Critiſcher, Poetiſcher,
und anderer geiſtvollen
Schriften,
des Urtheiles und des Witzes
in den Wercken
der Wohlredenheit und der Poeſie.
Bey Conrad Orell und Comp.1743.
Von dem wichtigen Antheil,
den das Gluͤck beytragen muß,
einen
Epiſchen Poeten
zu formiren.
Nach den Grundſaͤtzen derInquiry into
the live and the Writings of
Homer.
JEdermann wird mir einraͤumen, daß eine
Menge zufaͤlliger obgleich natuͤrlicher Urſa-
chen zuſammen eintreffen muß, einen ſol-
chen ſtarken und maͤchtigen Geiſt zu formieren,
wie Homers oder Virgils geweſen ſind, aber
wohl die wenigſten werden uͤberlegt haben, was
vor Zufaͤlligkeiten dieſes ſeyn, wie wichtig und ſelten
ſie ſeyn, und von was vor eigentlichen gantz ver-
ſchiedenen Urſachen ſie entſtehen. Eine Unterſu-
chung, welche uns nicht laͤnger in der ungewiſ-
ſen Verwunderung laſſen wird, daß in etlichen tau-
ſend Jahren nicht mehr als zween oder drey Men-
ſchen in dergleichen gluͤkliche Zufaͤlligkeiten gera-
then ſind, welche den homeriſchen Geiſt hervor-
gebracht haben!
Zum allererſten koͤmmt es nicht wenig auf die
Temperatur des Clima, und die Beſchaffenheit
des Bodens an; eine zu fette und zu fruchtbare
Ebene macht die Einwohner weibiſch, und gebiehrt
Traͤgheit und Schlaͤfrigkeit: Dahingegen eine
[Crit. Sam̃l VII. St.] A 2reine
[4]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
reine und milde Luft, mannigfaltige Fruͤchte und
Felder, ſchoͤne Fluͤſſe in groſſer Anzahl, beſtaͤndig
kuͤhle Luͤfte, wann ſie zuſammen kommen, die Ge-
burten der Natur in allen Arten zu der hoͤchſten
Vollkommenheit bringen. Sie floͤſſen dem Men-
ſchen ein ſolch mildes Temperament und Leben
der Phantaſie ein, welche ihm die weiteſten Durch-
ſichten geſtatten, und die feineſten Begriffe von
der Natur und der Wahrheit mittheilen.
Nach der gemeinen Eintheilung der Himmels-
ſtriche bringen die rauhen und kalten, die ſtaͤr-
keſten Coͤrper und die martialſten Geiſter, her-
vor; die heiſſen, traͤge Leiber, mit kunſtreichen und
hartnaͤkigten Leidenſchaften; aber die gemaͤſſigten
Gegenden, die unter dem guͤtigen Einfluſſe eines
muntern Himmels ligen, haben das beſte Ge-
ſchike fuͤr eine feine Vorſtellungskraft, und eine
geſchiktverfaſſte Wohlredenheit. Geſunder Ver-
ſtand iſt zwar, wie man ſagt, eine Frucht, die
in allen Laͤndern waͤchßt, und ich glaube es auch
in der That; allein die herrlichſten Baͤume und
ihre ſchoͤnſten Zweige und Reiſer, ſproſſen, ſo wie
andre Pflantzen, und wachſen in dem beſten Bo-
den und an den Orten, wo ſie die gluͤklichſte Lage
haͤben.
Wenn ein Menſch in einem ſolchen Land und
unter einem ſo geneigten Aſpect der Natur in die
Welt gekommen iſt, ſo ſteht ihm hiernaͤchſt ein
groſſes darauf, wie er bey ſeiner Ankunft in die
Welt empfangen werde, in was vor einem Zu-
ſtande er die Dinge finde, und was vor Lenkun-
gen dieſe in einem erhabenen Geiſt, und hurtigen
Gemuͤ-
[5]fuͤr die epiſche Poeſie.
Gemuͤthe nothwendig hervorbringen. Leute, wel-
che mit Regierungsgeſchaͤften viel umgegangen
ſind, wiſſen am beſten, was vor Veraͤnderungen
die Zucht, Pflege, und Auferziehung hervorbrin-
gen koͤnnen, und ſind nicht erſtaunt, wann ſie
ſehen, wie die Menſchen mittelſt derſelben gleich-
ſam neugeſtaltet, und ſeltſamer verwandelt wer-
den, als durch die Zauberkuͤnſte der Urganda und
der Circe.
Junge Gemuͤther koͤnnen von den Umſtaͤnden des
Landes, worinnen ſie gebohren und auferzogen
werden, ſo ſtarcke Eindruͤke empfangen, daß ſie
eine gewiſſe Aehnlichkeit mit dieſen Umſtaͤnden an
ſich nehmen, und die Merkmale der Lebensart, wel-
che ſie durchlaufen haben, mit ſich tragen. Ein
Menſch der groſſes Ungluͤk gehabt hat, iſt von
einem, der alle ſeine Lebenstage in voller Wohl-
farth zugebracht hat, leicht zu unterſcheiden; und
eine Perſon, die bey der Arbeit auferzogen wor-
den, hat ein gantz anders Ausſehen als eine an-
dere, die im Muͤſſiagang und in Wolluͤſten alt
worden iſt. Beydes unſer Verſtand und unſre
Auffuͤhrung fuͤhren das Gepraͤge unſers beſon-
dern Amtes, Standes, und unſerer Begegniſſe;
und wie eine adeliche Auferziehung einen Edelmann,
und eine baͤuriſche einen Landmann formiert, alſo
empfinden unſre Gemuͤther und Sitten gleicher-
geſtalt den Einfluß, den der Lauf unſers Lebens auf
ſie thut. Jn dieſer Betrachtung duͤrften die Um-
ſtaͤnde, welche die groͤſten Wuͤrkungen auf uns zu
haben ſcheinen, aus folgenden beſtehen.
A 3Erſt-
[6]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
Erſtlich, der Zuſtand des Landes, wo eine Per-
ſon gebohren und erzogen iſt, worunter ich die
allgemeinen Sitten der Einwohner mitbegreiffe,
ihre Policey und Religion, mit deren U [...] und
Folgen; nemlich ihre Sitten, wie ſie uͤberhaupt
bey einer Nation ausſehen, ſofern ſie wohlgeſit-
tet und wohlgezogen oder barbariſch, wolluͤſtig
oder einfaͤltig und roh iſt.
Hiernaͤchſt die Sitten der Zeiten, oder die
herrſchenden Naturelle und die Gewerbe, die den
Schwang haben. Dieſe zwey Stuͤke treffen ein
gantzes Volk an, und haben ihre Wirkung auf
daſſelbe insgeſamt.
Von einer engern Natur iſt erſtlich die abſon-
derliche Auferziehung, und dann der eigene Weg,
in den wir in unſerm Leben einſchlagen, mit un-
ſerm Gluͤck in demſelbigen.
Von dieſen Umſtaͤnden empfangen die Leute in
allen Laͤndern ihre Character und ihre Manieren.
Sie machen uns was wir ſind, in ſoferne als ſie
ſich uns empfindlich machen, und geben uns eine
abſonderliche Form, und Ausſehen. Eine Veraͤn-
derung nur in einem einzigen verurſachet eine Ver-
wandlung an uns; und wenn man ſie zuſammen
nimmt, muͤſſen wir ſie als die Modelle anſehen,
welche dieſe Gewohnheiten und Fertigkeiten in uns
formieren, die unſer Verhalten lenken, und unſre
Handlungen unterſchiedlich beſtimmen.
Es
[7]fuͤr die epiſche Poeſie.
Es giebt Dinge, welche zwar in allen Welt-
altern begegnen, aber doch ſehr ſchwer zu beſchrei-
ben ſind. Wenig Leute ſind tuͤchtig ſie zu be-
merken; und darum ſind keine Worte gemacht
worden, ſolche Begriffe auszudruͤken, welche von
den entfernteſten Einſichten in die menſchlichen
Sachen hergenommen ſind. Von dieſer Art iſt
ein Umſtand, welcher das Schikſal aller Natio-
nen begleitet. Man mag ihn den Fortgang oder
Anwachß der Sitten nennen. Er entſteht groͤ-
ſtentheils von unſerm Gluͤck oder Ungluͤck. So
wie unſere Sachen ins Aufnehmen oder Abneh-
men kommen, ſo leben wir auch und ſo lenken
wir uns. Die groͤſſeſten Veraͤnderungen in
denſelben verurſachen die merklichſten Veraͤnde-
rungen bey einer Nation: Denn die Sitten
eines Volkes bleiben ſelten auf einem Orte be-
ſtehen, ſondern putzen ſich aus, oder verſchlim-
mern ſich. Bey Nationen, wo viele Jahre lang kei-
ne merkliche Gluͤkesveraͤnderungen begegnen, wird
das mannigfaltige Aufnehmen oder Abnehmen in
ihrem moraliſchen Character deſto weniger wahr-
genommen: Aber wann durch einen Landesuͤber-
fall oder Eroberung und Bezwingung die Geſtalt
der Dinge gantz und gar verkehret; oder wenn
die Ureinwohner und erſten Anbauer eines Landes
mittelſt Policey und guter Verfaſſungen aus ei-
nem Stand der Unwiſſenheit und Barbarey zu
Reichthum und Macht gelangen, alsdann werden
die Stufen des Anwachſes merklich: Wir koͤn-
A 4nen
[8]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
nen dann alle Dinge im Wachſen ſehen, geſtalt
der Genius und die Seele ſelbſt des Volkes ſich
zu hoͤhern Dingen, und einer edlern Art der Sit-
ten erhebet.
Es iſt ein Gluͤk fuͤr einen Poeten in dieſen Zei-
ten gebohren zu ſeyn. Er ſieht dann Staͤdte ge-
pluͤndert, die Maͤnner durch das Schwerdt fal-
len, und die Weiber zu Sclavinnen gemacht. Er
ſieht ihre hoffnungsloſen Angeſichter und flehenden
Stellungen, hoͤret ihr Trauren uͤber ihre erſchla-
genen Ehgatten, und ihre Bitten fuͤr ihre Kinder.
Er ſieht ferner Staͤdte die mit Frieden geſegnet,
und von der Freyheit belebet ſind, die ſtarke Com-
mercien treiben, und an Reichthum zunehmen.
Wenn er fuͤr ſeine Perſon nicht in die Haͤndel
verwikelt iſt, ſo daß ſeine Aufmerkſamkeit nicht
zerſtreuet wird, ſo kan er die mannigfaltigen Schau-
ſpiele durchwandeln, und ſie mit aller Muſſe beob-
achten. Denn wirds fuͤr ihn ein lehrreicher An-
blick ſeyn, wenn er eine Colonie von Land fuͤhren,
eine Stadt in Grund legen, Policey und Ord-
nung verfaſſen ſieht, wo nichts, was zur Sicher-
heit des Volkes dienen mag, aus der Acht gelaſ-
ſen wird. Dergleichen Scenen geben weite, aus-
gedaͤhnte Durchſichten, die dabey gantz natuͤrlich
ſind, inmaſſen ſie die unmittelbare Wirkung der
groſſen Mutter der Erfindung ſind, nemlich der
Nothwendigkeit, die dann in ihren jugendlichen
und ungelernten Verſuchen begriffen iſt.
Die Wichtigkeit dieſes Gluͤkes wird am beſten
erhellen, wenn wir die Luſt betrachten, die von
den Vorſtellungen natuͤrlicher und einfaͤltiger Sit-
ten
[9]fuͤr die epiſche Poeſie.
ten entſpringt. Sie verzuͤken uns, und man kan
ihnen nicht widerſtehen. Dieſelben zeigen uns die
Beduͤrffniß und die Empfindungen des Menſchen
am deutlichſten. Sie geben uns das, was ein un-
verſtelltes Gemuͤthe bewegt, und die Wege, die
es braucht ſich zu vergnuͤgen, aufrichtig heim.
Guͤte und Ehrlichkeit haben an dieſem Ergetzen
ihren Antheil, denn wir legen eine Liebe an dieſe
Leute und haben lieber mit ihnen zu ſchaffen, als
mit ſpitzfuͤndigen, oder zweyzuͤngigen Charactern.
Alſo, wenn die verſchiedenen Werke, die zu dem
Bau eines Hauſes, oder eines Schiffes erfodert
werden, oder die zur Anbauung eines Feldes
oder Verfertigung eines Stuͤckes von Gewehr ge-
hoͤren, mit Abſicht auf die Empfindungen und den
Fleiß des Manns, der damit beſchaͤftigt iſt, be-
ſchrieben werden, ſo geben ſie uns ein hertzliches
Ergetzen, weil wir eben dergleichen fuͤhlen. Un-
ſchuld, ſagen wir, iſt ſchoͤn; die Abriſſe derſelben
koͤnnen nicht anders, als entzuͤcken. Zeugen deſ-
ſen ſind die wenigen Zuͤge von dieſer Art in Dry-
dens Eroberung Mexico, und der bezauberten
Jnſel.
Dem gemaͤß finden wir bey Homer ſehr klei-
ne Umſtaͤnde von Haͤuſern, Tiſchen, und Lebens-
arten der Alten beſchrieben, und wir leſen dieſel-
ben mit Ergetzen. Aber wenn wir unſre eigenen Ge-
wohnheiten betrachten, finden wir im Gegentheil,
daß wir, wann wir in dem hoͤhern Tone poetiſieren
wollen, vor allen Dingen unſern alltaͤglichen Wan-
del verlernen muͤſſen; wir muͤſſen unſer Schlaf-
fen, Eſſen, und Zeitvertreib vergeſſen, wir ſehen
A 5uns
[10]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
uns genoͤthiget, eine Seriem natuͤrlicherer Sitten
an uns zu nehmen, welche uns doch gantz frem-
de ſind, und ſo wie Pflantzen in Zwingbeten zu-
wegegebracht werden muͤſſen. Ja es iſt ſo fern,
daß wir die Poeſie mit neuen Bildern, die von
der Natur gehohlet ſeyn, bereichern, daß wir mit
ſchwerer Muͤhe die alten noch verſtehen. Wir
leben hinter dem Ofen, und gleichſam vor dem
Angeſichte der Natur verborgen. Wir laſſen
unſre Tage in einer tieffen Unerkenntniß ihrer
Schoͤnheiten vorbeyſtreichen. Wir denken gerne,
die Gleichniſſe, ſo von ihr hergenommen ſind,
ſeyn niedrig, und die alten Sitten gemein oder
ungereimt. Aber laſſet uns aufrichtig ſeyn, und
bekennen, daß die neuern Poeten in der Zeit, da
ſie nur den Pomp bewundern, und nichts vor
Groß oder Schoͤn gelten laſſen, als was durch
Reichthum zuwegegebracht wird, ſich ſelber die
angenehmſten und natuͤrlichſten Bilder vorenthal-
ten, welche die alte Poeſie ausgeſchmuͤket haben.
Staat und Schoͤn verſtellen den Menſchen; und
Reichthum und Ueppigkeit verſtellen die Natur.
Jhre Wirkungen ſind in den Beſchreibungen wie
dieſe Urſachen. Eine groſſe Proceſſion laͤßt ſich nicht
mit ſonderlicher Luſt leſen, wenn ſie bis auf die klei-
nen Umſtaͤnde, und der Laͤnge nach beſchrieben
wird; und groſſe Cerimonien ſind in einem Gedichte
zum wenigſten eben ſo verdruͤßlich, als in dem ge-
woͤhnlichen Umgange.
Es iſt eine alte Klage, daß wir gerne alle Din-
ge verkleiden, und mehr als alle andere Dinge
uns ſelbſt. Alle unſre Titel und Vorrechte ſind
Deken
[11]fuͤr die epiſche Poeſie.
Decken, und Zuſaͤtze zu der Groͤſſe, die uns die
Natur mitgetheilt. Sie ſind in der That gluͤk-
lich gnug zu der beſten Abſicht, nemlich der Ruhe
und Ordnung in der Geſellſchaft, aber in der Poe-
ſie koͤnnen ſie kein Ergetzen geben.
Der Himmel hat einem und demſelben Lande
nicht gegeben, daß es reiche Weinſtoͤcke und krie-
geriſche Maͤnner hervorbringe. Es ſcheint auch
einem und demſelben Koͤnigreiche nicht gegeben,
daß es gantz und gar wohlgeſittet ſey, und an-
ſtaͤndigen Stof fuͤr die Poeſie an die Hand gebe.
Das Wunderbare iſt der Nerve der Epiſchen
Sayte: Aber was vor wundervolle Dinge
begegnen in einem wohleingerichteten Staate?
Schwerlich kan uns da etwas in Verwunderung
ſetzen; wir wiſſen die Springfedern der Dinge,
und die Art wie ſie geſchehen. Alle Dinge fol-
gen in der Ordnung, und der Gewohnheit oder
den Satzungen gemaͤß. Aber in einem weiten un-
gebauten Lande, wo kein eingerichtetes Regiment
iſt, oder wo das Regiment vielfaͤltig zertheilt iſt,
wo die Einwohner zerſtreut leben, und von Ge-
ſetzen und Mannszucht nichts wiſſen, in einem ſol-
chen Lande ſind die Sitten einfaͤltig, und alle Ta-
ge werden neue Begegniſſen vorfallen; Kinder
werden weggetragen oder verlohren werden; Ueber-
faͤlle; Fluchten; Befreyungen; und was ſonſt vor
Dinge die Leidenſchaften des Menſchen in der Zeit,
daß ſie vorgehen, in Feuer ſetzen, oder durch die
Beſchreibung und Nachahmung ſie wieder auf-
wecken koͤnnen.
Dieſe Dinge ſind unter einer guten Regierung
nicht zu finden; ausgenommen in der Zeit eines
ein-
[12]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
einheimiſchen Krieges, wo die Geſetze ſchweigen;
und doch bey allem dem Jammer und der Ver-
wirrung, welche dieſes groͤſte Uebel begleiten, iſt
die Zeit, da es wuͤthet, ein bequemerer Stof fuͤr
ein epiſches Gedichte, als der ruͤhmlichſte Feldzug,
der jemahls in Flandern gemachet worden. Eben
die Dinge, die in einer eingerichteten Regierung
den groͤſten Ruhm bringen, die groͤſſeſten Ehren
und hoͤchſten Bedienungen, werden ſich ſchwerlich
fuͤr die Poeſie ſchicken; die Muſe weigert ſich
ihren Zierrath an die Patenten eines Herzogs,
oder die Commiſſion eines Generals zu wenden.
Dieſe koͤnnen weder in Verwunderung ſetzen, noch
das Hertz einnehmen: Denn Friede, Harmonie,
und gute Ordnung, welche ein Volck gluͤckſelig
machen, ſind Gift fuͤr ein Gedichte, welches durch
Ueberraſchen und Verwunderung lebet.
Die Wohlfarth eines Volckes beſchneidet dem-
nach ſeinen Poeten die Fluͤgel. Sie giebt wenig
Stof fuͤr die Verwunderuug, oder das Mitlei-
den an die Hand. Aber wie, kan ein Poet nicht
dichten? Kan er nicht Sitten nachmachen, und
Begegniſſe erſinnen, wie er es gutfindet. Jſt er
nicht genugſam berechtiget, Scenen zu eroͤffnen,
und Leute und Sitten nach Belieben aufzufuͤhren.
Laſſet ihn nur ſein Vorrecht ausuͤben, ſo wird es
ihm gerathen, unſre Sitten werden ihn nicht hin-
dern, er kan ſeinen neuen Geſchoͤpfen eine Form
und Geſtalt geben, welche er will.
Allein, wiewohl dieſes viel zu verſprechen ſcheint,
ſo darf ich doch ſagen, daß ein Poet nichts gluͤk-
licher beſchreibt, als was er ſelbſt geſehen, und
daß
[13]fuͤr die epiſche Poeſie.
daß er allein in ſeiner eigenen Sprache ſchulge-
recht redet; auch daß er nur diejenigen Sitten
treulich nachmacht, welche er in ihren Originalen
gekannt und mit ihnen Umgang gehabt hat.
Dieſer Grundſatz ſcheint ſcharf, und doch wird
man in der Unterſuchung finden, daß er in der
Erfahrung gegruͤndet iſt.
