auf Erfahrung, Metaphysik und
Mathematik.
Auf Kosten des Verfassers, und in Commission bey
August Wilhelm Unzer.
[[II]][[III]]
Vorrede.
Die Philosophie stand in ihrer Blüthe zu Kants
und Fichte’s Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre
Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich
wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungs-
geiste neue Nahrung dargeboten wird. Damit
mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte
ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen
Strebens, der unglücklicherweise eine zweyte des
Schwindels, und eine dritte der Abspannung ge-
folgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nach-
kam, aber fürs erste einen Schleyer fallen zu
lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft
sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet,
ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu besitzen.
Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hof-
fen, daſs, nachdem die Hülfsmittel gefunden sind,
nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu
bedienen.
Kant wurde Idealist wider seinen Willen;
er hat seine Anhänglichkeit an die Dinge an sich
nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit
behauptete, sie zu erkennen. Fichte ergab sich
dem Idealismus williger, wiewohl auch noch mit
einigem Widerstreben; aber ihm geschah es
wider seine Absicht, daſs er ein von tausend
* 2
[IV] Bedingungen umwickeltes Ich zum Vorschein
brachte, obgleich er das absolute Ich auf den
Thron zu heben gedachte. Ein absolutes Ur-
wesen, Grund der Welt und Grund des Ich,
lieſs sich Schelling gefallen; er wurde Spino-
zist vielleicht eben so sehr wider sein Wollen
und Meinen, als Kant Idealist gewesen war. —
Wenn nun die Geschichte der Philosophie diese
Ereignisse kurz erzählen will, so wird sie sagen:
die Begriffe verwandeln sich den Philosophen
unter den Händen unwillkührlich, während sie
sie bearbeiten. Wenn aber die Philosophie
selbst zu dieser Geschichte hinzukommt: so muſs
sie in dem scheinbar zufälligen Ereigniſs das
Nothwendige, und in den besondern Fällen das
Allgemeine nachweisen, was sich in jenen Bey-
spielen nur unvollkommen abspiegelt.
Richtige Erkenntniſs dieser nothwendigen und
allgemeinen Umwandlung gewisser Begriffe im
Denken, ist das erste Hülfsmittel, welches bisher
gefehlt hat.
Mathematische Untersuchungen über den Zu-
sammenhang und den Lauf unserer Vorstellungen
sind das zweyte. Die Seelenvermögen waren ein
Surrogat, dessen sich bisher nicht bloſs die em-
pirische Psychologie, sondern auch Kant bey
seinem kritischen Unternehmen bediente. Freyer
von Vorurtheilen in diesem Puncte zeigte sich
Fichte; er wollte zu den Producten des mensch-
lichen Geistes die Acte des Producirens finden.
Warum hat man diese nothwendige Untersu-
chung vernachlässigt? Ohne Zweifel aus zwey
Gründen. Erstlich, weil Fichte in dieser Hin-
sicht wirklich bloſs gewollt, aber nichts geleistet
hat, auch bey seinem Verfahren nichts leisten
konnte; kein Wunder, daſs nun die Fortsetzung
unterblieb, da gar kein Anfang gegeben war.
Zweytens, weil man sich blenden lieſs von der
Kehrseite des Fichteschen Unternehmens, näm-
[V] lich von dem gigantischen Project, aus dem Ich
die Welt zu deduciren. Man verlieſs zwar das
Ich, aber man behielt die weltumspannende Ten-
denz. Kennen wir denn unsern Standpunct auf
dieser Erde noch so wenig, um uns kosmologi-
schen Träumen hinzugeben? Ist etwa der Him-
mel noch jetzt für uns eine Kugel, in deren Mitte
wir auf einer unermeſslichen Ebene veststehn?
Welt-Ansichten gehören dem Glauben; aber die
wahre Philosophie sagt nicht mehr als sie weiſs.
Und um etwas zu wissen, prüft sie die An-
schauungen jeder Art, die ihr gegeben sind, ohne
irgend einer unbedingt zu vertrauen.
Man wird mich nun fragen, wie denn ma-
thematische Untersuchungen über den mensch-
lichen Geist möglich seyen? Und welchen Ge-
winn sie bringen? Auf die erste Frage kann
nicht die Vorrede, sondern nur das Buch ant-
worten; über die zweyte sollen hier einige Worte
Platz finden.
Die Psychologie hat einige Aehnlichkeit mit
der Physiologie; wie diese den Leib aus Fibern,
so construirt sie den Geist aus Vorstellungsrei-
hen. Und wie dort die Reizbarkeit der Fibern
ein Hauptproblem, so ist hier die Reizbarkeit
der Vorstellungsreihen gerade das, wovon alle
weitere Erkenntniſs der geistigen Thätigkeiten
abhängt. Man wird aber dieses Buch nicht halb,
sondern ganz lesen müssen, um hievon unter-
richtet zu werden. Dem zweyten Theile dieses
Werks, welcher die psychologischen Thatsachen
auf ihre Gründe zurückführen soll, ist es vor-
behalten zu zeigen, daſs die Spannung in den
Vorstellungsreihen eben so wohl der Grund der
Gemüthszustände, als die Ordnung, in welcher
jede Vorstellung auf die übrigen mit ihr verbun-
denen wirkt, der Grund aller Formen ist, welche
wir in unserm Anschauen und Denken bemerken.
Aber die Ordnung beruht hier auf einem Mehr
[VI] oder Weniger der Verbindung; die Spannung
auf einem Mehr oder Weniger der Hemmung;
beydes hängt innig zusammen; jedoch Niemand
hoffe davon etwas zu begreifen, wenn er nicht
rechnen will. Kann er doch ohne dies Hülfs-
mittel nicht einmal die Gestalt und die Span-
nung einer Kette begreifen, wie wollte er die
Gestalt und die Wirksamkeit seiner unermeſslich
vielfach verwebten Vorstellungen aus ihren Grün-
den erkennen? Aber gerade so wie eine an zwey
vesten Puncten aufgehängte Kette dem gemeinen
Beschauer ein gemeines Ding zu seyn scheint,
das er gedankenlos ansieht, ohne sich um die
ungleiche Spannung, um das Gesetz ihres Wach-
sens und Abnehmens, um die Abhängigkeit der
Krümmung von der Spannung, das heiſst, der
äuſseren Erscheinung des Ganzen von der Wech-
selwirkung der einzelnen Theile, zu bekümmern:
gerade so gedankenlos steht seit Jahrhunderten
die empirische Psychologie vor dem Schauspiel,
was die von ihr sogenannte Association der Ideen
ihr darbietet; sie erzählt, daſs sich die Vorstel-
lungen nach Raum und Zeit associiren; und es
fällt ihr nicht einmal ein, daſs alle Räumlichkeit
und Zeitlichkeit eben nur die näheren Bestim-
mungen dieser Association sind, die in der Wirk-
lichkeit nicht so schwankend vorhanden ist, wie
die gangbare Beschreibung davon lautet, sondern
mit der strengsten mathematischen Regelmäſsig-
keit sich erzeugt und fortwirkt. Wo nun die
allerersten Elemente von Kenntniſs der geistigen
Natur noch so unbekannt und ungeahndet lie-
gen: da wolle man von Verstand und Vernunft
doch ja lieber schweigen als reden! Man kennt
davon Nichts, als die Auſsenseite; und alles, was
vermeintlich darauf gebaut worden, ist nichts als
ein Wunsch, der künftig einmal kann erfüllt
werden, wenn man erst einen Begriff haben wird
von der Arbeit, die dazu nöthig ist.
[VII]
Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart
klingen für wahrheitliebende Männer; und es
kann dem Publicum nicht unerwartet seyn, wel-
ches so viele Jahre lang Zeuge war vom endlo-
sen Streite der Schulen; vielmehr wird man
hieraus längst geschlossen haben, daſs es allen
Partheyen an den entscheidenden Gründen fehlte.
Und gerade dieser Umstand ist der Ursprung der
Partheylichkeit. Wenn die Mathematiker strei-
ten, so rechnen sie; und die Rechnung bindet
dergestalt alle Willkühr, daſs der Versuch jeder
Widerrede aufhören muſs. Die Philosophie wird
nicht alles berechnen können, aber sie wird groſse
Schritte thun können, damit sich in ihr das
Gewisse vom Ungewissen sondere; und wenn
der Streit der Schulen fortdauert, so wird er
sich doch mäſsigen, und nicht mehr, wie jetzt,
zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch
weit gröſseres Uebel ist, als selbst der lauteste
Streit, so lange er mit der Aussicht auf künftige
Vereinigung geführt wird.
Hiemit sind meine Ansichten und Gesin-
nungen hinreichend angedeutet; besonders wenn
man das hinzudenkt, was ich in Ansehung der
heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich
zu reden ich mich dringend veranlaſst finden
könnte, — hier verschweige, und selbst im Buche
nur selten berührt habe; weil ich lieber will, daſs
die Knoten sich allmählig lüften und lösen, als
daſs sie durch eine heftige Behandlung sich noch
mehr zusammenziehn. Aussprechen muſs ich je-
doch, daſs während eines vollen Viertel-Jahr-
hunderts ankämpfend wider Wind und Strom,
ich nur mit äuſserster Anstrengung meine Rich-
tung habe behaupten können, und daſs ohne die
Stütze der Mathematik ich sicherlich hätte unter-
liegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir
ein widerwärtiges Zeitalter in den Weg legte,
beruht mein Anspruch auf nachsichtige Beurthei-
[VIII] lung von Seiten des competenten Richters, wel-
chem früher oder später mein Werk begegnen
wird. Sorgfältige Vergleichung desselben mit
meinen frühern Schriften darf ich in Fällen, wo
etwas dunkel scheinen möchte, wohl von jedem
aufmerksamen Leser erwarten.
Noch ein Wort habe ich zu sagen über den
Gang der vorliegenden Untersuchungen in Be-
ziehung auf die Verschiedenheit der Leser.
Für Manchen würde es ohne Zweifel bequemer
gewesen seyn, wenn ich die Grundlinien der
Statik und Mechanik des Geistes gerade zu auf
den empirischen Boden gestellt hätte. Da es
hiebey nur auf die Hemmung unter entgegen-
gesetzten Vorstellungen ankommt, welche sich
ziemlich deutlich unmittelbar in der Erfahrung
zu erkennen giebt: so hätte ich recht füglich im
Geiste der Mathematiker an ein Gegebenes die
Rechnung knüpfen können; man würde mir den
Satz: daſs entgegengesetzte Vorstellungen sich
zum Theil in ein Streben vorzustellen ver-
wandeln, entweder als Thatsache zugegeben, oder,
Falls jemand seiner innern Wahrnehmung nicht
so viel zugetraut hätte (und das wäre allerdings
auch bey mir der Fall gewesen), wenigstens die
Hypothese gestattet haben, die sich alsdann durch
ihre Fruchtbarkeit hätte rechtfertigen müssen.
Allein hiemit wäre der geschichtliche Gang mei-
ner Untersuchungen verdeckt worden. Diesen
habe ich gerade im Gegentheil ganz offen dar-
gestellt. Von der Untersuchung des Ich bin ich
wirklich ausgegangen; die nothwendigen Reflexio-
nen über das Selbstbewuſstseyn haben sich von
ihrer besondern Veranlassung späterhin losge-
macht; daraus ist ein allgemeiner Ausdruck der-
selben entstanden, den ich Methode der Be-
ziehungen nenne, und auch für andre meta-
physische Grund-Probleme passend gefunden
habe; zugleich ergab sich aus jenen Reflexionen
[IX] der Begriff des Strebens vorzustellen mit
einer solchen Bestimmtheit und Nothwendigkeit,
daſs nunmehr auch seine Fähigkeit, sich der
Rechnung zu unterwerfen, vor Augen lag; und
erst viel später (als ich das Lehrbuch zur Psy-
chologie niederschrieb) bemerkte ich, daſs zum
Behuf des Vortrags für Solche, die man mit
Metaphysik nicht behelligen darf oder will, das
nämliche Princip auch als Hypothese konnte dar-
gestellt werden. — Wenn sich ein Individuum
lange Jahre hindurch auf einer und der näm-
lichen Linie des Forschens mit möglichster Be-
hutsamkeit fortbewegt: so entsteht daraus für
dieses Individuum Ueberzeugung, für Andre zu-
nächst nur eine Thatsache auf dem Gebiete des
wissenschaftlichen Denkens, die ihnen rein und
vollständig, nur von zufälligen Nebenumständen
gesondert, muſs vorgelegt werden. Die That-
sache nach ihrer Art zu betrachten, ist ihre Sache;
als ihre Pflicht aber kann man ihnen zumuthen,
daſs sie dieselbe aufbewahren, und unverfälscht
weiter mittheilen, damit sie noch in späterer Zeit
von anderen Augen könne gesehen, und viel-
leicht anders ausgelegt werden.
Nichts verhindert übrigens, daſs jeder Leser
sich nach seinem Bedürfniſs einen Anfangspunct
in diesem Buche aufsuche, der ihm bequemer
ist, als der meinige. Man kann immerhin die
metaphysische Untersuchung über das Ich, fürs
erste wenigstens, ignoriren; man kann die Grund-
linien der Statik und Mechanik des Geistes gleich
Anfangs aufschlagen; es wird nicht gerade schwer
seyn, auch hievon ausgehend, das Nachfolgende
zu verstehen; und man wird sich hiemit unmit-
telbar in den Besitz des Vortheils setzen, den
mathematische Entwickelungen durch ihre natür-
liche Deutlichkeit gewähren.
Eine andre Classe von Lesern kann ich mir
denken, die wegen ihrer vorhandenen Angewöh-
[X] nungen beynahe nur von hinten anfangend sich
einen Zugang zu diesen Untersuchungen zu
schaffen aufgelegt seyn dürften. Dahin gehören
die, welche in ihrem System, und eben deshalb
in dessen Gedankenkreise vesthängen; so daſs
ein Buch, worin nicht von denselben Gegenstän-
den unmittelbar die Rede ist, die sie zu beden-
ken gewohnt sind, für sie eine Wüste ohne
Ruhepunct ist. Für solche Leser kann ich nicht
schreiben! Sollte mir gleichwohl ein Besuch von
ihnen zugedacht seyn, so müſste ich bedauern,
daſs nicht der zweyte Theil meines Werks zu-
gleich mit dem ersten hat erscheinen können;
wäre dies der Fall, so würde es leichter als jetzt
geschehen, daſs man sich zuerst bey den Anwen-
dungen orientirte, und von da rückwärts zu den
Gründen fortginge. Indessen enthält auch dieser
erste Band am Ende Einiges, das für Manche
zur Einleitung gehören würde.
Will endlich Jemand versuchen, sich auf
meine Schultern zu stellen, um weiter zu sehen
wie ich: so darf er wenigstens nicht besorgen,
daſs unter mir der Boden einbreche. Denn ich
stehe nicht (wie man bey oberflächlicher Ansicht
etwa glauben könnte) auf der einzigen Spitze
des Ich: sondern meine Basis ist so breit wie
die gesammte Erfahrung. Zwar habe ich gesucht,
einem einzigen Princip so viel als möglich abzu-
gewinnen; aber auſserdem habe ich auch die
andern Quellen des menschlichen Wissens be-
nutzt; in welcher Hinsicht meine Einleitung in
die Philosophie mag nachgesehn werden. Per-
sonen, die aufgelegt waren mir Unrecht zu thun,
haben zwar wider den klaren Augenschein, den
meine Einleitung darbietet, mich in den Ruf
gebracht, als suchte ich einen Ruhm darin, der
Erfahrung zu widerstreben und zu widerspre-
chen; allein nicht alle Nachreden haften; und
meine Versicherung wird doch auch einigen
[XI] Glauben finden: es sey in der theoretischen
Philosophie meine Hauptangelegenheit, die Er-
fahrung mit sich selbst zu versöhnen.
Uebrigens kenne ich die Macht der Vorurtheile;
und wenn man aus dem hier vorliegenden Buche
eben so deutlich herauslieset, ich sey ein voll-
kommener Empirist, als aus jenem, ich sey Geg-
ner aller Erfahrung, so werde ich mich darüber
nicht mehr wundern, und nicht sehr betrüben.
Misdeutung ist für jede neue Lehre das alte
Schicksal; und jetzt, da ich diese Blätter aus
meinen Händen lasse, darf ich mich ruhig darin
ergeben. Bereit fühle ich mich zu dieser Re-
signation; allein indem ich mir alle Umstände
nochmals vergegenwärtige, glaube ich nicht, daſs
sie nöthig ist. Deutlich gesprochen habe ich in
diesem Buche. Und die Philosophie der letzten
zwanzig Jahre ist ein Baum, den man im Grunde
längst an seinen Früchten erkannt hat. Diese
Philosophie ist keinesweges das Werk eines übeln
Willens, oder geistloser Köpfe; aber sie ist auch
eben so wenig das Werk ächter Speculation;
sondern das Kind eines Enthusiasmus, der es
unterlieſs, sich selbst die kritischen Zügel anzu-
legen. Kant besaſs den Geist der Kritik; aber
welcher Mensch hat je sein Werk vollendet? —
Unvollendet blieb das Werk der Kritik. Darum
konnte die Philosophie sich mit dem Wissen
des Zeitalters, wie es in andern Fächern fort-
wächst, nicht ins Gleichgewicht setzen. Verge-
bens sucht man Rath bey ältern Zeiten; sie wuſs-
ten nicht mehr wie wir. Des-Cartes, Locke,
Leibniz, Spinoza, selbst Platon und Ari-
stoteles taugen bey uns nur zur Vorbereitung;
in noch frühere Zeiten müſsten wir wissentlich
hineindichten, was die Documente nicht enthal-
ten. Unsre Mathematiker und Physiker verach-
ten die Philosophie der Zeit, und sie haben
nicht Unrecht. Die Kirche weiſs, daſs sie auf
[XII] einem antiken, und in seiner Art vollkommen
klassischen Fundamente beruht; für die allge-
meinen Bedürfnisse der Menschheit ist längst
gesorgt. Nicht so für die Angelegenheiten des
Wissens und für das, was davon abhängt. Darum
wolle man den neuen Versuch gefällig aufneh-
men, und ihn sorgfältig prüfen.
[[XIII]]
Inhalt des ersten Bandes.
- Einleitung.
- I. Von den verschiedenen Weisen, wie die gemeine Kenntniſs der
Thatsachen des Bewuſstseyns gewonnen wird. §. 1 — 6. - II. Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen, was innerlich
wahrgenommen wird. §. 7 — 9. - III. Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psychologie mit
Abstractionen zu behelfen? §. 10. - IV. Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Thatsachen des Bewuſst-
seyns zu Principien der Psychologie zu benutzen. §. 11 — 13. - V. Vom Verhältnisse der Psychologie zur allgemeinen Metaphysik.
§. 14 — 16. - VI. Blicke auf die Geschichte der Psychologie seit Des-Cartes.
§. 17 — 22. - VII. Plan und Eintheilung der bevorstehenden Untersuchungen. §. 23.
- I. Von den verschiedenen Weisen, wie die gemeine Kenntniſs der
- Erster, synthetischer Theil.
- Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich, in sei-
nen nächsten Beziehungen.- Erstes Capitel. Ueber die philosophische Bestimmung des Begriffs
vom Ich.§. 24 — 26. - Zweytes Capitel. Darstellung des im Begriffe des Ich enthaltenen
Problems, nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung.
§. 27 — 30. - Drittes Capitel. Vergleichung des Selbstbewuſstseyns mit andern
Problemen der allgemeinen Metaphysik. §. 31 — 35. - Viertes Capitel. Vorbereitung der mathematisch-psychologischen
Untersuchungen. §. 36 — 40.
- Erstes Capitel. Ueber die philosophische Bestimmung des Begriffs
- Zweiter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.
- Erstes Capitel. Summe und Verhältniſs der Hemmung bey vol-
lem Gegensatze. §. 41 — 43. - Zweytes Capitel. Berechnung der Hemmung bey vollem Gegen-
satze, und erste Nachweisung der Schwellen des Bewuſst-
seyns. §. 44 — 51. - Drittes Capitel. Abänderungen des Vorigen bey minderem Ge-
gensatze. §. 52 — 56. - Viertes Capitel. Von den vollkommenen Complicationen der Vor-
stellungen. §. 57 — 62. - Fünftes Capitel. Von den unvollkommenen Complicationen.
§. 63 — 66. - Sechstes Capitel. Von den Verschmelzungen. §. 67 — 73.
- Erstes Capitel. Summe und Verhältniſs der Hemmung bey vol-
- Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des
Geistes.- Erstes Capitel. Vom Sinken der Hemmungssumme. §. 74 — 76.
- Zweytes Capitel. Von den mechanischen Schwellen. §. 77 — 80.
- Drittes Capitel. Von wiedererweckten Vorstellungen nach der
einfachsten Ansicht. §. 81 — 85. - Viertes Capitel. Von der mittelbaren Wiedererweckung. §. 86 — 93.
- Fünftes Capitel. Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen.
§. 94 — 97. - Sechstes Capitel. Ueber Abnahme und Erneuerung der Empfäng-
lichkeit. §. 98 — 99. - Siebentes Capitel. Von den Vorstellungsreihen niederer und
höherer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung.
§. 100 — 102.
Einleitung.
Die Absicht dieses Werkes geht dahin, eine Seelen-
forschung herbeyzuführen, welche der Naturforschung glei-
che; in so fern dieselbe den völlig regelmäſsigen Zusam-
menhang der Erscheinungen überall voraussetzt, und ihm
nachspürt durch Sichtung der Thatsachen, durch behut-
same Schlüsse, durch gewagte, geprüfte, berichtigte Hy-
pothesen, endlich, wo es irgend seyn kann, durch Erwä-
gung der Gröſsen und durch Rechnung. Daſs die Seelen-
lehre sich von mehrern Seiten der Rechnung darbietet,
diese Bemerkung hat mich auf die Bahn der jetzt vorzu-
legenden Untersuchungen gebracht; und je weiter ich sie
verfolge, um desto mehr überzeuge ich mich, daſs nur
auf solchem Wege das Misverhältniſs zwischen unsern
Kenntnissen von der äuſseren Welt, und der Ungewiſs-
heit über unser eigenes Innere, kann ausgeglichen, nur
auf solche Weise der Stoff, welchen Selbstbeobachtung,
Umgang mit Menschen, und Geschichte, uns darbieten,
gehörig kann verarbeitet werden.
Von den Meinungen derer, die auf innere, auf in-
tellectuale Anschauungen eine Naturlehre gründen, werde
ich freilich mich weit entfernen müssen. Ihre Naturlehre
ist nicht das passende Gleichniſs für die Psychologie;
ihre Anschauungen sind der Selbsttäuschung mehr als
verdächtig, denn es sind offenbar nur unrichtige Begriffe,
die aus speculativen Verlegenheiten entsprangen; hätte es
aber auch mit diesen Anschauungen, als Thatsachen,
I. A
[2] seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder
verkannt seyn, daſs alle Anschauung, innere sowohl als
äuſsere, um sichere Ueberzeugung zu begründen, erst die
Probe machen muſs, ob sie sich im Denken halten könne?
oder ob sie ein bloſser Stoff für Kritik und Umarbeitung
werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des
leichten Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert,
indem sie die scheinbaren Bewegungen auf die wahren
zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen.
Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit
Denen, welche durch das Dogma von der sogenannten
transscendentalen Freyheit des Willens einen gro-
ſsen Theil der psychologischen Thatsachen der allgemei-
nen Gesetzmäſsigkeit entweder geradezu entziehen, oder
doch diese Gesetzmäſsigkeit für bloſse Erscheinung er-
klären. Diese häufen irrige Ansichten der praktischen
Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem sie die
Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbst-
ständigkeit des Willens verwechseln; die Zurechnung,
welche den Willen treffen sollte, über ihr Ziel hinaus-
treiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem
Ursprunge des Willens verlieren; endlich das Urtheil
mit dem Gebote zusammenschmelzend sich eine prakti-
sche Vernunft erfinden, deren Verhältniſs zu der theore-
tischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt.
Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum
Theil die Sache der praktischen Philosophie, und in so
fern muſs ich mich auf eine frühere Schrift beziehen *);
damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe
komme, muſs erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste
bearbeitet werden.
Abweichen muſs ich endlich von allen Denen, welche
die innern Thatsachen zu erklären glauben, indem sie
sie classificiren, und nun für jede Classe von Thatsa-
[3] chen eine besondere, ihr entsprechende Möglichkeit an-
nehmen, diese Möglichkeiten aber in eben so viele Ver-
mögen übersetzen; wobey die logischen, zur vorläufigen
Uebersicht der Phänomene brauchbaren Eintheilungen,
wider alles Recht, für Erkenntnisse realer Vielheit und
Verschiedenheit ausgegeben werden; und wodurch statt
des ächten Systems, der, unter sich nothwendig zusam-
menhängenden psychologischen Gesetze ein bloſses Ag-
gregat von Seelenvermögen herauskommt, ohne Spur ei-
ner Antwort auf die Frage: warum doch gerade solche,
und so viele Vermögen in uns beysammen, und warum
sie in dieser, und keiner andern Gemeinschaft begriffen
seyn mögen? — Die sogenannte empirische Psychologie,
welche aus solcher Behandlung des Gegenstandes ent-
steht, ist bekannt genug, es wird auch noch jetzt hie
und da daran gekünstelt, obgleich das Interesse dafür
sich groſsentheils verloren hat. Hier aber entsteht ein
Kreislauf von Uebeln. Unrichtiges Verfahren giebt schlech-
ten Erfolg; das Mislingen bricht den Muth und hemmt
den Fleiſs; je nachlässiger nun gearbeitet wird, desto we-
niger bessert sich das Verfahren; und der Irrthum, des-
sen man längst müde geworden, fährt gleichwohl fort zu
täuschen. —
Nach den vorstehenden Erklärungen werden Manche
dies Buch für immer bey Seite legen; möchten nun die
Wenigen, welche noch nicht abgeschreckt sind, sich zu-
erst der längst anerkannten, höchsten Wichtigkeit einer
ächten Wissenschaft von Uns selbst, von unserem Geiste
und Gemüthe, erinnern! Einer Wissenschaft, die wir
im Grunde immer, als ob wir sie schon besäſsen, im
Stillen voraussetzen, wo wir von uns etwas fordern, oder
für uns etwas wünschen, wo wir mit unsern Kräften et-
was unternehmen, oder daran zweifelnd etwas aufgeben,
wo wir im Wissen oder im Handeln oder im Genieſsen
vorwärts streben oder rückwärts gleiten. Uns selbst
schauen und denken wir in Alles hinein, darum weil wir
mit unsern Augen sehen, und mit unserm Geiste den-
A 2
[4] ken; in unsern eigenen Zuständen liegt das Glück und
das Uebel, welches wir empfinden, und dessen Vorstel-
lung wir auf Andere übertragen; nach dem Standpuncte,
auf welchem der Mensch steht, richtet sich sein Begriff
von Gott und vom Teufel, so wie von der Erde aus
und mit irdischen Werkzeugen wir in das Licht der
Sonnen und in die Nebel der Kometen hineinblicken.
Können wir nun das, was wir in unser Wissen und
Meinen selbst hineintrugen, wieder abrechnen? Und
bleibt alsdann noch ein wahrhaft objectives Wissen übrig?
Oder ist die Abrechnung unmöglich, und ist die ganze
Welt, die ganze Natur, bloſs für uns und in uns? Oder
sind wir selbst dergestalt in der Welt, daſs in der Selbst-
anschauung der Welt auch die Geister der Menschen,
wie Theile im Ganzen, enthalten sind? — Solche Fra-
gen ohne alle Psychologie zu beantworten, wird wohl
Niemand versuchen. Dadurch aber, daſs man in die Leh-
ren vom Ich oder von der Weltseele die gemeinen Vor-
stellungsarten der empirischen Psychologie einwickelt,
ohne sie zu verbessern, kommt die Wissenschaft nicht
von der Stelle. Und gleichwohl, wo wäre die Wissen-
schaftslehre oder die Naturphilosophie, die nicht auf der
Einbildungskraft, der Urtheilskraft, der Ver-
nunft, dem Verstande, dem freyen Willen, als
auf eben so vielen unentbehrlichen Krücken sich gelehnt
hätte und einhergegangen wäre? die nicht, obgleich un-
dankbar, dennoch Dienste von der empirischen Psycho-
logie angenommen, und dadurch ein mittelbares Bekennt-
niſs von der Wichtigkeit unseres Gegenstandes abgelegt
hätte?
Möchten ferner die Leser, die sich entschlossen ha-
ben, mir ernstlich und beharrlich auf meiner Bahn zu
folgen, in der Ueberlegung dessen, wornach sie zuerst
zu fragen haben, mir zuvorkommen! Dieses aber sind
die Principien, die ich zum Grunde, und die Metho-
den, deren ich mich bedienen werde. Wobey sogleich
zu bemerken, daſs hier lediglich von Principien der Er-
[5] kenntniſs, das heiſst, von Anfangspuncten des Wissens
die Rede seyn kann; keineswegs aber von Real-Princi-
pien, das heiſst, Anfangspuncten des Seyns und Gesche-
bens. Denn wie, und ob überhaupt, wir die letztern zu
erkennen vermögen? das ist eben die Frage; es ist keine
Gewiſsheit, von der man ausgehn könnte. Und den Leh-
ren, nach welchen es irgend ein Reales geben soll, das
man unmittelbar und ursprünglich erkenne, steht die That-
sache entgegen, daſs sie bezweifelt werden, da doch kein
Zweifel möglich wäre, wenn durch irgend ein Princip
des Wissens geradezu ein realer Gegenstand gewuſst
würde. Meinerseits benachrichtige ich den Leser, daſs
ich alle vorgebliche Identität von Ideal- und Real-Prin-
cipien schlechthin leugne, und jede Behauptung der Art
als einen Schlagbaum betrachte, wodurch der Weg zur
Wahrheit gleich Anfangs versperrt wird. Alles unmittel-
bar-Gegebene ist Erscheinung; alle Kenntniſs des Rea-
len beruht auf der Einsicht, daſs das Gegebene nicht er-
scheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre. Die Schlüsse
aber von der Erscheinung auf das Reale, beruhen nicht
auf eingebildeten Formen des Anschauens und Denkens;
— dergleichen Manche in dem Raume und der Zeit, ja
sogar in dem Causal-Gesetze, oder noch allgemeiner in
einem sogenannten Satze des Grundes zu finden glau-
ben; dergestalt, daſs sie diese Formen für zufällige Be-
dingungen halten, auf welche nun einmal das menschli-
che Erkenntniſsvermögen beschränkt sey, während andre
Vernunftwesen wohl eine andre Einrichtung ihres Den-
kens haben könnten. — Wer dieser Meinung zugethan
ist, der verfährt consequent, wenn er die Schlüsse von
der Erscheinung auf das Reale für ein bloſses Ereigniſs
in unserm Erkenntniſsvermögen hält; der Fehler liegt aber
daran, daſs er die Formen des Denkens bloſs empirisch
kennt, ohne Einsicht in deren innere und unabänderliche
Nothwendigkeit. Wäre ihm diese klar, so würde er auch
richtigen Schlüssen vertrauen; und das Suchen nach ei-
nem höhern Standpuncte, auf welchem die einmal er-
[6] kannte Wahrheit wohl wieder Irrthum werden möge,
würde er als eine Träumerey betrachten, deren Unge-
reimtheit daraus entsteht, daſs die Evidenz des Wachens
verloren geht und vergessen wird. Diejenigen, welche
auf verschiedenen Standpuncten Verschiedenes wahr fan-
den, hatten auf keinem richtig gesehen.
Eine zweyte Bemerkung, die gleich hier nöthig scheint,
betrifft das Verhältniſs der Principien und Methoden.
Beyde bestimmen einander gegenseitig. Näm-
lich ein Princip soll die doppelte Eigenschaft besitzen,
eigene Gewiſsheit ursprünglich zu haben, und andere Ge-
wiſsheit zu erzeugen. Die Art und Weise, wie das letz-
tere geschieht, ist die Methode. Daher richtet sich aber
auch die Methode nach dem Princip, auf welches sie
paſst; und ihm selbst muſs sie abgewonnen werden. Der
Denker, welcher in der Mitte seiner Beschäftigung mit
einem (nicht willkührlichen, sondern gegebenen) Begriffe,
gewahr wird, daſs dieser Begriff ihm nöthige neue Be-
griffe an jenen anzuknüpfen, die zu ihm wesentlich
gehören: derselbe findet, und erfindet eben dadurch die
Methode, welche zu jenem Begriffe, als dem Princip,
gehören wird. Ueber ein solches Verhältniſs zwischen
Methoden und den entsprechenden Principien lassen sich
allgemeine Untersuchungen anstellen; aber in der reinen
formalen Logik muſs man dergleichen nicht suchen; denn
eben weil diese von allem Inhalte der Begriffe abstrahirt,
kann sie das Eigenthümliche besonderer Erkenntniſsquel-
len, und die besondere Art, wie daraus geschöpft werden
muſs, nicht erreichen. Daher kann auch die Frage, wie
vieles aus einem einzigen Princip könne abgeleitet wer-
den? nicht durch die allbekannte Bemerkung, daſs zu
einer logischen Conclusion wenigstens zwey Prämissen
gehören, zurückgewiesen werden. Wer in der Philoso-
phie gute Fortschritte machen will, der muſs sich vor al-
len Dingen hüten, in der Form seines Denkens nicht ein-
seitig zu werden, und sich keiner beschränkten Angewöh-
nung zu überlassen. Fast jede Classe von Problemen
[7] hat ihr Eigenthümliches, sie verlangt neue Uebungen und
Anstrengungen.
Hieraus erklärt sichs, daſs oft die fruchtbarsten Prin-
cipien lange Zeit ungenutzt liegen bleiben. Man kennt
sie in ihrer ersten Eigenschaft, nämlich daſs sie an sich
gewiſs sind; aber man ist noch nicht aufmerksam gewor-
den auf die zweyte, vermöge deren sie neue Gewiſsheit
erzeugen können. Und warum nicht? Weil man die
dazu nöthige Methode nicht hat, und die derselben an-
gemessene Geistesrichtung und Uebung nicht besitzt.
Die Gefahr aber, daſs vorhandene Principien unge-
nutzt bleiben, ist um desto gröſser, je mehr unsre Auf-
merksamkeit getheilt wird, je mehr die Menge der Prin-
cipien uns zerstreut; je unbestimmter sie vor unsern Au-
gen gleichsam herum schweben; endlich je mannigfaltiger
wir noch auſser dem speculativen Interesse von ihnen be-
schäfftigt werden.
In solchem Falle nun sind wir mit den Principien
der Psychologie. An ihnen haben wir einen Reichthum,
den wir nicht zählen können; ein Wissen, das, wie ein
Irrlicht, uns stets begleitet, und stets flieht; eine Ueber-
zeugung, deren Stärke zwar die gröſste, deren Bestimmt-
heit aber die allerkleinste ist; eine Basis von Untersu-
chungen, welche als Ganzes völlig vest liegt, und doch
in jedem einzelnen Puncte schwankt; endlich eine Auf-
forderung zum Nachdenken, die so dringend und auf so
mannigfaltige Weise einladend, die mit so vielerley An-
gelegenheiten unsers Lebens und unserer Geschäffte ver-
flochten ist, daſs wir vor lauter Interesse zu derjenigen
rein speculativen Gemüthsfassung, deren es zur Untersu-
chung einzig bedarf, kaum gelangen können.
Welches sind denn die Principien der Psy-
chologie? Diese Frage hoffe ich mit allgemeiner Zu-
stimmung so zu beantworten: es sind diejenigen Thatsa-
chen des Bewuſstseyns, aus welchen die Gesetze dessen,
was in uns geschieht, können erkannt werden. — Die
Thatsachen des Bewuſstseyns sind ohne Zweifel die An-
[8] fangspuncte alles psychologischen Nachdenkens; abgese-
hen von ihnen, was hätten wir von der Seele zu sagen
oder zu fragen? Nun soll auch aus den Principien et-
was weiteres erkannt werden; und hier möchte man sich
vielleicht nicht mit den Gesetzen der geistigen Ereignisse
begnügen wollen, sondern auch noch Aufschluſs über das
reale Wesen der Seele verlangen. Allein ob dieses er-
kennbar sey? wird wohl der Leser das vor der Untersu-
chung entscheiden wollen? Wir suchen ein speculatives
Wissen; also freylich kein bloſses Register von That-
sachen, sondern eine gesetzmäſsige Verknüpfung dersel-
ben; darüber hinaus grundlose Behauptungen aufzustel-
len, würde Nichts helfen; ergiebt sich aber auf rechtmä-
ſsigem Wege noch etwas Mehr, so ist dies als eine will-
kommene Zugabe zu betrachten.
Wenn nun gleich die gegebene Antwort einleuch-
tend ist, so hat sie doch nur den Werth einer Nominal-
Definition. Denn wir sehen noch nicht, ob es denn sol-
che Thatsachen des Bewuſstseyns wirklich gebe, die zu
Erkenntniſsgründen der aufzusuchenden Gesetze dienen
können? Welche es seyen? Wie man sie herauswäh-
len könne aus der Fülle der innern Wahrnehmungen?
Wie aus ihnen etwas folge, und wie Vieles? Ob man
mehrere solche Thatsachen verbinden müsse, oder nicht?
Ob man sich aller deren, welche die Würde von Prin-
cipien behaupten können, nothwendig bedienen müsse;
oder ob sie den mehrern Thoren Einer Stadt zu verglei-
chen seyen, unter denen man wählen darf, weil jedes
den Eingang zu der ganzen Stadt darbietet, obgleich
vielleicht Eines schneller und bequemer als die andern,
uns in den Mittelpunct der Stadt würde gelangen lassen?
Diese Fragen, ohne Zweifel schwer genug zu beant-
worten, setzen alle schon voraus; daſs man die Thatsa-
chen des Bewuſstseyns, so wie die innere Wahrnehmung
sie darbietet, wenigstens kenne und übersehe. Aber hat
uns die empirische Psychologie auch nur so weit vorge-
arbeitet? Sie erzählt vom Vorstellungsvermögen, Gefühl-
[9] vermögen, Begehrungsvermögen; sie ordnet diesen
Vermögen, als ob es Gattungsbegriffe wären, andere
Vermögen unter, zum Beyspiel, Gedächtniſs, Einbil-
dungskraft, Verstand, Vernunft; ja in dieser Unterord-
nung geht sie noch weiter, indem sie ein Ortgedächt-
niſs, Namengedächtniſs, Sachgedächtniſs, einen theoreti-
schen und praktischen Verstand, u. dgl. aufweist. Ist
nun wohl hier ein Ende der Unterordnung? Und ist das
Allgemeine, dem etwas subsumirt wird, eine Thatsache?
Gewiſs nichts weniger; alle Thatsachen sind etwas indi-
viduelles, sie sind weder Gattungen noch Arten. Die
letztern aber müssen durch eine regelmäſsige Abstraction
aus der Auffassung des Individuellen entspringen. Wie
nun, wenn das Individuelle nicht still genug
hielte, um sich zu einer regelmäſsigen Abstraction her-
zugeben?
Wer auch nur einen Versuch macht, die hier auf-
geworfenen Fragen ernstlich zu überlegen: der wird bald
inne werden, daſs der Stoff, den wir behandeln wollen,
äuſserst schlüpfrig ist. Daher können wir diejenigen Un-
tersuchungen, welche den wesentlichen Inhalt dieses Buchs
ausmachen, nicht gleich vornehmen, sondern es sind ei-
nige vorbereitende Betrachtungen nöthig. Zuerst über
die Auffassung und Benutzung der psychologischen Prin-
cipien. Ferner über das Verhältniſs der Wissenschaft,
die wir Psychologie nennen, zur allgemeinen Metaphysik.
Dann werden wir uns in der Kürze an die neuere Ge-
schichte der Psychologie erinnern; und erst am Ende die-
ser ganzen Einleitung kann über den Plan des Buchs
eine nähere Auskunft gegeben werden. Die Leser aber
werden gebeten, sich einen ruhigen Schritt gefallen zu
lassen; und vest zu glauben, daſs in der Philosophie al-
lemal der Weg, den man in scheinbaren Geniesprüngen
vorwärts macht, langsam wieder rückwärts gegangen wird.
[10]
I.
Von den verschiedenen Weisen, wie die ge-
meine Kenntniſs der Thatsachen des Bewuſst-
seyns gewonnen wird.
§. 1.
Die Thatsachen des Bewuſstseyns (unter welchen
die psychologischen Principien sich befinden müssen) wer-
den entweder unwillkührlich gefunden, oder sie werden
absichtlich gesucht. Man könnte hinzufügen, entweder
durch Beobachtung unserer selbst, oder Anderer: allein
es ist bekannt, daſs die Aeuſserungen Anderer nur mit
Hülfe der Selbstbeobachtung ihre Auslegung erhalten
können; daher es rathsam seyn wird, zunächst bey der
Selbstbeobachtung stehen zu bleiben.
Die Absicht, unser Inneres wahrzunehmen, kommt
zwar im gemeinen Leben nicht gar häufig vor. Desto
mehr aber wird man durch psychologische Beschäfftigun-
gen dazu veranlaſst, und selbst angetrieben, indem man
den Gegenstand, wovon die Rede ist, unmittelbar auffas-
sen möchte. Aus diesem Grunde wird es hier ganz pas-
send seyn, von der absichtlichen Betrachtung der That-
sachen des Bewuſstseyns anzufangen.
§. 2.
Den Versuch, in sein Inneres zu blicken, kann man
jeden Augenblick anstellen. Immer wird sich etwas fin-
den, woran gerade jetzt gedacht wurde; immer auch ein
körperliches Gefühl sich entdecken lassen, wäre es auch
nur das, welches mit dem Stehen, Sitzen, Liegen, über-
haupt mit der nothwendigen Unterstützung des Körpers
verbunden ist. Ferner wird das, woran gedacht wurde,
nicht einfach seyn; auf seiner Mannigfaltigkeit wird die
Selbstbetrachtung umherlaufen, und es einigermaaſsen ver-
deutlichen. Aber nicht nur das Hervorgehobene wird als-
bald wieder schwinden; sondern alles, was die innere
[11] Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich gar bald ver-
dunkeln, und irgend eine Veränderung in dem Schau-
spiele sich zeigen. Am gewöhnlichsten ist es die Selbst-
beobachtung selber, von der eine neue Gedankenreihe
anhebt, die wenige Augenblicke später aufs neue zum
Object einer wiederhohlten Reflexion sich darbietet.
Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abän-
dern, wenn mitten im Geschäfft, in der Leidenschaft,
während des Sprechens mit Andern, wir uns selber be-
lauschen. Das Geschäfft geräth dadurch ins Stocken, die
Leidenschaft mäſsigt sich, und macht gar oft einem Af-
fecte Platz, der aus dem Urtheil über uns selbst ent-
springt. Das Zuhören bey der eignen Rede hemmt ihr
rasches Fortströmen; und es regt sich ein Bestreben, den
Gedanken zu concentriren, den die Worte aus einander
legen; den Ausdruck entsprechender, ja den Ton der
Stimme anklingender zu machen.
Will man verhüten, daſs nicht der Zuschauer in die
Handlung eingreife? Will man sich absichtlich gehen
lassen; um rein aufzufassen, was von selbst innerlich ge-
schehe? Nur um so eher wird alles, was zu sehen war,
sich verdunkeln, und gar bald wird nur noch der Zu-
schauer sich und sein eignes Warten beschauen. Eine
Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und
streng sich selbst beobachten, um in jedem Augenblick
den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahr-
zunehmen: dies könnte als eine der stärksten Selbstpei-
nigungen denen empfohlen werden, die darin ein Ver-
dienst suchen.
§. 3.
Unabsichtlich ist Jeder sein eigner Zuschauer wäh-
rend seines ganzen Lebens, und eben dadurch gewinnt
er seine eigene Lebensgeschichte. Auch bringt er diese
Geschichte, und die aus ihr geschöpfte Kenntniſs seiner
Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit; jene ergiebt das
Subject, zu welchem diese nur die Prädicate liefern soll.
Und schon aus diesem Grunde kann die absichtliche
[12] Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern; der Be-
obachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon
viel zu gut im Voraus.
Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine
völlig zusammenhängende Kenntniſs, noch aus bestimmt
begränzten Theilen zusammengesetzt. Ihre Parthieen tre-
ten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern, oder durch
zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor;
wie viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch
möchten ausfüllen lassen, das leidet keine genaue An-
gabe.
Der Faden der Lebensgeschichte ist überdies sehr
vielfältig der Faden äuſserer Begebenheiten, die in ihrem
Zusammenhange mit Interesse betrachtet wurden, und
wozu nur hinterher hinzugedacht ist, daſs man die-
ses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äuſsere
Begebenheiten innerlich muſsten aufgefaſst werden, und
alle innere Auffassungen zu den Thatsachen des Bewuſst-
seyns zu rechnen sind: so kann man doch keinesweges
behaupten, daſs das Auffassen selbst wiederum
innerlich wahrgenommen sey, — eben so wenig,
als daſs dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals
Gegenstand einer höhern Wahrnehmung geworden sey,
— welches ins Unendliche laufen würde! Demnach
ist der Gegenstand der Wahrnehmung keines-
weges immerfort Wir selbst; vielmehr wird die
innere Wahrnehmung häufig durch die äuſsere,
oder auch durch andere Gemüthsbewegungen
unterbrochen. Ueberdies läſst sich das Eintreten einer
erneuerten, also früher erloschen gewesenen, Aufmerk-
samkeit auf uns selbst, oft genug deutlich wahrnehmen.
§. 4.
Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir
weder willkührlich noch unwillkührlich auf uns achteten:
das erfahren wir sehr häufig aus dem Munde Anderer,
oder wir schlieſsen es aus den Producten unserer eige-
nen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir
[13] zur Kenntniſs der Thatsachen unseres Bewuſstseyns ge-
langen. Wir sind zum Beyspiel eine Strecke gegangen;
ganz in Gedanken vertieft; aber die Stelle, wo wir uns
jetzo befinden, verräth, wie weit unsre Schritte uns ge-
tragen haben. Oder wir haben Jemanden die Zeitung
vorgelesen, ohne Interesse und Aufmerksamkeit; so wis-
sen wir vielleicht Nichts von mehrern Zeilen, die doch
der Zuhörer gar wohl vernommen hat. Oder, mitten im
Phantasiren an einem Instrumente sind unsre Gedanken
von der Musik abgekommen; und während wir mit ganz
andern Gegenständen uns lebhaft beschäfftigen, stört uns
ein Anwesender mit Bemerkungen über das was wir so
eben gespielt haben. So erfahren wir hintennach, was
alles durch unsern Kopf gegangen ist. — Es ist hier der
Ort, einer Zweydeutigkeit zu gedenken, an welche der
Leser schon kann gestoſsen seyn. Thatsachen des Be-
wuſstseyns würden im engsten Sinne nur die innerlich
beobachteten seyn. Durch diese Bestimmung des Be-
griffs wären nicht bloſs diejenigen Vorstellungen ausge-
schlossen, welche wegen ihrer Dunkelheit unbemerkt blei-
ben: sondern auch das active Beobachten, sofern es
nicht wiederum in einer höhern Reflexion ein Beobach-
tetes wird. Aber das active Wissen gehört gewiſs mit
zum Bewuſstseyn, wenn es nicht selbst ein Gewuſstes
wird. Und die dunkeln Vorstellungen verdunkeln sich so
allmählig, daſs das innerlich Beobachtete von dem, was
sich der Beobachtung entzieht, nicht kann scharf abge-
schnitten werden. Ueberdies wird Niemand bezweifeln,
daſs das Beobachtete mit dem Nicht-Beobachteten in ei-
nem unzertrennlichen Zusammenhange fortlaufender Ge-
müths-Thätigkeit stehe. Daher rechnen wir zu den
Thatsachen des Bewuſstseyns alles wirkliche
Vorstellen; und folglich zu den Arten, sie zu erfah-
ren, auch die Beobachtung der Producte unserer vorstel-
lenden Thätigkeit, sollte auch die innere Wahrnehmung
unseres Thuns gemangelt haben.
Bekannte Beyspiele zu häufen, wäre unnütz. Aber
[14] desto nothwendiger muſs bemerkt werden, daſs ganze
Massen unserer geistigen Thätigkeit uns nicht
eher als solche bekannt werden, als bis die Be-
trachtungen über unser inneres Produci-
ren, von wo die idealistischen Systeme aus-
gehn, uns darauf führen. Ein Reisender erzählt
wohl von dem was er gesehn hat; aber indem er seines
Sehens erwähnt, und was er dabey empfunden, beschreibt,
fällt ihm nicht ein, von denjenigen Thätigkeiten sei-
nes Geistes zu sprechen, vermöge deren er das, an
sich intensive, Wahrnehmen, in ein räumliches Vorstel-
len ausgedehnter Gegenstände verwandelt hat. Und in
unsern Psychologien lesen wir zwar von der Form der
Anschauung und des Denkens, welche die gegebene Ma-
terie der Empfindung in sich aufgenommen habe; allein
man unterläſst die eben so wichtige als weitläuftige Er-
örterung, durch welche Stufenfolge die sogenannten rei-
nen Formen des Anschauens allmählig zum klaren Be-
wuſstseyn gelangen; wie die Unterscheidung bestimmter
Figuren möglich geworden sey; wie das Augenmaaſs, wie
das rhythmische Gefühl sich ausbilde.
Man kann die Frage, was für eine Bewandniſs es
mit den behaupteten Formen des Anschauens und Den-
kens haben möge, hier noch ganz unentschieden lassen:
gleichwohl steht der Satz vest, daſs in den Anwendun-
gen und dem deutlichen Vorstellen dieser Formen eine
Menge psychologischer Thatsachen verborgen liegen, die
ohne Zweifel in wesentlichem Zusammenhange mit den
übrigen Thatsachen des Bewuſstseyns stehen, und schon
deshalb der Aufmerksamkeit der Psychologie keinesweges
entgehen dürfen. Allein, sowohl diese, als überhaupt die
ganze Classe derjenigen Thatsachen, welche nicht unmit-
telbar wahrgenommen, sondern aus den Producten unse-
rer Thätigkeit erst geschlossen werden, entfernen sich
eben dadurch von der Eigenschaft der Principien; sie
sind vielmehr Probleme, welche die Wissenschaft
durch Lehrsätze zu lösen hat, und wobey wir uns
[15] wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür
und Thor zu öffnen!
§. 5.
Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf-
findung psychologischer Thatsachen, läſst sich wohl kaum
etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen
zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der
Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom-
men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst
auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre
Erzählungen verstehen, theils die äuſsern Zeichen ihrer
inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun-
gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den
unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen,
können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen
zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die
Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der
Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen
empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö-
ſseren Menge der Menschen nicht verstanden.
Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist
wohl diese, daſs die Unsicherheit in den, auf dem Wege
der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt-
nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe,
und deshalb gröſser sey, als bey der Selbstbeobachtung.
Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei-
chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un-
serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop-
pelten Täuschung. Sie kann auch noch gröſser werden,
wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von
Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut.
Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei-
ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition
davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent-
lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst
das wiederfinden wollen, was sie vernahmen?
Zu einer zweyten Bemerkung veranlaſst die Neigung
[16] einiger Psychologen, bey den seltenen und sonderbaren
Erscheinungen der Nachtwandler und Wahnsinnigen län-
ger zu verweilen, als bey denen, die sich im gewöhnli-
chen Zustande ereignen; oder auch nur, sich über die
Träume und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über
den regelmäſsigen Gedankengang der Wachenden. Na-
türlich ist es zwar, daſs auſserordentliche Erscheinungen
zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen;
allein schon aus der Physik weiſs man, daſs von den
gewöhnlichsten Begebenheiten (z. B. von den Verände-
rungen des Wetters) die Gründe oft am tiefsten verbor-
gen liegen. Und in der Psychologie finden sich die gröſs-
ten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit
einem Worte fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur
an das Wort Vernunft; dieses allbekannte Wort, dessen
Erklärung gewiſs Jeder in seinem eignen Bewuſstseyn
anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen
Curiosa meistens bey Andern aufsucht. — Es dürfte sich
finden, daſs wir nicht so sehr Ursache hätten, die Nach-
richten von ungewöhnlichen Gemüthszuständen zu sam-
meln. Der Reichthum von Auffassungen, die wir täglich
an uns selbst machen können, ist eben so groſs, als des-
sen Verarbeitung schwierig und weitläuftig; und in dem
Maaſse, als wir für die Erscheinungen in uns, die allge-
meinen Gesetze erkennen, muſs es uns auch möglich
werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus
bloſser Uebertragung eigner Gefühle, die Gemüthszu-
stände Anderer, selbst in ihren weitesten Abweichungen
vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären. So
braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten
Planeten auf die Kegelschnitte zurückgeführt zu haben,
um seinen Calcul gar bald auch den neuesten und fremd-
artigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu können.
Hiemit leugne ich jedoch keinesweges irgend einer
ächten psychologischen Beobachtung ihren Werth ab.
Für alle Erfahrungen muſs sich irgendwo eine Stelle in
den Wissenschaften finden, wo sie willkommen seyn kön-
nen.
[17] nen. Nur ist ein sehr groſser Unterschied zwischen dem,
was am meisten auffällt, und dem, was die tiefsten Un-
tersuchungen fordert; so wie zwischen dem, was am wei-
testen hergehohlt wird, und dem, was die reichsten, oder
die ersten und nöthigsten Aufschlüsse darbietet.
§. 6.
Es kann von Nutzen seyn, wenn der Leser die vor-
hin gewiesenen Wege, wie wir zur Kenntniſs der inne-
ren Thatsachen gelangen, weiter verfolgen will; beson-
ders um sich Rechenschaft davon zu geben, wie der Vor-
rath psychologischer Kenntnisse, den man schon zu be-
sitzen glaubt, aus absichtlicher oder unabsichtlicher
Selbst-Auffassung, aus Deutung der vorgefundenen Pro-
ducte eigner Thätigkeit, aus Zeugnissen und aus Beob-
achtung Anderer, allmählig sich zusammengesetzt habe.
Diese Ueberlegung soll nicht auf einen Lehrsatz hinfüh-
ren; aber sie soll heraushelfen aus dem Glauben an die
Abstractionen der Schulen; sie soll das unmittelbare Be-
wuſstseyn dessen zurückführen, was den Erklärungen von
Sinnlichkeit und Verstand, von Begehrungsvermögen und
Gefühlvermögen, und wie diese Gedankendinge weiter
heiſsen, eigentlich an ächter Erfahrung zum Grunde liegt.
Gesetzt nun, der Vorrath der psychologischen That-
sachen sey beysammen: welche Art von Regelmäſsig-
keit läſst sich im Allgemeinen an ihnen erkennen oder
doch vermuthen? Dies ist die erste Frage der specu-
lativen Psychologie.
II.
Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen,
was innerlich wahrgenommen wird.
§. 7.
Erinnert man sich der Veränderlichkeit des Schau-
spiels, was die absichtliche Selbstbeobachtung antrifft,
I. B
[18] ohne es in einerley Zustande vesthalten zu können, und
überdies der Abwechselungen in einander überflieſsender
Gemüthslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebens-
geschichte ausmachen: so zeigt sich Alles als kommend
und gehend, als schwankend und schwebend; mit einem
Worte, als etwas, das stärker und schwächer wird.
In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein
Gröſsenbegriff. Also ist in den Thatsachen des Be-
wuſstseyns entweder keine genaue Regelmäſsigkeit, oder
sie ist durchweg von mathematischer Art; und man
muſs versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen.
Warum ist dies nicht längst unternommen worden?
Darauf könnten die älteren Zeiten, sich entschuldigend,
antworten: die Mathematik sey, vor Erfindung der Rech-
nung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen.
Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner.
§. 8.
Erstlich: die psychologischen Gröſsen sind nicht der-
gestalt gegeben, daſs sie sich messen lieſsen; sie gestat-
ten nur eine unvollkommne Schätzung. Dies schreckt
ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht. Denn man
kann die Veränderlichkeit gewisser Gröſsen, und sie selbst,
in so fern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie voll-
ständig zu bestimmen; hierauf beruht die ganze Analysis
des Unendlichen. Man kann ferner Gesetze der Gröſsen-
veränderung hypothetisch annehmen, und mit den berech-
neten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung verglei-
chen. Sind die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so
ist dagegen ihre Menge in der Psychologie unermeſslich
groſs, und es kommt nur darauf an, sie geschickt zu be-
nutzen. Uebrigens werden wir keiner Hypothese bedür-
fen, sondern auf einem vesten Wege der Untersuchung
diejenigen Voraussetzungen finden, deren Kreis zum Be-
hufe der Psychologie mathematisch durchlaufen werden
muſs.
Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs
Erste nicht in Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.
[19]
§. 9.
Zweytens: Gerade das Schwanken und Flieſsen der
psychologischen Thatsachen, welches eine mathematische
Regelmäſsigkeit derselben im Allgemeinen vermuthen läſst,
erschwert gar sehr den Anfang der Untersuchung. Denn
hiezu sind veste, genau bestimmte und begränzte Prin-
cipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener
allgemeinen Schwankung dergestalt herausheben, daſs man
es mit Sicherheit gesondert betrachten könne? Muſs man
nicht fürchten, Zusammengehöriges auseinander zu rei-
ſsen, und Bruchstücke eines untheilbaren Ganzen als
selbstständig zu behandeln? — Man sagt z. B. vom Men-
schen: er habe Verstand und Willen; man handelt
in den Psychologien zuerst vom Erkenntniſsvermögen,
dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von
einem Dreyecke sagte: es habe Seiten und Win-
kel? und wenn man dem gemäſs die Trigonometrie in
zwey Abschnitte zerlegen wollte, deren einer von den Sei-
ten, der andere von den Winkeln handele? Wer bürgt
uns dafür, daſs unsre Psychologien weniger ungereimt
seyen, als eine solche Trigonometrie seyn würde? Ste-
hen nicht vielleicht diejenigen Thatsachen des Bewuſst-
seyns, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbe-
merkte Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als
Seiten und Winkel im Dreyecke?
Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen,
ehe von Principien der Psychologie, und von deren wis-
senschaftlicher Behandlung die Rede seyn kann.
III.
Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psy-
chologie mit Abstractionen zu behelfen?
§. 10.
In andern Wissenschaften ist die Abstraction ein
absichtliches Verfahren; wobey man weiſs, was man zu-
B 2
[20] rücklegt, und warum man anderes hervorhebt. Die Re-
flexion hält gerade diejenigen Begriffe vest, unter welchen
gewisse merkwürdige Relationen statt finden; und nach-
dem dieselben untersucht sind, steht es der Determina-
tion frey, die gesetzmäſsige Anwendung davon auf den
Umfang der Begriffe zu machen. — In der Psychologie
sind dagegen unsre Aussagen von dem innerlich Wahr-
genommenen schon unwillkührlich Abstractionen, ehe wir
es wissen, und sie werden es noch immer mehr, je be-
stimmter wir uns darüber erklären wollen.
Sie sind schon Abstractionen, ehe wir es wissen.
Denn die genaue Bestimmung des Flieſsenden unserer
Zustände (durch Ordinaten, zu denen die Zeit als Ab-
scissenlinie gehören würde,) fehlt schon, indem wir die-
selben zum Object unsers Vorstellens machen. Sie ver-
liert sich immer mehr, je länger wir die Erinnerung an
ein innerlich Wahrgenommenes aufbehalten wollen. Sie
verfälscht sich, je mehr wir uns anstrengen, sie vest zu
halten; denn eben dadurch mischt sie sich mit dem übri-
gen Vorrathe unserer verwandten Vorstellungen.
Aber auch je bestimmter wir uns darüber erklären
wollen, desto weiter kommen wir ab von der Wahrheit
dessen, was eigentlich wahrgenommen wurde, und desto
tiefer gerathen wir in die Abstractionen hinein. Aus ei-
nem zwiefachen Grunde.
Erstlich, je mehr wir uns bemühen, recht getreu-
lich nur Das zu berichten, was wir erfahren haben: de-
sto lieber verschweigen wir Alles was wir nicht genau
bemerkten, was wir nicht gewiſs verbürgen können; wir
heben demnach nur das Gewisseste heraus. Daher las-
sen wir in der Erinnerung an die inneren Wahrnehmun-
gen absichtlich los von dem, dessen Schwankung wir füh-
len, dessen bestimmte Angabe wir nicht zu erreichen hof-
fen. Was wir übrig behalten, ist ein Abstractum. —
Dies Verfahren herrscht sichtbar in allen Psychologien.
Die Verfasser derselben sprechen z. B. recht gern vom
Gedächtniſs; denn daſs es überhaupt ein solches gebe,
[21] daran zu zweifeln fällt ihnen nicht ein; jeder Mensch
muſs ja unzählige Thatsachen dafür anführen können!
Aber schon von den nächsten Arten, welche der Gat-
tung: Gedächtniſs, untergeordnet sind, als von dem
Ortgedächtniſs, dem Namengedächtniſs, dem Zahlenge-
dächtniſs, dem Gedächtniſs für Begriffe und Lehrsätze,
für Urtheile und Schlüsse, für die Empfindungen während
des Denkens, Ueberlegens und Beschlieſsens, für das
Wünschen und Wollen, für das was man gethan oder
gelitten hat: hievon getrauen sich die Psychologen nicht,
uns viel zu sagen. — Warum denn nicht? Doch wohl
nicht darum, weil das Gedächtniſs schon beym niedern
Vorstellungsvermögen abgehandelt wird, und es an die-
sem Orte in den Büchern ein ·υςερον πρωτερον seyn würde,
schon auf Begriffe, Urtheile, Schlüsse, auf Fühlen und
Wollen, Rücksicht zu nehmen? Denn hieraus würde
bloſs folgen, daſs die Stellung der Lehre vom Gedächt-
niſs eine Veränderung erleiden müsse. Aber daran liegt
der Fehler, daſs beym genauern Eingehn auf das Spe-
cielle, und auf die einzelnen Thatsachen, sich das Ge-
dächtniſs nicht so bequem würde losreiſsen und abgeson-
dert als eine eigene Seelenkraft hinstellen lassen; indem
in jedem einzelnen Falle sich eine Menge von schwer zu
bemerkenden, und noch schwerer zu beschreibenden, —
daher gern mit Stillschweigen übergangenen — Neben-
umständen geltend machen, die theils auf das erste Auf-
fassen, theils auf das Merken, theils auf das Verknüpfen
mit andern Vorstellungen, theils auf den Vorsatz des Be-
haltens und das Interesse des Gegenstandes, theils auf
die Zeit, während welcher das Gemerkte noch vor dem
ersten Verschwinden im Bewuſstseyn gegenwärtig blieb,
theils auf die Gemüthszustände in der Zwischenzeit bis
zur Reproduction, theils auf die Reproduction selbst, ihre
Geschwindigkeit, Lebhaftigkeit und Treue, — Einfluſs
gehabt haben, und die bey jenen Arten des Gedächtnis-
ses sehr verschieden zu seyn und zu wirken pflegen. Der
Erste, der dies Alles gehörig in Erwägung zieht, und da-
[22] bey mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu
Werke geht, wird finden, daſs die vermeinten Nebenum-
stände die Hauptsache sind, und daſs von dem soge-
nannten Gedächtniſs nichts als der leere Name übrig
bleibt.
Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise
zum Beispiel dienen können. Ueberall werden die ober-
sten Gattungsbegriffe mit der gröſsten Dreistigkeit hinge-
stellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Spe-
cielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen; und
doch ist es eben dies, worauf in einer empiri-
schen Wissenschaft Alles ankommt! Oder hat
schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Ein-
bildungskraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten,
in Denkern, in Staatsmännern, in Feldherren, äuſsere?
Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der
Logiker unterscheide? Welche Abstufungen die Ver-
nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Er-
wachsenen, bey Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey
Bauern, Handwerkern, und bey den höhern Ständen?
Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft,
zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegun-
gen erhalten haben, daſs kaum noch etwas Gemeinsames
übrig bleibt, — erinnert mich, fortzugehen zu dem zwey-
ten Grunde, der uns in den psychologischen Abstractio-
nen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.
Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen
sie auch gebraucht werden zur Erklärung dessen was in
uns vorgeht. Aber je weniger von den nähern Bestim-
mungen der Thatsachen in den Begriffen jener Vermö-
gen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung.
Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entste-
hen unbeantwortliche Fragen über das Causalverhält-
niſs der Seelenvermögen unter einander, wo-
durch sie beym Zusammenwirken eins in das andere ein-
greifen, und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern,
oder veranlassen, oder nöthigen. Jede solche Frage, in-
[23] dem sie mit einem Geständniſs der Unwissenheit endigt,
bringt den Schein hervor, als liege eine dunkle, unüber-
steigliche Kluft zwischen den Seelenvermögen, die nun
gleich Inseln aus einem unergründlichen und unfahrbaren
Meere herausragen. Was Wunder, wenn man es end-
lich müde wird, um das Zusammenwirken der Seelenver-
mögen sich zu bekümmern; wenn man vielmehr sich darin
gefällt, die weite Trennung derselben durch recht groſse
Unterschiede des einen Vermögens vom andern, deutlich
zu beschreiben? Und hierin hat man es in der That
weit gebracht. Die Seelenvermögen scheinen in einem
wahren bellum omnium contra omnes begriffen zu seyn.
Die Einbildungskraft, sich selbst überlassen, erschafft
Phantome; aber die Sinne verscheuchen sie; doch manch-
mal auch lassen sie sich von jener bethören, so daſs
wohl gar Gespenster mit Augen gesehen werden. Star-
kes Gedächtniſs findet sich bey schwachem Verstande,
und umgekehrt; die Ausbildung des einen läſst Nachtheil
besorgen für das andere. Noch weniger Friede hält der
Verstand mit den Sinnen; er entdeckt ihren Trug, er
zeigt, daſs die Sonne still steht, und das Ruder auch im
Wasser gerade ist; er erblickt einfache Gesetze, wo die
Sinne lauter Unordnung sahen. Nicht besser vertragen
sich Verstand und Einbildungskraft; er findet sie thöricht
und flatterhaft, sie ihn unbehülflich und trocken. Besser
als beyde dünkt sich die Urtheilskraft; der Verstand
wuſste nur die Regel, sie erst erkennt das Rechte und
Wahre mit Bestimmtheit im Einzelnen. Aber die Ver-
nunft erscheint; sie schwingt sich auf zum Uebersinnli-
chen, Unendlichen, zur eigentlichen Wahrheit, während
alle jene auf dem Boden der Erscheinungswelt kriechen.
Bey diesen Streitigkeiten bleiben Gefühl und Begehrungs-
vermögen nicht müssig. Die letzte Entscheidung über
Wahrheit und Irrthum behauptet am Ende das Gefühl;
insbesondere spricht es bald für, bald wider den Ver-
stand; der doch seinerseits gegen die Einmischungen des
Gefühls in seine Untersuchungen sich nachdrücklich ver-
[24] wahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo
er ihnen nützlich seyn kann, aber sie verweisen ihm seine
difficiles nugas, seine brodlosen Künste. Er will von ih-
nen nicht gestört, am wenigsten verblendet seyn; doch
er muſs weichen oder fröhnen, da sogar die Vernunft
sich ihrer kaum erwehren, und das Vernünfteln der Lei-
denschaften nicht verhindern kann. Die ästhetische Ur-
theilskraft kämpft wider die Sinnenlust; und sie verthei-
digt zuweilen die Einbildungskraft wider den Verstand.
Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen, und das
Schöne mit dem Häſslichen in den Rang bloſser Erschei-
nungen zurückzustellen. — Unser eigenes Ich ist der
Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja es ist selbst
die Gesammtheit aller dieser streitenden Partheyen!
Wird man dieses im Ernste glauben? — Und doch
stützt sich alles zuvor Gesagte auf bekannte Thatsachen.
Die Frage ist bloſs, ob eine wirkliche Vielheit von Kräf-
ten, die mit einem beharrlichen Daseyn in uns bestehen
und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden,
aus den Thatsachen solle geschlossen werden? Ob man
immer fortfahren wolle, dem augenscheinlich flüssigen
Wesen aller Gemüthszustände Trotz zu bieten; und, je
mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren
Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ih-
nen dergleichen aufzudringen? Unseres Wissens hat die
bisherige, auch die neuere und neueste, Psychologie, durch-
aus nichts anderes geleistet, als immer neue, vergrö-
ſserte, schärfer gezeichnete Spaltungen und Gegensätze
unter den vermeinten Seelenkräften. — Jedoch, unsere
Philosophen fangen schon an sich zu entschuldigen, wenn
sie aus Noth, wie sie meinen, und weil man sich doch
müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden;
sie wollen es schon nicht Wort haben, daſs sie wirklich
und im Ernste jene Trennungen vorgenommen hätten;
sie verehren die unbekannte Einheit aller jener Ver-
mögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kennt-
niſs der Seele noch nichts gewonnen, und die eigentliche
[25] Physik des Geistes mag wohl so bald noch nicht neben
der falschen Freyheitslehre der neuern Zeit aufkom-
men können; doch sind die Zeichen vorhanden, daſs die
alten Götter nicht mehr lange bestehen, und daſs ihre
Orakel bald verstummen werden. Denn in der That ist
es, beym Lichte besehen, nicht so sehr übler Wille,
noch unbeugsames Vorurtheil, — sondern es ist Ungeschick,
und Mangel an Kenntniſs der Möglichkeit einer bessern
Auffassung der Thatsachen, was der bessern Psy-
chologie im Wege steht. Unsre Philosophen sind nicht
Mathematiker; darum kennen sie nicht die Geschmeidig-
keit, womit die mathematischen Begriffe sich dem Flie-
ſsenden anpassen; vielmehr pflegen sie sich bey den ma-
thematischen Formeln etwas recht Steifes, Starres und
Todtes zu denken; — in diesem Puncte aber kann
man ihre Unwissenheit lediglich bedauern.
IV.
Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Thatsa-
chen des Bewuſstseyns zu Principien der Psycho-
logie zu benutzen.
§. 11.
Wollten wir schon hier einen bestimmten, schma-
len, systematischen Pfad anzeigen, auf welchem man in
die Psychologie eingehn könne: so würde dem nächsten
und dringendsten Bedürfniſs nicht Genüge geschehn.
Dieses Bedürfniſs besteht darin, eine richtige Ansicht im
Allgemeinen von der Umwandlung zu fassen, welcher
unsre Vorstellungsart muſs unterworfen werden; und es
rührt her von der Menge der psychologischen Abstractio-
nen, an die wir gewöhnt sind. Wir finden nun einmal
uns selbst bald anschauend, bald denkend, bald wollend
und so ferner; und ohne uns unter dergleichen Abstracta,
[26] wie Anschauen, Denken, Wollen, zu subsumiren, wissen
wir kaum, uns über unsre eignen Zustände und Bestre-
bungen Rechenschaft zu geben. Die ganze Masse unse-
rer Meinungen von uns selbst und von dem was in uns
vorgeht, bedarf einer Totalreform; und sie muſs dazu in
Bereitschaft gesetzt werden. Eben deshalb ist vorhin die
unvermeidliche Mangelhaftigkeit aller unserer un-
mittelbaren Kenntnisse von den inneren Thatsachen, und
die darans entstehende Neigung, dieselben in abgezoge-
nen Begriffen, und zwar in den weitesten am liebsten, vor-
zustellen, hinterher aber diese Begriffe, sammt ihren Sub-
straten, den Seelenvermögen, so gut oder so schlecht es
gehn will, wieder an einander zu fügen, — in Betracht ge-
zogen worden: damit es einleuchten möge, daſs hier
ganz andere Operationen des Denkens zur Verbesserung
erfordert werden, als die bloſse Classification, Induction,
Analogie, oder welche andre Zusammenstellung eines Vor-
raths von Kenntnissen da angebracht seyn würde,
wo das erste Material mit Bestimmtheit gegeben
wäre, und wo die Abstractionen stufenweise von un-
ten auf, mit aller Besonnenheit, und beliebiger Verwei-
lung auf jeder Stufe, würden vollzogen werden können.
Diejenige Operation des Denkens, wodurch die
Mangelhaftigkeit verbessert wird, heiſst Ergänzung.
Und wo die Mangelhaftigkeit der empirischen Auffassung
unvermeidlich ist, da muſs die Ergänzung auf specula-
tivem Wege unternommen werden. Dieses aber ist
nur möglich durch Nachweisung der Beziehungen; das
heiſst, derjenigen Relationen, vermöge deren eins das
andere nothwendig voraussetzt, und, was das Zei-
chen davon ist, eins ohne das andere nicht kann ge-
dacht werden.
Dergleichen Beziehungen liegen zum Theil offenbar
durch den Begriff selbst vor Augen, (wie zwischen einem
Logarithmus und der Basis sammt dem Modulus des Sy-
stems, oder zwischen dem Differential und seinem Inte-
gral, nämlich abgesehen von der wirklichen Berechnung,)
[27] und alsdann brauchen sie nur nachgewiesen zu werden.
Zum Theil können sie leicht bey einiger Aufmerksamkeit,
und auf dem Wege logischer Schlüsse gefunden werden,
(wie zwischen einem Paar unmöglicher Wurzeln einer
Gleichung). Zum Theil aber verräth sich die Nothwen-
digkeit, den Beziehungen nachzuforschen, erst durch das
Widersprechende eines von seinen nothwendigen Vor-
aussetzungen entblöſsten Begriffes: welcher letztere Fall
in den ersten Grundbegriffen der allgemeinen Metaphy-
sik vorkommt. Alsdann muſs die Aufsuchung der Bezie-
hungen nach derjenigen Methode eingeleitet werden, wel-
che ich in den Hauptpuncten der Metaphysik angegeben,
und Methode der Beziehungen genannt habe. Hie-
von wird tiefer unten noch etwas vorkommen.
Die ganze Psychologie kann nichts anders seyn, als
Ergänzung der innerlich wahrgenommenen Thatsachen;
Nachweisung des Zusammenhangs dessen was sich wahr-
nehmen lieſs, vermittelst dessen was die Wahrnehmung
nicht erreicht; nach allgemeinen Gesetzen.
Während die Beobachtung nur dann erst und nur
so lange die im Bewuſstseyn auf und niedersteigenden
Vorstellungen erblickt, wann sie in einem gewissen hö-
hören Grade von Lebhaftigkeit sich äuſsern: müssen sie
der Wissenschaft immer gleich klar vor Augen liegen,
sie mögen nun wachen und das Gemüth erfüllen, oder
in den Vorrathskammern des Gedächtnisses ruhig schla-
fen, und auf Anlässe zum Hervortreten warten. Denn
von den geistigen Bewegungsgesetzen sind sie hier so we-
nig ausgenommen wie dort.
Während die moralische Selbstkritik bekennt, die
Falten des eignen Herzens nicht durchforschen zu kön-
nen: muſs die Wissenschaft eben so wohl von der Mög-
lichkeit des Einflusses der schwächsten Motive unterrich-
tet seyn, als von der Gewalt, welche die stärksten aus-
üben, und von der Klarheit, wodurch die überdachtesten
sich auszeichnen.
Aber was die Wissenschaft mehr weiſs als die Er-
[28] fahrung: das kann sie nur dadurch wissen, daſs das
Erfahrene ohne Voraussetzung des Verborge-
nen sich nicht denken läſst. Denn nichts anders
als eben die Erfahrung ist ihr gegeben: in dieser muſs
sie die Spuren alles dessen antreffen und erkennen, was
hinter dem Vorhange sich regt und wirkt.
In diesem Sinne also muſs sie die Erfahrung
überschreiten: welches übrigens von jeher jede Philo-
sophie gethan hat; auch jene, die zwar das Ueberschrei-
ten verbot, aber gleichwohl von einem noch unverbunde-
nen, in der Receptivität anzutreffenden Mannigfaltigen
redete; das in der Erfahrung niemals vorkommen kann,
vielmehr erst, indem es die Formen der Spontaneität an-
nähme, sich ins Bewuſstseyn erhoben finden müſste: —
anderer Beyspiele nicht zu gedenken!
Wo nun und in wie vielen Puncten der ganzen Masse
aller innern Wahrnehmungen sich Beziehungen entdek-
ken lassen, die auf Voraussetzungen, auf Ergänzungen,
auf nothwendigen Zusammenhang mit anderem, das entwe-
der im Bewuſstseyn oder hinter dem Bewuſstseyn vorgegan-
gen seyn muſs, hindeuten, und nach was immer für einer
Methode mit Sicherheit darauf zu schlieſsen erlauben: da,
und so vielfach sind die Principien der Psychologie.
§. 12.
Ein Paar Beyspiele von Beziehungen in der Psycho-
logie, wenn auch nur von den offenbarsten, sind viel-
leicht nicht überflüssig; sie können wenigstens einiger-
maaſsen dienen, um von der Gestalt psychologischer Nach-
forschungen einen vorläufigen Begriff zu fassen.
Das Begehren steht in offenbarer Beziehung zu dem
Vorstellen; denn es hat einen Gegenstand, auf welchen,
als auf sein Ziel, es sich richtet. Denselben in Verges-
senheit bringen, ist das sicherste Mittel, die Begierde
zu beschwichtigen. Wiewohl nun diese Beziehung vor
Augen liegt: so ist sie doch bey weitem noch nicht hinrei-
chend bestimmt. Denn es fragt sich: unter welchen Be-
dingungen wird das Vorgestellte ein Begehrtes? Wel-
[29] che Beschaffenheit des Vorgestellten, und des Vorstellens,
muſs man voraussetzen, wenn es unter der Form des
Begehrens im Bewuſstseyn erscheinen soll? Läſst sich
die Antwort finden, indem man von dem Begehren, als
dem Bedingten, zu seinen bis jetzt unbekannten Bedin-
gungen fortschlieſst: so ist die Thatsache, daſs wir be-
gehren, zum Princip einer psychologischen Untersuchung
erhoben.
Das Gedächtniſs bezieht sich offenbar auf den Ge-
genstand, welcher behalten wird; folglich auch auf die
Production oder erste Auffassung dieses Gegenstandes.
Demnach bezieht es sich auf die Sinnlichkeit; denn was
es aufbewahrt, das sind groſsentheils Anschauungen. Es
bezieht sich eben so offenbar auf die Phantasie, das heiſst,
wir behalten viele von den Bildern, die wir selbst ent-
worfen haben. Es bezieht sich nicht minder auf den Ver-
stand, denn wir behalten auch die Resultate unsrer Spe-
culationen; auf das Gefühl, denn wir erinnern uns an
Lust und Schmerz; endlich auf den Willen, denn auch
unsre Entschlieſsungen halten wir vest, und ihre Wirk-
samkeit erneuert sich nach Unterbrechungen. Mit gutem
Bedacht habe ich in der Pädagogik vom Gedächtniſs des
Willens geredet; einem für die Erziehung höchst wich-
tigen Gegenstande, denn darauf beruhet die Möglichkeit
des Charakters und des consequenten Handelns. Ohne
Gedächtniſs des Willens bleiben angefangene Arbeiten
liegen, und aus entworfenen Plänen entweicht das Feuer,
das sie zur Reife bringen sollte. Am meisten Gedächt-
niſs des Willens zeigt die Rache, und kann dadurch
auch den, welcher an der Existenz desselben zweifeln
möchte, zur Ueberzeugung bringen. — Aber das Gedächt-
niſs bezieht sich vor allen Dingen auf das Vergessen,
im weitern Sinne dieses Worts, da es nämlich nicht den
vergeblichen Versuch, sich an etwas zu erinnern, son-
dern überhaupt die Entweichung einer gehabten Vorstel-
lung aus dem Bewuſstseyn bedeutet. Denn eben in so
fern schreiben wir uns ein Gedächtniſs zu, in wiefern
[30] eine Zeit verflieſsen kann, in welcher wir an
einen gewissen Gegenstand gar nicht denken,
ohne daſs doch darum uns die Kenntniſs desselben ver-
loren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung wie-
der hervortritt. — Wer nun aber alle diese Beziehungen
des Gedächtnisses, welche nur im Allgemeinen bekannt
sind, dadurch gehörig zu bestimmen und vollständig zu
machen wüſste, daſs er auch noch die Bedingungen,
sowohl bey der Erzeugung, als bey der Entweichung, als
auch endlich bey der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne
welche Bedingungen die Reproduction ausbleibt,) angäbe
und bewiese: der hätte die bekannten Facta ergänzt,
indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des
Bewuſstseyns, wohin sie sich zurückziehn, und von wo
sie wiederkehren, gleichsam würde begleitet haben. Und
wer diese Kenntniſs sich auf solchem Wege verschafft
hätte, daſs von dem Gedächtniſs, als einem Inbegriff be-
kannter Thatsachen, auf dessen nothwendige Voraus-
setzungen wäre geschlossen worden: der würde dadurch
diese Thatsachen zu psychologischen Principien gestem-
pelt haben. Wer aber vom Gedächtniſs nur in Namen-
erklärungen, und in Distinctionen, und in einigen Sätzen
redet, die Jeden die Erfahrung längst gelehrt hat, der
misbraucht ein vielsagendes Wort, wenn er sich eine
Theorie des Gedächtnisses zuschreibt.
Nicht zu den offenbaren Beziehungen gehört die
des Selbstbewuſstseyns auf die Individualität eines Jeden.
Daher hat man den Gedanken fassen können, das Ich
als Absolutum aufzustellen; ein sehr groſser Fehler, der
aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Re-
flexionen bedarf. Und die Geschichte der neuern Philo-
sophie hat nur zu gut gelehrt, wie leicht diese Reflexio-
nen verfehlt werden können.
Nichts desto weniger sind Fichte’s ältere Werke
voll von Bestrebungen, die weitgreifenden Beziehungen
des Selbstbewuſstseyns aufzufinden; und ohne allen Zwei-
fel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen,
[31] diesen Werken, selbst abgesehen von dem Verdienst,
den Idealismus mit einer bis dahin unbekannten Conse-
quenz zu verfolgen, schon deshalb Gerechtigkeit wider-
fahren lassen, weil darin das Ich als Mittelpunct von Be-
ziehungen aufgestellt, und der erste Versuch gemacht ist,
ein weitläuftiges System von Beziehungen nach allen
Richtungen hin zu durchsuchen. Fichte’s gröſster Feh-
ler bestand darin, daſs er der einmal angenommenen Ge-
wohnheit, das Ich absolut zu setzen, auch dann noch an-
hing, als ihn schon die Untersuchung in ihrem Verlauf
durch jeden Schritt aufmerksam machte, daſs er nicht
mit einem Absoluten, sondern mit einem vielfach Beding-
ten zu thun habe; welcher Folgerung er dadurch zu ent-
gehn meinte, daſs er alle die gefundenen Bedingungen
in das Ich selbst einschloſs. Aber die unrichtige Ansicht
verdarb selbst die Kenntniſs dieser Bedingungen, und
daher konnte freylich nur eine unhaltbare Theorie her-
auskommen. Dieselbe Art der Untersuchung über den-
selben Gegenstand, aber nach einer ganz entgegengesetz-
ten Methode, (welche trennt, wo Fichte verbinden wollte,)
und zu ganz entgegengesetzten Resultaten hinführend,
wird einen Theil dieses Buches ausmachen; und das eben
Gesagte mag als entfernte Vorbereitung dazu dienen.
§. 13.
Wenn es Methoden giebt, durch welche man ver-
borgene Beziehungen aufdecken kann, so ist eben der
Umstand, welcher zuvor der wahre Ursprung psychologi-
scher Schwierigkeiten zu seyn schien, und welcher in der
That eine empirische Naturgeschichte des Geistes
unmöglich macht, — für die speculative Psychologie eher
vortheilhaft als nachtheilig. Der Umstand nämlich, daſs
alle psychologische Wahrnehmung, um vestgehalten zu
werden, sich unwillkührlich in eine Abstraction verlieren
muſs; und daher von den wirklichen Thatsachen nur
Bruchstücke liefert. Dieses ist nicht nachtheilig:
Denn der abstracte Begriff kann durch seine Bezie-
hungen wieder ergänzt werden; und je allgemeiner er ist,
[32] um desto eher ergiebt er in Verbindung mit den Ergän-
zungen eben das, was in allen Wissenschaften zuerst ge-
sucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch de-
ren Hülfe eine groſse Mannigfaltigkeit von Thatsachen
gleich Anfangs überschaut werden kann. Ueberdies ist
ein Begriff für die speculative Behandlung allemal um so
bequemer, je allgemeiner, das heiſst, je ärmer an Inhalt
er ist; so lange nur die Abstraction nicht den Keim der
Beziehungen in ihm zerstört hat. Im letztern Falle frey-
lich wird er unbrauchbar; allein alle Ueberladung mit
Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern, bringt
nur Verwirrung hervor.
Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es,
wenn, der Allgemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns
nicht nöthigt, sogleich in seinen Umfang hinabzusteigen,
und specielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gül-
tigkeit, und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern.
Um dies deutlich zu machen, nehme man zuvörderst ein
Paar Beyspiele des Gegentheils. Der Begriff des Wil-
lens ist sehr allgemein; aber um uns seiner Gültigkeit zu
versichern, (daſs er aus dem Gegebenen entsprungen,
nicht willkührlich gemacht ist,) müssen wir Beyspiele dazu
in der innern Wahrnehmung unseres eigenen Wollens
aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene,
continuirlich in einander flieſsende Grade des Wollens!
Entschlüsse, aber auch Neigungen, Launen, unbestimmte
Aufregungen; freye Wahl, aber auch das erzwungene
Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich ent-
schlieſst, den Räuber abzukaufen. Was heiſst nun ei-
gentlich Wollen? Die innere Wahrnehmung muſs es
lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläuftig für einen
Begriff, der mit Präcision aufgefaſst, und der Specula-
tion überliefert, zum Princip einer Untersuchung dienen
soll. — Desgleichen, der Begriff des Gedächtnisses ist
sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um
uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Be-
griffe seinen Inhalt bestimmt, so kommen uns die An-
schau-
[33] schauungen, Einbildungen, Begriffe, Urtheile, Gefühle,
Entschlieſsungen, — entgegen, welche alle das Gedächt-
niſs aufbewahrt; aber es ist dessen zuviel; und wiederum
in dem abstracten Begriffe eines Gemüthszustandes über-
haupt, den das Gedächtniſs erneuere, zu wenig unmittel-
bare Klarheit, als daſs man sich einem solchen Princip
gern anvertrauen könnte. Ist schon von andern Seiten
her Licht genug vorhanden, dann mag man auch solche
Principien gleichsam zu Rechnungsproben benutzen; al-
lein für die Haupt-Untersuchung bedarf es eines helle-
ren Anfangspunctes; eines Punctes, der nicht zerflieſse,
indem man ihn in der Wahrnehmung aufsucht.
Solch ein Punct nun ist ganz vorzüglich das Ich.
Dieses läſst sich in einer vollkommnen Abstraction vom
Individuellen noch deutlich machen, nämlich als Identität
des Objects und Subjects; ohne daſs darum das Selbst-
bewuſstseyn aufhörte, sich für den Begriff zu verbürgen.
Nun sind zwar im Selbstbewuſstseyn die Bedingungen nur
verdunkelt, unter denen er Realität besitzt, und man
würde sich sehr täuschen, wenn man ihn darum an gar
keine Bedingungen geknüpft glauben wollte. Allein die
methodische Speculation, indem sie den Begriff des Ich
bearbeitet, findet gar bald seine innere Unzulänglichkeit;
und weis’t ihm dann ferner seine Ergänzungen mit einer
Bestimmtheit und Sicherheit nach, welche die innere Wahr-
nehmung nie zu erreichen vermöchte.
Da nun der Begriff des Ich zugleich der allgemeine
Begleiter aller Gemüthszustände ist, in so fern wir sie uns
selbst zueignen: so vereinigt er im hohen Grade die Ei-
genschaften eines bequemen Princips, nämlich Allge-
meinheit und Präcision. Und deshalb werden wir
von diesem Princip in der Folge vorzüglich Gebrauch
machen; ohne jedoch die übrigen ganz zu vernachlässi-
gen, und besonders ohne solche Vernachlässigung wohl gar
einem künftigen Bearbeiter der ganzen Wissenschaft zu
empfehlen.
I. C
[34]
V.
Von dem Verhältniſs der Psychologie zur allge-
meinen Metaphysik.
§. 14.
Bisher sind wir so viel möglich in der Nähe dessen
geblieben, was unmittelbare Klarheit besitzt, indem es an
die innere Wahrnehmung sich anschlieſst; jetzt muſs auch
von den systematischen Verhältnissen der Psychologie als
Wissenschaft die Rede seyn.
Die Psychologie wurde in der Wolffischen Periode
als der dritte Theil der Metaphysik angesehn. Die Kos-
mologie ging ihr voran, die natürliche Theologie folgte
nach; die Ontologie stand an der Spitze aller drey Wis-
senschaften, um ihnen die allgemeinsten Begriffe vorzu-
bereiten. Die ganze Metaphysik trat der praktischen Phi-
losophie gegenüber; denn man war auf den, aller Ety-
mologie widerstreitenden Ausdruck Metaphysik der
Sitten noch nicht gekommen *). Leider paſst dieser
Ausdruck, der das verderbliche Vermengen der theoreti-
schen und praktischen Philosophie bedeutet, nur gar zu
nahe auf die neuesten Versuche, die Ethik im Geiste des
Spinoza zu behandeln, wodurch der wahre Sinn der Bil-
ligung und Misbilligung, kraft welcher Löbliches und
Schändliches ursprünglich unterschieden wird, ganz und
gar zu Grunde geht **).
Ich erkläre mich für jene ältere Weise, die Meta-
physik zu unterscheiden und einzutheilen; mit einigen Ver-
änderungen, welche hier folgen.
[35]
Erstlich dasjenige, wovon, als dem andern groſsen
Haupttheile der Philosophie, die Metaphysik muſs unter-
schieden werden, (um der Logik, die nur einen Vorhof
ausmacht, nicht zu erwähnen,) ist nicht allein die prak-
tische Philosophie, sondern die gesammte Aesthetik. Von
dieser ist die praktische Philosophie ein Theil; aber kein
untergeordneter; denn in der allgemeinen Aesthetik sind
die Haupttheile nur neben einander geordnet, weil
die verschiedenen ästhetischen Beurtheilungen der Far-
ben, Figuren, Töne u. s. w., und so auch der Willens-
Verhältnisse, alle ursprünglich für sich bestehn, und durch
keine gegenseitige Abhängigkeit verknüpft sind. Daher
bilden die verschiedenen Kunstlehren, von denen die Tu-
gendlehre Eine ist, lauter selbstständige Disciplinen, die
nur wegen der Gleichartigkeit ihrer Principien (Beurthei-
lung durch Beyfall oder Misfallen, ohne Rücksicht auf
das was ist und seyn kann,) unter den allgemeinen Clas-
sennamen Aesthetik, logisch zusammengestellt werden.
Hierüber habe ich an andern Orten ausführlicher ge-
sprochen, und werde mich jetzt nicht dabey aufhalten.
Zweytens, die Eintheilung der Metaphysik würde klä-
rer seyn, wenn zuvörderst allgemeine Metaphysik von der
speciellen oder angewandten getrennt wäre. Es bedarf
wohl keiner Erinnerung, daſs die allgemeine Metaphysik
den Platz der Ontologie einnehmen muſs, welcher letztre
Name um so eher aufgegeben werden kann, weil die vor-
mals durch ihn bezeichnete Lehre ohnehin einer völligen
Umschaffung bedurfte. Zur angewandten Metaphysik aber
sind ferner zu rechnen: Psychologie, Naturphilosophie,
und philosophische Religionslehre. Daſs der Name Kos-
mologie passender in Naturphilosophie übersetzt werde,
schlieſse ich daraus, weil wir die Probleme dieser Wis-
senschaft aus der Erfahrung nehmen müssen, welche dem
Menschen auf der Oberfläche der Erde zugänglich ist,
während der Begriff der Welt als eines Ganzen, mit
dem unser Erfahrungskreis kaum verglichen werden kann,
vielmehr in der allgemeinen Metaphysik seinen Platz hat.
C 2
[36] Die Religionslehre würde mit der Ontologie verschmol-
zen, an der Spitze der ganzen Metaphysik treten, wenn
eine unmittelbare Erkenntniſs Gottes, als des Absolu-
ten, vorhanden wäre: worüber mit verschiedenen Syste-
men zu rechten hier nicht der Ort ist.
Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphy-
sik gestellt zu werden, müſste vielmehr der Psychologie
widerfahren, wenn anders das berühmte Unternehmen der
Vernunftkritik, ich will nicht sagen richtig ausgeführt
worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger
Gedanke gewesen wäre oder jemals werden könnte. —
Eine Vernunftkritik hat zu ihrem Gegenstande die Ver-
nunft, oder besser das gesammte Erkenntniſsvermögen;
diesen Gegenstand muſs sie als bekannt vorausset-
zen; und hierin liegen Irrthümer, die sich durch gar
Nichts wieder gut machen lassen. Vom Erkenntniſsver-
mögen wissen wir als von einer Summe von Thatsachen
des Bewuſstseyns. Noch glücklich, wenn uns diese durch
innere Wahrnehmung, oder wenn man lieber will, durch
Anschauung des innern Sinnes bekannt geworden sind.
