind, für sich allein grosze
äuszere Politik zu treiben, deren Leben vorzugsweise nach
Innen gewendet ist. Die Politik dieser Staten hat einen
bescheidenen Charakter, aber sie ist in hohem Grade nütz-
lich zunächst für die Bewohner dieser Staten, dann aber
auch, indem sie die Strömungen der groszen Politik einiger-
maszen begrenzt und deren Gefahren ermäszigt.
d) Die eigentlichen Kleinstaten haben in unserer Zeit,
[364]Fünftes Buch. Der Statszweck.
die Bildung groszer und starker Staten liebt, nur eine sehr
zweifelhafte und unsichere Existenz. Sie können sich nur
im Anschlusz an stärkere Staten und unter dem Schutze der
Groszstaten erhalten. Im Mittelalter war das anders. Da-
mals waren die europäischen Nationen und vorzüglich die
deutsche und die italienische geneigt, jede kleine und kleinste
Statenbildung zu begünstigen.
Als Hauptmittel, die Statsmacht im Verhältnisz zu den
auswärtigen Staten zu stärken, kommen in Betracht die Di-
plomatie und das Heer (Landheer und Marine). Wenn
ein Stat vorzugsweise seine militärische Stärke, die
kriegerische Tüchtigkeit seiner Bewohner und die Ausrüstung
seiner Heeresmacht als Hauptaufgabe betrachtet, so wird ein
solcher Stat Militärstat genannt. Von der Art war Sparta
bei den Hellenen, aber auch das Königreich Preuszen bis
zur Gründung des deutschen Reichs. Für Völker in bedroh-
ter Lage und zur Zeit ihres nothwendigen Wachsthums wird
auch eine solch ungewöhnliche Anspannung der militärischen
Kräfte unvermeidlich sein; aber in dem normalen zur vollen
Machtentfaltung gelangten State wird man nie übersehen, dasz
die Militärkraft nur ein Mittel, nicht das Ziel der Politik ist
und sich hüten, die Ausbildung derselben so zu überspannen,
dasz die eigentlichen Statszwecke Schaden leiden.
2) Zuweilen treten auch wirthschaftliche Sonder-
zwecke entscheidend hervor. Insofern spricht man von Hir-
tenstaten, wenn die Viehzucht das Hauptinteresse der Be-
völkerung ist, von Ackerbaustaten, wenn die Landwirth-
schaft als die wichtigste Angelegenheit erscheint, von Indu-
striestaten, wenn die Fabrikation und von Handelsstaten,
wenn der Handel die Hauptsache ist.
Allerdings sind alle diese Interessen in gröszerem Masze
Interessen der Privatpersonen, und nur in minderem
Masze Interessen des ganzen Volks. Eben deszhalb führt
eine ausschlieszliche oder auch nur eine allzu eifrige Begün-
[365]Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
stigung derselben dahin, dasz die andern Aufgaben des Stats
vernachlässigt werden und alle andern Interessen Schaden
leiden. Ueberdem kommt der politische Geist solcher Völker
nicht zu wahrer Geltung, er wird verdorben durch die Selbst-
sucht und die engherzige Gesinnung der Privatinteressen.
Das Volk des Hirtenstates wird arm und unwissend bleiben;
in dem Ackerbaustate wird es der höheren Bildung gegenüber
misztrauisch und ungünstig sein; der naturwüchsigen Urkraft
wird sich die rohe Sitte beigesellen und die höhere Cultur
wird nicht gedeihen. Dem Industriestate sind die Gefahren
der Arbeiterunruhen und der Abschlieszung fremder Fabrikate
eigen. Der Handelsstat wird leicht durch den Krämergeist
verdorben und auf Abwege verleitet.
3) Es können ferner die Culturinteressen das Volks-
leben vorzüglich bestimmen. Dann entstehen Culturstaten.
Dem Militärstate Sparta trat so zur Zeit des Perikles der
Culturstat Athen gegenüber, und hinterliesz der Nachwelt un-
sterbliche Zeugnisse der Kunstliebe und der Befähigung der
Athener für die Wissenschaft. Auch Florenz, Venedig, Ant-
werpen hatten Perioden, in denen die Culturinteressen alle
andern überragten. Heute noch ist das chinesische Reich ein
solcher, freilich mehr traditioneller als fortschreitender Cultur-
stat und ist es der Ruhm von Zürich und Genf, die öffentlichen
Schulen mit Vorliebe zu pflegen.
So edel diese Culturzwecke sind, so ist eine übertriebene
Förderung derselben zum Nachtheil der übrigen Volkskräfte
doch von einer gesunden Politik zu vermeiden.
4) Endlich zeigt sich eine besondere Zweckbestimmung,
die mehr noch als die bisherigen im Centrum des allgemeinen
Zweckbegriffs des States liegt. Wird die Ausbildung der recht-
lichen Garantien für die Volksfreiheit und die Frei-
heit der Privatpersonen als die Hauptaufgabe des States
angesehen, so bilden sich freie Rechtsstaten aus, wie vor-
züglich die nordamerikanischen und die schweizerischen Cantone.
[366]Fünftes Buch. Der Statszweck.
5) Wenn endlich das Nationalbewusztsein mit besonderer
Stärke das Statsleben erfüllt, und die Offenbarung der
nationalen Gemeinschaft und Einheit als Hauptzweck
der Statenbildung erscheint, wie früher in Frankreich, in
unserm Jahrhundert in dem Königreich Italien und in dem
deutschen Reiche, so sprechen wir von Nationalstaten.
6) Zu dem eigentlichen und unmittelbaren Zweck des
States, der sich auf das Volk selber beziehen musz, treten
nun alle die mittelbaren Aufgaben des States hinzu, welche
sich auf die Privatpersonen beziehen, und deren Lebens-
zwecke fördern.
Hier besonders kommt es darauf an, die Grenzen der
statlichen Thätigkeit scharf zu bestimmen.
Auch für die Privatpersonen kann die Lebensaufgabe be-
zeichnet werden, Entfaltung der Individualität, Entwicklung
ihrer Anlage, Offenbarung ihrer Eigenart und wieder in Har-
monie mit den Lebenszwecken der Familie, der Nation und
der Menschheit. Dieser Lebenszweck der Privatpersonen er-
fordert und erfüllt die Privatfreiheit. Da kann es zunächst
nur Aufgabe des States sein, diese Privatfreiheit gegen wider-
rechtliche Angriffe zu schützen, aber der Stat darf sie nicht
selber zurückhalten und drücken.
Der Stat musz sich hier voraus über die Grenzen seiner
eigenen Natur klar werden:
1) Der Stat ist eine äuszere Ordnung des Gemein-
lebens. Daher hat er nur Organe für die äuszerlich wahr-
nehmbaren Dinge, nicht für das innere Geistesleben, das
sich nicht in Worten oder Thaten offenbar gemacht hat. Es
ist daher für den Stat schon deszhalb unmöglich, alle Le-
benszwecke der Individuen zu umfassen, weil viele und ge-
rade die bedeutensten Seiten des Individuallebens seiner Ein-
sicht verborgen und seiner Macht unzugänglich sind. Die
individuellen Gaben sind von dem State ganz unabhängig.
Er kann dem Thoren keinen Verstand, dem Feigen keinen
[367]Viertes Capitel. Der wahre Statszweck.
Muth verleihen, er kann Blinde nicht sehend machen. Die
Liebe in den Herzen erglüht ohne sein Zuthun und er kann
dem Gedankengang des Forschers nicht folgen, noch die über-
lieferten Irrthümer widerlegen. Sobald also das individuelle
und voraus das Geistesleben der Individuen in Frage ist,
wird der Stat auf Schranken seiner Einsicht und seiner Macht
stoszen, die er nicht überschreiten darf.
2) Der Stat ruht ganz auf der gemeinsamen Natur
der Menschen und voraus des Volks. Deszhalb kann er auch
nur insofern über das Privatleben Macht üben, als dasselbe
durch die gemeinsame Natur Aller bedingt und durch die ge-
meinsamen Bedürfnisse beschränkt wird, nicht aber in seinem
eigentlich individuellen Wesen. So kann der Stat z. B. die
Herrschaft eines Individuums über eine körperliche Sache,
die wir Eigenthum nennen, für Alle gleichmäszig schützen;
aber musz es der freien Erfüllung individueller Eigenart an-
heim geben, wie dieses Eigenthum im Einzelnen ausgeübt
wird. Das Eigenthum, welches Paganini an seiner Geige,
oder Liszt an seinem Flügel hatte, oder Kaulbach an seinem
Kreidegriffel, hat einen völlig anderen Sinn, als das Eigen-
thum eines unkünstlerischen Privaten an denselben Sachen.
Um diesen feineren Gehalt der Herrschaft kann sich der Stat
nicht kümmern, eben weil derselbe nur individuell, nicht ge-
mein ist. Ebenso kann der Stat wohl die Bedingungen der
Eheschlieszung und die Rechte der Ehegatten in ihren allge-
meinen groben Zügen festsetzen. Er musz es, weil darauf
hinwieder die Sicherheit der Familien und die sittliche Ge-
sundheit der Nation beruht. Aber die Art, wie die Ehe in-
dividuell vollzogen wird, die feinere individuelle Gestalt des
Familienlebens ist seiner Herrschaft entrückt. Wilhelm von
Humboldt hatte sich darin versehen, dasz er das Institut der
Ehe selber der rechtlichen Ordnung entziehen und ganz der
Privatfreiheit überlassen wollte. Das kanonische Recht hat
den entgegengesetzten Fehler begangen, indem es Dinge
[368]Fünftes Buch. Der Statszweck.
gesetzlich ordnen wollte, die der individuellen Freiheit an-
gehören. Als der Stat die Ketzerei als Verbrechen strafte,
überschritt er seine natürlichen Grenzen und griff ungebühr-
lich in die Privatfreiheit ein.
3) Die Herrschaft des Stats reicht nicht weiter, als
das Recht reicht; denn jede Herrschaft, welche zur Folge
zwingt, setzt eine rechtliche Begründung voraus. Das Recht
aber ist hinwieder begrenzt:
a) durch das Bedürfnisz des friedlichen Neben-
einanderbestehens der Personen, beziehungsweise durch
die Erkenntnisz der nothwendigen gemeinsamen
Lebensbedingungen (Privatrecht, Strafrecht);
b) durch die Existenz und Entwicklung des Volks,
welchem das Privatleben soweit untergeordnet ist, als die
Sicherheit und Wohlfahrt jener es erfordert (Steuerrecht, Mi-
litärpflicht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht überhaupt).
Soweit das Recht in Frage ist, soweit ist der Stat oberste
Autorität. Gesetzgebung und Rechtspflege sind ihrem Wesen
nach statlich.
4) Die Sorge und Pflege und daher die Einwirkung
des Stats reicht über das Gebiet der Rechtsordnung hinaus,
aber wesentlich nicht in zwingender Form, sondern zur Un-
terstützung und Förderung wichtiger und verbreiteter
Lebenszwecke der Gesellschaft, wenn deren Mittel nicht aus-
reichen, und diese der mächtigen Statshülfe bedarf. (Wirth-
schaftspflege und Culturpflege des Stats.) Die Sorge
des Stats für die Volkswohlfahrt erweitert sich hier zur Sorge
für die Wohlfahrt der Gesellschaft, wegen der Hülfs-
bedürftigkeit dieser.
[[369]]
Sechstes Buch.
Die Statsformen.
Erstes Capitel.
Die Eintheilung des Aristoteles.
Vor mehr als zweitausend Jahren hat Aristoteles eine
Eintheilung der Statsformen begründet, welche noch gegen-
wärtig als die herrschende Ansicht zu betrachten ist. Bei
dieser Eintheilung ist Aristoteles von der obrigkeitlichen Ge-
walt, oder genauer von der obersten Regierungsgewalt im
State ausgegangen. In jedem State gibt es ein höchstes,
in gewissem Sinne ein herrschendes Organ, 1 in welchem
die oberste obrigkeitliche Macht concentrirt erscheint, welchem
gegenüber alle andern einzelnen Organe eine untergeordnete
Stellung und Bedeutung haben. Die Art, wie dieses herr-
schende Organ in einem State bestellt wird, prägt demselben
daher auch einen eigenthümlichen Stempel auf, und es ist
ganz natürlich und schicklich, nach ihr die verschiedenen
Arten der Statsformen zu bestimmen.
Als rechtmäszige Statsformen bezeichnet er alle die,
welche die Wohlfahrt der Gemeinschaft bezwecken, als Aus-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 24
[370]Sechstes Buch. Die Statsformen.
artungen (παϱεϰβάσεις) dagegen die, welche nur das Wohl
der Regierenden bezwecken 2.
Von diesen Gedanken aus findet er nun drei richtige
Grundformen des States, denen hinwieder drei Abarten zur
Seite stehen. „Die oberste Regierungsgewalt,“ sagt er, „steht
nothwendig entweder Einem, oder Wenigen (einer Minderheit),
oder der Mehrheit zu.“ Daraus ergeben sich folgende rich-
tige Arten:
1. Das Königthum (βασιλεία), wie Aristoteles sie nannte,
oder die Monarchie, wie wir sie zu nennen pflegen, als die
Herrschaft des Einen.
2. Die Aristokratie, als die Herrschaft der ausge-
zeichneten Minderheit.
3. Die Herrschaft der Mehrheit, der Menge hiesz er
Politie. 3 Weil zu seiner Zeit die Demokratie der griechischen
Städte, Athens voraus, entartet war, so vermied er es, den
Namen Demokratie für die gute Art der Mehrheitsherrschaft
zu gebrauchen, und zog es vor, die Abart derselben so zu
bezeichnen. Später ist aber der Name Demokratie wieder
der gewöhnliche für diese dritte Statsform geworden, und
daher wollen auch wir diesen Sprachgebrauch beibehalten.
Die drei Abarten sind nach Aristoteles:
1. Die Tyrannis oder Despotie als die Alleinherr-
schaft, welche vornehmlich den Vortheil des Alleinherrschers
bezweckt.
2. Die Oligarchie, als die Herrschaft der Reichen, zu
ihrem Vortheil.
3. Die Demokratie, 4 wie sie Aristoteles, die Ochlo-
[371]Erstes Capitel. Die Eintheilung des Aristoteles.
kratie, wie wir sie nennen, als die Willkürherrschaft der
armen (wir können hinzusetzen und der rohen) Menge.
Es scheint, als habe Aristoteles bei dieser Eintheilung
den Hauptnachdruck auf die Zahl der Personen gelegt, welche
an jener herrschenden Gewalt Antheil haben, etwa wie nach
dem Linné'schen Systeme die Zahl der Staubfäden die Arten
der Pflanzen bestimmt. In der That, das wäre ein Wider-
spruch gegen sein eigenes Grundprincip; denn dieses ist die
Qualität, nicht die Quantität des herrschenden Organs.
Aristoteles hat aber selbst schon 5 die Gefahr solchen Irrthums
erkannt, und daher darauf aufmerksam gemacht, dasz die Ver-
schiedenheit der Zahl mit einer Verschiedenheit des Charak-
ters des Herrschenden in einem natürlichen Zusammenhange
stehe, und im letzten Grunde immerhin mehr auf diesen als
auf jene zu sehen sei. Aber er hat die Principien der Qua-
lität noch nicht bestimmt genug ausgesprochen.
In einer andern Beziehung aber bedarf die Aristotelische
Eintheilung einer Verbesserung. Sie ist nämlich unvoll-
ständig, indem es eine Anzahl Staten in der Geschichte ge-
geben hat, welche sich unter keine jener drei Grundformen
einreihen lassen. Nach allen dreien gehört die oberste Macht
im State Menschen zu, sei es einem Individuum, oder den
Ausgezeichneten, oder dem Volke. Nun aber haben wir Staten
gesehen, in denen keine menschliche Obrigkeit anerkannt, son-
dern sei es Gott, oder ein Gott, oder ein anderer über-
menschlicher Geist, oder eine Idee, als der wahre und
eigentliche Herrscher verehrt wurde. Die Menschen, welche
die Herrschaft verwalteten, galten dann nicht als Inhaber der-
4
[372]Sechstes Buch. Die Statsformen.
selben, sondern nur als Diener und Verwalter eines Herrschers,
welcher unsichtbar über den Regierten throne, frei von den
Schwächen ihrer menschlichen Natur.
Wir können diese vierte Gattung von Statsformen, wenn
sie zur Wohlfahrt der Regierten dienen, unter dem gemein-
samen Namen der Ideokratie (Theokratie) zusammen-
fassen, und die Abart derselben Idolokratie nennen.
Anmerkung. Schleiermacher hat ausgeführt, 6 dasz die antiken
Formen der Monarchie, Aristokratie, Demokratie „durchgängig in ein-
ander übergehen,“ so dasz auch in der Demokratie die Volksleiter als
eine Aristokratie und zuweilen einzelne wie z. B. Perikles wie Monarchen
erscheinen. Dasselbe lässt sich in umgekehrter Richtung von der Mon-
archie behaupten, und auch Mirabeau7 hat Recht, wenn er sagt: „In
gewissem Sinne sind die Republiken monarchisch, und in gewissem Sinn
die Monarchien hinwieder Republiken.“ Dessen ungeachtet ist jene Unter-
scheidung der Statsformen keineswegs müszig, und bleibt es wahr, dasz
die Art des Statsoberhauptes der ganzen Statsverfassung ein specifisches
Gepräge verleiht, und dasz mit ihr die wichtigsten politischen Principien
in engster Beziehung stehen.
Zweites Capitel.
Der sogenannte gemischte Stat.
Schon im Alterthum hat man den Versuch gemacht, den
drei Aristotelischen Arten des Stats eine vierte beizuordnen,
welche man die gemischte genannt hat. Cicero insbeson-
dere glaubt in dem römischen State das Vorbild für diese
vierte, aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie gemischte
Statsform gefunden zu haben, und erklärt diese für die beste
unter den vieren. 1
[373]Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat.
Versteht man unter dem gemischten State nur eine Er-
mäszigung oder Beschränkung der Monarchie, oder Aristokratie,
oder Demokratie durch andere statliche Potenzen, z. B. die
Beschränkung der Monarchie durch Beiordnung eines aristokra-
tischen Senates oder Oberhauses und einer demokratischen
Volksversammlung oder Volksvertretung, so ist es wahr, dasz
so mannichfaltig gegliederte Statsverfassungen besser sind als
solche, in welchen die Herrschaft eines oder einiger oder der
Menge einseitig und schrankenlos waltet. Aber dann ist durch
solche Mischung keine neue Gattung von Staten entstanden;
denn immerhin ist die oberste Regierungsmacht in der Hand
des Monarchen oder der Aristokratie oder des Volkes con-
centrirt.
Versteht man dagegen die Mischung so, dasz die oberste
Regierungsgewalt selbst getheilt sei, zwischen dem Monar-
chen, der Aristokratie und dem Volk, so dasz zwei oder meh-
rere oberste Gewalten neben einander bestehen, jede von der
andern unahhängig, jede in einem gewissen Kreise als die
oberste anerkannt, dann hat Tacitus Recht, welcher den Ge-
danken des gemischten States verwirft, und behauptet, ein so
gemischter Stat komme in Wirklichkeit nicht vor oder sei
mindestens nicht von Dauer. 2
Neuere haben zwar gemeint, England sei ein solcher Stat,
in welchem die Herrschaft unter drei oberste Mächte getheilt
sei, den König, das Oberhaus und das Unterhaus, und eben
darauf beruhe die Vollkommenheit der englischen Verfassung,
dasz sie das Ideal dieser vierten gemischten Statsform ver-
1
[374]Sechstes Buch. Die Statsformen.
wirklicht habe. Allein die englische Verfassung ist nicht aus
einer Theilung der obersten Regierungsgewalt entstanden.
Vielmehr ist die Monarchie, welche dem State in alter Zeit
seine specielle Form gegeben, nur nach und nach durch eine
mächtige Aristokratie, und später durch den Hinzutritt demo-
kratischer Elemente vielfach beschränkt und ermäszigt worden.
Die äuszere Form des States ist fortwährend monarchisch ge-
blieben, und es wird die ganze oberste Regierungsmacht (die
Regierungsgewalt) nicht nur, sondern auch die oberste Stelle
in dem zusammengesetzten Körper des gesetzgebenden Parla-
ments von dem englischen Statsrecht dem Könige allein zu-
getheilt. 3
Uebrigens wird gewöhnlich übersehen, dasz das Princip
der Aristotelischen Eintheilung nicht auf der Art und Zu-
sammensetzung der gesetzgebenden Gewalt beruht; denn
in dieser, wo sie ausgebildet ist, stellt sich regelmäszig der
ganze Stat mit all' seinen Hauptbestandtheilen dar. Sondern
sie beruht auf dem Gegensatze der Regierung und der Re-
gierten, und der Frage, wem die oberste Regierungsgewalt
zustehe? Diese aber läszt sich nicht theilen etwa zwischen
dem König und den Ministern. Eine solche Dyarchie oder
Triarchie widerspricht dem Wesen des States, welcher als
ein lebendiger Organismus der Einheit bedarf. In allen
lebendigen Wesen finden wir zwar eine Mannichfaltigkeit der
Kräfte und Organe, aber zugleich eine Einheit in dieser
Mannichfaltigkeit, eine Ueber- und Unterordnung der Organe,
ein oberstes Organ, in welchem die einheitliche Leitung con-
centrirt ist. Kopf und Leib haben kein getrenntes Leben,
jeder für sich, und sind sich auch nicht gleichgestellt. So
ist auch im State ein oberstes Organ die nothwendige Be-
[375]Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat.
dingung seines Lebens, und dieses kann nicht gespalten sein,
wenn der Stat selbst beisammen bleiben soll.
Es gibt somit keine neue Gestaltung von Staten, welche
wir als die gemischten bezeichnen könnten. Vielmehr soweit
die Mischung möglich ist, findet sie hinreichende Berücksich-
tigung bei Behandlung der früher genannten reinen Stats-
formen.
Anmerkung. In unsern Tagen ist viel von „demokratischer
Monarchie“ die Rede gewesen und diese als die Aufgabe der Zeit be-
zeichnet worden. Soll damit der Gedanke ausgedrückt werden, dasz die
heutige Monarchie sich vorzugsweise auf die groszen Volksclassen (den
Demos) stützen und mit diesen in nahem Rapport bleiben müsse, so ist
das wahr, aber es wird damit nicht eine gemischte, sondern eine reine
Monarchie bezeichnet. Versteht man aber darunter eine Monarchie,
durch demokratische Institutionen beschränkt und ermäszigt, oder etwa
wie im Jahr 1830 die Juliverfassung Frankreichs eine Monarchie „von
republikanischen Institutionen umgeben,“ so hat der Ausdruck noch einen
Sinn, obwohl auch in diesem Falle — wie die Geschichte lehrt — die
Gefahr nahe genug liegt, dasz die Principien der beiderlei Institutionen
in Kampf gerathen und die Monarchie durch die aufstrebende Demokratie
oder Republik gestürzt werde. Versteht man endlich unter jenem Aus-
druck eine Mischung oder Theilung der obersten Regierungsgewalt selbst,
die zur Hälfte monarchisch, zur Hälfte demokratisch sein müsse, so hat
der Ausdruck keinen vernünftigen Sinn und könnte ein so eingerichteter
Stat unmöglich bestehen. Die französische Constituante von 1789 hatte
mit Rousseau an eine derartige Theilung der obersten Statsmacht in zwei
gleiche Gewalten geglaubt, deren eine dem Volke, die andere dem
Könige zukomme. Aber der innere Widerspruch und die Unhaltbarkeit
der Verfassung offenbarte sich, sobald sie in die Wirklichkeit übertreten
wollte. Pinheiro-Ferreira (Principes du droit public, §. 475) erklärt die
demokratische Monarchie als diejenige, in welcher es keine Privilegien
gebe, dehnt aber den Begriff der Privilegien auf jede Anerkennung einer
Aristokratie aus, versteht somit unter jener eine Monarchie, in welcher
es nur demokratische, keine aristokratischen Organismen gibt, also in
gewissem Sinne einen unvollständigen Stat, in welchem die aristokrati-
schen Elemente nicht berücksichtigt oder unterdrückt sind. Vgl. unten
Buch VII. Cap. Constit. Monarchie.
[376]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Drittes Capitel.
Neuere Fortbildung der Theorie.
1. Montesquieu hat sich im Wesentlichen an die Ein-
theilung des Aristoteles gehalten, aber insofern einen wissen-
schaftlichen Fortschritt gemacht, als er für die drei Formen
der Monarchie, Aristokratie und Demokratie — abgesehen von
der Zahl der Regierenden — drei geistige oder moralische
Lebensprincipien aufsuchte. Ob er sie gefunden — die Tugend
erhob er zum Princip der Demokratie, die Mäszigung zu
dem der Aristokratie, die Ehre zu dem der Monarchie, und
die Furcht zu dem der Despotie — ist freilich eine andere
Frage. Auszerdem aber fügte er den drei Arten als vierte
die Despotie hinzu, die Aristoteles besser als Ausartung be-
zeichnet und den richtigen Statsformen entgegengesetzt hatte.
2. Sehr beachtenswerth ist der Versuch Schleier-
machers, 1 die mancherlei Staten zu ordnen, indem er ver-
schiedene Entwicklungsstufen des statlichen Bewusztseins unter-
schied. Der Stat entsteht, wenn in der Völkerschaft das
Bewusztsein erwacht des nothwendigen „Gegensatzes von Re-
gierung und Unterthan.“ Die erste Stufe ist die, wo dieses
Bewusztsein in einer kleinen Völkerschaft hervortritt, gewöhn-
lich so, dasz „die ganze zum Statswesen reife Masse gleich-
förmig“ ergriffen wird. Dann wird jener Gegensatz in Allen
sich entwickeln. Sie werden sich vereinigen, um die Obrig-
keit darzustellen und sich wieder trennen, um sich als Unter-
thanen zu zeigen. Das ist die Demokratie, in welcher der
Gegensatz zwischen Gemeingeist und Privatinteresse nur schwach
auseinander tritt. Oder es kann die zum Statwerden reife
Masse von dem statbildenden Anstosz ungleichförmig berührt
werden, das politische Bewusztsein kann sich zuerst in einem
[377]Drittes Capitel. Neuere Fortbildung der Theorie.
oder in mehrern entwickeln, und so eine Ungleichheit ent-
stehen, welche zur Monarchie oder Aristokratie führt.
Die drei Formen wechseln leicht auf dieser Entwicklungsstufe
des noch kleinen States und sind auch unter sich noch ähn-
lich. Die natürliche Hinneigung auf dieser Stufe ist aber
immer zur Demokratie, indem auch in jenen Fällen einer
oder mehrere der Masse nur vorausgeeilt sind in dem politi-
schen Bewustsein.
Die zweite Stufe umfaszt mehrere Völkerschaften. Sie
ist eine Mittelstufe zu der höhern dritten, in welcher das
Bewusztsein der Einheit der Nation seinen vollen Ausdruck
findet. Auf ihr übt eine höhere Völkerschaft die Herrschaft
aus über die übrigen regierten Stämme. Diese Mittelform des
States wird daher wesentlich aristokratisch sein, wie die
Form der niederen Ordnung wesentlich demokratisch. Demo-
kratisch kann derselbe nicht sein, weil die Mehrheit der Stämme
dem herrschenden unterworfen, somit nicht gleich ist. Die
äuszere Form der Monarchie kann er wohl annehmen, aber
der König wird dann zu dem herrschenden Stamme gehören,
und insofern nur ein aristokratischer König sein.
Erst auf der obersten Stufe spricht sich die Einheit eines
ganzen groszen Volkes in den Formen des States rein und
klar aus. Die demokratische Natur der ersten Stufe konnte
weder den statlichen Gegensatz zu voller Entfaltung bringen,
noch den Umfang eines groszen Volkes erreichen. In der
Aristokratie der zweiten Stufe hatte der herrschende Stamm
noch immer sein Privatinteresse, und die Einheit des Volkes
war nicht das Lebensprincip des Stats. Auf dieser dritten
Stufe erst kommt die echte Monarchie zur Vollendung, in
welcher der Monarch ohne alle Vermischung mit Privatinter-
essen die Einheit des States und der Regierung in voller Kraft
und Macht darstellt.
Die drei bekannten Formen des States erhalten somit
durch Schleiermachers Darstellung eine geistige Begründung
[378]Sechstes Buch. Die Statsformen.
und eine Beziehung auf die Entwicklungsstufen der politischen
Idee, und werden so geordnet, dasz die Demokratie als die
niedrigste Stufe, die Monarchie als die höchste erscheint.
Immerhin ist durch diese Erörterung, wenn auch nicht ein
neues Princip der Eintheilung eingeführt, so doch eine höhere
Einsicht in den Geist der verschiedenen Statenbildungen ge-
wonnen worden.
Die Entwicklungsstufen der Geschichte aber entsprechen
der logischen Entwicklung, wie sie Schleiermacher auffaszt,
keineswegs. Die geschichtliche Reihenfolge ist viel öfter die
umgekehrte: Monarchie, Aristokratie, Demokratie. Diese Er-
fahrung entsprieht überdem der naturgemäszen Annahme, dasz
das active Statsbewusztsein sich zuerst auf der Höhe des
Lebens unter besonders günstigen Bedingungen entwickle und
thätig werde und dann allmählich sich über weitere Kreise
der Natur und Gesellschaft ausbreite.
Viertes Capitel.
Das Princip der vier Grundformen.
Der specifische Unterschied der verschiedenen Statsformen
ist, wie Aristoteles erkannt hat, in der verschiedenen Art zu
finden, wie der Gegensatz der Regierung und der Regierten
aufgefaszt wird, insbesondere in der Qualität (nicht Quantität)
des Herrschers.
I. Die erste Form war die der Ideokratie, deren höch-
ster Typus die Theokratie ist. Das Volk dachte sich den
Herrscher als ein ihm in jeder Weise, schon von Natur über-
geordnetes, als ein übermenschliches Wesen, Gott selbst
wurde als der wahre Regent des States verehrt.
II. Den schroffsten Gegensatz zu der Ideokratie, in
[379]Viertes Capitel. Das Princip der vier Grundformen.
welcher das Volk einer fremden, auszer ihm und über ihm
stehenden Macht unterworfen ist, bildet die Statsform, in der
das Volk sich selbst beherrscht, d. h. in seiner Gesammt-
heit als Regierung, in seiner Auflösung in einzelne Bürger als
Regierte erscheint: die Demokratie, Volksherrschaft.
III. Die statliche Unterscheidung zwischen Regierung und
Regierten hält sich zwar innerhalb des Volkes, und ist mensch-
lich, aber so geordnet, dasz eine höhere Classe oder ein
höherer Stamm des Volkes als Regierung, die übrigen Classen
und Stämme dagegen als Regierte sich darstellen. Die letztern
sind dann nur Regierte, nicht auch Regierung, die erstern
zwar vorerst Regierung, aber daneben doch in ihren einzelnen
Gliedern wieder Regierte: Aristokratie.
IV. Der Gegensatz von Regierung und Regierten ist voll-
kommen, aber menschlich so entfaltet, dasz die Regierung in
einem Individuum concentrirt ist, welches nur Regent, nicht
zugleich Regierter ist, welches somit dem State ganz und gar
angehört und gewissermaszen die Einheit der Volksgemein-
schaft personificirt: Monarchie.
Für jede der vier Grundformen gibt es einen Urtypus,
welcher in ihr sich spiegelt:
Die Theokratie bildet die Herrschaft Gottes über
die Welt, aber noch als eine unvermittelte, gewissermaszen
rohe und despotische nach.
Die Monarchie verherrlicht die Einheit der Mensch-
heit in „dem Menschen“ als Individuum, welches als
Herrscher im State die Gesammtheit darstellt, oder die Ein-
heit des Volks in der Personification des Volksfürsten.
Die Demokratie drückt die Idee der Gemeinschaft des
Volks oder aller Individuen aus und stellt die Ge-
meinde im State dar.
Die Aristokratie verkörpert den Gegensatz der edleren
und gemeinen Bestandtheile des Volks, und gibt jenen
die Herrschaft über diese. Wie der Demokratie die Gemeinde,
[380]Sechstes Buch. Die Statsformen.
so schwebt ihr der Adel der höheren Rasse und Art als
Typus vor.
In gewissem Sinn stehen Theokratie und Monarchie
auf der einen, Aristokratie und Demokratie auf der
andern Seite sich gegenüber. In den beiden ersten nämlich
ist die Regierung in höchster Machtfülle und Majestät so con-
centrirt, dasz der Regent nicht zugleich Regierter ist, dasz er
nur das Statsinteresse, nicht zugleich Privatinteressen vertritt.
In der Theokratie aber ist diese Erhabenheit der Statsherr-
schaft göttlich und daher absolut, in der Monarchie mensch-
lich und daher relativ dargestellt. Die beiden letztern
Grundformen auf der andern Seite, welche daher auch mit
dem gemeinsamen Namen der Republik zusammengefaszt
werden, haben das Gemeinsame, dasz in ihnen der Gegensatz
der Regierung und Regierten nicht so scharf hervortritt, son-
dern eine gewisse Mischung voraussetzt, so dasz die nämlichen
Menschen sich bald als Origkeit, bald als Unterthanen be-
trachten und äuszern und zugleich öffentliche und Privat-
interessen haben. In der Demokratie verbreitet sich diese
Mischung über das ganze Volk, in der Aristokratie dagegen
ist sie auf die herrschende Classe des Volkes beschränkt,
welche zwar den übrigen Bestandtheilen des Volkes nur als
Herrscher gegenübertritt, unter sich selber aber gewöhnlich
demokratisch organisirt und so Herrscher und Unterthan zu-
gleich ist. Insofern erscheint die Aristokratie allerdings als
eine Zwischen- und Mittelstufe zwischen der Demokratie und
der Monarchie.
In einer andern Beziehung aber gehören hinwieder Mon-
archie und Aristokratie zusammen und sind der Theo-
kratie und Demokratie gegenüber zu stellen. In den
erstern ist der Gegensatz zwischen Regierung und Regierten
menschlich so organisirt, dasz sich die Regenten als solche
selbständig fühlen und wissen, und ebenso von dem
Volke geachtet werden, dasz sie in eigenem Namen und
[381]Viertes Capitel. Das Princip der vier Grundformen.
zu selbständigem Rechte die Herrschaft üben, vollkom-
mener freilich in der Monarchie als in der Aristokratie. In
den beiden lezteren dagegen bedarf der als Herrscher gedachte
Gott immer, das als Herrscher gedachte Volk doch in der
Regel einer Stellvertretung und Vermittlung durch
Priester oder Beamte, welche persönlich zu den Regierten
gehören, aber nun als Diener Gottes oder des Volks in
deren Auftrag und Namen für den Herrscher handeln.
Diese können nicht sich selber als Regenten betrachten, aber
sie verwalten gleichsam die Regentschaft für den eigentlichen
Regenten, der nicht persönlich handeln kann. Sie sind ge-
nöthigt, sich beständig an eine andere Macht anzulehnen, und
in dieser Hinweisung auf die höhere Macht, welche auch sie
beherrscht, die Autorität zu suchen, welche ihnen selber abgeht.
Der Unterschied der Statsformen je nach der Art der
Regierung begründet das Verfassungsrecht und ist statsrecht-
lich. Derselbe Unterschied findet sich aber überdem in der
Richtung des politischen Lebens vor, selbst im Gegensatze zu
der Verfassungsform. Es kann ein Stat in theokratisiren-
dem Geiste regiert werden, wenn gleich nicht Gott, sondern
ein menschlicher Herrscher, z. B. ein Kirchenfürst oder eine
Priesterkaste als Obrigkeit anerkannt ist Ebenso gibt es ari-
stokratisirende Staten, die statsrechtlich keine Aristo-
kratien sind, wie z. B. der englische Stat, dessen monarchische
Form von aristokratischem Geist erfüllt ist; ferner demokra-
tisirende Staten, die keine Demokratie sind, wie z. B. das
Königreich Norwegen. Es gibt endlich auch monarchisi-
rende Staten, ohne wirklichen Monarchen, wie z. B. die fran-
zösische Republik.
Anmerkung. Die Rohmerische Eintheilung der Staten (F. Roh-
mers Lehre von den polit. Parteien §. 219 ff.) nach den vier Altersstufen
der Menschen zielt zunächst wieder nicht auf die Statsform, sondern
auf den politischen Geist, der in dem State lebt, aber je nach dem politi-
schen Parteicharakter. Sie erkennt
[382]Sechstes Buch. Die Statsformen.
den radicalen Statsgeist in dem Idolstat,
den liberalen Statsgeist in dem Individualstat,
den conservativen Statsgeist in dem Rassestat,
den absolutistischen Statsgeist in dem Formenstat.
Eine Monarchie z. B. kann möglicher Weise alle diese Phasen des
politischen Geistes der Reihe nach durchmachen. Wenn R. v. Mohl
(Statswissenschaft I. S. 262) einwendet, ein Volk sei nicht jung und
nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Greise zugleich beisammen
seien, so beruht diese Einwendung auf einem Miszverständnisz der Lehre,
die er bestreitet. Schon die Alten haben gewuszt, und v. Savigny
hat es der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dasz auch die Völker
als organische Gesammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der
Jugend und dem Alter der Individuen. Auszer dieser Folge der Zeiten,
die sich in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene
Volkscharakter in Betracht. Wie es einzelne Menschen gibt, deren
Wesen kindlich oder auch kindisch ist und bleibt, und die selbst im
reifen und hohen Alter diesen Grundzug ihrer Natur nie verläugnen,
und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen
Charakter haben, so gibt es auch kindliche [und] ältliche Völker von
Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den groszen Rassen. Die
Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen
ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen.
In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint
doch die Natur der Spanier — abgesehen von der Lebensperiode, in der
sie sich befinden — eher dem ältern, die der deutschen dem jugend-
lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und
daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich
befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit
diesem Geiste auch den Stat, in dem sie leben. Die männliche Form
der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches
Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel.
Fünftes Capitel.
Das Princip der vier Nebenformen.
Die Art des Statshauptes ist zwar entscheidend für
die ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie
kommt doch auch das Recht der Regierten in Betracht,
und bestimmt secundär den rechtlichen Charakter der Stats-
verfassung. Die Aristotelische Eintheilung der Statsformen
[383]Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen.
enthält, wenn man so die Gegenseite in dem Urgegensatze
aller Statenbildung berücksichtigt, die nöthige Ergänzung.
War auf Seite der Regierung das oberste — herrschende
Organ, entscheidend, so ist auf Seite der Regierten, die wir
als Gesammtheit im engeren Sinne wieder das Volk oder noch
eher das Land heiszen, die Controle der Regierung und
die Theilnahme an der Gesetzgebung entscheidend.
Indem wir nach diesem Merkmal die verschiedenen Stats-
formen classificiren, erhalten wir folgende drei (beziehungs-
weise vier) Nebenformen.
I. Die Regierten werden insgesammt als eine blosze
passive Masse behandelt, welche der Regierungsmacht un-
bedingt unterthan und zu absolutem Gehorsam verbunden ist.
Sie hat weder ein Recht der Controle noch einen Antheil an
der Gesetzgebung. Es sind das die absolut regierten Staten,
die wir daher unfreie Statsformen (unfreie Völker) heiszen.
Sie sind nicht nur dann unfrei, wenn sie der Willkür und den
Launen eines Despoten angehören (Despotien), sondern auch
dann politisch unfrei, wann der Herrscher selber ein
Rechtsgesetz anerkennt und sowohl das Privatrecht als die
Privatfreiheit geschützt wird (Absolutien).
II. Ein Theil der Regierten, die obern Classen der-
selben, haben das Recht der Controle und der Theilnahme an
den öffentlichen Angelegenheiten und beschränken dadurch
die Regierungsgewalt. Aber die übrige Masse, insbesondere
die untern Volksclassen sind noch in dem politisch un-
freien Zustande und haben keine politischen Rechte. Wir
heiszen diese Staten halbfreie Statsformen. Die mittelalter-
lichen Lehens- und Ständestaten sind von dieser Art.
III. Alle Volksclassen haben politische Rechte. Das
ganze Land (Volk) übt eine Controle der Regierung und
eine Mitwirkung aus bei der Gesetzgebung. Wir heiszen diese
Staten freie Staten, oder auch Republiken im weitesten
Sinn des Worts. Wir können sie auch Volksstaten heiszen.
[384]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Diese Controle und Theilnahme wird daher entweder
A) unmittelbar durch die Versammlung der Bürger
geübt, wie vorzugsweise im Alterthum (antike Republi-
ken) oder
B) mittelbar durch Ausschüsse und Stellvertreter, wie
in der neuern Zeit (moderne Repräsentativstaten.)
Wenden wir diese neue secundäre Unterscheidung auf
die alte Eintheilung der Grundformen an, so ergeben sich
folgende Resultate:
I. Die Theokratie neigt sich principiell zu der Classe
der unfreien Staten. Aber sie ist nicht nothwendig Despotie,
indem auch der herrschende Gott, oder die von ihm inspirirte
Priesterschaft ein Gesetz des Gemeinwesens anerkennen und
respectiren kann. Sie kann daher sich der zweiten und der
dritten Classe insofern annähern, als die Ausübung der gött-
lichen Herrschaft an die Mitwirkung aristokratischer Classen
oder selbst einer Volksversammlung gebunden wird. Die
jüdische Theokratie war in diesem Sinne republikanisch.
II. Die Aristokratie gravitirt zur zweiten Classe der
halbfreien Staten, kann aber auch als unfreier Stat vor-
kommen, wenn der Demos politisch rechtlos ist oder sie kann
sich in die dritte Classe der freien Volksstaten erheben, wenn
sie dem Demos wie in Rom eine wahre Volksvertretung ver-
stattet.
III. Die Demokratie hat einen innern Zug zur dritten
Classe der freien Staten; sie kann aber zur Despotie werden
gegenüber der Minderheit oder doch zur Absolutie gegenüber
den einzelnen Bürgern; und sie kann im Verhältnisz zu einer
unterwürfigen Classe (Sclaven und Heloten im Alterthum,
Farbige in Amerika) als halbfreier Stat sich zeigen.
IV. Die Monarchie, welche überhaupt in den mannich-
faltigsten Formen erscheint, nimmt alle drei Classen in zahl-
reichen Anwendungen in sich auf. Die Despotien des Orients
und die absoluten Monarchien auch des Occidents sind offenbar
[385]Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen.
unfreie Staten; das Königthum und das Fürstenthum des
Mittelalters, welches durch den Klerus und die Laienaristo-
kratie beschränkt war, waren halbfreie Monarchien. Das rö-
mische Königthum nach der servianischen Verfassung und das
alte fränkische oder das norwegische Königthum, welches der
Volksversammlung einen gewissen Antheil an der Statsleitung
zugestanden hatte, mögen als Beispiele der unmittelbaren
Volksbetheiligung auch in freien Monarchien gelten. Die con-
stitutionelle Monarchie der neuern Zeit endlich ist die höchste
bisherige Ausbildung der Monarchie zu einem freien State
mit Repräsentativverfassung.
Wird die aristotelische Eintheilung, die mit Recht von
Oben her ausgeht, so von Unten her ergänzt, so fallen auch
die wichtigsten Bedenken gegen dieselbe hinweg, insbeson-
dere die Einwendung, dasz sie nicht genug unterscheide und
weder die Verwandtschaft, z. B. der heutigen Repräsentativ-
demokratie mit der constitutionellen Monarchie noch die we-
sentliche Verschiedenheit z. B. der absoluten und der ständisch
beschränkten Monarchie zu erklären im Stande sei.
Anmerkung. Angeregt hat mich zur Begründung dieser Neben-
formen die interessante Untersuchung von Georg Waitz über die Unter-
scheidung der Statsformen (Politik S. 107 f.). Waitz nennt Republik
den Stat, wenn die Statsgewalt von dem Volke oder in dessen Auftrag
von Stellvertretern des Volks geübt wird. Dagegen Königthum die
Statsform, die unabhängig von dem Volke durch Eine Person als Stats-
haupt kraft eigener Macht geübt wird. Die Aristotelische Eintheilung
betrachtet er dann als secundär, die seinige als primär. Das Kaiser-
thum wird dann in Rom zur Republik, in Deutschland zum Königthum.
Das alt-römische Patriciat wird zum Königthum, das Napoleonische
Kaiserthum zur Republik. Aber damit werden die beiden Eintheilungen
eher verwirrt als geordnet. Die obige Unterscheidung dagegen ist nach
der Rücksicht auf die Art der Regenten und sodann nach dem Recht der
Regierten logisch klar und als Ergänzung zu der Aristotelischen Ein-
theilung sogar nothwendig. Sodann gibt sie auf die Frage, weszhalb
denn die constitutionelle Monarchie der repräsentativen Demokratie näher
verwandt sei als die absolute Monarchie eine befriedigende Antwort.
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 25
[386]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Sechstes Capitel.
I. Die (Ideokratie) Theokratie.
Die Form der Theokratie gehört vorzugsweise der Kind-
heit des Menschengeschlechtes zu. In Asien und Nordafrika
ist der Sitz der ersten statlichen Entwicklung, und zuerst
zeigen sich da theokratische Staten.
In den ersten Zeiten, als die noch junge Menschheit sich
auf der Erde zurechtzufinden suchte, war offenbar das Gefühl
der Abhängigkeit von göttlichen Wesen und unverstandenen
Naturkräften noch äuszerst lebhaft, und die Einwirkung Gottes
oder der Natur auf das Leben, gewissermaszen auf die Er-
ziehung der Menschen unmittelbarer und mächtiger als später.
Gott und die Götter verkehrten nach allen alten Sagen und
Mythen persönlich mit den Menschen, und was Platon uns
von den Urzuständen selbst der hellenischen Völker erzählt,
dasz Kronos, die Schwäche und Unfähigkeit der Menschen in
jener Zeit bedenkend, ihnen „zu Königen und Fürsten über
die Staten, nicht Menschen, sondern Dämonen, Wesen von
göttlicherem und höherem Geschlechte gesetzt“ habe, stimmt
mit dem Glauben aller alten Völker zusammen. Platon selbst
war dieser theokratischen Auffassung persönlich zugethan, und
schlug in seiner Lehre vom Stat künstliche Täuschungsmittel
vor, um den damals entwickelteren Menschen von neuem den
Glauben beizubringen, dasz nicht Menschen sondern Gott selber
die Herrschaft im State führe.
Wurde so Gott oder wurden Götter und Dämonen 1 als
[387]Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
die wahren Oberhäupter des States verehrt, so war mit
diesem Glauben der überwiegende Einflusz der Priester
unzertrennlich verbunden, denn diese waren die auserwählten
Sterblichen, welche vorzugsweise dem Dienste der Götter
geweiht waren, ihren Willen vernahmen und ihre Sprache
verstanden. Unter diesen Völkern haben daher auch die
Priester den obersten Rang. In den einen verwalten die
Priester geradezu das Regiment, im Namen Gottes oder
der Götter, in den andern stehen zwar Könige an der Spitze
der Regierung, aber auch sie regieren nicht in eigenem
Namen, sondern als Stellvertreter und Organe der Götter
und sind entweder zugleich Oberpriester oder werden durch
den Einflusz der Priester geleitet und beschränkt. Die
erstern können wir nach Leo's Vorgang reine, die letztern
gebrochene Priesterstaten nennen. In diesen ist der
Uebergang von der Form der Theokratie in die der Monarchie
ersichtlich.
Ein solcher Priesterstat war der Stat der Aethiopen
in Meroë. Der Vorstand des States gehört der Priester-
kaste an. Die Priester bezeichnen aus ihrer Mitte einige
der Besten, aus welchen in feierlicher Procession der Gott
einen erwählt. Ist der Ausspruch des Gottes gethan, so
beugt das Volk vor dem Erwählten Gottes seine Kniee, und
verehrt in ihm den Stellvertreter Gottes. Seine Macht aber
ist in jeder Weise beschränkt durch die göttlichen Gesetze,
und die fortdauernde Offenbarung des göttlichen Willens in
den Orakeln, welche die Priester vermitteln. Ein strenges
Ceremoniel ordnet jeden seiner Schritte, und der freien
menschlichen Entschlieszung ist kein Spielraum vergönnt.
Ueberall begleiten ihn die Priester und wirken mit, und
selbst seine Existenz ist völlig unsicher. Wenn er dem
Gotte miszfällt, so offenbart dieser den Priestern seine Un-
gnade. Die Priester theilen ihm durch eine Botschaft den
zürnenden Willen des Gottes mit, und es bleibt ihm nichts
[388]Sechstes Buch. Die Statsformen.
anderes übrig, als durch freiwilligen Tod den göttlichen Zorn
zu sühnen. 2
In gebrochener Form sehen wir diesen Priesterstat in
Aegypten. Ursprünglich herrschten auch da nach der Volks-
sage während vieler Jahrhunderte die Götter selbst. Später
jedoch regierten menschliche Könige, aber als Göttersöhne und
selber wie Götter verehrt und durch das heilige Gesetz, eine
strenge Etikette, und den Einflusz der obersten Priesterkaste
beschränkt. Die göttlichen Vorschriften waren so genau im
einzelnen bestimmt, dasz dem Könige nicht einmal die Aus-
wahl der Speisen, die er essen wollte, freigegeben, sondern
auch seine frugalen Mahlzeiten ein- für allemal festgesetzt
waren. 3 Bei seinem Leben freilich wagten die Priester nicht
mehr im Namen der Götter Gericht über ihn zu halten, aber
wenn er starb, so wurde ein groszes und öffentliches Todten-
gericht über ihn von den Priestern angeordnet. Die Ehre
seines Namens bei der Nachwelt und die Aufnahme der abge-
schiedenen Seele in der Unterwelt und seine Wiedergeburt
wurde durch ihr Urtheil bestimmt. Unter einem Volke,
welches an die Fortdauer der Seele nach dem irdischen Tode
glaubte, mit äuszerster Sorgfalt sogar den Leichnam vor der
Verwesung zu retten suchte und seinen Todten reich ge-
schmückte und an alle Erfordernisse des Lebens erinnernde
Wohnungen erbaute, hingen von diesem ernsten Todtengericht
die Hoffnungen und Befürchtungen auch der Lebenden ab, und
es war dasselbe daher in der Hand der Priester eine furcht-
bare Macht.
Verwandt und groszentheils ideokratisch war auch der
altindische Stat. Der König steht nach der Ordnung der
Kasten unter den Brahmanen; der Brahmane verschmäht es,
ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sie würde durch die
[389]Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
ungleiche Ehe entwürdigt. Aber die Würde des Königs wird
doch wieder so hoch gehalten, dasz ihr eine besondere Gött-
lichkeit inwohnt. Sein Leib wird nach den Gesetzen Manu's,
aus Bestandtheilen gebildet, welche in den acht göttlichen
Wächtern der Welt ihren Ursprung haben, daher ist er rein
und heilig. „Wie die Sonne blendet er die Augen und Her-
zen, und Niemand auf Erden vermag ihm ins Antlitz zu sehen.
Gott hat ihn geschaffen zur Erhaltung aller Wesen. Keiner
darf ihn, selbst wenn er noch ein Kind ist, verachten, indem
er zu sich sagt: er ist ein einfacher Sterblicher, denn eine
grosze göttliche Kraft wohnt in ihm.“ 4
Auch der indische König ist von Priestern umgeben.
Er bedarf der Weihe, wenn er die Regierung antritt. Seine
sieben oder acht Minister, welche er einzeln und vereint in
allen Geschäften vernimmt, bevor er den Entscheid faszt, sind
meistens Brahmanen. Jedenfalls aber musz er in allen wich-
tigen Dingen vorerst einen brahmanischen Gewissensrath zu
Rathe ziehen. Auch ihm ist ein strenges Ceremoniel vorge-
schrieben, und die Gesetze Manu's mahnen ihn in ernster
Sprache an seine — wenn auch nicht näher geordnete — Ver-
antwortlichkeit: „Der unsinnige Monarch, welcher seine Unter-
thanen durch Ungerechtigkeit bedrückt, wird in kurzem seines
Königthums und seines Lebens beraubt werden, er und seine
ganze Familie.“ 5
Immerhin hat der indische in höherem Grade arische Stat
übrigens ein helleres, freieres Ansehen, und ist in ihm die
königliche Würde und Macht mehr und statlicher ausgebildet,
als in den finsteren Priesterstaten von Meroë und Aegypten.
In allen aber finden wir ein schroffes und starres Kasten-
system; grosze Vorrechte der Priesterkaste, die in sich alles
geistige Leben der Nation vereinigte und abschlosz, und zu-
[390]Sechstes Buch. Die Statsformen.
gleich reichlich mit den Gütern der Erde ausgestattet war; —
in Aegypten gehörte der dritte Theil des Bodens ihnen zu; 6
das indische Gesetz sagt: „Ein König darf, selbst wenn er
vor Mangel stürbe, nie von einem in den heiligen Schriften
belesenen Brahmanen eine Steuer nehmen und niemals dulden,
dasz in seinen Staten ein solcher Brahmane Hunger leide.“ 7 —
Ferner eine gedrückte Lage und verachtete Zustände der untern
Volksclassen, welche auch für Einzelne nicht durch die Hoff-
nung des Emporsteigens erhellt wurden. Die ägyptischen
Bauern sind durchweg nur Hörige, welche die den Priestern
oder dem Könige oder den Kriegern zugehörigen Güter be-
bauen. Die Hirten und die Handwerker sind erblich an ihr
Geschäft gebunden, willkürlicher Schatzung unterworfen, und
ohne allen activen Antheil an den Statsinstitutionen. Zahl-
reiche Frohnden aller Art sind in diesen Ländern verbreitet.
Noch viele Jahrhunderte hinab hat ein theokratischer
Charakter des States in Asien sich erhalten, und auch später
noch ist derselbe in dem orientalischen Herrscherthum
forwährend sichtbar. Die Macht der Priesterschaft freilich
über die immer entschiedener weltlichen Herrscher ist durch
die steigende Macht dieser, wie sie in den gröszern durch
Eroberung entstandenen und durch Kriegsheere zusammen-
gehaltenen Reichen sich entwickelte, mehr in den Hintergrund
gewiesen und verdunkelt worden. Aber die Herrscher selbst
wurden wie Götter verehrt. Die Statsform blieb theokratisch,
nur trat sie in eine neue Wandelung ein. Zuerst war der
Gott in Person der Herrscher, seine Werkzeuge die Könige
und die Priester; dann stellte sich die Herrschaft mehr und
mehr äuszerlich als eine Priesterherrschaft dar, mit einem
anfangs priesterlichen, dann kriegerischen Könige an der Spitze;
endlich wurde der König selbst zum Gott erhoben, und es
entstand der übermenschliche „Despotenstat“. Es gilt das
[391]Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
namentlich von dem spätern Perserreiche und selbst von
den neuern Staten der mohammedanischen Sultane, und
den chinesischen Kaisern.
Der König von Iran Guschtasb (1300-1350 v. Ch.)
unter welchem Zarathustra (Zoroaster, Serduscht) als
Prophet auftrat, nannte sich selbst einen „Priesterkönig“,
und in den heiligen Büchern (dem Send-Avesta) wird der
Perserkönig nicht zu der Kaste der Krieger, wie in Indien,
sondern zu der der Priester (der „Rechtskundigen und Gottes-
gelehrten“) gerechnet. 8 Das ganze Statssystem ist zugleich
Religionssystem, Recht und Moral unausgeschieden, der Zu-
sammenhang der unsichtbaren Welt, der guten und bösen Geister
mit der sichtbaren Welt der Menschen in allen Dingen fort-
während anerkannt. Aber seitdem die Könige von unpriester-
lichem persischem Geschlechte die Herrschaft erlangten, nahm
der persische Stat mehr die Natur eines solchen Despoten-
reiches an, und der Einflusz der Magier, so grosz er in
manchen Dingen blieb, ward, verglichen mit den ältern Zeiten,
um vieles geringer. Allmächtig wie der Gott, dessen Gnade
ihn erhoben hat, waltet in seinem Reiche der Perserkönig im
Princip, und sein Hof ist das Abbild des himmlischen Hof-
states des guten Weltgeistes Ahuramasda. Die Ehren, die ihm
erwiesen werden, gleichen den Ehren der Gottheit. Vor seinem
goldnen Throne, der hoch emporragt, und auf dem er in reich-
stem Schmucke mit der Tiara auf dem Haupte sitzt, den
goldnen Stab in der Hand, das Schwert zur Seite, im Purpur-
mantel, „strahlend wie die Sonne an dem glänzenden Firma-
ment,“ werfen sich selbst die fremden Gesandten nieder in
den Staub, wie Sclaven vor dem Herrn oder Betende vor
dem Gott. Wie diesem die Opfer, so werden ihm die Gaben
derer dargereicht, welche seinem Throne nahen. Und wenn
er stirbt, so bezieht er den herrlichen Todtenpalast in Per-
[392]Sechstes Buch. Die Statsformen.
polis, dort das Leben der Seligen fortsetzend. Ein feierliches
Ceremoniel mit seinen mannichfaltigen Symbolen umgibt ihn, 9
ihn zu ehren. In der Wirklichkeit freilich ist gerade dieses
auch ihn beengende und wie mit einem goldenen Netze um-
spinnende Ceremoniel die unauflösliche Schranke und Fessel
seines Willens, und spottet der fingirten Allmacht, die ihm in
der Idee zugeschrieben wird.
Ein Fortschritt aber liegt unverkennbar in dieser Wande-
lung aus dem eigentlichen Priester- in das Despotenreich des
Orients. Das starre Walten einer für göttlich gehaltenen
Offenbarung in dem Gang und den Formen der Gestirne nach
welcher die Priester auch den Stat leiteten, und die Gleich-
mäszigkeit und Unveränderlichkeit des ganzen ein- für allemal
durch göttliche Gesetze normirten Statslebens waren durch-
brochen; und wenn auch in der trüben Form der Despotie,
äuszerte sich nun ein freier menschlicher Wille in den Stats-
angelegenheiten, und konnte Rücksicht nehmen auf die natür-
lichen Veränderungen in den Zuständen der politischen Welt,
und auf die mancherlei neuen Bedürfnisse der Völker. In
dem persischen Reiche wurde denn auch die Eisdecke des
Kastenwesens frühzeitig aufgelöst.
Der merkwürdigste Stat dieser Gattung im Alterthum war
die Theokratie der Juden nach der Mosaischen Gesetzgebung.
Die Reinheit der Mosaischen Religion, der lebendige Glaube
an einen Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt, ist die
feste Grundlage, auf welcher der jüdische Stat erbaut ist.
Gott selbst, Jahve oder Jehova, wird als König der
Juden gedacht. Er ist der unsterbliche Herr des sterblichen,
aber auserwählten Volkes. Er gibt das Gesetz, er regiert das
Volk. Die ganze umfassende Gesetzgebung, welche wir von
Moses her benennen, erscheint als Offenbarung Gottes, mit
welchem Moses in der Einsamkeit der Berghöhe gesprochen,
[393]Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
dessen Willen er mit Furcht und Zittern vernommen, und
getreu dem Befehle des Herrn dem Volke verkündet hat.
Blitz und Donner haben die Gegenwart Gottes auf dem Berge
Sinai allem Volke bezeugt.
Das ganze Volk aber wurde durch diese göttliche Herr-
schaft gehoben. In Aegypten noch war es verachtet, und jeder
Aegyptier aus einer der höhern Kasten betrachtete die Juden
als Verworfene, deren Umgang verunreinige. Nun erhielten
sie das erhabene Gefühl, das bevorzugte Volk des höchsten
Gottes zu sein. Obwohl auch sie in erbliche Stämme einge-
theilt wurden, und auch unter ihnen ein gesonderter Priester-
stamm (der Stamm Levi) geordnet ward, so waren doch alle
Stämme Nachkommen der Erzväter Abraham, Isak und Jakob,
und galt hinwieder das ganze Volk als ein „Priestervolk“.
Die schroffe Ueberordnung der Kasten ist somit hier von
Grund aus aufgegeben, und die Brüderlichkeit der Stämme
zum Princip erhoben.
Das göttliche Gesetz wird in einer mit Gold überzogenen
Lade verwahrt, über welcher der goldene Thron der Gnade
sich erhebt, von zwei Cherubim bewacht, und als Sitz der
göttlichen Offenbarung verehrt. In der Stiftshütte, gewisser-
maszen der göttlichen Residenz, die von den Priestern bewahrt
wird, ist die Lade und der Thron in dem Allerheiligsten hinter
einem Vorhang verborgen. Dort empfängt der Hohepriester
die Gebote Jehovas und verkündet sie. Der Hohepriester,
aus dem Geschlechte Aarons, des Bruders von Moses, stammend,
ist das regelmäszige Organ des göttlichen Willens, und der
Vertreter des Volkes vor dem Herrn. Ausnahmsweise, in
kritischen Zeiten, erweckt Jehova einzelne erleuchtete Indivi-
duen, die als Propheten die miszkannte göttliche Autorität
herstellen, das Gewissen der Könige und des Volkes wach-
rufen, den Abfall von Gott züchtigen, zur Bekehrung mahnen
und das künftige Schicksal des Volkes enthüllen. Auch die
Richter, welche an der Spitze der verschiedenen Stämme das
[394]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Recht verwalten und handhaben, thun es im Namen Jehovas,
„denn das Gericht ist Gottes.“ Daher sollen sie „keine Person
im Gericht ansehen, sondern den Kleinen hören wie den
Groszen, und sich vor Niemand scheuen.“ Ist ihnen aber eine
Sache zu schwer, so sollen sie sich an den Ort der Stiftshütte
wenden, und dort vernehmen, wie durch den Mund der Priester
Gott die Sache entscheidet. Den Spruch sollen sie erfüllen,
oder des Todes sterben. 10
Wie das Volk der strengen aber segensreichen Herrschaft
Jehovas unterthan ist, so ist auch der ganze Boden des ge-
lobten Landes in Jehovas Eigenthum. Unter die Familien
wird er nur zu Lehen vertheilt, nicht zu freiem verfügbarem
Eigenthum. Von allen Früchten des Bodens und von allen
Früchten der Thiere musz daher zur Anerkennung des gött-
lichen Obereigenthums der Zehnte an die Stiftshütte zum
Unterhalte der Priester gegeben werden. Jedes siebente Jahr
ist ein Feierjahr, auch für das Land, welches dann nicht be-
baut wird, wie der siebente Wochentag ein Ruhe- und Feier-
tag für den Menschen ist, und nach siebenmal sieben Jahren
in dem Jubeljahr wird die Vertheilung des Bodens wieder
neu bereinigt, so dasz verarmte Familien ihren Lehensboden
zurück erhalten, reich gewordene ihren Ueberflusz an Gütern
wieder herausgeben müssen. Unter den Juden selbst darf es
keine Leibeigenschaft geben; das Jubeljahr macht auch die frei,
die sich selber in die Knechtschaft eines andern begeben haben;
nur Fremde können zu Sclaven erkauft und besessen werden. 11
Als die Juden später einen König begehrten, „damit sie
auch seien wie alle andern Völker,“ willfahrte Jehova ihrer
Bitte durch den Mund des obersten Richter, des alten Samuel,
aber tröstete diesen mit den Worten: „Gehorche der Stimme
des Volks in allem, das sie zu dir gesagt haben; denn sie
[395]Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
haben nicht dich, sondern mich verworfen, dasz ich
nicht soll König über sie sein.“ 12 So ging die Form
der reinen Theokratie in die einer Monarchie über,
welche indessen immer noch durch theokratische Institutionen
und durch die ganze durch und durch religiöse Natur und
Mission des jüdischen Volkes beschränkt und modificirt blieb.
In Europa sind nur schwache und vereinzelte Nachklänge
der Theokratie zu erkennen. Wenn der römische Kaiser Ca-
ligula mit goldenem Bart und Blitz wie Jupiter sich öffent-
lich zeigte, oder Heliogabal sich als Opferpriester der herr-
schenden Sonne gerirte, oder nach der schweizerischen Sage
der Vogt Geszler von den freien Männern des Gebirgs for-
derte, dasz sie dem Hute des Kaisers ihre Verehrung beweisen,
so waren das nur karikirte Nachbildungen einer untergegange-
nen Statsform, die keinen Anspruch hatten auf Bestand. Wohl
aber ist im römischen Reiche in der Sitte, sogar den lebenden
Kaisern Statuen und Tempel zu errichten und die gestorbenen
als Divi zu verehren sowie in dem späteren Ceremoniel der
byzantinischen Kaiser noch ein theokratisches Element sicht-
bar geworden.
Im Mittelalter bekamen besonders durch den Einflusz der
Geistlichkeit, welche von jeher ihre Vorliebe für die theokra-
tischen Lehren kund gegeben hat, auch die christlichen Stats-
einrichtungen in manchen Beziehungen eine theokratische Fär-
bung. Wir werden dergleichen zwar mehr in den geistlichen
als in den weltlichen Fürstenthümern gewahr; aber
auch die letztern hielten sich nicht rein davon. Sogar der
Kaiser hat zugleich priesterliche Weihen empfangen müssen.
Aber so sehr das Mittelalter es liebte, alles Recht und alle
Gewalt von Gott abzuleiten, so betrachtete es doch die Ge-
walthaber als Menschen, und sorgte reichlich für menschliche
Beschränkungen ihrer Macht.
[396]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Nur die Verfassung der christlichen Kirche, die Hierarchie
des Klerus folgte ganz dem theokratischen Zug. Die welt-
lichen Fürsten und Obrigkeiten wurden doch auch von der
katholischen Kirche oft an ihren menschlichen Ursprung erin-
nert. Der Grundcharakter der mittelalterlichen Statsformen in
Europa ist eher Aristokratie und Monarchie als Theokratie.
Dagegen können die ebenfalls im Mittelalter entstandenen
mohammedanischen Staten eher als theokratisch be-
zeichnet werden. Zwar glaubt auch die mohammedanische
Welt nicht mehr, wie die alten Juden, an eine unmittelbare
und regelmäszige Gottesregierung. Die mosaische Theokratie
ward von Mohammed nicht wiederhergestellt. Aber der Koran
lehrt, dasz Gott die Herrschaft gebe wem er will, und be-
trachtet den menschlichen Fürsten an der Spitze des Stats
als den Statthalter und Lehensträger Gottes. In dem
Khalifat oder der idealsten Darstellung des mohammedani-
schen Statensystems einigen sich die Eigenschaften des Ober-
priesters und des Oberkönigs. Der Khalif ist Papst und Kaiser
zugleich. Religion und Recht, Theologie und Jurisprudenz
werden nicht genügend unterschieden. Die Gottesgelehrten
sind auch Rechtsgelehrte. Der Islam verträgt sich weit eher
mit der Theokratie als das Christenthum. 13
Die moderne Zeit endlich hat eine offenbare Abneigung
gegen die theokratische Statsform und gegen Alles, was an
dieselbe erinnert. Ihr Streben ist vielmehr der humanen
Statsordnung zugewendet. Die Beseitigung aller priesterlichen
Fürstenthümer, zuletzt 1870 der päpstlichen Landesherrschaft
im Kirchenstat, ist ein beredtes Zeugnisz dieser Zeitrichtung. 14
[397]Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
Die theokratischen Staten zeigen folgende gemeinsame
Charakterzüge:
1. Religion und Recht, kirchliche und statliche Institu-
tionen und Maximen sind in ihnen gemischt und zwar in dem
Verhältnisz, dasz die religiösen Elemente das Uebergewicht
haben über die politischen. Die Aussicht auf das Leben nach
dem Tode beherrscht das irdische Leben so sehr, dasz dieses
sich nicht in Freiheit zu entfalten getraut.
2. Das Princip der Autorität ist zu übermensch-
licher Erhabenheit gesteigert. Alles bürgerliche und öffent-
liche Leben ist davon abhängig. Sie ist ihrer Natur nach
absolut. Die Unterthanen stehen mit dem Statshaupte nicht
in einem menschlichen Verhältnisz, nicht als Söhne desselben
Vaterlandes, oder Genossen desselben Geschlechts und Volks.
Der Herrscher erhebt sich über sie in eine unerreichbare Höhe
und wird zum allmächtigen Herrn.
3. Soweit diese göttliche Autorität als abgeschlossene
Offenbarung einer göttlichen Gesetzgebung sich vor
Zeiten kund gegeben hat, wie bei den Juden in dem Mosaischen
Gesetz, wie bei den Mohammedanern in dem Koran, begrün-
det sie eine feste, aber auch unveränderliche Ordnung.
Soweit sie dagegen in den wechselnden Schicksalen
des Völkerlebens über die Bedürfnisse des Augenblicks ent-
scheiden, wenn sie neue Gebote oder Verbote geben soll, so
gibt es nur zwei Wege, auf denen die Stellvertreter der gött-
lichen Herrschaft diesen Willen erfahren können. Entweder
es bestehen äuszere Einrichtungen, die dazu dienen, den
Willen Gottes zu erkunden; oder man vertraut der innern
Inspiration. Wie man die erstere auch ausdenke, ob man
nach Art der Chaldäer in den Sternen lese, oder mit den
Juden auf den zündenden Blick der Sonne warte, ob man in
der Weise der römischen Auguren und Haruspices den Flug
der Vögel deute und die Eingeweide der Opferthiere prüfe,
oder wie die Hellenen die Orakel befrage oder wie die Ger-
[398]Sechstes Buch. Die Statsformen.
manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen un-
fehlbar auf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs.
Der zweite Weg aber der innern Inspiration ist um so mehr
der Selbsttäuschung ausgesetzt, je weniger der Mensch die
eigenen Geisteskräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit
gegeben hat, je passiver er sich verhält und je leidenschaft-
licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt.
Die unentbehrlichen menschlichen Organe der statlichen
Willensbildung sowohl für die Gesetzgebung als für die
Regierung sind also in der Theokratie sehr unvollkommen
ausgebildet und durchaus unsicher.
4. Uebermacht des Priesterthums, das sich Gott
näher glaubt, über die weltlichen Aemter. Wenn die Priester
die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erscheint
der theokratische Stat als offenbarer Priesterstat; wenn es
neben ihm eine weltliche Obrigkeit gibt, so macht sich die
priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend
und es ist der Stat ein latenter Priesterstat.
Da aber in allem Priesterthume etwas Weibliches ist, so
werden in dem Priesterstat die weiblichen Eigenschaften den
männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die
menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen.
Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes
sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.
5. Grausamkeit der Strafrechtspflege und Härte der
Strafen. 15 In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn
Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes
wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen
wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.
6. Die ganze Erziehung der Jugend und des Volks
bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die
Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den
[399]Siebentes Cap. II. Monarch. Statsformen. Die Hauptarten der Monarchie.
kirchlichen Zwecken. Alle Wissenschaften, Künste, Fertig-
keiten werden nur insofern geschätzt und gepflegt, als sie zu
religiösen Zwecken nützlich sind; im übrigen aber mit Misz-
trauen betrachtet und vernachlässigt, und wenn eine Gefahr
für die hergebrachte religiöse Autorität daraus zu erwachsen
scheint, unterdrückt und verfolgt.
Wissenschaft und Kunst haben keinen Werth für
sich, sondern nur für die Religion, sie sind nicht freie Schö-
pfungen des Menschengeistes, sondern Sclavinnen der Kirche.
Siebentes Capitel.
II. Monarchische Statsformen.
Die Hauptarten der Monarchie.
Die monarchische Statsform hat die allgemeinste Aner-
kennung unter den verschiedensten Völkern der Erde erlangt.
Wir finden sie in allen Welttheilen, in Asien und in Europa
fast überall und schon in den Anfängen unserer Geschichte
wie in der Gegenwart. Aber unter sich sind die Monarchien
sowohl in der Idee als in der Form ihres Daseins so sehr
verschieden und mannichfaltig, dasz es schwer wird, die
Hauptarten derselben näher zu bestimmen.
I. Den Uebergang von der Theokratie zur humanen Mo-
narchie bildet die Despotie, wie sie in Asien vorzüglich
Macht und Geltung erlangt hat. Das charakteristische Kenn-
zeichen der Despotie ist, dasz sie alles Recht in dem Mon-
archen dergestalt einigt, dasz auszer ihm und ihm gegenüber
Niemand festes Recht hat. Er allein ist der Berechtigte,
alle andern sind vor ihm rechtlose Wesen, Sclaven. Er kann
wohl von dem religiösen oder moralischen Pflichtgefühl be-
schränkt sein und anerkennen, dasz er Gott für die Ausübung
[400]Sechstes Buch. Die Statsformen.
seiner Allgewalt verantwortlich sei, aber er ist nicht be-
schränkt durch die Rechte seiner Unterthanen. Vor ihm gibt
es kein anderes Recht, als was er aus Willkür und Gnade
zuläszt.
Diese Despotie musz, um sich selbst auch nur einiger-
maszen zu erklären, auf die göttliche Allmacht sich berufen.
Der Despote musz als Stellvertreter Gottes und als Inhaber
der göttlichen und deszhalb unbegrenzten Gewalt verehrt wer-
den. Darin liegt die nähere Beziehung zur Theokratie, an
deren Gebrechen auch die Despotie leidet, auch wenn sie im
übrigen zugesteht, dasz der Despot ein Mensch sei. Die
mohammedanischen Staten des Mittelalters haben alle einen
solchen Zug zur Despotie: und erst in unserer Zeit fangen
sie an, sich der europäisch-humanen Monarchie entschiedener
anzunähern.
II. Wir können die Despotie als eine barbarische Form
der Monarchie bezeichnen. Die höheren arischen Völker
haben sie schon in der Vorzeit als ihrer unwürdig verworfen.
Sie haben alle auszer den Rechten der Fürsten und Könige
auch Rechte der Stände und der Privatpersonen behauptet
und sich als Freie, nicht als Sclaven gefühlt. Wo die Ueber-
macht des Monarchen unter ihnen zuweilen der Despotie ähn-
lich überspannt wurde, da empfanden die arischen Völker das
immer als ein Unrecht, und bei günstiger Gelegenheit traten
sie dem Despoten entgegen und nöthigten ihn, auch die Rechte
der Unterthanen anzuerkennen. Die civilisirte Monarchie
ist daher immer eine durch die gemeinsame Rechts-
ordnung bedingte und beschränkte. Die Stellung des
Monarchen wird dadurch nicht erniedrigt, sondern erhöht,
und seine Macht nicht geschwächt, sondern verstärkt, denn
es ist edler, einem freien Volke, als einer knechtischen Menge
vorzustehen und die politischen Kräfte jener zusammenzu-
fassen und zu leiten, als den stumpfen Gehorsam dieser zu
lenken. Je mehr in einem State die Einheit und Energie des
[401]Siebentes Cap. II. Monarch. Statsformen. Die Hauptarten der Monarchie.
Ganzen mit der freiesten Entfaltung aller Glieder verbunden
erscheint, um so vollkommener ist der Stat organisirt. Das
aber ist nie in der Despotie, sondern nur in der civilisirten
Monarchie möglich.
Der menschliche Geist hat in den verschiedenen Zeit-
altern und unter den verschiedenen Völkern mancherlei Ver-
suche gemacht, um die richtige Form der rechtlichen Be-
stimmung und Beschränkung zu finden.
Eine der ältesten Formen ist das Geschlechtskönig-
thum, die Patriarchie. Der König wird wie der Häuptling
aus dem vornehmsten Geschlecht, als der Aelteste und der
Vater des Stammes verehrt. Die Institution erscheint da noch
gebunden an den Verband der Familienart, und beschränkt
durch den Familiengeist. In dem Vizpati der indischen Stämme
wie in dem Kuning der deutschen Völkerschaften wird diese
kindlich-naive Anschauung sichtbar.
Ebenso gebunden an privatrechtliche Zustände und In-
stitutionen ist die Form des patrimonialen Fürstenthums,
welches vorzüglich im Mittelalter Anerkennung fand, sei es
in der Form des Lehensstats, sei es in der Form der
einfachen Landesherrschaft (dominium terrae). Auch da
wirken gewöhnlich Familienrecht und dynastische Vorstel-
lungen ein; es kommt aber hinzu die Verwechslung des Stats
mit einer im Eigenthum befindlichen Grundherrschaft. Das
Amt wird einem Vermögensrechte ähnlich betrachtet und be-
handelt.
Wir können diese beiden Formen, in denen das Stats-
bewusztsein noch nicht durchgebrochen ist, als unreife Ent-
wicklungsphasen bezeichnen.
III. Ist zwar das Statsbewusztsein theilweise geweckt
worden, aber noch in einer einseitigen Richtung auf eine ein-
zelne öffentliche Function als Hauptfunction des Fürstenthums
befangen, so entstehen die einseitigen Formen entweder
des Kriegsfürstenthums (Herzogthum, Imperatoren-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 26
[402]Sechstes Buch. Die Statsformen.
stat), wenn die kriegerische Obergewalt bestimmend wirkt,
oder der Gerichtsherrschaft, wenn das Richteramt als
Herrschaft angesehen wird. Das erstere wird durchweg ge-
waltiger und energischer erscheinen, die letztere beschränkter
und gemäszigter.
IV. Wenn das Statsbewusztsein in dem Fürsten über-
reizt und übermächtig wird, so dasz er sich selbst für
den allmächtigen Herrn und Inhaber aller öffentlichen Gewalt
hält, so kommt zwar die vielseitige und öffentliche Bedeutung
der Monarchie als einer entscheidenden Centralgewalt zur
Erscheinung, aber die Bevölkerung wird in politischer Unfrei-
heit niedergehalten. Es entsteht die absolute Monarchie,
welche als civilisirte Statsform der barbarischen Despotie ent-
spricht, aber sich dadurch von ihr unterscheidet, dasz der
civilisirte Monarch doch eine Rechtsordnung als noth-
wendig anerkennt, und sich selbst verpflichtet, derselben
gemäsz — wenigstens in der Regel — zu regieren. Ausge-
dehnter erscheint diese absolute Gewalt in dem antiken rö-
mischen Stat, beschränkter in der neueren Absolutie, die
durch das Christenthum und die freiheitliche Entwicklung
auch des Mittelalters beschränkt wird.