Aber die Wahrheit deſſelben wird am klaͤrſten
erhellen, wenn wir ſeinen Einfluß in dem Umgan-
ge und der Auffuͤhrung betrachten. Der, wel-
cher keine Sitten als ſeine eigenen an ſich nimmt,
wird es auf einen hoͤhern Grad der Trefflichkeit
bringen, als wenn er ſich vornehmen wollte, eines
andern Menſchen Art nachzuahmen, ob dieſer
gleich ſeiner eigenen ſowohl in der Sprache als
in dem Betragen und der Stellung vorzuziehen
iſt.
Die Wahrheit zu ſagen, ſo ſind wir mit ſehr
eingeſchrenkten Gaben gebohren, unſer Gemuͤth
iſt nicht faͤhig, ſich von zwo Gattungen Sitten
Meiſter zu machen, oder mit einer Fertigkeit ſich
in verſchiedene Lebensarten zu richten. Unſere Ge-
ſellſchaft, Aufferziehung, und Umſtaͤnde machen
tiefe Eindruͤke, und formieren in uns einen Cha-
racter, den wir nach der Hand mit ſchwerer Muͤ-
he wieder ablegen koͤnnen. Nicht allein die Sit-
ten der Zeiten und der Nation, worinnen wir leben,
ſondern unſerer Stadt und Verwandtſchaft han-
gen uns an, und verrathen uns bey jeder Wen-
dung, wenn wir uns vermeinen zu verſtellen, und
gerne vor fremde angeſehen werden wollten. Die-
ſe verſtehen wir und koͤnnen ſie vollkommen wohl
ſchildern.
Dem-
[14]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
Demnach iſt es ein Gluͤck fuͤr einen Poeten, der
ſeine einfaͤltigen natuͤrlichen Bilder von dem wuͤrk-
lichen Leben hernehmen kan; der Krieger, und
Schaͤfer, und Bauern ſieht, wie er abreiſſen
ſoll; der taͤglich mit ſolchen Leuten umgehet, als
er vorſtellen will; der in ſolchen Zeiten lebet, und
ſchreibet, wo die Sitten ſo ungekuͤnſtelt und un-
verſtellt ſind, daß die Winkel und Kruͤmmen
des menſchlichen Hertzens offen vor Augen liegen;
wo die Leute noch nicht gelernet haben, ſich vor ſich
ſelbſt und ihren natuͤrlichen Luͤſten zu ſchaͤmen, folg-
lich ſie zu verbergen; wo ſie kein Bedenken ha-
ben, die Neigungen ihres Buſens zu bekennen,
und ihren Leidenſchaften oͤffentlich nachhaͤngen,
ohne Zwang und Gleißnerey.
Wer dem Auf- und Abnehmen der Staaten
nachdenket, der wird erkennen, daß zugleich mit ihren
Sitten auch ihre Sprache zunimmt und faͤllt. Die
Sprache iſt der Dolmetſcher unſrer Gedanken,
und ſoferne dieſe großmuͤthig, frey, und ungehin-
dert ſind, wird die Rede beydes in ihrem Schrot
und in ihrem Jnnhalt mit ihnen in einem Schritte
gehen. Vermittelſt deſſen wird eine Rathsver-
ſammlung von geiſtreichen und verſtaͤndigen Maͤn-
nern natuͤrlicher Weiſe Redner und Wohlreden-
heit formieren. Wann eben dieſelben Maͤnner
auf das Land gehen, und um ſich ſchauen, werden
ſie von den Gegenſtaͤnden, welche ihnen von der
Natur vor das Geſicht geleget werden, mit eben
der
[15]fuͤr die epiſche Poeſie.
der Freyheit und dem gluͤklichen Ausdruke reden;
und wenn in einem weiten Land viele dergleichen
Provintzen (*) ſind, die eine und dieſelbe Sprache
reden, aber in verſchiedenen Mundarten, ſo wird
der Ausdruk ſeinen Vortheil dabey machen, und
mit neuen Worten, Redensarten und Metaphern,
nach dem Temperament und Naturelle der ver-
ſchiedenen Voͤlker bereichert werden: Da inzwi-
ſchen ein jedes ſeinen eigenen gutheiſſen wird, weil
er in ihrem eigenen freyen Staat von ihren Re-
genten gebrauchet wird.
Es iſt wunderlich, was vor eine veraͤchtliche
Figur das menſchliche Geſchlechte bey ſeinem Ur-
ſprunge laut der Vorſtellung der Alten gemachet
hat.
Cum
[16]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden.
Sie dachten vermuthlich die Rede haͤtte zuerſt
die Menſchen zahm gemachet, und waͤre anfaͤng-
lich nichts anders als zufaͤllige rohe Toͤne geweſen,
welche dieſer nakete Haufe umſchweifender Sterb-
lichen von ungefehr von ſich gegeben hatte.
Dieſes vorausgeſetzt folget daraus, daß ſie dieſe
Toͤne in einer viel hoͤhern Note geaͤuſſert, als wir
izo thun. Vielleicht wurden ſie dazu erſtlich durch
heftige Leidenſchaften als Furcht, Wunder oder
Schmertzen veranlaſſet, da ſie nachgehends denſel-
ben Ton wieder gebraucht, wann entweder dieſelbe
Sache oder derſelbe Umſtand ihnen wieder vorge-
kommen, oder wann ſie etwas, das ſie in deſſen Ge-
genwart gefuͤhlt hatten, beſchreiben wollen. Das
Leben der Alten war den Zufaͤllen und der Ge-
fahr weit mehr unterworffen, eh und bevor noch
Staͤdte gebauet, und die Menſchen durch buͤr-
gerliche Geſellſchaften beſchirmet wurden. Folg-
lich muß ihre Rede anfaͤnglich gantz affectesvoll
und metaphoriſch geweſen ſeyn. Die Metaphern
muͤſſen von den kuͤhneſten geweſen ſeyn, jedoch
gantz natuͤrlich; bequem die hoͤchſten Leidenſchaf-
ten auszudruͤken, und von den empfindlichſten
Sachen, welche in einem einſamen wilden Le-
ben vorkommen hergenommen.
Wann ſich nachgehends die Sachen dieſer ro-
hen Gemeinde ein wenig gebeſſert haben, ſo daß ſie
in ertraͤglicher Sicherheit leben, und ohne Furcht
um ſich her ſchauen koͤnnen, ſo wird dann Ver-
wunderung und Beſtuͤrtzung nachfolgen. Dieſes
ſind die eigenen Leidenſchaften roher und unerfahrner
Leute
[17]fuͤr die epiſche Poeſie.
Leute, wann ſie von Furcht befreyet ſind. - Und
da von dieſer Unwiſſenheit und Verwunderung
ein groſſer Zwiſchenſtand zu der Erfahrenheit eines
weiſen Mannes iſt, den wenig Dinge in Verwun-
derung ſetzen, welcher den Zuſtand der Voͤlker,
ihre Geſetze und Schranken kennet, ſo wird die
Rede von einem Grade zum andern fortgefuͤhret,
und alle dieſe Grade laſſen ſich darinnen durch
ihre Merkmahle verſpuͤren.
Ohne Zweifel denn muß eine bluͤhende gluͤkli-
che Nation, die anfaͤnglich nicht ſonderlich ge-
ſittet geweſen, aber nach einem laͤngen Kampf,
verwirrter Unruh, und vielen Verſuchen, es in
allen Friedens- und Kriegeskuͤnſten hoch gebracht
hat, die trefflichſte Sprache bekommen. Dem-
nach hat ein Poet wohl von Gluͤcke zu ſagen,
der eine ſolche Sprache vor ſich findet, welche
mittelſt obenerwehnter Stuffen dazu gelanget iſt,
daß ſie alle die beſten und ſtaͤrkeſten Empfin-
dungen des Menſchen ausdruͤket, und ihre ur-
ſpruͤngliche, wunderreiche, metaphoriſche Tinc-
tur in einem zulaͤnglichen Maſſe behalten hat.
Man giebt es vor eine Regel in der Poeſie,
daß man den gemeinen Zufaͤllen des Lebens ih-
ren einfaͤltigen Aufputz ausziehen, und ſie einer
hoͤhern geiſtlichen Macht zuſchreiben muͤſſe, damit
ſie alſo ihre Wuͤrde behalten; und was unbe-
lebte Dinge anlanget, muͤſſe man ihnen das Le-
ben mittheilen, ſie in Perſonen kleiden, und ih-
nen anſtaͤndige Eigenſchaften beylegen. Allein
was vor ein gluͤklicher Umſtand iſt es vor einen
Poeten, der zu einer Zeit ſchriebe, da die ge-
[Crit. Sam̃l. VII. St.] Bwoͤhn-
[18]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
woͤhnliche Sprache dieſes metaphoriſche Kleid an-
gezogen hat?
Auf eine Sprache thut die Religion eines Lan-
des, und die Sitten der Zeiten einen maͤchtigen
und ſonderbaren Einfluß. Wir haben eine Men-
ge Exempel wie ein ſteifer Glaube einer Secte
die Leute von derſelben ſo kraͤftig beweget, in dem
beliebten Jdioma zu reden und zu ſchreiben. Sie
fuͤhren es in ihren taͤglichen Geſchaͤften ein, und
alludiren darauf in ihren Luſtbarkeiten; inſonder-
heit wann die Lehre den Schwung hat, und im
Flor iſt. Was vor groſſe Vortheile wuͤrde nun
ein Poet von einer Religion haben, welche ſo
allegoriſch waͤre, wie ehmals die Egyptiſche ge-
weſen war? Wo die Leute bewunderten was
ſie nicht verſtuhnden, und unbekannte Kraͤfte fuͤrch-
teten und ehreten, in der Einbildung, daß ſie
vermoͤgend waͤren, ihnen viel gutes oder viel boͤſes
zu thun? Wo die Gottesgelahrtheit, der Glau-
be, und die feyerlichen Ceremonien nach dieſer
Neigung eingerichtet ſind? Es folget nothwen-
dig, daß dieſe Lehre in einer kurtzen Zeit mit den
Sitten des Volkes vermiſchet werden, ſich in
ihre Sprache eindringen, und allgemeinen Bey-
fall erhalten muß. Jn dieſem Fall wuͤrde die
Allegorie ungeſucht in die Schreibart des Poeten
hineinkommen.
Die
[19]fuͤr die epiſche Poeſie.
Die Sitten der Zeiten, die Studien und Ge-
werbe, die im Schwang gehen, und dem der
es darinnen weit gebracht hat, am meiſten
Ehre bringen, koͤnnen gleicherweiſe ihre groſſen
Vortheile fuͤr einen Poeten haben. Sie richten
ſich nach dem Gluͤkesſtande einer Nation. Die
Kuͤnſte, die in dem Leben den groͤſſeſten Nutzen
haben, welche nemlich unſrer natuͤrlichen Beduͤrff-
niß zu Statten kommen, und unſre Perſonen, unſre
Haab und Gut in Sicherheit ſetzen, machen vor
allen andern ihre Erfinder beruͤhmt; und mit
weiterm Verlaufe der Zeit, wenn der Reichthum
in ein Land gekommen iſt, ziehen die Kuͤnſtler
in wolluͤſtigen Dingen, und die Meiſter in praͤch-
tigen Gebaͤuden, unſre Augen auf ſich. Wo
noch der erſte von dieſen beyden Umſtaͤnden die
Oberhand hat, behuͤtet er den Poeten vor zwey
Uebeln, welchen Longinus den Verfall der Poe-
ſie Schuld giebt, nemlich einer unerſaͤttlichen Be-
gierde nach Reichthum, und der Liebe zur Wol-
luſt. Was vor ein groſſer Vortheil iſt es in
der That vor einen Poeten, zu deſſen Zeiten
die Waffen das ruͤhmlichſte Handwerk ſind, und
ein patriotiſcher Geiſt der beliebteſte Character iſt?
Wo man nothwendig dergleichen haben muß;
wo der Mann, der ſeine Stadt heldenmuͤthig
beſchuͤtzt, ſein Gebiethe erweitert hatte, oder fuͤr
das Vaterland geſtorben war, goͤttliche Ehre er-
langet? Wo Liebe der Freyheit, und Verachtung
des Todes mit ihrem herrlichſten Gefolge, der
B 2Ehre,
[20]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
Ehre, der Redlichkeit, und der Maͤſſigkeit, et-
was wuͤrkliches waren? Ein Poet, der dieſe
Tugenden von der Nothwendigkeit lernete, und
von den Umſtaͤnden ſelbſt darauf gefuͤhrt wuͤrde,
muͤßte ſie beſſer kennen, als ihn die Schulen, und
Buͤcher davon unterrichten koͤnnten. Und ſeine
Vorſtellungen ſolcher aͤchten Character wuͤrden
die Kennzeichen der Wahrheit auf ſich tragen,
und die Character weit uͤbertreffen, welche von
angemaßter Dapferkeit, verſtellten Tugenden,
oder noch ſchlechtern Muſtern abgebildet werden.
Lebte ein Volk natuͤrlich, und wuͤrde durch das
natuͤrliche Gewichte der Leidenſchaften, das in ei-
nes jeden Menſchen Bruſt liegt, regiert, ſo wuͤrde
dieſes machen, daß ſie ohne allen Zwang, allein
nach ihren eigenen angebohrnen Begriffen vom
Guten und Boͤſen, Rechten und Unrechten, rede-
ten und handelten, ſo wie ein jeder von ſeinem
Hertzen gelenket wuͤrde. Dieſe Sitten nun
wuͤrden einem Poeten die natuͤrlichſten Schilde-
reyen, und geſchikte Worte ſie auszumahlen, an
die Hand geben.
Sie haben einen ſonderbaren Einfluß auf die
Sprache, nicht allein ſoferne ſie natuͤrlich ſind,
ſondern auch ſofern ſie aufrichtig und guͤtig ſind.
So lange ein Volk einfaͤltig und offenhertzig bleibt,
ſo lange bekoͤmmt alles was es ſagt, ein Gewichte
von der Wahrheit; ſeine Gemuͤthesgedanken ſind
ſtarck und ehrbar, welches allemahl bequeme Wor-
te herſchaffet, ſie auszudruͤcken: Seine Leidenſchaf-
ten ſind von aͤchtem Schrote und Korn, nicht un-
aͤcht, nicht unterſchoben, nicht verſtellt, und druͤ-
ken
[21]fuͤr die epiſche Poeſie.
ken ſich in ihrer eigenen ungekuͤnſtelten Redens-
art aus. Es iſt nicht an das Geplauder, und die
kleinen ſpitzfuͤndigen Formeln gewoͤhnt, welche
die Rede eines ſogenannten wohlgezogenen Men-
ſchen aller Kraft berauben; ſeine Sprache iſt mit
Schulwitz, Wort- und Sinnenſpielen, und Syl-
bengeklingel nicht durchſetzet; welche in allen Laͤn-
dern ſehr ſpaͤthe eingeriſſen ſind. Und dieſes mag
wohl die Urſache ſeyn, daß alle Nationen ſich ſo
ſehr an ihren alten Poeten beluſtigen. Ehe ſie
ſo hoͤflich, und verzaͤrtelt worden, daß ſie in
Schmeicheley und Falſchheit verfallen, fuͤhlen wir
den Nachdruk ihrer Worte, und die Wahrheit
ihrer Gedanken.
Jezo ſollte ich noch von den Vortheilen reden,
welche einem Poeten die gluͤcklichen Umſtaͤnde
ſeiner Perſon mittheilen; was ſeine Auferziehung,
ſeine Lebensart, und ſein Gluͤck in derſelben vor
eine abſonderliche Wirkung bey ihm als einem
Poeten haben muͤſſen. Allein dieſer Vortheile ſind
ſo viel, und ſie ſind ſo mannigfaltig, wie die Ge-
legenheiten die Menſchen uͤberhaupt kennen zu ler-
nen, und abſonderliche Gegenſtaͤnde, ſo fuͤr die
Poeſie bequem ſind, ins Auge zu bekommen,
nothwendig ſeyn muͤſſen, ſo daß eine ſolche Ab-
handlung mich weiter fuͤhren wuͤrde, als ich diß-
mahl geſonnen bin zu gehen. Jch gedenke nur
eines Stuͤckes, nach welchem man von der Wich-
tigkeit der uͤbrigen urtheilen kan, nemlich der vie-
B 3len
[22]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
len Reiſen, und weitlaͤuftigen Erfahrungen, die
einer in eigener Perſon gemachet hat. Jn einem
reiſenden Leben hat man oͤfters Gelegenheit mit
den Originalen ſeiner Abriſſe, und Erdichtun-
gen bekannt zu werden; dieſe Schildereyen moͤ-
gen materialiſch oder moraliſch ſeyn, ſo entſteht
ihre Trefflichkeit daher, daß ſie der Natur und
der Wahrheit aͤhnlich ſeyn. Aber viele und
weite Reiſen fallen wenigen Leuten vor; am ſel-
tenſten Leuten, die eine poetiſche Geiſtesart haben.
Dieſe ſind gemeiniglich nicht die geſundeſten, ſie
ſind zu zart, die Beſchwerlichkeiten auszuſtehen,
und ſich in die Gefaͤhrlichkeiten zu wagen, wel-
che in langen Reiſen unvermeidlich ſind.
Jch meine nicht zu irren, wenn ich behaupten
darf, daß Homers Armuth, die ihn noͤthigte,
ein umſchweifendes Leben zu fuͤhren, als ein ir-
render Barde, in Anſehen ſeiner Poeſie ein groſ-
ſes Gluͤck fuͤr ihn geweſen. Homer blieb in ei-
ner jeden Stadt ſo lange als er noͤthig hatte ihre
Sitten zu ſehen, ohne daß er ſeine eigenen in
dieſelben umgoͤſſe. Er fuͤhrte weder ein Stadt-
noch ein Landleben, und war in dieſer Betrach-
tung wahrlich ein Weltbuͤrger. Wenn ein Menſch
Kaͤlte und Muͤdigkeit ausgeſtanden, und hernach
wieder erquiket worden, ſtellet ſich die Freude
mit Macht bey ihm ein, ſein Hertz wird weiter,
ſeine Lebensgeiſter flieſſen ſtrenger, und wenn ein
poetiſcher Geiſt bey ihm iſt, wird ſolcher gewißlich
loosbrechen. Die poetiſchen Landfahrer, wie Ho-
mer einer war, muͤſſen geſunde Leute ſeyn, und
ſehr rege und ſichere Fuͤhlungen haben. Jhre
Coͤrper
[23]fuͤr die epiſche Poeſie.
Coͤrper ſind durch keine ſtrenge Arbeit abgenu-
zet, ihre Gemuͤther nicht daniedergeſchlagen. Jhr
Leben iſt ohne Kummer, ohne Ehrgeitz, voller
Wechſel und Verſchiedenheit: Das Herumſtrei-
chen aus einem kleinen Staat in den andern be-
reichert ihre Phantaſie fuͤr ſich ſelbſt. Jhre oͤf-
tere Einſamkeit fuͤhret ſie auf das Denken, ſo wie
die Luſtbarkeiten, die einander wechſelsweiſe ab-
loͤſen, davon abfuͤhren. Wenn wir alleine ſind,
ſo ſind wir genoͤthiget, uns mit uns ſelbſt zu un-
terhalten. Wir muͤſſen uns zuſammenraffen, und
in uns hineinſchauen, ob etwas vorhanden ſey,
was unſere Aufmerkſamkeit verdiene. Jn der Ge-
ſellſchaft zerſtreuet das Aufſehen, das wir auf
einen jeden haben muͤſſen, das Gemuͤthe, und
hindert es am uͤberlegen. Ein Mittel wenig zu
denken iſt, daß man von einer Kurtzweil zur an-
dern forteile, damit man ſo ſich ſelbſt entfliehe.
Aber der Menſch, der einfaͤltig lebt, und zu Zei-
ten von dem Getuͤmmel des Lebens beyſeits geht,
genieſſet ein aͤchteres Ergetzen: Er erlanget von
der ſtillen Natur entzuͤckende Schauſpiele und
Geſichtespuncten, und betrachtet ihre einſamen
Scenen ungeſtoͤrt. Er richtet ſein aufmerkſames
Gemuͤthesauge ofte auf ſich ſelbſt, zeichnet ſeine
eigenen Leidenſchaften, und befeſtiget ſich in ſei-
nen Empfindungen der Menſchlichkeit.