Alsdann aber fragt sich sogleich, wie viel Glauben die
innere Anschauung verdiene? Eine Frage, welche die An-
schauung selbst, nimmermehr beantworten kann. — Al-
lein es ist nicht einmal wahr, daſs wir eine so unmittel-
bare Kenntniſs von dem sogenannten Erkenntniſsvermö-
gen besäſsen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vor-
gefundenen Producten unserer geistigen Thätigkeit her-
ausgedeutet haben. Jedoch was darüber vom §. 4. an
schon ist gesagt worden, darf hier nicht wiederhohlt wer-
den: auf die entgegenstehende Täuschung werde ich wei-
terhin noch zurückkommen.
Wofern nun die Psychologie, weit entfernt der all-
gemeinen Metaphysik eine Grundlage geben zu können,
an ihren Platz in der angewandten Metaphysik zurück-
tritt (wo sie übrigens aus Gründen, die hier noch nicht
klar seyn können, der Naturphilosophie muſs vorange-
stellt werden): so beruhet sie selbst auf der allgemeinen
[37] Metaphysik, und kann, ohne diese voranzuschicken, we-
der abgehandelt noch auch nur begründet werden.
In der That, wenn ich tiefer unten behaupten werde,
daſs die Seele ein einfaches Wesen, und daſs sie eben
aus diesem Grunde nicht ursprünglich Kraft ist: so muſs
ich dabey nothwendig auf die allgemeine Metaphysik (und
zunächst, bis eine ausführlichere Darstellung erscheint,
auf meine Hauptpuncte der Metaphysik,) hin-
weisen.
Um jedoch den Hauptstamm meiner gegenwärtigen
Untersuchung genugsam bevestigen zu können, werde ich
mir erlauben, das Nöthigste aus der allgemeinen Meta-
physik, nämlich die Untersuchung über das Ich, hier ein-
zuschalten; und auch auf andere Puncte jener Wissen-
schaft so viel Licht werfen als hier geschehen kann; wozu
sich die Gelegenheiten häufig genug darbieten werden.
Und um möglichen Misverständnissen zuvor zu kommen,
bemühe ich mich sogleich, das Verhältniſs der Princi-
pien von beyden, der allgemeinen Metaphysik, und der
Psychologie, deutlich auszusprechen.
§. 15.
Die allgemeinsten Formen der Erscheinungen, so wie
sie vor allem Philosophiren vorgefunden werden, sind die
Principien der allgemeinen Metaphysik. Könnten diese
Formen, so wie sie vorgefunden (oder, im wissenschaft-
lichen Sinne des Worts, gegeben) sind, eben so auch
gedacht werden, so bliebe es bey der ersten Auffassung
oder Anschauung; dieser würde man glauben, und eben
deshalb würde keine Wissenschaft, Metaphysik genannt,
entstehen; es sey denn als ein Spiel müssiger Köpfe, das
man gerade so ignoriren, und von aller soliden Erfah-
rungs-Erkenntniſs hinwegscheuchen müſste, wie gegen-
wärtig die Metaphysik von ihren Verächtern in der That
ignorirt, und aus der Naturforschung wirklich verbannt
wird. Diese Verächter und Widersacher können nur da-
durch widerlegt werden, daſs man ihnen die Widersprü-
che nachweis’t, in denen sie aus Mangel an Metaphysik
[38] unvermeidlich befangen sind. Sie können nur dadurch
versöhnt werden, daſs sie einsehn lernen, wie die Meta-
physik gerade dasselbe Geschäfft nur fortführt und zu Ende
bringt, was der gemeine Verstand, nothgedrungen durch
das Widersprechende in den Formen der Erscheinung,
von selbst beginnt, indem er die Begriffe von Substanz
und Ursache erfindet. Denn diese Begriffe sind keine
angeborne, sondern erfundene; sie sind nicht Katego-
rien, die unbeweglich vest stünden, und die man darum
so lassen müſste, wie sie stünden; sondern es sind halb-
vollendete Productionen, die man ganz zu Stande brin-
gen muſs, damit die Knoten, welche der gemeine Ver-
stand nur vorläufig zur Seite geschoben hat, zu einer voll-
ständigen Auflösung gelangen mögen.
Jene Formen der Erscheinungen aber sind keine an-
dern, als die Complexionen, welche wir für die Verknü-
pfungen mehrerer Merkmale Eines Dinges ansehn; die
Veränderungen dieser Complexionen, welche wir für Ver-
änderungen der Dinge nehmen; ferner der Raum, die
Zeit, und das Ich. Nachdem die Einsicht gewonnen ist,
daſs keine dieser, in der Anschauung gefundenen Formen
für sich denkbar ist, sucht die Metaphysik die Bezie-
hungen derselben auf, wodurch die vorigen Widersprüche
verschwinden *).
Wie verhalten sich nun dazu die Principien der
Psychologie?
Unter den vorhin genannten Formen ist eine, näm-
lich das Ich, welche eben sowohl zur Psychologie als zur
allgemeinen Metaphysik gerechnet werden kann; ja das
Ich scheint nicht eine Form, sondern gerade der eigent-
liche Gegenstand der Psychologie zu seyn. Daſs nun
gleichwohl die Untersuchung desselben in die allgemeine
[39] Metaphysik gezogen werden muſs, rührt her von dem un-
trennbaren Zusammenhange der ersten metaphysischen
Nachforschungen mit der eben erwähnten; welches schon
die leichteste Erinnerung an den Idealismus kann vermu-
then lassen. Allein wenn auch in einem vollständigen
Systeme der Philosophie dasjenige nicht in der Psycho-
logie darf wiederhohlt werden, was die allgemeine Meta-
physik schon vorweggenommen hat: so bleibt doch der
Gegenstand selbst psychologisch, und bezeichnet die in-
nige Verbindung der allgemeinen Wissenschaft mit der
ihr untergeordneten besonderen.
Auſserdem nun hat die Psychologie an den mannig-
faltigen Thatsachen des Bewuſstseyns, wie schon oben
bemerkt worden, ein unermeſsliches Eigenthum, welches
die allgemeine Metaphysik unangetastet läſst; so daſs auch
diejenigen unter diesen Thatsachen, welche die Eigen-
schaften eines Princips an sich tragen, der Psychologie
allein gehören.
Aber die wissenschaftliche Behandlung dieser bloſs
psychologischen Principien, die Auflösung der in ihnen
enthaltenen Probleme *), diese muſs immer mit Zuziehung
der allgemein metaphysischen Lehrsätze bewerkstelligt
werden, damit alles gehörig zusammenstimme; und sie
kann auch einer solchen Hülfe nicht entbehren, weil in
allen speciellen Problemen sich immer die allgemein me-
taphysischen, wie die Gattung in der Art, wiederfinden.
Man sieht nämlich auf den ersten Blick: daſs alle psy-
chologischen Principien, so wie sie aus der innern Wahrneh-
mung geschöpft werden, zwey Umstände an sich tragen,
um derentwillen sie unfehlbar in die allgemein
metaphysischen Haupt-Probleme zurückfallen.
Sie befinden sich alle unter der Mehrheit von Bestim-
[40] mungen, die dem Gemüth als einer Einheit zugeschrie-
ben werden; dadurch rufen sie die allgemeine Frage her-
bey, wiefern überhaupt Mehreres Einem zukom-
men könne? und diese Frage wird durch die Lehre von
der Substanz entschieden. Ferner ist alles innerlich Wahr-
genommene im beständigen Kommen und Gehen begrif-
fen, es bezeichnet veränderliche Zustände des Gemüths;
dadurch gehört es in das Gebiet des Veränderlichen
überhaupt, und die Theorie der Veränderung wird da-
bey unentbehrlich.
Wie nun Jemand die Möglichkeit der Veränderung
sich denkt; ob er sie aus äuſsern Gründen, oder aus in-
neren, durch Selbstbestimmung, erklärt, oder ob er ein ab-
solutes Werden annimmt *): dieses entscheidet über die
möglichen psychologischen Vorstellungsarten, denen er
zugänglich ist. Eben so ist es mit den angenommenen
Meinungen über die Substanz.
Deshalb ist es völlig vergeblich, Jemanden für eine
Psychologie gewinnen zu wollen, die seinen metaphysi-
schen Vorstellungsarten widerstreitet; es sey denn, daſs
man seine Metaphysik zugleich mit umbilden könne. Dür-
fen aber die Seelenlehrer, welche durch bloſse Erfahrung
sich berechtigt halten, die metaphysischen Begriffe von
Vermögen, Kräften, Thätigkeiten anzuwenden, um dem
Gemüth eine Mehrheit davon beyzulegen, dürfen sie erwar-
ten, denjenigen zu überzeugen, der eine Metaphysik ent-
weder hat, oder auch nur für nöthig hält darnach me-
thodisch zu suchen? Es werden weiterhin historische
Beyspiele vorkommen, welche dies erläutern können.
§. 16.
Auſser dem richtigen Verhältniſs der Psychologie zur
allgemeinen Metaphysik muſs auch noch ein scheinbares
in Betracht gezogen werden; eben dasjenige, welches die
[41] Versuche veranlaſst hat, der Metaphysik eine psychologi-
sche Grundlage zu geben.
Um sich hierin desto leichter zu finden: bemerke
man, daſs ursprünglich die Metaphysik von Naturbetrach-
tungen anhebt, daſs sie dabey sogleich auf die Unzuverläs-
sigkeit und Undankbarkeit der sinnlichen Erfahrung sto-
ſsen muſs, daſs es ihr aber nicht so leicht wird, das Bes-
sere an die Stelle zu setzen. Nachdem die ältesten Phi-
losophen bald, mit Heraklit, ein absolutes Werden; bald,
mit den Eleaten, ein absolutes Seyn; bald, mit Leukipp,
das Volle und das Leere und die kleinsten Körperchen;
bald, mit den Pythagoräern, die Zahlen, oder mit Platon,
die Ideen zum Grunde gelegt hatten: wuchs immer mehr
der Verdacht heran, den die Sophisten aussprachen, den
Sokrates begünstigte, den die Akademiker und Skeptiker
fortdauernd ernährten, daſs nämlich jene älteren in eine
Tiefe hätten blicken wollen, wo hinein das menschliche
Auge nicht reiche; und daſs die eigentliche Weisheit darin
bestehe, die Schranken unserer Erkenntniſs wohl einzu-
sehen *). Hierin nun liegt offenbar schon die Weisung,
erst das: quid valeant humeri, quid ferre recusent, zu er-
wägen, das heiſst, erst das Vermögen unserer Erkennt-
niſs genau zu schätzen, ehe man sich in Untersuchungen
über die Natur der Dinge verliere. Und was ist natür-
licher, als daſs man über einem Sprunge, über einer Ver-
nachlässigung des Zunächstliegenden, sich zu ertappen
glaube, wenn man bemerkt, man habe in den Sternen
geforscht, ohne das eigne Herz zu kennen?
Nichts destoweniger ist unsre Kenntniſs der Himmels-
Mechanik gegenwärtig ohne Vergleich vollkommner,
als die Kenntniſs des Gesetzmäſsigen in unserm Innern.
[42] Und wenn Sokrates wirklich glaubte, mit dem γνωϑι σαυτον
leichter fertig zu werden, als mit jenen Nachforschungen,
die ihm zu verwegen schienen, so war er in einer mäch-
tig groſsen Täuschung befangen.
Er hatte vergessen, daſs es nicht sowohl auf die Di-
stanz eines Gegenstandes von uns, sondern auf das Auge
ankommt, welches wir für ihn haben. Das sinnliche Auge
sieht mit einer Genauigkeit, die sich einer mathemati-
schen Bestimmtheit nahe bringen läſst, und es pflegt sei-
nen Gegenstand nicht selbst zu entstellen; aber die in-
nere Wahrnehmung unterliegt diesem Vorwurfe und ent-
behrt jenes Vortheils. Es ist wahr, die sinnlichen Ge-
genstände wechseln, sie entstehn und vergehen; aber wir
selbst mit unsern Gemüthszuständen sind noch weit un-
beständiger als irgend ein äuſserer Wechsel. Man muſs
gestehen, daſs die sinnlichen Merkmale der Dinge keines-
weges für reale Qualitäten gelten können; aber wenn die
Dinge nur in so fern sie uns erscheinen, sich mit Merk-
malen bekleiden, so ist es eben so wahr, daſs auch wir
selbst nur erkennen, wollen und fühlen, in wie fern uns
Objecte gegenüber treten, als Zielpuncte unseres An-
schauens und Begehrens; Objecte, von deren Jedem ein-
zeln genommen wir schon im gemeinen Leben beken-
nen, daſs es uns nur zufällig begegne. Denn wir lassen
dieselben Gegenstände gar nicht für Bedingungen unse-
res Daseyns gelten, von denen doch nicht zu leugnen
ist, daſs sie unser ganzes Wissen um uns selbst bedin-
gen. Und während nun dieses Wissen von uns selbst
eben so durch Relationen auf das Aeuſsere afficirt ist,
wie das Erkennen der Auſsendinge durch die Relation
auf uns: vermischt sich jenes sehr leicht mit Einbildun-
gen aller Art, von denen dieses viel freyer ist. Das Brü-
ten über sich selbst erzeugt Schwärmer; die Beschäffti-
gung mit dem was drauſsen vorgeht, vermag Schwärmer
zu heilen.
Allen diesen bekannten Wahrheiten zum Trotz nun
hat man dennoch gemeint, und meint noch heute, man
[43] könne wohl mit groſser Sicherheit Lehren über die For-
men und Gränzen des Erkenntniſsvermögens aufstellen,
und diese zum Maaſsstabe aller Wahrheit machen; ohne
daſs man nöthig habe genau zu prüfen, wie das Erkennt-
niſsvermögen selbst erkannt werde; ob die Wahrnehmung
desselben zuverlässig und bestimmt, ob die Begriffe, die
man darauf überträgt, deutlich, ob sie auch nur denk-
bar seyen? Da nun in der allgemeinen Metaphysik nach-
gewiesen wird, daſs ein Gemüth, als Einheit mit aller-
ley Vermögen, daſs schon ein reales Vermögen, welches
auf Anlässe zum Handeln wartet, daſs endlich das Ich,
dieser vermeintlich gehaltlose und unschuldige Begleiter
aller unserer Gedanken, lauter undenkbare Begriffe und
vollständige Widersprüche sind: so muſs das Psycholo-
gische, auf welches eine Kritik der Metaphysik sollte ge-
gründet werden, vielmehr sich selbst einer Kritik von Sei-
ten der Metaphysik unterziehen; und jene Lehren, die
das Unterste oben gekehrt haben, müssen sich eine neue
Umkehrung gefallen lassen, auf daſs die alte gute Ord-
nung wieder hergestellt werde.
Weil aber nun einmal eine Abweichung von der al-
ten guten Ordnung Statt gefunden, und Beyfall gewon-
nen, und selbst vielfältigen, nicht zu verkümmernden
Dank verdient hat, wegen neuer Aufregung der gesamm-
ten speculativen Thätigkeit: so ist es nun nothwendig ge-
worden, vor einer ausführlichen allgemeinen Metaphysik,
die Beleuchtung der Psychologie, und der Grundlage, die
sie haben oder nicht haben kann, vorhergehn zu lassen.
Und das gegenwärtige Buch hat wirklich, abgesehen von
seinem positiven Inhalte, die Tendenz, eine durchgeführte
Ableugnung dessen darzustellen, wovon Andre, als von
dem Ersten was man ihnen zugestehen müsse, auszugehn
gewohnt sind.
[44]
VI.
Blicke auf die Geschichte der Psychologie seit
Des-Cartes.
§. 17.
Wir haben neuerlich eine Geschichte der Psycholo-
gie von Carus erhalten, ohne Zweifel ein verdienstliches
Werk. Doch wäre eine Kritik der Psychologie, im Geiste
von Schleiermachers Kritik der Sittenlehre, etwas
weit wünschenswertheres.
Es kann mir nicht einfallen, hier auch nur den ge-
ringsten Versuch dieser Art machen zu wollen. Damit
meine weitläuftige Einleitung ein Ende finde, muſs ich
mich begnügen, bis auf diejenigen Vorstellungsarten zu-
rückzugehn, welche noch jetzt von Einfluſs sind, und ich
werde sie nur in so fern in Betracht ziehn, als dadurch
für meinen jetzigen Zweck etwas gewonnen wird.
Der erste, den ich hier achtungsvoll nennen muſs,
ist Des-Cartes; selbstständig und reif in seiner Art als
Denker, und geistreich, ohne Künsteley, als Schriftstel-
ler. Seine meditationes de prima philosophia sind noch
heute höchst empfehlungswerth für Anfänger; besonders
wenn ein tüchtiger Lehrer hinzukommt. Das groſse Ver-
dienst des Des-Cartes besteht nicht bloſs in scharfer
Scheidung des Geistes von der Materie, sondern darin,
daſs er für die ganze Philosophie den rechten Ton an-
gab, indem er in das Gebiet des Zweifels vorläufig die
ganze Körperwelt, und alle unsre Vorstellungen von der-
selben verwies; hingegen das Ich als den Lichtpunct der
ersten Gewiſsheit hervorhob; wodurch jene Besonnenheit
möglich wurde, die Kant unter uns erneuerte, und die
man niemals wieder hätte verlieren sollen; die Besonnen-
heit an das eigne Denken, welches auch der Gegen-
stand unseres Denkens seyn möge. — Und welches ist
sein Beweis für das Daseyn Gottes? Nicht ursprünglich
[45] jenes bekannte Sophisma, nach welchem die Existenz
eine der göttlichen Vollkommenheiten seyn soll; dieses
rief er freylich zu Hülfe; allein erst, nachdem die groſse
Frage: woher kommt die Erhebung meines Gei-
stes zu solchen Gedanken, deren Gegenstand
in der Erfahrung nicht angetroffen wird? — ihn
dahin gedrängt hatte, den übersinnlichen Ursprung der-
selben in Gott zu suchen. Seine Lehre von den angebor-
nen Ideen ist übrigens nicht im mindesten schwärmerisch,
sondern unvermeidlich für den, welcher nicht schon alles
dasjenige weiſs, was ich in diesem Buche erst vorzutra-
gen gedenke; nunquam iudicavi, sagt er (in den notis in
programma quoddam in Belgio editum), mentem indigere
ideis innatis, quae sint aliquid diversum ab eius facultate
cogitandi: sed cum adverterem, quasdam in me esse cogita-
tiones, quae non ab obiectis externis, nec a voluntatis meae
determinatione procedebant, sed a sola cogitandi facultate,
illas innatas vocavi; eodem sensu, quo dicimus, generosita-
tem esse quibusdam familiis innatam, aliis vero quosdam
morbos: non quod istarum familiarum infantes morbis istis
in utero matris laborent, sed quod nascantur cum quadam
dispositione sive facultate ad illos contrahendos.
Eine eigentliche Untersuchung über das Ich, muſs
man jedoch bey Des-Cartes eben so wenig, als bey
so vielen Späteren, suchen. Auch liegen bey ihm zu
viele metaphysische Irrthümer im Wege, als daſs er die
wahre Psychologie hätte finden können. Zwar nicht das
kann ihm zum Vorwurf gereichen, was vermuthlich unsre
heutigen Anthropologen zuerst an ihm tadeln würden, daſs
er die Seele zu weit vom Körper trenne: denn von der
engen Verbindung beyder war er so überzeugt, daſs er
sogar, auf der entgegengesetzten Seite übertreibend, meint,
die Verbesserung des Menschengeschlechts
müsse in der Medicin gesucht werden*). Eben
so wenig hat ihn eine falsche Freyheitslehre — der Punct,
[46] an welchem so Viele scheitern, geblendet; er lehrt sehr
richtig: indifferentia, quam experior, cum nulla me ratio
in unam partem magis quam in alteram impellit, est infi-
mus gradus libertatis; et nullam in ea perfectionem, sed
tantummodo in cognitione defectum testatur; nam si semper,
quid verum et bonum sit, clare viderem, nunquam de eo
quod esset iudicandum vel eligendum, deliberarem*).
Aber sehr nachtheilig muſsten ihm solche Irrthümer wer-
den, wie die Anknüpfung des Seyn an die Zeit, und die
Meinung, daſs die Zeittheile von einander unabhängig wä-
ren; daher denn aus unserm Daseyn in einem Augen-
blicke noch nicht das Daseyn im nächsten Augenblicke
folgen soll **). Wichtiger noch sind die Fehler in sei-
ner Lehre von der Substanz; er läſst eine Mehrheit von
Attributen zu; läſst die Substanzen afficirt und verändert
werden; glaubt deren Natur zu erkennen, indem Ausdeh-
nung das Wesen des Körpers, Denken das des Geistes
ausmache; nimmt gleichwohl eigentlich nur eine wahre
Substanz an, nämlich Gott, welcher allein zu seinem Da-
seyn keines andern Gegenstandes bedürfe ***): — kurz,
man erblickt hier den ganzen Spinozismus im Keime.
Mögen alle Anhänger des Spinoza sorgfältig den Des-
Cartes studiren; sie werden ihn dann weniger anstaunen;
— so wie die Gegner desselben eine Lehre in milderem
Lichte erblicken werden, die nichts als ein natürlicher
Auswuchs aus Des-Cartes Irrthümern ist. Doch die-
ser Gegenstand kann hier nicht ausgeführt werden; ich
gehe über zu dem berühmten Widersacher des Des-
Cartes im Puncte der angebornen Ideen; zu Locken,
dem eine länger dauernde Wirksamkeit beschieden war.
Locke nannte sein Werk einen Versuch über
das Denkvermögen†). Jemand, der von unsern
[47] neuern Psychologien zu demselben käme, würde sich über
den Plan des Werks wundern können. Die Erwartung
einer Abhandlung der verschiedenen Vermögen, die man
dem Erkenntniſsvermögen (als ob die Vermögen wie Ar-
ten unter Gattungen enthalten wären) unterzuordnen
pflegt, also die Erwartung einer Lehre von der Sinnlich-
keit und so ferner bis zur Vernunft, würde sehr getäuscht
werden. Nicht nur hat Locke, wie Tennemann (in
der Uebersetzung von Degerando’s Geschichte d. Phi-
los. 1. Band, S. 226. in der Note) bemerkt, die vollstän-
dige Aufzählung der Geistesvermögen nicht zum Gegen-
stande seines Nachdenkens gemacht: — sondern er er-
scheint auf den ersten Anblick äuſserst nachlässig in der
Stellung dieser Geistesvermögen. Mitten im zweyten Buch,
das überschrieben ist von den Ideen, handeln das
neunte, zehnte und elfte Capitel von Wahrnehmung, Ge-
dächtniſs, Witz, Scharfsinn, Abstractionsvermögen; vor-
her und nachher ist von einfachen und von zusammen-
gesetzten Ideen die Rede. Dann aber findet sich viel
weiter hin, nämlich im vierten Buch, das vierzehnte Ca-
pitel von der Beurtheilungskraft, und nach eingeschobe-
nen Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit, das
siebenzehnte Capitel von der Vernunft. Man erräth so-
gleich, daſs diese scheinbare Unordnung von einem Plane
herrührt, der die Aufzählung der Geistesvermögen aus-
schlieſst; und das erhellt auch aus dem Satze: alle
unsre Ideen kommen von Sensation und Re-
flexion, welche beyde Thätigkeiten bey Locke noch
so ziemlich dem ähnlich sehen, was Andre Geistesvermö-
gen nennen; aber auch groſsentheils die Stelle der übri-
gen Vermögen vertreten.
Jedoch die Hauptsache ist, daſs Locke der ächten
Erfahrung, um einen guten Schritt näher blieb, als Jene,
die uns von ihren Abstractionen, und deren hinzugedach-
†)
[48] ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten. Locke
durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er un-
ternimmt, sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art
von Gedanken mögen gekommen seyn. Er hat hier we-
nigstens in so fern vesten Grund, daſs die Gedanken und
Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhan-
den sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenver-
mögen, für Hirngespinnste erklären, denn man ist sich
ihrer wirklich unmittelbar bewuſst. Auch das, was er über
die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns
an Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder be-
stimmt, von den geistigen Bewegungen innerlich wahrzu-
nehmen vermögen. Freylich verräth sich dabey auch oft ge-
nug die allgemeine Neigung, die Erfahrung durch Erschlei-
chungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach
Bequemlichkeit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Ge-
dächtniſs. Dieses ist auch dem Locke eine „ability in
the mind, when it will to revive them (die Vorstellungen)
again“ *). Und wenn man ja geneigt wäre, diese ability
nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blo-
ſse allgemeine Bezeichnung einer Classe von Thatsachen,
ohne Erklärung derselben, zu halten: so verdirbt Locke
alles an der Stelle, wo er des höchst merkwürdigen und
ganz allgemeinen Phänomens erwähnt, daſs wir nur eine
sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Be-
wuſstseyn gegenwärtig haben können. Hier spricht er von
einer narrowness of the human mind, als von einer beson-
dern Eigenthümlichkeit der menschlichen Anlage, und er-
laubt sich die Hypothese, daſs bey andern endli-
chen Vernunftwesen dies wohl anders seyn
könne! Wie gänzlich darin jede Ahndung einer rich-
tigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent-
lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies
völlig gemäſs der gewohnten Weise, die Phänomene, die
man
[49] man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver-
borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver-
derben.
Im Allgemeinen jedoch ist Locke’s Ansicht dem Feh-
ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge-
rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor-
nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit
dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte,
vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute,
Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma-
thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer
pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer-
den. Schade, daſs ihm das Haupt-Argument seiner Geg-
ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr-
heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou-
veaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner
ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar-
gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit
einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung
gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine
und Nothwendige. Man schlieſst auch noch richtig, es
müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken-
nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die
Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntniſsvermö-
gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit
einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man-
nigfaltigkeit der Anlage und die besondre Na-
tur des Subjects, woraus man erklären will, daſs dieses
Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele
nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem
Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob
nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur
von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die-
ser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des er-
kennenden Wesens, ohne irgend eine weitere Be-
stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man-
nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig
I. D
[50] enthalten sey. Dieses nun ist meine Behauptung, und
das gegenwärtige Buch, in Verbindung mit der allgemei-
nen Metaphysik, soll den Beweis davon führen.
Ich behaupte dem gemäſs ferner, daſs Locke und
Leibniz in dem Puncte, von wo ihre Streitigkeit aus-
ging, beyde Recht hatten; und nur in so fern Unrecht,
als sie ihre Meinungen nicht zu vereinigen wuſsten.
Locke hat vollkommen Recht, die Seele eine ta-
bula rasa zu nennen; Leibniz ihm gegenüber Unrecht,
wenn er die Seele einer mit Adern durchwachsenen Mar-
morplatte vergleicht. Hinwiederum Leibniz hat voll-
kommen Recht, wenn er (im Anfange des zweyten Buchs
der nouveaux essays) dem Satze: nihil est in intellectu, quod
non fuerit in sensu, die Erinnerung beyfügt: nisi ipse
intellectus. Nur daſs in diesem intellectus nichts Präfor-
mirtes, von welcher Art es immer sey, angenommen
werde! Die bloſse Einheit der Seele, welche nicht einmal
eine Eigenschaft derselben, sondern nur eine Bestimmung
unseres Begriffs von der Seele ist, — diese reicht hin,
alles das zu erklären, was Leibniz aus der Erfahrung
nicht wollte abgeleitet wissen.
An dem Locke’schen Werke aber müssen wir noch
eine Hauptseite auffassen; gerade die, worüber er selbst
gleich im Anfange sich am ausführlichsten und nachdrück-
lichsten erklärt. Den ersten Antrieb zu seiner Arbeit hat
er in dem Gedanken gefunden, daſs wir überlegen müs-
sen, wie weit unsre erkennenden Kräfte rei-
chen, ehe wir uns auf den weiten Ocean der Dinge wa-
gen dürfen; und daſs wir unsre Aussicht und Hoffnung
auf Erkenntniſs nach unsern Fähigkeiten zu beschränken
haben. Ursprung, Gewiſsheit und Ausdehnung der mensch-
lichen Erkenntniſs, das ist’s was Locke ermessen will.
Ein solches Unternehmen sind wir heutiges Tages ge-
wohnt eine Vernunftkritik zu nennen. Aber es ist
weit leichter zu begreifen, wie Locke, als wie Kant
seinen philosophischen Nachforschungen eine solche Form
geben konnte. Locke, der Weltmann, verlieſs sich weit
[51] vester auf seine unmittelbare gesunde Ansicht aller Dinge,
als auf irgend eine schulmäſsige Untersuchung; wie weit
er darin geht, sieht man unter andern aus seinen harten
Erklärungen gegen die Syllogismen *). Ihm konnte es
daher am wenigsten in den Sinn kommen, sich die Frage:
wie macht man es, das Erkenntniſsvermögen zu
erkennen, ernsthaft vorzulegen; denn die Reflexion, der
Blick in sich selbst, schien ihm diejenige Erkenntniſsart
zu seyn, über welcher eine zuverlässigere sich gar nicht
denken lasse. Er traute also der innern Wahrnehmung
geradehin; und hätte sich z. B. nie einfallen lassen, die
Verstandesbegriffe aus den logischen Functionen im Ur-
theilen erst noch ableiten zu wollen. Er hatte auch
keinen kategorischen Imperativ; sondern der Satz: no in-
nate practical principles! gehörte wesentlich zu seiner gan-
zen Ansicht. Worin das Wesen des Geistes bestehe,
wiefern unsre Gedanken von der Materie abhängen, sind
ihm: speculations, which, however curious and entertaining,
I shall decline, as lying out of my way. So sprechen die
Weltleute; aber nur ein Mann von Locke’s ernstem,
wahrheitliebendem, frommen Charakter, konnte sich ein
Geschäfft daraus machen, durch ausführliche Musterung
unsers ganzen Gedankenvorraths diejenigen Warnungen
gegen die Speculation zu unterstützen, welche Andre leicht
angedeutet und lächelnd hinzuwerfen pflegen. So ent-
stand seine Vernunftkritik, und in ihr passen Form und
Inhalt, Principien, Methoden und Resultate vollkommen
wohl zusammen. Will man sich über sie erheben, so ist
zu wünschen, daſs man es ganz thue, — daſs man vor
allen Dingen die Unzulänglichkeit der innern Wahrneh-
mung, welche zu jeder Vernunftkritik das Object der Un-
tersuchung herbeyschaffen muſs, vollständig erwäge.
D 2
[52]
§. 18.
Genügen wird Keinem das Locke’sche Werk, der
metaphysische Ueberzeugungen besitzt. Gleich die erste
Erkenntniſsquelle, die Sensation, muſste Leibniz ab-
leugnen, der bey seiner Einsicht in die Unmöglichkeit je-
des physischen Einflusses, alle Vorstellungen der Seele
ohne Ausnahme, von ihrer eignen Entwickelung erwar-
tete. Und es ist nur Gefälligkeit (die aber die Untersu-
chung erschweren dürfte,) wenn sich Leibniz schon
beym ersten Paragraphen auf einen Standpunct herab-
läſst, wo er von Vorstellungen, die durch die Sinne ge-
geben werden, reden kann, im Gegensatz gegen die noth-
wendigen Wahrheiten. Daſs die Leibniz’schen nou-
veaux essays dem Locke’schen Versuche Schritt für Schritt
folgen, hindert vielfältig die freye und vollständige Ent-
wickelung der Gedanken. Wie die Erfahrungslehre des
Engländers gegen die Metaphysik des Deutschen anstieſs,
übersieht man besser auf einen Blick in den kurzen re-
flexions sur l’essay de Mr. Locke*); wo Leibniz unter
andern das wahre Wort spricht: la question de l’origine
de nos idées n’est pas préliminaire en philosophie, et il faut
avoir fait de grands progrés pour la bien resoudre. —
Eine erhabene Phantasie, unterstützt von einigen
tiefgegriffenen speculativen Hauptgedanken, hatte Leib-
nizen dahin gebracht, überall in der Welt und in der
Seele, lauter Fülle und Continuität, gesetzmäſsige und
harmonische Entwickelung zu erblicken. Daraus entsprang
ein psychologischer Hauptsatz, der hoch hervorragt, über
die Verbindung der beyden so genannten Hauptvermögen
des Verstandes und Willens. Les qualités et actions in-
ternes d’une monade ne peuvent être autre chose que ses
perceptions — et ses appétitions, c’est-à-dire, ses ten-
dances d’une perception à l’autre**). Deutlicher
noch: actio principii interni qua fit mutatio, seu transitus
[53] ab una perceptione ad alteram, appetitus appellari potest.
Verum quidem est, quod appetitus non semper prorsus perve-
nire possit ad omnem perceptionem, ad quam tendit; semper
tamen aliquid eius obtinet, atque ad novas perceptiones per-
venit*). Die Seele, in stetiger Entwickelung fortschrei-
tend, erzeugt Vorstellungen; die Erzeugung selbst, die
Handlung des innern Princips, als noch nicht vollendet
sondern eben jetzt im Streben zum Vorstellen begriffen,
ist das Begehren. Hier ist zwar leicht zu sehen, daſs
noch genauere Bestimmungen fehlen; denn das bloſse
Aufstreben einer Vorstellung, für sich allein, und wenn
es ungehindert vollzogen werden kann, giebt so zu sagen
die Befriedigung vor der Begehrung, und eben darum
weder eins noch das andre; indem in jedem Augenblicke
dem Streben vorzustellen auch das realisirte Vorstellen
entspricht. Es muſs also noch eine Hemmung hinzukom-
men, welche das Streben zu überwinden habe; — doch
an diesem Orte ist es uns nicht um eine Theorie der Be-
gierde, sondern darum zu thun, daſs man den Keim ei-
ner solchen Theorie bemerke, welcher gemäſs die Bezie-
hung des Begehrens auf das Vorstellen (§. 12.) begreif-
lich, und der Uebelstand vermieden werde, daſs dieser of-
fenbaren Beziehung ungeachtet, die Psychologien das Be-
gehrungsvermögen neben dem Erkenntniſsvermögen hin-
stellen, und jedes besonders abhandeln, ohne sich um die
Umstände zu bekümmern, unter denen das Vorstellen un-
fehlbar in ein Begehren übergehen muſs. Leibnizens
richtigen Gedanken hoffe ich am gehörigen Orte bestä-
tigen und ausführen zu können; obgleich die dahin ge-
hörigen Ueberzeugungen viel früher, bevor ich die Werke
jenes Philosophen studirte, bey mir vest standen. Es ist
die Untersuchung über das Ich, welche mich hier, wie
[54] in mehrern Puncten, auf Leibnizens Spur geführt hat,
wie man tiefer unten *) sehen wird.
Wie das Begehren sammt dem Vorstellen nach
Leibniz zu den Qualitäten der Seele als einer Sub-
stanz gehört: so heftet sich bey ihm an denselben Punct
auch noch der Satz, daſs die Seele stets denkt. Die
Substanz kann nicht ohne Wirkung, und in der Seele
kann keine geistige Leerheit seyn. Wiewohl ich nun
hier so wenig, als in dem Grundbegriff der Substanz selbst
mit Leibniz einstimme, so muſs ich doch auf einige
Folgerungen aufmerksam machen, die er aus jenen Sätzen
zieht. Die Seele hat eine Menge von kleinen Vorstel-
lungen; verbinden sich dieselben zu stärkeren, so wird
man sich ihrer bewuſst; auſserdem kann man sich von
ihnen keine Rechenschaft geben; und man muſs demnach
die Perceptionen von der Apperception wohl unterschei-
den. L’Apperception est la conscience, ou la connaissance
réflexive de l’état intérieur**). Das Geräusch des Meeres
entsteht aus dem Geräusch jeder Welle; die einzelne
Welle würde keine bemerkbare Vorstellung darbieten;
gleichwohl muſs aus der Summe aller einzelnen kleinen
Vorstellungen das gesammte Geräusch entspringen, wel-
ches zu vernehmen wir uns bewuſst sind ***). — Daſs
dieser wichtige Gegenstand, über welchen neuerlich Platt-
ner und Reinhold verschiedener Meinung gewesen
sind †), wieder in Frage genommen werde, muſs mir für
meine Untersuchungen wünschenswerth seyn. Schon an-
derwärts ††) habe ich gezeigt, daſs die momentanen Auf-
fassungen durch die Dauer einer Wahrnehmung zu einer
Totalkraft erwachsen, wofern nicht die momentane Auf-
[55] fassung zu schwach ist; ich habe versucht, dieses mathe-
matisch zu bestimmen. Hierher aber gehört vorzüglich
die Bemerkung, daſs zwey beynahe gleichklingende Aus-
drücke einen ganz verschiedenen Sinn haben: ins Be-
wuſstseyn kommen, und, den Gegenstand aus-
machen, dessen man sich bewuſst wird. Die zu-
vor genannten kleinen Vorstellungen kommen ohne Zwei-
fel ins Bewuſstseyn; gleichwohl werden wir uns ihrer
nicht bewuſst, wir können es uns nicht sagen, daſs
sie ins Bewuſstseyn gekommen seyen. Dieses, was schwer
zu verstehen scheint, muſs am gehörigen Orte vollkom-
men klar werden; indessen wird es Gewinn seyn, die
Sache schon hier so weit als möglich ins Licht zu setzen.
Zuvörderst: die Seele hat viele Vorstellungen, die den-
noch nicht im Bewuſstseyn sind. Dieses sind die völlig
gehemmten, oder nach gewöhnlicher Benennung, die im
Gedächtniſs ruhenden Vorstellungen. Ferner, diese ge-
hemmten Vorstellungen waren früher im Bewuſstseyn,
und kehren in dasselbe zurück, wenn die Hemmung
nachläſst. Allein um nun auch noch sich ihrer be-
wuſst zu werden, (sie zu appercipiren,) — dazu ge-
hört, daſs sie selbst Objecte eines neuen Vorstellens wer-
den; welches niemals durch sie selbst, sondern allemal
nur durch eine andre Vorstellungsreihe geschehn kann.
Dieses aber hängt gewöhnlich von ihrer Stärke, zuweilen
von ihrer Neuheit, überhaupt von den Umständen ab,
unter denen eine Vorstellungsreihe auf eine andere Ein-
fluſs hat, und ein Object derselben wird.
Leibnizens Aufmerksamkeit auf die kleinen Vor-
stellungen, durch deren Hülfe er die Continuität der
geistigen Phänomene verfolgt, und denen er „mehr
Kraft als man denken sollte,“ zuschreibt, verräth
das Auge des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur
das anzuschauen, was auf dem Vorhange der Wahrneh-
mung zu sehn ist, sondern der hinter den Vorhang blickt,
und dort — nicht etwan erdichtete Seelenvermögen, son-
dern die wahren Kräfte aufsucht, aus denen die sämmt-
[56] liche Thätigkeit des Gemüths erklärt werden muſs. Denn
eben die Vorstellungen selbst sind die Kräfte der Seele.
Vorstellungen sind nicht etwan bloſse Bilder, ein nichti-
ger Widerschein des Seyenden, sondern sie sind das
wirkliche Thun und Geschehen, vermöge dessen die Seele
ihr Wesen aufrecht hält, und ohne welches sie aufhö-
ren würde zu seyn was sie ist. Um aber die Art, wie
die Vorstellungen zusammenwirken, genau kennen zu ler-
nen, muſs man nicht die groſsen Massen von Vorstel-
lungen, welche die innere Wahrnehmung vorfindet, noch
die ganzen Classen von Gemüthszuständen, an wel-
chen der logische Scharfsinn der meisten Psychologen
sich übt, — sondern man muſs gerade wie Leibniz die
kleinen Vorstellungen ins Auge fassen, — und ich
kann hinzusetzen, man muſs auch durch Leibnizens
Erfindung, die Rechnung des Unendlichen, das Auge
schärfen, um die kleinen Vorstellungen in ihrer Wirk-
samkeit beobachten zu können.
Nehme ich noch hinzu, daſs schon Leibniz den
vollkommen richtigen Gedanken verbreitete, die Seele
erzeuge alle ihre Vorstellungen aus sich selbst:
so könnte ich mich einen Augenblick der Verwunderung
hingeben, daſs so treffliche Vorarbeiten dennoch
keine tüchtige Psychologie erzeugt haben! —
Aber die prästabilirte Harmonie — nach welcher die Seele
nicht bloſs aus und durch sich selbst, sondern auch von
selbst, ohne äuſsere Veranlassung, ihre Vorstellungen
erzeugen soll, — hat ihre schwachen Seiten; sie ist mit
theologischen und naturphilosophischen Meinungen ver-
wickelt; sie wurde dadurch vielmehr ein Gegenstand, als
eine Quelle neuer Nachforschungen; sie wurde verworfen,
und vielleicht beynahe vergessen. Leibnizens Lehre
wurde niedergedrückt, theils durch die auf den ersten An-
blick klärere Lehre des Locke, welcher sie noch mehr zu
widerstreiten schien, als sie ihr wirklich entgegen ist, (denn
die Sätze, daſs die Seele ursprünglich eine tabula rasa
ist; und, daſs sie ihre Vorstellungen aus sich selbst er-
[57] zeugt, können und müssen vereinigt werden,) theils durch
den scheinbar befreundeten Einfluſs des Wolffischen
Systems.
§. 19.
Wenn das imposante Ansehen eines, in viele Fä-
cher getheilten, von Definitionen und Divisionen angefüll-
ten, Lehrgebäudes eben so geschickt wäre, ächtes Den-
ken zu erwecken, als es fähig ist, Schüler anzulocken:
so müſste die Wolffische Periode in der That die Blü-
thezeit der Philosophie gewesen seyn. Aber je gröſser
die Menge des eingebildeten Wissens, desto geringer ist
die Spannung des Forschungsgeistes; und dieser wird
durch einen kurzen Aufsatz von Leibniz mehr angeregt,
als durch einen ganzen Band von Wolff.
Der Wolffischen Philosophie wird manchmal so
erwähnt, als ob sie zu der Leibnizischen beynahe wie
die Form zum Inhalte gehörte. Aber wer Leibnizens
Lehre vollends ausarbeiten und systematisch vortragen
wollte (womit ihr vielleicht kein groſser Dienst geschähe,
denn als System betrachtet, dürfte sie manche Blöſsen
zeigen, und als eine Summe von geistreichen Räsonne-
ments ist sie von Leibniz selbst in sehr ansprechende
Formen gebracht worden,) der müſste doch vor allen
Dingen die prästabilirte Harmonie, auf deren Erfindung
Leibniz selbst überall so vieles Gewicht legt, oder ei-
gentlich den Grundgedanken dieser Lehre, daſs keine
Substanz in die andre eingreifen könne *), zum Haupt-
und Mittelpunct des Ganzen machen; er müſste also wohl
vor allen Dingen selbst recht vest davon überzeugt seyn.
Aber es ist bekannt, wie Wolff diesen Punct zu um-
gehen, wie er davon alles übrige möglichst unabhängig
zu machen sucht. Mea parum refert, quid de causa com-
mercii animae cum corpore statuatur; sind seine eignen
Worte **). Wie verträgt sich diese Gleichgültigkeit mit
[58] dem Unternehmen, in der Psychologie, in der Metaphy-
sik, Hauptwerke zu schreiben!
Auf Wolffs Versuch einer Trennung der rationa-
len und empirischen Seelenlehre weiter einzugehn, ver-
bietet schon der Umstand, daſs eben in seiner empiri-
schen Psychologie, wo er reine Erfahrung verspricht,
der Hauptsitz der Seelenvermögen sich befindet. Die Art,
wie er diese Vermögen einführt, die Rechtfertigung aber
verschiebt, ist auffallend genug. Quotnam sint animae
facultates, et quales sint, in Psychologia empirica declara-
mus; quid vero proprie sint et quomodo animae insint, in
Psychologia rationali demum declarabitur*). Wir sollen
also in der empirischen Psychologie zuvörderst uns an
die Seelenvermögen gewöhnen; wir sollen auch vorläu-
fig allen Erschleichungen überlassen bleiben, die sich da-
mit verbinden möchten; ein andermal will man unsre Be-
griffe berichtigen! Doch wir wenden uns sogleich an die
Psychologia rationalis: was werden wir finden? Faculta-
tes animae — cum sint nudae agendi possibilitates: ani-
mae tribuere diversas facultates idem est ac affirmare, pos-
sibile esse ut diversae eidem inexistant actiones**). Wor-
aus folgt, daſs die Seele so vielerley Vermögen habe,
als nur immer Handlungen in ihr vorgehn; so daſs alles
auf die Richtigkeit und Zulänglichkeit der Abstractionen
ankommt, durch welche man die Arten und Gattungen
dieser Handlungen vestsetzt. Wie sicher und genau nun
das Geschäfft des Abstrahirens da vollbracht werden
könne, wo man nichts als flieſsende und schwindende
Zustände vorfindet; wie viel alsdann ferner die gemach-
[59] ten Abstractionen helfen können, um die Erfahrung von
diesen flieſsenden Zuständen, nicht etwan zu erklären,
sondern nur treulich aufzufassen; wie wohl oder übel
demnach die empirische Psychologie mit dem Register
von Seelenvermögen berathen sey: darüber ist oben ge-
redet worden. Wir wollen uns daher nicht damit bemü-
hen, diejenigen Abstractionen, welche Wolff wirklich
verzeichnet hat, näher anzusehen. Und wenn die Neuern
ihm zu seinem Erkenntniſs- und Begehrungsvermögen
noch ein ganzes Hauptvermögen, das Gefühlvermögen,
hinzugefügt haben: so wollen wir darum eben nicht glau-
ben, die Neuern hätten es besser verstanden wie Er, son-
dern wir wollen diese Mishelligkeit lieber aus der Unsi-
cherheit des ganzen Unternehmens, die nahe an Unbrauch-
barkeit gränzt, zu begreifen suchen. Dagegen aber be-
gleiten wir Wolffen, den Metaphysiker, noch ein Paar
Schritte in seine Ontologie hinein. Er selbst weiset uns
dahin. Denn in dem schon angeführten §. sagt er wei-
ter: necesse est ut detur ratio sufficiens, cur talia in anima
possibilia sint. Quare cum in essentia contineatur ratio eo-
rum, quae praeter eam enti vel constanter insunt, vel
inesse possunt, — per vim animae intelligi debet,
cur talia in anima possibilia sint. Man spanne aber die
Erwartung ja nicht zu hoch! Denn es heiſst gleich weiter:
Tribuuntur itaque animae tales facultates, quia possibile
est ut talia per vim eiusdem diversis legibus obtemperantem
actuentur. Man lege also nur die verschiedenen Möglichkei-
ten in die Eine Kraft hinein, damit man sie alsdann wieder
daraus begreifen könne! Es folgen aber noch Beyspiele.
Die Luft läſst sich verdichten; also hat sie ein Vermö-
gen verdichtet zu werden. Der Stein kann warm wer-
den; also hat er ein Vermögen warm zu werden. „Haec
calefiendi potentia quo modo inest lapidi, eodem modo fa-
cultas quaelibet inest animae.“ Da wir aber noch nicht
wissen, wie eigentlich der Stein und die Luft allerley
Vermögen enthalten können, vielmehr diese gar nicht ge-
ringen physikalischen Fragen noch eher an den Seelen-
[60] vermögen, welche wenigstens scheinbar durch ein Gefühl
des Könnens sich innerlich kund thun, Beyspiel und Er-
läuterung finden möchten: so werden wir am Ende in die
Ontologie geschickt; und zwar in das Capitel de notione
entis; wo wir unter andern folgende Offenbarung empfan-
gen: Si ens quoddam concipiendum, primo loco in eo po-
nenda sunt, quae sibi mutuo non repugnant*).
Hier muſs nothwendig derjenige bestürzt werden, der bis-
her von dem Seyenden den Begriff hatte, daſs es eine
völlige Einheit, ohne alle Mannigfaltigkeit, ausmache.
Bey Wolffen scheint es nicht einmal einer Frage
werth, ob, und in wiefern eine innere Mehrheit sich mit
der notione entis vertrage? Auch giebt es dann gleich
weiter so viele essentialia, attributa, modi, die alle gera-
den Weges durch Namenerklärungen eingeführt werden;
daſs wir schon darauf gefaſst seyn müssen, diese Fülle
auch bey dem ens simplex nicht los zu werden, von wel-
chem keine andre Verneinungen vorkommen, als die sich
auf die Ausdehnung beziehen **). Und auch in dem lan-
gen Capitel mit dem vielversprechenden Titel: de modifi-
cationibus rerum, praesertim simplicium, wird man schwer-
lich eine tüchtigere Aussage finden, als die im §. 712.:
Praesupponi debent in ente essentialia, antequam attri-
buta et modi sequi possunt. — Doch es ist bekannt, wie
Wolff durchgängig über dem ens, (dem was seyn kann)
das Esse vergaſs, wie er die Möglichkeit und die Namen-
erklärungen voranschickte, die Realität aber, man weiſs
nicht recht wie, hintennach dazu kommen lieſs; wie er
vor lauter logischer Deutlichkeit die eigentlichen Dun-
kelheiten gar unsichtbar machte. Ein solcher Mann
konnte der Psychologie nicht aufhelfen; wohl aber den
Winken des Leibniz die nöthige Aufmerksamkeit ent-
ziehen.
[61]
§. 20.
Seit Wolffs Zeiten haben zwar Materialisten, Skep-
tiker, Physiologen, die Seelenlehre in mancherley Schwan-
kungen zu setzen, die Freunde der Erfahrung dagegen
sie vestzuhalten und durch Beobachtungen zu bereichern
versucht. Allein erst die Kant’sche Lehre gewann, we-
nigstens in Deutschland, eine allgemeinere Herrschaft,
und damit einen entscheidendern Einfluſs auch auf die
Psychologie. Und ungeachtet des Zwischenraums zwi-
schen Wolff und Kant, erinnert doch der letztere oft
genug an jenen, wie auch an dessen Vorgänger. Die
ersten Worte der Kritik der reinen Vernunft scheinen
zu Locken geredet; die Erwähnung der nothwendigen
und allgemeinen Wahrheiten unterstützt Leibnizen;
und vielfältig in dem Kant’schen Hauptwerke werden
Locke und Leibniz einander gegenüber gestellt. Ohne
Vergleich lebendiger ist der Ausdruck der Speculation
bey Kant als bey Wolff; aber die Namenerklärungen,
aus denen Wolff groſsentheils sein Lehrgebäude auf-
führte, finden doch einen Nachklang in der Terminologie,
womit Kant, über den Bedarf, sein Werk ausschmückte.
Die rationale Psychologie, welche sich Wolff als sein
verdienstliches Werk zuschrieb, fand ihren Gegner in
Kant; aber den Seelenvermögen, die jener systematisch
abhandelte, widerfuhr die Ehre, von dem letztern noch
weit mehr auseinander gesetzt zu werden.
Erinnert man sich der starken Gegensätze, welche
Kant zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstande, zwi-
schen dem Verstande und der Vernunft, zwischen der
theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen der
praktischen Vernunft und dem niedern Begehrungsvermö-
gen, endlich zwischen den beyden Arten der Urtheilskraft
bevestigte: so mag man wohl überlegen, ob jemals ein
Philosoph die Einheit unsrer Persönlichkeit so gewaltsam
behandelt; das flieſsende unserer Zustände, das Ineinan-
der-Greifen aller unsrer Vorstellungen, das allmählige
Entstehen eines Gedankens aus dem andern, so wenig
[62] in Betracht gezogen; hingegen an der Verschiedenheit
einiger Haupt-Resultate der geistigen Bewegungen, und
an dem Widereinanderstoſsen einiger Vorstellungsreihen
sich so einzig gehalten haben möge? — Und welches ist
das Band, durch welches jene weitgetrennten Vermögen
zusammengehalten werden sollen? Um es zu finden, müs-
sen wir bemerken, daſs Kant für die Vereinigung des
Mannigfaltigen in der Anschauung weit mehr besorgt war,
als für die Einheit des Geistes selbst; und daſs er zu
diesem Behufe eine ursprünglich synthetische Einheit der
Apperception, nebst einer objectiven Einheit des Selbst-
bewuſstseyns aufstellte, indem er das: Ich denke, allen
unsern Vorstellungen zum (möglichen) Begleiter gab.
Aber dieses Ich erklärt er weiter hin für die ärmste und
gehaltloseste Vorstellung unter allen; ein Gegenstand, auf
den wir weiterhin zurückkommen müssen. Was Wun-
der indessen, wenn das Gefühl des Mangels an Verbin-
dung, schon von den nächsten Nachfolgern Kants Einige
antrieb, eben an dieser Stelle, wo noch eine Spur von Zu-
sammenhang sich zeigte, sich anzubauen? Das Bewuſst-
seyn und das Selbstbewuſstseyn zum Princip der Kant-
schen Philosophie, und damit der Philosophie selbst, — als
zu dem Einen was Noth thue, zu erheben? An diesen Ver-
such haben Mehrere der scharfsinnigsten Männer ihre Kräfte
gewendet, und zum Theil verschwendet; in der That aus
zu groſsem Vertrauen auf die Kant’sche Lehre, welche sie
dadurch besser zu stützen gedachten. Gegenwärtig ist es
Zeit, es laut zu sagen, daſs dieser Weg irre führt; ob-
gleich die Kant’schen Schriften einen Schatz von Beleh-
rungen enthalten, den Niemand verschmähen soll.
Was nun insbesondre Kants Kritik der rationalen
Psychologie anlangt: so sind darüber zwey Bemerkungen
zu machen. Die eine ist nur Anwendung einer allgemei-
nen Betrachtung auf einen speciellen Fall. Kant hat
nämlich überhaupt nicht genug dafür gesorgt, an den
Stellen, wo er die ältere Metaphysik widerlegen will, sich
Metaphysik von der besten Art zu verschaffen. So nun
[63] auch schiebt er die Schuld des Irrthums in der rationa-
len Psychologie auf einen Paralogismus, der wohl schwer-
lich fähig seyn oder gewesen seyn möchte, irgend Jeman-
den unter den besseren und sorgfältigeren Denkern zu
täuschen. Oder sollte wohl Leibniz darum die Seele
für Substanz gehalten haben (man weiſs wie viel Gewicht
er eben hierauf legt), weil: „ein denkendes Wesen, bloſs
als ein solches betrachtet, nicht anders, denn als Subject
kann gedacht werden“ —? *) Schlagen wir den Leibniz
auf, so finden wir alles was wir brauchen in folgenden
Worten beysammen: Il faut bien qu’il y ait des substan-
ces simples par-tout, parceque sans les simples il n’y auroit
point de composées; et par conséquent toute la nature
est pleine de vie**). Hier finden wir früher Substanzen
als Seelen; früher die Ueberzeugung von einfachen Be-
standtheilen des Zusammengesetzten, als von der Ein-
fachheit der Seele; mit einem Worte, früher allgemeine
Metaphysik als Psychologie. Und so ist es natürlich.
Erst überlegt man, ob Substanzen als einfache Wesen
anzunehmen seyen? Dann folgt die Frage, was diese
Substanzen seyn mögen? Worauf Leibniz, in der
That voreilig, aber in der Absicht, ihnen eine nicht
bloſs relative, sondern rein-innerliche Qualität anzuwei-
sen, antwortete: sie sind vorstellende Wesen, eben
darum, weil sie Substanzen sind. Leibnizens Satz
heiſst nicht, die Seelen sind Substanzen, sondern:
die Substanzen sind Seelen. Wer aber diese Vor-
schnelligkeit vermeidet, der fängt freylich in Hinsicht der
Seele von der innern Wahrnehmung an; aber er schlieſst
nicht von dem: Ich denke, als dem allgemeinen Sub-
jecte zu allen vorgestellten Objecten, auf eine Existenz
eines Subjects, das nie Prädicat seyn könne; — sondern
von der gegenseitigen Durchdringung aller unserer Vor-
stellungen, und ihrer Concentration in dem Einen Be-
[64] wuſstseyn, schlieſst er auf die Unmöglichkeit, dieser Durch-
dringung und Einheit ein zusammengesetztes Substrat zu
geben, als in dessen Bestandtheilen die Vor-
stellungen zerstreut liegen würden; und nun folgt
die Nothwendigkeit, die Einfachheit zu erwählen, weil
die Zusammengesetztheit verworfen werden muſste; end-
lich aber die Einfachheit auf eine Substanz zu beziehen *),
weil die wirklich vorhandenen Vorstellungen etwas Rea-
les erfordern, dem sie beygelegt werden können. Wer
diese Art zu schlieſsen widerlegen will, der muſs ent-
weder das Mittel erfinden, wie man alles realen Sub-
strats entbehren könne, — welches Fichte versuchte,
aber ohne Gewinn für Kant, denn das Fichtesche Ich
ist in der That Substanz, nur eine solche, deren Quali-
tät in einem System nothwendig verbundener Handlun-
gen besteht; — oder er muſs nachweisen, wie das zu-
sammengesetzte Substrat eine wahre Einheit des Bewuſst-
seyns besitzen könne, welches man wohl eine offenbare
Ungereimtheit nennen darf **). Mit der Angabe eines
Paralogismus aber, dessen sich Niemand schuldig macht,
ist hier gar nichts gewonnen; und am wenigsten dann
etwas gewonnen, wenn noch obendrein die Begriffe selbst,
aus denen der vorgebliche Paralogismus seinen Ursprung
nehmen soll, im höchsten Grade mangelhaft aufgefaſst
sind. Dies ist die zweyte Bemerkung, welche hier gegen
Kant gemacht werden muſs. Es kann gar nicht zuge-
geben werden, daſs Kant den Begriff des Ich richtig
gefaſst habe. Dieser Begriff ist der Anfangspunct einer
weit-
[65] weitläuftigen Untersuchung, auf deren Bahn uns Fichte
geholfen hat; ein nicht genug zu schätzendes Verdienst,
zu dessen Anerkennung ich durch das gegenwärtige Buch
etwas beyzutragen wünsche.
§. 21.
Unter den Psychologen, welche jünger sind als Kant,
befindet sich Einer, der leider schon zu den Verstor-
benen gehört. Es ist der vortreftliche, auch von mir
sehr hochgeschätzte Carus. Ich wünschte sehr, nicht
bekennen zu müssen, daſs dessen Psychologie mich die
darin gesuchten Aufklärungen hat vermissen lassen. Was
ich gefunden, brauche ich hier nicht zu beurtheilen, da
meine Ansicht sehr leicht aus demjenigen kann geschlos-
sen werden, was bereits über die Seelenvermögen, und
die auf sie gedeuteten Abstracta, ist gesagt worden.
Von den noch Lebenden werde ich mir nur erlau-
ben, die Herren Professoren Hoffbauer, Fries und
Weiſs zu nennen.
Der Grundriſs der Erfahrungsseelenlehre von Hoff-
bauer kann meiner Meinung nach nicht bloſs als Bey-
spiel, sondern beynahe als Muster einer klaren und ver-
ständig geordneten Uebersicht bisheriger Psychologie be-
trachtet werden. Das Streben, sich vor Erschleichungen
zu hüten, ist in sorgfältiger Wahl der Ausdrücke über-
all sichtbar. Als Methode wird sogleich im §. 10. die
Induction angegeben. Auffallend aber ist es, daſs nun
gleichwohl das ganze Buch den gewöhnlichen Weg vom
Allgemeinen zum Besondern hinabsteigt, während die
Induction den gerade entgegengesetzten Gang erfordert.
Sollen Leser und Zuhörer von den letzten Resultaten zu
der Erkenntniſsquelle geführt werden? Sollen sie mit dem
Glauben anfangen, und mit dem Schauen endigen? So
giebt es auch Vorträge der Chemie, worin mit dem Sauer-
stoff angefangen, mit den bekannten und sichtbaren Kör-
pern geendigt wird; anstatt dem Zuhörer zuerst die Ex-
perimente bekannt zu machen, aus welchen auf den Sauer-
stoff und seines Gleichen zu schlieſsen ist. — Aber ich
I. E
[66] bin weit entfernt, hier einen eigenthümlichen Fehler je-
nes Grundrisses erblicken zu wollen; da ich vielmehr
selbst gezeigt habe, wie unwillkührlich die Psychologie
wegen der Schlüpfrigkeit ihres Stoffs in Abstractionen
hineingleitet, worin sie nicht eher vesten Fuſs gewinnt, als
bis sie bey den äuſsersten Abstractionen angekommen ist,
von denen sie alsdann wieder rückwärts den Weg der
Determination versucht, und ihn fortsetzt, wie und so-
weit sie eben kann. Wir schlieſsen also aus dem ge-
nannten Buche nur soviel, daſs auch ein vorsichtiger
und vorzüglicher Denker durch dieselben Schwierigkeiten,
welche seine Vorgänger drückten, noch jetzt bewogen
werden mag, eine seiner eignen Angabe gerade zuwider-
laufende Richtung zu verfolgen. Wollten wir tiefer ein-
treten, so würden uns gleich bey der Theorie der Sinn-
lichkeit einige Untersuchungen der schwierigsten Art, die
hier viel zu leicht genommen sind, entgegenkommen;
nämlich wie die Auffassung der räumlichen und zeitlichen
Bestimmungen möglich sey, welche in der eigentlichen
Materie der Empfindungen (den Tönen, Farben u. s. w.)
schlechterdings nicht enthalten sind. Aber hier nur die
Frage zu verstehen und gehörig zu würdigen, erfordert
schon ein Nachdenken, das sich über die Sphäre der so-
genannten Erfahrungsseelenlehre weit erhebt; und welches
leider eben dadurch pflegt erdrückt zu werden, daſs man
den Anfängern die schwersten Sachen so leicht vor-
stellt. —
Bey Herrn Prof. Fries finden wir manche eigen-
thümliche Ansichten eingewebt in eine, der Hauptsache
nach Kantische, Lehre. Jene scheinen vorzüglich in der
Polemik gegen Fichte und Schelling entsprungen zu
seyn. Da die Absicht der gegenwärtigen Schrift nichts
weniger als polemisch ist, so wollen wir uns mit einigen
Proben begnügen, die sich am leichtesten aus der Schrift:
System der Philosophie als evidente Wissen-
schaft, herausheben lassen, weil diese in kurzen Sätzen
abgefaſst ist.
[67]
Im §. 41. des genannten Werkes finden wir, im
Widerspruch gegen Fichte’s erste Grundgedanken, die
Behauptung: „Unsere Vernunft besitzt ein reines Selbst-
bewuſstseyn, welches wir aussprechen: Ich bin. Dieses
ist aber nicht zugleich mit der innern Anschauung gege-
ben, vielmehr ist es gar keine Anschauung, son-
dern nur ein unbestimmtes Gefühl.“ Es folgt ein
Beweis, der in zweyen Gliedern mit richtigen Bemerkun-
gen anhebt, und mit Erschleichungen endigt. Zuerst die
Bemerkung, daſs das reine Selbstbewuſstseyn kein Ob-
ject hat *); woraus gefolgert wird, es sey keine An-
schauung, sondern ein unbestimmtes Gefühl. Das
erste ist wahr, und das zweyte falsch. Weil das reine
Selbstbewuſstseyn eine Vorstellung ohne Gegenstand seyn
soll, so ist es ein klarer Widerspruch; und man kann
davon gar nichts, auch nicht ein unbestimmtes Gefühl
übrig behalten; welches ein Gefühl ohne Gefühltes seyn
würde, während das Selbstbewuſstseyn seinem Begriffe
nach überall kein Gefühl, sondern eine Vorstellung seyn
soll. Vielmehr muſs man anerkennen, daſs unsre Be-
hauptung, es gebe ein reines Selbstbewuſstseyn, eine von
jenen Abstractionen ist, die wir von den besondern Selbst-
anschauungen hergenommen, dann aber, der Einheit un-
srer Persönlichkeit wegen, für etwas angesehen haben,
das wohl ohne die besondern Anschauungen für sich be-
stehen, oder, wie Herr Fries im zweyten Gliede seines
Beweises meint, zum Grunde liegen könne. Wir sind
nun allerdings genöthigt, uns einen solchen Begriff von
uns selbst zu machen; wir sind aber eben so wohl ge-
nöthigt einzugestehen, daſs dieser Begriff ohne allen Sinn,
folglich auch keine wahre Erkenntniſs eines realen Ge-
genstandes sey; — daſs es kein reines Selbstbewuſst-
seyn, keine bloſse Ichheit wirklich gebe; — sondern
daſs wir den erwähnten Begriff vielmehr als Anfangspunct
einer Theorie, als einen wissenschaftlichen Stoff gebrau-
E 2
[68] chen müssen, den wir zu verarbeiten haben, bis die Wi-
dersprüche (deren er noch mehrere in sich trägt) ver-
schwinden werden. Weil aber Herr Fries mit seiner
Polemik gegen Fichte nicht zu Ende gekommen ist:
darum läſst er von dem reinen Selbstbewuſstseyn noch
das unbestimmte Gefühl stehen; darum auch redet er
von einem Bewuſstseyn des Gegenstandes, nicht wie er
ist, sondern daſs er ist. Dieser Widersinn einer Rea-
lität ohne Qualität, ist aber eben so wenig eine Wahr-
heit, als er eine Behauptung des Herrn Fries seyn
würde, wenn derselbe den Muth gehabt hätte, dem Pro-
bleme gerade ins Gesicht zu schauen, und, alle Halbhei-
ten und Ausflüchte bey Seite setzend, das Unding, wel-
ches der Begriff des Ich uns vorspiegelt, so ernstlich an-
zufassen, wie man es fassen muſs, um es zu zerstören.
Weiterhin mischt sich nun bey Herrn Fries die
Erdichtung des innern Sinnes und einer Empfänglichkeit
desselben, mit richtigen Ahndungen von dem Gedächtniſs,
und mit dem völlig wahren Satze: die Vorstellungen
im Gemüthe werden von selbst fortdauern, bis
sie durch etwas anderes verdrängt werden. Eben
so wahr ist der §. 51., nach welchem der allgemeine Grund
der Association in der Einheit des Subjects und seiner
Thätigkeit enthalten ist. Neben so richtigen Ansichten
hätte die transscendentale Einbildungskraft (§. 57.) ver-
schwinden sollen, die abermals erdichtet wird, damit die,
für ursprünglich gehaltenen, formalen Anschauungen, zur
Erkenntniſs (soll heiſsen: zur Materie der Empfindung,
welche allerdings die formalen Bestimmungen keineswe-
ges in sich schlieſst) hinzukommen mögen. Der Kantia-
nismus aber, als Gewöhnung an ein System, mit Ueber-
gehung ganz nahe gelegter Fragen, welche die Ruhe der
angenommenen Meinungen hätten stören sollen, zeigt sich
auffallend beym §. 59—62.; wo die figürliche synthetische
Einheit als Erfolg der Selbstthätigkeit beschrieben wird,
während die Gegenstände in der Anschauung uns unter
der Bedingung einer jederzeit möglichen Con-
[69] struction gegeben werden. Was mögen doch das für
Bedingungen seyn, vermöge deren die selbstthätige trans-
scendentale Einbildungskraft gewisse Auffassungen von
Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die
Form eines Cirkels bringt? Gegebene Bedingungen
sind es ohne Zweifel; denn wir können nicht willkührli-
cher Weise das Runde als viereckigt, oder das Vier-
eckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes,
dem Raume, kann der Grund des Unterschiedes nicht
liegen, denn diese Form ist für alle sinnliche Anschauun-
gen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden. Wenn
nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoffe nach von den
Dingen an sich herrühren, wie sie denn in der Kant-
schen Lehre ohne Zweifel thun: so müssen diese Dinge
an sich, trotz dem, daſs sie von Raum und Zeit nichts
wissen, sich doch auſserordentlich genau auf diese
Formen des innern Sinnes beziehen, damit ein
Unterschied in jene figürliche synthetische Einheit hinein-
komme. Wir erkennen also von den Dingen an sich,
daſs in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet,
als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen her-
zugeben, deren wir für die figürliche synthetische Einheit
der Einbildungskraft in ihren bunten Abwechselungen
bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende
Kenntniſs von den Dingen an sich, welche die Kant’sche
Lehre eben so wenig vermeiden, als leiden kann; und
worüber sich die bessern Anhänger derselben längst hät-
ten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre
an der Sache aber ist, daſs diese ganze Theorie auch
keine leiseste Ahndung der Gründe enthält, aus denen
die Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen psycho-
logisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das Pro-
blem ist hier vollständig aufgefaſst; denn es fragt sich
eben so sehr, was für Bedingungen uns bestimmen, ei-
ner Substanz gerade solche und keine andern Eigenschaf-
ten zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem Wasser
die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck-
[70] silber aber weder die Nässe noch die Durchsichtigkeit
des Wassers, sondern neben der Flüssigkeit den Glanz
und die vorzügliche Schwere. Auch hier liegt in der Ma-
terie der Empfindung keinesweges die Gruppirung dersel-
ben; und in den vorgeblichen Formen des Verstandes
kann sie eben so wenig liegen, weil diese sich ge-
gen alle die verschiedenen Vorstellungen ver-
schiedener Substanzen auf gleiche Weise ver-
halten müssen.
Eine beynahe unbegreifliche Mischung der richtigen
Ansichten, nach welchen die Vorstellungen selbst die
Kräfte in der Seele sind, und des falschen Bestrebens,
Seelenvermögen zu spalten (nämlich wenn die vorige
richtige Erklärungsart irgendwo nicht ganz leicht von
selbst sich darbietet): geht nun bey Herrn Fries immer
weiter fort. Er findet §. 79. den ersten Grund der Ab-
straction darin, daſs in ähnlichen Vorstellungen, welche
im Gemüth zugleich verstärkt werden, die ihnen gemein-
schaftliche Theilvorstellung mehr verstärkt wird, als die un-
terscheidende Nebenvorstellung. Dieses reicht zwar nicht
hin zur Erklärung; denn die angehängte Clausel: das Ge-
meinschaftliche könne also abgesondert vorgestellt werden,
ist eine groſse Uebereilung und Unwahrheit. Dennoch
ist der erstere Gedanke richtig, und in der That um so
mehr zu schätzen, weil wir damit das Abstractionsver-
mögen, als ob es etwas Besonderes und für sich zu Be-
trachtendes in der Seele wäre, beseitigen können; und
weil hier die Verbindung zwischen der sogenannten Ein-
bildungskraft und dem sogenannten Verstande anfängt her-
vorzuleuchten.
Die Psychologie des Herrn Fries würde nach sol-
chen Proben sich ohne Zweifel besser dabey befinden,
wenn er sie einmal zum Mittelpuncte eines wissenschaft-
lichen Strebens machte, als so lange er sie nur als den
Vorhof der Philosophie betrachtet *). Ohne Zweifel ver-
[71] dient es Dank von Seiten derjenigen, welche den unhalt-
baren Grund der Kant’schen Lehre für sich allein nicht
entdecken können, daſs ein Mann aufgetreten ist, der in
eine sogenannte philosophische Anthropologie alles das
Schwankende zusammengestellt hat, worauf Kant, als
auf gutem Grunde, vesten Fuſs fassen wollte. Dies er-
leichtert die Prüfung; und wer in den Darstellungen des
Herrn Fries noch nicht sehen kann, wie in den ersten
Voraussetzungen Wahres und Falsches gemischt, und
wie selbst das Wahre als roher Stoff unausgearbeitet
daliegt, der wird sich schwerlich je darauf besinnen. Mir
ist es wahrscheinlich, daſs wenn Kant, mit alter rüsti-
ger Kraft des Denkens, noch lebte, Niemand besser als
Herr Fries ihn zu einer Revision seines Systems würde
vermögen können. Denn ohne Zweifel bedurfte ein so
vortrefflicher Geist nichts anderes, als nur eine Zusammen-
stellung seiner eignen Voraussetzungen, nur eine Richtung
seiner Aufmerksamkeit, welche in den Humeschen Pro-
blemen zu sehr befangen war, um alle die verschiedenen
Anfangspuncte der Speculation gehörig zu benutzen. —
Soll aber nicht von Beleuchtung der Kant’schen Lehre,
sondern von Psychologie die Rede seyn, so bedarf diese
der allgemeinen Metaphysik zu ihrer Unterstützung; und
Herr Prof. Fries hat das Hinterste nach vorn gewen-
det, indem er der Metaphysik seine Anthropologie vor-
anschickt *). (Man sehe oben §. 15. gegen das Ende.)
Diesem Verfahren gerade entgegengesetzt ist das des
Herrn Prof. Weiſs; in seinen Untersuchungen über das
Wesen und Wirken der menschlichen Seele. Er legt
eine dynamische Natur-Ansicht zum Grunde, — und
macht es mir eben dadurch unmöglich, mich hier, wo
für ausführliche Betrachtungen aus allgemeiner Metaphy-
[72] sik kein Platz ist, anders als nur sehr kurz über sein
Werk zu erklären. Die ursprüngliche und nothwendige
Duplicität in der Kraft, die das Daseyn eines jeden Din-
ges constituiren soll (S. 27.), muſs ich gänzlich ableugnen.
Und eine solche Duplicität zuletzt aus einer absoluten
Einheit abzuleiten, kann meiner Meinung nach keine
Aufgabe für die Speculation seyn, weil umgekehrt es zu
den Aufgaben derselben gehört, alle dergleichen undenk-
bare Einheiten, aus denen eine Vielheit entspringen soll,
(zu deren Annahme manche Phänomene des Geistes und
der Natur allerdings verleiten), gänzlich hinwegzuschaf-
fen, und die Wissenschaft von ihnen zu reinigen. So
kann ich denn auch in keine Gemeinschaft treten mit
einer Philosophie, welche das Unendliche als Grund des
Endlichen, und dieses als Erscheinung von jenem be-
trachtet (S. 5.). Dergleichen Philosophie muſs ich dem
Spinoza und seinen Erneuerern überlassen; indem ich
überzeugt bin, daſs von dem, was wahrhaft Ist, sowohl
die Unendlichkeit als die Endlichkeit muſs verneint wer-
den; und daſs die Endlichkeit noch überdies auf eine un-
geschickte Weise in die Unendlichkeit hineingeschoben
wird, von denen, die sich mit diesen Vorstellungsarten
tragen; welches Ungeschickte zu verbessern jeder Ver-
such vergeblich ist, weil die Unendlichkeit, wenn sie
selbst den Keim enthielte, aus dem die Endlichkeit könnte
abgeleitet werden, mit sich selbst im Widerspruche
stände. — Wäre nicht nach diesen Erklärungen jedes
weitere Wort überflüssig: so würde ich noch hinzusetzen,
daſs ich in dem genannten Buche die vorläufige Erörte-
rung dessen, was die innere Wahrnehmung geben und
nicht geben kann, und die genaue Angabe der Art und
Weise vermisse, wie an die Wahrnehmung, und die von
ihr dargebotenen Erkenntniſs-Principien, die Speculation
sey angeknüpft worden.
§. 22.
Noch Einer ist übrig, zu welchem wir näher hinzu-
treten müssen, nämlich Fichte. Nicht zwar, um von
[73] seiner realen und idealen Thätigkeit weitläuftig zu reden;
den heterogenen Elementen, woraus er das für real ge-
haltene Ich, nicht glücklicher zusammensetzt, als nach
ihm Herr Prof. Weiſs aus Sinn und Trieb die Seele.
Eben so wenig wird uns die unbegreifliche Schranke im
Ich, beschäfftigen können, welche die Unmöglichkeit, ei-
nen haltbaren Idealismus aufzustellen, klar an den Tag
legt. — Wohl aber ist es die erste Behandlung des Be-
griffs des Ich, die uns hier interessirt. Ich schlage
Fichte’s Sittenlehre auf, welche ich noch jetzt für seine
Hauptschrift halte *). Den schon sonst gezeigten Schluſs-
fehler, S. 14. 15., wo statt des Denkens der allgemeinere
Begriff des Handelns, statt dieses wiederum der ihm un-
tergeordnete des realen Handelns eingeschoben wird,
werde ich hier nicht genauer ins Licht setzen; aber die
Anmerkung S. 18. 19. ist von der höchsten Wichtigkeit
für Fichte’s Lehre, und wir müssen sie auch hier er-
wägen. Sie beginnt so: „Daſs das Wollen in der erklär-
„;ten Bedeutung, als absolut erscheine, ist Factum des
„;Bewuſstseyns; — daraus aber folgt nicht, daſs diese Er-
„;scheinung nicht selbst weiter erklärt, und abgeleitet wer-
„;den müsse, wodurch die Absolutheit aufhörte, Absolut-
„;heit zu seyn, und die Erscheinung derselben sich in
„;Schein verwandelte: — gerade so, wie es allerdings auch
„;erscheint, daſs bestimmte Dinge in Raum und Zeit un-
„;abhängig von uns da sind, und diese Erscheinung doch
„;weiter erklärt wird. — Wenn man sich nun doch ent-
„;schlieſst, diese Erscheinung nicht weiter zu erklären;
„;und sie für absolut unerklärbar, d. i. für Wahrheit,
„;und für unsre einige Wahrheit zu halten, nach der alle
„;andre Wahrheit beurtheilt, und gerichtet werden müsse,
„;— wie denn eben auf diese Entschlieſsung unsre ganze
„;Philosophie aufgebaut ist, — so geschieht dies nicht
„;zufolge einer theoretischen Einsicht, sondern zufolge
[74] „;eines praktischen Interesse; ich will selbstständig seyn,
„;darum halte ich mich dafür.“
Diese Aussage enthält den einzigen denkbaren Er-
klärungsgrund, weshalb Fichte, dem die Unmöglichkeit
des Ich deutlich genug vor Augen lag, dennoch dabey
beharrte, dasselbe als real, als absolut, und in dieser Ge-
stalt als Princip der Philosophie zu betrachten. Ein we-
nig weiter hin (S. 42.), sagt uns Fichte: „Nicht das
„;subjective, noch das objective, sondern — eine Identi-
„;tät ist das Wesen des Ich; und das erstere wird nur
„;gesagt, um die leere Stelle dieser Identität zu bezeich-
„;nen. Kann nun irgend Jemand diese Identität, als sich
„;selbst, denken? Schlechterdings nicht; denn um sich
„;selbst zu denken, muſs man ja eben jene Unterschei-
„;dung zwischen subjectivem, und objectivem,
„;vornehmen, die in diesem Begriffe nicht vorgenom-
„;men werden soll. — So kann man sich allerdings nicht
„;wohl enthalten, zu fragen: bin ich dann darum, weil
„;ich mich denke, oder denke ich mich darum, weil
„;ich bin? Aber ein solches Weil, und ein solches
„;Darum, findet hier gar nicht statt; du bist keins von
„;beyden, weil du das Andre bist; Du bist überhaupt nicht
„;zweyerley, sondern absolut einerley; und dieses un-
„;denkbare Eine bist du, schlechthin weil Du
„;es bist.“
Daſs ein Undenkbares nicht seyn kann, — daſs der-
jenige sein eignes Denken aufhebt, welcher von dem Un-
denkbaren denken will, Es sey, — daſs also, wenn der
Lauf der Speculation auf einen solchen Punct geführt
hat, man denselben schlechterdings verlassen müsse: die-
ses leuchtet unmittelbar ein. Nachdem also Fichte sich
den Begriff des Ich dergestalt analysirt hatte, daſs er ein-
sah, derselbe sey undenkbar: muſste schon dieses, noch
ohne vollständigere Entwickelung aller Widersprüche im
Ich, ihn bestimmen, die zuerst angenommene Realität
des Ich, sammt der vermeinten intellectualen Anschauung
desselben, völlig zu verwerfen. Jede Art von Täuschung
[75] in der Auffassung eines so ungereimten Wesens war
cher zu vermuthen, als an die Wahrheit einer solchen
Auffassung konnte geglaubt werden. Und wenn dennoch
die Ueberzeugung veststand, das Selbstbewuſstseyn lasse
sich durch keinen andern Begriff, als nur gerade durch
jene Identität des Subjects und Objects rein aussprechen:
so folgte eben daraus, man habe ein Gegebenes vor sich,
das, weil es nicht gleich einer zufälligen Täuschung ver-
worfen, doch aber auch nicht im Denken beybehalten
werden könne, zu einer Umarbeitung des Begriffs auffor-
dere und nöthige; und auf diese Weise zwar keineswe-
ges ein Real-Princip, wohl aber ein Erkenntniſs-Princip
für die Speculation abgebe.
Aber Fichte hatte einmal seinem Wollen Einfluſs
auf das Denken verstattet. Er glaubte in dem Ich die
Freyheit zu finden, und von der Freyheit wollte er nicht
lassen. Er behielt also den undenkbaren Gedanken; er
gab ihm Auctorität durch das Vorgeben einer intellectua-
len Anschauung, denn dafür hielt er den Zustand der
Anstrengung, mit welcher das Undenkbare als ein Gege-
benes der innern Wahrnehmung vestgehalten wurde; und
so wurde einer der gröſsten Denker, die je gewesen sind,
zum Urheber einer Schwärmerey, die in der Folge, als
sie sich die sogenannte absolute Identität zum Mittel-
puncte erkoren, und diese mit Spinozismus, Platonismus,
Physik und Physiologie amalgamirt hatte, in einem wei-
ten Kreise die Stelle der Philosophie besetzte, und aus
einem noch viel weitern Kreise die Philosophie ver-
scheuchte, weil man über der intellectualen Anschauung
nicht den Verstand verlieren wollte.
Dieses letztere ist nun das einzige Wollen, welches
in die Forschung einzulassen ich mir erlaube. Da ich
einmal denke, und nicht umhin kann, alles Angeschaute
zu denken und in Begriffe zu fassen, so will ich weiter
nichts als nur, daſs das Angeschaute denkbar seyn, oder,
falls es dieses nicht von selbst wäre, denkbar werden
solle, wozu denn freylich eine solche Umwandlung der
[76] unmittelbar aus der Anschauung gewonnenen Begriffe
gehört, die sich als nothwendig, und nicht willkührlich,
in jedem Puncte rechtfertigen könne. Ich stehe demnach
in der Mitte zwischen denen, welche wollen, daſs es bey
der Anschauung, bey der Erfahrung wie sie unmittelbar
gegeben wird, sein Bewenden haben solle, weil sie das
Widersprechende in dem Gegebenen nicht erblicken,
— und zwischen jenen, welche gar wohl Augen haben
für dieses Widersprechende, aber davon nicht lassen
wollen, vielmehr ins Erstaunen, ins Entzücken über alle
die Wunder sich versenken, die ihnen um so vortreff-
licher scheinen, je ungereimter sie sind. Ich gebe den er-
stern Recht, daſs sie um ihre Nüchternheit nicht mögen
gebracht seyn, und daſs sie von keiner intellectualen An-
schauung wissen wollen, welche die ächte Anschauung
nur entstellen würde; ich gebe den zweyten Recht, daſs
sie die gemeinen Ansichten der Dinge, welche alles las-
sen wie es zuerst gefunden wird, für unzulänglich erken-
nen, und auf eine Veränderung, auf eine Schärfung des
Blickes selbst antragen, wodurch in der That alles viel
wunderbarer erscheinen muſs, als jenen ersteren gelegen
ist zu glauben. Aber den einen und den andern muſs
ich Unrecht geben, weil sie beyderseits zur eigentlichen
Untersuchung zu träge sind, sowohl jene, die im Aufsam-
meln und Registriren gewisser äuſserer oder innerer Wahr-
nehmungen verweilen, als diese, die es freut, hochtönende
Reden zu erfinden, um das Seltsame, was sie gesehen ha-
ben, anzupreisen statt es besser zu bedenken. —
VII.
Plan und Eintheilung der bevorstehenden Unter-
suchungen.
§. 23.
Wir machen uns nun auf den Weg in das vor uns
liegende Gebirge, wohin uns diejenigen sicher nicht fol-
[77] gen werden, die immer nur in lachenden Ebenen gemäch-
lich zu lustwandeln gewohnt sind. Der Leser überlege,
ob er gehörig gerüstet sey; was er mitnehmen, was zu
Hause lassen wolle. Viel schweres Gepäck frommt dem
Reisenden nicht, am wenigsten solches, was ihm, nach
seiner Eigenthümlichkeit, besonders lästig fallen würde.
Geduld und frischer Muth ist die Hauptsache.
Ganz ohne mathematisches Werkzeug darf der Wan-
derer nicht seyn. Aber groſse Anmuthungen mache ich in
dieser Hinsicht nicht; sie würden mit verdoppeltem Gewicht
auf mich zurückfallen. Der Leser vergegenwärtige sich
nur die leichteren Rechnungen mit veränderlichen Grö-
ſsen, und deren Symbole, die bekanntesten Curven; er
überlege, daſs diese Curven eben nur Symbole für ge-
wisse Regeln sind, wornach jede mögliche, intensive
sowohl als extensive, Gröſse wachsen und abnehmen
kann; er rufe, wenn es nöthig ist, einen Freund zu Hülfe,
der ihm die einfachsten Grundlehren und Formeln der
höhern Mechanik erkläre; und er wird finden, daſs es
nicht viel schwerer ist, das Sinken einer Hemmungssumme,
als das Fallen eines Steins zu begreifen. Hat er aber
erst dies gefaſst, so kann er auch von den Grundlehren
der Reproductionsgesetze, (worauf Alles ankommt) das
Wesentlichste verstehn; und eben so den Hauptsatz über
die Abnahme der Empfänglichkeit. Das Schwerere ist
weniger nöthig; nicht Jeder braucht mir auf allen mei-
nen Wanderungen zu folgen; man kann sich dennoch
wieder zusammen finden.
Ablegen muſs der Leser die metaphysischen Vorur-
theile, die er, wer weiſs unter welchen Namen, etwan
bey sich tragen möchte. Meine Metaphysik wird er, mit
Hülfe dieses Buchs, allmählig verstehen lernen. Er durch-
denke nur recht sorgfältig den ausführlichen Vortrag
über das Ich, welchen er hier finden wird; vergleiche,
nachdem dieses geschehen, meine Einleitung in die Phi-
losophie, um sich mit den metaphysischen Problemen,
theils im Allgemeinen, theils mit jedem einzeln genom-
[78] men, vertraut zu machen; präge sich nun vest ein, daſs
die befremdende Gestalt, worin die metaphysischen Pro-
bleme Anfangs erscheinen, nichts anderes ist als ein
psychologisches Phänomen, welches aus psychologischen
Gründen erklärbar seyn muſs, die wir im zweyten Theile
dieses Buchs aufsuchen wollen; die aber Niemand finden
kann, wenn er die Knoten ungeduldig zerhauen will, die
er höchst behutsam durch unbefangenes Nachdenken auf-
lösen sollte. — Daſs man der leichtern Uebersicht wegen
mein Lehrbuch zur Psychologie benutzen könne, brauche
ich kaum zu bemerken. Aber sehr dringend muſs ich
den Leser an die Fragen erinnern: ob er mit seiner prak-
tischen Philosophie im Reinen sey? und ob er die mei-
nige kenne? Das erste ist an sich nothwendig; das
zweyte fordere ich, so gewiſs ich nicht will misverstanden
seyn. Wessen praktische Philosophie noch schwankt:
dessen Gemüth kann bey speculativen Untersuchungen
nicht in Ruhe seyn; am wenigsten bey solchen, die den
menschlichen Geist betreffen; ohne Gleichmuth aber ge-
lingt keine Speculation, sondern sie erzeugt Wahn und
Trug. Wer meine praktische Philosophie nicht kennt,
der begreift nicht was ich will, und muthet mir an, Dinge
zu wollen, die ich verwerfe. Ein Beyspiel hievon: ich
will keine angebornen Rechte; nicht bloſs, weil ich weiſs,
daſs alle angebornen Formen psychologisch unmöglich
sind, sondern auch, weil ich weiſs, daſs, wenn es der-
gleichen Rechte gäbe, sie Streit, und hiemit Unrecht er-
zeugen würden. Ein anderes Beyspiel: ich will kein ur-
sprünglich gesetzgebendes moralisches Gefühl, und eben
so wenig einen kategorischen Imperativ, nicht bloſs, weil
auch dieses angeborne Formen seyn würden, sondern
weil ich das moralische Gefühl, sammt der aus ihm ent-
stehenden Bereitwilligkeit zum moralischen Gehorsam, ab-
leiten gelernt habe als Gesammtwirkung aus den verschie-
denen praktischen Ideen, die wiederum durch eben so viele
verschiedene ästhetische Urtheile erzeugt werden. Wenn
[79] ich nicht jedes einzelne von diesen Urtheilen genau
kennte, nicht geübt wäre, die vorgeblichen Aussprüche
des moralischen Gefühls auf sie zurückzuführen, nicht
aus den nämlichen Gründen die Tugend als ein Ganzes
verschiedener Bestandtheile erkannt hätte, die zum Theil
gelehrt, zum Theil geübt werden, zum Theil vor aller
Lehre und Uebung voraus, unter Begünstigung einer
glücklichen Organisation im Menschen entstehn müssen;
wenn ich nicht auf diese Weise einer Menge von psy-
chologischen Fragen, mit denen Andre sich quälen, im
Voraus überhoben gewesen wäre: so möchte leicht der
psychologische Mechanismus mich mit eben dem Schrek-
ken erfüllt haben, mit welchem so Viele vor ihm die Au-
gen verschlieſsen, die eben so wenig vertragen, ins In-
nere des menschlichen Geistes zu schauen, als sie das
Innere des Leibes ohne Grauen betrachten können. —
Nach diesen Erinnerungen kehre ich zur Hauptsache
zurück.
Von der Grundlegung zu einer Wissenschaft erwar-
tet man, daſs sie die dahin gehörigen Untersuchungen in
Gang setze; und weit genug fortführe, um die Möglich-
keit der Wissenschaft, und das in derselben zu beob-
achtende Verfahren, vor Augen zu stellen. Sie soll dem-
nach die verschiedenen Erkenntniſsgründe dieser Wis-
senschaft, wofern es deren mehrere giebt, durchmustern,
und an jedem derselben den Anfang der Forschung zei-
gen; sey es nun, daſs jedes eigne Aufschlüsse ertheile,
oder daſs die verschiedenen auf einerley Resultat führen,
in welchem Falle sie immer noch dienen, die Intension
der Ueberzeugung zu verstärken.
Von der Psychologie ist nach 11—13. anzunehmen,
daſs sie mehrere Erkenntniſsgründe besitze, und zwar
nicht eben in dem Sinne, als ob dieselben gleich Vorder-
sätzen zu Schlüssen unter einander zu verknüpfen wären;
sondern so, daſs jedes für sich ein Factum des Bewuſst-
seyns darstelle, wovon, als dem Bedingten, auf die Be-
[80] dingungen, mit Zuziehung der allgemeinen Metaphysik,
(§. 15.) geschlossen werde.
Wenn nun die Grundlegung zur Psychologie auf
solche Weise mit einem oder dem andern der Erkennt-
niſsgründe dieser Wissenschaft verfährt: so ist zu hof-
fen, daſs bald einige der Realprincipien erkannt wer-
den mögen, aus welchen, als Ursachen, die Phänomene
des Bewuſstseyns ihren Ursprung nehmen. In diesem
Falle läſst sich von einer solchen, einmal gewonnenen
Kenntniſs weiterer Gebrauch machen; die Realprincipien
werden zwar niemals eigentliche principia cognoscendi,
denn das Wissen von denselben ist immer ein Abgelei-
tetes; aber die Forschung verändert von hier an ihre
Richtung, in so fern sie jetzt von der Bedingung auf das
Bedingte, — mit dem Strom der Ereignisse, nicht mehr,
wie zu Anfange, wider den Strom, vom Bedingten zur
Bedingung fortgeht.
Darum aber, daſs aus einem oder dem andern der
Erkenntniſsgründe dergleichen Realprincipien, vielleicht
selbst die wichtigsten Hauptgesetze der geistigen Bewe-
gungen, entdeckt seyn mögen: verlieren die übrigen Er-
kenntniſsgründe noch nicht ihren Werth. Es muſs auch
an sie die Reihe kommen, benutzt zu werden: jedoch
kann man nun die Untersuchung abkürzen, indem man,
anstatt sich noch ganz unwissend zu stellen, vielmehr die
schon vorhin gewonnenen Aufschlüsse, sobald dieselben
gehörig gesichert sind, zum Grunde legt, und nur noch
fragt, wie sich darauf die jetzt in Betracht genomme-
nen Phänomene zurückführen, wie sie sich daraus begrei-
fen lassen?
Man wird geneigt seyn, dem gewöhnlichen Sprach-
gebrauche gemäſs, solche Untersuchungen, die mit dem
Laufe der Ereignisse, also von Realprincipien zu rea-
len Folgen fortschreiten, synthetisch zu nennen; da-
gegen werden die andern, vermöge deren die noch nicht
erklärten Phänomene auf jene Realprincipien zurückge-
führt werden sollen, analytisch heiſsen.