V. Edler entwickelt und in sich gehaltener sind die For-
men der beschränkten Monarchie, welche die einheitliche
Machtfülle der statlichen Centralgewalt in sich aufnehmen,
aber zugleich damit die Freiheit der Volksclassen und der
einzelnen Bürger zu verbinden unternehmen.
Dahin gehört sowohl die mittelalterliche Form einer ari-
stokratisch und ständisch beschränkten, als die moderne
Form der repräsentativen und constitutionellen Mon-
archie.
Einige der wichtigsten Erscheinungen dieser verschiede-
nen Arten verdienen eine besondere Betrachtung, wie dieselbe
den folgenden Capiteln vorbehalten wird.
VI. An dieser Stelle musz aber noch ein anderer Gegen-
[403]Achtes Capitel. II. Monarch. Statsformen. A. Hellenisches etc.
satz innerhalb der civilisirten Monarchie erwähnt werden, der
Unterschied nämlich des Königthums und des Kaiser-
thums. Er wiederholt sich auf allen Entwicklungsstufen der
Monarchie, roher in der alt-asiatischen Despotie, edler in der
europäischen Statenbildung.
Die Idee des Königthums gehört dem Volke, die Idee
des Kaiserthums der Menschheit an. Das Königthum ist
die höchste obrigkeitliche Institution des Volksstates, des
Einzelstates, das Kaiserthum ist die Krone des Welt-
reiches. Ueber den Königen erhebt sich die Würde des
Kaisers, wie die Macht der Menschheit über der der Völker.
So oft im Orient ein groszes Reich gegründet ward, finden
wir solche Könige der Könige. Der grosze Cäsar griff den
Gedanken der römischen Weltherrschaft persönlich auf, und
ihm zu Ehren hat die Weltgeschichte diese vornehmste Stats-
idee mit seinem Namen benannt. Die volle Verwirklichung
derselben wird aber erst dannzumal möglich werden, wenn
die Welt zu einer universellen Organisation der Menschheit
fortgeschritten sein wird. Bis dahin sehen wir in der bis-
herigen Geschichte nur beschränkte und mangelhafte Ver-
suche, das Kaiserthum herzustellen. 1
Achtes Capitel.
A. Hellenisches und altgermanisches Geschlechtskönigthum.
In den ersten Zeiten der hellenischen und germani-
schen Geschichte finden wir unter beiderlei Völkern Könige
an der Spitze der Stämme und Staten; und es zeigt die Art,
wie diese Institution von diesen Völkern aufgefaszt und be-
handelt wird, eine auffallende Uebereinstimmung, während
[404]Sechstes Buch. Die Statsformen.
dagegen das in der Mitte liegende alt-römische Königthum
in wesentlichen Beziehungen sich davon unterscheidet.
Das Königthum der Hellenen und der Germanen bildet
den Uebergang aus der noch ideokratischen Form der orien-
talischen Alleinherrschaft in eine menschlich-politische
Institution. Die Könige leiten zwar ihr Geschlecht gewöhn-
lich von den Göttern her, die hellenischen meistens von Zeus,
die germanischen von Wodan (Odin), und der Volksglaube
verehrt in den Königen die Ueberlieferung des göttlichen
Blutes; aber obwohl so der Ursprung der Könige angeknüpft
wird an die Herrschaft der Götter über die Welt, werden sie
doch auf der andern Seite als Menschen anerkannt und viel-
fach auch menschlich beschränkt. 1 Die königlichen Heroen
[405]Achtes Capitel. II. Monarch. Statsformen. A. Hellenisches etc.
und Helden sind Göttersöhne und Verwandte der Götter, aber sie
sind zugleich wirkliche Menschen in ihren und des Volkes Augen.
Daher sind die Ehrenrechte der Könige höher und
ausgedehnter als ihre Macht. Sie vertreten das gesammte
Volk den Göttern gegenüber und vermitteln durch Opfer und
Gebet, soweit nicht besondere Priester diese Pflicht üben,
zwischen beiden, 2 weszhalb denn auch zu Athen nach der
Abschaffung des Königthums der opfernde Archon noch den
Namen des Königs beibehielt.
An Werth wird ihre Person weit höher geschätzt als die
der übrigen Volksgenossen. Das Wergeld der germanischen
Könige übertrifft das der Edeln gewöhnlich mehrfach. Sie
ragen daher auch durch ihren Reichthum vor Allen hervor.
Ihnen gehört ein groszer Theil des Landes als Domäne zu
Eigenthum zu, und bei Eroberungen erhalten sie ausgedehnte
Güter zum voraus. 3 Ihre Wohnung, der Palast war höher,
weiter, schöner und reicher geschmückt als die übrigen Häuser. 4
1
[406]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Ihre Schätze, Horte, sind reich mit Kleinodien und Schmuck
ausgerüstet.
Durch Insignien sind sie als Könige bezeichnet. Die
griechischen tragen das Scepter, zum Zeichen der Gerichts-
hoheit und Macht: ebenso die deutschen den Stab. 5 Sie
sitzen auf einem erhöhten Throne, dem Königsstuhl
(Hochsitz). 6 Den deutschen Königen wird überdem das Banner
vorgetragen als Zeichen ihrer Kriegsgewalt. Bei den Griechen
verkünden Herolde ihr Erscheinen und gebieten Schweigen,
ähnlich den deutschen Frohnboten in den Gerichten. Die
fränkischen Könige tragen wallendes langes Haar zum Schmuck.
Die Kleidung des Königs ist glänzender, vornehmer als die
gewöhnliche. Die altindischen Könige und ebenso die alt-
chinesischen Fürsten erscheinen in gelbem (golddurchwirkten)
Talar, mit gelbem Sonnenschirm. 7
Die Existenz königlicher Geschlechter und die Verbin-
dung dieser mit den Göttern weist unverkennbar auf alte Erb-
lichkeit des Königthums hin. Indessen bestimmte das Erb-
recht nicht nach festen Regeln die Nachfolge. Vielmehr wird
bei den Hellenen zugleich auf persönliche Tüchtigkeit
gesehen. So werden daher sowohl Weiber als Kinder mei-
stens ausgeschlossen von der Thronfolge, und in Folge der
Anerkennung, welche den Edeln und dem Volke vorbehalten
bleibt, und der Einwirkung solcher individueller Rücksichten
nicht ganz selten Abweichungen von dem Erbrechte durch-
[407]Achtes Capitel. II. Monarch. Statsformen. A. Hellenisches etc.
gesetzt. 8 Ebenso ist bei den Deutschen die Beachtung des
Erbrechts mit der Kur der Fürsten und der Zustimmung
des Volkes verbunden, wenn schon in gewöhnlichen Fällen
das Erbrecht entscheidet, und eher noch als bei den Hellenen
auch Kinder zu Königen erhoben werden. Nichts hinderte
die freie Volksgenossenschaft, auch einen ferneren Sippen des
verstorbenen Königs dem näheren vorzuziehen, wenn jener
tüchtiger schien. 9
Die statliche Macht dieser Könige war zwar intensiv,
aber immerhin sehr beschränkt. Sie äuszert sich hauptsäch-
lich in folgenden Momenten:
1. Der König hat den Vorsitz und die Leitung sowohl
des Rathes der Fürsten als der Versammlung des Volkes. 10
Er hat in beiden eine hohe Autorität, aber, wie Tacitus das
sehr wahr bezeichnet, eher eine moralische Autorität der
Empfehlung als eine rechtliche des Gebots. 11
2. Er ist der oberste Richter und hat als solcher —
nicht etwa das Urtheil zu finden, wohl aber das Recht zu
[408]Sechstes Buch. Die Statsformen.
schützen und zu handhaben. 12 Auch hier übt er keine will-
kürliche Gewalt, weder in Form noch Inhalt. In beiden Be-
ziehungen wird er durch das Urtheil beschränkt und bestimmt.
3. Er ist ferner Haupt der Kriegsordnung und in der
Regel Heerführer. 13 Im Kriege erweitert sich dann seine
Macht. 14 Zuweilen sehen sich die deutschen Stämme indessen
genöthigt, eben weil sie noch mehr als die Hellenen an dem
Erbrechte halten, statt unmündiger Könige Herzoge im be-
sondern Falle mit der wirklichen Kriegsführung zu betrauen.
Auch in solchen Fällen aber gilt doch der König als Ober-
haupt des Heerbanns.
4. Die eigentliche Regierungsmacht dagegen ist bei
den Hellenen und den Germanen in den ersten Zeiten noch
sehr unentwickelt. Der Keim derselben liegt noch verhüllt
in den vorhin genannten Eigenschaften des Königs.
Diese Könige sind endlich mit ihrer ganzen Existenz
und ihren Rechten umschlossen von dem göttlichen und dem
menschlichen Recht. Die Griechen machen auf den Unter-
schied zwischen der orientalischen Despotie und diesem Kö-
nigthum aufmerksam, und heben mit Nachdruck hervor, dasz
das Wesen des letztern in der Beachtung der göttlichen Ord-
nung, der vaterländischen Gesetze und Gewohnheiten bestehe. 15
[409]Achtes Capitel. II. Monarch. Statsformen. A. Hellenisches etc.
Der König steht somit nicht über, sondern in der Rechtsord-
nung, nicht auszer dem Volke, sondern an der Spitze desselben.
Noch mehr beschränkt durch das Recht des ganzen Volkes
und der übrigen Glieder desselben sind die deutschen Könige. 16
Eine Eigenthümlichkeit des deutschen Königthums aber,
wodurch die geringe Macht desselben in gewissen Kreisen
sehr verstärkt wird, ist die Beziehung desselben zu dem aus-
erwählten und eng verbundenen Gefolge. Durch das kriege-
rische und zu persönlicher Treue und Ergebenheit eidlich
verpflichtete Gefolge erlangen die deutschen Könige eine ihnen
ausschlieszlich dienende Haus- und Kriegsmacht, als deren
freie „Herren“ sie gelten, und deren Ehre darauf gerichtet
ist, die Ehre, Autorität und Macht des Königs gegen seine
Feinde und Widersacher zu verfechten. In dieser Eigen-
thümlichkeit liegt der Keim zu der groszen mittelalterlichen
Schöpfung der Lehensverfassung, welche die Nationalverfassung
später vielfach durchbrochen, überwuchert und groszentheils
auch umgestaltet hat.
[410]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Neuntes Capitel.
B. Altrömisches Volkskönigthum.
In einigen Beziehungen erscheint das alte Königthum der
Römer dem der Hellenen und Germanen nahe verwandt; in
andern aber unterscheidet es sich von diesem so bedeutend,
dasz wir in ihm wohl eine neue Art der Alleinherrschaft, und
zwar eine höhere Entwicklungsstufe derselben erkennen dür-
fen. Schon bei Bestellung der römischen Könige finden wir
den wichtigen doppelten Unterschied, dasz die Rücksicht auf
das Erbrecht bedeutend zurücktritt hinter das Element der
Ernennung oder Wahl, und dasz nicht ebenso der Volks-
glaube die römischen Könige von göttlicher Herkunft
stammen läszt, wie die griechischen und germanischen.
Zwar haben die Heroen, denen Rom seine Gründung ver-
dankt, noch Götterblut in ihren Adern, und Romulus wird
nach seinem Tode selbst zu den Göttern erhoben. Aber nach
ihm äuszern die Götter ihre Mitwirkung nur, wie in allen
andern wichtigen Statsangelegenheiten, durch die Zeichen,
welche bei den Auspicien beobachtet werden, durch die un-
sichtbare Stimmung der Seelen und durch die unabwendbare
Macht des Schicksals. Der Charakter des römischen König-
thums ist demnach rein menschlich geartet, obwohl auch
in ihm die Verbindung mit göttlicher Einwirkung auf das
Geschick des States noch festgehalten wird. Die Einsicht und
der Wille der Individuen wirkt hier stärker ein, und die
Rücksicht auf das Blut und die Familie tritt mehr in den
Hintergrund. 1
Der römische König wird von dem Vorgänger oder
[411]Neuntes Cap. II. Monarch. Statsformen. B. Altrömisches Volkskönigthum.
dem Interrex unter Mitwirkung des Senats und mit Zu-
stimmung der Götter ernannt oder auf Lebenszeit gewählt,
nicht eine königliche Erbdynastie anerkannt. Es kommt daher
mehr auf die Individualität desselben, als auf den Stamm
an. Dem gewählten Könige wird nach einem von ihm selber
vorgeschlagenen Gesetz der Curien mit den Auspicien
von dem Interrex die königliche Gewalt übertragen, 2 ganz
so wie später den Magistraten der Republik ihr imperium.
So ist das römische Königthum von Anfang an auch eine
individuelle Magistratur.
Schon diese Unterschiede bedingen eine andere Auffassung
der königlichen Institution. Ein anderer nicht minder ge-
wichtiger liegt in der Art und dem Charakter der könig-
lichen Gewalt selbst. In manchen Dingen zwar sind die
Rechte des Rex ähnlich denen der andern antiken Könige.
Auch er ist Opferpriester für das Volk und Oberpriester,
auch er versammelt und leitet sowohl den Senat, als die ver-
schiedenen Comitien des Volks. Eben so ist er in der Regel
der oberste Richter, ungeachtet es von seinen Strafen unter
gewissen Voraussetzungen noch eine Berufung an das Volk
gibt. Er steht ferner von Rechtes wegen an der Spitze der
Kriegsverfassung, und ist der natürliche Heerführer. Endlich
besitzt auch er Reichthum an Gütern und Einkünften. 3
Aber ungeachtet der römische König kein Abkömmling
der Götter und nur auf Lebenszeit gewählt ist, so ist seine
Macht doch sehr viel intensiver und voller als die der grie-
chischen Könige. Darin offenbart sich schon von Anfang an
der vorzugsweise statliche Sinn der Römer, dasz sie ihre ober-
sten Magistrate mit einer Fülle von Macht, und insbesondere
mit der Gewalt ausstatten, für die öffentliche Wohlfahrt ener-
[412]Sechstes Buch. Die Statsformen.
gisch zu sorgen. Das specifisch-römische Imperium ist es
vorzüglich, was diesz Königthum vor jenen andern Institutio-
nen so sehr auszeichnet.
Die äuszere Erscheinung des Königs ist nicht minder
voll Glanz und Ehre, als die der andern, aber in ihr schon
offenbart sich ihre gröszere Macht. Die Ruthenbündel und
Beile, welche die zwölf Lictoren ihnen vortragen, sind nicht
blosze Zeichen, sondern Werkzeuge der strengen Strafgewalt,
welche den Ungehorsam an Leib und Leben heimsucht. Das
römische Imperium und die Beile der Lictoren gehören im
Leben und in der Idee der Römer zusammen. 4
In Folge des höchsten Imperium, welches der König von
Rechtes wegen mit den Auspicien überliefert erhalten hat, ist
er voraus berechtigt, die erforderlichen Statsordnungen und
Rechtsgrundsätze festzustellen. Man darf nicht vergessen,
dasz der römische Stat von dem Könige gegründet worden
war, und dasz die Gewalt des ursprünglichen Gründers auf
dem Wege der Tradition auf dessen Nachfolger überging. Die
eigentlichen Gesetze bedurften freilich der Zustimmung des
Senats, und wohl auch — sicher seit dem Könige Servius
Tullius, 5 des Geheiszes der Volksversammlung (populi jussu),
aber für diese war der Wille des Königs selbst unentbehrlich
und gewöhnlich auch maszgebend. Denn nur er konnte das
Gesetz in Antrag bringen, und gegen seinen Willen kein Vor-
schlag in Berathung oder zur Abstimmung kommen. 6 Auszer
[413]Neuntes Cap. II. Monarch. Statsformen. B. Altrömisches Volkskönigthum.
den Gesetzen konnte aber der König unzweifelhaft durch sein
Edict, ohne Berathung und Zustimmung irgend einer be-
schränkenden Versammlung, das Recht näher bestimmen, wel-
ches er schützen und handhaben werde. Machte er auch selten
davon Gebrauch, so wurde es von jeher doch als ein Recht
der römischen Magistrate betrachtet, das Gewohnheitsrecht
und neue Rechtsansichten in solcher Weise zur Anerkennung
zu bringen, und in den von ihnen bestimmten Formen fort-
zubilden. Dieses jus edicendi ist von den Königen auf die
Magistrate der Republik übergegangen, nicht für diese neu
begründet worden.
So war auch die Autorität der römischen Könige in Hand-
habung der Rechtspflege viel gröszer, als die der germa-
nischen Fürsten. Wie diese saszen auch jene öffentlich und
anfangs persönlich zu Gericht, aber der Rex war nicht be-
schränkt durch das Urtheil der Beisitzer. Er leitete nicht
blosz den Gang des Processes, er setzte selber den Rechts-
satz fest (jus dicit), welcher zur Anwendung kommen sollte.
Er urtheilte wohl auch in der ältern Zeit häufig selbst. Die
ganze Privatrechtspflege und die Strafrechtspflege gröszern-
theils hingen durchaus von ihm ab. 7
Wie ausgedehnt ferner war die Heeresgewalt des rö-
mischen Königs! Keine Schranke hemmte im Felde das abso-
lute Recht desselben über Leben und Tod aller Kriegspflich-
tigen von den obersten Führern bis hinab zu den niedrigsten
Kriegern. Noch aus den Zeiten der römischen Republik, in
welchen die überlieferte königliche Gewalt so mancherlei Be-
schränkungen erlitten hatte, kennen wir eine ziemliche Anzahl
6
[414]Sechstes Buch. Die Statsformen.
von Beispielen, in welchen nicht blosz Dictatoren, deren vollere
Macht eben die alte ungeschmälerte königliche war, sondern
auch Consuln trotz der Bitten oft des ganzen Heeres ange-
sehene Kriegsobersten hinrichten, oder in ganzen Heeresab-
theilungen je den zehnten Mann enthaupten lieszen. 8
Die übrigen Statsämter und priesterlichen Würden
leiten groszentheils ihr Dasein und ihre Befugnisse von dem
Könige ab. Der tribunus Celerum als Anführer der Reiterei,
der praefectus urbi, welcher in der Stadt als Stellvertreter
der Könige waltet, werden von ihm ernannt. Die Augurn,
die Pontifices haben ihre Wissenschaft der Weissagung und
des heiligen Rechts von dem Könige empfangen. 9
In dem Imperium liegt endlich als innerster Kern des-
selben eine mächtige Regierungsgewalt, welche überall, wo
das Bedürfnisz des States und die Umstände es im einzelnen
Falle verlangen, ein- und durchgreift, und im Interesse der
öffentlichen Wohlfahrt das Nöthige gebietet und anordnet.
Diese Gewalt — bei den hellenischen Königen nur in sehr
geringem Umfange, bei den germanischen fast gar nicht be-
kannt — nimmt in dem römischen Statsrechte von Anfang
an eine wichtige Stellung ein, und wie die Römer in ihrer
Familie und als Eigenthümer die absolute Herrschaft lieben,
so ist auch ihr statliches Imperium absolut. Ihre Könige sind
daher nicht blosz Richter im Frieden, sie sind, wie schon
der Name zeigt, ganz vorzugsweise Regenten.
Nur so erklärt sich, wie die ganze Politik des römischen
States in der königlichen Periode von dem individuellen Willen
und der Thatkraft der Könige bestimmt, wie alle Einrich-
tungen auf die Könige zurückgeführt werden. Nur von da
aus wird es verständlich, wie schon zu dieser Zeit riesenhafte
und gemeinnützliche Bauwerke in Rom von den Königen an-
geordnet und durchgeführt werden. Sie haben die Sorge für
[415]Zehntes Capitel. II. Monarch. Statsformen. C. Das römische Kaiserthum.
die Lebensmittel und für eine gute Bewirthschaftung des Bo-
dens, sie wachen über die guten Sitten der Bürger und üben
die polizeiliche Gewalt in ausgedehntem Masze aus. Alle
Gewalt überhaupt, welche später unter die Consuln, die Prä-
toren, die Censoren, die Aedilen vertheilt ward, ist ursprüng-
lich in der Einen Hand des römischen Königs verbunden. 10
Mit Einem Worte: Der römische Stat zuerst führt die
Monarchie in Form einer menschlich-nationalen Indi-
vidualherrschaft mit voller Concentration aller stat-
lichen Macht und mit einer Fülle sogar absoluter
Regierungsgewalt in die Geschichte ein.
Zehntes Capitel.
C. Das römische Kaiserthum.
Das römische Kaiserthum, welches von C. Julius Cäsar
eingeleitet und von Augustus eingeführt worden ist, und
auf die ganze spätere Entwicklung des mittelalterlichen und
modernen Statsrechts einen groszen Einflusz geübt hat, beruht
keineswegs blosz, wie das Neuere hier und da behauptet, auf
einer Anhäufung republikanischer Aemter und Würden, son-
dern ist in der That eine Erneuerung der monarchischen Ge-
walt, welche die Kindheit des römischen States geleitet hat,
eine Erneuerung freilich in viel groszartigeren Verhältnissen
und der seitherigen Umbildung des States gemäsz.
Allerdings lieszen sich die Kaiser Gewalten übertragen,
welche vorher einzelnen republikanischen Magistraturen zu-
gehört hatten: die tribunicische Gewalt, in Folge welcher
sie auf persönliche Unverletzlichkeit, auf ein weit wirkendes
Recht der Intercession und der Verneinung, und auf die Idee,
[416]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Schirmer des niedern Volks und seiner Rechte zu sein, einen
erhöhten Anspruch bekamen; die censorische Gewalt,
welche ihnen die Aufsicht über die Sitten und die Befugnisz
verlieh, die Listen des Senats und der Ritter nach ihrem
Ermessen zu bereinigen; die Würde des pontifex maximus,
und damit die Befugnisz über wichtige Fragen des geistlichen
Rechts zu entscheiden. Von Zeit zu Zeit nahmen sie auch
persönlich die Würde eines Consuls an. Aber in der Haupt-
sache, in Idee und Macht, bestand die Statsveränderung
nicht in solcher Cumulation von Magistraturen, sondern in
der neuen Begründung einer einheitlichen Centralmacht,
einer wahren Monarchie. Republikanische Formen ver-
deckten einem Theil der Bevölkerung anfänglich den Ueber-
gang in die Monarchie; in den Augen der Kundigen aber war
diese schon unter Augustus vollständig eingeführt. Das mon-
archische Princip wurde schon bei der Erhebung des Kaisers
Tiberius sehr scharf im Senate ausgesprochen: „Nicht darum
kann es sich nunmehr handeln, zu trennen was unzertrenn-
lich verbunden ist, sondern um Anerkennung des Grundsatzes,
dasz der Stat Ein groszer Leib ist, und durch Einen
Geist regiert werden musz.“ 1
Der Name Princeps (Senatus) freilich war bescheiden,
die Macht des Kaisers dagegen so unermeszlich, dasz nur
wenige Individuen den Genusz derselben zu ertragen ver-
mochten, die meisten durch das Uebermasz geistig oder mo-
ralisch ruinirt wurden. Die Gewalt und die Würde war nicht
erblich, dem Kaiser nicht anerboren, sondern dieser wurde
gewählt, anfänglich dem Scheine nach nur auf zehn Jahre,
in Wahrheit aber auf Lebenszeit. Sie hatte einen mensch-
lichen, nicht einen göttlichen Ursprung, und erkannte die
Hoheit des Volkes an. Durch ein Volksgesetz wurde ihm die
[417]Zehntes Capitel. II. Monarch. Statsformen. C. Das römische Kaiserthum.
Gewalt von dem Volke übertragen. 2 Allein auf das Blut
und die Familienverbindung wurde dennoch bei der Aner-
kennung der Kaiser zwar nicht principiell, aber factisch in
den meisten Fällen Rücksicht genommen, und der anerkannte
Kaiser empfing jeder Zeit die kaiserliche Gewalt, welche an
Umfang der Gewalt des römischen Volkes selbst zur Zeit der
Republik gleichgeachtet wurde, zu persönlichem, vollem
Rechte. Auch das Volk konnte dieselbe später nicht mehr
beschränken noch entziehen. Sie war durch die Ueberliefe-
rung gesichert.
In ihr war — abgesehen von den obigen Magistraturen,
die regelmäszig mit der kaiserlichen verbunden waren, und
diese sehr verstärkten — enthalten:
1. Die Disposition und der Befehl über die gesammte
Kriegsmacht des States, zu Rom über die Garde der Prä-
torianer. Die Einführung stehender Heere, für die spä-
tere Grösze des Reiches ein Bedürfnisz, sicherte zugleich die
Existenz des Kaiserthums, und diente dazu, demselben überall
Gehorsam zu erzwingen. 3 In dieser Eigenschaft nahmen die
Kaiser den Titel der „Imperatoren“ an, welcher vordem
eine andere Bedeutung gehabt hatte.
2. Die unbeschränkte Regierung über eine Anzahl,
und gerade die wichtigsten und reichsten Provinzen. Von
daher zogen die Kaiser unermeszliche Reichthümer und Kräfte
aller Art an sich. Im übrigen hatten die Provinzialen durch
die Statsveränderung bedeutend gewonnen. Ihre Groszen
wurden von dem Kaiser in den Senat berufen und mit
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 27
[418]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Aemtern betraut, die Volksmasse wurde durch die kaiserlichen
Legati weniger bedrückt und ausgesogen, als früher durch
die Proconsuln und Proprätoren der Republik, welche sich
abwechselnd in den Provinzen zu bereichern pflegten. Das
dauernde Interesse der Kaiser gebot theils gröszere Schonung
theils eine geregelte Verwaltung der Provinzen.
3. Die Entscheidung über die auswärtige Politik,
das Recht über Krieg und Frieden, und das Recht Bündnisse
abzuschlieszen. 4
4. Die Macht, den Senat zu versammeln, Anträge an
denselben zur Berathung zu bringen, den Senatsbeschlüssen
gesetzliche Geltung zu verleihen. 5 Wie fügsam der Senat sich
den Kaisern gegenüber erwies, wie abhängig derselbe auch
von diesen war, ist bekannt genug.
5. Die entscheidende Stimme bei allen Besetzungen
der Magistraturen und wichtigeren Statsämter, in-
dem sowohl der Senat, als die — damals nur noch dem for-
mellen Scheine nach erhaltene — Volksversammlung, die von
dem Kaiser empfohlenen Bewerber zu berücksichtigen,
sogar durch das Gesetz verpflichtet ward. 6
6. Die unbeschränkte allgemeine Vollmacht, alles
zu thun, was ihm zur Wohlfahrt und Ehre des States
zweckdienlich erschiene. Das ist der innerste Kern der
Kaisergewalt, die überall, wo das Statswohl es erfordert,
mit Macht eingreift, und das öffentliche Bedürfnisz be-
[419]Zehntes Capitel. II. Monarch. Statsformen. C. Das römische Kaiserthum.
friedigt. 7 Eine Folge dieser auszerordentlichen Vollmacht
ist es, dasz die kaiserlichen Edicte allein nicht blosz, sondern
sogar die Decrete und Rescripte die volle Autorität von
Gesetzen haben, dasz somit auch die gesammte Gesetz-
gebungsgewalt von dem Kaiser allein in weitestem Umfange
ausgeübt werden kann. 8
Damit aber jedes Bedenken über die Anwendung dieser
absoluten Macht zum Schweigen gebracht, und jeder Wider-
stand gegen dieselbe erfolglos werde, bestimmt das Kaiser-
gesetz ausdrücklich: dasz wenn einer um dieses Gesetzes
willen gegen Volksgesetze, Plebiscite oder Senatsordnungen
handle, oder was dieselben vorschreiben, nicht befolge, ihm
das nicht zum Schaden gereichen solle, und er deszhalb nicht
zu gerichtlicher Rechenschaft gezogen werden dürfe. Die
Unverantwortlichkeit des Kaisers verstand sich von selbst; sie
wurde aber auch auf alle ausgedehnt, welche im Auftrag und
Dienst des Kaisers nach seinem Willen handelten, somit das
Gegentheil der heutigen Ministerverantwortlichkeit festgesetzt. 9
In der That war diese Kaisermacht auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechtes ganz ähnlich wie das Eigenthum des
römischen Sachen- und die väterliche Gewalt des Familien-
rechts. Sie war unbeschränkte Herrschergewalt, 10 vor
[420]Sechstes Buch. Die Statsformen.
der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration der
römischen Weltherrschaft, das imperium mundi in Einem
Individuum. Das ideale Motiv, welchem freilich die Rea-
lität nur selten entsprach, war die öffentliche Wohlfahrt,
Salus publica, das grosze Statsprincip der Römer, welches sie
in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer Zeit mehr
anriefen als das Recht, Jus, so sehr sie im Privatrecht ge-
rade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten.
Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute
Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung ge-
bracht, hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen,
dasz ein solches Uebermasz von Macht weder zum Besten
dessen dient, der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie
geübt werden soll. 11
In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbe-
nen Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem
Schicksale hinreichend begründet sein. Die römische Aristo-
kratie war theils entartet, theils nicht stark genug, den un-
ermeszlichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch
ohnmächtige Versuche wagend, ihre frühere Herrschaft her-
zustellen, ergab sie sich doch in der Regel der zwingenden
Gewalt der neuen Verhältnisse. 12 Die Masse des Volkes, ohne
Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken
und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft
des Einen Kaisers dem Regimente des Senates vor, und freute
sich trotz der eigenen politischen Ohnmacht über die De-
[421]Eilftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. D. Fränkisches Königthum.
müthigung des Adels. Der alte Römercharakter, früher noch
als der Römergeist, war schwach und krank geworden, und
es büszten die Römer den unersättlichen Trieb nach Herr-
schaft, der sie von Eroberung zu Eroberung geführt hatte,
nun mit der eigenen gemeinsamen Knechtschaft.
Eilftes Capitel.
D. Fränkisches Königthum.
Auf römischem Boden erhob sich das grosze Reich der
deutschen Franken. Die fränkische Monarchie, aus römischen
und deutschen Elementen gemischt, bildet denn auch den
Uebergang aus der antiken in die mittelalterliche Weltord-
nung. 1 Viel mächtiger als ein alt-germanischer König ist der
fränkische König, doch weder so absolut noch so übermächtig
als der römische Kaiser. Die Ideen des germanischen
Rechts und der germanischen Freiheit haben sich ge-
wissermaszen vermählt mit den Gedanken der römischen
Statshoheit und Macht, und aus dieser Verbindung ist
die monarchische Institution hervorgegangen, wie wir sie in
der Zeit Karls des Groszen in voller Kraft entfaltet sehen.
Eine Reihe von Gründen wirkten zusammen, um die ein-
heitliche Macht der karolingischen Könige zu stärken: vorerst
die merkwürdige Folge individuell ausgezeichneter und glück-
licher Herrscher, sodann die wachsende Ausdehnung eines
groszen Reiches, für welches ein umfassendes und starkes
politisches Regiment Bedürfnisz ward, die Nothwendigkeit
einer stets verfügbaren groszen Kriegsmacht, und die Siege,
[422]Sechstes Buch. Die Statsformen.
welche durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit den
romanischen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der Cultur
des römischen States erzogen und an die Vorstellungen und
durchgreifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt
waren.
In einer Beziehung freilich machte die Institution der
Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der Erblich-
keit nämlich der königlichen Würde, neben welcher die
frühere Kur zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität
zusammenschrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der
privatrechtlichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des
States und der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne
des verstorbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter,
die ein Privatmann hinterlassen hatte. 2 Damit war aber der
politische und statsrechtliche Charakter der Thron-
folge, welcher die fortdauernde Einheit des States erhält,
gänzlich verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip,
dasz die Herrschaft im State wie ein Vermögen des Indi-
viduums und der Familie sei, d. h. dem sogenannten Patri-
monialprincip in dieser Hinsicht gehuldigt. 3
Als hauptsächliche Veränderungen in den Machtver-
hältnissen sind folgende zu erwähnen:
1. Gesetzgebung. Diese wurde überhaupt wichtiger
[423]Eilftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. D. Fränkisches Königthum.
und fruchtbarer in dem fränkischen Reiche, als vordem in
dem engen Lebenskreise einer einzelnen germanischen Völker-
schaft, und die Könige erlangten auch dort einen viel gröszern
Einflusz auf dieselbe, als sie vormals gehabt hatten. Der
römische Grundsatz, dasz jede beliebige Willensäusze-
rung des Kaisers in Rechtssachen Gesetzeskraft habe,
konnte natürlich unter dem germanischen Volke der Franken
weder Billigung noch Geltung finden; aber die in den mei-
sten Fällen maszgebende Vorbereitung der Gesetzesent-
würfe wurde nun gewöhnlich in dem königlichen Cabinette
mit Hülfe der königlichen Räthe vorgenommen, und die Ge-
setze selbst im Namen des Königs erlassen, dessen Sanction
erst den Entwürfen Gesetzeskraft verlieh.
Von gröszter Bedeutung aber war es, dasz die Be-
rathung, beziehungsweise die Zustimmung der auf den
Reichstagen versammelten geistlichen und weltlichen Groszen
der Aristokratie4 in der Sitte und in dem Rechte als
unentbehrlich betrachtet wurde für die Gesetzgebung. Die
[424]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Billigung durch das Volk selbst hatte dagegen nur noch eine
untergeordnete Bedeutung, und galt in den meisten Fällen,
insbesondere wenn es sich um statliche oder kirchliche Orga-
nisation handelte, nicht mehr als nöthig. Nur wenn das
eigentliche Volksrecht verändert werden sollte, dann wurde
auch die Gutheiszung des Volkes selbst noch erfordert. 5
In jener Mitwirkung der Optimaten ist der erste Ansatz
der ständischen Repräsentation zu erkennen, welche in
den spätern Jahrhunderten eine so groszartige Ausbildung
erlangt und den repräsentativen Stat hervorgebracht hat.
2. Regierung. Die Grösze des States und die damalige
Umgestaltung der öffentlichen Zustände machten eine Regie-
rungsgewalt, wie sie dem ältern germanischen Leben unbe-
kannt gewesen, zum unabweisbaren Volksbedürfnisz. Der Idee
für die Handhabung des Friedens und die Aufrechthaltung
des Rechts zu sorgen, gesellte sich die Rücksicht auf die
öffentliche Wohlfahrt bei. Indessen war den germani-
schen Vorstellungen das römische Imperium ein zu fremder
und unerträglicher Begriff, als dasz derselbe hätte adoptirt
werden können. Vielmehr erhob sich die neue Regierungs-
macht im Geiste der einheimischen Mundschaft (mundi-
burdium, mundium, auch sermo, verbum Regis). Diese
königliche Mundschaft verhält sich auf dem Gebiete des Stats-
rechts zu dem römischen Imperium gerade so, wie die Vor-
mundschaft des deutschen Ehemanns und Vaters zu der rö-
mischen potestas im Familienrecht. Sie ist nicht eine abso-
lute Herrschergewalt, sondern der Schutz der Rechte des
Volks und der Unterthanen und die Sorge für deren Wohl
sind die Ideen, welche sie beleben. 6 Die Vorstellung der
[425]Eilftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. D. Fränkisches Königthum.
Pflicht wird mit der des Rechts unauflösbar verbunden,
und schrankenlose Willkürgewalt nicht gestattet. Der neue
Gedanke ist freilich noch nicht nach allen Seiten klar ge-
worden, aber der Kern desselben ist gesund und einer wahr-
haft statlichen Entwicklung fähig.
Von diesem Standpunkte aus darf und soll der König
auch gebieten. Das Gebot äuszerte sich in der Form des
sogenannten Bannes. Der König hatte sowohl den Heer-
bann als den Gerichtsbann. In Folge des ersten verfügte
er über die ganze Kriegsmacht des Reiches, freilich auch hier
durch das Herkommen beschränkt und nach bestimmten Ver-
hältnissen der Kriegsdienstpflicht. Indessen riefen starke Kö-
nige, wie insbesondere Karl der Grosze, nicht blosz das lehens-
pflichtige Gefolge, sondern ganze Abtheilungen des Heerbannes
auch zu Angriffskriegen auf, und bedrohten jeden Säumigen
mit dem schweren Königsbann von 60 Schillingen Busze. 7
In dem Gerichtswesen, woran sich noch immer die Lan-
desverwaltung anlehnte, übt der König den Gerichtsbann
aus, freilich selten mehr in Person, in der Regel durch die
Gaugrafen, deren Gerichtsbarkeit aber von ihm abgeleitet
ward. Die erstarkende Statsordnung beschränkte nun die
früher in viel weiterem Umfange geübte Selbsthülfe und Rache
in Privatrechtlichen Streitigkeiten wie in Straffällen, und über
das ganze Land breitete sich der sogenannte Königsfrie-
den unter dem Schutze des Königsbannes aus und ersetzte
den vormals leichter zu störenden gemeinen Frieden.
Auch die Einkünfte der königlichen Kammer und
der Fiscus des Königs, worüber dieser nach eigenem Er-
messen frei verfügte, hatten bedeutend zugenommen. Die
6
[426]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Eroberung römischer Provinzen und die Aufhebung der alten
König- und Herzogthümer hatten die Domänen der Könige
sehr bereichert. Ueberall im Reiche gab es ansehnliche kö-
nigliche Villen, von deren Pfalzen hinwieder viele zinsbare
Güter abhingen. Die Grund- und Kopfsteuern der Provincialen
wurden beibehalten, die römischen Zölle theilweise sogar aus-
gedehnt, den besiegten Stämmen Tribute auferlegt und reich-
lichere Friedensgelder und Buszen erhoben. 8
3. Ein von dem Könige abhängiges Beamtensystem
diente nun dazu, die königliche Macht nach allen Richtungen
und auf allen Stufen der Statsordnung auf Volk und Land
einwirken zu lassen. Die obersten Reichsämter wurden nach
dem Vorbilde des byzantinischen Kaiserhofes an dem Hofe
des Königs concentrirt. Dahin gehören der Pfalzgraf (comes
palatii), welcher an des Königs Statt das oberste Richteramt
verwaltet, der Caplan (apocrisiarius, referendarius), welcher
an der Spitze der Hofgeistlichkeit steht und in kirchlichen
Dingen referirt, und der Kanzler (cancellarius), welcher der
königlichen Kanzlei vorsteht und daher auch die diplomati-
sche Correspondenz leitet. Dahin auch die eigentlichen Hof-
ämter des Kämmerers, der den königlichen Schmuck, den
Hofstat der Königin, und die Ehrengaben des Hofes besorgt,
des Seneschals, welcher die Aufsicht hat über alle Mini-
sterialen, das Gesinde und die ganze Oekonomie des Hofes,
des Kellners (buticularius), welcher die Naturalgefälle be-
zieht, und auch für die königliche Tafel den Wein besorgt,
und des Marschals (marescalcus, eigentlich „Roszknecht“),
welcher die königlichen Stallungen unter sich hat, des Haus-
meisters (mansionarius), welcher dafür sorgt, dasz der König,
wo er seinen wechselnden Hof aufschlagen will, eine würdige
Aufnahme und Wohnung finde, der vier obersten Jäger-
[427]Elftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. D. Fränkisches Königthum.
meister (venatores principales) und des Falkners (falco-
narius). 9)
Die königlichen Sendboten (missi dominici), die
jährlich mit besonderer Vollmacht nach der freien und wech-
selnden Ernennung des Königs die einzelnen Länder des wei-
ten Reichs bereisten, waren hier seine Stellvertreter. Sie
waren seine Augen, durch deren Hülfe er Einsicht erlangte
in die öffentlichen Zustände, in den Stat und in die Kirche,
seine Ohren, mit denen er die Beschwerden und Wünsche
der Bevölkerung vernahm, zuweilen auch seine Arme, durch
die er dem Gesetze Gehorsam verschaffte und der öffentlichen
Ordnung Schutz verlieh. 10)
Die Gaugrafen, welche in den Gauen die hohe, und
die Zentgrafen, welche in den Zenten die mittlere Gerichts-
barkeit ausübten, leiteten nun ihre Richtergewalt von dem
Könige ab, als dem obersten Richter auf Erden, die ersten
unmittelbar, die letztern mittelbar, ebenso ihre militärische
Gewalt; und obwohl allerdings schon unter den Nachkommen
Karls des Groszen die Neigung zur Erblichkeit der Grafen-
ämter theilweise zu einem Rechte auf Erblichkeit erwachsen
war, so galt in der noch frischen Periode der ausgebildeten
fränkischen Monarchie die Würde der Grafen als ein wahres
Reichsamt, auf dessen Besetzung dem Könige ein entschei-
dender Einflusz zukam, noch nicht als eine feste Erbherrschaft.
Als das Institut der Sendboten auszer Uebung kam, die
Herzogthümer hergestellt wurden und die Reichsämter zu Fa-
milienrechten wurden, da war es auch um die Macht des
neuen romano-germanischen Königthums geschehen, und die
Aristokratie der zahlreichen Fürsten und Herren trat an seine
Stelle.
4. Endlich ist noch die enge Beziehung des fränkischen
[428]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Königthums sowie der weströmischen Kaiserwürde, welche
durch Karl den Groszen mit demselben verbunden wurde, zu
der Ausbreitung des Christenthums und zu der christ-
lichen Kirche als eine hervorragende Eigenschaft zu er-
wähnen.
Der Stat war ein christlicher geworden und das König-
thum hatte durch Priesterhand die göttliche Weihe
empfangen, und war so geheiligt worden. 11). Der König
fühlte sich verpflichtet, für die Erhaltung und Ausbreitung
des reinen christlichen Glaubens in seinem Reiche zu sorgen,
und als Kaiser, soweit seine Macht reichte, das Heidenthum
zu vertilgen und die Ketzerei auszurotten: eine Verpflichtung,
welche Karl der Grosze in groszartigem Umfange mit Strenge
vollzog. 12) Die Christenheit selbst galt als ein zusammen-
gehöriger Körper mit zwei Ordnungen, der priesterlichen
und der königlichen, der kirchlichen und der stat-
lichen. 13) Obwohl aber der König nur das Haupt der letz-
tern war, so handhabte er doch auch dem Klerus gegenüber
die einmal erkannte christliche Ordnung. Er berief Synoden,
beaufsichtigte die Bischöfe und die Klöster, und erliesz eine
Reihe von Gesetzen und Verordnungen von kirchlichem In-
halt. Ebenso wirkte der Geist der Hierarchie hinwieder auf
die Gestaltung der politischen Einrichtungen und auf die
Rechtsgrundsätze der weltlichen Ordnung bedeutend ein. 14)
[429]Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
Zwölftes Capitel.
E. Die Lehensmonarchie und die ständische beschränkte Monarchie.
I. Lehensmonarchie.
Die fränkische Monarchie hatte zwar in ihrer organischen
Anlage alle Bedingungen einer wahren Monarchie in sich, und
insofern ist sie der Anfang einer neuen, der modernen Stats-
entwicklung. Allein die widerstrebenden Kräfte und Leiden-
schaften waren damals in der Nation noch so mächtig, und
die alten einer jeden starken Statsgewalt abgeneigten Gewohn-
heiten des Adels und der freien Germanen noch so fest, dasz
es nur ausnahmsweise einzelnen groszen Regenten gelang, den
öffentlichen Charakter des neuen Königthums und die darin
liegende Statsmacht groszartig zu entfalten. Saszen schwache
Individuen auf dem Throne, so wurde sofort die Ohnmacht
derselben spürbar und auf allen Seiten zeigten sich die Ten-
denzen zur Auflösung der Statseinheit, zur Beschränkung und
Nichtachtung der Centralgewalt, zu selbständig particulärer
Herrschaft in kleinen Kreisen.
Die Abschwächung und das Erlöschen der Karolinger
bezeichnet zugleich die Verdunkelung der königlichen Macht
und das Wachsthum der in den einzelnen Stämmen, Ländern
und Gebietstheilen sich erhebenden Fürsten- und Herren-
gewalt. An die Stelle der früheren romano-germanischen
Weltmonarchie trat nun das Lehenskönigthum. In ihm
erlangte der Charakter des Mittelalters in Vorzügen und
Mängeln einen angemessenen politischen Ausdruck.
Die hervorragenden Eigenschaften der Feudalmon-
archie sind:
1. Alles bisherige Königthum beruhte auf den Volks-
stämmen oder ganzen Nationen oder einem zur Einheit ver-
bundenen Volke. Man darf dasselbe wohl eine volksthüm-
liche oder nationale Institution nennen. Das feudale
[430]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Königthum dagegen steht zwar auch in Beziehung zu einem
bestimmten Volke, an dessen Spitze der König ist, aber es
wurzelt, wenn man auf das Wesen sieht, vornehmlich auf der
engen persönlichen Treuverbindung zwischen dem Kö-
nige als dem obersten Lehensherrn und seinen Vasallen,
welche von ihm Macht, Ehre, Vermögen ableiten. Die übrige
Masse des Volkes, soweit sie nicht in dem Lehensnexus steht,
kommt daher nur in untergeordneter Weise, nur mittelbar in
Betracht. Dieses Königthum ist somit nicht eine nationale
Institution im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine eigen-
thümliche Standesinstitution. Nicht das Volk, sondern
die Gefolgschaft ist die ursprüngliche Grundlage desselben.
2. Die persönliche Treue, von dem Glanze und der
Kraft der Ehre beleuchtet und gestärkt, wurde nunmehr zu
dem wichtigsten Statsbegriff erhoben. 1) Alle Vasallen muszten
daher persönlich dem Herrn, indem sie das Lehen von ihm —
in der Regel knieend — empfingen, den Eid der Treue und
Hulde2) schwören. Am ausgebildesten sind, wie überhaupt
das Lehenssystem, so auch diese Schwurverhältnisse in dem
Saxo-Normannischen Rechte des englischen Königreichs
bestimmt. Die eigentlichen Lehensvasallen schwören dem
Könige, ihrem Lehensherrn, knieend den Mannschaftseid3)
[431]Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
(homagium, homage) und stehend auf das Evangelium den
Treueid (fidelitas, foy, féauté). 4) Bischöfe und Aebte schwören
ausnahmweise nur den letztern. Jener ist engel als dieser
und nothwendiger an den Lehensbesitz geknüpft. Die Treue
ist allgemeiner und es kann daher auch auszerhalb des Lehens-
verhältnisses von den übrigen Unterthanen der Eid der Treue
gefordert werden, wie das schon in der Karolingischen Zeit
— freilich auch unter dem Einflusse von Feudalbegriffen —
geschehen ist. 5)
Diese Treue ist gegenseitig. Auch der Herr ist dem
Vasallen zur Treue verpflichtet, nur die Ehrerbietung, die
der Mann dem Herrn schuldet, hat dieser nicht ebenso zu
erwiedern. 6)
[432]Sechstes Buch. Die Statsformen.
3. Das Streben der Lehensmonarchie, alle Unterthanen
in ein Vasallenverhältnisz hinein zu ziehen, hat auch eine
dingliche Beziehung auf den Boden. In diesem Sinne suchten
die ersten englischen Könige von normännischem Geschlechte
ein Obereigenthum des Königs über das ganze Land zur
Anerkennung zu bringen, in Folge dessen nicht blosz die
hergebrachten oder neu verliehenen Lehengüter, sondern auch
die freien Eigengüter in dem Rechtssystem als von dem Könige
abgeleitet erklärt wurden. Das Volksrecht des freien Eigen-
thums am Boden wurde so in das Lehensrecht des abhängi-
gen Grundbesitzes (tenure) umgewandelt. 7 Das aber ist
ein allgemeiner Charakterzug der Feudalmonarchie, welcher
in der englischen Rechtsgeschichte besonders klar erscheint. 8
4. Ganz parallel dieser stufenweisen Ableitung des Grund-
besitzes von dem Obereigenthum des Königs geht in dem
6)
[433]Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
Lehenssystem die stufenweise Ableitung jeder stat-
lichen Gewalt von der königlichen Gewalt. Der
König selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott
zu Lehen empfangen. 9 Wie die Planeten ihr Licht von der
Sonne bekommen, so erhalten die niederen Herren sodann
ihre Herrschaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige. 10
Sie erhalten die Gewalt, aber nicht etwa als blosze öffentliche
Beamte des States, als Organe der Regierung, sondern je für
ihre besonderen und abgegrenzten Kreise zu eigenem Recht
und Genusz, wie sie die Lehensgüter zu eigener Verfügung
und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung politischer
Befugnisse mit privatrechtlicher Selbständigkeit,
und sogar die erbliche Verbindung der verschiedenen Stufen
der Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grund-
besitz sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems.
Der König kann daher weder sich weigern, dem erbberech-
tigten Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in
die Sphäre der verliehenen Herrschaft eingreifen, und sei es
bestimmend, sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis
der Gewalt ist in sich abgeschlossen und wesentlich selb-
ständig.
Die Einheit der Statsgewalt ist daher in dem Lehen-
state fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt,
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 28
[434]Sechstes Buch. Die Statsformen.
durchzugreifen, so erheben sich oft unübersteigliche Schwie-
rigkeiten. Die besondere Macht der grossen und kleinen Va-
sallen setzt sich wider die allgemeine Statsmacht, und statt
diese zu vermitteln, tritt sie ihr entgegen und hemmt ihre
Wirkungen. Das nationale Leben wird so gespalten in eine
Mannichfaltigkeit particulärer Gestaltungen, die Eine Stats-
macht aufgelöst in eine Vielheit beschränkter Herrlichkeiten.
Dem individuellen Willen und der individuellen Neigung, be-
sonders der Magnaten des Landes, wird ein freier Spielraum
auf dem politischen Gebiete eröffnet, und ein bunter Reich-
thum der Formen und Einrichtungen entfaltet; aber der Zu-
sammenhang des Ganzen ist überall durchbrochen, und der
Stat selbst gebunden. Die Aristokratie nur ist stark
und frei, das Königthum zwar an Ehren reich an
Macht aber arm und das Volk in der naturgemässen Ent-
wicklung seiner Kräfte auf allen Seiten gehemmt. Je
ferner die Volksclassen von dem Centrum dieses States, von
dem obersten Lehensherrn stehen, desto drückender wird für
sie das Gewicht der in der Mitte liegenden Herrschaftsrechte,
und desto lästiger auch die Willkür der kleinen Herren.
Die beiden Hauptbestandtheile der germanischen obrig-
keitlichen Gewalt, der Heerbann und der Gerichtsbann,
wurden so unter die zahlreichen Herren und Vasallen ver-
theilt. Die eigentliche Regierungsgewalt aber wurde in
Vergleich mit den Grundsätzen der fränkischen Monarchie
wieder vermindert und mehr als früher beschränkt. Die ganze
Verfassung war wesentlich eine aristokratische geworden,
obwohl sie mit einer monarchischen Krone geschmückt war.
Die französischen Könige aus dem Kapetingischen Geschlechte
ragten nur wenig über die Seigneurs hervor; 11 auch die deut-
[435]Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
schen Könige waren im Innern des deutschen Reiches vielfach
gelähmt durch die Macht der Fürsten. Nur ausnahmsweise,
wo besonders günstige oder drängende Verhältnisse eine Ab-
weichung veranlaszten, konnte sich eine stärkere Central-
macht der Könige erhalten; wie in England nach dem Siege
der Normannen, wo das Interesse der Sicherheit den norman-
nischen Adel nöthigte, sich enger an den König anzuschlieszen,
und das Bedürfnisz der neu begründeten Dynastie, sich zu
erhalten, eine energischere Entfaltung der königlichen Macht
erforderte.
5. Guizot hat die Frage aufgeworfen, 12 woher es komme,
dasz die feudale Statsordnung nicht erst in den Zeiten ihres
Verfalls, sondern selbst in der Periode ihrer höchsten Blüthe
fortwährend von der Abneigung des Volkes begleitet worden
sei. Den Hauptgrund für diese Erscheinung stellt er so dar:
„Der Feudalismus war eine Verbündung kleiner Herren, kleiner
Despoten, die unter sich ungleich und durch mancherlei Rechte
und Pflichten verknüpft, jeder auf seinen eigenen Gütern
über ihre persönlichen und unmittelbaren Unterthanen eine
willkürliche und absolute Gewalt besaszen. — Von allen Ty-
ranneien aber ist die die schlimmste, welche ihre Unterthanen
bequem überzählt und von ihrem Wohnsitz aus die Grenzen
ihres Gebiets überblickt. Die Launen menschlicher Willkür
entfalten sich dann in unerträglicher Sonderbarkeit und mit
unwiderstehlichem Nachdruck. Die Ungleichheit des Standes
macht sich dann auch in schroffster Weise fühlbar. Reich-
thum, Macht, Unabhängigkeit, alle Vorzüge und Rechte werden
jeden Augenblick dem Elend, der Schwäche, der Knechtschaft
gegenüber gestellt. — In diesem System war der Despotismus
so grosz als in der reinen Monarchie, waren die Privilegien
nicht geringer als in der engsten Aristokratie, und beide
stellten sich in der beleidigendsten und rohesten Form dar.
[436]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Der Despotismus war nicht gemildert durch die Entfernung
und die Erhabenheit des Thrones, die Privilegien waren nicht
verschleiert unter der Majestät einer groszen Körperschaft.
Beide gehörten einem Individuum, das immer gegenwärtig
und immer allein, nur ein Nachbar seiner Unterthanen war.“
In dieser Schilderung ist eine Wahrheit. Aber in vollem
Umfang gilt sie doch nur von Frankreich, nicht von allen
mittelalterlichen Lehensstaten. Das Lehenssystem war keines-
wegs überall verhaszt, wo es bestand, und die Anhänglich-
keit auch der Bauern an ihre Herren durchaus nicht selten.
Auch ist es nicht eine Eigenschaft dieses Systems, dasz dem
Herrn über seine Unterthanen eine „willkürliche und absolute
Gewalt“ zustehe, sondern wo dieselbe behauptet und geübt
wurde — und das mag nicht blosz in Frankreich sehr häufig,
sondern auch anderwärts nur zu oft vorgekommen sein —,
geschah das im Widerspruch mit dem System, welches von
oben bis unten lauter abgeleitete und in sich selbständige
Kreise von Rechten aufstellte. Auch die hörigen Leute hatten
ihr festes erbliches Recht; die Lasten derselben durften nicht
nach Belieben des Herrn vermehrt oder beschwert, über ihre
Person nicht anders als nach dem Herkommen und der guten
Gewohnheit der Höfe disponirt werden. Das Hofrecht in
den untersten Kreisen war eben so genau abgegrenzt und
wurde ganz analog geschützt, wie das Lehensrecht in den
höhern. 13
Aber auch abgesehen von den zahlreichen Ueberschrei-
tungen der Herrenrechte, lag allerdings in der Nähe und
Kleinheit der Herrschaften und in der groszen Schwie-
rigkeit, fast Unmöglichkeit für die Unterthanen, sich dem
nahen und jede freiere — nicht schon durch das Her-
kommen geheiligte — Bewegung hemmenden Drucke
[437]Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
derselben zu entziehen, eine der schlimmen und ge-
hässigen Eigenschaften des Feudalismus.
6. Der Lehensstat kann vorzugsweise ein Rechtsstat ge-
nannt werden. Das Statsprincip der öffentlichen Wohlfahrt
ist verdunkelt, die Abgrenzung der mancherlei politischen
Rechte aber genau bestimmt; diese selbst sind ähnlich wie
Privatrechte dem Willen des Berechtigten und sogar dem ge-
wöhnlichen Rechtsverkehr des Kaufes, Tausches, der Ver-
gabung, Verehrung u. s. f. preisgegeben. Der Schutz dieser
Rechte wird groszentheils in Form des gerichtlichen Processes
gehandhabt, oder gar der erlaubten Selbsthülfe in den Fehden
überlassen. Auf der einen Seite eine starre festgegliederte
Rechtsordnung, welche wohl den Individuen, nicht
aber der Gesammtheit, wohl den einzelnen Corporationen und
Stiftungen, aber nicht der Nation und ihren Kräften Freiheit
gewährt, auf der andern ein fortgesetzter innerer Krieg,
und eine immer wiederkehrende Anarchie, das sind
die beiden entgegengesetzten Erscheinungen, welche wie die
beiden Gesichter des Januskopfs mit dem mittelalterlichen
Lehensstate verwachsen sind.
II. Ständische beschränkte Monarchie.
Die Lehensmonarchie ging allmählich während des Mittel-
alters in die Form des ständisch beschränkten Fürsten-
thums über, welches die mittelalterliche Vorstufe der reprä-
sentativen Monarchie unserer Tage geworden ist. Diese Stats-
form wurde ungefähr seit 1240 herrschend in den meisten
europäischen Staten und dauerte drei Jahrhunderte fort, bis
sie sich im XVI. Jahrhundert in die absolute Monarchie um-
wandelte.
Der König oder der Landesfürst leitet noch seine Gewalt
von der Verleihung ab des höheren Herrn, zu oberst Gottes
und er betrachtet dieselbe wie ein ihm und seiner Dynastie
zugehöriges Eigenthum. In dem Bereich der fürstlichen Macht
fühlt er sich als Herr und duldet keinen Widerspruch gegen
[438]Sechstes Buch. Die Statsformen.
seine Willkür. Aber dieser vorbehaltene Bereich seiner
Willkürmacht war eng begrenzt. Ueberall stiesz er auf stän-
dische, körperschaftliche und Privatrechte, welche er ebenso
zu achten genöthigt war, wie er Achtung seiner fürstlichen
Rechte forderte. Jeder Berechtigte vertheidigte im Nothfall
sein Recht, sei es mit gewaffneter Hand wider die Gewalt,
sei es vor den Gerichten im Procesz.
Ein Gesetzgebungsrecht hatte der König für sich
allein nicht. Nur mit Beirath und Zustimmung der Reichs-
stände konnte der König, nur mit Einwilligung der Land-
stände konnte der Landesherr neue gesetzliche Ordnungen
erlassen und einführen.
Die Regierungsgewalt war noch wenig entwickelt und
sehr beschränkt. Einen Beamtenkörper, der vom Haupt aus
beherrscht und bewegt wird, gab es nicht. Die Kronvasallen,
denen die königlichen Rechte verliehen waren, übten die-
selben innerhalb ihrer Herrschaften zu eigenem Rechte selb-
ständig aus. Die Hofämter waren an Vasallen und Ministe-
rialen meistens zu erblichem Rechte vergeben und dienten dem
Herren nur nach den herkömmlichen Formen, eher dem Scheine
nach als in Wahrheit. Die Hofsitte, die ständische Ueber-
lieferung, der Familiengeist wirkten stärker als das Gefühl
der gesetzlichen Pflicht und der Statsgeist. Die Landstände,
in denen die aristokratischen Classen das Uebergewicht hatten,
übten durch ihre Beschwerden und Erinnerungen eine oft
lästige Controle aus über die fürstliche Regierung. Nicht
selten verfolgten sie die fürstlichen Räthe und verlangten
deren Entlassung oder Bestrafung. Zuweilen forderten sie
die Bevormundung des Fürsten und eine Mitregierung durch
ihre Vertrauensmänner.
Der Fürst war zwar noch der oberste Richter und
sasz noch zuweilen selber auf dem Stuhle des Richters. Aber
das Urtheil fanden die Schöffen und er durfte nur den Spruch
vollziehen, den die Schöffen gefunden hatten. Er selber war
[439]Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
an die Rechtsordnung gebunden und auch er konnte verklagt
werden, wenn er Unrecht verübte. Nach alter germanischer
Sitte richtet der Stellvertreter eines jeden Gerichtsherrn über
diesen, wenn er verklagt wird. So war sogar der deutsche
König, obwohl er römischer Kaiser und der oberste weltliche
Herr der Christenheit war, unter gewissen Voraussetzungen
genöthigt, vor seinem Stellvertreter, dem Pfalzgrafen bei Rhein
Rede zu stehen und sich dem Urtheil der Fürstengenossen zu
unterziehen. So richtete der Schultheisz über den Landgrafen.
Die Policeigewalt war wenig ausgebildet und gewöhn-
lich mit dem Richteramt verbunden. Eine Gensd'armerie gab
es noch nicht. Der ganze bureaukratische Apparat der heu-
tigen Policeiverwaltung fehlte.
Selbst die Heeresgewalt des Fürsten war durch das
nachwirkende Lehensrecht sehr beschränkt. Der Gehorsam
der aristokratischen Vasallenheere war enge begrenzt und be-
messen. Die Kriegsfolge der Vasallen wurde wie eine Guts-
last des Lehensgutes betrachtet und vor jeder energischen
Anspannung sorglich verhütet.
Die deutschen Könige haben es erfahren, wie schwer der
eigenwillige Trotz mächtiger Herzoge zu bändigen und wie
wenig verlässig die Treue der Reichsfürsten gegen das Reichs-
haupt war.
Die Könige und Landesherrn konnten wohl daneben auch
Soldtruppen werben und sie thaten es, um ein gefügigeres
und willfähriges Werkzeug der Gewalt sich zu schaffen. Aber
diese Söldner muszten von den Fürsten bezahlt werden, und
wenn die Landstände dafür keine Steuern bewilligten, wozu
sie nicht geneigt waren, so muszte der Sold aus dem fürst-
lichen Kammergute bestritten werden. Die Fürsten waren
daher oft genöthigt, Schulden zu machen und geriethen dann
in financielle Noth. Ueberdem wurden oft fremde Lands-
knechte als Söldner angeworben und diese machten hinwieder
den Fürsten dem Lande verhaszt, das sie knechteten.
[440]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Ein Recht Steuern zu erheben, kam dem Fürsten nur
unter der Bedingung zu, dasz die Stände zuvor das Bedürf-
nisz der Steuern anerkannt und die Erhebung der Steuer be-
willigt hatten. Die aristokratischen Stände waren aber nicht
geneigt, Steuern zu bewilligen. Manche Steuern waren mit
der Zeit zu Reallasten geworden, welche hauptsächlich die
Bauergüter belasteten, aber eben darum auch unveränderlich.
Auch in dieser Hinsicht gebrach es an einem allgemeinen
Pflichtgefühl der Stände und der Privaten gegen den Stat.
Dreizehntes Capitel.
F. Die neuere absolute Monarchie.
Aus der mittelalterlichen ständischen beschränkten Mon-
archie ging die moderne Repräsentativmonarchie nicht
unmittelbar hervor als die statliche Ordnung der neuen Zeit.
Im Kampfe mit den Ständen erstarkte vorerst eine neue ab-
solute Monarchie. Die sämmtlichen germano-romanischen
und die germanischen Völker Europa's muszten erst das
letztere Statssystem wieder erfahren, bevor es zu der Bildung
der neuen Statsform kam.
Am frühesten zeigt sich diese Entwicklung und am hef-
tigsten tritt der Absolutismus hervor in Frankreich und in
Spanien. Je stärker die germanischen Elemente in einer
Nation waren, desto weniger konnte es den Königen gelingen,
eine den germanischen Rechtsbegriffen völlig fremde und zu-
widerlaufende absolute Gewalt zum geltenden Statsprincip zu
erheben. Dagegen waren dieser die römischen Traditionen,
die nun in Wissenschaft und Leben wieder wach wurden,
durchaus günstig.
Schon seit dem zwölften Jahrhunderte, als noch die Seig-
neurs des üppigen Machtgenusses sich erfreuten, arbeiteten
[441]Dreizehntes Cap. II. Monarch. Statsformen. F. Neuere absol. Monarchie.
die französischen Legisten (so wurden die römischen
Rechtsgelehrten genannt) mit Kühnheit und Einigkeit daran,
die französische Monarchie auf die alten Grundlagen des rö-
mischen Kaiserreichs zurückzuführen. Sie gründeten eine
theoretische und practische Schule des Regiments, deren
oberster Grundsatz die Einheit, die Untheilbarkeit und
die absolute Statsgewalt des Königthums war, welche sie
unter dem Ausdruck der souveränen Gewalt zusammen-
faszten. Von da aus behandelten sie die Herrschaften und
Gerichtsbarkeiten der Groszen und ihrer Vasallen wie An-
maszungen und Miszbräuche, die zu Gunsten des Königs und
des Volks aufzuheben, oder mindestens so sehr als möglich
zu beschränken seien. Sie stellten die französischen Könige
als Nachfolger der römischen Imperatoren dar, und indem sie
die römische Gesetzgebung als die wahre priesen, behandelten
sie die feudalen Rechtsgewohnheiten mit Geringschätzung. 1
Es dauerte freilich noch Jahrhunderte, bis diese Theorien in
die Praxis eindrangen und die Herrschaft der Seigneurs wirk-
lich gebrochen wurde. Aber der innere Kampf hörte nicht
mehr auf, bis der ganze reich gestaltete Lehensstat von Grund
aus zusammenstürzte, dann aber auch in seinen Sturz die
inzwischen mächtig gewordene absolute Monarchie mit ver-
wickelt wurde.
Der Satz des römischen Kaiserrechts: „Quod principi pla-
cuit, legis habet vigorem“ wurde wieder aus dem Alterthum
hervorgeholt und als nothwendiges Statsprincip verkündigt. 2
[442]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Er ging in das französische Rechtssprichwort über: „Qui veut
le roi, si veut la loi.“ War einmal das Recht der Gesetz-
gebung in dem Könige concentrirt, und wurde dasselbe diesem
in unbeschränkter Weise eingeräumt, so konnten von da aus
die Hemmnisse, welche das Lehenswesen und die ständischen
Rechte der vollen Entwicklung der Statsgewalt, des nationalen
Geistes und der öffentlichen Wohlfahrt entgegensetzten, ent-
fernt werden. Die von der neuen Rechtsgelehrsamkeit ge-
leitete Praxis der Gerichte, besonders der königlichen Parla-
mente, half im einzelnen kräftig mit, dieser Richtung den
Sieg zu bereiten. Die öffentliche Meinung, zunächst in den
Städten, in welchen die römische Cultur einen uralten Wohn-
sitz hatte und welche von den Einflüssen des Lehensrechtes
freier geblieben waren, war der veränderten Rechtsansicht
günstig. Sie haszte die kleinen Herren viel mehr, als sie
den nationalen König fürchtete; und die Fortschritte der
städtischen Gewerbe in Handel und Handwerk schienen durch
die Demüthigung und Schwächung der Lehensherren nur ge-
fördert zu werden. Auch die Bauern konnten eher gewinnen
als verlieren, wenn die Macht des Königs über ihre Bedränger
zunahm.
Seit Ludwig XI. 3 (1462-1483) war das Uebergewicht
der königlichen Gewalt über die Lehensherrschaft in Frank-
2
[443]Dreizehntes Cap. II. Monarch. Statsformen. F. Neuere absol. Monarchie.
reich, seit Philipp II. (1556-1598) in Spanien entschieden.
In Frankreich kamen freilich von Zeit zu Zeit Reactionen
dagegen vor; in Spanien blieb der Absolutismus sicherer, und
hatte einen finsterern und grausameren Charakter. Es erregt
ein Grauen, wenn man sich daran erinnert, dasz Philipp II.
das ganze Volk der Niederländer, über welches ihm nur be-
schränkte Herrschaftsrechte zustanden, als Verbrecher zu ver-
urtheilen wagte. Erst unter Ludwig XIV. hatte in Frank-
reich die absolute Gewalt des Königthums ihren Höhepunkt
erstiegen, von wo aus sie jählings dem Abgrunde der Revo-
lution entgegenstürzte. Sein Beispiel ahmten dann die deut-
schen Dynastien nach, die groszen und die kleinen. 4 Es
wurde wieder erlebt, dasz ein christlich-europäischer Monarch
ein ganzes Volk, dessen Oberhaupt zu sein er sich überdem
nur angemaszt hatte, dasz Joseph I. von Oesterreich die
Bayern zum Tode verurtheilte, und sich dabei gar auf gött-
liches Recht berief. 5
Den politischen Grundgedanken dieses neuen Abso-
lutismus hat Ludwig XIV. mit einer staunenswerthen Nai-
vetät in dem bekannten Satze ausgesprochen: „L'état c'est
[444]Sechstes Buch. Die Statsformen.
moi.“ („Der Stat bin ich.“) Der König betrachtete sich nicht
mehr als das Oberhaupt des States, welches selber nur ein
— wenn auch das oberste und mächtigste — Glied des ge-
sammten Statskörpers ist, sondern er identificirte seine Person
und den Stat vollständig, so dasz es auszer ihm keine andern
berechtigten Statsglieder mehr gab. Es gab keine Statswohl-
fahrt auszer seiner persönlichen Wohlfahrt, kein Statsrecht
auszer seinem individuellen Recht. Er war Alles in Allem,
auszer ihm war Nichts.
Diese völlige Verwechslung des Königthums mit dem
State — wohl zu unterscheiden von der Personification der
statlichen Majestät in dem Könige — war um so bedenklicher,
als während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, als dieselbe
Mode geworden, zugleich die Theorie von der Statsallmacht
aufkam. Während des Mittelalters war der Stat durch eine
unendliche Menge fester und abgeschlossener Rechtskreise
zerklüftet und jeder durchgreifenden Macht beraubt worden.
Nun machte die Theorie den Sprung in das Gegentheil, und
liesz gar keine selbständige, der Willkür und der Einwirkung
des States entzogene Rechtssphäre mehr gelten. Selbst das
Privatrecht wurde als ein Product des States aufgefaszt, und
dem Belieben der Statsgewalt preisgegeben.
Die Stats- und Rechtswissenschaft jener Zeiten
hat an dem Schaden, den diese Theorien gestiftet, einen
groszen Antheil. Die einen billigten und unterstützten die
unnatürliche Anmaszung der absoluten Könige mit Schein-
gründen, die andern traten derselben nicht entgegen, wie die
Pflicht gebot. Aber nicht minder schwer haben sich die da-
maligen Theologen (bald jesuitische, bald hochkirchliche
oder orthodoxlutherische Hoftheologen) versündigt, welche die
christliche Idee der Göttlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt
dahin entstellten, dasz sie in gewissem Sinne die Könige als
unmittelbare und vollkommene Repräsentanten und Inhaber
der göttlichen Weltregierung auf Erden, als irdische Götter
[445]Dreizehntes Cap. II. Monarch. Statsformen. F. Neuere absol. Monarchie.
ausgaben. Weil Gott unumschränkter Herr der Welt ist, die
er geschaffen hat, und die er mit seinem Geiste erfüllt und
erhält, so sollten die Könige auch unumschränkte Herren der
Völker sein, die sie nicht geschaffen haben, und die sie nicht
zu erfüllen noch zu erhalten vermögen. Es kam, wie in den
Zeiten der römischen Imperatoren, wieder dahin, dasz die
Könige es liebten, sich auch mit der Gottheit zu identificiren.
Man weisz wie gern Ludwig XIV. den Jupiter gespielt hat, was
freilich in heidnischer Form eher anging als in christlicher.
Unmittelbar neben dieser Allmacht des Absolutismus,
welche nun durch die Theorie dem Monarchen zugesprochen,
und auch in wichtigen Beziehungen practisch geübt wurde,
offenbarte sich freilich von Zeit zu Zeit die völlige Ohn-
macht der absoluten Könige. Es geschah nicht selten, dasz
Fürsten, welchen Schmeichelei und knechtischer Sinn eine
schrankenlose Gewalt beimaszen, selber zu willenlosen Dienern
des Ehrgeizes ihrer Günstlinge oder der Herrschsucht und Aus-
schweifung ihrer Maitressen erniedrigt wurden. Alles hing
ja von der Persönlichkeit des Monarchen ab. War er ein
hervorragendes Individuum, welches die dictatorische Gewalt
mit Energie und Geist zu handhaben verstand, wie Lud-
wig XIV. selbst, bevor das Alter und der Genusz seine
Kräfte aufgezehrt hatten, so mochte er wenigstens den Schein
der Allmacht erhalten. Auf die Dauer konnte aber selbst ein
solcher Mann nicht auf so schwindlicher Höhe feststehen. 6
[446]Sechstes Buch. Die Statsformen.
War er eine schwache Natur wie Karl II. von England, Fer-
dinand VII. von Spanien, oder Ludwig XV. von Frank-
reich, so schwelgten andere in der Willkür, die dem Könige
allein vorbehalten, seinen Händen aber entwunden war. Die
Völker aber versanken überall in namenloses Elend. Wer
die Wirkungen der Absolutie in dem civilisirten Europa kennen
lernen will, der studire die spanischen oder italischen oder
österreichischen Geisteszustände von 1540 bis 1740. 7
Uebrigens standen dieser Anmaszung auf dem alten Boden
der europäischen Verhältnisse so viele Ueberlieferungen wider-
strebender Rechtsansichten und so bedeutende und feste In-
stitutionen entgegen, dasz es doch nirgends zu einer voll-
ständigen und bleibenden Geltung eines Statsprincips kam,
welches den asiatischen Despotien gemäsz, dem europäischen
Leben aber fremd war. Als in England die restaurirte Dy-
nastie der Stuarts auf ähnliche Abwege gerieth, und Jakob II.
versuchte, die uralten und verbrieften Rechte des Parlaments
und die neuere Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse nach
Willkür zu verletzen, als er das Beispiel Ludwigs XIV. eigen-
sinnig nachahmte, und selbst den gesetzlichen Widerstand
der loyalen Freunde des Thrones und der Verfassung mit
Verachtung behandelte, da büszte er die verwirkte Herrschaft
ein, und die Vereinigung Wilhelms von Oranien, des
gröszten Statsmannes und Fürsten dieser Zeit, mit dem eng-
lischen Volk hatte die feste Begründung des modernen Re-
präsentativsystems zur Folge.
Die zweimalige und entscheidende Niederlage der abso-
luten Monarchie in England hat zwar nicht sofort den Unter-
gang dieses Verfassungssystems in Europa nach sich gezogen.
Aber die Zuversicht in dasselbe ward erschüttert und all-
[447]Dreizehntes Cap. II. Monarch. Statsformen. F. Neuere absol. Monarchie.
mählich reifte diese Statsform auch auf dem Continent dem
sicheren Untergange zu. Ihr Princip wurde von der freieren
Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts verworfen. Diese
Philosophie bestieg mit Friedrich II. den Thron eines auf-
strebenden States und verkündete nun laut vom Throne den
entgegengesetzten Satz: der König ist nicht der Eigenthümer
des Landes, noch der Herr des Volkes, nicht der Stat, son-
dern der „oberste Diener des Stats.“ Das Princip der
absoluten Monarchie war schon vor der französischen Revo-
lution überwunden. Dem Sturme der Revolution vermochte
sie nicht mehr zu widerstehen. Trotz mancherlei Schwankungen
erlag sie schlieszlich in allen Staten des civilisirten Europas
dem freieren Volksbewusztsein.
Nur in dem europäischen Orient, in Ruszland 8 hat die
absolute Monarchie gegenwärtig noch Bestand. Da sagt die
religiöse Begründung der nationalen Denkweise eher zu als
im Occident, und für das unermessliche Reich, dessen Cultur
noch zurück und unter Nationen, deren Bildung noch auf
einer tiefen Stufe ist, bedarf es einer gewaltigeren Central-
macht. Die gröszten Reformen, wie voraus die heutige Be-
freiung des Bauernstandes von der Leibeigenschaft, sind da
noch kaum anders als durch den allein entscheidenden Willen
des Kaisers durchzuführen. Die Aristokratie würde dieselben
schwerlich fördern, ein gebildetes und freies Bürgerthum
existirt nicht als eine sociale oder politische Macht. Der
unteren Masse aber fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit, in
der Gemeinde und in Einungen der Berufsgenossen sich selber
zu helfen, wohl aber an der Fähigkeit, an der Bestimmung
[448]Sechstes Buch. Die Statsformen.
der Politik und an der Gesetzgebung einen erheblichen An-
theil zu nehmen. Sie wirkt wie die Materie durch ihre
Schwere.
Vierzehntes Capitel.
G. Die constitutionelle Monarchie.
1. Die Entstehung und Verbreitung der constitutionellen
Monarchie.
Die constitutionelle Monarchie ist zwar die Frucht der
neuen Zeit. Aber der Keim, dessen Wachsthum vorhergehen
muszte, bevor diese Frucht reifen konnte, ist, wie Montes-
quieu richtig bemerkt hat, schon „in den Wäldern der ger-
manischen Vorzeit“ zu finden. Der erste grosze, aber noch
unreife Versuch zu der Statenbildung, welche wir nunmehr
als die constitutionelle bezeichnen, wurde in den Reichen
gemacht, die auf römischem Boden von germanischen Fürsten
gegründet wurden, als zuerst römische Statsideen sich mit
germanischen Rechten vermählten.
Dann folgte die Lehensmonarchie und das ständische
Fürstenthum mit ihrer mächtigen Aristokratie. Die Einheit
des States aber ging verloren. Die Wohlfahrt des Volkes ver-
kümmerte, das Königthum war voller Glanz und Ehre, aber ohne
Macht. Und wieder erhob sich der nationale Zug nach Einheit,
wieder wurde der germanische Feudalstat durch römische Stats-
principien beleuchtet und befruchtet. Auch die Völker regten
sich wieder; aber voraus langten die Fürsten nach dem eiser-
nen Scepter der absoluten Gewalt. Die Kämpfe der Stände
begannen, unter einander und mit den Fürsten. Als das
Mittelalter wich, da fing die moderne Statsverfassung an
zu zeitigen. Im Groszen ist sie das Ziel einer mehr als
tausendjährigen Geschichte, die Vollendung des romano-
[449]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
germanischen Statslebens, d. h. der eigentlichen euro-
päischen Statscultur.