Es giebt zwar viele Einſame, welche dem Den-
ken nicht ſonderlich ergeben ſind, und gewiſſe Leu-
te, derer Gewerb erfodert daß ſie reiſen, ſind
merklich tumm. Aber ich rede hier nicht von dem
Leben eines Anachoreten, oder Einſiedlers, noch
B 4von
[24]Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden ꝛc.
von den muͤhſeligen Tagreiſen ſolcher Leute, die
um der Nahrung willen von Land zu Lande wan-
dern: Jch rede von der kurtzen Einſamkeit eines
freudigen Gemuͤthes, deſſen Thun es iſt, daß es
andere ergetze; welches, wie Homer, die erſte
Geſellſchaft, die es antrift, auf die lebhafteſte
und beweglichſte Art unterhalten muß. Dieſer
Zuſtand iſt von eines Einſiedlers oder eines rei-
ſenden Handwerkers gantz unterſchieden, es iſt
ein Stand, der Homer noͤthigte, nicht nur die
Leidenſchaften ſeiner Zuhoͤrer, weil er erzehlte, zu
ſtudieren, ihre Geſichtesminen in Acht zu nehmen,
alle Bewegungen ihrer Augen und den Schwung
ihrer Gedanken, ſorgfaͤltig zu bemerken, ſondern,
wenn er alleine war, um ſich zu ſchauen, und
einen Vorrath von ſolchen Bildern zu ſammeln,
als vermoͤge ſeiner Erfahrung die nachdruͤklichſte
Wuͤrkung haben mußten.
Hierzu koͤmmt ein andrer Vortheil, der das
Leben eines umherſchweifenden Rapſodiſten beglei-
tet; nemlich die Fertigkeit, welche er dadurch er-
langen muß, gantze Strophen aus dem Steig-
reife zu ſingen. Wir haben alle Tage Proben
von der Macht der Uebung in allen Kuͤnſten und
Geſchaͤften. Eine Neigung, der man den Gang
laͤßt, wird zu einer Fertigkeit, und dieſe erhebet
ſich, wenn ſie fleiſſig gepfleget wird, zu einer
meiſterlichen Leichtigkeit in einem Handwerke.
Von
[25]
Von den vortrefflichen Umſtaͤnden
fuͤr die Poeſie unter den Kaiſern aus
dem ſchwaͤbiſchen Hauſe.
EJn gelehrter Mann (*), dem die Stafeln,
nach welchen die Litteratur geſtiegen, wohl
bekannt geweſen, hat in Acht genommen, daß die
Zeiten da Freyheit und Sclaverey mit einander um
die Oberhand geſtritten, der Welt gemeiniglich et-
was vortreffliches von Werken des Geiſtes geliefert
haben: Jn dergleichen Zeiten geben die Leute ſich
durchaus zu erkennen; das menſchliche Geſchlecht iſt
denn gewiſſen indianiſchen Federn gleich, welche ſich
in mehr als einem Lichte zu ihrem Vortheil zeigen.
Die Verwirrungen und Gefaͤhrlichkeiten, die in
ſolchen Umſtaͤnden haͤuffig ſind, ſetzen alle ihre
Leidenſchaften in Bewegung, und kehren ſie in
alle moͤglichen Geſtalten. Wenn dieſe moraliſchen
Stellungen denn wol in Acht genommen und ge-
ſchikt beſchrieben werden, muͤſſen vortreffliche Wer-
ke daraus werden.
Eben derſelbe hat in dieſen Zeiten der Fehden
eine Art Freyheit bemercket, die ihnen eigen iſt.
Sie verurſachen einen freyen und hurtigen Geiſt,
der ſich in das gantze Land ausbreitet. Jeder-
mann ſieht ſich dann ſeinen eigenen Herrn, und daß
er aus ſich ſelber machen darf, was er kan. Er
weis nicht, wie hoch er ſteigen mag, und die Ge-
B 5ſetze
[26]Von den poetiſchen Zeiten
ſetze ſchreken ihn nicht, weil ſie denn keine Macht
haben. Die abgezogenen Wiſſenſchaften ſind
ein Werck der Ruhe und Stille, aber die,
welche ſich auf die Menſchen beziehen, und
nach dem menſchlichen Hertzen zielen, werden
am beſten in Bewegungen und Verrichtungen
kennen gelernet.
Dieſe Betrachtungen und andre, auf wel-
che mich der eben erwehnte geſchikte Mann
gefuͤhret hat, haben mich die beſte Hoffnung
von den Scribenten, welche unter den Kai-
ſern aus dem ſchwaͤbiſchen Stamme gelebet
haben, faſſen heiſſen. Damahls that die deut-
ſche Freyheit ihr aͤuſſerſtes, ſich des ſclaviſchen
Jochs zu entſchuͤtten, das ihr von Rom an-
gedrohet war. Die Deutſchen waren nicht
mehr dieſe rohen und halbwilden, die aller
Gemaͤchlichkeiten des Lebens, und politiſchen
Veranſtaltungen beraubet waren. Sie hat-
ten friedliche Zeiten, zwiſchen langen und
zweytraͤchtigen Verſuchen, gehabt, wo ſie es
in den Kuͤnſten und Wiſſenſchaften auf einen
gewiſſen Grad gebracht hatten. Doch waren
ſie von Zucht, Hoͤflichkeit und Cerimoniel nicht
zu enge eingethan. Sie hatten noch vieles
von ihrem unbaͤndigen und ungezaͤhmten Geiſt
behalten, und die Schranken der Religion oder
der Policey hatten die natuͤrlichen und einfaͤl-
tigen Bewegungen ihres Hertzens nicht einge-
zwaͤnget. Sie lieſſen ihren angebohrnen Nei-
gungen insgemein den vollen Zuͤgel und verſtell-
ten ſich nicht ſonderlich, daß ſie anders ſchie-
nen
[27]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
nen, als ſie waren. Man kan ſagen, daß
jeder Staat ſein eigener Herr war, wie-
wohl ſie durch gewiſſe ſchwache Bande des Le-
henrechtes ꝛc. verbunden waren. Jhr Gehor-
ſam kam allzuſehr auf ihren Willen an; und
eine Nation von ſo kriegeriſchem Naturell konn-
te dieſen Willen nicht lange behalten. Die
Waffen waren im Anſehen, und die Staͤrcke
ſetzte einen in Beſitz. Ein jeder Staat eifer-
te auf den andern, und verſuchte, was ſein Geiſt
im Frieden, und noch lieber was ſeine Staͤrcke
im Kriege vermoͤchte. Dieſe Zeiten nun gaben
einem viel zu ſehen, und viel zu fuͤhlen. Man
konte Staͤdte erobert, und gepluͤndert, Maͤn-
ner durch das Schwerdt fallen, und Weiber
gefangen wegfuͤhren ſehen. Man konnte ver-
zweifelte Gebehrden, drohende Stellungen ſe-
hen, ꝛc. Es kan nicht ſeyn, daß dieſer
Character, dieſe Empfindungen und Regun-
gen nicht in ihre Sprache und Schriften ein-
gefloſſen ſeyn. Jhre Sprache muß von ihnen
dahin gebracht worden ſeyn, daß ſie dieſe ſtar-
ken und tapfermuͤthigen Fuͤhlungen darinnen
haben ausdruͤken koͤnnen. Die Erbauung ſo
vieler Staͤdte und die beſonderen Regierungen
in denſelben, welche mit dem Regimente ſo vie-
ler kleinen Fuͤrſten und Grafen, die zwar an-
derer Vaſallen waren, doch wieder ihre Unter-
thanen hatten, ſo ſeltzam abſetzeten, die Noth-
wendigkeit der Arbeit, die Einfuͤhrung der
Handwerke, und der Kaufmannſchaft, die ver-
ſchiedenen Angelegenheiten ſo vieler eigenmaͤch-
tigen
[28]Von den poetiſchen Zeiten
tigen Herrſchaften, und ſo vieler Staͤdte, die
auf einander eiferten, mußten eine reiche und
nachdruͤkliche Sprache mit ſich gebracht haben.
Der politiſche Stylus waͤchßt mit der Verfaſ-
ſung eines Staats, und ſteigt auf ſeine Hoͤhe,
wenn man am meiſten dergleichen Geſchaͤfte hat,
an welchen uns ſehr viel gelegen iſt, daß wir ſie
geſchikt vollfuͤhren. Die Rathsverſammlungen
eines freyen Staats werden durch das Mittel
der Rede gefuͤhrt, wohin man will, dieſes bringt
die Beredtſamkeit ins Aufnehmen, und die
Kunſt andere auf ſeine Meinung zu fuͤhren, in
Werth. Wo die Gedanken ſtark, und ehr-
liebend ſind, fehlt es nicht, daß ſie nicht be-
queme Worte an die Hand geben; womit man
ſie ohne Abbruch ausdruͤken koͤnne.
Jndeſſen war dieſe Sprache noch nicht ſo
ſehr auspoliert, daß ſie dadurch waͤre abge-
ſchliffen und geſchwaͤchet worden. Durch die
Ausputzung wird manches Wort weggeworf-
fen, ſie ſtekt den Menſchen gleichſam in einen
Sack, geſtattet ihm nur eine gewiſſe Zahl von
uͤblichen Redensarten, und beraubet ihn vieler
nachdrucksreichen Woͤrter, und ſtarker ſchoͤner
Ausdruͤke, welche er wagen und dabey in Ge-
fahr ſtehen muß, daß ſie veraltert und platt
ſcheinen.
Die Poeſie beruhet inſonderheit auf den Sit-
ten der Menſchen, die dann ſind, da man ſchreibt;
die beſten Poeten copieren die Natur, und lie-
fern ſie uns ſo, wie ſie ſolche finden. Ein Scri-
bent von Friedrichs des I. oder II. Zeiten habe
nur
[29]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
nur mit der damahligen Sprache getreulich
geſchildert, was er geſehen, und empfunden,
ſo muß ſein Werk anmuthig und nachdruͤklich
ſeyn. Seine Vorſtellung einfaͤltiger und na-
tuͤrlicher Sitten, wird uns einnehmen, ſie
wird uns das Beduͤrffniß und die Empfindun-
gen der Menſchen zeigen, ſie wird uns die Be-
wegungen eines unverſtellten Gemuͤthes vor-
weiſen, wir werden darinnen ſehen, was in
unſern Hertzen vorgeht, und was vor Wege
wir brauchen, wenn wir unſern Neigungen
nachgeben. Es ergetzet uns dergleichen zu le-
ſen, weil wir gerne mit Leuten umgehen, de-
nen wir ins Hertze ſehen, die nichts vor uns
verborgenes haben.
Jn dergleichen Zeiten, da Jtalien ſo wohl
als Deutſchland in Parteyen zertheilet war, da
die kleinen Staaten gegen einander ligiert wa-
ren, mitten in dem hitzigſten Streiten und Blut-
vergieſſen der Guelfen und Gibellinen, ſchrieb
Dantes den nachdruͤklichſten Entwurff und Ab-
riß von den Menſchen und ihren Neigungen
und Leidenſchaften.
Dieſelben Zeiten hatten fuͤr einen Poeten
auch das Gluͤck, daß einer viele Reiſen thun,
und viele perſoͤnliche Anmerkungen machen kon-
te. Die Kreutzzuͤge in die Orientaliſchen Laͤn-
der gaben ihm dazu haͤufige Gelegenheiten,
und er konnte auf denſelben ſeine Phantaſie
mit einer wunderbaren Mannigfaltigkeit von
Sitten, Manieren, Religionen, ꝛc. welche
mit ſeinen eigenen ſo ſtarck abſtachen, berei-
chern.
[30]Von den poetiſchen Zeiten
chern. Die Natur mußte ihm von dieſen Din-
gen, die ſie ihm in ihrer Wuͤrklichkeit vor Au-
gen ſtellte, die lebhafteſte Empfindung geben.
Und weil ein groſſer Theil Jtaliens nebſt
dem angenehmen und fruchtbaren Sicilien da-
mahls unter der Herrſchaft des ſchwaͤbiſchen
Stammes ſtuhnd, ſo daß die Deutſchen in
daſſelbe als in ihr eigenes Land oͤftere Reiſen
thaten, ſo koͤnnen wir natuͤrlicher Weiſe ver-
muthen, daß dieſe gemaͤſſigten Landſchaften,
die unter dem guͤtigen Einfluß eines freudi-
gen Himmels liegen, der Deutſchen martia-
liſchen Geiſter einigermaſſen beſaͤnftiget, und
mit den lekern Fruͤchten ihrer Felder und Gaͤr-
ten den Geſchmack der Wolluſt verbeſſert,
jedoch nicht verzaͤrtelt haben.
Meine Hoffnung zu den poetiſchen Schrif-
ten dieſer Zeiten hat noch einen abſonderlichen
Grund in der Gewohnheit derſelben, welche die
Poeſie zu einer Profeſſion gemachet, und zwar
zu einer ſolchen, welche ſich Freyherren, Fuͤrſten
und Grafen vor keine Schande hielten, indem
ſie nicht nur dieſelbe ſchuͤtzeten und die Poe-
ten in ihre Schloͤſſer und Gaſtgebothe auf-
nahmen, Wettſtreite unter ihnen anſtelleten,
ſich ihre Wercke offentlich in Gegenwart der
vornehmſten Geſellſchaften von beyderley Ge-
ſchlechte vorleſen lieſſen, ſondern ſich ſelber
damit bemuͤheten, und um den Preiß ſangen.
Eine Gewohnheit, die ſie vielleicht eben aus
Sicilien, wo die Trovadori unter den neuern
die fruͤheſten geweſen, die zur Poeſie ein na-
tuͤrli-
[31]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
tuͤrliches Geſchick gewieſen, heruͤber gehohlet
haben. Friederich der II. war ſelbſt ein groſſer
Liebhaber der Poeſie, und man hat noch auf
dieſen Tag einige von ſeinen Gedanken, wel-
che er in der Jtalieniſchen Sprache ausge-
bildet hat.
Die Nachrichten von dieſen deutſchen Saͤn-
gern geben, daß ſie in dem Land herum reiſeten,
und hier und dar an groſſen Hoͤfen ihre poe-
tiſchen Erfindungen vorlaſen und ſangen.
Jhre Gedichte waren gemachet, daß ſie er-
zehlt oder vor einer Geſellſchaft geſungrn, nicht
daß ſie im Cabinet durchgangen, oder in einem
Buche geleſen wuͤrden. Wenig Leute konnten
damahls leſen.
Sie dorften nicht fuͤrchten, daß ſie nicht
allerorten willkommen waͤren, da ſie ſolche
beliebte Geſchiklichkeit mit ſich brachten. Die-
ſes mußte nothwendig eine gute Wuͤrkung in
ihren Schriften haben, weil ſie ſo den Cha-
racter der groͤſſeſten Maͤnner, und die inner-
ſten Springfedern ihrer Handlungen erlernen
konnten. Sie konnten ſie in ihrem Privat-
leben kennen lernen, ihren Umgang nach ſei-
ner beſondern Art, und ihre Manieren ſich
zu unterhalten.
Dieſe Gewohnheit ſeine Muſe in dem Lan-
de herumzufuͤhren hatte daneben den wichti-
gen Nutzen, daß ſie weder Concetti noch tief-
gelahrte Verſe in einer unverſtaͤndlichen Spra-
che ſagen durften. Sie durften wohl wun-
derbare Geſchichten erzehlen, aber ſie muß-
ten
[32]Von den poetiſchen Zeiten
ten deutlich erzehlt, und die natuͤrlichen Sit-
ten, und menſchlichen Leidenſchaften niemahls
aus Augen geſetzet werden.
Sie ſtelleten oͤfters poetiſche Wettſtreite un-
ter einander an, in Gegenwart groſſer Ver-
ſammlungen, welche dem Obſieger einen Ge-
winn zutheileten. Alſo war eine taͤgliche Ue-
bung ihr beſter Kunſtlehrer in der Dichtkunſt.
Sie bedurften keiner erworbenen Wiſſenſchaf-
ten die natuͤrliche Neigung ihres Geiſtes, ihre
Bekanntſchaft und Umgang mit dem Men-
ſchen verſahe ſie mit genugſamen Vorrath.
Man wird mit mir nicht zufrieden ſeyn,
daß ich bloß die Moͤglichkeit, darinnen dieſes
Weltalter geſtanden, auf eine vortreffliche Art
zu poetiſieren, angezeiget habe; man wird
ſagen, es ſey von der Moͤglichkeit noch ein
weiter Schritt zur Wirklichkeit, es ſey nicht
genug, daß der Zuſtand von Deutſchland ſo
wohl in politiſchen, und moraliſchen, als in
phyſicaliſchen Dingen damahls in einer rech-
ten und bequemen Temperatur geſtanden, treff-
liche Poeten hervorzubringen, und ſie mit ei-
nem geſchickten Stofe fuͤr poetiſche Wercke zu
verſehen; es gehoͤren noch mehrere Bedingun-
gen dazu, vielerley geringere Umſtaͤnde des
Privatlebens, viele Vortheile der abſonder-
lichen Auferziehung, und eigene Gelegenheiten
das menſchliche Geſchlechte durch und durch
kennen zu lernen. Aus dieſer Urſache wird
man von mir begehren, daß ich wuͤrkliche Mu-
ſter von Schriften anzeige, welche die Wuͤr-
kung
[33]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
kung und Frucht meiner obigen Anmerkungen
geweſen ſeyn,
Waͤren gewiſſe Wercke, von denen wir noch
die Titel haben, nicht verlohren gegangen, ſo
waͤre ich ohne Zweifel im Stande, ihrem Ver-
langen eine Gnuͤge zu thun. Haͤtten wir noch
Hermanns von Sachſenhauſen Gedichte, die Moͤh-
rin genannt, Wolframs von Eſchilbach ſtarcken
Rennewart, eben deſſelben Gedichte von Marg-
graf Wilhelm von Narbone, desgleichen was er
von Gamuret, und ſeinem Sohne Pareifall, ge-
dichtet; haͤtten wir vornehmlich Klinſors Gedich-
te von der Erſchaffung, den Geſchoͤpfen, dem Ge-
ſtirne, und deſſelben Hiſtoͤrgen und Erzehlungen,
ſo wuͤrden wir mein Vertrauen zu ihren Zeiten
und ihrer Geſchicklichkeit in voller Kraft erfuͤllet
ſehen. Der gemeine Ruf, in welchem Klinſor
geſtanden, daß er zauberiſche Kuͤnſte gewuſt, le-
get zu unſern Zeiten nur ein Zeugniß von ſeinen
ungemeinen Talenten ab, und hat einerley Ur-
ſprung, wie ein gleiches Geſchrey, welches von
dem kunſt- und geiſtreichen Moͤnchen Roger Bacon
in demſelben unwiſſenden Weltalter gegangen war.
Wir haben zwar noch etwas von Eſchelbach,
von Albrecht von Halberſtatt, von Ofterdingen,
von Freydank, das in dem fuͤnfzehnten Jahr-
hundert im oͤffentlichen Druck das Licht geſehen
hat, aber die Herausgeber haben in den Leſ-
arten, den Woͤrtern und gantzen Redensarten,
ſo wichtige Veraͤnderungen vorgenommen, daß
wir die Sprache und die aͤchten Gedanken der
Originale oͤfters darinnen miſſen. Dieſes Un-
[Crit. Sam̃l VII. St.] Cgluͤck
[34]Von den poetiſchen Zeiten
gluͤck hat obiger Dichter Erzehlungen von Otteni-
ten, von Wolfdietrichen, von dem kleinen Roſen-
garten, und dem Koͤnig Laurin, die Ueberſetzung
der Verwandlungen des Ovidius, und Freydanks
moraliſches Gedichte von der Beſcheidenheit ſtarck
getroffen. Wikram hat ſich am meiſten Frey-
heit mit ihnen genommen; und Burckard Wal-
dis hat eben dieſes mit Pfinzings Theuerdanck
gethan, der doch von ſeinen Zeiten nicht gar weit
entfernt geweſen. Sebaſtian Brand ſelbſt hat in
Freydancks Wercke die Sprache mehr geaͤndert,
als es dienlich war; wiewohl er den Sachen und
Gedancken am wenigſten genommen hat.