Streng
[81]
Streng genommen freylich beginnt jede Untersuchung
ohne Ausnahme mit einer Analysis, indem sie zuerst den
Erkenntniſsgrund logisch klar und deutlich macht; und
dann geht sie über zu einer Synthesis, indem sie dem
Princip seine Beziehungen, dem Phänomen seine Bedin-
gungen oder nothwendigen Voraussetzungen nachweis’t.
Dieses letztere ist ganz eigentlich Synthesis a priori; weil
die Angabe der nothwendigen Voraussetzungen in dem
Erkenntniſsgrunde selbst noch nicht enthalten war. Allein
hier ist nicht der Ort, dergleichen dialektische Betrach-
tungen im Allgemeinen anzustellen; im Verfolg werden
sie an dem Beyspiel unserer Untersuchung selbst soweit
entwickelt werden, als zu unserer jetzigen Absicht nö-
thig ist. —
Es soll nun die Untersuchung über das Ich, als über
denjenigen Erkenntniſsgrund, welcher am nächsten und be-
stimmtesten zu psychologischen Realprincipien hinleitet,
den Anfang machen. Daraus werden sich sogleich mathe-
matisch bestimmbare Gesetze des Bewuſstseyns ergeben,
und so weit entwickelt werden, daſs die Möglichkeit, hier
eine neue Bahn zu brechen, und namentlich ohne die
angenommenen Seelenvermögen in der Psychologie fort-
zukommen, im Allgemeinen erhelle. Diese Untersuchun-
gen zusammengenommen wollen wir (a potiori) den syn-
thetischen Theil unserer Abhandlung nennen. Darauf
wird der analytische Theil folgen, welcher die wichtigsten
der noch übrigen Phänomene des Bewuſstseyns auf die
vorhin gewonnene Kenntniſs von den Gesetzen des Gei-
stes zurückführt.
Es ist offenbar, daſs der synthetische Theil keine
veste Gränze hat, wie weit er in der Wissenschaft, —
vielweniger, wie weit er hier, in unserer Grundlegung,
auszudehnen sey. Die Folgen aus Realprincipien sind
endlos in der Natur der Dinge, unabsehlich in der Wis-
senschaft. Und für den gegenwärtigen Zweck, Andern
die Theilnahme an den begonnenen neuen Untersuchun-
gen möglich zu machen, könnte ziemlich willkührlich ein
I. F
[82] Mehr oder Weniger geschehn, wenn nicht eben die Neu-
heit der Sache hierin noch Gränzen setzte. Der analy-
tische Theil aber muſs sich nach dem synthetischen rich-
ten, in so fern in ihm keine Untersuchung ganz selbst-
ständig, sondern jede unter Voraussetzung des zuvor Be-
kannten soll geführt werden.
Um nun diesem Buche Rundung und Ganzheit zu
geben: wählen wir das Ich, damit es nicht bloſs den An-
fang, sondern auch das Ende der Abhandlung bezeichne.
Denn es muſs hier vorausgesagt werden, daſs aus die-
sem Erkenntniſsprincip viel früher die mathematische
Betrachtungsart der gesammten Psychologie hervortritt,
als die vollständige Auflösung des in ihm enthaltenen
Problems sich gewinnen läſst. Daher wird es nothwen-
dig, dieses Problem, nachdem die ersten Schritte zu sei-
ner Erklärung geschehn sind, auf langehin bey Seite zu
legen; und so kann es, wenn nicht das Vehiculum, doch
den Rahmen bilden, der alle die übrigen hier anzustel-
lenden Untersuchungen einschlieſse.
Indessen wird man bald wahrnehmen, daſs nicht die
Lehre vom Ich, sondern von den Gegensätzen und Hem-
mungen unserer Vorstellungen unter einander, den Haupt-
stamm der Forschung ausmacht. Diese Gegensätze fin-
den sich unmittelbar in der Beobachtung; und in so fern
hängt ihre Betrachtung nicht einmal nothwendig ab von
der vorgängigen Untersuchung des Ich; jedoch bringt die
letztere den Vortheil, jene mit mehr Bestimmtheit, und
mit mehr Einsicht in ihre groſse Wichtigkeit, einzufüh-
ren. Auch lassen sich auf solchem Wege die nöthigen
Erörterungen aus der allgemeinen Metaphysik bequem
hinzufügen; welche gegen das Ende des ersten Abschnit-
tes ihre Stelle finden sollen.
[[83]]
Erster,
synthetischer Theil.
F 2
[[84]][[85]]
Erster Abschnitt.
Untersuchung über das Ich, in seinen
nächsten Beziehungen.
Erstes Capitel.
Ueber die philosophische Bestimmung des
Begriffs vom Ich.
§. 24.
Wer bin ich? — Diese Frage wirft der gemeine Mensch
nicht auf, denn er glaubt sich selbst sehr gut zu kennen.
Wer sie aufwirft, der sucht etwas Unbekanntes in sich.
Gesetzt nun, er fände dieses Unbekannte, wem würde
er es zuschreiben? Ohne Zweifel sich selbst. Also
scheint es, er kenne sich schon, in so fern er überhaupt
ein Ich ist. Was aber ist denn dieses Ich? Kann man
es losreiſsen von der individuellen Persönlichkeit? Oder
bin ich, um nur überhaupt von Mir reden, Mich den-
ken zu können, nothwendig ein bestimmtes Individuum?
— Diese Frage wird uns zuerst beschäfftigen.
Es ist schon nicht ganz leicht, nur die Frage zu
verstehen; wir wollen also langsam gehn.
Fichte erklärte das Ich als: Identität des Ob-
jects und Subjects; und hiemit stimmt der gramma-
tische Begriff des Ich, im Gegensatze gegen das Du
und das Er, wohl zusammen, denn die erste Person
ist die, welche von sich selbst redet.
[86]
Finden wir denn jemals im Selbstbewuſstseyn Uns
Selbst bloſs und lediglich als ein solches Wissen von
Sich? Keineswegs. Immer schiebt sich irgend eine in-
dividuelle Bestimmung ein; man findet sich denkend, wol-
lend, fühlend, leidend, handelnd; mit bestimmter Bezie-
hung auf das, was so eben gedacht, gewollt, gefühlt, ge-
litten, gehandelt wird. Ist nun diese individuelle Be-
stimmung etwas Fremdes im Ich, wodurch es verfälscht,
verunreinigt wird?
Man kann wohl Gründe finden, diese Frage zu be-
jahen. Zuvörderst: in der obigen Erklärung des Ich, es
sey Identität des Objects und Subjects, kommt gar keine
individuelle Bestimmung vor. Ferner: im gemeinen Le-
ben selbst betrachten wir das, was wir eben jetzo thun
oder leiden, als etwas Uns Zufälliges. Der Augenblick,
in welchem wir uns also finden, ist nur ein Durchgang,
aus welchem wir höchstens, wenn es ein bedeutender Le-
bens-Moment wäre, einen bleibenden Eindruck mitnehmen
könnten, so wie wir in ihn hineinbrachten, was in frühe-
ren Lebenslagen stark auf uns wirkte. Aber in der Zeit,
und durch die Zeit, konnten wir anders gebildet oder
verbildet werden; gleichwohl wären wir dieselben Perso-
nen geblieben, die wir jetzt sind. Daher kann der ganze
Zwischenraum zwischen Geburt und Tod, mit Allem,
was er aus Uns macht, überall nicht die entscheidende
Antwort auf die Frage geben: Wer bin ich denn ei-
gentlich? Und das heiſst denn eben so viel, als: in der
zeitlichen Wahrnehmung kann ich überhaupt
nicht Mich finden, als denjenigen, der ich ei-
gentlich bin. Diese Wahrnehmung, obschon eine in-
nere, hängt doch an lauter Aeuſserlichkeiten; und kann
daher bis zu dem wahren Kern unseres eigentlichen Selbst
nicht durchdringen.
Allein es möchte Jemand einwenden, die Frage sey
lediglich von dem Ich, wie es als ein Gegebenes ge-
funden werde; man könne nicht leugnen, daſs man je-
derzeit sich selbst als denjenigen erblicke, der ein Ge-
[87] schöpf zwar nicht des Augenblicks sey, wohl aber der
ganzen früheren Lebenszeit; und auf solche Weise bilde
sich das Selbstbewuſstseyn derer, die in Pecking, und die
am Orinoko, wie deren, die bey uns leben. Wolle man
fragen, wer würde ich seyn, wenn ich da oder dort ge-
boren wäre? so sey dieses widersinnig, denn es setze
voraus, daſs eben derselbe Ich, welcher bey uns dieser
bestimmte Mensch geworden ist, auch ein ganz Ande-
rer hätte werden können, und daſs der Andere und
Ich einerley seyen. Vielmehr könne die Identität der
Persönlichkeit an gar Nichts vestgehalten werden, wofern
die Bedingungen einer bestimmten Persönlichkeit mit an-
dern vertauscht gedacht würden. Sogar die Meinung,
daſs die nämliche Seele unter verschiedenen Umständen
einen verschiedenen Gedanken- und Begehrungs-Kreis
erlange, könne zugelassen werden, ohne darum das Selbst-
bewuſstseyn in dem einen Gedankenkreise und das in ei-
nem andern dem nämlichen Subject zuzuschreiben; denn
die Seele sey weder das Subject noch das Object des
Selbstbewuſstseyns, da sie im Bewuſstseyn gar nicht vor-
komme. Sonach möge immerhin von der Seele gesagt wer-
den, daſs die ihr angebildete Ichheit ihr zufällig sey, bey-
nahe eben so zufällig aber sey auch der Ichheit die Seele,
dem Selbstbewuſstseyn das unbewuſste Substrat; daher
dürfe man die innere Wahrnehmung nicht verlas-
sen, als welche allein einen Jeden lehren könne,
wer er sey; und welche mit Hülfe der Erinnerung aus
dem früheren Leben ihn dieses auch bestimmt genug
lehre.
Wir haben hier zwey verschiedene Ansichten ein-
ander gegenüber gestellt, deren jede wir noch genauer
prüfen müssen, und zwar — welches wohl zu merken, —
hier noch nicht in der Absicht, zu entscheiden, welche
von beyden der Wahrheit am nächsten komme, sondern,
welche jetzo zunächst müsse vestgehalten werden, um
von dem Gegebenen in unserm Nachdenken auszu-
gehn, ohne einen Sprung zu machen.
[88]
§. 25.
Käme es darauf an, die erstere Behauptung annehm-
lich vorzustellen: so würden sich viele bekannte Meinun-
gen von der Vernunft und Freyheit, nebst ihren Formen
und Gesetzen, als von unserer höhern, unzeitlichen, durch
intellectuale Anschauung zu erkennenden Natur, im Ge-
gensatze gegen die empirische Auffassung unserer Indi-
vidualität, hiebey benutzen lassen. Ich erwähne dersel-
ben nur, um zu erinnern, daſs dergleichen Lieblingsmei-
nungen mancher Personen auf den Gang der Speculation
nicht den geringsten Einfluſs haben dürfen.
Demjenigen, was in der innern Wahrnehmung un-
zweydeutig gegeben ist und unwillkührlich gefunden wird,
scheint ohne Zweifel die zweyte Behauptung angemesse-
ner als die erste.
Fragt man im gemeinen Leben jemanden, wer er
sey, so nennt er Stand und Namen, Wohnort und Ge-
burtsort. Diese und andre äuſserliche Bestimmungen sei-
ner selbst leiten ihn auch im Handeln. Er erfüllt sei-
nen individuellen Beruf, seine Familienpflichten; und
je mehr er seiner besondern Stellung in der Welt ge-
mäſs sich beträgt, um desto verständiger finden wir ihn.
Wollte er einen andern Begriff von sich selbst bey sei-
nen Entschlieſsungen zum Grunde legen, wollte er einen
Augenblick von seiner Individualität abstrahiren: wir wür-
den bald sagen, er vergesse sich, er sey ein Thor.
Haben wir denn nun auſser dieser individuellen Ich-
heit noch eine andre? Wenn wir einmal eingestehen
müssen, daſs unser zeitlich bestimmtes Individuum Wir
selbst ist, und wenn wir rückwärts, so oft wir unbefan-
gen von uns selbst reden, Niemanden sonst, als eben
dieses Individuum im Auge haben: wozu soll es denn füh-
ren, daſs man in der Philosophie von diesem nämlichen
Individuum zu abstrahiren versucht? Und ist es nicht
schon im gemeinen Leben ein Irrthum, wenn man die
Umstände des Lebens, die freylich hätten anders kom-
[89] men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges
betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um-
ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene
Person kennen lernen? —
Gewiſs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon
tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu
vollenden. Aber
Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung
finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muſs
die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als
bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor-
aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so
unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er-
innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei-
ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, daſs
ich nicht genau wüſste, Wen ich eigentlich meinte, falls
ich von mir als Individuum redete.
Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner
selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen,
und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet
sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un-
aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im
Selbstbewuſstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes,
Bestehendes, und schon Vorhandenes.
Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit;
es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und
einem Realen.
Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen,
Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine
Persönlichkeit bilden, wofern nicht das Subject vorhan-
den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum
innerlichen Schauspiele dienen.
Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um
uns selbst, ist es zufällig, was als Gewuſstes sich darbie-
ten möge; darum abstrahirt man von den besondern Be-
stimmungen des Gewuſsten, und faſst bloſs das Verhält-
[90] niſs des innerlichen Wissens zu irgend einem beliebigen
inneren Verlauf von objectiven Erscheinungen, als Cha-
rakter der Ichheit auf.
Sechstens: die eben erwähnte Abstraction reicht noch
nicht hin. Das Ich fände sonst Sich als eine Reihe wan-
delbarer Erscheinungen, wenn schon ohne nähere Be-
stimmung, was für eine Reihe dies seyn möge. Das Sub-
ject kann aber sich selbst nichts gleich setzen, was nicht
eben so einfach ist, als es selbst. Folglich muſs nicht bloſs
die Mannigfaltigkeit individueller Bestimmungen, sondern
auch der allgemeine Begriff dieser Mannigfaltigkeit, aus
der Ichheit ausgeschieden werden. Und so bleibt denn
für das reine Ich nichts übrig, als die bloſse Identität des
Objects und Subjects.
Da sind wir denn wieder angelangt bey dem oben
erwähnten grammatischen Begriff der ersten Person; nur
noch mit der negativen Bestimmung, daſs diese erste
Person als Sich selbst nichts von allen dem denken
könne, was ihr auf individuelle Weise anzuhängen
scheint.
Man bemerke wohl, daſs wir von der Einheit des
Subjects, des innerlichen Wissens, ausgegangen sind,
um die Mannigfaltigkeit des objectiven auszustoſsen. Wir
haben dabey angenommen, daſs in dem activen Wissen
um sich selbst Niemand eine Vielheit finde, daſs er viel-
mehr sich als Einen Wissenden betrachte, wenn schon
eine Mannigfaltigkeit dessen, was er von sich wisse, ihm
vorschwebe. — Selbst unsere Träume eignen wir uns
selbst zu, so sehr wir über das Object lachen, was wir
selbst darstellen würden, wenn wir wachend dieselben
wären, als die wir uns im Traume gebehrden. Wie wir
nun von dieser erträumten Individualität abstrahiren, um
wachend den Begriff von uns selbst zu bilden; — wie
jeder, nachdem er sich übereilt hat, vollends der Reuige,
der Büſsende, indem er Vergebung der Sünden bittet,
sehr gern von den individuellen Zügen seiner Persön-
lichkeit abstrahiren mag, die ihn als einen Thoren, oder
[91] als einen Sünder bezeichnen; wie er einen Kern seines
wahren Wesens annimmt, aus welchem bald das Bes-
sere hervortreten werde: so sollen wir in der Speculation
von aller Individualität abstrahiren, weil wir dem letz-
ten, inwendigsten Kern unserer selbst, der Selbstbe-
schauung, nichts buntes und vielfältig wandelbares gleich
setzen können, und weil ein mannigfaltiges Objective im
Ich, vermöge der Gleichheit mit dem, sich selbst betrach-
tenden Subject, auch dieses in ein Aggregat von allerley
Handlungen des Wissens zerspalten würde; wobey die
Einheit des Ich gänzlich verloren ginge, für welche doch
die eigne Selbstauffassung eines Jeden sich verbürgt.
§. 26.
Faſst man die vorstehenden Ueberlegungen, welche
Jeder für sich durch ursprüngliche Besinnung
auf Sich selbst, zur Reife bringen muſs, — nochmals
zusammen, so ergiebt sich:
Die philosophische Bestimmung des Ich, als Identi-
tät des Objects und Subjects, scheint sich dadurch vom
Gegebenen zu entfernen, daſs sie die zeitliche Wahr-
nehmung zurückstöſst. Aber hiedurch vollendet sie nur
das, und spricht rein aus, was wir im gemeinen Selbst-
bewuſstseyn unbestimmt beginnen. Nämlich wir setzen
in jedem Augenblick Uns als bekannt voraus; und be-
trachten die neuen Bestimmungen, welche der Augen-
blick bringt, als zufällig; so daſs wir vollkommen Die-
selben geblieben wären, wenn schon ganz andre Begeg-
nisse uns widerfahren seyn möchten. Daraus entsteht
ein Begriff von uns selbst, der sich, näher betrachtet,
mit gar keinen Zufälligkeiten, weder vergangenen, noch
künftigen verträgt.
Weil nun die zeitliche Wahrnehmung, oder der
innere Sinn, von der eigentlichen Selbstauffassung hin-
weggewiesen worden ist: so scheint es allerdings, als hät-
ten wir zu dieser Selbstauffassung ein ganz eigenes Grund-
vermögen. Und weil es denn doch etwas schwer ist zu
sagen, was eigentlich für einen Gegenstand die reine
[92] Selbstanschauung erblicke (hier nämlich wird eine Ver-
legenheit gefühlt, welche von den, im nächsten Capitel
zu entwickelnden, Widersprüchen im Begriff des Ich
herrührt): so entsteht eine Neigung, das reine Ich mit
allerley Prädicaten zu begaben, welche die Quelle vieler
Fehlschlüsse (unter andern bey Fichte) geworden ist.
Hier nun ist der Ort, an Kants Behauptung zu er-
innern, das Ich sey eine rein intellectuelle Vorstellung,
aber zugleich die ärmste unter allen. Durch die erste
Hälfte der Behauptung wird zugegeben, daſs man den
Begriff des Ich nicht durch innere Wahrnehmung be-
stimmen könne. Die zweyte Hälfte mag diejenigen war-
nen, welche glauben, den Inhalt der Vorstellung des rei-
nen Ich ohne Schwierigkeit angeben zu können. Uebri-
gens ist hier ein doppelter Fehler begangen; theils in der
übereilten Annahme eines reinen intellectuellen Vermö-
gens *); theils in dem Vergessen des grammatischen Be-
griffs des Ich, welcher durch den Gegensatz und die Ei-
nerleyheit des Objects und Subjects, der Speculation mehr
zu thun giebt, als zahllose andre, an Inhalte viel reichere
Begriffe.
Wer aber die vorhin bemerkten Schwierigkeiten,
sich von den individuellen Bestimmungen des Ich zu
trennen, wohl im Auge hat, und überdies bedenkt, daſs
in dem speculativen Begriffe vom Ich jene Abstraction
vom Individuellen allerdings noch weiter getrieben wird,
als sie im gemeinen Bewuſstseyn vorkommt: der kann
schon errathen, daſs die Beziehungen der Ichheit auf die
Individualität sich nur verbergen, nichts destoweniger aber
vorhanden sind; und daſs der Erfolg der Speculation kein
andrer seyn kann, als eben diese Beziehungen in ihrer
Nothwendigkeit zu offenbaren, womit denn das Grund-
vermögen der reinen Selbstauffassung verschwindet, und
der innere Sinn seine gehörige Erklärung erhält. So nun
ist es in der That. Die philosophische Bestimmung treibt
[93] nur die gemeine Vorstellung vom Ich aufs äuſserste, um
sie an offenbare Unmöglichkeiten anstoſsen zu machen;
woraus sich ergiebt, daſs der Begriff des Ich, der ein
täuschendes Erzeugniſs unseres Denkens war, einer Ver-
besserung bedarf, und daſs die zum Irrthum führende
Dunkelheit des gemeinen Bewuſstseyns hier, wie in an-
dern Fällen, durch Philosophie erleuchtet werden muſs.
Wir bleiben also für jetzt bey der Erklärung: das
Ich ist die Identität des Objects und Subjects; nachdem
wir gesehn haben, daſs dieselbe für den Anfang der
Untersuchung einzig zulässig ist. Wir werden die
Widersprüche entwickeln, die hierin liegen. Wir werden
aus diesen Widersprüchen erkennen, was in dem Be-
griffe des Ich muſs verändert, und was hinzugedacht wer-
den. Die Leser mögen sich hüten, sich bey dieser Un-
tersuchung nicht von angenommenen psychologischen
Vorstellungsarten beschleichen zu lassen. Das Problem
ist viel zu schwer, als daſs es durch bisher gewohnte
Meinungen zu bezwingen wäre; wohl aber kann es durch
Einmengung derselben verdunkelt und entstellt werden.
Zweytes Capitel.
Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen
Problems, nebst den ersten Schritten zu dessen
Auflösung.
§. 27.
Das Problem entsteht aus den Widersprüchen im
Begriff des Ich; und es ist kein anderes, als, diejenige
nothwendige Umwandlung dieses Begriffs zu finden, wo-
durch die Widersprüche verschwinden.
Die erwähnten Widersprüche lassen sich auf zwey
zurückführen (ungerechnet diejenigen, welche durch das
Nicht-Ich, in Fichte’s Sprache, herbeygeführt werden).
[94]
1) Das Ich erscheint als ein im Bewuſstseyn Gege-
benes, und der Begriff dieses Gegebenen wird für den
vollständigen Ausdruck desselben gehalten. Aber es fehlt
ihm sowohl am Objecte, als am Subjecte, mithin an sei-
ner ganzen Materie.
2) Die vorgegebene Identität des Objects und Sub-
jects widerstreitet dem unvermeidlichen Gegensatze zwi-
schen beyden; mithin ist der Begriff der Form nach un-
gereimt.
Die Erläuterung des ersten Punctes zerfällt wiederum
zwiefach; es muſs sowohl der Mangel des Objects, als
des Subjects nachgewiesen werden.
Zuvörderst: Wer, oder Was ist das Object des
Selbstbewuſstseyns? Die Antwort muſs in dem Satze lie-
gen: das Ich stellt Sich vor. Dieses Sich ist das Ich
selbst. Man substituire den Begriff des Ich, so verwan-
delt sich der erste Satz in folgenden: das Ich stellt vor
das Sich vorstellende. Für den Ausdruck Sich
wiederhohle man dieselbe Substitution, so kommt heraus:
das Ich stellt vor das, was vorstellt das Sich vor-
stellende. Hier kehrt der Ausdruck Sich von neuem
zurück; es bedarf der nämlichen Substitution. Dieselbe
ergiebt den Satz: das Ich stellt vor das, was vorstellt
das Vorstellende des Sich-Vorstellens. Erneuert
man die Frage, was dieses Sich bedeute? Wer denn
am Ende eigentlich der Vorgestellte sey? so kann wie-
derum keine andere Antwort erfolgen, als durch die Auf-
lösung des Sich in sein Ich, und des Ich in das Sich
vorstellen. Dieser Cirkel wird ins Unendliche fort
durchlaufen werden, ohne Angabe des eigentlichen Ob-
jects in der Vorstellung Ich. — Der Genauigkeit wegen
kann man noch bemerken, daſs in den nachgewiesenen
Umwandlungen des ersten Satzes eine Bestimmung aus-
gelassen ist, die hier nichts zur Sache thut; nämlich daſs
das Ich nicht überhaupt irgend ein Ich, sondern Sich,
mithin nicht bloſs das Sich vorstellende, sondern sein
eignes Sich-Vorstellen zum Gegenstande hat. Allein
[95] dieses gehört zu der geforderten Identität, folglich zu dem
zweyten formalen Widerspruch. Hier kommt es uns
darauf an, daſs jede Angabe dessen, was das Ich ei-
gentlich vorstelle, wiederum die Frage nach demselben
in sich schlieſse; folglich die Frage schlechterdings un-
beantwortlich ist. Statt der Antwort entsteht eine unend-
liche Reihe, die sich niemals nähert, sondern von ihrer
gesuchten Bedeutung immer gleich weit entfernt bleibt.
Diese Reihe ist nun schon darum fehlerhaft, weil das
Selbstbewuſstseyn von einer solchen Entwickelung in viele
Glieder, oder von einer solchen vielfachen Einschaltung
in sich selbst, nichts weiſs. Aber überdies ist sie wider-
sinnig, weil anstatt des wirklich vollbrachten Sich-Selbst-
Setzens nichts anderes herauskommt, als eine ewige Frage
nach sich selbst.
Nicht besser ergeht es auf der Seite des Subjects.
Das Ich muſs seinem Begriffe nach, von sich wissen; was
in ihm als Subjectives gedacht wird, muſs wiederum ob-
jectiv, muſs ein Vorgestelltes werden für ein neues Wis-
sen. (Ein Umstand, den Fichte in seinen ältern Schrif-
ten, ohne ihn vollständig zu erwägen, vielfältig zur Me-
thode des Fortschreitens in der Nachforschung benutzt
hat.) Man nehme also an, das Ich sey objectiv gege-
ben; so ist es Sich selbst, und keinem Anderen, gege-
ben; es wird von Sich selbst vorgestellt. Der Actus die-
ses Vorstellens darf aber auch nicht ausbleiben; was das
Ich ist, das muſs es, seinem Begriffe nach, auch wissen;
was es nicht weiſs, das ist es nicht. Es ist nun wirk-
lich: Sich vorstellend; als ein solches Sich vorstellendes
muſs es demnach abermals vorgestellt werden. Aber auch
das neue Vorstellen, welches hiezu erfordert war, muſs,
so gewiſs es ein wirkliches Handeln des Ich ist, wiederum
Object werden, für ein noch höheres Wissen. Und die-
ses Wissen verlangt, um ein Gewuſstes zu werden, fer-
ner einen Actus derselben Art. Diese Reihe läuft offenbar
ebenfalls ins Unendliche; und sie sollte es eben so we-
nig wie die vorige; denn auch hier weiſs das Selbstbe-
[96] wuſstseyn, zwar in seltenen Fällen von einigen wenigen
Wiederhohlungen der Reflexion, die das Wissen selbst
zum Gegenstande einer neuen Betrachtung macht, aber
es weiſs nichts von der Nothwendigkeit solcher Wieder-
hohlung, um von uns selbst zu reden; viel weniger kennt
es eine unendliche Fortsetzung der Reihe. Noch mehr;
die wiederhohlte Rückkehr zu uns selbst, wobey wir im-
mer wiederum Gegenstand des Bewuſstseyns werden, ver-
braucht Zeit; aber der Begriff des Ich läſst uns gar keine
Zeit; ihm gemäſs muſs das Ich, falls es überhaupt ge-
dacht wird, alles dies Denken des Denkens vollständig
in sich schlieſsen; sonst ist es kein Ich, denn es fehlt
ihm an irgend einer Stelle das Wissen um sich selbst.
Wir sehn also, wie das Ich nach dieser Betrachtungsart,
wenn es auch sein Object wirklich gefunden hätte, den-
noch für sich selbst eine unendliche, und eben deshalb
eine niemals vollbrachte und nimmer zu vollbringende
Aufgabe seyn würde. —
Hat nun schon die doppelte Unendlichkeit, in wel-
che das Ich sich hinausstreckt, deutlich genug gezeigt,
daſs durch diesen Begriff, so wie er gefaſst ist, wirklich
nichts begriffen wird: so treibt vollends die Forderung
der Identität aller Glieder der unendlichen Reihen, die
Ungereimtheit aufs höchste. Zwar hier möchte Jemand
sich die Sache leicht machen wollen. Es ist ja so schwer
nicht, sich ein Ding zu denken, das mit dem Wissen
von sich selbst begabt sey! Auf die Weise lassen die
Dichter etwan einen Baum von Sich sprechen. Dieser,
seiner selbst bewuſste Baum, was ist er denn eigentlich?
Erstlich ein Baum, und dann zweytens die Vorstellung
eines solchen Baums; auch, wenns hoch kommt, noch
eine Vorstellung von der Vorstellung des Baums. Aber
der Baum ist nicht die Vorstellung von dem Baume,
und, rückwärts, die Vorstellung eines solchen Baumes
ist nicht der Baum! Gleichwohl soll die erwähnte Vor-
stellung, wenn sie sich ausspricht, von dem Baume re-
den als von Sich selbst. Die zwey völlig verschiede-
nen,
[97] nen, und bloſs in Gedanken zusammengeklebten, der
Baum, und ein gewisses Vorstellen von demselben Baume,
werden für Eins ausgegeben. Diese Einheit ist ein lee-
res Wort ohne allen Sinn; und daraus sieht man, daſs
es unüberlegt war, dem ersten besten, durch seine
eigenthümliche Qualität schon bestimmten, Ge-
genstande, Selbstbewuſstseyn zuschreiben zu wollen. Man
setze statt des Baumes die Seele, als ein Wesen mit al-
lerley Kräften, das unter andern auch Selbstbewuſstseyn
habe. Man wird gerade den nämlichen Fehler begangen
haben. Die Seele, als ein solches und kein anderes We-
sen, soll ein Bild von sich selbst mit sich tragen; und
damit ein Bild der Art vorhanden seyn könne, wird ein
eignes Vermögen angenommen, welches sey ein Vermö-
gen ein solches Bild zu tragen oder vorzustellen. Nun
meint man, die Seele wisse von sich, weil man in Ge-
danken eine Summe gemacht hat aus der Seele und aus
dem Vermögen, welches ein Bild von der Seele bereitet.
Man dringt wohl gar darauf, daſs beydes zusammen nur
Ein reales Wesen seyn solle. Und jetzt beantworte man
nur noch die Frage, was für ein Wesen das sey? Man
gebe die Qualität desselben an. Die Antwort wird sich
in zwey Theile spalten; die Seele, und das Vorstellen
dieser Seele. Daraus wird nimmermehr Eins, so wenig
wie aus der Person, die sich malen läſst, und dem ge-
genüber sitzenden Maler. — Zum Glück weiſs unser
Selbstbewuſstseyn auch gar nichts von dem Wesen un-
serer Seele zu sagen; und um so eher dürfte man in der
Psychologie jenes Grundvermögen der Selbstauffassung
sparen, vor welchem das, was wir wahrhaft sind, sich
doch nicht sehn läſst.
Nach dieser Digression kehren wir zurück zum Be-
griff des Ich. Derselbe ist weit entfernt, uns in die eben
erwähnte Verlegenheit zu setzen. Ganz ein anderes ist,
was er erheischt. Das Object soll keinesweges ein Ding
an sich, es soll das wahre Subject selbst seyn. Da nun
auch das Subject nichts für sich allein, sondern lediglich
I. G
[98] das Vorstellen seiner selbst ist, so soll eben dieses Vor-
stellen, als ein Erzeugen des Bildes, auch das Vorge-
stellte, das Bild seyn. Die That soll selbst das Gethane,
die Bedingung soll das Bedingte, der wirkliche Actus
des Vorstellens soll das, als solches nichtige, Bild
selber seyn! Will man der Strenge dieser, offenbar un-
gereimten, Forderung sich entziehen? Wohlan! so ist
das Object erstlich ein Reales für sich, und nun kommt
zweytens das Subject mit einer Abspiegelung jenes Rea-
len dazu. Da hat man das Ich entzweyet, und ist gerade
in das vorhin gerügte Widersinnige des selbstbewuſsten
Baumes verfallen. Es bleibt also dabey, daſs das Abge-
spiegelte ohne alle Vermittelung der Spiegel selbst sey;
daſs Ich Mich nur alsdann finde, wann das Vorstellen,
anstatt von seinem Vorgestellten unterschieden zu wer-
den, vielmehr eben als actives Vorstellen sein eignes Vor-
gestelltes ist; folglich die Entgegengesetzten eben als Ent-
gegengesetzte Einerley sind: — wobey denn alle jene Be-
griffe, von der That und dem Gethanen, der Bedingung
und dem Bedingten, dem Wirklichen und seinem Bilde,
die nur in ihren Gegensätzen einen Sinn hatten, in Un-
sinn übergehen müssen. Und die vorhin entwickelten
unendlichen Reihen wiederhohlen diesen Unsinn ins Un-
endliche. —
Wäre die Rede vom viereckigten Cirkel: so würde
sich niemand über dessen Möglichkeit den Kopf zerbre-
chen. Aber die Rede ist vom Ich, das wir jeden Augen-
blick aussprechen; von uns selbst, so fern wir uns das
Bewuſstseyn unsrer selbst zuschreiben. Die Frage ist,
Wen wir eigentlich meinen, indem wir von uns reden?
Und wenn wir diesen Wen gefunden hätten, was wir
denn beginnen, indem wir ihm das Wissen von sich
selbst beylegen? Er, der dieses Prädicat empfangen soll,
muſs ohne Zweifel dafür empfänglich seyn. Er muſs also
kein Ding an sich, er kann aber auch nicht das Von-
Sich-Wissen selber seyn. Denn wir sehen nun endlich
deutlich genug, daſs dieses Von-Sich-Wissen auf etwas
[99] Vorauszusetzendes, und bis jetzt Ausgelassenes, sich be-
zieht; und daſs man die Auslassung durch eine Ergän-
zung verbessern muſs. Erst müssen gewisse objective
Prädicate herbeygeschafft werden; diese aber dürfen nicht
von der Art seyn, daſs sie für sich allein bestünden, und
uns am Ende in die beschämende Nothwendigkeit setz-
ten, das Darum-Wissen wie ein Fremdes nur gerade
daranfügen zu müssen. Sondern aus der objectiven
Grundlage muſs jenes wunderbare, in sich zurücklaufende
Wissen von selbst hervorkommen; und zwar dergestalt,
daſs vor diesem Wissen sich das Objective gleichsam
zurückziehe, damit das Ich nicht Sich als irgend ein be-
stimmtes Anderes, sondern als Sich selbst antreffen möge.
Diese vorläufigen Vermuthungen werden wir nun ge-
nauer auszuführen haben.
Anmerkung.
Es wird erlaubt, und beynahe nothwendig seyn, daſs
ich hier meinen Vortrag unterbreche. Denn der Leser
muſs hier anhalten; er muſs sich das Vorgehende voll-
kommen überlegen und einprägen; sonst kann er nicht
Einen Schritt weiter gehen. — Daſs ich ihn bisher nicht
zum Lichte, sondern vielmehr in die dunkelste Nacht ge-
führt habe, weiſs ich sehr wohl. Das muſste gesche-
hen; die Natur der Sache bringt es mit sich; und für
Denjenigen, der hier ungeduldig wird, rede ich kein Wort
weiter. Wohl aber könnte auch der Geduldigste ermü-
den, und sich in einen Zustand versetzt fühlen, der eine
Art von Krankheit ist; ich kenne diesen Zustand aus Er-
fahrung, und weiſs, wie schwer es ist, ihn zu ertragen,
wenn man nichts destoweniger in der Zeit fortleben und
forthandeln soll. Daher werde ich auf die dunkle Stelle
schon jetzt ein Licht fallen lassen, das von Untersuchun-
gen ausgeht, die erst viel später an die Reihe kommen
können.
Die Frage: wer bin ich? ist für den gewöhnlichen
Menschen in jedem Augenblick auf individuelle Weise
G 2
[100] zulänglich beantwortet; nimmt man aber die individuellen
Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts übrig, als eine
leere Stelle, und diese läſst sich schlechterdings nicht
auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse
man die Frage nun so: wie kommt der Mensch dazu,
jene Stelle, die für sich allein leer seyn würde, zu setzen,
sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen, sie als
die erste in seinem ganzen Vorstellungskreise zu be-
trachten, für die alles Andre ein Zweytes, Drittes, kurz,
ein Aeuſseres ist; und endlich sie als den Punct anzu-
sehn, worin Wisser und Gewuſstes unmittelbar zusam-
menfallen?
Diese Frage zielt, wie es seyn muſs, nicht mehr auf
ein Reales, sondern lediglich auf ein Formales; und sie
fällt nun zurück in das weite Gebiet der Untersuchung
über den Ursprung der Formen in unserem gesammten
Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik
des Geistes nicht einmal anfangen läſst.
Der formalen Constructionen, in welchen das Ich
eine Stelle — nicht hat, sondern ist: giebt es mancher-
ley; verschieden an Einfluſs und Werth; mehr oder min-
der zahlreich nach dem erreichten Grade der Cultur. Die
bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den
zeitlichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist
der sinnliche Raum.
Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu
begränzen und zu sondern, so zieht sie auch Linien von
diesen Objecten gegen den Mittelpunct hin, worin der
Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem
Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile
seines Leibes; durchläuft ein Object die Linie dahin, so
endet die Zeitreihe der Wahrnehmungen mit einer neuen
Empfindung (etwa des Stoſses oder Schlages); bewegt
sich der Mensch, so verändert sich das ganze System
seiner Gesichtslinien; begehrt er und handelt, so wird
die Vorstellung des Begehrten der Anfangspunct einer
Reihe, die mit einer Veränderung in der Anschauung des
[101] Aeuſsern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes,
Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen be-
weglichen Punct; von welchem an, jedem Auſsendinge
seine Entfernung bestimmt wird; in welchen hinein
er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die ihm
vorschweben, verlegen muſs, weil sie ihn begleiten, und
drauſsen keinen Platz haben. So wird der Mensch in
seinen eignen Augen ein vorstellendes Wesen; und von
da zu der Bemerkung, daſs unter den Vorstellungen auch
eine des Vorstellenden vorkomme, ist nur noch ein leich-
ter Schritt.
Es möchte nun scheinen, als klebe die Vorstellung
des Ich an dem sinnlichen Raume; allein nichts weniger!
Es giebt eine Menge ähnlicher, nur nicht so ausgebilde-
ter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der Bür-
ger mitten in bürgerlichen Verhältnissen; er hat dort ei-
nen Rang und Namen; Sich findet der thätige Mann in
der Mitte andrer Kräfte; der Gelehrte in dem Kreise an-
drer Gelehrten; der sittlich und religiös fühlende Mensch
findet Sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber
hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich
darin einnimmt, nicht so leicht zu bestimmen; hier nimmt
die Frage: wer bin ich? eine ernste Bedeutung an; auf
die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.
Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaf-
fen sind, welche im Ich zusammentreffen und sich kreu-
zen; und je nachdem sie in jedem bestimmten Augen-
blick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der
Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich
schwankt das Ich unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches,
bald ein vernünftiges, bald stark, bald schwach; es scheint
bald auf der Oberfläche, bald in einer unergründlichen
Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmt-
lich aus der angedeuteten Lehre; und ebenso der son-
derbare Umstand, daſs die gewöhnliche Art zu reden Al-
les dem Ich zueignet, selbst das, was der denkende
Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre Wesen
[102] des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht bloſs mein
Leib, sondern auch mein Geist, meine Vernunft,
mein Wille, ja sogar: mein Selbstgefühl, mein
Selbstbewuſstseyn, mein Leben, und mein Tod.
Denn alle diese Bestimmungen fallen in den Punct, wel-
cher Ich heiſst.
Der Leser kann nun vermuthen, daſs diese Ansicht
vom Ich wohl die richtige seyn möge, aber er weiſs von
dem Allen noch nichts; versteht auch noch nicht, wie
die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe möglich ist;
begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr
wenig. Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze
Anmerkung bey Seite zu setzen, und den Faden des
frühern Vortrags wieder aufzunehmen. Derselbe blieb
liegen in der tiefsten Finsterniſs; wir müssen daher sehr
langsam fortschreiten.
§. 28.
Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt,
hat ohne Zweifel Jeder im Auge, der von Sich redet;
denn ein Vorstellen ganz ohne Gegenstand kann doch
die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen also zu-
erst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu
bestimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter
daraus werde.
Sogleich nun wird das Geständniſs unvermeidlich,
daſs wir von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ab-
gewichen sind. Denn nicht ein unbekanntes Object soll-
ten wir annehmen, sondern uns damit begnügen, daſs
das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; daſs
das Ich nicht etwas Anderes, sondern Sich setze.
Dieses Geständniſs darf jedoch nicht im geringsten
befremden. Denn es versteht sich von selbst, daſs ein
widersprechender Begriff, wenn er nicht ganz verworfen
werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden muſs.
Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn
[103] daſs in dem gegebenen Begriff das Object fehlt, haben
wir oben gesehn.
Nichts destoweniger bringt die Abweichung vom Ge-
gebenen uns in Verlegenheit. Vom dem Vorstellen ei-
nes unbekannten Objects lieſse sich gar viel reden, ohne
daſs dies mit dem vorliegenden Problem nur den minde-
sten Zusammenhang hätte. Wir finden uns in Gefahr,
in ein willkührliches Denken hineinzugerathen, sobald wir
den Begriff des Ich nicht in seiner Strenge vesthalten.
Dieses also darf nicht vernachlässigt werden. Und
wir können demnach dem Ich nur unter der Voraus-
setzung ein Object leihen, daſs es aus der Selbst-Auf-
fassung wieder verschwinde.
Verschwindet es aber: so entsteht von neuem das
Bedürfniſs eines Objects; obgleich nicht gerade des
nämlichen, welches wir zuerst eingeschoben hatten.
Es steht uns also frey, mehrere und verschie-
dene Objecte abwechselnd dem Ich zum Grunde zu le-
gen. Und nicht bloſs steht es frey, sondern bey näherer
Ueberlegung findet sich dieses durchaus nothwendig.
Wir würden nämlich im Denken gar nicht von der
Stelle rücken, und die Auflösung des Problems nicht im
mindesten fördern, wofern wir uns fortdauernd im Kreise
jener beyden Reflexionen herumtreiben wollten: der einen,
daſs das Ich eines von ihm zu unterscheiden-
den Objects bedürfe; der andern, daſs das Ich
kein von ihm unterschiedenes Object als Sich
selbst ansehn könne. Diese Betrachtungen würden
uns dahin bringen, das geliehene Object wieder abzuson-
dern, und es dann nochmals herbeyzubringen, um es
nochmals wegzunehmen; eine Oscillation ganz ohne Ende
und ohne Gewinn. Wollten wir dabey das Successive
unseres Nachdenkens aufheben, und nach dem Resultat
fragen, so wäre es der klare Widerspruch: zum Ich
gehört ein fremdes Object, und gehört auch
nicht zu ihm. Ein Widerspruch, den man, so wie er
vorliegt, durch keine Distinction lösen kann; denn so
[104] lange wir nur von einem einzigen fremden Object reden,
ist gar nicht abzusehen, woher eine Modification kom-
men sollte, vermöge deren dasselbe in einer Rücksicht
dem Ich angehören, und in einer andern Rücksicht von
ihm ausgeschieden werden könne.
Hingegen sobald wir uns besinnen, daſs, indem ein
geliehenes Object wieder ausgesondert werde, dagegen
ein anderes und wieder ein anderes eingeschoben werden
könne: geht uns ein Licht auf. Es zeigt sich nämlich
jetzt soviel, daſs die Ichheit auf einer mannigfaltigen
objectiven Grundlage beruht, wovon jeder Theil
ihr zufällig ist, sofern die übrigen Theile noch im-
mer dem Ich zur Stütze dienen würden, falls jener weg-
genommen wäre. Ich setze mich als dies oder jenes,
aber ich bin an keines gebunden, so lange ich wechseln
kann. So ruhet ein Tisch, der viele Füſse hat, zwar
eigentlich auf allen zugleich, doch könnte er wechselnd
jeden einzelnen entbehren, weil ihn die übrigen noch tra-
gen würden.
Daſs dieses zwar bey weitem nicht die vollständige
Auflösung des Räthsels, aber doch der nächste nothwen-
dige Schritt zu derselben ist, zeigt sich noch klärer durch
folgendes: Jedes fremde Object, was als das letzte Vor-
gestellte im Selbstbewuſstseyn angesehen wird, bedarf
durchaus der vorhin erwähnten Modification; es muſs in
gewisser Rücksicht für dasjenige gelten können, was vor-
gestellt wird, indem wir uns selbst vorstellen; in anderer
Rücksicht aber wiederum als dasjenige zu erkennen seyn,
was nicht Wir selbst ist. Woher soll nun diese Modi-
fication, diese Verschiedenheit der Rücksichten ihren Ur-
sprung nehmen? Sollen wir etwan selbst, sie willkühr-
lich erdenken, willkührlich gebrauchen? Aber auf dieser
Modification beruht das Selbstbewuſstseyn, als Gegebenes,
welches keinesweges unserer Willkühr Preis gegeben ist.
Soll ein Gesetz, eine ursprüngliche Form unseres Gei-
stes erdacht werden, wornach wir unwillkührlich, und un-
serer eignen Thätigkeit uns nicht bewuſst, ein Fremdes
[105] in die Bestimmung unseres Selbst bald aufnehmen, bald
ausstoſsen? oder auch in verschiedener Rücksicht aufneh-
men, und ausstoſsen? Aber so lange dieses fremde Ob-
ject nur ein einziges ist, kann keine Form unsres Gei-
stes den Widerspruch erzwingen, daſs Ich dasjenige sey,
was eben nicht Ich selbst, sondern ein Fremdes ist. Auf
gar keine Weise kann die eigne Qualität des Fremden
in die Ichheit eingelassen werden! Erst dann, wenn meh-
rere Objecte vorgestellt werden, gehört Etwas an ih-
nen dem Vorstellenden; nämlich ihre Zusammenfas-
sung in Ein Vorstellen; und was aus dieser weiter
entspringt. Daraus muſs also auch die gesuchte Modifi-
cation hervorgehn, durch welche an den verschiedenen
Objecten etwas zu bemerken sey, das keinem von ih-
nen einzeln genommen zukommen würde, das also
eben darum vielleicht Uns angehören könnte. Dabey
bleibt denn die Vorstellung Meiner selbst zwar abhängig
von der Vorstellung der Objecte, — sie bezieht sich auf
dieselben, — aber sie fällt dennoch nicht damit zu-
sammen *).
Wir wollen uns erlauben, diese ersten Anfänge der
Speculation sogleich mit der Erfahrung zu vergleichen.
Irgend eine Aehnlichkeit muſs doch schon zu bemerken
seyn. Ich finde mich denkend, wollend, fühlend. Aber
Denken ist das Uebergehen von Gedanken zu Gedanken,
Wollen das Fortstreben aus einer Lage der Vorstellun-
gen in eine andere; hier bezieht sich das Uebergehen auf
eine Mannigfaltigkeit im Objectiven, das Fortstreben des-
gleichen; nicht das Objective selbst, wohl aber das Um-
herwandeln unter seiner Mannigfaltigkeit schreiben wir
Uns zu. Was das heiſse, Ich finde mich fühlend, mag
etwas schwerer zu erklären seyn; doch ist hier soviel
sichtbar, daſs keinesweges das Gefühlte (das Objective
[106] in eigner Qualität), diese Lust oder jener Schmerz, das-
jenige abgiebt, was wir als unser eignes Ich ansehen.
§. 29.
Noch Ein Schritt, und zwar ein sehr wichtiger, ist
nöthig, bevor wir unseren Betrachtungen eine neue
Richtung, und zugleich einen neuen Schwung geben
können.
Die mehrern Objecte (wie sich versteht nicht reale
Gegenstände, sondern bloſse Vorgestellte, als solche),
welche zusammengenommen leisten sollen, was sie ein-
zeln gar nicht vermögen würden, nämlich der bodenlosen
Ichheit den Boden bereiten: taugen offenbar dazu, als
bloſse Summe oder als Aggregat, um gar nichts besser,
wie die einzelnen für sich. Modificiren sollen sie einan-
der gegenseitig; so viel wissen wir schon. Aber wie sie
sich modificiren sollen, das läſst sich aus den nämlichen
Gründen noch bestimmter angeben.
Denken wir uns ein Subject, begriffen im Vorstellen
mehrerer Objecte, und hierin noch ohne Selbstbewuſst-
seyn befangen: so sehn wir sogleich, daſs dasselbe, um
zum Ich zu gelangen, nothwendig aus jener Befangenheit
in gewissem Grade herauskommen müsse. Da möchte
nun Mancher ihm zurufen: hilf Dir selber! Brich die
vorigen Gedanken ab, und komme zu Dir! Aber noch
ohne Rücksicht auf die hier geforderte Freyheit der Re-
flexion, welche gar nicht dazu paſst, daſs das Ich als ein
Gegebenes gefunden wird, hieſse ein solcher Zuruf so-
viel, als: tritt aus dem Denkbaren hinüber in das
Undenkbare, — nämlich in jenen widersprechenden
Begriff des Ich; welcher, um von dem Widerspruche ge-
heilt zu werden, nicht einer Losreiſsung, sondern einer
Anknüpfung an die Objecte bedurfte.
Von den Objecten aus, und durch sie selbst gelei-
tet, müssen wir zu Uns kommen; denn ohne sie ist das
Selbstbewuſstseyn eine Ungereimtheit; und eine Sache der
Freyheit ist es ganz und gar nicht. Wer sich findet in
Schmerz und Elend, wer sich seine Schwäche gesteht,
[107] wer an sich selbst verzweifelt: der findet allerdings Sich,
aber so wie er nicht will, und nicht würde, wenn er an-
ders könnte. Hier ist also auch nicht einmal für die Er-
schleichungen Platz, welche man sonst an das Bewuſst-
seyn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über
sich selbst wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit be-
schaut, der ist wo möglich noch weiter als jene von ei-
nem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber seiner
selbst sich bewuſst ist er dennoch.
Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des
Selbstbewuſstseyns herausgehoben aus der Befangenheit in
den Objecten ihres Vorstellens. Denn die Prädicate zwar,
welche sie in den erwähnten Zuständen sich selbst bey-
legen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem sie
dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt voraus-
gesetzt. Die Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig,
ich bin fröhlich, sind insgesammt synthetisch, denn ihre
Prädicate werden keinesweges angesehen als inhärirend
dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin
klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigen-
schaft bezeichnen, sind dennoch synthetisch, denn sie
stützen sich auf eine Reihe von Erfahrungen und Selbst-
beobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch In-
duction abgezogen ist. Dem gemäſs liegt die Ichheit
nicht in den Auffassungen des objectiven, wie sie denn
auch ihrem Begriffe nach nicht kann; sondern sie bildet
einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich beygelegten
Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung
noch von ihnen zu unterscheiden ist.
Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewiſs
nicht in dem Vorstellen des fremden objectiven begriffen
sind; und wir doch gleichwohl aus diesem nämlichen Vor-
stellen des fremden objectiven, und durch dasselbe, ha-
ben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in die-
sem objectiven der Grund liegen, weshalb wir aus dem
Vorstellen desselben herausgehoben werden. Das Vor-
gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit muſs von sol-
[108] cher Beschaffenheit seyn, daſs es die Fesseln lös’t, in
welchen ein Subject befangen seyn würde, das nur bloſs
Gegenstände, aber niemals Sich, kennen lernte.
Die Forderung, unser Vorgestelltes müsse uns über
sich selbst hinausheben, damit wir zu Uns kommen, ist
eine besondere, enthalten unter einer allgemeinern, wel-
che so lautet: unser Vorgestelltes muſs uns auf
gewisse Weise aus dem Vorstellen seiner selbst
herausversetzen.
Nun ist es ein Widerspruch, daſs irgend ein be-
stimmtes Vorgestelltes A, selbst den Actus des Vorstel-
lens von A zu verändern, oder zu vermindern geeignet
seyn sollte. Auf die Weise müſste A sich selbst entge-
gengesetzt seyn.
Da nun kein Vorstellen, für sich einzeln genommen,
als das Vorstellen eines bestimmten A, oder B, oder C,
und so weiter, uns aus sich selbst herausversetzen
kann: so bleibt nichts übrig, als daſs verschiedenes Vor-
stellen, so fern es durch seine verschiedenen Vorgestell-
ten als ein solches und anderes bestimmt ist, sich gegen-
seitig vermindere; daſs eins uns aus dem andern her-
ausversetze.
Es müssen also die mannigfaltigen Vorstel-
lungen sich unter einander aufheben, wenn die
Ichheit möglich seyn soll.
Dieser Satz ist das Resultat, bey welchem wir ver-
weilen werden. Daſs ihn die Erfahrung bestätigt, läſst
sich sogleich zeigen; daſs er im höchsten Grade frucht-
bar ist, wird sich tiefer unten ergeben.
Die innere Wahrnehmung lehrt, daſs gleich unsre
einfachsten sinnlichen Empfindungen verschiedene Reihen
bilden, deren jede eine zahllose Menge solcher Vorstel-
lungen einschlieſst, die in allen möglichen Graden von
Gegensätzen stehn. Die verschiedenen Farben verdrän-
gen einander im Bewuſstseyn, die Gestalten desgleichen;
nicht minder die verschiedenen Töne, Gerüche, Ge-
schmacks- und Gefühls-Empfindungen. Wir können die
[109] Vorstellung des Blauen nicht vollkommen vesthalten, wenn
die des Rothen dazu kommt; die Contraste beschäfftigen
uns, indem sie uns anstrengen; aber eine bedeutende
Menge des Contrastirenden macht, daſs die Auffassung
erliegt. Auf solche Weise kommt Bewegung ins Ge-
müth; und nicht bloſs Bewegung, sondern auch Bildung.
Diese flüchtige Erwähnung der Thatsachen muſs vorläufig
genügen.
§. 30.
Bey der allgemeinen Gewöhnung, in dem Subjecte
des Bewuſstseyns alle die nöthigen Vermögen, Thätigkei-
ten, Formen und Gesetze anzunehmen, welche die Er-
klärung psychologischer Thatsachen nur immer fordern
möchte, läſst sich auch erwarten, daſs man das nächst-
vorhergehende Räsonnement eines Sprunges beschuldigen
werde; indem es in den Gegensätzen des Vorgestellten
dasjenige suche, was man in der Natur des denkenden
Subjects viel besser voraussetzen könne. Wir wollen
demnach, um den Grund unserer Untersuchung genug-
sam zu bevestigen, uns auf das vermeinte Vermögen der
Selbst-Anschauung noch einmal einlassen, um zu über-
legen, was für ein Vermögen es denn eigentlich seyn
solle.
1) Ein Vermögen, Sich schlechthin zu setzen,
oder auch, das: Ich denke, zu allen unsern Vorstel-
lungen schlechthin von selbst hinzuzusetzen; ein
solches verlangt man nun hoffentlich nicht mehr, da wir
im §. 27. die Masse von Ungereimtheiten gezeigt haben,
welche für real, ja für sein eignes Wesen zu halten,
demjenigen würde angemuthet werden, welcher also Sich
selbst setzen sollte. (Man vergleiche noch §. 26.)
2) Ein Vermögen, erst etwas objectives, etwas an-
deres als das Ich, zu denken, dann aber durch einen
absoluten Aufsprung sich selbst in diesem Den-
ken zu ergreifen, — würde um nichts weiter führen.
Zugegeben, daſs in dem Subjecte ein Vermögen zu ei-
nem solchen Aufsprunge seyn könne (welches aus allge-
[110] mein metaphysischen Gründen schon unmöglich ist): so
möchte immerhin zu der Vorstellung des objectiven noch
die Vorstellung von dieser Vorstellung hinzukommen; da-
mit aber der Vorstellende sie als sein Vorstellen Sich
zueignete, müſste er zuvor Sich gefunden haben;
welches zeigt, daſs die Erklärung das Erklärte voraus-
setzt. Das aber der Vorstellende nicht das Objective,
und dessen Vorstellung, unter einander gleich setzen,
und daraus ein Ich bereiten könne, springt offenbar in
die Augen, da jene zwey nichts weniger als identisch
sind.
3) Aber, nachdem man eingesehen hat, daſs in ei-
ner gegenseitigen Modification mehrerer objectiven Vor-
stellungen allein der Grund des Selbstbewuſstseyns ge-
sucht werden könne: ist nun noch zu besorgen, man
werde sich die Sache leicht machen, und das Modifi-
ciren der mehrern Vorstellungen einem deus ex
machina, einem hinzutretenden Geistesvermögen
von eigends dazu erfundener Beschaffenheit auftragen
wollen. Einen Verdacht dieser Art dürfen wenigstens
Diejenigen gar nicht übelnehmen, welche ganz auf gleiche
Weise zu den Vorstellungen des Erkenntniſsvermögens
das Begehrungsvermögen hinzubringen, damit es die bis
jetzt nur noch erkannten äuſsern Dinge in Gegenstände
der Begierden umpräge!
Die nun von dem Geiste der Naturforschung so ganz
und gar abweichen, mögen denn überlegen, was wohl
für eine Modification der vorhandenen Vorstellungen je-
nes hinzutretende Vermögen bewirken solle? Eine sol-
che muſs es offenbar seyn, wobey das eigenthümliche
Was einer jeden dieser Vorstellungen beseitigt, und et-
was von ihnen allen verschiedenes, nämlich die Ichheit,
aus ihnen herausgezogen werde. Nun hat man zwar wohl
in der Naturlehre Beyspiele, daſs gewisse Stoffe, vermöge
ihrer innern Gegensätze, wenn sie zusammenkommen,
mit einander ein Drittes bilden, worin die Eigenschaften,
welche jedes zuvor allein genommen zeigte, verschwin-
[111] den, um ganz neuen Platz zu machen. Da äuſsern sich
diese Stoffe selbst als Kräfte; — und es mag wohl
erlaubt seyn, dieses Gleichniſs als eine entfernte An-
deutung dessen zu benutzen, was unser mannigfaltiges
Vorgestelltes, indem es sich in Einem Vorstellen zusam-
menfindet, mit einander macht; um so mehr, da wir an
den Harmonien und Disharmonien, nicht bloſs zusam-
mentreffender Töne, sondern aller Arten von Gegenstän-
den, welche ästhetischer Verhältnisse fähig sind, die kla-
ren Beyspiele davon haben. — Aber nimmermehr ist er-
hört gewesen, daſs aus Stoffen, die sich passiv verhal-
ten, eine hinzukommende Thätigkeit etwas gemacht
hätte, das der Beschaffenheit dieser Stoffe selbst entge-
gengesetzt gewesen wäre. Dazu gehört eine innere Ver-
wandlung; und diese ist einer neuen Production gleich
zu achten. Kann irgend ein Geistesvermögen aus
Vorstellungen, die zum Nicht-Ich zu zählen
sind, die Ichheit bereiten: so mag dasselbe Ver-
mögen immerhin auch ein Ich absolut consti-
tuiren. Da aber das letzte, laut den geführten Be-
weisen, ein völliger Ungedanke ist, so ist es auch das
erste.
Man lasse also endlich die Geistesvermögen, wo-
durch unser Vorgestelltes, als ob es ein todter Vorrath
wäre, soll umgebildet werden, ein- für allemal gänzlich
fahren! Dagegen besinne man sich auf das Leben und
Streben in jeder einzelnen Vorstellung; welches Leben
genau zusammenhängt mit der Qualität des Vorgestell-
ten, und sich daher mit andern Vorstellungen nur in so
fern verträgt, als zwischen den Vorgestellten keine Ge-
gensätze sind. So verträgt sich der Ton mit der Farbe;
aber die Töne unter einander, die Farben unter einan-
der, als Vorstellungen in uns, widerstreben sich nach
dem Maaſse ihrer Gegensätze und ihrer Stärke.
Uebrigens würde dieser ganze Paragraph in einer,
auf allgemeine Metaphysik mit streng systematischer Kürze
aufgebauten Psychologie, völlig unnöthig seyn, weil die-
[112] selbe des Begriffs von einem Wesen mit allerley Ver-
mögen gar nicht mehr erwähnen dürfte.
Drittes Capitel.
Vergleichung des Selbstbewuſstseyns mit andern
Problemen der allgemeinen Metaphysik.
§. 31.
Dieses Capitel wäre eine bloſse Episode, wenn nicht
die vorstehende Untersuchung selbst uns in ein Gebiet
allgemeinerer metaphysischer Fragen hineintriebe.
Auf ein Subject mit mannigfaltigen, zusammen und
wider einander wirkenden Vorstellungen, sind wir geführt
worden. Ist dieses Subject Substanz? Und erzeugt es
seine Vorstellungen von selbst, oder unter äuſsern Be-
dingungen? Sind diese Vorstellungen ursprünglich Kräfte?
oder kommt ihnen ihre Wirksamkeit, mit der sie wider
einander streben, nur zufälliger Weise, nur unter Um-
ständen zu?
Um leichter verstanden zu werden, will ich es wa-
gen, meine Antwort auf diese Fragen, fürs erste ohne
Beweis, herzusetzen.
Das vorstellende Subject ist eine einfache
Substanz, und führt mit Recht den Namen Seele.
Die Vorstellungen enthalten nichts von auſsen
aufgenommenes; jedoch werden sie nicht von
selbst, sondern unter äuſsern Bedingungen er-
zeugt, und eben so wohl von diesen, als von
der Natur der Seele selbst, ihrer Qualität nach
bestimmt. Die Seele ist demnach nicht ur-
sprünglich eine vorstellende Kraft, sondern sie
wird es unter Umständen. Vollends die Vor-
stellungen, einzeln genommen, sind keineswe-
ges
[113]ges Kräfte, aber sie werden es vermöge ihres
Gegensatzes unter einander.
Sollen nun diese Behauptungen bewiesen werden, so
bedarf es dazu offenbar der allgemein-metaphysischen
Lehren von Substanz und Kraft.
Aber sollten dieselben Behauptungen bestritten
werden: so bedarf es dazu etwas mehr als der bisher be-
kannten kritischen oder idealistischen oder naturphiloso-
phischen Systeme. Denn keins von diesen allen ist dar-
auf gefaſst, mit den Widersprüchen im Begriff des Ich
zu kämpfen. Keins hat dieselben genau erwogen; überall
sehen wir mit gleichem Leichtsinn das Ich entweder ab-
solut hingestellt, oder von anderem abgeleitet, oder an
anderes angeknüpft; immer zum Verderben der Systeme,
und immer um so mehr, je mehr sie die Betrachtung des
erkennenden Subjectes selbst, zum Mittelpuncte ihrer Un-
tersuchungen machen.
Anmerkung.
Wer die idealistischen und naturphilosophischen Leh-
ren, von denen hier die Rede ist, noch nicht kennt, der
muſs Anstalt machen, sie wenigstens aus einigen Proben
kennen zu lernen. Auf Fichte’s Wissenschaftslehre,
und die darauf gebaute Sittenlehre, als auf die eigentlichen
Hauptwerke dieser Art, sollte ich ihn hinweisen, wenn
von gründlichem historischen Studium die Rede wäre;
allein, wer es wagt, diese Schriften ernstlich zu studiren,
der wird viel Zeit daran verlieren, und er darf nur auf
geringen Gewinn rechnen. Kürzer gelangt man in der
Hauptsache zum Ziele durch Schellings Schrift über
das Ich, vom Jahre 1795. Hier zeigt sich der falsche
Enthusiasmus, welcher seitdem der Philosophie so viel
Schaden zufügte, schon mit aller seiner Verkehrtheit, aber
noch in jugendlicher Liebenswürdigkeit; und was, in Hin-
sicht seiner, eigentlich allein wissenswürdig ist, man lernt
hier sein Entstehen begreifen. Hier sieht man zugleich
das Kleben an Auctoritäten, und das Streben, sich über
I. H
[114] sie hinauszuschwingen; man sieht ein Klettern an der
Kantischen Kategorien-Leiter, ungeachtet der sehr wah-
ren Bemerkung, die Kategorien seyen zwar nach einer
Tafel der Urtheilsformen, diese aber nach gar keinem
Princip geordnet; welches freylich so viel heiſst, als, sie
sey unzuverlässig, und von keinem sichern Gebrauche; —
man findet eine Art von Versprechen, ein Gegenstück
zu Spinoza’s Ethik aufzustellen, woraus bekanntlich ein
Seitenstück geworden ist, weil der nüchterne Geist
Spinoza’s mit allen seinen Fehlern, denn doch mächti-
ger war, als der phantastische, der ihm entgegen treten
wollte; man findet endlich eine bewundernswerthe Leich-
tigkeit, sich in Fichte’s Redensarten einzuüben, um das
Ich, dessen Tiefe Fichte zu ergründen suchte, nach
der Dimension der Breite auseinander zu ziehen. Schon
hier erwacht die Begeisterung für jene unglückliche Ein-
heit, in welcher das Wesen des Menschen bestehen,
und darum das Sollen mit dem Seyn in ein Chaos zu-
sammengeworfen werden soll; das Vorspiel des bekann-
ten Satzes:
eines Satzes, für den glücklicherweise die Menschheit
nicht träge genug ist; denn nach dem Vernünftigen, wel-
ches noch nicht ist aber werden soll, strebt sie wirk-
lich; nur oftmals mit verkehrtem Ungestüm, weil ihr das
Vernünftige so vorschwebt, als wäre es schon ganz nahe,
und lieſse sich mit ein paar raschen Schritten erreichen.
Von diesem verkehrten Ungestüm, der das verdirbt, was
er gewinnen will, giebt gleich der Anfang des vorhin ge-
nannten Buchs ein Beyspiel, das statt aller dienen kann.
Man vernehme die enthusiastische Rede:
„Wer etwas wissen will, will zugleich, daſs sein
„;Wissen Realität habe. Ein Wissen ohne Realität
„;ist kein Wissen. Was folgt daraus?
„Entweder muſs unser Wissen schlechthin ohne
„;Realität — ein ewiger Kreislauf (?), ein beständi-
[115] „;ges wechselseitiges (?) Verflieſsen aller einzelnen
„;Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein
„;Element sich scheidet, oder —
„Es muſs einen letzten Punct der Realität ge-
„;ben“ (warum nur einen letzten? Ist die Reali-
tät nicht in allen Puncten real?) „an dem alles
„;hängt, von dem aller Bestand und alle Form un-
„;seres Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet,
„;und jedem den Kreis“ (wieder einen Kreis! Wun-
derbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) „sei-
„;ner fortgehenden Wirkung im Universum des
„;Wissens beschreibt.“
„Es muſs etwas geben, in dem und durch wel-
„;ches alles was ist, zum Daseyn, alles was ge-
„;dacht wird, zur Realität (!), und das Denken selbst
„;zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt.
„;Dieses Etwas müſste das Vollendende im ganzen
„;System des menschlichen Wissens“ (des ewig un-
vollendeten!) „seyn, es müſste die ganze Sphäre,
„;die unser Wissen durchmiſst, beschreiben, und
„;überall, wo unser letztes Denken und Erkennen
„;noch hinreicht, — im ganzen κοσμος unseres Wis-
„;sens, — als Urgrund aller Realität herrschen.“
Wohin strebt dieser Wortpunk? Dahin, daſs im
Ich das Princip des Seyns und des Denkens zusammen
falle, daſs es durch sein Denken sich selbst hervorbringe.
Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet ist!
Daſs das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben
weil es Sich wissen soll, und nur Sich wissen darf,
(um nicht ins Nicht-Ich zu verfallen) dieses Sich aber
eben nichts anderes seyn darf als nur sein Sich-Wis-
sen, — ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unend-
liche gesucht und nie gefunden wird; — daſs ferner das
absolute Ich, eben darum weil es nichts weiſs, auch nichts
ist: diese höchst leichten Ueberlegungen konnten recht
füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe
die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren
H 2
[116] des vorigen Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch we-
nigstens für meine Person gegen unzählige nachmalige
Thorheiten gesichert worden.
Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn
Schelling nicht aufgedrungen; damals, als es für ihn
Zeit war, sie anzustellen und anzuerkennen? Weil sein
falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete. Er for-
derte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem
Puncte unmittelbar offenbaren. Thäte sie dieses, so
müſste es allerdings im Ich geschehen; dies ist
der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen unmit-
telbar vereinigt glauben kann; und alsdann wäre die
älteste Lehre Schellings gerade die beste. Allein auf
ein Fordern und Sollen läſst sich die Wahrheit nicht ein;
sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend eine Be-
schwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem
Philosophen in gar keinem Puncte. Und was folgt dar-
aus? Vermuthlich dieses, daſs es für uns gar keine
Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen Augenblick
annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blo-
ſses Meinen seyn, das entweder gerade fort flieſst, von
hypothetischen oder irrigen Vordersätzen zu deren Con-
sequenzen, oder auch, falls Jemand gern von krummen
Linien reden will, — unser Wissen mag hyperbolisch,
parabolisch, spiralförmig, oder endlich kreisförmig in
sich zurück flieſsen, nach Belieben! Wenn aber Je-
mand schon dahin gelangt, die Nullität des vermeinten
Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den
Anfang des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur
noch Geduld und Anstrengung, um dahin zu gelangen.
Denn eben die unumstöſsliche Gewiſsheit, daſs es für uns
ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand des-
selben eine groſse und weite Erscheinungswelt in uns und
auſser uns: diese Gewiſsheit ist das vollkommen veste
Fundament, die eben so groſse und eben so breite Ba-
sis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig, die
Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei-
[117] nungswelt erscheinen kann; dergestalt, daſs sie nicht er-
scheinen würde, wenn diese Bedingungen nicht wären.
Hiebey ist von einem letzten Puncte, von einem einzi-
gen Princip, — von einem Talisman, dessen Besitz uns
zur Herrschaft über das gesammte Universum des Wis-
sens verhelfen würde, nicht aufs entfernteste die Rede.
Weiſs Jemand die Bedingungen anzugeben, unter denen
allein es möglich ist, daſs Materie erscheine: so findet
er hiemit die allgemeine Grundlehre der Naturphiloso-
phie. Weiſs Jemand die Bedingungen anzugeben, unter
denen allein es möglich ist, daſs ein Magnet, sammt sei-
ner Polarität, erscheine: so findet er hiemit einen be-
sondern Theil der Naturphilosophie. Weiſs Jemand an-
zugeben, unter welchen Bedingungen es allein möglich
ist, daſs die Totalität eines Gedankenkreises in der Form
der Ichheit eingeschlossen erscheine: so findet er hie-
mit die Anfänge der wahren Psychologie. Weiſs er von
allen dem Nichts: so beharrt er in der Welt des Scheins,
die für ihn nur gröſser und trüglicher wird, wenn er ne-
ben der sinnlichen Anschauung sich auch noch intel-
lectuale Anschauungen einbildet.
Uebrigens wird man mir sagen: es sey beynahe die
erste, früheste Schrift Schellings, gegen die ich hier
gesprochen. Ich weiſs das, und weiſs auch, wie der er-
ste Fehlgriff die folgenden erzeugt hat; die Verirrungen
des Meisters und die Thorheiten seiner Schüler.
Seit diese Thorheiten in Umlauf kamen, ist die
Philosophie mit einer Geschwindigkeit rückwärts gegan-
gen, die selbst mir, dem Zeitgenossen, beynahe unbe-
greiflich vorkommt; künftige Literatoren, wenn sie die
nüchternen Werke Kant’s so nahe beysammen finden
mit der Deuteley, die heute Philosophie heiſst, werden
den Jahrszahlen auf den Büchertiteln nicht trauen. Auch
sucht mehr und mehr die Gelehrsamkeit sich ohne Phi-
losophie zu behelfen; sie weiſs, daſs Ansichten, deren
Wandelbarkeit die Geschichte bezeugt, ihr wenig nützen
können. Die Schwärmerey kommt im Gefolge des Em-
[118] pirismus; und ihre Fortschritte sind reiſsend. Der Re-
spect, welchen ehedem die Wissenschaft dem Staate
und der Kirche einflöſste, wird nicht gröſser sondern klei-
ner. — Wäre das Publicum stärker gewesen, so hätten
einige Schriftsteller nicht so viel schaden können.
§. 32.
Um über den Begriff eines Subjects mit mannigfal-
tigen und wider einander wirkenden Vorstellungen etwas
zu entscheiden: kann man sich theils an seinen höhern
Gattungsbegriff, den einer Einheit, welche ein ge-
genseitig widerstrebendes Mannigfaltiges ein-
schlieſse, theils an das specifische Merkmal wenden,
daſs von Vorstellungen, und einem Subjecte dersel-
ben die Rede sey. Die eine wie die andre Betrachtungs-
art erfordert allgemein-metaphysische Reflexionen.
Der Begriff der Vorstellung bezeichnet das Vorge-
stellte als etwas Nicht-Reales, als ein bloſses Bild; wel-
ches, um vorhanden zu seyn, einer fremden Realität be-
darf, nämlich des realen Subjects. Kann man nun die
Qualität desjenigen Wesens, welches das Subject der
Vorstellung ausmacht, unmittelbar darin setzen, daſs es
ein Vorstellendes (die Existenz zu gewissen Bildern) sey?
Um diese Frage zu beantworten, müſste man überlegen,
ob der Begriff einer solchen Qualität eine absolute Po-
sition vertrage? (Man sehe in meinen Hauptpuncten der
Metaphysik die §§. 1. und 2.) Im Fall einer verneinen-
den Antwort wird folgen, daſs dem Wesen das Vorstel-
len zufällig sey; und es wird weiter nachzusehn seyn, in
wiefern einem Wesen überhaupt Accidenzen zugeschrie-
ben werden können; welches auf die Theorie der Stö-
rungen und Selbsterhaltungen zurückkommt. (Hauptp. der
Metaph. §. 5.)
Eben dahin weiset die andere Reihe von Betrach-
tungen. Einheit eines widerstrebenden Mannigfaltigen ist
ein Begriff, der, mit innern Gegensätzen behaftet, eine
[119] absolute Position geradezu ausschlägt *). In solchen Ge-
gensätzen steht schon das Mannigfaltige als solches; dann
die Mannigfaltigkeit überhaupt wider die Einheit, endlich
vollends das Widerstreben in diesem Mannigfaltigen.
Also auch hier ist an Qualität eines Seyenden nicht zu
denken; sondern nur an ein Zusammen mit andern und
andern Wesen, sammt den Folgen davon, den Störun-
rungen und Selbsterhaltungen.
Nun sind die Selbsterhaltungen innere Thätigkeiten
eines Wesens; sie sind aber nichts äuſseres, oder nach
auſsen hin gerichtetes. Sollen deren mehrere unmittelbar
zusammen oder wider einander wirken (wie hier die Vor-
stellungen): so müssen sie die verschiedenen Selbsterhal-
tungen eines einzigen Wesens seyn. Daraus erhellet die
Einfachheit der vorstellenden Substanz, oder der Seele.
Hiermit wäre nun in der Kürze der Weg der allge-
mein-metaphysischen Untersuchungen nachgewiesen, wel-
chen man gehen muſs, um die Beweise der vorhin auf-
gestellten Behauptungen zu finden. Begreiflicher Weise
kann ich mich hier nicht auf ausführliche Erörterungen
dessen einlassen, was an seinem rechten Orte ohne alle
unmittelbare Beziehung auf Psychologie entwickelt wird.
Wohl aber kann ich denjenigen Lesern, welche neben
der gegenwärtigen Schrift meine Hauptpuncte der Meta-
physik nicht bloſs anzusehen, sondern ernstlich zu durch-
denken geneigt seyn möchten, durch die, in der Ueber-
schrift dieses Capitels angekündigte Vergleichung zwi-
schen den Untersuchungen über das Ich, und denen, die
zu den Begriffen von Substanz und Ursache führen, zu
Hülfe kommen; denn eine solche Vergleichung wird
eben so sehr zur genauern Einsicht in das Räsonne-
ment des vorigen Capitels, als zum leichtern Verständ-
[120] niſs der angedeuteten metaphysischen Lehrsätze bey-
tragen.
§. 33.
Die anzustellende Vergleichung geht theils auf die
Materie der Probleme, theils auf die Form der Unter-
suchung.
Der Materie nach sind die beyden ersten Hauptpro-
bleme der allgemeinen Metaphysik (Hauptp. d. Metaph.
§§. 3. 4.) dem hier abgehandelten darin ähnlich, daſs sie
Principien sind; in der gleich Anfangs bestimmten
zwiefachen Eigenschaft eines Princips, welches erstlich an
sich gewiſs, zweytens eine abgeleitete Gewiſsheit zu erge-
ben geschickt seyn muſs.
Erstlich, es ist gewiſs, daſs wir uns Dinge mit
verschiedenen, und veränderlichen Merkmalen
vorzustellen genöthigt sind; denn dergleichen sind uns
in der äuſsern Erfahrung eben so wohl, als das Selbstbe-
wuſstseyn innerlich, gegeben.
Zweytens, die Begriffe solcher Dinge sind Anfangs-
puncte eines fortlaufenden Räsonnements gerade so, wie
seinerseits das Ich; denn sie enthalten Widersprüche,
welche aufgelös’t werden müssen; und deren Auflösung
zu neuen Lehrsätzen führt.
Am auffallendsten ist der Widerspruch im Begriffe
des veränderlichen Dinges; der nämliche, über welchen
die Eleaten, und nachmals Platon vielfältig geklagt, den
aber die Neuern, theils ganz sorglos, theils im Besitz ein-
gebildeter Aufschlüsse vernachlässigt haben. — Da der
Begriff des Seyn nur in Beziehung auf ein Was, auf
eine Qualität, Sinn und Bedeutung hat: so muſs vor al-
lem die Qualität des Seyenden bestimmt können ange-
geben, oder falls sie unbekannt wäre, doch wenigstens als
eine bestimmte vorausgesetzt werden. Ist nun im Ge-
gentheil die Qualität, welcher das Seyn zugeschrieben
wird, veränderlich, so entsteht der Begriff von anderem
und anderem Seyenden; eben so vielfach, als die Angabe
dessen wechselt, was da sey. Wird aber endlich Sol-
[121] ches und wieder Anderes Seyendes für Eins und dasselbe
ausgegeben, — wie denn dieses durch die Behauptung,
daſs ein Veränderliches immerfort ein und dasselbe Ding
bleibe, wirklich geschieht, — so liegt der Widerspruch,
daſs Entgegengesetztes einerley seyn solle, klar am Tage.
Statt diesem Widerspruch abzuhelfen, hat man in
unsern Zeiten den Begriff der Substanz zur Kategorie ge-
stempelt und uns versichert, ein solcher Begriff läge nun
einmal in unserm Verstande.
Der Begriff nämlich von dem beharrlichen Substrat
der wechselnden Erscheinungen. Wobey zuvörderst an-
zumerken, daſs das Beharrliche ohne Widerspruch be-
harren, und die Erscheinungen ohne Widerspruch wech-
seln möchten, wofern nur zwischen jenem und diesen gar
keine Gemeinschaft wäre, und die wechselnden, gleich
fliegenden Schatten, die Qualität des Beharrlichen ganz
unangetastet lieſsen. Wenn aber das Wasser (um ein
altes Platonisches Beyspiel zu brauchen) bald flüssig, bald
vest, bald dampfförmig erscheint *), so meint niemand, die
Flüssigkeit, Vestigkeit, Dampfförmigkeit, ginge das be-
harrliche Substrat des Wassers nichts an: sondern, die
entgegengesetzten Möglichkeiten dieser entgegengesetzten
Erscheinungen legt man zusammen genommen dem Ei-
nen und sich selbst gleichen Beharrlichen, als inwohnende
Eigenschaften, bey; und giebt ihm dadurch denn freylich
eine beharrliche, aber zugleich widersprechende Qualität.
Klagt nun Jemand, daſs für das Platonische ἑτερον und
ταυτον der Sinn unter uns verloren scheine: so hilft man
sich mit der Versicherung, es sey ja nur von Phäno-
menen die Rede! Und alsdann macht man das Haupt-
geschäfft unseres Verstandes daraus, dergleichen unge-
reimte Phänomene ernstlich, ja gar wissenschaftlich auf-
zustellen und abzuhandeln.
[122]
Wäre wirklich unser Verstand von Natur mit jener
widersinnigen Kategorie behaftet: alsdann eben bestünde
die wahre Philosophie in einer Kritik des Verstandes;
nämlich damit er lernen möchte, sich seiner misgebornen
Natur zu schämen, und, falls er nach andern Formen
nicht denken könnte, das Denken lieber gar aufzugeben.
Dagegen nun findet sich, daſs die Form der unver-
meidlichen Auffassung sinnlicher Erscheinungen uns ei-
nen widersprechenden Begriff aufbürden will, den glück-
licherweise der menschliche Verstand nur braucht gewahr
zu werden, um ihn zu verabscheuen und auszustoſsen:
wie denn die Alten die kräftigsten Mittel sich haben ge-
fallen lassen, um nur jene ungereimten Erscheinungen
aus dem Gebiet des Wissens zu verbannen; und sie ent-
weder (wie die Eleaten) geradezu für Trug und Täu-
schung, oder (wie Platon) für Gegenstände schwanken-
der Meinungen erklären zu können. Weil sich nun hie-
bey die Alten offenbar zu weit von der Erfahrung ent-
fernt haben, so müssen wir andre Wege einschlagen, um
nämlich für die Erfahrung andre und bessere Begriffe zu
gewinnen, die in dem Kreise der erwähnten Kategorien
nicht liegen können. Und dieses ist denn das Hauptge-
schäfft der allgemeinen Metaphysik. —
Was hier von dem Begriffe des veränderlichen Din-
ges gesagt worden, dasselbe gilt im Wesentlichen von
dem Begriffe des Dinges mit mehrern Merkmalen. Näm-
lich es brauchen nicht entgegengesetzte, noch successive
Merkmale zu seyn, um jenen Widerspruch in der Qua-
lität des Seyenden zu erzeugen; er entsteht schon aus
der Summe derjenigen Eigenschaften, die man im gemei-
nen Leben einem Dinge ganz unbedenklich neben einan-
der einräumt. Das Quecksilber ist weiſs und flüssig und
schwer; — wird wohl hierin ein Widerspruch liegen?
Allerdings! sobald das Eine Ding durch eine vielfältige
Qualität bezeichnet wird. Man lege sich die Frage vor:
Was ist das Quecksilber? Diese Frage verträgt nicht
die Antwort: das Quecksilber ist weiſs und flüssig und
[123] schwer. Die Verkehrtheit läſst sich fühlbar machen durch
eine neue Frage: Ist denn das Weiſse, flüssig und
schwer? Oder ist das Flüssige, weiſs und schwer? Oder
ist das Schwere, weiſs und flüssig? — Will man nun
die erste falsche Antwort verbessern, so wird man das
Quecksilber als den Stoff bezeichnen, welcher die meh-
rern Eigenschaften hat, und in sich vereinigt. Könnte
man nur dieses Haben, dieses In-sich-vereinigen,
deutlich machen! Unglücklicherweise ist das Haben ei-
nes Mannigfaltigen selbst mannigfaltig, und es will schei-
nen, als müſste dies vielfältige Haben, um die Qualität
des Einen Seyenden nur berühren zu können, erst wie-
derum gehabt werden, durch ein neues, — ohne allen
Zweifel wiederum vielfältiges Haben! Bey dem In-sich-
vereinigen sagt es nun gar der Klang des Wortes, daſs
man eben ein Wort eingeschoben, wo der Sinn man-
gelte. Denn gerade von der Einigung des Mannigfalti-
gen war die Frage, indem bey den bekannten sinnlichen
Kennzeichen des Quecksilbers dennoch von dem Was
desselben als von einem unbekannten geredet wurde.
Nun beruhigen sich die Meisten dabey, daſs sie nicht
wissen, wie das Eine zu mehrern Eigenschaften komme?
Und freylich wissen sie es nicht. Denn setzen wir irgend
ein A als die Qualität des Seyenden, so ist dies Eine
und sich selbst gleiche weit entfernt, eine Mehrheit zu
ergeben. Haben wir aber in A gleich Anfangs eine Man-
nigfaltigkeit einzuschlieſsen uns erlaubt: so dürfen wir
nun schon gar nicht wagen, uns die Frage vorzulegen,
was eigentlich sey? Denn die Antwort enthält sogleich
das Geständniſs, daſs wir Mehrern das Seyn beygelegt,
und dennoch für diese Mehrern eine Einheit, — wir wis-
sen nicht Welche? angenommen haben.
Der Widerspruch ist nun hoffentlich klar genug.
Man nimmt an, das Seyende sey Eins; und auf die Frage:
Was für eins? antwortet man durch eine Mehrheit von
Bestimmungen. Mehrerley nun ist nicht Einerley. Und
es ist völlig vergeblich, eine unbekannte Qualität anzu-
[124] nehmen, von der nur soviel bekannt sey, daſs sie die
mehrern Bestimmungen zulasse. Denn immer ist es schon
Mehrerley in ihr selber, daſs sie gestattet, von jenen meh-
rern Bestimmungen auf was immer für eine Weise be-
helligt zu werden.
Das Gesagte beruhet übrigens auf der Voraussetzung:
man habe die Qualität eines Seyenden anzugeben. Dar-
aus eben entspringt die Gefahr, Vieles Seyendes einem
einzigen unterzuschieben. Wird der Begriff des Seyn
bey Seite gesetzt, so ist für ganz andre Betrachtungen
Raum, die wir aber hier nicht verfolgen können.
Statt dessen möchte es beynahe erlaubt seyn, die
Warnung gegen das andächtige: die Dinge an sich
kennen wir freylich nicht! nochmals zu wiederhoh-
len; und zu erinnern, daſs widersprechende Be-
griffe auf das, was zu seyn scheint, eben so we-
nig passen, als auf das was ist. Hiezu aber kommt
noch, daſs, wie oben gezeigt, die für vest gehaltene Burg
des Idealismus (das Selbstbewuſstseyn) eben sowohl auf
einem Vulkan erbaut ist, als jede Naturlehre, welche die
Begriffe von Substanz und Kraft nicht im voraus berich-
tigt hat; daher denn die gangbare Theorie von Phäno-
menen und Noumenen schwerlich noch einen vesten Punct
besitzen möchte, auf welchen sich verlassend, sie die Um-
arbeitung der vorliegenden widersprechenden Erfahrungs-
Begriffe für unnütz erklären dürfte.
Anmerkung.
Eine historische Erinnerung kann behülflich seyn,
daſs man den Gegenstand des vorstehenden Paragraphen
leichter ins Auge fasse. Bekanntlich ist es gerade der
Begriff der Substanz, um welchen die Spitzfindigkeiten
der aristotelisch-scholastischen Philosophie sich vorzugs-
weise drehen. Nun sind zwar diese Spitzfindigkeiten an
sich keine Erkenntniſs der Wahrheit; aber sie geben in
so fern ein lehrreiches Schauspiel, als sie aufmerksam
machen auf einen Punct, der die Denker nothwendig in
[125] Verlegenheit setzen muſste. Ich will aus Baumgartens
Metaphysik ein paar Paragraphen hierher setzen.
§. 40. Complexus essentialium in possibili est essentia,
(esse rei, ratio formalis, natura, quidditas, forma, for-
male totius, ουσια, τινοτις, substantia, conceptus entis primus.)
Hier zeigen schon die vielen Synonymen, wie viel Mühe
man sich gegeben hat, den complexus, die Einigung des
Vielen, aufzufassen.
§. 196. Id in substantia, cui inhaerere possunt acci-
dentia, sive substantia, quatenus est subiectum; id, cui acci-
dentia inhaerere possunt, substantiale vocatur; nec acci-
dentia existunt extra substantiale.
Welche monströse Erfindung! So möchte man hier
ausrufen. — Wie? Braucht denn die Substanz noch
ein substantiale, damit Accidenzen in ihr wohnen können?
Heiſst sie nicht gerade in dieser Beziehung Substanz, in
wiefern sie Accidenzen trägt? Muſs und kann und darf
denn zwischen sie selbst, und ihre Accidenzen — die ja
eben die ihrigen sind, — noch ein Mittelglied, das
substantiale, eingeschoben werden? Was ist denn damit
gewonnen? Wollen wir nicht noch einen neuen Kitt er-
finden, vermöge dessen das substantiale mit der Substanz
zusammen hänge? Und abermals einen andern Kitt, um
die Accidenzen in das substantiale hinein zu leimen?
Wird denn dieser Kitt nicht nochmals an die Glieder,
die er verknüpfen soll, angeheftet werden müssen? Wird
man nicht auf diese Weise die Mittelglieder ins Unend-
liche vervielfältigen müssen?
Oder was ist das für ein quatenus, in dem Ausdrucke:
substantia, quatenus est subiectum? Soll die Substanz sich
selbst entgegengesetzt werden? Will man sie auffassen,
einmal in so fern, als sie ein Subject für Prädicate ist,
ein andermal in so fern, in wie ferne sie nicht Subject für
ihre Prädicate ist? Darf sie denn jemals anders gedacht
werden, als eben in so fern, in wie ferne sie ihre essentia-
lia, ihre attributa, in sich vereinigt?
Hier habe ich die Sprache einer Verwunderung an-
[126] genommen, wie sie demjenigen natürlich ist, der — noch
nicht tief ins metaphysische Denken eingedrungen ist.
Denn allerdings muſsten die Scholastiker die Substanz
sich selbst entgegensetzen. Allerdings soll sie selbst
gedacht werden als Eins; ihr substantiale aber soll em-
pfänglich seyn für das vielfache Haben der vielen Acci-
denzen und Attribute. Allerdings sind hier nothwendig
zwey Gedanken, die aber freylich Einer seyn sollten, —
und nicht können. Die Substanz ist jener homerische
Herkules, der selbst bei den seligen Göttern wohnt,
während sein Schatten in der Unterwelt wandelt.
Mit einem Worte: das substantiale ist der Wider-
spruch im Begriff der Substanz, wodurch sie ein meta-
physisches Problem wird.
Was wird nun derjenige thun, dem dies Problem,
das allgemeinste der ganzen Metaphysik, eine Anregung
zum Denken gegeben hat? Eine dreyfache Wahl liegt
vor ihm. Entweder sich in scholastische Grübeley zu
versenken, oder mit dem Verslein: grau, Freund, ist
alle Theorie, sich tröstend, aus der Schule ins freye
Leben sorglos hinüberzutreten (wobey er nicht vergessen
darf, daſs sich alsdann die Pforte der Schule hinter ihm
schlieſst), oder endlich, die Kraft seines Denkens anzu-
strengen, damit er den Grund des Widerspruchs genau
erkenne, ihn hinweghebe, und nachsehe, welche Verän-
derung hiedurch in dem vorliegenden Begriffe entstehe.
Hierüber giebt das Folgende weitere Auskunft.
§. 34.
Wenn die drey Begriffe, des Ich, der Veränderung,
und des Dinges mit mehrern Merkmalen, undenkbar er-
funden werden, so ist gewiſs schwer zu sagen, was denn
noch denkbares in dem ganzen Kreise unserer realen Er-
kenntnisse übrig bleibe? Wenn aber einem von diesen
Begriffen durch irgend eine Art von Reflexion eine Hülfe
hat geleistet werden können, so ist wohl zu vermuthen,
[127] daſs eine ähnliche Hülfe für alle bereit seyn werde. Ha-
ben wir demnach zur Auflösung der Widersprüche im
Ich wenigstens einige Schritte thun können, so wäre es
schon der Mühe werth, der Analogie nachzugehn, um
zu versuchen, ob nicht das Nachdenken über die andern
Probleme dieselbe Richtung nehmen dürfte?
Aber diese Analogie würde sich zu einer Methode
erheben, sobald man fände, daſs im Allgemeinen auf der
Natur eines widersprechenden Begriffes ein gewisser Gang
des Denkens beruhe, welchen zu nehmen man gezwun-
gen sey, falls man den Widerspruch los werden wolle.
Bey diesem zweyten formalen Theile unserer Ver-
gleichung der verschiedenen Probleme, kommt uns nun
sogleich die Logik mit einer allgemeinen, und höchst ein-
fachen Bemerkung zu Hülfe; nämlich das von zweyen
contradictorischen Gegentheilen gewiſs eins wahr sey,
wenn das andre falsch ist. Demnach, wenn es falsch ist,
daſs Entgegengesetztes einerley sey, so ist wahr, daſs Ent-
gegengesetztes nicht einerley ist. Wenn es falsch ist,
daſs im Ich, Object und Subject dasselbe seyen, so muſs
es wahr seyn, daſs Object und Subject nicht dasselbe
sind. Wenn es undenkbar ist, daſs ein Ding mit ver-
änderter Qualität eins und dasselbe sey, so muſs man
zugeben, daſs es nicht dasselbe ist. Wenn es keinen
Sinn hat, daſs der Stoff eines Dinges, und die Realitä-
ten, welche man wegen der mehrern Merkmale dieses Din-
ges annimmt, ein und dasselbe seyen, so muſs anerkannt
werden, daſs die genannten Realitäten von jenem Stoffe
zu unterscheiden sind. Mit einem Worte, die Identi-
tät, welche den Widerspruch verursacht, muſs geleugnet
werden.