I. Zuerst kam diese Statsform in England zur Ausbil-
dung. Langsam reifte sie heran in der groszen Geschichte
dieses Inselreiches, langsam, aber in stäter und sicherer Ent-
wicklung. In keinem europäischen Lande hatte das König-
thum während des Mittelalters seine centrale Macht so un-
versehrt erhalten wie in England, in keinem aber auch wurden
die Rechte und die Freiheiten des Adels und des Volkes so
männlich vertheidigt und so fest begründet, wie dort.
Auch die englische Nation ist von den erschütternden
Fiebern der Revolution nicht verschont geblieben. Zwei grosze
Revolutionen drohten dem ganzen englischen Statsgebäude den
Untergang. Die erste, um die Mitte des XIII. Jahrhunderts,
war der Versuch der Aristokratie, die Statsregierung dem
Könige wegzunehmen und in ihre Gewalt zu bringen. Das
war der Sinn der „Provisionen“ von Oxford von 1258,
welche dem besiegten Könige Heinrich III. von dem Grafen
Leicester aufgenöthigt wurden. 1 In der zweiten groszen
Revolution, welche aus dem Kampfe Karls I. mit dem langen
Parlament in der Mitte des XVII. Jahrhunderts hervorbrach,
ward für einige Zeit das Königthum sammt der Aristokratie
von der fanatisirten Volkspartei der demokratischen Pu-
ritaner beseitigt (1649).
Aber beidemale dauerte die Krankheit nicht so lange,
dasz sie den Statskörper auf die Dauer schwächte. Sie war
auch, obwohl äuszerlich in heftigen Symptomen sich offen-
barend, innerlich nicht so mächtig, um dem Leben der Nation
eine fremde Richtung zu geben. Beidemale erholte sich Eng-
land rasch von der Erschütterung und der historische Zu-
sammenhang mit der Vergangenheit ging nicht verloren, die
Entwicklung der Nation blieb eine organische und nor-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 29
[450]Sechstes Buch. Die Statsformen.
male. Sie machte sogar beidemale die entschiedensten Fort-
schritte. Von der ersten aristokratischen Revolution datirt die
Berufung der Abgeordneten der Städte zum Parlament
(zuerst 1264), die Anlage des spätern Unterhauses. Die
zweite fand ihren definitiven Abschlusz in der Begründung
des modernen Königthums im Jahr 1689. Von da an
kommt die eigentliche constitutionelle Monarchie als
eine nationale Institution zur Erscheinung. 2
[451]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung
etc.
Die constitutionelle Monarchie nimmt gewissermaszen alle
andern Statsformen in sich auf. Sie gewährt die gröszte
Mannichfaltigkeit, ohne die Harmonie und Einheit des Ganzen
zu opfern. Sie gibt der Aristokratie freien Raum zur
Uebung ihrer Kräfte und zur Aeuszerung ihrer Gesinnung auf
nationalem Felde. Sie legt auch der demokratischen
Richtung des Volkslebens keine Fesseln an, sondern verstattet
ihr freie Bewegung. Ja selbst ein ideokratisches Element
findet sich in ihr anerkannt in der Verehrung der Gesetze.
Alle diese verschiedenen Richtungen sind aber durch die
Monarchie, als das lebendige Haupt der gesammten Stats-
ordnung, in dem rechten Verhältnisz gehalten und zur Ein-
heit verbunden.
Auch die englische constitutionelle Monarchie der neuern
Zeit hat übrigens ihre Entwicklungsstufen. Schon der Zeit
des Königs Wilhelm von Oranien gehören folgende Haupt-
momente an:
1) Die principielle Verwerfung des absoluten König-
thums als einer verfassungswidrigen Anmaszung, welche nicht
zu dulden und gegen welche der Widerstand berechtigt sei.
2) Die Anerkennung, dasz das königliche Recht ebenso
ein menschliches und durch die verfassungsmäszige
Ordnung begrenztes Recht 3 sei, wie das Recht der
Lords und
der Gemeinen im Parlament und wie die gesetzlichen Frei-
heiten der einzelnen Engländer, im Gegensatz zu den my-
stischen Vorstellungen der orthodoxen Theologen, welche in
dem Königsrechte etwas specifisch göttliches verehrten, die
man — abgesehen von ihrer religiösen Rechtfertigung — nicht
mehr als Statsprincip gelten liesz.
[452]Sechstes Buch. Die Statsformen.
3) Die urkundliche Aussprache und Sicherung der
parlamentarischen Rechte und der Volksfreiheiten in
der sogenannten Declaration of Rigths von 1689 und die Ver-
bindung dieser Erklärung mit der Ordnung der Thronfolge,
so dasz das Königthum nicht mehr losgetrennt von jenen
Rechten und Freiheiten, sondern nur im Zusammenhange
damit zu denken war.
4) Die Unverantwortlichkeit der Könige wurde zwar
als verfassungsmässige Regel beibehalten, aber durch den
vollzogenen Bruch der Stuartischen Legitimität unverkennbar
die Zulässigkeit der Ausnahme behauptet, wenn es
zwischen dem Könige und der Nation zu einem unversöhn-
lichen Widerstreite komme.
5) Die ausgebildete auch politische Verantwortlich-
keit der Minister gegenüber den Häusern des Parlaments,
so dasz dem Unterhause die Klage, dem Oberhaus das Ge-
richt zusteht.
6) Die Mitwirkung des Parlaments an der Gesetz-
gebung.
7) Sein Recht der Steuerbewilligung und seine Theil-
nahme an der Ordnung des Statshaushalts.
8) Seine Controle der gesammten Regierungsweise und
Statsverwaltung.
9) Die volle Unabhängigkeit und die ausgedehnte
Befugnisz der richterlichen Autorität, gestützt auf die Theil-
nahme der Geschwornen aus dem Volk.
10) Die Freiheit der Presse und der politischen
Versammlungen und die daherige Kritik und Controle der
öffentlichen Meinung.
Den Königen aus dem Hause Hannover wurde es freilich
sehr schwer, diese Grundsätze sammt ihren Consequenzen zu
verstehen. Aber die Macht der Verhältnisse nöthigte auch
die widerstrebenden Neigungen der Dynastie und des Hofes
zur Anerkennung der freien Verfassung. Dem Einflusz des
[453]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung
etc.
Prinzen Albert von Koburg ist es vorzüglich zu verdanken,
dasz auch die Gesinnung der gegenwärtigen Königsfamilie
rückhaltslos verfassungsmäszig geworden ist und das König-
thum hat an Ansehen und Macht nicht eingebüszt, seitdem
es die Vorurtheile der dynastischen Tradition abgestreift hat
und zum wahren Volkskönigthum geworden ist.
Der englische König ist sich bewuszt, dasz er nicht seinen
Eigenwillen, sondern den Statswillen darstelle und voll-
ziehe. Daher haben die Minister und da die englischen Minister
vorzugsweise in dem Vertrauen des Parlaments — hauptsäch-
lich des Unterhauses — ihre Stärke finden, auch die Volks-
vertretung einen gröszeren Einflusz auf die Regierung als in
den continentalen Staten. Insofern kann man das englische
Königthum ein parlamentarisches und republikani-
sches nennen. Aber die Ehrfurcht vor der Monarchie ist
doch kaum in einem andern Lande stärker als in England.
So mächtig die aristokratischen Elemente und das Parlament
in England sind, die englische Verfassungsform ist doch eine
Monarchie geblieben. 4
II. Den zweiten welthistorischen Versuch, die constitu-
tionelle Monarchie einzuführen, machte die französische
Nation. Die Verfassung von 1791 sollte nach der Meinung
ihrer Urheber als ein vollkommenes Meisterwerk aus dem mo-
dernen Statsprincip unmittelbar geboren werden, mit logischer
Nothwendigkeit. Aber die Statsprincipien selbst der National-
versammlung waren vielmehr republikanisch-demokratisch, als
monarchisch. Die Rousseau'sche Theorie von der Volkssou-
veränetät und den zwei Gewalten, und das Vorbild der nord-
amerikanischen Constitution, welche eine constitutionelle
Demokratie mit drei unabhängigen, aber durch die Einheit
des souveränen Volkes zusammen gehaltenen Gewalten ins
Dasein gerufen hatte, übten auf die Geister der Franzosen
einen stärkeren Einflusz aus als die englische Verfassung.
Der Grundcharakter der neuen Verfassung von 1791 war de-
mokratisch. Das Königthum in ihr war eine Inconsequenz
des Systems, ein zurückgebliebener Rest der Vergangenheit,
mit welcher die Revolution im übrigen von Grund aus ge-
brochen hatte.
Dann richtete Napoleon die monarchische Gewalt wieder
auf, indem er die Nation aus dem Schlamme errettete, in den
sie versunken war. Er concentrirte die gesammte Statsgewalt
wieder in seiner starken Hand. Aber um eine modern fran-
zösische constitutionelle Monarchie zu gründen, dazu war in
den ersten Zeiten nach der Revolution und inmitten des euro-
päischen Krieges das Bedürfnisz der Nation nach einer Dic-
tatur zu stark und er selbst von Natur ein zu gewaltiger
Herrscher. Einzelne Anfänge dazu freilich liesz er zu. Er
erkannte in dem französischen Volke die Quelle seiner Macht
4
[455]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung
etc.
an und eröffnete allen Franzosen die freie Bahn zur Erhebung
und zum Ansehen. Er versuchte in dem Senat auch eine
Aristokratie wieder zu schaffen, welche nach seinem Ausdruck
„die Souveränetät erhält, während die Demokratie zur Sou-
veränetät erhebt.“ 5 Hätte seine Dynastie ruhig
fortregiert,
so hätte sich vielleicht mit der Zeit aus diesen Anfängen eine
nationale constitutionelle Monarchie herausbilden können. Aber
in den Zeiten seiner Macht schienen ihm die politischen Rechte
der übrigen Körperschaften als Schranken seines absoluten
Willens unbequem. Und als er vom Throne stürzte, wurden
seine Institutionen in seinen Ruin verwickelt.
Die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814 war ihrem
Wesen nach ein Vergleich zwischen der alten königlichen
Dynastie, welche aus der Verbannung zurückkehrte, und dem
französischen Volke, welches die Zeiten der Revolution und
der Napoleonischen Herrschaft durchlebt hatte, ein Vergleich
zwischen den Rechtsansprüchen des früher absoluten König-
thums und den neuen politischen Gewalten, zwischen der
Legitimität und dem Besitzstand aus der Revolution. In ihrer
Form aber war sie die freie Gabe des Königs, ein Ausflusz
seiner alleinigen Autorität. 6 Auch abgesehen von diesem
Widerspruch zwischen Form und Inhalt, litt diese Verfassung
noch an andern Widersprüchen. Aber immerhin war sie besser
als die vorausgegangenen Versuche, die constitutionelle Mon-
archie in Frankreich zu verwirklichen.
Offenbar waren die Grundformen der englischen Verfassung
nachgebildet, aber sie waren mit einem andern Geiste erfüllt.
Die Gewalt war dem Könige von Frankreich in gröszerem
[456]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Masze zugestanden als in England, oder vielmehr, da die
Charte in ihrer Theorie von dem absoluten Königthum aus-
geht, 7 minder beschränkt worden als dort; aber die Sicher-
heit des französischen Königthums war sehr viel geringer als
in England, nicht blosz weil der Charakter der Franzosen von
jeher beweglicher und zu Veränderungen leichter erregbar ist
als der englische, sondern weil die Revolution die französische
Aristokratie vernichtet, und das ganze Volk in demokratischen
Begriffen und Tendenzen eingeschult hatte.
Die Pairie, welche nächst dem Könige einen Antheil
an der Gesetzgebung erhielt und den obersten Gerichtshof
über schwere Statsverbrechen bildete, sollte eine „wahrhaft
nationale Einrichtung sein und alle Erinnerungen der Ver-
gangenheit mit allen Hoffnungen der Zukunft, die alte und
die neue Zeit verbinden.“ Aber in der Wirklichkeit wurden
die neuen Gröszen der Napoleonischen Zeit zu sehr zurück-
gesetzt und die alte, theilweise verkommene Aristokratie zu
freigebig bedacht, als dasz diese erbliche Pairschaft als eine
„wahrhaft nationale Institution“ hätte Anerkennung finden
und Bestand haben können. Dem englischen Oberhaus stand
sie weit nach. Die Deputirtenkammer endlich sollte „jene
alten Versammlungen des März- und Maifeldes sowie die
Kammer des dritten Standes“ ersetzen. Sie war aber auf rein
plutokratischen Fundamenten errichtet, und ward vorzüglich
zu Gunsten der Beamten ausgebeutet. Die Masse der städti-
schen Bürgerschaft, welche sich als berechtigt fühlte, wohl-
habend und civilisirt war und in der Revolutionsperiode eine
bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte weder Wahlrechte noch
Wählbarkeit. Die ganze bäuerliche Bevölkerung, welche durch
die Revolution freies Eigenthum gewonnen und ebenfalls po-
litische Rechte erworben hatte, war nicht minder ausgeschlossen.
Auf die niedern Volksschichten war keine Rücksicht genom-
[457]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
men. Der Demos war somit gar nicht vertreten, und doch
war er in Frankreich zu einer groszen politischen Macht
geworden. Er konnte unmöglich eine Verfassung lieb gewinnen
und sie stützen, welche ihn überall ausschlosz.
Die Revolution hatte zwei Richtungen vorzüglich verstärkt,
die zum Theil wider einander laufen, die der Centralisation
und die der demokratischen Ausbreitung. Jene führte,
zum Extrem getrieben, zur absoluten Monarchie zurück, diese
im Extrem zu revolutionärer Anarchie. Die Charte suchte
sich der ersten ganz zu bemächtigen und damit die letztere
abzuhalten. 8
Den ersten groszen Stosz des demokratischen Volkes,
welches durch Karl X. absolutistisch und durch seine eigene
Presse revolutionär gereizt worden war, hielt die Charte noch
aus. „Die Charte soll eine Wahrheit sein“ war der Wahl-
spruch Louis Philipps und der Julirevolution von 1830.
Indessen wurde die erbliche Pairie aufgehoben, und nur eine
persönliche auf Lebenszeit dauerte fort. Die Grundlage der
Deputirtenkammer wurde um etwas erweitert, aber noch be-
hielt sie ihren plutokratischen Charakter bei.
Da folgte im Februar 1848 der zweite Stosz einer vul-
kanischen Gewalt, die Niemand ermessen, Niemand in solcher
Heftigkeit erwartet hatte, und die ganze Verfassung, obwohl
sie besser war als die, welche ihr folgte, und was sehr wichtig
ist, obwohl die erforderlichen Mittel der Verbesserung in ihr
lagen, wurde in einem Tage der Ueberraschung und Ver-
blüffung der Mehrheit von einer verwegenen Minderheit um-
gestürzt. Nochmals versuchte der Demos selber die Herrschaft
in Frankreich auszuüben.
[458]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Die repräsentative Demokratie der ersten Revolution wurde
erneuert. In der Nationalversammlung, die durch leidenschaft-
liche Parteien zerklüftet in endlosen Debatten ihre Kräfte er-
folglos verpuffte, war die oberste Autorität und die Stellung
des Präsidenten vielfach gelähmt und beschränkt. Aber der
Instinct des Volkes wendete sich wiederum der Monarchie zu,
und wieder ward ein Napoleon zum Ueberwinder und Erben
der Demokratie, indem er persönlich die Gewalt ergriff und
sich dabei zugleich auf die Zustimmung der groszen Mehrheit
aller Bürger stützte.
Die Verfassung des neuen Kaiserreichs vom 16. Jenner
und 2. December 1852 erinnert mehr an die römische als an
die englische Statsform; wie denn überhaupt die Napoleonischen
Statsideen einen entschieden romanischen Charakter haben
und daher auch den romanischen Elementen im französischen
Geist vorzüglich einleuchten. 9 Der Hoheit und Macht des
französischen Volks wird als der Quelle aller Statsgewalt
volle Huldigung dargebracht, indem die Verfassung der Ab-
stimmung des Volkes unterworfen, von seinem Vertrauen der
gesetzgebende Körper abhängig gemacht, und selbst die kaiser-
liche Gewalt von seinem Willen abgeleitet wird. 10 Dem fran-
zösischen Volk bleibt auch der Kaiser verantwortlich. Die
Zuneigung der Massen zu dem Grundsatz demokratischer Gleich-
heit wird in dem allgemeinen Stimmrecht rücksichtslos geachtet.
Auf so breiter Unterlage erhebt sich dann die kaiserliche Macht-
fülle in dem Glanze der Majestät. Die Initiative der Gesetz-
gebung, die ganze Leitung der Politik, die Diplomatie, die
Armee sind in seiner Hand, das ganze Beamtenheer ist ganz
von ihm abhängig. Selbst die Mitglieder des Statsraths kann
[459]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze po-
litische Kräfte in dieser Verfassung: die Volksmehrheit
und der Kaiser. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist
sehr abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Mi-
nister sind nur dem Statshaupte verantwortlich, aber es gibt
unter ihnen Redeminister, welche die Regierung vor der Kam-
mer vertheidigen und daher eine gefährliche Autorität sowohl
der Volksvertretung als dem Statshaupt gegenüber erlangen; 11
der Antheil des gesetzgebenden Körpers an der Gesetzgebung
hat eher einen negativen als einen positiven Charakter; er
kann ein schädliches oder ungerechtes Gesetz verhindern,
nicht verbessern. Er hat keine Initiative und nur in den Com-
missionen die Möglichkeit mit dem Statsrathe über Aenderung
zu verhandeln. Der Senat ist zwar seiner Bestimmung nach eine
die Volksfreiheiten schützende und die Verfassung wahrende,
ausnahmsweise auch zu Reformen den Anstosz gebende, ihrer
Natur nach eine aristokratische Macht, aber die Senatoren
sind durch die Wahl des Kaisers auf ihre hohe Stellung ge-
rufen und durch die französischen Parteiverhältnisse wie durch
ihre socialen Beziehungen an die Macht des Kaisers, als an
ihren Grund und ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der
Massen und des Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor
jeder Dissonanz zu bewahren gesucht, und daher auch der
Opposition in den Behörden und in der Presse nur ein sehr
beschränkter Spielraum verstattet. 12
Diese autokratische Verfassung genügte indessen den
wieder geweckten Begehren nach mehr Volksfreiheit nicht.
Der Kaiser Napoleon III. sah sich genöthigt, Zugeständnisse
[460]Sechstes Buch. Die Statsformen.
zu machen, welche dieselbe der constitutionellen Monarchie
der andern Staten annäherten. Ein Senatusconsult vom 6. Sep-
tember 1869 verlieh beiden Häusern das Recht der Initiative,
gestattete den Ministern, Mitglieder derselben zu werden und
erklärte die Minister auf Beschlusz des Senats für verant-
wortlich. Die so umgebildete neue Verfassung wurde der Ab-
stimmung der Bürger vorgelegt und durch das Plebiscit vom
20. April 1870 mit 7,350,142 bejahenden Stimmen wider
1,538,825 verneinende Stimmen gutgeheiszen.
Indeszen vermochten diese Zugeständnisse die Verfassung
in der Krisis nicht zu retten, welche durch die Niederlage
der Napoleonischen Politik und der französischen Heere im
Kampf mit dem deutschen Volke und Heere herbeigeführt
wurde. Eine neue Pariser Revolution vom 4. September 1870
erklärte die kaiserliche Monarchie für abgeschafft und ver-
suchte es von neuem mit der Republik.
III. Romanische Länder. Die Umgestaltungen, welche
der französische Stat seit der Revolution erlebte, hatten auch
auszerhalb Frankreichs die wichtigsten Veränderungen zur
Folge. Vorerst in den romanischen Ländern. Nach Art der
französischen Republik wurden in Italien ähnliche Republiken
unter dem erobernden Schutz der französischen Waffen ge-
gründet; später von Napoleon neue abhängige Monarchien
nach dem Vorbilde des französischen Reiches in Italien und
Spanien eingeführt. Es schien, als ob die moderne Gestal-
tung Europa's von Paris aus ins Dasein gerufen werden solle.
Indessen zog auch hier der Untergang der Napoleonischen
Weltherrschaft den Fall dieser ephemeren Statenbildung
nach sich.
Wichtiger, wenn auch zunächst wieder nur von momen-
tanem Erfolge, waren für die Ausbildung des constitutionellen
Systems die beiden Verfassungen, welche im Jahre 1812 in
Sicilien und in Spanien verfaszt und proclamirt wurden.
1. Die Verfassung Siciliens — vorzüglich das Werk
[461]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
des Lords Bentinck, eines englischen Statsmannes — war
ganz nach englischem Muster gewissermaszen zugeschnitten,
so jedoch, dasz die Erinnerung an die alten aristokratischen
Stände aus der Normannenzeit benutzt wurde und dass die
neueren Theorien von der Trennung der Gewalten in ausge-
dehnterem Masse als in England Anerkennung fanden. Die
gesetzgebende Gewalt wurde zunächst dem Parlamente zu-
geschrieben, unter diesem aber nicht mehr, wie in dem eng-
lischen Statsrechte, König, Ober- und Unterhaus in ihrer
Vereinigung, sondern nur die beiden Kammern verstanden.
Von diesem Begriffe aus ist es denn freilich auffallend, dasz
die Beschlüsse des Parlaments der „Bestätigung des Königs,“
als einer auszer ihm stehenden Gewalt bedürfen. 13 Die
Pairskammer besteht aus den Baronen und den Prälaten
Siciliens. Die weltlichen Pairs haben ein erbliches Recht auf
die Pairie. Der König kann aber neue Pairs aus den Edel-
leuten ernennen, welche ein reines Einkommen von 6000 Unzen
genieszen. Das Unterhaus besteht aus gewählten Volksver-
tretern. Stimmrecht und Wählbarkeit erfordern einen nicht
hohen Census.
Die vollziehende Gewalt wird dem Könige zuge-
schrieben, seine Minister und geheimen Räthe aber dem Par-
lamente für die Ausübung dieser Gewalt verantwortlich erklärt.
In allen wichtigen Angelegenheiten ist der König verpflichtet,
das Gutachten seines geheimen Rathes einzuholen; in manchen
Fällen, z. B. wenn er Truppen nach Sicilien bringen oder
Ausländern Militärstellen geben, oder neue Aemter errichten,
oder für den Stat geleistete Dienste Pensionen bewilligen will,
bedarf er sogar der Zustimmung des Parlaments.
Die richterliche Gewalt wird zwar „im Namen des
Königs verwaltet,“ aber das Recht „einzig und allein den
vom Gesetze bestimmten Beamten“ zugesprochen. Den ein-
[462]Sechtes Buch. Die Statsformen.
zelnen Sicilianern wird ein ausgedehntes Recht des Wider-
standes gegen jeden vom Gesetz nicht autorisirten Zwang
zuerkannt, die Censur als Regel — mit Ausnahme theologischer
Schriften — aufgehoben, die Feudalrechte beseitigt u. s. f.
Man sieht, diese Verfassung war eine Nachbildung der
englischen Formen, mit Beimischung der Theorien, welche
in der französischen Verfassung von 1791 verkündet worden
waren. Auch in ihr war das republikanische Element
überwiegend, und der Widerspruch mit der monarchischen
Tradition trat um so schroffer hervor, je weniger der absolu-
tistisch gesinnte Hof des Bourbonischen Königs sich mit der
Verfassung vertragen mochte und je mehr in den Volksparteien
klerikale und jakobinische Tendenzen vertreten waren und
mit der Leidenschaft des südlichen Blutes sich heftig be-
kämpften. Der in Neapel restaurirte König fühlte sich nun
stark genug, die beschworene Verfassung zu beseitigen (De-
cember 1816) und die absolute Regierung herzustellen. Aber
dieser erste Versuch, die englischen Statsformen mit den Theo-
rien der französischen Revolution zu verbinden und daraus
ein neues constitutionelles Statsrecht für Europa hervorzu-
bringen, blieb auch für die spätern ähnlichen Versuche ein
Vorbild.
2. Die sehr ausführliche Verfassung vom 19. März 1812,
welche die Regentschaft und die spanischen Cortes
während der Gefangenschaft des Königs und während ein
groszer Theil von Spanien in der Gewalt der Franzosen
war, der spanischen Nation gegeben hatten, und welche von
den verbündeten Engländern anerkannt ward, geht groszen-
theils von ähnlichen Theorien über den constitutionellen Stat
und die Trennung der drei Gewalten aus. Die französische
Verfassung von 1791 diente den Cortes als Muster. Indessen
sind, obwohl das Princip der Volkssouveränetät (Art. 3) procla-
mirt ist, die Rechte des Königs in weitem Umfange anerkannt.
Die gesetzgebende Gewalt wird „den Cortes mit dem Könige
[463]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
vereint“ (Art. 15) und ebenso diesem die „Aufsicht über die
Justiz“ (Art. 171) zugeschrieben. Indessen kann er durch
wiederholte Abstimmung der Cortes zur Sanction der Gesetze
genöthigt werden (Art. 149). Darin aber unterscheidet sich
diese Verfassung sehr von der englischen Form, dasz sie eine
aristokratische Pairskammer als Mittelmacht nicht kennt, son-
dern dem Könige die Eine Versammlung der Cortes, als der
gewählten Volksvertreter gegenüber stellt. 14
Die Willkür, mit welcher der befreite König diese Ver-
fassung aufhob (4. Mai 1814) und die Häupter der Cortes
verfolgte, und die alten und neuen Erfahrungen, welche die
Nation über die absolute Regierungsweise der Bourbonischen
Dynastie machte, hatten die Folge, dasz die Verfassung von
1812 trotz ihrer Mängel und ungeachtet man sich anfänglich
wenig um dieselbe bekümmert hatte, nach ihrer Beseitigung
populär ward, und wiederholte Versuche (1820, 1836) ge-
macht wurden, dieselbe mit Gewalt einzuführen. Auch das
Estatuto Real von 1834, welches Spanien nun doch eine Re-
präsentativverfassung verlieh, befriedigte nicht mehr. Die
Königin-Regentin wurde 1836 genöthigt, die Verfassung von
1812 anzuerkennen, und im Jahr 1837 kam unter dem Ein-
flusz der Progressisten die neue constitutionelle Verfassung
für Spanien, auf Grundlage der ersteren und mit theilweiser
Benutzung des Estatuto Real von 1834 zur feierlichen Be-
schwörung. In dieser modificirten Verfassung ist denn die
Sanction der Gesetze durch den König wieder ohne Beschrän-
kung anerkannt, und das Zweikammersystem (ein Senat und
eine Deputirtenkammer) eingeführt worden. 15 Noch mehr
näherte sich die unter dem Einflusze der Moderados revidirte
[464]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Verfassung vom 23. Mai 1845 der französischen Charte
von 1830 an. 16
Aber auch dadurch sind die Verfassungskämpfe nicht
zum Abschlusz gelangt. Das Land schwankte lange wieder
zwischen klerikaler Reaction und radicalem Aufstande, zwi-
schen Hofintriguen und Militärdictatur hin und her, ohne sein
Gleichgewicht zu finden. Die Miszregierung der bigotten Kö-
nigin Isabelle führte 1868 zu einer neuen Revolution, welche
die Bourbonische Dynastie und die Jesuiten zugleich vertrieb.
Lange bemühten sich die monarchisch gesinnten Spanier ver-
geblich, einen neuen König zu berufen. Zuletzt nahm der
Herzog von Aostas, Sohn des Königs von Italien, die dar-
gebotene spanische Krone an (4. Dec. 1870) und nun schien
die Aussicht günstiger für die constitutionelle Monarchie. Aber
die fortwährenden Verschwörungen entleideten dem Könige
seinen Beruf und er dankte am 11. Februar 1873 freiwillig
ab. Aus Noth wurde nun die Republik ausgerufen. Bald
aber bemächtigte sich die Militärpartei der Herrschaft und
bereitete die Rückkehr zu der constitutionellen Monarchie des
jungen Königs Alfons vor, der zu Neujahr 1875 als König
ausgerufen ward. Im Norden Spaniens, hauptsächlich in dem
baskischen Gebirgsland, hatte zuvor, von Pfaffen und Legi-
timisten unterstützt, der Bourbon Don Karlos für sein an-
gestammtes Herrscherrecht zu streiten versucht, und das
Unglück des Landes vermehrt, ohne seine Herrschaft zu be-
gründen.
3. Eine Nachahmung der spanischen Verfassung von 1812
war die Verfassung für Portugal von 1822, die indessen
wieder nicht zu unbestrittener Geltung gelangte. Im Jahr
1826 gab der König Don Pedro zu Gunsten seiner Tochter
Mariè do Gloria dem Lande eine neue Verfassung, in wel-
cher das monarchische Princip besser gewahrt wurde als in
[465]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
jener ersteren, und welche nach Analogie der englischen Ver-
fassung und der französischen Charte eine Pairskammer mit
erblichen und lebenslänglichen Pairs der Deputirtenkammer
beiordnete. Diese Verfassung spricht nun von vier Gewalten:
1) der gesetzgebenden, welche den Cortes unter der Sanction
des Königes, 2) der vermittelnden (moderador), welche
dem Könige „als höchstem Oberhaupte der Nation zur Hand-
habung des Gleichgewichts und der Harmonie der andern
politischen Gewalten,“ 3) der vollziehenden, welche dem Kö-
nige in Verbindung mit den Ministern, und 4) der richter-
lichen, welche unabhängigen Gerichten zusteht. 17
Auch nach der Besiegung der absolutistischen Partei Don
Miguels, welche von keiner der beiden Verfassungen etwas
wissen wollte, stritten sich zwei andere Parteien mit wechseln-
dem Glücke um die Herrschaft; die eine demokratische, welche
sich an die Verfassung von 1822, die andere, der Chartisten,
welche sich an die Charte von 1826 hielt. Im Jahre 1838
kam es zu einer Revision der letzteren, durch welche die
erblichen Senatorwürden in periodisch gewählte umgewandelt,
und die Institution des Statsraths aus der Verfassung ge-
strichen wurde. 18 Die Masse des Volkes nimmt indessen noch
immer wenig Antheil an diesen Verfassungen. Indessen haben
sich die Portugiesischen Statszustände, unter dem Einflusse
der Koburgischen neuen Dynastie friedlicher und günstiger
entwickelt als die Spanischen.
4. Auch auf den gröszeren amerikanischen Tochterstat
Portugals, auf das unabhängig gewordene Kaiserthum Bra-
silien wurde die Verfassung der constitutionellen Monarchie
übergetragen und erlebte dort ähnliche Schwankungen und
Kämpfe, machte aber auch ähnliche Fortschritte wie in Europa.
5. Italien rang sich allmählich aus dem unwürdigen
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 30
[466]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Druck des absoluten Fürstenthums los. Mochte noch die Ver-
fassung der Napoleonischen Königreiche Italien und
Neapel als eine beschränkte Autokratie angesehen werden,
so wurde doch der später restaurirte Absolutismus der bour-
bonischen und habsburgischen Fürsten überall nur ungern
ertragen. Geheime Verschwörungen und offene Aufstände
kämpften mit grausamen Reactionen. Nur mit fremder Waffen-
gewalt konnte man das Streben der Völker unterdrücken.
Als der König von Neapel 1820 sich bequemt hatte, seinem
Lande die spanische Verfassung von 1812 zu gewähren, stellten
österreichische Truppen die alte Willkürherrschaft wieder her.
Auch die Bewegungen der Dreiszigerjahre hatten keinen
gröszern Erfolg. Immer wieder gelang es der massiven Ge-
walt Oesterreichs, an welcher die Dynastien sich anlehnten,
jeden Versuch zu vereiteln, welcher die constitutionelle Mon-
archie einführen wollte.
Erst in den Vierzigerjahren erwies sich der Geist der
Reform stärker in Italien, nachdem er sich mit dem Geiste
der nationalen Befreiung von der Fremdherrschaft verbündet
hatte. Schon im Jahre 1847 war ganz Italien in einer mäch-
tigen Aufregung begriffen, welche damals auch von dem neuen
Papste Pius IX. gebilligt schien; und noch bevor in Paris die
Revolution ausbrach, sahen sich der König Ferdinand II. von
Neapel und der König Karl Albert von Piemont veranlaszt,
die constitutionelle Regierungsform einzuführen. Aber unge-
achtet der erstere „in dem ehrfurchtgebietenden Namen des
dreieinigen Gottes“ bezeugte mit Aufrichtigkeit und Redlich-
keit diese neue Bahn der politischen Ordnung zu betreten, 19
so beeilte er sich doch, sobald er es ungefährlich konnte, die
Verfassung wieder zu brechen. Die Folge der wiederholten
Treubrüche war, dasz im Jahre 1860, als der Sohn Ferdinands
Franz II. in neuer Noth sich entschlosz, die constitutionelle
[467]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
Monarchie einzuführen, Niemand mehr seinem Gelöbnisz
glaubte und die Dynastie vertrieben ward.
Eine andere Wendung nahmen die Dinge in Piemont.
Nachdem einmal der König am 6. Febr. 1848 sich für die
Einführung des repräsentativen Systems nach dem Vorbilde
der französischen Charte von 1830 erklärt hatte, 20 blieb das
savoyische Königshaus dieser Verfassung vom 4. März 1848
mit einer seltenen Entschiedenheit treu. Zwar glückte es
Karl Albert noch nicht, ein erweitertes italienisches Reich
unter seinem Scepter zu einigen. Die Siege Radetzky's war-
fen seinen nationalen Ehrgeiz zurück und bewahrten vielleicht
Italien vor dem Ueberfluten einer unreifen Demokratie. Aber
auch in jener Zeit, wo die Reaction in Italien ihre Triumphe
feierte, blieb der neue König Victor Emmanuel doch der
Verfassung treu. — Die wunderbaren Erfolge, welche er in
den Jahren 1859 und 1860 errang, verdankte er zu gutem
Theile dem Glauben der italienischen Völker an seine ehr-
liche constitutionelle und nationale Gesinnung, welche ihn
bestimmte, die Leitung einem groszen Statsmanne als Mi-
nister, dem edlen Cavour zu übertragen. Mit Hülfe Frank-
reichs wurde Oesterreich aus der Lombardei verdrängt und
der neue nationale Stat breitete sich über alle Fürstenthümer
von Mittelitalien, durch den kühnen Feldzug Garibaldis auch
über Neapel und Sicilien aus. Die Hülfe Preuszens verschaffte
dem Reiche auch das Königreich Venedig 1866. Zuletzt wurde
auch Rom im Jahr 1870 dem nationalen Königreiche einver-
leibt, nachdem die Franzosen während des französisch-deut-
schen Krieges genöthigt waren, die Stadt zu verlassen. Die
deutschen Siege ermöglichten den Untergang des letzten Prie-
sterstats in Europa. Das neue Königreich Italien hält an der
constitutionellen Monarchie fest, und sogar die republikanisch
gesinnten Parteien bequemen sich nach dem Beispiel Gari-
[468]Sechstes Buch. Die Statsformen.
baldis diese Statsform als die für Italien zur Zeit noth-
wendige anzuerkennen.
6. Den Uebergang von den romanischen zu den germa-
nischen Staten bildet Belgien, dessen Verfassung vom Jahr
1831 wieder der französischen von 1830 nachgebildet ist, in
einzelnen wichtigen Beziehungen aber der bürgerlich-demo-
kratischen Anschauung näher steht als diese. Dahin gehört
der Satz, dasz „alle Gewalten von dem Volke ausgehen“
(Art. 25), wobei freilich zu beachten ist, dasz Belgien keine
monarchische Dynastie mehr hatte, sondern eine solche erst
berufen muszte, die Verneinung jedes Ständeunterschiedes
(Art. 6), das ausgedehntere Stimmrecht für die Kammern u. s. f.
Das Zweikammersystem ist zwar beibehalten, die erste Kammer
aber oder „der Senat“ wird auf Zeit gewählt, und zwar
von den nämlichen Wählern, welche die Deputirten bestellen
(der Entwurf hatte noch dem König die Ernennung der Se-
natoren vorbehalten), und nur die Erfordernisse des Alters
und Reichthums für die Senatoren werden höher angesetzt.
Das Land hat inzwischen, von einem statsmännischen Könige,
Leopold von Koburg, weise regiert, die Erschütterung der
europäischen Revolution von 1848 nur wenig verspürt und
seine Wohlfahrt hat seither glücklich zugenommen, obwohl
auch in Belgien der Kampf der ultramontanen und liberalen
Partei leidenschaftlich fortgeführt wird. 21
IV. Germanische Staten auszer Deutschland.
1. Eine eigenthümliche Entwicklung hat das constitutio-
nelle System in dem scandinavischen Norden erfahren. Zu-
nächst in Schweden, dessen Reichstag seit dem XVI. Jahr-
hundert aus vier Ständen zusammengesetzt war, welche vier
gesonderte Stimmen hatten, nämlich: die Ritterschaft und
der Adel, die Geistlichkeit, die Bürgerschaft und die
Bauerschaft. Oefter hatten sich die Könige auf die beiden
[469]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
letzteren Stände vorzüglich gegen die grosze Macht des Adels
stützen müssen, der auszerhalb der Reichsstände in dem aus-
schlieszlich aus ihm bestellten Reichsrathe (Statsrath und
Ministerien) das wichtigste Organ seines Einflusses besasz.
Erst Gustav III. brach dieses Uebergewicht der Aristokratie,
welche die Existenz der Krone und die Sicherheit des Landes
bedroht hatte, und eröffnete auch (1789) nicht adeligen Per-
sonen den Zutritt zu den oberen Reichsämtern, nur die „höch-
sten und vornehmsten Aemter des Reiches und Hofes“ noch
ausgenommen.
Die Verfassung Schwedens vom 7. Juni 1809 22 ist eine
Fortbildung der früheren Verfassung von 1772. 23 Mit beson-
derer Ausführlichkeit und Sorgfalt, und mehr als in den übri-
gen Constitutionen der neueren Zeit sind in derselben der
königliche Statsrath und die vier Statssecretäre be-
handelt. Die Ernennung auch zu diesen Stellen ist nicht
mehr auf den Kreis des Adels eingeschränkt. Die Reichs-
stände, ohne deren Mitwirkung und Zustimmung der König
weder die Verfassung ändern, noch Gesetze geben, noch neue
Steuern erheben darf, war noch vor kurzem in vier Stände
getheilt. Die Mehrheit dreier Stände war in der Regel für
den vierten bindend, bei Verfassungsgesetzen aber Einigkeit
aller vier Stände und des Königs erforderlich.
Diese Verfassung schlosz sich in manchen Beziehungen
noch näher an die auch in Deutschland im Mittelalter be-
standenen Grundlagen der ständischen Verfassungen an. Die
Schwierigkeit aber, bei dieser Viergliederung der Stände einen
einheitlichen Nationalwillen zu Stande zu bringen, war wohl
eine Hauptursache, weszhalb dieselbe auszerhalb Schwedens
wenig Beachtung und keine Nachbildung fand, obwohl sie in
andern Beziehungen mancherlei Vorzüge vor vielen andern
modernen Systemen besitzt. Im Jahr 1865 kam endlich auch
[470]Sechstes Buch. Die Statsformen.
in Schweden das Zweikammersystem im Gegensatz zu dem
Vierständesystem zur Geltung, nach Analogie der andern con-
stitutionellen Staten.
2. Weit demokratischer ist die Verfassung Norwegens
vom 4. November 1814. Der König von Schweden, welcher
durch die Friedensschlüsse auch zum Könige von Norwegen
bezeichnet worden, war durch die Verhältnisse genöthigt, die
Verfassung im wesentlichen so anzuerkennen, wie dieselbe
im Frühjahr des nämlichen Jahres von dem norwegischen
Reichstag zur Sicherung der Selbständigkeit des Landes und
der Freiheit seiner Bürger festgesetzt worden war. Die Ge-
setzgebung wird hier „dem Volke“ zugeschrieben und durch
das „Storthing“ ausgeübt (Art. 49). Dem Könige steht
zwar das Recht der Sanction zu, aber wenn ein nicht geneh-
migtes Gesetz zum drittenmale von dem Storthing gutgeheiszen
wird, darf er die Sanction nicht mehr verweigern. Das ganze
Storthing wird durch Wahl der norwegischen Bürger (mei-
stens Grundbesitzer) gebildet, theilt sich dann aber in zwei
Kammern das sogenannte „Lagthing“ und das
„Odels-
thing.“ Die ausübende Gewalt gehört dem Könige, unter
der Verantwortlichkeit seines Rathes. Vergeblich waren die
seitherigen Versuche, die königliche Macht zu erweitern, und
eine politische Aristokratie einzuführen. Die Demokratie der
freien Bauern und der Bürger widersetzte sich beiden Ten-
denzen beharrlich, und die Eifersucht der Norweger auf ihre
Unabhängigkeit von Schweden stärkte diesen Widerstand. 24
3. Die dänische Revolution von 1660 war gegen den
Adel gerichtet und hatte mit Hülfe des Bürgerthums die ab-
solute Monarchie eingeführt. In unserm Jahrhundert wurde
auch in Dänemark die Wandlung in die constitutionelle Mon-
archie vollzogen, zuerst in der noch unzureichenden Form
von Provinzialständen (Gesetz vom 28. Mai 1831), dann in
[471]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
dem Grundgesetz vom 5. Juni 1849 in demokratischer Rich-
tung. Die Verfassungsstreitigkeiten der Dänen mit den Deut-
schen bezogen sich weniger auf den Gegensatz der Verfassungs-
form als auf den Gegensatz der Nationalitäten. Indessen auch
da kam es im Juni 1866 zu einer Verfassungsrevision, welche
von dem König mit dem Reichsrath (Landsthing und Volks-
thing) vereinbart wurde.
4. In dem neugestifteten Königreiche der Niederlande,
welches nach der Auflösung des Napoleonischen Kaiserreichs
an die Stelle der alten Republik der Vereinigten Staten und
des späteren Napoleonischen Königreichs Holland getreten
war, wurde die constitutionelle Monarchie ebenfalls eingeführt
(Verfassung vom 28. März 1814 und nach der Vereinigung
mit Belgien vom 24. August 1815). Die neue Verfassung vom
14. Oct. 1848 war ein Fortschritt in derselben Richtung und
der constitutionelle Geist ist neuerdings auch in Holland er-
starkt.
V. Deutsche Staten.
1. Das alte „römische Reich deutscher Nation“ hatte in
den letzten Jahrhunderten seines Bestandes zwar die leere
Form einer kaiserlichen Monarchie beibehalten, aber das
Kaiserthum war eine machtlose Würde. Alle wirkliche Macht
war bei den Landesherrn, unter denen der Kaiser selber als
Herr von Oesterreich und König der mit Oesterreich ver-
bundenen fremden Länder nur durch diese Hausmacht an-
gesehen und stark war.
In den einzelnen Territorien aber hatte die landesherr-
liche Fürstenmacht die früheren landständischen Schranken
fast alle durchbrochen und beseitigt und sich zu absoluter
Statsherrschaft erhoben. Die überlieferte Idee dieses, ur-
sprünglich aus erblich gewordenen Reichsämtern entstandenen
Fürstenthums, war nach der Weise des Mittelalters halb theo-
kratisch, halb patrimonial, aber erweitert durch den romani-
schen Begriff der Souveränetät, der nur insofern noch eine
[472]Sechstes Buch. Die Statsformen.
schwache Schranke fand, als die deutschen Reichsfürsten ihrer
Zugehörigkeit zum Reich bewuszt und einiger Maszen vor den
Reichsgerichten (Reichskammergericht und Reichshofrath) Rede
zu stehen genöthigt waren.
2. Die Wendung erfolgte von dem Königreich Preuszen
aus. Wie Oesterreich aus dem deutschen Reiche heraus zu
einer selbständigen europäischen Groszmacht heranwuchs, die
mit Frankreich rivalisirte, so entstand im Norden von Deutsch-
land ein neuer Statskörper, der im Kampfe gegen das mittel-
alterliche Reich, aber im Geiste der deutschen Nationalität
sich rasch und kühn ausbreitete. Stützte sich das österreichi-
sche und katholische Haus Habsburg, später Lothringen, vor-
züglich auf die römische Kaiserwürde, das herkömmliche Recht,
den Klerus, den Adel und eine aus mancherlei Volksstämmen
gemischte Armee, so wurde das protestantische Haus Hohen-
zollern der Repräsentant und Schirmherr der modernen Ent-
wicklung des deutschen Geistes und der Volksfreiheit.
Friedrich der Grosze von Preuszen (1740-1778) ver-
dient in Wahrheit als der geistige Vater der modernen con-
stitutionellen Monarchie für den Continent geehrt zu werden.
Hätten die Völker ihn besser verstanden und die Fürsten ihm
mehr gefolgt, so hätte sich der Uebergang aus der absoluten
in die constitutionelle Statsform leichter vollzogen. Niemand
hat energischer als er den Satz bekämpft, dasz der König
der Herr des States sei, niemand bestimmter ausgesprochen,
dasz das Königthum ein Statsamt und der König der oberste
Diener des States sei. Die ganze mittelalterliche Lehre von
dem göttlichen Recht und der Eigenthumsherrschaft der Kö-
nige hat er entschieden verworfen. Wenn er dessen unge-
achtet weder die alte ständische Verfassung erneuerte, noch
eine neue repräsentative schuf, sondern die ererbte absolute
Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend daraus, dasz
sein Volk politisch noch sehr unreif und er persönlich dem-
selben allzusehr überlegen war. Aber er bereitete die künf-
[473]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
tige constitutionelle Monarchie vor: a) durch die energische
Durchführung des Princips, dasz Königsrecht Statspflicht sei,
b) durch seine Gesetzgebung über das öffentliche Recht
(Preuszisches Landrecht), c) durch die strenge Gewöhnung aller
Statsbeamten an statliche Pflichtübung.
Die französische Revolution lenkte eher von dem Wege
ab, auf den der grosze König gewiesen hatte, indem sie die
deutschen Fürsten mit Furcht und Hasz erfüllte und in den
Völkern zu radicaler Uebertreibung reizte.
3. Die Verfassungen, welche in der Rheinbundsperiode
zu Stande kamen, hauptsächlich [auf] den Antrieb des Protec-
tors des Rheinbundes, Napoleon's I., konnten insofern als
eine Uebergangsstufe zu der constitutionellen Monarchie die-
nen, als sie mit den Resten der alten Landstände aufräum-
ten, in Einer Urkunde die Grundgesetze zusammen faszten
und eine Art von Repräsentation — freilich eine kümmerliche
und ohnmächtige — des Grundbesitzes, der Industrie und der
höheren Bildung versprachen.
4. Als der grosze Befreiungskampf, zu dem sich die Na-
tion opfermuthig erhoben hatte, die Fremdherrschaft brach,
war ein günstiger Moment da, um die moderne Statsordnung
in nationalem und freiem Geiste durchzuführen. Die wenigen
groszen Statsmänner, die Deutschland hatte, Stein, Hum-
boldt, anfangs auch Hardenberg wollten es. Der König
Friedrich Wilhelm III. von Preuszen hatte seine Geneigt-
heit dazu öffentlich ausgesprochen. Aber durchweg war die
absolutistische Gesinnung der deutschen Dynastien, der vor-
nehmen Kreise der Gesellschaft, des Beamtenthums so über-
mächtig, die antirevolutionäre Stimmung so misztrauisch gegen
alle modernen Ideen, und so befangen in romantischen Phan-
tasien, und die politische Bildung des Volkes so unreif, dasz
in dem deutschen Bunde und in den souveränen (groszen
mittleren und kleinen) Monarchien, die sich in die Be-
herrschung der deutschen Nation getheilt hatten, ein nur
[474]Sechstes Buch. Die Statsformen.
wenig von landständischen Erinnerungen beschränkter Abso-
lutismus herrschend wurde. Die deutsche Bundesacte vom
8. Juni 1815 verhiesz in Artikel 13: „In allen Bundesstaten
wird eine landständische Verfassung Statt finden.“ Ausdrück-
lich verwahrten sich die Oesterreichischen Statsmänner da-
gegen, dasz damit die „repräsentative oder constitutionelle
Monarchie“ gemeint sei.
Nur ausnahmsweise versuchte man's, in einigen Staten,
eine Art constitutioneller Monarchie, in Nachahmung der fran-
zösischen Charte, aber durch landständische Ueberlieferung
modificirt, einzurichten. Das Herzogthum Nassau ging vor-
aus, aber ohne nachhaltige Kraft (Verf. vom 2. Septbr. 1814).
Dann folgte Luxemburg (Verf. vom 24. August 1815) und vor-
züglich das Groszherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach
(5. Mai 1816), dessen Fürst, Karl August — eine seltene
Erscheinung — persönlich der freieren Verfassung zugethan war.
Wichtiger war es, dasz die süddeutschen Mittelstaten,
die Königreiche Bayern (Verf. vom 26. Mai 1818), Würt-
temberg (25. Septbr. 1819), wo der Widerstand der alten
Landstände vorerst durch die weitsichtigere Regierung zu über-
winden war, und das Groszherzogthum Baden (22. August
1818) nun zu der constitutionellen Monarchie übergingen und
gerade in dieser Wandlung eine Stärkung erkannten gegen-
über dem Drucke der deutschen absolut regierten Groszstaten.
Es folgte dann das Königreich Hannover (17. Decbr.
1819), das Groszherzogthum Hessen (17. Decbr. 1820) und
Sachsen-Meiningen (23. August 1829).
In allen diesen Verfassungen ist die Monarchie mit einer
reichen Fülle von Rechten ausgestattet. Auf der conserva-
tiven Natur des deutschen Volkscharakters konnte sie sicherer
ruhen als in Frankreich, und wenn sie nur einigermaszen
verstand, die Zeitideen zu erfassen und in liberaler Richtung
vorzugehen, so wurde ihr die Leitung der öffentlichen Dinge
vertrauensvoller überlassen, als irgend anderwärts.
[475]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
Bei der Bildung der Kammern ahmte man das englische
und das französische Vorbild nach. Aber die Ersten Kammern
wurden vorzugsweise auf den Grundadel gebaut, dessen An-
sprüche und Ansichten groszentheils einer untergegangenen
Weltordnung angehörten, auch wohl mit abhängigen Dienern
der Höfe ergänzt, so dasz sie deszhalb nicht zu rechtem An-
sehen und gedeihlicher Wirksamkeit gelangen konnten. Die
Zweiten Kammern wurden dagegen weniger plutokratisch be-
setzt, als in Frankreich. Weil sie sich meistens an die von
Alters hergebrachten Stände anschlossen, so hat man diese
Verfassung auch oft mit Emphase als eine „ständische und
keine repräsentative“ bezeichnet. Aber mit Unrecht; denn
nicht das ist der Charakter der Repräsentativverfassung
im Gegensatze zu der mittelalterlichen ständischen, dasz
in jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berück-
sichtigt werden dürfen, sondern dasz die Stellvertretung in
jener, auch wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert
ist, dennoch vornehmlich eine nationale sei, und die Ein-
heit des Volkes und des States, nicht die Gespalten-
heit derselben in die Sonderinteressen der Stände darstelle.
Dieses Princip ist aber z. B. in der bayerischen Verfassung
von 1818 ausdrücklich anerkannt, indem die Abgeordneten
schwören müssen: „nur des ganzen Landes allgemeines Wohl
und Beste ohne Rücksicht auf besondere Stände oder Classen
nach Ueberzeugung zu berathen.“
Die Entwicklung der constitutionellen Monarchie wurde
noch während Jahrzehnten hauptsächlich durch die beiden
deutschen Groszstaten gehemmt, deren Regierungen sich gegen
diese Statsform entschieden misztrauisch und abgeneigt ver-
hielten. In Preuszen verliefen die Reformbestrebungen im
Sand. Anstatt der verheiszenen Repräsentation des Volks
kam es zuletzt (1823) nur zu berathenden Provincial-
ständen. Die österreichische Regierung glaubte die
Einheit des zusammengesetzten Statswesens nur durch die
[476]Sechstes Buch. Die Statsformen.
absolute Gewalt erhalten zu können. Fast die ganze Wirk-
samkeit des deutschen Bundes war darauf gerichtet, das
sogenannte „monarchische Princip“ möglichst absolut zu be-
wahren und die Völker polizeilich zu bevormunden.
5. Die französische Julirevolution von 1830 hatte auch
in Deutschland neue Bewegungen zur Folge, und wieder
wurden eine Reihe deutscher Staten, mittlere und kleinere
bestimmt, das constitutionelle System einzuführen. Das Kur-
fürstenthum Hessen erhielt am 5. Januar 1830 eine Ver-
fassung, welche die Volksfreiheiten gegen die fürstliche Will-
kür zu schützen bedacht war; das Königreich Sachsen be-
kam eine der bayerischen nachgebildete Verfassung (vom
4. September 1831); das Königreich Hannover erhielt
(26. September 1833) ein neues constitutionelles Statsgrund-
gesetz, welches jedoch von dem nächstfolgenden Könige Ernst
August nicht anerkannt wurde, und erst 1840 in modificirter
Gestalt wieder ins Leben trat.
Es erweiterte sich so, wenn auch von den Regierungen
zuweilen eher dem Scheine nach als in Wahrheit geachtet,
durch die ausgebildete Schreiberei der Bureaukratie vielfach
verdorben, durch die Parteien innerhalb und auszerhalb der
Ständeversammlungen nicht selten miszbraucht und entstellt,
das constitutionelle Statsrecht doch fortwährend auch
in Deutschland, während die beiden deutschen Groszmächte
sich noch immer demselben abgeneigt zeigten.
6. Endlich erliesz der König Friedrich Wilhelm IV.
von Preuszen das Patent vom 3. Februar 1847, durch welches
auf der Unterlage der Provincialstände ein „vereinigter
Landtag“ für Preuszen gebildet, und demselben der Beirath
für die Landesgesetzgebung, ein Zustimmungsrecht für neue
Steuern, und ein Petitionsrecht in innern Angelegenheiten
zugesichert wurde. Dadurch trat Preuszen aus der Classe der
absoluten in die der beschränkten Monarchie über, und näherte
sich den deutschen Repräsentativstaten bedeutend. Der An-
[477]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
fang einer modernen Statsentwicklung war gegeben, und es
war sogar ein Vorzug dieser Verfassung, dasz sie an die be-
stehenden Verhältnisse anknüpfte und nicht blosz die bisher
übliche Form der constitutionellen Monarchie nachahmte.
Freilich waren die Rechte des Landtags nur kümmerlich und
ungenügend bedacht. Aber die Möglichkeit der Fortbildung
war gegeben, und die Mängel der Verfassung hätten sich auf
organische Weise im Zusammenhang mit der politischen Er-
ziehung auch des Volkes nach und nach heben lassen. Leider
trat die Regierung auch den gerechten Wünschen des Land-
tags in einer Weise entgegen, welche ihr das Vertrauen auch
der gemäszigten Parteien entzog. Und als das politische Erd-
beben von 1848 Europa erschütterte, stürzte der neue Bau
haltlos zusammen. Preuszen erhielt darauf am 5. October 1848
eine Verfassung, welche zu groszem Theile das Werk der de-
mokratischen, von den Wogen der Revolution getragenen Partei
war. Nur mit Hülfe eines von dem Könige octroyirten Wahl-
gesetzes vom 30. Mai 1849 gelang es, die revidirte Ver-
fassung vom 31. Januar 1850 im Einverständnisz der drei
Factoren durchzusetzen. Seither sind noch einige wesentliche
Veränderungen hinzugekommen, vorzüglich zur Verstärkung
der Autorität. Trotz wesentlicher Mängel dieser Verfassung
war nun für das constitutionelle Leben von Preuszen eine
neue statsrechtliche 25 Grundlage gewonnen.
Die wechselnden Ereignisse der folgenden Jahre zeigten
freilich, dasz mit der Form der Verfassung noch nicht sofort
der Geist derselben allgemeine Anerkennung fand. Das ari-
stokratische Herrenhaus, dessen Zusammensetzung den frühern
Vertretern des Absolutismus und der ritterschaftlichen Ro-
mantik allzu freigebig Vorschub geleistet hatte, bequemte sich
nur widerwillig; dem an Selbstherrlichkeit gewöhnten König-
thum fiel es schwer, sich in die veränderte Lage zu fügen
[478]Sechstes Buch. Die Statsformen.
und sich von dem modernen Geiste des Volkskönigthums er-
füllen zu lassen; die Volksvertretung endlich konnte sich auch
nur allmählich der Grenzen ihrer Macht und der groszen
Unterschiede bewuszt werden zwischen dem englischen Par-
lamentarismus und der preuszischen Statsregierung. Aber
während der zähen und erbitterten Kämpfe zwischen Reform
und Reaction, Autorität und Volksfreiheit trieb die neue Ver-
fassung doch tiefere Wurzeln, und nach und nach fanden sich
alle Gegensätze in der Pflicht gegen den wachsenden deut-
schen Stat zusammen. Im Feuer des deutschen Krieges von
1866 wurden die harten Widersprüche geschmolzen und die
Einigung vollzogen.
7. Auch Oesterreich wurde von der Revolution des
Jahres 1848 unvorbereitet überfallen. Die einzelnen Völker,
welche bisher durch die habsburgische Dynastie zusammen-
gehalten waren, versuchten sich loszureiszen, und in dem
Centrum der Monarchie, in Wien, regierte eine Weile die
unerfahrene schwärmerische Jugend. Nur in der Armee, sonst
nirgends mehr war Einheit, in ihr auch der letzte Halt der
Monarchie. Die Siege der Armee aber verschafften den öster-
reichischen Statsmännern wieder die Möglichkeit, die Zügel
der Regierung zu ergreifen, und im Gedränge der innern und
äuszern Gefahren unternahmen sie den Aufbau eines neuen
enger verbundenen Gesammtstates. Durch die octroyirte Ver-
fassung vom 4. März 1849 wurde ein erster Versuch gewagt
einer Organisation des Reiches nach den Grundsätzen der
constitutionellen Monarchie. Aber die Schwierigkeiten, so
verschiedene Völker, die überdem noch auf verschiedenen
Culturstufen stehen, in Einer Reichsversammlung zu einigen,
schienen damals so unüberwindlich, und das Bedürfnisz nach
einer einheitlichen und dictatorischen Regierungsgewalt nach
der überwältigten Auflehnung Ungarns so stark, dasz es nicht
zur Ausführung jener Verfassung kam. Hatten zuvor die ver-
schiedenen österreichischen Staten ihre Einheit wesentlich in
[479]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
der herrschenden Dynastie gefunden, so sollte auch für die
nächste Zeit die einheitliche Statsmacht über das ganze ge-
einigte Reich ausschlieszlich der Person des Kaisers anver-
traut bleiben. Durch das kaiserliche Patent vom 20. August
1851 wurde bestimmt, dasz die Minister nur dem Throne ver-
antwortlich seien, durch das Cabinetsschreiben vom 20. Au-
gust 1851 der Reichsrath in einen Rath der Krone umge-
wandelt, und durch das Patent vom 31. December 1851 wurden
die constitutionelle Verfassung und die Grundrechte von 1849
aufgehoben. In dem Cabinetsschreiben endlich vom 31. De-
cember 1851 wurden in den Kronländern berathende Aus-
schüsse des grundbesitzenden Erbadels, der übrigen Grund-
besitzer und der Industriellen in Aussicht gestellt, 26 aber in
Wahrheit das System der absoluten Monarchie wiederhergestellt.
Mit Hülfe eines maschinenartig zu bewegenden Beamten-
systems übte dieselbe die Regierungsgewalt aus und stützte
sich dabei in geistiger Hinsicht auf das Wohlwollen des ka-
tholischen Klerus und in materieller auf die starke Armee.
Seit dem Jahre 1858 hatte die absolutistische Politik in
Preuszen, Bayern, Baden, Württemberg, Kurhessen u. s. f.
eine Reihe von Niederlagen erlitten und Oesterreich erfuhr
es in dem Italienischen Kriege von 1859, dasz die drei ein-
zigen Stützen der absoluten Politik, die Bureaukratie, die
Armee und der Klerus in der Krisis ohnmächtig werden.
Wiederum sah die kaiserliche Regierung die einzig-mögliche
Rettung aus ihrer Finanznoth und aus ihrer politischen Ver-
kommenheit in der Gewährung der Repräsentativverfassung
und der Umwandlung der absoluten in die constitutionelle
Monarchie. Das kaiserliche Diplom vom 20. October 1860
verkündete diesen Entschlusz und das Grundgesetz vom 26. Fe-
bruar 1861 suchte denselben auszuführen.
Die Machtstellung der Oesterreichischen Monarchie sollte
[480]Sechstes Buch. Die Statsformen.
nach der Erklärung der Diplome ihre Ausgleichung finden
mit „dem geschichtlichen Rechtsbewusztsein ihrer verschiede-
nen Königreiche und Länder.“ Die „historischen Völkerindi-
viduen“ sollten ihre Landtage haben mit beschränkter Auto-
nomie und hinwieder in dem gemeinsamen Reichstag
zusammenwirken bei der Gesetzgebung des Reichs und der
Controle der Reichsregierung. Die Verfassung selbst unter-
schied hinwieder einen Weitern Reichstag für die Ge-
sammtmonarchie und einen Engern Reichstag, vorzüglich
für die westlichen Länder. Indessen auch diese Verfassung
gelangte nur zu einem Versuche des Lebens, nicht zu wirk-
lichem Leben, da sich die Ungarn weigerten, den Reichstag
zu beschicken.
Wiederum wurde die Wirksamkeit des Reichstages am
20. Sept. 1865 durch eine einseitige kaiserliche Erklärung
sistirt und von neuem die Reichsregierung ohne Controle des
Reichstages geführt. Erst das neue Kriegsunglück des Stats
brachte im Jahre 1866 wieder einen Umschwung zu Stande.
Nach der Niederlage von Königsgrätz und dem Frieden mit
Preuszen von Prag wurde ernstlicher wie bisher von der kai-
serlichen Regierung mit den Ungarn unterhandelt, die nicht
gesonnen waren, ihre alt-hergebrachten verfassungsmäszigen
Rechte aufzugeben und gegen eine octroyirte Verfassung des
Kaiserthums auszutauschen. Erst als ihnen die Rechtscon-
tinuität nicht blosz der ungarischen Verfassung, sondern
ebenso der ungarischen Gesetze von 1848 und die fortdauernde
Selbständigkeit des Königreiches wieder zugestanden ward,
mit Kraftloserklärung aller inzwischen versuchten Eingriffe,
lieszen sie sich herbei, ihren Frieden mit der Krone zu machen.
Damit aber war wieder der Dualismus des Reichs hergestellt.
Dem ungarischen Reichstage und Ministerium trat nun wieder
ein österreichischer Reichstag und ein österreichisches Mini-
sterium für die Länder dieszseits der Leitha an die Seite.
Eine Reihe neuer Verfassungsgesetze von 1867 ordnete die
[481]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
Verantwortlichkeit der Minister, die Reichsvertretung, die
Rechte der Statsbürger, die Rechtspflege und die Regierungs-
gewalt. Auch für sie muszte die sistirte Verfassung, soweit
sie noch anwendbar war, hergestellt werden. Die beiden
Reichstage suchten dann nach einer ausgleichenden Delegir-
tenversammlung, welche in Verbindung mit den beiden gemein-
samen Ministern für das Auswärtige und die Finanzen eine
Einigung in der Politik der gesammten Monarchie herzustellen,
die Aufgabe erhielt. Ob diese vermittelnde Einrichtung auf
die Dauer so bestehen werde, das mag noch zweifelhaft sein;
aber das ist sicher, dasz weder Ungarn, noch Deutsche und
Böhmen geneigt sind, sich die absolute Monarchie länger ge-
fallen zu lassen, und dasz alle diese Nationen, wenn auch
in verschiedenen Formen eine constitutionelle Monarchie mit
Einflusz und Controle der Volksvertretung entschieden ver-
langen.
7. Der Versuch, die repräsentative Verfassungsform,
welche seit der Revolution von 1848 in allen deutschen Län-
dern als die noch einzig mögliche Form der Monarchie pro-
clamirt worden war, auch auf den deutschen Bund als
einen Gesammtstat überzutragen, führte zu der deutschen
Reichsverfassung vom 28. März 1849, welche zunächst ganz
Deutschland auszer Oesterreich unter einem Deutschen mit
der preuszischen Königskrone verbundenen Erbkaiserthum,
zusammen faszte, den Einzelstaten eine Repräsentation in einem
Statenhaus einräumte und dem deutschen Volk eine Vertretung
in einem Volkshause zusicherte. Indessen diese Verfassung
gelangte nicht zur Wirksamkeit. Oesterreich verwarf diese
Lösung der deutschen Frage und bereitete sich zur Bekämpfung
derselben vor; der König von Preuszen nahm die Kaiserkrone
nicht aus den Händen der Nationalversammlung; auch Bayern
weigerte seinen Beitritt. Die deutsche Nation war nicht ent-
schlossen genug, für die Verfassung einzustehen. Die dynasti-
schen und particularistischen Kräfte waren stärker als das
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 31
[482]Sechstes Buch. Die Statsformen.
nationale Bewusztsein. Auch alle spätern Versuche besonders
Preuszens einen engern Bund als constitutionelle Monarchie
zu gestalten, scheiterte an dem Widerstand jener Kräfte. Erst
der deutsche Krieg von 1866 überwand die zähen Hindernisse,
welche Oesterreich und die Dynastieen erhoben hatten.
Die Verfassung des norddeutschen Bundes vom
16. April 1867 kann nur mit einigen Vorbehalten und Be-
schränkungen als constitutionelle Monarchie bezeichnet wer-
den. Allerdings wird die Hauptleitung der gemeinsamen Bun-
despolitik von dem jeweiligen Könige von Preuszen als
erblichem Bundespräsidium und geborenen Bundes-
feldherrn in Gemeinschaft mit dem von dem Bundeshaupte
ernannten Bundeskanzler, welcher verantwortlich ist, aus-
geübt. Die eigentliche Verwaltung wird von dem Bundes-
kanzleramte besorgt, das dem Bundeskanzler untergeordnet
ist. Insofern ist die Vollzugsgewalt des Bundes constitutionell-
monarchisch organisirt. Hinwieder ist das Bundeshaupt be-
schränkt sowohl durch den Bundesrath, in welchem die
Regierungen aller verbündeten Staten Sitz und Stimme haben
als durch den Reichstag als Vertretung des deutschen
Volkes, welcher gemeinsam mit dem Bundesrath die gesetz-
gebende Gewalt ausübt und welchem auch eine Controle der
Bundesverwaltung zukommt.
Die deutsche Reichsverfassung vom 16. April 1871
hat den monarchischen Charakter des Reichs noch durch die
Majestät des deutschen Kaisertitels erhöht. Aber auch
heute noch hat der deutsche Kaiser nur ein sehr beschränktes
Veto gegenüber einzelnen militärischen und financiellen Reichs-
gesetzen, nicht einen selbständigen unmittelbaren Antheil an
der Gesetzgebungsgewalt; und heute noch erscheint der Bun-
desrath nicht blosz als ein Reichssenat mit gesetzgeberischen
Befugnissen, sondern als ein Institut zur Mitregierung des
Reichs, die sich insofern wieder als Collectivregierung
sämmtlicher deutschen Fürsten und Landesobrigkeiten dar-
[483]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
stellt; und daher noch etwas von Aristokratie an sich hat.
Die Mischung verschiedenartiger Verfassungsprincipien in dem
deutschen Reiche, welche vor zwei Jahrhunderten Pufendorf
als monstros erklärt, ist auch in der heutigen Reichsverfassung
noch nicht völlig geklärt. Aber trotz dieser geschichtlich-
politischen Besonderheiten ist die Lebensfähigkeit und die
Thatkraft des deutschen Reichs bewährt. Wenn Einheit und
Macht der monarchischen Regierung und anerkannte Volks-
rechte und Volksfreiheiten das Wesen der constitutionellen
Monarchie bilden, so musz die deutsche Reichsverfassung als
eine eigenthümliche Form dieser Statsgattung anerkannt werden.
Fassen wir die Resultate zusammen:
In West-Europa hat das System der repräsentativen
oder der constitutionellen Monarchie das entschiedenste
Uebergewicht erlangt. Fast in allen Staten der civilisirten
europäischen Völker werden nicht blosz das Privatrecht der
Bürger, sondern auch politische Rechte der Volksmenge und
ihrer Classen anerkannt und Stellvertreter derselben zur Mit-
wirkung bei der Gesetzgebung zugezogen. Die europäische
Monarchie ist nicht mehr eine unbeschränkte und absolute
Gewalt, sondern eine durch das Recht auch der Unter-
thanen beschränkte oberste Rechtsmacht.
Aber im Uebrigen sind die Verfassungsformen noch sehr
verschieden.
In England ist das Königthum von einer mächtigen
Aristokratie umgeben, und die thatsächliche Leitung mehr
von den Mehrheiten der Parlamentshäuser und den ihnen ver-
antwortlichen Ministern als von dem individuellen Willen des
Königs abhängig. Auf dem Continente dagegen gibt es
nirgends mehr eine so angesehene Aristokratie. Vielmehr
kommt da neben dem monarchischen das demokrati-
sche Element vorzüglich in Betracht; das aristokratische hat
[484]Sechstes Buch. Die Statsformen.
da nur eine ermäszigende und vermittelnde Bedeutung. Die
continentalen Verfassungskämpfe sind Strebungen dieser mäch-
tigen Elemente, das richtige Verhältnisz zu einander und zum
Ganzen zu finden. Die ausschlieszliche Geltung des einen
und die völlige Unterdrückung des andern wurde oft versucht,
aber immer wieder erhob sich das entgegengesetzte Element
von momentanem Fall. Die constitutionelle Monarchie des
Continents strebt offenbar eine organische Gestaltung an,
welche allen Theilen des Gesammtkörpers ihr Recht gebe, der
Monarchie die Fülle der Macht und Hoheit, den aristokrati-
schen Elementen Würde und Autorität, dem Demos Frieden
und Freiheit.
Ueberall auf dem Continent, vorzüglich aber in Frank-
reich und in Deutschland ist die Monarchie nicht blosz
der äuszern Form nach, sondern der ganzen Anlage des Ver-
fassungskörpers nach die active Hauptmacht. Sie wird nur
dann gehemmt durch die unberechenbare, aber in der Regel
ruhende Macht der öffentlichen Meinung, wenn sie in Wider-
spruch tritt mit den Instincten der Nation und mit der Strö-
mung der Weltgeschichte. In Harmonie mit denselben aber
ist sie viel stärker als die Aristokratie, welche entweder wie
in Deutschland ihr gegen gewisse Vortheile zu dienen bereit
ist, oder wie in Frankreich in Ohnmacht murrt, und selbst
als die Vertretung des ganzen übrigen Volks, welche nur die
Regierung controliren, aber nicht selber regieren will. In
Frankreich aber stützte sich die bourbonische Monarchie mehr
auf die Zustimmung der reichen Bürgerclassen, die Napoleo-
nische mehr auf die groszen Volksmassen, in den deutschen
Länderstaten stützt sie sich mehr theils auf die Statsmittel
des Beamtenthums, welches hinwieder die Monarchie am mei-
sten beschränkt, theils auf die Armee, in dem deutschen Reich
auf die Unterstützung der groszen Volksclassen und die Mit-
wirkung der Landesregierungen. Zu einer befriedigenden
Organisation des Demos ist es aber noch nirgends gekommen,
[485]Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
obwohl Anfänge dazu allenthalben vorhanden sind. Erst wenn
diese gelungen sein wird, und erst wenn auch die Dynastien
die mittelalterlichen Vorurtheile abgestreift und den modernen
Statsgeist völlig aufgenommen haben werden, ist der viel-
jährige Widerstreit zur Versöhnung und die organisch be-
schränkte moderne Monarchie, welche die Einheit des Ganzen
mit der Freiheit aller Theile verbinden und den romanischen
Statsgeist mit dem germanischen Freiheitsgefühl zur Harmo-
nie zusammenstimmen will, zu sicherem Dasein gelangt.
Anmerkung. In einer Schrift, welche in den höchsten Kreisen
der Gesellschaft vielfältig mit Beifall aufgenommen worden ist, unter
den gebildeten Mittelklassen aber allgemeine Miszbilligung erfahren hat:
„Die Vortrefflichkeit der constitutionellen Monarchie für England und die
Unbrauchbarkeit der constitutionellen Monarchie für die Länder des eu-
ropäischen Continentes; Hannover 1852“ — hat sich Gustav Zimmer-
mann, der seither in Hannover zu einer für den Fürsten und das Volk
beklagenswerthen Wirksamkeit gelangt ist, über das auf dem Titel aus-
gesprochene Thema näher erklärt. Ich betrachte diese Schrift als ein
absolutistisches Gegenstück einer fruchtbareren radicalen Litteratur über
die constitutionelle Monarchie. Wie diese sehr häufig, so hat auch Gust.
Zimmermann seinen Begriff der constitutionellen Monarchie lediglich von
den äuszern Formen und Maximen der englischen Verfassung abgezogen.
Wenn er dann behauptet, dasz dieser abgezogene Begriff auf dem Con-
tinent nicht anwendbar sei, weil in England seine innern Widersprüche
und Mängel durch den historischen Zusammenhalt und die Interessen der
herrschenden Aristokratie vermittelt und verbessert, hier aber durch die
demokratische Erfüllung gesteigert werden, so hat er darin nicht Un-
recht. Aber der parlamentarische Constitutionalismus in England darf
nicht mit der Idee der constitutionellen Monarchie verwechselt werden.
Jener ist der erste groszartige und trotz der logischen Fehler glückliche
Versuch ihrer Verwirklichung, nicht ihre Vollendung. Man kann die
Unanwendbarkeit des englischen Parlamentarismus auf den Continent
zugeben und doch für diesen die Brauchbarkeit der constitutionellen
Monarchie, d. h. der Monarchie fordern, welche anerkennt, dasz ihre
politischen Rechte, wie die der regierten Volksclassen verfassungsmäszig
bestimmt und beschränkt seien, und dasz insbesondere für die Gesetz-
gebung alle Theile des Volkskörpers zusammen wirken müssen. Die or-
ganische Monarchie ist nothwendig zugleich eine constitutionelle, denn
der Organismus ist selbst die Constitution. Dasz trotz allem Scharfblick
im Einzelnen Gustav Zimmermann im Ganzen kein Verständnisz hat für
[486]Sechstes Buch. Die Statsformen.
das moderne Statsbewusztsein, ergibt sich aus seiner beharrlichen Be-
zeichnung der obrigkeitlichen Statsgewalt als „Eigenthum“ der Fürsten.
Indem er diesen mittelalterlichen Standpunkt wählt, geräth er mit der
gesammten Bewegung der neuen Zeit in den feindseligsten Gegensatz;
er kann so an einer kleinen Stelle die Strömung eine Weile stauen, aber
er wird von den höher gehenden Wogen in Kurzem sammt dem morschen
Gezimmer, das er sich in den Strom hineinbaut, weggerissen und ver-
schlungen werden. (Ich lasse diese zuerst 1857 geschriebene Stelle
wörtlich stehen. Sie hat 1866 ihre Erfüllung erlebt.) Wenn über irgend
etwas unsere Zeit klar und entschieden ist, so ist es darüber, dasz die
Statsgewalt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht ist, d. h.
dem gemeinsamen politischen Dasein und Leben des ganzen Volkes zu-
gehört, und dasz sie daher kein Eigenthum eines Individuums für sich,
d. h. kein Privatrecht sein kann.
Fünfzehntes Capitel.
2. Falsche Vorstellungen von der constitutionellen Monarchie.
Die civilisirten Staten Europa's haben sich fast alle dem
System der constitutionellen Monarchie zugewendet,
und in ihr den Abschlusz der Gegensätze, welche das Mittel-
alter hinterlassen hat, der Zerbröckelung und Erstarrung des
States einerseits und der absoluten Monarchie andererseits,
in ihr auch eine Versöhnung der verschiedenen politischen
Strömungen und Richtungen der Zeit, insbesondere der De-
mokratie und der Monarchie zu finden gehofft. Die Erörterung
der Grundlagen dieses Systems hat demnach ein unmittelbar
practisches Interesse.
Beseitigen wir zu diesem Behuf vorerst einige Irrthümer
und Miszverständnisse dieses Systems:
1. Die französische Revolution hat in den ersten Jahren
den Gedanken Rousseau's verwirklichen wollen, dasz es im
State zwei Gewalten gebe, die des Willens, die gesetz-
gebende, und die der physischen Kraft, welche den
Willen vollziehe. „Das Volk will, der König führt aus,“
[487]Fünfz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 2. Falsche Vorst. etc.
das hielt man damals in Frankreich für das Wesen der con-
stitutionellen Monarchie. 1
Dieser Gedanke setzt das Volk dem Könige gegenüber,
und indem er diesen zum bloszen Diener eines ihm fremden
und ohne seine Mitwirkung entstandenen Volkswillens macht,
hebt er den Begriff der Monarchie auf. Der Fall des Königs
Ludwigs XVI. und die Proclamation der jakobinischen Repu-
blik war freilich die Folge der historischen Ereignisse, aber
zugleich auch eine natürliche Consequenz dieses Verfassungs-
princips.
Denkt man sich aber den König nicht als untergeordnet
der gesetzgebenden Gewalt, von der er ausgeschlossen
[488]Sechstes Buch. Die Statsformen.
wird, sondern als dieser gleichgestellt, so ist die noth-
wendige Einheit im Statsorganismus aufgegeben, und wir haben
ein Monstrum mit zwei Köpfen, eine unhaltbare Dyarchie, 2
welche entweder den Stat zerreiszt, oder, sei es dem mon-
archischen, sei es dem republikanischen Princip, wieder
weichen musz.