Das aͤchteſte, das wir aus dem Schwaͤbi-
ſchen Weltalter haben, ſind Winsbeckes Gedich-
te, wovon uns Goldaſt und Schertz gute Auf-
lagen geliefert haben. Wir finden theils in den-
ſelbigen, theils in einzelen Zeilen, welche Goldaſt
hier und da angezogen hat, ſo ungekuͤnſtelte Ori-
ginale von den eigenen und urſpruͤnglichen Sitten
der damahligen Deutſchen, und dieſe werden mit
einer ſolchen Art und Kraft der Redensart, ſo wohl
durch Metaphern von den natuͤrlichſten Gegenſtaͤn-
den, als durch einen gluͤcklichen Schatz der Spra-
che, ausgedruͤcket, daß wir gnugſam daraus er-
kennen, daß der Character der damahligen Zei-
ten und Umſtaͤnden eine Wuͤrkung ſeiner Na-
tur gemaͤß gethan, und ſich in die Schriften er-
goſſen habe. Wir haben Recht aus dieſen weni-
gen guten Stuͤcken, die uns uͤbrig geblieben ſind,
zu ſchlieſſen, daß noch ſo gute verlohren gegangen
ſeyn. Die Nachreue wegen dieſes Verluſtes wird
dadurch
[35]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
dadurch am aͤllermeiſten vermehret, und wir muͤſ-
ſen die Nachlaͤſſigkeit unſrer Voreltern, welche
ſie hat untergehen laſſen, um ſo viel ſchmertzlicher
bedauern. Wenn wir zwar nicht eben ſo viele
Nachlaͤſſigkeit haͤtten, ſo koͤnnten wir vermuth-
lich noch heutiges Tages dieſen erlittenen Verluſt
ziemlichermaſſen erſetzen; geſtalten nicht unbekannt
iſt, daß in der Koͤniglichen Bibliotheck zu Paris
Num. 7266. ein pergamener Codex iſt, worinnen
eine groſſe Anzahl Poeſien aus dem hohenſtaufi-
ſchen Weltalter zuſammengeſchrieben ſind. Wir
wiſſen auch die Nahmen der vornehmen Verfaſſer,
von denen einige Stuͤcke darinnen enthalten ſind;
darunter ſind etliche die mittelſt eintzelner Zeilen,
die von Goldaſt aus ihnen angezogen worden, ein
ſtarckes Verlangen nach dem gantzen erweket ha-
ben; naͤmlich Klinsore von Ungerlant; Walter
von der Vogelweide; Werner von Túfen; Chun-
rad von Wúrzburg; Herzog Henrich von Preſ-
ſela; Reimar von Zweeter. Alle die Dichter,
derer Schriften in dem angeregten Codex be-
griffen ſind, haben unter den Kaiſern aus dem
ſchwaͤbiſchen Hauſe gelebet. Der Untergang des
Stammes von Hohenſtaufen iſt der Poeſie gantz
verderblich geweſen. Man muß nicht wohl zu
unterſcheiden wiſſen, wenn man die Poeten deſ-
ſelben Alters mit den Meiſterſaͤngern der ſpaͤtern
Zeiten in eine Claſſe ſetzet; wie Wagenſeil und
andre gethan haben. Sie ſind einander an Ge-
ſchicklichkeit, an Kunſt, an der Sprache, allzu
ungleich, wiewohl ſie einander darinnen gleichen
moͤgen, daß dieſe und jene ihre Erzehlungen vor
C 2einer
[36]Von den poetiſchen Zeiten
einer Geſellſchaft Zuhoͤrer abgeſungen haben. Die
Mundart deren ſich die Poeten des XIII. Jahrhun-
dert bedient haben, iſt durchgehends die Schwaͤ-
biſche, welche damahls auch die Sachſen vor die
beſte erkennt und gebraucht haben.
Von einem ſolchen Gedichte aus dem drey-
zehnden Jahrhundert hat der Zufall ein paar
Hundert Zeilen auf einem zerriſſenen Pergament
geſchonet, welches mir ungefehr in die Haͤnde ge-
fallen iſt. Jch halte dieſe Schrift beynahe gleich
alt mit dem Dichter. Der Jnnhalt iſt von der
ſchoͤnen Meliure, welcher die groͤſſeſten Fuͤrſten
von Europa und Aſia aufwarteten, und Hoff-
nung hatten, daß ſie einen von ihnen zu ihrem
Gemahl erwehlen wuͤrde. Vor allen andern ſchmei-
chelten ſich, ihre Gunſt zu haben, der Soldan aus
Perſien, und Partenopier, ein Fuͤrſt aus dem
Stamme der Koͤnige von Kerlingen. Dieſer
letztere hatte ſich insgeheim vom Hofe verlohren.
Jn unſerm Fragmento findet er ſich unbekannter
Weiſe wieder ein, einem Turniere, der unter den
Mauren der Stadt Schifdiere ſollte gehalten wer-
den, beyzuwohnen. Unweit denſelben, in einem
anmuthigen Thal, begegnet ihm Gaudin, ein chriſt-
licher Ritter, mit welchem er Freundſchaft ma-
chet, und auf den Turnierplatz reitet. Sie fan-
den auf einer Ebene zwiſchen der Stadt und dem
Meere alles von Chriſten und Saracenen wim-
meln. Dieſe werden durch einander gemiſchet,
ſo daß kein Unterſchied unter ihnen gehalten ward,
hernach werden ſie in zwey gantze Theile getheilt.
Der Koͤnig von Kerlingen hatte gegen Meliu-
ren
[37]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
ren einen Anſchlag im Kopf, weil er ſie im Ver-
dacht hatte, daß ſie ihm Partenopier, ſeinen
Vetter, aufgefangen haͤtte. Das iſt es, was
wir aus dieſem kleinen erretteten Stuͤcke erler-
nen koͤnnen. Wir haben ſchon darinnen Erfin-
dung, Sitten, und poetiſche Farben: Erfin-
dung in Meliurens Worte, einen von den chriſt-
lichen oder den ſaraceniſchen Fuͤrſten zum Gemahl
zu erwehlen, welches einige Aehnlichkeit mit Pe-
nelopens Verſprechen hat, und vielleicht mit gleich-
maͤſſigem Zwang, Bedingung, und Umſtaͤnden,
wie bey dieſer begleitet geweſen; in Parteno-
piers heimlichen Abſchied, und heimlicher Wie-
derkunft, welche uns einen Knotten in dem Ge-
dichte zu vermuthen giebt; in der freundlichen
Vermiſchung der Saracenen und der Chriſten,
welche etwas neues und ſeltſames in ſich hat.
Sitten haben wir in eben dieſer Vermiſchung,
und ferner in dem freundſchaftlichen Betragen Par-
tenopiers und Gaudins, in des Kerlinger-Koͤ-
nigs Haſſe gegen Meliuren, un Meliurens Furcht
vor demſelben. Poetiſche Farben finden ſich in
der Beſchreibung der Gegenden, der Kleidungen,
der Zuruͤſtungen, der Eintheilung des Turnieres.
Die Sprache zur Ausdruͤkung aller dieſer Din-
ge fehlte dem Verfaſſer nicht, und wann wir
ſie als eine fremde oder gar als eine todte Spra-
che anſehen, und die Begriffe mit den Woͤr-
tern verknuͤpfen, welche zur Zeit, als ſie noch ge-
redet ward, damit verknuͤpfet waren, ſo wer-
den wir keinen ſchlechten Geſchmack darinnen
finden. Urtheilt ſelbſt davon:
C 3Geli-
[38]Von den poetiſchen Zeiten
von
[39]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
C 4durck
[40]Von den poetiſchen Zeiten
vnd
[41]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
C 5zierten
[42]Von den poetiſchen Zeiten
nach
[43]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
der
[44]Von den poetiſchen Zeiten
das
[45]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
haten
[46]Von den poetiſchen Zeiten
Wir muͤſſen die Worte wunneſam, ſchone un-
de fiere, nicht vor Flickwoͤrter halten. Sie ha-
ben ihre noͤthige Bedeutung, wo ſie geſetzet wor-
den, und daß ſie hinter ihrem ſubſtantivo ſtehen,
war der damahligen Sprachverfaſſung nicht ent-
gegen. Wer es probieren wollte, dieſes Ueber-
bleibſel in unſre Sprache zu uͤberſetzen, wuͤrde
die Trefflichkeit der Grundſprache bald an der
Muͤhe erkennen, welche er haben wuͤrde, die
Begriffe eben ſo kurtz, ſo natuͤrlich und geſchickt,
ohne Mattigkeit, und ohne Niedrigkeit, zu ge-
ben. Das Metrum iſt demjenigen gantz gleich,
welches der Engliſche Schaſer noch in dem 14ten
Sæculo gebraucht hat, da uns aber verborgen iſt,
wie man es geleſen, oder geſungen habe. Scha-
ſer ſchreibt zum Ex.
But
[47]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
Die Engellaͤnder haben ſich von dieſem Sylben-
maſſe nicht irre machen laſſen, daß ſie den Jnn-
halt und die Erfindungen darunter aus dem Ge-
ſichte verlohren haͤtten, ihre heutigen Poeten fin-
den noch ietzo die Perlen darinnen, und wiſſen
ſie geſchickt herauszunehmen. Sie halten Scha-
ſers poetiſches Naturell noch ietzo in Hochachtung,
da ſie ſeine Sprache haben untergehen laſſen.
Wir aber haben unſre Schaſer mit ihrem Zahl-
maſſe, ihrer Sprache und ihrer Poeſie, unter die
Banke geworffen.
Jndeſſen haben die Poeten des 13ten Jahrh.
noch andre bequemere Sylbenmaſſe gehabt, zum
Exempel folgendes, das Winsbeke gebraucht hat:
Ferner:
Und:
Wer mit der deutſchen Sprache umgegangen iſt,
der wird bald erkennen, daß dieſes Metrum fuͤr
ſie
[48]Von den poetiſchen Zeiten
ſie noch auf den heutigen Tag treffliche Bequem-
lichkeiten haͤtte.
Jn der Buͤrgerbibliothek zu Zuͤrch wird ein
Codex von Papier aufbehalten, worinnen eine
ziemliche Anzahl Fabeln aus Avienus und andern
in deutſchen Verſen enthalten iſt. Der Spra-
che und Orthographie nach hat der Verfaſſer des
Wercks zu den Zeiten Kaiſer Rudolfs des erſten
aus dem Hauſe Habsburg gelebt, wiewohl das
Buch zu hundert Jahren ſpaͤter, und zwar nicht
von dem geſchickteſten Abſchreiber geſchrieben iſt.
Es verdiente wegen ſeiner natuͤrlichen Einfalt und
ungekuͤnſtelten obgleich nachdruͤcklichen Erzehlung
von unſern neuangehenden Scribenten geleſen zu
werden. Unter andern hat mich die Fabel von
dem Hunde, der nach dem Fleiſche im Schat-
ten ſchnappet, geſchickt erzehlet beduͤnket:
Vnd
[49]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
Die Geſchichte von der Matrone zn Epheſus
iſt mit einer ſo leichten und guten Art erzehlet,
daß einer viele Geſchicklichkeit haben muß, der
ſie flieſſender erzehlen will:
[Crit. Sam̃l. VII. St.] DBedi
[50]Von den poetiſchen Zeiten
Ich
[51]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
D 2Die
[52]Von den poetiſchen Zeiten
Jch erinnere mich nicht, daß dieſe Erzehlung,
aus welcher La Fontaine und St. Evremond ſo
viel machen, von einem Deutſchen ſeithero in
Verſen beſchrieben worden ſey; Philander von
Sittenwald hat ſie in dem Geſichte von dem
Weiberlobe in Proſa verfaſſet.
Man weis, was vor eine zaͤrtliche Furcht
die Franzoſen vor den ungewoͤhnlichen Woͤrtern
haben, welche entweder zu neu oder aus der Mo-
de ſind; nichtsdeſtoweniger haben ſie es La Fon-
taine verziehen, daß er Marots veralterte Spra-
che in der Erzehlung ſeiner Fabeln und Maͤhrgen
angebracht hat, wo er es mit Artigkeit hatte thun
koͤnnen. Dieſe Artigkeit entſteht durch die be-
ſondere Beſtimmung eines Begriffes, durch
das natuͤrliche Weſen, durch die Kuͤrtze eines
Aus-
[53]unter dem ſchwaͤbiſch. Stamme.
Ausdruckes. Sie haben es ihm nicht nur ver-
ziehen, ſondern ſie haben dieſe Marotiſche Schreib-
art mit unter ihre beguͤnſtigten Moden auf- und an-
genommen. Sie ward dem zierlichen Schertz und
der geiſtreichen Kurtzweil gewidmet, in welchen
Marot ein ſo groſſer Meiſter geweſen war, und
kuͤndiget uns dieſe zuvor an, wie den Harlekin
der Schnitt und die Farbe ſeines Kleides. Wenn
meine Landesleute in die Gemuͤthsverfaſſung kaͤ-
men, fuͤr den artigen Schertz gleichermaſſen eine
beſondere Sprache einzufuͤhren, ſo koͤnnten ſie in
dieſen alten Fabeln ſchon eine ziemliche Anzahl
geſchickter Woͤrter und Ausdruͤcke zu dieſem En-
de antreffen. Jch verſtehe keinesweges ſolche Flick-
woͤrter und Flickzeilen, welche zu der Sache
und der Abſicht gar nichts thun, und nur um
des Reimes willen da ſind, womit Hans Sach-
ſens Arbeit zuſammengeſchmiert iſt. Dieſe ſind
vielmehr laͤcherlich als luſtig, und ergetzen nur
mittelmaͤſſige Geiſter durch ihre abgeſchmackt-
unvernuͤnftige Zuſammenſetzung. Jch will in dieſe
Sprache auch die han, lan, gie, lie, vie, kan,
ſtatt, haben, laſſen, gieng, ließ, fieng, kam,
nicht aufnehmen, weil ſie in Hans Sachſens
Schriften veraͤchtlich und poͤbelhaft geworden,
ungeachtet ſolche in der poetiſchen Sprache des
ſchwaͤbiſchen Weltalters mit allen Ehren ihren
Platz behaupteten. Dantes und die Poeten Jta-
liens von ſeiner Zeit haben in ihren Schriften eine
Menge ſolcher verſchnittenen Woͤrter gebraucht,
welche ſich bey der einmahl empfangenen Ehre
und Wuͤrde bis auf den heutigen Tag erhalten
haben.
[54]Von der Poeſie
Von der Poeſie des ſechszehnten
Jahrhundert nach ihrem ſchoͤn-
ſten Lichte.
DJe deutſche Poeſie, welche unter den Kai-
ſern von dem ſchwaͤbiſchen Stamme auf
einen hohen Grad der Vollkommenheit
geſtiegen war, nahm mit dem Untergange die-
ſes Hauſes wieder ab, und fiel in den folgen-
den Jahrhunderten viel tiefer, als ſie zuvor in
der Hoͤhe geſtanden war. Sie gerieth dem Poͤ-
bel in die Haͤnde, und ward von ihm dergeſtalt
gemißhandelt, wie ſie noch in den Schriften Hans
Sachſens ausſiehet. Denn die gluͤckliche Wie-
derherſtellung des Geſchmackes der Alten kam
der deutſchen Poeſie am wenigſten zu Statten,
weil die muntern Naturelle und Koͤpfe ihre Kraͤfte
nicht in dieſer verſucheten, noch ihr zum beſten
anwendeten. Die beyden beſten und dabey
gelehrteſten Ingenia, welche nach der Wieder-
findung der Wiſſenſchaften vor Opitzen Witz
und Poeſie in die deutſche Verſe gebracht haben,
ſind nach meinem Wiſſen Sebaſtian Brand,
und Johann Fiſchart, zween Doctores der Rech-
te von Straßburg; wiewohl ihre Nahmen zu
unſern Zeiten ins Vergeſſen gekommen ſind, und
nicht einmahl die Art der Unſterblichkeit erhal-
ten haben, welche Hans Sachſe ſich durch den
aberwitzigen und kahlen Jnnhalt ſeines Reimen-
geklappers erworben hat. Von Fiſcharten hat
war
[55]des ſechszehnten Jahrhundert.
zwar Zinkgraͤfe in der Vorrede zu einer Samm-
lung Gedichte, welche er als einen Anhang zu
den allererſten Opitziſchen Gedichten druͤcken
laſſen, mit einer ausnehmenden Hochachtung
geredet.
„Johann Fiſchers, genannt Mentzers, gluͤck-
„liches Schiff von Zuͤrich, ſagt er, waͤre an Reich-
„thum poetiſcher Geiſter, artiger Einfaͤlle, ſchoͤ-
„ner Worte, und merkwuͤrdiger Spruͤche, (aus
„welchen Stuͤcken abzunehmen, was ſtattliches
„dieſer Mann haͤtte leiſten koͤnnen, wenn er den
„Fleiß mit der Natur vermaͤhlen, und nicht viel-
„mehr ſich an dem, was ihm einfaͤltig aus der
„Feder gefloſſen, haͤtte begnuͤgen wollen,) gar
„wohl der roͤmiſchen, griechiſchen, italiaͤniſchen
„und Franzoͤſiſchen Poeſie an die Seite, wo
„nicht vorzuſetzen, wenn ihm nicht, wie ange-
„deutet, etwas weniges fehlete, welchen Man-
„gel ich jedoch mehr der unachtſamen Gewohn-
„heit ſeiner Zeiten, als ihm ſelbſten zuſchreibe,
„und moͤgte er mit gutem Fuge ſagen:
Jch hab das mein gethan, ſo viel mir Gott beſcheret,
Ein andrer thu das ſein, ſo wird die Kunſt gemehret.
Aber dieſe Worte ſind auch die Leichenpredigt
des poetiſchen Nahmens Johann Fiſcharts ge-
weſen. Dem Nahmen und der Poeſie Seba-
ſtian Brandens iſt es eben ſo ungluͤcklich ergan-
gen, und hat ihm nicht helffen moͤgen, daß er
an Kaiſersberger einen ſo ſorgfaͤltigen und weit-
laͤuftigen Ausleger gefunden hat. Jhre Gedich-
te ſind mit ihrer Sprache weggeworffen und ver-
D 4geſſen
[56]Von der Poeſie
geſſen worden. Dieſe hat eine ſo ſtarcke Ver-
aͤnderung erlitten, daß unſre heutige kaum meh-
rere Lineamente von derſelben behalten hat, als
einem Enkel von den Geſichteszuͤgen des Ahnen
uͤbrig bleiben. Wenn gleich die Worte ſelbſt
oͤfters noch vorhanden ſind, und nur in der Aus-
ſprache eine geringe oder gar keine Veraͤnderung
erlitten haben, ſo haben ſie doch eine eingeſchraͤnk-
tere oder eine weitlaͤuftigere Bedeutung bekommen,
oder haben wenigſtens in dem Munde des Poͤ-
bels, von welchem ſie durch die Laͤnge der Zeit
entweihet worden, eine gewiſſe Niedrigkeit em-
pfangen. Man liebete zu ihren Zeiten die Ver-
ſchluͤckungen der Buchſtaben und der Sylben,
welcher ſie vielleicht durch die zarte Ausſprache
wieder zu helffen wuſten; wie noch auf diſen Tag
die Engellaͤnder thun, welche eben ſo gerne, als
unſre Urahnen, die Worte zu ſtuͤmmeln pflegen,
und doch dieſen geſtuͤmmelten Woͤrtern in der
Ausſprache ſo gut zu helffen wiſſen, daß ihre
Sprache mit allen ihren einſylbigten zuſammen-
geſchmoltzenen Woͤrtern der unſrigen, welche ſich
uͤber dieſen Punct gebeſſert, und die Neigung zum
ſtuͤmmeln verlohren hat, an ſanftflieſſendem Wohl-
laut nichts nachgeben will. Nichts von dem Syl-
benmaaſſe, der beſtaͤndig gleichen Abwechſelung
der kurtzen und langen Sylben, den ſorgfaͤlti-
gen Reimen, und dergleichen Dingen zu ſagen,
in welchen die Dichtkunſt zu unſern Zeiten ſich
von der Poeſie der vorigen Jahrhundert gaͤntzlich
entfehrnet hat. Wenn wir alle dieſe Sachen auf
eine Seite ſtellen, und uns daneben insbeſondere
die
[57]des ſechszehnten Jahrhundert.
die Sprache des 15. und 16ten Jahrhunderts als
eine beſondere eigene Sprache bekannt machen,
ſo werden wir erſt von den Schriften Brands
und Fiſcharts ein tuͤchtiges Urtheil faͤllen koͤnnen.