So klar nun dieses ist, so haben wir dennoch in
den neuesten Zeiten manchmal von Widersprüchen ge-
lesen, die man vereinigen wollte. Die entgegengesetz-
ten sollten Eins und dasselbe werden. Das heiſst
mit andern Worten: der Widerspruch solle, wenn er
etwa noch nicht vorhanden wäre, jetzt eben gestiftet wer-
[128] den! Denn die Entgegengesetzten, die er einschlieſst,
fechten einander gar nicht an, wenn sie nicht für Eins
ausgegeben werden. Weiſs und schwarz bestehen voll-
kommen neben einander, nur daſs man das Weiſse nicht
selbst für schwarz erklären wolle. Jene Vereinigung aber
sieht einer Versöhnung ähnlich, wobey man den Charak-
ter der Feinde nicht gehörig erforscht hat. Der Streit
dauert im Verborgenen fort, und verdirbt die Systeme
wie die scheinbaren Freundschaften. — Im Grunde be-
weis’t ein solches Verfahren, daſs man an das Wider-
sprechende in den aufgestellten Problemen nicht ernstlich
glaubt. Und dies ist soviel, als daſs man das Bedürfniſs
metaphysischer Untersuchungen nicht in seiner ganzen
Stärke empfindet. Es ist eine Schwachheit der neuern
Zeiten, speculative Schwierigkeiten durch alle ersinnlichen
Künste, bald schöner Worte, und aufgeregter Phanta-
sien und Gefühle, bald harter Machtsprüche, und vorge-
gebener Anschauungen und Offenbarungen, — zu be-
decken, zu verhüllen, aus den Augen zu rücken, aus
dem Sinn zu schlagen. Was Wunder, daſs die Spe-
culation nicht von der Stelle kommt, da ihr erstes Ge-
setz Aufrichtigkeit ist, nämlich Aufrichtigkeit ge-
gen sich selbst!
Waren die oben entwickelten Begriffe nicht wider-
sprechend? Dann brauchte man sie nicht als solche auf-
zustellen. Eine bloſse Künsteley, ein gesuchter Schein
des Mühsamen der Nachforschung, ist der Philosophie
ganz und gar unwürdig. Sind sie aber in der That, so
wie sie gegeben und gefunden werden, mit sich selbst
im Streit: so muſs man damit anfangen, das Streitende
zu sondern; ja man muſs diese nämliche Ope-
ration so vielemal wiederhohlen, als noch eine
neue Spur widerstreitender Bestimmungen sich
entdeckt.
Dieses nun gerade ist der allgemeine Charakter der-
jenigen Methode, welche ich Methode der Beziehungen
genannt, und in den Hauptpuncten der Metaphysik gleich
im
[129] im Anfange vorgetragen habe. An dem Faden derselben
läuft auch das Räsonnement im §. 28. dieses Buches fort,
obgleich daselbst von keiner Methode ist gesprochen
worden.
Diese Methode hat verschiedene Misverständnisse
erlitten; man würde aber dieselbe sehr bald, entweder
verstehen und annehmen, oder aber verstehen und
verbessern, wenn man nur erst von der widersprechen-
den Natur der metaphysischen Principien überzeugt wäre.
So lange es daran fehlt, wird die Methode für ein Hirn-
gespinnst gehalten werden. Inzwischen wird mir erlaubt
seyn zu sagen, daſs dieselbe gröſstentheils durch Ab-
straction aus den Reflexionen über die erwähnten Pro-
bleme ist gewonnen worden; daſs sie demnach von dem
Gefühl der Nothwendigkeit, von welcher das Nachden-
ken über jene Probleme getrieben wird, eingegeben, und
nichts weniger als willkührlich ersonnen ist. Ihren Platz
aber bekam sie in den Hauptpuncten der Metaphysik des-
halb ganz vorne, weil sie als allgemeine Methode jeder
ihr unterzuordnenden Untersuchung vorangestellt werden
muſste. Dabey ist nun unvermeidlich, daſs sie dem nicht
gehörig vorbereiteten Leser früher entgegentritt, als er
das Bedürfniſs darnach empfunden, und hiemit die Mög-
lichkeit der Einsicht in dieselbe sich verschafft hat.
Die Methode beruht auf folgenden Momenten: Ein
widersprechender Begriff A enthalte die entgegengesetz-
ten Glieder M und N, welche er für identisch ausgiebt;
so muſs zuvörderst, wie schon auseinandergesetzt, deren
Identität geleugnet werden. Soweit sind wir beym Ich,
indem wir ihm ein fremdes Object leihen, welches ge-
rade soviel heiſst, als, das Object ist ein anderes
als das Subject. Nun ferner entsteht allemal die
Schwierigkeit, daſs die Glieder M und N, welche in dem
widersprechenden, aber gegebenen Begriffe als Eins und
dasselbe aufgefaſst waren (wie Object und Subject in dem
gegebenen Begriffe des Ich) ihre Gültigkeit verlieren,
sobald sie gesondert werden: denn als gesondert sind sie
I. I
[130] nicht gegeben. Ein Object, welches dem Subjecte nicht
gleich ist, kommt im Begriff des Ich nicht vor, und ist
eben deshalb ein Begriff ohne Bedeutung, wenn wir ihn
nicht wieder an das Gegebene anzuknüpfen wissen. Folg-
lich müssen wir jedes der gesonderten abermals identisch
setzen dem andern; z. B. M, welches von N gesondert
war, muſs dem N wiederum gleich gesetzt werden. Dies
verwickelt uns in einen secundären Widerspruch; M
nicht = N, und M dennoch = N. Im §. 28. entsprechen
dieser Formel die beyden Reflexionen: zum Ich gehört
ein Object, das ihm fremd, — und dennoch nicht fremd,
sondern dem Subjecte gleich sey. — Da nun hier M mit
sich selbst im Widerspruch erscheint, so muſs wiederum,
wie vorhin, nach der angeführten allgemeinen logischen
Regel, die Identität verneint werden. Dem gemäſs ist es
nicht dasselbeM, dessen Identität mit N gefordert
und doch auch geleugnet wurde; sondern man muſs da-
für mehrereM annehmen. So sind im Ich mehrere
Objecte angenommen worden. Will man nun die Me-
thode nach aller Strenge beschreiben, so ist hiebey zu
bemerken, daſs zwar Anfangs die mehrern M so auftre-
ten, als ob eins die Identität mit N besäſse, das andre
nicht; daſs aber jenes im alten Widerspruch befangen,
dieses vom Gegebenen abweichend und folglich ein un-
gültiger Begriff seyn würde; daſs demnach beyden bey-
des, Identität und Nicht-Identität mit N, zukomme; wo-
durch jedes in den vorigen Widerspruch verwickelt, und
abermals in eine Mehrheit zerschlagen werden muſs. Kurz,
der secundäre Widerspruch steigt gleichsam auf Poten-
zen ins Unendliche fort (nur nicht gerade auf Potenzen
der Zahl zwey, denn die Leugnung der Identität ergiebt
nicht bestimmt zwey M, sondern überhaupt mehrere).
Dieses nun ist in der Betrachtung des Ich übergangen
worden, weil man bey einem bestimmt vorliegenden Pro-
bleme sich gleich auf der Stelle sehr leicht besinnt, wor-
auf es ferner ankomme. Nämlich, sobald mehrere M an-
genommen sind, bietet sich die Betrachtung dar, daſs je-
[131] des derselben einzeln genommen die alte Schwierig-
keit der Identität mit N, welche nicht denkbar und doch
durchs Gegebene gefordert ist, erneuern werde; daher
man voraussetzen muſs, daſs sie zusammengenommen
eine gewisse Modification erlangen werden, aus welcher
dasjenige hervorgehe, was dem andern Gliede des Haupt-
begriffs gleich zu setzen sey. Eine solche Modification
müssen die mehrern Objecte, welche einem und demsel-
ben Vorstellenden vorschweben, sich gegenseitig schaf-
fen. — Die fernere Untersuchung des §. 29., welcher ge-
mäſs die Vorstellungen jener Objecte als Kräfte wider
einander wirken müssen, geht schon über das Allgemeine
hinaus, was bey allen gegebenen Widersprüchen einer-
ley Gang des Denkens, oder einerley Methode erfordert.
Das Resultat der Methode ist allemal die Vervielfältigung
eines von den beyden Gliedern des gegebenen Wider-
spruchs; welches das zu vervielfältigende Glied sey, muſs
man aus der Eigenthümlichkeit des Problems beurtheilen.
Z. B. beym Ich wird es Niemandem einfallen, eine Mehr-
heit der Subjecte anzunehmen, um diese dem Objecte
gleich zu setzen; weil dies geradezu die Einheit des Be-
wuſstseyns aufheben würde.
Zu dem nämlichen Resultate führt ein anderer, kür-
zerer Weg, der aber gleich Anfangs durch eine Hypo-
these betreten wird. Da M für sich nicht gleich N seyn
kann: so werde M durch irgend ein X modificirt, und in
so fern gleich N. Nun enthält der Hauptbegriff nur M
und N. Um sich also vom Gegebenen so wenig als mög-
lich zu entfernen, und keine fremdartigen Merkmale eines
beliebig angenommenen X zuzulassen: setze man X gleich
M; so hat man mehrere M, wie zuvor. Das Object im
Ich werde durch irgend ein X modificirt, um dem Subjecte
gleich seyn zu können. Aber was für ein X wird man
in den Begriff des Ich einlassen dürfen, der nichts anderes
kennt, als nur Object und Subject? Die geringste mögliche
Abweichung von dem gegebenen Begriff besteht darin, ein
Object durch ein anderes modificiren zu lassen. So
I 2
[132] wird X selbst ein Object, ein Vorgestelltes; oder, wenn
es nöthig seyn sollte, eine unbestimmte Menge von Vor-
gestellten und folglich von Vorstellungen wird sich ge-
genseitig dahin bringen, daſs, wer sie unter ihrer nun
gewonnenen Modification sich denkt, dieser in ihnen das
Vorstellende selbst erblickt.
Worin sich diese zweyte Form des Räsonnements
von der ersten unterscheide, ist leicht zu sehen. Was
bey der ersten den Beschluſs machte, wird hier zuerst
angenommen. Dort fand sich am Ende, daſs auf dem
Zusammen, auf der gegenseitigen Modification der M,
die Auflösung beruhen müsse; hier wird die Modification
gleich Anfangs gefordert. Dabey aber wird der Fehler
begangen, den allgemeinen Begriff irgend eines modifi-
cirenden X so einzuführen, als ob es erlaubt wäre, das
Problem wie ein Räthsel zu behandeln, und frey umher-
zusinnen, was wohl für ein X taugen möchte um M zu
modificiren? Dieser Fehler wird hintennach verbessert,
indem X gleich M gesetzt wird. So erscheint die Auf-
lösung als beruhend auf der kleinsten möglichen Verän-
derung des gegebenen Begriffs. Derselbe war Anfangs:
Identität von M und N. Er ist am Ende: Identität von
N mit M modificirt durch M; nämlich mit einemM,
modificirt durch ein anderes, das der Art nach auch
ein M ist. Dabey kommen keine neuen Merkmale in
den Begriff, auſser nur das der Vielheit der M, und die-
jenigen, welche in der Modification der M entspringen,
oder wegen derselben angenommen werden müssen. So
bleibt der Hauptbegriff in seinen nothwendigen Beziehun-
gen eingeschlossen, die sich aus ihm selbst ergeben.
Wäre X aber nicht = M, sondern ein Begriff mit frem-
den Bestimmungen: so käme das Fremde am Ende in der
Auflösung als Abweichung vom Gegebenen zum Vor-
schein. Die Auflösung ergäbe nämlich: Identität von N
mit M, so fern das letztere modificirt würde durch etwas
solches, wovon im Gegebenen nichts zu finden wäre. Der-
gleichen möchte höchstens als Hypothese zu dulden seyn,
[133] falls zuvor die Auflösung nach unserer Methode verge-
bens versucht wäre.
Es möchte aber Jemand fragen, warum nicht X = N
gesetzt werden könne, da doch diese Bestimmung nichts
auſser dem gegebenen Begriffe liegendes herbeyführen
würde *). Versucht man dieses, so lautet die Auflösung:
N ist identisch mit M modificirt durch N. Da kommen
zwey verschiedene N vor; eins, welches in der Modifica-
tion des M erst entspringen, welches das modificirte M
seyn soll; ein anderes, welches dieser Modification vor-
ausgesetzt wird, da es sie selbst vollbringen soll. Hier
wird offenbar N in verschiedenem Sinn genommen; und
das modificirende N wäre in der That für den gegebe-
nen Begriff, der nur von dem mit M identischen N Kunde
gab, ein Fremdes.
Im Beyspiel: Das Subject werde gleich gesetzt dem
Object modificirt durchs Subject. Diese Auflösung des Pro-
blems vom Ich möchte wohl Jemand unterstützen, indem
er sie so auslegte: Wir erkennen uns selbst, indem das
Denkende in uns die ihm vorschwebenden Objecte modi-
ficirt; sie, die bisher als Dinge erschienen, jetzt (durch
einen Sprung) als bloſse Bilder auffaſst, und einsieht,
daſs die Realität dieser Bilder nur die des Denkenden
seyn könne. Da wäre also dem Denkenden gerade jene
Spontaneität der Reflexion zugeschrieben, welche wir oben
verwarfen; jener absolute Aufsprung, wodurch das Vor-
stellende in seiner Thätigkeit sich selbst ergreifen sollte.
Aber der Begriff des Ich macht uns mit einem solchen
selbstthätigen Subjecte, welches in seine eignen Vorstel-
[134] lungen eingriffe, und sie dadurch in Spiegel seiner selbst
aus eigner Macht verwandelte, — keinesweges bekannt.
Der Begriff des Ich setzt nicht das Subject als ein Thä-
tiges dem Selbstbewuſstseyn voran: sondern er setzt es
in das Selbstbewuſstseyn hinein, und bindet es an die
Identität mit dem Objecte. Wenn wir aber gleichwohl
in der Auflösung ein Subject überhaupt vorauszusetzen
scheinen: so geschieht dieses in dem Sinne, als wir bey
jedem Object ein Subject voraussetzen, für jedes Vorge-
stellte ein Vorstellendes annehmen müssen. Diesen Be-
griff würden wir überschreiten, wenn wir dem nämlichen
Subject, welchem irgend ein Bild vorschwebt, nun noch
auſser dem Vorstellen dieses Bildes sprungweise das Mo-
dificiren desselben Bildes zuschreiben wollten, wodurch
es bey Gelegenheit desselben seiner selbst gewahr wer-
den sollte. Ein solches Gewahr-werden ereignet sich
zwar wirklich, es geschieht aber nicht sprungweise, son-
dern im natürlichen Laufe objectiver Vorstellungen. Be-
säſse hingegen das Subject erstlich eine Thätigkeit al-
lerley Fremdes vorzustellen, und zweytens eine andre
Thätigkeit, sich selbst absolut über dem Vorstellen zu
ertappen: so geriethe es in den allgemeinen Wider-
spruch des Dinges mit mehrern Merkmalen hinein, wel-
chen wir in der letztern Hälfte des §. 33. entwickelt
haben.
Fragt man nun endlich noch, was für eine Gewiſs-
heit unserer Methode denn eigen sey, daſs vermöge ihrer
Bearbeitung die Widersprüche weichen müſsten? so ist
die Antwort: eine solche Gewiſsheit ist der Methode ganz
und gar nicht eigen, und eben so wenig ihr jemals zu-
geschrieben worden. Die Gewiſsheit der Auflösbarkeit
müssen die Probleme selbst mit sich führen; und das ist
allemal der Fall, wenn ein gegebener Begriff, durch
welchen ein Reales gedacht werden soll, einen
Widerspruch verräth. Daſs im Begriff des Ich keine
Widersprüche stecken bleiben dürfen, fordert das Selbst-
bewuſstseyn; und es verbürgt den Erfolg der Untersu-
[135] chung noch vor dem Beginn. Die Methode aber bezeich-
net nun dem Denker die ersten Schritte, welche er, durch
das Problem selbst getrieben, wird nehmen müssen; und
dadurch erleichtert sie es, gleich Anfangs die rechte Bahn
zu finden. Gesetzt jedoch, es käme ein Fall vor, wo
die Methode sich aus irgend einem Grunde unbrauchbar
zeigte bey einem Widerspruch, dessen Auflösbarkeit nicht
bezweifelt werden könnte: was würde daraus folgen? Etwa
daſs die Methode falsch sey? Keinesweges! Sondern
dieses, daſs die ersten Schritte im Denken, welche
man auf allen Fall versuchen muſste, nicht hin-
reichten; daſs man vielmehr seinen Weg werde weiter
fortsetzen müssen. Es könnte seyn (um die vorige zweyte
Formel wieder zu gebrauchen), daſs M in der That durch
ein X, welches nicht gleich M wäre, modificirt werden
müſste, um der Identität mit N zu entsprechen. Allein
in diesem Falle wäre der gegebene Begriff kein Princip
(und überdies im hohen Grade mangelhaft gegeben oder
aufgefaſst); weil er die fremden Bestimmungen des ein-
zuführenden X nicht angeben, daher auch den Gang des
Nachdenkens nicht leiten könnte. Der beste Rath be-
stünde hier darin, eine solche Untersuchung, welche kei-
nen bestimmten Weg finden könnte, so lange bey Seite
zu setzen, bis aus andern erlangten Kenntnissen sich
Hülfsbestimmungen darböten. Gewiſs ist es der Fall,
daſs man oftmals Probleme zu früh ergreift, und sich Ge-
genstände des Nachdenkens wählt, welche die nothwendi-
gen Eigenschaften der Principien nicht besitzen.
§. 35.
Um die Vergleichung der verschiedenen Probleme,
und ihrer Behandlung, zwar nicht Schritt für Schritt zu
verfolgen (welches nun dem Leser kann überlassen wer-
den), — aber doch zu einer Uebersicht zu bringen, erin-
nern wir an den berühmten Satz des zureichenden
Grundes; welcher oft als Axiom aufgestellt, zuweilen
auch mit Beweisen versehen worden ist, die aber fehler-
haft waren. Leibniz trieb den Gebrauch dieses Satzes
[136] so weit, daſs er fragte: warum vielmehr Etwas sey als
Nichts? *) Wir wollen uns beschränken, vom zureichen-
den Grunde der Veränderungen zu reden; und als-
dann wird sich die Nothwendigkeit, einen solchen Grund
anzunehmen, und damit der gesuchte Beweis jenes Satzes,
in dem Widerspruche finden, der nach §. 33. in dem
Begriffe eines veränderlichen Dinges enthalten ist.
Wenn eine Sache, die man als eine solche und
keine andre zu kennen glaubte, sich vor unsern Augen
verändert: so bleibt schon der gemeine Verstand nicht
bey dem Ungedanken stehn, dieses Neue und jenes Alte
sey Eins und dasselbe; sondern er nimmt an, ein Zu-
sammen der Sache mit irgend einer andern Sache sey
entweder eingetreten oder aufgehoben. Das flüssige Was-
ser, in Eis verwandelt, habe Wärme verloren; dasselbe
als Dampf verflüchtigt, habe Wärme in sich genommen.
So wird die Schuld des anscheinenden Widerspruchs auf
etwas Fremdes geschoben. Dieses Fremde wird gedacht
als eingreifend, als sich verbindend mit dem, was
die Veränderung leidet; es wird also gedacht, wegen
einer Nothwendigkeit, die im Denken entsteht; es wird
nicht angeschaut, denn die Erfahrung begnügt sich viel-
mehr, uns in der sinnlichen Erscheinung das widerspre-
chende veränderliche Ding vor die Augen zu stellen. Uns
selbst bleibt es überlassen, getrieben vom Bedürfniſs des
Denkens, unter den begleitenden Umständen der Erschei-
nung dasjenige aufzusuchen, auf welches wir die Schuld
des Widerspruchs abladen, welches wir als das Hinzu-
kommende oder Entweichende ansehen können.
Eine völlig fertige Kategorie der Ursache aber
ist hier eben so wenig zu finden, als vorhin eine Kate-
gorie der Substanz. Vielmehr wird das Zusammen der
Mehrern, in so fern daraus eine neue Erscheinung an
einem sonst wohlbekannten Gegenstande soll verstanden
werden, uns sogleich zum Räthsel, sobald wir uns fra-
[137] gen, wie denn die Wirkung in dem Einen habe erfol-
gen können, vermöge des andern? Wobey nur so viel
klar ist, daſs dazu Mehr gehöre, als bloſses Nebeneinan-
der seyn, daſs das Zusammenkommen der Ursache und
des leidenden Gegenstandes die bloſs räumliche oder zeit-
liche Nähe überschreiten, und etwas dabey vorgehn müsse,
welches vorläufig mit den Worten Eingreifen, Ver-
wandtseyn und sich gegenseitig binden, bezeich-
net werden könne.
Hier nun muſs der gemeine Verstand, wie er unter
andern in der, so eben gebrauchten, metaphorischen
Sprache der Chemiker sich äuſsert, in Schutz genommen
werden gegen die unrichtigen Ansichten der Kantischen
Schule, welche aus der Verlegenheit entstanden, dem
Causalbegriffe, der allerdings nicht im Gegebenen unmit-
telbar gefunden, sondern in dasselbe hineingetragen wird,
seinen Ursprung nachzuweisen. Kant lehnte in dieser
Verlegenheit die Causalität an die Zeit, — mit der sie
gerade gar nichts gemein hat! Es ist längst bemerkt,
daſs zwischen Ursache und Wirkung sich kein Vorher
und Nachher einschieben darf, als ob die Wirkung noch
dürfte auf sich warten lassen, nachdem sie schon voll-
ständig begründet ist. Die Priorität der Ursache liegt
bloſs im Begriffe; man muſs das Zusammen der Mehrern
voraussetzen, damit die neue Erscheinung nicht die
Identität dessen verletze, an dem sie erscheint. — Ueber
der Betrachtung der Zeit-Verhältnisse geht bey Kant
das wesentliche Merkmal des Eingreifens ganz verloren;
und je schlechter nun eben in diesem Puncte der allge-
mein vorhandene Begriff der Ursache aufgefaſst ist, um
desto weniger hätte ein so misverstandener, seiner Be-
deutung und seinem Ursprunge entfremdeter Gedanke,
unter dem Namen einer Kategorie für eine Form des
Denkens ausgegeben werden sollen.
Statt einer vesten Form des Denkens zeigen sich in
der Annahme einer Ursache zu der Veränderung viel-
mehr die ersten nothwendigen Schritte der Untersuchung;
[138] eben dieselben, welche sich nach der Methode der Be-
ziehungen ergeben müssen, und sich folglich aus ihr er-
läutern lassen. Das in der Veränderung entstandene
Neue wird als eine Modification des Schon-Vorhandenen
mit Hülfe eines Dazutretenden angesehn. Zwey Stoffe
(die mehrern M) zusammengenommen sollen das Neue
(N) ergeben. Hier ist die Untersuchung über die Mög-
lichkeit der Veränderung gerade so weit gediehen, als die
Untersuchung über die Möglichkeit des Ich an der Stelle,
wo mehrere Objecte für dasselbe Vorstellende angenom-
men werden. Aber so wenig man nun hieraus das Ich
begreift, so gewiſs vielmehr noch eine weitläuftige Un-
tersuchung bevorsteht, zu der man nur den ersten An-
lauf genommen hat: eben so sicher ist der Begriff der
Ursache auch nur der Anfang und die Eröffnung einer
weitaussehenden Nachforschung, welche die Metaphysik
vollenden muſs, während der gemeine Verstand schon
bey den ersten Schritten ermattet.
Eine wichtige Bemerkung über diese ersten Schritte
muſs noch hinzugefügt werden, wodurch sich unsre Ver-
gleichung der verschiedenen Probleme am Ziele finden
wird. Wir haben oben im §. 33. gesehn, daſs nicht bloſs
die successiven Merkmale des Veränderlichen, sondern
auch die gleichzeitigen, — überhaupt die mehrern Be-
stimmungen Eines und desselben Dinges, einen Wider-
spruch erzeugen. Dieser seltener bemerkte Widerspruch
zieht gleichwohl eine ganz ähnliche Untersuchung nach
sich, als jener; und es findet sich, daſs kein einziges, in
der gemeinen Erkenntniſs vorkommendes Merkmal der
Dinge, als wahre Eigenschaft des Wesens angesehen
werden könne, sondern daſs jedes Element der Er-
scheinung als Andeutung einer Modification
eines Wesens durch ein anderes betrachtet
werden müsse. Dieses giebt der Untersuchung, auf
welche der Causalbegriff führt, eine auſserordentliche
Erweiterung; und es wird Ein und dasselbe Geschäfft,
den Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen,
[139] und den zwischen Accidenzen und Substanzen zu er-
klären. —
Der äuſserste Punct, bis zu welchem die Vergleichung,
die uns beschäfftigt, kann getrieben werden, und von wo
schon die fernere Divergenz anhebt, zeigt sich bey der
Auflösung des Problems vom Ich, an jener Stelle, wo
die verschiedenen Objecte, auf deren Zusammen das
Selbstbewuſstseyn beruhen soll, als Entgegengesetzte, und
deren Vorstellungen als einander aufhebend nachgewie-
sen werden. Dem entspricht bey der Untersuchung über
Substanz und Causalität der Gegensatz unter den
Qualitäten der Wesen, auf deren Zusammen theils
die successiven, theils die simultanen Merkmale der sinn-
lichen Dinge zurückgeführt werden *). Nämlich gerade
so, wie eine bloſse Summe von Objecten die Untersu-
chung über das Ich nicht fördern würde, eben so ver-
mag eine bloſse Summe von Wesen nichts zur Erklärung
der Veränderungen, noch überhaupt der Eigenschaften
sinnlicher Dinge. Die Wesen, wie die Vorstellungen der
Objecte, müssen einander auf irgend eine, näher zu be-
stimmende Weise afficiren.
Aber in der nähern Bestimmung tritt nun auch so-
gleich der Unterschied hervor, daſs bey den Vorstellun-
gen ein wirkliches Weichen der einen vor der andern
denkbar und zur Erklärung des Ich nothwendig ist. Hin-
gegen die Wesen würden sich in vollkommne Undinge
verwandeln, wenn sie, entweder, in ihrer Qualität eine
Abänderung erlitten, und dennoch, nachdem sie schon
andere geworden wären, dieselben blieben wie zuvor,
— oder, in ihrem Seyn sich vermindern lieſsen, während
das Seyn gar keine Grade zuläſst, die sich vermehren
oder vermindern könnten **). Daher kann der Gegensatz
[140] der Wesen höchstens die Folge haben, daſs sie demsel-
ben innerlich widerstehen, und sich selbst er-
halten; wobey die Art des Widerstandes sich nach der
Art der Anfechtung, oder Störung, richtet, und deshalb
eben so mannigfaltig ist, als diese nur immer seyn mag.
Daſs aber der Gegensatz der Wesen (der keinesweges
ein reales Prädicat derselben ist) die bezeichnete Folge
oftmals (obschon bey weitem nicht immer) wirklich habe,
dieses und nichts anderes macht den Begriff des Zu-
sammen der Wesen aus; welches, wo es vorkommt,
nicht aus den Wesen, denen es zufällig ist, sondern aus
den Erscheinungen geschlossen wird, zu deren Erklärung
es muſs vorausgesetzt werden.
[141]
Und so wären wir nun wiederum bey denselben
Puncten angelangt, auf die wir schon im Anfange dieses
Capitels durch die aufgestellte Behauptung geführt wur-
den, daſs die Vorstellungen nichts anderes als Selbst-
erhaltungen der Seele seyen. Weitere Erörterun-
gen des Allgemein-metaphysischen, worauf dieser Satz
sich stützt, sind hier nicht am rechten Platze, und kön-
nen demjenigen kaum Bedürfniſs seyn, welcher mit dem
schon Gesagten die oft angeführten Hauptpuncte der
Metaphysik, das Lehrbuch zur Einleitung in die Philo-
sophie, im vierten Abschnitte, und allenfalls noch das
erste Capitel der oben genannten Abhandlung de attra-
ctione elementorum, gehörig vergleichen will.
Anmerkung.
Ueber die Kunst des metaphysischen Denkens.
Die Behandlung eines jeden metaphysischen Pro-
blems hat Anfang, Mittel und Ende; man muſs den Kno-
ten so, wie unsere geistige Natur, ihren Verhältnissen
gemäſs, ihn schürzt, erkennen; man muſs alsdann die ver-
schiedenen Operationen, welche zusammen die Auflösung
ausmachen, richtig durchführen; und endlich die gefun-
denen Resultate genau vesthalten und richtig anwenden.
1) Um die Probleme richtig aufzufassen, muſs man
wissen, daſs sie allemal Begriffe sind, und weder etwas
Höheres noch etwas Niedrigeres. Nicht Ideen, in wel-
chen ein ästhetisches Urtheil verborgen liegen würde, wo-
durch sich der Denker in einen bestochenen Richter ver-
wandelt; (so verdarb sich Fichte das Ich, indem er die
von ihm hoch verehrte Freyheit darin zu sehen glaubte).
Nicht Wahrnehmungen, denn über sie hat das Den-
ken keine Gewalt, sie müssen bleiben wie sie sind. —
Von den Begriffen ist nun immer zuerst eine logische
Analyse nöthig, und in Folge derselben eine gute Namen-
Erklärung, wie jene des Ich, es sey Identität des Objects
und Subjects, oder die alte der Substanz, sie sey das
[142] Subject, was nie Prädicat werden könne. Hier ist gegen
die falsche Genialität derer zu warnen, die sich über lo-
gische Pünctlichkeiten erhaben wähnen. Dann aber muſs
die Namen-Erklärung verglichen werden mit denjenigen
Wahrnehmungen, durch welche der Begriff gegeben ist.
So haben wir oben lange gezweifelt, ob wir die indivi-
duelle Persönlichkeit in den Begriff des Ich aufnehmen
sollten oder nicht; und endlich gefunden, die Wahrneh-
mung selbst verbiete uns dies, weil im Selbstbewuſstseyn
das Ich als ein Beharrliches betrachtet wird, die Indivi-
dualität aber sich vom zufällig Wechselnden nicht rein
abscheiden läſst. So muſs in Ansehung der Substanz ge-
zweifelt werden, ob sie als Eins gegeben sey? — Dieses
Eine wird sich unter dem Vorrath des Gegebenen nicht
unmittelbar finden. Oder ob man die vielen Merkmale
bloſs als Vieles betrachten, deren Einheit aber aufgeben
wolle? Dagegen wird sich die Wahrnehmung abermals
sträuben; und es wird dabey bleiben, daſs man genöthigt
sey, den vielen gegebenen Merkmalen ein unbekanntes
Eins zum Grunde zu legen. — Ist man nun so weit ge-
kommen, durch Vergleichung mit der Wahrnehmung den
Begriff so zu bestimmen, wie er als durchs Gegebene
uns aufgenöthigt, das heiſst, als ein gültiger Begriff zu
denken ist: alsdann folgt abermals eine Analyse, die ihn
als einen widersprechenden bezeichnen wird, wenn
er ein metaphysisches Problem ist, denn träfe dieses nicht
ein, so könnte er bleiben wie er ist, und die Metaphysik
brauchte keine Kunst an ihn zu verschwenden; der blo-
ſsen logischen Ueberlegung würde es anheim fallen, ihm
in dem Systeme der übrigen Begriffe seinen Platz anzu-
weisen.
2) War es schon schwer, in sich selbst das Ge-
ständniſs zur Reife zu bringen, daſs ein durchs Gegebene
unvermeidlich aufgedrungener Begriff widersprechend sey:
so wird es nun noch schwerer, in der Klemme zwischen
den beyden widersprechenden Gliedern des Begriffs so
lange auszudauern, ja, sich von ihnen so lange hin- und
[143] hertreiben zu lassen, so vielen anscheinend unnützen Ver-
suchen des Denkens sich hinzugeben, als die regelmäſsige
Auflösung erfordert. Manche glauben nicht zu denken,
sondern zu phantasiren, wenn sie ihre Gedanken nicht
gleich in gerader Linie fortführen können; und hier be-
gegnet selbst Männern dasselbe, was man sonst an Jüng-
lingen bemerkt: sie können sich zuweilen schlechterdings
nicht enthalten, schnell abzuurtheilen; sie fühlen nicht
die Nothwendigkeit, sich erst auf Untersuchung einzulas-
sen. Wie man von unerfahrnen jungen Königen erzählt,
die den Richterstuhl bestiegen hatten, und nun erst von
einer Parthey, dann von der andern sich überreden lie-
ſsen, unfähig, sich das: audiatur et altera pars, einzu-
prägen; so geht es auch denen, welche in der Betrach-
tung eines metaphysischen Problems nicht geübt sind.
Die Einheit des Ich, die Einheit der Substanz, ist ihrer
Meinung nach so vollkommen klar, daſs dagegen gar kein
Einspruch statt finde; aber die Vielheit im Ich (Object
und Subject) ist ihnen eben so klar; desgleichen die Viel-
heit der Attribute und Accidenzen. Daher lassen sie un-
bedenklich ein ganzes Universum aus dem Ich oder aus
der Substanz hervorgehn; sind sie eben mit der Vielheit
beschäfftigt, so achten sie nicht auf die Einheit; diese
muſs sich nun gefallen lassen, ein intensives Vieles zu
seyn, so voll und so groſs als eben nöthig ist, damit sich
eine Welt daraus entwickele; sind sie hingegen mit der
Einheit beschäfftigt, so kostet es sie nichts, dem Vielen
zu gebieten, daſs es nur dem Scheine nach für ein Vie-
les gelten solle, der Wahrheit nach aber Eins seyn müsse.
Woher der Schein in der Wahrheit? Diese Frage
drückt sie so wenig, daſs sie vielmehr den Wirbel ihrer
Gedanken, wie ein wirkliches Hervorgehn aus der Einheit,
und Rückkehren in dieselbe beschreiben. — Gerade um-
gekehrt muſs der wahre Metaphysiker nicht bloſs die wi-
dersprechenden Glieder seines Problems, sondern auch
den doppelten Anspruch der Denkbarkeit und der Gül-
tigkeit, streng vesthalten, keinem etwas vergeben, keinem
[144] mehr einräumen als ihm zukommt. Er muſs die noth-
wendige Bewegung seines Denkens nicht als einen vor-
übergehenden Wechsel von Gedanken selber durchlaufen,
sondern jeden Schritt in dieser nothwendigen Bewegung
als ein Vestes und Unveränderliches sich einprägen;
gleichsam wie eine Reihe von historischen Gemälden, de-
ren jedes einen Moment des Handelns fixirt, so daſs alle
zusammen auch die sämmtlichen Puncte des Uebergangs,
woraus die ganze Begebenheit besteht, zur beständigen
Anschauung aufbewahren. Dieses Stehen mitten im noth-
wendigen Wechsel ist allerdings schwer, weil alle Puncte
des Wechsels von der Art sind, daſs man auf ihnen
nicht stehen bleiben kann. Aber gerade dieses: Nicht
stehen bleiben können, hat der Metaphysiker ein- für
allemal darzustellen, so daſs er den Proceſs des Denkens,
wodurch ihm seine Resultate gewiſs wurden, in jedem Au-
genblick erneuern könne. Wem der Kopf leicht schwin-
delt, der kann die metaphysischen Steige nicht gehn;
wer, um den Schwindel zu vermeiden, mit verschlossenen
Augen herübergehn will, der findet die Steige nicht, und
nur in seiner Einbildung kommt er hinüber.
3) Ist endlich ein Punct erreicht, wo man stehen
bleiben kann, so folgt daraus nicht, daſs man hier lange
stehen und ausruhen müsse. Die Auflösung eines meta-
physischen Problems zeigt unmittelbar noch nichts, als
nur eine allgemeine Bedingung der Denkbarkeit des auf-
gestellten Begriffes; wer mehr verlangt, der muſs weiter
fort arbeiten. Er muſs nicht bloſs seine Kräfte, sondern
auch seine Ueberlegung sammeln für eine, vielleicht völ-
lig veränderte, Art des Fortschreitens, die ganz neue
Vorübungen erfordern kann. — Im Allgemeinen ergeben
sich aus metaphysischen Auflösungen sehr bald mathema-
tische Probleme; denn alle Erscheinungen sind Quanta;
alles, was als Wirkung von Kräften erscheint, hat Ge-
setze, die an ein Mehr und Weniger in diesen Kräften
gebunden sind; daher die metaphysischen Principien un-
mittelbar gar nichts bestimmtes in der Erscheinungswelt
er-
[145] erklären können, sondern allemal auf die hinzutretenden
Gröſsenbestimmungen muſs Rücksicht genommen werden.
Dies wird sich nun im Nachfolgenden gar bald zeigen.
Am schwersten übrigens ist die negative Bedingung
des metaphysischen Denkens zu erfüllen; das Verhüten
fremdartiger Einmischungen. Je schwerer die Probleme,
desto mehr muſs man sich bemühen sie gesondert zu hal-
ten, um sie einzeln und deutlich zu betrachten. Nirgends
muſs mehr Metaphysik angehäuft werden, als der Gegen-
stand fordert. Aus den Grundlehren der praktischen Phi-
losophie muſs sie ganz wegbleiben. Und obgleich zum
vollständigen Aufschluſs über das Ich, auch die Unter-
suchung über den Raum, und seine Analoga, nöthig ist:
so würde doch, wenn ich den Raum, oder gar die Ma-
terie und den Leib, schon hier hätte einmischen wollen,
die Finsterniſs undurchdringlich geworden seyn.
Viertes Capitel.
Vorbereitung der mathematisch-psychologischen
Untersuchungen.
§. 36.
Es sind die Betrachtungen des §. 29., deren Faden
wir wieder aufnehmen müssen. Dort fand sich der Satz,
daſs die mannigfaltigen Vorstellungen eines Subjects, wel-
ches zur Ichheit gelangen soll, unter einander entgegen-
gesetzt seyn müssen; und dieses zwar in dem Sinne, daſs
ein Vorstellen das andere vermindere, oder gar aufhebe.
Was das heiſsen solle, ist jetzt noch näher zu über-
legen.
Man denke sich zuvörderst ein Vorstellendes, noch
ohne Selbstbewuſstseyn; auch, um nichts willkührlich an-
zunehmen und voreilig vorauszusetzen, noch ohne alle
I. K
[146] formalen Bestimmungen durch Begriffe, oder durch Raum
und Zeit: lediglich hingegeben der Materie der Empfin-
dung, wie den Tönen, oder den Auffassungen des Ge-
schmacks, Geruchs, Gefühls. (Der Gesichtssinn würde
kein ganz passendes Beyspiel liefern, oder wenigstens
wäre ein solches einem Misverständniſs ausgesetzt, weil
man bey den Farben immer sogleich irgend etwas von
Gestalt und Gröſse hinzudenkt.) Die Forderung ist nun,
daſs dies unser Vorstellendes übergehe zum Vorstellen
seiner selbst; aber, wie wir gesehen haben, nicht durch
einen absoluten Act, sondern einzig und allein bestimmt
durch die Beschaffenheit derjenigen Vorstellungen, wel-
che wir bey ihm schon vorausgesetzt haben.
Da also die Vorstellung Ich nicht hinzukommen,
sondern werden soll aus dem was schon da ist, so kann
dieses Vorhandene nicht ein solches Vorgestelltes bleiben,
dergleichen es jetzt ist, sondern es muſs auf allen Fall
ein Anderes werden.
Allein hier würde es uns nichts helfen, wenn eine
objective Bestimmung überginge in eine andere. Man
setze, die Vorstellung Roth gehe über in die Vorstellung
Blau, oder die eines hohen Tons verwandele sich in die
eines tiefen Tons, so ist das Blaue und der tiefe Ton
für die Vorstellung Ich (welche entstehen soll) eben so
fremdartig, als die Vorstellungen des Rothen und des hö-
heren Tones. Mit einer solchen Abänderung wäre also
nichts gewonnen.
Oder wollte man sagen, die objectiven Vorstellun-
gen müſsten ganz aus ihrer Art herausgehn, um statt ei-
nes Nicht-Ich vielmehr das Ich darzubieten: so wäre die-
ses, auch abgesehen von der Frage nach der Möglich-
keit, dem Probleme gar nicht angemessen. Denn wir
haben gesehen, daſs die nackte Ichheit ein Widerspruch
ist; und jene Forderung hieſse demnach nichts anderes
als, die Vorstellungen sollten aus der Art des Vorstell-
baren hinübergehen in die Art des Undenkbaren und Un-
gereimten.
[147]
Vielmehr, da die Ichheit (nach §. 28.) sich nothwen-
dig bezieht auf eine Mannigfaltigkeit solcher Objecte, die
Nicht-Ich sind: so müssen jene objectiven Vorstellungen
in ihrer eignen Art bleiben; weil sonst gar der Bezie-
hungspunct für das Ich wieder verloren ginge.
Wenn wir ihnen nun ihre Qualität lassen: so kann
ihre Veränderung zunächst nur die Quantität des Vor-
stellens betreffen.
Allein auch hier ist ein Misverständniſs zu verhüten;
nämlich als ob es zuviel wäre an der Menge oder an dem
Grade des Vorstellens; da doch nichts Zuviel seyn kann
in demjenigen, was wir eben als Bedingung der Ichheit an-
genommen haben. Es muſs also in einem gewissen Sinne
auch die Quantität des Vorstellens die nämliche bleiben.
In einem anderen Sinne aber soll sie gleichwohl ver-
mindert werden; denn so befangen in fremdem Objectiven,
wie wir unser Subject uns bis jetzt denken, darf es of-
fenbar nicht bleiben, wofern es zu sich selbst kommen
soll.
Hier kommt es darauf an, einen neuen Begriff zu
erzeugen, der allen Rücksichten Genüge leiste.
Wenn wir sagen, das Objective, was es auch sey,
tauge nicht einzugehn in das Selbstbewuſstseyn, indem wir
sonst uns selbst als ein Anderes und Fremdes vorstellen
würden: so richten wir da unsre Aufmerksamkeit auf die
Objecte, auf die Bilder, welche dem Vorstellenden vor-
schweben; nicht aber auf das Vorstellen, welches wir als
eine Thätigkeit dem Subjecte selber beylegen. Jenen er-
sten Punct also trifft unsre Forderung, daſs eine Verän-
derung in der Quantität des Vorgestellten sich ereig-
nen soll; und wenn wir dabey die Quantität des Vor-
stellens, subjectiv genommen, unverändert vesthalten
können, so sind die verschiedenen Rücksichten vereinigt,
ohne daſs wir hiebey auf einen wahren Widerspruch ge-
stoſsen wären.
Also die Thätigkeit des Subjects im Vorstellen, soll
unvermindert beharren, aber ihr Effect, das vorgestellte
K 2
[148] Bild, soll geschwächt oder gar aufgehoben werden; und
hierin soll dasjenige bestehen, was mehrere Vorstellungen
vermöge ihres Gegensatzes untereinander bewirken.
Aber eine Thätigkeit, welche fortdauert, während ihr
Effect, den sie vermöge ihrer Eigenthümlichkeit hervor-
bringen würde, durch etwas Fremdes zurückgehalten wird,
eine solche kann man nur mit dem Namen eines Stre-
bens bezeichnen.
Aus Vorstellungen wird demnach ein Streben vor-
zustellen, wenn entgegengesetzte Vorstellungen in ei-
nem und demselben Subject, das zum Selbstbewuſstseyn
gelangen soll, vereinigt sind.
§. 37.
Den eben gefundenen Gedanken können wir sogleich
mit der Erfahrung vergleichen. Diese lehrt, daſs unsre
Vorstellungen sich verdunkeln, schwinden, wiederkehren.
Ueber den Zustand, in welchem sie, so fern sie aus dem
Bewuſstseyn verschwunden sind, sich befinden mögen,
kann keine Erfahrung belehren, denn Erfahrung haben
wir nur, so fern wir wirklich vorstellen; und die eignen
Vorstellungen in ihrem Schwinden beobachten zu wollen,
wäre gerade so viel, als sein eignes Einschlafen wahrneh-
men zu wollen. Wohin die Erfahrung nicht reicht, das
läſst sich gleichwohl sehr häufig durch Speculation errei-
chen: und wir haben so eben gesehn, daſs unsre, aus
dem Bewuſstseyn zurückweichenden Vorstellungen, sich
in ein Streben vorzustellen verwandeln; und daſs sie als
ein solches Streben unvermindert fortdauern; daher auch
ihr Vorgestelltes wiederkehren muſs, sobald die Hinder-
nisse, von denen sie gedrängt wurden, überwunden sind.
So wenig nun die Erfahrung diesen Aufschluſs un-
mittelbar geben konnte, so brauchbar ist derselbe zur Er-
klärung der Phänomene. Auf zwey der allerwichtigsten
psychologischen Gegenstände, das Gedächtniſs und den
Willen, fällt hier ein unerwartetes Licht. Daſs beyde
sich auf das Vorstellen beziehen, ist schon im §. 12. vor-
läufig bemerkt worden. Daſs sie allein aus dem Vorstel-
[149] len abgeleitet werden müssen, und ganz und gar nicht
als besondre Seelenkräfte angesehen werden dürfen, folgt
schon aus der allgemein-metaphysischen, in der letztern
Hälfte des §. 33. angedeuteten, Untersuchung, aus wel-
cher hervorgeht, daſs überhaupt Ein Seyendes keine ur-
sprüngliche Mehrheit von Bestimmungen, — ein Vorstel-
lendes keine ursprüngliche Mehrheit von Gemüthskräften,
— enthalten könne. Wie aber das Vorstellen in ein
Wollen übergehe, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn,
da wir gesehen haben, daſs Vorstellungen, vermöge ge-
genseitiger Hemmung, sich in ein Streben vorzustellen
verwandeln. Modificationen dieses Strebens müssen alle
diejenigen Phänomene seyn, welche unter dem Namen
des Willens, im weitesten Sinne des Worts, begriffen
werden. Denn alles Wollen trachtet nur dahin, sein
Vorgestelltes entweder vollkommen ins Bewuſstseyn zu
bringen, oder vollkommen hinauszuschaffen; (das letztre
ist der Fall beym Verabscheuen.) Mehr aber als eine
Vorstellung ihres Gegenstandes kann keine Begierde
erreichen; denn keine Dinge, sondern nur Vorstellungen,
haben Platz in einem Vorstellenden; auch wird jede Be-
gierde befriedigt, nicht durch die Realität, sondern durch
neues Gegeben-Werden der Vorstellung ihres Gegen-
standes, welches aber freylich in der Regel nur durch
sinnliche Gegenwart desselben vollständig erreicht werden
kann. Hier bestätigt sich nun der oben angeführte Ge-
danke von Leibniz: die Seele begehre, so fern sie von
einer Vorstellung zur andern strebe. (Man vergleiche
§. 18.) Genauer aber besteht jedes Wollen in dem Stre-
ben gewisser Vorstellungen; und zwar das Begehren in
dem Streben eben derselben Vorstellungen, durch
welche früherhin der begehrte Gegenstand ist aufgefaſst
worden (denn diese nämlichen Vorstellungen dauern fort
im gehemmten Zustande, und wirken in der Seele un-
aufhörlich gleich elastischen Stahlfedern), hingegen das
Verabscheuen besteht im Streben anderer Vorstellungen,
welche der des Verabscheueten entgegengesetzt sind. Dun-
[150] kel bleibt hiebey für jetzt noch, wie es zugehe, daſs nicht
alle gehemmten Vorstellungen sich unaufhörlich als
Begierden, und, in Beziehung auf dieselben, ihre entge-
gengesetzten sich als Verabscheuungen äuſsern? Diese
Frage aber kann nur dienen uns zu erinnern, daſs der
Begriff des Strebens vorzustellen, ein viel weiterer ist, als
der des Begehrens und Verabscheuens, und daſs zu je-
nem noch viele nähere, bis jetzt unbekannte, Bestimmun-
gen hinzukommen müssen, um diesen zu ergeben. So
wissen wir auch noch nichts von den Gesetzen, nach
welchen Vorstellungen, erst bis zum Vergessen gehemmt,
dann als ein Eigenthum des Gedächtnisses wieder hervor-
gehoben werden. Die Aufschlüsse hierüber können erst
durch Vergleichung der Erfahrung mit den Lehrsätzen
der Mechanik des Geistes herbeygeführt werden. Allein
schon die Kenntniſs des genus, noch ohne die genauere
Einsicht in das Eigenthümliche der species, hilft eine
Menge von Irrthümern zu entfernen, denen man in Hin-
sicht des Gedächtnisses und des Willens sich gemeinhin
zu ergeben pflegt.
§. 38.
Während nun die eben erwähnten Gegenstände eine
unerwartete Aufhellung empfangen haben: bleibt dagegen
das Hauptproblem noch sehr im Dunkeln liegen, und
wird auch noch lange nicht aus demselben hervorgeho-
ben werden können. Was das Streben vorzustel-
len, für die Ichheit leiste? das ist bis jetzt nur noch
in dem höchst allgemeinen Räsonnement zu erkennen,
daſs die fremden Vorstellungen bleiben, ihre Objecte aber
weichen müssen, wenn das Ich, das sich auf sie bezieht,
und dennoch ihnen allen entgegengesetzt ist, hervortre-
ten soll. Doch um wahrzunehmen, daſs wir der Auflö-
sung um etwas näher gerückt sind, wolle man zurück-
blicken in den §. 28. Dort kam der Satz vor: „Erst
„;dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört
„;etwas an ihnen dem Vorstellenden; nämlich ihre Zu-
„;menfassung in Ein Vorstellen; und was aus dieser wei-
[151] „ter entspringt.“ Jetzt ist uns gestattet, dieses, was aus
der Zusammenfassung in Ein Vorstellen entspringt, nä-
her anzugeben, nämlich in so fern es die Grundlage der
Ichheit bildet. Die Objecte der Vorstellungen sind es
nicht, wohl aber die Regsamkeit des Vorstellens selbst
in seiner Hemmung, wovon sich einsehn läſst, daſs es
dasjenige ausmachen werde, worin wir Uns Selbst erken-
nen. Eben das, was zum Gedächtniſs und zum Willen
gerechnet werden kann, dieses mag auch Uns bezeich-
nen; es mag helfen, jenes bisher vergeblich gesuchte Ob-
ject im Begriff des Ich (§. 27.) allmählig aufzufinden.
Gleichwohl, wie weit sind wir noch vom Ziele! Wir
begreifen noch nicht einmal so viel, wie denn ein Vor-
stellen, vollends ein Streben vorzustellen, zum Gegen-
stande einer höhern Vorstellung werden könne. Und
dieses wäre doch die erste Voraussetzung für jedes Fin-
den seiner selbst. Absolute Acte des Aufspringens zur
Reflexion auf sich selbst, haben wir anzunehmen uns
vielfältig untersagt; wollen wir aber dergleichen Wun-
der entbehren, und den schwierigen Weg einer ächten
Natur-Erklärung einschlagen: so müssen wir uns schon
gefallen lassen, das Gesuchte eine Zeitlang aus den Au-
gen zu setzen, um andere Spuren desjenigen, was seiner
Natur nach leichter und früher erkannt werden kann, zu
verfolgen, und auf solche Weise uns erst mit den nöthi-
gen Hülfs-Kenntnissen für die unternommene Nachfor-
schung zu versorgen.
Demnach sey nun auf langehin die Frage nach dem
Ich verabschiedet; der Begriff aber von dem Streben vor-
zustellen, dieser Hauptgewinn unserer bisherigen vom Be-
griff des Ich ausgegangenen Nachforschungen, wird uns
einen reichlichen, ja unerschöpflichen Stoff zu fernern
Untersuchungen darbieten, welche selbst wiederum (im
§. 132.) zu der Betrachtung des Selbstbewuſstseyns zu-
rückführen werden.
§. 39.
Daſs unter mehrern, einander entgegengesetzten Vor-
[152] stellungen, die Hemmung gegenseitig seyn, folglich die
Objecte sämmtlich in gewissem Grade verdunkelt, und
die Thätigkeiten des Vorstellens in eben dem Grade in
Strebungen verwandelt werden müssen: dies leuchtet so
unmittelbar ein, daſs der Beweis überflüssig seyn würde.
Zu dem weiſs die innere Wahrnehmung nichts von sol-
chen Vorstellungen, die gar keiner Verdunkelung unter-
worfen wären; vielmehr ist unleugbar, daſs alle uns be-
kannten Empfindungen, Gedanken, Gesinnungen, Motive,
mit einem Worte alles was im Bewuſstseyn angetroffen
wird, eben so wohl von anderem verdrängt wird, als es
selbst anderes zu verdrängen vermag. Jeder Gegenstand,
der das Gemüth beschäfftigt, steht nicht, sondern
schwebt im Bewuſstseyn; er schwebt in beständiger
Gefahr, vergessen zu werden über etwas neuem, —
wenn auch nur auf Augenblicke.
Dennoch bedarf der Begriff der gegenseitigen Hem-
mung mancher Erläuterungen. — Wir erblicken hier die
Vorstellungen als wider einander wirkende Kräfte. Aber
gerade wie in der allgemeinen Metaphysik sich findet,
daſs das Merkmal der Kraft gar kein reales Prädicat ir-
gend eines Wesens seyn kann, sondern daſs die We-
sen nur zufälliger Weise Kräfte werden, und daſs sie
dies auf unendlich verschiedene Weise werden können,
ohne alle reale Mannigfaltigkeit in ihnen selber *): eben
so ergiebt auch die gegenwärtige Betrachtung der Vor-
stellungen, daſs ihnen alle Kraftäuſserung nur zufällig,
und in dem Maaſse entsteht, als sie gehemmt werden.
Jede einzelne Vorstellung ist zuerst und für sich allein
nur durch ihr Object, durch das was vorgestellt wird,
[153] hiedurch aber vollständig, bestimmt als eine solche und
keine andre. So gewiſs sie nun dieses Object wirklich
vorstellt, eben so gewiſs ist sie keinesweges ein Stre-
ben vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht
erst hervor in der Hemmung durch ein hinzukommendes
entgegengesetztes. Es ist auch in ihr gar keine Activi-
tät, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeuſseres
gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine
Vorstellung nur im Erzeugen und Vesthalten ihres vor-
gestellten Bildes; darin erschöpft sie sich, und auſserdem
ist in ihr nichts zu finden. — Erst indem sie in einem
und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenste-
henden Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Acti-
vität, wodurch sie über sich selbst hinausgeht. Sie drängt
die andre, weil sie von der andern gedrängt wird; beyde
aber drängen einander vermöge des unter ihnen entste-
henden Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein
Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln ge-
nommen; sondern eine formale Bestimmung, welche nur
in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und
Bedeutung hat. Wer den Ton c hört, der hört ihn für
sich und durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetz-
tes von d. Desgleichen, wer den Ton d hört, der hört
den einfachen Klang d ohne Gegensatz gegen c. Aber
wer die Töne c und d beyde hört, oder beyder Vorstel-
lungen zugleich im Bewuſstseyn hat, der vernimmt nicht
bloſs die Summe c und d, sondern auch überdem den
Contrast beyder, und sein Vorstellen ist der Wirkung
des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben so, wer sich
in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der
sieht reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung
ist für sich vollständig; aber dasselbe reine Blau ist fä-
hig in unendlich viele Contraste einzugehn, gegen andre
und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und
die dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen,
für inwohnende Bestimmungen derselben Vorstellungen
halten, so wäre keine Vorstellung etwas für sich; es
[154] stünde auch niemals eine in einem bestimmten Contraste
gegen eine einzelne andre; sondern sie enthielte zugleich
alle die zahllosen möglichen Contraste als Eigenthüm-
lichkeiten in sich; und am Ende wären gar in jede
Vorstellung alle übrigen Vorstellungen, als Bedingungen
dieser sämmtlichen Contraste, mit eingeschlossen, und
die Mannigfaltigkeit und Abwechselung der Vorstellungen
würde unmöglich.
Diesen Hauptgedanken, daſs nur im Zusammentref-
fen die entgegenstehenden Vorstellungen Kräfte werden,
wollen wir nun näher bestimmen. Schon die Beyspiele
der Farben, der Töne u. s. w., erinnern uns, daſs der
Gegensatz zweyer Vorstellungen gradweise verschieden
seyn könne. Dem Blau steht das Roth, aber weniger
das Violet, in seinen verschiedenen Nüancen, entgegen;
dem Tone c mehr der Ton d, als cis; mehr g, als e.
Die Hemmungen, als unmittelbare Erfolge der Gegen-
sätze, müssen sich wie diese, gradweise abstufen. Daſs
also Vorstellungen Kräfte werden, dies hat sein Maaſs;
und zwar ein veränderliches Maaſs, weil die Gröſse
des Gegensatzes Veränderungen zuläſst.
Neben dieser Gröſsenbestimmung werden wir sogleich
noch eine andre als möglich erkennen. — Der Erfolg der
Hemmung ist Verdunkelung des Objects, und Verwand-
lung des Vorstellens in ein Streben vorzustellen. Kann
ein gewisser Grad des Gegensatzes totale Verdunkelung
eines Objects bewirken: so wird ein geringerer Gegensatz
nur partielle Verdunkelung zur Folge haben; gradweise
verschieden nach den Graden der minderen Gegensätze.
Diese partielle Verdunkelung läſst also noch einen Grad
des Vorstellens übrig. Auch das Vorstellen der Objecte
also hat Grade, wie die Erfahrung bestätigt.
Offenbar aber ist nicht nöthig anzunehmen, daſs
ein gewisses Vorstellen, um, verglichen mit einem an-
dern, ein schwächeres zu seyn, erst eine partielle Ver-
dunkelung erlitten haben müsse: auch ohne alle Hem-
mung kann es ursprünglich ein schwächeres oder stärke-
[155] res seyn *). Dieses ist wiederum in der Erfahrung völ-
lig bekannt; wir schreiben allen unsern Auffassungen ur-
sprünglich einen Grad zu.
Verbinden wir nun diese Gradbestimmung mit jener,
also den Unterschied der Vorstellungen ihrer Stärke
noch mit der Gröſse ihres Gegensatzes unter einander:
so muſs sich daraus ergeben, wie groſs in jedem Falle
die Verdunkelung, die Hemmung, das Streben, und auch
das noch übrige wirkliche Vorstellen seyn werde. Hier
findet die Rechnung einen ihr angemessenen Stoff; und
es kommt darauf an, uns von der Form solcher Rechnung
einen allgemeinen Begriff zu bilden; womit die Ueber-
sicht über die nachfolgenden Untersuchungen zusammen-
hängt.
§. 40.
Die Verdunkelung der Vorstellungen, vollends wenn
sie successiv durch verschiedene Grade fortläuft, hat so
viel Aehnlichkeit mit einer Bewegung, daſs es gar nicht
befremdend seyn kann, wenn die Theorie von den Ge-
setzen der Verdunkelung, und der ihr entgegenstehenden
Erhellung, oder dem Wieder-Hervortreten der Vorstel-
lungen ins Bewuſstseyn, sich der Theorie von den Be-
wegungsgesetzen der Körper im Ganzen ähnlich gestal-
tet. Wenigstens die Sprache muſs von da her ihre Aus-
drücke entlehnen, falls nicht eine neue, und deshalb un-
verständliche Sprache unnützer Weise soll erfunden wer-
den. Nur einige Benennungen, welche als Metaphern
neu sind, wird man sich müssen gefallen lassen, damit
die neuen Begriffe eine Bezeichnung erhalten können.
Zu allererst werden wir den Unterschied der Statik
[156] und Mechanik, welcher die Lehre von den räumlichen
Kräften beherrscht, auch hier wieder finden. Denn das
Gleichgewicht, im Gegensatze der noch fortgehenden
Bewegung vermöge des Uebergewichts einiger Kräfte
über die andern, — ist dasjenige, was auch in Hinsicht
der wider einander wirkenden Vorstellungen sich zuerst
darbietet, und sich am leichtesten bestimmen läſst. Die
obige Frage, wie groſs, bey gegebener Stärke und gege-
benem Gegensatze mehrerer Vorstellungen, die Verdun-
kelung einer jeden seyn werde, ist offenbar eine statische
Frage; denn es wird eine solche Hemmung einer jeden
gesucht, bey welcher dem Gegensatze Genüge geschieht,
und die Kräfte nicht weiter gegen einander etwas aus-
richten können. Allein falls ein solcher gehemmter Zu-
stand einer jeden Vorstellung nicht etwan plötzlich, son-
dern, wie schon zu vermuthen, allmählig eintritt, so ent-
steht nun noch eine ganz andre Untersuchung, nämlich
mit welcher, sey es gleichbleibenden, sey es veränderli-
chen Geschwindigkeit, die Verdunkelung fortdauernd
geschehen, und in welcher Zeit sie geendigt seyn werde.
Diese letztre Frage erkennt man ohne Zweifel sogleich
für eine mechanische Frage.
Die angeführten Beyspiele können hinreichen, um
die Aehnlichkeit einer Mechanik des Geistes mit der Me-
chanik der Körperwelt im Allgemeinen wahrzunehmen.
Allein über der Aehnlichkeit darf die Verschiedenheit
nicht übersehen werden. Wir haben hier keine räumliche
Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte; wir haben
keine Winkel, also keine Sinus und Cosinus, und keine
drehende Bewegung; wir haben keinen unendlichen Raum,
sondern alle Bewegung der Vorstellungen ist zwischen
zwey vesten Puncten eingeschlossen, ihrem völlig gehemm-
ten, und ihrem völlig ungehemmten Zustande; wir haben
endlich gar kein beharrliches Fortgehen des Bewegten,
folglich auch keine ähnliche Beschleunigung, wie in der
Mechanik der Körper, denn jede augenblickliche Bewe-
gung einer Vorstellung ist das unmittelbare Resultat der
[157] treibenden Kräfte. Wir haben dagegen hier eine Menge
ganz andrer Grundbegriffe, welche die Mechanik der Kör-
per nicht kennt, und auch dann nicht kennen würde,
wenn sie, um sich der Analogie der Geistes-Mechanik
anzubequemen, die gegenseitigen Drückungen einer Menge
von elastischen Körpern untersuchen wollte, (denn der-
gleichen lieſse sich mit den Vorstellungen noch am er-
sten vergleichen). Statt der Schwere, welche die Körper
nach unten drängt, haben wir hier das natürliche und
beständige Aufstreben aller Vorstellungen, um in ihren
ungehemmten Zustand zurückzukehren; dieses jedoch ist
vielmehr eine Aehnlichkeit als eine Verschiedenheit, in-
dem es einen inwohnenden Trieb nach einer bestimm-
ten Richtung anzeigt, welcher in jedem Augenblick so
viel wirkt, als ihm die Umstände gestatten.
Doch wir wollen diese vorläufigen und oberflächli-
chen Vergleichungen nicht weiter fortsetzen, sondern zur
Sache kommen. Im Begriff, die ersten Linien der Sta-
tik und Mechanik des Geistes vorzulegen, kann ich nicht
unterlassen, die Nachsicht der Leser anzurufen, welcher
das Unternehmen eines bloſsen Liebhabers der Mathe-
matik, bey einer so neuen Untersuchung, ohne Zweifel
bedürfen wird.
[[158]]
Zweyter Abschnitt.
Grundlinien der Statik des Geistes.
Erstes Capitel.
Summe und Verhältniſs der Hemmung bey
vollem Gegensatz.
§. 41.
Der Gegensatz zweyer Vorstellungen ist voll, oder so
groſs als möglich, wenn eine von beyden ganz gehemmt
werden muſs, damit die andre ungehemmt bleibe. Die-
ser Fall tritt zwar niemals ein; denn eine Vorstellung
wird nur gehemmt, indem sie widersteht; und ihr Wi-
derstand muſs allemal auch in der entgegengesetzten eine
gewisse Hemmung hervorbringen. Aber man kann sich
die Fiction erlauben, daſs die ganze Stärke des Gegen-
satzes, folglich die ganze Nöthigung zum Sinken nur auf
eine der beyden falle: alsdann ist das höchste, was ge-
schehn kann, völliges Sinken dieser einen, oder völliges
Erlöschen ihres Vorgestellten, bey Verwandlung ihrer
ganzen Thätigkeit in ein bloſses Streben wider die ent-
gegengesetzte. Mehr als Sinken kann sie nicht, und es
würde keinen Sinn haben, wenn man sich das Quantum
des wirklichen Vorstellens noch über Null hinaus abneh-
mend, folglich negativ, denken wollte.
Wohl aber läſst sich ein minderer Gegensatz den-
ken. Diesem zufolge würde eine Vorstellung ganz unge-
hemmt bleiben können, wenn von der andern nur ein be-
[159] stimmter Bruch, das heiſst eigentlich, wenn die andere
nur in einem bestimmten Grade gehemmt würde.
Der Unterschied des vollen und des minderen Ge-
gensatzes ist von der Stärke der Vorstellungen unabhän-
gig. Es sey die eine =a, die andere =b, wo a und b
Zahlen bedeuten, vermittelst deren die Stärke beyder ver-
glichen wird; der Gegensatz aber =m, wo m einen Bruch
bedeutet, oder höchstens die Einheit: so muſs bey vollem
Gegensatze (für welchen m=1), eben sowohl a ganz
sinken, wenn b soll ungehemmt bleiben, als b ganz sin-
ken muſs, damit a ungehemmt bleibe. Denn das Hem-
mende muſs ganz und gar weichen, wofern für das ent-
gegenstehende alle Hemmung verschwinden, und volle
Freyheit wiederkehren soll; und dies ist ganz auf gleiche
Weise nothwendig, es mag nun jenes oder dieses das
stärkere oder schwächere seyn. Bey minderem Gegen-
satze muſs mb sinken, falls a, oder es muſs ma sinken,
falls b ungehemmt bleiben soll. Denn je mehr von dem
Hemmenden vorhanden ist, in demselben Verhältnisse
mehr muſs weichen, wofern das gegenüberstehende un-
angetastet bleiben soll. Bestünde b aus unendlich vielen
kleinen Theilen: so würde jedem derselben das Merk-
mal, einen Gegensatz gegen a zu bilden, zuzuschreiben
seyn, und zwar in dem Grade m; mit der Menge der
Theile in b aber würde sich diese Entgegengesetztheit
vervielfältigen, und deshalb in dem Producte mb ihren
Ausdruck finden.
Die Voraussetzung des vollen Gegensatzes wird die
nächstfolgenden Untersuchungen erleichtern; deshalb ma-
chen wir mit ihr den Anfang.
§. 42.
Die Summe der Hemmung ist das Quantum des
Vorstellens, welches von den einander entgegenwirken-
den Vorstellungen zusammengenommen, muſs gehemmt
werden.
Diese Hemmungssumme muſs nothwendig zuerst be-
stimmt seyn, wenn die Hemmung jeder einzelnen Vor-
[160] stellung soll gefunden werden. Denn, wie schon im
§. 39. bemerkt, das Widereinanderstreben ist den sämmt-
lichen Vorstellungen zufällig, und sie äuſsern sich dem-
nach nur in so fern als Kräfte, als das Quantum des
Gegensatzes, welcher sich zwischen ihnen bildet, es mit
sich bringt. Je stärker nun der Grad des Gegensatzes
(das obige m) und je Mehr des entgegenstehenden (we-
gen der Stärke der einzelnen Vorstellungen): um desto
gröſser ist das Quantum dessen, was weichen muſs aus
dem Bewuſstseyn. Dieses Quantum bildet alsdann gleich-
sam die Last, welche sich vertheilt unter den verschiede-
nen Vorstellungen, die daran zu tragen haben; und das
sind die sämmtlichen wider einander strebenden. Aber
nicht eher können wir füglich von der Vertheilung spre-
chen, als bis wir die Last kennen, die vertheilt wer-
den soll.
Für vollen Gegensatz nun, und für zwey Vorstel-
lungen a und b, liegt gleich so viel klar vor Augen, daſs
entwedera, oderb die Hemmungssumme seyn müsse.
Denn es wird zwar von beyden gewiſs Etwas gehemmt
werden, und daſs irgend eins von beyden gänzlich weiche,
ist eine bloſse Fiction, der die Wirklichkeit durchaus
nicht entsprechen kann, weil nothwendig jedes von der
ihm entgegenstrebenden Kraft etwas leiden muſs: allein
in welchem Verhältnisse auch die Last sich vertheile, sie
bleibt doch an sich immer dieselbe; wir haben aber schon
im vorigen §. bemerkt, daſs diese Last, oder das Zu-
Hemmende a seyn würde, wenn b ungehemmt bleiben
sollte; hingegen b, wenn a von der Hemmung frey ge-
dacht würde. Gesetzt also, die Hemmungssumme wäre
der Gröſse nach gleich a: so würde zwar darum nicht
die ganze Vorstellunga gehemmt, aber der Grund
hievon läge nur darin, daſs ein Theil dieser Hemmungs-
summe auf b fiele, und gerade so viel, als auf b käme,
dürfte nun von a ungehemmt bleiben. Gesetzt im Ge-
gentheil, die Hemmungssumme wäre der Gröſse nach
=b, so würde nur so viel von b ungehemmt bleiben kön-
nen,
[161] nen, als dagegen von a aus dem Bewuſstseyn verdrängt
würde.
Wir schwanken demnach nur zwischen zweyen denk-
baren Bestimmungen der Hemmungssumme; allein die
Entscheidung, welche unter diesen beyden die richtige
sey, kann einen Augenblick schwierig scheinen.
Der entscheidende Grund zwar bietet sich leicht ge-
nug dar. Nämlich man muſs sich die Hemmungssumme
so klein als möglich denken; weil der natürliche Zu-
stand der Vorstellungen der ungehemmte ist, und sie sich
diesem, zu welchem sie sämmtlich zurückstreben, gewiſs
so sehr nähern als sie können. Daraus folgt, daſs wenn
a die stärkere, b die schwächere Vorstellung ist, die
Hemmungssumme der Gröſse nach nicht =a, sondern
=b seyn werde.
Auch wenn man auf die Vertheilung der Hemmungs-
summe einen Vorblick wirft, so leuchtet gleich so viel
ein, daſs zwar die stärkere Vorstellung das Uebergewicht
haben müsse, doch aber unmöglich mehr, als die schwä-
chere ganz, gehemmt werden könne; und daſs dieses
Aeuſserste völlig das nämliche bleibe, wenn schon die
stärkere wie sehr immer wachsen möchte. Z. B. es sey
a=10, b=1: so wird zwar gewiſs b beynahe ganz ge-
hemmt werden; aber mehr als das ganze b kann auch
dann nicht zu unterdrücken seyn, wenn schon a anstatt
=10, vielmehr =100 wäre. Es ist einmal nicht mehr
vorhanden als nur b, was dem a entgegengesetzt wäre!
Folglich durch Vergröſserung der stärksten un-
ter den Vorstellungen wächst die Hemmungs-
summe nicht. Hingegen es sey a=10, b=2: so ist
nun des entgegengesetzten gewiſs mehr geworden. Denn
indem b von 1 bis 2 gewachsen ist, muſs a einer stär-
kern Kraft widerstehen, als vorhin, es wird dadurch mehr
ins Streben versetzt; und dasselbe ist der Fall bey b,
wenn schon dieses nun verhältniſsmäſsig nicht so viel lei-
det, wie vorhin.
Da nun die Hemmungssumme nicht gröſser seyn
I. L
[162] kann als b; aber auch nicht kleiner (denn bey vollem
Gegensatz ist b ganz und gar dem a zuwider): so ist sie
gewiſs =b. Dasselbe erhellet auch aus folgender Be-
trachtung: man setze a ungehemmt, so ist b ganz ge-
hemmt; nun verbessere man die Vertheilung, so daſs auf
a auch ein Theil der Last falle, und b dagegen steige:
so kann unmöglich durch die veränderte Vertheilung das
Quantum des wider einander Wirkenden wachsen oder ab-
nehmen, denn das Wirksame, und seine eigenthümliche
Beschaffenheit, vermöge deren es einen bestimmten Ge-
gensatz mit einander macht, bleibt genau das nämliche
wie zuvor; also muſs die Summe der Hemmung =b seyn
und bleiben.
Allein gerade diese letzte Betrachtungsart möchte
man benutzen, um daraus einen Einwurf zu bilden. Setzet
umgekehrt, (möchte man sagen), es sey b ungehemmt,
folglich a ganz gehemmt; bey verbesserter Vertheilung
kann nun das Quantum der Hemmung nicht abnehmen,
eben darum weil dies Quantum von der Vertheilung un-
abhängig ist; folglich ist die Hemmungssumme =a und
nicht b. Oder, wenn auf gleichem Wege bewiesen
wird, sie sey a, und auch, sie sey b: so verräth sich
dadurch die Schwäche der Beweisart, die sich selbst wi-
derstreitet.
Wenn man jedoch das vorhin entwickelte zurückruft,
so sieht man offenbar, daſs in der Voraussetzung, a sey
ganz gehemmt, das Quantum der Hemmung gröſser an-
genommen ist, als es nach der Beschaffenheit von a und
b zu seyn braucht. Diese beyden können unleugbar eine
Stellung gegen einander annehmen, worin weniger von
ihnen gehemmt wird; und eben darum werden sie es un-
fehlbar thun, sobald die Vertheilung sich ändert; wiewohl
dieses nicht von der neuen Vertheilung herrührt. Viel-
mehr dasselbe Aufstreben beyder Vorstellungen, welches
eine bessere Proportion in die Vertheilung bringen wird,
eben dieses widersetzt sich auch dem Uebermaaſse der
Hemmung, und führt sie auf das Nothwendige zurück. —
[163] Es scheint demnach unsre Bestimmung der Hemmungs-
summe hinreichend gesichert zu seyn.
Die gleiche Bestimmung aber wird sich, unter Vor-
aussetzung des vollkommenen Gegensatzes, sehr leicht
von zwey Vorstellungen auf mehrere in beliebiger Anzahl
ausdehnen lassen. Es seyen auſser a, der stärksten, noch
vorhanden b, c, d, … n: so ist die Hemmungssumme
=b+c+d+…+n. Denn b und die übrigen stehn dem
a ganz und gar entgegen; kleiner also als ihre Summe
kann das Quantum der Hemmung nicht seyn; aber auch
nicht gröſser, denn wenn jene alle völlig unterdrückt wä-
ren, bliebe die stärkste ganz ungehemmt. — Will man
dagegen versuchen, sich b ungehemmt zu denken, so ist
die Summe des Gehemmten =a+c+d+..+n; also
gröſser wie vorhin, und so bey jeder andern ähnlichen
Voraussetzung. Folglich ist die obige Angabe allein zu-
lässig. —
Bevor wir indessen die Betrachtung der Hemmungs-
summe verlassen, muſs noch einem möglichen Misver-
ständnisse begegnet werden, welches aus der Verglei-
chung jener Summe mit einer zu vertheilenden Last, ent-
stehen könnte. Es wird nämlich dem Geiste unsrer vest-
gestellten Sätze ganz gemäſs gefunden werden, daſs die
Vorstellungen sämmtlich in eben dem Grade, wie sie lei-
den, auch in wirksame Kräfte verwandelt, daſs sie durch
den Druck angespannt werden, und daſs das Gleichge-
wicht eintrete, sobald Spannung und Druck einander ge
genseitig aufheben. Hieraus nun scheint zu folgen, daſs
die Summe des wirklich Gehemmten weit weniger betra-
gen müsse, als die ursprüngliche Nöthigung zum Sinken
erfordert. Denn diese Nöthigung, und die Spannung der
Vorstellungen, werden wider einander wirken; und die
erstere kann also den Punct nicht erreichen, wohin sie
strebt. — Dieses ist scheinbar, aber gleichwohl unrichtig.
Es wird nämlich dabey vorausgesetzt, die Vorstellungen
könnten der Hemmungssumme widerstreben. Aber die
L 2
[164] Vorstellungen widerstreben vielmehr eine der andern.
Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Verschiedenes;
sie ist keine, ihnen gleichsam von auſsen her aufgelegte
Last, an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten; son-
dern sie ist nur der Ausdruck von dem Quantum des
Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt, und unter ih-
nen bleibt, so fern sie im Bewuſstseyn zusammentreffen.
Was daher eine Vorstellung durch ihre Spannung ge-
winnt, das kann nicht Verminderung des ursprünglichen,
in der Beschaffenheit der Vorstellungen gegründeten Wi-
derstreits seyn (sonst müſsten sie ihre Natur ändern),
sondern jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag,
über die andern Vorstellungen, die sie um gerade so viel
hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung ihres eig-
nen Objects im Bewuſstseyn abhält. Und weit entfernt,
daſs die Hemmungssumme in der Spannung eine Gegen-
kraft finden sollte, ist sie vielmehr gerade der Ausdruck
dieser Spannung selbst, die mit dem Widerstreite iden-
tisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Strei-
tens der einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer
unten wird sich Gelegenheit finden, dieses sowohl, als
die entgegenstehende unrichtige Ansicht in mathemati-
schen Formeln auszusprechen; da sich denn zeigen wird,
daſs ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens
der Hemmunsgsumme daraus hervorgehn.
Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn
solcher Spannung unsrer Vorstellungen auch bewuſst
seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden Entwickelung
sind die Vorstellungen in so fern kein wirkliches Vor-
stellen, als sie sich in ein bloſses Streben vorzustellen
verwandelt haben, — das heiſst mit andern Worten, als
sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich also kann
man diese Spannung im Bewuſstseyn unmittelbar antref-
fen; oder es müſste ein Bewuſstseyn dessen geben, was
kein Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit dessel-
ben ist. — Unsre Bestrebungen, Begierden u. s. w., de-
ren wir uns wirklich bewuſst sind, dürfen demnach nicht
[165] zu voreilig aus jener Spannung erklärt werden, obgleich
sie damit wesentlich zusammenhängen.
§. 43.
Das Verhältniſs der Hemmung ist dasjenige Ver-
hältniſs, in welchem sich die Hemmungssumme auf die
verschiedenen, wider einander wirkenden Vorstellungen
vertheilt.
Jede Vorstellung behauptet sich, so gut sie kann,
unter allen übrigen; sie darf aber nicht als eine ursprüng-
lich angreifende, sondern nur als eine widerstehende Kraft
betrachtet werden. Es ist hier gleich Anfangs ein mög-
licher Irrthum abzuhalten, der zu falschen Berechnungen
verleiten würde. Man könnte nämlich glauben: jede Kraft
wirke im Verhältniſs ihrer Stärke auf die übrigen. Wäre
also z. B. die Vorstellung a=2, die Vorstellung b=1,
und was von b gehemmt würde =x: so müsse für
a=4, das von b Gehemmte =2x werden, indem die
hemmende Kraft verdoppelt sey. Dies ist darum unrich-
tig, weil a=4 verhältniſsmäſsig weniger von b=1 ange-
griffen wird, als a=2 von dem nämlichen b. Aber a kann
nur wirken in so fern es durch das entgegengesetzte dazu
getrieben wird. Hätte, zugleich mit a, sich auch b ver-
doppelt: dann erst wäre mit der Kraft auch die Reizung,
folglich der Effect verdoppelt worden.
Gewiſs aber widersteht jede Vorstellung dem, zwi-
schen den mehrern entstandenen, Gegensatz um
so besser, je stärker sie ist. Sie leidet also im um-
gekehrten Verhältniſs ihrer Stärke.
Und jetzt können wir leicht den Gegenstand völlig
ins Klare setzen. Drey Betrachtungen müssen gesondert,
und wieder verbunden werden.
Erstlich: jede Vorstellung wirkt im Verhältniſs
ihrer Stärke =i.
Zweytens: sie wirkt in dem Verhältniſs, in wel-
chem sie leidet, .
[166]
Drittens: sie leidet im umgekehrten Verhältniſs
ihrer Stärke, das heiſst, im Verhältniſs .
Das Verhältniſs des Wirkens ist zusammengesetzt aus
i und , es ist also allemal =1; und folglich kann man
es aus der Rechnung weglassen. Das Verhältniſs des
Leidens bleibt allein übrig, und bestimmt die Ver-
theilung der Hemmungssumme.
So ist es bey vollem Gegensatze, wovon wir jetzt
reden. Bey minderem Gegensatze bringt dieser noch ei-
nen Zusatz in das Verhältniſs des Wirkens, wovon tie-
fer unten.
Bey vollem Gegensatze wirken auf jede ein-
zelne Vorstellung alle andern gleich viel, sie
mögen wie immer ungleich seyn an Stärke.
Um diesen Satz ganz einleuchtend zu machen, wol-
len wir von der leichtesten Voraussetzung anfangen. Es
seyen also zuvörderst nur zwey Vorstellungen mit einan-
der im Conflict, die stärkere =a, die schwächere =b.
Die Hemmungssumme, welche die Stärke des Conflicts
angiebt, ist nun dasjenige, wovon beyde Vorstellungen
leiden. Und zwar leidet a im Verhältniſs , b im Ver-
hältnisse . Beyde wirken auf dieses Leiden zurück
(nur nicht etwan erst hintennach, sondern indem und in
so fern sie die Wirkung erleiden,) im zusammengesetz-
ten Verhältnisse ihres Leidens und ihrer eignen Stärke,
welches und ist, oder =1. Diese Rück-
wirkung von a trifft b, und die Rückwirkung von b trifft
a; allein beyde Rückwirkungen sind gleich, und heben
sich auf; daher das erste Verhältniſs, des Leidens von
der Hemmungssumme, allein entscheidet.
Es seyen jetzt drey Vorstellungen im Conflict; a,
[167]b, c, und a\>b, auch a\>c. Von der Hemmungssumme
leidet a im Verhältnisse , b im Verhältnisse , c im
Verhältnisse . Alle Rückwirkungen sind =1. Jede
derselben mag sich gleich vertheilen auf die entgegenste-
henden (denn eine besondre Richtung, wider eine viel-
mehr als wider die andre, kann sie nicht haben), so wird
jeder Theil aufgehoben durch einen ihm gleichen entge-
gengesetzten.
Um noch sorgfältiger zu gehn, wollen wir die Be-
trachtung darin ändern, daſs wir die Hemmungssumme
bey Seite setzen, die Vorstellungen aber paarweise ins
Auge fassen, um nicht bloſs jede gegen alle übrigen zu-
sammen, sondern jede gegen jede einzelne im Conflict
zu beobachten.
Erstlich: in dem Conflicte zwischen a und b lei-
den beyde, wie vorhin gefunden, in den Verhältnissen
und . Wir wissen noch nicht wie viel sie leiden; es
sey aber das Leiden von , so ist das von
. Zweytens: mit a ist auch c im Conflict.
Wofern nun c von a mehr oder weniger leidet als b,
so kann dieses nur von dem Verhältnisse b:c herrühren;
welches das Verhältniſs des Widerstandes bestimmt, den
beyde der gleichen Kraft a, und ihrer gleichen Spannung,
entgegensetzen. Nach der Proportion
ist dasjenige, was c von a leidet. Folglich a von c
leidet . Drittens: in dem Conflict zwischen b und c
findet man auf doppeltem Wege die Bestimmung für das
[168] Leiden eines jeden. Nämlich man weiſs schon, wie viel
a leidet von b; daraus findet sich, wie viel c leiden müsse
von der nämlichen und gleichgespannten Kraft. Man
weiſs auch wie viel a leidet von c: daraus findet sich, wie
viel b leiden müsse von der nämlichen Kraft. Endlich
müssen beyde Resultate einander gegenseitig erproben.
Es ist aber
,
und ;
wo die vierten Glieder im umgekehrten Verhältnisse von
c und b stehen, wie gehörig. — Faſst man nun alles zu-
sammen: so ist das Leiden von ,
von ,
von ,
welche Gröſsen zusammen der Hemmungssumme gleich
seyn müssen, so daſs man daraus x finden kann. Zu-
gleich ist der obige Satz bewiesen, denn a leidet von b
und von c gleich viel, b von c und von a gleich viel, c
von b und von a gleich viel.
Es würde unverzeihlich seyn, eine so leichte Sache
auch noch für vier und mehrere Vorstellungen weitläuftig
darthun zu wollen, da der Gang des Beweises klar vor
Augen liegt.
Es seyen nun Vorstellungen a, b, c, … n gegeben,
so sind die Hemmungsverhältnisse . Der
Rechnung wegen ist nur zu bemerken, daſs hier etwas
Combinatorisches eintritt, weil man diese Gröſsen auf ganze
Zahlen wird bringen müssen. Daraus entstehn für a, b,
c, die Binionen bc, ac, ab; für a, b, c, d, die Ternio-
nen bcd, acd, abd, abc, u. s. f.
[169]
Zweytes Capitel.
Berechnung der Hemmung bey vollem Gegen-
satz, und erste Nachweisung der Schwellen des
Bewuſstseyns.
§. 44.
Die Berechnung dessen, was von jeder Vorstellung
gehemmt werde, geschieht ohne allen Zweifel durch Pro-
portionen, zu welchen die Hemmungssumme das dritte
Glied liefert, und deren erste beyde Glieder aus den
Hemmungs-Verhältnissen hervorgehn.
Es seyen die Vorstellungen a und b gegeben, als
wider einander wirkend im Bewuſstseyn, und stehend im
vollen Gegensatze: so ist, laut voriger Entwickelungen,
die Hemmungssumme gleich der schwächeren, oder =b;
das Hemmungsverhältniſs wie b:a. Folglich wird man
schlieſsen: wie die Summe der Verhältniſszahlen zu jeder
einzelnen Verhältniſszahl, so das zu Vertheilende (die
Hemmungssumme) zu jedem Theile; oder
Die Verhältniſszahl b gehört (wegen der Umkehrung
des Verhältnisses) zu a; folglich
der Rest von
und der Rest von
Diese Reste sind natürlich nicht abgeschnittene Stücke
der Vorstellungen a und b, sondern es sind die Grade
der noch übrigen Lebhaftigkeit der Vorstellungen, nach-
dem durch die Hemmung der zuvor berechnete Theil des
wirklichen Vorstellens ist aufgehoben, und in ein bloſses
Streben vorzustellen ist verwandelt worden.
[170]
Es seyen auf eben die Art drey Vorstellungen ge-
geben, nämlich a, b, c, worunter a die stärkste, c die
schwächste: so ist die H. S. =b+c, das H. V. ,
, oder bc, ac, ab; und die Proportionen:
woraus die Reste
von
von
von
Man sicht leicht, wie dies für vier und mehrere Vor-
stellungen fortgeht.
Hier einige Berechnungen in Zahlen. Zuerst für
zwey Vorstellungen.
Es sey a=1, b=1, so ist der Rest
von a,
von b,
Es sey a=2, b=1, so ist der Rest
von a,
von b,
Es sey a=10, b=1, so ist der Rest
von a,
von b,
Es sey a=11, b=10, so ist der Rest
von a,
von b, .
Man sieht, daſs die Reste in einem weit gröſseren
Verhältnisse verschieden sind, als die Vorstellungen selbst.
[171] Doch kann der Rest von b niemals = o werden, denn
erst für a = ∞ wird der Werth der Formel un-
endlich klein.
Jetzt für drey Vorstellungen.
a = 1, b = 1, c = 1, giebt den Rest
von a, = ; von b, = ; von c, =
a = 2, b = 1, c = 1, giebt den Rest
von a, = ; von b, = ; von c, =
Wäre hier, statt b und c, eine einzige Vorstellung
von der Stärke b + c vorhanden gewesen: so würde von
dieser ein gleicher Rest, wie von a, nämlich von jeder
der Rest = 1 geblieben seyn. Im gegenwärtigen Falle
bleibt achtmal so viel von a, als von b und von c. So
wichtig ist der Unterschied, ob das nämliche Quantum
des Vorstellens als Eine Gesammtkraft wirkt, oder ob es
in zwey wider einander wirkende Vorstellungen vertheilt
ist. — Es sey endlich noch
a = 6, b = 5, c = 4, so ist
von a der Rest =
von b ‒ ‒ =
von c ‒ ‒ =
Eine Gesammtkraft = b + c, anstatt der beyden Kräfte
b und c, hätte hier eine viel kleinere Hemmungssumme
ergeben; sie wäre = 6, anstatt jetzt = 9, geworden. Auch
würde von a nur wenig, von der Gesammtkraft desto
mehr übrig geblieben seyn.
Der Rest von b kann auch für drey Vorstellungen
nicht = o werden; sonst müſste bbc + abb — acc = o seyn
können, welches nicht angeht, weil b nicht kleiner als c
seyn soll, folglich entweder abb \> acc, oder doch abb
= acc; so daſs immer das Positive überwiegt.
Hingegen der Rest von c kann allerdings = o werden;
ein sehr wichtiger Umstand, wovon bald ein Mehreres.
§. 45.
Der Zweck der allgemeinen Formeln kann bey den
gegenwärtigen Untersuchungen kein anderer seyn, als,
[172] eine Uebersicht über ein ganzes Feld von Möglichkeiten,
oder noch genauer, von Erfolgen möglicher Voraussetzun-
gen, zu erlangen. Dieser Zweck wird gar sehr durch kleine
Tafeln befördert, welche die Werthe der Formeln für
angenommene Grundgröſsen in Zahlen berechnet darstel-
len. Um aber die Arbeit abzukürzen, die solche Tafeln
kosten, ist es rathsam, einige, für die Rechnung leichte
Fälle herauszuheben, und wo möglich so, daſs die übri-
gen Fälle als zwischen jene einzuschaltende können ge-
dacht werden.
Wir wollen damit hier den Anfang machen. Für
drey Vorstellungen sey der Rest von a = p, von b = q,
von c = r. Man setze erstlich b = c, woraus q = r folgen
muſs. Man setze zweytens b = a, woraus p = q folgen
muſs. So findet sich nach gehöriger Rechnung aus den
Formeln des vorigen §.
für b = c, für b = a,
Im ersten Falle sey b = 10, im zweyten c = 10; so kommt
1) 2)
[173]
Die letzten Werthe des zweyten Täfelchens hängen
mit den Schwellen zusammen, wovon weiterhin.
§. 46.
Es mag nicht unnütz seyn, auch noch der Aufgabe
zu erwähnen, rückwärts aus den Resten als gegebenen
Gröſsen die Vorstellungen selbst zu finden. In den Glei-
chungen
seyen demnach, a, b, c, unbekannt; so bietet sich zuvör-
derst, sowohl aus der Natur der Sache als auch aus den
Formeln, die Gleichung dar: a = p + q + r.
Ferner sey ; so hat man
folglich
oder
Man setze die schon bekannte Gröſse a2 — ap = h,
so ist
Daſs man vor der Wurzelgröſse nur das Zeichen +
gebrauchen kann, ist offenbar, indem b und c gröſser
seyn müssen als ihre halben Reste.
§. 47.
Aus der Bemerkung, daſs der Rest von c negativ
werden kann, entwickelt sich der Keim zu sehr weitgrei-
fenden Nachforschungen.
Die Frage: was ein negativ gewordenes Vorstellen
bedeuten könne, ist leicht beantwortet. Es kann gar
nichts bedeuten; denn nach vorigen Erörterungen ist das
[174] Aeuſserte, was einer Vorstellung begegnen kann, dieses,
daſs sie ganz und gar in ein bloſses Streben vorzustellen
verwandelt, oder daſs der Rest des wirklichen Vorstel-
lens = o werde. Die Gleichung r = o setzt daher der
Anwendbarkeit der vorigen Rechnungsart eine Gränze;
denn ein negatives r ist in unserm Falle so gut als eine
unmögliche Gröſse.
Aus r = o folgt . Wofern c im Ver-
hältniſs zu b und a kleiner ist, als nach dieser Formel:
so ist jede nähere Bestimmung seiner Gröſse für die obige
Hemmungsrechnung ganz gleichgültig; denn es wird auf
allen Fall ganz gehemmt; daher ist sein Antheil an der
Hemmungssumme gerade gleich seinem Beytrage zu der-
selben, und die stärkeren Vorstellungen theilen ihren
Beytrag gerade so, als ob c gar nicht vorhanden gewe-
sen wäre. Der Zustand des Bewuſstseyns also, in wie-
fern er statisch bestimmt werden kann, hängt gar nicht
ab von c; — noch viel weniger aber von was immer für
noch schwächeren Vorstellungen, deren eine un-
endliche Anzahl vorhanden seyn möchte, ohne
daſs sie im geringsten im Bewuſstseyn zu spü-
ren seyn würden, so lange dasselbe im Zu-
stande des Gleichgewichts aller Vorstellungen
wäre und bliebe.
Dieser Satz, der sich hier mit der höchsten mathe-
matischen Evidenz ergiebt, bietet uns nun den Aufschluſs
dar über das allgemeinste aller psychologischen Wunder.