2. Im Gegensatze zu dieser Verkehrtheit hat Sieyes in
seiner Verfassung dem Statsoberhaupt umgekehrt eine ruhende
Stellung zuweisen wollen, und darin die moderne Entwicklung
des constitutionellen Systems gesehen. Dieser Doctrin aber
hat Napoleon, der, wenn je einer ein geborner Monarch
war, durch sein berühmtes Wort: „Wie haben Sie sich ein-
bilden können, dasz ein Mann von einigem Talent und einigem
Ehrgefühl sich zur Rolle eines Mastschweins hergebe, das mit
ein paar Millionen gefüttert wird?“ — ein unauslöschliches
Brandmal aufgedrückt. 3
3. Häufiger noch wird als das Wesen dieser Statsform
der Satz behauptet: „Der König hat zwar das Recht der
Herrschaft und der Regierung, aber die Ausübung dieses
Rechts steht nicht ihm, sondern den Ministern zu.“ Factisch
mag diesz Verhältnisz in manchen Ländern zu gewissen Zeiten
so bestanden haben und noch bestehen. Als Statsprincip und
als Statsform anerkannt aber würde es Verzichtleistung auf
die Monarchie und Einführung der Republik sein. Denn wenn
die Ausübung eines Rechtes dem auf die Dauer entzogen
wird, dem man das Recht zuschreibt, so hat dieser den
realen Inhalt des Rechtes verloren, und es kann nicht
fehlen, dasz dem, welcher das Recht der Ausübung erworben
hat, auch die bei jenem zurückgebliebene leere Schale und
[489]Fünfz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 2. Falsche Vorst. etc.
der Name des Rechtes nachfolgt. Als die Ausübung des
Grundeigenthums im Mittelalter dauernd auf die Vasallen und
die hofhörigen Bauern übergegangen war, wurde auch das
Eigenthum selbst anfänglich als nutzbares Eigenthum von
diesen erworben, und der formelle Schein und Name des
Obereigenthums ging im Verfolg der Zeit für den vormaligen
Herrn unabwendbar verloren. Als die karolingischen Haus-
meyer die königliche Macht der Merowinger erworben hatten,
blieb auch der Name des Königthums nicht bei diesen. Ist
einmal die wirkliche Regierungsmacht von dem Könige abge-
löst und den Ministern zu Recht übergeben, so ist es eine
republikanische Behörde, welcher das Regiment in
Wahrheit zukommt, und das Königthum ist zur leeren Form
geworden. 4 Das blosze Symbol an der Spitze des States, statt
einer lebendigen und thatkräftigen Individualität, könnte
höchstens als Ideokratie, nicht als Monarchie gelten.
4. Es ist daher auch ein absurder Satz, dasz es in der
constitutionellen Monarchie „gleichgültig“ sei, wer König sei,
ob eine ausgezeichnete Persönlichkeit oder eine unbedeutende,
ob ein verständiger oder ein beschränkter Kopf, ein edler
Charakter oder ein Bösewicht. Die constitutionell-monarchische
Statsform hat die Tendenz, dafür zu sorgen, dasz der König
zwar so wenig Uebels als möglich thun, aber dasz er auch
so viel Gutes thun könne als möglich. Nur in diesem Sinne
beschränkt sie ihn. Sie weisz, dasz er ein Mensch ist, und
dasz Uebermacht selbst die Bessern verdirbt. Aber sie will
ihn nicht zur Puppe machen in der Hand der Minister. Sie
will nicht in ihm, der die oberste und herrlichste Stellung
[490]Sechstes Buch. Die Statsformen.
im State hat, die Würde des Menschen vernichten, indem sie
seine menschlichen Eigenschaften negirt. Sie will nicht ihm,
der das höchste politische Recht hat, das geringste Masz von
politischer Freiheit zuerkennen. Wie wäre Liebe, Ehrfurcht,
Treue gegen den Monarchen denkbar, wenn es gleichgültig
wäre, ob er derselben persönlich würdig, ob er auch nur
fähig sei, die Hingebung und Verehrung des Volkes zu ver-
stehen und zu erwiedern? Die Consequenz eines falschen
Princips müszte zu der Behauptung führen: je der blödsinnigste
und schwächste Fürst, der am wenigsten eigene Einsicht und
eigenen Willen hat, wäre der constitutionellste Monarch. 5 Und
eine solche Statsform sollte die Erfüllung der Sehnsucht sein,
welche die Völker haben nach einer wohlorganisirten und
geistig gehobenen Statsordnung?
Man hat sich öfter auf die englische Verfassung berufen,
um diese unsinnige Vorstellung zu vertheidigen. Allein auch
in England ist die Persönlichkeit des Monarchen nichts weniger
als gleichgültig. 6
5. Auch den berühmten Satz von Thiers: „Le roi règne
mais il ne gouverne pas“ (der König herrscht aber er regiert
nicht) können wir nicht als eine richtige Bezeichnung des
constitutionell-monarchischen Princips gelten lassen. Ist es
doch dem gewandten Minister selber nicht gelungen, denselben
dem Könige Ludwig Philipp gegenüber practisch durch-
[491]Fünfz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 2. Falsche Vorst. etc.
zuführen! Und sicherlich nicht daran ist der König gescheitert,
dasz er nicht blosz herrschen, sondern auch regieren
wollte. Sein Nachfolger der Kaiser Napoleon hat gerade
dadurch den Beifall der Massen erworben, dasz er selber die
Regierung ausübte.
Durch den Ausdruck herrschen waren mehr die for-
mellen Hoheits- und Majestätsrechte des Königs, durch das
Wort regieren die practisch-reale Oberleitung der statlichen
Politik bezeichnet. Beiderlei Rechte gehören dem Statsober-
haupte zu, und dieses insbesondere von der Ausübung der
wichtigeren, letzteren ausschliessen (eine blosz formelle Be-
theiligung ist Ausschlieszung von dem wesentlichen Antheil)
ist wieder Zerstörung des Kerns der königlichen Gewalt. „Rex
est qui regit.“
Nicht zu verwechseln mit dem regieren (gouverner)
ist das blosze verwalten (administriren). Sich mit diesem
kleinen Geschäftsdetail fortwährend abzugeben, kann aller-
dings dem Könige weder zugemuthet werden, noch ist es für
die Leitung des States irgend ersprieszlich, wenn er sich
damit in der Regel befaszt.
6. Andere haben, von der Idee der Volkssouveränetät aus,
das Wesen der constitutionellen Monarchie darein gesetzt, dasz
der Monarch „nach dem Willen und dem Sinne der Volks-
mehrheit regiere.“ Diese Meinung gibt offenbar die Exi-
stenz der Monarchie preis, und läszt sich von demokra-
tischen Ideen bestimmen. Denn die Demokratie ist die
Herrschaft der Volksmehrheit. Die Monarchie aber hat einen
ihrer wichtigsten Vorzüge gerade darin, dasz sie berufen ist,
auch die Minderheit in ihrer Freiheit und in ihrem Rechte
vor den Anmaszungen der Mehrheit zu schützen. Wäre der
Monarch nur ein Beauftragter und Diener der Mehrheit, und
würde somit dieser die Herrschaft im State zukommen, so
wäre das nicht Monarchie mehr, sondern Demokratie, eine
Demokratie freilich mit einem Scheinmonarchen an der Spitze,
[492]Sechstes Buch. Die Statsformen.
welcher ohne innere selbständige Macht so lang ein bloszes
Scheinleben fortführen könnte, als jene es bequemer fände,
ihre wahre Gewalt zu verbergen. 7
Sechszehntes Capitel.
3. Das monarchische Princip und der Begriff der constitutio-
nellen Monarchie.
Die constitutionelle Monarchie will eine wahre, keine
Scheinmonarchie sein.
Was ist nun das Wesen der Monarchie? Ohne Zweifel
die Personification der Statshoheit und der Statsgewalt
in einem Individuum. Von der Theokratie unterscheidet
sie sich auch dann, wenn der als Herrscher gedachte Gott
sich durch einen Fürsten vertreten läszt, indem sie dem Mon-
archen selber das Recht der Herrschaft zuschreibt, von den
Republiken, welche einen Dogen oder Präsidenten an der
Spitze haben, aber dadurch, dasz die republikanischen Stats-
häupter genöthigt sind, sei es die aristokratische Minderheit,
sei es die demokratische Mehrheit als den eigentlichen Herrscher
zu betrachten, dessen Vertreter und Diener sie sind, der
Monarch aber nicht Unterthan dieser Mächte, sondern immer
selbständiger Inhaber der Regierungsgewalt ist. Die Stats-
autorität erhält in der Monarchie im Gegensatz zu dem Col-
lectivausdruck der Republik einen höchsten individuellen
Ausdruck. Der Monarch ist die Statsperson im eminenten
Sinne.
[493]Sechsz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 3. Mon. Princip
etc.
In jener Begriffsbestimmung sind zwei Seiten zu unter-
scheiden, die beide vorhanden sein müssen, wenn noch von
Monarchie die Rede sein soll.
I. Die persönliche Erhebung des Statshaupts, als in-
dividuellen Repräsentanten und Organ der obrigkeitlichen
Gewalt.
II. Die inhaltliche Concentration der obersten Stats-
hoheit und der vollkommenen Statsgewalt in ihm. Die beiden
Pole der fürstlichen Thätigkeit sind die Initiative und die
Sanction.
I. Mit dem ersten Princip ist wohl verträglich:
1) Die Beschränkung des Monarchen durch die Re-
präsentation der übrigen Bestandtheile des Volks in der
Gesetzgebung, und
2) die Gebundenheit des Monarchen an die Mit-
wirkung der Minister in der regelmäszigen Ausübung der
Regierungsrechte und Pflichten. Denn wenn auch die andern
Glieder des Volkskörpers noch so hoch stehen, so überragt
er sie doch noch als der Höhere; und wenn die Verfassung
auch dafür sorgt, dasz sein individueller Wille wahrer Stats-
wille und nicht selbstsüchtiger Eigenwille sei, so wird dadurch
nur seine Aufgabe erleichtert und seine Statsautorität vor
Miszgriffen und Fall bewahrt.
Aber es verträgt sich damit nicht:
1) die Vorstellung, dasz der Monarch ein bloszes Idol,
eine blosze Form, nicht ein lebendiges Wesen sei;
2) die Einrichtung, dasz der Monarch der Volksreprä-
sentation oder den Ministern untergeordnet sei und von
ihnen gezwungen werden dürfe, einen Willen zu äuszern,
den er nicht hat, und zu handeln, wie er nicht will.
Da die oberste Gewalt seiner Person zusteht, so gebührt
ihm auch die Freiheit und das Recht der Persönlichkeit. 1
[494]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Seine Person gehört zwar auch nicht in allen Beziehungen
und nicht ganz, aber sie gehört doch vorzugsweise und mehr
dem State an, als jede andere Person. Er ist auch ein Gatte,
Vater, ein Genosse einer Kirche, vielleicht ein Gelehrter oder
Dichter. Aber in allen öffentlichen Dingen soll sich der
Statswille in ihm zum individuellen Willen erheben und po-
tenziren. Der monarchische Stat legt auf die individuelle
Sorge und die individuelle Energie des Monarchen einen
groszen Werth, und es wäre ungereimt, dem Monarchen das
höchste Recht im State zuzusprechen und zugleich ihn um
deszwillen unter die Vormundschaft anderer zu setzen. Nicht
die Kammern schaffen das Gesetz, sondern, indem er seine
Sanction frei ertheilt, begründet er das statliche Ansehen
des Gesetzes. Nicht die Minister fügen seinen Regierungs-
beschlüssen ihre Autorität bei, sondern er verleiht denselben
seine Autorität, und die Minister dienen ihm als Organe,
wenn auch als unentbehrliche Organe seines Willens.
So weit der König durch die Verfassung nicht beschränkt
und nicht gebunden ist an die nothwendige Zustimmung oder
Mitwirkung anderer Glieder des Statsorganismus, so weit ist
er auch völlig frei, seinen eigenen persönlichen Willen
auszusprechen und demgemäsz zu handeln.
Die Eigenthümlichkeit der constitutionellen im Gegensatz
zu andern Monarchien besteht darin, dasz der Monarch für
sich allein weder Gesetze geben noch in der Regel Re-
gierungshandlungen ausüben darf, sondern in der ersteren
Beziehung die Mitwirkung und Zustimmung der Kam-
mern, in der letzteren die Mitwirkung der Minister
erfordert wird. Sie besteht aber nicht darin, dasz der
Schwerpunkt der Statsregierung in den Kammern oder in den
Ministern liegt.
[495]Sechsz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 3. Mon. Princip
etc.
Würde die Kammermajorität und der Ministerrath in allen
Fällen mit formeller Nothwendigkeit die Handlungen des
Fürsten bestimmen, so wäre eine solche eigentliche Parla-
ments- und Ministerregierung2 allerdings im Wider-
spruch mit dem monarchischen Princip. Der constitutionelle
Monarch wird sich thatsächlich meistens durch das schwere
Gewicht jener Abstimmungen und Anträge bestimmen lassen,
weil er darin den vorbereiteten Statswillen erkennt,
aber er wird sich die freie Prüfung aus dem Standpunkt des
Statswohls vorbehalten müssen, wenn er seine monarchische
Pflicht üben soll.
Innerhalb jener Schranken bewegt sich auch der consti-
tutionelle Monarch mit voller Freiheit. Es ist abgeschmackt,
ihn verhindern zu wollen, dasz er seine eigene Meinung
ausspreche. Jeder tüchtige Mann hat ein Bedürfnisz, seine
wirkliche Gesinnung zu äuszern. 3 Politische Rücksichten
mögen den Monarchen oft zurückhalten, dieselbe ganz und
laut zu offenbaren, aber Niemandem steht das Recht zu, ihm
die freie Rede zu versagen oder gar ihn zu falscher
Rede zu nöthigen. 4
[496]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Dem Monarchen kommt es ferner zu, mit eigenen Augen
zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, selber zu prüfen,
wie es steht in seinem Lande, unmittelbar sich von den Be-
dürfnissen des Volks zu unterrichten, die Erscheinungen des
öffentlichen Lebens zu beobachten, und wo das Interesse und
die Wohlfahrt des Ganzen es erfordert, anregend einzu-
greifen, Aufträge zur Bearbeitung der nöthigen Ge-
setze oder zur Einleitung der erforderlichen Masz-
regeln zu geben. Das ist es, wodurch von jeher grosze Mon-
archen sich ausgezeichnet haben. Das ist die wahre Activität
des Monarchen. 5 Auch die constitutionelle Statsform bietet
einer bedeutenden Individualität in diesen Beziehungen noch
immer freien Spielraum. Sie darf denselben nicht verschlieszen.
II. Das zweite Princip ist: Dem Monarchen steht die
oberste Statshoheit und die vollkommene Stats-
macht zu. Auch das englische Statsrecht, welches die Rechte
des Königthums in einem Masze beschränkt, wie es die meisten
Monarchien des Continents noch nicht ertragen, erkennt das
Princip dennoch an. Darin liegt:
1. Die Monarchie ist nicht ein Aggregat von einzelnen
Hoheitsrechten, sondern die Einheit und Fülle aller
Hoheitsrechte. 6 Die absolute Monarchie outrirt diesen
[497]Sechsz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 3. Mon. Princip
etc.
Gedanken dahin, dasz sie andern politischen Körperschaften
und Organen weder selbständige, der Willkür des Monarchen
entzogene Rechte, noch eine nothwendige Betheiligung bei
der Ausübung der Rechte des Monarchen zugesteht, und dasz
sie auch von berechtigten Freiheiten der Individuen und
Volksclassen nichts wissen will. Alles Recht nimmt sie für
sich in Anspruch, den Andern vergönnt sie höchstens Gnaden.
7
Die constitutionelle Monarchie dagegen ist auch hierin
eine beschränkte und erkennt die Rechte jener Körper-
schaften und die Freiheit der Unterthanen an.
2. An der Gesetzgebung vorerst hat der Monarch
nicht blosz einen Antheil, sondern den dem Inhalt nach in
6
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 32
[498]Sechstes Buch. Die Statsformen.
der Regel, der Form nach immer entscheidenden Antheil.
Ihm steht die Initiative und die Sanction der Gesetze
zu, und in seinem Namen werden sie verkündet.
Wird dieser Grundsatz in einer constitutionellen Mon-
archie verneint, so wird auf diesem Gebiete das monarchische
Princip durch die Einwirkung republikanischer Ideen in Wahr-
heit beeinträchtigt; denn dann ist die oberste Statsmacht nicht
mehr bei dem Monarchen, sondern bei den — für sich allein
betrachtet — offenbar republikanischen Kammern, und er ist,
soweit die Gesetzgebung reicht, der Unterthan der Kammern.
Die Rechte der Kammern können folglich nach dem
System der Monarchie nur concurrirende, nicht aus-
schlieszliche sein.
3. Alle Statsregierung ist in dem Monarchen con-
centrirt, steht ihm zu selbständigem Rechte zu, und
wird in seinem Namen ausgeübt.
In der constitutionellen Monarchie dürfen die Minister
oder andere Regierungsbeamtete nicht in ihrem Namen re-
gieren; aber auch der Fürst kann nicht ohne die Mit-
wirkung der Minister, sondern nur im Einverständnisz
mit ihnen regieren. Alle ihre Gewalt erscheint als ein Aus-
flusz der königlichen Gewalt, ihr Regierungsrecht wird aus
der Fülle der königlichen Macht abgeleitet, und zwar nicht
im Sinne der mittelalterlichen Lehensmonarchie, so dasz ihnen
diese abgeleiteten Rechte für sich zu ihrem eigenen Rechte
und eigener Nutzung verliehen wären, sondern so dasz die
organische Einheit des States gewahrt bleibt. Auch im
Verhältnisz zu den Ministern hat der König Initiative und
Sanction; die erstere können und sollen auch die Minister
üben als leitende Statsmänner, diese steht dem König allein,
den Ministern nur das Recht der freien Zustimmung zu den
Befehlen des Königs zu. 8
[499]Sechsz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 3. Mon. Princip etc.
Das im Mittelalter erkannte Princip, dasz alle Regierungs-
autorität und Gewalt von oben her komme und stufenweise
nach unten verliehen, nicht aber umgekehrt von unten nach
oben aufgetragen werde, und dasz alle obrigkeitliche Macht
vom Centrum zur Peripherie und nicht von dieser zu
jenem den Weg nehme und wirke, ist in der constitutionellen
Monarchie der neuern Zeit in Anerkennung geblieben. Aber
die mittelalterliche Zersplitterung dieser Gewalt in selbständige
Theilgewalten ist nun aufgegeben worden.
4. Alle einzelnen Statsorgane sind dem Monarchen
untergeordnet, und zwar nicht blosz die, welche in ihrem
Wirkungskreise von seinem Willen völlig abhängig sind, son-
dern auch die, an deren Zustimmung er selber gebunden ist,
um einen statlichen Willen zu äuszern, wie die Minister und
die, denen ein von der Einwirkung des Statsoberhauptes un-
abhängiger Wirkungskreis angewiesen ist, wie die Richter,
ja selbst die gesetzgebenden Kammern, welche als selbständige
Mächte im State sich mit ihm zur Gesetzgebung einigen. Wie
das Haupt allen andern Gliedern des Körpers und dem Leibe
übergeordnet ist, so hat der Monarch in dem Statskörper die
höchste Stelle.
Man darf den Begriff der constitutionellen Mon-
archie nicht aus der englischen Verfassung allein ableiten.
Je nach der Art und der Geschichte eines Volkes bekommt
dieselbe Grundform einen modificirten Ausdruck. Da sie ihrer
Natur nach relativ und nicht absolut ist, so hat sie auch
die Fähigkeit, sich den verschiedenen Verhältnissen und Be-
dürfnissen anzuschmiegen.
Als nothwendige Merkmale aller constitutionellen Mon-
archie sind folgende Eigenschaften hervorzuheben:
[500]Sechstes Buch. Die Statsformen.
1) Sie ist eine verfassungsmäszige Würde und Macht.
Der constitutionelle Fürst steht nicht auszer, noch über,
sondern in der Verfassung. Die Rücksicht auf die verfassungs-
mäszige Rechtsordnung, welche auch den Monarchen bedingt,
hat dieser Form den Namen gegeben. Ob die Verfassung in
Einer Urkunde dargestellt werde oder nicht, ist zwar nicht
gleichgültig, aber für den Begriff nicht wesentlich.
In England, dem Mutterlande der constitutionellen Mon-
archie, gibt es wohl einzelne Verfassungsgesetze und
urkundliche Erklärungen über die anerkannten Volksfreiheiten,
aber nicht eine systematische Beurkundung der ge-
sammten Statsordnung, wie die neuere Zeit sie liebt, und
vorzugsweise Constitution zu nennen pflegt. Jene sind je
nach den politischen Kämpfen der Zeit und den besondern
Anforderungen des in bestimmten Richtungen erregten poli-
tischen Lebens des englischen Volks im Lauf der Geschichte
allmählich entstanden. Diese Constitutionen werden gewöhn-
lich auf einmal und unter dem Einflusz einer allgemeinen
Statstheorie als ein zusammenhängendes und umfassendes Ge-
setzeswerk bearbeitet.
In beiden Formen ist die constitutionelle Monarchie mög-
lich. Aber sie setzt auf urkundliche Bestätigung, auf
Verbriefung der politischen Rechte, obwohl die Natur
dieser nicht von der Form der Bezeugung und Zusicherung
abhängt, einen entschiedenen Werth, ohne darum das unge-
schriebene Recht zu bestreiten. Es ist dieser Zug dem mo-
dernen Leben in der That gemäsz, dessen Rechtsbewusztsein
nicht mehr so unmittelbar mit der Gewohnheit verwachsen
ist, sondern um sich sicher zu fühlen und zur Klarheit zu
gelangen, der Fixirung durch die Schrift bedarf. 9
[501]Sechsz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 3. Mon. Princip etc.
2) Der constitutionelle Monarch ist ebenso verpflichtet,
wie die Bestimmungen der Verfassung, so auch die Gesetze
des States zu beachten. Er darf nur verfassungs- und
gesetzmäszigen Gehorsam erwarten und fordern.
3) Die gesetzgebende Gewalt kommt ihm nur in
Verbindung mit den Kammern (der übrigen Repräsentation
des Volkes) zu. Er bedarf, um ein Gesetz zu geben, ihrer
Zustimmung, nicht blosz ihres Beirathes.
4) Die Ordnung des Statshaushalts und die Bewilligung
der Statssteuern ist ebenso an die Mitwirkung und Zu-
stimmung der repräsentativen Körper gebunden.
5) Zu der Leitung der Regierung und der Verwal-
tung bedarf der constitutionelle Fürst der Mitwirkung der
Minister. Damit seine Verordnungen, Befehle und Decrete
für dritte Personen rechtswirksam werden, ist die Contra-
signatur eines Ministers als Ergänzung seiner Unterschrift
unerläszlich.
6) Die Verantwortlichkeit der Minister und aller
andern Regierungsbeamten ist unentbehrlich für die Wirksam-
keit der Verfassung.
7) Die Selbständigkeit der Rechtspflege und die
Ausschlieszung aller Cabinetsjustiz als eine nothwen-
dige Beschränkung der Regierungsgewalt und eine der wich-
tigsten Garantien für das Recht der Bürger.
8) Die Anerkennung, dasz auch den verschiedenen
Volksclassen und den einzelnen Bürgern nicht blosz Privat-
rechte, sondern öffentliche Rechte zustehen, die nicht
minder unverletzlich sind, als das Recht des Monarchen.
Die constitutionelle Monarchie läszt sich nur als Volks-
fürstenthum eines freien Volkes verstehen 10
[502]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Siebenzehntes Capitel.
III. Die Aristokratie.
A. Hellenische Form. Sparta.
Wie Athen im Alterthum als der höchste Ausdruck der
Demokratie, so galt Sparta bei den Hellenen als die aus-
geprägteste Erscheinung der Aristokratie. Im all-
gemeinen hatte der hellenische Volkscharakter eher eine Nei-
gung zur demokratischen als zur aristokratischen Statsform;
nur im Verhältnisz zu den Barbaren des Auslandes liebten
die Hellenen es, sich als geborne Aristokraten zu betrachten.
Der dorische Volksstamm aber, zu welchem die Spartiaten
gehörten, zog auch für seine innern Statseinrichtungen aristo-
kratische Formen und Tendenzen vor.
Alle Aristokratie setzt in ihrem idealen Princip Herr-
schaft der edleren Bestandtheile des Volkes über die
untergeordnete Menge voraus. Die Art aber wie diese edleren
Bestandtheile gemessen und emporgehoben werden, ist in den
verschiedenen Staten dieses Charakters verschieden. In Sparta
war der Stamm der Spartiaten, welche das Land mit den
Waffen erobert hatten, der herrschende. Ihre Unterthanen
waren die alten besiegten Einwohner des Landes, die Perioi-
ken, Lakedämonier. Die Geburt bezeichnet somit schon
den herrschenden und den unterthänigen Stamm. Die ersten
Eroberer des Landes setzten so die Herrschaft, welche sie
durch die Ueberlegenheit ihrer Waffen erworben hatten, fort,
indem sie dieselbe durch alle folgenden Generationen auf ihre
Nachkommen vererbten. Das politische Erbrecht, ein
charakteristischer Zug aller alten Aristokratien, hatte in die-
sem Streben der Erhaltung einen natürlichen Ursprung, und
war zu einem Grundprincip des ganzen States geworden.
Diese erbliche Herrschaft der Spartiaten als des edleren
[503]Siebenzehntes Cap. III. Die Aristokratie. A. Hellenische Form. Sparta.
Stammes wurde nicht durch Uebergänge gemildert. Die Aus-
scheidung der Spartiaten und der Metoiken blieb schroff und
starr, in der That kastenartig ohne Ehegenossenschaft. Nur
ganz ausnahmsweise und äuszerst selten wurde etwa Einer
von diesen in das volle Bürgerrecht jener aufgenommen. Der
herrschende Stamm wurde somit nicht erfrischt durch neue
Familien, und der unterthänige nicht durch die Aussicht ge-
tröstet, dasz die besten seiner Söhne durch ihr Verdienst
hinaufsteigen können zu den Leitern des States. Diese Aus-
schlieszlichkeit erscheint um so befremdender und drückender,
je weniger ängstlich in anderer Beziehung die Spartiaten die
Reinheit des Blutes wahrten; lieszen sie es doch von Stats-
wegen geschehen, dasz spartanische Frauen, deren Männer
im Kriege gefallen waren, der Umarmung von Heloten preis-
gegeben wurden, um spartanische Kinder zu empfangen.
Desto sorgfältiger aber wurde die Erziehung geordnet.
Der Vorzug der Geburt sollte durch die Erziehung ergänzt,
und durch beide die Ueberlegenheit der Spartiaten erhalten
werden. Die Sorge des States für eine politisch-kriegerische
Erziehung der Jugend war so umfassend und eingreifend, dasz
um ihretwillen selbst der Zusammenhang und die Freiheit der
Privatfamilien aufgelöst und geopfert wurde. Das individuelle
Leben wurde nirgends in dem Masze dem Statsleben unter-
worfen, und die Allmacht des States nirgends weiter getrieben
als in Sparta; als wäre wirklich der Mensch nur für den Stat
in der Welt.
Unter sich waren die Spartiaten wieder zunächst gleich-
berechtigt, und so sehr war innerhalb der Aristokratie die
demokratische Gleichheit anerkannt, dasz sogar gleiches
Vermögen aller spartanischen Familien ein Grundzug der
lykurgischen Verfassung war. Jede Familie hatte ein gleiches
Loos (ϰλῆϱος) an dem zum Privatbesitze vertheilten Boden
des Landes erhalten, und die Loose sollten nicht veräuszert
werden dürfen. Damit aber das bewegliche Vermögen nicht
[504]Sechstes Buch. Die Statsformen.
sich bei Einzelnen ansammle und auf diese Weise der Unter-
schied der Reichen und der Armen entstehe, wurde sogar
jeder Gebrauch von Silber und Gold verboten. Die Heloten,
welche die Landgüter der Spartiaten bebauten, waren nicht
im Eigenthum der einzelnen Herren, sondern wie die Güter
selbst in dem Eigenthum des States; und der Zins an Früch-
ten, den sie entrichteten, war gesetzlich und gleichmäszig für
die Herren und hinwieder für die Frauen des Hauses be-
stimmt. Selbst die Mahlzeiten, allen Männern gemeinsam,
welche in vielen Tischgenossenschaften beisammen lagen, waren
für alle gleichartig bestimmt und zugemessen. Die Gleich-
heit des Lebens war somit unter den aristokratischen
Spartiaten sehr viel ausgebildeter und fester begründet als
bei den demokratischen Athenern.
Dessen ungeachtet übte der Stamm der Spartiaten seine
Herrschaft nicht in demokratischer Form aus. Es wäre das
im Widerspruch gewesen mit dem Charakter des States und
des Volks. Wohl gab es auch zu Sparta eine Volksver-
sammlung (ἐϰϰλησία); aber die reale Macht war nicht bei
dieser, sondern bei der Gerousie. 1 Diese behandelte und
entschied die Statsgeschäfte in der Regel, und unterwarf nur
in einigen Hauptfällen ihre Entscheidungen noch der einfachen
Genehmigung oder Verwerfung der Volksgemeinde, in welcher
nur die Könige, die Geronten und Ephoren, nicht jeder reden,
und nur Männer von gereifter Lebenserfahrung (von minde-
stens 30 Jahren), nicht junge Leute stimmen durften.
Bei der Bestellung des Senats, der Gerousie, wurden
wieder folgende aristokratische Rücksichten beachtet:
1) Auf das Geschlecht. Die 9000 spartiatischen Kleren
[505]Siebenzehntes Cap. III. Die Aristokratie. A. Hellenische Form. Sparta.
und vollberechtigten Hausväter waren in 30 Oben getheilt,
welche füglich mit den römischen Curien verglichen werden
können. Aus jeder Obe wurde Einer zum Geron erhoben. Die
beiden Könige gehörten den zwei königlichen Oben an, die
28 übrigen Geronten, welche mit jenen zusammen den Senat
bildeten, waren gewissermaszen ihre Pairs, die Fürsten. 2
Diese Rücksicht wirkte negativ gegen die Uebermacht blosz
einzelner Geschlechter, positiv für die Würde und Stellver-
tretung der verschiedenen Familien.
2) Auf das Alter. Dem hohen Alter widmeten die
Spartiaten die gröszte Ehrfurcht. Sie verehrten in ihm die
Grundbedingung der höchsten Lebensweisheit. Die Geronten
— auszer den Königen — muszten wenigstens 60 Jahre zu-
rückgelegt haben. Immerhin scheint diese Rücksicht über-
trieben in der Verfassung; denn auch die Schwäche ist ein
gewöhnlicher Begleiter des Alters, und der Stat bedarf zu
seiner Leitung nicht blosz der Erfahrung der Greise, sondern
vornehmlich auch der vollen productiven Kraft und Geistes-
frische der Männer.
3) Auf die Wahl, welche nach vorheriger Bewerbung
der Candidaten durch die Volksversammlung, durch die Stärke
des Beifallsrufes vorgenommen wurde. In der Bewerbung um
diese hohe Würde sprach sich die Ueberzeugung der Greise
aus, dem State noch gute Dienste leisten zu können, und
der Wille derselben, ihr noch übriges Leben dem State zu
weihen, in dem Beifall der Versammlung aber das Vertrauen
des Volkes.
4) Auf die Dauer des Amtes, welches auf Lebenszeit
verliehen wurde, somit vor den Schwankungen der Volksgunst
gesichert, aber auch der Gefahr einer bis zur Ausschwächung
festgehaltenen Stabilität ausgesetzt war.
Ermäszigt war diese Aristokratie theils durch das König-
[506]Sechstes Buch. Die Statsformen.
thum, welches aus derselben emporragte und in höherer
Weise die Einheit und Würde des Stats darstellte, theils
durch das demokratische Amt der Ephoren, welche als
wechselnde Organe des Volkes die Amtsthätigkeit der Könige
und des Senates controlirten und eine ausgedehnte Gerichts-
barkeit auch in Statssachen ausübten.
Die Verfassung von Sparta macht den Eindruck eines
Kunstwerks, welches, der Platonischen Republik ähnlich, durch
edle Formen den Sinn für äuszere Schönheit und Harmonie
erfreut, aber um seiner innern Unnatur willen 3 befremdet,
und daher eher zurückschreckt als anzieht. Indem man sie
betrachtet, wird man eher von Bewunderung ihrer Architektur
als mit der Neigung erfüllt, darin zu wohnen und zu leben.
Hat man den Athenern mit Grund vorgeworfen, sie ziehen
die Herrschaft der Menge einem wohlgeordneten Stat vor, so
kann man den Spartiaten den Vorwurf machen, sie opfern
der Statsordnung die menschliche Freiheit auf. Ihre Weise
ist vornehmer als die der Athener, aber weniger heiter und
behaglich; bei ihnen ist mehr ruhiges Ebenmasz politischer
Tüchtigkeit, bei den Athenern sind glänzendere Lichter und
dunklere Schatten zu finden. Die Stätigkeit der einen und
die Beweglichkeit der andern sind beide einseitig übertrieben.
An Dauerhaftigkeit übertraf die spartanische Verfassung
die Athens bei weitem. Solon hatte noch bei seinen Lebzeiten
den Untergang seiner mit aristokratischen Elementen der
Geschlechter und des Reichthums bedeutend gemischten Demo-
kratie in der Tyrannis erfahren, ohne den Sieg dieser be-
hindern zu können, und als später nach der Ermordung der
Tyrannen die reine Demokratie eingeführt wurde, versank
sie schon in dem ersten Jahrhundert ihres Bestandes in den
[507]Siebenzehntes Cap. III. Die Aristokratie. A. Hellenische Form. Sparta.
offenkundigsten Verfall. Die Verfassung Lykurgs dagegen
erhielt fünf Jahrhunderte lang die Grösze Sparta's aufrecht,
und obwohl sie den Verfall derselben nicht abzuwenden ver-
mochte, so musz doch zugestanden werden, fürs erste, dasz
die Abweichung von den Verfassungsgrundsätzen Lykurgs,
insbesondere der seinen Gesetzen zuwider eingeschmuggelte
Reichthum Einzelner, die im Zusammenhang damit einge-
drungene Bestechlichkeit Vieler und die spätere Demagogie
der Ephoren, nicht aber die Festhaltung derselben die Ent-
artung und den Untergang Sparta's herbeigeführt habe 4; fürs
zweite, dasz die bewahrende Kraft dieser Verfassung um so
höher geschätzt werden musz, je mehr sie auf der einen Seite
mit der menschlichen Natur selbst, auf der andern mit der
Macht der Weltverhältnisse in Widerspruch und Kampf ge-
rieth. Einen Theil dieser unerschütterlichen Haltbarkeit mochte
sie aus dem ideokratischen Glauben des Volkes geschöpft
haben, dasz sein Gesetzgeber der Liebling des Zeus und selbst
ein gott-menschliches Wesen sei.
Indessen wird der ähnlichen Verfassung von Kreta und
der ebenfalls aristokratischen Verfassung von Karthago nicht
mindere Dauerhaftigkeit nachgerühmt, und es ist immerhin
eine durch die Geschichte erwiesene Thatsache, dasz die
Aristokratien, welche die Stätigkeit der Statsordnung zu
dem Hauptprincip ihres Daseins erhoben haben, auch sich
und den Stat weit länger zu conserviren verstehen, als die
Demokratien die Herrschaft des Demos.
[508]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Achtzehntes Capitel.
B. Die römische Aristokratie.
Die römische Republik war ihrem Grundcharakter
nach ebenfalls eine Aristokratie, aber von höherer Art als
die spartanische. Die Römer unterschieden scharf zwischen
dem Rechte des States in öffentlichen Dingen und der Frei-
heit der Individuen und Familien. Obwohl sie voraus für die
Herrlichkeit und Macht des States den offensten Sinn und
die groszartigste Hingebung hatten, so vermaszen sie sich
doch nicht, das individuelle Leben gewaltsam mit der Stats-
scheere zuzustutzen. Sodann hielten sie sich frei von jener
künstlichen und beschränkten Abschlieszung gegen alles Fremde,
welche zwar die nationale Tugend der Spartiaten für einige
Zeit reiner erhielt, aber dieselben auch unfähig machte, die
hervorragende Stellung in der äuszern Welt zu behaupten, zu
welcher sie durch das Geschick berufen wurden. Endlich
waren die Römer von Anfang an frei von jener Starrheit der
ständischen Gegensätze, wie wir sie in Sparta gefunden. Die
in dem römischen Volke vorhandenen Gegensätze standen
nicht unbeweglich einander lähmend entgegen, sondern brachten
gerade durch ihre Reibungen und Wechselwirkungen eine höhere
Entwicklung des politischen Lebens hervor. Der römische
Stat ist nicht minder ein Kunstwerk als der spartanische, aber
einerseits der menschlichen Natur und den allgemeinen Welt-
zuständen gemäszer, und andererseits durch Reichthum der
Bildungen und Groszartigkeit der Verhältnisse vor dem letztern
ausgezeichnet. Der römische Stat macht in hohem Masze einen
organischen Eindruck.
Betrachten wir die römische Republik in ihren Haupt-
zügen, so finden wir überall, wenn schon durch monarchische
und demokratische Einrichtungen ermäszigt, den aristokra-
tischen Charakter hervorragend. Es zeigt sich diesz 1) in
[509]Achtzehntes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Die römische Aristokratie.
dem Verhältnisz der Stände; 2) in der Institution der Volks-
versammlungen; 3) in dem Senate; 4) in den Magistraturen.
1. Verhältnisz der Stände. Schon in der ältesten
Zeit mochte der Umstand der Starrheit sowohl als der
Despotie des Patriciats entgegen wirken, dasz die römischen
Patricier nicht wie die Spartiaten von Einem Volksstamm
ihren Ursprung herleiteten, sondern wie der englische Adel aus
sächsischem und normannischem Geblüte, so von latinischem
und sabinischem, theilweise auch etruskischem Ursprung
waren. Auch später besasz zwar das Patriciat noch lange als
der herrschende Stamm fast alle politische Gewalt im State,
aber theils wurde diese ermäszigt durch die Organisation der
Plebes mit eigenen plebejischen Magistraten, theils wurde das-
selbe genöthigt, der aufstrebenden neuen Aristokratie der
Plebejer einen wachsenden Antheil an der Leitung des States
zu verstatten. Endlich entstand aus der Verbindung und
Mischung der alten und der neuen Aristokratie der keines-
wegs abgeschlossene, aber für den römischen Stat so sehr
bedeutende Stand der Optimaten. 1
Die Tradition der Statsleitung und die Kunde der Stats-
geschäfte war, so lange die römische Republik bestand, vor-
nehmlich in der Aristokratie. Sie zeichnete sich aus durch
Geburt, Erziehung, Reichthum, religiöse und politische Kennt-
nisse, Macht. Aber sie zog fortwährend neue Kräfte aus der
Plebes herbei. Sie stieg empor auf die obersten Höhen des
damaligen Lebens, den Königen gleich, und über diesen, aber
sie blieb zugleich in voller Gemeinschaft mit dem Volke, aus
welchem sie hervorragte.
Auch die politische Erziehung der Römer war sorgfältig;
aber sie war Angelegenheit der Familien, nicht wie in Sparta
des States. Daher denn auch die Mannichfaltigkeit und die
erbliche Entschiedenheit der politischen Richtungen, während
[510]Sechstes Buch. Die Statsformen.
zu Sparta innerhalb der Aristokratie auch hierin Gleichheit
bestand. Die meisten vornehmen römischen Familien waren
und blieben conservativ gesinnt; aber einzelne, wie z. B. die
patricischen Valerier und die plebejischen Publilier und Si-
cinier haben vorzugsweise in liberaler Richtung gehandelt; die
Claudier dagegen mit seltenen Ausnahmen sind den englischen
Tories zu vergleichen.
2. Die Volksversammlungen. Von den drei Arten
der römischen Comitien waren nur die jüngsten, die Tribut-
comitien, demokratisch organisirt. Ihrer ursprünglichen Be-
stimmung nach sollten sie indessen nur als Organ für die
Stimmung und Meinung des untergeordneten Standes der Ple-
bejer und als Schranke der patricischen Uebermacht dienen,
nicht aber an der eigentlichen Leitung des States Theil haben.
Später wurden sie allerdings nicht blosz zu einem einzelnen
Factor der gesetzgebenden Macht, sondern erlangten für sich
allein die volle gesetzgebende Gewalt. Aber selbst in den
letzten Jahrhunderten der Republik, während welcher die alte
Aristokratie in Verfall gerieth und die Monarchie vorbereitet
wurde, übten die demokratischen Tributcomitien doch nur in
seltenen Ausnahmsfällen, von ehrgeizigen Tribunen geleitet,
eine durchgreifende oberste Macht aus. In der Regel hemmten
die Tribunen selbst schon, die allein Vorschläge machen durften,
und von denen je einer den andern controlirte und hindern
konnte, und überdem die Rücksicht auf die mächtige Autorität
des Senats jede Ausschreitung der Demokratie, und es waren
daher gewöhnlich auch diese Comitien nur ein Ferment und
eine Schranke der äuszerst zähen und meistens übermächtigen
Aristokratie.
Die Curiatcomitien dagegen, in den ersten Jahrhun-
derten der Republik noch eine bedeutende Macht, in den
letzten Zeiten derselben freilich nur eine formelle Scheinmacht,
waren durchaus aristokratisch. Sie waren vornehmlich die
Versammlung der alten, nach Geschlechtern und Curien ge-
[511]Achtzehntes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Die römische Aristokratie.
ordneten Geburtsaristokratie der Patricier, der Senat selbst
anfänglich gewissermaszen nur der Ausschusz ihrer Geschlechts-
häuptlinge. Selbst wenn man annimmt, dasz die Plebejer
Zutritt zu denselben gehabt haben, so waren diese doch offen-
bar in untergeordneter Stellung anwesend.
Die wichtigste Volksversammlung endlich, der sogenannte
comitiatus maximus der Centurien, in welcher die ganze
Nation zusammentrat, war so organisirt, dasz in ihr die höhern
Classen der Gesellschaft das entschiedenste Uebergewicht hatten.
Die Censusverfassung legte den gröszten Nachdruck:
a) auf das Vermögen. Schon die erste Classe der
Höchstbesteuerten mit ihren 80 Centurien für sich allein,
wenn sie einig war und die 18 Rittercenturien mit ihr stimmten,
besasz die Mehrheit aller Stimmen, so dasz ihr gegenüber die
vier andern Classen und die Masse der Proletarier und Kopf-
steuerpflichtigen zusammen, obwohl an Volkszahl jener vielfach
überlegen, dennoch in der Minderheit blieben. Aber auch in
den andern vier Classen hatten je die Reicheren in demselben
Verhältnisz wie mehr Vermögen so auch mehr Stimmrecht;
4 Personen der zweiten Classe so viel als 6 der dritten, 12
der vierten und 24 der fünften. Die gewisz damals auch sehr
zahlreichen Proletarier waren wie die noch zahlreicheren Capite
Censi nur in je eine Centurie von 195 zusammengedrängt,
hatten somit einen sehr geringen Einflusz in einer Versamm-
lung, in welcher die Aristokratie des Reichthums so viel galt.
b) Auch die Geburt und edler Lebensberuf kamen
in Betracht, indem nach diesen Rücksichten die ersten 18
Rittercenturien gebildet und als die Edelsten an die Spitze
der Versammlung gestellt wurden.
c) Sodann war den Aeltern hinwieder ein erhöhtes
Stimmrecht eingeräumt als den Jüngern, indem die Centurien
der erstern, den Gesetzen der Sterblichkeit gemäsz, höchstens
halb so zahlreich besetzt waren als die Centurien der letztern,
und doch nicht minder als diese gezählt wurden.
[512]Sechstes Buch. Die Statsformen.
d) Endlich war, abgesehen von den Classen, die ganze
äuszere Erscheinung und Haltung dieser Versammlung durch-
aus nicht demokratisch. Die sorgfältige Beachtung der Au-
spicien, die feste, militärische Ordnung des groszen Körpers,
der Vorsitz der hohen Magistrate, die Einrichtung, dasz nicht
Jedem verstattet war zu reden, auch keine regelmäszigen
Redner anerkannt waren, sondern je nach Bedürfnisz der
Sache die zugleich mit der Ausführung und der eigentlichen
Statsregierung betrauten Magistrate allein zum Volke sprechen
und mit dem Volke verhandeln durften: das alles verlieh
dieser höchsten Versammlung einen würdigen und maszhalten-
den Charakter, und wir begreifen es, dasz ein Römer mit
einer gewissen vornehmen Verachtung auf die chaotische Weise
und das turbulente Treiben der griechischen Ekklesien herab-
sehen konnte. 2
Die eigentlichen Gesetze aber bedurften der Zustim-
mung dieser Comitien, und die für das ganze römische Stats-
leben entscheidenden Wahlen der höhern Magistrate waren
der so aristokratiseh geordneten Nation vorbehalten.
3. Der römische Senat ferner war durch seine Bil-
dung und seine Befugnisse ein erhabenes Institut des Stats.
Anfänglich aus den Häuptlingen der patricischen Geschlechter,
den Fürsten (principes) bestehend und vornehmlich die Geburts-
aristokratie darstellend, wurde er später eine Versammlung
[513]Achtzehntes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Die römische Aristokratie.
der durch die obrigkeitlichen Aemter erprobten römischen
Statsmänner. Eben in der Geschichte des Senates zeigte sich
die Umwandlung des patricischen Adels, der auch später
noch immer als die Quelle der Auspicien verehrt wurde und
die heilige Ueberlieferung der Vorzeit bewahrte, in den neuen
römischen Amtsadel. Man darf die hohen Magistrate der
römischen Republik wohl Königen vergleichen, und eben aus
den gewesenen Magistraten bestand der Senat, den die Alten
selbst „eine Versammlung von Königen“ nannten; so hoch
stand diese politische Aristokratie. Den Censoren als Wäch-
tern der guten Sitten war die ehrenvolle Aufgabe anvertraut,
die Listen der Senatsmitglieder aus den gewesenen Magistraten
zu verfassen und unwürdige Individuen von dem Senate aus-
zuschlieszen. In der Versammlung saszen und stimmten die
Senatoren nach den Abstufungen des Ranges, den sie vordem
als Magistrate des römischen Volkes, als gewesene Consuln,
Censoren, Prätoren, Aedilen, Quästoren eingenommen hatten.
Auch die Verhandlung bewegte sich in den strengen Formen
römischer Autorität. Mit Opfer und Gebet wurde sie eröffnet,
von den regierenden Magistraten, welche die Anträge machten
und zur Abstimmung brachten, geleitet, und durch den Ein-
spruch bald der Volkstribunen, bald der eigentlichen Magistrate
gegen Ausschweifung und Uebergriffe gehemmt.
Alle groszen Statsangelegenheiten wurden in dem Senate
entweder vorbereitet oder entschieden. Die Sorge für die re-
ligiöse Verehrung der Götter, und deren Feste und Opfer
war vorzüglich bei dem Senate. Er leitete die Unterhand-
lungen mit den fremden Staten und deren Gesandten, und
hatte die ganze groszartige Diplomatie des römischen States
in seiner Hand. Die erfolgreiche Begutachtung der Gesetze
und Zustimmung zu den Gesetzen kam ihm zu und war
in der Regel maszgebend. Seine eigenen Beschlüsse (Senatus-
Consulta) hatten überdem in der Verwaltungssphäre eine ge-
setzähnliche Autorität. Die Finanzgewalt stand bei ihm. Er
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 33
[514]Sechstes Buch. Die Statsformen.
decretirte die Steuern, und bestimmte die Ausgaben und Ver-
wendungen. Er verfügte über die Aushebung der Truppen
und vertheilte die Heere unter die Magistrate. Er ertheilte
den Proconsuln und Proprätoren die zur Regierung der Pro-
vinzen erforderlichen Vollmachten und Instructionen, und
controlirte die gesammte Verwaltung derselben. In schweren
Krisen des States ertheilte er den Consuln jene unbegrenzte
Machtfülle, welche nöthig schien, die Republik vor Schaden
zu bewahren.
4. Die Magistrate. Man kann darüber Zweifel haben,
ob die römischen Magistraturen eher eine königliche oder eine
aristokratische Institution gewesen seien. Dasz aber ihr Cha-
rakter kein demokratischer gewesen, das ist augenfällig genug.
Schon die vornehme Form der äuszern Erscheinung dieser
Magistrate, ihre mit Purpur geschmückte Toga, der curulische
Stuhl auf erhöhtem Boden, die Umgebung derselben mit
einem freiwilligen Stab angesehener Gehülfen und Freunde,
der Vortritt der Lictoren, die Verbindung mit den Göttern,
die bei ihrer Ernennung in Form der Auspicien sich äuszern
muszte und die nun auch durch die von den Magistraten vor-
genommenen Auspicien unterhalten wurde, läszt in dieser
Beziehung keinen Zweifel zurück. Die ausgedehnte und inner-
lich absolute Machtfülle, welche in dem imperium als Kern
desselben lag, war wesentlich königlich, 3 und die republi-
kanische Seite derselben war nur in der kurzen Dauer, für
welche diese Macht einzelnen Römern verliehen ward, und in
der Vertheilung derselben unter zwei oder mehrere Magistrate
von gleichem Rang zu erkennen. Ein dem römischen Stats-
recht eigenthümlicher und sehr beachtenswerther offenbar
aristokratischer Grundsatz ist es, dasz jeder Magistrat berech-
tigt ist, jede Amtshandlung eines ihm gleich oder niedriger
[515]Achtzehntes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Die römische Aristokratie.
stehenden Magistrates durch sein Veto zu hemmen: 4 ein
Grundsatz, welcher die in dem imperium liegende Allgewalt
sehr bedeutend ermäszigte, ohne sie, da wo ihre volle Wirkung
für den Stat nöthig oder nützlich schien, zu schwächen.
Freilich wurden diese Magistrate nun von dem ganzen
Volke gewählt, aber die Wahl der höheren Aemter war den
Centuriatcomitien vorbehalten, in denen die Aristokratie des
Reichthums das Uebergewicht besasz, und die hinwieder von
Magistraten geleitet und durch die Auspicien beschränkt wur-
den. Ueberdem war der Weg zu diesen Würden in der Regel
nur denen offen, welche selbst zu der nationalen Aristokratie
gehörten, sei es weil sie von angesehenem Geschlechte waren,
in Folge dessen einen glänzenden Namen trugen und eine
zahlreiche Clientel und auch bei dem Volke ein günstiges
Vorurtheil für sich hatten, sei es weil sie grosze Reichthümer
besaszen und das Volk durch öffentliche auf ihre Kosten aus-
geführte Spiele zu gewinnen wuszten, sei es endlich, weil sie
durch einleuchtende Verdienste im Kriege oder als grosze
Redner über die Menge emporgestiegen waren und einen volks-
thümlichen Ruf und Autorität erlangt hatten. Seitdem auch
den Plebejern die höhern Magistraturen zugänglich geworden,
waren dieselben freilich nicht mehr auf den bloszen Geburts-
adel eingeschränkt, aber, wenn wir von einzelnen ziemlich
seltenen Ausnahmen absehen, war es doch in der Regel nur
den Gliedern jener groszen politischen und socialen Aristo-
kratie, in welche das Patriciat sich umgewandelt und aus-
gebildet hatte, vergönnt, an der Regierung des States un-
mittelbaren Theil zu nehmen; und diese Magistrate bilden
hinwieder den Senat.
Erwägt man alle diese Verhältnisse, so wird man die
[516]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Wahrheit der Behauptung zugestehen müssen, dasz die römische
Republik, obwohl monarchische Ueberlieferungen und demo-
kratische Elemente auf die Verfassung einwirkten, dennoch
wesentlich eine Aristokratie war, und zwar keine Ge-
schlechts- oder Standesaristokratie, wie das Mittelalter sie in
zahlreichen Formen hervorgebracht hat, sondern die grosz-
artigste und herrlichste Volksaristokratie der Welt-
geschichte.
Neunzehntes Capitel.
Bemerkungen über die Aristokratie.
Montesquieu hat die Mäszigung (modération) als Princip
der Aristokratie erklärt, und allerdings bedarf die Aristokratie
der Mäszigung im Interesse ihrer Sicherheit, und wird auf
die Mäszigung hingewiesen durch die Betrachtung, dasz sie
an Zahl und physischer Kraft von der Menge, über welche
sie die Herrschaft übt, übertroffen wird. Wird die Demo-
kratie im Gefühl ihrer äuszerlich unbeschränkten Macht leicht
zu einem unmäszigen Gebrauch derselben verführt, so kann
die Aristokratie im Gegentheil der Sorge nicht leicht los wer-
den, dasz die gereizte Menge ihr Widerstand leiste und sich
wider sie auflehne; und diese Rücksicht bestimmt sie in
der Regel, ihr statliches Uebergewicht nicht allzudrückend
werden zu lassen. Sie weisz es, dasz die Erhaltung ihres
Ansehens groszentheils darauf beruht, dasz sie Masz hält und
ihre Politik ist gewöhnlich conservativ.
Aber das innerste geistige Princip der Aristokratie wird
damit doch nicht bezeichnet. Vielmehr läszt sich als solches
eher die moralische und geistige Auszeichnung der
herrschenden Classe von der regierten Menge angeben. Die
Aristokratie ist nur insofern Wahrheit, als wirklich in ihr die
[517]Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
Besten (οἱ ἄϱιστοι) regieren. 1 Artet die herrschende Classe
aus, gehen die vorzüglichen Eigenschaften, durch welche sie
sich emporgehoben, unter, verdirbt ihr Charakter, wird ihr
Geist schwach und eitel, so geht die Aristokratie unaufhaltsam
unter, weil die belebende Seele ihres Wesens abstirbt. Aber
ebenso geht sie zu Grunde, wenn zwar in ihr die hervor-
ragenden Eigenschaften noch fortdauern; aber in den regierten
Classen ähnliche Auszeichnung aufblüht und die hergebrachte
Aristokratie es versäumt und verschmäht, diese in sich auf-
zunehmen und dadurch ihre Kräfte zu ergänzen und zu steigern.
Das vorzüglich hat die römische Aristokratie so grosz gemacht,
das auch den Einflusz und das Ansehen der englischen er-
halten, dasz sie so in lebendigem Zusammenhang mit dem
übrigen Volksleben verblieben sind und fortwährend neue Säfte
aus diesem aufgesogen haben.
In der Abgeschlossenheit liegt ein Hauptgebrechen
vieler Aristokraten. Im Bestreben, die auf Vorzüge gegrün-
deten Vorrechte zu befestigen, haben sie oft die Rücksicht
auf die Vorzüge selbst auszer Acht gesetzt, und die Vorrechte
äuszerlich gewiszermaszen mit Wällen und Gräben zu sichern
und erbrechtlich fortzusetzen gesucht. In kleinen Verhält-
nissen liesz sich so eine Zeit lang die Herrschaft behaupten,
gröszern Verhältnissen aber war die so beschränkte Aristo-
kratie nicht mehr gewachsen. Sparta und Venedig wurden
schwach, als sie grosze Eroberungen gemacht hatten. Sowohl
die Spartiaten als die Altbürger von Venedig, die Nobili,
waren für sich allein nicht zahlreich und nicht stark genug,
[518]Sechstes Buch. Die Statsformen.
weite Länder zu behaupten, und das übrige niedergehaltene
Volk war ohne politisches Leben und Kraft geblieben und
konnte keine hinreichende Beihilfe gewähren. 2 Auch die
Berner Aristokratie ist weniger durch innere Entartung des
Patriciates als vielmehr daran zu Grunde gegangen, dasz sie
sich nicht aus den ausgezeichneten Männern der Hauptstadt
und des Landes zu ergänzen verstand.
Alle Aristokratie beruht auf ausgezeichneter Qualität.
Welche Art der Qualität nun bei einer Nation vorzüglich ge-
achtet werde und Macht habe, das hängt von dem eigenthüm-
lichen Charakter und von den jeweiligen Zuständen der Nation
ab. Wenn der Vorzug des Geschlechts (der Rasse) ent-
scheidet, so nennen wir sie Geschlechter- oder Adels-
aristokratie. In ihr wirkt das Familienrecht und das
ständische Recht auf die Ausbildung der öffentlichen Ver-
fassung mächtig ein. Viele mittelalterliche Aristokratien hatten
diesen Charakter. Der Vorzug der Bildung und Erziehung
kann zur Priester- oder Gelehrtenaristokratie führen.
Wird das höhere Alter als Hauptbedingung der Regierungs-
fähigkeit betrachtet, so bildet sich eine Aristokratie der Alder-
männer und des Senats. Gilt die kriegerische Aus-
zeichnung als entscheidend, so entsteht die Aristokratie des
Ritterthums. Wird auf den Reichthum das Schwer-
gewicht gelegt, so ergibt sich, je nachdem der Grundbesitz
allein oder auch das bewegliche Vermögen beachtet wird, eine
grundherrliche oder eine Capitalistenaristokratie,
die Plutokratie, nach Cicero's Urtheil die häszlichste aller
Statsformen. 3 Die Aristokratie der Optimaten hat vorzugs-
weise einen Parteicharakter, indem sich in ihr eine Anzahl
[519]Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
von Familien und Personen geeinigt haben. Die Aristokratie
der Aemter und Würden kann vorzugsweise als eine po-
litisch motivirte angesehen werden, am ehesten dann, wenn
sie noch als Wahlaristokratie erscheint, weniger wenn sie,
wie im Mittelalter gewöhnlich geschehen ist, allmählich zur
Erbaristokratie und in Folge dessen wieder zur Ge-
schlechter- oder Adelsaristokratie wird.
Oft wird zugleich auf verschiedene vorzügliche Eigen-
schaften gesehen und diese combinirte Aristokratie ist sicherer
und besser als die einseitig auf Einen Vorzug gegründete
Herrschaft, welche alle andern von Natur aristokratischen
Classen oder Personen zu natürlichen Gegnern hat.
Die Aristokratie liebt es ihre Vorzüge glänzen zu lassen.
Indem sie daher mit Vorliebe die äuszere Hoheit und Würde
des States zu zeigen pflegt, veredelt sie die statlichen Formen
und verstärkt sie die öffentliche Autorität. Sie kann eher
noch der Liebe des regierten Volkes, aber nie der Achtung
desselben entbehren. Daher sucht sie durch die äuszere feier-
liche Erscheinung zu imponiren, und ihr Selbstgefühl, ihr Stolz
prägt sich dem State ein. Es ist das ein unverkennbarer
Vorzug der aristokratischen vor der demokratischen Stats-
form, welche leicht auch ihre Obrigkeit und selbst den Stat
in die Niederung des gemeinen Lebens herabzieht.
Aber an den Vorzug schlieszt sich die Gefahr ganz nahe
an, dasz die herrschenden Classen sich selbst überheben, und
die regierten Classen weder hinreichend achten, noch ihnen
eine genügende Sorge zuwenden. Daher begegnen wir nicht
selten in der Geschichte der Aristokratien einer kalten, mit
Geringschätzung begleiteten und dadurch um so verletzen-
deren Härte und selbst Grausamkeit gegen die niedern
Schichten der Bevölkerung. Das Verfahren der Spartiaten
gegen die Heloten, die Bedrückung der plebejischen
Schuldner durch die Patricier, die Miszhandlung der
irischen Pächter durch die englischen Grundherren,
[520]Sechstes Buch. Die Statsformen.
die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin-
dus in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng-
lischen Statthalter4 sind beredte Zeugnisse für diesen
Charakterzug.
Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit
gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist
umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder-
lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen-
schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer
Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt,
die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen,
voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth
nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte
anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre
Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es
meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con-
serviren, und durchweg haben die Aristokratien einen
längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver-
meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen
Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor-
wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann
zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine
durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder
eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na-
türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird,
im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.
Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart
sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die
Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen
zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte
des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa
einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche
[521]Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
Kaiserreich war, ungeachtet das Kaiserthum ursprünglich von
der Idee der Monarchie vollständig erfüllt und durchdrungen
war, jedenfalls seit dem Untergange der Hohenstaufen dem
Wesen nach zu einer Aristokratie geworden. 5 Nur das
Kaiserthum selbst war nicht erblich geworden, sondern wurde
durch Wahl der erblichen Kurfürsten besetzt. Die Ehren,
welche dasselbe umgaben, waren glänzend, aber die Macht
gering. In allen wichtigen Dingen kann der Kaiser nur in
Verbindung mit den Kurfürsten einen Entscheid fassen.
Die Gesetze bereitet das Kurfürstencollegium vor, und
hat auf dem Reichstage selbst die erste Stimme. Die zweite
steht den übrigen Fürsten und Herren zu, welche alle wieder
die ursprünglichen Statsämter in erbliche Landesherrschaften
umzuwandeln gewuszt haben. Ist die Vereinbarung auch mit
[522]Sechstes Buch. Die Statsformen.
dieser regierenden Aristokratie, dem Reichsfürstenrath,
gelungen, so wird noch das reichsstädtische Collegium
um seine Zustimmung befragt; aber da zu der Zeit auch in
den Reichsstädten gewöhnlich eine patricische Aristokratie das
Regiment besitzt, so ist selbst hier wieder die Vertretung
auf den Reichstagen groszentheils aristokratisch. Die Reichs-
regierung steht dem Kaiser und dem Kurfürsten gemeinsam
zu, nicht jenem allein, und an eine unmittelbare Einwirkung
und Beherrschung der Reichsgewalt den Personen und Zu-
ständen gegenüber ist nicht mehr zu denken. Diese war in
jeder Weise unterbrochen durch die Landesherrschaft der erb-
lichen Reichsaristokratie, unterbrochen und gelähmt bei wei-
tem mehr als vermittelt.
In allen politischen und rechtlichen Verhältnissen zeigt
sich diese aristokratische Neigung des Mittelalters zu erb-
licher Befestigung derselben. Die Lehen, die Reichswürden
und Aemter, die Gerichtsbarkeit in allen Stufen, Grafschaften,
Vogteien, Grundherrschaften, selbst die Stühle der urtheilen-
den Schöffen, die Ritterschaft, der Hofdienst der Ministeria-
len, die Patriciate in den Städten, die Meyer- und Kellerämter
in den Dörfern, der hofrechtliche Besitz der hörigen Bauern,
Alles wurde während des Mittelalters erblich.
Im Gegensatze zu dieser Richtung des Mittelalters äuszert
dagegen die neuere Zeit vielfältig ihre Abneigung gegen
das politische Princip der Erblichkeit. In beiden sich wider-
streitenden Tendenzen liegt ein Element der Wahrheit, und
eines des Irrthums und der Uebertreibung. Die neuere Zeit
hat Recht, wenn sie gegen die Hemmnisse ankämpft, welche
eine verhärtete und beschränkte Erblichkeit der Verhältnisse
der Entwicklung des Lebens und der Befriedigung der mo-
dernen Bedürfnisse entgegensetzt; sie hat Recht, wenn sie
für die individuelle Tüchtigkeit Anerkennung verlangt; Recht,
wenn sie nicht mehr zugibt, dasz die politischen Aemter,
welche persönliche Fähigkeit und zugleich Unterordnung unter
[523]Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
das Ganze voraussetzen, nach den Grundsätzen des Erbrechts
besetzt und zu Eigenthum einzelner Familien gemacht werden.
Aber sie hat Unrecht, den Zusammenhang zwischen der Ver-
gangenheit und Gegenwart, den das Erbrecht festhält, auf-
zulösen und in Zustände und Verhältnisse, welchen die fort-
gesetzte Stätigkeit der Ueberlieferung natürlich ist, welche
eben durch ihren gesicherten Fortbestand der Statsordnung
selbst als feste Säulen dienen, und welche auch grosze mo-
ralische Interessen und Kräfte fortpflanzen und in die Zu-
kunft hinüberleiten, eine lockere und häufigem Wechsel aus-
gesetzte Beweglichkeit einzuführen. Indem sie das thut, baut
sie statt auf Felsen auf Sand und verfehlt sich wider die
organische Natur sowohl der Nation als des States, deren
Leben nicht mit den einzelnen Generationen wechselt, son-
dern während Jahrhunderten sich durch eine Reihe von Ge-
nerationen fortsetzt. 6
[524]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Da die Aristokratie vorzugsweise die Macht der äuszern
Ordnung aufrecht erhält, und von dieser ihre Erhaltung
erwartet, so ist sie in besonderem Masze auch eine Pflegerin
des Rechts, dessen formellen Bestand sie sorgfältig vor Er-
schütterung bewahrt. Man hat es daher mit Grund ihr nach-
gerühmt, dasz sie, wenn sie nicht in ihrer Existenz bedroht
scheine, und deszhalb ihre Leidenschaften gereizt werden,
gerechter sowohl im Verhältnisz zu den Unterthanen als zu
ihren eigenen Gliedern zu handeln pflege als die Demokratie.
Es ist kaum zufällig, dasz die welthistorische Ausbildung der
Rechtswissenschaft vorzüglich in dem eminent aristokratischen
Volke der Römer vor sich ging. Anerkannt auch ist die zwar
strenge aber unparteiische Rechtspflege der Venetianer, das
gute Recht, welches die Berner gehandhabt, das starke Rechts-
gefühl der aristokratischen Engländer, und während des Mittel-
alters nahm selbst die Politik die äuszere Gestalt des Rechts-
urtheils und seiner Vollstreckung an.
Die neuere Zeit ist der Aristokratie als Statsform so sehr
ungünstig, dasz sich keine einzige Aristokratie bis in die Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts hat behaupten können. Die
altrömische Aristokratie ist zuvor durch die aufstrebende
6
[525]Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
Demokratie gebrochen, und dann erst durch das Kaiserthum
erdrückt worden. Die italienischen und die deutschen Aristo-
kratien des Mittelalters sind vorerst durch die wachsende
Macht der Fürsten überholt und gedemüthigt worden, und
dann erst der Feindschaft der bürgerlichen Classen erlegen.
In dem modernen Stat nehmen daher die aristokratischen
Classen nur noch als ein ausgezeichneter Bestandtheil des
Volks eine mittlere, aber nirgends mehr eine souveräne
Stellung ein. Sie sind überall entweder der Monarchie oder
der Demokratie untergeordnet. Sie können jene unterstützen
oder ermäszigen und diese veredeln oder beschränken, aber
sie können nicht mehr die Statsregierung von Rechtswegen
in Anspruch nehmen.
Zwanzigstes Capitel.
IV. Demokratische Statsformen.
A. Die unmittelbare (antike) Demokratie.
Die Art, wie im Alterthum die Demokratie (δημοϰϱατία,
d. h. Herrschaft des Demos der freien gemeinen Bürgerschaft)
verstanden wurde, und wie sie in der neuern Zeit aufgefaszt
wird, ist sehr verschieden. Die alten Demokraten gingen von
dem State aus, und suchten die Freiheit Aller in der poli-
tisch-gleichen Herrschaft Aller. Die neuern Demokraten
gehen von der individuellen Freiheit der Einzelnen aus,
und suchen möglichst wenig davon abzugeben an das Ganze,
möglichst wenig zu gehorchen. Die alte Demokratie ferner
war durchweg eine unmittelbare Demokratie, wenn auch
bald in absoluter Form, bald ermäszigt; die neuere dagegen
ist regelmäszig eine repräsentative Demokratie. Es ist
einleuchtend, dasz die erstere nur in einem kleinen Stats-
[526]Sechstes Buch. Die Statsformen.
gebiete möglich, diese aber auch in einem gröszeren Volke
und Lande anwendbar ist.
Die Griechen vorzüglich, in eine grosze Zahl kleiner
Staten zersplittert, suchten und fanden in der demokratischen
Statsform die Befriedigung ihrer politischen Anschauungsweise.
Es ist nicht zu läugnen, selbst die alten königlichen Staten
und die sogenannten Aristokratien der Griechen haben, wenn
man sie mit der modernen Monarchie oder mit der römischen
Aristokratie vergleicht, ein demokratisches Etwas an sich, wo-
durch sie sich von diesen unterscheiden. Auch ist es beach-
tenswerth, dasz die gröszten Denker unter den hellenischen
Philosophen, obwohl sie die athenische absolute Demokratie
keineswegs günstig beurtheilten, 1 doch das Ideal einer ge-
mäszigten Demokratie festhielten und vorzugsweise diese Stats-
form Politie nannten.
Für die Einsicht in die Natur der Demokratie ist kein
Stat lehrreicher als der athenische. In der Verfassung Athens
erlangte dieselbe ihren consequentesten Ausdruck. In einem
Umfang wie nie seither wieder, übte das Volk dort selbst die
Herrschaft aus. Fast alle wichtigeren Statsangelegenheiten
wurden in der Volksversammlung (ἐϰϰλησία) verhandelt,
und diese trat so häufig, beinahe wöchentlich einmal, auf dem
Markte öffentlich zusammen, wie es nur erklärbar wird, wenn
man bedenkt, dasz die gewöhnlichen Berufsgeschäfte und Ar-
beiten vorzüglich von den zahlreichen Sclaven, nicht von den
freien Bürgern betrieben wurden.
In der Volksversammlung hatte der vielköpfige Demos
eine sichtbare Darstellung gefunden. Sie war die Vereinigung
aller ehrbaren athenischen Bürger, welche schon nach Voll-
endung des zwanzigsten Altersjahres daselbst Zutritt und
Stimmrecht erhielten. In ihr fühlten sich die Athener als
die Herren des Stats, jeder Einzelne als ein Theil des
[527]Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
Souveräns. Das charakteristische Merkmal der demokratischen
Verfassung, dasz die Mehrheit herrsche, und jeder Bürger
Antheil an der obrigkeitlichen Macht habe, war hier völlig
ausgebildet. Jedem stand es frei, das Wort zu ergreifen und
zu dem Volke zu sprechen. Zu Solons Zeit noch gab das
erfahrene Alter einen Vorzug, aber diese, wie die übrigen
Beschränkungen der demokratischen Gleichheit wurden bald
lästig befunden und verworfen. Dem Sprechtalent wurde freier
Spielraum eröffnet, und die Gewalt der Rede elektrisirte und
lenkte die Menge schrankenlos. Ein Glück war es, wenn
grosze Statsmänner wie Perikles, als Redner ihr Urtheil
bestimmten; aber häufiger noch bemächtigten sich schlaue und
ehrgeizige Demagogen der Gemüther, und indem sie es ver-
standen, die Leidenschaften der Versammlung zu erregen und
ihrer Selbstsucht zu schmeicheln, regierten sie die Masse
wechselseitig. Von dieser groszen Wirkung der Rede haben
wir in dem modernen Stat keine völlig entsprechende An-
schauung mehr. Sie ergriff die Zuhörer massenhafter und
stärker als die Presse die zerstreuten Leser. Der Eindruck
war unmittelbarer und lebendiger. Die Stimme des Redners,
der Glanz der Augen, die Gebärden desselben erhöhten die
Bedeutung und den Nachdruck seiner Worte, und die erregte
Stimmung der lauschenden und ihrer Macht bewuszten Menge
gab der Verhandlung einen gewaltigeren Schwung. Auch die
mündlichen Verhandlungen und Reden in unsern Parlamenten
haben nicht denselben Grad von Einflusz, theils weil die Ver-
sammlungen selbst viel kleiner und gewählter, theils weil sie
beschränkter in ihrer politischen Macht sind.
Die Befugnisse der Volksversammlungen waren sehr aus-
gedehnt. Sie umfaszten das ganze Statsleben. Solon hatte
dieselben noch beschränkt auf die Wahlen der Magistrate, die
Controle der Regierung, und die Berathung über die Gesetze.
Aber im Gefühl seiner Uebermacht überschritt der von den
Rednern geführte Demos die Schranken der Solonischen Ver-
[528]Sechstes Buch. Die Statsformen.
fassung. Die Volksbeschlüsse (ψηφίςματα) wurden ent-
scheidend, und der Demos beschlosz, wie ein absoluter Despot,
was ihm gefiel auch wider die Gesetze. 2
Die eigentliche Gesetzgebung stand zwar nicht der Volks-
versammlung selbst, sondern den Nomotheten zu; aber auf
die Entscheidung dieser hatte die Verhandlung und Stimmung
jener einen meistens überwältigenden Einflusz und die Nomo-
theten waren selber nur ein zahlreicher, im einzelnen Falle
gewählter Ausschusz der Volksversammlung. Dagegen ent-
schied die Volksversammlung selbst die wichtigsten Regierungs-
geschäfte. Sie selber hörte die Gesandten anderer Staten an,
ernannte Gesandte, berieth und bestimmte die Instructionen
derselben. Sie beschlosz Krieg oder Frieden, erwählte die
Feldherren, regelte den Sold und sogar die Art der Kriegs-
führung. Das Schicksal der eroberten Städte und Länder
wurde von ihr normirt. Sie verfügte über die Aufnahme und
Anerkennung neuer Götter, über die religiösen Feste, über
neue Priesterthümer. Sie ertheilte Bürgerrechte und Privile-
gien. Ueber den Zustand der Finanzen, die Einnahmen und
Ausgaben der Republik muszte ihr in jeder Prytanie (zu 35
oder 36 Tagen um) Rechenschaft abgelegt werden. Von ihr
wurden die Steuern auferlegt, die Schirmgelder der Metöken
bestimmt, das Münzwesen geordnet, zu freiwilligen Beiträgen
aufgefordert. Die Bauten der Tempel und öffentlichen Ge-
bäude, der Straszen, Mauern u. s. f., sowie die wichtigen Aus-
gaben für den Schiffsbau bedurften ihrer Genehmigung und
die wesentlichen Aufträge dafür gab sie selber. Sie verwen-
dete die Statsgelder auch zum Privatvergnügen der einzelnen
Bürger, indem sie diesen den Besuch der Theater bezahlen
liesz. Die regelmäszige Strafgerichtsbarkeit war der Volks-
versammlung zwar entzogen, aber in auszerordentlichen Fällen,
insbesondere wo das Gesetz ein Verbrechen nicht vorgesehen
[529]Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
hatte, oder erschwerende Umstände auszergewöhnliche Masz-
regeln zu rechtfertigen schienen, wurden auch Criminalklagen
vor derselben verhandelt und von ihr die Strafe bestimmt, oft
auch das Schuldig ausgesprochen. Die Entartung, welche
rasch auf die Blüthezeit der Demokratie folgte, begünstigte
die Miszbräuche dieser Volksjustiz.
In der Volksversammlung hatte die Mehrheit der an-
wesenden Bürger den Entscheid. Aber selbst in Athen, wo
die geistige Bildung auch der untern Schichten der freien
Bürger höher stand, als seither in irgend einem Lande, unter
einem Volke, welches die Tragödien von Aeschylos und Sophokles
zu würdigen wuszte, vor welchem die Reden des Demosthenes
gehalten wurden, selbst in Athen, wo durch Handel und Herr-
schaft sich grosze Reichthümer aufhäuften und reichlicher
Verdienst jede Arbeit lohnte, war die Mehrheit unfähig, den
Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und ungeneigt,
eine gerechte Herrschaft zu üben. Die Minderheit der edleren
und der reicheren Bürger wurde auch von dieser Mehrheit
gedrückt und miszhandelt, und Xenophon konnte es, im
Hinblick auf seine Vaterstadt Athen, als eine nothwendige
Consequenz der Demokratie erklären, „dasz in ihr das Loos
der Schlechten besser sei als das der Guten.“3
Die Allmacht der Volksversammlung sollte freilich nach
der Solonischen Verfassung durch den Rath zum Theil be-
schränkt, zum Theil geleitet werden. Den Rath selbst hatte
Solon auf die aristokratische Ordnung des Volkes nach den
vier Stämmen basirt, und indem er die Bürger je nach ihrem
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 34
[530]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Vermögen in vier Classen theilte, und den oberen und reicheren
Classen schwerere Pflichten und höhere Rechte im State an-
wies, auch dem Vermögen und der Bildung im Rathe das
Uebergewicht über die niedere Menge zu sichern gesucht.
Allein auch den Rath nahm seit Klisthenes (510 v. Chr.) die
Menge ganz und gar für sich in Anspruch. Der Rath der
500 war selber eine kleine Volksversammlung, ohne Rücksicht
auf Vermögen und Bildung aus der gleichen Menge der Bürger
hervorgegangen, nicht einmal durch die Wahl auserlesen, son-
dern durch das Loos zusammengewürfelt, und ebenso durch
das Loos in zehn Bureaux (Prytanien) von je 50 Räthen ver-
theilt, welche alle 36 Tage in der Leitung der Geschäfte
wechselten. Von einer selbständigen Autorität eines derartigen
Rathes der Menge gegenüber, aus welcher er wie der auf die
Höhe getriebene Schaum des Champagners wechselnd empor-
stieg, und in welcher er wieder nach kurzer Frist sich auf-
löste, konnte keine Rede mehr sein. Er diente blosz dazu, die
äuszere Besorgung und Einleitung der Geschäfte der Menge zu
erleichtern, und die Selbstregierung dieser möglich zu machen.