Wir werden dann bisweilen ſolche poetiſche Er-
findungen und Ausbildungen darinnen wahrneh-
men, als wir in manchem Poeten, der unſre
neue Sprache redet, vergebens ſuchen wuͤrden.
Es iſt wahr, die veralterte Woͤrter, die abge-
ſchaften Redensarten, die harten Sylbenverbeiſ-
ſungen, ſind den meiſten von unſern heutigen Le-
ſern und Kunſtlehrern allzu anſtoͤſſig, als daß ſie
ſich uͤberwinden koͤnnten, den Sachen und Ge-
dancken, die darunter verborgen liegen, nach-
zuſuchen. Die Seele muß da fuͤr die Schuld
ihres Coͤrpers buͤſſen; und der Coͤrper ſelbſt muß
fuͤr das zerfetzete Kleid, womit er angethan iſt,
leiden. Es bleibt dabey, was Addiſon geſagt
hat, wer nicht mit einem wahrhaftig erhabenen
Geiſt und Genius begabet iſt, kan die Sachen
und Gedancken vor dem laͤcherlichen Anſtriche
nicht ſondern, welcher ihnen von der ungewoͤhn-
lichen und verlegenen Sprache anklebet. Eben
derſelbe berichtet uns, daß Mylord Dorſet, bey
dem der trefflichſte Witz mit der groͤſten Auf-
richtigkeit gepaaret war, einer von den feine-
ſten Kunſtrichtern und den beſten Poeten ſeiner
Zeit, eine zahlreiche Sammlung von alten Eng-
liſchen Liedern gehabt, und aus dem Leſen der-
ſelben ein ſonderbares Vergnuͤgen geſchoͤpfet habe.
Er meldet eben daſſelbe von Dryden, und ſagt,
daß er noch etliche andre ſcharfſinnige Scriben-
D 5ten
[58]Von der Poeſie
ten kenne, welche eben dieſen Geſchmack haben.
Jch will eine Probe machen, wie weit wir
faͤhig ſeyn, das Poetiſche in Fiſchart und Bran-
den, wenn es von der rohen Sprache nicht ver-
dunkelt wird, zu bewundern. Laſſet uns erſtlich
Johann Fiſcharts Gedichte auf das gluͤckliche
Schiff betrachten, welches in einem Tage den
Weg von Zuͤrch nach Straßburg gemacht hat.
Die Verſe von dieſem Gedichte ſind bekannt:
Eben dieſe Dinge wollen wir darinnen aufſuchen,
und damit wir den ſchwachen Leſer deſto ſiche-
rer vor Aergerniß bewahren, die Verſe in Pro-
ſa umſetzen, und die Woͤrter nach der heutigen
Sprachlehre orthographieren, dabey aber alle
dieſelben behalten, welche wir in dem Poeten
finden.
Unter den Dingen, die aus der ſtillen Na-
tur hergenommen ſind, haben mir folgende in die
Augen geleuchtet; der Rheinfall bey Laufenburg:
„Da etliche Berge ſich dem Rhein mit groſ-
„ſem Schalle widerſetzen, die ſich doch ſelbſt
„dadurch verletzen, denn der Rhein etzet eine
„freye Straſſe durch dieſelben, und wird ſie
„mit der Zeit verzehren.„
Der Strudel unter Lucken, welcher im Rhein
der dritte iſt:
„Er lautet von Nahmen erſchrek-
„lich,
[59]des ſechszehnten Jahrhundert.
„lich, denn er wird im Hoͤllenhacken genannt,
„weil er nach den Schiffen zwacket.„
Das Staͤdtgen Neuenburg: Dieſes Staͤdt-
gen, heißt es,
„bedarf groſſe Sorge, dieweil
„der Rhein mit ſeinem Laufe ſo ſtarck und hef-
„tig darauf zudringet, und ſeine Macht da ſo
„ſtrenge ſchauen laͤßt, daß man ihn nicht genug
„verbauen kan.
Das Rudern der Schiffenden:
„Sie zuͤk-
„ten die Ruder ſo ſtarck, als wollten ſie auf
„den Ruͤcken fallen, in gleichem Zuge, in glei-
„chem Fluge, der Steuermann ſtuhnd feſt an
„dem Pfluge, und ſchnitt ſolche Furchen in den
„Rhein, daß das unterſte oben zu ſtehen ſchien.
„Die Sonne hatte auch ihre Freude damit, daß
„das Schiff ſo dapfer fortſchritt, ſie ſchien ſo helle
„in die Rinnen der Ruder, daß ſie von ferne
„wie Spiegel ſchienen. Auch das Geſtade ſcher-
„zete mit dem Schiffe, wenn das Waſſer dem
„Lande zulief, denn es gab einen Wieder-
„ton, gleich wie die Ruder fielen. Eine Flut
„trieb die andre ſo geſchwind, daß ſie einem
„unter dem Geſichte verſchwand. Ja der Rhein
„warf auch kleine Wellen auf, die zu Geſellen
„um das Schiff tantzeten.„
Es duͤnkt uns, daß wir ſelbſt eingeſchiffet ſeyn,
wir werden mit den Schiffenden fortgefuͤhret, und
in alle die Staͤnde geſetzt, in alle die Gegenden
gebracht, welche dem Schiffe erſchienen.
„Die
„Sonne ſtrich ihnen bey Rheinau vor, und
„zeigte ſich dem Schiffe auf der Seite, ihm zu
„dem Wettlaufe auszubieten, welches dieſe Maͤn-
„ner
[60]Von der Poeſie
„ner deſtomehr ermannete, daß ſie weidlich Hand
„anlegeten; vornehmlich da ſie von ferne dauchte,
„wie ihnen ein neues Geſtirn hervorſchien, von
„dem Widerſcheine der hohen Spitze des Thur-
„mes zu Straßburg.
Es fehlet ihm, wie ihr ſehet, an geſchickten
Worten zur Ausbildung ſeiner Gegenſtaͤnde nicht.
Die Hitze der Sonne kan nicht poetiſcher vor-
geſtellet werden, als, wie folget:
„Je mehr ſie
„der Rhein fortſtieß, je mehr bewies die Son-
„ne ihre Kraft, denn als ſie mit ihren ſchnellen
„Gaͤulen ſo heftig in die Hoͤhe eilete, damit ſie
„zu Mittag in der Mitten waͤre, und da ausſpan-
„nen moͤgte, ward ſie vom eilen ſo erhitzet, daß
„ſie nichts als Feuerſtralen von ſich ſchwitzete.„
Von dieſer Art werde ich unter dem Artickel von
den Maſchinen noch mehr Stellen anzumercken
haben. Folgendes Gleichniß iſt zu der Zeit, da es ge-
macht worden, in der deutſchen Sprache ſo neu ge-
weſen, als es bequem iſt, die Geſchwindigkeit auf
einem der hoͤchſten Grade vorzuſtellen:
„Sie fuh-
„ren ſo gaͤhling unter der Bruͤcke durch, als ob ein
„Pfeil vom Bogen floͤge, oder ein Sperber entflo-
„gen waͤre.„
Und folgendes iſt noch auf dieſen
Tag ſo neu, als geſchickt erſonnen.
„Sie toͤ-
„neten hingegen mit den ſcharffen und rauhen
„Trompeten, daß es ſo einen Widerhall gab,
„als thaͤt ein Baum in einem Thal einen Fall.„
Jn dem Original iſt noch der Ton des fallenden
Baumes in den Worten ſelbſt nachgeahmet:
Eben
[61]des ſechszehnten Jahrhundert.
Eben ſo gut hat mir folgendes geſallen:
„Da
„gieng es in dem Waſſer daher, als ob es in den
„Wellen floͤge, die Ruder giengen ſchnelle auf
„und ab, ſo daß es ein Anſehen gab, als ob
„ein fremdes, ungewohntes Gevoͤgel die Fluͤgel
„auf dem Waſſer ruͤhrete.„
Den Titel der Character koͤnnen wir gantz be-
quem mit den Neigungen vereinigen, weil er eben
durch die Neigungen am deutlichſten ausgedruͤ-
ket iſt. Hier finden wir die Dankbarkeit der
Schiffenden:
„Als ſie nun daſelbſt mit des Rheins
„gutem Gluͤcke durch die Bruͤcke fuhren, dan-
„keten ſie ihm fuͤr die Treue.„
Und als ſie
durch den Waſſerbruch bey Rheinfelden gekom-
men waren:
„Da lobeten ſie den reinen Fluß
„daß er ſo gedultig und ohne Verdruß durch
„ſeine Standhaftigkeit die Ungeſtuͤmigkeit der
„Felſen durchdraͤnge.„
Jhre Arbeitſamkeit:
„Jedoch die maͤnnlichen
„Reiſegefehrten achten der Beſchwerden nichts.
„Jhre ehrenhitzige Ruhmbegierde ſtritt ungeirret
„mit der Hitze der Sonne. Die aͤuſſerliche
„Brunſt am Leib vertrieb die innerliche nicht.
„Jemehr ihr Blut erhitzet ward, deſto mehr ward
„ihr Muth entzuͤndet, ꝛc.„
Jhre Gottſeligkeit
und Andacht, als ſie vor Straßburg angelanget:
„Sie lieſſen auch dem Rhein zu Lobe die Trom-
„meln und Trompeten gehn, daß es ein groſ-
„ſes Freudengetoͤne gab. Sie danketen auch
„Gott ſonderlich, der ihnen ſeine Geſchoͤpfe zu
„der Schiffahrt ſo gnaͤdiglich laſſen dienen, das
„Waſſer, das Wetter und die Sonne.„
Alſo
[62]Von der Poeſie
Alſo hat der Poet bey jeder Gelegenheit die
Affecte, in welche die Schiffenden verſetzet wor-
den, geſchickt ausgedruͤcket, und damit den Le-
ſer in eben dergleichen Affecte geſtuͤrtzet. Als die
Geſellſchaft bey Neuenburg geſehen, daß der Rhein
ein gutes Stuͤck von der Stadt weggeriſſen, mel-
det der Poet,
„daß ſie es ſehr betrauret, und den
„Rhein um Bedauren gebeten habe, daß er ſei-
„nen Zorn wollte verflieſſen, und dieſe Stadt
„einmahl der Ruhe genieſſen laſſen.„
Die Freu-
de, ſo ſie empfunden, als ſie zuerſt aus der Aar
in den Rhein getreten, druͤcket er dergeſtalt aus:
„Da freueten ſich die Reiſegefehrten als ſie nun
„den Rhein rauſchen hoͤrten, und wuͤnſchten ſich
„auf ein neues Gluͤck, daß der Rhein ſie gluͤcklich
„fortſchickete.„
Doch dieſe Character und Affecte werden noch
lebhafter in ihren Reden ausgedruͤcket: Jhre er-
ſte Anrede an den Rhein iſt ſehr poetiſch und mit
geſchickten poetiſchen Beweggruͤnden eingefuͤhret:
„O Rhein, diene du uns nun mit deinem hel-
„len Fluſſe zur Foͤrderniß. Laß uns deiner Gunſt
„genieſſen, dieweil du doch bey uns entſpringeſt,
„am Vogelberg bey den Luchtmanen im Rhein-
„zierland, von alten Ahnen; und wir dein Thal,
„dadurch du rinnſt, mit Feldbau, dem ſchoͤnſten
„Dienſte auszieren. Schalte dieſes Wagſchiff-
„lein nach ſeinem Begehren; wir wollens dir
„doch verehren; leite es nach Straßburg, da-
„vor du doch gerne und mit Begierde laͤufeſt,
„weil es deinen Strohm wie ein Geſtein im Rin-
„ge verſetzet, zieret und ergetzet.„
Von
[63]des ſechszehnten Jahrhundert.
Von ihrer Unerſchrokenheit konnte man uns
keinen hoͤhern Begriff erwecken, als mit der kur-
zen Rede bey Jßſtein:
„Aber bey Jßſtein, ei-
„nem Schloß, welches zerſtoͤrt, oͤde, und bloß
„ſtehet, wollte ſich auch ein Strudel ſtreuben,
„und begunte groſſe Wellen aufzutreiben. Jedoch
„die Geſellſchaft verachtete ihn, und ſprach: Er
„haͤtte gleich ſo viele Macht, als dieſes Schloß,
„bey dem er herſtrudelte; welches zur Wehre
„gar verhudelt waͤre. Konnten wir Strudelberg
„durchdringen, ſo wollen wir auch Huͤgel uͤber-
„ſpringen. Kan uns keine Hitze den Muth zer-
„ſpalten, ſo wird den auch kein Eisſtein er-
„kalten.„
Noch mehr Reden finden wir unter dem Titel
der Maſchinen, welche wir noch zu betrachten
uͤbrig haben. Dieſe Reden ſind zwar andern Per-
ſonen, als den Schiffenden in den Mund gele-
get, denn der Poet hat nach der Manier der
Alten ein gewiſſes Miniſterium Deorum in ſei-
nem Gedichte eingefuͤhret, wodurch er der Klei-
nigkeit deſſelben trefflich geholffen, und ihm ein
groſſes Anſehen mitgetheilet hat. Eine Kunſt, wel-
che ſonſt auch unſer Frauenzimmer mit ihren klei-
nen Wahren und Gunſtbezeugungen wohl ver-
ſteht, welche ſie, wie Opitz ſagt, mit Worten
zu beſſern wiſſen. Dieſe Perſonen ſind die Lim-
mat, der Rhein, und die Sonne; welche Fiſch-
art an dem Geſchicke und Fortgang des Gluͤckes-
ſchiffes gewiſſermaſſen Antheil nehmen laͤßt. Von
der Limmat erzehlt er uns zwar allein, was ſie
vor Gedancken gehabt habe, ſie ſelber laͤßt er
nicht
[64]Von der Poeſie
nicht reden, und er giebt deßwegen eine Urſache
an, welche ungemein lebhaft iſt, die Geſchwindig-
keit des Schiffes vorzuſtellen:
„Die Limmat wollte
„ſich erſtlich etwas ſtrauſſen, ſie erzeigte ſich mit
„rauſchen und brauſen wild, denn ihr war ſolch
„ſchnelles Schiffen ungewohnt, und ſie haͤtte ſie
„gerne eine Weile ergriffen, von ihnen Beſcheid
„zu erfahren, was doch dieſes Eilen bedeutete;
„ob vielleicht ihre Landeszucht Zuͤrich groſſe Noth
„litte, daß man von ihr weichen muͤſſen. Aber
„ehe ſie dieſes von ihnen erfahren konnte, ka-
„men ſie ſchnell aus ihr in die Aar.
Die Rolle des Rheins, auf welchem ſie laͤn-
ger zu ſchiffen hatten, iſt ſchon groͤſſer. Er erſchei-
net nicht in der menſchlichen ſondern in ſeiner ei-
genen Geſtalt, und die Manier, womit er ſei-
ne Gedancken vernehmlich machet, iſt gantz poe-
tiſch:
„Der Rhein mogte dieſes kaum aushoͤ-
„ren, ſo wand er ſich krauſe um das Schiff,
„machete ein weites Rad um die Ruder und
„ſchlug mit Freuden an das Geſtade. Dann
„ließ er eine Stimme hoͤren, aus welcher man
„dieſe Worte erklaͤren mogte: Friſch dran ihr
„lieben Eidsgenoſſen, friſch dran, ſeyd unver-
„droſſen. Folget alſo euern Vorfahren, die
„vor hundert Jahren eben dieſes gethan haben.
„Wann man den Alten nachſchlagen will, muß
„man auf dieſe Weiſe Ruhm erjagen. Jhr
„ſeyd mir von eurer Vorfahren wegen willkom-
„men. Jhr ſuchet die alte Gerechtigkeit, die
„euch eure Alten bereitet haben. Dieſelbige will
„ich euch gerne goͤnnen, ſo wie ſie von den Al-
„ten
[65]des ſechszehnten Jahrhunderts.
„ten gewonnen worden. Jch weis auch, ich
„werde noch oftmahls ſehen, daß ſolches auch
„von euren Nachkommen geſchehen wird. Alſo
„erhaͤlt man Nachbarſchaft; denn der Schwei-
„zer Eigenſchaft iſt in der That nachbarliche
„Freundſchaft. - Mit ſolchen Leuten ſollte man
„durch die Meerwirbel und Meertieffen ſchif-
„fen. - Mit dieſen Knaben ſollte einer des Ja-
„ſons Schiffsgemeinder werden, in die Jnſel zum
„guͤldenen Widder; da wuͤßte er daß er wieder
„zuruͤck kommen wuͤrde. Waͤren dieſe am Meer
„geſeſſen, ſo waͤre America, die neue Welt, nicht
„ſo lange unbeſucht geblieben. Denn ihre Lob-
„begierde haͤtte dahin geſtellt.„
Die Rede
endiget mit einer Aufmunterung und Weiſſa-
gung:
„Laſſet euch nicht hindern, daß die Sonne
„euch auf die Haut ſticht, ſie will euch dadurch
„nur mahnen, daß ihr die Furchen tapfer durch-
„ſchneidet. Denn ſie ſaͤhe gern, daß ihr die
„Geſchichte bey ihrem Schein und Lichte voll-
„braͤchtet, damit ſie auch Ruhm davon truͤge,
„gleichwie ich mich deſſen ruͤhmen mag. - - Jhr
„doͤrffet euch nicht nach Wind umſehen, ihr
„ſehet der Wind will euch nachwehen; gleiche
„wie euch nun dieſes Wetter liebt, alſo bin
„auch ich unbetruͤbt. Jhr ſehet mein klares
„Waſſer, das offenbar iſt, wie ein Spiegel.
„So lange man den Rhein hinabfahren wird,
„wird keiner euer Lob ſparen, ſondern man wird
„wuͤnſchen daß ſein Schiff liefe, wie das gluͤck-
„hafte Schiff von Zuͤrich. Wohlan, friſch
„daran, ihr habet mein Geleit, um eurer ſtand-
[Crit. Sam̃l. VII. St.] E„haften
[66]Von der Poeſie
„haften Freudigkeit wegen; die Straſſe auf
„Straßburg ſey auch offen; ihr ſollet erlangen,
„was ihr hoffet. Was ihr heute fruͤh euch
„vorgenommen habet, das ſoll euch noch dieſen
„Abend wahr werden. Jhr werdet heut die Stadt
„Straßburg ſehen, ſo wahr ich ſelbſt zu derſelben
„hinzunaͤhern werde. Heute werdet ihr als
„willkommene Gaͤſte zu Straßburg ankommen.
„Nun liebes Wagſchiffgen lauf behende, du
„wirſt noch heute Gluͤckesſchiff genannt werden,
„und durch dich werde ich auch geprieſen werden,
„weil ich an dir ſolche Treue bewieſen habe.„
Die Wirckung, welche dieſer Zuſpruch bey den
Eingeſchifften gethan, wird auf eine recht poeti-
ſche Art beſchrieben:
„Solche Stimme war der
„Geſellſchaft etwas ſeltzames, ſie ward daruͤber
„gar erſtaunet, und ſchwieg ſtille. Es dauchte
„ſie, daß ſie die Stimme fuͤhlte, als wann
„ein Wind in eine Hoͤle blieſe. Derhalben
„jagte ſie ihr einen Muth ein, gleich wie das
„Horn und das Rufen des Jaͤgers den Hun-
„den thut, wenn es in dem finſtern Wald weit
„erſchallet, ſo ſie ſich im tieffen Thal verlau-
„fen haben, und die Berge auf und ab durch-
„ſchnaufen. Alsdann ſchaͤumet ihnen die Waf-
„fel erſt, und ſie kommen ungeſaͤumet auf die
„Spur. Alſo war auch die Stimme dem Schiffe.