Wir alle bemerken an uns, daſs von unserm sämmtli-
chen Wissen, Denken, Wünschen, in jedem einzelnen
Augenblicke eine unvergleichbar kleinere Menge uns wirk-
lich beschäfftigt, als diejenige ist, welche auf gehörige
Veranlassung in uns hervortreten könnte. Dieses abwe-
sende, aber nicht entlaufene, sondern in unserm Besitz
gebliebene und verharrende Wissen, in welchem Zu-
stande befindet es sich in uns? Wie geht es zu, daſs
es, obschon vorhanden, dennoch nicht eher zur Bestim-
[175] mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis
es uns wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten
Ueberzeugungen, unsre besten Vorsätze, unsre ausgebil-
deten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern
wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche
Trägheit beybringen, durch die sie uns der vergeblichen
Reue so oft Preis geben? — Andre Gedanken haben
uns zu lebhaft beschäfftigt! Dies wissen wir schon aus
der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in
die, alle gesunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von
der transscendentalen Freyheit, und vom radicalen Bösen,
verlieren, als den psychologischen Mechanismus, an wel-
chem offenbar die Schuld liegen muſs, genauer untersu-
chen wollen. —
Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich
noch sehr beschränkte, Anfang der Einsicht in diesen
Mechanismus. Zwey Vorstellungen reichen hin, um eine
dritte aus dem Bewuſstseyn völlig zu verdrängen, und
einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand her-
beyzuführen. Eine allein vermag dies nicht gegen die
zweyte; wie wir oben sahen, indem wir bemerkten, daſs
der Rest von b niemals = o werden kann. Was aber
zwey gegen die dritte vermögen, das leisten sie auch ge-
gen eine wie immer groſse Anzahl von noch schwächern
Vorstellungen. Fernere Untersuchungen werden lehren,
daſs ganz ähnliche psychologische Ereignisse auch unter
gewissen Umständen Statt haben können, ohne daſs die
aus dem Bewuſstseyn verdrängten Vorstellungen gerade
schwächer zu seyn brauchen, als die verdrängenden.
Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine die-
ser Ereignisse mit einem Kunstworte bezeichnen, dessen
Gebrauch in der Folge noch oftmals nöthig seyn wird.
So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vorstellungen
ins Bewuſstseyn zu reden, so nenne ich Schwelle des
Bewuſstseyns diejenige Gränze, welche eine Vorstel-
lung scheint zu überschreiten, indem sie aus dem völlig
gehemmten Zustande zu einem Grade des wirklichen Vor-
[176] stellens übergeht. Berechnung der Schwelle ist
ein verkürzter Ausdruck für Berechnung derjenigen Be-
dingungen, unter welchen eine Vorstellung nur noch ver-
mag, einen unendlich geringen Grad des wirklichen Vor-
stellens zu behaupten; unter welchen sie also gerade an
jener Gränze steht. Wie wir vom Steigen und Sinken
der Vorstellungen reden: so nenne ich eine Vorstellung
unter der Schwelle, wenn es ihr an Kraft fehlt, jene
Bedingungen zu erfüllen. Zwar der Zustand, in wel-
chem sie sich alsdann befindet, ist immer der gleiche der
vollständigen Hemmung; aber dennoch kann sie mehr
oder weniger weit unter der Schwelle seyn, je
nachdem ihr mehr oder weniger Stärke fehlt, und noch
zugesetzt werden müſste, um die Schwelle zu erreichen.
Eben so ist eine Vorstellung über der Schwelle, in
so fern sie einen gewissen Grad des wirklichen Vorstel-
lens erreicht hat.
Ist von den Bedingungen die Rede, unter welchen
im Zustande des Gleichgewichts eine Vorstellung gerade
an der Schwelle steht: so nennen wir die letztere die
statische Schwelle. Tiefer unten werden sich auch
mechanische Schwellen zeigen, die von den Bewe-
gungsgesetzen der Vorstellungen abhängen. Unter den
statischen Schwellen befinden sich einige, die von Com-
plicationen und Verschmelzungen mehrerer Vorstellungen
abhängen: zum Unterschiede von denselben sollen die,
welche bloſs durch die Stärke und den Gegensatz einfa-
cher Vorstellungen bestimmt werden, gemeine Schwel-
len heiſsen. Die erste Art der gemeinen Schwellen ist
die bey vollem Gegensatze, welche wir bisber betrachtet,
und durch die Formel bestimmt haben.
§. 48.
Es ist hier der Ort, auf ein paar früher vorgekom-
mene Bemerkungen zurückzublicken. Schon im §. 4.
ward angegeben, was unter dem Ausdruck: Thatsachen
des
[177] des Bewuſstseyns zu verstehen sey. Im §. 18. war die
Rede von dem Unterschiede dessen, was ins Bewuſst-
seyn kommt, von demjenigen, dessen man sich bewuſst
ist. Zu dieser Unterscheidung nöthigt der Mangel an
Sprache, welchem der Mangel an psychologischen Ein-
sichten zum Grunde liegt. Viele nämlich halten das Vor-
stellen und das Selbstbeobachten dieses Vorstellens für
unzertrennlich; oder sie verwechseln wohl gar eins mit
dem andern. Daher wird der Ausdruck: Bewuſstseyn,
zweydeutig; indem er bald das gesammte wirkliche Vor-
stellen, — also das Hervorragen einiger Vorstellungen
über die Schwelle, die Erhebung derselben über den ganz
gehemmten Zustand, — bald aber die Beobachtung die-
ses Vorstellens als des unsrigen, die Anknüpfung des-
selben an das Ich, zu bezeichnen gebraucht wird. Wir
nehmen hier das Wort Bewuſstseyn überall in der ersten
Bedeutung; bedienen uns aber für das zweyte der Wen-
dung: man ist Sich einer Sache bewuſst.
Hiemit soll zwar noch nicht über die Frage von
den sogenannten bewuſstlosen Vorstellungen entschieden
werden, oder, wie wir uns ausdrücken würden, von den
Vorstellungen, die im Bewuſstseyn sind, ohne daſs man
sich ihrer bewuſst ist. Aber, erstlich liegt nach allem
Vorstehenden klar vor Augen, daſs die Gesetze, nach
welchen Vorstellungen ins Bewuſstseyn treten, viel frü-
her anfangen sich uns zu entdecken, als diejenigen, nach
welchen das Ich als das Vorstellende mag aufgefaſst wer-
den. Die Selbstbeobachtung ist ohne Zweifel etwas un-
gleich mehr Verwickeltes, als das bloſse Hervortreten
über die Schwelle; und muſs daher, in der Untersuchung,
von diesem ganz gesondert werden. Zweytens bedür-
fen wir eines Namens für die Gesammtheit des
jedesmal gleichzeitig zusammentreffenden Vor-
stellens; und diese ist es, für welche kaum ein passen-
derer Ausdruck als das Wort Bewuſstseyn möchte
gefunden werden. Sie ist darum so wichtig, weil sie,
für jede in ihr zu einem bestimmten Zeitpuncte enthal-
I. M
[178] tene Vorstellung, die Wirkungssphäre ausmacht; indem
alle gleichzeitig in Activität befindliche Vorstellungen sich
auf irgend eine Weise gegenseitig afficiren, und zusam-
mengenommen den eben jetzt vorhandenen Gemüthszu-
stand ergeben. Sollte es übrigens den Sprachgebrauch
zu verletzen scheinen, wenn wir von Vorstellungen im
Bewuſstseyn reden, deren wir uns gleichwohl nicht be-
wuſst seyen: so wolle man sich erinnern, daſs auch selbst
die ganz gemeine Sprache durch den Ausdruck: Er ist
ohne Bewuſstseyn, einen Zustand bezeichnet, der
weit verschieden ist von dem, welchem ein Denker oder
Dichter sich in dem Maaſse nähert, als er, seiner selbst
vergessend, sich in seinen Gegenstand wissenschaft-
lich oder künstlerisch vertieft. —
Im §. 17. bot sich die Gelegenheit dar, an Locke’s
gerechte Verwunderung über die „narrowness of the hu-
man mind“ zu erinnern. Schon jetzt ist soviel sichtbar,
daſs diese scheinbare Eigenschaft der Seele, nur eine
sehr kleine Anzahl von Vorstellungen gleichzeitig in
Thätigkeit setzen zu können, und bey dem Wech-
sel der Vorstellungen, immer die alten über den neuen
fahren zu lassen, ohne sie doch zu verlieren, — gar
keine Eigenschaft der Seele, sondern bloſs ein noth-
wendiger Erfolg der Gegensätze unter unsern Vorstel-
lungen ist. In welche Hypothesen würde man wohl
gerathen, wenn man dem Gemüthe gleichsam eine enge
Pupille beylegen wollte, vielleicht mit irgend einer Iris
versehen, die sich nach ihren eignen Gesetzen erwei-
terte und zusammenzöge? — Aus dem obigen ist klar,
daſs das Quantum dessen, was im Gleichgewichte bey-
sammen seyn kann im Bewuſstseyn, gar kein allgemei-
nes Gesetz hat, sondern in jedem einzelnen Falle
von der Stärke und den Gegensätzen der zusammen-
treffenden Vorstellungen abhängig ist. Von physiolo-
gischen Einflüssen, welche dieses einigermaaſsen modifi-
ciren, und der Aehnlichkeit mit jener Pupille um ein we-
niges näher bringen können, reden wir hier noch nicht.
[179]
§. 49.
Die Wichtigkeit des Gegenstandes fordert uns auf,
einige berechnete Werthe der so einfachen Schwellen-
formel vorzulegen. Wir verbinden damit
eine Betrachtung über die zugehörigen Reste von a und
von b.
Aus der Gleichung des §. 46.
ist bekanntlich die Formel gefunden wor-
den. Anstatt diesen Werth von c in die dortigen Glei-
chungen für p und für q zu substituiren: nehme man die
weiterhin im angeführten §. vorkommende Gleichung
wo h = a2 — ap.
Für r = o ergiebt sich hieraus oder
c2 = a2 — ap, oder ap = a2 — c2 = (a + c) (a — c). Fer-
ner ist jetzo a = p + q, und , woraus
Dies giebt eine sehr faſsliche Relation zwischen q,
dem Rest von b, und a, der stärksten der drey Vorstel-
lungen, und c, wenn es seinen Schwellenwerth hat. Man
kann sich q als beständige Gröſse, als den Parameter
einer Parabel vorstellen, so gehört eine stetige Folge von
Werthen für c und a zusammen, wie Ordinaten und
Abscissen vom Scheitel auf der Axe genommen. Da a
nicht \< b, so fängt dies an von a = b, wofür a einen
Werth erhält, der von q abhängt (nämlich a = 2 q, aus ei-
ner gleich folgenden Formel), und alsdann geht es fort bis
a = ∞ (wofür b und c unendliche von der Ordnung ½
werden, indem .
M 2
[180]
Aus a = p + q und wird ferner ,
oder ; gleich der Formel im §. 44.; wie gehö-
rig, weil a und b nur die Hemmungssumme b zu theilen
haben, sobald c auf der Schwelle ist.
Will man also alle zusammengehörige Gröſsen auf
einmal berechnen: so ist es bequem, für willkührlich an-
genommene a und b zuerst , dann p = a — q
und zu berechnen.
Beyspiele können wir anknüpfen an die im §. 44.
berechneten Reste für zwey Vorstellungen, indem wir nur
die Schwellenwerthe für eine dritte Vorstellung hinzufü-
gen dürfen.
Eine etwas mehr zusammenhängende Reihe von
Schwellenwerthen für c folgt in diesem Täfelchen; wel-
ches unter der beständigen Voraussetzung b = 1 berech-
net ist:
[181]
Es versteht sich, daſs wenn statt der Zahl 1 ein an-
drer Werth für b gesetzt wird, dann die übrigen Zah-
len in gleichem Verhältnisse wachsen müssen. So wenn
b = 10, wird a = 11 anstatt 1,1; und c = 7,237 anstatt
0,7237; wie das vorige Täfelchen zeigt.
§. 50.
Will man nun die Hemmungsrechnung des §. 44.
auf angenommene Gröſsen von drey Vorstellungen an-
wenden: so muſs man zuvor nachsehn, ob nicht die
Anwendbarkeit der Rechnung dadurch verändert wird,
daſs die schwächste der drey Vorstellungen neben den
andern unter die Schwelle sinken muſs? in welchem Falle
die Rechnung gleich Anfangs bloſs auf die beyden stär-
keren zu beziehen ist.
Z. B. es mögen sich die Vorstellungen ihrer Stärke
nach verhalten wie 1, 2, 3. Um hier das vorstehende Tä-
felchen anzuwenden, dividire man die gegebenen Zahlen
durch 2, damit b = 1 werde. So ist ; und
c = 0,5. Nun zeigt das Täfelchen, daſs schon c = 0,77 …
neben a und b zur Schwelle sinken würde; es fehlt also
viel, daſs c = 0,5 hier in Rechnung kommen könnte. Die
Hemmungsrechnung geht nach der Formel für zwey Vor-
stellungen, sie giebt den Rest von , und von .
Das Beyspiel zeigt den Nutzen, ja beynahe die Un-
entbehrlichkeit von Schwellentafeln. Zum Unglück hän-
gen in der Wirklichkeit die Schwellen von so manchen,
höchst verwickelten Bestimmungen ab (wie sich bald mehr
und mehr zeigen wird), ja auch die allgemeinen Formeln,
die sich noch finden lassen, sind so zahlreich und zum
Theil so schwer zu gebrauchen, daſs nicht wenig Geduld
dazu gehören wird, wenn jemals der speculativen Psycho-
logie diese Art von Hülfsmitteln soll geschafft werden.
Indessen ist es schon ein groſser Gewinn, sich nur rich-
tige Begriffe über diese Gegenstände zu erwerben, und
im Allgemeinen die Möglichkeit und die Gesetze zu über-
schauen, nach denen in der Seele sich etwas ereignet
und ereignen kann.
[182]
In der gegenwärtigen Grundlegung können wir über-
dies an vollständige Ausführungen nicht denken. Nur er-
wähnen wollen wir daher der Schwellen für mehr als
drey Vorstellungen.
§. 51.
Es seyen gegeben die Vorstellungen a, b, c, d, ge-
ordnet, wie wir stets annehmen, nach ihrer Stärke von
der stärksten zur schwächsten. So ist die Hemmungs-
summe = b + c + d, die Hemmungsverhältnisse sind bcd:
acd: abd: abc, und der Rest von d:
Aus s = o folgt
Eben so würde man für fünf Vorstellungen a, b, c,
d, e, den Rest von e, oder t finden.
und aus t = o,
Der Vergleichung wegen wollen wir die schon be-
kannte Formel so schreiben:
so wird das Gesetz des Fortgangs so klar vor Augen lie-
gen, daſs jeder Zusatz überflüssig wäre.
Es seyen nun alle Vorstellungen, auſser der jedes-
maligen schwächsten, = 1. So geben die Schwellenfor-
meln
welche Reihe sich der Zahl 1 unendlich nähert. Also je-
mehr Vorstellungen, desto weniger darf die schwächste,
um nicht auf die Schwelle zu sinken, von den stärkeren
entfernt seyn. Dies gilt um so gewisser, wenn die übri-
gen Vorstellungen verschieden sind. Denn es wachse a,
[183] so bleibt die Hemmungssumme gleich, aber a trägt weni-
ger davon, und wirft desto mehr auf die schwächeren
Vorstellungen. Es wachse auch b, so vermehrt sich so-
gar die Hemmungssumme, und die schwächeren müssen
um so eher unterliegen.
Die Möglichkeit, daſs mehr als drey Vorstellungen
im Bewuſstseyn zusammen bestehen könnten, scheint
hiernach in sehr enge Gränzen eingeschlossen. Allein
dies gilt bloſs für vollen Gegensatz, und wird überdies
noch durch manche Umstände modificirt.
Drittes Capitel.
Abänderungen des Vorigen bey minderem
Gegensatze.
§. 52.
Zwar das Princip zur Bestimmung der Hemmungs-
summe, dessen wir uns im §. 42. bedient haben, wird
uns auch hier nicht verlassen, wo wir die erleichternde
Voraussetzung des vollen Gegensatzes entbehren, und
zwischen jedem Paare von Vorstellungen jeden möglichen
Grad des Gegensatzes gestatten sollen. Immer werden
wir Eine Vorstellung als ganz ungehemmt denken müs-
sen, um nachzusehn, wie viel nun von den übrigen zu-
sammengenommen müsse gehemmt werden; und immer
werden wir diejenige Vorstellung auszuwählen haben,
welche, damit sie selbst ungehemmt bleibe, den übrigen
die kleinste Hemmung auferlege. Allein das Geschäfft
dieser Auswahl führt eine lästige Weitläuftigkeit mit sich;
die wir jedoch der Genauigkeit wegen wenigstens kennt-
lich machen müssen.
Zuvörderst ist zu bemerken, daſs die frühere sehr
einfache Weise, die bey vollem Gegensatze ausreicht,
[184] immer anwendbar ist, so oft alle Vorstellungen in allen
Paaren, die aus ihnen genommen werden können, nur
einerley Grad des Gegensatzes haben. — Unter zwey Vor-
stellungen a und b, wo a \> b, sey der Gegensatz = m,
welches, wenn nicht = 1, allemal ein ächter Bruch ist
(§. 41.), so ist die Hemmungssumme = mb; welches man
findet, indem a ungehemmt gedacht wird. Denn b un-
gehemmt, hätte ma zur Hemmungssumme gegeben, wel-
ches gröſser ist als mb. — Unter drey Vorstellungen,
a, b, c, wenn die Paare a und b, b und c, a und c, im-
mer einerley Gegensatz m mit sich führen, denke man
die stärkste, a, ungehemmt, so ergiebt sich die H. S.
= mb + mc. b ungehemmt, gäbe ma + mc; c ungehemmt,
gäbe ma + mb; immer eine gröſsere Hemmung, als die
Vorstellungen ihrer Natur nach nothwendig fordern, und
als ihr Aufstreben zulassen wird. — Wie viele nun der
Vorstellungen seyn mögen, — es seyen ihrer a + b + c
+ … + n, — immer denke man die stärkste, a, unge-
hemmt, so ist, für den durchgängigen Hemmungsgrad
= m, die H. S. = m (b + c + … + n).
Bey verschiedenem Grade der Hemmung aber, für
drey Vorstellungen a, b, c, giebt es drey Paare, ab, ac, bc,
und folglich drey Hemmungsgrade, deren stärksten wir m,
den mittlern n, den schwächsten p nennen wollen. Es
soll noch nicht entschieden werden, welchem unter den
Paaren jeder von ihnen zugehöre; vielmehr, da jeder in
jedem Paare statt finden kann, giebt es Versetzungen
der Hemmungsgrade zwischen den Vorstellungen, oder,
wenn man will, der Vorstellungen zwischen den Hem-
mungsgraden. Dieser Versetzungen sind an der Zahl
sechs; und jede von ihnen bildet einen besonderen Fall
zur Untersuchung der H. S. Man kann diese Fälle be-
quem durch Dreyecke andeuten, in deren Winkelpuncte
man die Verhältniſszahlen für die Vorstellungen setzt,
und deren Seiten den Hemmungsgraden proportional sind.
[185]
Die beyden ersten Fälle haben den stärksten Gegen-
satz zwischen den schwächsten Vorstellungen; die beiden
folgenden zwischen der stärksten und schwächsten; die
beyden letzten zwischen den stärksten.
Was die Hemmungsgrade selbst betrifft, so gilt für
sie ein ähnliches Gesetz, wie für die Seiten eines Drey-
ecks. Ihrer zwey zusammengenommen dürfen
nicht kleiner seyn als der dritte. Denn der Ueber-
gang aus einer Vorstellung zu einer andern durch alle zwi-
schenliegenden Verschiedenheiten kann wohl kleiner, aber
er braucht nicht gröſser zu seyn, als die Summe zweyer
Uebergänge von der ersten zu einer dritten, und von die-
ser zu jener andern; jeder gröſsere Weg ist gewiſs ein
Umweg, der den wirklich zwischenliegenden Ver-
schiedenheiten etwas fremdartiges beymischt. — Ich finde
nicht nöthig, die Begriffe über diesen Punct, der eine Art
von geometrischer Evidenz besitzt, hier mehr aufzuklären;
welches in die allgemeine Metaphysik zurückführen würde,
indem es mit der Construction des intelligibelen Raums
zusammenhängt. Beyspiele werden kaum nöthig seyn;
man wird nicht in Versuchung gerathen, etwan ,
, und daneben m, welches höchstens = seyn kann,
= 1 zu setzen. Wichtiger ist es vielleicht, an die Natur
unserer einfachen sinnlichen Vorstellungen zu erinnern.
[186] Die Töne bilden ein Continuum von nur Einer Dimen-
sion, welches wir die Tonlinie nennen wollen *). Ist
von ihnen die Rede, so ist allemal p + n = m. Hingegen
schon die Vocale bilden ein Continuum von wenigstens
zwey Dimensionen, denn der Uebergang vom U zum I
geht gewiſs nicht nothwendig durch A, sondern gerade
durch Ü; obgleich auch der Umweg durch O, A und E
möglich ist. Die Farben haben ebenfalls zum wenigsten
zwey Dimensionen, indem schon Roth, Blau und Gelb,
paarweise genommen, eine Folge von Nüançen in gera-
der Linie zwischen sich einschlieſsen, und alle drey in
der That ein gleichseitiges Dreieck zu bilden scheinen,
in welchem jedoch weder Weiſs noch Schwarz, noch
selbst, wie es scheint, das reine Braun mit eingeschlos-
sen liegt. Für Farben daher kann man gewiſs p = n = m
setzen, welches bei Tönen unmöglich ist. — Hingegen
wird man, wofern vier Vorstellungen von Farben zusam-
men zu nehmen sind, sich hüten müssen, der vierten ihre
Gegensätze gegen alle drey andre willkührlich anzuweisen,
indem auch hier, wie beim vierten Puncte auf einer Flä-
che, aus zweyen Gegensätzen und gleichsam Distanzen,
der dritte von selbst folgt. Dies unter der Voraussetzung,
daſs man nicht noch eine dritte Dimension für die Far-
ben rechtfertigen könne, oder daſs man wenigstens in
dem vorhandenen Falle von dieser dritten Dimension
nicht Gebrauch gemacht habe. Es scheint zwar eine
dritte Dimension vorhanden zu seyn, nämlich in dem
Gegensatz des Hellen und Dunkeln, welches, auf die
Mitteltinte aller übrigen Farben bezogen, Weiſs, Grau
und Schwarz ergeben dürfte; während doch auch alle rei-
nen Farben bei den Extremen der Verdunkelung oder
Erhellung in Schwarz und Weiſs überzugehn pflegen.
Allein eben aus diesem letztern Grunde laufen wir hier
Gefahr, die Intensität der Vorstellungen (den Unter-
[187] schied des a, b, c) zu verwechseln mit ihrer specifischen
Verschiedenheit (dem m, n, p).
Indem wir nun die Hemmungssumme für die un-
terschiedenen sechs Fälle aufsuchen, werden uns die
ersten beyden nicht lange zweifelhaft lassen. Offen-
bar ist
für den Fall I. die Hemmungssumme = pb + nc,
‒ ‒ ‒ II. ‒ ‒ ‒ = pc + nb.
Beydemale wird hier a ungehemmt angenommen, welches
nicht bloſs selbst am stärksten, sondern hier zugleich von
den schwächsten Gegensätzen umgeben ist.
- entwed. pa + nc,
- oder mc + pb.
Jene findet sich unter der Voraussetzung, daſs b unge-
hemmt, diese, daſs a ungehemmt sey. Zwischen beyden
kann man nicht im Allgemeinen, sondern nur in beson-
dern Fällen entscheiden, weil zwar pa \> pb, aber zu-
gleich nc \< mc.
- entweder pc + na
- oder mc + nb
wo zwar pc \< mc, aber na \> nb.
- entweder pa + nb
- oder mb + pc
wo zwar pa \> pc, aber nb\< mb.
Der letzte Fall endlich ist der schwierigste. Denn
- entweder pb + na
- oder ma + pc
- oder mb + nc
wo keine der drey Angaben vor der andern einen im All-
gemeinen zu erkennenden Vorzug besitzt. Sind die Grö-
ſsen in Zahlen gegeben, so versteht sich, daſs man in al-
len Fällen die kleinste sogleich herausfinden werde. In
allgemeinen Rechnungen aber entsteht hieraus eine Un-
bequemlichkeit, indem sie oft nur bis auf einen gewissen
Punct vollführt werden können, über welchen hinaus man
sich auf die Unterscheidung der möglichen Fälle einlas-
[188] sen muſs. — Diese Unbequemlichkeit vermindert sich um
etwas durch die Bemerkung, daſs nur in zweyen Anga-
ben, beym Fall V. und VI., c in der Hemmungssumme
fehlt. Diese kann man als Ausnahmen betrachten, und
dagegen als Regel annehmen, daſs c sich in der H. S.
befinde.
Wer noch Erläuterungen wünscht, der versuche im
Fall III. anzunehmen, daſs c ungehemmt bleibe. Daraus
wird folgen, daſs a und b so weit sinken müssen, als es
ihr Gegensatz gegen c mit sich bringt. Also wird die
Hemmungssumme = ma + nb. Man vergleiche hiemit die
obigen Angaben. Die erste, unter der Voraussetzung, b
sey ungehemmt, war pa + nc; diese ist allemal kleiner als
jene, denn pa \< ma, und nc \< nb. Schon hieraus folgt,
daſs die Angabe ma + nb ganz unstatthaft ist; und die
andre Vergleichung mit mc + pb ist nicht mehr nöthig.
Auf ähnliche Weise ist im Fall V. die Annahme, b sey
ungehemmt, ausgeschieden; sie hätte gegeben: H. S.
= ma + nc, welches verglichen mit mb + pc allemal grö-
ſser, und also unbrauchbar ist. Und so sind auch die
übrigen unstatthaften Annahmen ausgeschlossen worden.
Auf die Hemmungssummen für mehr als drey Vor-
stellungen werden wir uns nicht einlassen. Die abschrek-
kende Weitläuftigkeit der Untersuchung, auf die man
aus dem Vorstehenden schlieſsen kann, einerseits, und
die mindere Wichtigkeit der Sache andrerseits, wird dies
entschuldigen. Natürlich kommt bey mehr als drey Vor-
stellungen das Meiste immer auf die drey stärksten an.
Sucht man für diese die Hemmungssumme, und addirt
dazu, für jede der schwächeren, denjenigen ihrer Gegen-
sätze gegen jene drey, welcher der stärkste ist, und also
die geringeren in sich faſst: so wird man schwerlich ei-
nen bedeutenden Rechnungsfehler begehn können. Au-
ſserdem giebt die oben erwähnte Voraussetzung eines
durchgängig gleichen Hemmungsgrades aller Vorstellun-
gen unter einander, immer einen Gesichtspunct ab, von
wo aus man sich unter den übrigen möglichen Fällen
[189] orientiren kann. Diesem analog ist der Fall, wo alle Vor-
stellungen gleich stark, aber die Hemmungsgrade ver-
schieden sind. Hier hebe man zuvörderst diejenigen drey
Vorstellungen heraus, welche unter einander die gröſste
Hemmungssumme bilden. Eine darunter wird bey Be-
stimmung der H. S. als ungehemmt betrachtet werden;
dieser gegenüber denke man sich die sämmtlichen übrigen
als sinkend nach ihrem Hemmungsgrade, und addire, was
herauskommt, zur Hemmungssumme der herausgehobenen
drey. Das Gesagte wird für unsre gegenwärtigen Zwecke
völlig hinreichen.
§. 53.
Die Bestimmung des Hemmungsverhältnisses bey
minderem Gegensatz ist noch bey weitem schwieriger,
als die der Hemmungssumme, falls dabey auf alle Um-
stände, die vorkommen können, soll Rücksicht genom-
men werden. Die Angabe derselben gehört in die fol-
genden Capitel; hier werden wir nur das Leichteste, All-
gemeinste, und was die Grundlage der Untersuchung bil-
det, in Betracht ziehn.
Zuerst müssen die Ueberlegungen des §. 43. zurück-
gerufen werden. An der Stelle, wo dort gesagt wurde,
jede Vorstellung wirke im Verhältniſs ihrer
Stärke, ist jetzt hinzuzufügen: und im Verhältnisse
ihres Gegensatzes. Daher leidet nun auch jede Vor-
stellung nicht bloſs im umgekehrten Verhältniſs ihrer
Stärke, sondern sie leidet von jeder andern nach dem
Hemmungsgrade, den sie gegen diese andre bildet. Bey
zweyen Vorstellungen hebt dieses sich auf, aber nicht so
bey mehrern. Für a und b, und den Hemmungsgrad m,
sind die Hemmungsverhältnisse , , oder , . Aber
für drey Vorstellungen, und drey Hemmungsgrade, müs-
sen wir die Sache etwas genauer betrachten.
Wir gehn zurück zu den oben unterschiedenen sechs
Fällen, wiewohl nur, um uns der dortigen Bezeichnung
zu bedienen, denn der Unterschied der Fälle selbst kommt
[190] hier nicht in Anschlag. Beyspielshalber nehme man den
Fall I. Hier leidet a von b und von c. Laut §. 43.
würde es von beyden gleich viel leiden, wenn der Gegen-
satz voll wäre. Jetzt leidet es weniger, von b im Ver-
hältniſs p, und von c im Verhältniſs n. Also ist sein
Leiden überhaupt durch die Verhältniſszahl zu be-
stimmen, wenn wir auf ähnliche Weise das Leiden von
b durch , und das von c durch ausdrücken.
Es ist nun leicht, die sechs Fälle zu durchlaufen. Jeder
bekommt sein eignes Hemmungsverhältniſs, aber nur nach
einerley Regel, indem man für jede Vorstellung die ne-
benstehenden Hemmungsgrade addirt, und dar-
aus den Zähler eines Bruches bildet, welchem die eigne
Stärke der Vorstellung zum Nenner dient. Dies ist al-
les, was für jetzt von den Hemmungsverhältnissen kann
gesagt werden; auch ist es auf mehr als drey Vorstellun-
gen leicht auszudehnen.
§. 54.
Wir dürfen nur das Vorhergehende zusammenstel-
len, um die Hemmungsrechnung anzuordnen. Es seyen
gegeben die beyden Vorstellungen a und b, der Hemmungs-
grad m, so hat man
ist der Rest von a,
ist der Rest von b.
Beyde Reste zusammen sind = a + (1 — m) b, wo-
von man, wenn der eine in Decimalbrüchen schon be-
rechnet ist, denselben nur abziehn darf, um den andern
zu finden.
[191]
Beyspiele:
a=1, b=1, m=, giebt p=, q==0,75
a=1, b=1, m=, giebt p=, q==0,875
a=1, b=1, m=, giebt p=, q==0,625
a=2, b=1, m=, giebt p=11/6=1,833.., q==0,666..
a=2, b=1, m=, giebt p=1,916.., q=0,833..
für a=∞ wird p=a, q=(1—m)b.
Für drey Vorstellungen nehme man die Hemmungs-
summe aus §. 52., und nenne sie S; die Hemmungsver-
hältnisse aus §. 53.; auch nenne man die Zähler der
Brüche, wodurch die Verhältnisse bezeichnet werden,
ε, η, ϑ; so sind ganz allgemein die Verhältniſszahlen
=; oder bcε, acη, abϑ; und die Rechnung
steht so:
woraus sich die Reste durch gehörigen Abzug ohne Mühe
finden. — Man weiſs schon, daſs für den Fall I., ε=
p+n, η=p+m, ϑ=m+n; für den Fall II., ε=p+n,
η=m+n, ϑ=m+p; für den Fall III., ε=p+m,
η=p+n, ϑ=m+n, u. s. f. Die Werthe von ε, η,
ϑ, liegen zwischen 0 und 2.
Für durchgängig gleiche Hemmungsgrade, oder für
p=m=n, folglich ε=η=ϑ, fallen diese Gröſsen aus
den Verhältniſszahlen heraus, und bleiben nur noch in
der Bestimmung von S zurück; daher verhalten sich als-
dann die Theile, welche gehemmt werden, zu den ent-
sprechenden im §. 44., gerade wie S:(b+c).
§. 55.
Die Berechnung der Schwelle für die schwächste der
drey Vorstellungen stützt sich hier auf die Gleichung:
[192] oder c2(bε+aη)+abϑc=abϑS,
wobey man nicht vergessen darf, daſs S in der Regel
noch c enthält, also die Gleichung nicht so geradezu
kann aufgelöset werden.
Wir wollen hier c=1 setzen, indem wir es als den
beständigen Maaſsstab der übrigen Gröſsen ansehn, und
aus ihm die zugehörigen b und a berechnen. Auch
sey , welches also das Verhältniſs zwischen a und
b andeutet, und uns die Substitution a=κb verschafft,
wodurch die Gleichung zur Division mit b vorbereitet
wird. So kommt
oder
Bekanntlich liegen die Werthe von a zwischen b und ∞,
also die von κ zwischen 1 und ∞. Und da S, nach
§. 52., meistens b und c, jedes mit einem Hemmungs-
grade multiplicirt, enthält, so sey S=σb+τc, oder weil
c=1, S=σb+τ; alsdann ergiebt sich
für a=b, oder
woraus (A)
für a=∞, also κ=∞,
woraus (B)
Diese Gleichungen sind für die Bestimmung der
Schwellen wichtig, indem sie dieselben in ihre Gränzen
einschlieſsen. Wenn a=b beyde kleiner sind, als die
Gleichung A anzeigt, so sey übrigens ihre Gröſse wel-
che sie wolle, sie können c=1 nicht auf die Schwelle
bringen. Wenn b allein, kleiner ist als die Gleichung
B angiebt, so sey aso groſs es wolle, es bringt doch
nicht
[193] nicht c=1 auf die Schwelle. Wenn endlich b (folglich
auch a) gröſser ist, als die Gleichung A bestimmt, so
ist c=1 allemal unter der Schwelle, b und a mögen übri-
gens seyn was sie wollen.
Die beyden Gränzen für b liegen, wie die Formeln
zeigen, sehr nahe beysammen. Ihr ganzer Unterschied
hängt ab von ε, welches in dem zweyten Theile der Wur-
zelgröſse einmal zugegen ist, das andremal fehlt. Da ε,
als Summe zweyer ächten Brüche, höchstens =2 seyn
kann, so müſste ϑ oder σ sehr klein seyn, wenn der
Unterschied bedeutend werden sollte.
Wir haben die Gültigkeit dieser Formeln auf die
Voraussetzung beschränkt, daſs b und c in der Hem-
mungssumme sich befinden. Falls statt dessen a und c
in ihr vorkommen, behält dennoch S die Form σb+τ, nur
muſs alsdann σ zugleich κ einschlieſsen. Nämlich es sey
die H. S. πa+τc, so ist dieses =πκb+τc, wegen
a=κb; nun lasse man in diesen Fällen πκ=σ seyn, so
passen auch jetzt die nämlichen Formeln. — Man denke
aber nicht, daſs σ darum eine groſse Zahl werden könne.
Denn obschon κ bis zum Unendlichen wachsen kann: so
wird doch a, wenn es einigermaaſsen groſs ist, niemals
in der Hemmungssumme vorkommen.
Nur die beyden Fälle, wo c in der Hemmungssumme
fehlt, nöthigen uns zu einer neuen Rechnung. Für die-
selben sey S=πa+τb=b(πκ+τ), so wird, wenn
πκ=σ),
aus
jetzt für κ=1,
woraus .
Es ist aber in beyden hieher gehörigen Fällen σ+τ
=p+n=ϑ, daher die eben gefundene Formel noch ein-
facher so zu schreiben ist:
I. N
[194]. (C)
Dies ist die eine Gränze, über welche b nicht stei-
gen darf, wofern c=1 nicht auf jeden Fall unter der
Schwelle seyn soll. Die andre Gränze, unter welcher b
nicht seyn darf, muſs aus den vorigen Formeln entnom-
men werden. Denn wenn a=∞, gehört es gewiſs nicht
selbst zur Hemmungssumme.
Demnach ist die Formel B ganz allgemein, und
zwar in der ersten Bedeutung von σ; nur die Formel A
erleidet zuweilen die angegebene Abänderung des Werths
von σ, und in seltnen Fällen tritt in ihre Stelle die
Formel C.
§. 56.
Nimmt man durchgängig gleiche Hemmung an, also
p=n=m, und ε=η=ϑ, auch σ=τ=m, so verschwin-
det aller Unterschied der sechs Fälle; a kann in der
H. S. nicht vorkommen, und die Gleichungen A und B
verwandeln sich in folgende:
für a=b,
für a=∞,
Hieraus ergiebt sich in Zahlen folgendes: soll c=1
auf die Schwelle gebracht werden, so ist
Hier nimmt die Differenz der zusammengehörigen
Werthe zwar immer zu; aber im Verhältniſs gegen die
Zahlen selbst sehr stark ab.
Wie die Voraussetzung des durchgängig gleichen
Gegensatzes in der Mitte aller Fälle liegt, und zugleich
für die Rechnung eine Bequemlichkeit mit sich führt: so
giebt es noch ein paar andre Arten, etwas Mittleres zwi-
schen zwey Fällen hervorzuheben. Man kann η=ϑ,
und zugleich σ=τ setzen, wodurch sich die Gleichung
B in verwandelt: Erstlich, wenn man in den
Fällen I. und II., p=n setzt, wodurch der Unterschied
dieser Fälle aufgehoben wird. Denn
im Fall I. ist η=p+m, ϑ=m+n, σ=p, τ=n,
im Fall II. ist η=m+n, ϑ=m+p, σ=n, τ=p.
Zweytens, wenn man in den Fällen IV. und VI.,
m=n setzt, wodurch der Unterschied dieser Fälle, wenig-
stens in Beziehung auf a=∞, also auf die Gleichung
B verschwindet. Denn hier kann nur diejenige Angabe
der H. S. brauchbar seyn, in welcher kein a vorkommt.
Dies vorausgesetzt, findet sich
im Fall IV., η=p+n, ϑ=m+p, σ=n, τ=m,
im Fall VI., η=p+m, ϑ=n+p, σ=m, τ=n,
wo wiederum für n=m der Unterschied wegfällt.
In den Fällen I. und II. wird also , in den
N 2
[196] Fällen IV. und VI. aber für a=∞. Beydes sind
die niedrigsten Werthe, welche b haben darf. Aber je-
ner ist gröſser als dieser. Sehr natürlich, denn die Hem-
mungssumme ist in jenen Fällen kleiner, daher muſs b
mehr Kraft besitzen, um c zur Schwelle zu treiben. —
Aber die Gleichung p=n macht auch die sämmt-
lichen Fälle I. II. III. und IV. einander gleich in Hinsicht
der Gränzformel A. Denn diese Formel beruhte auf der
Annahme a=b; dafür aber werden die Hemmungssum-
men alle =p(b+c), also wiederum σ=τ, und auch die
Summe ε+η bleibt sich gleich, während ϑ für sich über-
all gleich ist.
Ob es sich belohnen könne, den verschiedenen
Werthen, welche die gefundenen Formeln anzunehmen
fähig sind, noch genauer nachzugehn: dies läſst sich im
Allgemeinen nicht entscheiden. Vielleicht wird man künf-
tig entdecken, daſs zur Erklärung gewisser, in der Erfah-
rung vorkommenden Phänomene, auch die feinsten Unter-
schiede, deren Möglichkeit in den Formeln liegt, müssen
berücksichtigt werden.
Hier mag noch ein kurzes Rechnungs-Beyspiel Platz
finden. Man nehme, der Bequemlichkeit wegen, die Hem-
mungsgrade als gegeben an; es sey ;
und hieraus für den ersten Fall;
auch . Nun suche man zuerst die Gränzen
für b. In §. 55. giebt die Gleichung A, b=3,57 … die
Gleichung B giebt b=3,05. Zwischen diesen beyden
Werthen muſs man b annehmen, damit c=1 auf der
Schwelle sey; welches für ein kleineres b nicht möglich
wäre, wie stark auch a seyn möchte; für ein gröſseres
sich von selbst verstände, oder eigentlich wäre dann c
nicht auf, sondern unter der Schwelle. Gesetzt dem-
nach, b sey =3,1; so giebt die Formel ,
κ=11,4; folglich a=35,3… Hingegen sey b=3,5, so
wird κ=1,19.. und a=4,16… Länger wollen wir hie-
[197] bey nicht verweilen; indem wichtigere Untersuchungen
bevorstehn.
Viertes Capitel.
Von den vollkommenen Complicationen der
Vorstellungen.
§. 57.
Die Voraussetzungen, deren Folgen wir bisher auf-
gesucht haben, waren so einfach, daſs die mannigfaltig
verwickelten Zustände des Bewuſstseyns ihnen selten ge-
nau entsprechen können. Aber eben so hebt auch die
Statik der Körperwelt von Untersuchungen an, die auf die
Wirklichkeit nicht vollkommen passen. Der einfache He-
bel, ohne eigne Masse und Schwere, die Bewegung fallender
und geworfener Körper im luftleeren Raume, der Schwer-
punct von mathematischen Flächen und Curven, — alles
dies sind Gedankendinge, die dennoch in der Wissen-
schaft den Vortritt haben vor den realen Gegenständen,
weil sich an jenen besser als an diesen die Elemente der
Wissenschaft nachweisen lassen. — In der Psychologie
können wir bey dem Mangel oder doch der Schwierigkeit
bestimmter Beobachtungen weniger darauf ausgehn, ir-
gend ein wirkliches und individuelles geistiges Ereigniſs
genau zu erkennen und zu erklären: als die einfachen
Gesetze einzusehen, deren höchst mannigfaltige Verflech-
tung die Wirklichkeit bestimmt. Doch es ist nicht nö-
thig, über das Voranstellen der abstractesten Voraus-
setzungen demjenigen ein Wort zu sagen, der von irgend
einem Theile der angewandten Mathematik auch nur
oberflächliche Kenntniſs hat. —
Das groſse Princip, welches minder offenbar schon die
bisherigen Untersuchungen leitete, und immer klärer die
[198] folgenden bestimmen muſs, ist die Einheit der Seele.
Darum, weil die Vorstellungen alle in Einem Vorstellen-
den als Thätigkeiten (Selbsterhaltungen) desselben bey-
sammen sind, müssen sie Ein intensives Thun ausmachen,
sofern sie nicht entgegengesetzt und nicht gehemmt sind.
Eben darum auch müssen sie sich hemmen, in so weit
ihr Gegensatz es mit sich bringt. Weder unangefoch-
ten, noch unvereinigt können sie bleiben; das erste
haben wir bisher betrachtet, das zweyte müssen wir jetzt
suchen, allmählig in seinen nähern Bestimmungen ken-
nen zu lernen. Eben dadurch werden wir die abstracten
Voraussetzungen mehr und mehr dem Wirklichen anzu-
passen im Stande seyn.
Zuerst muſs hier hingewiesen werden auf die ver-
schiedenen Continua, welche durch ganze Classen von
Vorstellungen gebildet werden. Die sämmtlichen Farben
ergeben Ein Continuum, die Gestalten ein anderes; die
Töne machen ein drittes; die Vocale ein viertes, selbst
die Consonanten können wenigstens zusammengestellt
werden; an Gerüche, Geschmäcke, Gefühle ist kaum noch
nöthig zu erinnern. Auch lehrt die Erfahrung, daſs zwar
verschiedene Vorstellungen aus Einem Continuum einan-
der entgegengesetzt sind, aber nicht Vorstellungen aus
verschiedenen Continuen. Die Farbe hemmt nicht die
Vorstellung des Hörbaren, vielmehr das hörbare Wort,
die sichtbare Schrift, und ein von beyden ganz verschie-
dener Gedanke, der aus mancherley, durch verschiedene
Sinne wahrgenommenen Eigenschaften irgend eines Dinges
zusammengesetzt ist, alles dies tritt in eine Verbindung,
die unerklärlich wäre, wenn die groſsen Verschiedenhei-
ten so heterogener Vorstellungen für hemmende Gegen-
sätze zu halten wären.
Aus dieser Erfahrung, deren genauere Prüfung und
gehörige Beschränkung nicht dieses Orts ist, wollen wir
hier bloſs den, schon a priori wenigstens möglichen, Ge-
danken herausheben, daſs es mehrere Continuen von Vor-
[199] stellungen geben könne, aus deren einem in das andere
kein hemmender Gegensatz hinübergreife, während inner-
halb eines jeden alles Mannigfaltige in bestimmten Hem-
mungsgraden einander im Bewuſstseyn verdunkele.
Nun muſs alles gleichzeitige wirkliche Vorstellen, we-
gen seiner Durchdringung in der Einheit des Vorstellen-
den, sich vereinigen, so weit die Hemmung es nicht hin-
dert. Hier ist sogleich offenbar, daſs es zwey ganz
verschiedene Arten der Vereinigung geben müsse, je
nachdem ein paar Vorstellungen entweder aus einerley
Continuum sind, oder aus verschiedenen. Im ersten Falle
werden sie nach dem Grade ihrer Ungleichheit sich hem-
men, und sich nur so weit vereinigen, als die Hem-
mung es zuläſst. Im andern Falle ist zwischen ihnen
keine gegenseitige Hemmung, sie können sich also
gänzlich verbinden.
Zwar auch im letztern Falle wird eine zufällige Hem-
mung die Verbindung beschränken können. Es seyen die
Vorstellungen a und α gleichzeitig im Bewuſstseyn, wo
die Verschiedenheit der zur Bezeichnung gewählten Al-
phabete auf Vorstellungen aus verschiedenen Continuen
hinweis’t: sind nun noch andere Vorstellungen, b, c, β,
γ, gegenwärtig, so wird a durch b und c, α durch β und
γ gehemmt; und um so viel als die Hemmung beträgt,
die Möglichkeit der Vereinigung von a und α vermindert.
Denn das Streben einer gehemmten Vorstellung ist aus-
schlieſsend wider die hemmenden gerichtet; und da die
Vorstellung einzig in diesem Streben noch besteht, so
hat sie nun nur ein isolirtes Daseyn, und ungeachtet
der Einheit der Seele, worin sie immer noch mit allen
andern Vorstellungen ein intensives Eins ausmacht, kann
sie sich doch nicht mit irgend einer andern, selbst nicht
mit einer ihr gleichen, zu einer Totalkraft verbinden.
Wenn daher a und α zum Theil gehemmt, zum Theil
aber noch als wirkliches Vorstellen, gleichzeitig im Be-
wuſstseyn zusammentreffen: so entsteht eine unvollkommne
[200] Verbindung beyder; der Grad der Verbindung aber hängt
nicht von ihnen selbst, sondern von den zufällig mitwir-
kenden Kräften ab.
Jetzt wird die Eintheilung verständlich seyn, welche
den weitern Untersuchungen muſs vorangestellt werden.
Vorstellungen aus verschiedenen Continuen können sich
gänzlich verbinden, so daſs sie nur Eine Kraft ausmachen,
und als solche in Rechnung kommen; dergleichen Ver-
bindung nenne ich eine vollkommene Complica-
tion. Vorstellungen aus einerley Continuum können sich,
wegen des unter ihnen statt findenden Gegensatzes, nicht
gänzlich verbinden (Falls sie nicht gänzlich gleichartig
sind, wie die Wiederhohlungen der nämlichen Wahr-
nehmung); alsdann ergiebt sich aus ihrer Stärke und
ihrem Gegensatze das Gesetz, wie genau ihre Vereinigung
werden kann; dergleichen Vereinigungen nenne ich Ver-
schmelzungen. Endlich wegen zufälliger Hindernisse
kann es sowohl unvollkommne Complicationen als
unvollkommne Verschmelzungen geben.
§. 58.
Es seyen zwey vollkommene Complexionen gegeben,
A=a+α, und B=b+β. Welches wird die Summe
und das Verhältniſs ihrer Hemmung seyn?
Die Summe macht bey vollkommenen Complicationen
keine besondere Schwierigkeit. Denn das Widerstreitende,
Unvereinbare gewisser Vorstellungen, welches einmal in
ihrer Natur liegt, kann durch ihre Verbindungen nicht
gröſser noch kleiner werden. Sowohl a und b bilden un-
ter sich, als α und β unter sich, eine Hemmungssumme
nach den obigen Bestimmungen; beydes addirt, ergiebt
die H. S. der Complexionen A und B. Es sey also der
Hemmungsgrad zwischen a und b, =p; zwischen α und
β, =π: so ist nur noch zu bedenken, daſs, obgleich
A\>B, dennoch α\<β seyn kann, wofern nur um so
mehr a\>b. Angenommen, daſs sich dies also verhalte:
so ist die H. S. =pb+πα.
Mehr Mühe macht das Hemmungs-Verhältniſs. Man
[201] wolle hier zurückblicken in die §§. 43. und 53. — So fern
die Complexionen als widerstehende Kräfte betrachtet
werden, sind sie Totalkräfte; sie leiden im umgekehrten
Verhältnisse dieser Totalkräfte, sie wirken auch der da-
durch erhaltenen Spannung gemäſs zurück. Aber so fern
die Wirkung einer jeden unmittelbar von ihrer Stärke
und ihrem Hemmungsgrade abhängt, entsteht eine Schwie-
rigkeit oder wenigstens eine Weitläuftigkeit aus dem Um-
stande, daſs die Bestandtheile der Complexionen einen
verschiedenen Hemmungsgrad haben können, und daſs
in so fern auch die Kräfte als aus verschiedenen Bestand-
theilen zusammengesetzt betrachtet werden müssen. Wir
wollen nun die drey Ueberlegungen des §. 43. erneuern.
Erstlich: A wirkt im Verhältnisse ap+απ.
Zweytens: A wirkt im Verhältnisse seiner Spannung .
Drittens: A leidet im Verhältnisse .
Dasselbe läſst sich leicht auf B anwenden.
Wofern nun hier, so wie oben, und
wäre (denn wenn man ein gleichartiges Vor-
stellen von der Stärke A, als aus Theilen a und α be-
stehend, und eben so ein andres gleichartiges Vorstellen
von der Stärke B, als aus Theilen b und β bestehend,
betrachten wollte, so wäre p=π, und bey vollem Ge-
gensatze =1, und aber =1), so würde
bloſs das Verhältniſs des Leidens, , übrig bleiben.
Jetzt aber ist nur in speciellen Fällen p=π, und des-
halb muſs das Hemmungsverhältniſs aus allen den ange-
gebenen Gröſsen zusammengesetzt werden.
Indem nun die Hemmungssumme die Spannungen
in den Verhältnissen und bewirkt *), muſs sie zu-
[202] gleich in dem Verhältniſs der wirkenden Kräfte
und vertheilt werden. Die erste Kraft nämlich
ist diejenige, die A durch B erleidet, die andre Kraft
ist die, mit welcher A auf B einwirkt. Also dieses zu-
sammengenommen sind die Verhältniſszahlen:
, , oder pb+βπ, ap+απ.
Für p=π wird daraus B, A; wie gehörig nach §§. 43.
und 53.
§. 59.
Wir schreiten fort zu drey Complexionen, A=a+α,
B=b+β, C=c+γ, wo A die stärkste, C die schwäch-
ste, während die Bestandtheile mancherley Gröſsenver-
hältnisse haben können. Auch seyen die Hemmungs-
grade
- zwischen a und b, p;
- ‒ a ‒ c, n;
- ‒ b ‒ c, m
- zwischen α und β, π
- ‒ α ‒ γ, ν
- ‒ β ‒ γ, μ.
Um nun zuerst bloſs die wirkenden Kräfte zu be-
trachten, so fern sie von der Stärke der Vorstellungen
und den Hemmungsgraden unmittelbar abhängen, so wirkt
- A auf B im Verhältniſs ap+απ,
- ‒ auf C ‒ ‒ ‒ an+aν,
- B auf A ‒ ‒ ‒ bp+βπ,
- ‒ auf C ‒ ‒ ‒ bm+βμ,
- C auf A ‒ ‒ ‒ cn+γν,
- ‒ auf B ‒ ‒ ‒ cm+γμ.
Mit jedem dieser Verhältnisse ist zusammenzusetzen
die Spannung der wirkenden Vorstellung. Endlich ist
mit der Summe der Kräfte, von denen eine jede Com-
*)
[203] plexion leidet, zusammenzusetzen das umgekehrte Ver-
hältniſs ihrer Totalkraft, nach welchem sie sich den ein-
wirkenden Kräften unterwirft. Auf diese Weise entsprin-
gen folgende Verhältniſszahlen:
A leidet im Verhältniſs
B — — —
C — — —
Kürzer: C(bp+βπ)+B(cn+γν); C(ap+απ)+A(cm+γμ);
B(an+αν)+A(bm+βμ).
Zwey Bemerkungen können hier sogleich hinzugefügt
werden.
Erstlich: es sey p=π, n=ν, m=μ: so wird
, weil ; eben so bey den folgen-
den ähnlichen Gröſsen; daher werden die Verhältniſs-
zahlen
ganz ähnlich jenen im §. 53.
Zweytens: es sey b=β, c=γ, a=α, so ist A=2a,
B=2b, C=2c; und die Verhältniſszahlen werden:
Zur Abkürzung kann man auch hier wieder die zu
A, B, C gehörigen Zähler mit ε, η, ϑ bezeichnen. Nur
dürfen die Bedeutungen dieser Buchstaben dann nicht
mit den obigen verwechselt werden. Dieselbe Erinnerung
trifft auch p, m und n. —
Was die Hemmungssumme für drey Complexionen
anlangt: so ergiebt schon der vorige §, daſs dieselbe auch
hier die beiden Hemmungssummen für die Bestandtheile
der Complexionen in sich schlieſse.
Uebrigens muſs es hier genügen, daſs drey binomi-
sche Complexionen zur Untersuchung gezogen werden.
[204] In das Detail, welches mehrere und vieltheilige Com-
plexionen verursachen würden, können wir uns nicht ein-
lassen.
§. 60.
Die Berechnungen, welche aus den bisherigen Be-
stimmungen folgen, werden den groſsen Einfluſs der Com-
plicationen unserer Vorstellungen ins Licht setzen. —
Für zwey Complexionen ist die Rechnung im Allgemeinen
diese:
Durch S und Σ deute ich nämlich die beyden Theile
der Hemmungssumme an, deren einer aus a und b, der
andere aus α und β entspringt.
1) Wir wollen annehmen, A und B seyen ähnli-
che Complexionen, d. h. a : α=b : β; also , und
; daher beyde Ver-
hältniſszahlen ganz kurz =b und a; demnach
das heiſst: zwey ähnliche Complexionen hemmen
sich im umgekehrten Verhältnisse ihrer analo-
gen Theile.
Beyspiel: die Vorstellung eines Klanges von der
Stärke=2 sey complicirt mit der Vorstellung einer Farbe
von der Stärke =3; die Vorstellung eines andern Klan-
ges von der Stärke =8 sey complicirt mit der Vorstel-
lung einer andern Farbe von der Stärke =12; die Ver-
schiedenheit der Farben sowohl als der Klänge sey wel-
che sie wolle: so wird von der ersten Complexion vier-
mal so viel gehemmt als von der zweyten.
2) Die Hemmungsgrade seyen gleich, oder p=π;
[205] so lassen sich dadurch die Verhältniſszahlen dividiren,
und die Rechnung bekommt folgende Form:
Das heiſst: wenn unter den Bestandtheilen
zweyer Complexionen nur einerley Grad der
Hemmung herrscht: so ist die Gröſse dieser Be-
standtheile von keinem Einfluſs auf das Ver-
hältniſs der Hemmung, wofern nur die ganzen
Complexionen gleich bleiben, als von welchen
nun allein das Hemmungsverhältniſs abhängt.
Der Gröſse nach aber sind die zu hemmen-
den Theile um so kleiner, je ungleicher an Grö-
ſse die Bestandtheile der Complexionen. Dieses
folgt aus der Hemmungssumme, welche von jedem Paar
entgegengesetzter Vorstellungen nur die kleinste in sich
faſst.
Beyspiele: Ein Klang =2 sey complicirt mit einer
Farbe=3, ein andrer Klang=2 mit einer andern Farbe
=4; überdies voller Gegensatz sowohl zwischen den Klän-
gen unter einander als zwischen den Farben: so ist die
H. S. =2+3=5, das H. V. wie 6 : 5, also leidet die
erste Complexion die Hemmung von , die andre von
. — Es sey aber ein Klang =1 complicirt mit einer
Farbe =4, und ein andrer Klang =3 mit einer Farbe
=3; der Gegensatz wie vorhin: so ist die H. S. =1+3
=4, das H. V. wie 6:5, also wird von der ersten Com-
plexion gehemmt , von der andern .
3) Es sey bp+βπ=ap+απ, oder p(b—a)=
π(α—β), oder
p:π=(α—β):(b—a),
so ergiebt sich der Satz: von beyden Complexionen
wird gleich viel gehemmt, wenn die Hemmungs-
grade sich umgekehrt verhalten wie die Diffe-
renzen der ihnen zugehörigen Vorstellungen.
[206] Damit dieses möglich sey, müssen die Complexionen un-
ähnlich seyn in dem Grade, daſs jede bestehe aus der
stärksten des einen Paares entgegengesetzter Vorstellun-
gen, und aus der schwächsten des andern. Denn kein
Hemmungsgrad kann negativ seyn.
Beyspiel: Zwischen zwei Klängen sey der Gegen-
satz =1, zwischen zwey Farben ; ein Klang =2 com-
plicirt mit einer Farbe =6, der andre Klang =5 com-
plicirt mit der andern Farbe =2: so ergiebt sich das H.
V. .
Das Auffallende in diesem Beyspiel, daſs eine Com-
plexion =7 und eine andre =8 sich gegenseitig gleich
stark hemmen, wird noch mehr hervortreten in dem fol-
genden Satze.
4) Es sey π=ο, so ist das H. V. wie b:a, und
die Rechnung giebt die vierten Glieder und ,
α und β mögen seyn was sie wollen.
Das heiſst: wenn von zweyen entgegenstehen-
den Vorstellungen jede complicirt ist mit einer
solchen die nichts ihr entgegengesetztes im Be-
wuſstseyn antrifft: so geschieht die Hemmung
lediglich im Verhältniſs jener entgegengesetz-
ten; obgleich die ganzen Complexionen dersel-
ben unterworfen sind.
Beyspiel: Mit der Vorstellung eines Farbigten von der
Stärke 3, sey complicirt ein Klang =1; mit der Vorstellung
eines andern Farbigten von der Stärke 1, sey complicirt
eine Gefühlsvorstellung =11: so erleidet die letztre Com-
plexion =12 eine dreymal so starke Hemmung wie die
erstere =4. Wie sehr die Farben entgegengesetzt seyn
mögen, wirkt nur auf die Hemmungssumme.
Das Seltsame, daſs die stärkste Kraft hier am mei-
sten leidet, ist leicht zu erklären. Die Gefühlsvorstellung
kann nur widerstehen; aber ihr ist kein Gegensatz eigen,
[207] durch den sie für sich etwas aus dem Bewuſstseyn ver-
drängen könnte. Dagegen erhält sie etwas im Bewuſst-
seyn, das vor einer andern stärkern Vorstellung weichen
sollte. Deshalb leidet sie unter derselben Einwirkung, der
jenes ausgesetzt ist. Nicht anders ereignet sich dies selbst
dann, wenn die gegenüberstehende Vorstellung einfach
ist. Es sey α=ο, oder im Beyspiel, der Klang fehle
gänzlich: so übt dennoch die Vorstellung =3 die näm-
liche Gewalt gegen die Complexion =12. Nur mit dem
Unterschiede, daſs nun diejenige Hemmung, welche sonst
die Vorstellung des Farbigten =3 mit der des Klanges
=1 gemeinschaftlich getragen hätte, allein der ersteren
zur Last fällt. —
Es ist der Mühe werth, nachzusehen, in wie fern
diese bey zwey Complexionen sich so leicht darbieten-
den Sätze, auch auf drey derselben Anwendung finden
mögen.
Damit erstlich drey Complexionen einander ähnlich
seyen, muſs a:α=b:β=c:γ gesetzt werden. Hieraus
ist im §. 59. ; ;
, . Auch
ist , , ;
daher sich die Verhältniſszahlen sämmtlich durch
dividiren lassen. Demnach sind dieselben, wenn noch
mit a multiplicirt wird:
cb(ap+απ)+bc(an+αν)
ca(ap+απ)+ac(am+αμ)
ba(an+αν)+ab(am+αμ).
Damit ein leicht faſsliches Verhältniſs gewonnen werde,
bedarf es hier noch eines Zusatzes, der bey zwey Com-
plexionen nicht bemerklich werden konnte. Es sey näm-
lich p:π=n:ν=m:μ, folglich
[208], und , so wer-
den jene Zahlen:
bc(p+n), ac(p+m), ab(n+m);
oder
wo das umgekehrte Verhältniſs der analogen Theile aller-
dings vorhanden, nur noch durch die zugehörigen Hem-
mungsgrade afficirt ist.
Ueber den zweyten Satz erhellt schon aus §. 59.,
daſs für p=π, n=ν, m=μ, die Verhältnisse sind
Was den dritten Satz anlangt, so scheint es nicht,
daſs die Bedingung der gleichen Hemmung für drey Com-
plexionen auf einen schicklichen Ausdruck zu bringen sey.
Auch die vierte Voraussetzung, π=ο, veranlaſst hier
nur die Bemerkung, daſs, wenn von den drey Vorstel-
lungen α, β, und γ, eine zu einem andern Continuum
gehört als die übrigen beyden, dann zugleich zwey Hem-
mungsgrade =ο werden, also mit π=ο zugleich ν=ο
oder μ=ο.
§. 61.
Zu den sämmtlichen hier geführten Rechnungen
kommt nun der Satz: daſs bey vollkommenen Com-
plexionen sich stets das Gehemmte auf die Be-
standtheile in demselben Verhältnisse verthei-
len muſs, in welchem sie zur Complexion bey-
tragen. Es sey von der Complexion A=a+α gehemmt
die Gröſse μ, so ist gehemmt von a, und
gehemmt von α. Dies versteht sich von selbst aus der
Natur einer Totalkraft, deren Theile gleichmäſsig wider-
stehen und leiden, und deren ungleiche Theile eben
deshalb einem gerade so ungleichen Leiden unterworfen
seyn müssen.
Hieraus geht zugleich hervor, daſs vollkommne Com-
ple-
[209] plexionen sich in allen ihren Zuständen (d. h. bey jedem
Grade der Verdunkelung im Bewuſstseyn) doch immer
ähnlich bleiben. Denn die Reste müssen ähnlich seyn,
wenn das Gehemmte immer dieselbe Proportion beob-
achtet.
Merkwürdig ist ferner, daſs von den Elementen der
Complexionen bald mehr bald weniger als die aus ih-
nen resultirende Hemmungssumme sinken wird. Denn
die partiellen Hemmungssummen vereinigen sich hier zu
einer allgemeinen Last, deren Vertheilung nun andern
Regeln folgt, als jenen, die in dem Widerstreit der Ele-
mente ursprünglich gegründet waren. — Gehn wir zu
dem ersten Beyspiele des §. 60. zurück: so sey dort für
die beyden Klänge der Hemmungsgrad , für die Far-
ben =1: so ist S+Σ=1+3=4; von der ersten Com-
plexion wird gehemmt ; also für den Klang
=2 beträgt die Hemmung ; für die Farbe
=3 beträgt dieselbe ; von der zweyten Com-
plexion wird gehemmt ; also für den Klang =8
ergiebt sich das Gehemmte , und für die
Farbe =12 kommt . Denken wir die Com-
plication hinweg: so haben wir für den Klang =2 das
Gehemmte =0,8; für den Klang =8 kommt 0,2; für die
Farbe =3 findet sich das Gehemmte =2,4; und für die
Farbe =12 beträgt dasselbe 0,6. Offenbar verursacht
hier die Complication einen Nachtheil für die Klänge,
und einen Vortheil für die Farben, indem der gröſsere
Hemmungsgrad der letztern auf jene mit einflieſst. Die
Hemmungssumme für die Klänge ist =1; aber wegen
der Complication wird von ihnen gehemmt 1,28+0,32
=1,6; die H. S. für die Farben ist =3, die Complica-
tion vermindert dies bis auf 1,92+0,48=2,4. Aber auch
I. O
[210]nur in der Hemmungssumme liegt der Grund hievon,
wie man aus der hieher gehörigen Formel des §. 60.
sehr leicht sehn wird. Setzt man nun bey ähnli-
chen Complexionen auch noch die Hemmungs-
grade gleich: so geschieht die Hemmung gänz-
lich so, als ob keine Complication Statt gefun-
den hätte. Denn hiedurch bekommt die ganze Hem-
mungssumme zu den ganzen Complexionen dasselbe Ver-
hältniſs, wie es bey den einzelnen Vorstellungen gewesen
wäre. — In jedem hievon abweichenden Falle
entsteht ein Gefühl des Contrastes unter den zu
wenig gehemmten Vorstellungen, weil sie mit dem
Drange, sich zu hemmen, im Bewuſstseyn bleiben.
Davon tiefer unten im §. 104
§. 62.
Welche Arbeit es kosten werde, Schwellentafeln für
die vollkommnen Complexionen zu berechnen, läſst sich
aus den verwickelten Hemmungsverhältnissen für drey
Complexionen nur gar zu leicht erkennen. Denn für
zwey Complexionen kann es keine Schwellen geben, da
die Hemmungssumme niemals gröſser seyn kann, als die
schwächere Complexion, diese aber nicht völlig sinken
wird, ohne einen Theil der Hemmungssumme auf die
stärkere zu werfen.
Nur in den vorbemerkten Fällen, wo die Hemmungs-
verhältnisse auf die Form , , , oder auch , ,
, können gebracht werden, bieten sich die Wendun-
gen der Rechnung abermals dar, welche schon bey ein-
fachen Vorstellungen mit verschiedenen Hemmungsgra-
den gebraucht sind. Denn die Formel des §. 55.,
wird mit gehöriger Veränderung, und besonders mit ge-
höriger Bestimmung von ε, η, ϑ, S, auch jetzo passen.
Wir zeichnen hier einen Fall aus, der sehr einfach
[211] und zugleich sehr abweichend ist von den Bestimmungen
der Schwellen in den vorigen Capiteln. Es sey nur eine
Complexion im Bewuſstseyn gegenwärtig, allein zugleich
zwey einfache Vorstellungen, deren jede einem Elemente
der Complexion widerstreite. Also α+a, b, und γ. Als-
dann sind β=o, c=o, C=γ, B=b, auch π=μ=n
=m=o; indem bloſs zwischen a und b der Hemmungs-
grad p, und zwischen α und γ der Hemmungsgrad ν
noch übrig bleibt. Dem gemäſs sind aus §. 59. die Hem-
mungsverhältnisse
für a+α, für b, für γ,
γbp+bγν; γap; bαν.
Ferner wegen der Hemmungssumme, da γ auf der
Schwelle seyn soll, ist am natürlichsten anzunehmen daſs
γ\<α, folglich daſs νγ zur Hemmungssumme gehöre.
Unentschieden mag es bleiben, ob a\>b; wir wollen den
Buchstaben h einführen, der a bedeuten soll, wenn
a\<b, aber b, wenn a\>b; so ist auf allen Fall ph der
andre Theil der Hemmungssumme; also dieselbe =ph+νγ.
Was nun von γ gehemmt wird, findet sich so:
und γ ist auf der Schwelle, wenn
woraus
oder .
Die Auflösung der Gleichung versteht sich nun von
selbst. Der Coefficient von γ wird = o für ν=1; und
alsdann
.
Die Zweydeutigkeit, ob h=a oder h=b, wird weg-
fallen wenn a=b, alsdann ist
O 2
[212] und für p=1, . Ist endlich auch α=a=b,
so kommt . Mit dieser Complicationsschwelle
vergleiche man nach §. 47. die gemeine Schwelle, wel-
che entstehn würde, wenn aus einem einzigen Continuum
von Vorstellungen die stärkste =a+α, zwey andre =b
und =γ genommen wären, auch a=α=b=1, da denn
auf der Schwelle seyn würde. Es leuchtet ein,
daſs hier das ganze a+α im Streite wäre mit jeder der
beyden einfachen Vorstellungen; während in unserm Falle
nur a wider b, und α wider γ streitet, daher ein schwä-
cheres γ hinreicht, um noch die Schwelle des Bewuſst-
seyns zu behaupten.
Fünftes Capitel.
Von den unvollkommnen Complicationen.
§. 63.
Schon der Anfang des vorigen Capitels erklärt den
Ausdruck unvollkommne Complicationen. Die Un-
tersuchung der statischen Gesetze für dieselben ist schwe-
rer, als die zunächst vorhergegangene für die vollkom-
menen Complicationen; auch die Mannigfaltigkeit der
Fälle ist hier unendlich gröſser, weil die Innigkeit der
Verbindung jeden beliebigen Grad haben kann. Daher
läſst sich alles bisher über die Complicationen Vorgetra-
gene ansehn als gehörig zu einem speciellen Fall aus ei-
nem sehr weiten Gebiete, in welchem wir uns jetzo um-
sehen wollen. Doch nur das Allgemeinste und Leichteste
können wir hier angeben. —
[213]
Eine Vorstellung =a sey durch irgend welche Kräfte
gehemmt bis auf den Rest =r; desgleichen eine Vor-
stellung =α, aus einem andern Continuum, gehemmt
bis auf den Rest =ρ. Wenn sie also zusammentreffen
im Bewuſstseyn: so verbinden sich die Reste r und ρ zu
Einer Totalkraft, die aber unabtrennlich ist von den
ganzen, wiewohl nicht durchaus verbundenen Vorstellun-
gen a und α. Wird nun eine dieser beyden noch mehr
gehemmt, so widersteht nicht nur sie selbst mit ihrer
ganzen untheilbaren Kraft, sondern mit ihr und für sie
wirkt noch eine gewisse Hülfe, welche die andre Vorstel-
lung ihr leistet. Diese Hülfe zu bestimmen, ist unsre er-
ste Aufgabe. Es ist klar, daſs die Hülfe vollkommen seyn
würde wenn r=a und ρ=α, welches eine vollkommene
Complication ergeben hätte. Um wie viel nun dem r
fehlt zu a, und dem ρ zu α, beydes muſs die zu leistende
Hülfe vermindern.
Erstlich, wenn a die Hülfe empfängt: so ist das hel-
fende Quantum =ρ.
Zweytens, die ganze Hülfe =ρ wird dadurch ver-
mindert, daſs nicht das ganze a, sondern nur ein Bruch
von ihm, sich dieselbe aneignen kann. Dieser Bruch
ist .
Beydes zusammen ergiebt die Hülfe . Desglei-
chen diejenige Hülfe, welche α erhalten kann, .
Demnach bilden sich aus den ganzen Vorstellungen
und den ihnen zukommenden Hülfen, Totalkräfte, deren
eine , die andre .
§. 64.
Um nun die Wirkungsart dieser Complicationshül-
fen näher kennen zu lernen, wollen wir annehmen, mit
der unvollkommnen Complication zugleich sey eine ein-
fache Vorstellung im Bewuſstseyn, die mit einem Be-
standtheile jener im Widerstreite stehe. Sie heiſse b.
[214]
Zwischen a und b sey der Hemmungsgrad =m; a
mit α complicirt, vermöge der Reste r und ρ. So steht
dem α unmittelbar keine Kraft entgegen, sondern nur b
wirkt auf dasselbe vermittelst a, und vermittelst der Reste
r und ρ. Die Wirkung von b auf a ist beschränkt durch
den Hemmungsgrad m; dieser muſs auch die vermittelte
Einwirkung auf α beschränken. Auſserdem bezeichnet
der Bruch das Verhältniſs, in welchem die ganze Ver-
mittelung jener Einwirkung, welche das ganzea hätte
leisten können, vermindert wird. Und überdies ergiebt
der Bruch , in welchem Verhältnisse die Fähigkeit von
α verringert ist, sich dieselbe Einwirkung zuzueignen.
Also b wirkt auf α als eine Kraft . Aber
b wirkt nur, in so fern es durch die Hemmungssumme
gespannt wird; diese Spannung ist im Verhältnisse .
Endlich α leidet im umgekehrten Verhältnisse seiner Kraft;
diese Kraft mit der Complicationshülfe verbunden, ist
. Also erhalten wir, alles zusammengenommen,
für das Leiden von α die Verhältniſszahl
.
Ferner auf a wirkt die Kraft mb, in der Spannung
; und a leidet sammt seiner Hülfe im umgekehrten
Verhältnisse von . Dieses zusammengenommen
findet sich für das Leiden von a die Verhältniſszahl
.
Endlich auf b wirkt nur die Kraft am; es entsteht
aber die Frage, welches die Spannung dieser Kraft seyn
werde? Für a allein wäre sie , für eine vollkommne
[215] Complexion a+α wäre sie ; für die unvollkommne
Complexion ist sie wegen der Hülfe ohne Zweifel .
Das Leiden von b verhält sich überdies wie ; also fin-
det man für das Leiden von b die Verhältniſszahl
.
Alle gefundene Verhältniſszahlen lassen sich durch
m dividiren, daher setzen wir
.
Nun ist wohl zu bemerken, daſs in diesen Verhält-
nissen unmöglich die Hemmungssumme könne vertheilt
werden. Denn die Totalkräfte , sind nicht,
wie die Kräfte in allen unsern bisherigen Berechnungen,
rein verschiedene Kräfte, sondern der Theil steckt
in α, welches dem a diese Hülfe giebt; und der Theil
steckt eben so in a. Was daher diese Totalkräfte
an Hemmung erleiden, das ist eben so wenig rein ge-
sondert; sondern es liegt auf ähnliche Weise in ein-
ander verschränkt, wie die Kräfte. Wollte man das al-
les, was die Totalkräfte zusammengenommen leiden, ad-
diren, so bekäme man mehr als die Hemmungssumme
beträgt; denn man bekäme das alles doppelt, was der
Wahrheit nach in einem andern enthalten ist, obgleich
die Rechnung es neben dem andern aufstellt.
Demnach sey das, was von der Totalkraft
gehemmt wird, =u: so muſs dieses u zuvörderst zwischen
a und getheilt werden. Nur der erste Theil, der sich
für a ergeben wird, gehört wahrhaft zur Hemmungssumme;
der andre Theil, welcher auf kommt, ist ein Leiden
[216] für das helfende α. Dessen ungeachtet darf er diesem
nicht besonders angerechnet werden, denn er liegt versteckt
in dem wirklichen Leiden des α, welches man findet, indem
man diejenige Hemmung, die zur Totalkraft gehört,
nach dem Verhältniſs eintheilt, wo denn wiederum
nur der erste Theil zur Hemmungssumme gehört, der
andre aber in dem eben gefundenen Leiden von a ver-
steckt liegt, und keinesweges zu demselben zu addi-
ren ist.
Nach diesen Prämissen wird folgender Gang der
Rechnung klar seyn: man denke sich irgend ein X, als
ob es dasjenige wäre, was nach den zuvor bestimmten
Verhältnissen getheilt würde. Die vierten Glieder der
Proportionen zerlege man durch neue Proportionen, um
dasjenige, was wirklich zur Hemmungssumme gehört,
herauszusondern; man addire dasselbe, und setze es der
zuvor bestimmten Hemmungssumme gleich; daraus finde
man X, und substituire seinen Werth in die zuvor mit
Hülfe desselben bestimmten wahren Theile der Hem-
mungssumme; diese Theile sind nun wirklich das, was
die einzelnen Vorstellungen leiden, und die Aufgabe ist
dadurch aufgelös’t.
Durch die Rechnung mag diese Vorschrift vollends
klar werden. — Zuerst werde X getheilt nach den obi-
gen Verhältnissen M, N, P.
ist das Leiden für die Totalkraft ; es
zerfällt nach dem Verhältnisse in zwey Theile. Nur
[217] der erstre wird zur Hemmungssumme gehören; man son-
dere ihn ab durch die Proportion
.
Ferner ist das Leiden für die Totalkraft
; es zerfällt nach in zwey Theile; den ersten
sondere man ab durch die Proportion
.
Endlich ist das Leiden für b; welches
keine Hülfe bekommen hat, sondern seine Hemmung al-
lein trägt. Daher ist hier keine Absonderung anzubrin-
gen, sondern dieses Leiden gehört ganz zur Summe der
Hemmung.
Jetzt müssen die gefundenen Theile addirt, und der
Hemmungssumme =S gleich gesetzt werden; also
und folglich .
Dieser Werth von X ist zu substituiren in die ge-
fundenen Theile, welche gehemmt werden von α, a, und
b; demnach:
wird gehemmt von α
wird gehemmt von a
wird gehemmt von b.
[218]
Hieraus sieht man nun die wahren Verhältniſszahlen,
nach denen die Hemmungssumme sich wirklich theilt.
Sie sind , aN2, und P.
und weil ,
so wird die erste Verhältniſszahl ,
die zweyte wird ,
die dritte ist und bleibt .
In dieser Bestimmung der Verhältnisse müssen
zwey andre, aus dem Vorigen schon bekannte, mit
enthalten seyn, an denen wir ihre Richtigkeit erpro-
ben können. Für r=a und ρ=α muſs die unvoll-
kommne Complexion in eine vollkommne übergehn. Da-
für wird die Verhältniſszahl für α, ,
die ‒ ‒ für a, ,
die ‒ ‒ für b, ,
oder mit b(a+α)2 multiplicirt, αb, ab, a(a+α). Nach
§§. 60. und 61. aber würden wir folgende Rechnung ge-
führt haben: erstlich hätten wir β und π=o gesetzt;
daraus wäre das Hemmungsverhältniſs b:a gefunden;
demnach von der Complexion würde gehemmt ; die-
ses müſste zerlegt werden nach dem Verhältniſs der Be-
standtheile der Complexion; und die vierten Glieder wür-
den seyn und , daher wäre
gehemmt
von α, ,
[219] von a, ,
von b, ,
welche Gröſsen sich verhalten wie , und a;
oder wie αb, ab, a(a+α); dieses aber sind die nämli-
chen Verhältnisse, welche sich aus den obigen Formeln
ergeben haben. —
Für α=o, folglich auch ρ=o, sind bloſs a und b
im Widerstreit; nun werden jene Verhältniſszahlen o,
, wie gehörig.
§. 65.
Mit der nunmehr geschehenen Bestimmung des Hem-
mungs-Verhältnisses begnügen wir uns hier, weil die
nach demselben zu erwartende wirkliche Hemmung alle-
mal noch von andern beygemischten Umständen abhän-
gen wird. Denn wir müssen wegen der angenommenen
unvollkommenen Complexion voraussetzen, daſs die
Elemente derselben, a und α, beyde von irgend welchen,
hier unerwähnt gebliebenen, Kräften, gehindert werden
sich im Bewuſstseyn höher zu heben, wodurch sogleich
auch ihre Verbindung inniger werden, folglich r und ρ
sich vergröſsern, und deren Wirkung wachsen würde.
Eigentlich haben wir im Vorigen nur die Vertheilung des
Drucks bestimmt, der aus dem Gegensatze des a und b
entsteht.
Jetzt suchen wir uns die Bedeutung der gefundenen
Formeln klärer zu machen. Der Schluſs des vorigen §.
zeigt, daſs wenn die Complication sich der Vollkommenheit
nähert, α beynahe in dem Verhältniſs seiner eignen Stärke
die ihm fremde Hemmung zwischen a und b, tragen hilft.
Am weitesten hievon verschieden ist der Fall einer sehr
unvollkommenen Verbindung zwischen a und α. Gesetzt,
das Product rρ sey so klein, daſs man es neben a2 und
[220]α2 vernachlässigen könne: so werden die Verhältniſszah-
len nahe
.
Das heiſst, die Hemmung zwischen a und b wird
durch das complicirte α, nun wenig verändert; α leidet
desto weniger, je stärker es ist, und je weniger r gegen
a, und ρ gegen α beträgt. Zwischen diesen beyden äu-
ſsersten Fällen liegt in der Mitte die Annahme r=½a
und ρ=½α; und nun werden jene Zahlen
;
für a=α wird hieraus
.
Man kann auch diese Annahme a=α gleich in die
allgemeinen Ausdrücke setzen; alsdann lassen sich diese
durch dividiren, und man findet
.
Hier ist merkwürdig, daſs die Summe der ersten bey-
den Zahlen =1 ist. Demnach verhält sich das, was von
der ganzen Complexion a+α gehemmt wird, zu dem
Verluste von b, im angenommenen Falle wie b zu a; die
Reste r und ρ aber, die niemals einzeln, sondern immer
zu einem Producte verbunden in Betracht kommen, be-
stimmen dann ferner die Vertheilung dessen, was von der
Complexion zu hemmen ist, auf die Elemente derselben.
§. 66.
Die höchst wichtige Verschiedenheit der unvollkom-
menen Complexionen von den vollkommenen liegt nun
klar vor Augen. Wir haben im vorigen Capitel gesehen,
daſs unsre Vorstellungen, so weit sie vollkommen ver-
bunden sind, trotz allen Hemmungen stets ihren Zusam-
menhang unversehrt behaupten; denn vollkommene Com-
plexionen bleiben sich stets ähnlich (§. 61.). Ganz an-
[221] ders verhält es sich, sobald eine Verbindung unvollkom-
men ist. Da wird durch jede, auch die kleinste Hem-
mung, die das eine Element der Complexion stärker trifft,
als das andre, auch die Verknüpfung lockerer gemacht,
indem eins dem andern um so viel entzogen wird, als
dies minder wie jenes unter dem vorhandenen Drucke
leidet. Noch mehr! die vorhandene Verknüpfung wird
verfälscht durch eine entgegengesetzte. Denn nach
geschehener Hemmung complicirt sich b mit α in eben
dem Maaſse stärker, als von a mehr verdrängt wurde;
dergestalt, daſs nunmehr α nicht bloſs mit a, sondern
auch mit b, dem Widerspiel von a, verbunden ist. —
Allein hiebey besteht nichts desto weniger in α das Stre-
ben, a bis auf den vorigen Punct der Verbindung wie-
der mit sich zu vereinigen. Denn die ganze Stärke die-
ser Verbindung wird fortwährend als Bedingung des vor-
handenen Gleichgewichts vorausgesetzt; wäre sie schwä-
cher, so würde b noch mehr als schon geschehen, von
a hemmen. Hiedurch kommen wir weiter in der Lehre
von den Gefühlen. Denn der Zustand einer Vorstel-
lung, — wie hier α, — da sie eine andre, gegen die
Gesetze des Gleichgewichts, höher ins Bewuſstseyn zu
heben bemüht ist, verändert das Vorgestellte um gar
nichts, kann also auch nicht zu dem sogenannten Vor-
stellungsvermögen gerechnet werden. Es ist ein Sehnen,
welches befriedigt werden würde, wenn die angestrebte
Vorstellung (hier a) von neuem gegeben würde; jedoch
so, daſs darauf sehr bald ein entgegengesetztes Sehnen,
nach b, folgen würde, sobald nämlich dies durch das
neue a merklich gehemmt, und dadurch seiner Verbin-
dung mit α entzogen wäre. Jedoch dergleichen Betrach-
tungen lassen sich hier noch nicht ausführen; sie gehö-
ren sammt der obigen, am Ende des §. 61., in den zwey-
ten Theil dieses Werks.
[222]
Sechstes Capitel.
Von den Verschmelzungen.
§. 67.
Die ersten Vorbegriffe von den Verschmelzungen der
Vorstellungen finden sich im Anfange des vierten Capi-
tels. Die Vereinigung solcher Vorstellungen, die zu ei-
nerley Continuum gehören (wie roth und blau, welches
beydes Farben sind, — oder wie ein paar Töne, od. dgl.),
soll Verschmelzung heiſsen. Sie führt einen besondern
Namen, weil der Grad der Verbindung hier nicht, wie
bey den Complicationen ungleichartiger Vorstellungen
(wie Ton und Farbe), bloſs von zufälligen Umständen
abhängt, sondern durch den Hemmungsgrad der verschmel-
zenden Vorstellungen selbst, beschränkt wird. Während
nun diese Art der Vereinigung verschiedener Vorstellun-
gen zu einer Gesammtkraft, niemals vollständiger werden
kann, als der Hemmungsgrad derselben es gestattet:
können recht füglich noch zufällige Hemmungen dazu
kommen, um derentwillen die Vereinigung noch geringer
wird. Allein solche Nebenumstände setzen wir hier bey
Seite.
Es ist aber nöthig, zweyerley Verschmelzung zu un-
terscheiden, eine nach der Hemmung, eine andre vor
der Hemmung *).
Zuvörderst nämlich ist klar, daſs wegen der Einheit
der Seele, Alles, was sich nicht widerstrebt, ein intensi-
ves Eins werden muſs; daher die Verschmelzung nach
der Hemmung. Diejenigen entgegengesetzten Vorstellun-
gen, deren Hemmung geschehn ist, verschmelzen gerade
so weit, als sie sich nun nicht mehr hemmen. Die Reste
bilden eine Totalkraft, ähnlich jener bey den unvollkom-
menen Complicationen; jedoch mit dem Unterschiede,
[223] daſs die Complication vollkommener wird, wenn die com-
plicirten Vorstellungen zugleich steigen; hingegen, wenn
die verschmolzenen ihren Verschmelzungspunct überstei-
gen, die Hemmung von neuem beginnt; (mit einer Ein-
schränkung, die im §. 93. erst vorkommt).
Verschieden hievon ist die Verschmelzung vor der
Hemmung. Diese hängt ab von einem gewissen Grade
der Gleichartigkeit der Vorstellungen. Bey völlig entge-
gengesetzten kann sie nicht Statt finden, welche gleich-
wohl jener andern, nach der Hemmung, unterworfen
sind. — Man denke sich zuvörderst zwey vollkommen
gleichartige Vorstellungen, z. B. beym Sehen zweyer
gleich gefärbter Puncte, oder beym Hören zweyer gleich
gestimmter Saiten. Daſs diese gleichartigen völlig (und
augenblicklich) in eine einzige Intension des Vorstellens
verschmelzen werden, wofern sie gleichzeitig ungehemmt
im Bewuſstseyn sind, versteht sich ganz von selbst. Was
wird aber daraus werden, wenn ein paar unendlich
nahe Vorstellungen, daſs heiſst, zwey fast gleichartige,
und deren Gegensatz unendlich klein ist, sich gleichzeitig
ungehemmt zusammenfinden? Natürlich kann der Erfolg
nur unendlich wenig von dem vorbemerkten abweichen.
Dennoch hindert der Gegensatz eine völlige Vereinigung.
Und — was die Hauptsache ist — er läſst sich von dem
Gleichartigen nicht absondern. Nur in Gedanken kann
man eine Vorstellung, verglichen mit einer andern, zer-
legen in Gleiches und Entgegengesetztes; der Wirklichkeit
nach aber sind dieses nicht wahre Bestandtheile der ein-
fachen und sich selbst gleichen Vorstellungen. So ist
die Wahrnehmung der violetten, oder der grünen Farbe,
— desgleichen die irgend eines musikalischen Tones, —
gewiſs eine einfache Wahrnehmung; wenn schon die Zer-
legung jener in Roth und Blau, u. s. w. als eine zufäl-
lige Ansicht zulässig ist. — Da nun das Gleichartige ge-
wiſs, und sogleich, verschmelzen sollte; da es aber nicht
losgerissen von dem Entgegengesetzten, für sich allein
verschmelzen kann; da es vielmehr das letztere in seine
[224] Verschmelzung mit sich hineinziehen muſs, — so wird
der wirklichen Vereinigung ein Kampf vorangehn, dessen
Entscheidung bestimmt, wie innig die wirkliche Vereini-
gung seyn werde. Also äuſsert sich das Gleichartige der
Vorstellungen (man vergesse nie, daſs wir von einfa-
chen Vorstellungen reden, und nicht etwa von Com-
plexionen) zuerst als ein Streben zur Verschmel-
zung; dergleichen bey den völlig Gleichartigen nicht
vorkommen konnte. Dieses Streben wird nun bey un-
endlich Nahen nur unendlich geringen Widerstand finden.
Nehmen wir hingegen jetzt Vorstellungen, deren Ge-
gensatz eine endliche Gröſse hat: so kann, erstlich, die
Verschmelzung nur allmählig zu Stande kommen, in dem
Maaſse nämlich, als die Gegensätze dem Streben zur Ver-
einigung allmählig nachgeben; zweytens, aus dem Grade
des Gegensatzes und der Gleichartigkeit muſs die Stärke
des Strebens zur Vereinigung, und hieraus weiter berech-
net werden, wie viel dieses Streben über die Gegensätze
vermögen, wie viel wirkliche Vereinigung, und folglich
welche Totalkräfte es am Ende erzeugen werde.
So viel zur vorläufigen Aufklärung der Begriffe; wir
suchen jetzt die allgemeine Methode aller Verschmel-
zungs-Rechnung; welche der Rechnung für unvollkommne
Complicationen im wesentlichen ähnlich ist.
§. 68.
Für die drey Vorstellungen a, b, c, gebe es drey
Verschmelzungshülfen, h, h', h″; welche nach was im-
mer für einem Gesetze bestimmt seyn mögen, nur aber
nicht von fremden Einflüssen herrühren, sondern aus ge-
genseitiger Wirkung von a, b, und c auf einander ent-
sprungen seyn müssen. Auch sey a+h=α, b+h'=β,
c+h″=γ. Der Hemmungssumme widerstehen nun diese
Totalkräfte nach dem umgekehrten Verhältniſs ihrer Stärke,
und vielleicht noch im geraden Verhältnisse irgend wel-
cher Hemmungsgrade oder Summen von Hemmungsgra-
den, um deren Bestimmung wir uns hier nicht beküm-
mern, deren Stelle wir aber, nach Analogie der Unter-
su-
[225] suchungen im dritten Capitel, mit ε, η, ϑ, bezeichnen.
So werden die Hemmungsverhältnisse
.
Weil aber die Totalkräfte zum Theil in einander
enthalten sind, so wird auch das Gehemmte nach eben
denselben Verhältnissen in einander verschränkt seyn
(gerade wie im fünften Capitel). Wenn z. B. b dem a
eine Verschmelzungshülfe leistet, so ist das Leiden der
hieraus entsprungenen Totalkraft nur zum Theil ein Lei-
den von a; der andre Theil steckt in dem Leiden von b.
Daher darf man nicht das Gehemmte der Totalkräfte zu-
sammengenommen der Hemmungssumme gleich setzen.
Vielmehr sey dasselbe =X; eine noch unbekannte Gröſse.
Nun hat man die Proportionen:
Aus den vierten Gliedern hat man abzusondern das
Leiden von a, b, und c, durch folgende drey Propor-
tionen:
Die Summe der gefundenen vierten Glieder ist die
wirkliche Hemmungssumme, also
.
I. P
[226]
Durch Substitution dieses Werthes von X findet sich
nun das Leiden von
das ‒ ‒
das ‒ ‒
Oder ganz kurz: aεβ2γ2, bnα2γ2, cϑα2β2, sind
die Verhältniſszahlen wornach die Hemmungssumme sich
vertheilt. Man übersieht diese Verhältnisse noch leich-
ter, wenn man sie so schreibt:
.
Und weil α=a+h, so ist ; oft aber
wird h ein so kleiner Bruch seyn, daſs man im Nenner
h2 weglassen kann. Alsdann ist beynahe ;
welche Abkürzung auch auf die übrigen Verhältniſszahlen
paſst.
Sind nur zwey Vorstellungen a und b gegeben:
so ist c=o; man kann durch γ2 dividiren; und es ist
das Leiden von
‒ ‒ ‒ .
Für mehr als drey Vorstellungen würde man die
Rechnung nach Analogie der hier gezeigten anzuordnen
haben.
§. 69.
Um von den gefundenen Formeln eine leichte An-
wendung zu machen, wollen wir die Verschmelzung nach
der Hemmung mit der Einschränkung in Betracht ziehn,
daſs wir zunächst volle Hemmung aller Vorstellungen
untereinander annehmen. Dieses befreyt uns von den
Rücksichten, welche die Verschmelzung vor der Hem-
mung sonst erfordern würde; indem die letztere nicht ein-
[227] treten kann, wo gar keine Gleichartigkeit der Vorstellun-
gen vorhanden ist.
Es seyen demnach von a und b, nach vollendeter
Hemmung, die Reste verschmolzen. Darauf komme plötz-
lich die Vorstellung c hinzu; (plötzlich, damit nicht der
Zeitverlauf einer länger anhaltenden Wahrnehmung es
nöthig mache, über die Statik des Geistes zur Mechanik
hinauszugehn.) Man sucht für die Hemmung zwischen
a, b, und c den Punct des Gleichgewichts; (also nur das
Ende der Hemmung, nicht ihr allmähliges Werden, wel-
ches wiederum in die Mechanik hineingehört.)
Offenbar müssen wir hier zuerst die Verschmelzungs-
hülfe bestimmen, welche a und b einander gegenseitig lei-
sten, indem sie von c zum weitern Sinken gedrängt wer-
den. Für c selbst giebt es hier noch keine solche Hülfe,
dergleichen es erst nach geschehener Hemmung bekom-
men wird. So viel liegt vor Augen, daſs a und b nun
dem c stärker widerstehen werden, als wenn sie noch
unverschmolzen wären, denn sie wirken ihm jetzt zum
Theil als Eine Totalkraft entgegen.
Zuvörderst ist im Allgemeinen die Bestimmung der
Verschmelzungshülfe hier dieselbe, wie im vorigen Capitel.