Die Archonten, in älterer Zeit hohe Magistrate, ur-
sprünglich Eupatriden, nach der Solonischen Verfassung aus
der Classe der Reichsten (der Pentakosiomedimnen) gewählt,
wurden, als einmal die Demokratie zu freier Entfaltung ge-
langt war, durch das Loos bestellt, zu welchem jeder Bürger
nun, ohne dasz ferner auf Geburt oder Vermögen oder Bil-
dung geachtet wurde, zugelassen wurde, und sanken herab zu
bloszen Dienern des Demos und machtlosen Vorsitzern der
zahlreichen Gerichtshöfe. Diese selber waren wieder ganz de-
mokratisch bestellt, und wiederum eine Art von Volksversamm-
lung. Nicht weniger als 6000 Geschworne nahmen an den
Gerichtsverhandlungen Theil, und je nach der Wichtigkeit der
Processe urtheilten Hunderte oder Tausende von Geschworenen.
Die Sucht der Massen, an dem Solde und an der Autorität
der Richter Theil zu nehmen, von Aristophanes in den Wespen
[531]Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.
gegeiszelt, ward zu einer chronischen Krankheit Athens,
und auf diesem Boden ging das schändliche Gewerbe der
Sykophanten wuchernd auf. Derlei Volksgerichte betrachte-
ten sich mehr als Beschützer und Förderer der Volksherr-
schaft, und kümmerten sich mehr um politische Parteikämpfe
und Parteiinteressen, als um die Handhabung des unparteii-
schen Rechts. Sie wurden so zum Tummelplatze der öffent-
lichen und Privatleidenschaften; die Bestechlichkeit der Syko-
phanten und der Richter selbst nahm überhand, und in Form
Rechtens wurde die äuszerste Willkür und Despotie der
Menge geübt. 4
Einundzwanzigstes Capitel.
Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie.
In der begabten Natur der Athener und in der glänzen-
den Geschichte ihrer Stadt spiegeln sich die Eigenthümlich-
keiten, die Vorzüge und Gebrechen der unmittelbaren Demo-
kratie für alle Zeiten ab.
Die Demokratie liebt die Freiheit mehr als die Auto-
rität. Die Freiheitsliebe der Athener hat vornehmlich die
reiche Entfaltung der ewig-jungen und ewig-schönen Werke
in Kunst und Wissenschaft hervorgebracht, welche die Bewun-
derung der Nachwelt erhält und verdient. Aber die demo-
kratische Freiheit Aller wird zugleich als Herrschaft der
Mehrheit verstanden. Die Bürgerschaft will in Per-
son, d.h. durch grosze Volksversammlungen den Stat re-
gieren. Diese hinwieder sind nur möglich in kleinen Staten,
und bei einem Volke, welches Musze hat sich mit Stats-
geschäften regelmäszig zu befassen, also nur unter der Vor-
[532]Sechstes Buch. Die Statsformen.
aussetzung, dasz entweder die Lebensverhältnisse des Volkes
äuszerst einfach und die Statsgeschäfte gering sind, wie der-
gleichen etwa in den Gemeinden abgeschlossener Bergthäler
vorkommt, oder dasz die Masse der täglichen Arbeit von Per-
sonen besorgt wird, welche nicht zur Bürgerschaft gehören.
Bei einem gebildeten Volke ist daher die reine Demokratie
Aller immer eine Unwahrheit, indem ihre Existenz eine die-
nende, unfreie Bevölkerung voraussetzt.
In diesen groszen Volksversammlungen aber entwickelt
sich leicht ein Gefühl von unbeschränkter Macht, welches
hinwieder das Volk zu Miszgriffen jeder Art verleitet, und
leicht launische Willkür an die Stelle des Rechtes setzt. Der
Einzelne für sich ein ehrbarer und besonnener Mann, wird
in der Versammlung als unbemerktes Glied einer zahlreichen
und imposanten Menge von dem Geiste und den Leidenschaften
der Masse ergriffen, und zu Willensäuszerungen fortgerissen,
die er kurz vorher noch des bestimmtesten verworfen hat.
Ist einmal durch die Redner, welche, um Eindruck zu machen,
genöthigt sind auch die Saiten der Volksleidenschaften anzu-
spielen, die Stimmung der Menge wie ein brausender Strom
in Bewegung gesetzt, so hält selbst die Scham das Volk nicht
zurück, alle widerstrebenden Schranken zu durchbrechen und
maszlos zu überfluthen. 1
[533]Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.
Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung
sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit politisch
fähig und tüchtig, d.h. die Einsicht der Menge musz aus-
gezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber
immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform,
dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten
Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in
der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage
hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer
Zeit vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst
in der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte
ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen
Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung
eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die
Menge factisch beherrschte. Thukydides 2 sagt von den Zeiten
des Perikles: „Den Worten nach war Athen eine Demo-
kratie, in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herr-
schaft des Ersten Mannes.“
Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden
Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch
die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist
in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie
in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen
Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die
demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht
zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des
demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den öffent-
lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den Bür-
gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere
Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz,
weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke
über die enge Grenze seines Berufes hinaus richten, er wird
[534]Sechstes Buch. Die Statsformen.
vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und dem
Gesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten wer-
den ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr
mit denselben Classen anders regierter Völker zeigt er sich in
manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald läszt jene Scheu
und Achtung nach, und es nimmt zugleich, da die wohlthätige
Zweiheit der andern Statsformen, der Regent und die Regier-
ten, hier fehlt, das Gefühl einer äuszerlich nicht beschränkten
Macht und der Miszbrauch derselben überhand. Dann kommen
die schlechten Eigenschaften in der Masse zu zügelloser Ent-
faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren
Dasein schon die niedrige Menge wie einen Vorwurf empfindet,
und wie einen Protest gegen ihre Herrschaft betrachtet, wird
nun beneidet, gehaszt und unterdrückt. Uebermuth, Launen-
haftigkeit, Maszlosigkeit, die Sucht zu häufiger und eitler
Neuerung, Willkür, Rohheit wuchern in dem Demos empor,
und je weniger er in Wahrheit sich selbst beherrscht, desto
drückender wird seine Herrschaft über andere. Es bilden sich
Parteien, in welchen der Hasz gegen einander stärker ist als
die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, und welche dieses
zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Leben bekäm-
pfen. Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen voller
Unsicherheit und Gefahr, und geht in dem Uebermasz der
Beweglichkeit zu Grunde. So war die Blüthezeit der athe-
nischen Demokratie zwar überaus glänzend, aber sehr kurz,
und ein langer Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder
erholte, folgte ihr auf dem Fusze nach. 3
Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist
die Vorliebe für das Princip der Gleichheit. In Athen
wurde die politische Gleichheit der Bürger in ihrer Einseitig-
keit so consequent ausgebildet, wie in den neueren Demo-
[535]Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.
kratien nirgends mehr. Wo es irgend möglich schien, handelte
die Masse der gleichen Bürger selbst, denn die Repräsentation
durch einzelne Auserwählte begründet schon einen Vorzug und
Vorrang dieser. Wo aber dennoch einzelne Beamte oder Räthe
bestellt werden muszten, da zogen die Athener in der Regel
der unterscheidenden und die für besser geachteten Männer
aussondernden Wahl das blinde Loos vor, welches unbeküm-
mert um die höhere Einsicht und Tugend Einzelner in die
gleiche Masse greift und bald diesen bald jenen hervorzieht;
und damit nicht etwa der Vorzug des Amtes, wenn es an-
daure, doch wieder die Beamten über die Menge erhebe,
begegneten sie dieser Gefahr durch häufigen Wechsel der ge-
loosten Würdeträger. 4 Schon die Existenz von Beamten, die
Gehorsam fordern, ist dem demokratischen Grundsatze der
Gleichheit aller Bürger zuwider; erscheint dieselbe unentbehr-
lich und unvermeidlich, so soll daher diese Art der Ungleich-
heit durch das Loos und den Wechsel gemildert werden. Die
Gleichheit nämlich, auf welcher die Demokratie beruht, ist
die Gleichheit der Zahl. Ihr Ausdruck ist nicht: „Jedem
nach seinen Verhältnissen,“ sondern: „Einer wie
der andere.“ 5
Eine andere Consequenz dieser demokratischen Rechts-
gleichheit ist der Ostracismus, bei den Griechen in offener,
theilweise sogar ehrenvoller Form ausgebildet, in den neuern
Demokratien nicht formell anerkannt, aber von Zeit zu Zeit
thatsächlich, und dann zuweilen auch in schmählicher Weise
geübt. Jede Verfassung musz, wenn sie bestehen soll, die
mit ihrem Bestand unverträglichen Elemente ausstoszen können.
Insofern ist die reine Demokratie nicht zu tadeln, wenn sie
einzelne Bürger, welche durch ihre persönliche Ueberlegen-
heit die allgemeine Gleichheit gefährden, verbannt, wie die
[536]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Athener ihre ersten Männer und Wohlthäter verwiesen haben.
Aber es ist ein bedenkliches Zeugnisz für den Werth der de-
mokratischen Statsform, dasz sie eher noch die Schlechtig-
keit der Massen, als die hervorragende Grösze einzelner In-
dividuen erträgt.
Fassen wir das Resultat dieser Untersuchung zusammen.
Die unmittelbare Demokratie, wie sie vorzüglich in den
griechischen Staten erschienen ist, ist eine zunächst nur für
kleine, und vorzüglich für einfache und gleichmäszig in alter
frommer Sitte verharrende, Ackerbau oder Viehzucht treibende
Völkerschaften geeignete, 6 für höhere Culturvölker und reichere
Lebensverhältnisse aber momentan zwar anregende, aber in
kurzem verderbliche und ungenügende Statsform. Unter der
erstern Voraussetzung erscheint sie sowohl natürlicher als ge-
mäszigter, unter der letzteren dagegen zur Uebertreibung und
Schrankenlosigkeit geneigt. Die Freiheit, welche sie ver-
spricht, wird dann leicht zu ungerechter Bedrückung gerade
der edleren Elemente, und zu roher Herrschsucht und Zügel-
losigkeit der Menge, und die Gleichheit, auf welcher sie be-
ruht, ist, sobald das entwickeltere Leben seine Gegensätze und
Unterschiede hervorgebracht hat, eine augenfällige Lüge und
das entschiedenste Unrecht. 7
[537]Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
Zweiundzwanzigstes Capitel.
B. Die repräsentative (moderne) Demokratie, die heutige Republik.
Die unmittelbare Demokratie hat sich nur ganz
ausnahmsweise auch in der modernen Welt erhalten, unter
besonders günstigen Verhältnissen, und überdem in Vergleich
mit der athenischen Form sehr gemäszigt und gemildert; so
vorzüglich in einigen Bergcantonen der Schweiz, wo noch all-
jährlich die Landsgemeinde aller freien Männer zusammentritt,
und die obersten Aemter und Würden der schlichten Republik
gewöhnlich aus den angesehensten Familien des Landes, durch
jubelndes Handmehr besetzt, und die Gesetze sanctionirt, die
von den Räthen vorbereitet sind. Diese einfachen von der
Strömung des europäischen Lebens bis auf unsere Zeit wenig
berührten Demokratien sind in der That durch ihr mehr als
fünfhundertjähriges Alter, durch eine an männlichen Zügen
reiche, nur selten durch Gewaltthaten befleckte Geschichte und
durch die Bewahrung schlichter Sitten und eines friedlichen
und glücklichen Daseins ehrwürdig. Aber selbst da ist in
neuerer Zeit die Richtung, diese Demokratie in eine reprä-
sentative umzuwandeln, eingeschlagen worden, und die De-
mokratien der übrigen schweizerischen Cantone, wie
die der Vereinigten Staten von Nordamerika haben
alle einen repräsentativen Charakter. Wo heut zu Tage de-
mokratische Parteien sich regen, streben sie fast überall der
repräsentativen Form der Demokratie als ihrem Ideale nach.
Auch das demokratisch bewegte Frankreich der Jahre 1793
und 1848 hatte diese Verfassung gewählt. Man darf daher
wohl die repräsentative Demokratie für die moderne
Form dieser Art des States erklären.
1. Wie die constitutionelle Monarchie zuerst in England
entstanden ist, so ist die repräsentative Demokratie, oder
wie die Amerikaner sie lieber nennen, die moderne Gestal-
[538]Sechstes Buch. Die Statsformen.
tung der Republik in Nordamerika ausgebildet worden. Es
ist merkwürdig, dasz die beiden Hauptformen des modernen
States ihre Einführung in die Weltgeschichte dem politischen
Genie angelsächsischer Völker verdanken.
Verschiedene Ursachen wirkten zusammen, um in Amerika
eine neue demokratische Verfassung zu begründen und aus-
zubilden. Nur theilweise rechnen wir hieher die weite Aus-
dehnung eines Gebietes, das nur allmählig durch harte
Arbeit für die menschliche Cultur gewonnen werden konnte.
In der früheren Geschichte hatten sich weite Räume der De-
mokratie nicht günstig erwiesen. Die unmittelbare Demo-
kratie war nur auf kleinem Gebiete möglich, wo sich die
freien Männer leicht zur Volksversammlung einfinden konnten,
in engen Gebirgsthälern oder in Städten. Weite Länder wur-
den dagegen von groszen monarchischen Reichen colonisirt
und die Colonisten blieben in strenger Unterwürfigkeit. Auch
in dem südlichen Amerika wurden neue Ansiedlungen be-
gründet und grosze Strecken Landes von einer dünnen Be-
völkerung urbar gemacht und doch bildete sich dort noch
lange Zeit keine Demokratie aus. Die Hauptursache liegt
nicht in dem Boden, sondern in dem Charakter der Men-
schen; aber immerhin konnten diese sich auf dem weiten
Boden mit voller Freiheit bequem ausbreiten und der harte
Kampf mit der Natur weckte die schlummernde Thatkraft und
die männliche Entschlossenheit der Pflanzer, sich selber zu
helfen.
Den Sinn für Selbstverwaltung, für Freiheit, für
Gesetzlichkeit brachten die angelsächsischen Colonisten aus
ihrem Heimatlande mit. In der neuen Welt fühlten sie sich
überdem frei von dem Drucke feudaler und aristokratischer
Institutionen und Sitten. Von Anfang an trat die Gleich-
heit der Ansiedler hervor. Die Puritaner, welche sich in
Neu-England niederlieszen, waren meistens Leute aus den
mittleren Classen der Bevölkerung. Ihr religiöser Glaube war
[539]Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
jeder kirchlichen Hierarchie abgeneigt; sie wollten alle An-
theil haben an der gemeinen Priesterschaft der Christen und
betrachteten sich als Brüder. Sie suchten jenseits des Meeres
Sicherheit vor den Verfolgungen der bischöflichen Kirche und
vor dem State, der dieser huldigte. Sie wollten ihre religiöse
und ihre politische Freiheit retten. Ihre Ideen waren noch
zugleich theokratisch und demokratisch. Sie empörten
sich nicht wider die königliche und parlamentarische Ver-
fassung ihres Mutterlandes, aber sie suchten doch sich dem
nahen Drucke der englischen Statsgewalt möglichst zu ent-
ziehen. Schon die erste Vereinbarung der „Pilger,“ welche
sich in Plymouth niederlieszen (vom 11. Nov. 1620) ist höchst
charakteristisch für die Entstehung der nordamerikanischen
Demokratie: „Wir haben die Reise zur Ehre Gottes, unsers
Königs und unsers Vaterlandes in der Absicht unternommen,
um in dem Norden von Virginien die erste Pflanzung zu
gründen. Feierlich und wechselseitig erklären wir vor dem
Angesichte Gottes, dasz wir uns zu einem politischen und
bürgerlichen Körper vereinigen, um unter uns gute Ordnung
zu halten und unser Ziel zu erreichen. Kraft dieses Actes
werden wir gerechte und billige Gesetze, Ordnungen, Be-
schlüsse, Institutionen, Beamte machen, wie wir es für zweck-
mäszig und der gemeinen Wohlfahrt der Colonie nützlich
erachten.“ Die Urkunde wurde von allen Pflanzern unter-
zeichnet. In ähnlicher Weise verfuhren die ersten Auswan-
derer nach Rhode-Island, New-Haven, Connecticut, Providence.
Die ganze Gestaltung der neuen Gemeinden erscheint so als
das gemeinsame Werk der freien Männer.
Verschieden von der nördlichen neu-englischen
Gruppe, in der Massachusets die mächtigste Colonie wurde,
waren anfangs die Verhältnisse in der südlichen Gruppe,
die zuerst Virginien benannt wurde, bis dann später der
Name der angesehensten Colonie verblieb. Die bischöfliche
Kirche mit ihrer aristokratischen Verfassung fand dort willi-
[540]Sechstes Buch. Die Statsformen.
gere Anerkennung. Wenn auch da eine grosze Zahl der
Pflanzer aus den bürgerlichen Classen stammte, so wirkten
doch mehr ökonomische als puritanische Interessen auf die
Einwanderung, und gab es auch manche Glieder der Aristo-
kratie, welche daselbst grosze Güter erwarben. Es kamen auch
viele Abenteurer mit hinüber; und zum Theil schaffte die
Londner Policei verurtheilte Verbrecher und Gesindel dahin.
Indessen auch da gelang es nicht, die aristokratische
Verfassung Englands nach der neuen Welt zu verpflanzen.
Der merkwürdige Versuch der Art, welchen der Statsphilosoph
Locke im Auftrag des Grafen Shaftesbury machte, für die
Colonie Carolina eine modern-aristokratische Verfassung zu
schaffen (1669), miszglückte vollständig. Die Ansiedler hatten
keine Lust, zu Pächtern der Landherrn, der Landgrafen und
Caçiken (Barone) zu werden, da sie anderwärts freie Eigen-
thümer werden konnten. Die Locke'sche Verfassung wurde
1693 abgeschafft. In den südlichen wie in den nördlichen
Colonien wurden von den Pflanzern, die in den weiten Räu-
men nicht mehr persönlich zusammen treten konnten, reprä-
sentative Versammlungen eingerichtet, deren Mitglieder
freigewählt waren und welche die Autonomie der Colonie aus-
übten und die Verwaltung controlirten. Schon im Jahr 1619
werden die Keime dieser Institution sichtbar, welche bald in
allen englischen Colonien Nordamerika's herrschend wurde.
Stärker mit fremden Elementen gemischt war die mitt-
lere Gruppe, in der New-York, ursprünglich Neu-Amster-
dam und Pennsylvanien hervorragten. Aber auch da
bildete sich neben dem Einflusse der englischen Rasse die-
selbe Grundverfassung aus. Ueberall gab es:
a) ein gemeines englisches Recht, aber keine Grund-
herrschaft, und keine Lehengüter mehr. Das freie Grund-
eigenthum wurde zur Grundlage der Nationalwirthschaft.
b) Wesentliche Gleichheit und Gleichberechtigung
der freien Pflanzer und Einwohner, keine Aristokratie mehr,
[541]Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
welche im Mutterlande noch die Macht besasz. Allerdings
gab es auch in Amerika noch starke Unterschiede der Rassen.
Die rothen Indianer, die alte Urbevölkerung des Landes,
wurden keineswegs als Genossen der weiszen Männer in der
Gemeinde betrachtet, sondern standen auszerhalb des Self-
government; es wurde ihnen eigenthümliches Sonderrecht
zugestanden. Tiefer standen die dunkelfarbigen Neger,
die Abkömmlinge der importirten Sclavenbevölkerung aus
Afrika. Diese waren in der Regel im Eigenthum der weiszen
Pflanzer, und selbst wenn sie ausnahmsweise freigelassen wur-
den, so galten sie doch nicht als politisch vollberechtigte Bürger.
c) Fortwährende Uebung in der Selbsthülfe schon bei
der ersten Ansiedlung in Blockhäusern, welche die Nachbarn
bauen halfen, im Gegensatz zur Statshülfe.
d) Allgemeine Volksbildung durch Volksschulen,
die frühzeitig von den Gemeinden für die gesammte Jugend
des Orts gegründet und erhalten und in manchen Colonien
durch die Vorschrift der Schulpflicht wirksam gemacht wurden.
e) Ueberall freie Gemeindeverfassung und Selbst-
verwaltung der Grafschaften.
f) Nur wenige obrigkeitliche Beamte, wie vor
allen der Governor der gesammten Colonie, der je nach der
besonderen Verfassung einer Colonie entweder von den Pflan-
zern selber gewählt wurde (Freibriefregierung) oder von
den Landherren gesetzt wurde (Landherrliche Regie-
rung) oder von der Königlichen Regierung ernannt wurde
(Königliche Provincialregierung) und die Proceszleitenden
Richter; aber immer Mitwirkung von Repräsentanten aus
den Bürgern, dort der beisitzenden Räthe, die öfter einen
Senat bilden, hier der Geschwornen. Die Friedens-
richter, in England von den Königen aus der Gentry er-
nannt, waren in Amerika durchweg bürgerliche Landwirthe.
g) Fast keine stehende Truppen, und statt der-
selben Milizen zur Vertheidigung des Landes.
[542]Sechstes Buch. Die Statsformen.
h) Die Institution eines gemeinsamen Hauses von Re-
präsentanten, die in jeder Colonie von den freien Männern
gewählt wurden, und die Landesstatuten gemeinsam mit
den Senaten feststellten, die Landessteuern bewilligten und
die Landesverwaltung controlirten.
i) Die Sitte kurzer Amtsdauern für die öffentlichen
Aemter, so dasz leicht ein Wechsel eintrat.
k) Endlich die allmähliche Entwicklung der Presz- und
der Vereinsfreiheit.
Auf solchen Grundlagen gestaltete sich, anfangs unter
dem Schutze der Königlichen Regierung, ein selbständiges
repräsentatives Gemeinwesen in jeder Colonie, schon vor der
Lostrennung vom Mutterland. Als in Folge der Unabhängig-
keitserklärung der Colonien 1776 der Zusammenhang mit dem
englischen König und Parlament zerrissen wurde, waren die
neuen Republiken da.
Diese Statsform erhielt dann in der Unionsverfassung
von 1787 eine groszartige und logisch durchgebildete Anwen-
dung auf den Gesammtstat der Union.
2. Die neue Statsform wurde zuerst von dem französi-
schen Volke in den Verfassungen von 1793 und 1795 und
dann wieder 1848 und 1870 nachgebildet, aber ohne dauern-
den Erfolg. Die politischen Ideen der Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit wurden wohl von den Franzosen mit Leiden-
schaft verkündet und geliebt; aber ihre geschichtlichen Er-
innerungen waren monarchisch und ihre Sitten waren wenig
republikanisch. Sie waren jeder Zeit geneigter, die Stats-
hülfe anzusprechen als die Selbsthülfe zu üben und zogen
die Statsmacht und den Statsruhm der Gesetzlichkeit und
der bescheidenen Bürgerarbeit vor. Die Tendenz ihres Stats
zur Centralisation begünstigte eher die Monarchie als die
Republik.
3. Dagegen fand die amerikanische Statsform der reprä-
sentativen Demokratie einen geschichtlich vorbereiteten Boden
[543]Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
in der Schweiz, wohin sie durch die französische Vermitt-
lung verpflanzt ward.
In der Schweiz hatte sich, obwohl die gröszeren Cantone
früher aristokratisch regiert wurden, die einen, wie Bern,
Freyburg, Solothurn und Luzern durch einen erblich
gewordenen Herrscherstand der Patricier, die andern, wie
Zürich, Basel, Schafhausen, eine freie Gemeindever-
fassung erhalten, welche als die Grundlage des Gemeinwesens
angesehen wurde, und hatte die Republik, das politische
Ideal des Volks, auch in dem Charakter und in den Sitten
des Volkes tiefe Wurzeln. Es gab weder stehende Truppen
noch gesicherte Berufsbeamte. Im Kampfe mit den Fürsten
und mit dem Adel war die Schweizerfreiheit erstritten worden.
Es war daher eine naturgemäsze Ausdehnung derselben, als
nun in Harmonie mit der modernen Statslehre, die bürger-
liche Freiheit auf alle Classen und auf das ganze Land aus-
gedehnt und die aristokratischen Privilegien der Patricier und
der Stadtbürger beseitigt wurden. Damit war der Uebergang
aus der aristokratischen Republik in die repräsentative voll-
zogen. 1
Der Versuch freilich, die ganze Schweiz zu einer neuen
einheitlichen Repräsentativdemokratie zu gestalten, im Jahr
1798, war wieder nicht von Dauer. Die geschichtlichen
Erinnerungen der früheren Cantone an ihre Selbständigkeit
waren zu mächtig und die inneren Gegensätze zu stark, um
sich der Einen helvetischen Republik unterzuordnen. Die Ein-
heitsverfassung wurde wieder aufgelöst. Aber in vielen Can-
tonen, insbesondere in den Städtecantonen und in den neuen
[544]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Cantonen wurde nun doch die Repräsentativdemokratie ein-
heimisch, und blieb die Grundform dieser Republiken, trotz
des theilweisen Rückfalls in aristokratische Vorrechte, welche
in dem Zeitalter der Restauration, nach 1814 eintraten. Mit
den Reformbewegungen seit 1830 gelangte die neue Form
wieder zu reinerer Darstellung. Im Jahr 1848 wurde sie nun
auch auf die Bundesverfassung übertragen.
4. Die moderne Demokratie ist eine wesentlich an-
dere als die alt-hellenische. Der Perser Otanes (bei Herodot
III. 82) zählte fünf Merkmale der antiken Demokratie auf:
1) die Rechtsgleichheit für Alle (ἰσονομία), 2) die Ver-
werfung jeder Willkürgewalt, wie die orientalischen Herr-
scher sie zu üben pflegten, 3) die Besetzung der Aemter
durch das Loos, 4) die Verantwortlichkeit der Aemter,
5) die gemeinsame Berathung und Beschluszfassung in der
Volksversammlung. Drei von diesen Merkmalen sind
heute in dem modernen Statsrecht überhaupt anerkannt, in
der constitutionellen Monarchie nicht minder als in der Re-
publik. Die beiden specifischen Merkmale der antiken De-
mokratie, die Loosämter und die Volksversammungen, werden
von der neuen Republik verworfen. So ist denn keines dieser
Merkmale heute noch bezeichnend.
Die moderne Republik ist, verglichen mit der antiken
Demokratie, in welcher alle Bürger gleichmäszig an der Volks-
herrschaft Theil nehmen, eine durch die Wahl der Besten
als Repräsentanten des Volks, d. h. durch eine aristo-
kratische Unterscheidung veredelte Demokratie. Das Recht
der Herrschaft wird auch in ihr der Gesammtbürgerschaft,
dem Volke, zugeschrieben, aber die Ausübung dieser Herr-
schaft wird den vorzüglichen Männern, als Repräsentanten
des Volks anvertraut.
Die unmittelbare Theilnahme der Bürger an den
öffentlichen Angelegenheiten zeigt sich hauptsächlich noch in
folgenden Beziehungen:
[545]Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
a) in der Abstimmung über Verfassungsgesetze. In
der Schweiz ist der Grundsatz, dasz Verfassungsgesetze der
Zustimmung der Mehrheit aller Bürger bedürfen, seit dem Jahr
1830 ziemlich allgemein anerkannt, wobei übrigens nach der
richtigen Rechnung die Bürger, welche sich der Abstimmung
enthalten, nicht gezählt werden. 2 In den nordamerikani-
schen Republiken dagegen kommt anstatt der Abstimmung
durch die ganze Bürgerschaft, auch die Abstimmung durch
eine zu diesem Behuf gewählte, zahlreiche Repräsentation
derselben (Convention, Verfassungsrath) vor;
b) zuweilen auch in der Abstimmung über andere Ge-
setze, entweder in der positiven Form der Sanction (Re-
ferendum), dasz dieselben erst durch die Annahme der Bürger-
schaft Gültigkeit erlangen, oder in der negativen Form des
Veto, so dasz der Bürgerschaft die Befugnisz zusteht, den
von dem repräsentativen Körper beschlossenen Gesetzen durch
ihre Einsprache die Gültigkeit zu versagen. Wo die letztere
Form gilt, da werden nur die verneinenden Bürger gezählt,
und ist das Gesetz verworfen, wenn ihre Zahl die Hälfte der
Gesammtbürgerschaft übersteigt. Nach der ersteren Form
werden nur die abstimmenden Bürger gerechnet, und die
Mehrheit derselben bestimmt die Annahme oder die Ver-
werfung. Beide Institute sind der reinen Demokratie entlehnt.
Beide haben daher auch für die den Massen weniger ver-
ständlichen Bedürfnisse einer höhern Cultur ihre Gefahren,
und geben leicht zu Agitationen der Menge Veranlassung.
Sie werden in einzelnen Repräsentativdemokratien der Schweiz
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 35
[546]Sechstes Buch. Die Statsformen.
geübt und sind 1874 auch in die Bundesverfassung eingeführt
worden. 3
c) In den Wahlen der Mitglieder des gesetzgebenden
Körpers. Meistens ist bei diesen Wahlen das mathematische
Princip gleicher Wahlkreise und der bloszen Kopfzahl der
Wahlart zu Grunde gelegt, seltener organische Gliederungen,
wie z. B. die Gemeinden. Die Vertretung wird daher gewöhn-
lich unvollständig und allzusehr von bloszen Parteirichtungen
bestimmt. Es ist das indessen ein Fehler, welcher mit der
repräsentativen Demokratie keineswegs nothwendig verbunden
ist, noch bei ihr allein vorkommt. Die Wahl der Kammern
in der neuen constitutionellen Monarchie leidet häufig an
demselben Uebel.
5. Die regelmäszige Ausübung der höchsten Stats-
gewalt wird dagegen gewöhnlich den groszen Repräsen-
tativversammlungen zugeschrieben, welche so als die vor-
züglichste und umfassendste Stellvertretung des souveränen
Volkes gewählt sind.
Im Mittelalter waren die groszen Räthe in den
schweizerischen Städtecantonen, und die Landräthe in
den Ländern nur eine Erweiterung der eigentlichen
Räthe, in welchen die Obrigkeit der Stadt oder des Landes
concentrirt war, eine Erweiterung durch Ausschüsse der Bür-
ger und Landleute für die wichtigeren Angelegenheiten, in
den Städten namentlich auch für die Gesetzgebung. In der
neuern Zeit aber sind die groszen Räthe von den Regierungen
getrennt, über diese gestellt, und zu dem beauftragten Träger
der Souveränetät erhoben worden. 4 Eine ähnliche Stellung
[547]Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat.
Demokr.
nimmt in der schweizerischen Bundesverfassung die aus zwei
Räthen bestehende Bundesversammlung ein, der Bundes-
regierung gegenüber. 5
In Nordamerika besteht der Nationalcongresz und
der gesetzgebende Körper der Einzelstaten aus zwei Kam-
mern, die noch schärfer von der Regierung getrennt sind, und
in ihrer Vereinigung in der Regel wieder die gesetzgebende
Gewalt ausüben.
6. An der eigentlichen Regierung nimmt das Volk
selbst da nicht mehr unmittelbaren Antheil in neuerer Zeit,
wo sich für die Gesetzgebung die reine Demokratie erhalten
hat. Dieselbe wird in allen neuern Demokratien nicht von
dem Volke selbst, sondern im Namen des Volkes, und
somit durch beauftragte Stellvertreter des Volkes ver-
waltet. In den einen Ländern hat sich indessen das Volk
doch die Wahl des Hauptes der Regierung selber vorbehalten.
In den nordamerikanischen Freistaten werden die Statthalter
gewöhnlich von der gesammten Bürgerschaft gewählt, ebenso
die Statsräthe von Genf. 6 Der Präsident der Union wird durch
Wahlmänner gewählt, welche von den Urwählern der Landes-
staten erwählt werden. In andern dagegen ist die Wahl dem
gesetzgebenden Körper übertragen, der somit auch darin das
Volk repräsentirt, dasz er die obersten Aemter bestellt. Dem
4
[548]Sechstes Buch. Die Statsformen.
letztern System huldigen die meisten schweizerischen Repu-
bliken, deren grosze Räthe die Regierung und das oberste
Gericht bestellen, und einige Einzelstaten Nordamerika's.
Nach dem ersteren System ist die Regierungsgewalt offenbar
selbständiger und mächtiger, zumal im Verhältnisz zu dem
gesetzgebenden Körper, weil die Vertreter derselben nicht
minder als dieser, in gewisser Beziehung sogar in höherem
Masze das persönliche Vertrauen des Volkes für sich haben;
nach dem letztern dagegen ist die Regierung abhängiger von
dem gesetzgebenden Körper, dem sie ihr Dasein zu verdanken
hat. Es läszt sich daher auch eher nach jenem als nach die-
sem eine wechselseitige Beschränkung je der einen Repräsen-
tation des Volkes durch die andere ausbilden.
7. Die Rechtspflege wird zwar wieder im Namen des
Volkes gehandhabt, die Richter aber, für welche besondere
wissenschaftliche Eigenschaften erfordert werden, werden in
der Regel nicht von dem Volke selbst, sondern entweder wie
in Nordamerika und in dem demokratischen Frankreich von
der Regierung oder wie in der Schweiz von den groszen
Räthen bezeichnet. Einen unmittelbaren Theil an der
Verwaltung der Rechtspflege nimmt das Volk in der Ge-
schwornenverfassung, indem die Geschwornen aus der
Masse der Bürger durch wechselndes Loos bestellt werden.
8. Von besonderer Bedeutung ist in allen repräsentativen
Demokratien die Gemeindeverfassung. Sie bildet den
soliden Unterbau der ganzen Statsordnung. In den Gemeinden
werden die Bürger zur Theilnahme an den öffentlichen An-
gelegenheiten, zur Selbstverwaltung und zu bürgerlicher Frei-
heit erzogen. Da wird es auch — wenigstens in kleineren
und vorzüglich in den Landgemeinden — noch möglich, dasz die
Bürger zur Gemeindeversammlung zusammen treten. In den
gröszern vorzüglich den Stadtgemeinden tritt auch da eine
Repräsentation der Bürgerschaft an die Stelle der Gemeinde-
versammlung. Sowohl die schweizerischen als die nordame-
[549]Dreiundzwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. Betrachtungen etc.
rikanischen Republiken beruhen geschichtlich auf einer freien
Gemeindeverfassung; und wenn das in Frankreich anders ist,
so ist das zugleich ein Zeichen, dasz der französische Stat
wenig Anlage zur Republik hat.
Abgesehen also von der immerhin beschränkten unmittel-
baren Ausübung der Volksherrschaft ist in der repräsentati-
ven Demokratie die Regel die, dasz das Volk nur durch
seine Beamten regieren und durch seine Stellver-
treter die Gesetze geben und die Controle über die Ver-
waltung des States besorgen läszt. Insofern nähert sich
diese moderne Statsform schon bedeutend den Staten an, in
welchen der Gegensatz des Regenten und der Regierten aus-
gebildet erscheint.
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie.
Montesquieu hat bekanntlich die Tugend für das Prin-
cip der Demokratie erklärt. Die Tugend aber setzt als poli-
tisches Princip moralische Würdigung der Herrschenden
und nicht die Gleichheit Aller voraus, und jene finden wir
keineswegs in der reinen Demokratie anerkannt. Nur das ist
wahr: ein gewisses Masz von Tugend der Volksmasse ist ein
unentbehrliches practisches Erfordernisz einer guten Demo-
kratie, dessen Mangel sofort den Verfall dieser Statsform nach
sich zieht. Eher läszt sich behaupten, dasz die Tugend in
der Repräsentativdemokratie zum politischen Princip
erhoben worden sei, denn in der That in dem Princip der
auserwählten Repräsentation liegt nicht allein eine Ermäszi-
gung, sondern zugleich eine Veredlung der Demokratie,
durch welche diese die Vorzüge auch der aristokratischen
Form sich anzueignen sucht.
Das Princip desselben ist: Die Besten des Volkes
[550]Sechstes Buch. Die Statsformen.
sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die
grosze Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu orga-
nisiren, dasz wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht
zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden.
Man ist in unserer Zeit geneigt, diese Wahlen einfach
nach Maszgabe der Kopfzahl der Wahlen zu vertheilen.
Diese Neigung entspricht dem demokratischen Zuge der Zeit;
denn in der That die Demokratie legt auf die Gleichheit
Aller einen entscheidenden Werth und gelangt daher in
ihren Einrichtungen leicht zu mathematischen Normen.
Sie zählt die gleichen Bürger, und nach ihrer Zahl sucht sie
ihnen gleiche Rechte beizulegen.
Indessen paszt dieses System der Kopfzahl offenbar besser
zu der unmittelbaren Demokratie, welche auch die Ausübung
der Herrschaft gleichmäszig über die ganze Bürgerschaft ver-
breitet, als zu der Repräsentativdemokratie, welche unter den
Bürgern nach ihrer höheren oder geringeren Würdigkeit un-
terscheidet und nur den Bessern die Verwaltung der öffent-
lichen Angelegenheiten anvertraut. Die letztere Statsform
nimmt auf die Qualität der Gewählten Rücksicht, und eben
darum ist es für sie nicht ebenso natürlich, bei der Verthei-
lung der Wahlkreise nur die Quantität in Anschlag zu
bringen. Ueberdem werden die Gebrechen dieses Princips in
der repräsentativen Demokratie bedeutend gesteigert. Wenn
in der unmittelbaren Demokratie die gesammte Bürgerschaft
an einem Orte beisammen ist, so ist diese Versammlung doch
in Wahrheit nicht eine blosze Summe von einzelnen gleichen
Individuen, sondern es macht sich in der Masse die Autorität
der angesehensten Männer geltend; die Magistrate, die Redner,
die über das Niveau emporragen, üben einen Einflusz aus,
und es kann sich eher auch in der Mehrheit eine Meinung
bilden, welche dem Volke als einem Ganzen nach seiner
wahren Natur entspricht. In der repräsentativen Demokratie
dagegen ist das Volk nicht so vereinigt, sondern die Bürger-
[551]Dreiundzwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. Betrachtungen etc.
schaft wird in so und so viele Parcellen zertheilt, welche der
Kopfzahl nach zwar einander gleich sind, wenn aber auf
ihre Eigenschaften gesehen wird, in einem sehr verschie-
denen Verhältnisz zu der Gesammtheit stehen, mithin
sehr ungleiche Theile des Volkes sind. Wer wollte den
Wahlkreis von Paris, in welchem die reichsten und gebildet-
sten Theile der Bevölkerung, dann die zahlreichen Schichten
der einfachen Bürger (Krämer, Handwerker), ferner der Ar-
beiter und endlich auch eine Masse von Pöbel, wie er sonst
in Frankreich nirgends mehr sichtbar ist, auf unnatürliche
Weise gemischt sind, ohne sich zu einigen, und die ländlichen
Wahlkreise der Bretagne oder die Fabrikbezirke in Lyon
wirklich für gleich halten? Die Verschiedenartigkeit der Wahl-
kreise aber erfordert logisch schon eine verschiedene Wer-
thung ihres Stimmrechtes; und nur diejenige Anordnung und
Vertheilung der Wahlen bürgt für eine richtige Repräsenta-
tion des Volkes selbst, welche jedem der verschiedenen
Bestandtheile und Interessen in dem Volke eine
seinen Verhältnissen zum Ganzen gemäsze Vertre-
tung sichert. Die Rücksicht auf die Zahl hat allerdings
auch einen Werth, aber sie allein genügt nicht; vielmehr
müssen die übrigen Eigenschaften, wenn die Aufgabe ist, je
die Besten zu Repräsentanten der Gesammtheit zu erheben,
— des Vermögens, der Bildung, der Berufs- und Lebensweise
ebenfalls berücksichtigt werden; und am besten ist es, wenn
das in Anlehnung an organische Eintheilungen des Volkes
selbst, im Gegensatze zu willkürlich zusammengewürfelten
Massen geschieht.
Wir können daher für die Repräsentativdemokratie fol-
gende zwei Grundsätze aussprechen:
1. Da wo in ihr die Gesammtheit der Bürger selber han-
delt, bei Abstimmungen, welche durch das ganze Volk hin-
durch gehen, genügt die einfache Zählung der abstimmenden
Bürger, wie bei der unmittelbaren Demokratie.
[552]Sechstes Buch. Die Statsformen.
2. Wo dagegen nicht die Gesammtheit handelt, sondern
nur Theile derselben die Bessern zu Repräsentanten für das
Ganze erheben sollen, da genügt das Princip der Kopfzahl
nicht, sondern es sind die Theile mit Berücksichtigung auch
der Qualität so zu bilden, dasz möglichste Garantie für die
Auswahl der Besten und in richtiger Proportion der in dem
Volke vorhandenen geistigen, sittlichen und materiellen Le-
benselemente gegeben ist.
Das Eigenthümliche der Repräsentativdemokratie besteht
darin, dasz die Herrschaft im State der Mehrheit zu
eigenem Recht zugeschrieben, die Ausübung dieser Herr-
schaft aber einer Minderheit anvertraut wird. Um es mög-
lich zu machen, dasz die Minderheit wirklich im Sinne der
Mehrheit regiere, behält sich diese den Entscheid über die
Personen, die in ihrem Namen handeln sollen, vor, und
werden die Wahlen der Repräsentanten nach kurzen Zeit-
räumen erneuert.
Es wird von der Verfassung anerkannt, dasz die Mehr-
heit der Bürger die Musze und die Fähigkeit nicht habe, die
Selbstregierung, die sie als ihr natürliches Recht in Anspruch
nimmt, auch thatsächlich auszuüben. Aber es wird der Mehr-
heit so viel Interesse an dem Stat und so viel Einsicht zu-
geschrieben, dasz sie sich bei den Wahlen betheilige und die
tüchtigsten Männer für die Repräsentation zu finden wisse.
Die Verfassung ermäszigt — verglichen mit der unmittel-
baren Demokratie — ihre Anforderungen an die Bürgerschaft,
aber sie steigert ihre Ansprüche an die Repräsentanten. Sie
stützt sich noch auf das Selbstgefühl der freien und wesent-
lich gleichen Bürger, aber sie vertraut zugleich, dasz diese
sich bescheiden werden, die Bessern aus ihrer Mitte zu wäh-
len, und dasz Alle sich willig von den gewählten Repräsen-
tanten regieren lassen werden, freilich nur so lange, als die-
selben das Vertrauen der Mehrheit der Wähler behalten.
Durch die öfteren Wahlen werden die Regierenden ab-
[553]Dreiundzwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. Betrachtungen etc.
hängig gemacht von den Regierten und dennoch sollen in-
zwischen diese jenen Gehorsam leisten. Die Autorität der
Regierung ist daher verhältniszmäszig schwach, die Freiheit
der Regierten besser bedacht. Die obersten Magistrate wer-
den weniger als Häupter der Republik geehrt, als vielmehr
als Diener der Menge betrachtet und behandelt. Obwohl
nach dem Ausdruck von Guizot, jeder Stat nur von oben
herab und nicht von unten herauf regiert werden kann, so
will doch diese Statsform möglichst den Schein wahren, als
ob in ihr von unten aufwärts regiert werde. Die Regierung
bekommt daher leicht das Gepräge einer bloszen Verwal-
tung und der Stat das Gepräge einer ausgedehnten Wirth-
schaft, einer groszen Gemeinde.
Am wenigsten zeigt sich übrigens diese Schwäche der
Autorität in dem gesetzgebenden Körper; vielmehr liegt da
die entgegengesetzte Versuchung nahe, dasz sich die Volks-
vertretung mit dem Volke selbst identificire und sich von
dem Wahne der Omnipotenz berauschen lasse. Aber nur sehr
schwer gelingt es der Regierung in der Repräsentativdemo-
kratie eine starke Autorität zu bethätigen. Der öftere Wechsel
der Wahlen macht ihre Stellung unsicher und von der ver-
änderlichen Volksstimmung abhängig. Sie ist nur mächtig,
wenn sie von dem Beifall der Mehrheit getragen wird und
ohnmächtig, wenn sie diese gegen ihre Neigung leiten und
bestimmen will. Weit aussehende Pläne kann sie nur dann
verfolgen, wenn dieselben den Instincten oder Gewohnheiten
des Volks entspringen und darin die Bürgschaft ihrer Dauer
liegt.
Die Regierungsorgane erscheinen durchweg in bescheide-
ner, bürgerlicher Gestalt. Der Glanz der Majestät oder der
höheren Dignität, mit dem sich die Monarchie und die Ari-
stokratie umgibt, ist der Repräsentativdemokratie fremd und
zuwider. Die höfische Diplomatie mit ihrer Kunst und Formen
gedeiht nicht auf diesem Naturboden. Auch da zieht sie die
[554]Sechstes Buch. Die Statsformen.
einfachere Vertretung durch Geschäftsträger und Consuln vor.
Ein groszes stehendes Heer ist mit ihr geradezu unverträg-
lich. Es wäre eine stete Bedrohung ihrer Sicherheit und ihrer
Freiheit. Dagegen bedarf sie einer breiten und tüchtigen
Volks- und Landwehr. Weniger ausgebildet ist in ihr die
Concentration aller Kräfte als die Selbstbestimmung und freie
Bewegung aller Theile.
Alle Anstalten, welche der groszen Menge dienen, sind
in ihr durchweg gut, oft vortrefflich bestellt. Wir finden in
den Demokratien meistens zahlreiche gemeinnützige und wohl-
thätige Anstalten, gute Straszen und Verkehrsmittel, zahl-
reiche Volksschulen, muntere Volksfeste u. s. f., und dabei
weniger bureaukratische Plage als anderwärts.
Dagegen bedarf es gröszerer Anstrengung, als in andern
Verfassungen, damit der Stat auch für die höheren Bedürf-
nisse der Kunst und der Wissenschaft sorge. Es ist ein
Zeichen einer hohen Civilisationsstufe, auf die ein Volk sich
emporgearbeitet hat, wenn es durch die Befriedigung auch
dieser Dinge, die dem allgemeinen Verständnisz ferner stehen,
sich selber ehrt; denn nur die gebildete Einsicht weisz den
Werth zu schätzen, welchen die Pflege dieser geistigen Güter
auch für die allgemeine Volkswohlfahrt hat.
Das Bewusztsein männlicher Freiheit, welches die ganze
Verfassung hervorgebracht und darin einen Ausdruck gefunden
hat, hebt die zahlreichen Mittelclassen, auf die sie vornehm-
lich gestützt ist, empor, steigert durch mittelbare oder un-
mittelbare Uebung in Statssachen die geistige Entwicklung
und kräftigt den Charakter der Bürger. Die allgemeine Vater-
landsliebe hat hier eine breite Unterlage und einen weiten
Spielraum; und in Krisen zeigt sich die freie Bürgerschaft auch
zu groszen Opfern bereit. Weniger bietet die Verfassung den
aristokratischen Naturen Gelegenheit zu freier Entfaltung, und
diesen gegenüber verhält sich das Volk oft misztrauisch oder
feindlich. Aber auch solche Naturen können unter der Vor-
[555]Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
aussetzung Achtung ihrer Persönlichkeit erwerben, dasz sie
ihrerseits nicht durch hochmüthige Anmaszung das Gefühl der
Rechtsgleichheit verletzen und in gemeinnütziger Hingabe für
das gemeine Beste mit den Besten der Demokraten wetteifern.
Anmerkung. Robert v. Mohl hat gegen die obige Behauptung,
dasz für die repräsentative Demokratie das Princip der Volkszahl keine
absolute Geltung verdiene, eingewendet (Encyclop. S. 346.): „So richtig
im Allgemeinen die Ansicht ist, dasz die Befugnisz, an einer statlichen
Wahl Antheil zu nehmen, nicht vom Standpunkt des persönlichen Rechtes
aufgefaszt, sondern als ein Auftrag oder als ein Amt betrachtet werden
musz, so verhält sich diesz doch ganz anders in der Volksherrschaft
durch Vertretung. In der Volksherrschaft geht man überhaupt von dem
angeborenen Rechte des Einzelnen, an der Regierung Theil zu nehmen,
aus.“ Ich gebe zu, die moderne demokratische Lehre, wie sie von Rous-
seau hauptsächlich vertreten wird, sieht das Verhältnisz so an. Gerade
deszhalb ist sie aber noch in der Mischung des Privatrechts und des
öffentlichen Rechts befangen und ihr Gesellschaftsstat ist nichts an-
deres als der auf den Kopf gestellte Patrimonialstat. Indem man
sich der Einheit des Volks im Gegensatz zu der Summe der Bürger
bewuszt wird, kann sich auch der Irrthum jener Theorie nicht mehr
verbergen. Kein Wähler hat von der Natur sein Wahlrecht erworben,
sondern Jeder hat es von dem State empfangen. Alle Wahlorganisation
ist Statseinrichtung zu öffentlichen Zwecken.
Vierundzwanzigstes Capitel.
V. Zusammengesetzte Statsformen.
Die ganze bisherige Darstellung der verschiedenen Stats-
formen hatte nur die einfachen Staten vor Augen. Es gibt
aber auch zusammengesetzte, d. h. solche Staten, deren
Theile in sich wieder als Staten oder wenigstens staten-
ähnlich geordnet sind. In ihnen wiederholen sich die Gegen-
sätze der geschilderten Grundformen, und insofern haben sie
nichts Besonderes. Der Gesammtstat und die Einzelstaten;
der Hauptstat und die Nebenstaten können z. B. monarchisch
oder repräsentativ-demokratisch organisirt sein.
[556]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Nicht immer haben aber die Einzelstaten und der Ge-
sammtstat dieselbe Verfassungsform. Der deutsche Bund von
1815 blieb eine Oligarchie von souveränen Fürsten, ohne Volks-
vertretung, während in den Einzelstaten die constitutionelle
Monarchie nach und nach eingeführt ward. Einzelne Cantone
der Schweiz sind noch absolute Demokratien, während der
Gesammtstat repräsentativ-demokratisch ist. Die englische
Verfassung ist constitutionel-monarchisch, aber englische Neben-
länder in Asien werden noch als Absolutien verwaltet, andere
halbsouveräne Staten sind Republiken unter brittischer Schutz-
hoheit.
Sind die Nationalitäten, die Civilisationsstufen und die
historischen Bedingungen sehr verschieden, so wird sich auch
eine Verschiedenheit der Verfassungsform rechtfertigen; sind
sie gleichartig — wie im Deutschen Bund — so wird diese
Verschiedenheit als Unnatur und Disharmonie empfunden.
Zu allen zusammengesetzten Statswesen kommt aber
nothwendig ein neuer Gegensatz hinzu, nämlich das Macht-
verhältnisz des einen Gesammt- oder Hauptstates zu der
Selbständigkeit der Einzel- oder Nebenstaten.
Mit Rücksicht darauf lassen sich folgende Hauptverhält-
nisse unterscheiden:
I. Ein herrschender Hauptstat mit ganz unter-
thänigen Nebenländern.
Von der Art sind viele Besitzungen der europäischen
Mächte vorzüglich in Asien und in Afrika. Nur der Haupt-
stat ist als freier Stat organisirt, die Nebenländer sind unfreie
und überdem der Fremdherrschaft unterworfene Staten. Die
Gegensätze der Staten sind hier äuszerst schroff und der
mögliche Conflict zwischen ihnen wird durch die Energie der
Herrschaft des einen States über den andern zu lösen versucht. 1
II. Ein oberherrlicher Hauptstat gegenüber Vasallen-
[557]Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
staten oder ein schutzherrlicher Stat gegenüber den
schutzbedürftigen Nebenstaten. Hier ist eine relative Selb-
ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober-
oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich
deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich
heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammen-
gesetzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung ent-
spricht aber noch eher die schutzherrliche als die Lehensform,
obwohl auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleich-
artiger Kräfte einen Sinn hat und einem freien Volke niemals
zusagen wird. Die Napoleonische Protection des Rheinbunds,
die englische über die Jonischen Inseln, die europäische
über die Moldau und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt
werden.
III. Verwandt damit aber ermäszigt und veredelt durch
die Rücksichten der Pietät ist das Verhältnisz des Mutter-
stats zu den noch nicht ganz selbstmächtigen, aber bereits
zu einer statenartigen Organisation erwachsenen Colonial-
ländern. In den äuszern Beziehungen vorzüglich wird die
Colonie, auch wenn sie im Innern wesentlich selbständig ge-
worden ist, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen,
und insofern eine relative Ueberordnung desselben aner-
kennen. Dieses Verhältnisz einer relativen Selbständigkeit
der Coloniestaten ist zuerst von England gegenüber von Ca-
nada ausgebildet worden.
IV. Der Statenbund und die Personalunion2 setzen
die volle Hoheit und Selbständigkeit der verbundenen Staten
als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise,
soweit das gemeinsame Schicksal der Verbindung es nöthig er-
scheinen läszt. Die Einzelstaten sind hier wohl als Staten or-
ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als
eine unentwickelte Statengemeinschaft, die nur in einzelnen
[558]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Beziehungen — worzüglich nach auszen — wie eine Stats-
persönlichkeit auftritt. Sie ist eher ein Statenconglomerat, als
ein wahrer Stat. Es fehlen ihr die nöthigen Organe für die
Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege. Sie schwankt zwischen
einer dauernden völkerrechtlichen Allianz und einer stats-
rechtlichen Gestaltung. Deszhalb ist sie nur eine unvoll-
kommene Uebergangsform.
Es gibt in dieser Form vielleicht eine gemeinsame Nation,
aber kein wirkliches Gesammtvolk; und die Entwicklung des
Gesammtlebens und der Gesammtmacht ist sehr erschwert,
weniger noch in der Personalunion, welche in dem gemein-
samen Monarchen ein einheitliches Haupt besitzt und nur in
allen andern Beziehungen die Spaltung zeigt, als in dem Sta-
tenbunde, wo es an jedem einheitlichen Organe fehlt. Zum
Handeln ist dieselbe ganz untauglich. Der deutsche Bund war
das beredteste Beispiel dieser Verbindungsform in unserer
Zeit und ihrer Schwächen.
V. Der Bundesstat, das Bundesreich und die Real-
union3 sind darin verwandt, dasz in beiden Verbindungen der
Gesammtstat als ein wirklicher Stat organisirt ist, und
ebenso die verbundenen Einzelstaten. In dem Bundesstate
sind die letztern noch selbständiger, als in der Realunion,
weil sie dort eine ihnen ausschlieszlich angehörige Regierung
haben, hier aber das Haupt des Gesammtstats zugleich der
Landesfürst in den Kronländern ist. Man spricht daher nicht
leicht von der Souveränetät der realunirten Kronländer, aber
unbedenklich von der Souveränetät der Landesstaten (Parti-
cularstaten, Cantone) in dem Bundesstate und dem Bundesreich.
Es gibt in dem Bundesstate und dem Bundesreiche ein
organisirtes Gesammtvolk und organisirte Landesvölker:
(Amerikaner und New-Yorker oder Pennsylvanier; Schweizer-
volk und Berner-, Züricher-, Genfervolk; deutsches Volk und
[559]Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
Preuszen, Bayern, Sachsen u. s. f.) und der Gesammtstat ist
eben so frei in seinen Bewegungen und zwar ebenso ausge-
stattet mit Organen wie ein Einheitsstat. Die Landesstaten
aber sind keine Vasallen des Gesammtstates, sondern inner-
halb ihres Bereiches wieder selbständig wie Einheitsstaten. 4
Die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanderseins zweier
Staten auf demselben Gebiete wird dadurch hergestellt, dasz
einerseits die Competenzen der beiderlei Staten scharf aus-
geschieden werden und für friedliche Erledigung allfälliger
Conflicte gesorgt ist, und dasz andererseits die beiderlei
Behörden und Repräsentativkörper möglichst von einander
getrennt und wechselseitig unabhängig erhalten wer-
den. Am vollständigsten ist diese Scheidung auch der Per-
sonen (Aemter) in dem nordamerikanischen Bundesstate
durchgeführt worden, die Ausscheidung der Competenzen
aber auch in der schweizerischen Bundesverfassung mit be-
sonderer Sorgfalt geregelt worden. 5 In dem deutschen Bun-
desreiche sind die Organe der Bundesregierung noch mit den
Organen der einzelstatlichen Regierungen eng verbunden, so
jedoch, dasz in dem König von Preuszen als deutscher Kaiser
die Eigenschaft des Einen Bundeshaupts sichtbar wird, und
dasz der Reichstag von den Kammern der Einzelstaten ganz
getrennt ist. Die Competenzen des Reiches aber sind keines-
wegs scharf geschieden von denen der Landesstaten; sie sind
im Gegentheil mit Absicht flüssig erhalten; aber es ist durch
die Reichsverfassung, welche jeder Zeit dem Reichsgesetz den
Vorzug vor dem Landesgesetz zusichert, aber zugleich in dem
[560]Sechstes Buch. Die Statsformen.
Bundesrath, ohne den kein Reichsgesetz zu Stande kommt,
die Selbständigkeit der Landesregierungen wahrt, dafür ge-
sorgt, dasz Conflicte unterbleiben oder bald erledigt werden.
Gewöhnlich wird der Bereich des Gesammtstates vorzugs-
weise die äuszeren Angelegenheiten in der Regel, und nur
gewisse gemeinsame innere Dinge als Ausnahme umfassen,
und umgekehrt die Selbständigkeit der Einzelnstaten sich in
der Regel in der innern Verwaltung, ausnahmsweise in
den auswärtigen Verhältnissen bewähren.
[[561]]
Siebentes Buch.
Statshoheit und Statsgewalt (Souveränetät), ihre
Gliederung. Statsdienst und Statsamt.
Erstes Capitel.
Der Begriff der Statsgewalt (Souveränetät).
Der Stat ist die Verkörperung und Personification der
Volksmacht. Indem man sich diese Volksmacht in ihrer höch-
sten Würde und ihrer gröszten Gewalt denkt, spricht man
von Souveränetät.
Der Name der Souveränetät ist zuerst in Frankreich auf-
gekommen und der Begriff der Souveränetät wurde zuerst von
der französischen Wissenschaft ausgebildet. Bodin hat den-
selben zum Grundbegriff des Statsrechts erhoben. Seither
hat das Wort und der Begriff einen sehr groszen Einflusz ge-
übt auf die ganze neuere Entwicklung der modernen Stats-
Verfassung und der gesammten neueren Politik.
Im Mittelalter wurde der Ausdruck „Souveraineté“ (su-
prema potestas) noch in einem weiteren Sinne gebraucht.
Jede Behörde, welche in oberster Instanz den Entscheid gab,
so dasz eine Berufung an eine höhere Autorität nicht mög-
lich war, hiesz eine „souveräne“ Behörde. Die obersten
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 36
[562]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Gerichtshöfe wurden „Cours souveraines“ genannt. Es gab so
eine grosze Zahl souveräner Aemter und Körperschaften inner-
halb des Stats. Aber allmählich gestand man diesen Namen
nicht mehr den bloszen Aemtern und Stellen der verschiede-
nen Verwaltungszweige, sondern nur noch der Einen höch-
sten das Ganze beherrschenden Statsgewalt zu. Daher wurde
nun der Begriff höher gefaszt und bedeutete nun die concen-
trirte Fülle der Statsmacht.
Die Begriffsbestimmung war ganz beherrscht von der cen-
tralisirenden Richtung der französischen Politik seit dem
sechszehnten Jahrhundert und dem Streben der französischen
Könige nach absoluter Gewalt. Bodin hatte die Souveränetät
erklärt als absolute und immerwährende Statsmacht („puis-
sance absolue et perpétuelle d'une République“). Auch nach-
her verstand man die Souveränetät in diesem absoluten Sinne.
Nicht etwa nur der König Ludwig XIV., der sich selber den
Stat nannte, ganz ebenso der jacobinische Convent der fran-
zösischen Republik von 1793 schrieb sich die Statsgewalt als
eine allmächtige zu. 1 Beide mit Unrecht. Der moderne Re-
präsentativstat weisz nichts von einer absoluten Statsgewalt
und eine absolute Unabhängigkeit gibt es überall nicht auf
Erden. Weder die politische Freiheit noch das Recht der
übrigen Organe und Bestandtheile des States vertragen sich
mit einer solchen schrankenlosen Souveränetät, und wo immer
Menschen versucht haben dieselbe zu üben, da hat auch die
Geschichte solche Anmaszung verurtheilt. Selbst dem State
als einem Ganzen kommt solche Allmacht nicht zu; denn
auch er ist nach auszen durch das Recht der übrigen Staten
[563]Erstes Capitel. Der Begriff der Souveränetät (Statshoheit).
und nach innen durch die eigene Natur und durch das Recht
seiner Glieder und der Individuen in ihm beschränkt. 2
Die deutsche Sprache hat keinen völlig entsprechenden
Ausdruck. Die „Obergewalt“ oder wie die ältere Statssprache
in der Schweiz lautete „der höchste und gröszte Gewalt“ 3
bezeichnet nur die Autorität nach Innen, nicht zugleich die
Selbständigkeit nach Auszen. Das Wort „Statshoheit“ be-
zeichnet aber die Würde (majestas) als die Macht des Stats.
Der Ausdruck „Statsgewalt“ erinnert weniger an die Würde
als an die Machtentfaltung. Wir sind daher genöthigt, um
beides zusammen zu fassen, was der Eine Ausdruck Sou-
veränetät besagt, von „Statshoheit und Statsgewalt“ zu reden.
Indessen haben die deutschen Ausdrücke doch den Vorzug,
dasz sie weniger als der französische zu dem Miszverständ-
nisz der absoluten Gewalt verleiten. Je nach Umständen wer-
den wir übrigens auch nur eine der beiden Bezeichnungen
brauchen.
Die Eigenschaften der Souveränetät sind:
1. Unabhängigkeit der Statsgewalt von jeder über-
geordneten Statsautorität. Auch diese Unabhängigkeit ist
nur relativ, nicht absolut zu verstehen. Das Völkerrecht,
welches alle Staten zu einer gemeinsamen Rechtsordnung
verbindet, ist ebenso wenig in Widerspruch mit der Souve-
ränetät der Staten, als das Verfassungsrecht, welches die Aus-
übung der Statsgewalt innerhalb des Statsgebiets beschränkt.
Umdeszwillen ist es möglich, dasz Länderstaten noch als
souverän geachtet bleiben, obwohl sie in wesentlichen Dingen,
wie z. B. äuszere Politik- und Heeresmacht, von dem gröszeren
Gesammtstat abhängig geworden sind.
[564]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
2. Höchste statliche Würde, das was die antike rö-
mische Statsprache „Majestas“ genannt hat.
3. Fülle der Statsmacht, im Gegensatz zu bloszen
Theilbefugnissen. Die Souveränetät ist nicht eine Summe
von einzelnen Sonderrechten, sondern statliches Gesammt-
recht, sie ist ein Centralbegriff, von ähnlicher Energie, wie
das Eigenthum im Privatrecht.
4. Ferner ist die souveräne Macht ihrer Natur nach die
oberste im State. Es kann somit keine andere statliche
Gewalt in dem Statsorganismus ihr übergeordnet sein.
Die französischen Seigneurs des Mittelalters hörten auf „Souve-
räne“ zu sein, als sie in allen wesentlichen Beziehungen stat-
licher Selbständigkeit und Hoheit dem Könige, ihrem Lehens-
herrn, sich wieder unterordnen muszten. Die deutschen Kur-
fürsten konnten seit dem XIV. Jahrhundert Souveränetät in
ihren Ländern behaupten, weil sie in Wahrheit die oberste
Statsmacht in denselben zu eignem Rechte besaszen. 4
5. Da der Stat ein organischer Körper ist, so ist Ein-
heit der Souveränetät ein Erfordernisz seiner Wohlfahrt.
5
Die Spaltung der Souveränetät führt in ihrer Consequenz zur
Lähmung oder Auflösung des States, und ist daher mit der
Gesundheit des States nicht verträglich.
Anmerkungen. 1. Rousseau, dessen Lehre von der französi-
schen Revolution in der That übersetzt worden ist, gründete die Souve-
[565]Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
ränetät auf den „allgemeinen Willen“ (la volonté générale) und
substituirte so irrthümlich der suprema potestas die suprema voluntas.
Aus diesem Grunde erklärt er, im Widerspruche mit der Geschichte, die
Souveränetät für unveräuszerlich, denn „wohl lasse sich die Macht
nicht aber der Wille übertragen.“ Contr. soc. II. 1. Dieser erste Grund-
irrthum, welcher das Recht als Willkür faszt und in demselben nur das
Product des Willens, nicht auch dessen nothwendige Vorbedingung und
Schranke erkennt, welcher von dem „Sollen“ nichts weisz, war unge-
mein fruchtbar an neuen Irrthümern. Der Wille ist eine Entfaltung
und Aeuszerung des menschlichen Geistes und Gemüthes, nicht aber
wie die Souveränetät eine Rechtsinstitution des States. Der
Wille kann wohl die Ausübung des Rechtes beseelen, auch wohl Verän-
derungen in der Rechtsordnung hervorbringen, aber er ist für sich kein
Recht. Der Wille des Souveräns setzt die Souveränetät voraus, nicht
umgekehrt diese jenen.
2. Der Gedanke, dasz die Souveränetät die Quelle des States und
der Rechtsordnung und demgemäsz der Souverän über dem State sei,
ist unlogisch. Statsmacht und Statshoheit lassen sich nur denken, wenn
man den Stat voraus denkt. Die Souveränetät ist daher ein statsrecht-
licher, nicht ein überstatsrechtlicher Begriff.
3. Const. Franz (Vorschule d. St. S. 32) hat das „Selbstbewuszt-
sein des Stats“ neben der öffentlichen Gewalt als die zweite Haupt-
eigenschaft der Souveränetät erklärt. Aber das Bewusztsein ist nöthig
für die Ausübung eines Rechts, für die Rechtshandlung, nicht eine Eigen-
schaft des Rechts selbst.
Zweites Capitel.
Statssouveränetät (Volkssouveränetät) und Regenten-
souveränetät.
Wem kommt die Souveränetät zu? Die Parteien sind ge-
neigt auf diese Frage in ganz verschiedenem Sinne zu ant-
worten, und auch die Wissenschaft hat mancherlei Schwierig-
keiten aus dem Wege zu räumen und Vorurtheile zu überwin-
den, bis es ihr gelingt, zu einer einfachen und wahren Lösung
hindurch zu dringen.
1. Eine besonders seit Rousseau und der französischen
Revolution sehr verbreitete Meinung antwortet: Dem Volke
[566]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
und bekennt sich für das Princip der sogenannten Volks-
souveränetät.
Da fragt sich aber voraus: was versteht sie unter dem
„Volk“? Die einen verstehen darunter lediglich die Summe
der Individuen, die zum State sich zusammen finden, d. h. sie
lösen im Gedanken den Stat in seine Atome auf und sprechen
der unorganischen Masse oder der Mehrheit dieser Individuen
die höchste Gewalt zu. Diese äuszerste radicale Meinung ist
offenbar im Widerspruch mit der Existenz des States, welche
die Grundlage der Souveränetät ist. Sie ist daher mit gar
keiner Statsverfassung vereinbar, auch nicht mit der abso-
luten Demokratie, welche sie zu begründen vorgibt; denn auch
da übt wohl die geordnete Volksversammlung (Landsgemeinde),
nicht aber die atomisirte Menge die Statsgewalt aus.
2. Die andern denken dabei an die gesammte gleiche
Statsbürgerschaft, welche in Gemeinden versammelt ihren
Willen ausspricht, d. h. sie denken an die Souveränetät des
Demos in der Demokratie. Beschränkt auf diese Statsform
hat das Princip einer so verstandenen Volkssouveränetät einen
Sinn und eine Wahrheit; es ist dann mit Demokratie sogar
wörtlich gleichbedeutend. Schon für die Repräsentativdemo-
kratie aber verliert der Satz groszen Theils seine Anwendung,
weil in der regelmäszigen Thätigkeit die oberste Macht nicht
von der Bürgerschaft unmittelbar, sondern nur mittelbar
von den Repräsentanten derselben ausgeübt wird. Ganz
unvereinbar ist derselbe mit allen andern Statsformen, denen
sie die sonderbare Zumuthung macht, dasz das Statshaupt
sich dem niedrigsten Statsbürger gleich stelle, und die Regie-
renden sich als Minderheit der Mehrheit der Regierten unter-
ordnen. Sie weist im Statskörper den Füszen die Stellung des
Kopfes an und diesem den Platz der Füsze.
3. Zuweilen werden auch die beiden Meinungen nicht
scharf unterschieden, sondern gehen in einander über. Die
eine ist anarchisch, die andere ist absolut demokratisch. Den-
[567]Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
noch behaupten ihre Vertheidiger gewöhnlich die Allgemein-
gültigkeit derselben. Das aber ist gerade das Gefährliche
dieser Theorie, dasz ihre Anerkennung den vollständigen Um-
sturz aller andern Statsformen, mit einziger Ausnahme der
unmittelbaren Demokratie, und die Umwandlung jener in diese
im Princip voraussetzt und fordert.
Dieselbe ist daher wohl schon von ganz entgegengesetzten
Parteien 1 verfochten worden, aber immer nur von solchen,
wenn anders mit Bewusztsein, welche mit der bestehenden
Statsordnung oder Statsregierung unzufrieden dieselbe zu un-
tergraben und zu stürzen strebten. In der Hand der franzö-
sischen Revolution war dieselbe daher auch eine furchtbare
Waffe der Zerstörung. Schon die Nationalversammlung in ihrer
Kriegserklärung vom 20. April 1792 verkündete die Rousseau-
sche Theorie officiel: „Ohne Zweifel hat die französische
[568]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Nation laut erklärt, dasz die Souveränetät nur dem Volke zuge-
hört, welches in der Ausübung seines höchsten Willens durch
die Rechte der folgenden Geschlechter beschränkt, keine un-
widerrufliche Macht übertragen kann; sie hat offen aner-
kannt, dasz kein Herkommen, kein gesetzlicher Ausspruch,
keine Willenserklärung, kein Vertrag eine Gesellschaft
von Menschen einer Autorität unterwerfen kann, so dasz
sie nicht mehr das Recht hätte, dieselbe zurückzunehmen.
Jedes Volk hat allein die Macht, sich seine Gesetze zu geben,
und das unveräuszerliche Recht, dieselben zu ändern. Dieses
Recht gebührt entweder gar keinem oder allen mit vollem
Fuge.“ Der nachherige Convent enthüllte die weitern Con-
sequenzen dieses Princips nach der Zerstörung des Königthums.
Aber auch in unsern Tagen haben wir wieder die that-
sächliche Verkündigung des nämlichen Grundsatzes auf dem
Stadthause zu Paris erlebt. Durch einen solchen souveränen
Act der aufgeregten Pariser Bevölkerung wurde im Februar
1848 die constitutionelle Monarchie abgeschafft, die Republik
proclamirt und die Dictatur eines improvisirten Regierungs-
ausschusses eingesetzt. In einer von Lamartine selber re-
digirten officiellen Kundmachung heiszt es wörtlich: „Jeder
Franzose, der das Mannesalter erreicht hat, ist Statsbürger,
jeder Bürger ist Wähler. Jeder Wähler ist Souverän.
Das Recht ist gleich und es ist ein absolutes für Alle. Es
kann kein Bürger zum andern sagen: Du bist in höherem
Masze Souverän als ich. Erwäget Eure Macht, bereitet Euch
dieselbe auszuüben und seid würdig, in den Besitz Eurer
Herrschaft einzutreten.“ 2
4. Zwar wohlgemeint aber unbefriedigend sind die Ver-
suche einzelner französischer Statsmänner, dem verderblichen
Begriffe jener Volkssouveränetät, welcher entweder alles Stats-
recht auflöst, um die Statshoheit zu begründen, oder alle
[569]Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
Staten in Demokratien verwandelt, den einer Souveränetät bald
der Vernunft bald der Gerechtigkeit entgegenzusetzen. 3
Durch Hinweisung auf jene oder diese gedachte man dem
Miszbrauche zu begegnen, welchen das Volk von der Souve-
ränetät machen möchte. Allein diese Vorstellung übersieht,
dasz das Recht nur der Person, das statliche Hoheitsrecht
nur einer statlichen Persönlichkeit zukomme und von
dieser nach Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit aus-
geübt werden solle. Dem Irrthum, der in der absoluten De-
mokratie die alleinige Grundform des States erkennt, tritt
hier der Irrthum der Ideokratie entgegen, in der wohl-
gemeinten Absicht, die Volksmehrheit durch die Herrschaft
der Idee zu leiten. Aber es bleibt dieser Widerspruch er-
folglos, weil die Macht der Persönlichkeit stärker ist als alle
Fiction.
5. Eine andere Meinung nennt die als Einheit gedachte,
zwar noch nicht oder nicht zureichend organisirte, aber der
Organisation fähige Nation mit ihren Instincten, ihrer
Sprache, ihren Gefühlen, ihren socialen Gegensätzen das
[570]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Volk und spricht der Nation das Recht zu, den Stat beliebig
umzubilden.
Wir haben in der „Nation“ die Anlage zur Volksbildung,
d. h. zum State anerkannt (Buch II. Cap. 2) und müssen daher
zugestehen, dasz damit mittelbar auch die Anlage zur Aus-
bildung der Statshoheit anerkannt ist. Aber nicht mehr als
die ursprüngliche Kraft, noch nicht ihre Bethätigung, die
leere Möglichkeit, noch nicht ihre Verwirklichung.
Die Volkssouveränetät in diesem Sinne, oder wie sie nach
dem deutschen Sprachgebrauch richtiger genannt würde, die
Nationalsouveränetät ist demnach ein unreifer, unentwickelter,
vorstatlicher Gedanke, der erst die Statenbildung abwarten
musz, um dann in statlicher Gestalt wirklich zu werden.
6. Man kann aber und man musz sogar das Volk in
statlichem Sinne verstehen, als die geordnete Gesammt-
heit in Haupt und Gliedern, die wir als die lebendige
Seele der Statspersönlichkeit anerkennen.
Inwiefern der Stat als Person erscheint, insofern kommt
ihm ohne Zweifel Unabhängigkeit, höchste Ehre, Machtfülle,
oberste Autorität, Einheit d. h. Souveränetät zu. Der Stat
als Person ist souverän. Deszhalb nennen wir diese Sou-
veränetät Statssouveränetät.
Sie ist nicht vor dem State, noch auszer dem State, noch
über dem State, sie ist die Macht und Hoheit des States
selbst. Sie ist das Recht des Ganzen und so gewisz das
Ganze mächtiger ist, als irgend ein Theil des Ganzen, so ge-
wisz ist auch die Souveränetät des ganzen States der Souve-
ränetät eines einzelnen Gliedes im State überlegen.
Wäre nicht die Sprache durch die Parteikämpfe verwirrt,
so könnten wir diese Statssouveränetät schicklicherweise Volks-
souveränetät heiszen, indem wir unter Volk nicht eine aufge-
löste Menge von Individuen, sondern die politisch gegliederte
Gesammtheit verstehen, in welcher das Haupt die oberste und
jedes einzelne Glied die seiner Natur gemäsze Stellung und
[571]Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
Aufgabe hat. In diesem Sinne haben französische Publicisten
— nach dem entgegengesetzten Sprachgebrauch der Franzosen
und der Deutschen — diese Souveränetät auch wohl „Sou-
veraineté de la nation“ genannt. 4 Gegenwärtig aber wäre jene
Bezeichnung den heftigsten Miszverständnissen ausgesetzt, und
daher haben wir den unverfänglichen Ausdruck Statssouverä-
netät gewählt.
Diese Statssouveränetät zeigt sich nach Aussen und im
Innern, dort als Selbständigkeit und Unabhängigkeit eines
jeden Einzelstates im Verhältnisz zu den andern Einzelstaten,
beziehungsweise auch des Weltreiches gegenüber der Kirche,
hier als gesetzgebende Macht des ganzen geordneten Volks-
körpers.
In diesem Sinne pflegen auch die Engländer ihrem Par-
lamente, an dessen Spitze der König steht, und welches das
gesammte Volk darstellt, Souveränetät zuzuschreiben. 5 Es ist
[572]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
das aber nicht etwa eine Eigenthümlichkeit des englischen
Statsrechts, sondern eine Grundansicht der modernen Reprä-
sentativverfassung überhaupt, welche den Fürsten zwar als
Haupt, aber gerade deszhalb auch als ein Glied des Volkes
betrachtet und welche die höchste, auch thatsächliche Aus-
übung der Souveränetät, die Gesetzgebung nicht dem Haupte
allein zugesteht, sondern nur dem Haupte in Verbindung mit
dem repräsentativen Körper, d. h. nur dem ganzen Stats-
körper. Die patrimoniale Statslehre, welche den Stat wie ein
Eigenthum des Fürsten ansieht und daher nur dem Fürsten
Souveränetät zuschreibt und die absolutistische Statslehre,
welche den Stat mit dem Fürsten identificirt und daher die
Statssouveränetät als Fürstensouveränetät faszt, verkennen
beide, dasz alle Macht des Fürsten wesentlich nur concentrirte
und zusammengefaszte Volksmacht ist und dasz das Volk und
der Stat als Rechtswesen bleibt, wenn gleich Fürsten
fallen und Dynastien untergehen. 6
[573]Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
7. Auszer dieser dem ganzen Stats- oder Volkskörper
selbst inwohnenden Souveränetät gibt es aber noch inner-
halb des States eine Souveränetät des obersten Glie-
des, des Hauptes, die Regenten- oder, da sie in der
Monarchie am klarsten hervortritt, die Fürstensouveräne-
tät. Im Verhältnisz zu allen andern einzelnen Gliedern des
Statsorganismus und den einzelnen Statsbürgern kommt dem
Oberhaupte der Nation wieder die oberste Macht und Stellung
zu. So wird auch in dem englischen Statsrecht der König
in besonderem Sinne der Souverän genannt, und so in
jedem monarchischen State dem Monarchen als solchen hin-
wieder Souveränetät beigelegt.