„Es bekam erſt einen Grimm zu rudern.„
Das
Gleichniß iſt gantz homeriſch ſo wohl in der male-
riſchen Ausfuͤhrung, als in der Verknuͤpfung ver-
ſchiedener Abſichten.
Nach
[67]des ſechszehnten Jahrhunderts.
Nach dieſem wird die Sonne, eine noch vor-
nehmere Perſon, aus einer ſehr natuͤrlichen Ur-
ſache eingefuͤhret, weil nemlich die Schiffenden
ſich vermeſſen, die Stadt Straßburg vor dem
Untergange der Sonne zu erreichen. Aus die-
ſem Grunde fließt vor ſich ſelbſt die Erdichtung
des Poeten, daß das Schiff mit der Sonne ei-
nen Wettſtreit eingegangen habe, wer von ih-
nen zuerſt in Straßburg ankaͤme. Es war nur
ein Streit um Ruhm, ἔϱις ἀγαθὴ, und Fiſch-
art hat dieſes in der Zuneigung und Hochachtung,
welche er der Sonne fuͤr die Schiffenden zuſchrei-
bet, an etlichen Orten ausgedruͤckt. Durch dieſe
Erdichtung hat er dem Vornehmen der Schif-
fenden eine groſſe Wuͤrde beygeleget, er hat die
ſinnlichſten Bilder daher erhalten, die Geſchwin-
digkeit der Schiffahrt vorzuſtellen, er hat davon
Stof zu etlichen wunderbaren Schildereyen der
lebloſen Natur bekommen. Dieſe gantze Sce-
ne aber wird nur erzehlet, und nicht aufgefuͤhret.
Jch will ſagen, die Sonne redet nicht ſelbſt, ſon-
dern der Poet beſchreibt ihre Gedancken und Mei-
nungen:
„Vornemlich aber ſchoß die Sonne ihre
„Strahlen auf unſer ſchmales Schiffgen, weil ſie
„ihm ſchier mißgoͤnnete, daß es mit ihr in die Wet-
„te lief, und ihr ihren Lauf nachthun, mit ihr auf-
„und auch niedergehen wollte. Jedoch die maͤnnli-
„chen Reiſegefehrten achteten der Beſchwerde
„nichts. Sie hielten der Sonne Stiche nur vor
„eine Anmahnung ſich zu foͤdern. Denn werſchoͤnes
„Wetter haben will, muß leiden, daß er die Son-
„ne fuͤhle. Derowegen, als die Sonne vermerckte,
E 2„daß
[68]Von der Poeſie
„daß ihre Mannheit nur dadurch geſtaͤrcket
„ward, und das Schiff immer forteilen ſah,
„ſorgete ſie, ſie moͤgte ſich verweilen, daß
„ihr das Schiff vielleicht vorkaͤme, und ihr
„alſo das Lob benaͤhme. Ehe ſie derohalben
„halb ausgeruhet hatte, ſpannte ſie friſche
„Pferde vor, ſie ließ ſich aus ihrem guͤldenen
„Saal, und rennte in einem Keif zu Thal,
„als wenn ein Feuerſtrahl vom Himmel ploͤtz-
„lich in ein fernes Thal ſchießt. Sie brauchte
„ſich auch ſo emſiglich, daß ſie ihnen bey Rhein-
„au vorſtrich, und ſich dem Schiffe auf der
„Seite zeigete, ihm zum Wettelaufen auszu-
„bieten, welches dieſe Maͤnner deſto mehr er-
„mannete, daß ſie weidlich Hand anlegeten,
„vornehmlich, da ſie von ferne dauchte, daß
„ihnen ein neues Geſtirn hervorſchiene, das
„war der Wiederſchein der hohen Spitze
„des Thurmes zu Straßburg wegen der hel-
„len Blitze, welche die Sonne auf derſelben
„erregete, auf daß ſie die Geſellſchaft bewe-
„gete, und alſo mit ihr ſchertzete, und ſie be-
„hertzt machete zu fahren, denn der Keif war
„ihr vergangen, ſeitdem ſie ihres Vortheils
„gewahr worden. Sie ließ ietzo die Pfer-
„de gerne langſam traben, mehr Kurzweil
„mit dem Schiffe zu haben, welches ungewohn-
„ter Weiſe auf dem Rhein mit ihr um den
„Preis wettelief. Denn groſſe Haͤndel un-
„ternehmen, wird ſo wohl gelobt, als ſie be-
„gehen. Aber ſie mußte heruntereilen, ſich
„von der Erden erkuͤhlen zu laſſen, und ſich
„ſelber
[69]des ſechszehnten Jahrhunderts.
„ſelber im Meere zu erfriſchen, und den feu-
„rigen Schweiß abzuwiſchen. Jedoch, ehe ſie
„verlaͤuft, ſprang ſie zuletzt hinter den Ber-
„gen zu etlichen mahlen mit ihren Blicken auf,
„zu ſehen, wie ſie ſich nachſchicketen; und als
„ſie es ſchier vollbracht ſahe, ſprang ſie zu
„guter Nacht noch einmahl auf, und befahl
„die Geſellſchaft dem Rhein; ſie gar in die
„Stadt hinein zu leiten.„
Man muͤßte ungerecht oder ungelehrt ſeyn,
wenn man dem Verfaſſer dieſer Erfindungen
und Ausbildungen das poetiſche Naturell ab-
ſprechen wollte. Wir erkennen vielmehr, daß
Zinckgraͤf in ſeiner Vorrede zu der allererſten
Ausgabe einiger opitziſchen Gedichte, ehender
zu wenig als zu viel von Johann Fiſchart ge-
ſagt habe. Jch bekenne zwar, daß ich mei-
nem Vorhaben gemaͤß die beſten Stellen die-
ſes Gedichtes ausgeſchrieben habe, und daß
hier und dar viel ſchwaͤcheres Zeug darinnen
iſt, zum Exempel in dem Tagbuche, was den
Zuͤrchern zu Straßburg von Tage zu Tage
begegnet ſey, welches an Stof und Worten
allzu proſaiſch iſt: Doch giebt es in dieſem klei-
nen Werckgen noch mehrere Schoͤnheiten, de-
ren ich gedenken koͤnnte, und mich wuͤrklich
nicht hinterhalten kan, noch einiger zu erwaͤh-
nen. Die Anruffung bey der Abfahrt von
Zuͤrich an die Sonne zeiget poetiſche Andacht,
Vertrauen, und hoffende Munterkeit:
„O hel-
„ler Tag, o liebe Sonne, ſprachen ſie, goͤn-
„ne uns nun deinen Schein, und zeige uns
E 3„dein
[70]Von der Poeſie
„dein lichtes rothes Haupt, deſſen du uns dieſe
„Nacht beraubet hatteſt. Geh uns zum Heile
„mit Freuden auf, daß wir unſer Theil voll-
„bringen, halt mit deinem Scheine heute bey
„uns, laß dir keine Wolke hinderlich ſeyn.
„Zuͤnd uns heute den Weg durch dein Licht
„bis auf Straßburg, welches noch ſehr weit
„iſt. Denn du wirſt durch dieſe Geſchichte auch
„beruͤhmt werden. Wolan, dein Vortrab,
„die Morgenroͤthe, zeigt uns, daß du ſtets
„bey uns halten willſt. Wann wir heute
„deine Hitzſtiche empfinden, wollen wir dei-
„nen Beyſtand verkuͤndigen.„
Die Eigenſchaften und die Geſtalt der Fluͤſſe,
werden mit einer Geſchicklichkeit beſchrieben,
welche in den lateiniſchen und den griechiſchen
Poeten gewoͤhnlich bey dergleichen Gelegenheit
vorkommt, und in unſern Deutſchen noch auf
den heutigen Tag mangelt:
„Die Limmat,
„welche auf dem Maͤrchberg, der Ury umrin-
„get, entſpringt, und durch das Lindthal fuͤr
„Glaris laͤuft, dann in dem Oberſee erſaͤuft,
„aber im Zuͤricherſee wieder hervorkoͤmmt, und
„ſtraks fuͤr Baden her nieder laͤuft.„
Von der Aar ſagt er:
„Die Aar entſpringt
„beym hoͤchſten Gebuͤrge, dem Gotthard, der
„in die Wolken dringet, ſie windet ſich ge-
„ſchwind, und wie ein Fiſchangel durch Brienz
„und den Thunerſee, und umringet Bern,
„die Landreiche Stadt, die wohl einen Baͤ-
„renmuth hat, beydes wahre Lehre zu pflan-
„zen, und ihre Laͤnder mit Wehr zu ſchirmen.
Fol-
[71]des ſechszehnten Jahrhunderts.
„Folgends kruͤmmet ſie ſich bey Aarberg,
„die alte Stadt Salothurn zu umgeben.„
Die Stelle von dem Rhein habe ich ſchon
oben angefuͤhrt. Jn der eben angezogenen Stel-
le iſt der Character der Berner mit ein paar
wahrhaften Zuͤgen beruͤhrt. Von der Stadt Zuͤ-
rich und ihren Einwohnern hat er auch die deut-
lichſten Merckmahle ausgezeichnet:
„Dieſe
„Stadt ward wegen ihrer Tugendmacht ſo hoch
„gehalten, daß den Eidgenoſſen gefallen hat,
„ſie ſollte das erſte Ort unter allen ſeyn.
„Dieſe Stadt hat die Limmat mit etlichen
„ſchoͤnen und weiten Bruͤcken eingefangen,
„und iſt von vielen Stuͤcken beruͤhmt, von
„Policey, von Religion, von mancher ge-
„lehrten Perſon, von weiſen Leuten zum Rath,
„und von ſtreitbaren Maͤnnern zur That.„
Jch habe oben den lebhaften und affectvol-
len Abſchied des Rheins von unſrer ſchiffen-
den Geſellſchaft nicht vergeſſen ſollen:
„Drauf
„hat der Rhein ſeinen Abſchied genommen,
„auf daß er bald ins Meer kommen, und ihm
„die fremde Zeitung bringen moͤgte, wie er
„mit ihm um Ruhm ringen werde, weil man
„auch auf ihm ſo geſchwind fahre, dazu oh-
„ne Segel, und ohne Wind.
Wenn der Poet fuͤr ſich und in ſeinem ei-
genen Nahmen redet, nimmt man oͤffters ei-
ne Art Geiſtes und Witzes wahr, die in einer
ſinnreichen und ſehr gluͤcklichen Anwendung der
Geſchichte beſteht: Zum Exempel gerade im
Anfange:
„Man liſt von Xerxes dem Be-
E 4„herr-
[72]Von der Poeſie
„herrſcher des Aufganges und der edlen Per-
„ſer, welcher neun hundert tauſend Mann
„wider die Griechen angefuͤhrt, als er ſehr
„groſſen Verluſt zur See gelitten, ſey er ſo
„ſehr ergrimmet, daß er das Meer habe geiſ-
„ſein laſſen, und Ketten darein geworffen,
„es zu ſtillen, und es nach ſeinem Willen zu
„feſſeln. Aber dieſer Hohn half ihm nichts,
„er floh davon. Desgleichen hoͤret man von
„Venedig, daß ſie das Meer ihnen gnaͤdig
„zu machen, jaͤhrlich einen Ring hineinwerf-
„fen, damit es ſie wie eine Braut umfienge.
„Aber wie oft hat es ſich mit Ueberguͤſſen feind-
„lich gegen ihnen erwieſen? Wenn ſie auch
„ihrer Gemahlin wohl traueten, was doͤrfften
„ſie viel Daͤmme um daſſelbe bauen? Des-
„halben hat man eine gewiſſere Weiſe die
„Waſſer und Fluͤſſe zu zaͤhmen, daß ſie ge-
„ſchlacht und gefolgig werden, und die Leute
„ohne Beſchwerden fertigen, handfeſte Ar-
„beitſamkeit, und ſtandhafte Unverdroſſenheit,
„durch rudern, ſtoſſen, ſchalten, ꝛc.
Dieſes Gedichte iſt durchgehends ernſthaf-
tig, und man trifft nicht eine ſchmutzige Zeile
darinnen an, die einem ſittſamen Leſer an-
ſtoͤſſig ſeyn moͤchte. Man weis ſonſt wie hoch
es Fiſchart in der cyniſchen Sprache gebracht
hat. Jn ſeiner freyen Ueberſetzung des Gar-
gantua hat er den Rabelais ſelbſt, den Va-
ter der Lotterbuͤbiſchen Schreibart, beynahe
uͤbertroffen.
Wenn
[73]des ſechszehnten Jahrhunderts.
Wenn ſein Gedichte von der Floͤhhetze mit
dieſem Fehler nicht beſudelt waͤre, ſo duͤrften
wir es wegen vieler poetiſcher Gedancken und
Vorſtellungen, in welchen ſich eine natuͤrliche
Faͤhigkeit zur Poeſie zeiget, deſto freyer an-
preiſen. Ein Floh klaget der Muͤcke ſeine Noth,
die ihm und andern von ſeinem Geſchlechte von
den Weibern angethan wird: Die Muͤcke be-
gegnet ihm mit Troſt und Rath auf das freund-
lichſte. Dem iſt die Verantwortung der Wei-
ber auf der Floͤhe Verkleinerung angehaͤnget,
ſamt dem Floͤhurtheile. Der Floh faͤngt ſeine
Klage an:
„Wem ſoll ich meine Noth kla-
„gen? Den Menſchen kan ich ſie nicht wohl
„ſagen, wiewohl ſie von Natur erkennen,
„was gut, und was recht zu nennen ſey;
„dieweil ſie mir gar gehaͤſſig ſind; denn der
„Gehaͤſſige ſpricht unrechtmaͤſſig. Soll ich ſie
„denn meines gleichen ſagen, ſo wird man
„mir hinwiderklagen: Das iſt denn Klage um
„Gegenklage, welche keinem etwas frommen
„mag. Es muß einer ſeyn, der ſie beur-
„theilet, und nach dem Rechten daruͤber
„ſpricht. Derohalben will ich zu dem fliehen,
„von welchem wir alle den Anfang ziehen,
„der nach ſeiner Guͤte und Macht nicht das
„geringſte Geſchoͤpfe verachtet, und uͤberall
„gantz nichts verwahrloſet, ohne deſſen Wil-
„len kein Thier ſein Haar laͤßt. Darum o
„hoher Jupiter, gewaͤhre nun mich armes
„Thiergen. Jch bin eine lebendige Todten-
„leiche; das machet ein unzartes Frauenbild.
E 5„- O
[74]Von der Poeſie
„- O du boͤſe unbarmhertzige Art, die von
„keinem Menſchen gebohren ward, ſondern
„vom Krokodil herkoͤmmt, der zum Morde
„vor Freude weint. Sie lachte zu allen die-
„ſen Dingen, daß ihr die Augen uͤbergiengen.
„O Jupiter, wie kanſt du zuſehen, daß ſol-
„che Unbille geſchieht, da doch alle Unbillig-
„keit Gott zur Unwilligkeit erweckt! Jch thue
„ja dieſes, wozu du mich erſchaffen, und neh-
„re mich, wie du mich beruffen haſt, mit et-
„wan einem Troͤpflein Blutes; und thu es
„nicht, wie man meint, aus Trutze; ſo we-
„nig, als der Menſch der Erde zu Trutze ſie
„mit den Pferden zerackert, und dem Scha-
„fe zu Trutze es beſchiert, dem Baume zu Leide
„ſeine Fruͤchte abnimmt. - Es ſollten hinfort
„alle Floͤhe Jovem um einen Angel bitten,
„daß ſie ihren Mangel einbraͤchten, ja um
„einen dreyſpitzigen Spieß, den man bis an
„das Heft einſtieſſe; ja daß der fromme Jupiter
„mit ſeinem Strahle in ſie herſchoͤſſe, und ſie
„lehrte an Geſchoͤpfen, die niemand betruͤ-
„ben, dergleichen Muthwillen uͤben. Aber
„wie einmahl einer geſchrieben hat, die Strah-
„len ſind bey ihm gar theuer, weil der Vul-
„canus alt worden iſt, daß er nicht wohl
„mehrere ſchmieden kan. Oder die Strah-
„len ſind ſonſt bey ihm werth und theuer,
„daß er ſie nicht um eine jede Beſchwerde ſo
„liederlich verwaget; gleichwie man von St.
„Peter ſagt, als er einen Tag Herr im Him-
„mel war, und eine Magd Garn ſtehlen ſah,
„habe
[75]des ſechszehnten Jahrhunderts.
„habe er ihr gleich einen Stuhl zum Schopf
„geworffen, und dadurch ſeinen Peterskopf
„erwieſen. Haͤtte er es ſolchergeſtalt lange ge-
„trieben, ſo waͤre kein Stuhl mehr im Himmel
„geblieben. Alſo, ſollte Jupiter ſeine Strah-
„len, ſo oft wir es verdienen, auf uns los-
„ſchieſſen, ſo haͤtte er ſchon laͤngſtens kein
„Geſchoß mehr. Doch ſoll darum keiner ſicher
„ſeyn, eine langſame Pein iſt eine lange Pein. -
„O koͤnnte ich ietzt einen Hagel kochen, ich
„lieſſe es doch nicht ungerochen hingehen,
„denn wie kan ich mir doch abbrechen, daß
„ich mich nicht greulich raͤchen ſollte, weil
„ſie mir als die greulichſten Feinde meine
„Aeltern, Geſchwiſtern, meine getreueſten
„Freunde, ja meinen Gemahl ermoͤrdet ha-
„ben? O daß mir das Hertz nicht in tau-
„ſend Stuͤcke bricht, wenn ich gedencke, daß
„dieſe lieben Freunde noch dazu unbegraben
„ſind! Ach warum haſt du mich doch alſo
„gemacht, daß ich dem Weibervolck zum
„Opfer wuͤrde? Oder warum haſt du die
„Weiber alſo geſchaffen, nur daß ſie uns
„ſtraffeten? Entweder ſollten keine Floͤhe ſeyn,
„oder kein Weib ſollte mehr werden, weil
„dieſe beyde ſich nie vertragen. Aber es iſt
„gar ein ungleiches Ding, daß ein Zwerg
„mit einem Rieſen ringe, was zoͤrne ich denn
„lange, ich thue mir nur ſelbſt mit Zorn weh.
„Jch will es dir befehlen, Jupiter, du kanſt
„mein Recht zurecht beſtellen. Raͤche du der
„Mord in unſrem Nahmen; laß uns als de[in]e
„Ge-
[76]Von der Poeſie
„Geſchoͤpfe nicht ſo zu ſchanden machen. Denn
„an den Boͤſen nicht Rache uͤben, das heißt
„den Frommen Schmach anthun.„
Es ſind in dieſer Rede Affecte und Empfin-
dungen genug; und dieſe ſind mit einer gewiſſen
Scharfſinnigkeit, und einer lehrreichen Einſicht
begleitet. Sinnreiche Spruͤche und kluge Lehren
regieren in dem gantzen Gedichte; ſie werden nicht
zu weit hergehohlet, daß ſie dem Verſtande Muͤhe
machten, ſondern ſie flieſſen freywillig aus dem Af-
fecte und der Sache ſelbſt; und werden daneben
in einer deutlichen Redensart vorgetragen. Man
koͤnnte etliche Dutzend dergleichen, die eben nicht
von den abgenutzteſten ſind, zuſammenleſen. Z. E.
„Sorge und Angſt doͤrret das Hertz aus, des
„Gemuͤthes Schmertz verzehret den Leib. - Den
„Schaden verſchweigen macht ihn ſteigen, und
„ihn anzeigen, macht ihn neigen. - Der Witz
„der Armen liegt in der Aſche, da der Rei-
„chen in der Taſche liegt. Der Taſche Witz
„gilt nicht laͤnger, als ſo lange man Geld hat;
„der Aſchen Witz ruhet wie ein Schatz, und
„ſcheinet, wenn man ihn hervorkratzet. - Das
„Kleine koͤmmt auch zu ſtatten, ein kleines Haͤr-
„gen giebt auch einen Schatten. - Schlaͤgt Liſt
„zu der Grauſamkeit, ſo hilft keine Geſchwin-
„digkeit fuͤr den Tod. - Auch ſchuldiges Blut,
„naget einem das Hertz, geſchweige, was das
„unſchuldige thut. - Was iſt ſich zu verwun-
„dern, wenn die Wolcken in der Hitze donnern,
„das iſt, wenn die Jugend muthwillig iſt, die
„es ſich vor billig haͤlt; ſo es doch kalte Wol-
„ken
[77]des ſechszehnten Jahrhunderts.