Es sey der Rest von a, =r, der von b, =ρ, so hilft
r dem b, in so fern der Bruch die Aneignung der
Hülfe gestattet; desgleichen ρ dem a, in so weit der ge-
drückte Zustand von a, gemäſs dem Bruche , für die
Hülfe empfänglich ist. Mit einem Worte: a bekommt
die Hülfe ; und b die Hülfe .
Ferner müssen wir in das erste Capitel zurückgehn,
um dort die Werthe von r und ρ zu finden. Denn diese
hängen ab von der Hemmung zwischen b und a. Es ist
aber nach §. 44. , und .
Folglich .
P 2
[228]
Es sey b=κa; so wird
also
und .
Wir werden einen Augenblick verweilen bey diesen
Gröſsen, die man offenbar als Functionen von κ, d. h.
von dem Verhältnisse zwischen a und b, ansehn kann.
Für κ=1 wird , und . Ist κ ein kleiner
Bruch, so kann man die höchste Potenz als unbedeu-
tend weglassen, und es wird , und .
Wird von der Function das Differential
=0 gesetzt, so kommt man auf die Gleichung ,
deren einzige positive Wurzel =1; desglei-
chen von der Function das Differential =0
gesetzt, führt zur Gleichung κ3+3κ2 —κ—1=0, deren
einzige positive Wurzel etwas kleiner ist als 0,7. Dieser
letztere Werth von κ giebt ohne Zweifel ein Maximum;
eigentlich auch für jene erste Function der Werth κ=1,
doch dieser ist zugleich der höchste brauchbare Werth
von κ, denn die Formeln für r und ρ setzen voraus, daſs
a\>b. — Daſs es für die Verschmelzungshülfe, wel-
che b erhält, ein Maximum giebt, verdient bemerkt zu
werden.
Hier folgen einige berechnete Werthe der Verschmel-
zungshülefn, für a=1.
Für kleinere κ findet man sehr leicht
näherungsweise; also z. B. für κ=0,1 ist
nahe =0,09; folglich . Man sieht, daſs die
Verschmelzungshülfe für b hier sehr bedeutend ist, indem
sie die Stärke desselben beynahe verdoppelt, während da-
gegen die Hülfe für a nicht in Betracht kommt.
Jetzt können wir in den Formeln des vorigen §. α
und β bestimmen. Die Hemmungscoëfficienten ε, η, ϑ,
werden herausfallen; denn wir haben volle, also gewiſs
gleiche Hemmung angenommen, und die Verschmel-
zungshülfen müssen in eben den Graden ge-
hemmt werden wie die Vorstellungen denen sie
helfen, und vermittelst welcher die Hemmung
zu ihnen übergeht. Ferner ist c=γ, weil es für c
noch keine Hülfe giebt, wie schon erinnert worden. Da-
her läſst sich durch e=γ dividiren; und die Formeln ge-
ben nun einfacher
das Leiden von
[230] das Leiden von
‒ ‒ ‒
wobey noch zu bemerken, daſs hier c jede beliebige Grö-
ſse haben kann, indem zu a und b, den schon verschmol-
zenen, jede starke oder schwache dritte Vorstellung hin-
zutreten mag. Nur in der Bestimmung der Hem-
mungssumme muſs hierauf gehörige Rücksicht genom-
men werden.
Es sey zuvörderst a=b=c=1. Demnach S=2;
α=β=1,25; α2=1,5625; α2β2=2,4414… und hieraus
- das Leiden von a=0,5614..
- ‒ ‒ ‒ b=0,5614..
- ‒ ‒ ‒ c=0,8772..
woraus die starke Wirkung der Verschmelzung zu er-
kennen ist; denn ohne sie hätte das Leiden von allen
dreyen gleich groſs, und =⅔=0,666.. seyn sollen.
Es sey ferner a=1; b=0,7; c=1; also S=1,7;
α=1,205; β=0,993; α2=1,4520; β2=0,98605..;
α2β2=1,4317.., woraus
- das Leiden von a=0,48814
- ‒ ‒ ‒ b=0,50317
- ‒ ‒ ‒ c=0,7087
Dieses Beyspiel zeigt noch weit auffallender die gro-
ſse Veränderung, welche aus der Verschmelzung hervor-
geht. Denn nach §. 49. hätte b unter die Schwelle sin-
ken sollen, weil neben zweyen Vorstellungen, deren
Stärke =1, die dritte schwächere .. seyn
muſs, um sich nur auf der Schwelle behaupten zu kön-
nen. Jetzt hingegen tritt an die Stelle von b nicht nur
die Totalkraft 0,993; sondern selbst was diese leidet, ist
zum Theil enthalten in dem Leiden von a; daher denn
a fast so stark als b selbst, von der Hemmung ergriffen
wird. Dennoch gewinnt auch a durch den Schutz der
Verschmelzung. Denn ohne diesen wäre zwischen c
und a die Hemmungssumme =1 gleich getheilt worden,
[231] folglich hätte das Leiden von a=0,5 seyn müssen. Desto
gröſser wird die Last für die neu hinzukommende Vor-
stellung; und, was wohl zu bemerken, auch die Ver-
schmelzungshülfen, welche sie selbst für die Zukunft er-
langt, werden um so kleiner, je kleiner ihr Rest ausfällt.
Nichts desto weniger verursacht sie für eine kurze Zeit
den ältern Vorstellungen groſse Beschwerde, wie der fol-
gende Abschnitt zeigen wird; und nicht ohne bedeutende
Bewegung des Gemüths wird der hier gefundene Zustand
des Gleichgewichts gewonnen. Dieses eben so wohl als
jenes ist der Erfahrung vollkommen gemäſs.
§. 70.
Wir können hier die Fragen nach den Schwellen
nicht mit Stillschweigen übergehn, deren zwey verschie-
dene aus der Verschmelzung folgen müssen. Denn ent-
weder soll b, ungeachtet der Hülfe, die ihm zu Theil
wird, von a und c auf die Schwelle getrieben werden;
oder c selbst, welches jetzt stärkern Widerstand findet,
soll zur Schwelle sinken.
Die erstere Schwelle wird bestimmt durch die Glei-
chung
oder aγβ2+bγα2+α2β2=Sγα2.
Es ist hier am leichtesten, γ zu finden, also die übrigen
Gröſsen nach Gefallen anzunehmen. Daher stellen wir
die Gleichung so:
α2β2=γ(Sα2—aβ2—bα2).
Für S finden zwey Fälle statt. Entweder das hinzukom-
mende c muſs der Schwelle wegen, auf die es b treiben
soll, gröſser seyn als a; dann ist S=a+b; oder b ist
so klein, daſs zur Schwelle ein kleineres c hinreicht, näm-
lich c\<a; dann ist S=b+c, oder =b+γ, weil hier
c=γ. In jenem Falle fällt bα2 aus den Klammern weg,
und man hat
Dies wird unendlich für α=β, welches, wie man
aus dem obigen leicht übersieht, nur möglich ist für a=b;
auſserdem ist allemal α\>β, demnach immer ein positi-
ver Werth für γ zu finden. Die Rechnung ergiebt zum
Beyspiel
- für a=1, b=0,9; γ=12,16..
- ‒ a=1, b=0,7; γ= 3,07..
- ‒ a=1, b=0,5; γ= 1,13..
Hier nähern wir uns schon dem andern Falle; es ist vor-
auszusehn, daſs ein noch kleineres b auf ein γ\<1 hin-
weisen werde. Demnach nehmen wir nun S=b+γ,
und ändern die Formel. Es fällt auch jetzt bα2 aus den
Klammern weg, und man findet
wo man vor der Wurzelgröſse nur das positive Zeichen
nehmen darf, weil sonst γ negativ würde, welches kei-
nen Sinn hat. Des Beyspiels wegen sey a=1, b=0,1;
so ergiebt sich γ=0,208.. — Es versteht sich, daſs, um
dieses und die vorigen Beyspiele mit §. 49. zu verglei-
chen, man überall die Gröſse im Auge haben muſs, wel-
che durch die beyden andern auf die Schwelle getrieben
wird, diese ist hier b, aber im §. 49. war sie c. Ferner
war dort die mittlere der drey Gröſsen =1 gesetzt, die-
ses muſs also auch hier geschehn, um in der Verglei-
chung nicht anzustoſsen. In den drey ersten Beyspielen
ist a=1, und zugleich die mittlere Gröſse; in dem letz-
ten Beyspiele ist γ oder c diese mittlere Gröſse, und sie
sollte hier zur Einheit, oder zum Maaſse für die andern
Gröſsen genommen werden.
Doch wir eilen zu der zweyten Aufgabe. c soll auf
die Schwelle getrieben werden durch die verschmolzenen
a und b. Dafür gilt die Gleichung
[233] oder, weil c=γ, und S=b+c, indem c, wenn es die
stärkste der Vorstellungen wäre, nicht zur Schwelle sin-
ken würde:
Es sey a=b, folglich α=β, so ist ,
wenn a=1 und folglich α=1,25. Ohne Verschmelzung ist
, nach §. 49. Für ein sehr groſses a, und sehr
kleines κ (man sehe §. 69.) ist nahe =aκ=b, folg-
lich β=2b; ferner α=a, und
oder, indem für ein sehr groſses a füglich 4ab2 neben ba2
kann weggelassen werden, c=2b. Dies ist zwar nur ein
Gränzwerth, der nicht völlig erreicht wird; allein man
sieht daraus, daſs vermöge der Verschmelzung,
selbst eine stärkere Vorstellung neben einer
schwächeren kann aus dem Bewuſstseyn ver-
drängt werden. — Uebrigens muſs nun auch für ir-
gend ein Verhältniſs von a und b, c=b auf der Schwelle
seyn. Es ist schwer, dieses Verhältniſs genau zu finden.
Man müſste α und β durch a und b ausdrücken; oder
für a=1 durch κ, nach §. 69. Allein schon
enthält die vierte Potenz von κ im Zähler, und die zweyte
im Nenner; β die dritte im Zähler und die zweyte im
Nenner; daher würde die Gleichung, worin α2β2 vor-
kommt, auf einen so hohen Grad steigen, daſs die Auf-
lösung so gut als unmöglich fiele. Durch Entwickelung
von (1+κ)—2 in eine Reihe, durch Multiplication der zu-
gehörigen Zähler, und Berechnung der daraus entstehen-
den Gröſsen bis auf die dritte Potenz von κ, finde ich
aus einer cubischen Gleichung κ oder b nahe ; eine
Verbesserung mit Hülfe der Annahme , giebt
. Dieses trifft bey der Probe ziemlich
nahe zu; doch ist für κ oder b=0,6 schon c=0,63..
[234] auf der Schwelle, also ist es hier schon gröſser als b;
daher muſs der gesuchte Werth von b etwas gröſser seyn
als 0,6. Der Gegenstand würde eine sorgfältigere Rech-
nung, durch Auflösung einer biquadratischen Gleichung
und Verbesserung vermittelst höherer Potenzen von u,
wohl kaum belohnen.
§. 71.
Der am mindesten schwierige Fall der Verschmel-
zung nach der Hemmung, nämlich der Fall worin alle
Hemmungsgrade =1, ist jetzt, so weit es hier nöthig
schien, abgehandelt worden. In den übrigen Fällen ist
eine Verschmelzung schon vor der Hemmung, im Allge-
meinen zu erwarten; wir müssen daher jetzt hieher unsre
Aufmerksamkeit wenden.
Schon im §. 67. ist erinnert worden, daſs zwischen
völliger Identität und völligem Gegensatze zweyer Vor-
stellungen, ein Continuum möglicher Fälle liege; und daſs
diesem ein Continuum möglicher Erfolge entspreche, die
aus dem Zusammentreffen zweyer Vorstellungen entsprin-
gen müssen. Nun hat die völlige Identität eben so ge-
wiſs ein völliges Zusammenflieſsen, also vollständige Bil-
dung einer Totalkraft, als völliger Gegensatz die volle
Hemmung zur Folge. Zwischen den Extremen können
demnach nicht bloſs mindere Hemmungen, es müssen da-
zwischen auch mindere Grade des Zusammenflieſsens, das
heiſst, Verschmelzungen vor der Hemmung, statt finden.
Lieſse sich nun das Verschmelzende zweyer Vorstellun-
gen absondern von ihrem Gegensatze: so wären die Be-
griffe hierüber von selbst im Klaren; wir hätten aber als-
dann auch gleich im dritten Capitel die Totalkräfte, wel-
che aus der Verschmelzung entstehen, gehörig in Rech-
nung bringen, und nicht bloſs auf die Grade der Hem-
mung sehen sollen. — Allein Gleichheit und Gegensatz
sind keinesweges Bestandtheile der Vorstellungen, son-
dern Prädicate, die erst im zufälligen Zusammentreffen
der Vorstellungen entstehn. Daher kann man die Rech-
nung nicht so führen, als ob ohne weiteres das Gleiche
[235] verschmelze und das Entgegengesetzte sich hemme: son-
dern man muſs die Verschmelzung ansehen als etwas, das
wegen eines gewissen Grades von Gleichartigkeit der Vor-
stellungen sich ereignen sollte, das aber in dem Gegen-
satze ein Hinderniſs antreffe. Alsdann wird eine vorläu-
fige Berechnung nöthig, in wie weit dies Hinderniſs über-
wunden werden, und dem gemäſs die Verschmelzung
wirklich vor sich gehen könne.
Ehe wir uns auf die eben erwähnte Berechnung ein-
lassen, wollen wir überlegen, was der Erfolg einer wirk-
lichen Verschmelzung seyn möge? Keinesweges eine
Verminderung der Hemmungssumme; sondern bloſs eine
Verrückung des Hemmungsverhältnisses: dies ist schon
aus dem obigen klar. Denn die Verschmelzung bringt
gewisse Totalkräfte hervor, die nun in einem andern Ver-
hältnisse, als es die Stärke der Vorstellungen ursprüng-
lich mit sich brachte, der Hemmung entgegenwirken, —
derselben Hemmung, welche in dem Widerstreitenden
der Vorstellungen einmal liegt, und welche sich nicht
verändern kann, weil sonst diese Vorstellungen nicht
mehr die nämlichen bleiben würden. — Allein das Hem-
mungsverhältniſs kann auch nicht plötzlich verrückt
werden. Sonst müſste das Hinderniſs, welches durch das
Streben zur Verschmelzung erst soll überwunden werden,
plötzlich entweichen; ein unmöglicher Sprung, wie durch
Betrachtungen des folgenden Abschnittes noch klärer wer-
den wird, und wie man hier einstweilen als wahrschein-
lich einräumen mag. Nun hat die Hemmungssumme ihr
Gesetz, nach welchem sie fortdauernd sinkt; ein Um-
stand, der ebenfalls in den folgenden Abschnitt gehört.
Man denke sich also die Hemmungssumme fortwährend
im Sinken begriffen; aber in der nämlichen Zeit das Hem-
mungsverhältniſs unaufhörlich verändert: so wird man ein-
sehn, daſs, wofern eine wirkliche Verschmelzung zu Stande
kommt, die Frage nach dem Quantum des Gehemmten
für jede einzelne Vorstellung nicht mehr eine statische
Frage, wie bisher, sondern eine mechanische ist. Denn
[236] nun hängt dies Quantum des Gehemmten, und der Gleich-
gewichtspunct, bey welchem die Hemmung still steht, da-
von ab, wie weit die Bewegungsgesetze der Vorstellun-
gen die Verschmelzung zur Reife gelangen lassen. Fol-
gendes sind die Puncte, worauf es hier ankommt.
Erstlich, die Hemmungssumme sinkt allmählig.
Zweytens, in der nämlichen Zeit ändert sich das
Hemmungsverhältniſs allmählig, indem das Streben zur
Verschmelzung wider die Gegensätze sich aufarbeitet.
Drittens, hieraus folgt, daſs in jedem Augenblicke
die bis dahin vollbrachte Hemmung von dem jetzigen
Hemmungsverhältniſs um etwas abweicht, und daſs also
jene sich diesem gemäſs berichtigt.
Viertens, diese Berichtigung muſs zwar damit endi-
gen, daſs die Vorstellungen sich nach demjenigen Hem-
mungsverhältniſs ins Gleichgewicht setzen, welches nach
gesunkener Hemmungssumme sich zuletzt ausbildet. Aber
eben das letzte Hemmungsverhältniſs hängt von dem Grade
der Verschmelzung ab, welchen die fortschreitende Hem-
mung gestattete. Denn die Vorstellungen können nicht
verschmelzen, in so fern sie schon gehemmt sind; (ein
Punct, über den wir schon im §. 57. gesprochen haben.)
Je schneller sie also von Anfang an niedergedrückt wer-
den, desto mehr geht von derjenigen Verschmelzung ver-
loren, welche entstehen würde, wenn es möglich wäre,
daſs von der doppelten Wirkung der Gegensätze, näm-
lich die Vorstellungen sinken zu machen und ihre Ver-
schmelzung aufzuhalten, die erste so lange aufgeschoben
würde, bis die zweyte ihr Ende erreicht hätte.
Am gegenwärtigen Orte können diese Betrachtungen
nur dazu dienen, den Gegenstand in die Mechanik des
Geistes zu verweisen.
Hier aber ist besonders zu bedenken, was schon vor-
hin angedeutet wurde, daſs die nämlichen Betrachtungen
in die Nachforschungen der vorigen Capitel zurückgreifen
müssen. Schon im dritten Capitel durften wir, Falls die
[Untersuchung] vollständig seyn sollte, das Hemmungsver-
[237] hältniſs nicht bloſs von den Hemmungsgraden und von
der Stärke der Vorstellungen abhängig machen. Dort, und
dann ferner bey den Complexionen, deren Elemente aus
einerley Continuum ebenfalls der Verschmelzung schon
vor der Hemmung (oder vielmehr, wie wir nun sehen,
während derselben), unterworfen sind, muſste auf die
daraus hervorgehende Abänderung des Hemmungsverhält-
nisses Rücksicht genommen werden.
Würde dieses als ein Vorwurf gegen den bisherigen
Vortrag angesehen: so läge die Antwort in der einzigen
Erinnerung, daſs die Aufstellung der Elementarbegriffe
nicht mit so verwickelten Fragen belastet werden durfte,
wie die vom Einfluſs der Verschmelzung auf die Hem-
mung.
Ueberdies aber ist der Einfluſs der Verschmelzung
nicht von so groſsem Umfange, als es Anfangs scheinen
muſs. Und die gehörige Begränzung dieses Einflusses ist
nun das nächste, was zu bestimmen uns obliegt.
§. 72.
Zuvörderst: die Stärke des Strebens zur Verschmel-
zung ist von dem Hemmungsgrade zweyer Vorstellungen,
und von der schwächeren, nicht aber von der stärkeren
unter beyden, abhängig.
Der Hemmungsgrad sey m, ein ächter Bruch; so ist
1—m das Gleichartige beyder Vorstellungen. Gleichar-
tigkeit aber ist nichts, was einer für sich allein zukäme,
sie ist nur Eine für beyde Vorstellungen, während das
Entgegengesetzte allemal zweyerley Verschiedenes ist, in-
dem es auf zweyen Eigenthümlichkeiten zweyer Vorstel-
lungen beruht. Die Gleichartigkeit, und mit ihr das Stre-
ben nach Verschmelzung, wächst nun ohne Zweifel in
demselben arithmetischen Verhältnisse, in welchem der
Hemmungsgrad abnimmt. Sie wächst auch, wenn zwey
gleich starke Vorstellungen gleichmäſsig wachsen oder
abnehmen; nämlich die Gleichartigkeit ist alsdann gleich-
sam in einer gröſseren oder geringeren Masse realisirt,
daher auch das Streben nach Verschmelzung in einer
[238] gröſseren Masse des Vorstellens sich wirksam äuſsern
wird. — Aber wenn von zweyen, zuvor gleich starken
Vorstellungen, jetzo eine sich verstärkt, die andre gleich
stark bleibt wie vorhin: so ist hier ein ähnlicher Fall wie
schon oben im §. 42. bey der Hemmungssumme vorkam.
Nämlich die Nothwendigkeit der Verschmelzung wächst
hier eben so wenig, wie dort die Nothwendigkeit der
Hemmung. Denn die Zerlegung der stärkeren Vorstel-
lung in Gleiches und Entgegengesetztes wächst nicht
darum, weil die Vorstellung selbst wächst, sondern sie
bleibt in der nämlichen Kraft und Bedeutung, so lange
die schwächere, zerlegende Vorstellung sich gleich
bleibt. Die Spannung ist nun geringer, sowohl die, wel-
che zur Verschmelzung antreibt, als die welche der Ver-
schmelzung entgegenwirkt. — Dieses hindert aber nicht,
daſs die Totalkräfte, welche die wirkliche Verschmelzung
hervorbringt, von der Stärke einer jeden verschmelzenden
abhängen. Man muſs die Energie des Verschmel-
zens sehr wohl unterscheiden von den Kraft-Verhältnis-
sen der verschmolzenen Vorstellungen.
Ferner: dem Einen, aus der Gleichartigkeit entsprin-
genden Streben zur Verschmelzung, wirken beyde entge-
gengesetzte Eigenthümlichkeiten gerade in so fern zuwi-
der, als sie sich unter einander anfechten, und dadurch
das Sinken der Vorstellungen bewirken. Denn derselbe Wi-
derstreit, welcher die Hemmungssumme hervorbringt, macht
auch die Vereinigung in Eine Totalkraft unmöglich, oder
doch schwierig und unvollkommen. — Demnach sind hier
bey zweyen Vorstellungen drey Kräfte vorhanden; die
eine zur Verschmelzung wirkende, =1—m, und die bey-
den entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten, oder mit ei-
nem verkürzten Ausdrucke, die beyden Gegensätze, jeder
=m, dem Hemmungsgrade, weil die ungleiche Stärke
der Vorstellungen hier aus den Augen zu lassen ist.
Diese drey Kräfte stehn unter einander in voller Hem-
mung; denn erstlich ist das Entgegengesetzte zweyer Vor-
stellungen, so fern es aus ihnen herausgehoben gedacht
[239] wird, gewiſs völlig entgegengesetzt; zweytens ist eine
jede der entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten eben so
gewiſs in vollkommenem Widerstreit gegen die Ver-
schmelzung.
Wie nun mit dreyen, einander völlig entgegengesetz-
ten Kräften zu rechnen sey, wissen wir aus dem ersten
und zweyten Capitel dieses Abschnitts. Eben so wie dort,
muſs auch hier theils ein Quantum Kraft, welches ge-
hemmt wird, — also eine Hemmungssumme — theils ein
Verhältniſs angegeben werden, nach welchem die vorhan-
denen Kräfte den Verlust unter sich theilen. Die drey
Kräfte m, m, und 1—m, seyen fürs erste so bestimmt,
daſs m\>1—m. Alsdann ist nach den ersten Grund-
sätzen die Hemmungssumme =1—m+m=1. Und das
Hemmungs-Verhältniſs wie 1—m, 1—m, m. Die Summe
der Zahlen, welche das Hemmungsverhältniſs ausdrücken,
=2—m. Daher die Rechnung folgende:
Hier muſs es etwas der Schwelle des Bewuſstseyns
Analoges geben, wenn , woraus ,
und ; daher ; wie
sich gebührt, wenn neben zwey gleichen Kräften eine
dritte auf der Schwelle seyn soll. Es ergiebt sich hier-
aus folgender Satz:
Wenn der Hemmungsgrad zweyer Vorstel-
lungen nicht kleiner ist als…, so
wird die, zur Verschmelzung vor der Hemmung
wirkende Kraft, gänzlich gehemmt; es geschieht
also keine solche Verschmelzung, sondern für
alle Fälle dieser Art bleiben die früher gezeig-
ten Rechnungen unverändert. Aber dieses ist noch
[240] nicht die engste Gränze, worin die Abänderung des Hem-
mungs-Verhältnisses durch die Verschmelzung vor der
Hemmung, muſs eingeschlossen werden.
Die Vorstellungen sind ursprünglich unverschmolzen.
Wenn sie nun auch einander nahe genug, oder gleich-
artig genug, sind, damit nicht, nach der eben geführten
Rechnung, die Energie des Verschmelzens gänzlich über-
wunden werde von dem entgegengesetzten Eigenthümli-
chen einer jeden einzelnen Vorstellung: so fragt es sich
dennoch, ob irgend etwas von wirklicher Verschmelzung
zu Stande kommen könne? Dazu gehört, daſs die Ener-
gie der Gleichartigkeit, welche ursprünglich in beyden
Vorstellungen nur Eine ist, sich in zwey gleiche Kräfte
theile. Denn sie muſs die eine Vorstellung mit der an-
dern, und auch die andere mit jener, verschmelzen.
Nun sind aber die Vorstellungen nicht einerley; und
es kann auch in keiner von beyden das Gleichartige vom
Entgegengesetzten wirklich losgerissen werden, um sich
mit der andern zu vereinigen. Also bleibt nichts übrig,
als daſs mit jeder von beyden sich die andre in einem
gewissen, beschränkten Grade verbinde. Jede einzelne
Vorstellung wird gleichsam ein Subject, mit welchem sich
die andre, so weit sie kann, als Prädicat vereinigen soll.
Demnach giebt es nicht eine, sondern zwey Verknüpfun-
gen; und die eine, verschmelzende Kraft theilt sich nicht
bloſs in zwey Kräfte, sondern diese beyden Kräfte sind
auch unter einander in vollem Widerstreite, in so fern
sie auf umgekehrte Weise eine der beyden Vorstellun-
gen als eine solche setzen, mit welcher die andre un-
vollkommen verbunden werde. Fragt man aber, wie sich
die eine, verschmelzende Kraft theilen könne? so ist die
Antwort: sie liegt ursprünglich eben so wohl in der ei-
nen als in der andern der beyden Vorstellungen, da zur
Gleichheit derselben gewiſs beyde nöthig sind; und nur
in ihren beyden Aeuſserungen ist sie mit sich selbst im
Streite. — In dieser Beziehung sind nun offenbar vier
Kräfte
[241] Kräfte in eine Hemmungsrechnung zusammen zu fassen;
nämlich m, m, , . Die Hemmungssumme
umfaſst die drey schwächern, und ist folglich =1. Von
wird gehemmt . Dieses sey =, so
wird jede der schwächern Kräfte völlig gehemmt, und es
findet sich …
Wenn nun der Hemmungsgrad auch klei-
ner ist als 0,585… aber gröſser als 0,414… so
hindert noch immer das Entgegengesetzte der
Vorstellungen ihre Verbindung, denn es können
die beyden Verknüpfungen, welche jede mit der an-
dern eingehn sollte, nicht zu Stande kommen. Erst für
niedrigere Hemmungsgrade tritt die Verschmelzung vor
der Hemmung wirklich ein. Und auch da kann ihre Wir-
kung, in so fern dadurch die Hemmungs-Verhältnisse
verändert werden, nicht sehr beträchtlich werden; da nicht
bloſs die verschmelzende Kraft immer in zwey gleiche
Theile zerfällt, sondern diese auch nur mit derjenigen
Stärke wirken können, welche ihnen aus dem Streite mit
einander und mit den Gegensätzen übrig bleibt. Für
sehr kleine Hemmungsgrade endlich fällt die Verschmel-
zung vor der Hemmung mit der nach der Hemmung
beynahe zusammen, indem es fast keine Hemmung mehr
giebt.
In einer ganz andern Hinsicht aber muſs der Faden
dieser Untersuchung weiter verfolgt werden. Wir sind
nämlich hier wieder unvermerkt, so wie schon im §. 61.
und 66., auf das Feld der Gefühle gerathen; und zwar
diesmal auf das der ästhetischen Gefühle. Denn
der Zustand des Strebens und Gegenstrebens der Vor-
stellungen, in Ansehung ihrer Verschmelzung, ist etwas
ganz Anderes als eine Bestimmung des Vorgestellten;
vielmehr lassen sich die vorgefundenen Zustände ganz ge-
nau mit den musikalischen Auffassungen gewis-
I. Q
[242]ser Intervalle vergleichen; wovon jedoch hier nicht
der Ort ist weiter zu reden.
§. 73.
Wir sehen jetzt, daſs es für die gröſsere Hälfte der
möglichen Hemmungsgrade nur bloſs eine Verschmelzung
nach der Hemmung, und keine vor der Hemmung, giebt;
nämlich für die Hemmungsgrade zwischen 1 und 0,414…
Es sey nun derselbe , auch , wie oben, die Re-
ste r und ρ aus §. 54 jetzt und ,
ihr Product durch κ ausgedrückt ;
daraus findet sich für a=1 folgende Reihe von Ver-
schmelzungshülfen:
- Wenn κ=1, wird =0,5625… und =0,5625…
- κ=0,9 0,522 0,580
- 0,8 0,474 0,593
- 0,7 0,423 0,604
- 0,6 0,366 0,61016
- 0,5 0,305 0,61067
- 0,4 0,242 0,6061
- 0,3 0,178 0,594
- 0,2 0,1148 0,574
Es leuchtet ein, daſs diese beträchtlichen Verschmel-
zungshülfen groſsen Einfluſs haben müssen, insbesondere
auf die Schwelle des Bewuſstseyns. Uebrigens hat die
Gröſse auch hier wieder ein Maximum, ungefähr für
κ=0,5.
Hiemit sey dieser Abschnitt beschlossen. Es scheint
nicht, daſs die Statik des Geistes, so weit sie unabhän-
gig von der Mechanik ist, noch andere Hauptclassen von
Untersuchungen enthalten könne, als die, von welchen
[243] die ersten Begriffe in den vorstehenden Capiteln sind auf-
gestellt worden *). Wir gehen nunmehro an das schwe-
rere Werk, den Bewegungen nachzuspüren, durch wel-
che der Geist sich dem Gleichgewichte der Vorstellun-
gen annähert, oder davon entfernt.
Q 2
[[244]]
Dritter Abschnitt.
Grundlinien der Mechanik des Geistes.
Erstes Capitel.
Vom Sinken der Hemmungssumme.
§. 74.
Wenn schon ein Gleichgewicht vorhanden ist, dann
kann es nur durch neue, hinzutretende Kräfte gestört
werden. Allein da wir von Vorstellungen reden, so dringt
sich zuerst die Bemerkung auf, daſs in Ansehung ihrer
es nicht erlaubt ist, das Gleichgewicht als ihren anfäng-
lichen Zustand vorauszusetzen. Vielmehr sind sie ur-
sprünglich alle ganz ungehemmt; eben in diesem ihren
natürlichen Zustande bilden sie auch (wofern nur ihrer
mehrere entgegengesetzte beysammen sind) eine Hem-
mungssumme; diese nun muſs sinken, und hiemit ist so-
gleich eine Bewegung der Vorstellungen vorhanden. In
der Reihe der Untersuchungen muſsten wir zuerst das
Gleichgewicht bestimmen; in der Wirklichkeit geht die
Bewegung dem Gleichgewichte voran.
Indem die Hemmungssumme sinkt: hat sie in jedem
Augenblicke eine bestimmte Geschwindigkeit, und in
der bis dahin abgelaufenen Zeit ist ein bestimmtes Quan-
tum gesunken. Beydes haben wir zu berechnen.
Oder wird das Sinken keine Zeit verbrauchen? Wird
mit unendlicher Geschwindigkeit, plötzlich, das unge-
hemmte Vorstellen zu dem gehörig gehemmten übersprin-
[245] gen? — Die innere Erfahrung, so fern sie sich hierüber
befragen läſst, antwortet: daſs allerdings jeder Wechsel un-
serer Gemüthslagen Zeit verbrauche. Aber auch a priori
ist dasselbe mit groſser Bestimmtheit zu erkennen. Zwi-
schen dem ungehemmten und dem gehörig gehemmten
Zustande liegt ein Continuum von Mittelzuständen; durch
jeden derselben würde selbst ein unendlich schneller Ue-
bergang, wenn ein solcher statt fände, successiv herdurch
gehn müssen. Aber bey jedem dieser Mittelzustände ist
die Nothwendigkeit des ferneren Sinkens geringer, als
bey dem vorhergehenden einer, noch weiter vom Ziele
entfernten, Hemmung. Folglich werden die Vorstellun-
gen weniger gedrängt, um aus dem Bewuſstseyn zu ent-
weichen. Demnach muſs das Sinken der Hemmungs-
summe mit abnehmender Geschwindigkeit von Statten
gehn, und damit die Geschwindigkeit abnehmen könne,
muſs Zeit verflieſsen. — Dieses nun mag sich Jeder auf
beliebige Weise in seine metaphysische Sprache über-
setzen. Der Idealist, und schon der Kantianer, mag im-
merhin vorläufig sagen, es sey hier nur von Phänomenen
die Rede; und zu dem Sinken der Vorstellungen gehöre
Zeit in demselben Sinne, als worin die Bewegung der
Körper Zeit und Raum verbrauche. Es ist hier nicht der
Ort, in der Lehre von Raum und Zeit Falsches und
Wahres zu scheiden; oder den, höchst dürftigen, Gegen-
satz zwischen Phänomenen und Noumenen näher zu be-
leuchten.
In jedem beliebigen Augenblicke ist die Nothwendig-
keit des Sinkens der Hemmungssumme so groſs, als das
noch ungehemmte Quantum derselben. Was wirklich
sinkt in diesem Augenblicke, ist zugleich dem Augen-
blicke und dieser Nothwendigkeit proportional. Es sey S
die Hemmungssumme, σ das Gehemmte nach Verlauf
der Zeit t, so ist
(S—σ)dt=dσ
Kaum wird es nöthig seyn, zu erinnern, daſs man
sich nicht durch die Analogie mit der Mechanik der Kör-
[246] per verleiten lassen solle, auch hier an ein Fortgehen
mit einmal erlangter Geschwindigkeit zu denken. Die
Vorstellungen streben ihrer Natur nach immer aufwärts
ins Bewuſstseyn; und ihr Sinken ist keine räumliche Be-
wegung, sondern eine erzwungene Verdunkelung des
Vorgestellten. Jedes augenblickliche Sinken ist immer
der unmittelbare Ausdruck der Nöthigung zum Sinken.
Während also in der Mechanik der Körper die Kraft
nur das Differential der Geschwindigkeit bestimmt, ergiebt
sie hier geradezu die Geschwindigkeit selbst. Dagegen
haben wir hier gar keine gleichförmig wirkende, sondern
nur veränderliche Kräfte.
Die Gleichung integrirt giebt
Für t=0 auch σ=0 giebt Const.=S, also
Das Gehemmte, oder σ=S(1—e—t)
Noch zu hemmen S—σ=Se—t
Wegen der groſsen Wichtigkeit dieser Formeln
setze ich für diejenigen, denen eine Gröſse wie e—t und
1—e—t nicht geläufig seyn möchte, folgende Werthe
derselben her:
- Für t = ¼ ist e—t=0,7788..; 1—e—t=0,2211..
- ‒ t = ½, ‒ e—t=0,6065..; 1—e—t=0,3934..
- ‒ t=1, ‒ e—t=0,3678..; 1—e—t=0,6321..
- ‒ t=2, ‒ e—t=0,1353..; 1—e—t=0,8646..
- ‒ t=3, ‒ e—t=0,0497..; 1—e—t=0,9502..
Hiezu nehme man, was auf den ersten Blick offen-
bar ist, daſs für t=0, oder im Anfange des Zeitverlaufs,
e—t=1, Se—t=S, oder die Hemmungssumme noch ganz
ungehemmt; für t=∞, oder nach einem unendlich lan-
gem Zeitverlauf (der, wie sich versteht, nur eine Fiction
seyn kann, die man sich erlaubt anstatt einer äuſsersten
[247] Gränze), , , oder die Hemmungs-
summe bis auf einen unendlich kleinen Rest gehemmt,
folglich in gar keiner Zeit die Hemmung schlechthin
gänzlich vollbracht ist. So sieht man nun das Fort-
schreiten der Hemmung deutlich vor Augen. Anfangs ver-
doppelt sich dieselbe beynahe, wenn die Zeit verdoppelt
wird; aber wenn die Zeit achtmal verlaufen ist, oder
für t=2, hat sich das Gehemmte jener ersten Zeit noch
nicht vervierfacht, denn 0,86.. ist noch nicht völlig vier-
mal 0,22.. Weiterhin rückt selbst bey der längsten
Dauer die Hemmung nur äuſserst wenig, ja nur ganz un-
merklich, dennoch aber unablässig vor, so daſs das
Gemüth sehr bald beynahe, aber nimmermehr
völlig in Ruhe ist*).
§. 75.
Die Hemmungssumme ist bekanntlich nichts für sich
bestehendes, noch irgend einer Vorstellung insbesondre
angehöriges; damit also die vorstehenden Formeln eine
reale Bedeutung erlangen, müssen wir weiter nachsehen,
welche Verdunkelungen der wider einander wirkenden
Vorstellungen es sind, die zusammengefaſst dem Aus-
druck: Sinken der Hemmungssumme, entsprechen.
Es seyen die Hemmungsverhältnisse der Vorstellun-
gen ausgedrückt durch die Zahlen f, g, h; so sinkt von
derjenigen Vorstellung, der die Zahl f zugehört, der
Bruch , nämlich bezogen auf das Ganze,
was überhaupt sinkt. In dem Zeittheilchen dt nun sinkt
überhaupt dσ=(S—σ)dt=Se—tdt, folglich von jener
Vorstellung sinkt qSe—tdt; wovon das Integral =—qSe—t
+C. Für t=0 ist dieses =0, also C=qS, und das
vollständige Integral =qS(1—e—t)=X; woraus
Gestattet nun das Verhältniſs der Vorstellungen, daſs
man sie alle in einerley Hemmungsrechnung bringe: so
ist am Ende der Hemmung X=qS, also t unendlich.
Das heiſst, jede Vorstellung sinkt in einerley
Proportion mit der Hemmungssumme, und ge-
langt daher sehr bald beynahe, aber nie völ-
lig zur Ruhe.
Allein ganz anders verhält es sich mit Vorstellungen
die unter die Schwelle fallen. Es sey eine solche
Vorstellung =c, so muſs sie ganz und gar gehemmt wer-
den, oder es ist zuletzt X=c, und die Zeit, während
welcher sie völlig sinkt, ist
Der Nenner ist hier immer positiv, weil das, was
von ihr hätte sinken sollen, immer gröſser ist als sie selbst.
Demnach die Zeit des völligen Sinkens allemal
endlich; obschon niemals =0, so lange nicht c selbst
=0.
Beyspiele: Bey voller Hemmung sey a=3, b=2,
c=1; wofür, wenn nicht c unter die Schwelle fiele, das
Hemmungsverhältniſs auszudrücken wäre durch die Zah-
len 2, 3, 6; also ; ferner S=2+1=3, ,
und ..
Es sey ferner bey voller Hemmung a=4, b=3,
c=2; woraus die Hemmungsverhältnisse 3, 4, 6; und
; S=5; ; also .
Es sey endlich bey voller Hemmung a=10, b=10,
c=7, also c, wie bekannt, beynahe auf der Schwelle:
so ist das Verhältniſs der Hemmung wie 7, 7, 10;
; S=17; ..
Wäre in dem letzten Beyspiele
genommen worden, so würde die Zeit unendlich groſs
geworden seyn. Man sieht also, daſs, wenn c seinem
Schwellenwerthe auch schon sehr nahe ist, doch eine
kurze Zeit hinreicht, um es aus dem Bewuſstseyn zu ver-
drängen. —
[449[249]]
Merkwürdig ist hiebey noch die Veränderung in
der Geschwindigkeit der übrigen Vorstellun-
gen, welche in dem Augenblicke vorgeht, da
die schwächste zur Schwelle sinkt. Die Hem-
mungssumme muſs ihrem Gesetze gemäſs continuirlich
sinken; verschwindet nun plötzlich diejenige Vorstellung,
welche bisher von der Hemmungssumme am meisten zu
leiden hatte, so müssen in diesem Augenblicke die stär-
keren einen weit beträchtlichern Druck erleiden, als sie
bisher zu tragen hatten.
In dem ersten Beyspiele ist nach Verlauf der Zeit
=0,944.. noch zu hemmen übrig Se—t=3.e—0,944..=1,17…;
dieses drückt, unmittelbar vor dem völligen Sinken von
c, mit der 1,17..× auf a, und mit der Kraft 1,17..×
auf b; hingegen unmittelbar darnach ändert sich das Hem-
mungsverhältniſs; a und b müssen den Rest der Hem-
mungssumme allein theilen; es drückt auf a die Kraft
1,17..×, auf b die Kraft 1,17..×. Die Geschwindig-
keit des Sinkens ist, wie oben gesagt, allemal der un-
mittelbare Ausdruck der zum Sinken nöthigenden Kraft,
und derselben proportional. Sie wird demnach in unserm
Falle plötzlich mehr als verdoppelt.
Sind mehr als drey Vorstellungen im Spiele: so kön-
nen sich dergleichen plötzliche Aenderungen mehrmals
ereignen; denn jede der schwächeren hat ihren Zeitpunct,
wo sie zur Schwelle sinkt, und den übrigen die Theilung
der Hemmungssumme überläſst.
Dies ist ein leichtes Beyspiel von dem, was keine
empirische Psychologie jemals hätte wissen können. Ueber
den Gegensatz der plötzlichen und der continuirlichen
Veränderungen im Bewuſstseyn kann sie sich nur wun-
dern, nicht sie erklären.
§. 76.
Die Anwendung des Bisherigen auf Complexionen
und Verschmelzungen kann wohl kaum Schwierigkeit fin-
den. Immer beharrt die Hemmungssumme bey dem glei-
chen Gesetze des Sinkens. Aber die Elemente der Ver-
[250] bindungen erleiden mancherley Beschleunigungen und
Verzögerungen; auf ähnliche Art, wie deren Gleichge-
wicht durch die Complication verändert wird.
Die plötzlichen Aenderungen der Geschwindigkeit bey
stärkeren Vorstellungen, indem schwächere zur Schwelle
sinken, werden gemildert durch Verschmelzungen und
unvollkommne Complicationen. Denn indem die schwä-
cheren zur Schwelle getrieben sind, haben auch die Hül-
fen, durch welche sie unterstützt waren, völlig gehemmt
werden müssen. Diese Hülfen rühren von den stärkeren
Vorstellungen her, welche schneller sinken, um die schwä-
chern verschmolzenen oder complicirten länger im Be-
wuſstseyn verweilen zu machen. Also kann der Abstand
der Geschwindigkeiten jetzt nicht so groſs seyn, als bey
unverbundenen Vorstellungen, wo in Einem Augenblick
der Druck der Hemmungssumme sich ganz auf die stär-
keren wirft, nachdem er unmittelbar zuvor diese in eben
dem Verhältniſs weniger, als die schwächern stärker, an-
gegriffen hatte.
Demnach, je weniger Verbindung noch unter
den Vorstellungen statt findet, desto mehr ge-
hen die Bewegungen des Gemüths stoſsweise,
und mit harten Rückungen; je mehr die Ver-
bindungen zunehmen, desto gleichmäſsiger und
sanfter wird der Fluſs der Vorstellungen. —
Wesentlich ist noch die Bemerkung, daſs alle Ver-
schmelzungen nach der Hemmung, in ihrer Ausbildung
eben so fortschreiten müssen, wie die Hemmung abnimmt.
Sollten sie erst bey völliger Ruhe entstehn, so entstün-
den sie niemals, weil die Hemmungssumme nie gänzlich
sinkt. Aber in wie fern ein paar Vorstellungen einander
noch widerstreben, können sie sich nicht vereinigen. —
Demnach seyen die Reste zweyer Vorstellungen, welche
nach der Hemmung überbleiben werden, und also sich
verbinden können, =r und ρ; so ist die wirkliche
Verbindung am Ende der Zeit t, nach dem obigen
=rρ(1—e—t). Und so tritt denn auch die Ver-
[251] bindung sehr bald beynahe, aber niemals völ-
lig ein. Für Vorstellungen, die zur Schwelle sinken sol-
len, giebt es keine Reste, also keine Verschmelzung nach
der Hemmung. — In Hinsicht der Verschmelzung vor
der Hemmung müssen wir uns die Uebergänge der Zu-
stände, die aus dem Streben zur Vereinigung und den
dawider streitenden Gegensätzen hervorgehn, eben so all-
mählig geschehend denken, wie die bisher betrachtete
Hemmung.
Zweytes Capitel.
Von den mechanischen Schwellen.
§. 77.
Bey den höchst einfachen Voraussetzungen, nach
denen wir bis jetzt gerechnet haben, und wornach das
Vorstellende nur von äuſserst wenigen Vorstellungen be-
schäfftigt wird, können wir nichts anders erwarten, als
daſs sehr bald von der eben vorhandenen Hemmungs-
summe nur noch wenig übrig seyn, daſs also ein der
Ruhe ganz nahe kommender Zustand eintreten werde;
aus welchem nur neu hinzukommende Vorstellungen das
Gemüth aufzuregen vermögen.
Zu einem Paar im Gleichgewichte befindlicher Vor-
stellungen komme demnach eine dritte, und zwar plötz-
lich, d. h. schnell und stark genug, damit wir den Zeit-
verlauf und das verwickelte Gesetz allmähliger Wahrneh-
mung hier als unbedeutend bey Seite setzen können: es
wird gefragt nach den Bewegungen der Vorstellungen,
die daraus entstehen müssen.
Die hinzukommende wird eine Hemmungssumme bil-
den, welche sinken muſs. An diesem Sinken werden auch
die früher vorhandenen Theil nehmen; und zwar werden
[252] sie dabey unter ihren statischen Punct hinabsinken,
bald aber wieder zu demselben hinaufsteigen. Hiebey
können sie für eine Zeitlang auf die Schwelle des
Bewuſstseyns getrieben werden, welche wir für einen
solchen Fall schon oben (im §. 47.) mechanische
Schwelle genannt haben.
Um dies leichter aufzuklären: nehmen wir zuvörderst
an, zu schon im Gleichgewichte befindlichen, und nach
der Hemmung verschmolzenen, a, und b, komme ein so
schwaches c, daſs es neben jenen auf die längst bekannte
statische Schwelle sinken müsse. Alsdann kann es in sta-
tischer Hinsicht auf a und b keinen Einfluſs haben. Aber
ehe es aus dem ungehemmten Zustande in den gehemm-
ten übergeht, muſs es durch a und b zum Sinken ge-
bracht werden; dabey wirkt es auf diese zurück, und
zwingt also auch sie, die schon auf ihrem statischen
Puncte waren, unter denselben hinab zu sinken. Dieses
wird so fortgehn, bis die durch c entstandene Hemmungs-
summe völlig niedergedrückt ist. Aber hiezu wird keine
unendliche Zeit nöthig seyn, denn das Streben jener, auf
ihren statischen Punct zurückzukehren, wirkt mit, und
beschleunigt alle Bewegungen. Indem nun a und b wie-
der steigen, wird c zur Schwelle getrieben werden. Man
bemerke aber, daſs hier die Bewegung nicht nach
einerley Gesetze fortdauernd geschehn kann.
Ein Bewegungsgesetz wird statt finden, so lange a und
b sinken, ein anderes wird eintreten, indem sie anfan-
gen sich wieder zu erheben. Dazwischen kann es noch
ein drittes geben, wofern etwa b bis zur Schwelle hin-
abgedrückt, daselbst eine Zeitlang verweilen müſste, also
nur einen gleichförmigen Druck gegen die übrigen, fer-
ner sinkenden Vorstellungen ausüben könnte.
Nehmen wir nun die Voraussetzung zurück, daſs c
neben a und b unter der statischen Schwelle seyn solle:
so wird zwar der statische Punct von a und b erniedrigt,
und die anfängliche Bewegung kann von keinem Zu-
rückstreben dieser Vorstellungen zu ihrem statischen
[253] Puncte beschleunigt werden. Aber sobald derselbe er-
reicht ist, entsteht ein solches Streben, und wächst bey
fortgehendem Sinken; von da an ist der Verlauf des Er-
eignisses im Allgemeinen wie oben, nur daſs c nicht auf
die Schwelle, sondern bis zu seinem statischen Puncte
getrieben wird.
Dieses muſs jetzo durch Rechnung näher bestimmt
werden. Wir knüpfen dieselbe an den §. 69., wegen der
unfehlbar vorhandenen Verschmelzung nach der Hem-
mung; und nehmen auch hier die abkürzende Voraus-
setzung voller Hemmung an; zwar nicht eben, um der
ziemlich eng begränzten Verschmelzung vor der Hem-
mung auszuweichen, sondern weil über die Einführung
verschiedener Hemmungsgrade in die Rechnung, nach
den frühern Auseinandersetzungen wohl kein Zweifel mehr
walten kann.
Es sey zuerst c neben a und b auf der sta-
tischen Schwelle. So ist bey voller Hemmung die
neu entstehende Hemmungssumme gewiſs = c. Die Ver-
hältnisse, worin sie vertheilt wird, sind aus §. 69., (wo
γ=c) acβ2, bcα2, α2β2. Ist also nach Verlauf der
Zeit t das Gehemmte =σ, so wird alsdann
- von a gehemmt seyn acβ2σ:(acβ2+bcα2+α2β2)
- ‒ b ‒ ‒ bcα2σ:(acβ2+bcα2+α2β2)
- ‒ c ‒ ‒ α2β2σ:(acβ2+bcα2+α2β2).
Im Zeittheilchen dt drängt zum Sinken erstlich der
Rest der Hemmungssumme, c—σ, dann aber auch das
Wieder-Aufstreben von a und b. Dieses zwar wirkt zu-
nächst nur gegen c, allein dadurch wird die Spannung
von c vermehrt, und durch seinen Widerstand wirft es
den erlittenen Druck auf a und b zurück. Ueberhaupt
kann das Sinken von c wohl beschleunigt werden, aber
dann muſs auch das Sinken von a und b rascher gehn,
denn die einmal in den Kräften gegründeten Hemmungs-
verhältnisse können nicht verletzt werden. Nun beträgt
das Wieder-Aufstreben von a und b so viel als ihr Ge-
hemmtes unter dem statischen Puncte; und da sie von
[254] Anfang an schon auf dem Puncte waren, zu dem sie
zurückkehren müssen, so ist ihr ganzes Gehemmtes
gleich ihrem Wieder-Aufstreben. Folglich kommt hinzu
die Kraft , und wir haben die Glei-
chung
Es sey
so ist (c—qσ) dt=dσ
woraus
und
Wofern keine mechanische Schwelle eintritt: so geht
nach diesem Gesetze das Sinken fort, bis die ganze Hem-
mungssumme niedergedrückt ist. Denn so lange sich von
ihr noch etwas vorfindet, muſs dasselbe auf alle Vorstel-
lungen vertheilt werden. Erst wann nichts mehr zu ver-
theilen ist, können a und b um so viel steigen, als um
wie viel sie c sinken machen.
Man setze also in dem Ausdrucke für t, σ=c; so
kommt
für die Zeit, während welcher jenes Gesetz bestehen kann.
Es ist daher man
leicht übersieht, wie diese Zeit um so kleiner ist, je klei-
ner q, das heiſst, je gröſser c, denn der Zähler von
dem Bruche q ist die Verhältniſszahl der Hemmung für c.
Da q nie =1 seyn kann, so ist auch diese Zeit allemal
endlich. Es ist merkwürdig, daſs sich die früher vorhan-
denen Vorstellungen nur um so kürzere Zeit niederdrük-
ken lassen, je stärker der Druck ist.
Nachdem nun der Hemmung Genüge geschehn, kann
c nicht länger a und b zum Sinken zwingen. Das heiſst,
[255] sie steigen, wie wenn c nicht wäre, nach ihrem eigenen
Gesetze; um wie viel aber beyde zusammengenommen
steigen, um so viel muſs c sinken. (Nämlich sie steigen
zu ihrem statischen Puncte; dieser aber freylich hängt
von c ab, wofern nicht, wie hier angenommen, c auf der
statischen Schwelle, oder darunter ist.)
Die Entfernung vom statischen Puncte bestimmt in
jedem Augenblicke die Kraft und Geschwindigkeit des
Steigens. Die anfängliche Entfernung ergeben die Aus-
drücke für das Gehemmte von a und b, wenn darin σ=c
gesetzt wird. Also für a ist diese Entfernung =ac2β2:
(acβ2+bcα2+α2β2). Sie heiſse S'; und nach einer Zeit
des Steigens =t', habe sich von a wieder erhoben das
Quantum σ'. So ist jetzt die Entfernung vom statischen
Puncte =S'—σ', und hieraus die Zunahme des Steigens
woraus
Es muſs nun auch b nach einem ganz ähnlichen Ge-
setze steigen, c aber nach demselben sinken. Folglich
tritt auch hier, wie die Formeln zeigen, das Gleichge-
wicht nie vollkommen ein, obgleich sehr bald beynahe;
die frühern Vorstellungen behalten immer noch eine ge-
ringe Bewegung des Steigens, die späteren des Sin-
kens. —
Zu einem Beyspiele sollen einige Zahlen aus §. 69.
verhelfen. Es sey a=b=1, also α2=1,5625; α2β2=
2,4414..; auch sey c=½, also
=0,61.. und t=1,54.. Um diese Zeit ist von a ge-
hemmt , nahe 0,1; von b eben so viel; von c we-
nig über 0,3. Jetzt erheben sich a und b, um das ver-
lorne Zehntel wieder zu gewinnen; unterdessen wird c
zwey Zehntel (beynahe) verlieren, und dann auf der
Schwelle seyn, wohin es jedoch nie völlig gebracht wird;
obgleich es in statischer Hinsicht unter der Schwelle ist,
[256] und selbst von noch nicht verschmolzenen a und b sehr bald
würde zur Schwelle getrieben seyn, wäre es gleichzei-
tig mit a und b ins Bewuſstseyn gekommen. (Man sehe
§. 75.) — Vielleicht ist nicht überflüssig zu erinnern, daſs
a und b ein Zehntel verlieren, nachdem schon ihre eigne
gegenseitige Hemmung so gut als vollbracht war; das
heiſst, nachdem sie schon halb gehemmt waren. Also
ihr niedrigster Stand ist =0,4; von da an erheben sie
sich wieder auf den vorigen Stand =0,5.
§. 78.
Auf die mechanische Schwelle wird b getrieben wer-
den, wofern das, was von b zu hemmen ist, dem Reste
von b aus der frühern Hemmung eher gleich wird, als
die Zeit abgelaufen ist. Es sollte von b
gehemmt werden die Gröſse bcα2σ:(acβ2+bcα2+α2β2).
Nach Ablauf der eben erwähnten Zeit ist σ=c. Gesetzt
nun, es sey bc2α2:(acβ2+bcα2+α2β2) gerade gleich
dem Reste von b aus der frühern Hemmung: so wird
dieser Rest eben in dem Augenblicke völlig gehemmt
seyn, da b sammt a wiederum beginnt zu steigen. Also
stöſst gleichsam b nur augenblicklich an die
Schwelle, ohne auf derselben zu verweilen. Dieser
Fall liegt in der Mitte zwischen den beyden, da die
Schwelle nicht berührt wird, und da die Verweilung auf
derselben ein neues Gesetz für den Fortgang der Hem-
mung herbeyführt. Von hier also müssen die genauern
Betrachtungen der mechanischen Schwelle ausgehn.
Der Rest von b aus der frühern Hemmung ist =
nach §. 44. Ihm soll die Gröſse bc2α2:(acβ2+bcα2+α2β2)
gleich seyn. Wir haben also
und daraus
Um
[257]
Um sich unter den Bedeutungen, welche diese For-
mel annehmen kann, eher zu orientiren, setze man für
c2 den Werth , wegen der Voraussetzung, daſs es
auf der statischen Schwelle oder unter derselben sey.
Alsdann läſst sich durch dividiren; und man sieht
auf den ersten Blick so viel, daſs ab\>β2 seyn muſs.
Bey Vergleichung des Täfelchens im §. 69. zeigt sich,
daſs diese Bedingung ungefähr bey anfängt
in Erfülllung zu gehn.
Es sey nun des Beyspiels wegen a=10, b=2; dem-
nach a=10,32; β=3,61; α2=106,5; β2=13,032; so
findet sich c=1,766.., welches der Forderung entspricht,
neben a und b unter der statischen Schwelle zu seyn.
Denn man nehme b zum Maaſse der Gröſsen, so ist
b=1, a=5, c=0,883..; aber nach §. 49. würde schon
c=0,91.. zur Schwelle sinken.
Demnach ist es möglich, und es kann selbst ziem-
lich viele Fälle geben, da die dritte, hinzukommende Vor-
stellung, neben zwey frühern (sogar wenn sie unver-
schmolzen wären) zur statischen Schwelle getrieben wird,
und dennoch im Stande ist, während ihres Sin-
kens, die schwächere der frühern zuvor auf die
mechanische Schwelle zu bringen; und selbst sie
dort eine kurze Zeit lang aufzuhalten. Denn während das
berechnete c, nur b an die Schwelle anstoſsen macht,
würde ein anderes, um ein weniges stärkere, z. E. c=0,9,
eine kurze Verweilung auf der mechanischen Schwelle
bewirkt haben. — In der That ist die Sphäre dieser Mög-
lichkeit noch um Etwas gröſser, als wir sie hier obenhin
bezeichnet haben. Denn die Schwellenformel
gilt für unverschmolzene Vorstellungen; aber a und b sind
verschmolzen, und neben ihnen ist auch ein etwas grö-
ſseres c auf der statischen Schwelle; welches wir annah-
I. R
[258] men, damit durch das Hinzukommen des c der statische
Punct von a und von b nicht möge verrückt werden.
§. 79.
Zweyerley ist noch übrig: erstlich, das Gesetz zu be-
stimmen, nach welchem sich während der Zeit, da eine
Vorstellung auf der mechanischen Schwelle verweilt, die
übrigen bewegen; zweytens, die beschränkende Voraus-
setzung, daſs c auf der statischen Schwelle oder darun-
ter sey, zurückzunehmen, und die Folgen davon zu er-
örtern.
Ruhet b auf der mechanischen Schwelle, so liegt
eben darin der Unterschied dieser Schwelle von der sta-
tischen, daſs nun gleichwohl b nicht aufhört, Einfluſs zu
haben auf das was im Bewuſstseyn vorgeht. Denn wie
weit es von seinem statischen Puncte entfernt ist, um so
weit vermag es, sich wieder zu erheben, wenn schon
nicht plötzlich, sondern erst nach vorgängigem ferneren
Sinken der übrigen Vorstellungen. Der ganze Unter-
schied seiner jetzigen Wirksamkeit von jener, da es noch
selbst im Sinken begriffen war, ist nur dieser, daſs es
zuvor an Spannung zunahm, indem es tiefer sank; jetzt
hingegen übt es einen gleichbleibenden Druck, so lange
bis es sich von der mechanischen Schwelle wieder erhe-
ben kann.
Um hiernach die Formel des §. 77., nämlich
abzuändern, bedenke man, daſs q aus drey Theilen be-
steht, unter welchen einer die Wirksamkeit von a, ein
andrer die von b ausdrückt. Der letztre wird offenbar
jetzt constant, und hängt nicht mehr von σ ab. Alles
Constante (welches näher zu bestimmen noch vorbehal-
ten bleibt) mag mit c zu Einer Gröſse zusammengefaſst
werden, welche C heiſse. Auch sey das übrigbleibende
Veränderliche =q'σ, so wird die Formel
woraus man sieht, daſs das Bewegungsgesetz mit gerin-
ger Veränderung dasselbe ist wie zuvor. Um aber zu-
[259] erst die Zeit zu finden, wann b auf die mechanische
Schwelle gesunken, nehme man erst aus §. 77. das von
b Gehemmte; dieses dem Rest gleich gesetzt, giebt
, welcher Werth von σ zu
substituiren ist in die Formel . Hiedurch
beschränkt sich die Anwendung des vorigen Bewegungs-
gesetzes, und ergiebt sich der Anfang des jetzigen.
Diejenige Zeit, welche von diesem Anfangspuncte
verläuft, wollen wir, zum Unterschiede von der vorigen,
mit t' bezeichnen, und daher die schon gegebene For-
mel nun so schreiben
(C—q'σ)dt'=dσ
woraus zunächst .
Damit die Constante bestimmt werde, setzen wir zu-
vörderst den Werth von σ für t'=0, nämlich
so wird , und folglich
Hieraus erfährt man das Ende des jetzigen Bewe-
gungsgesetzes, oder die Zeit, wann b sich wiederum von
der Schwelle erhebt, indem man σ=c setzt. Denn nicht
eher kann sich b erheben, als bis nichts mehr zu hem-
men da ist; indem, hätte sich vorher b nur im gering-
sten gehoben, es sogleich wiederum durch ein endliches
Quotum der Hemmungssumme würde niedergedrückt seyn.
Nachdem aber diese gesunken, steigt nothwendig b, wie
schon gezeigt, zu seinem statischen Puncte, als ob ihm
keine Kraft entgegenwirkte. Dasselbe gilt von a; sie be-
ginnen ihre Erhebung zugleich, und können sie niemals
ganz vollenden. —
R 2
[260]
Nun haben wir noch C und q' zu bestimmen. Man
überlege, wie σ vertheilt wird, während b auf der mecha-
nischen Schwelle verharrt. Nur unter a und c kann es
vertheilt werden; also entsteht hier eine ähnliche
Beschleunigung plötzlich, wie im §. 75. bemerkt.
Ferner, die Verschmelzungshülfe des b kann dem a nicht
mehr zu Statten kommen, da von b nichts mehr zu hem-
men ist, allemal aber das Helfende einen Theil des
Leidens von dem, welchem es hilft übernehmen muſs.
Also a und c theilen ganz nach ihrem ursprünglichen
Hemmungsverhältnisse des Quantum der Hemmungs-
summe, welches in diesem Zeitraume sinkt. Da-
durch wird a verhältniſsmäſsig mehr und schneller ange-
spannt, als vorhin; und die Kraft seines Wiederaufstre-
bens folgt jetzt einem neuen Gesetze. Aber von dieser
Kraft ist derjenige Theil constant, der durch das Sinken
des a, bevor b die Schwelle erreichte, gebildet worden.
Diesen finden wir, indem wir Σ statt σ in den Werth
des von a Gehemmten setzen (§. 77.); es ist also der-
selbe =. Dazu muſs addirt werden das gleich-
falls constante Gehemmte von b, nämlich der ganze Rest
aus der fühern Hemmung, =; dies giebt .
Hiezu kommt endlich noch c, als Hemmungssumme; so
bilden diese drey Theile zusammen die constante Kraft,
welche die Bewegung verursacht, =c+.
Mit dieser constanten Kraft ist nun noch die veränder-
liche verbunden; und sie ist = der hinzukommenden Span-
nung von a seit völliger Hemmung von b, weniger σ.
Wegen der Vertheilung des Gehemmten zwischen a und
c, finden wir die hinzukommende Spannung von a, wenn
wir mit dem Bruche dasjenige multipliciren, was
gehemmt worden, seit b die Schwelle erreicht hat; näm-
lich σ—Σ. Die so entstehende Gröſse zerle-
[261] gen wir noch in den constanten Theil und den
veränderlichen . Jener muſs der obigen constanten
Kraft beygefügt werden, dieser dem veränderlichen —σ.
So kommt endlich
und
§. 80.
Drey verschiedene Zeiträume, jeden mit einem eige-
nen Bewegungsgesetze, haben wir schon unterschieden;
einen vor dem Sinken auf die mechanische Schwelle, den
zweyten während der Verweilung auf derselben, den drit-
ten, unendlich langen, während der Wieder-Erhebung
von dieser Schwelle. Diesen Zeiträumen allen geht ein
vierter, oder, wenn man will, ein erster voran, wofern c
nicht neben a und b auf, oder unter der statischen
Schwelle ist. Alsdann wird allemal der statische Punct
von a und b erniedrigt; und so weit sinken diese Vorstel-
lungen, ohne durch ihr Aufstreben in das Hemmungsge-
setz auf die vorhin beschriebene Art einzugreifen.
Man muſs also damit anfangen, diesen ersten Zeit-
raum zu berechnen. Das geschieht mittelst der Formel
, (§. 74.), indem für σ dasjenige Quantum
der Hemmungssumme gesetzt wird, welches von allen
Vorstellungen zusammengenommen muſs gesunken seyn,
wann a und b bey ihrem statischen Puncte anlangen.
Wir nehmen vorläufig an, beyde kommen zugleich auf
diesen Punct; die Abänderungen wegen des Gegentheils
sollen an einem Beyspiel gezeigt werden. Der erwähnte
Werth von σ sey =Σ0.
Hierauf beginnt die zweyte, jetzt mit t' zu bezeich-
nende Zeit, bis b die mechanische Schwelle erreicht.
War die anfängliche Hemmungssumme =S, so ist jetzt
[262] von derselben noch übrig S—Σ0. Was aber in der
Zeit t' sinken wird, ist auszudrücken durch σ—Σ0. Das-
selbe wird sich in den gehörigen Verhältnissen verthei-
len; also wird (nach §. 77., nur σ—Σ0 statt σ gesetzt)
im Verlauf der Zeit t', wenn acβ2+bcα2+α2β2=D,
- von a gehemmt seyn acβ2(σ—Σ0):D
- ‒ b ‒ ‒ bcα2(σ—Σ0):D
- ‒ c ‒ ‒ α2β2(σ—Σ0):D
Demnach wird
oder, indem völlig wie oben ,
Es sey noch zur Abkürzung
so wird
und weil für t'=0, σ=Σ0,
woraus, Falls b nicht zur mechanischen Schwelle sinkt,
die Zeit bis zum Steigen gefunden wird durch Substitu-
tion von S für σ.
Im entgegengesetzten Falle wird zuvor der frühere
Rest von b, oder , indem die
Hemmung sowohl während t als während t' immer nach
einerley Verhältniſs fortgeschritten ist; oder es ist
Es schlieſst sich also die zweyte Zeit mit
.
Nun beginnt die dritte Zeit =t″ während der Ver-
weilung auf der mechanischen Schwelle. Von der Hem-
mungssumme ist noch übrig S—Σ'; in der Zeit t″ wird
[263] sinken σ—Σ'. Von a und b zusammengenommen ist in
der Zeit t' gehemmt . Von a wird
während t″ gehemmt . Es sey
nun , und
, so ist
und
weil aber für t″=0, σ=Σ', so wird
Für das Ende der Zeit t″ ist hierin σ=S, und alsdann
beginnt die vierte, unendliche Zeit der Annäherung zum
statischen Puncte.
Um Beyspiele zu haben, vollenden wir die im §. 69.
geführten statischen Berechnungen. Es sey a=b=c=1.
Demnach hier S=1; (nämlich die Hemmungssumme zwi-
schen a und bwar schon gesunken, und die ganze jetzige
Bewegung hängt ab von dem hinzukommenden c, — ob-
gleich oben die statischen Puncte mit Hülfe des gan-
zen Gegensatzes zwischen a, b, und c muſsten bestimmt
werden). Ferner Σ0 zu finden, muſs man erst überlegen,
wie weit a und b zu sinken hatten, um auf ihren jetzi-
gen statischen Punct zu kommen. Der frühere war =0,5;
der jetzige ist nach §. 69. eine Hemmung =0,5614; also
um 0,0614 muſsten sie sinken. Dies verhält sich zu dem,
was gleichzeitig von c hat sinken müssen, wie α2:α4 (in-
dem wegen a=b auch α=β) oder wie 1:α2=1:1,5625.
Also das Gehemmte von c bis dahin beträgt 0,0959…
Nun 0,0614+2+0,0959=Σ0, oder Σ0=0,2187… Hier-
aus S—Σ0=0,7812… und
Dies ist die erste Zeit. —
[264] Weiter, ;
= 0,8772... Nun kann b nicht auf die mechanische
Schwelle kommen; denn der Ausdruck des von b Ge-
hemmten ist , wird hierin σ=S=1, so
ist jenes Gehemmte nahe =, welches letztre den
Rest von b aus der frühern Hemmung ausmacht. Also
setzen wir gleich nebst dem gefundenen q und S' auch
S für σ in die Gleichung für t', und erhalten t'=1,316..
Dies ist die zweyte Zeit. Eine dritte der Verwei-
lung auf der Schwelle fällt hier weg, indem nun sogleich
die unendliche Zeit des Steigens beginnt. Es ist t+t'
=1,563; in dieser Zeit sinkt jetzt die ganze Hemmungs-
summe, wozu sonst unendliche Zeit nöthig ist. Der nie-
drigste Stand von a und von b ist nach der obigen Be-
merkung nahe =; ihm gleichzeitig ist
von c noch im Bewuſstseyn; von hier an
muſs aber c doppelt so schnell sinken, als a und b
steigen.
Zweytens sey a=1; b=0,7; c=1; demnach S=1;
um aber Σ0 zu finden, müssen wir zuerst die frühere
Hemmung von a und b betrachten. Von a war gehemmt
; von b; jenes =0,28823.. dieses =0,41177..
Da nun c hinzukommt, so ist nach §. 69. von a zu hem-
men 0,48814; von b, 0,50317… Die Differenzen sind,
für a, 0,1999; für b, 0,0914. Hier zeigt sich, daſs nicht
zugleicha und b auf ihren neuen statischen Punct von
dem vorigen herabsinken; denn gewiſs verliert eher b die
kleine Gröſse 0,0914, als a um 0,1999 herabsinkt. Des-
halb erstreckt sich jetzt die erste Zeit nur bis dahin, wo
b seinen statischen Punct erreicht; alsdann folgt eine
einzuschaltende Zeit, bis auch a den seinigen an-
trifft. Was b verliert, verhält sich zu dem was a ver-
liert, wie bα2:aβ2=1,016:0986; also während von b,
0,0914, wird von a gehemmt 0,0887. Was a verliert,
[265] verhält sich zum Verluste von c wie ac:α2=1:1,452;
also während von a, 0,0887, wird von c gehemmt 0,1288.
Demnach ist Σ0=0,0914+0,0887+0,1288=0,3089; und
S—Σ0=0,691. Daraus Dies
ist die erste Zeit. In der nächsten einzuschaltenden
Zeit ist die hemmende Kraft =,
daher setze man , und ,
so ist S'=1—0,09143=0,9085.. und q=0,704.. Am
Schlusse dieser Zeit soll von a gehemmt seyn 0,1999,
wofür füglich 0,2 kann gesetzt werden; gleichzeitig
damit ist nach obigen Verhältnissen von b gesunken
0,2061.. und von c gehemmt 0,2904; zusammen =0,6965
=Σ'. Hieraus findet sich in Verbindung mit S' und q
die einzuschaltende Zeit; sie ist =0,714.. Nach
Verlauf derselben beginnt derjenige Zeitraum, in wel-
chem a und b zusammen wirken, um die Hemmung zu
beschleunigen; die obige zweyte Zeit, zu deren Berech-
nung wir nun noch einmal die Formel, wodurch die ein-
geschaltete bestimmt wurde, aber mit andern Bedeutungen
von S' und q, von Σ0 und Σ', anwenden. Was so eben Σ'
war, wird jetzt Σ0, also Σ0=6965. Zu S' muſs jetzt das im
verflossenen Zeitraume von b gehemmte mit gerechnet wer-
den; denn es wirkt fortdauernd als eine constante Kraft.
Dieses beträgt 0,2061—0,0914=0,1147. Auſserdem kön-
nen wir den Formeln folgen. Demnach wird S'=0,7087;
und q=0,4169. Endlich Σ'=0,974.. Daraus t'=0,777..
Dies ist die zweyte Zeit, nach obiger Benennung.
Um die dritte Zeit, oder t″ zu berechnen, muſs wie-
derum, und aus dem schon angegebenen Grunde, zu S″
die Gröſse 0,1147 addirt werden. Es findet sich S″=0,790..;
q'=0,5; und hieraus t″=0,087.. Dies ist die dritte
Zeit, die der Verweilung von b auf der mechanischen
Schwelle; worauf die vierte, unendliche, des Steigens
folgt. Um zu sehen, wie lange Zeit die Hemmungssumme
[266] braucht, um ganz zu sinken, addiren wir die verschiede-
nen Zeiten. Wir fanden
- die erste Zeit =0,369
- die eingeschaltete =0,714
- die zweyte =0,777
- die dritte =0,087
- deren Summe =1,947
Hiemit läſst sich das vorige Beyspiel vergleichen. Bey-
demal war die Hemmungssumme =1, aber der Unter-
schied, daſs dort b=1, hier b=0,7; hat die Zeit des
Sinkens der Hemmungssumme von 1,563 bis auf 1,947
verlängert. Der Grund ist nicht schwer zu finden. Die
hemmenden Kräfte sind hier schwächer als oben. Gleich
die erste Zeit findet sich hier in einem etwas gröſsern
Verhältnisse gegen das Gehemmte vermehrt, als dort.
In der eingeschalteten aber wirkte vollends nur b allein
zum schleunigern Sinken, indem a noch nicht seinen sta-
tischen Punct erreicht hatte, also auch den Drang zum
Sinken noch nicht vermehren konnte. Hingegen im er-
sten Beyspiele waren gleich am Ende der ersten Zeit a
und b zugleich auf ihrem statischen Puncte, und wider-
strebten gemeinschaftlich dem Uebermaaſse der Hemmung,
wodurch sie unter derselben herabgedrückt wurden. Dazu
kommt noch die Zeit der Verweilung auf der Schwelle,
während welcher die Spannung von b nicht mehr anwach-
sen konnte. Dieses alles muſste in dem zweyten Bey-
spiele die Bewegung um etwas langsamer machen.
Vergleichen wir aber auch noch die Zeiten mit dem
was in ihnen gehemmt wird! Dazu ist nur nöthig, die
Differenzen Σ'—Σ0 den Zeiten gegenüber zu stellen.
- Zu der Zeit 0,369 gehört das Gehemmte 0,309
- ‒ ‒ ‒ 0,714 ‒ ‒ ‒ 0,387
- ‒ ‒ ‒ 0,777 ‒ ‒ ‒ 0,278
- ‒ ‒ ‒ 0,087 ‒ ‒ ‒ 0,025
Hier ist zwar im Allgemeinen noch immer etwas
von allmählig verminderter Geschwindigkeit zu bemerken,
aber auch etwas scheinbar unregelmäſsiges, welches von
[267] den verschiedenen Bewegungsgesetzen herrührt, die nach
einander eintreten, und den gleichförmigen Lauf des Er-
eignisses nicht weniger als viermal abbrechen.
Man begreift leicht, daſs diese so merkwürdigen Ab-
änderungen der einmal vorhandenen Regel der Bewegung,
sich noch sehr vervielfältigen müssen, wofern mehr als
drey Vorstellungen im Spiele sind. So oft eine davon
ihren statischen Punct, oder die mechanische Schwelle
erreicht, ändert sich das Gesetz des Fortgangs der Be-
wegung.
Wir wollen uns darüber eben so wenig in Untersu-
chung einlassen, als über die Frage: was geschehen
müsse, wenn c früher eintrete, als a und b ihre
Hemmung unter einander vollendet haben? Näm-
lich vollendet bis auf einen unbedeutenden Rest, da das
eigentliche Ende nie eintritt, wenn sie sich selbst über-
lassen bleiben. — Dergleichen Fälle liegen in der Mitte
zwischen dem eben abgehandelten, und dem gleichzeiti-
gen Zusammentreffen dreyer Vorstellungen. Die mecha-
nische Schwelle wird alsdann seltener erreicht, und die
Verweilung auf derselben verkürzt.
Endlich möchte man noch fragen, ob nicht ein hin-
reichend starkes c im Stande seyn könne, sowohl a als
b auf die mechanische Schwelle zu treiben? Die Ant-
wort hängt von der Betrachtung der Hemmungssumme
ab. Ist c gröſser als a, so ist es in der Regel selbst
nicht mit in der Hemmungssumme. Vielmehr ist diese
alsdann =a; weil der frühern Hemmung die Summe =b
zugehörte. Nun kann a niemals ganz niedergedrückt wer-
den; denn gesetzt, a und b seyen zugleich auf der me-
chanischen Schwelle, so tragen sie die ganze Hemmungs-
summe allein; aber dieses ist nicht möglich, da nothwen-
dig auch von c etwas muſs gehemmt seyn.
Ganz anders jedoch wird sich dies verhalten, wenn
man übergehn will zu der Annahme, daſs nach c noch
eine Reihe anderer Vorstellungen, d, e, f, u. s. w. suc-
cessiv hinzutrete. Dadurch wird die Hemmungssumme
[268] unfehlbar bedeutend wachsen; es muſs aber a von jeder
neu hinzukommenden leiden; und da es vorhin schon
der mechanischen Schwelle nahe war, kann es ohne
Zweifel sehr leicht vollends auf dieselbe getrieben wer-
den, gesetzt auch, daſs keine der hinzukommenden stark
genug sey, um a und vielleicht selbst um b auf die sta-
tische Schwelle zu bringen. Während also jene Reihe
von Vorstellungen noch in ihrem Verlauf begriffen ist,
werden a und b fortwährend auf der mechanischen
Schwelle bleiben; dennoch aber, nachdem die Reihe zu
Ende ist, sehr bald sich von selbst wieder ins Bewuſst-
seyn erheben. So etwas ereignet sich zu jeder Stunde
in jedem Menschen, nur nach einem weit vergröſserten
Maaſsstabe, bey jeder Störung in einem Geschäffte, das
man vergiſst, so lange die Störung dauert, und wieder er-
greift, sobald sie beseitigt ist. Das unangenehme Gefühl
der Störung, welches, wenn es heftig ist, im ersten Au-
genblicke gleich den Organismus in Mitleidenschaft zieht,
und dann den Affect des Schrecks erzeugt, — rührt
her von der Gewalt, womit die zur mechanischen Schwelle
getriebenen Vorstellungen, deren man sich nicht bewuſst
ist, sich denen widersetzen, durch welche sie verdrängt
werden. Wirkten die Vorstellungen auf der statischen
Schwelle eben so wie die auf der mechanischen: so würde
der Mensch sein Daseyn nicht aushalten können.
Drittes Capitel.
Von wiedererweckten Vorstellungen, nach der
einfachsten Ansicht.
§. 81.
Kaum bedarf es der Erinnerung, daſs das zuletzt be-
trachtete Ereigniſs noch von andern wichtigen Folgen be-
[269] gleitet seyn müsse, wofern man nur die sehr natürliche
Voraussetzung hinzudenkt, daſs wohl mehrere ältere Vor-
stellungen, wo nicht im Bewuſstseyn, so doch im Ge-
müthe vorhanden seyn mögen. Um allzu groſse Schwie-
rigkeiten zu vermeiden, wollen wir annehmen, es seyen
dergleichen neben a und b auf der statischen Schwelle;
die also nur durch a und b zurückgehalten sind, und
sich sogleich regen müssen, wofern die entgegen-
wirkenden von einer fremden Gewalt leiden.
Es mögen sich drey Vorstellungen mit einander im
Gleichgewichte befinden. Sinken zwey davon unter ihren
Gleichgewichtspunct hinab: so kann die dritte gerade
um so viel, als jene zusammengenommen ver-
lieren, sich wieder erheben. Die Hemmungssumme
wird dabey nur anders vertheilt. — Daſs eine Vorstel-
lung, welche steigen kann, auch steigen werde, leidet
keinen Zweifel; jedoch giebt es ein Gesetz, nach wel-
chem sie sich allmählig erhebt, mit abnehmender Ge-
schwindigkeit, weil, je höher sie sich schon gehoben, um
so kleiner die Nothwendigkeit wird, ihren Zustand zu
verändern, um sich vollends ins klare Bewuſstseyn auf-
zurichten. Plötzlich können die dazu nöthigen Ueber-
gänge aus einem Zustande in den andern, eben so we-
nig geschehn, als eine Hemmungssumme plötzlich sinkt,
das heiſst, als die gehörige Verdunkelung des Vorstel-
lens sogleich vollständig eintritt, indem der Grund dazu
vorhanden ist. — Angenommen, die Vorstellung H sey
völlig niedergedrückt; auf einmal verschwinde alle Hem-
mung; nach einer Zeit t habe sich erhoben das Quantum
h: so ist dh=(H—h)dt, also ; h=H(1—e–t).
Verschwindet aber nicht alle Hemmung: so giebt es für
die Vorstellung H einen Punct, bis zu welchem ihr ge-
stattet ist zu steigen. Derselbe sey H'; so ist dh=
(H'—h)dt; , h=H'(1—e–t). Man be-
merke wohl, daſs in diesen Ausdrücken die Stärke der
[270] Vorstellung H gar nicht vorkommt; Falls daher H' nicht
von H bestimmt wird, so ist das Steigen dieser Vorstel-
lung von ihrer eignen Stärke völlig unabhängig.
In diesem Falle befindet sich die Vorstellung H,
wenn sie darum, und so weit sich zu erheben sucht,
weil und wie weit die andern, von denen sie gehemmt
war, niedersinken. Das Gesetz eines solchen Stei-
gens macht den Gegenstand unsrer nächsten Untersu-
chung aus.
§. 82.
Neben den Vorstellungen a und b können viele Vor-
stellungen, die ehemals mit ihnen im Conflict waren,
zur Schwelle gesunken seyn. Alle diese regen sich so-
gleich, wenn eine neu hinzukommende a und b sinken
macht. Aber wie sie sich regen, treten sie theils unter
einander, theils gegen die hinzukommende, in gegensei-
tige Hemmung; so daſs diejenigen kaum merklich steigen
können, welche auf solche Weise bedeutenden Hinder-
nissen entgegengehn. — Um das Einfachste, und zu-
gleich für die aufstrebende Vorstellung Vortheilhafteste
vorauszusetzen, wollen wir annehmen, es sey nur Eine,
und zwar der neu hinzukommenden völlig gleichartige,
neben a und b auf der statischen Schwelle; diese trete
nun, frey von den erwähnten Hindernissen, wieder ins Be-
wuſstseyn. Also z. B. eine zuvor gesehene Farbe, ein
früher gehörter Ton, woran eben jetzt nicht gedacht
wurde, erscheint oder erklingt von neuem; die Frage ist,
wie die ältere Vorstellung nun der gleichartigen neuen
entgegenkommen werde?
Die ältere, sich erhebende Vorstellung heiſse H. Sie
sucht nach dem, im vorigen §. angegebenen Gesetze den
Punct zu erreichen, bis zu welchem sie ungehindert stei-
gen kann. Aber dieser Punct ist veränderlich; denn er
hängt ab vom Sinken jener beyden, a und b. Die ver-
änderliche Entfernung dieses Punctes von der Schwelle,
oder das, derselben gleiche, Sinken der beyden, a und b
zusammengenommen, heiſse x; die zugehörige Zeit sey t;
[271] und das Quantum von H, welches beym Ablauf von t
sich schon erhoben hat, sey =y, so ergiebt sich die
Gleichung
Nun ist x eine Function von t, welche fürs erste
= ft gesetzt werde. So folgt
woraus
Aus dem vorigen Capitel läſst sich ft näher bestim-
men. Ist die neu hinzukommende Vorstellung stark ge-
nug, um nicht neben a und b auf die statische Schwelle
zu fallen, so gehn die Bewegungen, welche sie verur-
sacht, nach §. 80.; wo in der ersten Zeit die Formel
gilt. Damit hängt zusammen σ = S (1—e— t).
Die beyden Theile von σ, welche, nach den Hemmungs-
verhältnissen, von a und b gehemmt werden, fasse man
zusammen in den Ausdruck mσ = mS (1 — e— t), so ist
dies = x = ft; denn um so viel Freyheit ist nun dem H
eingeräumt, um sich zu erheben. Nun ist mS. ∫et(1—e—t)dt
= mS (et — t) + Const.; und dieses mit e— t multiplicirt
= mS(1 — te— t) + Ce— t. Für t = 0 ist y = 0; also voll-
ständig
In dieser Formel ist S diejenige Hemmungssumme, wel-
che beym Hinzutreten der neuen Vorstellung c zu a und
b, sich zwischen diesen dreyen gebildet hat; bey voller
Hemmung ist sie = c, wenn c\<a, oder im umgekehrten
Falle ist sie =a. Hiemit nun steht das Hervortreten
der älteren, H, im einfachen geraden Verhältniſs; aber
dasselbe richtet sich Anfangs nach dem Qua-
drate der Zeit. Und der Anfang ist hier das wichtig-
ste; denn die erste Zeit ist gewöhnlich sehr kurz, wie
schon die Beyspiele des vorigen Capitels vermuthen las-
sen. Es muſs c sehr groſs seyn, und den statischen
Punct von a und b bedeutend herabsetzen können, wenn
[272] die erste Zeit sich ansehnlich verlängern soll. Dadurch
nämlich wächst Σ in der Formel , und wird
dem Werthe S nahe kommen können. In dieser Hinsicht
mag es nicht unnütz seyn, die Gröſse te— t, welche mit
dem Minuszeichen in y vorkommt, näher anzusehn. Sie
ist = 0 für t = 0 und für t = ∞; und hat ihr Maximum
für t = 1, nämlich den Werth ; weiterhin
wird sie bald ziemlich unbedeutend, und kann alsdann
den Gang der Gröſse 1 — e— t, mit der sie verbunden ist,
nur wenig modificiren. Wo sie den meisten Einfluſs hat,
nämlich für t = 1, erkennt man den Werth von y so-
gleich aus der Reihe; es ist nämlich alsdann
In den darauf folgenden Zeiten erscheint immer t'
unter einer Form wie , woraus σ =
, folglich . Hieraus
wo A eine noch zu bestimmende Constante ist. Für
t' = 0 sey y = ϒ, so ist nun vollständig
Hier wird zuerst die Gröſse e— qt' — e— t' unsre Auf-
merksamkeit anziehn. Sie ist = 0 für t' = 0 und für
t' = ∞; und hat ein Maximum für , welcher
Ausdruck, wie man sogleich übersieht, nur scheinbar ne-
gativ ist.
Es ist nun leicht, nach Anleitung des vorigen Capi-
tels für jeden Zeitraum nach dem ersten, die gehörigen
Werthe von S', q, und C, in die gefundene Formel zu
setzen. Allein der Gültigkeit der Formel kann die eigne
Gröſse der Vorstellung H, wovon y ein Theil ist, eine
Grän-
[273] Gränze setzen. Man muſs sich erinnern, daſs mσ, oder
das von a und b zusammengenommen Gehemmte, den
freyen Spielraum ausdrückt, in welchem sich H ausdeh-
nen kann. Nur gröſser als es ist, kann es durch die ihm
gegebene Freyheit nicht werden, noch zu werden streben.
Sobald daher mσ = H, hört in der Formel (x — y) dt = dy,
von der wir ausgingen, x auf, veränderlich zu seyn; es
wird = H; und
aus
folgt
wenn y = ϒ' für t″ = 0. Zuvor muſs man wissen, wann
mσ = H; das heiſst, man muſs das Ende von t' wissen.
Aus dem Vorigen ergiebt sich sehr leicht die Formel da-
für, nämlich
Oder sollte sich der Fall mσ = H wegen groſser
Schwäche der Vorstellung H schon früher ereignen, ehe
noch die Zeit t' anfängt, so hätte man aus dem Obigen
H = mS (1 — e— t) und hieraus alsdann
Bis nun diese, oder die vorbemerkte Zeit
abgelaufen ist, erhebt sich jede schwache oder
starke Vorstellung, die in dem Falle von H sich
befinden mag, völlig auf gleiche Weise; erst in
dem hier bestimmten Augenblicke, und zwar
plötzlich, eignet sich eine solche Vorstellung
ein Bewegungsgesetz zu, das ihrer Stärke (oder
vielmehr ihrer Schwäche) angemessen ist. Die stärk-
sten thun dies am spätesten. — Auſserdem sieht
man hier noch ausdrücklicher, was eigentlich schon im
vorigen §. klar wurde: daſs nämlich niemals eine
wieder hervortretende Vorstellung zu einem
völlig ungehemmten Zustande zurückkehren
kann. Sollte dies geschehn, so müſste in dem obigen
I. S
[274] Ausdrucke für t″, y = H werden können, und dabey ei-
nen endlichen Werth für t″ ergeben; aber t″ wird un-
endlich für y = H.
Das erste Beyspiel des §. 80. wollen wir hier ver-
folgen. Dort ist a = b = 1, und beyde sind verschmol-
zen, ehe c = 1 hinzukommt. Hiezu fügen wir jetzt die
Voraussetzung, eine ältere, dem c gleichartige Vorstel-
lung H = 0,88 sey im Gemüthe vorhanden; sie kann von
den verschmolzenen a und b auf die statische Schwelle
gebracht seyn, laut §. 70. Es ist
hier ; und S = 1; also wenn in
mσ auch σ = S, dennoch mσ = 0,561 .. immer noch viel
kleiner als H; woraus folgt, daſs in keiner Zeit die Grö-
ſse von H auf die aufstrebende Bewegung desselben Ein-
fluſs haben wird. Alles jetzt zu berechnende gilt also
eben so wohl für jedesH\>0,561 …
Die erste Zeit ist bey ihrem Ablauf = 0,2469; also
e— t = 0,782 .., dies multiplicirt mit 1 + t = 1,2469 giebt
0,975; daher y = 0,561 × 0,024.. = 0,013.. am Ende der
ersten Zeit; eine noch sehr kleine Gröſse; ungefähr der
zehnte Theil dessen was von a und b zusammengenom-
men jetzt schon gehemmt ist; denn dies beträgt nach
§. 80. 0,1228..
Für die zweyte Zeit ist q = 0,4386; S' = 0,8772..;
C = S' — qΣ° = 0,7812; und die zweyte Zeit bey ih-
rem Ende = 1,316. Hieraus ;
; ϓe— t = 0,0035; demnach
y = 0,304.. am Ende der zweyten Zeit. Höher steigt y
nicht, weil von jetzt an sich a und b gegen c wieder he-
ben. Es befindet sich aber auch jetzt in einem ganz an-
dern Verhältnisse zu dem Spielraum, in welchen H sich
ausdehnen konnte. Denn jetzt, da die Hemmungssumme
zwischen a, b, und c, ganz gesunken, beträgt die hinzu-
[275] gekommene Hemmung von a und b, die obige Gröſse
= 0,561; aber y = 0,304 ist hievon mehr als die Hälfte.
Man sieht also in dem Beyspiel bestätigt, was aus dem
Gesetze des Hervortretens vorauszusehen war, daſs die
aufsteigende Vorstellung Anfangs weit von dem
ihr gesteckten, oder vielmehr ihr voranschrei-
tenden Zielpuncte, entfernt bleiben, nach eini-
ger Zeit aber ihm bedeutend näher kommen, ob-
schon immer noch eine gute Strecke zwischen
sich und ihm, offen lassen werde.
Wir haben in diesem Beyspiele nur Eine plötzliche
Veränderung des Bewegungsgesetzes der hervortretenden
Vorstellung bemerken können; es ist jedoch offenbar,
daſs jeder der im vorigen Capitel bemerkten Uebergänge,
auch hier Einfluſs haben müsse. —
§. 83.
Da in den Bewegungen der Vorstellungen a, b, und
c ein wichtiger Unterschied davon abhängt, ob c neben
a und b auf die statische Schwelle fallen müsse oder
nicht: so haben wir den Einfluſs dieses Umstandes auf
das Hervortreten der ältern Vorstellung zu prüfen.
Es sey also jetzt c auf die statische Schwelle zu sin-
ken bestimmt: so verrückt sich der statische Punct für
a und b nicht; ihr Wideraufstreben beschleunigt von An-
fang an das Sinken der Hemmungssumme; und für t gilt
gleich Anfangs die Formel nach §. 77.
Diese aber kann für eine nähere Bestimmung der im
§. 82. für die nachfolgenden Zeiten gebrauchten angese-
hen werden, wenn C = S' = c gesetzt wird, wobey denn
noch q seinen gehörigen Werth nach den Umständen des
§. 77. bekommt. Hieraus wird
Denn ϒ ist jetzt = 0, weil beym Anfang der Zeit noch
nichts hervorgetreten ist. Aber unsre Formel läſst sich
jetzt besser als vorhin zusammenziehn; sie wird
S 2
[276]
Hier offenbart sich sogleich, daſs der Anfang des
Hervortretens genau eben so geschieht, wie wenn c nicht
auf der statischen Schwelle wäre; nämlich proportional
der Hemmungssumme = c, und dem Quadrate der Zeit
(wobey noch hier, und auch im vorigen §., hinzuzufügen
ist, daſs auch m mit c oder S wächst und abnimmt.)
Hingegen im Fortgange zeigt sich eine Abweichung, die
von den Brüchen , näher bestimmt wird.
Es ist q ein ächter Bruch; sein Werth liegt also zwi-
schen 0 und 1; für q = 0 ist , für q = 1 wird
. Für diese letzte Gränze wäre das
allgemeine Glied der eingeklammerten Reihe
wozu nämlich der Bruch gehören würde. Ge-
nau dasselbe allgemeine Glied folgt im §. 82. aus der
Entwickelung von 1 — (1 + t) e— t; also wären beyde Rei-
hen ganz dieselben. Nun aber ist q niemals = 1, son-
dern allemal kleiner; auch
um so kleiner, je kleiner q; also ist in der
jetzigen Reihe jedes Glied nach dem ersten, kleiner als
das entsprechende in der Reihe des vorigen §.; und unsre
Reihe überhaupt convergenter als jene.