Zwischen jener Statssouveränetät und dieser Fürstensou-
veränetät ist kein Widerspruch. Die Souveränetät wird nicht
dadurch gespalten, dasz etwa die eine Hälfte dem Volke, die
andere dem Fürsten zugetheilt wird. Das Verhältnisz der-
selben ist nicht das zweier eifersüchtiger Mächte, die sich um
die Herrschaft streiten. In beiden ist Einheit und Fülle der
Macht; aber es versteht sich von selbst, dasz hinwieder das
Ganze, in welchem das Haupt selbst seiner obersten Stellung
im Körper gemäsz inbegriffen ist, auch dem Haupte für
sich allein übergeordnet ist. Das ganze Volk (der Stat) gibt
das Gesetz, aber innerhalb dessen Schranken bewegt sich das
Haupt mit voller Freiheit in der Ausübung der ihm zugehörigen
6
[574]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
obersten Macht. Die Statssouveränetät ist vorzüglich die des
Gesetzes, die Fürstensouveränetät die der Regierung. Wo jene
ruht, da ist diese wirksam. Ein wirklicher Conflict ist
nicht leicht, im Princip überall nicht möglich, denn er würde
den Conflict des Oberhauptes für sich allein mit dem Ober-
haupte in Verbindung mit den übrigen Gliedern des States,
also einen Conflict der nämlichen Person mit sich selber vor-
aussetzen.
Während somit zwischen der demokratischen Volkssou-
veränetät und der Fürstensouveränetät kein wahrer Friede
denkbar ist, sondern nothwendig die eine die andere unter-
werfen und aufheben musz, so ist dagegen zwischen der Stats-
souveränetät und der Fürstensouveränetät die nämliche Har-
monie wie zwischen dem ganzen Menschen und seinem Kopf.
Anmerkung. Zuweilen versteht man unter der Volkssouveränetät
nicht die oberste Macht der Volksmehrheit, sondern nur den Gedanken,
dasz eine Statsform oder Regierungsweise, welche mit der Existenz und
Wohlfahrt der Mehrheit des Volkes unverträglich sei, auch unhalt-
bar sei, oder dasz die Statsform und Regierung für das Volk da sei.
Dieser Gedanke ist nicht zu bestreiten, aber er ist in jener Bezeichnung
durchaus falsch ausgedrückt.
Will man ferner den Satz, dasz alle Statsgewalt ursprünglich von
dem Willen der Volksmehrheit abgeleitet sei, die Volkssouveränetät
heiszen, so ist zwar zuzugeben, dasz viele Statsverfassungen, wie insbe-
sondere die demokratischen, aber auch einzelne Monarchien, z. B. das
römische und das französische Kaiserthum, nach der Lehre des römischen
und des französischen Statsrechts auf einem Willensact der Volksmehr-
heit beruhen. In dieser Weise erklären mehrere schweizerische Ver-
fassungen, nicht dasz das Volk souverän sei, wohl aber, dasz „die Sou-
veränetät auf der Gesammtheit des Volkes beruhe und von dem groszen
Rathe ausgeübt werde.“ Z. B. Züricher Verfassung von 1831
§. 1.
Aber auch dieser Satz hat keineswegs für alle Staten Geltung, und der
Ausdruck Souveränetät, der ein fortdauerndes Recht bedeutet, kann nur
uneigentlich auf solche geschichtliche Vorgänge angewendet werden.
Durchaus verwerflich endlich und selbst mit dem demokratischen
Statsrecht unvereinbar ist der Sinn, der oft schon practisch dem Worte
Volkssouveränetät beigelegt wurde, dasz das Volk im Gegensatze zur
Regierung oder gar jede gereizte und mächtige Volksmasse berechtigt sei,
die Regierung nach Willkür zu verjagen und die Verfassung zu brechen.
[575]Drittes Capitel. I. Inhalt der Statssouveränetät.
Drittes Capitel.
I. Inhalt der Statssouveränetät.
1. Das statlich geordnete Volk, der Stat, hat vorerst ein
Recht auf Anerkennung und Achtung seiner Würde und
Hoheit, oder wie die Römer sie genannt haben, seiner Ma-
jestät. 1 Jede schwere Verletzung der Ehre, Macht und selbst
der Ordnung des römischen States galt daher den Römern als
ein crimen laesae majestatis.
2. Die Unabhängigkeit des States von fremden Staten
ist ferner eine nothwendige Eigenschaft und Wirkung seiner
Souveränetät. Wenn ein Stat genöthigt wird die statliche
Ueberordnung eines andern States anzuerkennen, so verliert
er seine Souveränetät und unterwirft sich der Souveränetät
des letztern. 2
Indessen zerstört nicht jede Unterordnung eines States
die Souveränetät desselben völlig, da die Abhängigkeit, welche
mit derselben verbunden wird, nicht eine absolute ist und in
manchen Verhältnissen die ursprüngliche Unabhängigkeit und
Selbständigkeit wieder vortritt. In zusammengesetzten Staten,
Statenbünden, Bundesstaten und Bundesreichen haben die Ein-
zelstaten, obwohl sie in gewissen Bezichungen dem Ganzen
untergeordnet sind, dennoch als Staten noch eine relative,
zwar nicht dem Inhalte aber dem Umfange nach beschränkte
[576]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Souveränetät. So spricht man in der Schweiz von der Can-
tonalsouveränetät für den Bereich der Cantonalangelegen-
heiten im Gegensatze zu der Bundessouveränetät für die
Bundessachen. Aehnlich ist in Nordamerika und im deutschen
Reich zwischen der Souveränetät des Gesammtstats (Union,
Reich) und der verbündeten Länder zu unterscheiden.
Von einer relativen Souveränetät des dem Gesammtstate
(Bund oder Reich) untergeordneten Einzelstates läszt sich
indessen nur da noch reden, wo dieser noch für sich als Stat
organisirt ist, d. h. alle wesentlichen Organe (gesetzgebender
Körper, Regierung u. s. f.) noch in sich und damit auch ein
ihm eigenthümliches Statsleben hat und selbstkräftig übt, aber
nicht da mehr, wo er in das Verhältnisz eines bloszen
Theils — einer Provinz — des gröszeren Ganzen gebracht
worden ist. Wie in allen relativen Verhältnissen, so gibt es
auch hier einen kaum bemerkbaren Uebergang von einem
zum andern.
Nach auszen wird die Statssouveränetät in unsrer Zeit
gewöhnlich durch das Statshaupt repräsentirt, nicht durch
den gesetzgebenden Körper, aber mehr aus Gründen der
Zweckmäszigkeit, als aus Rechtsgründen.
3. Im Innern äuszert sich die Souveränetät vorerst in
dem Rechte des Volks, die Formen seines statlichen Da-
seins selbständig zu bestimmen, nöthigenfalls zu ändern.
Man nennt diese Befugnisz auch wohl die constituirende
Gewalt des Volkes. 3 Was einem Theile des Volkes, der bloszen
[577]Drittes Capitel. I. Inhalt der Statssouveränetät.
Volksmehrheit ohne die Regierung nicht zugestanden werden
kann, gebührt dagegen unzweifelhaft dem gesammten Volke
in seiner statlichen Ordnung. Der einzelne Unterthan darf
sich den Anordnungen des Volks nicht widersetzen, selbst
wenn seine politischen Rechte durch dieselben verletzt würden;
denn der obersten Statsmacht musz das Individuum sich auf
dem Gebiete des öffentlichen Rechtes unterordnen, soll der
Stat seine Einheit, Zusammenhang und Ordnung bewahren.
Allerdings ist es für die sittliche und die rechtliche Be-
urtheilung nicht gleichgültig, ob die Aenderung auf dem Wege
der Reform oder der Revolution vollzogen werde. Die
Reform setzt voraus: 1) dasz die Aenderung durch den nach
der Verfassung befugten Organismus, in den Repräsentativ-
verfassungen somit durch den Statskörper, welcher die ge-
sammte Nation darstellt, eingeführt werde, d. h. auch formell
rechtmäszig sei; 2)dasz auch bei der Umgestaltung des
Rechts der Geist des Rechts geachtet, somit das abzuändernde
und aufzuhebende Recht nur insoweit als es wirklich veraltet
und unpassend geworden ist, beseitigt, das neue nur insofern
es reif und in den neuen Lebensverhältnissen begründet er-
scheint, hervorgebracht werde.
Wird entweder die Form der Verfassung miszachtet, oder
in dem Inhalte der Aenderung das Princip des Rechts verletzt,
so ist ein solcher Act nicht mehr Reform, sondern Revolution.
Das Recht der Reform ist eine nothwendige Aeusze-
rung der Lebenskraft des Stats. Dieses Recht bestreiten heiszt
die Entwicklung des Volks läugnen und die Revolution veran-
lassen.
Die radicale Statslehre behauptet aber auch ein Recht
des Volks zur Revolution. Aber schon der Begriff des
Statsrechts steht dieser Annahme entgegen, denn die Revo-
lution ist entweder ein gewaltsamer Bruch der bestehenden
3
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 37
[578]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Statsverfassung oder eine Verletzung des Rechtsprincips. Desz-
halb sind Revolutionen in der Regel keine Rechtshandlungen,
wenn sie auch mächtige Naturerscheinungen sind, die auch
das öffentliche Recht ändern. Wo die entfesselten Naturkräfte,
welche in der Nation leidenschaftlich erregt sind, mit vulka-
nischer Gewalt die Revolution hervorrufen und bestimmen,
da ist die regelmäszige Wirksamkeit des Statsrechts gestört.
Diesen Ereignissen gegenüber ist das Statsrecht ohnmächtig.
Es ist nicht im Stande, die Revolution in den Bereich seiner
Normen und Gesetze zu ziehen. Es ist wohl eine grosze Auf-
gabe der Politik, die ausgebrochene Revolution so bald als
möglich wieder in die geregelten Bahnen der Reform und der
Statsordnung überzuleiten. War das Recht zu schwach, sie
zu hindern oder die Reform zu träge, ihr zuvorzukommen,
so vermögen beide jetzt nicht mehr sie zu regeln.
Von einem Rechte der Revolution kann daher nur ganz
ausnahmsweise und nur in dem Sinne gesprochen werden,
wie von einem Nothrechte des Volks, seine Existenz zu
retten oder seine nothwendige Entwicklung zu verwirklichen,
wenn die Wege der Reform verschlossen sind. Die Verfassung
ist doch nur die äuszere Organisation des Volks. Wird durch
sie der Stat selbst in die Gefahr des Untergangs versetzt und
das Leben des Volks gelähmt oder werden die vitalen Inter-
essen der öffentlichen Wohlfahrt bedroht, dann wird das Noth-
recht einer lebensfähigen und lebenskräftigen Natur be-
gründet, sich Luft zu machen und die nothwendig gewordene
Wandlung zu vollziehen: „Die Noth kennt kein Gebot.“
4
[579]Drittes Capitel. I. Inhalt der Statssouveränetät.
4. Ebenso liegt in der Statssouveränetät die Befugnisz,
die erforderlichen Gesetze zu geben. Die gesetzgebende
Gewalt im engern Sinne wie die constituirende ist ein Aus-
flusz der Statssouveränetät und zugleich ihre regelmäszige
Offenbarung.
5. Auszerdem aber beruht im Princip auch alle andere
Statsgewalt auf ihr, weszhalb denn auch die Verfassung
und die Gesetzgebung alle andern Aeuszerungen der Stats-
hoheit und Statsgewalt begrenzen und ordnen. Aber während
sie in der Constituirung und Gesetzgebung activ erscheint,
verhält sie sich hier in der Regel ruhend. In der Monarchie
insbesondere finden wir vielmehr die dem täglichen und ver-
änderlichen Bedürfnisz des States gewidmete Thätigkeit der
übrigen Statsgewalten in der Souveränetät des Monarchen
concentrirt. Das Volk in seiner Gesammtheit ruht, sein Haupt
handelt hier, sei es unmittelbar, sei es durch die Vermitt-
lung der mannichfaltigen Aemter und Behörden, die von ihm
abgeleitet sind.
Wenn aber das Organ, welches die regelmäszige Action
zu besorgen hat, unfähig oder untauglich dazu wird, wenn
insbesondere der Thron erledigt wird und für keine Nachfolge
durch die Verfassung gesorgt ist, so wird die Souveränetät
des States selbst wieder wirksam, um diesen Mangel zu be-
seitigen und den Thron neu zu besetzen.
6. Unverantwortlichkeit. Vor einem höhern Stand-
punkte zwar gibt es keine Unverantwortlichkeit der Menschen
für ihre Handlungen oder Unterlassungen. Und in der That
nicht blosz das ewige Gericht Gottes über die Welt schlieszt
den Gedanken einer Unverantwortlichkeit auch der Völker aus.5
4
[580]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Auch auf der Erde in den Schicksalen und Leiden der
Völker wird diese Verantwortlichkeit nicht selten schmerzlich
empfunden. Aber es ist unmöglich, innerhalb eines States
ein Gericht zu bestellen, vor welchem die Gesammtheit des
Volkes selbst, oder seine Stellvertretung als Inhaber der ober-
sten Statsmacht zur Rechenschaft gezogen werden können.
Würde das versucht, so wäre insofern wenigstens der Stat
selbst dem Gerichte unterthänig, und so das Glied über den
Körper, der Theil über das Ganze geordnet.
Würde aber ein Stat für die Ausübung seiner Statssou-
veränetät einem andern State verantwortlich sein, so wäre
seine Souveränetät eben deszhalb eine beschränkte, und
der Oberhoheit des richtenden Stats untergeordnete.
Nur durch Ausbildung des Völkerrechts, beziehungs-
weise einer höhern statlichen Weltordnung, vor welcher
die einzelnen souveränen Staten sich beugen müszten als
einem Gesammtreiche, könnte die statliche Verantwortlichkeit
der Einzelstaten auch rechtlich organisirt werden. Vielleicht
ist es der Zukunft vorbehalten, diese Idee zu verwirklichen.
In der Gegenwart kann sie nur als Idee geahnt, oder erkannt
werden; aber zum realen Rechte ist dieselbe noch nicht ge-
worden.
7. Alle besondern Statsgewalten sind hinwieder den Or-
ganen der Statssouveränetät verantwortlich. Sie läszt sich
von den Ministern und obersten Statsbeamten Rechenschaft
geben über die Verwaltung.
Anmerkung. Die constituirenden Versammlungen der
neuern Zeit haben nach dem Vorgange der französischen Nationalver-
5
[581]Viertes Capitel. II. Die Fürstensouveränetät.
sammlung von 1789 gewöhnlich nicht das Princip der Statssouveränetät,
sondern das der Volkssouveränetät im Rousseau'schen Sinne zu dem
Grundgedanken ihrer Politik erhoben. Rousseau selber geht indessen
noch weiter, indem er keiner repräsentativen Versammlung die volle
Souveränetät beilegt, sondern den Volksmassen verstattet, in jedem Mo-
ment auch diese ihrem Willen zu unterwerfen und durch unmittelbare
Acte einzugreifen. Auch die Consequenz seiner Doctrin ist jedesmal in
roher Gestalt neben und auszer jenen constituirenden Versammlungen,
dem rothen Schweife der Kometen ähnlich, an dem politischen Horizonte
sichtbar geworden, oft zum Schrecken jener „souveränen“ Körper selbst,
welche die chaotischen Massen um sie her entzündet hatten.
Viertes Capitel.
II. Die Fürstensouveränetät.
Die zweite dem Statsoberhaupte für sich allein zu-
kommende Souveränetät findet sich in dem modernen Stats-
rechte nur noch in der Monarchie anerkannt. Nur der
Monarch, nicht auch der Präsident der Republik, obwohl auch
dieser Souveränetätsrechte ausübt, hat nach demselben einen
persönlichen Anspruch, als Souverän geachtet zu werden.
Das alte Statsrecht der römischen Republik ging
weiter. Auch den Consuln, die sich in die alte königliche
Gewalt getheilt hatten, und später auch dem Senate wurde
„Majestät“ zugeschrieben. Die neueren Republiken aber
sind eifersüchtiger auf die ausschlieszliche Volkshoheit, und
betrachten die republikanischen Häupter der Statsregierung
lediglich als Mandatare des souveränen Volkes, auf welche
die demselben innewohnende Majestät nicht zu selbständigem
Rechte übertragen sei. 1
[582]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Zuweilen meint man, die Fürstensouveränetät finde sich
nur in der Erbmonarchie und die Wahlmonarchie
schliesze dieselbe aus. Diese Meinung verwechselt das Wesen
der fürstlichen Macht, die als solche eine souveräne ist, mit
der Frage, wie dieselbe im einzelnen Falle bestellt werde.
Auch ein Wahlfürst hat die oberste Statsmacht zu selbstän-
digem Rechte nicht minder als der Erbfürst. Die altrömischen
Kaiser und die deutsch-römischen Kaiser im Mittelalter waren
sicherlich Souveräne, obwohl Wahlfürsten: und der englische
König Wilhelm von Oranien war es nicht minder, als seine
Nachfolger, ungeachtet mit ihm eine neue Dynastie auf den
Thron berufen wurde.
Dagegen kann die Wissenschaft eine ursprüngliche
(originäre) Fürstensouveränetät von einer abgeleiteten (deri-
vativen) unterscheiden, während eine solche Unterscheidung
auf die Statssouveränetät keine Anwendung leidet, diese viel-
mehr immer eine ursprüngliche ist. Die erstere ist die, welche
dem Fürsten ursprünglich inwohnt, kraft des seiner Person
angebornen oder von ihr selbständig ergriffenen Rechtes. Von
der Art ist die Souveränetät des Erbfürsten, die des Eroberers
und die eines Fürsten, der wie Karl der Grosze oder
Friedrich Wilhelm I. von Preuszen die Krone sich selber
auf das Haupt setzt. Auch diejenige der deutschen Wahlkaiser,
welche ihre Souveränetät nicht von den Kurfürsten, sondern
von Gott ableiteten, musz als eine originäre aufgefaszt werden.
Die letztere dagegen wird als eine von dem Volke oder
den Wählern übertragene und abgeleitete betrachtet. So
wurde nach dem römischen Statsrecht die kaiserliche Macht
selbst von dem römischen Volke verliehen. 2 Von der Art ist
auch die neuere Wahlmonarchie gewöhnlich.
[583]Fünftes Capitel. Die Sonderung der Gewalten. Antike Zustände.
Der Inhalt der Fürstensouveränetät wird erst näher dar-
gelegt werden können, wenn vorher die Unterschiede in den
Functionen der Statsgewalt betrachtet worden sind.
Fünftes Capitel.
Die Sonderung der Gewalten.
Antike Zustände.
In der Bildung des gesetzgebenden Körpers hat der mo-
derne Stat eine viel höhere Stufe der Vervollkommnung er-
reicht als der antike. Den Grundgedanken, dasz bei der Ge-
setzgebung das ganze Volk betheiligt sei und dasz in dem ge-
setzgebenden Körper das Volk sich darstelle, hat zwar
das Alterthum schon zum Bewusztsein gebracht. Aber dieses
machte vorerst noch den Versuch, das Volk selbst als Bürger-
schaft zu versammeln und so zu unmittelbarer politischer
Erscheinung und Thätigkeit zu bringen.
Verhältniszmäszig noch in roher Form waren die Volks-
versammlungen der Griechen. Auf der Pnyx oder in dem
Theater zu Athen kam eine wirre Menge von Bürgern zu-
sammen, welche nach Köpfen gezählt wurden, und von denen
jeder reden durfte. Die alten römischen Comitien dagegen
waren schon organisch nach Körperschaften und Classen ge-
gliedert und geordnet, und bewegten sich nur unter der
strengen Leitung der hohen Magistrate. 1
Diese Einrichtung aber leidet immerhin an wesentlichen
Gebrechen, welche erst der modernen Repräsentativver-
fassung zu verbessern gelungen ist:
[584]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
1. Ein unmittelbarer Zusammentritt der ganzen Bürger-
schaft ist in jedem State, dessen Gebiet die Grenzen eines
bloszen Gemeinde- oder Stadtwesens überschreitet, unmög-
lich. Die Volksversammlung des gröszern States wird daher,
wie das zu Rom in den letzten Jahrhunderten der Republik
geschehen ist, zur Unwahrheit, und es erhält das Volk, be-
ziehungsweise der Pöbel der Hauptstadt und ihrer Umgebung
ein unverhältniszmäsziges Uebergewicht.
2. Eine so grosze und immerhin sehr gemischte Ver-
sammlung ist überdem ein sehr unbeholfener Körper,
höchstens geeignet, die allgemeine Stimmung kundzugeben, einer
vorgeschlagenen bekannten Richtung seinen Beifall zu äuszern
oder dieselbe durch sein Miszfallen zu hemmen, aber durch-
aus unfähig, eine gründliche Berathung über Gesetzentwürfe
zu pflegen und die schwierigeren und verwickelteren Probleme
der Politik zu lösen.
Nur in ganz kleinen Staten und unter der Voraussetzung
sehr einfacher Lebensverhältnisse kann demnach die Gesetz-
gebung einer Volksversammlung überlassen werden.
Sechstes Capitel.
Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.
Wenn gleich die Statsgewalt (Souveränetät) wesentlich
central und einheitlich ist, so hat doch der Stat verschiedene
Aufgaben zu erfüllen. Um deszwillen ändern sich auch, je
nach der Richtung seiner Thätigkeit, die Formen seiner
öffentlichen Functionen.
Die antike Statslehre des Aristoteles (IV. 11, 1.) unter-
schied so dreierlei Functionen: 1) die berathende (τὸ
βουλευόμενον πεϱἰ τῶν ϰοινῶν), 2) die obrigkeitliche
(τὸ πεϱὶ τὰϱ αϱχὰς), 3) die richterliche (τὸ διϰάζον).
[585]Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.
Er bezieht die erste auf die groszen allgemeinen Stats-
angelegenheiten, die politische Gesammtleitung, rechnet dahin
die Entscheidung über Krieg und Frieden, über Schlieszung
oder Auflösung von Bündniszen, über die Gesetze, über die
Todesstrafe, die Verbannung, die Confiscation und über die
Rechenschaft der Finanzverwaltung. Man sieht, es sind sehr
verschiedenartige Dinge gemischt, auswärtige Politik und Ge-
setzgebung, aber auch höchste Strafgerichtsbarkeit und Con-
trole der Regierung, aber sie sind alle ausgezeichnet durch
ihre grosze politische Bedeutung für das ganze Statswesen
und für die Sicherheit der Bürger. Aristoteles nennt das,
nicht wie wir heute, Gesetzgebung sondern „Berathung“, viel-
leicht weil die eigentliche Gesetzgebung erst später von den
Volksversammlungen geübt, und selbst da nur mittelbar geübt
wurde, dagegen die vorherige Berathung in der Volksver-
sammlung auf die wichtigsten Dinge maszgebend wirkte.
Die zweite Gattung von Functionen entspricht einiger-
maszen dem, was die heutigen Verfassungen „vollziehende Ge-
walt“ nennen, ist aber richtiger durch die Hinweisung auf
die obrigkeitlichen Aemter bezeichnet.
Die dritte Classe entspricht unsrer Gerichtsgewalt.
Aber während so objectiv die verschiedenen Functionen
aus einander gehalten werden, so sind sie noch subjectiv oft
verbunden. Wir haben schon bemerkt, dasz die athenische
Ekklesie zugleich über Gesetze beräth, wichtige Regierungs-
handlungen vollzieht und indem sie über die höchsten
Strafen entscheidet, auch richterliche Functionen ausübt.
Die Archonten übten die Verwaltung aus und leiteten zugleich
die Gerichte.
Der römische Stat ist reicher an ausgebildeten und
mit einem bedeutenden Machtkreise ausgerüsteten Organen.
In ihm ist auch die auf die Gesetzgebung bezügliche Thätig-
keit der Comitien bereits schärfer gesondert von den Func-
tionen des Senats und der Magistrate. [Indessen] auch
[586]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
die Comitien verhandeln über wichtige auswärtige Statsfragen,
in älterer Zeit auszerdem über Berufung gegen Todesurtheile.
Der Senat aber übt nicht blosz Regierungs- und Verwaltungs-
acte aus, sondern erläszt in seinen Beschlüssen auch allge-
meine Rechtsvorschriften, ähnlich den Gesetzen. Die Magi-
strate endlich verbinden ganz regelmäszig regierende und
richterliche Befugnisse. Wer das imperium hat, der hat auch
für den Umfang desselben die jurisdictio. 1 Zudem hat er
priesterliche Functionen (die Auspicien). Und endlich übt
er durch seine Edicte Befugnisse aus, welche in solcher
Ausdehnung als gesetzgeberische bezeichnet werden müssen.
Immerhin zeigt sich aber in dem alten Statsrecht der Repu-
blik das bewuszte Streben, für bestimmte Zweige der öffent-
lichen Thätigkeit auch besondere Aemter zu bilden.
In dem spätern römischen Kaiserreiche kam zuerst
eine neue persönliche Ausscheidung auf. Die byzantinischen
Kaiser freilich behielten alle statliche Gewalt über das ganze
Reich in ihrer Hand vereinigt; aber in den untergeordneten
Stufen der Provincialregierung und Beamtungen wurden die
Civilstellen von den Militärstellen sorgfältig getrennt.
Diese Trennung, welche früherhin die Rücksicht auf die Unter-
thanen, auf welchen das Uebermasz der in den Magistraturen
vereinigten Befugnisse schwer gelegen, nicht bewirkt hatte,
ward nun um der Sicherheit des Thrones willen durchgeführt.
In der That lag hierin ein Fortschritt der statlichen Cultur
und der bürgerlichen Freiheit, welcher auch in dem moder-
nen State Anerkennung fand.
Im Mittelalter traf die Aeuszerung der Statsgewalt auf
allen Seiten auf Schranken, die ihr entgegen standen. Aber
[587]Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.
innerlich waren in ihr die verschiedensten Befugnisse geeinigt.
Nicht allein der König, auch jeder Graf hatte zugleich Civil-
und Militärgewalt, administrative und richterliche Befugnisse,
und auf den Dingen (Gerichtsversammlungen) wurde zugleich
der allgemeine Rechtssatz als Gesetz gewiesen und der ein-
zelne Streitfall beurtheilt.
Zuerst hat der Franzose Bodin das Verlangen näher
begründet, dasz wenigstens die höchste Person des Königs die
Rechtspflege nicht mehr selber übe, wie es bisher Sitte war,
sondern unabhängigen Richtern als öffentlichen Magistraten
überlasse. Bodin führt aus, dasz manche Gründe für die ältere
Einrichtung sprechen: Es mache einen groszen und wohl-
thätigen Eindruck, wenn der König die Gerechtigkeit in An-
gesicht alles Volks als Richter ausübe. Aber er ist der Mei-
nung, dasz noch gewichtigere Gründe ihn bestimmen, sich
des persönlichen Richteramts zu enthalten. Wenn der Gesetz-
geber selber richtet, so mischt sich in ihm Gerechtigkeit und
Gnade, Gesetzestreue und Willkür und durch diese Mischung
wird die Rechtspflege verdorben. Die Parteien erlangen nicht
die gehörige Freiheit; sie werden von der Autorität des Sou-
verains gedrückt und geblendet. Die Schrecken des Straf-
gerichts werden riesenhaft vergröszert; und hat der Fürst
einige Anlage zur Grausamkeit, so schwimmt der Richterstuhl
im Blute der Bürger und der Hasz der Völker wendet sich
gegen den Fürsten. Am wenigsten ist es schicklich, dasz der
Fürst in eigener Sache und über Vergehen richte, die gegen
ihn selber verübt worden sind. Eher ziemt es sich und ist
nützlicher für ihn, wenn er sich vorbehält, Gnaden zu er-
weisen und wohl zu thun. 2
In der That konnte sich Bodin auf einige Vorgänge der
französischen Geschichte berufen, in denen Parlamente der
Pairs sich gegen die Anwesenheit des Königs im Gericht aus-
[588]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
gesprochen hatten. Allmählich änderte sich auch in den mei-
sten Staten die Sitte. Die Könige fingen an, die Justiz ganz
den Gerichtshöfen zu überlassen und sich nur die Bestätigung
insbesondere von Todesurtheilen vorzubehalten.
Siebentes Capitel.
Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
Erst der modernen Statenbildung gehört der Gedanke
an, dasz die objective Unterscheidung der statlichen
Functionen auch eine subjective Sonderung der Organe
verlange, welchen diese Functionen zukommen.
Zuerst hat Montesquieu das moderne Princip mit Nach-
druck und mit Erfolg verkündet. Er verlangt die Scheidung
auch der Personen, welche die verschiedenen öffentlichen
Functionen ausüben, im Namen der Freiheit der Bürger und
im Interesse ihrer Sicherheit: „Wenn in derselben Person
oder in demselben Körper die gesetzgebende Gewalt und die
vollziehende vereinigt sind, so gibt es keine Freiheit, denn
Jeder musz fürchten, dasz der herschende Fürst oder Senat
tyrannische Gesetze gebe und sie tyrannisch vollziehe. Es
gibt ebenso wenig Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht
von der gesetzgebenden und der vollziehenden getrennt wird,
denn wäre sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so
wäre das Urtheil über das Leben und die Freiheit der Bür-
ger willkürlich; wäre sie mit der vollziehenden Gewalt ver-
bunden, so hätte der Richter die Gewalt eines Unterdrückers.“ 1
Allerdings ist die persönliche Freiheit gefährdet, wenn
ein Uebermasz von Macht in Eine Hand gelegt ist. Indem
man die verschiedenen Zweige der Gewalt unterscheidet, be-
[589]Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
schränkt man sie alle wechselseitig. Aber der entscheidende
Grund für die besondere Gestaltung der Organe, welche be-
stimmte Functionen zu vollziehen haben, ist doch nicht jene
politische Rücksicht einer gröszeren Sicherheit für die bürger-
liche Freiheit, sondern voraus der organische, dasz für jede
Function besser gesorgt wird, wenn das ihr dienende Organ
eigens für diesen Zweck eingerichtet wird, als wenn man
demselben Organe ganz verschiedene Functionen zuweist.
Die organisatorische Kunst des Statsmanns folgte nur dem
Vorbild der Natur, indem sie diese Sonderung der Organe
vornahm. Das Auge ist zum sehen, das Ohr zum hören, der
Mund zum sprechen und die Hand zum greifen und wirken
gebaut. Ebenso soll es im Statskörper sein und auch da jedes
Organ eigens für die Functionen geschaffen sein, die von ihm
verlangt werden.
Der beliebte Ausdruck freilich: „Trennung der Gewal-
ten“ miszleitet zu falschen Anwendungen eines richtigen
Princips. Die vollständige „Trennung“ der Gewalten wäre
Auflösung der Statseinheit und Zerreiszung des Statskörpers.
Wie in dem natürlichen Körper alle einzelnen Glieder unter
sich wieder verbunden sind, so musz auch im State der
Zusammenhang der verschiedenen Organe nicht minder
sorgsam gewahrt bleiben. Der Stat fordert daher die Ein-
heit der Statsgewalt, welche nur je nach der Art ihrer
Functionen nach besonderen Organen zu gliedern ist.
Er will daher die relative Sonderung, nicht die absolute
Trennung der Gewalten.
Die gangbarste Unterscheidung dieser Theilgewalten —
die Franzosen haben den bessern Ausdruck pouvoir — ist seit
Montesquieu die dreifache:
1) gesetzgebende Gewalt (pouvoir législatif),
2) vollziehende Gewalt (pouvoir exécutif),
3) richterliche Gewalt (pouvoir judiciaire).
Auch die Engländer haben dieselbe für ihre Theorie des
[590]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Statsrechts angenommen. Mit besonderer Energie, aber nicht
ohne Uebertreibung haben die Nordamerikaner in ihren Ver-
fassungen diese Dreitheilung durchgeführt. Eine ganze Reihe
moderner europäischer Verfassungen haben dieselbe ebenso
sanctionirt.
Den genannten drei Gewalten haben einige, wohl zu-
nächst im Interesse der Statseinheit
4) eine vermittelnde Gewalt (pouvoir modérateur,
royal) hinzugefügt, und es ist dieser Gedanke Benjamin
Constants auch in die portugiesische Verfassung Don Pedro's
übergegangen. Andere haben der vollziehenden Gewalt ferner
5) die verwaltende (pouvoir administratif),
6) die aufsehende (potestas inspectiva) und
7) die repräsentative (pouvoir représentatif) beige-
ordnet.
Bevor wir diese Eintheilung näher prüfen, ist eine irrige
Vorstellung, welche häufig auf die Behandlung dieser Fragen
groszen Einflusz geübt hat, zu entfernen, die Vorstellung
nämlich von der Gleichstellung der verschiedenen Ge-
walten. Dieselbe widerspricht der organischen Natur des
States. In dem organischen Körper hat jedes Glied die ihm
eigenthümliche, aber keines mit dem andern gleiche Stellung.
Vielmehr ist das eine dem andern über- oder unter- oder zu-
geordnet. Nur so wird Zusammenhang und Einheit des
Ganzen erhalten. Dasselbe gilt vom Stat. Würden die obersten
Gewalten in diesem wirklich — nicht blosz der äuszern Form
und dem Scheine nach wie in Nordamerika — einander gleich-
gestellt, so müszte solche Spaltung und Gleichstellung der
höchsten Statsmacht den Stat selbst in ihren Consequenzen
in Stücke reiszen. „Man kann den Kopf nicht von dem Leibe
trennen und diesem gleichstellen, ohne das Leben des Men-
schen zu tödten.“1
[591]Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
Fast kindisch ist die Vorstellung von dem Verhältnisz
der Statsgewalten zu nennen, welche in der gesetzgebenden
Gewalt lediglich die Bestimmung der Regel, in der richter-
lichen die Subsumtion des einzelnen Falles unter die Regel,
in der vollziehenden endlich die Vollstreckung dieses Ur-
theils sieht, und so den Statsorganismus wie einen bloszen
logischen Syllogismus betrachtet.2 Alle Functionen der ver-
schiedenen Gewalten wären so in jedem gerichtlichen Urtheile
vereinigt, welches von allgemeinen Principien ausgeht, diese
auf die vorgelegte Streitfrage anwendet, und endlich in Folge
dessen das Erkenntnisz zum Schlusz bringt. Die Regierung
aber hätte kaum eine andere Aufgabe, als die des Frohn-
boten oder der Gendarmerie, welche das Urtheil der Gerichte
vollzieht.
Voraus ist es nöthig, die gesetzgebende Gewalt auf
der einen Seite allen übrigen Statsgewalten auf der andern
gegenüber zu stellen. Alle andern Functionen gehören ein-
zelnen Organen des Statskörpers zu, die Gesetzgebung
allein dem ganzen Statskörper selbst. Die gesetzgebende
Gewalt bestimmt die Stats- und Rechtsordnung selbst,
und ist ihr höchster, das ganze Volk umfassender Ausdruck.
Alle andern Gewalten dagegen üben ihre Functionen inner-
halb der bestehenden Stats- und Rechtsordnung in einzelnen
concreten und wechselnden Fällen aus. Die Gesetzgebung
ordnet die dauernden Verhältnisse der Gesammtheit. Die
übrigen Gewalten äusern ihre Thätigkeit regelmäszig nur in
einzelnen, nicht das ganze Volk betreffenden Richtungen.
[592]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Erst wenn die Befugnisse des gesetzgebenden Körpers be-
stimmt sind, kann die Frage der Eintheilung der übrigen Ge-
walten zur Lösung kommen.
Die gesetzgebende Gewalt hat demnach keineswegs blosz
allgemeine Rechtsregeln, die Gesetze im engern Sinne
festzustellen, obwohl diese Thätigkeit vorzugsweise ihr zuge-
hört. Auch die Begründung und Aenderung statlicher
Institutionen, die Ausbildung des Statsorganismus in seinen
Gliedern und Verhältnissen steht ihr zu. Und wenn sie in den
Steuergesetzen allgemeine ökonomische Anordnungen
trifft, und Anforderungen, nicht Rechtsregeln, bewilligt,
wenn sie sich Rechenschaft geben läszt über die Zustände
des Landes und den Statshaushalt, so sind auch diese Functionen
durch die Rücksicht auf die gesammte Statsordnung gerecht-
fertigt, obwohl dieselben keine eigentliche Gesetze betreffen.
Rousseau erklärt das Verhältnisz der Gesetzgebung zur
Verwaltung aus dem psychologischen Gegensatze des Wollens
und des Könnens (vouloir et pouvoir). In jener offenbare
sich der „allgemeine Wille“ in dieser die „That“. „La loi
veut, le roi fait.“ Ebenso bezeichnet Lorenz Stein den
Gegensatz als den Unterschied von Wille und That. Aber für
die Gesetzgebung ist die Einsicht in die Nothwendigkeit der
Rechtsregeln und Rechtsinstitutionen noch wichtiger als der
Wille, der dieselbe festsetzt; und die politischen Regierungs-
handlungen sind unzweifelhaft in höchstem Grade ebenfalls
Willensacte, indem die Regierung das Ziel und die Mittel
ihrer Politik wählt. Eher läst sich der Gegensatz daher als
allgemeiner und besonderer Wille unterscheiden, oder als
Gegensatz von Ordnung und That.
Da das Ganze mehr ist als irgend ein Theil oder Glied
desselben, so versteht sich, dasz die gesetzgebende Gewalt
allen andern Einzelgewalten übergeordnet ist.
Diese lassen sich für den modernen Stat füglich in vier
Gruppen theilen von wesentlich verschiedenem Charakter. Die
[593]Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
beiden wichtigsten und vorzugsweise obrigkeitlichen sind:
I. Die Regierungsgewalt, das Regiment; II. die rich-
terliche Gewalt, das Gericht.
I. Die Regierungsgewalt. Durchaus verfehlt ist die
leider sehr verbreitete Bezeichnung dafür: vollziehende
Gewalt, denn sie ist die unversiegliche Quelle einer Menge
von Irrthümern und Miszverständnissen der Theorie und von
Fehlern der Praxis. Durch dieselbe wird weder ihr inneres
Wesen noch ihre Beziehung zu der Gesetzgebung und dem
Gerichte, worauf sie doch vornehmlich Rücksicht zu nehmen
scheint, richtig ausgedrückt.
Man kann den eigenen Entschlusz und man kann
den Befehl oder Auftrag eines Andern vollziehen. Immer
aber ist das Vollziehen nur das Secundäre. Das Primäre
liegt in dem Entschlusz oder Auftrag. Die Functionen der
Regierung sind aber ihrer Natur nach primär. Sie faszt Ent-
schlüsse und erläszt Beschlüsse, sie spricht ihren Willen aus,
sie gebietet oder verbietet, und in den meisten Fällen be-
darf es gar nicht des executiven Zwanges, um ihren Befehlen
Folge zu verschaffen. Es genügt regelmäszig der blosze Aus-
spruch derselben, damit sie Gehorsam finden und zur That
werden. Wo es aber der Nöthigung bedarf, da ist die Exe-
cution zwar allerdings Sache und in der Macht der Regierungs-
gewalt, wird aber, eben als das Secundäre, meistens von
untergeordneten Behörden und Dienern derselben wie ins-
besondere von der Gendarmerie besorgt.
Aber auch wenn man an den Willen Anderer denkt, ist
die Bezeichnung der vollziehenden Gewalt unrichtig. Es ist
nicht wahr, dasz dieselbe jederzeit im einzelnen vollziehe,
was die gesetzgebende Gewalt im allgemeinen festge-
stellt hat. Ein Gesetz läszt sich in der Regel gar nicht
vollziehen, sondern nur beachten und anwenden, es wäre denn,
dasz man etwa die Verkündigung des Gesetzes schon für die
Vollziehung desselben hielte. Die Regeln, welche der Gesetz-
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 38
[594]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
geber sanctionirt, die Grundsätze, die er ausspricht, werden
von der Regierung als rechtliche Normen und Schranken ihres
Verfahrens beachtet, aber innerhalb dieser Schranken faszt sie
selber mit Freiheit die ihr heilsam und zweckmäszig scheinen-
den Beschlüsse. Von sich aus, nicht um ein Gesetz zu voll-
ziehen, unter- und verhandelt sie mit andern Staten, gibt
Aufträge an ihre Unterbeamten, über dieses oder jenes zu
berichten, trifft die erforderlichen Maszregeln zum Schutz der
Ordnung, oder läszt das zur allgemeinen Wohlfahrt Geeignete
vorkehren, ernennt Beamte, verfügt über das Heer. Noch
weniger als der Gesetzgebung gegenüber paszt die Bezeich-
nung der vollziehenden Gewalt dem Gerichte gegenüber. Die
Vollziehung des Urtheils ist ihrem Wesen nach eine Hand-
lung der richterlichen Gewalt selbst, denn diese besteht
in der Handhabung des Rechts und in der Herstellung der
gestörten Rechtsordnung und nur soweit die richterliche Ge-
walt nicht hinreicht, bedarf sie der Beihilfe der stärkeren
Regierungsmacht. Das Verhältnisz dieser zu jener ist nicht
das des Dieners, der den Willen des Herrn vollstreckt.
Das Wesen der Regierungsgewalt liegt somit nicht in der
Vollziehung, sondern in der Macht, im einzelnen das
Rechte und Gemeinnützliche zu befehlen und anzu-
ordnen, und in der Macht, das Land und das Volk
vor einzelnen Gefahren und Angriffen zu schützen,
dasselbe zu vertreten, und vor gemeinen Uebeln
zu bewahren. Sie besteht vornehmlich in dem was die
Griehen ἀϱχὴ, 3 die Römer als imperium, das deutsche Mittel-
alter als Mundschaft und Vogtei bezeichnet haben. Von
allen statlichen Theilgewalten ist sie offenbar die am meisten
obrigkeitliche, die vorzugsweise herrschende, dem-
nach ohne Zweifel die oberste. Sie verhält sich zu den
[595]Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
andern Theilgewalten wie das Haupt zu den Gliedern des
Leibes. Die sogenannte Repräsentativgewalt aber ist in
ihr inbegriffen.
Bezieht sich diese Gewalt auf die Leitung des States
im Groszen und Ganzen, so heiszen wir sie politische Re-
gierung (gouvernement politique), bezieht sie sich auf das
Kleine und Einzelne, so heiszen wir sie Verwaltung (Ad-
ministration).
II. Die richterliche Gewalt wird sehr häufig als ur-
theilende Gewalt aufgefaszt, eine Verwechslung, welche der
französische Ausdruck pouvoir judicaire begünstigt. Das Wesen
der richterlichen Gewalt liegt aber nicht im Urtheilen, sondern
im Richten, oder wie die Römer das gesagt haben: nicht
in judicio, sondern in jure. Das Urtheilen in dem Sinne, das
Recht im einzelnen Falle zu erkennen und auszusprechen, ist
gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Function, noch die
Ausübung einer statlichen Gewalt oder Macht. Zu Rom
waren es gewöhnlich Privatpersonen, welche als Urtheiler (ju-
dices) das Recht aussprachen; im deutschen Mittelalter hatten
die Schöffen, nicht die Richter, in neuerer Zeit haben oft die
Geschworenen aus dem Volke, nicht die Magistrate zu urthei-
len. Das Richten dagegen, d. h. die Gewährung des Rechts-
schutzes, und die Handhabung des Rechts gegen die Störungen
und Verletzungen der Rechte der Individuen und der gemeinen
Rechtsordnung ist von jeher als eine obrigkeitliche Thätig-
keit angesehen, und daher überall richterlichen Magistraten
und Beamten als eine statliche Gewalt zugetheilt worden.
Sie unterscheidet sich von der Regierungsgewalt wesent-
lich dadurch, dasz sie nicht wie diese Herrschaft übt, son-
dern lediglich das erkannte und anerkannte Recht
schirmt und anwendet. Sind die Functionen des Regi-
ments denen der geistigen Kräfte im Menschen vergleich-
bar, so sind die Functionen des Gerichts von wesentlich
moralischer Natur.
[596]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Eben deshalb aber ist es ein groszer Fortschritt in der
richtigen Anordnung des Statsorganismus, dasz in dem mo-
dernen State die Ausscheidung der richterlichen Organe
und Befugnisse von denen der Regierung vollzogen worden
ist, im Gegensatz zu dem gesammten Alterthum und dem
Mittelalter, welches immer die Regierungs- und die richter-
liche Gewalt von den nämlichen Magistraten ausüben liesz.
Die Reinheit des Rechts und die wahre Freiheit der Bürger
haben durch dieselbe gewonnen, und die Macht der Regie-
rung verliert nicht, wenn sie vor Miszbrauch und Uebergriffen
in die Sphäre der Rechtspflege bewahrt wird. 4 Wie verschie-
den die beiderlei Gewalten sind, zeigt sich in der Erfahrung
des Lebens auch darin, dasz nur selten ausgezeichnete
Statsmänner und Regierungsbeamtete auch gute
Richter, und umgekehrt selten tüchtige Richter auch gute
Regierungsbeamte waren.
Das Gericht als die weniger obrigkeitliche Gewalt steht
mit dem Regiment nicht auf einer Linie, sondern ist, obwohl
in der Hauptsache von diesem unabhängig, doch demselben
untergeordnet, ähnlich wie das Herz dem Kopf.
In gewissem Betracht scheinen durch die Anerkennung
dieses Gegensatzes die statlichen Sondergewalten erschöpft zu
[597]Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
sein, und es wird begreiflich, wenn die neuern Verfassungen
gewöhnlich nicht darüber hinausgehen. Eine nähere Prüfung
aber läszt uns noch zwei andere Gruppen von einzelnen Or-
ganen und Functionen des States erkennen, die zwar beide
den höchsten des Regiments nicht blosz untergeordnet, sondern
geradezu von ihr abhängig sind, die aber beide einen be-
sonderen Charakter haben, und sich von dem des eigentlichen
Regiments darin unterscheiden, dasz der herrschende und
obrigkeitliche Charakter, welcher das Wesen desselben aus-
macht, hier wiederum zurücktritt. Es sind das
III. die Aufsicht und Pflege der geistigen Cul-
turverhältnisse, die Statscultur, und
IV. die Verwaltung und Pflege der materiellen
Kräfte und Zustände, der Statswirtschaft.
In diesen beiden Gruppen handelt es sich nicht um das
Regieren. Die groszen Factoren der menschlichen Cultur, die
Religion, die Wissenschaft, die Kunst gehören überall nicht
dem Statsorganismus an, und können nicht von dem State
aus bestimmt und erfüllt werden. Das Verhältnisz der Stats-
gewalt auch zu den äuszerlichen Anstalten der Religion, der
Wissenschaft und Kunst, zu der Kirche und Schule, ist dem-
nach grundverschieden von dem Verhältnisz der Regierung
zu den Regierten in der Sphäre des eigentlichen Regiments.
Der Stat hat auch hier die gemeine Wohlfahrt zu fördern und
gemeinen Schaden abzuwenden, aber er ist sich bewuszt und
wird fortwährend daran erinnert, dasz das Wesen dieser Dinge
nicht seiner Herrschaft unterworfen sei. Seine Functionen sind
daher hier nicht maszgebend, nicht Gebote noch Verbote,
sondern wezentlich nur Aufsicht und Pflege.
Aehnlich verhält es sich mit der vierten Gruppe der
Wirthschaft. Das charakteristische Moment in der Ver-
waltung der Einkünfte und Ausgaben des States, der Finanzen,
in der Unterstützung des bürgerlichen Verkehrs und der öko-
nomischen Wohlfahrt der Bürger, in der Leitung der öffent-
[598]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
lichen Arbeiten, in der Beaufsichtigung der Gemeinden ist
nicht Imperium noch Vogtei im strengen Sinne, sondern wie
für die Culturbeziehungen geistige Sorge so hier auf das Ma-
terielle gerichtete Pflege. Der specifisch obrigkeitliche
Charakter kommt hier fast gar nicht, der weniger auf die
statliche Macht und das Recht als auf technische Kenntnisz
und Erfahrung begründete Charakter der wirthschaftlichen Ver-
waltung überwiegend zur Sprache. In keiner andern Gruppe
nähern sich denn auch die Statsorgane so sehr dem Privat-
leben, als in dieser; das Statsvermögen selbst erscheint ge-
radezu im Verkehr einer Privatperson gleich. Unter allen
nimmt sie daher die unterste Stufe ein, eine Stellung, welche
mit ihrer Unentbehrlichkeit und ihrer groszen Ausdehnung
bis in die Bewegungen des täglichen Lebens und Verkehrs
hinein keineswegs im Widerspruch ist. Sie ist die breite
Unterlage, auf welcher der Stat ruht, wie das Regiment seine
höchste Spitze ist.
Die Erkenntnisz dieses Gegensatzes in den öffentlichen
Functionen reift erst in unserer Zeit allmählich heran. Noch
leiden wir an den Uebeln einer Vermischung der gebietenden
und der pflegenden Thätigkeit. Noch wird gelegentlich be-
fohlen oder verboten, wo nur verwaltet werden sollte, zuweilen
auch scheue Pflege geübt, wo die obrigkeitliche Energie durch-
greifen sollte. Aber es ist doch schon besser geworden, als
es vor 100 und vor 50 Jahren gewesen ist; und viele Insti-
tutionen der Pflege sind bereits gesondert von dem eigent-
lichen Regiment und werden ohne Gewaltübung in dem wohl-
thätigen Geiste wissenschaftlicher und technischer Sorge ver-
waltet, der den Cultur- und Wirthschaftsbedürfnissen des
Volkes Befriedigung verschafft und die Freiheit Aller respectirt.
[599]Achtes Capitel. Statsdiener und Statsämter.
Achtes Capitel.
Statsdiener und Statsämter.
1. Im weiteren Sinne kann jede vom State geforderte
und sogar jede dem State freiwillig dargebrachte Dienst-
leistung Statsdienst genannt werden. Dann wird die mili-
tärische Dienstleistung der Soldaten, der Geschworenen im
Strafprocesz, der Abgeordneten zu der Volksvertretung, der
Wahlmänner, der Urwähler in dem Ausdruck inbegriffen sein,
der alle öffentliche Dienste für den Stat umfaszt.
Aber alle die genannten Dienstleistungen begründen nicht
ein Verhältnisz von Statsdienern und sind daher nicht
Statsdienst im engeren Sinne. Die blosze Ausübung einer
allgemeinen Bürgerpflicht oder eines Bürgerrechts, wie voraus
der Wehrpflicht oder des Wahlrechts wird dann nicht mehr
als Statsdienst betrachtet, ebenso wenig die Ausübung der
repräsentativen Volksrechte. Der Ausdruck Statsdienst wird
dann auf solche öffentliche Leistungen beschränkt, welche im
besonderen Auftrag der Statsgewalt ausgeübt werden
und nur die Personen heiszen Statsdiener, welche diesen
Auftrag erhalten und solche öffentliche Functionen für den
Stat zu üben haben.
Die Diener der Gemeinde, der Kirche, anderer Körper-
schaften sind keine Statsdiener, weil ihr Dienst zwar öffent-
lich, aber nicht von dem State aufgetragen und auch nicht
unmittelbar auf den Stat bezogen ist. 1
Die Würde des Statshaupts (Souverains) ist insofern
nicht Statsdienst, als derselbe der Träger der Statsgewalt
selber ist, von der aller Statsdienst abgeleitet und aufge-
tragen wird. Aber insofern konnte doch Friedrich der Grosze
[600]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
den König mit Recht als „ersten Statsdiener“ bezeichnen,
weil auch sein Amt auf der Statsverfassung beruht und ganz
und gar dem State dient.
2. Nicht alle Statsdienste im engeren Sinne sind Stats-
ämter, und nicht alle Statsdiener sind Statsbeamte.
Das Statsamt ist ein einzelnes Organ im Statskörper mit
einer besondern ihm eigenthümlichen statlichen Function. Als
solches bedarf es daher einer, wenn auch beschränkten eige-
nen Willensbestimmung, um seiner Aufgabe in eigenthüm-
licher Weise Genüge zu thun. Erfüllt wird das Amt von der
Person des Beamten, welcher in dem Amte individuell wirkt.
Statsbeamte im weitern Sinne heiszen daher diejenigen
Statsdiener, welche, obwohl in Anerkennung und Beachtung
der Unterordnung unter das Statshaupt, dennoch mit freier
Selbstbestimmung die ihnen aufgetragenen öffentlichen
Functionen ausüben; in engerm Sinne aber nur diejenigen,
denen eine obrigkeitliche Gewalt (imperium oder juris-
dictio) die Ausübung eines eigentlichen Hoheitsrechts über-
tragen ist, im Gegensatze zu denen, welchen keine Statsmacht,
sondern nur ein Zweig der Statscultur oder Statswirthschaft
und öffentlicher Pflege anvertraut ist. Die erstern heiszen
Statsbeamte im engern Sinn, eigentliche Statsbeamte,
die letztern können wir mit einem guten alten Wort öffent-
liche Pfleger nennen. Beiderlei Aemter sind öffentliche
Aemter, die erstern sind aber eigentliche Statsämter,
obrigkeitliche Aemter, die letztern sind Pflegeämter.
Zu den öffentlichen Pflegern gehören dann z. B. die Pro-
fessoren und Lehrer an öffentlichen Schulen, die Directoren
und Aerzte an öffentlichen Spitälern, Stabsärzte überhaupt,
Statsingenieure, aber auch manche Finanzbeamte wie Cassiere,
Domänenverwalter. 2
[601]Achtes Capitel. Statsdiener und Statsämter.
Die eigentlichen Statsbeamten sind entweder Regie-
rungs- oder Justizbeamte. Die ersten haben wirkliche
Regierungsfunctionen auszuüben (imperium) und sind auf der
einen Seite eben darum innerhalb ihre Amtsspäre mit der
Macht ausgerüstet, was sie für zweckmäszig und erforderlich
halten im öffentlichen Interesse anzuordnen, zu befehlen und
ihren Befehlen Folge zu verschaffen, auf der andern Seite aber
auch im Einzelnen hinwieder dem höheren Auftrage ihrer
Vorgesetzten unterworfen und von diesen abhängig. Die Ju-
stizbeamten dagegen haben nicht die Macht, mit freien Wil-
len zu bestimmen, was ihnen das öffentliche Interesse zu erfor-
dern scheint, sondern nur die, das erkannte bestehende Recht
auszusprechen und nach festen Rechtsregeln zu handhaben (ju-
risdictio), aber bei dieser Thätigkeit werden sie lediglich
durch ihr eigenes Wissen und Gewissen, und nicht durch ein-
zelne Aufträge der Statsregierung gebunden und bestimmt,
Im normalen Zustande sind vorzugsweise die ersten zu libe-
raler, die letztern zu conservativer Thätigkeit berufen.
3. Von beiden Arten der Statsbeamten sind die Stats-
angestellten und die Amtsgehülfen zu unterscheiden.
Sie sind zwar auch Statsdiener, aber sie haben kein eigentliches
Amt, daher auch weder eine Amtsgewalt noch eine selbständige
Amtssphäre, sondern sind lediglich Gehülfen der ihnen vor-
gesetzten Beamten und von diesen abhängig; z. B. Kanzellisten,
Aufseher in öffentlichen Anstalten, Finanzgehülfen u. s. f. Zu
dem Range von Statsdienern sind sie erhoben, weil sie immer
noch eine organische Thätigkeit im öffentlichen Dienste und
insofern ein, wenn auch niedere Function ausüben.
Wenn auch diese zurücktritt, und die blosz mechanische
Dienstleistung als Hauptsache erscheint, 3 so hört auch die
2
[602]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Eigenschaften eines Statsdieners auf, ungeachtet dieselbe von
dem State benutzt und gefordert wird. Lakaien, Portiers,
Pedellen Waibel, Gerichtsdiener, Gendarmen gehören zu
dieser letzteren Classe, welche man füglich Statsbediente
nennen kann. Ihr Rechtsverhältnis ist denn auch mehr nach
Analogie der Bestimmungen des Dienstvertrags im Privatrecht
zu behandeln als nach den wesentlich statsrechtlichen über
den Statsdienst.
4. Ferner ist der Gegensatz zwischen Civilbeamten
und Militärstellen, zuerst von dem Kaiser Kostantin
dem Groszen ausgebildet, 4
auch in den modernen Staten von
Bedeutung. Als Statsdiener sind nur Officiere, nicht auch
die Soldaten zu betrachten, weil nur jene ein Comando
haben, und bei diesen überhaupt entweder die allgemeine
Bürgerpflicht, Militärdienste zuleisten, oder die privatrecht-
liche Form der Werbung den Dienst begründet. Von den
Civilämtern unterscheiden sich die Militärstellen hauptsächlich
theils durch die strengere Disciplin, den militärischen Gehor-
sam, theils dadurch, dasz ihre Functionen nur mittelbar obrig-
keitlich, weil von secundärer blosz vollziehender Natur sind.
5. Man unterscheidet Collegial- und Individual- oder
Einzelämter, 5 je nachdem entweder eine Mehrzahl von
Beamten gemeinsam berathen und mit Mehrheit Beschlüsse
fassen, oder jeder einzelne Beamte selbständig handelt. Zum
Rathe, welcher vielseitige Erwägung fordert, sind die Colle-
gien, zur That, in welcher die rasche und einheitliche Willens-
energie entscheidet, sind die Individualämter geeigneter.
Je nach Umständen lassen sich auch collegiale Berathung
mit individueller Entscheidung, wie z. B. der Minister nach
3
[603]Achtes Capitel. Statsdiener und Statsämter.
vorheriger Berathung in dem Collegium der Ministerialräthe
verbinden.
Ferner werden je nach der Ueber- und Unterordnung
und je nach dem Umfang des Verwaltungsbezirkes unterschie-
den, die obersten Centralämter (Landesämter), die diesen
untergeordneten Mittelämter (Provincial-, Bezirks-, Kreis-
ämter) und die untersten Localämter (Gemeindeämter).
Zuweilen kommen auch concurrirende Aemter vor, wie vor-
züglich die alt-römischen Magistraturen oder die englischen
Friedensrichterämter, insofern mehrere Beamte in demselben
Amtsbezirk dieselben Befugnisse, aber jeder einzeln, ausüben.
6. Der Regel nach gehören zum Amt:
a) eine bestimmte Art und ein bestimmter Umfang öffent-
licher Befugnisse und Pflichten, welche bei den obrigkeitlichen
Aemtern Competenz (Zuständigkeit) genannt wird;
b) ein örtlicher Sitz: Amtssitz, welcher als eigentliches
Centrum und Wohnsitz der amtlichen Geschäftsthätigkeit an-
gesehen wird; auch die wandernden Beamten haben doch
einen festen Amtssitz;
c) ein räumlicher Amtsbezirk oder Amtssprengel.
7. Das Rechtsverhältnisz des Statsdieners ist nicht, wie
man das früher wohl versucht hat, als ein privatrechtliches
Vertragsverhältnisz aufzufassen, sondern es ist von wesent-
lich statsrechtlicher Natur. Der Gesichtspunkt des
Mandats paszt darauf so wenig als der überdem unwürdige
der Dienstmiethe. Weder die Begründung, noch der Inhalt,
noch die Aufhebung des Statsdienstes läszt sich aus dem-
selben erklären.
Die Begründung desselben geschieht im öffentlichen In-
teresse durch einen in Form und Inhalt Norm gebenden
Willensact des Stats, das Anstellungsdecret. 6 Man hat
[604]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
wohl diesen Act ein Specialgesetz genannt, ein Ausdruck,
welcher indessen besser vermieden wird, da er in der Regel
nicht durch den gesetzgebenden Körper, sondern in Monarchien
durch den Monarchen, in Republiken bald durch die Regie-
rung bald durch die Volkswahl geübt wird. Dieser Act ist
selbst in dem immerhin seltenen Falle, wo demselben eine
Unterhandlung und ein wirklicher Vertrag, z. B. mit einem
Ausländer, dessen Dienste ein Stat zu erwerben wünscht, vor-
hergeht, wesentlich ein einseitiger Willensact der über-
geordneten Statsgewalt, und nie kann aus jenem Vertrage
eine Civilklage auf wirkliche Anstellung gegeben und das
Decret etwa durch gerichtlichen Zwang dem State abgedrungen
werden. Vielmehr berechtigt auch dann ein solcher Vertrag
nur zu einer Entschädigungsforderung von ganz privatrecht-
lichem Inhalt, wenn das Anstellungsdecret vom State nicht
vollzogen werden sollte.
Das Wesen ferner des Statsdienstes liegt in den Func-
tionen, welche vom State aus bestimmt werden und einen
öffentlichen, organischen Charakter haben. Das Amt
besteht nur, insofern der Stat zu seinem Leben seiner bedarf,
in keiner Beziehung aber um des Individuums willen,
6
[605]Neuntes Capitel. Besetzung der Statsämter.
welches dasselbe inne hat. Es kann daher auch seiner Natur
nach nicht zu eigenem Privatrechte verliehen noch als solches
Gegenstand des Privatverkehrs werden. Wo derlei geschehen
ist, wie im Mittelalter und spät noch in Frankreich, da war
eben der Stat selbst noch in den Banden des Privatrechts
gefangen und noch nicht zu vollem Bewusztsein seines poli-
tischen Daseins gelangt.
8. In der mit dem Amte verbundenen Besoldung aber
liegt allerdings ein privatrechtliches Element, denn die
Besoldung ist wesentlich dafür gegeben, um die ökonomische
Existenz der Person, und ihrer Familie zu sichern, welche
ihre Dienste dem State leistet, und daher von dem State Le-
bensunterhalt verlangen darf. Die Besoldungsansprüche haben
keinen politischen, sondern einen vermögensrechtlichen In-
halt. Sie können daher wohl durch den Civilrichter geschätzt
werden.
Aber das Wesen des Statsamts wird nicht dadurch be-
stimmt. Es hat in allen Zeiten auch unbesoldete Statsämter,
sogenannte Ehrenämter gegeben, die in der Hauptsache
dieselbe organische Bedeutung hatte, wie die besoldeten
Berufsämter. Die englischen Friedensrichter sind unzweifel-
haft Policeibeamte des Stats, eben so wie die besoldeten
preuszischen Landräthe, welche ebenfalls Policeibeamte des
States sind.
Neuntes Capitel.
Besetzung der Statsämter.
1. Die Erblichkeit der Aemter, im Mittelalter allent-
halben in Europa eingeführt, wird in den modernen Staten
mit Recht eben so allgemein verworfen. Die Geschichte des
Mittelalters hat unwiderleglich bewiesen, dasz die Erblichkeit
[606]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
der Aemter diese in Herrschaften umwandle, und so die
Einheit und Ordnung des States auflöse. Die Functionen des
Amtes erfordern überdem persönliche Befähigung des Stats-
dieners. Diese aber ist nicht erblich, sondern individuell.
Die Erblichkeit der Ansprüche auf das Amt gewährt somit
keine Garantie für die Tüchtigkeit des Beamten, und ver-
sperrt zum Schaden des States anderen fähigen Individuen
den Weg zu öffentlicher Wirksamkeit.
Nur ganz ausnahmsweise kommen daher in dem neuern
State noch Erbämter, und gewöhnlich nur da vor, wo mit
denselben keine Functionen der Statsgewalt, sondern nur
Ehrenrechte verbunden sind, wie die aus dem Mittelalter
stammenden Erbhofämter.
Indem der moderne Stat in dem Amte vornämlich die
öffentliche Pflichterfüllung als Hauptsache erkennt, hat
er die Aemter abgelöst von den Banden der Familie, des
Standes und des Grundbesitzes.
2. Heute noch von groszer Bedeutung ist der Gegensatz
der Berufsämter und der Ehrenämter. Jene nehmen die
ganze Thätigkeit des Mannes in dem Sinne in Anspruch, dasz
dieser in der Pflichtübung des Amtes die Hauptbeschäftigung
seines Lebens, seinen Lebensberuf findet. Wo das Amt zum
Beruf gesteigert ist, da werden um deszwillen höhere Anfor-
derungen an den Beamten gestellt, da wird eine genügende
Vorbildung und Einübung verlangt. Aus demselben
Grunde aber hat der Berufsbeamte auch einen natürlichen
Anspruch auf eine gesicherte ökonomische Stellung. Wenn
sein Leben dem Berufe eines Statsdieners gewidmet ist, so
darf er erwarten, auch den Lebensunterhalt von dem State
zu empfangen.
Die Ehrenämter erfordern dagegen nur einzelne öffent-
liche Pflichtübungen, wie sie sich auch von solchen Personen
erwarten lassen, deren Lebensberuf nicht dem State gewidmet
ist, die vielmehr irgend einem Privatberuf als Landwirthe,
[607]Neuntes Capitel. Besetzung der Statsämter.
Kaufleute, Gelehrte u. s. f. ihre Hauptthätigkeit zuwenden,
und von ihrem Privatberufe oder ihrem Privatvermögen auch
ihren Lebensunterhalt erhalten.
Die Berufsämter sind geradezu unentbehrlich, wo die
öffentlichen Functionen technische Kenntnisse voraussetzen
und die stätige Thätigkeit des Beamten verlangen. Ehren-
ämter sind vorzüglich anwendbar, wo es sich nur um vorüber-
gehende Leistungen handelt, wie z. B. in dem Geschwornen-
und Schöffendienst, oder bei der Theilnahme an repräsen-
tativen Versammlungen. Die Ehrenämter können nur den
reichen oder doch wohlhabenden Classen der Gesellschaft auf-
erlegt werden; den groszen Volksclassen fehlt es an der Bil-
dung oder an der Musze dazu, oder an beidem. Von den
Candidaten für die Berufsämter kann verlangt werden, dasz
sie zu dem Berufe eines Statsdieners erzogen und vorgebildet
werden.
Für den modernen Stat sind die Berufsämter wichtiger
als die Ehrenämter. In manchen Fällen lassen sich aber die
Vorzüge beider Arten verbinden und die beiderseitigen Mängel
ergänzen. Die neuere Entwicklung sowohl der Repräsentativ-
verfassung als der Selbstverwaltung ist einer solchen Ver-
bindung eines leitenden Berufsbeamten und mit-
wirkender repräsentativer Ehrenämter günstig. Von
der Art sind z. B. die Verbindung des Landrathes mit den
Mitgliedern des Kreisausschusses in Preuszen, der Bezirks-
ämter mit den Bezirksräthen in Baden, der Berufsrichter mit
Geschwornen und Schöffen.
3. Während in manchen statlichen Fortschritten oft Eng-
land, theilweise auch Frankreich vorausgegangen sind, so sind
in der zweckmäszigen Osganisation der Berufsbeamtung
die deutschen Staten den übrigen Völkern vorhergegangen.
Das deutsche System gewährt die stärksten Bürgschaften für
einen fähigen und pflichttreuen Beamtenstand. Die
Grundzüge des deutschen Systemes sind:
[608]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
a) Der Zutritt zu den Aemtern ist Niemandem ver-
schlossen. Der Sohn des Armen, der Talent hat, kann zu
diesem höchsten Beruf emporsteigen, wie der Sohn des vor-
nehmsten Mannes. Zahlreiche Stipendien erleichtern auch dem
Unbemittelten das Studium. Aber die grosze Mehrzahl der
Studirenden gehört thatsächlich den höher gebildeten Familien
an und bringt so von dem elterlichen Hause her ein reiches
Masz überlieferter Bildung und Sitte auf die hohe Schule mit.
Dadurch wird von Anfang an die ganze Masse der Studirenden
aus den niederen Regionen des Volkslebens auf eine höhere
Stufe der Cultur gehoben.
b) Regelmäszig wird für die sogenannten Aspiranten des
Statsdienstes vorerst Gymnasialbildung und nachher Uni-
versitätsbildung gefordert. Nur für einzelne technische
Aemter, z. B. Ingenieure, Architekten vertritt die Bildung, sei
es in Realgymnasien, sei es der polytechnischen
Schulen, die classische Bildung jener gelehrten Schulen.
Am Schlusz der höheren Schulbildung findet eine Stats-
prüfung statt.
Da der wissenschaftliche Geist der deutschen Universi-
täten die blosze Abrichtung zu einem äuszerlichen Berufe
verwirft, und die tiefere und freiere Erkenntnisz der Gesetze
und Principien anstrebt, so werden die Mängel des chinesi-
schen Mandarinenthums hier durch eine fortschreitende wissen-
schaftliche Arbeit überwunden. Der Stat und die Gesellschaft
aber erhalten auf diese Weise eine erhöhte Gewähr für die
tüchtige Vorbildung ihrer Beamten. Da nur geprüfte Beamte
zu den Aemtern zugelassen werden, so wird durch dieses
Erfordernisz auch den ungebührlichen Einflüssen der Partei-
gunst oder des Parteihasses und der Hofintriguen am wirk-
samsten begegnet. Die Prüfung sichert die Laufbahn des aus-
gezeichneten jungen Mannes und drängt zudringliche, aber
unwissende, wenn gleich von Mächtigen begünstigte Bewerber
zurück.
[609]Neuntes Capitel. Besetzung der Statsämter.
Allerdings darf die Regel nicht in pedantischer Weise
gehandhabt werden, und musz der Stat auch für die wünsch-
baren Ausnahmen sorgen, nicht blosz Ausländern gegenüber,
deren Fähigkeit auch ohne die Statsprüfung offenbar geworden
ist, sondern ebenso für ausgezeichnete Inländer. Gerade die
am meisten begabten Menschen gehen oft einen eigenthüm-
lichen Lebensweg, und da wäre es eine Thorheit, würde der
Stat ihrer Dienste entbehren müssen, weil sie nicht auf den
gebahnten Wegen vorgegangen sind, sondern in schwierigeren
Verhältnissen ihre Fähigkeiten bewährt haben. Es gilt das
vorzüglich für die Aemter, die eine erhöhte statsmänni-
sche oder wissenschaftliche Befähigung erfordern, wie
Minister und Statsräthe oder Professoren an Universitäten.
Für solche Ausnahmsfälle läszt sich indessen leicht sorgen,
ohne die Regel irgend zu gefährden oder zu schwächen.
c) Der sogenannte Referendär- oder Practicanten-
dienst, das Noviciat, d. h. die practische Einübung
derer, welche die theoretische Statsprüfung bestanden haben,
als Gehülfen der Beamten oder der Anwälte. Am Schlusse
dieses Noviciats wird gewöhnlich durch eine zweite Stats-
prüfung festgestellt, ob der Practicant nun reif geworden
sei, damit ihm ein Statsamt anvertraut werde.1
d) Wenn so die Bedingungen für den Eintritt in den
Statsdienst erfüllt sind, so erfolgt je nach Bedürfnisz und
Bewerbung die Ernennung zu einem Statsamt.
Von da an findet nun grundsätzlich ein allmählicher
Fortschritt statt, je nach den Dienstjahren und der be-
währten Tüchtigkeit. Beförderung im Titel und Rang, in
der Besoldung, auf der Stufenleiter der Aemter selbst ist dann
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 39
[610]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
die normale Folge. Auch diese geregelte Beförderung bewährt
sich im Groszen und Ganzen. Aber sie bedarf doch sehr einer
vernünftigen Leitung und Beschränkung. Das höhere und
höchste Statsamt soll doch nicht als das letzte Ziel eines er-
müdeten Strebens verlocken. Das Vorrücken der Statsdiener
darf nicht zu sehr nach mathematischen Rücksichten auf das
Dienstalter bestimmt werden. Die Qualität ist hier entschei-
dend. Gute Köpfe werden oft durch vieljährige fabrikähnliche
Beschäftigung mit untergeordneten Diensten abgemattet, und
wenn sie nach langen Mühen und Entbehrungen endlich auf-
wärts steigen, und höhere geistige Anforderungen an sie ge-
stellt werden müssen, so sind sie erlahmt und ihre beste Kraft
erstorben. Auch dieses Uebel ist aber nicht in dem Wesen
des Systems begründet, sondern nur eine Folge seiner bureau-
kratischen Entartung, die dadurch hinwieder fortwährend ge-
nährt wird. Gerade die höchsten politischen Aemter erfordern
noch die ungebrochene volle Kraft reifer Männer und dürfen
nicht das Privilegium der Greise werden. Daher ist für sie
die Anciennetät am wenigsten anwendbar.
e) Die vom State gewährte Besoldung sichert dem Be-
rufsbeamten einen standesgemäszen Lebensunterhalt, für ihn
und seine Familie. Freilich sind die Besoldungen der groszen
Mehrzahl der deutschen Beamten sehr sparsam bemessen und
stehen hinter den heutigen Einnahmen vieler Industrieller sehr
zurück; aber sie sind auch gegen die Wechselfälle dieser ge-
schützt und gewähren doch dem Träger des Amtes, besonders
in Verbindung mit einigem Privatvermögen, bei sorgfältiger
Wirthschaft ein anständiges Auskommen. Würden die wohl
noch zu zahlreichen Berufsämter durch Ehrenämter mehr er-
gänzt, so würden jene vermindert und dann auch besser be-
soldet werden können.
f) Der deutsche Berufsbeamte hat überdem pragmati-
sche Rechte, d. h. einen gesicherten Rechtsanspruch auf eine
feste Besoldung und, wenn der Stat seiner Dienste nicht
[611]Neuntes Capitel. Besetzung der Statsämter.
mehr bedarf, oder wenn er im Alter oder aus Kränklichkeit
verhindert wird, das Amt zu versehen, Anspruch auf einen
Ruhegehalt (Pension).
In Folge dieses Systems wird der deutsche Beamten-
körper von dem Selbstgefühl einer gesicherten und geach-
teten Lebensstellung erfüllt und gehoben. Es hat sich in
ihm das Bewusztsein der Zusammengehörigkeit entwickelt. Er
bildet einen wirklichen Berufsstand und hat im Stat auch
die Bedeutung einer politischen Macht, mit der man
rechnen musz, die weder das Statshaupt noch die Volksver-
tretung geringschätzen dürfen, deren Mitwirkung für beide
unentbehrlich ist und welche beide theils ergänzt, theils be-
schränkt.
4. Das englische System ist von Grund aus verschieden.
Einen so durchgebildeten und gefestigten Beamtenkörper gibt
es nicht. An der Stelle der deutschen Berufsbeamten sorgen
unbesoldete Ehrenämter der englischen Aristokratie für Poli-
cei, Verwaltung und Rechtspflege in den Grafschaften. Die
englischen Minister gehen nicht aus dem Beamtenstande her-
vor, sondern aus den parlamentarischen Parteien. Eine grosze
Zahl von öffentlichen Aemtern wird durch den Einflusz der
Parteien besetzt, ohne Rücksicht auf Vorbildung, aber mit
Rücksicht auf die Empfehlung einfluszreicher Mitglieder des
Parlaments (Patronage).
Indessen macht sich auch in England das Bedürfnisz mehr
als früher geltend nach Vorbildung und Prüfung des Candi-
daten. Für die höheren Richterstellen wird schon seit langem
juristische Bildung gefordert, freilich nicht Universitätsbildung,
sondern nur Theilnahme an den Körperschaften (Inns) der
Londner Juristen, Anwaltspraxis und Anwaltssitten. Neuerlich
werden auch eine Anzahl technischer Aemter an Prüfungen
gebunden; und es werden dadurch unfähige Personen zurück-
gewiesen und der Einflusz der Parteien und der Patrone ver-
mindert. Bei Ministerwechseln werden doch nur etwa 60 Stellen
[612]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
in Frage gestellt, theils eminent politische Aemter theils Hof-
stellen.2
5. Die nordamerikanische Besetzung der Aemter be-
ruhte ursprünglich auf dem englischen System, aber wurde
mit republikanischem und demokratischem Geiste erfüllt. Seit
der Regierung des Präsidenten Jackson ist die gefährliche
Sitte starker Wechsel aufgekommen. Wird ein neuer Präsi-
dent gewählt, also je nach 4, höchstens 8 Jahren und kommt
vielleicht eine andere Partei zum Regiment, so werden eine
Menge Stellen frei und mit neuen Personen besetzt. Dann
kommt es zu einer allgemeinen Stellenjagd und die Interessen
des Stats und der Gesellschaft werden weniger beachtet, als
die Wünsche der Parteien und die Amtsgierde der Bewerber.
Das ganze Beamtenwesen ist daher unsolid und heftigen
Schwankungen ausgesetzt; und der Corruption ist schwer zu
begegnen. Nur die Richterämter sind besser geschützt gegen
solche Wechsel. Die Sitte, die Richter aus den bewährten
Advocaten zu wählen, berücksichtigt die juristische Gewandt-
heit und Rechtskunde.
6. In Frankreich gibt es zwar einen Beamtenstand,
aber er ist weder so selbstständig gestellt, wie der deutsche;
denn das Statshaupt, d. h. die jeweiligen Ministerien haben
gröszere Macht, die Beamten frei zu ernennen und zu ent-
lassen, noch sind die Garantien für die wissenschaftliche Vor-
bildung so stark. Für eine grosze Zahl von technischen Stellen
wird freilich Vorbildung in einer Specialschule gefordert (poly-
technische Schule. Kriegsschule, Normalschule), für Richter-
ämter wird Universitätsbildung verlangt. Aber die Regel ist
nicht so allgemein durchgeführt wie in Deutschland. Die Ab-
hängigkeit der Beamten von der Regierung ist strenger; der
Parteigehorsam wird rücksichtsloser gefordert und mehr be-
achtet als die Pflichttreue gegen den Stat und das Amt.
[613]Neuntes Capitel. Besetzung der Statsämter.