„ken ebenfalls thun, nemlich die alten Vetteln?
„- Der Feind muß oͤfters unverhoft auch ſeinen
„Feind verehren. - Der Tod, den groſſe Leute
„einem anthun, wird gering geachtet. - Es lau-
„tet gleich, etwas nicht wiſſen, und das man
„weiß, nicht genieſſen koͤnnen.„
Dieſen letz-
tern Gedancken hat Milton vor werth gehalten,
in ſein heroiſches Gedichte einzutragen, wo er
ihn alſo gegeben:
And yet unknown is as not had at all.’
Von den Erzehlungen, wo die Hetze und Nie-
derlage der Floͤhe beſchrieben wird, koͤnnte ich
die Anmerkung machen, welche man zum Lobe
des Homers uͤber die Jlias gemachet hat, daß
unter hundert Todesarten, die da umſtaͤndlich er-
zehlt werden, keine der andern gleich iſt: Aber
die Eingezogenheit unſers Jahrhunderts laͤßt mir
nicht zu, mich hieruͤber aufzuhalten, ignotis pe-
reant mortibus illi. Doch zu einer Probe von
des Autors Kunſt im Erzehlen will ich die Fa-
bel von der Stadtmaus, und der Feldmaus, die
er in ſeinem Werck eingewebet hat, ausſchreiben.
„Die Feldmaus lud die Stadtmaus zu Gaſt,
„mit dem Felde verlieb zu nehmen. Darauf
„richtete ſie zu, uud trug hervor, was ſie im
„aͤuſſerſten Winckel hatte, was ſie den Win-
„ter uͤber geſpart hatte, ſo daß ihre Speiskam-
„mer faſt leer ward, damit ſie nur der zarten
„Zucht mit den ſchoͤnſten Fruͤchten ein Genuͤgen
„thun moͤgte. Aber was ſie immer dem Jun-
„ker
[78]Von der Poeſie
„ker aus dem Stadtfrauenzimmer vorſetzete,
„runtzelte er nur Naſe und Stirn daruͤber, und
„ſagte, das waͤre nur Bauerwerck, er haͤtte
„drinnen in der Stadt eine andre Luſt, desglei-
„chen der Feldmaͤuſe Koͤnig ſelbſt mit ſeinem Ho-
„fe nicht haͤtte. Er habe ſchleckhafte Speiſe
„vollauf. Seine Speiſe ſey geſotten, und ge-
„braten, er habe Fleiſch und Brod und Kaͤſe zum
„Fladen. Solches zu erfahren fuͤhrte ſie die
„Feldmaus aus dem Feld, und in ihr Haus.
„Daſelbſt trug ſie bey der Schwere auf, und
„fragte immer, haſt du noch nicht genug? Jn-
„deſſen weil ſie ſich da vergeſſen, hoͤren ſie
„den Schluͤſſel im Schloß umdrehen, und je-
„mand zu ihnen nahen. Die Stadtmaus auf,
„und davon. Die Feldmaus wollte auch nicht
„ſtehen bleiben; und konnte doch ſchwerlich aus
„der Gefahr kommen, weil ihr Sache und Ort
„ungewohnt waren. Als ietzo der Hausknecht wie-
„der hinweg war, gieng die Stadtmaus wieder zu
„ihrem Schlecke; und rufte der Feldmaus auch
„zu Tiſche; ſie wollten nun auf ein friſches ze-
„chen. Aber dieſe wollte lange nicht trauen.
„Doch wagte ſie es endlich auf der andern
„Bitte. Da nun die Stadtmaus ſie wohl ze-
„chen und trincken hieß, fragt ſie dieſelbe: Ob
„ſie ſolche Gefahr oft ſo unverhoft beſtehen muͤß-
„te? Sie antwortet, es waͤre ihr gemeines
„Brodt, man muͤßte eine gemeine Noth nicht
„achten. Wie, ſagte die Feldmaus, iſt es dir
„gemein? So achteſt du dein Leben wenig. Wer
„ſich muthwillig in Noth ſtecket, der iſt an ſei-
„nem
[79]des ſechszehnten Jahrhunderts.
„nem Tode ſelbſt ſchuldig. Jch verlange kei-
„nen Schleck, der Schrecken bringt. Schre-
„ken kan keinen fetter machen. Deine Speiſe
„iſt mit Zucker beſprenget, aber auch mit Ge-
„fahr ſehr vermenget. Was der Honig daran
„verſuͤſſet, das verwuͤſtet dann die Gefahr wie-
„der. Mir aber will die Speiſe nicht gefallen,
„wenn die Galle ſchon verhoniget iſt. Jch will
„lieber meine Sparſamkeit und Duͤrftigkeit mit
„Sicherheit, als deinen Ueberfluß mit ſolcher
„Angſt, Sorge, Flucht, und Schrecken.„
Man wird an den Umſtaͤnden dieſer Erzeh-
lung, der Ausbildung derſelben, der Verbin-
dung, der Deutlichkeit, und dem Ausdrucke
nicht viel auszuſetzen wiſſen. Jch habe dem Poe-
ten in meiner proſaiſchen Ueberſetzung nichts ge-
liehen. Man kan es probieren, ob man aus
Hans Sachſens Schriften dergleichen Gedan-
ken und Ausdruͤckungen herausbringen koͤnne,
wenn man ihm gleich ſeine Flickwoͤrter, ſeine ver-
alterten Woͤrter, ſeine Verſetzungen, und der-
gleichen Fehler verzeyhen wollte. Nur bey dem
Ausdrucke allein ſtehen zu bleiben, ſo kennen wir
manchen Neuern, der der Knittelſprache unſers
Fiſcharts lachet, welcher nicht faͤhig waͤre, eine
von folgenden, oder dergleichen Redensarten aus-
zufinden: Boͤſes Blut gießt keine ſchoͤne Farbe
ein. - Dieſe both uns ihre Fuͤſſe feil, damit ſie
uns den Tod verkaufte. - Den Unfall hoch ſpreiſ-
ſen. - Gerechter Jupiter, der das Geringe
achtet, wie das Schwere. - Die heilige Ge-
rechtigkeit ſchicket ihr eine Strafe. Der Welt
Trinck-
[80]Von der Poeſie des XVI. Jahrh.
Trinckgeld iſt Gallentranck, der allen Danck
verbittert. Die bleichen Wangen mit Glantz-
ſtaube beſtaͤuben. Der Ueberfluß niſtet nicht,
wo keine Sicherheit iſt. Einen Hagel kochen.
Des Reichen Witz liegt in der Taſche. Groſſe
Leute ſtoſſen ſich in der Enge ab. Der Blin-
de muß den Lahmen tragen. Die Leber ge-
geſſen haben. Ein Held mit troͤſten ſeyn. Die
Kleinmuth durch Standhaftigkeit daͤmmen. Auch
das ſchuldige Blut nagt einem Menſchen den
Muth. Pluto trug ihn in eine Kammer. Neid
kochen. Seine Brunſt im Schnee abbaden.
Die Schand muß ſich auf euch enden.
Jch erinnere mich, daß dieſer Verfaſſer ſelbſt
in ſeinen Wercken folgender poetiſcher Schrif-
ten Meldung thut, welche von ihm verfertiget
worden ſeyn: Die Schwalben- und Spatzen-
hetze; das Gauchslob; der Rathſchlag von
Erweiterung der Hoͤllen; die Hofſuppe. Kei-
nes von dieſen Stuͤcken iſt mir noch zur Zeit
in die Haͤnde gekommen. Wenn ſie mit ſchmu-
zigen Vorſtellungen nicht beſudelt ſind, ſo laͤßt uns
die Materie von dem Witze des Verfaſſers et-
was verhoffen, welches der Aufmerkſamkeit,
und des Aufhebens nicht unwuͤrdig waͤre.
Die Fortſetzung wird in dem folgenden
Stuͤcke kommen.
Aben-
[81]
Abentheuer, das ſich mit der Aeneis
Hrn. Joh. Chriſt. Schwartzen in Conrector
Erlebachs Schule zugetragen hat.
JCH habe ſo viele Proben von der Guͤtig-
keit meiner Leſer empfangen, daß ich mich
dißmahl aus bloſſem Vertrauen auf die-
ſelbe erkuͤhne, der Neigung, nach welcher jeder
Menſch gerne von ſeinem Handwercke redet, nach-
zugeben, und ihnen eine Handlung aus meinem
Schulſtaate zu erzehlen. Jch darf dieſes deſto
dreuſter thun, nachdem diejenige, fuͤr welche ich vor-
nehmlich ſchreibe, ſich in den Gottſchediſchen Bey-
traͤgen zur deutſchen Sprache, in den Beluſti-
gungen des Witzes und des Verſtandes, und in
andern Schriften von dieſer Art, an Schuluͤbun-
gen, an Jugendfruͤchte, an Erſtlinge des Geiſtes,
an grammaticaliſche Exercitien, und dergleichen
Sachen dergeſtalt gewoͤhnt haben, daß ſie ſol-
che nicht ſelten ihres Beyfalles gewuͤrdiget, und
manchmahl gar vor Meiſterſtuͤcke des Witzes be-
wundert haben.
Jch habe vor wenigen Tagen meinen Unter-
gebenen etliche Stellen aus der Aeneis zu uͤber-
ſetzen vorgeſchrieben, und demjenigen der es am
beſten machen wuͤrde, einen ſaubergebundenen Lon-
gin nach Heineckens Ueberſetzung mit der neuen
Vorrede, als einen verdienten Preis verſpro-
chen, dahingegen derjenige, welcher die ſchlech-
teſte Probe liefern wuͤrde, den Schuleſel beſtei-
gen, und drey Viertelſtunden darauf ſitzen ſollte.
[Crit. Sam̃l VII. St.] FUnter
[82]Abentheuer von der Aeneis
Unter denſelben iſt ein junger Aufſproͤßling von
gutem Hauſe, Nahmens Joh. Chriſtoph Weiß,
ein zwar faͤhiger, aber dabey allzu fluͤchtiger Kopf,
der in der Literatur mehr die Bagatelle, als die
Gruͤndlichkeit liebet, und insbeſondere eine na-
tuͤrliche Neigung zum Sylbenmaſſe und den Rei-
men hat; womit er ſich oft in den Gedancken
ſchlaͤgt, wenn er einer ernſthaften Lection nach-
dencken ſollte. Seit ein paar Jahre ſind ihm
gewiſſe Buͤchelgen aus Leipzig von dergleichen
Materie in die Haͤnde gerathen, welche ihm den
Kopf dergeſtalt zerruͤttet haben, daß er biswei-
len in dem Paroxyſmus um Sinnen und Gedan-
ken koͤmmt.
Dieſer junge Weiß lieferte mir eine gereimte
Ueberſetzung, ungeachtet ich nur eine proſaiſche
gefodert hatte, und machete dabey eine ſolche Mi-
ne, daß ich ſeine Hoffnung den aufgeſetzten Danck
zu erlangen, deutlich daraus abnehmen konnte.
Allein ich hatte ſeine Arbeit kaum uͤberſehen, als
ich wahrnahm, daß ſie weit ſchlechter war, als
die andern Proben, und nichts weniger als den
Nahmen einer Ueberſetzung, geſchweige einer poe-
tiſchen Ueberſetzung, verdienete. Sie betaͤubete
zwar das Ohr durch das Geklingel der Reimen
mit einigem Wohlklang, und ſchien diesfalls vor
den andern etwas vorauszuhaben; aber dieſer Vor-
zug verſchwand, ſobald man ſie von den Banden
der Reimen befreyete, und jedermann erkannte,
daß es eine ungeſtaltete und uͤbel gerathene Geburt
war, welche die Merckmahle einer groben Unge-
ſchick-
[83]Herr Joh. Chriſtoph Schwartzen.
ſchicklichkeit, oder einer unverantwortlichen Nach-
laͤſſigkeit nicht verleugnen konnte.
Jn dem erſten V. der Aeneis ſagt Juno die-
ſe Worte zum Aeolus:
Dieſe Zeilen hat mein Lehrling dergeſtalt in Rei-
men uͤberſetzt:
Nachdem ich ihn die lateiniſchen Verſe gegen die
deutſchen Reimen halten heiſſen, hatte ich alle
Muͤhe, ihm vorſtellig zu machen, wie weit er
ſich von dem Originale entfernet, und Dinge
geſagt, an welche Virgil niemahls gedacht haͤtte.
„Sieheſt du nicht, ſagte ich zu ihm, daß Ju-
„no beym Virgil zwey verſchiedene Dinge von
„Aeolus bittet, und daß dieſe zwey Dinge zwo
„Arten Straffen ſeyn ſollen, womit ſie ihre Ra-
„che an den Trojanern ausuͤben will. Eine oder
„die andere gilt ihr gleich viel; entweder ſollte
F 2„Aeo-
[84]Abentheuer von der Aeneis
„Aeolus die Trojaniſche Flotte in den Abgrund
„des Meeres verſenken, oder er ſollte die Schiffe
„von einander zerſtreuen, und ſie an verſchie-
„denen Oertern ſcheitern laſſen. Hingegen iſt
„deine Juno ein poſſierliches Weib; ſie ver-
„bindet mit einander, was unmoͤglich zugleich
„beſtehen kan; ſie wollte gerne das Schiff in
„den Abgrund geſtuͤrtzet, und zugleich den Wel-
„len zur Kurtzweil uͤbergeben wiſſen. Das iſt
„ſo viel, als wenn ſie aus einer beſondern Ra-
„che jemanden wollte um das Leben bringen,
„und doch nicht gar toͤden laſſen. Zudem iſt deine
„Goͤttin recht kurtzweilig in ihrem Ausdrucke:
„Einen Sturm machen, iſt ohne Zweifel eine
„neumodiſche deutſchuͤbende Redensart, die du
„in deinen Collectaneis gefunden haben wirſt.
„Die Drohung, das Schiff ins Meer zu ſtuͤr-
„zen iſt eben ſo laͤcherlich, als da jener albere
„Kerl im Zorn den Krebs in die Bache geſchmiſ-
„ſen. Und warum wird in deiner Ueberſetzung
„die Trojaniſche Flotte in ein eintziges Schiff ver-
„wandelt? Aber das Gaukelſpiel der tollen
„Wellen in der zweyten Zeile zeiget, daß we-
„der du noch deine Juno im rechten Ernſt ge-
„redet haben. Die Virgilianiſche Goͤttin unter-
„ſtuͤtzet ihr bitten mit einer Verheiſſung: Sie
„will dem Aeolus, wenn er ihr Verlangen er-
„fuͤllete, die ſchoͤnſte von ihren Nymphen ver-
„maͤhlen: An deſſen Statt verheißt deine Ju-
„no dieſe Vermaͤhlung dem Aeolus nicht fuͤr
„den Dienſt, den ſie von ihm bittet, ſondern
„dieſe ſoll nach deiner Vorſtellung eine Beloh-
nung
[85]Hr. Joh. Chriſt. Schwartzen.
„nung fuͤr die treue Dienſte ſeyn, welche die-
„ſe Schoͤne, nemlich die Nymphe Deiopeia der
„Goͤttin geleiſtet hat; denn ſie ſagt:
Und weil mir vierzehn ſchoͤn gewachſne Nymphen dienen,
So ſoll fuͤr dieſen Dienſt - - -
„Sonſt haſt du es gluͤcklich errathen, daß zwey-
„mahl ſieben richtig vierzehen ausmachen. Wenn
„auch deine Juno ſagt, Deiopeia ſoll dir auf
„ewig eigen ſeyn, ſo koͤnnte man dieſes ver-
„ſtehen, daß Juno ſie dem Aeolus zur Scla-
„vin uͤberlaſſen wollte; deßwegen haſt du wohl
„gethan, daß du in der naͤchſtfolgenden Wunſch-
„zeile deutlich ausgedruͤcket, zu was vor Dien-
„ſte dem Aeolus erlaubet ſeyn ſollte, dieſe Da-
„me zu gebrauchen: Und durch den am Schluſ-
„ſe beygefuͤgten Grund:
Denn ſie ſoll ſich mit dir als Ehefrau vermaͤhlen;
„haſt du gantz uͤberzeugend gelehret, erſtlich daß
„Aeolus die gewuͤnſchte Erzielung einer Fami-
„lie durch keine uͤbernatuͤrliche Mittel zuwege
„bringen ſollte, hernach, daß das Kinderzeu-
„gen eine nothwendige Folge der ehlichen Ver-
„bindung ſey. Man haͤtte ohne dieſen Erweis
„allzu leicht auf die Gedancken gerathen koͤn-
„nen, die Meinung der Goͤttin waͤre, daß Aeo-
„lus mit dieſer ſchoͤnen Nymphe in einem be-
„ſtaͤndigen Concubinat leben ſollte.
Eine andere Stelle, die beym Virgil im III.
B. alſo lautet:
F 3Et
[86]Abentheuer von der Aeneis
hatte mein Schuͤler dergeſtalt gegeben:
Bey dieſer Stelle hieß ich ihn anmercken, daß er
durch ſeine Ueberſetzung den Nebenumſtand lacri-
mans in die Haupthandlung verkehret, und da-
durch den Zuſammenhang der Erzehlung und den
Character des Helden uͤbel verderbet; ferner daß
er die nachdruͤckliche Ausdruͤkung: Et campos ubi
Troja fuit, welche daneben die Thraͤnen des Hel-
den rechtfertiget, gaͤntzlich aus der Acht gelaſſen;
drittens, daß er den in Thraͤnen zerflieſſenden
Helden durch ſeinen zweydeutigen Ausdruck an
dem Ufer ſeines Vaterlandes ſtehen laſſen, und
bloß allein geſagt haͤtte, der Sohn des Aeneas
waͤre mit einigen andern Gefaͤhrten ins Elend ab-
gefahren. Endlich, daß er Virgils Abſicht bey den
letzten Worten gar nicht gemercket, wenn es im
Deutſchen heißt, ſie ſeyn mit der Goͤtter Schutz
ins Elend abgefahren, an ſtatt daß Aeneas
beym Virgil durch die Nahmhaftmachung der
gantzen Reiſegeſellſchaft vielmehr anzeigen wollen,
daß die Goͤtter ſelbſt kein beſſeres Loos betrof-
fen haͤtte, ſondern daß ſie ſelbſt, nachdem ihr
voriger Aufenthalt im Grunde zerſtoͤrt worden,
mit in das Elend haͤtten fortwandern muͤſſen.
Gleich anfaͤnglich, als ich den Vers geleſen
hatte:
Mach
[87]Hr. Joh. Chriſt. Schwartzen.
Kam es mir vor, als ob mein Lehrling geglaubt
haͤtte, die Trojaner waͤren in Luftſchiffen daher-
gefahren; in dieſer Muthmaſſung ward ich nicht
wenig durch folgende Reimen beſteifet, mit wel-
chen er eine Stelle aus dem IV. B. uͤberſetzet
hatte:
Dennoch ſcheint es, daß er ſelbſt das Fliegen
der Schiffe vor ein Wunderwerck gehalten habe.