Im Beyspiele les §. 77. war a = b = 1, c = ½, q = 0,61;
und die Zeit des Sinkens von a und b, das heiſst hier,
des Steigens von H, = 1,54… Auch m = 1 — q. Hier-
aus y = 0,106… Dies Beyspiel läſst sich mit dem des
vorigen §. um so eher vergleichen, da die Zeiten des
[277] Steigens beynahe gleich sind. Im Anfange des Steigens
verhält sich das Hervortretende im vorigen Beyspiele zu
dem im gegenwärtigen wie das dortige mS zu dem jetzi-
gen mc, oder wie 0,561:0,195; jenes beynahe das Drey-
fache von diesem; nahe so findet sichs am Ende wieder,
indem dort y = 0,304; hier y = 0,106 wird. Aber der Un-
terschied beyder Beyspiele beruht bloſs darauf, daſs dort
c = 1, hier c = ½ gesetzt ist. — Im Verhältniſs zu dem
ihm eröffneten Spielraum sehen wir H hier fast gerade so
weit hervortreten wie dort; beydemal nämlich um ein we-
nig über die Hälfte dieses Raums. Denn a und b sin-
ken im jetzigen Beyspiele zusammengenommen beynahe
um 0,2. Noch wollen wir wegen des Fortgangs in der
Zeit eine Vergleichung anstellen. Die erste Zeit im §. 82.
war 0,2469, nahe = ¼; setzen wir diese in unsre jetzige
Formel, so ist ; ;
nahe , etwas über 0,004, die
Gröſse in der Klammer wird demnach nahe 0,027; die-
ses multiplicirt mit ½.0,39 giebt y = 0,0053…, um so viel
ist also H hervorgetreten in der Zeit = ¼. Aber diese Zeit
hat sich mehr als versechsfacht, wann t = 1,54.. Dem
Quadrate der Zeit gemäſs sollte sich y bis zum 36 fachen
erhoben haben; so wäre es bis 0,19.. hervorgetreten. Al-
lein für t\> 1 gewinnen die höhern Potenzen von t, also
die folgenden Glieder der Reihe einen zu bedeutenden
Einfluſs. Endlich der verschiedene Fortgang in dem jetzi-
gen und dem vorigen Beyspiele wird nirgends klärer, als
am Ende der Zeit ¼. Denn hier ist das jetzige y be-
trächtlich mehr als ein Drittheil des obigen (jenes war
= 0,013, dieses ist = 0,0053). Ginge die Abweichung
von dem Verhältniſs 3 : 1 so fort; so würde ein solches
Verhältniſs am Ende nicht mehr zu bemerken seyn. Die
Formeln zeigen, daſs Anfangs das jetzige y der Propor-
tionalität mit dem Quadrate der Zeit näher bleibt als das
obige; aber im vorigen Beyspiele trat sehr bald ein an-
[278] dres Gesetz des Fortgangs ein, während in dem letzten
das ganze Steigen nach einerley Regel konnte vollbracht
werden.
§. 84.
In den beyden vorhergehenden §§. haben wir absicht-
lich einen wichtigen Umstand aus den Augen gesetzt, der
die erhaltenen Resultate einer Correctur unterwirft, den
wir aber erst jetzt ins Licht zu setzen unternehmen
können.
Da die ältere, wieder ins Bewuſstseyn tretende Vor-
stellung H, mit der neu hinzukommenden c, gleichartig
seyn soll: so kann es nicht fehlen, daſs, in dem Maaſse
wie ihr Zusammentreffen im Bewuſstseyn es möglich
macht, beyde mit einander verschmelzen. Hiedurch ent-
steht eine wachsende Totalkraft gegen a und b, wodurch
das Sinken derselben beschleunigt wird. Aber um desto
mehr gewinnt die Vorstellung H an Freyheit hervortreten
zu können; und wiederum desto schneller sinken a und
b, getrieben durch das Zunehmen jener Totalkraft. Man
braucht dieses nur auszusprechen, um fühlbar zu machen,
welche Schwierigkeiten uns erwarten, indem wir diese
Verschmelzung mit in die Rechnung bringen wollen.
Durch eine jede Verschmelzung entstehn eigent-
lich, aus der gegenseitigen Verstärkung beyder Ver-
schmelzenden, zwey Totalkräfte, die zum Theil in ein-
ander verschränkt sind; wie dieses in den letzten Capiteln
des vorigen Abschnittes hoffentlich wird klar genug gewor-
den seyn. In unserm gegenwärtigen Falle wird die ältere
Vorstellung verstärkt durch die neue, und gleichfalls die
neue durch die ältere. Allein die erste dieser beyden Ver-
stärkungen werden wir nicht in Rechnung zu bringen ha-
ben; aus folgendem Grunde. H ist nach der Voraussetzung
unter der statischen Schwelle neben a und b; es bestimmt
also für sich allein nichts an dem Zustande dieser bey-
den Vorstellungen. Es wird auch nichts daran bestimmen
können, so lange es nicht durch die erhaltene Verstär-
[279] kung über die statische Schwelle erhoben wird. Aber
selbst wenn dies geschieht: was kann davon die Folge
seyn? Es bekommt nun einen statischen Punct, zu wel-
chem es aufstreben sollte, einwirkend auf a und b, da-
mit diese sinken müſsten. Nun sind gegenwärtig a und
b schon längst im Sinken begriffen; gedrängt durch c,
haben sie dem H schon weitern Spielraum gegeben, als
den es in seinem allmähligen Steigen benutzte. Denn es
erhellt aus den vorigen Untersuchungen offenbar, daſs
auch ohne Rücksicht auf die Verschmelzung zwischen H
und c, sich a und b schneller bewegen, als H ihnen
nachkommen mag. Folglich, was die Verstärkung des
H durch c bewirken könnte bey a und b, das ist schon
geschehn ehe es gefordert wird; und daher ist die eine
jener beyden Totalkräfte für jetzt als unwirksam zu be-
trachten.
Es bleibt aber die andre; es bleibt die Verstärkung
des c durch das allmählig mit ihm verschmelzende y;
und dadurch wirkt jetzt H allerdings mit auf a und b.
Dies ists, was wir bisher aus der Acht lieſsen, und jetzt
in die Rechnung einführen müssen. Wie wird dieselbe
dadurch abgeändert werden?
Die Gleichung des §. 82.,
verbleibt in ihrer Kraft; auch ist noch ferner x eine
Function von t, aber nicht von t allein, sondern zugleich
von y selbst.
Nämlich x ist = mσ, dem, was von a und b zu-
sammengenommen gehemmt wird. Nun war m bisher
nach §. 77. Jetzo bekommt c
eine Verschmelzungshülfe, deren Quantum ursprünglich
= y, die aber nur in dem Verhältniſs, in welchem c nicht
gehemmt. ist, sich mit c verbinden kann. (Man sehe
§. 63.) Es sey z = demjenigen, was am Ende der Zeit
t von dem sinkenden c noch im Bewuſstseyn gegenwär-
tig ist, so kommt für die Verschmelzungshülfe zunächst
[280] der Ausdruck . Diese muſs dem c, wo es vorkommt,
addirt werden. Demnach findet sich
Fragen wir nun nach dem Werthe von z, so hängt
wiederum dieses selbst von y ab. Denn
Endlich ist auch σ selbst einer Abänderung zu un-
terwerfen; denn nach §. 77. ergiebt sich σ aus der Glei-
chung (c — qσ) dt = dσ, und ,
wo ebenfalls für c zu setzen .
Wir sehen hieraus, daſs ; welche Bemerkung
uns den Weg der Rechnung bahnen muſs. Der Abkür-
zung wegen sey aβ2 + bα2 = f, α2β2 = g.
Die Gleichung verwandelt sich in fol-
gende:
und überdies ist
Was die erste dieser Gleichungen betrifft, so fällt
ins Auge, daſs sie von σ und fast ganz auf gleiche
Weise bestimmt wird, wie von y und . Ohne Zwei-
fel sind alle diese Gröſsen Functionen von t; setzen wir
nun zuvörderst , so wird y=e— t(∫ etftdt + C),
[281] und aus oder aus wird
σ = e— t(∫ et (ft + c)dt + C') = e— t∫ etftdt + c + C' e— t;
daher σ = y — Ce— t + c + C' e— t; weil aber sowohl σ als
y = 0 für t = 0, so ist c = C — C', daher endlich σ = y
+ c (1 — e— t).
Aus der zweyten Gleichung wird
In diese Gleichung muſs der eben zuvor gefundene
Werth von y substituirt werden; nämlich y=σ — c(1 — e— t).
Man setze 1 — e— t = u, (welches für t = 0 von selbst
= 0 wird) also y = σ — cu; überdies nehme man an:
daher auch
und wegen ,
Bringt man nun alle Glieder der Gleichung auf eine
Seite, und fängt an, die Coëfficienten zu bestimmen: so
findet sich zuerst fc3 + gc2 — (fc2 + gc) (A + c) = 0, oder
c — (A + c) = 0, das ist, A=0. Dies erleichtert die
Rechnung. Es findet sich nämlich weiter, wenn fc2 +
gc = π,
Die fernere Rechnung mag sogleich an das Beyspiel
des §. 77. geknüpft werden. In demselben waren a = b = 1,
[282]c = ½. Hieraus B = 0,0976; C = 0,0453; D = 0,033;
E = 0,0225; F ungefähr = 0,017 und G = 0,014. Da je-
doch diese Coëfficienten nicht genug convergiren, so sey
,
und man suche die Coëfficienten der Reihe
z' = A' + B'u + C'u2 + …
so findet sich
z' = 0,1024 — 0,0475u — 0,0125u2 — 0,0017 u3 — 0,002 u4,
und .
Die Resultate dieser Rechnung, zusammengestellt mit
denen des vorig. §., welche das gleiche Beyspiel ohne Rück-
sicht auf die Verschmelzung darbietet, sind nun folgende:
| nach §. 83. | verbessert wegen der Verschmelzung |
| für t = ¼, y = 0,0053 | y = 0,0053 |
| ‒ t = ½, y = 0,01893 | y = 0,01897 |
| ‒ t = 1, y = 0,0584 | y = 0,05999 |
| ‒ t = 1,54; y = 0,106 | für t = 1,52; y = 0,1088 |
Es ist von selbst offenbar, daſs im Anfange die Ver-
schmelzung der wieder hervortretenden Vorstellung mit
der eben jetzt gegebenen keinen Einfluſs haben könne.
Dieses zeigt sich in den Formeln dadurch, daſs, so wie
oben y nur vom Quadrate und den höhern Potenzen der
Zeit abhängend gefunden war, auf gleiche Weise auch
hier die Reihe für y mit dem Gliede Bu2 anhebt, indem
A = 0 ist. (Nämlich u = 1 — e— t = t — ½t2 + …) Bis zu
t = ½ sind nun die Resultate beyder Rechnungen beynahe
nicht zu unterscheiden (auch die Zahl 0,01897 ist in der
letzten Ziffer nicht ganz sicher, weil die Coëfficienten hier
nicht scharf genug berechnet sind). Weiterhin zeigt sich
die Wirkung der Verschmelzung zwar merklich, doch, in
diesem Beyspiele wenigstens, fast unbedeutend gering.
Weder y erhebt sich beträchtlich mehr, noch auch die
Zeit ist um vieles verkürzt. Wegen des letzten Puncts ist
zu bemerken, daſs nach der Formel σ = y + c(1 — e— t),
[283] für t = 1,52 auch σ = 0,4994… also ganz nahe = ½ = c
wird; das heiſst, daſs hier das Ereigniſs aufhört, indem
nun der Hemmung Genüge geschehn ist, und a und b
wieder anfangen aufzustreben. Die Dauer des Ereignisses
zeigt sich jetzo kürzer, weil die Verstärkung des c durch
das ihm verschmelzende y mehr Spannung in die entge-
gengesetzten Kräfte bringt, wodurch die Hemmung beschleu-
nigt, so wie das Leiden von a und b um ein geringes ver-
mehrt, und das von c um ein geringes vermindert wird.
Um etwas beträchtlicher mag die Wirkung der Ver-
schmelzung für ein gröſseres c ausfallen, welches a und
b mehr niederdrückt, und dadurch die Vereinigung der
ältern und der neuen Vorstellung befördert. Allein da
die Rechnungen äuſserst beschwerlich werden würden,
wenn man sie allen denen, in dem vorigen Capitel nach-
gewiesenen Abänderungen in dem Verlauf der Hemmung
anpassen wollte, so muſs an diesem Orte die gegebene
Probe genügen; aus der sich schlieſsen läſst, daſs man
eine leidliche Uebersicht über den Gang der wiederer-
weckten Vorstellung auch ohne Rücksicht auf die Ver-
schmelzung, schon durch das Verfahren der §§. 82. und
83., erlangen könne.
§. 85.
Bevor wir die weiteren Folgen des bisher betrachte-
ten Ereignisses überlegen, ist es dienlich zur Vorberei-
tung, einer an sich geringfügigen Unrichtigkeit zu erwäh-
nen, welche unter gewissen Umständen sich in die eben
geendigte Berechnung einschleichen könnte.
Die Verschmelzungshülfe war der Gegenstand die-
ser Berechnung; in so fern sie die Wirkung der Vor-
stellung c vermehrte. Da nun y zunimmt, während z,
das im Bewuſstseyn übrige von dem sinkenden c, sich
fortdauernd vermindert, so könnte für das Product yz ein
Maximum entstehn. Alsdann wäre dieses Maximum die,
ferner nicht mehr veränderliche Verschmelzungshülfe; die
Unrichtigkeit der vorstehenden Rechnung aber bestünde
[284] darin, für die ganze Dauer des Ereignisses die Gröſse
als Verschmelzungshülfe zu behandeln, welches sie doch
nur bis zur Erreichung des Maximum hätte darstellen
können.
Bedenkt man, wie langsam Anfangs y zunimmt, wie
unwahrscheinlich es daher ist, daſs das Maximum bald
eintrete; wie kurz die Zeit, auf welche der Irrthum sei-
nen Einfluſs äuſsern könnte, endlich wie gering die Ab-
weichung der Gröſsen selbst ausfallen würde: so wird
man es schwerlich hier für zweckmäſsig halten, diesen
Punct einer schärfern Bestimmung zu unterwerfen. —
Eine zweyte Bemerkung über die nämliche Verschmel-
zungshülfe betrifft nun schon die Folgen des Hervortre-
tens einer ältern Vorstellung, während die gleichartige
neue gegeben wurde.
Man hat gesehen, daſs die hervortretende bei weitem
nicht den ganzen, ihr frey gegebenen Raum, während
des Sinkens von a und b, wirklich ausfüllt. Was wird
geschehen, indem nun a und b wiederum beginnen zu
steigen? Der Punct, bis zu welchem y steigen konnte,
bewegt sich rückwärts; und zwar mit einer Geschwindig-
keit, die gleich Anfangs am gröſsten ist, gemäſs dem
schon bekannten Bewegungsgesetze von a und b; es wird
daher zwar y noch fortfahren, sich um etwas weniges zu
erheben, bis es jenem ihm vorgehaltenen Zielpuncte gleich-
sam begegnet; allein sein Aufstreben erleidet gleich An-
fangs eine plötzliche Verminderung, und der schnell ver-
minderte Zuwachs muſs sehr bald in eine rückgängige
Bewegung übergehen. — Hiezu kommt noch ein kleiner
Verlust für y, in so fern es als zum Theil verschmolzen
mit c, auch mit diesem zugleich zum Sinken genöthigt
wird.
Aber die wichtigsten Folgen des Hervortretens von y
zeigen sich jetzo, indem es wiederum sinken soll. Da
nach §. 77. sich a und b zwar zu ihrem statischen Puncte
erheben, aber mit abnehmender Geschwindigkeit, so daſs
[285] sie diesen Punct nie völlig erreichen: so würde schon des-
halb y sowohl als c nie völlig durch a und b aus dem
Bewuſstseyn verdrängt werden; vielmehr könnten beyde
mit etwa hinzutretenden neuen Vorstellungen, so fern
ihnen diese nicht entgegengesetzt wären, sich compliciren,
und dadurch Schutz finden gegen die Nothwendigkeit zur
Schwelle zu sinken. — Allein durch die Verschmelzung
von y und c sind zwey Totalkräfte gebildet worden. Wir
haben bis jetzt aus dem, im Anfange des §. 84. angege-
benem Grunde nur diejenige Verschmelzungshülfe in Be-
tracht gezogen, welche c erlangt. Die Wirkung dersel-
ben ward gering befunden; und sie wird selten viel bedeu-
tender werden, weil die Hülfe sich nur vergröſsert, wenn
c selbst schon gröſser ist; so daſs dadurch verhältniſsmä-
ſsig nicht viel gewonnen wird. Nur wenn c gegen a und b
sehr nahe den Werth hat, der es gerade zur statischen
Schwelle bestimmt, dann wird auch eine geringe Ver-
schmelzungshülfe bedeutend, indem dadurch c einen sta-
tischen Punct im Bewuſstseyn bekommt. Dieser Umstand
nun ist in Hinsicht des y immer von Wichtigkeit. Wir
haben angenommen, y sey ein Theil der Vorstellung H,
deren Gröſse aber während des Steigens von y nicht in
Betracht komme (§§. 81. 82.) Es ist uns erlaubt, vor-
auszusetzen, H sey zwar unter der statischen Schwelle
neben a und b, aber nur um ein weniges; so wird die
Verschmelzungshülfe , die es erlangt, es jetzo über
die statische Schwelle erheben können. Oder,
ist H für diesen Erfolg zu klein: so wächst dagegen
der Werth des Ausdrucks , das heiſst, dem kleineren
H wird eine gröſsere Hülfe zu Theil, durch welche es
dem Werthe beträchtlich näher gebracht wird, den es
haben müſste, um über der Schwelle hervorzuragen. Ge-
winnt also auch die wiedererweckte Vorstellung nicht so
viel, daſs sie sich im Bewuſstseyn halten könnte, so ge-
winnt sie doch bedeutend an der Möglichkeit, dahin
[286] gebracht zu werden. Angenommen, es komme noch
eine dritte, dem y und dem c gleichartige Vorstellung
hinzu, oder wie wir im gemeinen Leben sagen würden,
es werde die nämliche Wahrnehmung mehrmals, kurz
hinter einander wiederhohlt (kurz hinter einander, da-
mit nicht anstatt a und b andre widerstrebende Vorstel-
lungen eintreten): so giebt die dritte Vorstellung eine
neue Verschmelzungshülfe für y, die, nun wenigstens, leicht
hinreichen kann, um dem H wieder eine Stelle im Be-
wuſstseyn zu versichern.
Auf diese Weise werden häufig schwächere
Vorstellungen ergänzt, ältere angefrischt. Nur
gar zu schwach dürfen sie nicht seyn. Wenn H so klein
ist, daſs es von mσ bald übertroffen wird (man sehe §. 82.),
alsdann vermindern sich in dem Ausdrucke , y und
H zugleich; und die ganz schwache Vorstellung erhält
auch nur eine unbedeutende Hülfe. Während daher sol-
che Vorstellungen, die ursprünglich eine gewisse Stärke
besaſsen, immer fortleben, weil sie immer neue Nahrung
durch jede Wiedererweckung bekommen: verschwinden
andre, die nicht so viel Kraft haben, um sich die Nah-
rung zuzueignen; sie verschwinden, obgleich sie nicht aus-
getilgt werden; das heiſst, sie dauern fort als Strebungen
im Grunde der Seele, von denen aber im Bewuſstseyn
keine Wirkung erscheint.
Merkwürdig ist, daſs die wiederhohlten Wahrneh-
mungen eines und desselben Objects keinesweges zu ei-
ner einzigen Vorstellung von dem Einen Objecte zusam-
menflieſsen. Wir haben nicht, wie man im gemeinen
Leben wohl glaubt, von jedem Dinge nur Eine Vorstel-
lung, sondern der Vorstellungen bleiben so viele, als der
Wahrnehmungen. Denn nur ihrem kleineren Theile
nach verschmelzen die frühern Wahrnehmungen mit den
späteren; und nur das Verschmolzene kann für
eine einzige, aus den mehrern Wahrnehmungen
entsprungene Vorstellung gehalten werden. —
[287]
Noch mit einem Worte muſs hier der minderen Ge-
gensätze und der Complicationen Erwähnung geschehn. —
Falls c, und das ihm gleichartige H, nicht vollen Ge-
gensatz gegen a und b bilden, so wird durch c nur ein
geringeres Sinken von a und b bewirkt; also auch nur
ein geringeres Hervortreten von H oder von y. Es scheint
also, daſs die, unsern jetzigen Vorstellungen näher lie-
genden, schwerer wieder erweckt werden, als die entfern-
tern. Dagegen bedenke man, daſs dergleichen näher lie-
gende Vorstellungen bey weitem schwächer seyn müssen,
wofern sie sich der Voraussetzung gemäſs neben a und
b auf der statischen Schwelle befinden sollen.
In Hinsicht der Complicationen werde angenommen,
es seyen anstatt a und b ein paar Complexionen A und B
im Bewuſstseyn vorhanden; das hinzukommende c, eine
einfache Vorstellung, widerstreite nur Einem Elemente
von jeder Complexion; H und folglich y seyen dagegen
aus einem andern Continuum von Vorstellungen; und
mit den andern Elementen jener Complexionen im Wi-
derstreite. Weil A und B sinken müssen, indem c ein-
tritt, so entsteht für H ein ähnlicher Spielraum wie oben,
und indem es sich erhebt, eine Complication mit c. Die-
ses Ereigniſs würde also dem zuvor betrachteten völlig
ähnlich seyn, paſste nicht dasselbe auf gleiche Weise
auf alle Vorstellungen des gleichen Continuum wozu H
gehört. Also, zwar irgend welche frühere Vorstellungen
dieser Reihe müssen wieder erweckt werden, falls sie nicht
Hindernisse im Bewuſstseyn antreffen; welche es aber
seyn werden, hängt von den gegenseitigen Verhältnissen
ihrer Stärke ab. Immer werden sie zufälligen Gedanken
und Einfällen gleichen, indem sie mit der erweckenden
weder Aehnlichkeit noch Zusammenhang haben. Wo
schon Aufmerksamkeit vermöge gewisser herrschender
Vorstellungen gebildet ist, da kommen dergleichen Ein-
fälle nicht weit; und machen sich kaum bemerklich, weil
sie im Entstehen erdrückt werden. —
Endlich noch eine Erinnerung an die mechanischen
[288] Schwellen. Wir haben am Schlusse des vorhergehenden
Capitels bemerkt, daſs während eines fortdauernden Flusses
neu eintretender Vorstellungen, die älteren eine Zeitlang auf
der mechanischen Schwelle verweilen können. Wird eine
solche wieder erweckt durch eine ihr gleichartige neue,
so muſs ihr Hervortreten eine viel gröſsere Lebhaftigkeit
zeigen, als beym Hervortreten von der statischen Schwelle
vorkommen mag. Eigentlich aber ist das Phänomen von
ganz andrer Art als das vorige. Dort wurde eine Vor-
stellung auf kurze Zeit hervorgerufen, die wieder sinken
muſste; hier wird eine Vorstellung wieder hergestellt, die
nur auf eine Zeitlang aus dem Bewuſstseyn verdrängt
war. Dort, welches sehr merkwürdig ist, erschien die
gerufene Vorstellung sogleich, aber schwach, und mit all-
mählig anwachsender Geschwindigkeit; hier kann sie nicht
sogleich erscheinen; kommt sie aber, so geschieht es wie
mit einem Stoſse, dessen Geschwindigkeit jedoch nicht
anhält, sondern bald abnimmt. Dieses einzusehn, darf
man nur die bekannten Bedingungen des Phänomens er-
wägen. Die auf der mechanischen Schwelle verweilende
Vorstellung kann sich nicht eher erheben, als bis eine
gewisse Hemmungssumme gesunken ist; sobald dieses ge-
schehen, steigt sie von selbst mit einer Geschwindigkeit,
die Anfangs am gröſsten ist und sich bald vermindert.
Durch das Hinzukommen der gleichartigen neuen Vor-
stellung wird jene eigentlich nicht geweckt, es wird nur
das Sinken derer beschleunigt, welche ihrem Hervortre-
ten hinderlich waren. Also nicht eher, als bis dieses
Sinken derjenigen Hemmungssumme genügt, um derent-
willen jene Vorstellung auf der mechanischen Schwelle
verweilt, kann die letztere hervortreten; die Verweilung
dauert noch einige, wenn gleich sehr kleine und vielleicht
unmerkliche Zeit; dann springt die nun befreyte Vorstel-
lung hervor, und verschmilzt sehr schnell in einem be-
deutenden Grade mit der neuen Wahrnehmung.
Anmerkung. Auf den schwierigsten Gegenstand
dieses Capitels, die Untersuchung des §. 84., habe ich
die
[289] die Rechnung mit Reihen, die nach Potenzen mit irra-
tionalen Exponenten fortschreiten, angewendet, welche
man in meiner Abhandlung de attentionis mensura finden
kann; bey dieser Methode lassen sich durch Zusammen-
ziehung mehrerer Glieder in Eins, noch Vortheile anbrin-
gen, die ein Mathematiker leicht finden wird. Allein ich
habe kein auffallendes Resultat erhalten, obgleich ich die
Voraussetzung dahin abänderte, daſs statt einer einzigen,
viele gleichartige Vorstellungen zugleich reproducirt wer-
den. Die Gegenstände dieses, und der beyden folgen-
den Capitel müssen in besondern Monographien bearbei-
tet werden. Hier will ich die Aufmerksamkeit des Le-
sers nicht ermüden; sondern sie sparen für das folgende
Capitel, worauf aller Fleiſs muſs gewendet werden, wenn
man sich den Kern dieses ganzen Buchs zueignen will.
Die feinern Rechenkünste werden von selbst ihren Platz
einnehmen, wenn man erst begriffen hat, wozu sie dienen
sollen.
Viertes Capitel.
Von der mittelbaren Wiedererweckung.
§. 86.
Eine Untersuchung von groſser Wichtigkeit steht be-
vor; die nicht bloſs dasjenige unter sich befaſst, was ge-
wöhnlich mit dem Namen der Association belegt wird,
sondern die mit ihren Folgen tief in die, durch falsche
Metaphysik verdunkelten, Fragen von den Formen der
Erfahrung hineingreift. —
Sey es nun, daſs eine Vorstellung von der mecha-
nischen Schwelle sich von selbst erhebt, oder daſs ihr
vergönnt ist, von der statischen Schwelle emporzukom-
men, indem eine hinzutretende ihr Freyheit schafft; im-
I. T
[290] mer wird sie dasjenige mitzubringen trachten, was mit ihr
durch irgend welche Verschmelzungen und Complicatio-
nen verbunden ist. Dieses Verschmolzene oder Compli-
cirte wird also mittelbar wiedererweckt; und hier ist der
Ort, auch dieses Phänomen zu untersuchen, da es ge-
wöhnlich die zuvor betrachteten begleiten wird.
Ein ganz einfaches Problem soll zur Vorbereitung
dienen, das zwar in der Wirklichkeit niemals so frey von
Nebenbestimmungen vorkommen kann, das aber die Haupt-
puncte sogleich ins Licht setzen wird.
Von zweyen Vorstellungen P und Π seyen verschmol-
zen oder complicirt die Reste r und ρ; beyde Vorstellun-
gen mögen darnach auf irgend eine Weise zur Schwelle ge-
sunken seyn. Auf einmal verschwinde für P alles Hinderniſs:
so richtet sich P ins Bewuſstseyn auf nach dem im §. 81.
angegebenen Gesetze. Aber Π empfängt von P eine Ver-
schmelzungs- oder Complications-Hülfe = (§§. 63. 69.).
Diese Hülfe ist eigentlich ein Bestreben der Vorstellung
P (oder der Seele, in so fern sie das Vorstellende von
P ist), welches Streben dahin gerichtet ist, Π wieder auf
den Verschmelzungs- oder Complicationspunct zu erhe-
ben, das heiſst, von Π wiederum das Quantum ρ ins Be-
wuſstseyn zu bringen. So lange dies Ziel nicht erreicht
ist, dauert das nämliche Streben fort. Die eigentliche
Stärke desselben ist = r; aber nur in dem Grade kann
es wirken auf Π, weil es nur in diesem Grade von die-
ser Vorstellung ist angeeignet worden. Ueberdas nimmt
das Bestreben ab in dem Grade wie ihm Genüge ge-
schieht; worüber die Betrachtungen der §§. 74. und 81.
zu wiederhohlen sind.
Wäre es nun möglich, daſs die Vorstellung P für
sich allein wirkte, nicht gehindert und nicht begünstigt
von andern Kräften: wie würde das, aus dieser Wirk-
samkeit entspringende Ereigniſs beschaffen seyn?
Erstlich, wie schon erwähnt, P würde sich selbst ins
[291] Bewuſstseyn erheben, nach einem Gesetze, welches, wenn
p das wieder Hervorgetretene von P am Ende der Zeit t
bedeutet, in folgender Gleichung liegt: (P—p) dt = dp;
oder
Aber zweytens: die Hülfe würde zugleich auf Π,
welches wir hier als völlig träge und passiv ansehn, der-
gestalt einwirken, daſs, wenn das von Π hervorgetretene
= ω, folglich das bis zum Verschmelzungspuncte noch
hervorzurufende = ρ—ω, alsdann diese Gleichung gelten
müſste:
Die Brüche und sind hier bloſse Zahlen, womit
die Kraft r multiplicirt wird. Es ergiebt sich nun
Dieses Resultat zeigt uns vollkommen klar, wie ω
von ρ, r, t, und Π abhängt.
Erstlich: das von Π am Ende der Zeit t Hervorge-
tretene, nämlich ω, verhält sich gerade wie dasjenige
Quantum von Π, welches mit P verschmolzen war; näm-
lich wie ρ.
Zweytens: je gröſser der mit verschmolzene Theil
von P, um so geschwinder nähert sich das Hervorgetre-
tene seiner Gränze = ρ.
Drittens: je gröſser Π selbst, um so langsamer wird
es durch die Hülfe gehoben.
Viertens: die Wirkung der Hülfe endigt nie, obgleich
sie ihrem Ziele bald sehr nahe kommen kann.
Wir wollen jetzt die Geschwindigkeiten vergleichen,
jene, mit der sich P selbst erhebt, und diese, womit die
Hülfe wirkt. Die Geschwindigkeiten sind bekanntlich in
der Psychologie allemal gleich den Kräften, als deren
T 2
[292] unmittelbarer Abdruck; die beyden Kräfte aber sind
und . Nun ist
und
Man kann beydes gleich setzen, so findet sich
Nämlich um diesen Zeitpunct hat die Anfangs weit
gröſsere Geschwindigkeit, mit der P sich selbst erhebt,
so weit nachgelassen, daſs die geringere, aber gleichför-
miger anhaltende, womit Π gehoben wird, jene einhohlen,
und übertreffen kann. Aber dieser Zeitpunct rückt un-
endlich weit hinaus, Falls Π=r, und er findet gar nicht
Statt, wofern r\>Π.
Es sey P=Π=1; ; so kommt für die Zeit,
da beyde Geschwindigkeiten gleich werden, t=2,77 …
Um diese Zeit ist , und beynahe. Aber die
Gränze, oder das Ziel für p ist =1, und für ω ist es
; also fehlt dort noch 1/16, hier noch ⅛ daher die
Hülfe nun mehr eilen muſs, zum Ziele zu gelangen; auch
wird ihre Geschwindigkeit zuletzt unendlich gröſser, als
die mit ihr verglichene. —
Um nun die Untersuchung fruchtbar zu machen,
nehmen wir an, es seyen mit einer und derselben Vor-
stellung P viele andre verschmolzen und complicirt; von
verschiedener Stärke; auch seyen theils mit dem gleichen
Quantum von P verschiedene Quanta jener andern Vor-
stellungen, theils mit verschiedenen Theilen von P einer-
ley oder verschiedene Theile der übrigen verbunden.
Sind die mit P Verbundenen von verschiedener Stärke,
so bekommt Π verschiedene Werthe. Hier muſs man
sich vor einem möglichen Misverständniſs hüten. Es
würde eine falsche Auslegung der obigen Sätze seyn,
[293] wenn man glauben wollte, gröſsere Π würden überhaupt
weniger und schwerer durch die Hülfen gehoben, als klei-
nere. Freylich werden sie das, wenn ihr Rest, der mit
P verschmolzen ist, gleich geringfügig ausfällt, wie der
von schwächeren Vorstellungen. Aber es ist längst ge-
zeigt, daſs die Reste stärkerer Vorstellungen in einem
weit gröſseren Verhältnisse die Reste der schwächeren zu
übertreffen pflegen; als in welchem Verhältnisse die Vor-
stellungen selbst verschieden sind. Daher wird unter
gleichen Umständen ein gröſseres Π auch ein viel be-
trächtlicheres ρ bey sich führen. Und so muſs der dritte
der obigen vier Sätze vielmehr so gedeutet werden: ein
gröſseres Π wir durch die Hülfe gleichförmiger
und anhaltender gehoben; eine schwache Vor-
stellung hingegen eilt mehr, und ersetzt für
eine kurze Zeit durch ihre Geschwindigkeit
den Mangel der Stärke.
Damit r verschiedene Werthe annehmen möge, oder,
damit eine und dieselbe Vorstellung P sich in verschie-
denem Grade mit verschiedenen verbunden finde: kann
man voraussetzen, es sey P allmählig gesunken, und
während der Zeit des Sinkens mit mehrern Vorstellun-
gen, die nach einander ins Bewuſstseyn traten, ver-
schmolzen. Es mögen aber auch die verschiedenen Grade
der Hemmung und der Stärke bey gleichzeitigen Vorstel-
lungen, den erwähnten Unterschied hervorgebracht ha-
ben. Immer wird dieses die Folge seyn: Jede der mit
verschiedenen Quantis von P Verbundenen,
hat ihre eigne Geschwindigkeit; das gröſsere
Quantum ergiebt die gröſsere, aber auch schnel-
ler abnehmende Geschwindigkeit.
Unmittelbar aus der angegebenen Differentialglei-
chung ist
Es können also Π, ρ, und ω unverändert bleiben,
[294] alsdann stehen r und t unter einander im umgekehrten
Verhältniſs.
Beyspiel: Es habe, wie vorhin, die Vorstellung
P eine Stärke =1; ein Theil von ihr, sey ver-
schmolzen mit , einem Theile von Π=1; aber ein
andrer Theil von P, , sey verschmolzen mit ,
einem Theile von einer andern Vorstellung Π'=1; man
sucht ω für und t=1, desgleichen ω' für
und t=2. Es findet sich ω=ω'=0,196… In dem
Zeitpuncte aber, da ω' diesen Werth erlangt, oder für
t=2, und , ist ω=0,316…
Mit sey überdies noch verschmolzen ρ″=3,
ein Theil von Π″=4; so wird für t=1, ω″=0,1818…
Aber für t=2 wird ω″=0,352… Vergleicht man ω
mit ω″, so sieht man, daſs beyde Gröſsen in ihrem Laufe
einander irgendwo durchkreuzen. Denn für t=1 ist
ω\>ω″, aber für t=2 findet sich ω\<ω″.
Es kann also eine und die nämliche Vor-
stellung durch zwey verschiedene Hülfen auf
zwey andre Vorstellungen dergestalt wirken,
daſs von diesen eine, schneller im Bewuſstseyn
hervortretende, nach einiger Zeit zurückbleibt
hinter der andern, die Anfangs langsamer her-
vorgehoben wurde.
§. 87.
Die hervorgehobene Vorstellung wurde bisher als
gänzlich passiv betrachtet. Diese Ansicht ist immer dann
gültig, wann sich die erwähnte Vorstellung auf ihrem sta-
tischen Puncte, also auch, wann sie sich auf der stati-
schen Schwelle befindet. Denn die Kraft, womit sie von
diesem Puncte sich selbst höher heben möchte, wird völ-
lig aufgewogen durch die entgegenstehenden Kräfte, mit
denen sie sich ins Gleichgewicht gesetzt hat. Welches
Widerstreben aber die Hülfe zu überwinden habe, da-
von bald ein Mehreres.
Setzen wir hingegen, die hervorgehobene Vorstellung
werde zugleich mit der hebenden von aller Hemmung,
[295] oder auch nur von einem Theile derselben befreyt; sie
steige daher mit jener zugleich, aber nicht bloſs durch
ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der
statischen Schwelle empor: so kann man sehr leicht zu
einem Irrthume verleitet werden, der mich wenigstens
lange geblendet, und mir den Zugang zu einem Haupt-
puncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat.
Es scheint nämlich, man müſste nun zu dem obigen
Differential dω noch dasjenige addiren, welches das Stei-
gen durch eigene Kraft ausdrückt; also wenn Π auf ein-
mal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaaſsen:
Die Folge hiervon wäre, daſs ω nun geschwinder als
sonst, oder daſs ein gröſseres ω in bestimmter Zeit her-
vorträte.
Allein es ist falsch, daſs durch ein Zusammentreffen
von Kräften, die nicht schon zuvor eine Gesammtkraft
gebildet haben, die Geschwindigkeit könnte vermehrt wer-
den. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine Hülfe,
oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr
Zeitmaaſs, in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem
vorigen §. kennen. Wenn nun das, was sie in diesem
Zeitmaaſse zu vollbringen im Begriff war, durch eine an-
dre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie
zum Mitwirken gar nicht gelangen; eben weil in jedem
Augenblicke ihr Streben mehr als befriedigt wird. Wir-
ken demnach mehrere solche Kräfte zusammen: so be-
stimmt die stärkste derselben für sich allein die Ge-
schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist
eine Befriedigung ihres Strebens durch glücklichen Zu-
fall vorhanden. Und dieser ihr Zustand muſs im Be-
wuſstseyn eine Bestimmung abgeben, die den Gefühlen
anheim fällt, — ohne Zweifel als ein Lustgefühl, —
während in Ansehung des Vorgestellten sich dadurch
nichts verändert.
Wenn nun Π zugleich durch eigne Kraft steigt, in-
[296] dem seinem Reste ρ die Hülfe des Restes r von P zu-
kommt: so ist seine eigene Bewegung (Falls man nicht r,
und folglich P, sehr groſs annimmt), ohne Zweifel die
geschwindeste; und die Hülfe, anstatt hiezu mitzuwirken,
wird der Sitz eines Lustgefühls, dergleichen sich allemal
bey rasch fortschreitender und leicht gelingender Thätig-
keit einfindet; besonders in solchen Fällen, wo das im
Groſsen geschieht, hundertfach und tausendfach ver-
vielfältigt, was wir hier im Kleinen, als ob nur zwey oder
drey Vorstellungen in der Seele wären, elementarisch un-
tersuchen.
§. 88.
An der Betrachtung des §. 86. fehlt noch etwas sehr
Nöthiges, nämlich die Erwägung des Widerstandes, den
die hervorgehobene Vorstellung finden wird.
Es sey Π auf der statischen Schwelle neben den im
Bewuſstseyn gegenwärtigen Vorstellungen a und b, so
kann es nicht ausbleiben, daſs eine Hemmungssumme
entstehe, indem P auf Π wirkt, und es durch die Hülfe
emporhebt. Diese Hemmungssumme sey = αω, indem α
den Hemmungsgrad des Π gegen a und b bezeichnet (der
nach §. 52. zu bestimmen ist), und ω seine obige Be-
deutung behält. Das Sinken der Hemmungssumme gleicht
jenem im §. 77., dergestalt, daſs sie vertheilt werde, auf
a, b, Π, und die Hülfe; daſs aber auch zugleich das
Wieder-Aufstreben von a und b zu ihrem statischen
Puncte (auf welchem sie Anfangs mögen gewesen seyn),
den Verlauf der Hemmung beschleunige.
In wiefern Π und die Hülfe zusammen dahin wir-
ken, daſs nicht Π von dem schon erreichten
Puncte wieder herabsinke, in so fern sind sie an-
zusehn als eine einzige Kraft. Dieselbe heiſse `Π, also
. Weil a und b verschmolzen seyn wer-
den, so sind die Hemmungsverhältnisse für die drey Kräfte
`Π, a, und b, nach §. 68. zu bestimmen. Diese Ver-
hältnisse sind constant, weil die Kräfte es sind; die
[297] Hemmungssumme aber ist veränderlich. Was von `Π
zu hemmen ist, verhalte sich zu dem was a und b zu-
sammengenommen verlieren müssen, wie m:n; so sind
m und n beständige Gröſsen.
Da die Hemmungssumme =αω, so ist in jedem Au-
genblicke zu vertheilen αωdt. Auf `Π komme mαωdt, auf
a und b zusammen nαωdt. Was von a und baus dem
eben angegebenen Grunde nach Verlauf der Zeit t
gehemmt ist, wird =nα∫ωdt. Dies ist eine Kraft, welche
die Hemmung beschleunigt *). Durch sie sinkt in jedem
Augenblicke dt. nα∫ωdt. Vertheilt auf `Π, und auf a
und b zusammen ergiebt sie, für jenes, eine Hemmung =
mdt.nα∫ωdt; für diese, eine Hemmung =ndt.nα∫ωdt.
Es ist also die augenblickliche Hemmung für a und b zu-
sammen, nicht bloſs, wie vorhin angegeben, =nαωdt;
sondern dazu kommt noch ndt.nα∫ωdt. Folglich ist
auch nach Verlauf der Zeit t die Kraft, wodurch die
Hemmung beschleunigt wird, nicht bloſs nα∫ωdt, son-
dern noch darüber n∫dt . nα∫ωdt. Auch die letztre
Gröſse bewirkt einen Druck, der zu vertheilen ist; der
die Hemmung von a und b vermehren wird; der eben
damit abermals einen Zuwachs an Hemmung ergeben wird.
Sichtbar sind wir hier in einen Cirkel gerathen, der eine
unendliche Menge in einander eingewickelter Integrale er-
giebt, welche zu berechnen ganz unmöglich wäre.
Es ist also, fürs erste wenigstens, nothwendig, An-
näherungen und Gränzbestimmungen zu suchen. Wenn
wir annehmen, die Kraft nα∫ωdt drücke nur bloſs auf
`Π allein, so machen wir ohne Zweifel dω zu klein; als-
dann aber vermeiden wir den Zuwachs der Hemmung für
a und b, und wir bekommen eine Rechnung, die sich
ausführen läſst. Nehmen wir hingegen Rücksicht auf die
Vertheilung, so daſs wegen jener Kraft die augenblickli-
che Hemmung von `Π, =mdt.nα∫ωdt; und ignoriren
wir alsdann den Zuwachs der Hemmung wegen des Druk-
[298] kes, der auf a und b fällt: so machen wir dω zu groſs,
weil die Hemmung zu klein wird. Der wahre Werth
von dω muſs zwischen beyden Gränzen eingeschlossen
seyn. Die Rechnung für beyde Gränzen ist nur Eine,
bey welcher ein beständiger Factor zugesetzt und wegge-
lassen wird. Für die erste Gränze ist die Gleichung
oder nach Wegschaffung des Integral-Zeichens
Es sey ; und nach der Division mit dt werde
für das noch zurückbleibende dt gesetzt , so kommt
Durch die Substitution p=uω, dp=udω+ωdu, wird
nach gehöriger Rechnung
Aus ist , und folglich
Weil die Gröſsen r, Π, m, n, kein vestes Verhält-
niſs unter einander haben, ist es im Allgemeinen zweifel-
haft, ob dieses Differential durch Logarithmen, oder durch
eine Circular-Function integrirt werden müsse. Im er-
sten Falle kommt das Integral auf die Form
wo
[299]
Man darf keine Constante beyfügen. Denn
ist unendlich für t=0, indem alsdann auch ω=0; da-
her verschwinden η und ϑ neben u, und ist =0.
Es ergiebt sich nun , daher
Demnach
Setzt man e—εt=x, so ist —εe—εt dt=dx, also
. Nun ist zu integriren
oder . Weil
auch η—ϑ=—ε, aus den oben angegebenen Werthen
dieser Gröſsen, so wird dies Differential
und das Integral
das heiſst
Um hier die Constante zu bestimmen, reicht die For-
derung ω=0 für t=0 nicht zu, denn der Factor 1—e—εt
erfüllt dieselbe, was auch C seyn mag. Allein man gehe
zum Differential zurück. Für t=0 muſs nicht bloſs ω,
sondern auch ∫nαωdt=0 seyn, also ist alsdann .
Aber aus dem gefundenen Integral ist
Das erste Glied ist =0 für t=0, denn es enthält
[300] den Factor 1—x; das zweyte ist = — Cdx = + Cεdt.
Also ; und hieraus . Demnach end-
lich
Man kann ω noch bequemer durch ϑ ausdrücken,
weil nach dem obigen η + ε = ϑ. Nämlich
[A]
Diese Rechnung gilt der ersten Gränze; sie ergiebt
aber auch die zweyte, wenn man für n setzt mn, und dar-
nach die Werthe von ε, η, ϑ, abändert; doch ist dies
nicht willkührlich, sondern ergiebt sich erst, wenn man
bestimmte Zahlen in die Rechnung einführt.
Aus dem so sehr einfachen Ausdrucke für ω läſst
sich überdies mit leichter Mühe ∫ωdt, ja auch ∫dt∫ωdt
finden; und man wird hieraus die Correcturen beurthei-
len können, welche noch anzubringen wären. — Auch
ohne genauere Untersuchung läſst sich, allenfalls durch Ver-
gleichung mit den Differentialen der Linien, Flächen, und
Körper, wohl vermuthen, daſs in der Reihe der ω, ∫ωdt,
∫dt∫ωdt, u. s. w. immer die nachfolgenden später als
die vorhergehenden einen merklichen Werth erlangen
werden.
Das erste Merkwürdige, was das gefundene Integral
uns darbietet, ist, daſs ω=0 sowohl für t=0 als für
t=∞; daher wir nach seinem gröſsten Werthe zu su-
chen haben. Derselbe tritt ein (wie man durch die Dif-
ferentiation findet), für . Offenbar eine kurze
Zeit, da ϑ nur wenig gröſser wie η; und ε nicht leicht
ein sehr kleiner Bruch werden kann.
Wenn also eine und dieselbe Vorstellung
mehrere andre hervorhebt, so hat nicht bloſs,
wie vorhin schon gefunden, jede der hervorge-
hobenen ihre eigne Geschwindigkeit, sondern
[301] auch ihren eignen Zeitpunct, da sie im Be-
wuſstseyn ihr Maximum erreicht. Die Bestätigung
durch die innere Erfahrung dringt sich von selbst auf.
Löset man ω in eine Reihe auf, so sind die ersten
Glieder:
Da die verschiedenen Potenzen von t eine nach
der andern bedeutend werden, so zeigt sich hier der
Anfang der Erhebung von ω. Es bestätigen sich die Be-
merkungen des §. 86. über die Abhängigkeit des ω von
ρ, r, Π. Es verhält sich ω gerade wie ρ (abgerechnet
den geringen Einfluſs, welchen ρ auf die Gröſsen m und
n haben kann); und je gröſser , um so gröſser, aber
auch um so schneller abnehmend, ist die Geschwindig-
keit, mit der ω hervortritt. Noch ist zu bemerken, daſs
ω im ersten Anfang weder von m noch n, dann zuvör-
derst von m, und zuletzt von n abhängig wird; indem n
erst bey t3 und den folgenden Gliedern Einfluſs bekommt.
Noch bequemer läſst sich bey dem Werthe von t,
der zum Maximum von ω gehört, die Auflösung in eine
Reihe benutzen, um zu sehen, wie dieser Werth durch
die beständigen Gröſsen bestimmt wird. — Man setze
so ist jener Werth
von
Wenn f2 nahe =nα, so ist sogleich offenbar, daſs die
Zeit fürs Maximum, wächst, wenn f, und folglich auch
wenn abnimmt; und umgekehrt. Es sey nun weiter
[302], so ist dieselbe Zeit
; aber wenn , ist
, also indem f gewachsen, ist t kleiner geworden.
Es sey ferner , so ist jene Zeit
. Die eingeklammerte Reihe ist aus der Kreis-
rechnung bekannt; sie ist … wenn π = dem
Halbkreise für den Halbmesser =1. Also die gesuchte
Zeit … daher nun t gröſser geworden, in-
dem f abnahm. So bestätigt es sich immer, daſs ein grö-
ſseres schneller, aber auch minder anhaltend wirkt.
Es sey eine und dieselbe Vorstellung P
durch verschiedene ihrer Reste r, r', r″ u. s. w.
verschmolzen mit verschiedenen Vorstellungen
Π, Π', Π″ u. s. w. und der Gröſse nach Π=Π'=
Π″ u. s. f. auch alle übrigen Umstände gleich:
so ist die Folge der Zeitpuncte, worin Π, Π', Π″,
durch die Hülfen zum Maximum gehoben wer-
den, dieselbe, wie die Folge der Reste r, r', r″
u. s. w. vom gröſsten bis zum kleinsten.
Die Formel für jenes t, woraus wir diesen sehr fol-
genreichen Satz gefunden, ist um so brauchbarer, da sie
allgemein ist, indem sie die unmögliche Wurzelgröſse
nicht mehr enthält, welche oben durch die Integration
vermittelst der Logarithmen in dem Falle entsteht, daſs
f2\<nα.
Nur für ω selbst müssen wir noch auf diesen Fall
einen bequemen Ausdruck suchen. Oben ergab sich
Im erwähnten Falle kommt das Integral auf folgende
Form:
[303]wo
also
und
Da unendlich für t=0 und ω=0, so ist C
die Zahl, welche den Bogen von 90° für den Halbmes-
ser =1 ausdrückt; oder es ist in der gewöhnli-
chen Bedeutung von π. Aber ;
daher wird nun
Es ist , und εdt cos. εt=d . sin.εt, also
oder
woraus
Die Constante muſs wie vorhin aus für t=0 be-
stimmt werden. Es ist
worin man den gefundenen Werth von ω substituiren
muſs. Derselbe ist = Csin. εt für t=0, weil alsdann die
Exponentialgröſse =1. Aber Csin. εt ist selbst =0 für
t=0; das Glied also, worin diese Gröſse keinen ihr ge-
genübertretenden Divisor antrifft, der zugleich auch =0
wird, muſs wegfallen. Hingegen ist ein
solcher Divisor; daher findet sich
[304]
Da cos. εt=1, für t=0, so ist endlich ;
welches, verglichen mit dem schon bekannten Werthe
, endlich ergiebt . Demnach ist nun voll-
ständig
[B.]
Es kann nur zur Rechnungsprobe dienen, wenn wir
auch hieraus die Zeit für das Maximum von ω suchen.
Aus
wird ε cos. εt=f sin. εt; also , oder
, welches in eine Reihe zu entwickeln ist.
So findet sich
Da nun , so ist , und
wo man nur nöthig hat, statt zu schreiben
, um die vollkommene Identität dieses Aus-
drucks für t mit jenem vor Augen zu haben, der sich
aus dem obigen ergab.
§. 89.
Die Berechnungen des vorigen §., wiewohl nur
Gränzbestimmungen, haben uns die wichtigsten Auf-
schlüsse, über den Einfluſs von r, ρ, Π, und über das
Maximum, schon gegeben; und es mag scheinen, wir
könnten uns damit für die jetzige Absicht begnügen. Al-
lein
[305] lein bey einer Untersuchung, worauf weiterhin so vieles
gebaut werden soll, wäre es mindestens doch unschick-
lich, die schon nahe liegende Auflösung des Problems nicht
vollends zu erreichen. Die gefundenen Gränzen sind zu
weit aus einander, als daſs sie für eine Berechnung von
ω gelten könnten; auch die Zeit für das Maximum ist
noch nicht berechnet, denn die Formel dafür erhält zwey
verschiedene Werthe, je nachdem man sie der einen
oder der andern von den Gränzbestimmungen anpaſst, die
für ω gemacht sind.
Zu der ursprünglichen Differentialgleichung müssen
wir zurückgehn, und dieselbe genauer als zuvor angeben.
Aus den oben bemerkten Gründen ist eigentlich
und so weiter ins Unendliche.
Man fasse die ersten drey Glieder zusammen; das
Integral davon ergeben die Formeln des vorigen §, wenn
in denselben mn statt n gesetzt wird. Man nehme fer-
ner an (was aus obigen Gründen zu vermuthen, und
was sich sogleich bestätigen wird), das Integral der er-
sten drey Glieder sey, besonders für eine kleine Zeit, von
ω nicht weit verschieden; man setze dasselbe statt ω in
∫dt∫ωdt; so wird man die Integration des vierten Glie-
des vollführen können, und dadurch eine Verbesserung
des vorigen Werths von ω erhalten. Man verfahre eben
so mit den folgenden Gliedern; man benutze, Falls es nö-
thig scheint, die schon gefundenen Verbesserungen jedes-
mal bey den noch zu suchenden.
Dieses, schon oben angedeutete Verfahren, müssen
wir jetzt vollziehen, um zu sehen, wohin es führen möge.
Den, in der Formel [A] angegebenen Werth von
ω lösen wir der Bequemlichkeit wegen in eine Reihe auf,
und setzen F, so ist
I. U
[306] folglich
Die Integrale des vierten, fünften, und sechsten Glie-
des von dω sind also zusammengenommen folgende:
F.
Und dieses ist die ganze Verbesserung für ω, Falls
man nicht t7 und noch höhere Potenzen von t in Rech-
nung bringen will. Denn erstlich, das siebente Glied
von dω ergiebt eine Reihe, die mit t7 anfängt. Zwey-
tens, will man ∫dt∫dt∫ωdt aus sich selbst verbessern,
so hat man zu dem anfänglichen Werthe von ω, noch
und das Folgende, mit gehörigem Zeichen
und Coëfficienten hinzuzufügen, und daraus von neuem
∫dt∫dt∫ωdt zu suchen; wobey denn auſser dem vori-
gen Werthe noch ein Glied erscheinen wird, das t7 ent-
hält. Daraus ist auf die folgenden, dieser ähnlichen, Ver-
besserungen zu schlieſsen.
§. 90.
Um nun den Sinn und die Absicht dieser Rech-
nungen deutlicher zu machen, wollen wir ein Beyspiel
durchführen. Man wird sehen, daſs die Formeln, so fern
dadurch bestimmte Zahlen gesucht werden, noch sehr
unvollkommen, aber für unsern Zweck, das Gesetz eines
psychologischen Ereignisses im Allgemeinen kennen zu
lernen, mehr als hinreichend sind.
Gemäſs der Voraussetzung des §. 88. soll Π auf
[307] oder unter der statischen Schwelle seyn neben a und b.
Es sey demnach a=b=1, und Π=0,7. Auch .
Daraus ergiebt sich . Die Hem-
mungsverhältnisse, also m und n, sollen nach §. 68.;
oder, wenn wir α=1 setzen, indem zugleich nur a und
b unter sich, nicht aber mit `Π verschmolzen sind, nach
§. 69. bestimmt werden. Demnach wird m=0,42496;
n=1—m=0,57504; nm=0,24437.
Nun theilt sich die Rechnung; denn es giebt für sie
zwey Wege. Es ist , also f2=
0,32446. Folglich f2\>nm und \<n; daher die Wurzel-
gröſse im ersten Falle, nachdem nm für n ge-
setzt worden, möglich, im andern, wo n allein stehn
bleibt, unmöglich. Der erste Fall gehört für die For-
mel A, der zweyte für die Formel B. Wir müssen
also beym Gebrauch der ersten Formel überall mn für
n setzen.
Man weiſs aus den Entwickelungen des §. 88., daſs,
wenn n stehn bleibt, dω zu klein gemacht wird; oder,
was dasselbe sagt, daſs wir uns alsdann die Hemmung,
gegen welche die zu reproducirende Vorstellung aufstei-
gen muſs, ein wenig gröſser denken, wie sie wirklich ist.
Diese Annahme giebt die leichteste Rechnung; man wird
wohl thun, sie zuerst zu brauchen, um gleichsam den
Umriſs des psychologischen Ereignisses zu erhalten. Es
findet sich für diesen Fall ε=0,50058. Daher aus εt=
- die Zeit des Maximum =1,4403
- hieraus das Maximum selbst =0,20734
Ferner wird in der Formel B, ω=0 für εt=π, wo π
wie gewöhnlich, den Bogen von 180° bedeutet. Hieraus
ergiebt sich
für ω=0, t=6,276.
Will man nun noch dem Steigen und Sinken des ω
U 2
[308][genauer] zusehn, so kann man dasselbe für willkührliche
Werthe von t berechnen. Z. B.
- für t=1 findet sich ω=0,19374
- ‒ 1,4403 hatten wir ω=0,20734
- ‒ 2 wird ω=0,19231
- ‒ 3 ‒ ω=0,12889
- ‒ 4 ‒ ω=0,06638
- ‒ 5 ‒ ω=0,02465
- ‒ 6 ‒ ω=0,00322.
Allein dies ist nur die erste Gränzbestimmung. Den-
ken wir uns die Hemmung kleiner, so werden wir ge-
zwungen, die erste Formel A, sammt ihrer Verbesse-
rung im §. 89., anzuwenden. Für die Zahlen unseres
Beyspiels wird
(A) ...... ω=0,63105(e—0,28664 t —e—0,85260 t)
und die Verbesserung=—0,00209t4+0,00023t5—0,00005t6
Hieraus ergiebt sich z. B.
- für t=1, ω=0,20286
- ‒ t=1,4403, ω=0,22481
- ‒ t=3, ω=0,06908
Nach dieser Rechnung steigt also ω etwas höher,
und sinkt etwas schneller als nach der vorigen. Man
darf sich darüber nicht wundern, denn die Integrale
∫ωdt, ∫dt∫ωdt, u. s. w. wodurch ω in den spätern Zeit-
theilen vermindert wird, müssen wachsen, wenn ω An-
fangs gröſser genommen war.
Diese zweyte Rechnung ist nun der Wahrheit näher
als die erste; aber sie läſst sich nicht füglich so ausfüh-
ren, daſs man den Zeitpunct fürs Maximum und für ω=0
mit Genauigkeit angeben könnte. Daran ist nun auch
für jetzt wenig gelegen, genug, wenn wir wissen, daſs es
für die reproducirte Vorstellung ein, von der Stärke der
Vorstellungen, dem Grade ihrer Verbindung und Hem-
mung abhängendes Maximum giebt, und daſs sie, nach-
dem es erreicht worden, ungefähr noch einmal so viel
Zeit braucht, um wieder völlig zu sinken. Aber für die
Zukunft können wir nicht bestimmen, was in Dingen die-
ser Art wichtig oder unwichtig sey; denn oft ist Beach-
[309] tung der kleinsten Umstände nöthig, um die Wahrheit
zu finden. Daher will ich die Untersuchung noch einen
Schritt weiter führen.
§. 91.
Auf unser Problem paſst in groſser Allgemeinheit
eine Methode, welche Euler lehrt in den institutt. calc.
integralis Vol. II. Sect. 2. cap. 2. Wir wollen uns indes-
sen begnügen, das Verfahren an einer Differentialglei-
chung des dritten Grades zu üben; da wir von jener, im
§. 89. auseinandergesetzten Formel für dω, so viel Glie-
der nehmen können als wir wollen. Denn ungeachtet die
Methode schön ist durch ihre Einfachheit, so wird bey
höhern Graden die Anwendung doch beschwerlich; theils
wegen der Auflösung einer höhern Gleichung, theils be-
sonders wegen der Bestimmung vieler Constanten.
Es sey aus §. 89.
Das Uebrige lassen wir weg, um nicht über das dritte
Differential hinauszugehn. Es wird nämlich hieraus
oder wenn ,
Dieser Gleichung genügt die Form ω=eλt; daraus
nämlich wird p=λeλt; q=λ2eλt; . Die
Substitution dieser Werthe, nebst der Division der Glei-
chung durch eλt giebt
Jede der drey Wurzeln dieser Gleichung kann zur
Bestimmung von λ dienen; doch jede einzeln würde nur
ein particuläres Integral geben. Allein sie lassen sich auch
alle drey verbinden. Es seyen die Wurzeln =λ0, λ', λ″,
[310] so genügen der Gleichung die für ω zu setzenden
Werthe eλ0t; eλ't; eλ″t; aber auch der Werth
indem aus der Natur der aufgegebenen Gleichung klar
ist, daſs, Falls die aus den drey Bedeutungen von λ ent-
springenden Werthe ω=P, ω=Q, ω=R, einzeln ge-
nommen, derselben angemessen sind, dann auch gesetzt
werden könne
Es entsteht nämlich alsdann eine Summe dreyer Glei-
chungen, deren jede für sich, daher auch ihre Summe =0 ist.
So entspringt hier aus dreyen particulären Integralen
das vollständige; zu erkennen an den drey willkührlichen
Constanten, deren gerade so viele zu einer Differential-
Gleichung des dritten Grades gehören.
Hat die cubische Gleichung für λ zwey unmögliche
Wurzeln, so muſs die Form der daraus entspringenden
Glieder um etwas abgeändert werden. Es sey
und folglich so ist
.
Es ist
und
Die Constanten B und C sind noch unbestimmt.
Man nehme an, es sey
; so ist B+C=B'; ; und
Man kann die neuen Constanten abermals verändern.
Es sey B' = B″ sin. φ, C'=B″ cos. φ, so folgt:
demnach
Die Constanten A, B″, φ, müssen aus ω,
für t=0 bestimmt werden. Alsdann nämlich ist aus der
gegebenen Gleichung
[311] Aber aus der eben gefundenen ist alsdann
;
verwandelt sich alsdann in
und endlich
geht über in
Also haben wir die drey Gleichungen
woraus
.
Angewandt auf das obige Beyspiel, ist λ zu suchen
aus der Gleichung
Die mögliche Wurzel ist nahe =—1,03375=λ°
die beyden unmöglichen sind
also μ=—0,05272, und ν=0,36420.
- Es findet sich A=—0,33682
- φ=77° 50' 45″
- arc. φ=1,35866
- B″=0,34454
demnach
Für t=1 ergiebt sich hieraus ω=0,2032… wozu
[312] man aus §. 89. die Verbesserung etc.
nehmen muſs (denn die obere Reihe der Verbesserung
ist jetzt in der Formel schon inbegriffen), um den Werth
ω=0,2029 zu erhalten, der oben schon gefunden wurde.
Für das Maximum und für ω=0 die Zeit zu finden,
ist wegen der Verwickelung transcendenter Gröſsen in ω
und dω, nicht ganz leicht. Man kann jedoch entweder
durch Versuche, oder nach Anleitung der obigen For-
meln, und der aus ihnen gefolgerten für den Zeitpunct
des Maximum, sich der Bestimmung der erwähnten Zei-
ten nähern, und alsdann mit Hülfe des Taylorschen Lehr-
satzes die Näherung weiter treiben.
Was die Zeit fürs Maximum anlangt: so suche man
im Beyspiele zuerst ω für t=1,5; wegen der Angabe im
§. 90. Es findet sich ω=0,2264; etwas gröſser als nach
der obigen Berechnung; obgleich von der Verbesserung
nach §. 89. das erste Glied mit zugezogen ist. Ferner
gehört zu diesem Zeitpuncte ., also ist
hier das Maximum noch nicht erreicht. Nimmt man nun
von der Reihe des Taylorschen Satzes nur die ersten
beyden Glieder, und setzt , den Zuwachs der
Zeit bis zum Maximum aber =t', so kommt
also
,
woraus t'=0,075… also die ganze Zeit bis zum Maxi-
mum =1,575… Dafür wird ω=0,2268. Es würde leicht
seyn, aus mehrern Gliedern der Taylorschen Reihe ein
genaueres Resultat zu erhalten; hier kam es nur auf
kurze Bezeichnung einer brauchbaren Methode an.
Um den fernern Gang der Gröſse ω kennen zu ler-
nen, insbesondere um zu sehen, ob sie eben so schnell
abnehme, als sie zunahm, verdoppeln wir die eben ge-
fundene Zeit, und suchen ω für t=3,15. Es findet sich
[313]ω=0,11… Also hat es noch ungefähr die Hälfte sei-
nes gröſsten Werthes.
Allein jetzt ist es in einem schnellern Abnehmen be-
griffen. Durch Versuche findet man es =0 ungefähr
für t=3,7 .. mit welcher Angabe wir uns hier begnügen
können. Eine genaue Bestimmung dieses Zeitpuncts wird
immer mühsam bleiben.
§. 92.
Was von a und b zusammengenommen gehemmt
wird, das läſst sich, nach §. 88. so ausdrücken:
nα ∫ ωdt+n2α ∫ dt ∫ ωdt+n3α ∫ dt ∫ dt ∫ ωdt etc.
Fragt man nach dem Maximum dieser Gröſse: so ist
offenbar, daſs das Differential des ersten Gliedes =0
ist für ω=0, daſs aber alsdann die übrigen Glieder ihr
Maximum noch nicht erreicht haben. Also bis ω=0
wächst die Hemmung von a und b immer fort. Hier
aber ist sie wirklich am gröſsten, weil hier die Bedeu-
tung der Formel aufhört, indem ω nicht negativ werden
kann. — Auch ohne Formel folgt es so aus der Natur
der Sache. Die hemmenden Vorstellungen, indem sie
schon ω zum Sinken bringen, müssen doch auch allemal
ihren Theil von der vorhandenen Hemmungssumme über-
nehmen. Nur erst, nachdem diese verschwunden, das
heiſst hier, nachdem ω wieder den Nullpunct erreicht hat,
können und müssen jene sich erheben.
Jetzt aber erhält auch die Bestrebung der Hülfe,
wodurch ω gehoben wurde, wiederum ihre ganze Span-
nung, indem sie nun so unbefriedigt ist, wie zu Anfang.
Es kommt daher wirklich, Falls nicht veränderte Um-
stände eintreten, zu einer Art von Oscillation, wie es die
Formeln für ω andeuten. Eine kleine Zeit muſs verflie-
ſsen, während welcher ω auf der Schwelle bleibt, weil
die Gewalt, womit es dahin gebracht ist, und durch die
es noch tiefer hätte sinken sollen, nicht eher nachlassen
kann, als bis a und b sich wieder etwas erhoben haben.
In dieser Zeit wird das helfende P, auf welches ein Theil
der Hemmung fällt, der schon vorhandenen, nur nicht
[314] plötzlich befolgten, Nöthigung zum Sinken, noch fort-
dauernd nachgeben. Aber bald muſs der Moment ein-
treten, wo P gespannt genug, a und b nachgiebig ge-
nug sind, damit ω wieder gehoben werden könne. Es
muſs jetzt abermals eine endliche Gröſse im Bewuſstseyn
erreichen, denn nicht anders kann es als Hemmungs-
summe einen neuen endlichen Widerstand finden, durch
den es wieder zum Sinken gebracht werde. Doch wird
es nicht so hoch steigen wie das erstemal, weil es sich
jetzo während einer noch vorhandenen Spannung der wi-
derstrebenden Kräfte erhoben hat. So weit ungefähr mö-
gen die Conjecturen reichen, die man hier ohne Berech-
nung wagen darf *). —
Wir sollten jetzo untersuchen, was erfolgen müsse,
wenn mit einer Vorstellung P, sich mehrere, Π, Π', Π″
u. s. w. verschmolzen finden, ja auch wenn diese unter
einander verbunden sind; oder, wenn Π' nicht mit P,
wohl aber mit Π verbunden ist, u. dgl. Allein statt des-
sen müssen wir vielmehr in dem Geschäffte, zu neuen
psychologischen Untersuchungen den Grund zu legen,
fortfahren.
Nur eine Bemerkung, welche bey den eben ange-
deuteten Untersuchungen, und noch bey manchen an-
dern in Betracht kommen wird, soll hier anhangsweise
eine Stelle finden.
§. 93.
Mehrere Vorstellungen, die durch verschiedene Ur-
sachen zur Schwelle gesunken waren, können entweder
durch die Wirkung der Verschmelzungs- und Complica-
tions-Hülfen, oder weil sie zugleich frey von einer Hem-
[315] mung werden, gleichzeitig wieder ins Bewuſstseyn hervor-
treten. Man würde sich irren, wenn man die Hemmung
welche sie jetzo wider einander ausüben, nach den ersten
Grundsätzen der Statik ermessen wollte. Dieselbe ist be-
trächtlich kleiner; denn die Hemmungssumme entsteht
jetzt nur allmählig durch das Steigen der entgegengesetzten
Vorstellungen, während sie bey solchen, die zugleich aus
dem ungehemmten Zustande sinken, gleich Anfangs voll-
ständig vorhanden ist, und ihre volle Wirkung äuſsert.
Eine ganz kurze Berechnung für zwey Vorstellungen, die
mit einander steigen, kann dies genugsam erläutern.
Dieselben seyen a und b; was von ihnen hervorge-
treten, heiſse α und β; der Hemmungsgrad sey =m.
So ist, wenn a\>b, die Hemmungssumme nach Verlauf
der Zeit t, oder S, =mβ. Davon sinkt im Zeittheilchen
dt der Theil mβdt; und dieser ist zu zerlegen in ,
welches von a, und in , welches von b gehemmt
wird. Nun würde ohne Hemmung das Steigen von b
ausgedrückt durch dβ=(b—β) dt; also mit der Hem-
mung
,
woraus wenn .
Also β nähert sich der Gränze . Es sey m=1,
a=b, so ist κ=1+½, und b und a können zusammen
steigen bis zu ⅔ ihres Werths. Eben diese Vorstellun-
gen, wenn sie aus dem ungehemmten Zustande mit ein-
ander sinken, müssen sich hemmen bis zur Hälfte ihres
Werths. Der Unterschied, der sich hier zeigt, ist be-
sonders merkwürdig wegen der innigern Verschmelzung,
die aus dem gemeinschaftlichen Steigen hervorgehn muſs.
Man denke an den Werth häufiger Wiederhohlung beym
Lernen, erneuerter Versuche im Forschen; und ganz be-
[316] sonders an den Unterschied der spätern und der frühern
Jahre in Ansehung dessen, was oftmals wiederkehrend
bearbeitet wird.
Fünftes Capitel.
Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen.
§. 94.
Es mag scheinen, daſs dieses Capitel hätte das erste
dieses Abschnitts seyn sollen; indem die Vorstellungen
erst entstehen müssen, ehe sie da seyn können. Aber
es wird sich bald zeigen, wie schwierig die vorstehenden
Untersuchungen ausgefallen wären, wenn wir in ihre Vor-
aussetzungen den zeitlichen Ursprung der Vorstellungen
aufgenommen hätten.
Der Gegenstand, den wir jetzt auffassen, gehört zu-
nächst der allgemeinen Metaphysik. Man wolle zuvör-
derst das dritte Capitel des ersten Abschnitts wieder
nachlesen; an dessen Ende der Satz vorkam, daſs die
Vorstellungen nichts anderes sind als Selbsterhaltungen
der Seele in ihrem eignen Wesen; wobey denn die Man-
nigfaltigkeit der Vorstellungen von der Mannigfaltigkeit
der Störungen herrührt, welchen die Seele in jeder Selbst-
erhaltung widersteht.
An den Begriff der Störung knüpft sich in der all-
gemeinen Metaphysik der Begriff des Zusammen; welches
ein unvollkommenes seyn kann, und alsdann Grade hat,
die auf das vollkommene Zusammen wie Brüche auf die
Einheit müssen bezogen werden.
Dem vollkommenen Zusammen entspricht die voll-
kommene Störung und die vollkommene Selbsterhaltung,
— welche letztere hier eine Vorstellung im Maximum der
Stärke seyn würde, dergleichen sich in der Erfahrung
[317] nicht nachweisen läſst. Gleichwohl, indem die Grade
des Zusammen auf Grade der Störung und auf Grade
der Selbsterhaltung hindeuten, muſs das Maximum der
Stärke, die eine Vorstellung erhalten könnte, als die
ideale Einheit angesehen werden, wovon jedes wirkliche
Vorstellen ein Bruch ist.
Wie die Seele gestört, und dadurch zu Vorstellun-
gen gebracht werde, ist nicht bloſs eine einfache meta-
physische, sondern zugleich eine höchst verwickelte phy-
siologische Frage, über welche ich an diesem Orte gänz-
lich schweigen muſs.
Hier aber bemerke man vorzüglich, daſs einmal
gebildete Vorstellungen in der Seele bleiben
(sonst könnte, nach den obigen Untersuchungen, nim-
mermehr ein Selbstbewuſstseyn zu Stande kommen); daſs
also, wenn eine gewisse Störung eine Zeitlang
dauert, alsdann das in jedem Augenblick neu
entstehende Vorstellen sich ansammelt, dem-
nach ein Integral ergiebt, wovon das augenblicklich er-
zeugte Vorstellen das Differential ist.
Dies Differential nun wäre constant, und sein Inte-
gral verhielte sich gerade wie die Zeit, wenn die augen-
blickliche Zunahme des Vorstellens sich immer gleich
bliebe. Alsdann aber ginge das ganze Quantum des an-
zusammelnden Vorstellens ins Unendliche, so wie die
Zeit.
Giebt es hingegen ein Maximum der möglichen Stärke
für jede Vorstellung, so sieht man auf den ersten Blick,
daſs die augenblickliche Zunahme, oder jenes Differen-
tial, sich verhalten muſs wie die Entfernung vom Maxi-
mum. Alsdann nämlich ist ursprünglich die Möglichkeit,
eine solche Vorstellung zu erzeugen, eine endliche Gröſse;
und diese Möglichkeit nimmt um eben so viel ab, als wieviel
das Quantum des schon erzeugten Vorstellens der näm-
lichen Art, beträgt. Wir werden dieselbe mit dem Na-
men der Empfänglichkeit bezeichnen. Sie sey ur-
sprünglich =φ; und folglich φ eine Constante; im
[318] Laufe der Zeit t werde erzeugt ein Quantum des Vor-
stellens =z, so beträgt am Ende von t die Empfänglich-
keit noch φ—z. Ferner die Stärke der Störung sey =β
(hiebey denke man sich die Stärke, mit der ein sinnli-
cher Eindruck gegeben wird, also die Helligkeit einer
Farbe, die Intensität eines Geruchs, eines Geschmacks,
eines Tons); auch bleibe β der Kürze wegen unverän-
dert: so haben wir die Gleichung
woraus
In unendlicher Zeit wird z=φ, oder erreicht das
fortdauernd anwachsende Vorstellen sein Maximum.
Ungeachtet der physiologischen Dunkelheiten der
sinnlichen Wahrnehmung werden wir die eben gefundene
Formel ferner zum Grunde legen. Sie enthält das ein-
fachste Gesetz über den Anwachs eines gleichartigen Vor-
stellens während der Dauer einer sinnlichen Affection,
was wir annehmen können, wenn wir nicht diesen An-
wachs der Zeit proportional glauben wollen. Dem wider-
spricht aber, nicht bloſs der allgemein-metaphysische
Grundsatz, daſs in jedem Wesen jede Selbsterhaltung,
die aus dem vollkommenen Zusammen dieses Wesens
mit einem andern Wesen hervorgeht, anzusehen ist als
die Einheit und zugleich als das Maximum, wornach die
minderen Selbsterhaltungen beym unvollkommnen Zusam-
men der nämlichen Wesen, abzumessen sind: — son-
dern auch die Erfahrung; welcher gemäſs, erstlich,
zwar jede Wahrnehmung eine kleine Zeit erfordert, wenn
das durch sie gewonnene Vorstellen einen endlichen Grad
von Stärke unter den übrigen Vorstellungen erlangen soll;
aber auch zweytens, eine Wahrnehmung, über
eine gewisse mäſsige Zeit hinaus verlängert,
keinen Gewinn für die dadurch entstandene
Stärke des Vorstellens mehr spüren läſst. Bey-
des wird man durch die eben gefundene Formel ausge-
drückt finden. — Man bemerke noch, daſs aus derselben
[319] die Stärke des augenblicklichen Anwachses des Vorstel-
lens, oder .
§. 95.
Aus dem Vorigen versteht sich von selbst, daſs eine
Vorstellung, die nicht gerade die erste ihrer Classe ist,
für das vorstellende Wesen, schon andere entgegenge-
setzte im Bewuſstseyn antreffen wird; und daſs sie von
der Hemmung durch dieselben zu leiden hat, schon wäh-
rend der Zeit ihrer allmähligen Erzeugung. Dieses er-
giebt die wichtige Folge, daſs die successiv erzeug-
ten Elemente des Vorstellens nicht vollständig
verschmelzen können; daſs also die aus ihnen
entspringende Totalkraft bey weitem nicht
gleich kommt der ganzen Summe des Vorstel-
lens.
Und hiemit haben wir nun den Gegenstand unsrer
nächsten Untersuchung. Es fragt sich nämlich: wie groſs
ist am Ende der Zeit t der eigentliche Gewinn der Wahr-
nehmung, die aus den unendlich kleinen Elementen er-
wachsene endliche Stärke der gegebenen Vorstellung? —
Um dieses zu beantworten, müssen wir vor Allem den
Verlauf der Hemmung des Wahrgenommenen während
der Wahrnehmung, näher betrachten.
Zunächst ist die veränderliche Hemmungssumme zu
bestimmen. Dieselbe sey =ν, so nimmt sie im Zeittheil-
chen dt, wegen der wirklichen Hemmung ab um νdt. Sie
nimmt aber auch zu um πβφe— βtdt, wenn π der Hem-
mungsgrad des Wahrgenommenen gegen die schon vor-
handenen Vorstellungen. Denn βφe—βt ist die Stärke
des augenblicklichen Anwachsens (§. 94.), und es ist kein
Zweifel, daſs die erst entstehende Vorstellung, welche,
Anfangs wenigstens, die schwächste von allen ist, selbst
mit in die Hemmungssumme eingehe; obgleich dieses
weiterhin sich ändern kann. (Man vergleiche §. 52.)
Demnach
[320]woraus .
Es können nun die früher im Bewuſstseyn vorhan-
denen Vorstellungen beym Anfange der Wahrnehmung
noch von ihrem statischen Puncte um etwas entfernt
seyn *); alsdann ist für t=0 nicht ν=0, sondern ν=S,
wo S den Rest bedeutet, der von einer frühern Hem-
mungssumme noch vorhanden ist. Folglich
und
Nur für β=1 ist , daher
alsdann .
Das Hemmungsverhältniſs ist ebenfalls veränderlich;
und zwar, wenn man die Sache genau nehmen will, auf
eine höchst verwickelte Weise. Denn erstlich: die frü-
hern Vorstellungen, noch in gegenseitiger Hemmung be-
griffen, sind in einem Mittelzustande angefangener und
noch nicht vollendeter Verschmelzung. (Vergl. §§. 68.
69. und 76.) Zweytens: diese Verschmelzung wird auf-
gehalten, und selbst vermindert, durch die hinzukommende
Wahrnehmung, welche den Conflict vermehrt. Drittens:
das Wahrgenommene ist eine veränderliche Kraft, die
gegen die Hemmung einen veränderlichen Widerstand
leistet.
Unsre Aufmerksamkeit ist jedoch hier nur auf den
letzten Umstand gerichtet; daher wir jene beyden ganz
ignoriren, welches um so eher erlaubt ist, weil statt der
schon geschehenen Verschmelzung die vorhandenen Vor-
stellungen etwas gröſser mögen gedacht werden; die wäh-
rend der Wahrnehmung noch zunehmende Verschmel-
zung
[321] zung aber kaum bedeutend seyn kann, eben wegen des
vermehrten Conflicts.
Bey nahe stehenden Vorstellungen hätten wir auch
noch die Verschmelzung vor der Hemmung in Betracht
zu ziehn (§. 72.). Allein wir können gröſsere Hemmungs-
grade voraussetzen, um auch diesen Umstand zu besei-
tigen.
Da wir nun bloſs den veränderlichen Widerstand
des Wahrgenommenen ins Auge fassen: so sey die Kraft,
welche dasselbe dem Druck der Hemmungssumme entge-
gensetzt, vorläufig =x; alsdann läſst sich der Bruch,
welcher das von dem Wahrgenommenen zu hemmende
Quotum bezeichnet, durch ausdrücken, wenn c
und `c ein paar Constanten sind, die man aus den frü-
hern Vorstellungen und den zugehörigen Hemmungsgra-
den herleiten muſs. (Man vergleiche §. 54., und daselbst
für drey Vorstellungen die Formel, welche das Ge-
hemmte der schwächsten Vorstellung anzeigt. Dieses ist
, das dortige abϑ heiſse hier `c, das
dortige bε+aη, womit die schwächste Vorstellung, dort c,
hier x, multiplicirt ist, — wird jetzo durch c bezeichnet.)
Nun aber tritt die gröſste Schwierigkeit hervor. Was
soll x seyn? Es wäre =z oder =φ(1—e—βt), wenn
am Ende der Zeit t alles während derselben Gegebene
als eine Gesammtkraft wirken, und sich der Hemmung
widersetzen könnte. Aber die Hemmung hat vom Anfang
an das Wahrgenommene verdunkelt; sie hat nur eine
mangelhafte Verschmelzung des später mit dem früher
gegebenen gestattet. Hätte sie jedes Element des Vor-
stellens, so wie es erzeugt war, auch vollständig auf die
Schwelle des Bewuſstseyns niederdrücken können, so
wäre gar kein Widerstand vorhanden, denn die Summe
aller vereinzelten, unendlich kleinen Elemente, vermag gar
nichts wider die vorhandenen endlichen Kräfte. Irgend
etwas von Totalkräften muſs durch Verschmelzung jener
I. X
[322] Elemente gebildet worden seyn. Aber wiederum nicht
Eine Totalkraft; denn auch was schon verschmolzen war
zu einer endlichen Gröſse, das muſste dennoch fortdau-
ernd sinken, wenn schon während des Sinkens noch in
stets vermindertem Grade verschmelzend mit dem Nach-
folgenden.
Wir nehmen hier zu Gränzbestimmungen unsere Zu-
flucht. Nämlich x ist kleiner als z, aber gröſser als z—Z,
wenn Z das Gehemmte vom Wahrgenommenen am Ende
der Zeit t bedeutet. Es wäre x=z—Z, wenn bloſs
z—Z verschmolzen wäre, und eine Totalkraft gebildet
hätte. Wegen der vor Ablauf der Zeit t schon zu Stande
gekommenen, aber unter sich nicht vollkommen vereinig-
ten endlichen Kräfte, die einen eben so unvollkommen
concentrirten Widerstand gegen die Hemmung leisten,
muſs x etwas gröſser seyn, denn es soll sie alle reprä-
sentiren. Indessen ist offenbar die Voraussetzung x=z—Z
weniger unrichtig als x=z.
Nun würde die letztere Annahme geben:
hingegen die erstere giebt
das heiſst
Nun läſst sich zwar am leichtesten in-
tegriren; allein bey der minder richtigen Annahme wollen
wir uns hier gar nicht aufhalten *).
Die Differential-Gleichung könnte Glied für Glied
integrirt werden, wenn nicht czdZ bey gehöriger Substi-
[323] tution sich verwandelte in cφdZ—cφe—βtdZ, in wel-
chem letztern Gliede die veränderlichen Gröſsen vermengt
sind.
Verlangt man keine groſse Genauigkeit (dergleichen
die Rechnung ihrer ganzen Anlage nach nicht zuläſst),
so kann man in cφe—βtdZ anstatt dZ setzen .
Folgendes ist alsdann der Gang der Rechnung.
Erstlich muſs man integriren. Durch
Substitution der Werthe für ν und z entsteht hieraus
Es sey e—βt=x, woraus ; so folgt
.
Das Integral, so genommen, daſs es für t=0 ver-
schwinde, ist
ferner .
Hier muſs für β ein Werth in Zahlen angenommen
werden. Es sey β=½. So wird das Integral
.
Nach dieser Vorbereitung nehme man die ganze vor-
gegebene Differentialgleichung. Sie ist
[324]
Da nun ∫ βe—βtdt=1—x, und ∫ e—tdt=1—x2,
(das letztere wegen β=½); so kommt
oder nach Weglassung dessen was sich aufhebt:
.
Um Beyspiele zu berechnen, setzen wir zuvörderst
φ=10 (obgleich eigentlich φ als Einheit zu betrachten,
die aber durch ihren zehnten Theil gemessen werden
mag), auch sey c=10, `c=25 (welche Zahlen man un-
ter andern erhalten kann, wenn man ein paar frühere
Vorstellungen a und b, jede =5, und alle Hemmungs-
grade gleich annimmt), endlich S=1, π=1; so wird
;
; endlich ,
und log.nat.4=1,38629… Demnach wird die Formel:
.
Man sieht sogleich, daſs für t=∞, Z einen endli-
chen, sehr mäſsigen Werth erlangt. Derselbe ist =4,199…
Aber diesem Werthe nähert sich Z sehr bald. Schon
für t=3 ist Z=2,964… Für t=1/10 findet sich Z=
0,1085.
In der ersten der oben angeführten Abhandlungen
habe ich aus der Differentialgleichung, ohne
in dieselbe zu setzen, auf eine hievon ganz verschiedene,
sehr mühsame Weise, ein kleines Täfelchen berechnet,
worin die zusammen gehörigen Werthe von z, Z, und
z—Z sich bey einander finden. Es ist folgendes:
[325]
Zu diesem Täfelchen, welches unter den oben er-
wähnten Gränzbestimmungen diejenige ergiebt, die der
Wahrheit am nächsten kommt, gehört noch folgendes,
minder vollständige, zur Andeutung der andern Gränze,
aus .
[326]
Vergleicht man mit beyden Täfelchen die vorhin ge-
fundenen Werthe von Z: so sieht man, daſs dieselben
zwischen den Gränzen liegen; wie natürlich, indem bey
der hier gebrauchten Methode beyde Gränzen, vermöge
der gemachten Substitution, , gewissermaa-
ſsen vermischt worden.
Diese Methode giebt also wahrscheinliche Werthe;
nur ohne Bestimmung, wie weit man fehlen könne. In
Hinsicht der letztern, und überhaupt wegen der sorgfälti-
gern Behandlung dieses Gegenstandes, beziehe ich mich
auf die angeführte Abhandlung.
§. 96.
Man kann fordern, die Gröſse β solle veränderlich
seyn, d. h. die Wahrnehmung solle an Stärke zu oder
abnehmen. Nur kurz wollen wir diesen Gegenstand hier
berühren.
In der Gleichung β (φ—z) dt=dz (man sehe §. 94.),
sey β=ft, eine Function der Zeit; so kommt
woraus
Nun kann man überlegen, welche Form man der
Function von t geben wolle, damit nicht schon diese er-
ste Integration erschwert werde.
Es sey , welcher Form man durch Ab-
[327] änderung der Werthe von p, m, n, mannigfaltige Be-
deutungen geben kann. (Die Buchstaben p, m, n, ha-
ben hier nicht mehr die Bedeutung, wie im vorhergehen-
den §.) So ist und
; ferner ,
daher
oder endlich, damit z=0 für t=0,
für p=n wird hieraus
für p=2n wird , u. s. w.
Wird t=∞, so ist , und z gelangt zu sei-
ner Gränze =φ. Das Gesetz der abnehmenden
Empfänglichkeit bewirkt, daſs bey verminder-
ter sowohl als bey gleichbleibender Stärke der
Wahrnehmung in unendlicher Zeit doch einer-
ley Quantum des Wahrgenommenen heraus-
kommt.
Soll aber die Stärke der Wahrnehmung wachsen: so
muſs n negativ seyn. Alsdann gilt die Formel
nur bis m=—nt, oder bis , wofür β unendlich
wird. Es kann aber m groſs genug genommen werden,
damit diese Zeit sich erstrecke so weit man will.
Setzt man nun p=—n, so wird . Für
ist wiederum z=φ. Zugleich ist .
Demnach: unter der jetzigen Voraussetzung erreicht z
[328] seine Gränze in einer endlichen Zeit, und sein Differen-
tial ist constant. Wir haben also hier auch rückwärts
dasjenige Gesetz der anwachsenden Stärke der
Wahrnehmung gefunden, vermöge dessen, unge-
achtet der abnehmenden Empfänglichkeit, das
Quantum des Wahrgenommenen der Zeit pro-
portional bleibt.
Erneuern wir nun die obige Frage nach dem Ver-
lauf der Hemmung des Wahrgenommenen während der
Wahrnehmung: so ist allgemein
Man setze , so kommt es nun darauf an,
zu integriren. Zur Umformung sey
et =x, so bekommt das Differential diese Gestalt:
.
Es ist
folglich
Hieraus kann eine Reductionsformel gebildet werden, die
bis α=1 herabläuft. Und
Hier bedeutet li so viel als Integrallogarith-
mus*); und es ist . Die eben angegebne
Formel findet man auf folgende Weise: Es ist
[329]; und es ist zugleich
Doch genug um ermessen zu lassen, in welche
Schwierigkeiten sich die Berechnung von Z und z—Z
für abnehmende Stärke der Wahrnehmung verwickeln
würde. Hingegen der oben bemerkte Fall der zuneh-
menden Stärke, wo , ist leichter zu behandeln.
Für diesen ist
,
Um nun der Differential-Gleichung `cνdt=czdZ—cZdZ
+`cdZ einen bequemen und wahrscheinlichen Ausdruck
abzugewinnen, setzen wir, wie vorhin, in czdZ wiederum
; und suchen zuerst ∫ czdZ.
Es ist
wovon das erste Glied leicht zu integri-
ren ist. Denn wel-
ches =0 für t=0. Mehr Mühe macht das zweyte Glied
. Denn die Form führt
auf Integrallogarithmen.
[330]
Nämlich anstatt schreibe man zuvörderst
. Nun ist ferner
Die Exponentialgröſse ist
äuſserst klein, sobald man, um t nicht in zu enge Grän-
zen einzuschlieſsen, m einigermaaſsen groſs nimmt (in-
dem nach dem obigen t höchstens ). Aber die In-
tegrallogarithmen ganz kleiner Gröſsen verstatten ei-
nen sehr bequemen abgekürzten Ausdruck. Es ist all-
gemein ; eine Auflösung,
die man beliebig fortsetzen kann, und wobey für kleine
x allemal das am Ende zurückbleibende Integral viel klei-
ner seyn muſs, als die entwickelten Glieder. (Man stelle
sich, wie schon Herr Soldner erinnert, die Differentiale
, u. s. w. als Differentiale einer Fläche
vor, welche bestimmt wird von den Ordinaten ,
u. s. w. so ist offenbar die Fläche für ein kleines
x eine sehr kleine negative Gröſse; aber ist
noch viel kleiner, und kommt neben wenig oder gar
[331] nicht in Betracht.) Es sey nun daher
so ist ∫dt li. Setzen
wir hier abkürzend so haben wir oder
— li. y; und dem zufolge
worin, wie bekannt, ε=cφp, und n=m`c. Auch ist noch
mit zu multipliciren, um das zweyte
Glied von ∫czdZ zu haben.
Jetzt ist ∫`cνdt zu bestimmen. Und es findet sich
Zusammen genommen ergiebt sich
Zum Gebrauche dieser Formel bedarf es zuvörderst
einer Bemerkung über die Gröſse S. Nämlich die Stärke
der Wahrnehmung, oder , ist während des
gröſsten Theils der Zeit sehr gering, wenn m groſs ist
gegen p. Allein im Anfange der Wahrnehmung, also
für t=0 ist das Gehemmte =Sdt; während das Wahr-
genommene =βφdt. Jenes darf nicht gröſser seyn als
dieses, also S nicht \> βφ. Soll daher das Wahrge-
nommene von Anfang an zum Theil verschmelzen, und
eine endliche Gröſse erlangen, so muſs bey der jetzigen
Untersuchung S entweder sehr klein, oder =0 genom-
men werden. Der Kürze wegen geschehe hier das Letz-
[332] tere. Auch sey p=1, und m=cφ; überdies werde bey
den Integrallogarithmen die obige Abkürzung
angewendet; so können wir die Formel auf folgende
Weise zusammenziehn:
Setzt man, wie oben, φ=10, c=10, `c=25, π=1;
so findet sich zusammen:
- für t= 1
- z=0,1
- Z=0,036
- 0,064
- für t= 4
- z=0,4
- Z=0,294
- 0,106
- für t= 10
- z=1
- Z=0,91
- 0,09
- für t= 15
- z=1,5
- Z=1,57
- —0,07
Offenbar ist der letztere Werth von Z unbrauchbar,
denn das Gehemmte kann nicht gröſser seyn als das
Wahrgenommene. Aber er verräth, daſs irgendwo der
Rest des Wahrgenommenen ein Maximum hatte, und
weiterhin =0 wurde, ungeachtet die Summe der elemen-
tarischen Wahrnehmungen nicht bloſs zunimmt, sondern
sogar die Stärke der Wahrnehmung im Wachsen be-
griffen ist. Dies erklärt sich aus der vermehrten Span-
nung der entgegenwirkenden Vorstellungen. Rückwärts,
aus der anfänglich äuſserst geringen Spannung der letz-
tern ist einzusehn, wie es überhaupt möglich war, daſs
bey den angenommenen Gröſsen noch irgend ein positi-
ves z—Z herauskommen konnte. Der Annahme c=10,
`c=25, entsprechen ein paar gegenwirkende Vorstellun-
gen a und b, jede =5; aber die Stärke der Wahrneh-
mung, oder β, ist bey t=0, nur ; bey t=15 noch
nicht mehr als *).