7. In den republikanischen Staten sowohl des Alterthums
als theilweise auch der neuern Zeit, wie in der Schweiz und
in Amerika, ist das System der Ernennung auf bestimmte
Zeitfrist, meistens von wenig Jahren, herrschend geworden,
zuweilen mit, zuweilen auch ohne die Möglichkeit der Er-
neuerungswahlen. Für Gemeindeämter, welche in der Regel
keine höhere Ausbildung erfordern, und nur selten alle Kräfte
eines Menschenlebens absorbiren, ist dieses System wohl zu
billigen. Für Statsämter aber, welche eine jahrelange Berufs-
bildung erheischen — wie das in unsern neuern künstlichen
Lebensverhältnissen unumgänglich nöthig geworden ist — ist
dasselbe mit groszen Nachtheilen verbunden. Es befördert
nämlich, indem es dem Ehrgeize Einzelner und den Partei-
umtrieben Vieler einen willkommenen Spielraum eröffnet, un-
gemein den Wechsel der Beamten, untergräbt so die Sicher-
heit zahlreicher, dem State geweihter Existenzen, und damit
die Ruhe des States selbst, und hindert und stört vielfach
die nachhaltige und dauerhafte Wirksamkeit der Aemter. Diese
Nachtheile werden durch den Vortheil, unfähige oder solche
Beamte, welche das Vertrauen verloren haben, leichter zu
entfernen und durch Männer zu ersetzen, von welchen bessere
Dienste gehofft werden, sicher nicht aufgewogen. Weniger
bedenklich ist dieses System indessen in einer Aristokratie,
welche von Natur zur Stätigkeit und Mäszigung geneigt ist,
als in einer Demokratie, welche ohnehin den Wechsel liebt,
gerade darum aber auch eine natürliche Neigung hat, die
Aemter nur auf kurze Zeit zu besetzen. Für diese kommt die
Gefahr hinzu, dasz der Stat die Dienste gerade der ausge-
zeichnetsten und tauglichsten Individuen entbehren musz, theils
weil diese es vorziehen, einen andern sichereren Lebensberuf
zu wählen, theils weil der Wechsel der Stimmungen sie öfter
ohne inneren Grund aus den Aemtern entfernt.
8. Die Freiheit des Individuums, ein Amt anzuneh-
men oder auszuschlagen, zu welchem es berufen wird,
[614]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
ist als Regel anzuerkennen, nicht weil der Statsdienst auf
Vertrag zu gründen ist, sondern weil die Natur eines indivi-
duellen geistigen Dienstes einem directen Zwange nicht ge-
horcht, einer mittelbaren Nöthigung aber nur schwer und
unvollständig sich fügt, vielmehr individuelle Freiheit als nor-
male Quelle tüchtiger Wirksamkeit fordert, und weil kein
Statsbürger als solcher genöthigt werden kann, dem State
besondere ausgezeichnete Opfer zu bringen. Diese Regel wird
denn auch in den neuern Staten fast überall anerkannt, in
Republiken nicht minder als in Monarchien. 3
Ausnahmen kommen gewöhnlich nur da vor, wo das Stats-
amt sich dem Gemeindeamt annähert oder mit diesem zu-
sammentrifft. Die geringeren Ansprüche, welche hier an das
Individuum gestellt werden, und das verbreitete Bedürfnisz
solcher Stellen haben den Gedanken an eine allgemeine
Bürgerpflicht in solchen Fällen annehmbar erscheinen
lassen. 4
9. Die Frage, wann die Anstellung beginnt, ist zwar
schon mehrfach bestritten worden. Erinnert man sich aber
daran, dasz dieselbe ihrem Wesen nach ein einseitiger Act
der Statsgewalt ist, welche ein Individuum mit dem Amte
betraut, so wird man unbedenklich antworten: Der Moment,
in welchem dieser Willensact als vollendet offenbar wird, d. h.
die zu Protokoll genommene und unterzeichnete Er-
nennung oder Wahl ist als Anfang der Amtsdauer zu be-
trachten, und von da an hat der Beamte nicht allein auf seine
privatrechtliche Besoldung, sondern auch auf die Uebertragung
der mit seinem Amte verbundenen statsrechtlichen Befugnisse,
wo es jener überhaupt noch bedarf, ein Recht. Die Mittheilung
[615]Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
des Decrets an denselben, so wie die spätere Einweisung
und Einkleidung in das Amt sind nur Wirkungen der voll-
endeten Anstellung, und nicht die Vollendung dieser. 5
Zehntes Capitel.
Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
1. Der Beamte hat vorerst ein Recht, die mit seinem
Amte verbundenen öffentlichen Functionen auszuüben. Die
amtliche Ermächtigung, diese Befugnisse auszuüben, heiszt
seine Competenz (Zuständigkeit).
Dieses wichtigste Recht ist von rein statsrechtlicher
Natur. Daher ist dasselbe auch mit der Verpflichtung,
die erforderlichen Functionen auszuüben, unauflöslich verbun-
den, so dasz es nicht von der Willkür des Beamten abhängt,
ob er von seinem Rechte Gebrauch machen wolle oder nicht.
Dasselbe ist ihm nicht zu beliebiger Disposition, sondern zum
öffentlichen Dienste übertragen. Aus demselben Grunde hat
kein Beamter dem State gegenüber ein dauerndes, in seiner
[616]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Person begründetes Recht auf den Umfang der Amtscompe-
tenz, noch auf die Form seiner öffentlichen Geschäftsthätig-
keit. Vielmehr ist er in beiden Beziehungen theils den Ord-
nungen der Gesetzgebung, durch welche auch gegen seinen
Willen Competenz und Geschäftsform geändert werden können,
theils den Vorschriften seiner vorgesetzten Oberbehörde unter-
worfen. Es können ihm daher auch neue, zu seinem Amte
gehörige Dienstleistungen aufgetragen werden, ohne dasz er
sich solchem Auftrage entziehen darf. Das Amt ist in seiner
ganzen Existenz und Art abhängig von dem State, und in
Folge davon das Amtsrecht und die Amtspflicht des Beamten
nicht minder.
2. Das Recht auf einen dem Amte gemäszen Titel und
Rang steht zwar der Person des Beamten zu, aber auch
dieses Recht beruht auf politischen Motiven, und hat keinen
privatrechtlichen Charakter.
Eine Aenderung von beiden auf dem Wege der Gesetz-
gebung ist daher wieder nicht als ein Eingriff in das Privat-
recht zu verwerfen, sondern vollkommen zuläszig. Dagegen
kann der Rang und Titel auch über die Dauer des Amtes
hinaus nachwirken, und so zu einem Privatrechte eines auszer
Function tretenden Beamten werden.
3. Das Recht auf Ersatz der Auslagen, die der Beamte
im Interesse des Statsdienstes gemacht, und des Schadens,
den er im öffentlichen Dienste erlitten hat, ist eine rein
privatrechtliche Wirkung seiner Stellung, und steht be-
soldeten und unbesoldeten Beamten gleichmäszig zu.
4. Dasz der Beamte auch für seine Dienstleistung selbst
eine Vergütung zu fordern habe, versteht sich nicht eben so
von selbst. Vielmehr hängt es von dem State ab, mit den
einen Aemtern eine Besoldung zu verbinden, und andere
unbesoldet zu lassen. Im erstern Falle nimmt das Recht
des Beamten, weil auf Geldleistung von Seite der Statscasse
gerichtet, wieder einen privatrechtlichen Charakter an.
[617]Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
Man kann indessen in der Besoldung zwei Elemente unter-
scheiden, und in manchen deutschen Staten findet sich diese
Unterscheidung gesetzlich anerkannt und normirt in dem
Gegensatze des Standes- und des Dienstgehaltes. Der
erstere nämlich beruht auf dem Bedürfnisse eines dem Stande
eines Beamten gemäszen Unterhalts, wofür der Stat zumal
in den Fällen, wo er die Kräfte eines ganzen Berufslebens
fordert, würdig zu sorgen eben so wohl eine dringende Ver-
anlassung als ein Interesse hat. Der letztere dagegen grün-
det sich auf den mit der wirklichen Ausübung des Amtes
zusammenhängenden Dienstaufwand und die Repräsen-
tationskosten. 1 Dieser Unterschied wird für den Fall
wichtig, wenn Beamte aus dem activen Dienste in den Ruhe-
stand treten. Dauert nämlich das Recht auf den Standes-
gehalt fort, so hören dagegen nun die Ansprüche auf den
Dienstgehalt auf. Jener ist somit in höherm Masze privat-
rechtlich, dieser enger mit dem Amte und den öffentlichen
Functionen in demselben verbunden. Wo an einzelne Func-
tionen Sporteln und Gebühren geknüpft sind, die als
besondere Emolumente den Beamten zufallen, da haben diese
jederzeit den formellen Charakter des Dienstgehaltes, auch wo
sie materiell mitberechnet sind, für den Lebensunterhalt des
Beamten zu sorgen. Da aber dem State das Recht unver-
kümmert verbleiben musz, derlei Functionen lediglich aus dem
Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses zu bestimmen, so
musz hierin der Gesetzgebung freiere Hand in der Festsetzung
und Abänderung solcher Gebühren gelassen werden; und nur
die Billigkeitsrücksichten treten ein, um die Gesetzgebung zu
einer angemessenen Erhöhung der fixen Besoldung zu bewe-
gen, wenn eine tief eingreifende Verminderung der Sportel-
bezüge angeordnet wird. Ein Privatrecht auf eine genau ent-
[618]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
sprechende Entschädigung für solchen Verlust läszt sich nicht
durchsetzen.
5. Aus der privatrechtlichen Natur der Besoldung ergibt
sich das Recht des Beamten, insofern er ohne seine Ver-
schuldung das Amt abzutreten genöthigt wird, für die noch
nicht abgelaufene Amtszeit einen Ruhegehalt, Pension,
zu fordern. Als Grundlage dieser Forderung ist der Standes-
gehalt anzusehen, oder wo nicht zum Voraus eine derartige
Ausscheidung getroffen ist, die Besoldung selbst, jedoch mit
einem den nun wegfallenden Dienstverrichtungen und Reprä-
sentationskosten entsprechenden Abzug. Zweckmäszig ist es,
wenn das Gesetz genauere Bestimmungen über die Grösze
und die Bedingungen solcher Pensionen zum Voraus anordnet;
denn wenn auch im Allgemeinen das Recht auf Pension in
manchen Fällen schon aus den Anstellungsverhältnissen folgt,
so ist doch das Masz derselben ohne gesetzliche Norm im
Einzelnen schwer zu bestimmen, und eine gerade hier mit
mancherlei Nachtheilen verbundene Willkür kaum zu ver-
meiden. Ein ausgedehntes Pensionssystem kann zwar zu einer
schweren Last für die Statscasse werden, welche durch das-
selbe zu Leistungen verpflichtet wird, für welche der Stat
keine entsprechenden Gegenleistungen mehr empfängt. Aber
so wenig bei unsern Zuständen Besoldungen entbehrt werden
können für diejenigen Statsämter, welche als Beruf ausgeübt
werden, so wenig und aus den nämlichen Gründen ist ein
entsprechendes Pensionensystem zu vermeiden. Im Verhältniss
zu andern Erwerbszweigen des Handels, der Fabrikation, der
bürgerlichen Gewerbe überhaupt ist die ökonomische Sicher-
stellung des Beamten und seiner Familie, einige seltene Fälle
ausgenommen, eine beschränkte und meistens nur nothdürftige,
und doch begehrt der Stat gewöhnlich gröszere Opfer und
geistigere Bildung von seinen Beamten, und erfordert die
Thätigkeit dieser höhere Geistesgaben und Arbeiten, als das
bürgerliche Leben in der Regel von den Männern der Industrie
[619]Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
verlangt. Es ist daher Pflicht des States, die Existenz derer,
welche ihm ihr Leben widmen, vor Noth und unwürdigem
Mangel zu bewahren, und das ist ohne ein billiges Pensionen-
system nicht möglich. Dem Volke aber wird die Last durch
bessere Dienste der activen Statsdiener vergolten, und das
gröszere Uebel der Bestechlichkeit und Erpressung, welches
dem Mangel sich anhängt, in seinem Ursprung überwunden.
Auf die hinterlassene Wittwe und die Kinder der ver-
storbenen Statsdiener die Sorge auszudehnen, dazu ist der
Stat rechtlich nicht verpflichtet, denn das Amt ist höchstens
auf Lebenszeit vergeben, und die Besoldung daher auch nicht
erblich. Aber in manchen Staten besteht die heilsame Ein-
richtung, dasz auch dafür eine öffentliche Pensionscasse ge-
gründet ist, welche vorzüglich aus Abzügen von dem Gehalte
der Beamten genährt wird, und für den Hinterlassenen nach
bestimmten Verhältnissen Pensionen bezahlt.
6. Die Pflichten des Beamten folgen grösztentheils
schon aus seinen Rechten; überdem der Gehorsam, den
er seinen Vorgesetzten schuldet, die Treue, die er dem
Haupte des States und dem Lande und Volke widmet, und
das Geheimnisz, das er zu beachten hat, aus seiner Stel-
lung in dem Statsorganismus. Der Dienst- und Amtseid,
der gewöhnlich von ihm gefordert wird, begründet nicht erst
diese Verpflichtung, sondern legt dieselbe ihm näher und be-
kräftigt sie. Er ist auch keine Bedingung der Amtspflicht,
noch eine Veränderung ihres Umfanges.
Die Art des Gehorsams wird durch die besondere Natur
des einzelnen Amtes näher bestimmt. Sie ist eine andere bei
Regierungs-, eine andere bei Justizbeamten, weil die Unter-
ordnung jener innerhalb des Regierungsbereiches strenger auch
auf Abhängigkeit in materieller Hinsicht gerichtet ist, bei der
Justiz dagegen materielle Selbständigkeit des Richters ein Er-
fordernisz einer gerechten Rechtspflege ist. Aber auch in der
Amtssphäre der Regierung ist jener Gehorsam kein absoluter,
[620]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
sclavischer, sondern durch die bestehende Rechtsordnung und
die Grundprincipien der Sittlichkeit näher begrenzter und be-
stimmter. Im Einzelnen freilich gehört die Frage, ob und
inwieweit der Beamte zum Gehorsam verpflichtet sei, zu den
schwierigen.
a) In formeller Beziehung versteht sich, dasz der Be-
amte nur die innerhalb der Competenz der Oberbehörde und
in gehöriger Form erlassenen Befehle und Aufträge derselben
seinem Amte gemäsz zu vollziehen hat, dagegen Zumuthun-
gen, welche auszerhalb der geordneten Amtssphäre liegen,
und vielleicht aus bloszen Privatgelüsten eines Vorgesetzten
entspringen, oder in ungehöriger Form, z. B. ohne Unter-
schrift, wo diese erforderlich ist, erlassen sind, ablehnen kann,
denn er ist kein Privatdiener, sondern ein Statsdiener, und
die Prüfung der formellen Beschaffenheit des Auftrags ist
schon darum unerläszlich, weil daran allein seine Wirklich-
keit und Rechtmäszigkeit zu erkennen ist.
Wo jedoch die Competenzfrage streitig und zweifelhaft
ist, da kann es unmöglich in dem Ermessen des untern Be-
amten stehen, diese Frage zu verneinen, wenn die vorgesetzte
Behörde dieselbe bejaht, und dadurch die öffentlichen Func-
tionen ins Stocken zu bringen. In solchen Fällen ist dem
subalternen Beamten nur das Recht offen, und wo nach der
Ueberzeugung desselben für die Rechtsordnung oder die Wohl-
fahrt des States Schaden aus rücksichtsloser Befolgung ent-
stehen könnte, die Pflicht auferlegt, seine Bedenken der Ober-
behörde vorzutragen, und die weiteren Entschlieszungen der-
selben nach erneuerter Prüfung abzuwarten.
b) In keinem Falle ist der Gehorsam des Beamten so
ausgedehnt, dasz er durch höheren Befehl angehalten werden
kann, die obersten Principien der Religion und der Sittlichkeit
zu verletzen, oder an einem Verbrechen Theil zu nehmen.
Jene zu verletzen, oder dieses zu begehen, kann niemals Auf-
gabe des States und der amtlichen Functionen sein. Von dem
[621]Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
Statsdiener darf nicht verlangt werden, was der Mensch
zu verweigern durch das Menschenrecht, der Religions-
genosse durch das Gebot der Religion, oder der Bürger
durch das Strafgesetz des States selbst verpflichtet ist.
c) Der blosze gesetzwidrige oder ungerechte Inhalt
einer Verfügung aber berechtigt den subalternen Beamten
keineswegs zum Ungehorsam, sondern wieder nur dazu, die
ihm nöthig scheinenden Vorstellungen der Oberbehörde vorzu-
tragen. Der Beamte darf voraussetzen, dasz diese nicht habe
dem Gesetz oder der Gerechtigkeit zuwider handeln wollen.
Es ist möglich, dasz sie die Sache selbst nicht nach allen
Seiten geprüft, die schädlichen Folgen einer Gesetzesverletzung
übersehen, möglich dass die bescheidene oder freimüthige Auf-
klärung darüber eine Aenderung des Auftrages zur Folge habe.
Der Beamte darf nicht versäumen, auch seine Oberbehörde
wie den Stat selbst vor einem Miszgriffe zu bewahren, den
jene später bereuen würden, wenn er das durch seine Bericht-
erstattung zu erreichen vermag. Hilft aber diese nicht, und
beharrt die vorgesetzte Behörde auf ihrer Instruction, dann
ist Gehorsam Pflicht des Unterbeamten. Dann aber hat die
Verantwortlichkeit dafür nicht dieser, sondern jene allein zu
tragen. Die entgegengesetzte Annahme würde die Einheit der
Statsregierung auflösen und ihre Macht lähmen, und so für
die Statsordnung weit verderblichere Folgen haben, als eine
einzelne Gesetzwidrigkeit, für welche die befehlende Behörde
verantwortlich ist.2
[622]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Die Verfassungswidrigkeit der Aufträge ist zunächst,
wo nicht besondere Vorschriften Ausnahmen anordnen, ganz
ebenso zu behandeln; und auch hier darf nicht zugegeben
werden, dasz die Unterbehörde, durch ihren Widerstand gegen
die Anordnung ihrer Obern die verfassungsmäszige Unter-
ordnung im State selbst zur Anarchie umkehre und verderbe,
weil sie vermeint, die Verfügung jener stehe in einem Wider-
spruch mit einer einzelnen Verfassungsbestimmung.
7. Der Geist der Treue reicht weiter als die Pflicht
des Gehorsams. Diese wird erfüllt, wenn der Beamte die
erhaltenen Aufträge in Form und Inhalt vollzieht. Jene aber
bindet und hält ihn in seinem übrigen, freien Wirken. Wenn
gleich die Treue nicht mehr wie vormals in der mittelalter-
lichen Lehensverfassung als das vorherrschende Lebensprincip
der Statsordnung betrachtet werden kann, vielmehr in dem
modernen State theils durch die Gesetzgebung die Befugnisse
der Aemter schärfer bestimmt sind, theils die politische Thä-
tigkeit des Beamten weniger von der persönlichen Verbindung
mit dem Oberhaupte des States als vielmehr von den Bedürf-
nissen des States ihren Anstosz und ihre Richtung empfängt,
so ist doch die Treue auch in dem modernen Statsleben kein
veralteter und kein entbehrlicher Begriff. Es beruht noch
auf ihr der moralische Zusammenhang und die Harmonie des
Beamtenorganismus groszentheils.
Der Beamte, welcher in einzelnen und sogar in wichtigen
Beziehungen eine andere politische Ueberzeugung hat als seine
Obern und diese unter Umständen ausspricht, verletzt zwar
die Treue nicht schon aus diesem Grunde. Aber wenn er sich
mit den dauernden Grundprincipien, worauf die Stats-
2
[623]Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
regierung beruht, im Widerspruch befindet und als Feind
jener handelt, wenn er z. B. in der Monarchie sich als Repu-
blikaner erklärt und für die Einführung der Republik arbeitet,
oder umgekehrt in der Republik als Beamter für die Monarchie
wirkt, dann verletzt und bricht er das Band der Treue, das
ihn als ein Glied eines einheitlichen Statsorganismus mit die-
sem verbindet. Ebenso wenn der Regierungsbeamte an syste-
matischer, d. h. consequent auf Sturz oder Lähmung der
Regierung gerichteter Opposition Theil nimmt, so ist das
ein Treubruch, den keine Regierung dulden kann, wenn sie
nicht an innerm Zwiespalt zu Grunde gehen will. 3 Die syte-
matische Feindschaft von Regierungsbeamten gegen die Leiter
der Regierung (das Ministerium) ist, auch wenn im Einzelnen
kein Ungehorsam vorliegt, Auflösung des Treuverhältnisses
und führt zur Anarchie. Nicht die abweichende und selbst
nicht die feindliche Gesinnung ist ein Treubruch, denn diese
kann das Individuum in sich verschlieszen und dennoch in
amtlicher Stellung seine Pflicht in weitestem Umfang in guten
Treuen erfüllen, aber die amtliche Bethätigung solcher Ge-
sinnung ist es, denn dabei kann weder die nöthige Harmonie
der Statsgewalt noch ihre Sicherheit bestehen. Ist aber der
Gegensatz zwischen der Ueberzeugung des Regierungsbeamten
[624]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
und dem Statsprincip oder der politischen Richtung der Re-
gierung so schroff und unversöhnlich geworden, dasz jener
sich durch sein Gewissen gedrungen fühlt, seine Feindschaft
durch Wort und That zu äussern, und nicht mehr in Treuen
diesem State zu dienen und seinen Obern sich unterzuordnen
vermag, dann kann er diesem innern Conflict der Ueberzeugung
und der Amtstreue als ein ehrlicher Mann schwerlich anders
entgehen, als indem er auf ein Amt resignirt, in welchem er
die Treue nicht halten kann. Selbständiger in dieser Hin-
sicht sind die Justizbeamten gestellt, weil ihre Amtsführung
nicht politisch und nicht abhängig ist von dem Willen der
Regierung.
Eine fernere Wirkung der Treuverbindung der Beamten
überhaupt ist es, dasz dieselben ohne die Zustimmung des
Statshauptes nicht zugleich einem fremden State dienen,
noch Orden, Pensionen und ähnliche Auszeichnungen, welche
auf eine engere Beziehung zu einem auswärtigen Fürsten oder
Lande schlieszen lassen, annehmen darf.
8. Das Dienstgeheimnisz, die Amtsverschwiegen-
heit, zu welchen die Beamten regelmäszig verpflichtet sind,
ist nicht absolut zu verstehen, sondern nur insoweit zu be-
achten, als durch Mittheilung von Thatsachen, zu deren
Kenntnisz der Beamte in seiner amtlichen Stellung gelangt
ist, dem State oder den Individuen Schaden zugefügt würde,
oder als nicht eine höhere Verpflichtung dieselbe nöthig macht.
Eine pedantische Ausdehnung des Geheimnisses über diesen
Bereich oder gar eine böswillige Ausbeutung derselben, um
verfassungs- und gesetzwidrige Handlungen zu verbergen und
eine frivole Ausplauderei sind die entgegengesetzten Klippen,
die zu vermeiden sind.
9. Das Interesse an der Bewahrung der öffentlichen Ord-
nung begründet das Recht des States gegen Beamte, welche
ihre Pflicht vernachlässigt oder verletzt haben, einzu-
schreiten, und die nöthigen Zwangsmittel oder Strafen
[625]Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
zu verhängen. In dieser Beziehung wird zwischen den eigent-
lichen Amtsverbrechen, welche der strafgerichtlichen
Verfolgung und Bestrafung unterliegen, und andern Amts-
pflichtverletzungen, welche dem Disciplinarverfahren
anheim fallen, unterschieden. Für jene ist der Standpunkt
der öffentlichen Gerechtigkeit entscheidend, für diese die
Rücksicht auf die Statswohlfahrt überwiegend. Der allgemeine
Gegensatz von Gericht und Polizeigewalt kommt hier zur be-
sondern Anwendung. Die erstern werden nach den Normen
der gemeinen Strafgesetze und in den Formen des gewohnten
Strafprocesses beurtheilt. Nur in zwei Beziehungen hat die
Rücksicht auf die Interessen des States verschiedene Modifi-
cationen hervorgerufen; einmal insofern die strafgerichtliche
Verfolgung eines Amtsverbrechens nach französischem Vorbild
an die Vorbedingung einer Anordnung oder Zulassung einer
höheren Regierungsstelle oder einer eigens dafür ermächtigten
Statsbehörde geknüpft ist, also nicht durch die gewöhnlichen
Gerichtsstellen von Amtswegen eingeleitet werden darf, und
zweitens indem für die Beurtheilung der Beamten zuweilen
besondere Gerichtshöfe angewiesen sind. 4 Das englische Ver-
fahren verwirft beide Modificationen, schützt aber die (aristo-
kratischen) Beamten durch andere Mittel gegen frivole An-
klagen. 5
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 40
[626]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Das Disciplinarverfahren ist ausgedehnter und hält auch
in den Fällen die Ordnung des Amtes aufrecht, wo der Straf-
richter keinen hinreichenden Grund finden kann, in dem
Beamten den Verbrecher zu erkennen. Ein freisprechendes
Urtheil desselben befreit somit den Beamten keineswegs von
der Gefahr einer disciplinarischen Ahndung seines den öffent-
lichen Bedürfnissen und Pflichten des Amtes widersprechen-
den Benehmens. Das Disciplinarverfahren erstreckt sich auf
alle, auch auf die geringsten Dienstvergehen, und jede Ver-
nachlässigung der Amtspflicht. Ja sogar das Privatbenehmen
des Beamten auszerhalb des Amtes ist demselben insofern
unterworfen, als dasselbe auf die Ehre und das Vertrauen,
deren der Beamte um des Amtes willen bedarf, einen nach-
theiligen Einflusz äuszert. 6
Die Strafmittel des Disciplinarwegs sind entweder blosze
einfache Ordnungsstrafen, wie die Warnung, der Ver-
weis, eine beschränkte Geldbusze oder Strafen, welche
die Einstellung (Suspension) im Amte, die Versetzung
des Beamten auf eine andere Stelle, unfreiwillige Ver-
setzung in den Ruhestand oder die Entlassung zur
Folge haben. Zu den ersteren sind schon die vorgesetzten
Behörden gewöhnlich ermächtigt, ohne ein eigentliches pro-
cessualisches Verfahren, die letztern dagegen treffen auch die
Rechte des Beamten so schwer, dasz zum Schutze desselben
vor willkürlicher und ungerechter Verfolgung processualische
Rechtsmittel unerläszlich sind. In manchen Staten kann die
Strafe der Entlassung sogar nur von den gewöhnlichen Ge-
richten und nur die der Suspension oder Versetzung und Pen-
sionirung auch von höhern Aufsichtsbehörden verhängt werden.
Allein die ausschlieszliche Competenz der Gerichte, welche
[627]Eilftes Capitel. Ende des Statsdienstes.
zwar wohl berufen und fähig sind, die verbrecherische That
eines Beamten wie eines Bürgers zu erkennen und zu beur-
theilen, aber immer in dem Angeklagten voraus den Menschen,
nur nebenher auch den Beamten sehen, und welche auszer
Stande sind, auch die statsrechtlichen Bedürfnisse des Amtes
in ihrer vollen Macht und die verderblichen Wirkungen, welche
ein ungehöriges Benehmen eines Beamten für die Einheit und
Harmonie der Statsgewalt hat, in ihrem vollen Umfang zu
überblicken und zu ermessen, ist keineswegs zu billigen. Wo
dieselbe angeordnet ist, da hat das Interesse des jeweiligen
Beamten über das des bleibenden Amtes und des States, und
in Wahrheit das Privatrecht über das Statsrecht den
Sieg erfochten. Nur einem Gerichtshofe, welcher schon in
seiner Zusammensetzung Garantie dafür darbietet, dasz er auch
die statsrechtlichen Momente, die hier in Betracht kommen,
zu würdigen wisse, kann ohne Schaden für den Stat eine aus-
schlieszliche Competenz für solche Fälle eingeräumt werden.
Gibt es einen solchen nicht, so musz den höhern Aufsichts-
behörden das Recht verbleiben, unwürdige oder untaugliche
Beamte nöthigenfalls aus dem Amte zu entfernen. 7
Eilftes Capitel.
Ende des Statsdienstes.
1. Da der Beamte um des Amtes willen ernannt wird,
nicht dieses um der Person des Beamten willen besteht, so
zieht die Aufhebung des Amtes von Rechtes wegen auch
[628]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
das Ende des Beamtenverhältnisses für das Individuum nach
sich. Ueber die Fortdauer und Art des Amtes wird nur nach
Gründen der öffentlichen Wohlfahrt entschieden. Die privat-
rechtlichen Ansprüche des angestellten Beamten aber auf den
Standesgehalt werden durch die statsrechtliche Aufhebung des
Amtes nicht beseitigt. Vielmehr hat derselbe auch nachher
auf so lange einen Anspruch darauf, als er, hätte das Amt
fortgedauert, in demselben auch ein Recht auf die Besoldung
gehabt hätte.
2. Wie die Freiheit der Annahme oder Ablehnung eines
Amtes als Regel gilt, so ist auch die Freiheit der Resig-
nation als Regel des neueren Statsrechtes nun anerkannt,
obwohl allerdings aus jener nicht ohne weiters auf diese ge-
schlossen werden kann, denn aus der Freiheit eine Verpflich-
tung auf sich zu laden, folgt nicht die Freiheit, eine über-
nommene Verpflichtung wieder abzuschütteln. Aber wo die
geistige Kraft und die gemüthliche Stimmung des Individuums,
die durch Zwangsanstalten nicht nach Belieben erzeugt wer-
den können, so sehr in Betracht kommen wie bei den öffent-
lichen Aemtern, da frommt auch eine blosze erzwungene
Fortsetzung des Dienstes dem State nicht. 1 Wo dagegen
schon die Annahme eines Amtes Bürgerpflicht ist, da ist es
auch die Fortsetzung des Dienstes wenigstens während einer
bestimmten Zeitperiode. 2
Die Resignation bewirkt indessen nicht ohne weiters die
[629]Eilftes Capitel. Ende des Statsdienstes.
Auflösung der Amtspflicht. Der Beamte darf das Amt nicht
nach Willkür verlassen, das wäre Desertion. Sie ist nur ein
zureichender Grund, um die Statsgewalt, welche das Amt
verliehen hat, zu bewegen, dasselbe dem Beamten wieder
abzunehmen. Erst die Entlassung also von Seite des States
befreit denselben von der Amtspflicht; und immerhin verbleibt
der Oberbehörde das Recht, nach dem öffentlichen Bedürfnisse
den Moment der Entlassung näher zu bestimmen.
Die Entlassung in Folge einfacher Resignation des Be-
amten hebt die aus dem Amte hervorgehenden Rechte, sowohl
die politischen als die privatrechtlichen, auf.
3. Anders, wenn der Statsdiener berechtigt ist, die
Quiescirung, Inruhestandsetzung, zu verlangen. In
diesem Falle gehen wohl die eigentlichen politischen Amts-
befugnisse für ihn verloren, nicht aber wieder die persön-
lichen Ehrenvorzüge, als Titel und Rang, noch die Ansprüche
auf Besoldung. Gewöhnlich wird das Masz der Pension,
auf welche derselbe einen Anspruch hat, je nach den Dienst-
und den Lebensjahren stufenweise bestimmt. Jenes Recht
wird begründet theils durch hohes Alter (in Deutschland oft
70, in Belgien 65 Jahre), verbunden mit langem Dienstalter
(30-40 Jahre), theils durch früher eintretende Dienstunfähig-
keit, z. B. wegen Krankheit. Dasselbe versteht sich indessen
nur dann von selbst, wenn durch den Statsdienst selbst das
Gebrechen herbeigeführt worden, welches den Beamten un-
fähig macht, denn unter dieser Voraussetzung ist der Stat
aus allgemeinen Rechtsgründen verpflichtet, den Schaden zu
vergüten, welchen sein Beauftragter in Folge der Ausübung
seiner aufgetragenen Pflicht erlitten hat. 3
4. Die Frage, ob und in welchen Fällen ein Beamter
gegen seinen Willen aus dem Amte entlassen werden
[630]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
könne, ist in verschiedenen Staten in neuerer Zeit verschieden
beantwortet worden. In Deutschland wurde schon zur Zeit
des deutschen Reiches unter dem Einflusse der gelehrten Juri-
sten die privatrechtliche Seite in dem Amte zu Gunsten
der persönlichen Sicherstellung der Beamten mit groszem
Nachdrucke hervorgehoben. Das Amt galt als ein in der
Regel auf Lebenszeit verliehenes Recht, welches von der
Statsgewalt nicht aus Gutfinden dem Beamten entzogen wer-
den dürfe. Nur durch gerichtliches Urtheil sollte derselbe
wegen Verletzung seiner Dienstpflicht entsetzt werden dürfen 4
Es fehlte zwar nicht ganz an Stimmen, welche darauf hin-
wiesen, dasz auch eine ehrenvolle Entlassung zuweilen aus
Statsgründen zu rechtfertigen sei, aber gegen Ende des vori-
gen Jahrhunderts wenigstens breitete sich die erstere Meinung
immer mehr aus, und es wurde dieser Grundsatz auch in
manchen neuern Verfassungen wie ein Fortschritt der Freiheit
und eine wichtige Garantie gegen Regierungswillkür proclamirt,
theils in Deutschland, theils in neuerer Zeit auch in der
Schweiz, obwohl da die meisten Aemter nur periodisch ver-
geben werden.
In England dagegen hielt schon das politische Partei-
leben das Bewusztsein wach, dasz das Amt vornehmlich um
des States und nicht um des Individuums willen gegeben sei,
und es wurde umgekehrt alles Gewicht auf die politische
Bedeutung des Amtes gelegt, daher der Grundsatz festgehalten,
dasz das Statshaupt wie das Amt zu geben, so auch zu neh-
men berechtigt und in der Freiheit dieser Befugnisz nicht zu
beschränken sei. Nur zu Gunsten der Unabhängigkeit der
Richter wurde eine Ausnahme von diesem Princip eingeführt.
[631]Eilftes Capitel. Ende des Statsdienstes.
Unter Wilhelm III. wurde zuerst bestimmt, dasz die Richter
des gemeinen Rechts nicht wie früher „durante bene placito“
sondern „quamdiu bene gesserint“, d. h. auf Wohlverhalten
ernannt seien, aber auch ihre Entfernung wegen Nichtwohl-
verhalten dem immerhin statlichen Ermessen des Königs und
des Parlaments vorbehalten. 5 Auch das nordamerikani-
sche Statsrecht beruht auf diesen Grundsätzen. 6 Eben so
waren in Frankreich die Regierungsbeamten von alter Zeit
her willkürlich entlaszbar, und nur für die Richter die Un-
absetzbarkeit schon in dem sechszehnten Jahrhundert zur
Regel erhoben.
Thatsächlich genieszen indessen auch in Frankreich die
Beamten eine ziemliche Sicherheit und nur die Revolution
oder besonders heftige politische Kämpfe verlangen zuweilen
eine Anzahl Opfer. 7
In dem deutschen System ist zwar eine Uebertreibung
der privatrechtlichen Rücksichten unverkennbar, aber wenn
dasselbe davon entkleidet und der statsrechtliche Gesichts-
punkt nach Gebühr beachtet wird, so hat es vor dem will-
kürlicheren System anderer constitutioneller Staten nicht blosz
den Vorzug, dasz es die Privatexistenz des Statsdieners sichert,
sondern ebenso den, dasz es auch die Ruhe des Statsorganis-
mus vor Parteiumtrieben und launischer Gunst oder Ungunst
schützt.
Allerdings musz als Grundprincip anerkannt werden, dasz
das Amt für den Stat da ist, und dasz geradeso wie der Stat
die Aemter in seinem Interesse bestellt und übergibt, er auch
berechtigt sein musz, aus Gründen der Statswohlfahrt
einem Beamten das Amt zu entziehen und einer andern
[632]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Person zu übertragen. Der Natur der Sache nach steht dieses
Recht zunächst der nämlichen Person zu, welche das Amt
zu besetzen hat, somit im Zweifel dem Statshaupt. 8 Dasselbe
musz auch in den Staten anerkannt werden, in welchen die
Absetzung nur durch die Gerichte ausgesprochen werden kann,
soweit nämlich der Entzug des Amtes rein politische und
nicht auch privatrechtliche Folgen hat. 9
Diese Regel erleidet indessen Beschränkungen, theils im
Interesse einer von der Regierung unabhängigen Rechtspflege,
theils im Interesse der privatrechtlichen Ansprüche der Be-
amten auf eine gesicherte Stellung. In der erstern Beziehung
wird in den Staten, welche auf eine freie und selbständige
Rechtspflege einen Werth legen, in neuerer Zeit meistens der
Grundsatz anerkannt, dasz Richter gegen ihren Willen durch
die Regierung weder entlassen, noch anderswohin versetzt,
noch anders als mit Belassung ihres vollen Gehalts in den
Ruhestand gelegt werden dürfen, sondern es dafür entweder
wie in England eines Parlamentsbeschlusses, oder wie in
Deutschland eines gerichtlichen Urtheils bedürfe. 10
[633]Eilftes Capitel. Ende des Statsdienstes.
In der zweiten Beziehung sind verschiedene Fälle zu
unterscheiden. Das Motiv nämlich zur Entfernung eines Be-
amten kann:
a) in einem Verbrechen desselben liegen, woraus seine
moralische Unwürdigkeit für das Amt offenbar wird;
b) in der erfahrungsmäszig hergestellten moralischen
Untauglichkeit desselben, indem es ihm an dem
nöthigen Fleisze oder an dem Muthe gebricht, dessen
das Amt bedarf, ohne dasz er wirkliche Verbrechen
begangen hat;
c) in der geistigen Unfähigkeit desselben, die Auf-
gabe des Amtes zu verstehen und die erforderlichen
Functionen auf eine für den Stat nützliche Weise zu
vollziehen, z. B. weil er das Gedächtnisz verloren hat,
blödsinnig geworden ist u. dgl.;
d) in äuszern auszer der Person des Beamten liegenden
Verhältnissen, welche seine Wirksamkeit im Amte läh-
men oder ihn des erforderlichen Vertrauens berauben;
ein Fall, der in Zeiten aufgeregter Leidenschaften oder
bei Verwicklungen mit auswärtigen Mächten — ich er-
innere an die Entlassung des Ministers Stein aus Rück-
sichten auf den Kaiser Napoleon I. — selbst bei einem
Beamten eintreten kann, der seine Pflicht vollständig
erfüllt hat, vielleicht gerade deszhalb, weil er es
gethan.
In allen diesen Fällen musz der Stat ein Mittel haben,
10
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 41
[634]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
durch Entfernung des Beamten sich selber vor öffentlichem
Schaden zu bewahren; aber nur in dem ersten unter a) sind
die Gerichte geeignet, nach den gewöhnlichen Regeln des
Strafrechts das Urtheil auszufällen. Dieser Fall wird daher
auch mit Recht dem gerichtlichen Verfahren allein überlassen,
und an die gerichtliche Entsetzung der Verlust von Titel,
Rang, Besoldung und Pensionsanspruch als nothwendige Folge
geknüpft.
Der zweite Fall unter b) eignet sich mehr zu dem Dis-
ciplinarverfahren, welches nicht nothwendig und nicht
im öffentlichen Interesse den gewohnten Gerichten zugetheilt
wird, obwohl allerdings dafür gesorgt sein musz, dasz der
Beamte sich frei vertheidigen dürfe. Je nach der gröszern
oder geringern Verschuldung ist denn hier die Entlassung
ohne nachtheilige Folgen für die bürgerliche Ehre und die
übrigen politischen Rechte des Entlassenen, aber mit dem
Verlust aller aus dem Stat hervorgehenden persönlichen An-
sprüche auf Besoldung — oder die Quiescirung mit einem
den Verhältnissen gemäszen Ruhegehalte auszusprechen. Es
ist klar, dasz der Regierung für diese freiere Hand gelassen
werden musz, als für jene, indem dieselbe die privatrecht-
lichen Ansprüche des Beamten nicht verletzt, sondern zunächst
nur seine öffentliche Stellung afficirt.
Der dritte Fall unter c) rechtfertigt die Quiescirung,
in der Regel aber nicht die Entlassung, weil hier nicht
eine Verschuldung des Beamten, sondern nur ein geistiger
Mangel die Entfernung veranlaszt.
Der vierte Fall endlich d) begründet entweder die Quies-
cirung oder die Versetzung auf einen andern Posten von
wesentlich derselben Beschaffenheit unter Beibehaltung des
gleichen Ranges und voller Besoldung. In beiden letztern
Fällen sprechen allgemeine Rechtsgründe dafür, dasz die
höhern Oberaufsichtsbehörden die Sachlage prüfen und das
Nöthige einleiten, und da wo die Anstellung von dem
[635]Eilftes Capitel. Ende des Statsdienstes.
Statsoberhaupte ausgeht, jedenfalls nicht ohne Gutheiszung
und Befehl des Statsoberhauptes die Entfernung ausge-
sprochen werde.
Eine blosz willkürliche Entfernung nach Gutdünken der
Regierung ohne Motive und ohne dem Beamten die Gelegen-
heit zu verschaffen seine Interessen zu wahren, wird zwar
noch in manchen neuern Staten geübt, widerspricht aber den
Erfordernissen eines wohlgeordneten Beamtenwesens.
5. Eine blosz vorübergehende Einstellung, Sus-
pension des Beamten kann zur Strafe verhängt oder nur
als einstweilige Maszregel durch ein öffentliches Bedürf-
nisz gerechtfertigt werden. In jenem Falle kann diese Strafe
in Folge des Strafverfahrens durch das Gericht oder in Folge
des Disciplinarverfahrens durch die competente Oberaufsichts-
behörde ausgesprochen werden. Sie hemmt die amtliche Wirk-
samkeit des Beamten, und zieht gewöhnlich auch den Verlust
der Besoldung für die Zwischenzeit oder wenigstens eines
Theils der Besoldung nach sich.
Als provisorische Maszregel kann dieselbe schon durch
das Gesetz zum Voraus für gewisse Fälle angeordnet sein,
z. B. als Folge der Versetzung in den Anklagezustand wegen
eines Verbrechens. Sie kann aber auch aus andern Gründen
im einzelnen Falle durch die Oberaufsicht getroffen werden,
namentlich auch da, wo das Institut der Quiescirung nicht
anerkannt ist, um einen verhaszt gewordenen Beamten einst-
weilen der gegen ihn erregten Leidenschaft zu entziehen.
Wo dieselbe nicht als Strafe zu betrachten ist, da dürfen die
privatrechtlichen Ansprüche des Beamten demselben auch nicht
entzogen werden. Freilich folgt daraus nicht, dasz er das
Recht auf vollen Gehalt beibehalte, denn nur ein Theil des-
selben hat einen privatrechtlichen Grund, wohl aber, dasz
das Recht auf den Standesgehalt ihm unversehrt bleibe. Auch
wenn er während der Untersuchung wegen eines Verbrechens
suspendirt worden ist, dauert vorläufig dieser Anspruch fort,
[636]Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
vorbehalten die gerichtliche Einbehaltung des Gehaltes zur
Sicherung für Entschädigungsforderung und Busze wegen des
Vergehens, dessen der Beamte beschuldigt ist. Erst das Straf-
urtheil selbst aber zerstört für die Zukunft den Anspruch auf
Besoldung. 11
[]
Grunde. L 9. (Gajus) D. de Justitia et Iure:„Omnes populi, qui legi-
bus et moribus reguntur, partim suo proprio partim communi omnium
hominum jure utuntur. Nam quod quisque populus ipse sibi jus consti-
tuit, id ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile; quod vero
naturalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes peraeque
custoditur, vocaturque jus gentium, quasi quo jure omnes gentes utuntur.“
hist. du Droit des Gens II. 5. 262.
justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum
in edendo justitiam et editam conservando: sic et in venerando justitiam
sit filius et in ipsius copiam ministrando minister.“
und in
seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött-
lichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dante's Leben und Werke. Jena 1852.
τελείας ϰαὶ αὐτάϱϰους.“ Vgl. III. 1. 8.
ἕνεϰεν, οὐσα δἐ τοῖ εὗ ζῆν.
rum numen virtus accedat humana, quam civitates aut condere novas
aut conservare jam conditas.“
stratuum, sic patrum, sic populorum imperia civibus sociispue praesunt,
ut corporibus animus.“
publica res populi; populus autem non omnis hominum coetus quoquo
modo congregatus, sed coetus multitudinis juris consensu et utilitatis
communione sociatus.“ I. 26.: „Civitas est constitutio
populi.“ Gajus
Inst. I. §. 1.: „Nam quod quisque populus ipse sibi jus constituit, id
ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile.“
mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas.“ —
Sachsensp. I. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen-
heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike.“
humani corporis formam, in sublime caput erexit, atque ex illo cunctas
membrorum fibras exoriri decrevit. Hinc est et peritorum medicorum
praecipua cura, ut ante capiti quam membris incipiant adhibere medelam.
Sicque in Statu et negotiis plebium ordinatio dirigenda, ut dum salus
competens prospicitur Regum, fida valentibus teneatur salvatio populorum.“
dem Werke: Bluntschli, Geschichte des allgemeinen Staatsrechts und der
Politik. München 1864. Zweite Auflage 1867.
de plusieurs mesnages et de ce qui leur est commun avec puissance
souveraine.“
liberorum hominum, juris fruendi et communis utilitatis causa sociatus.“
I. 3. §. 7. Prolegom. §. 16. Vgl. Leo, Weltgeschichte IV. S. 149.
voluntas ex pactis plurium hominum pro voluntate habenda est ipsorum
hominum; ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et
defensionem communem.“
lichen Verbindung (Association) zu finden, welche mit aller gemeinsamer
Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschafters ver-
theidige und schirme, und durch welche jeder Einzelne sich mit allen
vereinigend doch nur sich selber gehorche und eben so frei bleibe als
zuvor? das ist das tiefe Problem, das in dem Gesellschaftsvertrag seine
Lösung findet.“
commodissima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cujus
voluntas ex plurium pactis implicita et unita pro voluntate omnium ha-
betur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatem
communem uti possit.
in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben,
die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, soferne sie
ein gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen.“
Suprema Lex Esto.“
Weltgeschichte VI. S. 759, der die Gedanken Burke's weiter ausführt.
die geschichtliche Richtung geradezu einen reactionären, die Rückkehr in
mittelalterliche Zustände verlangenden Charakter an.
der erhebenden Worte Shakespeare's (Troilus und Cress. III. 3.):
Vgl. auch Shakespeare's König Heinrich V. — 1. 2.:
der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deut-
liche substantielle Wille, der sich denkt und weisz, und das was er
weisz und insofern er es weisz, vollführt.“ Vgl. Werke IX. §. 44.
sind gleichberechtigt (?) und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches
Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.“
meinschaft der Nationalität ist höher als die Statsverhältnisse, welche
die verschiedenen Völker eines Stammes vereinigen oder trennen. Durch
Grammatik, Sprache, Sitten, Tradition und Literatur entsteht eine Ver-
brüderung zwischen ihnen, die sie von fremden Stämmen scheidet, und
die Absonderung, die sich mit dem Auslande gegen den eignen Stamm
verbindet, zur Ruchlosigkeit macht.“
an den französischen Botschafter in Wien mit: „Mes peuples sont étrangers
les uns aux autres et c'est tant mieux. Ils ne prennent pas les mêmes
maladies en même temps. En France, quand la fièvre vient, elle vous
prend tous le même jour. Je mets des Hongrois en Italie et des Italiens
en Hongrie. Chacun garde son voisin; ils ne se comprennent pas et se
détestent. De leurs antipathies nait l'ordre et de leur haine
réciproque
la paix générale.“
Paris 1833): „Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und
sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia.“
Wesen der indischen Kasten
Lassen Indische Alterthumskunde I. S. 801 ff.,
Gobineau de l'iné galité
des races humaines II. S. 135, Benfey Act. Indien in dem
Wörterbuch
von Guttrie u. Grey, M. Duncker Geschichte d. Alterthums II. S. 12 f.
asiatischen Gottes- und Weltideen, S. 29 f.
ficia publica ac privata procurant, religiones interpretantur. Ad hos
magnus adolescentium numerus disciplinae causa concurrit, magnoque ii
sunt apud eos honore. Nam fere de omnibus controversiis publicis pri-
vatisque constituunt.“
Schmitthenner Statsrecht. S. 31. u. 103.
Princip klar ausgesprochen: „Rom ist grosz geworden unter den Heiden
und unter den Christen, quod non tam generis aut patriae nobilitatem,
quam animi et corporis virtutes perpendendas adjudicaverit.“ Vgl.
Laurent Étud. sur l'hist. VII. S. 335.
„Çascuns barons est souverains en sa baronnie. Voirs est que li rois
est sourrains par desor tous.“
Baron s'il n'est Chevalier.“
Loysel, Inst. Coutum. I. 1.
13.: „Le moyen d'être anobli sans Lettres, est d'être fait Chevalier.“
hebung der politischen Rechte des Adels und daneben die Fortdauer der
ökonomischen Vorrechte desselben zusammenwirkten, um den allgemeinen
Volkshasz gegen den Adel zu reizen. So lange die Herren und Ritter
noch die Gerichtsbarkeit zu besorgen hatten und für die öffentlichen
Bedürfnisse besonders thätig waren, begriff man ihre Befreiung von den
Statssteuern und ihre Bezüge von Grund- und Personalgefällen. Aber
seitdem die königliche Beamtung die ganze öffentliche Verwaltung und
die Rechtspflege übernommen hatte, und der Adel ebenso gehorchen
muszte, wie die Bürger und die Bauern, erschienen den Leuten jene
ökonomischen Rechte desselben als ungerechte Privilegien.
toujours abolie; en conséquence les titres de prince, de duc, de comte
etc. — ne seront pris par qui que ce soit, ni donnés à personne.“ Ver-
fassung v. Sept. 1791. „La Constitution garantit comme droits naturels
et civils 1) que tous les citoyens sont admissibles aux places et emplois,
sans autre distinction que celle des vertus et des talens; 2) que toutes
les contributions seront réparties entre tous les citoyens également, en
proportion de leurs facultés.“
V. 1795. Art. 3. „L'égalité n'admet aucune distinction de naissance,
aucune hérédité de pouvoirs.“
Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt
diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist
ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt.
Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in
der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann.
Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für alle die Gleichheit des
Strebens und die Erreichbarkeit des Zieles zu erhalten (à tous l'éga-
lité pour prétendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer
der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu
versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte
zu sammeln. — Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach-
komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit
fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen,
sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder
Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner-
kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför-
dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller
angeregt, und den Stolz niemandes verletzt.“ Vgl. auch V. 161 und
Decret vom 13. März 1815: „La noblesse est abolie. Les titres féodaux
sont supprimés.“
titre nobiliaire, toute distinction de naissance, de classe ou de caste.“
conquête Pars II. ch. 2: „L'hérédité s'introduit, dans des
siècles de sim-
plicité et de conquête, mais on ne l'institue pas au milieu de siècles de
civilisation. Elle peut alors se conserver mais non s'établir.“ Vgl. Parieu
Pol. 108.
vom 8. Jan. 1859, durch welches eine eigene Behörde zur Controle über
die Adelstitel eingesetzt ward.
et sacramento affirment, quod intra et extra regnum Angliae Wilhelmo
suo domino fideles esse velint, terras et honores illius fidelitate ubique
servare cum eo, et contra inimicos et alienigenas defendere.“ c. 58:
„Statuimus etiam, ut omnes barones et milites et servientes et universi
liberi homines totius regni nostri praedicti habeant et teneant se semper
bene in armis et in equis, ut decet et oportet; et quod sint semper
prompti et bene parati ad servitium suum integrum nobis explendum et
peragendum, cum semper opus fuerit, secundum quod nobis de feodis
debent et tenementis de jure facere, et sicut illis statuimus per commune
concilium totius regni praedicti, et illis dedimus et concessimus in feodo.
jure haereditario. Vgl. Reeves History of the English Law I. S. 34 ff.;
Phillipps engl. Reichs- u. Rechtsgesch. II. S. 42; Gneist das heutige engl.
Verfassungs- und Verwaltungsrecht I. u. III.
billigend an, in welcher als Gentlemen alle die erklärt werden, welche
Universitätsstudien gemacht haben, liberale Berufsweisen betreiben, in
Musze leben können ohne Handarbeit, und im Stande sind, sich als
Gentlemen zu benehmen und zu leben. Vgl. Gneist Gesch. des engl.
Verfassungs- und Verwaltungsrechts III. S. 334 f.; Tocqueville Oeuvres
VIII. S. 328.
und die Charakteristik von Tocqueville Oeuvres Bd. VIII.
hatte in keiner Weise den gehässigen Charakter einer Kaste. Sie nahm
fortwährend neue Mitglieder aus dem Volke in sich auf, und gab ohne
Unterbruch wieder Mitglieder ab, die sich mit dem Volke mischten. Der
Freisasse war nicht geneigt über die Würden zu murren, zu denen seine
eigenen Kinder aufsteigen konnten. Der Magnat war nicht geneigt, eine
Classe mit Verachtung zu behandeln, in welche seine Kinder herabsteigen
muszten.“
moge des rikes vorste wesen, he ne vntva't van deme koninge.“
Ssp. I. 3, §. 2. Schwabensp. 5.
herren man (haben) den veften (Heerschild).“ Schwabensp. 5.
„mitel vrien, daz sin die ander vrien man sint.“
S. 108 ff. Leo, Geschichte von Italien I. S. 399. Hegel, Städteverf.
in Italien.
Thierry, Lettre XIV. sur l'histoire de France, und Schäffner,
Rechtsgeschichte II. S. 554 ff.
und Geng-
ler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters, zahlreiche Belege zu finden.
590.
spiele 1288.
naistre franc et par aucuns usages — moult de personnes de nostre
commun peuple soient encheües en lieu de servitudes: — Nous conside-
rants que Nostre Royaume est dit et nommé le Royaume de Francs, et
voullant que la chose en vérité soit accordant au nom —
ordenons, que
generaument par tout nostre Royaume de tant comme il peut appartenir
à nous — telles servitudes soient ramenées à franchises — à bonnes et
convenables conditions — de tant comme il peut toucher nous.“ Vgl.
Schäffner, franz. R. G. I. 523. Schon vorher hatte der Graf von Va-
lois, Bruder des Königs Philips des Schönen, die Hörigen seiner Graf-
schaft im Namen der natürlichen Menschenfreiheit für frei erklärt.
Laurent a. a. O. VI. 662.
réforme du Droit des Gens 1873. S. 63. f.
de jure person.
originem sumsit, utpote quum jure naturali omnes liberi nascerentur,
nec esset nota manumissio, quum servitus esset incognita; sed posteaquam
jure gentium servitus invasit, secutum est beneficium manumissionis.“
nullis hominibus, qui sub imperio Romano sunt, licet supra modum et
sine causa legibus cognita in servos suos saevire.“
upgenemen na der warheit, dat ieman des anderen sole sin, ok ne
hebbe wir's nen urkünde. §. 6. Na rechter warheit so hevet egenscap
begin von gedvange unde von vengnisse vnde von unrechter walt, die man
von aldere in unrechte wonheit getogen hevet unde nu vore recht heben wil.“
schen Rechtsquellen gelegentlich gefunden wird, bezeichnet durchaus
nicht das Wesen des ältern Verhältnisses, das Tacitus mit scharfem
Kennerblick mehr dem römischen Colonat als der römischen Servitus
verglichen hat.
Deutschen Statswörterbuch.
Gerichtsh. v. Westminster-Hall v. 1771. (Wheaton histoire du D. d. G.
II. 353.) Das englische Gesetz vom 28. August 1833 regulirt die Frei-
lassung in den englischen Colonien und erklärt jeden Sclaven, der mit
Zustimmung seines Herrn nach Groszbritannien oder Irland komme, für
frei. In Frankreich schon in den Instit. Coutum. von Loysel aus
d. XVI. Jahrh. der Satz: „Toutes personnes sont franches en ce Roïaume:
et si-tost qu'un Esclave a atteint les Marches d'icelui, se faisant baptizer,
est affranchi.“ Französisches Gesetz v. 1791, 28. Sept. Verfassung
von 1848. 6. „L'esclavage ne peut exister sur aucune terre française.“
Art. add. au traité de paix de Paris 1814. „Sa Majesté Très-Chrétienne
et Sa Majesté Britannique s'engage — pour faire prononcer par toutes
les puissances de la chrétienté l'abolition de la traite des noirs.“
États généraux von 1789 war eine
Ausdehnung des Begriffs practisch geworden. Im Mittelalter war der
tiers état auf die Stadtbürgerschaften beschränkt, 1789 aber wählten die
Bauern mit den Städtern. Tocqueville Oeuvres VIII. S. 139.
Robespierre ist der neidische Hasz gegen alle höhern
Stände und zugleich die abgöttische Verehrung des sogenannten
„Volks“
personificirt. In seiner Erklärung der Rechte ist der Satz enthalten:
„Toute institution qui ne suppose le Peuple bon et le magistrat
corruptible,
est vicieuse.“ Vgl. L. Stein, Geschichte der socialen Bewegung in
Frankreich. I. S. 145.
xima in liberis, deinde una domus, communia omnia. Id autem est
principium urbis et quasi seminarium reipublicae.“ Aber sogar Rousseau
im Contrat Social, zu dessen Grundansichten über den Stat es freilich
gar nicht paszt: „Die Familie ist das erste Vorbild der politischen Ge-
sellschaft.“
dirimi possunt.“
an, dasz die arischen Völker von jeher die patriarchalische Vorstellung,
welche die väterliche Gewalt als Vorbild der obrigkeitlichen Macht be-
trachtet, nur mit groszer Vorsicht und unter wichtigen Beschränkungen
zugelassen haben, während dieselbe der in den Hauptbestandtheilen
gelben Rasse der Chinesen dauernd genüge.
maris et feminae, et consortium omnis vitae, divini et humani juris com-
municatio,“ und Justin. Inst. I. 9. §. 1. „Nuptiae sive matrimonium est
viri et mulieris conjunctio, individuam vitae consuetudinem continens.“
willen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter, und seinem Weibe
anhangen, und werden zwei Ein Fleisch sein.“ Tacitus von den ger-
manischen Frauen (Germ. 19.): „Sic unum accipiunt maritum, quo modo
unum corpus, unamque vitam.“ Schwabenspiegel (Wack. 6.): „Wan
die (ein man unde sin wip) reht unde redelichen zer ê chomen sint, da
ist niht zweiunge an, sie sint wan ein lip.“
Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein.“ Paulus an die
spiegel I. 45. §. 1: „Al ne si en man sime wive nicht evenburdich, he
is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht,
swenne se in sin bedde gat.“ Code Napoléon 213.: „Le mari doit pro-
tection à sa femme, la femme obéissance à son mari.“ Oesterr. Gesetz-
buch Art. 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie.“ Züricherisches
Gesetzbuch §. 127: „Der Ehemann ist das Haupt der Ehe.“
In den Gesetzen Manu's (III. 46.) kommen darüber folgende Be-
stimmungen vor: „16 Tage und 16 Nächte von der Erscheinung der
Regeln an sind die natürliche Zeit der Frauen. An den 4 ersten Nächten
und ebenso an den 11ten und 13ten dürfen sie nicht heimgesucht werden.
Die übrigen 10 dagegen sind erlaubt, und unter diesen die geraden der
Erzeugung von Söhnen, die ungeraden der von Töchtern günstig.“ Auch
die jüdische Gesetzgebung und späterhin das kanonische Recht
haben darüber Bestimmungen.
16, 18.
condition civile et politique des femmes, Paris 1843. Beachtenswerth
aber bleibt es, dasz manche Frauenregierungen gut ausgefallen sind,
zum Theil deszhalb, weil die Kaiserinnen und Königinnen sich lieber
von bedeutenden Staatsmännern leiten lieszen, als viele männliche Herrscher.
Gleichstellung der Fremden mit den Sclaven, aber Schutzlosigkeit des
Fremdenrechtes im römischen Stat. Vgl. Ihering, Geist des römischen
Rechts I. S. 219 ff. hostis bedeutet ursprünglich den Gast, den Fremden
und den Feind.
Staten nordamerikanisches Bürgerrecht. Aber die Kinder der Nord-
amerikaner, die im Ausland geboren sind, haben ebenfalls das Bürger-
recht durch Abstammung erworben. Die Niederlassung Fremder
in den Vereinigten Staten endlich ist die Grundbedingung einer sehr
zahlreichen Naturalisation. Vgl. Story Comm. zur Bundesverf. 1. 8. und Rüttimann Nordam. Bundesstatsrecht 1. S. 89.
reichische Statsbürgerschaft durch Eintretung in den öffentlichen Dienst,
durch Antretung eines Gewerbes, dessen Betreibung die ordentliche An-
säszigkeit im Lande nothwendig macht, durch einen in diesen Staten
vollendeten zehnjährigen ununterbrochenen Wohnsitz.“
Bluntschli Staats- und Rechtsgesch. v. Zürich II. S. 14 ff.
Cherbuliez
de la Démocratie en Suisse I. S. 177 f. Blumer Bundesstatsrecht I. 249 f.
est Français.“ Consularverfassung von 1799. Art. 3: „Un étranger
devient citoyen Français, lorsqu'aprés avoir atteint l'âge de 21 ans accomplis
et avoir déclaré l'intention de se fixer en France, il y a résidé pendant
dix années consécutives.“
vorerst durch Abstammung begründet, indem jedes eheliche Kind eines
Preuszen durch die Geburt preuszischer Statsbürger wird, auch wenn es
im Auslande geboren ist. Bei der Naturalisation aber wird vorzüglich
auf den Wohnsitz geachtet. v. Rönne Statsr. I. §. 87.
voraus und hat insofern einen politischen Charakter; die Landesangehörig-
keit beruht aber meistens auf Abstammung von landesangehörigen Eltern
oder Naturalisation. Deutsches Gesetz vom 1. Juni 1870. Art. 1. Durch
die Geburt, auch wenn diese im Auslande erfolgt, erwerben eheliche
Kinder eines (Nord)deutschen die Statsangehörigkeit des Vaters, un-
eheliche Kinder einer (Nord)deutschen die Statsangehörigkeit der Mutter.“
sement fait en pays étranger, sans esprit de retour. Les établissements
et redire salvo et secure per terram et per aquam salva fide nostra,
nisi tempore guerre per quod breve tempus propter communem utilitatem
regni. Blackstone, Comm. I. 10.
pourra toujours la recouvrer en rentrant en France avec l'autorisation
du Roi et en déclarant qu'il veut s'y fixer, et qu'il renonce à toute di-
stinction contraire à la loi française.“
sans esprit de retour.“ Bayer. Edict von 1818. §. 6: „Das Indigenat
geht verloren durch Auswanderung.“ Oesterr. Verf. von 1849. §. 25:
„Die Freiheit der Auswanderung ist von Stats wegen nur durch die
Wehrpflicht begränzt.“ Ebenso Preusz. Verf. von 1850. §. 11: „Die
Freiheit der Auswanderung kann von Stats wegen nur in Bezug auf die
Wehrpflicht beschränkt werden.“ Das Preusz. Landrecht II. 17.
§. 127 u. ff. war noch strenger.
an der Landesrepräsentation Theil nimmt. Manche deutsche Standesherrn
sind gleichzeitig Mitglieder der ersten Kammern in zwei und drei Staten,
in denen allen sie begütert, und denen allen sie durch den Eid der Treue
verbunden sind. Ist es ja nicht einmal undenkbar, dasz Jemand zwei
verschiedene Wohnorte (Domicile) z. B. eines in der Stadt und eines
auf dem Lande, oder eines als Kaufmann (Firma) und ein anderes als
Privatmann hat! Wenn Bar (das internationale Privat- und Strafrecht
S. 85) alle diese Möglichkeiten bestreitet, so überzeugt ein Blick in die
wirklichen Verhältnisse, dasz diese mannichfaltiger sind, als die enge
Theorie. Die Freiheit der Auswanderung wird dadurch nicht beschränkt,
wohl aber die Freiheit bewahrt, sein angebornes Vaterland zu behalten
und damit eine neue Statsgenossenschaft zu verbinden.
dasz in diesen Dingen die actuelle Heimat entscheide.
43: „Ausländern darf kein Kanton das Bürgerrecht ertheilen, wenn sie
nicht aus dem frühern Statsverband entlassen werden.“
welche in hiesigen Landen leben oder Geschäfte treiben, müssen nach
obigen Bestimmungen beurtheilt werden.“ Oesterr. Ges. §. 33. „Den
Fremden kommen überhaupt gleiche bürgerliche Rechte und Verbind-
lichkeiten mit den Eingebornen zu, wenn nicht zu dem Genusse dieser
Rechte ausdrücklich die Eigenschaft eines Statsbürgers erfordert wird.“
Code Civil. 13.
kratischen Schweizerkantonen gilt das Verbot noch.
schränkung gewöhnlich von selbst. Aber auch wo jene aufgelöst worden,
ist dennoch häufig nur den Inländern gestattet, solche Gewerbe zu
betreiben. Die französ. Verf. von 1848. A. 13: „garantit aux citoyens
la liberté du travail et de l'industrie.“ Die französische Praxis begünstigt
aber in dieser Hinsicht die Gewerbefreiheit auch der Ausländer.
besteht Freizügigkeit unter Vorbehalt des Gegenrechtes.“ Deutsche
Bundesakte v. 1815. 18. Deutscher Bundesbeschlusz v. 1817. Das
deutsche Reichsgesetz vom 1. Nov. 1867 (ursprünglich von dem nord-
deutschen Bunde erlassen) hat zuerst in Deutschland für die Deutschen
volle Freizügigkeit eingeführt, die aber in der Regel auch den Ausländern
gewährt wird.
Recht zu, Fremde, welche die innere oder äussere Sicherheit der Eid-
genossenschaft gefährden, aus dem schweizerischen Gebiete wegzuweisen.“
Bedingung, ohne welche man zu Kronoberhofämtern, zu Civilstatsdiensten,
zu obersten Militärstellen und zu Kirchenämtern oder Pfründen nicht
gelangen kann, und ohne welche man das bayrische Statsbürgerrecht
nicht ausüben kann.“ Französ. Verfassung von 1848. 10: „Tous les
citoyens sont également admissibles à tous les emplois publics.“ Vgl.
Oesterr. Verf. von 1849. §. 27. u. 28. Preusz. Verf. von 1850. §. 4.
s'associer de s'assembler paisiblement et sans armes, de pétitionner, de
manifester leurs pensées par la voie de la presse ou autrement.“ Preusz.
Verf. von 1850. Art. 27. 29. 30. 32, welche diese Rechte „allen
Preuszen“ zugestehen.
Reichstag vom 31. Mai 1869. §. 1: „Wähler — ist jeder (Nord)deutsche,
welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.“
Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat.“ Die Züricher
Verfassung v. 1869 rechnet die politische Volljährigkeit mit zwanzig, das
privatrechtliche Gesetzbuch die bürgerliche mit vierundzwanzig Jahren.
„household suffrage“ mit Berücksichtigung der Armensteuer. Vgl. Bd. II.
Bd. 2. Cap. 6.
bürgerrecht auszer dem Indigenat „Ansässigkeit im Königreiche, ent-
weder durch den Besitz besteuerter Gründe, Renten oder Rechte, oder
durch Ausübung besteuerter Gewerbe, oder durch den Eintritt in ein
öffentliches Amt“ erfordert. Die österr. Verf. von 1848 §. 43 und die
preuszische A. 70 erkennen die Selbständigkeit in dem Gemeinde-
verband.
confessionis fuerint subditi, nullibi ob religionem despicatui habeantur
nec a mercatorum, opificum aut tribuum communione, haereditatibus,
legatis, hospitalibus, leprosoriis, eleemosynis, aliisve juribus aut com-
merciis, multo minus publicis coemiteriis, honoreve sepulturae arceantur
— sed in his et similibus pari cum concivibus jure habeantur, aequali
justitia protectioneque tuti.“
Religionsparteien kann in den Ländern des deutschen Bundes keinen
Unterschied in dem Genusz der bürgerlichen und politischen Rechte
begründen.“ Vgl. Klüber Acten des Wiener Congr. II. S. 439.
der Menschenrechte von 1791 ausgesprochen: „Les hommes naissent et
être fondées que sur l'utilité commune.“ Von den späteren Verfassungen
hat keine die Eigenschaften des „citoyen“ an ein Glaubensbekenntniss
geknüpft.
de jure belli ac pac. II. 3. führt eine Stelle von Seneca an, de benef.
VII. 4: „Ad reges potestas omnium pertinet, ad singulos proprietas;“
und von Dio Chrysost. Orat.: „Das Land gehört dem Stat (ἡ χῶϱα τῆς
πόλεως); aber nichts desto minder ist jeder Einzelne vollkommener Herr
seiner erworbenen Güter.“
vor, deren Fürst eine absolute Gewalt über Land und Leute hatte. Vgl.
die Beispiele bei Hugo Grot. I, 3, 12.
sible.“ Belege von deutschen Einzelstaten bei Zachariä, Deutsches
Stats- und Bundesr. I. §. 83.
gebiets können nur durch ein Gesetz verändert werden.“
1828, Art. 6. „Eine freiwillige Abtretung auf einem Bundesgebiete
haftender Souveränitäts-Rechte kann ohne Zustimmung (der Gesammt-
heit) nur zu Gunsten eines Mitverbündeten geschehen.“ Vgl. die nähere
Ausführung in Bluntschli Modernes Völkerrecht §. 286.
eines fremden States oder Souveräns in dem Gebiete des States schlieszt
keine Beschränkung der Landesgewalt ein.“
ihre Hauptbedeutung auf dem Lande, indem sie mehrere Gemeinden ver-
einigen und dadurch stärken. In den Städten fällt Gemeinde und Canton
zusammen. Die Arrondissements, welche die Cantone zusammenfassen,
haben nie eine rechte Bedeutung erlangt.
der communistischen und socialistischen Systeme, aber nicht glücklich in
der philosophischen Herleitung des Eigenthumsbegriffes (aus der Arbeit) ist.
aus. Schon die Magna Charta König Heinrichs III. von England von
1225 enthält mehrere Einzelbestimmungen der Art. Auch die republi-
kanische Verfassung von Frankreich von 1848. A. 11. enthält wie die
Charte von 1814 (8) den Satz: „Toutes les propriétés sont inviolables;“
ebenso die preuszische Verfassung von 1850. Art. 9: „Das Eigenthum ist
unverletzlich.“
portus publica sunt.“ Ulpianus in L. 1. §. 3. eod.
„Publicum flumen
esse Cassius definit, quod perenne sit.“ Enger ist der Begriff des öffent-
lichen Flusses nach dem Code Napol. §. 538: Les chemins, routes et rues
à la charge de l'État, les fleuves et rivières
navigables ou flottables, les
rivages, lais et relais de la mer, les ports, les havres, les rades, et
généralement toutes les portions du territoire français qui ne sont pas
dances du domaine public.“ Der Sachsenspiegel II. 28. §. 4 scheint
ebenfalls nur stromartige Flüsse für öffentliche zu halten: „Svelk water
strames vlüt, dat is gemene to varene unde to vischene inne.“ Das
preuszische Landrecht II. 15. §. 38, 41. beschränkt den Begriff sogar
auf „schiffbare“ Flüsse und weisz auch von flöszbaren Privatflüssen.
Aehnlich das österr. Ges. §. 407.
„La proprietà dello Stato.“
est, id ratione naturali occupanti conceditur.“ Vgl. L. 1. pr. eod.
Klüber, öffentl. Recht des deutschen Bundes, §. 337. hat die Theorie
aufgestellt, dasz die sogenannten adespota, d. h. herrenlose Sachen,
innerhalb des Statsgebiets nicht von Fremden occupirt werden können.
Warum aber sollte der Vogel, der einem Fremden ins Zimmer fliegt und
von diesem gefangen wird, demselben weniger gehören als einem Ein-
heimischen?
„Haec quae
nullius in bonis sunt et olim fuerunt inventoris de jure naturali, jam
efficiuntur principis de jure gentium.“
à l'État.“ Vgl. §§. 539. 723. 768.
Canäle und Eisenbahnen. Beispiele in dem „Neuesten Expropriations-
codex.“ Nürnberg 1837.
Landrecht I. 2. §. 4. 7. Code Napol. §. 545: „Nul ne peut
être contraint
de céder sa propriété, si se n'est pour cause
d'utilité publique, et moyen-
nant une juste et préalable indemnité.“ Oesterr. Gesetzb. §. 365.:
„Wenn es das allgemeine Beste erheischt, musz ein Mitglied des States
gegen eine angemessene Schadloshaltung selbst das vollständige Eigen-
thum einer Sache abtreten.“ Verfassung von Frankreich v. 1848.
§. 11. gleichlautend mit der Charte von 1814. §. 9. und dem Code; von
Belgien 1831. §. 11, von Neapel 1848. §. 26. ebenso
Oesterr. Verf.
von 1849. §. 29, ähnlich der obigen Bestimmung des Gesetzbuchs.
Preuszische Verfassung von 1850. A. 9: „Das Eigenthum ist unver-
letzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vor-
gängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig fest-
zustellende Entschädigung nach Maszgabe des Gesetzes entzogen oder
beschränkt werden.“
Treichler, über die Zwangs-
abtretung in der Zeitschrift für deutsches Recht von Beseler,
Reyscher
und Wilda. Bd. XII. H. 1.
von 1841. Art. 51. Zürcher Gesetz von 1838.
§. 7.: „Bei Berechnung des mittelbaren Schadens für das übrige Ver-
mögen des Betheiligten ist der allfällige Vortheil, welcher demselben auf
der Unternehmung erwächst, in billige Berücksichtigung zu ziehen.“
Z. B. Ein Garten wird durch die Strasze durchschnitten. Die eine zu-
rückbleibende Seite verliert als Garten an Werth, aber gewinnt als Bau-
platz mehr an Werth, als sie in ersterer Eigenschaft verloren hat. Hier
wäre es unbillig, müszte der Stat auch jenen Verlust ersetzen.
Bayer. Ges. v. 1837. 6.
démocratie en Amérique. I. S. 46: „Les peuples
se ressentent toujours de leur origine. Les cireonstances qui ont accom-
pagné leur naissance et servi à leur développement influent
sur tont le
reste de leur carrière.“
IV. c. 1. Die letztern nennt er „conver-
siones.“ „Conversionem civitatis appello, cum status ipsins
convertitur
ac omnino mutatur; id antem fit, cum imperium populare ad unum aut
paucorum potestas ad omnes cives defertur contraque.“
teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die
alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der
obligatorischen Verträge, an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist das
römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier
selbständigen Personen, sondern ein einheitlicher Act des römischen
Volks.
ξυνοίϰια. Vgl. darüber die lehrreiche Abhandlung von W. Vischer:
Ueber die Bildung von Staaten und Bünden im alten Griechenland.
Basel 1849.
Heft 1.
Rechtswiss. XXVII. 5. 394. dieses Beispiel näher ausgeführt und für die
Theorie des Contrat social benutzt.
a. p. III. c. 8. §. 1. führt auch ein Wort des germanischen Königs Ario-
vist zu Cäsar an: „Es sei das Recht des Krieges, dasz die Sieger, wie
sie wollten, über die Besiegten gebieten.“ (Cäsar de B. G. 1. 36.) Vgl.
oben Cap. 9 der Einleitung.
und noch rohe Form der Völkerrechtspflege. Das Bewusstsein aber, dasz
das nur der Anfang sei zu einem gerechteren und menschlicheren Ver-
fahren, fängt an zu erwachen.“
erst in Folge der Ergebung oder des Friedensvertrages einen neuen fried-
lichen Rechtszustand.“
und Story's Comm.; Bluntschli, Gesch. d. schweiz. Bundesr. I. S. 352;
Waitz Politik 1862.
Realunion (Deutsches Staatswörterbuch, Art. Union); jene ist ihm die
über zwei oder mehrere Staten in Einer Person. Die Verbindung von
Schweden und Norwegen ercheint ihm dann bereits als Realunion.
Princip etwas leichter und bekennt die naturrechtliche Lehre ihrer Zeit,
indem sie folgende Sätze ausspricht: „Wir halten folgende Wahrheiten
für klar, dasz alle Menschen gleich geboren, dasz sie von dem Schöpfer
mit gewissen unveränderlichen Rechten begabt sind, und dasz zu diesem
Leben Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre, dasz, um
diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingesetzt
sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Zustimmung der Regierten
ableiten, dasz wenn immer eine Staatsform diesen Endzwecken verderb-
lich wird, es ein Recht des Volkes ist, dieselbe zu ändern oder abzu-
schaffen und eine neue Statsform einzurichten, indem es dieselbe auf
solche Principien begründet, und deren Gewalten in solcher Weise orga-
nisirt, wie es ihm zu seiner Sicherheit und zu seinem Glücke am zweck-
dienlichsten scheint. Die Klugheit gebietet allerdings, seit langem be-
stehende Verfassungen nicht um leichter und vorübergehender Ursachen
willen zu ändern, und demgemäsz hat alle Erfahrung gezeigt, dasz die
Menschen geneigter sind die Leiden zu ertragen, so lange sie erträglich
sind, als sich durch Vernichtung der Formen, an welche sie sich einmal
gewöhnt, selbst Recht zu verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von
Miszbräuchen und unrechtmäszigen Eingriffen, welche unwandelbar das
nämliche Ziel verfolgen, die Absicht beweist, das Volk dem absoluten
Despotismus zu unterwerfen, so hat dieses das Recht und die Pflicht,
eine solche Regierung auszustoszen und neue Garantien für seine künftige
Sicherheit anzuordnen.“
phönicische Colonisation ist weniger von Anfang an neue Staatsgrün-
dung, ist aber gewöhnlich in kurzer Zeit zu dieser geworden.
im Sturm:
hommes) meinte: „Der Mensch im Naturzustand habe einen Widerwillen
(répugnait) gegen die Gesellschaft.“ Aber Mirabeau entgegnete ihm
vortrefflich (essai sur le déspotisme) mit den Worten: „Non seulement
l'homme semble fait pour la société, mais on peut dire qu'il n'est vrai-
ment homme c'est à dire un être réfléchissant et capable de vertu, que
lorsqu'elle commence à s'organiser. Les hommes n'ont rien voulu ni dû
sacrifier en se réunissant en société; ils ont voulu et dû étendre leurs
jouissances et l'usage de la liberté par les secours et la garantie réci-
proques.“
davon her, dasz der einzelne Mensch sich selber nicht genüge, sondern
von Natur der Gemeinschaft bedürfe.