Dergleichen Verſtoſſungeu gab es noch meh-
rere und verſchiedene, welche ich aber mit Still-
ſchweigen uͤbergehe; nur dieſes muß ich noch er-
waͤhnen, daß er im IV. B. bey Anlaſſe folgen-
der Worte:
eine gantz unerhoͤrte Anmerckung ſehr geſchickt an-
gebracht, und ſolche dabey mit einem unwider-
ſprechlichen Grund unterſtuͤtzet hat:
Nachdem ich nun mit dieſer gereimten Ueber-
ſetzung meines Schuͤlers zu Ende war, ſagte ich
ferner zu ihm: Erkennt er nun, was er vor ein
geſchickter Ueberſetzer ſey; wo Virgil Weiß ſagt,
ſagt er mehrentheils Schwartz. Wenn verkehren
uͤberſetzen waͤre, ſo wuͤrde er den Preis unfehlbar
davon tragen. Er hoͤrete dieſe Beſtraffung, wie
F 4es
[88]Abentheuer von der Aeneis
es ſchien, ziemlich gelaſſen an, und geſtuhnd mir,
daß ſeine Arbeit mit denen ausgeſtellten Fehlern
wuͤrcklich behaftet waͤre. Aber da ich ihn fol-
gends zu der angeſetzten Strafe des Schuleſels
verurtheilete, konnte er ſich nicht ſo leicht darein
ergeben; es reuete ihn der gebrauchten Liſt, wel-
che ihm ſo uͤbel bekommen ſollte; und er that
ein freyes Bekenntniß, daß er dieſe gereimte Ue-
berſetzung, die ich ſo ſcharf beurtheilet haͤtte, nicht
ſelbſt verfertiget, ſondern aus einem gedruckten
Buche, das erſt in dieſem Jahr zu Regensburg
an das Licht gekommen waͤre, von Wort zu
Wort abgeſchrieben haͤtte; er haͤtte ſich nicht
getrauet etwas beſſers zu machen. Er zog das
Buch aus der Taſche hervor, und zeigete mir
die Stellen, die er ohne die geringſte Veraͤn-
derung abgecopiert hatte. Er hieß mich uͤberdies
das Auge auf den Gnadenbrief werfen, womit
ſeine Hochedelg. Magnificenz, der Hr. Prof. Gott-
ſched, dieſe neue Ueberſetzung begleitet, und angeprie-
ſen hatte; desgleichen auf das ſtattliche Zeugniß,
welches eben derſelbe dieſer Ueberſetzung in dem
XXIX. St. der critiſchen Beytraͤge beygeleget hat.
Wir leſen an dieſen beyden Orten von Joh. Chri-
ſtoph Schwartzen, (das iſt der Nahme dieſes deut-
ſchen Ueberſetzers Virgils, den mein Schuͤler
Johann Chriſtoph Weiß ausgepluͤndert hatte,)
unter andern folgende Worte:
„Derſelbe ſcheint
„allerdings zu Ueberſetzungen alter Poeten recht
„gebohren zu ſeyn. - - Jch ſtatte unſerm Vater-
„lande zu dieſer deutſchen Aeneis meinen Gluͤck-
„wunſch ab. - - - - Er hat darinn gewieſen,
„daß
[89]Hr. Joh. Chriſt. Schwartzen.
„daß er die Virgilianiſchen Schoͤnheiten einge-
„ſehen. - - Geſchickte Schulmaͤnner werden die-
„ſes Buch ſehr nuͤtzlich bey ihrer ſtudierenden Ju-
„gend zu gebrauchen wiſſen, da zumahl der la-
„teiniſche Text dabey ſteht.„
Mein junger
Versmacher wußte dieſes wohl zu ſeinem Vor-
theil zu kehren, und ſagte:
„Sollte ich mir auf
„eine ſolche Ueberſetzung, die von dem groſſen
„Gottſched ſo ſehr geruͤhmet wird, nicht etwas
„eingebildet haben? und waͤre es nicht eine ſtoltze
„Vermeſſenheit an mir geweſen, wenn ich mir
„vorgenommen haͤtte, ſelbige zu uͤbertreffen?
„Jetzo aber erkenne ich wohl daß mich das
„Gottſchediſche Anſehen geblendet und verfuͤhret
„hat; und ich werde mirs geſagt ſeyn laſſen,
„daß ich kuͤnftighin nichts mehr auf ſeine Ehre
„und ſeinen beruͤhmten Nahmen ohne vorher-
„gehende Pruͤffung glaube. Jndeſſen da dieſe
„elende Ueberſetzung nicht mein iſt, ſondern Herrn
„Schwartzen und Herrn Gottſched zugehoͤret,
„ſo hoffe ich, daß ſie mir mit dem Schul-
„eſel guͤtig verſchonen werden.
Jch mußte dieſer ſeltſamen Begebenheit hertz-
lich lachen; es duͤnckete mich auch, daß er ziem-
lich gute Gruͤnde vorgebracht haͤtte, die Strafe
mit dem Schuleſel von ſich abzuwenden. Auf
der andern Seite fand ich mich beleidiget, daß
Jhre Hochmagnificenz uns ehrlichen Schulmaͤn-
nern ſo wenig geſunder Einſichten in die Virgi-
lianiſchen Schoͤnheiten, oder, was noch ſchlim-
mer waͤre, ſo wenige Treue und Sorgfalt fuͤr
die ſtudierende Jugend zugetrauet hatten, als ſie
F 5mit
[90]Abentheuer von der Aeneis.
mit ihrer gefaßten eitelen Hoffnung zu verſtehen
geben, daß wir dieſe ſchwartziſche Ueberſetzung in
unſern Schulen einfuͤhren und nuͤtzlich gebrau-
chen wuͤrden. Sie werden uns noch nicht die
Nebelkappe uͤber die Augen werffen, und Vir-
gil im Schwartze weiſen. Dieſes mag Jhnen
einmahl mit jungen Knaben angehen, wie mei-
nem Lehrling begegnet iſt; den ſie doch nicht
zum andern mahl fangen werden. Jch woll-
te dieſen darum nicht harter ſtrafen, als er ver-
ſchuldet hatte, und weil er als ein unbeſon-
nener Juͤngling von alten erwachſenen und ſonſt
angeſehnen Maͤnnern verfuͤhret worden, hielt ich
vor billig, daß ſie die Straffe mit ihm theilen
ſollten. Jch that ihm weiter nichts als daß ich ihm
ſeine deutſche Aeneis confiſcirte. Dieſe heftete ich
mit Naͤgeln dem Schuleſel auf die Bruſt. Ueber-
dies erlaubete ich meinen Schuͤlern, daß jeder von
ihnen taͤglich ein Blatt zu ſeinem Beduͤrffniß aus-
reiſſen duͤrfte. Dieſes Urtheil ward von ihnen
mit ſolchem Eifer vollzogen, daß in 14 Tagen
die gantze Schwarzias, (dieſen Nahmen gaben ſie
der deutſchen Aeneis Hrn. Schwartzen) bis auf
den pergamenen Band zerfetzet ward. Alſo iſt
Schwartzens Troja durch einen Eſel, wie Vir-
gils durch ein Pferd zerſtoͤret, und zu Schan-
de gerichtet worden.
Neue
[91]
Neue Sachen in der Critiſchen
Literatur.
ENdlich hat ein Unbekannter in der Vorrede
zu der neuen Ausgabe des Longinus Hrn.
Heineckens den Hr. Prof. Gottſched, und die
Beluſtiger mit ihrem gantzen Anhange, welche
ſich ſelber unberuffen und ohne gehoͤrige Beſtallung
den Character von Verfechtern des deutſchen Wi-
tzes und Geſchmackes angemaſſet, durch eine gruͤnd-
liche und nachdruͤckliche Entſagung zuruͤcke ge-
wieſen. Alle Leſer von wahrem deutſchen Ge-
bluͤte und Witze haben in dieſer Abfertigung ihre
eigenen Gedancken und Urtheile geleſen, fuͤr wel-
che ihnen ſo viel Jahre her gantz fremde und ab-
geſchmackte Meinungen waren aufgeheftet wor-
den. Sie erkennen derowegen den Verfaſſer vor
ihren aufrichtigen Dollmetſcher und Vormund,
und verlangen, daß die ietztlebende und die kuͤnf-
tige Welt ihm in ſeinen Reden und Schriften
als ihrem characteriſierten Kantzler vollkommenen
Glauben zuſtellen ſollen.
Kurtz nach der Michelis-Meſſe des vergange-
nen Jahres iſt in Dreſden das Vorſpiel, ein
Epiſches Gedicht, zum Vorſchein gekommen.
Jn dieſer Schrift reget ſich ein ſatyriſcher Geiſt
und ſiegreicher Scribent gegen den Herrn Prof.
Gottſched; den ſein Stoltz und die Streitbar-
keit ſeiner Schuͤler und Bewunderer, ja der
gruͤndlichſte Breitkopfiſche Druck ſo vieler zierli-
chen
[92]Neue Sachen
chen Buͤcher ſchwerlich der Nachwelt anſchmei-
cheln werden, und auf dem Gipfel erhalten koͤn-
nen, welchen er ſonſt zu behaupten und alles,
was in Deutſchland dencket und ſchreibet, zu
uͤberſehen und zu meiſtern verhoffet hat. Er,
ſeine Victoria, und der gantze Anhang dieſes
erbitterten Paars waffnen ſich indeſſen ietzo zu
der ſtaͤrkeſten Gegenwehre.
Die Beluſtiger werben zum deutſchen Dichter-
kriege. Die vertrauten Rednergeſellſchaften ſchwi-
zen und ſinnen auf neue Philippicas. Der Hr. Pro-
feſſor verſpricht ſich insbeſondere eine handfeſte Huͤlfe
von den zween wackern und gelehrten Maͤnnern
aus benachbarten Cantons, welche ihn ihres
Beyfalles ſo nachdruͤcklich verſichert haben, wie wohl
ſie bisdahin aͤuſſerlich neutral geblieben, und ſich
begnuͤget, ihn mit ihren Wuͤnſchen und Zuſpruͤ-
chen zu unterſtuͤtzen. Er glaͤubt, daß er die
Schweitzer am allerſicherſten durch Schweitzer
im Zaum halten koͤnne. Er duͤrfte ſich aber mit
ihrem Beyſtand vergebens ſchmeicheln, wenn wahr
iſt, was man uns geſagt hat, daß ſie nur zu
dem Ende die Neutralitet gehalten haben, damit ſie
ſich auf die Seite, die ſiegen wuͤrde, lencken koͤnnten.
Man ſagt in der That, daß ſie den Schweitzern von
Zuͤrich ihre Huͤlfe angebothen haben. Jndeſſen hat
Herr Gottſched wahrhaftig noͤthig, alle ſeine Voͤl-
cker zuſammenzuziehen; maſſen ſeit der Erklaͤ-
rung, welche vor dem deutſchen Longinus wider
ihn gethan worden, auch die friedfertigſten, und
diejenigen, welche ſonſt aus einer ſattſamen
Kennt-
[93]in der critiſch. Literatur.
Kenntniß der empfindlichen Partheilichkeit des
ehedem ſo angeſehnen und zum Verurtheilen ſo
fertigen Gottſchediſchen Anhanges ſtillegeſeſſen wa-
ren, ſich nicht mehr ſcheuen, ſich in den criti-
ſchen Wirbel hineinzuwagen. Jch ſchlieſſe dieſes
aus einer Menge Schriften, von welchen ich aus
verſchiedenen Orten Nachricht empfangen habe,
daß ſie theils in der Schmiede ſeyn, theils auf einen
hertzhaften Verleger warten.
Ein Hofrath von B. hat einen Vorſchlag
aufgeſetzet, daß die Anfoderungen auf Geiſt und
Witz kuͤnftig durch die Mehrheit der Stimmen
eroͤrtert werden ſollen. Er giebt dieſen Vorſchlag
einem Rathsverwandten von Eulenburg in den
Mund. Ein geheimer Secretar von D. hat
eine Weiſſagung verfertiget, was vor ein Ur-
theil ein Kunſtrichter aus dem XIX. Jahrhun-
dert von den critiſchen Streitigkeiten unſrer Zei-
ten faͤllen werde. Ein beruͤhmter Profeſſor hat
eine Unterſuchung von der Natur des Lachens
unter Haͤnden; er handelt von deſſen verſchiedenen
Arten, und den Mitteln eine jegliche zu erregen.
Er hat ſeine Abſicht vornehmlich auf die Comoͤ-
die. Ein ſaͤchſiſcher Gelehrter arbeitet an einem
proſaiſchen Gedichte von dem zerſtoͤrten Tempel
des blinden Geſchmackes, eines ohnmaͤchtigen
Abgottes der Cherusker. Ein Ungenannter von
Br. ... hat unter dem Titel, der Zwitter, Ad-
diſons Cato, und Deschamps ſeinen, unterſuchet,
und gezeiget, wie dieſe beyde Trauerſpiele in Hr.
Profeſſ. Gottſcheds deutſchen Cato zuſammenge-
wachſen. Ein L... Prediger hat ſich entſchloſ-
ſen,
[94]Neue Sachen
die Bekehrung eines verſtockten Kunſtlehrers und
Poeten, bey welchem das Hertz eben ſo verderbt,
als der Geiſt ſchal geweſen, durch den Druck
bekannt zu machen. Man macht uns Hoffnung,
daß man uns einige dieſer Schriften uͤberlaſſen
werde, ſie in unſrer Sammlung an das Licht
zu geben. Ein Unbekannter, der ſich Stephan
Finck unterſchreibet, hat uns eine ſatyriſche Schrift
eingeſendet, ſo den Titel hat: Vorſchlag, wie
Hr. Schwartzens Aeneis von dem Gerichte der
Maklatur zu erretten waͤre. Er hat dieſen Vor-
ſchlag in einem Schreiben an Hrn. Zunkel, den
Verleger der deutſchen Aeneis, vorgetragen. Er
giebt ſich vor einen Leipziger aus.
Wir ſind durch den Beyſtand eines auswaͤr-
tigen Gelehrten in den Stand geſetzet worden,
unſrem ehmahligen Verſprechen gemaͤß die Cri-
tik der Jphigenia des deutſchen Pradons baͤldeſt
zu liefern; ſie ſoll in dem folgenden, oder gewiß
im neunten St. zum Vorſchein kommen.
Wir haben uns entſchloſſen dem Begehren eines
geſchikten Freundes Statt zu geben, und die Gott-
ſchediſche Uebetſetzung des Horatz von der Dicht-
kunſt genau und ohne Nachſicht vorzunehmen:
Wir hoffen daß ihn dieſes veranlaſſen werde,
auch an ſeinem Orte die Fehler dieſes Werckes
zu bemercken, und uns ſeine Anmerkungen mit der
Zeit einzuſenden. Unſer Hr. Conrector Erlebach
iſt auch noch nicht muͤde ſich mit den Gegenfuͤſſern
des deutſchen Witzes herumzuſchlagen. Er hat
zum Drucke fertig: Ehrenerklaͤrung fuͤr den gu-
ten Geſchmak der wahren Deutſchen. Jn dieſer
Schrift
[95]in der critiſch. Literatur.
Schrift wird insbeſondere Herr Heineke der Ge-
ſellſchaft elender Scribenten, denen er in dem Com-
plot in die Haͤnde gefallen, entriſſen.
Eben derſelbe arbeitet an einem Auszuge der
Gottſchediſchen Dichtkunſt fuͤr die Deutſchen. Er
getraut ſich das gantze Buch ohne Abbruch der
Sachen auf 3. Bogen zu bringen. Er wird es
mit Erklaͤrungen und Anmerckungen verſehen, und
ihm den Titel geben: Gottſcheds Dichtk.in Nuce.
Jn der anſehnlichen Stadt Chur in den Grau-
buͤnden, hat ein Swiftiſcher Kopf ein Werck un-
ter Haͤnden, welches er Scrutinium Ingeniorum
betitelt. Er hat uns davon folgenden Auszug zu-
geſtellet. Die Tollheit, eine Muſe auf dem Bloks-
berge haͤlt jaͤhrlich eine Pruͤffung der Geiſtesfaͤ-
higkeiten unter ihren Lehrlingen, damit ſie eigent-
lich wiſſe, zu was vor Arten der Schriften ein
jeder am meiſten Geſchicke habe, das Aufnehmen
der Barbarie zu befoͤdern. Dieſe Pruͤffung ge-
ſchieht von ihr nach der Neigung und der Ge-
ſchicklichkeit, welche einer zu coͤrperlichen Arbei-
ten hat, die mit andern Arbeiten des Geiſtes ei-
nige Aehnlichkeit haben. Z. E. Grillen im fin-
ſtern fangen, deutet an, ſchreiben ohne zu wiſ-
ſen, wie man auf die Einfaͤlle koͤmmt; aus Ku-
pferſtuͤcken hier eine Figur, und dort eine her-
ausſchneiden, und in einer neuen Verknuͤpfung
auf einem Caffe-Brette zuſammen leimen,
ein neues Gedichte aus etlichen alten zuſammen-
flicken; harte Eyer, Strumpfbaͤnder, und
Raupenneſter in einer Schuͤſſel auftragen,
ſeltenen Geſchmack in der Eintheilung und Anord-
nung haben.
Jn
[96]Neue Sachen.
Jn dieſem Wercke wird auch erzehlet, was vor
natuͤrliche und unparteyiſche Wege dieſe Vorſtehe-
rin des Bloksberges braucht, die Streitigkeiten,
die unter ihren Pflege-Soͤhnen des Vorſitzes, oder
des Vorzuges ihrer Schriften wegen entſtehen, zu
entſcheiden. Sie laͤßt die beyden Streitenden, jeden
auf einem Eſel in einen beſchloſſenen Platz reiten;
deſſen Eſel zuerſt anfaͤngt zu rahren, dem wird der
Vorſitz zugeſprochen. Jſt der Streit um ein poeti-
ſches Werck, ſo muß die Natur den Ausſpruch un-
mittelbar thun. Wer von den Praͤtendenten zuerſt
anfaͤngt gluchſen, wer es mit dem groͤſten Wohlklang
thut, und am laͤngſten treibt, der bekoͤmmt die Kro-
ne von Haſenpappeln. Durch dieſes letztere Scruti-
nium hat die regensburgiſche Ueberſetzung der Aeneis
den Vorzug vor Doctor Murners erhalten.
Der erhabene Poet Hr. Triller hat ſich ietzo vor-
genommen ſtatt der Fuͤchſe und Feldmaͤuſe, die er
vordem in ſeinen Fabeln beſungen, groͤſſere Helden
zu verewigen. Er beſinget unter dem Titel des Fuͤr-
ſten-Raubes die Entfuͤhrung der beyden Printzen
Churfuͤrſt Friderichs des ſanftmuͤthigen von Sach-
ſen, die durch Kuntz von Kaufungen geſchehen. Der
Koͤhler, der gedachten Edelmann in dem Walde zu
Boden geſchlagen und die Prinzen befreyet, der vor-
nehmſte Held in dieſem Wercke, iſt einer von den Ah-
nen des Hrn. Doctors, von welchem er in gerader Li-
nie abſtammt. Wir hoffen, daß Hr. Triller nicht
vergeſſen werde, dem Ehren-Tempel, den er die-
ſem ſeinem Ahnherrn auffuͤhret, auch eine Capelle
fuͤr ſeine eigene vornehme Perſon anzubauen.
Der Brief des gelehrten Frauenzimmers vom
12. Nov. iſt eingelaufen.
cher Provinzen, welche von einander gar nicht, oder in
wenig Stuͤken abhaͤngen, die Regierungen in denſelben
ſind von ſehr verſchiedener Art, und es herrſchet in einigen
keine geringe Freyheit; alle dieſelben aber reden die ein-
zige deutſche Sprache. Was vor Vortheile ſollte man
daher in dieſer Sprache und allen ihren Mundarten fuͤr
den Gebrauch, und das Beduͤrfniß der Poeſie mit Recht
vermuthend ſeyn? Sie waͤren auch in der That darin-
nen, wenn nicht zum Ungluͤke gewiſſe eigenſinnige Pu-
ritaner ſich die ſchaͤdliche Muͤhe gaͤben, die Woͤrter, Re-
densarten, und Metaphern, welche die Einwohner ge-
wiſſer Provintzen fuͤr ihre eigene Nothwendigkeit einge-
fuͤhret, und von ihren Umſtaͤnden, Sitten und Gebraͤu-
chen hergenommen haben, zu verwerffen und auszumu-
ſtern; ohne Betrachtung ob ſie mit der Natur der Din-
ge, der Sprache-Aehnlichkeit, den Stamm- und Wur-
zelwoͤrtern, uͤbereinkommen oder nicht; ob ſie ſich uͤber-
das mit einem anſehnlichen Alter rechtfertigen koͤnnen,
oder erſt von geſtern oder vorgeſtern her ſind.
of Homer.
Her Walther von Klingen:
Weder offenbar noch tougen.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Bodmer, Johann Jakob. Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjfb.0