I. 214.) den Stat „eine von Gott geordnete Institution, die zum Wesen
des Menschen nothwendig gehört, wie die Ehe und das väterliche Ver-
hältnisz. Diese Institution kann sich aber auf dieser Erde nicht voll-
kommen darstellen. Was wir in der Wirklichkeit vom State sehen, ist
nur ein Schatten der göttlichen Idee des States.“
citirten Stelle sehr schön: „Meines Erachtens könnte eine Stadt leichter
ohne einen Boden gegründet werden, als ein Stat sich bilden oder be-
stehen ohne Glauben an Gott.“ Auch in neuerer Zeit hat Washington,
in seiner Inaugurationsrede an den Congresz im Jahre 1789, diesen
Glauben bezeugt: „Ich werde es nicht vernachläszigen, in diesem ersten
officiellen Acte, aus ganzer Seele mein Flehen an das göttliche Wesen
zu richten, welches alles nach seinem Willen ordnet, welches die Rath-
schläge der Nationen leitet und die Schwachen aufrecht hält. Möge
sein Segen über der Regierung der Vereinigten Staten walten, die sie
unter sich eingerichtet haben zu ihrer Wohlfahrt. Kein Volk hat je
zahlreichere und offenbarere Gunstbezeugungen der Vorsehung erhalten.
Ihre göttliche Hand hat alle Bestrebungen mit ihrem Segen begleitet,
welche unsere Unabhängigkeit gesichert haben.“
„Declaramus quod imperialis dignitas et potestas est immediate a solo
Deo (d. h. nicht mediate durch den Papst) — statim ex sola electione
(durch die Kurfürsten) est Rex verus et imperator Romanorum censendus.“
Die Augsburgische Confession vom Jahr 1530 Art. 16 lehrt: „dasz
alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze, gute
Ordnung von Gott geschaffen und eingesetzt sind.“ Sie leitet also die
gesammte Rechtsordnung von dem Willen Gottes ab.
fassung des Mittelalters ist die Stellung der berufenen Häupter der
Christenheit die Gottes selbst. Die Herrscher (Papst, Kaiser und Könige)
als die Repräsentanten Gottes haben in Person die Fülle alles Ansehens
lediglich in sich.“
Stelle vorkommt: „Der, der den Menschen Könige gegeben, hat gewollt,
dasz man sie ehre als seine Stellvertreter, indem er nur sich das Recht
vorbehielt, ihr Thun und Lassen zu prüfen. Sein Wille (?) ist, dasz
wer als Unterthan geboren ist, ohne weiteres gehorche.“
Cap. Entst. d. const. Mon. mitgetheilten Stelle.
schön aus, indem er von sich berichtet: „Il tentait Dieu et le peuple,
Lamartine se reprocha depuis sévèrement cette faute. C'est un tort
grave de renvoyer à Dieu ce que Dieu a laissé à l'homme d'État, la
résponsabilité il y avait là un défi à la Providence.“
König Brennus in den Mund: „Das älteste aller Gesetze, welches von
Gott an bis auf die Thiere hinabreicht, gibt dem Stärkern die Herrschaft
über die Güter des Schwächern.“
hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.):
„Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup-
ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der
Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht“ (s'il ne transforme
sa force en droit et l'obéissance en devoir).
stimmigkeit, durch welche das Gesetz der spätern Mehrheit ange-
ordnet worden, aber die Fiction deckt den Widerspruch nicht.
γὰϱ συμμαχία (Bundesgenossenschaft) ϰαὶ πόλις (Stat).“
(populi) prima causa coëundi est non tam imbecillitas, quam naturalis
quaedam hominum quasi congregatio.“
telischen Gedanken so aus: „Quum penes unum est omnium summa
rerum, regem illum unum vocamus, et regnum ejus reipublicae statum.
Quum autem est penes delectos, tum illa civitas optimatium arbitrio regi
dicitur. Illa autem est civitas popularis, in qua in populo sunt omnia;
stellungen mancher Neueren verleitet, in meinen „Studien“ übersehen
und daher dem groszen Staatslehrer einen ungerechten Vorwurf gemacht.
Sparta war Monarchie, obwohl zwei Könige zumal regierten. Venedig
war Aristokratie, obwohl Ein Doge an der Spitze des States stand.
ex optimatibus factio, ex populo turba et confusio“ werde.
die Begriffe der verschiedenen Statsformen.
maxime probandum esse censeo, quod est ex his, quae prima dixi,
primores aut singuli regunt: delecta ex his et consociata reipublicae
forma laudari facilius quam evenire; vel si evenit, haud diuturna esse
potest.“
in republica praestans et regale, esse aliud auctoritati principum parti-
tum ac tributum, esse quasdam res servatas judicio voluntatique multi-
tudinis.“
der englischen Verfassung eher ein aristokratischer als ein monarchischer
geworden sei. Vgl. Blackstone I. 2.
formen, in den Abhandlungen der Berliner Akademie v. 1814.
merkwürdigen dämonokratischen State unserer
Zeit berichtet der berühmte Entdecker der Alterthümer von Niniveh,
A. H. Layard (Niniveh und seine Ueberreste S. 144 ff.) In den Ge-
birgen Mesopotamiens wohnen die Jezidi, welche unter einem geist-
lichen Oberhaupte stehen, dem groszen Scheikh, und dem Satan
eine
besondere Verehrung widmen, von dem sie glauben, er werde später
wieder zu einem hohen Range in der himmlischen Hierarchie gelangen
Weltgesch. I. S. 79.
Alter-
thums Bd. I.
Paris 1833. V. 96, 97. VII. 3-8.
Sic. I. 73.
de Manou. VII. 133.
S. 33. 69. Vgl. Spiegel Avesta. Leipzig 1852-63. III Bde.
gesch. I. S. 120 ff. Duncker Gesch. d. Alt. II. S. 606.
Bluntschli Altasiatische Gottes- und Weltideen, Nr. IV.
Artikel Ideokratie im deutschen Statswörterbuch, Bd. V; v. Mohl, En-
cyclopädie der Statswissensch. §. 41.
noch in dem Vladika ein kriegerisch-priesterliches Oberhaupt an der
Spitze hatte, ist seither durch die Trennung der priesterlichen Würde
und der Regierungshoheit den übrigen europäischen Staten näher getreten.
züglichen Artikel im deutschen Statswörterbuch.
Daher der Ausdruck: „Εϰ δε Διὸς βασιλέες.“ Διογενεῖς Διοτρεφεῖς
bei Homer, H. II. 204 ff.
Vgl. Herrmann griech. Statsalterth. §. 55. Sophokles Philokt. 137.
Vgl. den Preis des Königthums in dem Indischen Epos Rama
Holtzmann Vers. 1772:
Nach Jornandes c. 14 stammen die Amaler aus dem Geschlechte
der Asen. Von Hengist und Horsa ist es bekannt, dasz sie von Wo-
dan stammen. Es ist sicher, dasz viele anfängliche Geschlechtshäupter
erst später auf europäischem Boden zu Königen geworden sind (Sybel,
Entstehung des deutschen Königthums), und dasz man sich dieses Ur-
sprungs wohl erinnerte. Aber die Idee und selber die Institution des
Königthums haben die arischen Völker aus Asien mitgebracht. Ueber
Eigenschaft auch der germanischen Könige deutlicher hervor, als in der
uns bekannten deutschen Geschichte. Vgl. Grimm, Rechtsalt. S. 243.
Der christlich gesinnte norwegische König Hakon wurde von den noch
heidnischen Bauern gezwungen, an dem Ding nach dem alten Herkommen
zu opfern, die Weihebecher zu trinken und Pferdefleisch zu essen. Konr.
Maurer, die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christenthum.
I. S. 160 ff.
c. 26: „Agros inter se secundum dignationem partiunter.“ Diese aus-
gedehnte Grundherrlichkeit der Könige und Fürsten ist, trotz der zahl-
reichen Entäuszerungen aller Art, noch durch das ganze Mittelalter hinab
in Deutschland sichtbar.
Vgl. Odyss. VI. 301 ff. Aehnlich die „Hallen“ der deutschen Fürsten.
germanischen Völkern, auch bei solchen, welche vorher ohne Könige ge-
lebt hatten, gibt Dahn (Die Könige der Germanen VI Bde.) näheren
Bericht. Vgl. Gierke (Deutsches Genossenschaftsrecht I. 548 ff.).
Vgl. Grimm. R. A. S. 241.
Holtzmann) v. 782 ff.
diern ähnliche Verbindung des Erbrechts (nach Erstgeburt) mit Rath
und Wahl des Fürsten. Rama (v. Holtzmann), v. 22 ff.
auf das Geschlecht liegt schon in dem Namen der deutschen Könige,
Chuning und Kun-ing von chun oder chuni, Geschlecht. Hildebert II.
wurde als fünfjähriger Knabe zum Könige von Austrasien ausgerufen.
Thierry Mérow. II. 63. Beispiele von Abweichungen von dem Erbrecht
finden sich öfter in der Geschichte der Westgothen und der Longobarden.
F. Dahn (Die Könige der Germanen I. S. 32) betont die Erblichkeit
entschiedener; Thudichum (Der altdeutsche Stat S. 60.) mehr die
Volkswahl; aber beide erkennen die Verbindung beider Ursachen an.
Eine ähnliche Verbindung von Erbrecht (der Erstgeburt) mit dem
Rath und der Wahl der Groszen, wie bei den alten Germanen, findet
sich bei den alten Indiern. Rama (v. Holtzmann) v. 22 ff.
her bei den Hellenen entspricht dem concilium principum, welches nach
Tacitus den deutschen Königen zur Seite steht.
Ueber die deutschen vgl. Tacit. Germ. 9. 12. Auch der indische Königs-
name râg stammt von rag richten, wie rex von regere. Die Idee der
Rechtsordnung ist daher schon in dem alt-arischen Königsnamen aus-
gesprochen. Lassen Ind. Alterth. I. S. 808. „Die Bürde der Gerech-
tigkeit ruht auf der Königswürde.“ Rama 17.
ἡγεμονίας.“ Bei manchen deutschen Völkerschaften hat der glückliche
Herzog eine königliche Dynastie gegründet.
chischen Städte Könige, aber nicht in der despotischen Art der Bar-
baren, sondern nach den Gesetzen und den vaterländischen Gewohnheiten.“
Aristot. Pol. III. 9, 7 und III. 10, 1. Vgl. Herrmann a. a. O. Sophokles
Oed. d. König v. 850 ff., wo der Chor auf das göttliche Recht hinweist:
„penes plebem arbitrium.“ Sie „walten“ ihrer Völker, sie „herrschen“
nicht. Schmitthenner, Statsr. S. 40.
Und noch energischer Antigone (v. 451) zum König Kreon:
auf den Zusammenhang des Blutes und der Familie gegründet, sondern
in erster Linie auf den individuellen Willen des Erblassers, der seinen
Nachfolger frei ernennt.
Ulpianus in pr. L. 1. de constit. Princip. Cicero de lege agrar. II. 11.
röm. Verf. I. Abschn. 2. Th. Mommsen römisches Statsrecht. Bd. II.
faecem civitatum, quid est negotii concitare in eum praesertim qui nuper
summo cum imperio fuerit, summo autem amore esse propter nomen
ipsum imperii non potuerit. Mirandum vero est homines eos, quibus odio
sunt nostrae secures etc. 34. „non imperium non secures.“ Vgl. Liv. XXIV. 9.
fuit, quis etiam reges obtemperarent.“ Pomp. L. 2. §. 1. de Orig. Jur.
schon von Romulus: „Leges curiatas ad populum tulit.“ Vgl. Liv. I. 8.
Dion. Hal. IV. 36.
Beziehungen wieder zur Anerkennung gebracht, aber geht wohl zu weit,
Zonaras, annal. VII. 13.
bungsgewalt zuschreibt. Der bescheidenere Ausdruck rogare legem wird
zwar von den Königen nicht gebraucht, sondern die vornehmeren Be-
zeichnungen constituere, instituere, dare jus; aber damit wird weder die
Bedeutung des Senates, noch die des Volkes verneint.
bus fessa nomine Principis sub imperium accepit.“ Vgl. die Verhand-
lungen von Mäcenas und Agrippa mit Augustus bei Dio Cassius 52.
legis habet vigorem, utpote, cum lege regia, quae de imperio ejus lata
est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat.
Gaj. I. 5. §. 6. J. de jure nat.
lich, ein stehendes Heer (στϱατιώτας ἀϑανάτους) zu bilden, dagegen die
Masse der Bevölkerung den friedlichen Gewerben zu überlassen. Dio
Cass. a. a. O.
senatus consulta per relationem discessionemque facere liceat — utique
cum ex voluntate auctoritateve jussu mandatuve ejus praesenteve eo senatus
habebitur omnium rerum jus perinde habeatur servetur ac si e lege Se-
natus edictus esset habereturque.“
cujus rei petentes senatui populoque Romano commendaverit quibusque
suffragationem suam dederit, promiserit, eorum comitis quibusque extra
ordinem ratio habeatur.“
huma'rum publicarum privatarumque rerum esse censebit ei agere facere
jus potestasque sit.“
gationes plebisve scita senatusve consulta fecit fecerit sive quod eum ex
lege etc. facere oportebit non fecerit hujusve legis ergo id ei ne fraudi
esto neve quit ob eam rem populo dare debeto neve cui de ca re actio
neve judicatio esto neve quis de ca re apud . . agi sinito.“
nerte, verbaten sich die ersten Kaiser noch als unwürdig (Sucton. Octav.
53: „domini appellationem ut maledictum et opprobrium semper exhor-
ruit“ Tiber. 27. Tac. Ann. IV. 37. 38.). Spätere Kriecherei aber führte
den Titel dennoch ein.
welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha-
ten. Sueton. Tiber. 29: „Dixi et nunc et saepe alias, P. C., bonum et
salutarem Principem, quem vos tanta et tam libera potestate exstruxistis,
senatui servire debere et universis civibus saepe et plerumque etiam sin-
gulis: neque id dixisse me poenitet.“
untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der
Erhebung des Kaisers Claudius.
welche auf römischem Boden neue Reiche begründet haben, sind in dem
Werke von Felix Dahn. Die Könige der Germanen sorgfältig und
quellenmäszig dargestellt.
gegnen durch das Reichsgesetz von 806. „Placuit inter praedictos filios
nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma-
nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites
invadere praesumat — ;sed adjuvet unusquisque illorum fratrem suum,
ut auxilium illi ferat contra inimicos ejus juxta rationem et possibilitatem,
sive infra patriam sive contra exteras nationes.“ In derselben wird auch
der Wahl des Volkes noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl. Eich-
horn, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. Guizot, Es-
sais sur l'hist. de France. S. 206 ff.
Salica“ behandelt. Vgl. Zöpfl, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch. II. §. 33.
3te Aufl. S. 403. Waitz, Deutsche Verf.-Gesch. II.
placito generalitas universorum majorum tam clericorum quam laicorum
conveniebat. Seniores, propter consilium ordinandum: minores propter
idem suscipiendum et interdum pariter tractandum, et non ex potestate
sed ex proprio mentis intellectu vel sententia confirmandum.“ Und von
dem Reichstag im Herbst: „Aliud placitum, cum senioribus tantum et
praecipuis consiliariis habebatur, in quo jam futuri anni status tractari
incipiebatur.“ Daher denn auch die Formeln in manchen Capitularien:
„per consilium Sacerdotum et Optimatum meorum ordinavimus“ (Cap.
Karlomanni a. 742): „cum consensu Episcoporum sive Comitum et Opti-
matum Francorum“ (Cap. Pippini a. 744): „Hortatu omnium fidelium
nostrorum et maxime Episcoporum ac reliquorum Sacerdotum consullu“
(Cap. Caroli M. a. 769). Der Vergleich unter den Söhnen Ludwigs des
Frommen vom Jahre 851 enthält die ausdrückliche Bestimmung C. 6.:
„Et illorum, scilicet veraciter nobis fidelium, communi consilio, secundum
Dei voluntatem et commune salvamentum ad restitutionem sanctae Eccle-
siae et statum regni, et ad honorem regium atque pacem populi com-
missi nobis pertinenti, adsensum praebebimus; in hoc ut illi — sic sint nobis
fideles et obedientes, ac veri adjutores atque cooperatores, sicut per rectum
unusquisque in suo ordine et statu suo Principi et suo Seniori esse debet.“
de capitulis quae in lege noviter addita sunt. Et postquam omnes con-
senserint subscriptiones et manufirmationes suas in ipsis capitulis faciant.“
M. a. 802. c. 40. Hincmar de Ordine Pal. 6: „Et Rex in semetipso nominis
§. 1: „Quicumque homo liber in hostem bannitus fuerit et venisse con-
temserit, plenum heribannum i. e. 60 solidos persolvat.“
retinet, ut subjectis omnibus rectoris officium procuret.“
498 ff.
l'hist, de France. p. 191 ff.
in regnum sacrabant.“
den Titel: „devotus sanctae Dei ecclesiae defensor humilisque
adjutor.“
Anastasius: „Duae sunt Imperatrices angustae, quibus principaliter
mundus hie regitur, auctoritas sacrata Pontificum et regalis potestas“ ist
auch in die fränkischen Reichsgesetze (Cap. V. 319.) aufgenommen. Vgl.
Hincmar a. a. O. c. 5.
Eichhorn a. a. O. §. 158.
auf diese moralischen Eigenschaften als die Seele des Institutes hin c. 13
und 14: „Magna et comitum aemulatio, quibus primus apud principem
suum locus; et principum, cui plurimi et accerrimi comites. Haec dignitas,
hae vires, magno semper electorum juvenum globo circumdari, in pace
decus, in bello praesidium — Cum ventum in aciem, turpe principi
virtute vinci, turpe comitatui, virtutem principis non adaequare. Jam
vero infame in omnem vitam ac probrosum, superstitem principi suo ex
acie recessisse. Illum defendere, tueri, sua quoque fortia facta gloriae
ejus assignare, praecipuum sacramentum est. Principes pro victoria pug-
nant, comites pro principe.“
homage.“
inhalt ist: „Devenio homo vester de tenemento, quod de vobis teneo et
Fidem vobis portabo de vita et membris et terreno honore contra omnes
Bracton a. a. O. „Hoc audis, Domine, quod
fidem vobis portabo de vita et membris, corpore et catallis (mit Leib
und Gut) et terreno honore, sic me Deus adjuvet et haec sancta Dei
evangelia.“ Vgl. Du Cange v. fidelitas. Das longobardische
Lehens-
recht und ebenso das deutsche unterscheidet nicht so scharf. Lib. II.
Feud. d. V. findet sich die Formel: „Ego juro ad haec sancto die evan-
gelia, quod a modo in antea fidelis huic, sicut debet esse vasallus domino,
nec id, quod mihi sub nomine fidelitatis commiserit dominus, pandam
alii ad ejus detrimentum, me sciente.“ Und tit. VI. wird dem, der
Treue schwört, eingeschärft, dasz er sechs Rücksichten stäts vor Augen
habe: „incolume, tutum, honestum, utile, facile, possibile.“ Eine deutsche
Formel im sächs. Lehnr. Art. 3. „dat he ime so trüwe unde also holt
sie, alse durch recht die man sime herren sole, di wile dat he sin man
wesen wille unde sin gut hebben wille.“ Vgl. Homeyer III. 323.
nostrum iterum nobis fidelitatem promittere faciant secundum consuetu-
dinem jamdudum ordinatam.“ Eine Formel in den Capit. Caroli Calvi
a. 854 c. 13: „Ego ill. Carolo ab ista die inante fidelis ero secundum
meum savirum (savoir Wissen), sicut Francus homo perrectum esse debet
suo Regi. Sie me Deus adjuvet et istae Reliquiae.“
reddere debet; quod si non fecerit, merito censebitur malefidus.“
Auch
de membre, et de terrene honor et a vous serra foyalt et loyall, foy “ à
vous portera des tenemens, que jeo claime de tener de vous.“ Vgl. Du
Cange s. v. homagium.
ein. Vgl. oben B. II. Cap. 12. Dann erliesz er ein Gesetz, durch wel-
ches alle Grafen, Barone, Ritter, Edelknechte und alle Freien verpflichtet
wurden, stäts (wie Vasallen) zum Kriege gerüstet zu seyn, mit Waffen
und Pferden, und diese Verpflichtung wurde auf die „feoda et
tenementa“
begründet, welche sie haben. So ward die Fiction des Lehenssystems ein-
geführt, dasz der König der ursprüngliche Herr und Eigenthümer alles
englischen Bodens sei, und niemand Güter habe, die nicht unmittelbar
oder mittelbar von ihm hergeleitet seien. Gegen die Folgen dieses Sy-
stems wurde denn freilich später ernste Einsprache erhoben. Vgl. Black-
stone Comm. II. ch. 4. Reeves a. a. O. S. 6. ff.
Frankreich war das verwandte Princip: „Nulle terre sans
seigneurs“ bereits im 13ten Jahrhundert entschieden. Vgl.
Loysel II,
2, 1. Weder in Italien dagegen noch in Deutschland kam das
Lehenssystem zu so ausgedehnter Verbreitung.
tantum illi debet dominus ex domininio, praeter solam reverentiam.“
Reeves hist. of Engl. law. I. p. 126. Assises de Jerusalem Haute Cour
322 (Kausler S. 372): „Lassise et la lei de Jerusalem juge et dit que
autant doit li rois de fei a son home lige, come lome lige doit a luy, et auis
est tenus li rois de guarentir et de sauver et de desfendre des homes
liges vers toutes gens qui tort lor vorreent faire com ses homes liges
sont tenus a luy de guarentir le et de sauver vers toutes gens. Et por ce
ne pent il mie mettre la main sur son home lige sans esgart de ces
pers.“
dem Gott das weltliche Schwert verleiht; woraus denn folgt, dasz die
Könige ihre Macht durch die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese
Theorie kam indessen nicht zu voller practischer Geltung; und die Könige,
obwohl sie die höhere Würde des Kaisers respectirten, leiteten doch ihre
Macht unmittelbar von Gott ab. Altes französisches Rechtssprüchwort:
„Le Roi ne tient que de Dieu et de l'Épée.“ Loysel I. 2.
leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vanlen, dar die
man af moge des rikes vorste wesen, he ne vntva't von deme
koninge.“
III. 64. §. 5. Koninges ban ne mut nieman lien wen die koning selve.Die koning ne mach mit rechte nicht weigeren den ban to liene, deme
it gerichte gelegen is.
potentia in nullo abuti volentes, omnia negotia reipublicac in consultatione
et sententia fidelium nostrorum disponimus.“ Mirabeau, Essai sur le despot.
Oenvres II. S. 390.
sur l'hist. de France. V.
manchen derselben werden sogar Spuren eines bäuerlichen Trotzes der
Hofleute gegen den Grundherrn sichtbar.
à loi; fügt aber beschränkend hinzu: pourvu qu'il ne soit pas fet
contre Dieu, ne contre bonnes meurs, car s'il le feroit, ne le devroient
pas si souget soufrir.“ Vgl. Laferrière in d. Revue critique de Législ.
par Wolowski IV. p. 125. Die italischen Glossatoren haben ebenso noch
eine gewisse Scheu vor dem Princip und suchen es durch die Rücksicht
auf das bestehende göttliche und menschliche Recht zu beschränken.
Sogar im Jahre 1688, noch unter Ludwig XIV. dem mächtigen Lieb-
grace de Dieu“ für sich anzusprechen. Vor Karl VII. bedienten sich die
Seigneurs gewöhnlich dieser Berufung in ihren Titeln. Schäffner,
französ. Rechtsg. II. S. 273. In dem durch die Schweizer auf Anstiften
des Königs vollzogenen Untergang des Herzogs Karl des Kühnen von
Burgund wurde nun das Haupt der hohen Lehensaristokratie erschlagen,
und damit war der Sieg des Königthums in Frankreich entschieden.
Professor Delaunay den Satz in nicht absolutistischem Sinne: „que la
loy est la volonté du Roy et non pas que la volonté du Roy soit loy.“
Aber es fanden sich zu allen Zeiten dienstbare Parteimänner, welche
über alle mittelalterlichen Schranken des römischen Princips hinweg-
setzten und eifrig für die absolute Gewalt des Monarchen kämpften.
jusqu'au Cadet du Cadet d'une Ligne appanagée, qui ne s'imagine d'être
quelque chose de semblable à Louis XIV. Il bâtit son Versailles, il a
ses maîtresses, il entretient ses armées. Ils s'abîment pour l'honneur
de leur Maison et il prennent par vanité le chemin de la misère et de
l'hôpital.“
reich vom 20. Dec. 1705: „Alle Bayern seyen der beleidigten Majestät
Josephs I. als des ihnen von Gott dem Allmächtigen vorgesetzten allei-
nigen rechtmäszigen Landesherrn schuldig, und daher ohne weiters mit
dem Strange vom Leben zum Tode zu richten! Nur aus aller-
höchster Clemenz (?) und landesväterlicher Mildigkeit (?) werde verordnet,
dasz allezeit 15 zu 15 um's Leben spielen und jener, auf den das
wenigste Loos fällt, im Angesicht aller aufgehenkt werden solle.“ Man
traut seinen Augen nicht, wenn man solchen Wahnsinn, der sich selbst
als Recht und Gnade verkündet, noch im XVIII. Jahrhundert, unmittel-
bar vor dem Zeitalter der „philosophischen Aufklärung“ begegnet.
lamentsrede: „Absolute Gewalt richtet den zu Grunde, der sie besitzt,
und ich weisz, dasz wo Gesetzlichkeit aufhört, Tyrannei beginnt.“ Gui-
zot, Essais S. 245: „c'est le vice de la monarchie pure (?)
d'élever le
pouvoir si haut que la tête tourne à celui qui le possède et que ceux
qui le subissent osent à peine le regarder. Le souverain s'y croit un
dieu, le peuple y tombe dans l'idolâtrie. On peut écrire alors les devoirs
des rois et les droits des sujets; on peut même les prêcher sans cesse;
mais les situations ont plus de force que les paroles, et quand l'inéga-
lité est immense, les uns oublient aisément leurs devoirs, les autres leurs
droits.“
soin d'une justification, elle la trouverait dans l'incompatibilité radicale
de la monarchie absolue avec le droit et par suite avec les intrérêts de
l'humanité.“
Reuszen“ einen „selbstherrlichen und absoluten
Souverän,“ und stützen
seine absolute Macht ausdrücklich auf göttliches Gebot: „Gott selber
befiehlt, sich seiner höchsten Autorität zu unterwerfen, nicht allein aus
Furcht vor Strafe, sondern aus religiöser Pflicht.“ Die Gesetzgebung
gebührt ausschlieszlich dem Kaiser, der übrigens regelmäszig den Stats-
rath vernimmt. Foelix, Revue Étrangère III. S. 700.
Macaulay (Engl. Gesch. II. S. 607) charakterisirt den Uebergang aus
der mittelalterlichen Vorstellungsweise in die moderne so: „Lange Zeit
hatte leider die Kirche die Nation gelehrt, dasz die Erbmonarchie allein
unter unsern Institutionen göttlich und unverletzlich sei, dasz das Recht
des Hauses der Gemeinen auf einen Antheil an der gesetzgebenden Ge-
walt ein blos menschliches Recht sei, dasz aber das Recht des
Königs auf den Gehorsam seines Volkes von oben stamme; dasz die
Magna Charta ein Gesetz sei, was von denen, die es gemacht hatten,
wieder aufgehoben werden möge, dasz aber die Regel, welche die Prin-
zen von königlichem Geblüt nach der Erbfolgeordnung zum Throne be-
rufe, himmlischen Ursprungs und dasz jeder mit dieser Regel nicht über-
einstimmende Act des Parlamentes nichtig sei. Es ist augenscheinlich,
dasz in einer Gesellschaft, in welcher solche Wahnbegriffe vorwalten,
verfassungsmäszige Freiheit immer unsicher sein musz. Eine Macht,
welche blosz als eine menschliche Ordnung betrachtet wird, kann
kein wirksamer Zügel einer Macht sein, die als Ordnung Gottes be-
trachtet wird. Die Hoffnung ist eitel, dasz Gesetze, wie trefflich sie
auch sein mögen, fortwährend einen König zügeln werden, der nach
seiner eigenen Meinung und nach der eines groszen Theiles seines Volks
eine Autorität von unendlich höherer Natur hat als die Autorität, welche
diesen Gesetzen zusteht. Das Königthum dieser geheimniszvollen Attri-
bute zu entkleiden und den Grundsatz festzustellen, dasz die Könige
nach einem in keiner Weise andern Rechte regierten, als nach welchem
Freisassen die Ritter der Grafschaft erwählten oder Richter Habeas corpus
Befehle ertheilten, war für die Sicherheit unserer Freiheiten unbedingt
nothwendig. — Dieses Ziel wurde erreicht durch den Beschlusz, welcher
den Thron für erledigt erklärte und Wilhelm und Marie einlud,
ihn einzunehmen.“ Eine gute und zwischen Radicalismus und Liberalis-
mus wohl unterscheidende Darstellung gibt A. Zimmermann in seiner
kurzen historischen Entwicklung des parlamentar. Regierungssystems in
England. Berlin 1849.
die Gesetze von England das Geburts-
recht des englischen Volkes sind und alle Könige und Königinnen, welche
den Thron dieses Reiches besteigen werden, die Regierung dieses Reiches
in Uebereinstimmung mit den genannten Gesetzen zu verwalten verpflichtet
sind und alle ihre Beamten und Minister ihnen denselben Gesetzen ge-
mäsz zu dienen schuldig sind, so u. s. f.“
(Aus seinen Schriften, München
1850): „Auf dem festen Lande hat man gemeiniglich von der Stellung
eines Königs von Groszbritannien einen irrigen Begriff. Er ist ein wirk-
licher König, nicht ein vollziehender Beamter. Wenn er sich um Kleinig-
keiten nicht bekümmert, noch zur Aufmerksamkeit auf geringfügige
Zänkereien sich herabläszt, so ist es kaum zweifelhaft, ob er nicht eine
wirklichere, stärkere und ausgedehntere Macht besitze als der König von
Frankreich vor der Revolution besasz.“ Als Sir Robert Peel in neuerer
Zeit aus politischen Gründen von der Königin Victoria verlangte, dasz
sie einige Hofdamen entferne und andere an deren Stelle treten lasse,
drang die Zumuthung allerdings selbst in den Kreis des persönlichen und
Familienlebens der Königin ein, beweist aber gerade für die Wichtigkeit
auch der persönlichen Beziehungen und Gesellschaft der englischen
Monarchin für die englische Politik. Aber wahr ist es doch, dasz die
englische Statsverfassung, wenn man auf die entscheidende Macht sieht,
in neuerer Zeit zur Parlaments- und Ministerregierung
geworden
ist. Robert Peel selbst sprach im Parlament (Rede vom 11. Mai 1835)
die wichtigen Sätze aus: „Die Prärogative der Krone, die Autorität der
Lords, sind allerdings der Constitution nach mächtig genug, gelegentlich
sich heut zu Tage nicht auf diese als unübersteigliche Bollwerke ver-
lassen. Die Regierung des Landes musz hauptsächlich mit dem guten
Willen und durch die unmittelbare Thätigkeit des Hauses der Gemeinen
geführt werden.“
Mém. III. S. 32. Vgl. oben Buch II, Cap. 10. Die beste
Zeichnung des reinen Urbildes des Napoleonischen States, hinter welchem
die Wirklichkeit freilich weit zurückgeblieben ist, hat sein Neffe und
Erbe im Jahre 1839 in der Schrift „Idées
Napoléoniennes“ entworfen.
„Nous avons volontairement et par le libre exer-
cice de notre autorité royale accordé et accordons, fait
concession et
octroi à nos sujets — de la Charte constitutionelle qui
suit.“
dans la personne du Roi.“
Buche über die Demokratie Amerika's I, S. 158: „La révolution s'est
prononcée en même temps contre la royauté et contre les institutions
provinciales — elle a été tout à la fois
républicaine et centralisante: un
fait, dont les amis du pouvoir absolu se sont emparés avec grand soin.“
äuszeren Form nach ähnlich der
Napoleonischen Verfassung vom Jahr VIII (1801), aber sachlich war der
Unterschied grosz. Vgl. de Parieu Pol. S. 201.
Français.“
ihn zu nennen.
politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon
im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran-
zösischen Verfassung, welcher sich zu der Verfassung von 1852, wie die
Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters verhält.
Kaiserliches Decret vom 19. Jan. 1867.
abgedruckt in dem Portfolio von 1848.
Pölitz II, S. 263 ff., und bei Schubert, Verf. II, S. 44 ff. Vgl. be-
sonders die ausgezeichnete Darstellung von Baumgarten in Gervinus
Geschichte des XIX. Jahrhunderts, Bd. IV.
bei Pölitz II, S. 299 ff., die letztere bei Schubert, Verf. II, S. 148.
Monarchie in Belgien von Theodor Juste. 1850. 2 Bde.
deutschen Statswörterbuch.
deutschen Verfassungsgesetze
der Gegenwart, S. 74 ff.
qui concourent à la produire, l'une morale, savoir la volonté qui
déter-
mine l'acte, l'autre physique, savoir la puissance qui l'exécute. — Le
corps politique a les mêmes mobiles, on y distingue de même la
force
et la volonté; celle-ci sous le nom de puissance législative, l'autre sous
le nom de puissance exécutive.“ Mirabeau, Rede vom 1. Sept. 1789:
„Deux pouvoirs sont nécessaires à l'existence et aux fonctions du corps
politique; celui de vouloir et celui d'agir. Par le premier la
société
établit les règles qui doivent la conduire au but qu'elle se propose, et
qui est incontestablement le bien de tous. Par le second ces règles
s'exécutent, et la force publique sert à faire triompher la
société des
obstacles que cette exécution pourrait rencontrer dans l'opposition des
volontés individuelles. Chez une grande nation ces deux pouvoirs ne
peuvent
être exercés par elle-même; de là la
nécessité des représentants du peuple
pour l'exercice de la faculté de vouloir, ou de la puissance
législative;
de là encore la nécessité d'une autre espèce de
représentants pour l'exer-
cice de la faculté d'agir ou de la puissance exécutive.“ Thiers, hist. de
la révol. franç. I, S. 97: „La nation veut, le roi
fait,“ les esprits ne
sortaient pas de ces élémens simples, et ils croyaient vouloir la monar-
chie, parce qu'ils laissaient un roi comme exécuteur des volontés natio-
nales. La monarchie réelle, telle qu'elle existe même dans les États
libres, est la domination d'un seul, à laquelle ont met des bornes au
moyen du concours national. — Mais dès l'instant que la nation peut
ordonner tout ce qu'elle veut, sans que le roi puisse s'y opposer, par
le véto, le roi n'est plus qu'un magistrat. C'est alors la république avec
un seul consul au lieu de plusieurs. Le gouvernement de Pologne quoi-
qu'il y eut un roi, ne fut jamais (?) nommé une monarchie.“
Spaltung, welche in dieser Dyarchie unvermittelt vorliegt, ist
denn auch in Frankreich von der demokratisch-republikanischen Partei
wohl begriffen worden, und sie hat dieselbe benutzt, um das Königthum
gänzlich zu beseitigen.
zu Frankfurt im Jahr 1848 Recht gehabt, in ihrem Programm das „con-
stitutionelle Königthum“ als eine „Sinecure,“ als einen
„abgetragenen
Hut“ zu erklären, nur bestimmt: „einen Premierminister zu
ernennen“
(der dann regelmäszig auch aufgedrungen würde), und „für die Erzeu-
gung eines Nachfolgers“ zu sorgen.
„der Monarch habe nur Ja zu sagen, und den Punkt auf das I zu
setzen.“
Er hat nicht blosz Ja, sondern auch Nein zu sagen, und nicht blosz den
„formellen Entscheid“ zu geben, sondern auch das
reell entscheidende
Wort. Er hat nicht blosz zu entscheiden, er hat auch anzuregen und
einzugreifen, wo es noth thut. J. H. Fichte, Beitrag zur Statslehre:
„Der leerköpfigste Regent wäre dann der idealste.“
Statsmänner, und er
wird sich überzeugen, dasz auch in England eine menschlich-persönliche
Wechselwirkung zwischen der Individualität des Monarchen und seiner
Minister besteht, und es ganz irrig ist zu meinen, es komme dort auf
den Willen des ersteren nichts an. Vgl. oben Cap. 13, Anm. 3.
von 1789 gemacht. Thiers sagt von ihr sehr gut (révol. franç. II,
S. 198): „Elle était démocratique par ses idées et
monarchique par ses
sentiments.“ Die Ereignisse haben die Unhaltbarkeit eines derartigen
Zustandes dargelegt. In Frankreich hob die mächtige Demokratie das
ohnmächtige Königthum auf (1793).
Mém. II, 237. „Dieu seul est souverain et personne ici-
bas n'est Dieu, pas plus les peuples que les rois. Et la volonté des
peuples
lui-même et apporte en dot, au pays qui l'épouse, quelques-uns
des ca-
ractères naturels et indépendants de la
royauté.“
Parlaments- und der Ministerregierung wird in den fol-
genden Büchern noch näher die Rede sein.
„Un trône n'est pas un fauteuil vide,
auquel on a mis une clef pour que nul ne puisse être tenté de s'y
asseoir.
Une personne intelligente et libre, qui a ses idées, ses sentiments, ses
désirs, ses volontés comme tous les êtres réels
et vivants, siège dans ce
fauteuil. Le devoir de cette personne, car il y a des devoirs pour tous,
également sacrés pour tous, son devoir, dis-je, et la
nécessité de sa si-
tuation, c'est de ne gouverner que d'accord avec les grands pouvoirs
publics institués par la Charte, avec leur aveu, leur adhésion,
leur appui.“
sich bei Stahl:
Das monarchische Princip, S. 9. Luther in den Tischreden: „Es ist
nichts löblicheres und lieblicheres an einem Fürsten, denn dasz er frei
redet, was seine Meinung sei, und hat er Die lieb, so deszgleichen thun
und ungescheut sagen, wie ihnen ums Herz ist.“ Wie könnte er die
freie Rede Anderer achten und lieben, wäre er selber in der freien Rede
gehemmt?
sur les formes
de gouvernement: „Le souverain représente l'État: lui et
ses peuples ne
forment qu'un corps, qui ne peut être heureux qu'autant la concorde les
unit. Le prince est à la société qu'il gouverne ce que la
tête est au corps:
il doit voir, penser et agir pour toute la communauté, afin de lui pro-
curer tous les avantages dont elle est susceptible. Si l'on veut que le
gouvernement monarchique l'emporte sur le républicain, l'arrêt du sou-
verain est prononcé: il doit être actif et
intègre et rassembler toutes ses
forces pour fournir la carrière qui lui est ouverte. Le souverain est at-
taché par des liens indissolubles au corps d'État; par
conséquent il res-
sent par répercussion tous les maux qui affligent ses sujets, et la
société
souffre également des malheurs qui touchent son
souverain.“
drückt das mon-
archische Princip in dem ersten Satze nicht unrichtig aus, umfaszt
aber
archie folgt, mag die Aeuszerung eines ziemlich absoluten Fürsten,
Friedrichs des Groszen bezeugen. Er schreibt in dem Antimacchia-
vel L.: „Le Souverain bien loin d'être le Maître absolu
des peuples qui sont
sous sa domination, n'en est que le premier magistrat.“
(Anderwärts
braucht er die Ausdrücke „le premier serviteur“ — oder
„domestique de
l'État.“) Die Art, wie Mirabeau dagegen (Essai sur le
despotisme,
Oeuvres II, S. 297) die Fürsten anredet: „Vous êtes les
salariés de vos
sujets, et vous devez subir les conditions auxquelles vous est accordé ce
salaire sous peine de le perdre“ überschreitet die Grenzen der Monarchie
und setzt eine republikanische Volksherrschaft voraus. Noch bestimmter
sprach sich der preuszische König Friedrich über die wahre Stellung der
Monarchen in der ersten Audienz aus, welche er seinen Ministern er-
theilte am 1. Juni 1741. (Ranke Preusz. Gesch. I, S. 48): „Ich
denke,
dasz das Interesse des Landes auch mein eigenes ist, dasz ich kein
Interesse haben kann, welches nicht zugleich das des Landes wäre. Sollten
sich beide nicht miteinander vertragen, so soll der Vortheil des
Landes den Vorzug haben.“ Und Washington schrieb am 18.
Juni
1788 an Lafayette: „Ich verwundere mich höflich, dasz es auch
nur
einen Monarchen gibt, der nicht erkennt, wie sein Ruhm und
sein Glück
von dem Gedeihen und der Wohlfahrt des Volkes abhängig
sind.“
in dem zweiten Satze der Entwicklung der constitutionellen Statsform
ungünstig: „Die gesammte Statsgewalt musz in dem Oberhaupt
des
Stats vereinigt bleiben, und der Souverain kann durch eine landstän-
dische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mit-
wirkung der Stände gebunden werden.“ Die seitherige Ausbreitung
der constitutionellen Monarchie hat nunmehr diesen Artikel antiquirt.
unterscheidet ein per-
sönliches Vollziehungsrecht des Statshaupts von der Regierungs-
von der Volksvertretung als von den Ministern. Diese Theorie eröffnet
dem Absolutismus der Fürsten eine bequeme Hinterthüre, aber gefährdet
und untergräbt die ganze verfassungsmäszige Statsordnung.
rich Wilhelm IV. in einer Thronrede sie genannt hat, welche, weil
sie ein bloszes theoretisches Machwerk ohne Wurzeln in der Nation sind,
leicht zerrissen werden; aber die schriftliche Beurkundung einer Ver-
ihren Inhalt.
Macht erhalten, wie die alt-hellenische Volksversammlung überhaupt
in dem Zeitalter der homerischen Gesänge sie besessen hatte. Vgl.
C. Trieber, Forschungen der spartanischen Verfassungsgeschichte.
Berlin 1871. S. 114.
denen die Freiheit des individuellen Lebens vorzugsweise natürlich er-
scheint. Die spartanische Verfassung sagte aber dem hellenischen Ideal
zu. Vgl. auch Trieber in der oben erwähnten Schrift.
änderlichkeit der Verfassung eine Ursache der Entvölkerung Sparta's ge-
worden sei.
sapientissimi et sanc-
tissimi viri vim concionis esse voluerunt; quae scisceret plebes aut quae
populus juberet, summota concione, distributis partibus, tributim et cen-
turiatim descriptis ordinibus, classibus, aetatibus, auditis auctoribus, re
multos dies promulgata et cognita, juberi vetarique voluerunt. Graeco-
rum autem totae res publicae sedentis concionis temeritate administrantur.
Itaque ut hanc Graeciam, quae jamdiu suis consiliis perculsa et efflicta
est, omittam: illa vetus, quae quondam opibus imperio gloria floruit, hoc
uno malo concidit, libertate immoderata ac licentia concionum. Quum in
theatro imperiti homines, rerum omnium rudes ignarique consederant,
tum bella inutilia suscipiebant; tum seditiosos homines rei publicae prae-
ficiebant; tum optime meritos cives e civitate ejiciebant.“
Polyb. VI, 11. §. 7: „τῶν ὑπάτων ἐξουσίαν, τελείως μοναϱχιϰὸν ἐφαίνετ᾽
εἶναι ϰαὶ βασιλιϰὸν.“
potestas prohibessit.“ Es ist das nämliche Princip, welches auch im
römischen Privatrecht unter den Miteigenthümern gilt: „Neganti major
potesta.“ Vgl. Gellius Noctes Atticae XIII. 12. 15.
der Demokratie erklärt, hat Aristoteles gesagt (Polit. IV. 6, 4): „Der
Charakter der Aristokratie ist Tugend, der der Demokratie Freiheit.“
Aber die geschichtliche Realität entspricht wenig dem philosophischen
Ideal. De Parieu (Polit. S. 36.): „L'aristocratie a toujours en fait,
désigné le gouvernement des plus puissants plutôt que celui des plus
vertueux.“ In dem Buche von Parieu finden sich viele vortreffliche Be-
merkungen über die Aristokratie.
gemacht.
illa in qua opulentissimi optimi putantur.“ Herrschaft der haute finance
(Bankiers). Vgl. darüber Leo, Naturlehre d. Stats. S. 89 ff.
es sogar deutsche Rechtshistoriker zuweilen wieder vergessen. Bodin
schreibt (de Rep. lib. II.): „Et quoniam plerique imperium Germanorum
monarchiam esse et sentiunt et affirmant, eripiendus est hic. error. —
Neminem autem esse arbitror, qui cum animadverterit, trecentos circiter
Principes Germanorum ac legatos civitatum ad conventus coire, qui ea,
quae diximus, jura majestatis habeant, aristocratiam esse dubitet. Leges
enim tum Imperatori, tum singulis Principibus ac civitatibus, cum etiam
de bello ac pace decernendi, vectigalia ac tributa imperandi, denique ju-
dices Imperialis Curiae dandi jus habent. — Sceptra quidem, regale so-
lium, pretiosissimae vestes, coronae, antecessio, subsequentibus Christianis
regibus, imaginem regiae majestatis, habent, rem non habent. Et certe
tanta est imperii germanici majestas, tantus splendor, ut Imperator suo
quodam modo jure omnibus ornamentis ac honoribus cumulari mereatur:
sed ea est Aristocratiae bene constitutae ratio, ut quo plus honoris eo
minus imperii tribuatur; et qui plus imperio possunt, minus honoris
adipiscantur, ut omnium optime Veneti in republica constituenda decre-
verunt. Quae cum ita sint, quis dubitet, rempublicam Germanorum Ari-
stocratiam esse?“ Philipp Chemnitz (dissert. de ratione status in
imperio nostra Romano germ. 1640.) hat auf den Gedanken, dasz Deutsch-
land eine Aristokratie sei, seine Reformplane gegründet. Vgl. Perthes
das deutsche Statsleben vor der Revolution. 1845. §. 246. Puffendorf
(Montezambano) hat das Reich ein zwischen Monarchie und Aristokratie
schwankendes Monstrum genannt, aber ebenfalls die überwiegende Ten-
denz zur Aristokratie anerkannt.
schen Erbrechts auch in unserer Zeit noch verstanden. Sehr schön
äuszert sich darüber Edm. Burke in seinen Betrachtungen über die
französische Revolution: „Sie werden bemerken, was die übereinstim-
mende Politik unserer Verfassung von der Magna Charta bis zur Erklä-
rung der Rechte gewesen ist, unsere Freiheit als eine fideicommissa-
rische Erbschaft (an entailed inheritance) zu begehren und in An-
spruch zu nehmen, die uns von unsern Voreltern überliefert worden,
und die wir unsern Nachkommen zurücklassen sollen. Wir haben eine
erbliche Krone, eine erbliche Pairie und ein Haus der Gemeinen und
ein Volk, deren Privilegien, Gerechtsame und Freiheiten von einer langen
Ahnenreihe herstammen. Der Geist der Neuerung ist gemeiniglich das
Geschöpf der Selbstsucht und beschränkter Ansichten. Ein Volk,
welches nicht zurückblickt auf seine Vorfahren, wird auch nicht für seine
Nachkommen sorgen. Das Volk von England aber weisz sehr wohl, dasz die
Idee der Erblichkeit ein sicheres Princip der Erhaltung und ein
sicheres Princip der Ueberlieferung erzeugt, ohne irgend ein Princip
der Vervollkommnung auszuschlieszen. Es läszt den Erwerb
frei, aber es sichert das Erworbene. —Unser politisches System
steht in Verbindung und Harmonie mit der gesammten Weltordnung und
mit den Bedingungen der Existenz eines fortdauernden Körpers, welcher
aus vergänglichen und wechselnden Theilen gebildet ist. Nach der An-
ein Ganzes, indem sie die grosze geheimniszvolle Verbindung des
Menschengeschlechtes nachbildet, zu keiner Zeit alt oder jung (?), son-
dern unveränderlich fortdauernd schreitet sie fort durch den mannich-
faltigen und im einzelnen unablässigen Wechsel der Abnahme und des
Untergangs, der Erneuerung und des Aufschwungs. Indem wir so die
Weise der Natur in der Leitung des States bewahren, werden wir in
unsern Verbesserungen niemals ganz neu sein, und in dem was wir er-
halten, nie ganz alt. Indem wir so der Erblichkeit anhängen, haben
wir unserer Statsordnung das Bild einer Bluts- und Familienverbindung
aufgeprägt, verknüpfen wir unsere Landesverfassung mit unsern theuer-
sten häuslichen Banden, nehmen wir die Fundamentalgesetze auf in das
Heiligthum unserer Familienliebe, umfassen wir unzertrennlich und mit
der Wärme der verschlungenen und wechselseitig wiederstrahlenden Zu-
neigungen unsern Stat, unsern Herd, unsere Gräber und unsere Altäre.“
über den Stat der Athener. I. 1. Ebenda (II. 19.)
versichert er, „ das Volk der Athener wisse recht wohl zu unterscheiden
zwischen guten und schlechten Bürgern. Aber es ziehe die Schlechten vor, die ihm zu Willen seien, und hasse die Guten; denn es sei über-
zeugt, dasz die Tugend Einzelner nicht zum Wohl der Menge, sondern
zu ihrem Schaden in der Welt sei, und ihnen liege nichts daran, dasz
der Stat wohlgeordnet sei, sondern daran nur, dasz die Menge frei und
Herrscher sei.“ (I. 8.)
von K. Fr. Herrmann, Griech. Statsalterthümer, zu vergleichen.
kes absolut und unbeschränkt ist, da hat das Volk auch ein unendlich
gröszeres, weil ein besser gegründetes Vertrauen auf seine Macht. Es
ist selbst, bei groszen Maszregeln, sein eigenes Werkzeug, während der
Fürst ohne die Hülfe Anderer nichts thun kann. Es ist dem Gegen-
stande seiner Herrschaft näher. Daher steht es weniger unter der Ver-
antwortlichkeit jener groszen controlirenden Macht auf Erden, dem Ur-
theil des guten Rufes und der Ehre. Die Furcht vor der Schande, an
welcher jedes Individuum, wenn es sich um öffentliche Dinge handelt,
Theil hat, ist für das Volk nur gering, indem die Selbständigkeit der
öffentlichen Meinung in einem umgekehrten Verhältnisz zu der Zahl
derer steht, welche die Macht miszbrauchen. Eine vollendete Demokratie
ist daher das schamloseste Ding auf der Welt.“
erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode
des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert.
„Τὸ ἲσον ϰατ᾽ ἀϱιϑμὸν ἀλλὰ μὴ ϰατ᾽ ἀξίαν.“
Griechenland schon und später in der Schweiz durch die Erfahrung
bewährt wurde, näher aus.
geruntur quamvis justum atque moderatum, tamen aequabilitas est iniqua,
quum habeat nullos gradus dignitatis.“
pays sujets, ni privilèges de lieux, de naissance, de personnes ou de
familles.“ Bluntschli schweizerisches Bundesrecht I. S. 474. Bundes-
verf. von 1848. und von 1874. Art. 4: „Es gibt in der Schweiz keine
Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Fa-
milien oder Personen.“
fassungsänderung nach wiederholter Berathung durch den groszen Rath)
angenommen, so ist das dieszfällige Gesetz noch der gesammten Bürger-
schaft des Cantons zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.“ Schwei-
zer. Bundesverf. von 1848 und 1874. Art. 6: „Der Bund übernimmt die
Gewährleistung (der Cantonalverfassungen), insofern sie — c) vom Volke
angenommen worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute
Mehrheit der Bürger es verlangt.“
allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur
sind, sollen überdiesz dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorge-
legt werden, wenn es von 30,000 stimmberechtigten Schweizerbürgern
oder von acht Cantonen verlangt wird.“
höchsten Gewalt nach Vorschrift der Verfassung ist einem Groszen Rathe “
Bundes wird durch die Bundesversammlung ausgeübt, welche aus zwei
Abtheilungen besteht: a) aus dem Nationalrath, b) aus dem Ständerath.“
Bundesverfassung von 1874. Art. 71. Unter Vorbehalt der Rechte
des Volkes und der Cantone wird die oberste Gewalt des Bundes durch
die Bundesversammlung ausgeübt.“
Verfassung von 1848. Art. 43:
„Le peuple français délègue le pouvoir
exécutif à un citoyen qui reçoit
le titre de président de la République.“ Tocqueville de la dé mocratie en
Amérique. Tom. I.
Landesverwaltung zu. Er ist Stellvertreter des Cantons nach auszen.“
Cherbuliez, de la démocratie en Suisse. II. S. 35 ff.
Repräsentativverfassung (übersetzt von Wille). Zürich 1862.
Waitz, Grundzüge der Politik. Kiel 1862. S. 44 f.: „Beide,
die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaten müssen in ihrer
Sphäre selbständig (souverain) sein; diese darf ihre Gewalt nicht von
jener empfangen, jene nicht auf Uebertragung dieser beruhen.“ S. 153:
„Wesen des Bundesstats.“
über die für Realisirung des Bundesrechts zu
Gebote stehenden Organe und Zwangsmittel der schweizerischen Eidge-
nossenschaft. Zürich 1862.
franç. II, p. 200 von der Ansicht der
Jacobiner: „Die Nation kann nie auf ihre Befugnisz verzichten: Alles zu
thun und Alles zu wollen zu jeder Zeit; diese Befugnisz begründet ihre
Allmacht (sa toute-puissance), und diese ist unveräuszerlich. Die Na-
tion hat sich daher Ludwig XIV. nicht verpflichten können.“ Indessen
hat damals schon der Abt Sieyes den Irrthum erkannt. Bluntschli,
Gesch. d. Statsw. S. 326.
I, S. 111: „In dem Begriffe der Souveränetätsrechte liegt keine Idee der
Despotie. Der König von Groszbritannien ist unläugbar ebenso souve-
rän als jeder andere Fürst in Europa, und die Freiheiten seines Volks
befestigen seinen Thron, anstatt ihn zu untergraben.“
Reichsfürsten und Reichsstädte in dem Entwurfe des westphälischen
Friedens: „que tous les princes et Estats seront maintenus dans tous les
autres droits de souveraineté, qui leur appartiennent“ war damals für
Deutschland neu, und die Absicht weiterer Lockerung des Reichsverban-
des in dem Worte sichtlich dargelegt; aber dem Wesen nach hatten schon
lange vorher die meisten deutschen Länder in der That wenn auch nur
eine unvollkommene Souveränetät erlangt.
aber zu weit, wenn er die Souveränetät geradezu als „Einheit der
Regierung“ erklärt. Die Machtfülle und Hoheit ist immerhin der we-
sentliche Inhalt der Souveränetät.
Lainez und der Jesuiten Bellarmin und Mariana, welche, in der
Absicht die Oberherrlichkeit der Kirche über den Stat zu begründen,
und auch die Könige dem Papste, der allein von Gott seine Gewalt em-
pfange, nicht wie jene von der Menge des Volkes, zu unterwerfen, die
Volkssouveränetät in Schutz nahmen. Vgl. darüber L. Ranke's hist.
polit. Zeitschr. II, S. 606 ff. Einfluszreicher aber war in neuerer Zeit
die Ausführung dieser Lehre durch Rousseau. Er nennt das aus allen
Einzelnen gebildete Volk den Souverän. Nach ihm ist jedes Indivi-
duum zugleich ein Theilhaber der Souveränetät und hinwieder ein Unter-
than des Souveräns, und da er die Souveränetät für den allgemeinen
Willen und diesen für unveräuszerlich erklärt, so kommt er consequent
zu dem Satze, dasz die Mehrheit jederzeit berechtigt sei, der bestehen-
den Obrigkeit den Gehorsam aufzukündigen, diese zu entsetzen und die
Verfassung beliebig zu ändern. Indem sie das thut, übt sie nach Rous-
seau nur „Acte ihrer Souveränetät“ aus, und vor der leibhaften
Manifestation eines so geäuszerten Volkswillens verschwindet auch die
abgeleitete Autorität der Stellvertretung des Volks in den National-
versammlungen in Nichts. Das Volk aber kann, wie Rousseau meint,
sich selber nicht binden weder durch Verfassung noch durch Gesetze,
denn diese sind nur Aeuszerungen seines Willens, die so lange gelten
als dieser Wille selbst sie aufrecht erhalten will. — Dasz mit dieser Lehre
die Fortdauer der Rechtsordnung nicht bestehen kann, und solche Frei-
heit ohne Bestand und ohne Treue ist, bedarf keines weitern Beweises.
zwei Elemente in der Gesellschaft: das eine ein materielles, d. h.
das Individuum, seine Kraft und sein Wille“ [ — ist denn das Indi-
viduum, seine Kraft und sein Wille materiell? Und ist nicht auch hier
wieder der alte Irrthum wahrnehmbar, dasz vom Individuum aus das
Statsrecht bestimmt werde? — ] „das andere ein moralisches, d. h.
das Recht, welches aus den berechtigten Verhältnissen hervorgeht. Wollen
Sie die Gesellschaft aus dem materiellen Elemente ableiten? Die Mehr-
heit der Individuen, die Mehrheit der Willen soll der Souverän sein.
Das ist die Volkssouveränetät. Wenn mit Willen oder gegen ihren
Willen diese blinde und gewaltsame Souveränetät in die Hand eines Ein-
zelnen oder einer Classe übergeht, ohne ihren Charakter zu ändern, so
wird sie zwar zu einer weiseren und gemäszigteren Macht, aber sie bleibt
immerhin rohe Kraft. Das ist die Wurzel der absoluten Macht und der
Privilegien. Wollen sie im Gegentheil die Gesellschaft auf das moralische
Element, d. h. das Recht begründen? Dann ist die Gerechtigkeit
der Souverän, weil die Gerechtigkeit die Regel des Rechts ist. Die freien
Verfassungen haben den Zweck, die rohe Kraft zu entthronen und die
Gerechtigkeit zur Herrschaft zu erheben.“
Nation: Souveränetät zustehen müsse, wird Niemand bestreiten, sobald
man die wahre Gesammtheit der Nation in ihrer verfassungsmäszi-
gen Gestaltung, also Fürst und Volk, als das Subject der Souverä-
netät betrachtet. Macht man aber den Anspruch, dasz nicht das Ganze
einer solchen festgegliederten Ordnung, sondern irgend ein einzelner
Theil, sei es der Fürst, der da ruft: Ich bin der Stat, oder das Parla-
ment, welches den König entfernt oder wohl gar die blosze Menge der
Individuen im Lande das Volk ausmachen, so ist der Begriff in sich
unwahr und jede Folgerung aus dem Unwahren führt zum Verderben.“
Sismondi, Études I, p. 88 unterscheidet ebenso scharf zwischen der
„souveraineté du peuple“ (der Nation), die er verwirft, und der „sou-
veraineté de la nation“ (des Volks), die er anerkennt.
von England im Parlament ausgesprochen: „Gleicherweise vernehmen
wir von den Richtern, dasz unsere königliche Würde nie erhabener steht,
als während der Parlamentsversammlungen, wo wir als Haupt und ihr
als Glieder dermaszen zu einem politischen Körper verbunden und ver-
einigt sind, dasz unserer eigenen Person und dem gesammten Parlament
für geschehen und angethan gilt, was auch nur dem geringsten Mitgliede
des Hauses widerfährt.“ John Russell, Geschichte der englischen
Verfassung etc. 3.
56) verwirft nicht blosz für die deutschen Staten auch diese Stats-
souveränetät und behauptet, die Monarchie könne überhaupt nur die
Fürstensouveränetät, wie die Republik nur die Volkssouveränetät aner-
kennen. Das römische Statsrecht, welches die majestas populi Romani
sowohl in der republikanischen als in der kaiserlichen Periode procla-
mirte und die lex immer als voluntas populi Romani auffaszte und welches
hinwieder zur Zeit der Republik den Consuln ein regium imperium und
dem Senate die ganze oberste Verwaltungs- und Steuerhoheit (doch ge-
wisz ein Stück Regierungssouveränetät) beilegte, bleibt bei dieser Annahme
ebenso unerklärt, wie das englische Statsrecht, welches die Souveränetät
des Parlaments und des englischen Stats (Volks) in Harmonie bringt
mit der Souveränetät des Königs. Dasz völkerrechtlich auch die
deutschen Staten (ganz abgesehen von den Fürsten) als souveräne
Personen gelten, kann nicht bestritten werden. Wer aber eine Person ist
im Verkältnisz zu andern Staten, wird auch eine Person sein im Verhält-
nisz zu den Individuen im State und zu den Würdeträgern des States.
Die Gesetze sind auch in Deutschland Statsgesetze, und die Statsschulden
werden auch in Deutschland von den fürstlichen Schulden unterschieden;
d. h. auch das deutsche Statsrecht kann sich — trotz aller Reminiscenzen
an die frühere patrimoniale oder absolute Fürstengewalt — vor der nun
nicht verschlieszen, dasz das Volk doch noch etwas anderes und höheres
bedente als die Gesammtheit der Gehorchenden und dasz der Stat eine
Existenz, eine Hoheit und Machtfülle habe, die nicht ganz von der Hoheit
und Machtfülle der Fürsten aufgezehrt werde. Ich gebe Zöpfl zu, dasz
man durch die ausschlieszliche Behauptung der Fürstensouveränetät nicht
logisch genöthigt wird, dieselbe als schrankenlos aufzufassen; aber die
neuere Geschichte hat unwiderleglich bewiesen, dasz die Ueberspannung
der fürstlichen Gewalt und die Miszachtung der Volksrechte in den deut-
schen Ländern ebenso wie in den romanischen Ländern in dem Princip
der ausschlieszlichen Fürstensouveränetät jederzeit eine gefährliche Un-
terstützung gefunden hat.
vitatis. Is eam minuit, qui exercitum hostibus populi Romani tradidit.“
Partit. orat. c. 30 — „minuit is, qui per vim multitudinis rem ad sedi-
tionem vocavit.“ Auctor ad Herennium II, 12 —: „minuit quia ea tollit
ex quibus civitatis amplitudo constat — qui amplitudinem civitatis de-
trimento adficit.“ Vgl. Heineccii Antiquit. rom. IV, 18, 3. 46.
unterworfenen Staten die Formel aufzunehmen: „imperium majestatem-
que populi Romani conservanto sine dolo malo.“ Cicero pro Balbo. 16.
Livius 38. 11.
politischen Systemes ist das anerkannte Recht des Volkes, seine Ver-
fassung zu constituiren und zu ändern. Aber bis dasz dieselbe umge-
wandelt oder abgeändert ist durch einen offenbaren Act des National-
willens, musz die Verfassung von jedem Bürger verbindlich und heilig
geachtet werden. Das Recht und die Macht des Volkes eine Verfassung
einzuführen, schlieszt die Idee in sich, dasz jeder Einzelne sich derjeni-
gen unterwerfen musz, die eingeführt ist. Jede Opposition gegen die
Ausführung der Gesetze, jede Verbindung die darauf ausgeht, die Thätig-
directem Widerspruch mit dem aufgestellten Princip.“
servativ waren, dasz der Ausbruch der französischen Julirevolution von
1830 ihm das Herz gebrochen, äuszert über diese Frage (Gesch. des Zeit-
alters der Revol. I. S. 211): „Wer den Satz „Noth kennt kein Gebot“
verkennt, redet dem abscheulichsten das Wort. Wenn ein Volk mit
Füszen getreten wird und auf's Blut gemiszhandelt ohne Hoffnung auf
Besserung, wie die Griechen unter den Türken, wo kein Weib ihrer Ehre
sicher war, wo keine Spur von Recht bei den Tyrannen zu erlangen ist;
theil verfochten: „Ich habe inmitten der Verfolgungen und ohne Unter-
so rechtmäszig wie irgend etwas. Wer da die Rechtmäszigkeit des Auf-
standes verkennt, der musz ein elender Mensch sein.“
Wahrheit in einer Zeit zu verkünden gewagt, als sie noch nicht aner-
kannt war; der Lauf der Revolution hat dieselbe entwickelt.“ Aber das
französische Volk hat die schweren Folgen seiner Verirrungen mit groszem
und nachhaltigem Unglück büszen müssen, und die Geschichte hat über
dasselbe ein ernstes Strafgericht gehalten.
Regentensouveränetät überdem damit, dasz der „allgemeine Wille“
nur dem ganzen Volk zustehen könne; ein Theil des Volkes dagegen
könne nur einen besonderen Willen äuszern, nur jenes daher Gesetze,
417.
die höchste Statsmacht nur in der Gesetzgebung und nicht auch in der
Regierung offenbar werde.
für höher als die Tributcomitien. Cicero de Legibus III, 19: „Descriptus
populus censu, ordinibus, aetatibus plus adhibet ad suffragium consilii,
quam fuse in tribus convocatus.“
habento.“ Ulpianus in L. 2. D. de in jus vocando: „Magistratus, qui im-
perium habent, qui coercere aliquem possunt, et jubere in carcerem duci.“
Ulpianus L. I. pr. D. si quis jus dicenti: „Omnibus magistratibus . . .
secundum jus potestatis suae concessum est jurisdictionem suam defen-
dere poenali judicio.“
dorf S. 124.
dacht. Er nennt auch die richterliche Gewalt eine „puissance exécutrice
des choses, qui dépendent du droit civil, und unterscheidet sie so ob-
jectiv von der eigentlichen „puissance exécutrice des choses, qui dé-
pendent du droit des gens.“ Nach ihm aber haben andere, unter ihnen
auch Kant (Rechtslehre, §. 45) und Spittler (Vorlesungen über Politik,
§. 15), jene wunderliche Meinung angenommen. Vgl. dagegen Stahl,
Lehre vom Stat II, §. 57.
Er erkennt in dem Befehle die Haupteigenschaft der obrigkeitlichen
Gewalt.
erinnern, in seiner bewundernswürdigen Abschiedsadresse vom Jahre 1796:
„Es ist wichtig, dasz die Männer, welche in einem freien Lande an der
öffentlichen Gewalt Theil haben, sich innerhalb der verfassungsmäszigen
Grenzen halten und nicht die einen in die Befugnisse der andern über-
greifen. Dieser Geist der Uebergriffe strebt darnach, alle Macht aus-
schlieszlich in sich zu vereinigen, und folglich den Despotismus einzu-
führen, in welchem State immer er sich zeigt. Es genügt zu wissen,
wie sehr die Liebe zur Macht und die Neigung, dieselbe zu miszbrauchen,
dem menschlichen Herzen natürlich sind, um diese Wahrheiten zu fühlen.
Daher die Nothwendigkeit, die öffentlichen Gewalten durch ihre Theilung
und Vertheilung unter mehrere Inhaber, welche dieses öffentliche Gut vor
den Eingriffen Anderer schützen, ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist
nicht minder nothwendig, die Gewalten in ihren Schranken zu
halten, als dieselben einzusetzen.“
den. Dadurch wird ihr eigentlicher Charakter aber nicht geändert. Vgl.
Welcker im Statslexikon u. d. W. Statsdiener.
Beamte, den er den eigentlichen Regierungsbeamten entgegensetzt, und
Recht aufmerksam gemacht. Wenn er aber die Statsangestellten Sub-
Gattung von Statsbeamten passen.
Gibbons Geschichte des
römischen Reichs Cap. 16.
die auch unter den wirklichen Beamten stattfindet. Man kann den Gegen-
satz auch bezeichnen Statsbeamte und Amtsgehülfen.
hut 1808. — Zachariä, D. St. 136. Schmitthenner, Statsrecht
S. 509 verwirft zwar jene legistische Auffassung mancher neueren Juri-
Verhältnisse als maszgebend ansahen, wo die Römer selbst in ihrem State
nie daran gedacht, dasselbe anzuwenden; aber er behauptet doch, der
Statsdienst werde durch Vertrag, nur keinen obligatorischen einge-
gangen. Dieser Vertrag nämlich „gehe der Bestallung als causa prae-
cedens voran, wie der Investitur bei dem Lehen der Lehensvertrag.“ Aber
diese Ansicht ist ebenfalls irrig. Vorhergehende Verträge der Art kommen
in der Wirklichkeit nur ausnahmsweise vor, denn die Anfrage, ob je-
mand ein Amt annehmen würde, und die Zusage desselben bewirkt noch
keinen Vertrag. Ein solcher Vertrag müszte somit fingirt werden, und
dafür gibt es keinen Grund. Wo er aber ausnahmsweise vorkommt, da
wirkt er auch nur privat-, nicht statsrechtlich, gehört also nicht hieher.
Die Annahme der Anstellung, welche dieser nachfolgt, und die Ablehnung
derselben sind zwar freilich Willensacte des Individuums, welches das
Amt übernimmt oder ausschlägt. Aber sie ändern den obrigkeitlichen
Charakter des Decretes nicht.
landes von Mittermaier XVI. S. 431 ff. Ed. Laboulaye de l'enseig-
nement et du noviciat administratif en Allemagne in Wolowsky Revue
XVIII. Bluntschli Deutsche Rechtsschulen. 2. Aufl. S. 92 ff. Vivien
Ét. Adm. I. S. 205. v. Mohl Politik Bd. II.
Selbstverw. S. 76.
dieses vergl. Story III. 37. §. 120. Für Deutschland Zachariä D. St.
§. 136.
oder wo, wie im Kanton Appenzell, das Statswesen so einfach wie eine
Gemeinde geartet ist.
und dem obersten Gerichtshofe von Nordamerika bei Story III. 37.
§. 120. Jener behauptete: erst die Zustellung der Ernennungsurkunde
an den Beamten, nicht schon die Bestellung verleihe diesem das Recht.
Dieser dagegen bewies ausführlich, dasz der Anstellungsact der Zustellung
der Urkunde und der Annahme vorhergehe, und in sich alle Bedingungen
der Wirksamkeit enthalte, so dasz der anstellenden Regierung von da
an nicht mehr das Recht zustehe, die Anstellung ungeschehen zu machen.
Zachariä, D. St. §. 136 beschränkt die Wirkung der Anstellung auf
die privatrechtlichen Folgen. Indessen ist diese Beschränkung weder
nöthig noch richtig, denn eben als Statsact (nicht als Privatvertrag)
wirkt schon die beurkundete Ernennung, und die Verschiebung der Amts-
pflichten in Ausübung des Amts bis zur Einkleidung widerspricht der
früheren Gültigkeit des Rechtes auch mit Bezug auf die Einweisung in
das Amt keineswegs.
§. 17-19.
ausgesprochen; z. B. für Hannover 1833, §. 161: „In gehöriger Form
erlassene Befehle vorgesetzter Behörden befreien sie (die Beamten) von
der Verantwortung und übertragen dieselbe an den Befehlenden,“ und
von Meiningen §. 104 und von Altenburg §. 37 geradezu: „Die
Verantwortlichkeit für jede gesetzwidrige Verfügung haftet zunächst auf
demjenigen, von welchem sie ausgegangen ist; Befehle einer höhern Be-
hörde decken solche nur, wenn sie in gehöriger Form von dem compe-
tenten Obern ausgegangen sind, wodurch dann dieser verantwortlich
zu verstehen, obwohl er allerdings in der Begründung nicht glücklich
den Beamten zur „Maschine“ macht; denn die Verpflichtung zur Remon-
stration gegen ungerechte Aufträge erkennt er an, und beschränkt auch
die Pflicht des Gehorsams in formeller und materieller Beziehung. S. 208.
Der Ausdruck Gönners hat übrigens einen mönchischen Beigeschmack.
XXIII.): „So lange ich die Ehre haben werde, die öffentlichen Ange-
legenheiten zu leiten, werde ich nie mit Wissen an irgend eine wichtige
Stelle einen Mann setzen, dessen politische Maximen mit den allgemeinen
Ansichten der Regierung in Widerspruch sind. Das wäre meines Erach-
tens politischer Selbstmord.“ Wie lebhaft auch deutsche Statsmänner
das Uebel empfunden haben, welches dem State untreue Beamte bereiten,
zeigt folgende leidenschaftliche Aeuszerung des Ministers Stein (Leben
desselben von Pertz II, S. 501): „Der Frechheit und Verwilderung in
der Stimmung besonders des gröszten Theils der öffentlichen Beamten
wird nicht anders entgegengewirkt werden können, als durch sehr strenge
Maszregeln, plötzliche Entsetzungen, Verhaftungen, Verbannungen nach
kleinen Orten der Menschen so sich bemühen schädliche Meinungen zu
verbreiten oder die Beschlüsse der Regierung zu untergraben.“
Die preuszischen Verordnungen vom 10. und 11. Julius 1849 unter-
scheiden zwischen Amtsverbrechen und bloszen Dienstvergehen, und ent-
halten ausführliche Vorschriften über das Dicsiplinarverfahren in den
Fällen der letzten Gattung. Die erstere bezieht sich auf die Dienstver-
gehen der Richter, die zweite regelt das Verfahren gegen die nichtrichter-
lichen Beamten. Vergl. Dollmann Artikel Amtsverbrechen und Amts-
vergehen in Bluntschli's Deutschem Statswörterbuch.
Statseinrichtungen
Englands, übersetzt von Kühne S. 305. Wie schwer es auch in Eng-
land ist, gegen den furchtbaren Amtsmiszbrauch der Machthaber eine
Klage mit Erfolg anzustellen, das hat neuerlich die Geschichte der
Unterdrückung des Negeraufstandes in Jamaica gezeigt.
Beamten) gehört, dasz der Beamte sich durch sein Verhalten in und
auszer dem Amte der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens würdig
beweise, die sein Beruf erfordert.“
entlassung musz insbesondere dann erfolgen, wenn der Beamte die Pflicht
der Treue verletzt, oder den Muth, den sein Beruf erfordert, nicht
bethätigt, oder sich einer feindseligen Parteinahme gegen die
Statsregierung schuldig gemacht hat.“
Landrecht II. 10. §. 95: „Die Entlassung (auf An-
suchen des Beamten) soll nur alsdann, wenn ein erheblicher Nachtheil
für das gemeine Beste zu besorgen ist, versagt werden.“
Bayerisches
Edict von 1818, §. 22: „Der Statsdiener kann zu jeder Zeit, ohne alle
Motivirung, seine Entlassung aus dem Statsdienste nehmen. Er verliert
in diesem Falle den Standes- und Dienstesgehalt mit dem Titel und
Functionszeichen.“
das Amt ein Jahr lang verwaltet hat, für die drei nächsten Jahre von
der Verpflichtung frei, dasselbe zu übernehmen. Blackstone, Comm.
I. 9, 1.
schen Ländern zusammengestellt. Ueber Belgien vergl. Gesetz vom
31. Jul. 1844.
1792 ausdrücklich ausgesprochen §. 10: „Auch soll kein Reichshofrath
seiner Stelle anders als nach vorhergegangener rechtlicher Cognition und
darauf erfolgtem Spruche Rechtens entsetzt werden.“ Vergl. auch den
Reichsdeputations-Hauptschlusz von 1803, §. 91.
frühere Erlöschung des Richteramtes durch den Tod des Königs auf-
gehoben.
Story III. 38, §. 228.
f.
inconsequent, wenn in Nordamerika das Recht der Ab-
setzung von Beamten dem Präsidenten allein auch in den Fällen über-
lassen worden war, wo die Anstellung auf der Mitwirkung des Senats
beruht. Gesetz von 1789, Story III. 37, §. 119. Nun seit 1868
geändert.
satz verkennen und so weit gehen, das Recht des Beamten auf seine
Amtsbefugnisse als ein während einer gewissen Zeit überall nicht
aus öffentlichen Gründen entziehbares aufzufassen.
einen Rechtsspruch von ihren Stellen mit Verlust des damit verbundenen
Gehaltes entlassen oder derselben entsetzt werden.“ Belgische §. 100:
„Der Richter werde auf Lebenszeit ernannt. Ein Richter kann nur durch
einen Urtheilsspruch seines Amtes beraubt oder für eine Zeit lang ent-
setzt werden. Die Versetzung eines Richters kann nur in Folge einer
neuen Ernennung und mit seiner Bewilligung stattfinden.“
Spanische
§. 66. Portugiesische §. 120-123. Oesterreichische von 1849
§. 101: „Kein vom State bestellter Richter darf nach seiner definitiven
Bestellung, auszer durch richterlichen Spruch, von seinem Amte zeit-
andern Dienstort überwiesen oder in den Ruhestand versetzt werden.
Diese letztere Bestimmung findet jedoch auf Versetzungen in den Ruhe-
stand, welche wegen eingetretener Dienstuntauglichkeit nach den Vor-
schriften des Gesetzes erfolgen, sowie auf jene Veränderungen im Richter-
personale, welche durch Aenderung in der Einrichtung der Gerichte noth-
wendig werden, keine Anwendung.“ Preuszische §. 87.
„[Die Richter]
können nur durch Richterspruch aus Gründen, welche die Gesetze vor-
geschrieben haben, ihres Amtes entsetzt oder zeitweise enthoben
werden.“
Heffter.
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Bluntschli, Johann Caspar. Allgemeine Statslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjfd.0