§. 97.
Die Untersuchungen des zweyten und dritten Capi-
tels beruheten auf der Voraussetzung, daſs eine neue
[333] Vorstellung plötzlich zu den schon vorhandenen hinzu-
trete. Diese Voraussetzung kann der Wahrheit nahe
kommen, da, wie wir jetzt sehen, bey etwas bedeutender
Stärke der Wahrnehmung eine sehr geringe Zeit hin-
reicht, um eine mäſsig starke Vorstellung entstehen zu
machen. (Man setze z. B. im §. 95., β=3, oder gar
=10; und man wird sehen, wie wenig Zeit nöthig ist,
damit sich eine Stärke des Vorstellens erzeuge, die den
Beyspielen des zweyten und dritten Capitels entsprechen
könne. Es versteht sich, daſs hier von Verhältnissen
der neuen Vorstellung gegen die vorhandenen die Rede
ist, da wir für das, was Wenig oder Viel sey, keinen
andern Maaſsstab haben; was aber das Zeitmaaſs anlangt,
so wird darüber erst im zweyten Theile etwas können ge-
sagt werden, woraus zu erkennen ist, daſs man sich die
Zeit-Einheit, im Vergleich mit unsern Minuten und Se-
cunden, als eine nicht ganz kleine Gröſse zu denken hat.)
Es kann aber auch begegnen, und begegnet meistens,
daſs eine schwächere Wahrnehmung erst durch längere
Dauer eine Vorstellung zu ihrer Energie erhebt; und als-
dann entsteht die Frage, welche Abänderungen daraus
für jene früher betrachteten Ereignisse entspringen?
Zuvörderst, dasjenige Sinken der schon vorhandenen
Vorstellungen, welches die Hemmung des Wahrgenom-
menen begleiten muſs, ist aus den vorhergehenden For-
meln leicht zu berechnen. Die ganze Hemmungssumme
war =ν, das Gehemmte in jedem Augenblick =νdt; das
Gehemmte am Ende der Zeit t ist =∫νdt; folglich
∫νdt—Z ist dasjenige, was von den früher vorhandenen
Vorstellungen zusammengenommen gehemmt wird, und
welches man nur nach den Hemmungsverhältnissen ver-
theilen muſs, um das Sinken jeder einzelnen von diesen
Vorstellungen zu bestimmen.
Ferner, hieraus ergiebt sich auch das Gesetz für eine,
dem Wahrgenommenen gleichartige, ältere Vorstellung,
die sich jetzo, da sie von der Hemmung frey wird, wie-
der ins Bewuſstseyn erhebt. Wir verweilen hiebey we-
[334] nigstens in so fern, als nöthig ist, um den Anfang die-
ser Wieder-Erhebung kennen zu lernen, der sich nach
§. 82. verhält wie das Quadrat der Zeit. Die dortige
Formel (x—y)dt=dy wird uns auch hier leiten; jedoch
ohne Rücksicht auf die im §. 84. erwogene, schwer zu
berechnende, aber ziemlich unbedeutend gefundene, Wir-
kung der Verschmelzungshülfe. Auch werde eine gleich-
förmig beharrende Stärke der Wahrnehmung vorausge-
setzt, also die Rechnung an jene des §. 95. angeknüpft.
Hier nun würden wir auf jeden Fall die Formel für
Z viel zu verwickelt finden, um sie in einen fernern Cal-
cül einzuführen, böte sich nicht ein Abkürzungsmittel dar.
Man habe nämlich eine Reihe berechneter Werthe von
Z vor sich, etwa wie das Täfelchen jenes §. sie angiebt.
Alsdann ist leicht zu erkennen, daſs Z sich nahe durch
z ausdrücken läſst; wenn man die Zeit t nicht zu groſs
nimmt; hier aber kommt es uns bloſs auf den Anfang
der Zeit an. Es sey Z=C+`az+`bz2. So ist gewiſs
C=0, denn Z und z sind zugleich =0. Man braucht
also nur eine paar berechnete Werthe von Z nebst den
zugehörigen z, um hieraus die nöthigen Constanten `a
und `b zu bestimmen, so wird die Formel sehr nahe auch
die zwischenfallenden Werthe von Z aus den ohne Mühe
zu findenden z herleiten helfen.
Dies vorausgesetzt, so ist nun ∫νdt—`az—b`z2 an
die Stelle jenes x im §. 82. zu setzen, das die Entfer-
nung desjenigen Punctes, wohin y strebt, von der
Schwelle des Bewuſstseyns, bezeichnete; indem y, das
Hervortretende der älteren Vorstellung, sich gleichsam
in dem Raume auszudehnen strebt, welcher frey wird
durch das Zurückweichen der Kräfte von denen es ge-
hemmt war. Und so haben wir nun anstatt (x—y)dt=dy
folgende Gleichung:
Zuerst folgt hieraus
Man nehme nun ν aus §. 95.; nämlich
daher
ferner z=φ (1—e–βt), also
Hieraus wird nach gehöriger Rechnung:
Es verlohnt sich, diesen Ausdruck in eine Reihe zu
entwickeln, um zu sehen, wie die verschiedenen Poten-
zen von t mit ihren Coëfficienten nach einander bedeutend
werden. Es ist
Man sieht nun sogleich, daſs der Coëfficient von t
bey gehöriger Zusammenfassung =0 wird. Um den
zweyten Coëfficienten näher kennen zu lernen, muſs man
zu der Annahme: Z=`az+`bz2 zurückgehn. Aus der-
selben ist dZ=(`a+2`bz) dz, also für t=0 ist dZ=`adz.
Aber aus der Grundformel ist für
t=0, dZ=νdt=Sdt, und ebenfalls für t=0 ist dz=
βφdt; daher Vermittelst dieser Substi-
tution wird auch der zweyte Coëfficient =0. Es heben
sich unter einander alle Glieder desselben, welche S ent-
halten; ferner alle, welche π, und endlich alle, die bφ2
enthalten.
[336]
Erst der Coëfficient für t3 bekommt einen realen
Werth. Damit ist der merkwürdige Satz bewiesen, daſs
die Bewegung der wieder hervortretenden Vor-
stellung sich Anfangs verhält wie der Cubus
der Zeit; so daſs sie weniger scheinen muſs hervor-
zutreten als vielmehr hervorzuspringen.
Es ist übrigens sehr natürlich, daſs durch eine fort-
dauernde Wahrnehmung, die ihr gleichartige ältere Vor-
stellung mehr hervorgeschnellt wird, als durch den Stoſs,
welchen eine plötzlich hinzukommende, dann gleich von
der Hemmung ergriffene, neue Vorstellung, auszuüben
vermag. Aus dem Stoſse erfolgt eine im ersten Zeittheil-
chen schnellere, aber nicht so sehr beschleunigte Bewe-
gung (obgleich auch da noch eine Beschleunigung statt
findet, da wir oben sahen, daſs die Bewegung sich An-
fangs nach dem Quadrate der Zeit richtet). Die eben
gefundene Erhebung der älteren Vorstellung, gemäſs dem
Cubus der Zeit, geht in den ersten Zeittheilchen langsa-
mer, weil die hervorrufende Wahrnehmung sich nur all-
mählig bildet; jedoch bald um so geschwinder, weil je-
der Augenblick die Begünstigung vermehrt, vermöge wel-
cher die zuvor unterdrückte Kraft sich jetzo in einem
freyern Raume ausbreitet.
Sechstes Capitel.
Ueber Abnahme und Erneuerung der Empfäng-
lichkeit.
§. 98.
Jedes Continuum möglicher Vorstellungen ist zugleich
ein Continuum möglicher Selbsterhaltungen der Seele. Und
zu solchen Vorstellungen, die unendlich nahe sind, gehö-
ren Selbsterhaltungen fast von völlig gleicher Art, deren
eine
[337] eine also nur eine unendlich geringe Modification der an-
dern ist. Etwas entfernteren Vorstellungen entsprechen
minder gleichartige Selbsterhaltungen; doch nicht eher als
beym vollen Gegensatz der Vorstellungen können völlig
verschiedene Selbsterhaltungen Statt finden.
Um dieses gehörig zu verstehen, bedenke man, daſs
Selbsterhaltungen der Seele, und Vorstellungen, völlig Eins
und dasselbe sind, nur in verschiedenen Beziehungen;
ungefähr so wie Logarithmen und Potenz-Exponenten.
Durch das Wort Vorstellungen deuten wir zu-
nächst auf das Phänomen, sofern es sich im Bewuſstseyn
antreffen läſst: hingegen der Ausdruck Selbsterhaltung
der Seele, bedeutet den realen Actus, der unmittelbar das
Phänomen hervorbringt. Dieser reale Actus ist nicht Ge-
genstand des Bewuſstseyns, denn er ist die Thätigkeit
selbst, welche das Bewuſstseyn möglich macht. So ge-
hören Selbsterhaltung der Seele und Vorstellung zusam-
men wie Thun und Geschehen. —
Dies vorausgesetzt: so ist offenbar, daſs die Ab-
nahme der Empfänglichkeit, deren Gesetz im vorigen Ca-
pitel angegeben wurde, sich nicht bloſs auf völlig gleich-
artige, sondern auch auf zum Theil ungleichartige Vor-
stellungen erstrecken muſs. Eine Selbsterhaltung, sofern
sie schon vollzogen ist, und fortdauernd geschieht, kann
nicht noch einmal geschehn: darauf beruht die Abnahme
der Empfänglichkeit. Folglich, wenn eine Selbst-
erhaltung oder Vorstellung der andern zum
Theil gleichartig ist, so wird durch die erste
auch die Empfänglichkeit der andern zum Theil
erschöpft. Hieraus haben wir nun die nächsten Fol-
gerungen zu ziehen.
Zwey Wahrnehmungen des nämlichen Continuums
können entweder gleichzeitig statt finden, oder einander
nachfolgen.
Sind die gleichzeitigen zum Theil gleichartig (wie
roth und violett, oder wie ein paar Töne der nämlichen
Octave), so ist die Empfänglichkeit, die sie erschöpfen,
I. Y
[338] zum Theil die nämliche. Man muſs hier die Zerlegun-
gen der Vorstellungen in Gleiches und Entgegengesetz-
tes (nicht in der Wirklichkeit sondern im Denken) wie-
der anwenden, die schon oben in den §§. 67. 71. 72. vor-
kamen. Sofern die Wahrnehmungen gleichartig sind, in
so fern geschieht in beyden nur einerley Selbsterhaltung,
Anfangs mit verdoppelter Intensität; die aber nur um so
schneller abnimmt, je stärker sie im ersten Beginnen war.
Hingegen wiefern die Vorstellungen einander entgegen sind,
in so fern liegt in den Selbsterhaltungen etwas Verschie-
denartiges; dieses beginnt mit geringerer Intension, und
die Abnahme der Empfänglichkeit kann in Hinsicht dessen
nicht so schnell fortschreiten. Daraus folgt, erstlich, daſs
die Quantität des Vorstellens, gleichsam die Masse des-
selben, minder groſs ausfällt, als sie seyn würde, wenn jede
der beyden Vorstellungen besonders, und mit unversehrter
Empfänglichkeit gebildet werden könnte. Zweytens, daſs
des Gleichartigen für beyde zusammengenommen, vergli-
chen mit dem Entgegengesetzten, verhältniſsmäſsig weniger
ist, als in der Summe beyder seyn sollte, wenn sie ab-
gesondert entstanden wären. Drittens: nichts desto we-
niger sind beyde Vorstellungen genau die nämlichen, die
sie abgesondert seyn würden. Denn des Gleichartigen
entsteht während der gleichzeitigen Wahrnehmung beyder
Vorstellungen nur in so fern weniger, als es schon vorhan-
den ist; vorhanden als Gemeingut für beyde Vorstellun-
gen in der Einen Seele, und hinreichend vorhanden, da-
mit beyde Wahrnehmungen in ihrer eigenthümlichen Qua-
lität fortdauern können.
Hier muſs man zurückrufen, was schon im §. 72.
bemerkt wurde. In den Rechnungen, welche sich auf
das Verhältniſs des Gleichartigen zum Gegensatze in ein
paar Vorstellungen beziehn, kommt das Gleichartige nur
als Eins in Betracht, wenn es schon in beyden Vorstel-
lungen, und also zweymal vorhanden ist. Denn Gleich-
artigkeit ist nichts was einer Vorstellung allein zukäme:
sie liegt bloſs in dem Grade von Einerleyheit eines man-
[339] nigfaltigen Thuns in der Seele. Eben darum auch ist
es in dieser Hinsicht einerley, ob eine der beyden Vor-
stellungen stärker oder schwächer seyn möge: wovon
sonst auch das Quantum des Gleichartigen, im Vergleich
mit dem Entgegengesetzten, abhängen müſste.
Nur wenn von der Masse der Kraft die Rede ist,
welche jene beyden, in gleichzeitiger Wahrnehmung ent-
sprungenen Vorstellungen, einer andern Kraft im Bewuſst-
seyn entgegenzustellen haben, dann kommt es in Be-
tracht, wie groſs die Stärke sey, die ihnen beyden zu-
sammen, als einer unzertrennlichen Einheit, angehören
möge. Diese Kraft wird, nach den eben aufgestellten
Sätzen, gröſser ausfallen wenn die Vorstellungen weniger
gleichartig sind. Allein es ist nicht ausser Acht zu las-
sen, daſs die minder gleichartigen, also mehr entgegen-
gesetzten, sich schon während der Wahrnehmung um so
mehr hemmen, daher die Elemente der Wahrnehmung
sich weniger zu Totalkräften vereinigen können. Dieser
Umstand mag sich mit jenem ungefähr aufheben. Es
könnte hierüber eine Rechnung angestellt werden, die den
Berechnungen des vorigen Capitels analog seyn würde,
und die wir eben deshalb hier übergehen.
Eher mag es sich verlohnen, über successive
Wahrnehmungen in Rechnungen einzutreten.
Die Wahrnehmung z' gehe voran der Wahrneh-
mung z″; ihr Hemmungsgrad sey =1 — α, damit wir
den Grad der Gleichartigkeit =α setzen können. Man
denke sich z″=u + ω, so, daſs u das Quantum des
Gleichartigen, was die Vorstellung z″ enthalten wird, hin-
gegen ω das Entgegengesetzte bedeute. So bieten sich
folgende Gleichungen dar:
[α (φ—z')—u]βdt=du; [(1—α)φ—ω]βdt=dω
Nämlich die Empfänglichkeit φ zerfällt in die Theile
αφ und (1—α) φ, sofern z″ zerlegt wird nach α und
1—α; aber die Empfänglichkeit αφ ist vermindert um z',
sofern darin Gleichartiges mit z″ liegt, d. h. um αz'.
Wie zuvor bedeutet hier β die Stärke der Wahrneh-
Y 2
[340] mung, die wir als beständig ansehn, daher β als eine
Constante zu behandeln ist.
Aus den beyden Gleichungen ergiebt sich
u=α(φ—z') (1—e–βt); ω=(1—α) φ (1—e–βt)
u+ω=z″=(φ—αz') (1—e–βt)
welches letztere Resultat sich vorher sehn lieſs, da z'=
φ · (1—e–βt) nach §. 94.
Es folge weiter eine dritte Wahrnehmung =z‴, die
wir in Gleichartiges und Entgegengesetztes auf doppelte
Weise zerlegen müssen; sowohl im Vergleich mit z' als
mit z″. Zur Erleichterung führen wir noch die Voraus-
setzung ein, daſs alle drey Vorstellungen in der gleichen
Linie liegen (wie in der Tonlinie), oder daſs ihre Ver-
schiedenheit bloſs auf dem Mehr oder Minder des Ge-
gensatzes beruhe. Alsdann läſst sich z‴selbst durch
eine Linie darstellen, die man nur nicht für eine Darstel-
lung des linearischen Continuums halten muſs, von wel-
chem z‴ sowohl als z″ und z' nur einzelne Puncte sind.
Die ganze Linie bedeutet die Vorstellung z‴. Ihre
Qualität sey in Rücksicht auf z' zu zerlegen in Gleich-
artiges =`α und Entgegengesetztes =1—`α; in Rück-
sicht auf z″ aber in Gleichartiges =γ und Entgegenge-
setztes =1—γ. Das Gleichartige =γ zerfällt in ge-
meinsam Gleichartiges =`α und in besonderes Gleichar-
tiges γ—`α. Daher sind eigentlich drey Theile vorhan-
den, nämlich `α, γ—`α, und 1—γ; auch ist γz″=
`αz″+(γ—`α) z″. In Rücksicht auf den Theil `α ist nun
an der Empfänglichkeit für z‴ nicht nur durch z' son-
dern auch durch z″ etwas verloren gegangen; nämlich
zusammengenommen `αz'+`αz″. In Rücksicht auf den
Theil γ—`α ist nur verloren (γ—`α)z″. In Rücksicht auf
den dritten Theil 1—γ ist die Empfänglichkeit noch unver-
schrt. Daher folgende drey Gleichungen, worin die drey
quantitativen Theile von z, welche dem `α, γ—`α, und
1—γ entsprechen, mit u, ν, ω, bezeichnet sind:
[341]
Woraus nach der Integration u+ν+ω oder
Für eine vierte Wahrnehmung z‵ findet man
und so läſst sich die Reihe ohne Mühe fortsetzen.
Substituirt man die Werthe von z', z″, z‴, und
setzt für einen bestimmten Zeitabschnitt
so kommt
§. 99.
Verwandt hiemit ist folgende mehr verwickelte Auf-
gabe: Eine Wahrnehmung durchlaufe unabge-
setzt und im gleichförmigen Zuge ein Conti-
nuum von Vorstellungen; es soll das ganze
Quantum des hiedurch entstandenen Vorstel-
lens gefunden werden.
Hier soll nun die Linie PQ nicht, gleich jener vor-
hin gebrauchten Linie, eine einzige Vorstellung, sondern
das zu durchlaufende Continuum möglicher Vorstellungen
bedeuten; und zwar das ganze Intervall zwischen zweyen
solchen Vorstellungen, die im vollen Gegensatze stehen.
R sey fürs erste ein fester Punct an einer beliebigen
Stelle. M dagegen ein Punct, der von P nach R hin
vorrückt. Auch sey PQ=A, MR=x, RQ=m.
T sey die Zeit, in welcher von der wandelbaren Wahr-
nehmung das ganze Intervall A durchlaufen wird. Wäh-
rend der veränderlichen Zeit t sey der Raum PM=
[342]A—x—m durchlaufen. Wegen gleichförmiger Bewe-
gung ist nun
In dem Zeittheilchen dt, während welches die fort-
rückende Wahrnehmung sich im Puncte M befindet (d. h.
diejenige Vorstellung hervorbringt, welche in dem gan-
zen Continuum die Stelle M einnimmt), wird zugleich
ein Quantum von R gegeben (nämlich von der Vorstel-
lung, welcher die Stelle R zukommt). Denn R hat ge-
gen M den Hemmungsgrad x, folglich mit ihm einen
Grad der Gleichartigkeit =1—x; oder A—x, in so fern
die Einheit der Gleichartigkeit denselben Ausdruck ihrer
Gröſse bekommt wie die Einheit des Gegensatzes. Da
dieses in allen Zeittheilchen Statt gefunden, während
welcher das von P ausgegangene Wahrnehmen bis zu
der jetzigen Stelle gekommen ist: so giebt es ein Inte-
gral, welches ausdrückt, wieviel von R schon vor-
her, als enthalten in den frühern, dem R zum
Theil gleichartigen Vorstellungen, gegeben ist,
ehe der veränderliche Punct M, oder, wenn
man will, ehe der veste Punct R selbst, er-
reicht wird. Dieses Integral zu bestimmen, ist eine
nothwendige Vorbereitung zur Auflösung unserer Auf-
gabe.
Für bekannte Bedeutungen, von φ, β, z, haben wir
folgende Gleichung:
oder
woraus
und
Nun rücke der Punct M vor, bis er in R eintrifft;
alsdann ist , und
[343]
So viel ist von derjenigen Vorstellung, die dem Puncte
R entspricht, schon gegeben, ehe die fortrückende Wahr-
nehmung den Punct R selbst erreicht; um eben so viel
ist also die Empfänglichkeit für diese Vorstellung schon
im Voraus erschöpft. Dies abgezogen von der ursprüng-
lichen Empfänglichkeit, läſst nun die Bestimmung zurück:
wie viel an neuer Wahrnehmung eben in dem
Augenblick erzeugt werden könne, da das wan-
delbare Wahrnehmen sich in dem Puncte R
selbst befindet. Es ist nämlich dieses =β(φ—z)dt,
wo z in der so eben gefundenen Bedeutung genommen
wird. Allein hier war z eine Constante; statt dessen
muſs es eine veränderliche Gröſse werden, indem nun
der Punct R als wandelbar, und damit auch m als ver-
änderlich, und zwar als eine Function von t betrachtet
wird. Denn nur dadurch werden wir das verlangte ganze
Quantum des allmählig entstandenen Vorstellens finden,
wenn wir dessen Differential, das was durch jede augen-
blickliche Wahrnehmung in jedem Puncte des Conti-
nuums gegeben wird, integriren. Daher muſs jeder Punct
durch R angedeutet seyn können, indem R das ganze
Continuum von P bis Q durchläuft.
Aus der Proportion t : T=(A—m) : A folgt m=
; dadurch wird
Wir können hier A wiederum =1 setzen; es war
nur vorhin zu mehrerer Deutlichkeit besonders bezeich-
net worden.
Die Integration scheint am leichtesten von Statten
zu gehn, indem man setzt. Daraus
wird t=T(1—u); dt=—Tdu, also das ganze Differential
[344] Die Form du läſst sich bequem durch Entwickelung
in eine Reihe integriren, sobald λ, hier ½Tβ, nicht zu
groſs genommen wird. Denn aus
wird
Das Integral muſs =0 werden für t=0; aber für
t=0 ist u=1. Es sey β=½, T=4, also λ=1, so
ist . Dem-
nach das ganze Integral
wo . Für t=T aber ist u=0 also
das ganze Quantum des gewonnenen Vorstellens, ver-
möge einer Wahrnehmung, die während der Zeit T=4
das Intervall voller Hemmung gleichförmig durchläuft, ist
=10,761. Dies Resultat bleibt das nämliche, so lange
das Product Tβ unverändert bleibt, z. B. für β=1,
T=2. Zur Vergleichung sey t=½T, so kommt 6,5446;
mehr als die Hälfte, wie natürlich wegen der abnehmen-
den Empfänglichkeit, die in der zweyten Hälfte der Zeit
nicht noch ein gleiches Quantum des Vorstellens hervor-
zubringen erlaubt. Noch halte man hiemit zusammen das
erste Täfelchen des §. 95., wo für β=½, z=8,646…
wenn t=4, und z=6,321 … wenn t=2, oder =½T
nach unserer jetzigen Annahme, gefunden wird. Die jetzi-
gen Werthe sind beydemal gröſser, weil die Empfäng-
lichkeit bey veränderlicher Qualität der Wahrnehmung
weniger leidet, als bey gleichbleibender.
So viel von der Abnahme der Empfänglichkeit. Da
die Erfahrung dieselbe schon in einer Minutenlangen
Wahrnehmung deutlich genug spüren läſst, indem das
Gemüth sich bald unbeschäfftigt findet, und andre zu-
rückgedrängte Vorstellungen sich wieder erheben, zum
Zeichen, daſs die zurückdrängende Kraft nicht
mehr wächst: so dürfen wir die noch unbestimmt ge-
[345] bliebene Zeit-Einheit gar nicht für besonders groſs nach
unserem Zeitmaaſse halten; und daraus entsteht denn die
wichtige Frage, ob die einmal erschöpfte Empfänglichkeit
immer so schwach bleibe, oder ob es für sie eine Er-
neuerung gebe? Und wie eine solche sich denken lasse?
Daſs die Empfänglichkeit sich erneuere, muſs man
schon der Erfahrung gemäſs höchst wahrscheinlich finden.
Wenige Stunden, vollends Tage, müssen nach den bis-
herigen Betrachtungen, die ursprüngliche Empfänglichkeit
zwar nicht im strengsten Sinne ganz erschöpfen (hievon
lehren die Formeln das Gegentheil), aber doch sie auf
einen äuſserst kleinen, mit ihrer ursprünglichen Stärke
kaum vergleichbaren, Bruch herabbringen, der selbst noch
immer abnimmt, und bald wiederum mit seiner eignen
früheren Gröſse fast nicht zu vergleichen ist. Dies auf
die menschliche Lebensdauer angewendet, so müſste die
erste kindliche Empfänglichkeit schnell verschwinden, bis
auf beynahe Nichts, der Empfänglichkeit reifer Jahre aber
müſste man eine undenkbare Kleinheit beylegen, — wenn
sie ein für allemal verbraucht wäre.
Allein auch wie die Empfänglichkeit sich erneuere,
läſst sich begreifen und näher bestimmen, sobald man
sich nur hütet, die metaphysischen Gründe ihrer Abnahme
nicht über die gehörigen Schranken auszudehnen. Jede
Selbsterhaltung der Seele, also jede Vorstellung, hat ein
Aeuſserstes, bey welchem sie vollbracht seyn würde wenn
sie es erreichte. Sie kann nur wachsen, wiefern sie zu
diesem Aeuſsersten noch nicht gelangt ist. Die Em-
pfänglichkeit nimmt ab, in wiefern das, was durch die
Wahrnehmung in der Seele geschehen soll, schon ge-
schehen ist. — Rückwärts also, die Empfänglichkeit
nimmt nicht ab, in wiefern das, was geschehen
soll, eben jetzt noch nicht geschieht.
Hieraus könnte man schlieſsen, die Empfänglichkeit
erneuere sich schon dadurch, daſs die in früherer Wahr-
nehmung gebildeten Vorstellungen gehemmt werden;
welches doch, ohne nähere Bestimmung ausgesprochen,
[346] zu viel geschlossen wäre. Denn so lange jene Vorstel-
lungen nur zum Theil gehemmt, so lange sie noch in
einer fortgehenden Hemmung begriffen sind, eben so
lange wirken sie noch im Bewuſstseyn, und es richten
sich nach ihnen die Zustände der übrigen Vorstellungen.
Allein, wenn sich eine Vorstellung auf der statischen
Schwelle befindet, alsdann ist, wie wir längst wissen, al-
les was im Bewuſstseyn vorgeht, von ihrem Einflusse
unabhängig. Ja sogar in dem Augenblicke, wo sie die
Schwelle erreicht, tritt ein neues Bewegungsgesetz für die
noch im Bewuſstseyn vorhandenen Vorstellungen ein, wel-
ches der Ausdruck und Erfolg dieser Unabhängigkeit ist
(§. 75.). Nun strebt zwar die Seele fortdauernd, auch
diese Art der Selbsterhaltung, oder diese Vorstellung,
wieder herzustellen. Allein sie ist in diesem Streben völ-
lig gebunden; ja dieses Streben ist eine isolirte Modifi-
cation der Seele, indem es die wirkliche Thätigkeit, die
Zustände des Bewuſstseyns, nicht im mindesten abzuän-
dern und nach sich zu gestalten vermag. Also ist hier
wirklich der Fall, wo die Empfänglichkeit nicht vermin-
dert seyn kann. Die frühere Vorstellung befindet sich
nicht unter den wirklichen Thätigkeiten der Seele,
weder unmittelbar als Vorstellung, noch mittelbar durch
ihre Einwirkung auf die Zustände des Bewuſstseyns. Viel-
leicht noch einleuchtender wird dies durch die Verglei-
chung mit Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle
(§. 79.) Diese sind ebenfalls aus dem Bewuſstseyn völ-
lig verschwunden, aber nur um so vollständiger ist auch
die Spannung, mit der sie dasjenige bestimmen helfen,
was im Bewuſstseyn vorgeht. Von ihnen also dürfen wir
nicht sagen, daſs in Hinsicht ihrer die Empfänglichkeit
unvermindert seyn werde.
Wohl aber dürfen wir den Satz aufstellen: die Em-
pfänglichkeit für eine gewisse Wahrnehmung
erneuert sich, indem die frühere, gleichartige
Vorstellung auf die statische Schwelle getrie-
ben wird.
[347]
Und hiedurch muſs sich die Empfänglichkeit voll-
ständig und plötzlich erneuern. Nichts desto weni-
ger sind hiebey Umstände zu bemerken, welche dieser
Behauptung nur eine augenblickliche Gültigkeit gestatten.
Indem eine neue Wahrnehmung eintritt, beginnt
auch jede frühere gleichartige Vorstellung (ja selbst die
nur zum Theil gleichartigen), sich zu erheben, weil die
vorhandenen hemmenden Kräfte zurückwichen (§. 81.
u. s. w.). Sogleich also verschwindet die Bedingung, un-
ter der eine vollständig erneuerte Empfänglichkeit vorhan-
den seyn konnte.
Jedoch verschwindet dadurch die erneuerte Empfäng-
lichkeit bey weitem nicht ganz. Man muſs hier die Un-
tersuchungen des dritten Capitels zurückrufen. Diesen
zufolge erhebt sich die ältere gleichartige Vorstellung im
ersten Anfange nur langsam; sie übt dabey gar keine
eigne Wirkung gegen die widerstrebenden Kräfte; bloſs
als Verschmelzungshülfe verbindet sie sich mit der neu
eintretenden Wahrnehmung in dem geringen Grade des
wiedererweckten Vorstellens. Also ändert sich der Zu-
stand, in welchem sich diese Vorstellung auf der stati-
schen Schwelle befand, nur allmählig und nicht um gar
Vieles. Dem gemäſs verliert auch die vollständig er-
neuerte Empfänglichkeit nur allmählig und nur ein mäſsi-
ges Quantum.
Hierauf können nun wieder Nebenumstände Einfluſs
haben. Gesetzt, die wiedererweckte Vorstellung sey durch
eine Menge von Verschmelzungs- und Complications-Hül-
fen verbunden mit den im Bewuſstseyn vorhandenen Vor-
stellungen; sie sey nur so eben erst durch eine andrin-
gende entgegenwirkende Kraft aus dem Bewuſstseyn ver-
drängt: so läſst sich, wenn sie auch schon wirklich auf
der statischen, und nicht etwa nur auf der mechanischen
Schwelle sich befand, dennoch wohl denken, daſs die Zu-
sammenwirkung vieler Kräfte ihr jetzt, da sie durch eine
gleichartige Wahrnehmung wieder geweckt wird, eine
Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit ertheilen, wodurch
[348] die erneuerte Empfänglichkeit schnell und beträchtlich
leidet.
Aber nicht bloſs diese Nebenumstände, sondern ein
allgemeiner Grund bewirkt eine Abänderung in dem, was
zuvor über den geringen Verlust der erneuerten Empfäng-
lichkeit bemerkt wurde.
Freylich, wenn nur Eine ältere, gleichartige Vorstel-
lung in der Seele ruhet, deren Erwachen der neuen
Wahrnehmung Abbruch thun kann: alsdann gilt das zu-
vor Gesagte; und es ist leicht zu übersehen, daſs die
zwar verminderte Empfänglichkeit dennoch eine beträcht-
liche Stärke des Vorstellens durch die jetzige Wahrneh-
mung zu erzeugen vermag. Es geschehe nun wirklich
also; und nicht bloſs einmal, sondern vielemal wieder-
hohlt: so werden bey jedem künftigen Eintreten einer
neuen, gleichartigen Wahrnehmung, sich alle jene ein-
zelnen, zuvor gebildeten Vorstellungen durch eigne Kraft,
und zum Theil verstärkt durch ihre Verbindungen unter
einander, zumal hervorheben. Offenbar bilden sie auf
diese Weise eine Summe, die immer beträchtlicher wird,
und wodurch die, zwar vollständig erneuerte, Empfäng-
lichkeit doch immer schneller vermindert, ja endlich, bey
sehr häufiger Wiederhohlung der nämlichen Wahrneh-
mung, beynahe plötzlich von ihrer ersten Stärke auf ei-
nen äuſserst geringen Grad kann herabgebracht werden.
In diesem Falle befinden wir uns mit den Dingen, die
wir täglich um uns sehn, und die eben deshalb keinen
merklichen Eindruck auf uns machen.
Unter solchen Umständen ergiebt sich dann von
selbst, daſs unmöglich die einzelnen, aus den wieder-
hohlten Wahrnehmungen gewonnenen, Vorstellungen,
sich ins Bewuſstseyn hoch erheben können. Denn die
Summe des wirklichen Vorstellens kann nicht jenen äu-
ſsersten Grad übersteigen, in welchem die volle und ganze
Selbsterhaltung dieser Art bestehen würde. Desto grö-
ſser und anhaltender aber kann die Anstrengung seyn,
[349] mit welcher sich eine Gesammtheit gleichartiger Vorstel-
lungen im Bewuſstseyn behauptet.
Siebentes Capitel.
Von den Vorstellungsreihen niederer und höhe-
rer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wech-
selwirkung.
§. 100.
Wir dürfen jetzt freyere Blicke wagen. Bisher wa-
ren wir eng eingeschlossen durch die Nothwendigkeit, die
Vorstellungen als einzelne zu betrachten, um die Ele-
mente ihrer Wirksamkeit kennen zu lernen. Jetzt fange
der Leser damit an, sich alles Vorhergehende gleichsam
nach einem gröſseren Maaſsstabe ausgeführt zu denken.
Tausende oder Millionen von Vorstellungen, die auf ein-
mal im Bewuſstseyn sind, und, sich gegenseitig hemmend,
ins Gleichgewicht treten! Complexionen, die nicht ent-
weder vollkommen oder unvollkommen seyen, sondern
in welchen mit zehn oder zwanzigen völlig verbundenen,
noch unzählige andere mit allen möglichen Abstufungen
minder und minder zusammenhängen! Statt zweyer oder
dreyer Töne, deren musikalische Intervalle wir in der
Lehre von der Verschmelzung vor der Hemmung
im Auge hatten, denke man sich jetzt eine Menge un-
endlich nahe stehender, zusammenflieſsender einfacher
Empfindungen; so wird in der unauflöslichen Mischung
aller, zwar nicht ein scharf bestimmtes ästhetisches Ur-
theil, aber ein Gefühl des Angenehmen oder Unangeneh-
men entspringen. Auch die Bewegungen der Vorstellun-
gen bey ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Reproduction
seyen dergestalt mannigfaltig, daſs die Hemmungssum-
men, während sie abnehmen, schon wieder neue Zusätze
[350] bekommen; und daſs, indem aus neuen Verbindungen
stets neue Gesammtkräfte entstehn, auch die Gleichge-
wichts-Puncte, wohin das ganze System sich neigt, stets
verrückt werden, folglich die Bewegung nie zur Ruhe
komme, sondern in immer neuen Richtungen fortlaufe.
Doch dies letzte ist noch nicht verständlich genug; wir
sind jetzt im Begriff, die Gründe davon anzuzeigen.
Man gehe zurück ins vierte Capitel, von der mittel-
baren Reproduction. Dort haben wir (§. 88.) den gro-
ſsen Hauptsatz gefunden, aus welchem sich der Ursprung
der Reihenbildung in den Vorstellungen erklärt.
Nun sey nicht bloſs, wie dort, eine Vorstellung P
mit verschiedenen Π, Π', Π″, u. s. w. verschmolzen: son-
dern es sey a mit b, c, d, e, … und eben so b mit c,
d, e, … und gleichfalls c mit d, e, … u. s. w. verschmol-
zen: so wird das dort (a. a. O.) gefundene Gesetz der
Reproduction nicht bloſs einmal, sondern so vielemal zur
Anwendung kommen, als wie viele Vorstellungen zu der
Reihe gehören. Dies wird sich vollständiger entwickeln
lassen, wenn wir erst die beyden Bedingungen erwägen,
unter denen sich eine solche Reihe bilden kann. Die
eine hängt von der Zeit ab, die andre von der Qualität
der Vorstellungen.
1) Wenn zuerst a, dann gleich darauf b gegeben
(durch Wahrnehmung producirt) wird: so wird zuvör-
derst a sogleich von der Hemmung durch andre, eben
vorhandene, ihm entgegengesetzte Vorstellungen ergriffen.
Hiedurch sinke es bis auf den Rest r; jetzt trete b hin-
zu; so verschmilzt b mit dem Reste r von a (wir wollen
nämlich hier die Hemmung zwischen a und b bey Seite
setzen; denn wenn auch eine solche vorhanden ist, so
wird dadurch nur die Gröſse r um etwas vermindert, und
auch b verschmilzt dann nicht ganz mit r; dadurch wird
die Sache nicht wesentlich verändert, sondern erhält nur
eine leichte Modification). Es sinke weiter sowohl a bis
auf den Rest r', als b bis auf den Rest R; jetzt komme
c hinzu; so verschmilzt das ganze c mit r' und R. Nun
[351] sinke a bis auf den Rest r″, B bis auf den Rest R', c
bis auf den Rest ρ, jetzt mögen alle diese Reste mit dem
eben eintretenden d, verschmelzen. Man sieht wie dies
fortgeht, nach folgendem Schema:
Gesetzt, alle diese Vorstellungen werden, nachdem
sie in solche Verknüpfung mit einander geriethen, auf
die Schwelle des Bewuſstseyns gedrückt; nachmals aber
finde sich Gelegenheit, daſs eine von ihnen sich wieder
erheben könne: so wirkt sie auf alle übrigen reproduci-
rend. Wie dies geschehe: ist in dem Falle, daſs a sich
zuerst erhebe, unmittelbar klar aus §. 88.; es reproducirt
nämlich nach der Reihe am schnellsten b, minder schnell
c, noch langsamer d, u. s. f. Wäre es aber c, das sich
zuerst erhöhe, so würde dieses mit seiner eignen gan-
zen Kraft und Geschwindigkeit die Reste R und r'
reproduciren, und dann erst würde es die Reihe d, e, f,
u. s. w. ablaufen machen.
2) Die Vorstellungen a, b, c, d, u. s. f. brauchen
nicht nach einander gegeben zu werden; wenn sie da-
gegen in wachsenden Hemmungsgraden unter ein-
ander stehn, und einander an Stärke gleich sind, so wird
ihre Verbindung und die davon abhängende Wirksam-
keit gerade die nämliche wie vorhin. Ist nämlich c mehr
als b, d mehr als beyde, u. s. f. dem a entgegengesetzt,
und kann die Verschmelzung ungehindert dem Grade des
Gegensatzes umgekehrt gemäſs erfolgen (d. h. so daſs
je weniger Gegensatz, desto mehr Verschmelzung), so
[352] entsteht eine Vorstellungsreihe, deren Anordnung durch
die Qualität der Vorstellungen bestimmt ist.
Im analytischen Theile werden wir auf diesen Gegen-
stand seiner groſsen Wichtigkeit wegen, zurückkommen,
und ihn dort nochmals in Verbindung mit seinen An-
wendungen auf die Erklärung der psychologischen Phä-
nomene in Betracht ziehn.
Hier wollen wir, damit der Leser sich in die Sache
hineindenke, nur irgend eine Vorstellung aus der
Mitte einer Reihe, ins Auge fassen. Es gilt von ihr
der merkwürdige Satz, daſs ihr ein Weiterstreben
beywohnt, wodurch sie eine Wirkung wider sich
selbst ausübt, um anderen Platz zu machen; unter der
Voraussetzung, daſs zwischen den ihr in der Reihe vorher-
gehenden und nachfolgenden, Gegensatz vorhanden sey.
Man betrachte noch einmal das obige Schema, und
in ihm die Vorstellung c. Es ist ihr, vermöge der ein-
gegangenen Verbindung, wesentlich, daſs mit ihr der
Rest R von b, und der Rest r' von azugleich im Be-
wuſstseyn gegenwärtig sey; hierauf ist ihr Streben in dem-
selben Grade gerichtet, womit sie sich selbst im Bewuſst-
seyn zu erhalten, oder sich in dasselbe zu erheben sucht;
denn das ganzec ist mit R und r' verschmolzen. Aber
es ist ihr auch, wenn gleich in abnehmendem Grade,
wesentlich, daſs sie allmählig das ganzed, das ganze
e, das ganzef, u. s. w. hervorrufe. Wenn nun d, e,
f, dem b und a entgegengesetzt sind, so ist ein Streben,
d, e, f zu erheben, zugleich ein Druck auf b und a, folg-
lich auch auf das mit ihnen verbundene c selbst. Also
wirkt c wider sich selbst; und man würde sich irren,
wenn man glaubte, diese Wirkung zerstöre sich
selbst. Denn angenommen, c sinke wirklich bis auf
den Rest ρ, so verliert es damit noch nichts an seinem
Vermögen, d zu erheben; mit welchem es gerade nur
durch seinen Rest ρ verbunden war. Erst wenn es tie-
fer, als bis auf diese Gröſse ρ niedergedrückt wird, kann
seine Wirkung auf d abnehmen. Gesetzt: es sey nun
bis
[353] bis auf seinen zweyten Rest ρ' gesunken: so wirkt es noch
eben so stark wie Anfangs, um e zu heben; und eben so
wird f von dem Reste ρ″, g von ρ‴, u. s. w. immer
gleich stark wider a und b gehoben, so lange nicht c
unter ρ', ρ″, ρ‴ … successiv herabgedrückt ist.
Was nun hier von c gesagt worden, das gilt eben
so von d in Beziehung des ihm Vorhergehenden und
Nachfolgenden, desgleichen von e, f, … mit einem Worte,
von jedem mittlern Gliede einer Reihe; nur nicht vom
ersten und vom letzten. Denn das erste Glied, indem es
die nachfolgenden successiv hebt, überschreitet weder
hierin den Grad von Verbindung, den es mit den nach-
folgenden eingehn konnte (und darin gleichen ihm auch
die mittlern Glieder), noch hat es solche Vorhergehende,
denen die Nachfolgenden zuwider wären; das aber ist
eben der Umstand, weswegen die mittlern sich selbst nie-
derdrücken. Was das letzte Glied anlangt: so ist es der
natürliche Ruhepunct für die ganze Reihe; es hat nichts
mehr hinter sich, wodurch es wider das vorhergehende
wirken könnte; und seinem inwohnenden Streben geschieht
Genüge, so lange, bis alle vorhergehenden auf den Punct
der mit ihm eingegangenen Verschmelzung herabgesun-
ken sind; ist alsdann noch ein fremdartiger Grund zur
fernern Hemmung vorhanden, so verliert sich allmählig
die ganze Reihe aus dem Bewuſstseyn.
Sollte nun in dem, was hier vorgetragen worden,
noch irgend etwas dunkel scheinen: so liegt es an man-
gelhafter Auffassung des vierten Capitels; welches man
übrigens bey weitem noch nicht ganz zu verstehen braucht,
um das gegenwärtige zu fassen. Alles kommt darauf an,
daſs man vollkommen einsehe, weshalb eine Vorstellung
ihre Nachfolgenden ganz, aber successiv, hingegen
ihre Vorhergehenden partial und abgestuft, aber si-
multan, hervorzuheben trachtet. Hieraus ergiebt sich das
Uebrige von selbst.
Jetzt ist noch ein wichtiger Umstand zu erwägen,
der von der Länge der Reihen abhängt. Wir wollen
I. Z
[354] hiebey die Reihe als gleichartig betrachten, das heiſst,
die Reste r, R, ρ, … gleich setzen, desgleichen die Un-
terschiede r'—r″, R'—R″ u. s. f., so daſs die r, r',
r″ … u. dgl. eine gemeine arithmetische Reihe bilden;
folglich in der Vorstellungsreihe die Distanz der Glieder
allein den Grad der Verbindung bestimme. Alsdann
kommt es nur noch auf die Gröſse der Differenz r—r'
an; sie wird bestimmen, mit wie vielen folgenden
eine jede vorhergehende Vorstellung verschmelze; ob
z. B. a schon ganz gesunken sey, ehe die Vorstellungen
g, h, i, k, hinzukommen, während die Reihe sich bildet:
oder ob vielleicht x, y, z, noch etwas von a im Bewuſstseyn
antreffen, womit sie verschmelzen können. Wenn näm-
lich während des Entstehens der Reihe, sich a noch mit
x, y, z, verbindet, so wird es sie auch bey der Repro-
duction wieder zu heben suchen; erreicht aber a nicht
einmal g, h, i, k, so geht auch sein Streben andre her-
vorzurufen, nicht bis in diese Entfernung hinaus. Unter-
schiede dieser Art haben einen wesentlichen Einfluſs auf
die Kraft der ganzen Reihe, sich geordnet zu repro-
duciren, oder kurz, auf ihr Evolutions-Vermögen;
und dies ists, was wir jetzt untersuchen wollen.
Wir nehmen an, die Reihe sey eine Zeit lang ganz
aus dem Bewuſstseyn verschwunden gewesen; jetzt könne
sie sich wieder erheben; aber es sey gleich viel Grund
zu dieser Erhebung für alle, in der Reihe enthaltenen,
Vorstellungen vorhanden: nun fragt sich, ob dennoch die
Reihe geordnet hervortreten werde? Es ist nämlich klar,
daſs wenn auch nur das erste und das vierte — oder
überhaupt das mte und das nte Glied — zugleich ins
Bewuſstseyn kämen, alsdann Verwirrung entstehn müſste;
denn das vierte würde die folgenden schon reproduciren,
die vorigen schon herabdrücken, während das erste noch
im Streben zur Reproduction des zweyten und dritten be-
griffen wäre.
Um die Sache leichter zu übersehen, wollen wir uns
abermals ein Schema entwerfen. Die einzelnen Vorstel-
[355] lungen in der Reihe sollen durch Linien angedeutet wer-
den; und eben so die Verschmelzungshülfen, die sie von
andern Vorstellungen empfangen. Man wird leicht fol-
gende Bezeichnung verstehn:
Die Linie AB soll die erste Vorstellung oder das
Anfangsglied in der Reihe bedeuten. Die erste Linie
rechts neben ihr zeigt die Verschmelzungshülfe, welche
ihr die zweyte Vorstellung derselben Reihe leistet; die
folgenden Linien deuten auf die immer geringeren Stre-
bungen der nachfolgenden Vorstellungen, wodurch sie
das Anfangsglied ins Bewuſstseyn zu rufen wirken. Also
die ganze Figur bezeichnet die Gesammtkraft, womit
das Anfangsglied hervorgehoben wird. Dem ähnlich wür-
den wir das Endglied so ausdrücken:
Dabey ist nun gleich zu bemerken, daſs, wenn auch
das Endglied eben so viele Verschmelzungshülfen durch
die ihm vorangehenden Vorstellungen bekömmt, wie das
Anfangsglied durch die ihm nachfolgenden, die Wirkung
dennoch nicht gleichartig ist; denn auf das Anfangsglied
wirken alle Hülfen simultan; hingegen auf das Endglied
dergestalt successiv, daſs es durch seine schwächere
Hülfen langsamer, als durch die stärkeren gehoben
Z 2
[356] wird. Eins der mittlern Glieder aber kann so bezeich-
net werden:
Ein Glied in der Gegend der Mitte erhält nämlich,
Falls die Reihe lang genug ist, eben so viele Hülfe von
seinen vorhergehenden und nachfolgenden, als das An-
fangs- und das Endglied zusammen genommen. Soll
dies nicht geschehn: so muſs die Reihe kürzer seyn;
und man sieht sogleich, daſs dies die Bedingung des
Evolutions-Vermögens ist. Denn wenn die Mitte
durch eine gleiche, simultan wirkende Kraft gehoben wird,
wie der Anfang, so ist unmöglich, daſs die Reihe geord-
net ablaufe, da alsdann Mitte und Anfang zugleich ins
Bewuſstseyn kommen.
Wir wollen nun die Reihe kürzer nehmen; und zwar
dergestalt, daſs sich das Anfangsglied gerade noch beym
Verschwinden, also durch seinen kleinsten Rest, mit dem
Endgliede verbunden habe. Alsdann muſs unsre Figur
für das Mittelglied sowohl rechts als links etwas verlie-
ren; denn die ganze Basis derselben muſs jetzt nicht dop-
pelt, sondern nur einfach so lang seyn, wie die des An-
fangs- oder Endgliedes. Die Figur besteht nunmehr nicht
aus zwey an einander gestellten rechtwinklichten Drey-
ecken, wie vorhin, sondern aus zwey Trapezien. Der
Inhalt eines jeden dieser Trapezien liegt sogleich vor Au-
gen, wenn die Figur als ein Continuum, oder die Menge
der Vorstellungen in der Reihe unendlich groſs, und die
Verschmelzung continuirlich abnehmend gedacht wird.
Die Höhe der Figur sey = a, ihre halbe Basis = b, so
ist jedes Trapezium = ½ ab—½ a · ½ b · ½ = ⅜ ab; und dies
ist die ganze, simultan wirkende, Kraft zum Hervorhe-
[357] ben der mittlern Vorstellung; die successiv wirkende,
welche das andre Trapezium darstellt, kommt hier nicht
in Betracht. Da nun das Anfangsglied mit der Ge-
sammtkraft ½ · ab simultan gehoben wird, wie unmittelbar
einleuchtet: so hebt es sich um ⅛ab stärker als die Mitte;
es tritt demnach hervor, und bestimmt das geordnete Ab-
laufen der Reihe.
Es ist leicht, dies allgemeiner zu fassen. Ein unbe-
stimmter Theil der Linie b sey die Basis unseres Tra-
peziums; diesen Theil nennen wir bx; so findet sich die
kleinere, auf der Basis senkrechte Seite des Trapeziums
durch die Proportion
b : a = (b—bx) : a(1—x).
Folglich das kleine Dreyeck, durch dessen Weg-
nahme vom gröſsern das Trapezium entsteht, ist nun
; und das Trape-
zium selbst = ½ ab (2x—x2). Wenn nun die Reihe nicht
zu lang ist: so entsteht das Ganze der Verschmelzungs-
hülfe für das Anfangsglied aus allen ihm nachfolgenden
Gliedern, in so weit es mit ihnen verschmolzen ist; aber
für das mittelste Glied nur aus denen, die ihm folgen
(so fern von der simultan wirkenden Kraft geredet wird).
Die eben gefundene Formel gilt demnach zwar für beyde;
allein x ist in ihr halb so groſs für das mittelste Glied
als für das erste; dies giebt für die Mitte eine Kraft
= ½ ab (x—¼ x2). Also verhält sich die Kraft für das
Anfangsglied zu der für das mittlere wie 2—x zu 1—¼x.
Und nimmt man x unendlich klein, oder die Reihe un-
endlich kurz: so hat man das Verhältniſs 2:1, das heiſst,
der Anfang besitzt zum Hervortreten doppelt so viel Kraft
wie die Mitte.
Man sieht hieraus, daſs die Reihen desto mehr
Evolutions-Vermögen besitzen, je kürzer sie
sind.
Hat dagegen eine Reihe durch ihre Länge — oder
durch irgend welchen andern Grund, — sich einmal der-
[358] gestalt verwirrt, daſs ihre Glieder näher verschmelzen als
es ihre Anordnung mit sich bringt, so ist die Reihe ver-
dorben; weil sie jetzt verschiedenen in ihr entstandenen
Reproductionsgesetzen, die unter einander unverträglich
sind, zugleich Genüge zu leisten strebt. (Hieher gehö-
ren falsche Gewöhnungen in Allem, was durch Wieder-
hohlung und Uebung gelernt werden soll.)
Weit besser als lange Reihen, sind Reihen von
Reihen, oder auch Reihen aus Reihen von Rei-
hen u. s. f., dergleichen vielfältig und in sehr bunten
Zusammensetzungen beym geordneten Denken vor-
kommen. (Auch gehört aller Rhythmus hieher; denn
er beruht auf Hauptreihen mit weit entfernten Glie-
dern, deren jedes eine kurze, untergeordnete Reihe
zwischen einschaltet.) Die Glieder solcher Reihen kön-
nen selbst verwickelte Complexionen seyn.
Ganz vorzüglich wird die Verwebung mehrerer Rei-
hen zu weitern Untersuchungen Stoff geben.
Es ist das Wesentliche der Verwebung, daſs in Ei-
nem Puncte mehrere Reihen sich kreuzen; oder auch,
daſs man von demselben Puncte anfangend, mehrere Rei-
hen zugleich durchlaufe; dieses Zugleich aber bedeu-
tet, daſs diese Reihen nicht etwan successive Glieder
einer höhern Reihe seyen, sondern wenn sie ja als ein
Früheres oder Späteres gedacht würden, die Succession
unter ihnen sich auch umkehren lieſse.
Gegen die psychologische Möglichkeit solcher Ver-
webung lassen sich Zweifel erheben. Mag a der gemein-
same Anfang zweyer Reihen seyn, die durch b, c, d,
und durch β, γ, δ, fortlaufen: so scheint es, die Reihen
könnten nicht zwey geschiedene bleiben, sondern es
müſsten Complexionen bβ, cγ, dδ entstehn, indem der
Rest r von a sowohl b als β, der Rest r' von a sowohl
c als γ, der Rest r″ von a sowohl d als δ durch einen
untheilbaren Act der Reproduction hervorrufe.
Wir wollen uns nun hier nicht auf die Thatsache
berufen, daſs zwey Radien eines Kreises, indem sie durch
[359] alle concentrische Kreise laufen, wirklich zwey solche
Reihen darstellen: sondern es zeigt sich hier die Noth-
wendigkeit dessen was die Thatsache vor Augen legt;
nämlich daſs b und β, wenn sie geschieden bleiben sol-
len, etwas zwischen sich schieben müssen, wodurch
und um wie viel sie getrennt sind. Allerdings ist hier ein
Streben zur Vereinigung vorhanden; und die Ver-
einigung muſs wirklich zu Stande kommen, wenn nicht
ein Widerstreben wegen der Reproduction des Zwi-
schenliegenden hinzutritt. Gerade hierin nun besteht die
Verwebung der Reihen, daſs, indem ihrer mehrere ab-
laufen, zugleich nicht nur jedes Glied eine von ihm aus-
gehende Reihe anregt, sondern daſs auch die secundären
Reihen sich nach einer Regel in andern Reihen Glied
für Glied vereinigt finden; so daſs die Vereinigungspuncte
jedesmal mehrfach gegeben sind, und daſs die Con-
struction unendlich vielfach in sich selbst zurück-
laufe, ohne mit sich selbst in Mishelligkeit zu gerathen.
Das Product solcher, sich gegenseitig hervorrufender Rei-
hen ist allemal ein Räumliches, obgleich nicht noth-
wendig eins im sinnlichen Weltraum.
(Denkt man sich die drey Hauptfarben Roth, Gelb,
Blau, sammt allen Zwischenliegenden, die aus ihnen ge-
mischt oder in sie zerlegt werden können: so erscheint
das ganze System nothwendig als ein gleichseitiges Drey-
eck, — gleichseitig, weil gleichviel Verschiedenheit der
möglichen Mischung zwischen Roth und Blau, Blau und
Gelb, Roth und Gelb liegt *). Auf dem Inhalte dieses
Dreyecks, der eine vollständige Fläche ausmacht, ange-
füllt von allen Mischungen aus dreyen Farben, kann man
in Gedanken alle möglichen Figuren zeichnen, darunter
auch ähnliche, oder gleiche, mit den bekannten geome-
trischen Eigenschaften. Dieses Farbendreyeck hängt mit
[360] dem sinnlichen Weltraum durchaus nicht zusammen; hat
auch mit ihm kein gemeinsames Maaſs, sondern seine
Maaſse müssen aus ihm selbst genommen werden; z. E. ein
Zehntheil der Distanz zwischen Roth und Blau; dies ist
eine völlig bestimmte Gröſse für das Farbendreyeck, und
ein zulängliches Maaſs für alle darauf zu entwerfenden
Figuren. Wollte man aber das Farbendreyeck aufs Pa-
pier zeichnen, so könnte es eben so gut ein Differential-
Dreyeck seyn, als eine Quadrat-Meile im sinnlichen
Weltraum einnehmen. — Es giebt noch andre Veran-
lassungen, Raum zu construiren; der intelligible Raum
in der Metaphysik gehört hieher. Genau genommen, lie-
gen auch die Gegenstände der reinen Geometrie nicht
im sinnlichen Weltraum; dieser letztere ist theils von Kör-
pern erfüllt, theils liegt es leer zwischen ihnen; die geo-
metrischen Kreise, Quadrate, Polygone aber sind nir-
gends in ihm, haben in ihm nicht einmal Platz, wur-
den auch nicht durch Begränzung aus ihm herausgeho-
ben, sondern der Geometer macht jeden von ihnen ganz
von vorn an, und würde aus jedem derselben einen ganz
vollständigen Raum, als dessen Umgebung, produciren,
wenn ihm daran gelegen wäre, so daſs auch dieser Raum
gar keine bestimmte Lage gegen oder in dem sinnlichen
Weltraum hätte, sondern man einen davon sich aus dem
Sinne schlagen müſste, um den andern zu denken. Be-
quemer ist es, die Constructionen, die nicht nothwendig
geschieden bleiben müssen, in einander fallen zu lassen;
eigentlich aber ist zwischen dem Kreise des Geometers
und den sämmtlichen sinnlich wahrnehmbaren Kreisen
das Verhältniſs einer platonischen Idee zu ihren Nachah-
mungen; wobey man sich erinnern wird, daſs eine solche
Idee durchaus nicht selbst einen Platz in der Sinnenwelt
hat, wo sie könnte gefunden oder auch nur dürfte ge-
sucht werden. — Ja sogar der sinnliche Weltraum ist
nicht ursprünglich nur Einer; sondern Auge, und Gefühl
oder Getast, haben unabhängig von einander Gele-
genheit zur Production des Raums gegeben; später ist bey-
[361] des verschmolzen und erweitert. — Man kann nicht oft
genug gegen das Vorurtheil warnen, als gebe es nur Ei-
nen Raum, den des sinnlichen Weltalls. Es giebt ganz
und gar keinen Raum; aber es giebt Veranlassungen, daſs
Systeme von Vorstellungen ein Gewebe von Reprodu-
ctions-Gesetzen durch ihre Verschmelzung erzeugen, des-
sen Vorgestelltes nothwendig ein Räumliches — näm-
lich für den Vorstellenden — seyn muſs, und solcher
Veranlassungen finden sich mehrere, die nicht alle glei-
chen Erfolg haben; denn manche angefangene Raum-Er-
zeugung bleibt unvollendet im Dunkeln liegen. Das Vor-
urtheil aber, von dem hier die Rede ist, reicht schon für
sich allein zu, alle Metaphysik zu verderben. Dagegen
ist jeder Lichtstrahl, der auf die Lehren vom Raume
fällt, der Metaphysik im Ganzen wohlthätig. Wie viel
hat Kant nicht schon allein dadurch gewirkt, daſs er zu
neuer Untersuchung über den Raum wenigstens die erste
Anregung gab!)
Obgleich wir hier mehr und mehr auf Gegenstände
kommen, die sich ohne Hülfe des analytischen Theils
der Psychologie kaum deutlich machen lassen: so muſs
doch wenigstens mit kurzen Worten angemerkt werden,
daſs die Reihenbildung unter den Vorstellungen auch auf
die Hemmung, und auf die Schwellen des Bewuſstseyns,
einen sehr starken Einfluſs ausübt. Im Allgemeinen läſst
sich dieses leicht einsehn. Gesetzt, eine Wahrnehmung
reproducire eine früher gebildete Reihe, zugleich aber
gebe sie Anlaſs zur Verknüpfung ihrer Partial-Vorstel-
lungen in eine andre Reihe: so muſs nothwendig eins
das andre stören. Allein hier ist an keine vestbestimmte
Hemmungssumme, und eben so wenig an ein fixirtes
Hemmungsverhältniſs, zu denken: denn die Repro-
ductions-Gesetze wirken allmählig, und eben so allmäh-
lig gerathen sie in Conflict. Damit ist aber nicht gesagt,
daſs sich Gegenstände dieser Art niemals würden der
Rechnung unterwerfen lassen; vielmehr haben wir schon
im fünften Capitel sowohl veränderliche Hemmungssum-
[362] men als auch veränderliche Hemmungsverhältnisse in die
Rechnung eingeführt.
Dies ist jedoch nicht Alles. Wo Hemmung we-
gen der Gestalt (so nenne ich kurz diesen Conflict
der Reproductionen) Statt findet, da giebt es auch Be-
günstigung wegen der Gestalt, oder das Gegen-
theil; und wo dieser psychologische Proceſs durch die
Auffassung eines gewissen Gegenstandes herbeygeführt
wird, da heiſst in gewöhnlicher Sprache, die nur das
Vorgestellte bezeichnet, von dem verborgenen Act des
Vorstellens aber nichts aussagen kann, — der Ge-
genstand schön oder häſslich. Will man jemals
über das Schöne im Raume nähere Kenntniſs erlan-
gen: so wird man die Mechanik des Geistes bis hieher
fortführen müssen.
Alle Vorstellungen im engern Sinne, das
heiſst, solche, die ein Bild sind von irgend einem, gleich-
viel ob wirklichen, oder scheinbaren, oder erdichteten
Gegenstande, sind Gewebe von Reihen, die in einer
schnellen Succession unmerklich fortflieſsend, durchlaufen
werden. Der Schwung durch die Partial-Vorstellungen
läſst einen Gesammt-Eindruck zurück, der jeden Augen-
blick auf die geringste Veranlassung wieder in irgend eine
innere Bewegung gerathen kann. Man betrachte drey
Puncte; sollte die Anschauung gleichmäſsig auf diesem
Bilde ruhen, so müſste das Auge auf den Mittelpunct
des Kreises gerichtet werden, der das Dreyeck umschlieſst;
allein dies geschieht gewiſs nicht bey solchen Dreyecken,
die vom gleichseitigen bedeutend abweichen; hier giebt
es einen andern Punct, in welchen das Maximum des
Zugleich-Auffassens der sämmtlichen Winkelpuncte
fallen würde. Aber auch da ruhet das Auge nicht, eben
deswegen, weil hier noch immer Ungleichheit Statt findet,
indem einer von den Puncten am meisten, ein anderer
am wenigsten gesehen wird; nur ein successives Sehen
kann dies ausgleichen. Was nun vom Vorstellen dreyer
Puncte (aufs Sehen mit dem leiblichen Auge kommt hier
[363] nichts an), das gilt um so mehr von vielen Puncten, von
ganzen Figuren und Körpern.
Durch diesen Schwung im Vorstellen wird nun die
Hemmung zwischen den Theilen des Bildes bey weitem
weniger merklich als sie sonst seyn würde. Was wir
schnell (aber doch nicht ganz gleichmäſsig, sondern mit
successivem Vorherrschen einzelner Theil-Vorstellungen)
übersehen können, das gilt uns für eine silmultane Wahr-
nehmung; nur dürfen die darin enthaltenen Reihen sich
nicht verwirren; sonst trübt sich das Bild wegen der wi-
der einander strebenden Reproductionen, durch welche
jeder Punct auf die übrigen führt.
Anmerkungen.
Gegen das Ende des vorhergehenden Paragraphen wird
der Leser eine Dunkelheit bemerkt haben, die sich nicht
hinwegräumen läſst. Sie liegt nicht in der Sache, aber in
der nothwendigen Form des Vortrags. Wir nähern uns
dem Ende des synthetischen Theils; es kommt darauf
an, daſs derselbe sich mit dem folgenden, analytischen,
gehörig verbinde. Wird dafür nicht im Voraus gesorgt:
so steht der synthetische Theil zu nackt, und späterhin
wird die Anknüpfung zu schwer. Hier muſs der Leser
mit eignem Denken dem Buche, welches an diesem
Orte nur Andeutungen der analytischen Betrachtung ge-
ben kann, zu Hülfe kommen. Er muſs sich dabey vor
Uebereilungen hüten; sonst entstehen Deuteleyen, wodurch
das Gegebene entstellt, und die Theorie auf falsche Wege
geleitet wird; wovon die Beyspiele in unserer neuesten
Philosophie (da, wo sie irgend welche Naturgegenstände
deducirt zu haben glaubt) nur zu reichlich vorhanden
sind.
Wollte man die Gegenstände, welche des analyti-
schen Verfahrens zur deutlichen Darstellung bedürfen,
im synthetischen Theile noch ganz unerwähnt lassen: so
würde noch eine andre Unbequemlichkeit entstehn. Man-
ches, das in den psychologischen Erscheinungen auf ver-
[364] schiedene Weise zum Vorschein kommt, und deshalb
im analytischen Theile an verschiedenen Orten seinen
Platz hat, ist gleichwohl einfach für die synthetische Be-
trachtung, denn es ist ein und derselbe Grund für eine
Mehrheit von Folgen, die unter verschiedenen nähern
Bestimmungen daraus entspringen. Um es in dieser Ein-
heit darzustellen, muſs es im synthetischen Theile mit
aufgeführt werden. Deshalb will ich hier noch nebenher
ein paar wichtige Puncte berühren, die mit den übrigen
Gegenständen dieses Capitels nicht in gerader Linie lie-
gen, und daher in den Paragraphen selbst nicht füglich
ihre Stelle erhalten konnten.
A. Involution der Vorstellungs-Reihen. Es
ist im Vorhergehenden vom Ablaufen der Vorstellungs-
Reihen, und von ihrem Evolutions-Vermögen gehandelt
worden. Man weiſs, daſs hiebey alles auf die verschie-
dene Wirksamkeit der Reste r, r', r″, u. s. f. ankommt,
wodurch jede einzelne Vorstellung in verschiedenem Grade
mit den andern Vorstellungen verknüpft ist. Damit aber
diese Verschiedenheit irgend eine Folge habe, muſs eine
solche Vorstellung im Bewuſstseyn wenigstens so hoch
hervorgehoben seyn, als der gröſste jener Reste anzeigt.
Wäre z. B von der Vorstellung a wohl das kleinere
Quantum r″ im Bewuſstseyn gegenwärtig, nicht aber der
gröſsere Rest r' und noch weniger der gröſste, r: so
würde die mit r″ verbundene Vorstellung d gerade so ge-
schwind gehoben, als die mit r' verknüpfte c, und die mit
r verschmolzene, b. Folglich könnten nun b, c, d, nicht
als Glieder einer Reihe auseinander treten; und dieser
Theil der Reihe a, b, c, d, e, f, g, wäre demnach ein-
gewickelt; während die nachfolgenden Glieder e, f, g,
zwar wohl unter sich zur Evolution bereit wären; aber
deshalb einem andern Nachtheil unterworfen seyn wür-
den, weil b, c, d nicht gehörig nach einander ihr Maxi-
mum erreicht hätten und von da wieder herabgesunken
wären, also gewissermaaſsen noch im Wege stünden,
und das Bewuſstseyn anfüllten.
[365]
Befinden sich nun die Vorstellungsreihen im Zu-
stande der Involution (und das ist immer der Fall, wenn
nicht ein besonderer Grund zu ihrer hinlänglichen Auf-
regung wirkt), so ist die Mehrheit und Verschiedenheit
ihrer Glieder unbemerkbar; sie gelten alsdann für Ein-
heiten, wie z. B. die Vorstellung eines Buches, eines
Flusses, eines Beweises; wo die Mannigfaltigkeit der
Beyspiele deutlich zeigt, daſs aus der Lehre von der In-
volution sich Folgerungen ergeben müssen, die an ganz
verschiedene Orte des analytischen Theils hinzuweisen
sind. Es ist übrigens von selbst klar, daſs unsre Vor-
stellung eines Buchs nichts anderes enthält, als die ein-
zelnen Vorstellungen von dem, was auf den verschiede-
nen Blättern desselben nach einander zu lesen steht,
sammt der entsprechenden Reihe von Gedanken und
Gefühlen während des Lesens; und so auch in den an-
dern Beyspielen, die man ohne Mühe vervielfältigen kann.
Man denke nun an eine Bibliothek, eine Stromkarte, und
eine systematische Theorie; so wird man sogleich ge-
wahr, daſs hier Bücher, Flüsse, Beweise, wiederum ein-
zelne Glieder von Reihen und von Geweben aus diesen
Reihen geworden sind; gerade so, wie, noch weiter fort-
schreitend, wir einer Bibliothek einen Platz in der Reihe
der Merkwürdigkeiten einer Stadt anweisen.
B. Wölbung und Zuspitzung der reprodu-
cirten Vorstellungen. Was ich durch diese figür-
lichen Ausdrücke bezeichne, das hat einen noch viel grö-
ſsern Umfang als das Vorige, und ist in der Erfahrung
nicht so leicht aufzufinden. Man erkennt es jedoch an
dem so wichtigen Unterschiede der schärfern oder stum-
pferen Auffassungen, von denen der Grad der Bestimmt-
heit im Wahrnehmen und im Denken abhängt. Um von
der synthetischen Seite her den Gegenstand deutlich zu
machen, wollen wir uns fürs erste zurückversetzen zu
ganz einfachen Vorstellungen, etwa zum Hören eines
Tons, oder zum Sehen einer Farbe; die Anwendung auf
die Vorstellungsreihen wird alsdann leicht seyn.
[366]
Wenn eine Vorstellung eben jetzt erzeugt, oder, wie
man zu sagen pflegt, durch die Sinne als Empfindung
gegeben wird: so reproducirt sie nicht bloſs die völlig
gleichartigen, sondern man kann sie mit einem Lichte
vergleichen, das einen Schein ringsumher verbreitet.
Denn indem die neue Vorstellung alles ihr Entgegenge-
setzte zurückdrängt, was sich so eben im Bewuſstseyn
findet, wird auch alles das, worauf dieses Entgegenge-
setzte hemmend wirkte, mehr oder weniger frey. Es er-
hebt sich also, wenn wir z. B. einen Ton hören, nicht
bloſs die völlig gleichartige ältere Vorstellung eben dieses
Tones, sondern beynahe in gleichem Falle mit ihm be-
finden sich die nächst höheren und niedrigeren Töne;
daher streben sie gleichfalls empor ins Bewuſstseyn; und
so geht das in abnehmendem Grade auf die entfernteren
Töne fort. Also kommt eine ganze Tonmasse, oder in
einem andern Beyspiele eine ganze Farbenmasse in Be-
wegung; nur nicht so merklich, als ob alle diese Töne
und Farben wirklich wahrgenommen würden. — Jetzt
kommt es aber darauf an, ob die Empfindung des wirk-
lich gehörten Tones länger anhalte. Wenn das ge-
schieht: so stöſst diese Empfindung mehr und mehr die
nicht völlig gleichartigen Vorstellungen wieder zurück;
und hiebey wird der innere Widerstreit um desto stärker,
je mehr die älteren Vorstellungen unter sich verschmol-
zen, und je geneigter sie deshalb sind, alle in Gesell-
schaft ins Bewuſstseyn zu kommen. Vergleicht man nun
die ganze aufgeregte Masse der Vorstellungen mit einem
Gewölbe: so kann man fortfahren zu sagen, das Gewölbe
werde vom äuſsern Umfange gegen die Mitte hin mehr
und mehr niedergedrückt; und endlich müsse es sich
dergestalt zuspitzen, daſs gerade nur die, der neuen
Wahrnehmung völlig gleichartige ältere Vorstellung her-
vorrage. So geschieht es, so oft wir einen Gegenstand
bestimmt als diesen und keinen andern auffassen;
denn hierin liegt offenbar ein Actus der Ausschlieſsung
[367] dessen, was wegen der nähern oder fernern Aehnlichkeit
ins Bewuſstseyn mit hervorgetreten war.
Die Uebertragung des hier Gesagten auf unvollkom-
mene Complexionen und auf Reihen ist sehr leicht. Wird
ein einzelnes Glied derselben neu gegeben: so regt sich
der Verbindung wegen die ganze Complexion oder die
ganze Reihe; und im letztern Falle ist nun die Reihe im
Begriff abzulaufen. Damit aber tritt eine Hemmungs-
summe ins Bewuſstseyn, welche wieder sinken muſs; un-
ter der Voraussetzung nämlich, die neue Auffassung
dauere noch fort, und die gleichartige ältere Vorstellung
könne daher ihrem Weiter-Streben nicht nachgeben.
Man erinnere sich hiebey des Gefühls, welches ent-
steht, wenn eine Folge von Vorstellungen langsamer als
gewöhnlich, dargeboten wird. Z. B. wenn eine Reihe von
Wagen vorüberfährt beym Leichenzuge; oder wenn Je-
mand sehr langsam spricht; oder wenn eine bekannte
Melodie auffallend langsam gesungen wird. Alles Lang-
same, wenn es nicht aus andern Gründen widrig ist, nä-
hert sich dem Feyerlichen; es stöſst die schneller fortei-
lenden Vorstellungsreihen zurück. So gerathen wir ins
Gebiet der ästhetischen Beurtheilung. Hier versteht sich
von selbst, daſs das Langsame nicht matt und schwach
seyn muſs, sondern energisch genug, um den Fluſs des
Vorstellens wirklich anzuhalten, und das Vordrängende
zurück zu zwingen.
Andererseits kommt es darauf an, ob der Mensch
sich Zeit lasse, und ob in ihm der Drang der Vorstel-
lungen von zufälligen Hemmungen frey sey. Schwache
und langsame Köpfe sind nicht aufgelegt zu scharfen,
wohlbegränzten Auffassungen. Der beschriebene Proceſs
erfordert nämlich, daſs Energie in der Reproduction sey;
sonst kommt es gar nicht zum Anstoſsen an eine Gränze,
welches allemal das innere Streben voraussetzt, dieselbe
zu überschreiten, es kommt also nicht zu dem Conflict
von dem wir reden. Die Complexionen und Reihen müs-
[368] sen auf inniger Verbindung ihrer Glieder beruhen; sonst
ruft nicht eine Vorstellung die andere so lebhaft auf, daſs
dadurch eine starke Zurückstoſsung könnte veranlaſst wer-
den. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich
werden, weil ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung
ist das Gegentheil des Scharfsinns, auch bei sonst leb-
haften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen Puncte
ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens;
sonst lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren
Täuschungen, nicht vermeiden; die Vorstellungen wölben
sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen sie nicht, das
heiſst, die Gedanken kommen nicht zur Reife.
§. 101.
Da es an diesem Orte bloſs noch darauf ankommt,
die Verbindung zwischen dem synthetischen und dem
analytischen Theile der Psychologie zu vermitteln: so
werde ich auch einige andre, an sich höchst wichtige
Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als
Folgen aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der
Ferne zeigen lassen.
Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie ent-
steht, in mehr als Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum
Theil mit denen, die sie eben im Bewuſstseyn vorfindet;
theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit denjenigen,
deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar,
veranlaſst. Geht man den reproducirten weiter nach, so
sind diese ehemals auf ähnliche Weise, seltener oder
öfter, Verbindungen mit anderen eingegangen. Daher
finden sich in der dritten von jenen drey Arten der Ver-
knüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur all-
mählig entwickelt werden können. Vermöge der ersten
Art bekommt die Vorstellung eine Stelle in der Zeit;
vermöge der zweyten einen Ort im Raume; vermöge der
dritten einen Platz im Reiche der Begriffe.
Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung,
alles Verbundene theils simultan, theils successiv (§. 100.)
ins Bewuſstseyn zu bringen; hierin wird sie theils begün-
stigt,
[369] stigt, theils gehindert; und sofern die Reproduction wirk-
lich zu Stande kommt, ist sie das Resultat des Zusam-
menwirkens vieler zugleich strebender Vorstellungen. In
der Regel kehren diejenigen Vorstellungen am leichtesten
wieder, die erst kurz vorher im Bewuſstseyn waren; denn
die Zeitreihe, in der sie liegen, hebt sich von zwey Punc-
ten aus, vom jetzigen und von jenem früheren; diese Zu-
sammenwirkung wird bey längeren Zwischenzeiten un-
wirksam, wenn nicht gewisse hervorragende Momente in
der Zeitreihe (die man Epochen nennen kann), unter
sich eine stärkere Verbindung eingegangen waren.
Wir wollen nun annehmen, einerley Vorstellung sey
schon sehr oft gegeben worden: so wird sie mit sehr
Vielem verbunden seyn; und dies Viele wird in mancher-
ley Gegensätzen stehn; daraus werden vielerley theils
materiale Hemmungen (wegen der Beschaffenheit der
einzelnen Partial-Vorstellungen), theils formale (Hem-
mungen wegen der Gestalt, nach vorigem §.) ent-
springen. Nun sollte zwar die oftmals gegebene Vorstel-
lung eine groſse Gesammt-Kraft besitzen; allein ihr Ver-
bundenes steht sich und ihr im Wege; es verdunkelt
sich gegenseitig, und sie wird dadurch im Aufstreben ge-
hindert.
Hiebey ist insbesondere zu merken, daſs wegen der
successiven Reproductionen (nach §. 88.) das Ver-
bundene jener Hauptvorstellung nur allmählig mehr und
mehr ins Bewuſstseyn treten sollte; die Folge davon
läſst sich leicht einsehn. Nämlich wenn die Hauptvor-
stellung mit vielen Reihen verbunden ist, diese Reihen
aber unter einander entgegengesetzt sind, so muſs die
Wirksamkeit, womit sie einander widerstreben, nothwen-
dig wachsen, indem die Zeit verläuft; denn während
dieses Zeitverlaufs sollen die Reihen sich im Bewuſstseyn
entwickeln. Weil sie sich nun daran gegenseitig mehr und
mehr hindern, je weiter ihre Entwickelung nach dem Re-
productionsgesetze fortschreiten müſste: so leidet die
Hauptvorstellung selbst hiedurch einen wachsenden Wi-
I. A a
[370] derstand; sie kann sich im Bewuſstseyn nicht lange hal-
ten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Ver-
bindungen.
(Dies ist die eigenthümliche Schwierigkeit, welche
sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann
äuſsert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen.
Die Gedanken vergehn ihnen; sie wissen gar bald nicht
mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gäh-
nen. Umgekehrt erhellet hieraus die Kraft der Beyspiele,
das Denken zu unterstützen, indem jedes derselben eine
bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand der
übrigen abwehrt.)
Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten
Hemmungs-Proceſs ein wichtiger Fortschritt in der gei-
stigen Bildung. Ist nämlich die Hauptvorstellung nur ge-
hörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver-
schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft
sie gegeben wurde (vergl. §. 85.), und hat nur nicht ir-
gend ein physiologisches Hinderniſs diese Verschmelzun-
gen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen,
oder schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häu-
fige Wiederhohlung unter verschiedenen Umständen den-
noch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vorstellungen
einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun
beinahe isolirt, weil das Ablaufen der ihr anhängenden,
sich unter einander hemmenden, Reihen nicht mehr merk-
lich ist. Sie ist also abgelöset von ihren zufälligen Ver-
bindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstellungen
dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen
treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem
Vorgestellten, abhängen; kurz, sie können sich nach
ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber werden sie
dem Verstande zugeschrieben, und heiſsen Begriffe.
Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen
die Vorstellungen in dem Zustande, worin sie unmittel-
bar an die Sprache geknüpft seyen; und von der Spra-
che: sie sey ganz eigentlich das, was verstanden oder
[371] nicht verstanden werde, so daſs hieraus sich die ursprüng-
liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes
Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück-
kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor-
stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.
Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B
sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande
kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus-
gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander
nicht dergestalt hemmen, daſs ihr ferneres Ablaufen da-
durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf
A und B zurück, und die Complication muſs unterbleiben.
Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte
ihres Zusammenstoſsens würde aufgehalten, so würde
die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden,
und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen
hervorträte und sie zerstörte. Daſs diese Art der vor-
läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche
des Traums ausmacht, läſst sich leicht übersehen; das-
selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, daſs hier
das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran-
ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens
bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden;
so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs-
reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch
zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver-
bindung allmählig verscheucht wird.
Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so-
gleich, daſs jedes gesprochene Wort für den Hörer ein
Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein-
ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden
werden. Alles, was diesen Proceſs der Verwebung hin-
dert, macht die Rede unverständlich.
Aber die Sprache liegt nicht bloſs in den Worten,
sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth
das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt;
und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in-
A a 2
[372] dem er den Lauf der Begebenheiten vorwärts und rück-
wärts in Gedanken verfolgt. Es ist klar, daſs hiebey al-
les auf das Zusammenwirken seiner Vorstellungsreihen
ankommt; gleichviel ob vom praktischen oder vom theo-
retischen Verstande die Rede ist. Man kann dem Ver-
stande zwey Dimensionen zuschreiben: Weite und
Tiefe. Die Weite hängt ab von der Menge und Man-
nigfaltigkeit solcher Reihen, deren Partial-Vorstellungen
möglichst genau, und ohne Verwirrung, verschmolzen
und geordnet seyen; die Tiefe bezieht sich auf die Re-
production der gleichartigen Vorstellungen, wodurch sie
Begriffe sind. Oberflächliche Menschen reproduciren
heute nur das Gestrige und Vorgestrige; bey tiefen Cha-
rakteren bewegt jeder Gedanke den Stamm des ganzen
frühern Lebens.
Für die Sprache sind alle Begriffe, als solche, Sub-
stantiva; das Gehen und Stehen eben sowohl als der Baum
und das Haus; das Wenn und das Aber eben so gut
wie das Süſse und das Kalte. Aber keine unserer Vor-
stellungen ist bloſs und ursprünglich ein Begriff; eine
jede, wie sehr sie auch isolirt zu seyn scheine, hängt
noch immer in allen ihren, wie sehr auch verdunkelten,
Verbindungen; darum liegt in jeder ein mannigfaltiges
Weiterstreben, so wie es oben (im vorigen §.) be-
schrieben wurde. In diesem Weiterstreben müssen die
Gedanken sich gegenseitig tragen und halten; darum
biegt die Sprache ihre Worte, und baut daraus Perio-
den. Hiezu dienen ihr vorzüglich ihre verba activa und
passiva; ohne uns aber bey den Worten weiter aufzu-
halten, müssen wir noch einen Blick werfen auf die Be-
griffe des Thuns und Leidens; und wir werden dar-
auf sogleich kommen, nachdem wir noch zuvor angemerkt
haben, daſs die Bildung der Perioden auf dem Gegen-
satze des Ja und Nein (auf der sogenannten Qualität
des Urtheils) beruht, und dieses wiederum ein mög-
liches Schweben zwischen Ja und Nein voraussetzt.
Das Nein, welches gewiſs kein Erfahrungsbegriff seyn
[373] kann, da alle Erfahrung nur Positives giebt, ist nichts
anderes als eine veste Hemmung, wogegen eine Vorstel-
lungsreihe anläuft. Absolut vest braucht die Hemmung
nicht zu seyn; nur so vest, wie die Auſsenwelt sich uns
zeigt, wenn sie, unsern Wünschen und Bemühungen
trotzend, uns fortwährend einerley Wahrnehmung er-
neuert; so daſs dagegen unsre Wünsche vergeblich an-
laufen, und hiedurch verneint werden. Daſs auch diese
Art von relativer Vestigkeit nicht ursprünglich in den
einzelnen Vorstellungen liegt: weiſs man aus den ersten
Elementen der Statik des Geistes, bey fortschreitender
Ausbildung aber kann sehr leicht in einem Systeme von
Vorstellungen eine Wirksamkeit entstehn, die sich ge-
gen ein anderes eben so fortwährend erneuert, wie die
äuſsere Anschauung gegen die von innen hervordringen-
den Gedanken.
§. 102.
Die Lehren der Mechanik des Geistes sind so all-
gemein, daſs sie auch dann noch gelten müſsten, wenn
wir in einer ganz anderen Natur, als in der wirklichen,
lebten; so wie die Mechanik der vesten Körper sich,
mutatis mutandis, ohne besondre Schwierigkeit auch auf
eine Astronomie würde übertragen lassen, deren Grund-
gesetz eine Anziehung verkehrt wie der Würfel der Ent-
fernung seyn möchte. Damit würden aber die Erschei-
nungen der Himmelskörper keinesweges zusammenstim-
men; will der Astronom, während er rechnet, die That-
sachen nicht ganz aus den Augen verlieren, so muſs er
innerhalb solcher Voraussetzungen bleiben, die zu den
Thatsachen passen. Eben so: wollen wir allmählig uns
vorbereiten, die Mechanik des Geistes mit dem zu ver-
knüpfen, was wir in uns fühlen, und aus der Erfahrung
von uns wissen: so ist es nöthig, daſs wir uns nun be-
stimmter, als zuvor, an unsre Welt, das heiſst, an die
eigenthümlichen Beschaffenheiten solcher Vorstellungs-
reihen erinnern, die sich im menschlichen Geiste unter
[374] den vorhandenen menschlichen Verhältnissen, unwillkühr-
lich bilden.
Hier kommen uns nun zuerst die Unterschiede des
Thätigen und Leidenden entgegen. Viele Complexionen
wahrgenommener Merkmale, — oder, in unserer gewöhn-
lichen Sprache, viele Dinge, — zeigen sich und ihre
Veränderungen in der Regel nur als Endpuncte von
Reihen, die von andern Dingen ausgehn; oder doch nur
in so fern als Anfangs-Puncte, wie fern sie zuvor End-
puncte früherer Reihen waren. Weit seltener sind die
andern Dinge, von denen eben so oft Reihen ausgehn,
als bey ihnen anlangen. Jene erstern nun werden als
Stoff, als Materie, die mit sich machen läſst,
bezeichnet; diese letztern, so fern sie von vielen verschie-
denen Reihen die möglichen Anfangspuncte sind, denkt
man als thätig, als Quelle und Ursprung von Ereig-
nissen.
Man unterscheide hier sorgfältig, was die Worte:
Thun und Leiden, eigentlich bedeuten sollten, von dem,
was sie in gemeiner Sprache wirklich bedeuten. Jenes
ist eine metaphysische Frage, deren Gewicht der gemeine
Verstand gar nicht empfindet, und deren Beantwortung
nicht hieher gehört; aber die zweyte, psychologische Frage
ist schon vollständig beantwortet durch das, was oben
von den Vorstellungsreihen gelehrt wurde. Wer sich
ein Thun denken will, der versetzt sich in einen Zu-
stand, als ob in ihm eine Reihe dergestalt abliefe, daſs
sie vorzugsweise durch das reproducirende Streben des
Anfangsgliedes hervorgehoben würde; um den Verlauf
der Reihe bekümmert er sich dabey nicht. Deshalb ist
eine Quelle das natürliche Symbol des Thätigen; ob-
gleich sich bey näherer Betrachtung finden würde, daſs
auch hier alles, was das sinnliche Auge wahrnimmt, sich
lediglich leidend zeigt, indem ja die Einfassung der
Quelle ruhet, und das Wasser bloſs hervortritt, um fort-
zuflieſsen, ohne irgend etwas, wenn nicht zufällig, zu er-
greifen und abzuändern. Aber unsern eigenen Gemüths-
[375] zustand, indem eine Vorstellung die von ihr ausgehende
Reihe hervorzuheben strebt, leihen wir der Quelle; darum
belebt sie sich für uns, als ob auch in ihr etwas wäre,
welches sich anstrengte, das Wasser zu heben und zu
fördern. Ueberhaupt bedeutet im gemeinen Sprachge-
brauche die Redensart: das kommt davon, genau so
viel als: dies hier ist die Wirkung von jener Ursache
dort; und wenn hiemit der gemeine Verstand noch ein
dunkles Gefühl des Widerspruchs verbindet, der in dem
Leidenden entstanden wäre, wenn es sich selbst verän-
dert hätte, so geht er schon weiter als die Kantische
Schule ihn führen würde, die, freylich seltsam genug, in
dem Causal-Begriff auch nichts anderes zu finden wuſste,
als den Anfang einer Reihe.
Ein zweyter Umstand, den wir aus unserm Verhält-
nisse zur Auſsenwelt hervorheben müssen, ist die Be-
weglichkeit des Menschen in seiner Umgebung.
Ohne diese würden die Anschauungen der Dinge stets
für die Dinge selbst gehalten werden; dadurch aber, daſs
der Mensch einen Unterschied des Abwesenden und des
Gegenwärtigen faſst, lernt er, daſs den Gegenständen ihr
Erscheinen oder Nicht-Erscheinen zufällig ist. Die Ge-
genstände bekommen, so fern sie vest stehn, auch veste
Plätze in seinen sich allmählig bildenden, ordnenden,
und verknüpfenden Vorstellungsreihen, worin die Reihen-
folge der Anschauungen aufbewahrt wird. Ihr Erschei-
nen aber (ihre Sichtbarkeit, Hörbarkeit u. dergl.) wird
ihnen wie eine Art von Ausstrahlungs-Sphäre zugeschrie-
ben, die mit wachsender Entfernung an Stärke abnimmt.
Sie selbst, die Gegenstände, werden betrachtet als das,
woher das Erscheinen kommt; und der Mittelpunkt, in
welchem die Strahlen des Erscheinens sich von allen Sei-
ten her vereinigen und kreuzen, legt den Grund des Ich,
welches zu seiner Ausbildung noch der innern Welt
bedarf, die in der Mitte der Auſsenwelt oder des Nicht-
Ich sich umherbewegend, nicht bloſs Reihen in sich auf-
nimmt und endigt, sondern auch andre Reihen theils von
[376] sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch
welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, daſs
man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder pas-
siv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe
in gleichem Maaſse Statt findet. Die innere Welt aber,
oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter
Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung
höchst verschieden; sie erscheint anders dem Dichter, an-
ders dem Philosophen, und beyden anders als dem
schuldbewuſsten Sünder, oder als dem Tugendhaften, der
sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal
aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die
Auſsenwelt; so daſs auch in ihr das Ich wie ein umher-
wandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene
Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zer-
legen, so wird man finden, daſs sie gerade so wie unsre
Auſsenwelt, aus Vorstellungsreihen besteht; mit dem Un-
terschiede, daſs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und
Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,
als in der Auſsenwelt, in welche wir jeden Augenblick
neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Ver-
hältniſs zu dem, was wirklich auſser uns existirt, sich
unaufhörlich ändert.
Bey dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht
als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik
des Geistes gehörte. Unstreitig muſs eine Zeit kommen,
wo man auch das Verhältniſs derjenigen Vorstellungs-
Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter ver-
schiedenen Umgebungen und Umständen bildeten, auf
synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie
es auf analytische Weise geschehen kann. Vielleicht
wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige
von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stär-
keren und älteren jener Vorstellungsmassen die schwächern
appercipirt werden; ähnlich der Aneignung neuer Wahr-
nehmungen des äuſsern Sinnes durch die älteren Vor-
stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute
[377] beurtheilen. Die Aufforderung, Untersuchungen dieser
Art anzustellen, ist von der dringendsten Art; denn es
kommt darauf an, die Bedingungen der Selbstbeherr-
schung zu finden, von welcher offenbar die Appercep-
tion des eignen Inneren die erste Voraussetzung ist. Es
kommt darauf an, die praktische Vernunft zu er-
gründen, welche man durch die praktische Philosophie
allein noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die
Vernunft ist kein bloſses Sollen, sie ist auch ein wirk-
liches Handeln; sie vollzieht allemal in einigem Grade
das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch sie
der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und
nicht von der Stelle gerückt wird.
Sollen aber die synthetischen Untersuchungen so
weit fortgeführt werden: so müssen die Elemente, welche
ich hier vortrug, erst geprüft, dann vollständiger ausgear-
beitet werden. Diese Mühe, wer wird sie übernehmen?
Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn
er so viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn
er sich in das Ganze meiner Lehre zu finden weiſs. Al-
lein damit pflegt es nach meinen Erfahrungen etwas lange
zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, daſs Zuhörer,
die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den
Leser jetzt geführt habe, nun erst irre wurden an dem
Ich; nun erst bemerkten, mit welchem schwierigen Pro-
bleme sie von Anfang an beschäfftigt gewesen waren;
nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen,
worin sie vom ersten Anfang an hätten seyn sollen.
Wohl denen, die, wenn auch spät, doch wenigstens ir-
gend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen For-
schen aufgeregt zu fühlen!
Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen
gelingen können, mit welchen sich das philosophische
Publicum in den letzten Zeiten vergebens beschäff-
tigt hat.
[378]
Kant begann ein preiswürdiges Unternehmen, indem
er den frühern Dogmatismus durch Kritik des Erkennt-
niſsvermögens, — das heiſst: durch die Frage nach der
Möglichkeit des Erkennens, — erschütterte, und neue
Anstrengungen des Denkens hervorrief. Aber in so fern
er damit ein neues System begründen wollte, fehlte es
ihm selbst am Grunde und Boden. Dem starken Geiste
fehlten die nothwendigen Hülfsmittel und Vorarbeiten.
Es liegt mir ob, im zweyten Theile dieses Werks
die Möglichkeit des Erkennens aus psychologischen Prin-
cipien zu erklären und zu begränzen. Dort aber wird
sich diese Absicht meiner Bemühungen vielleicht zu sehr
unter den übrigen verlieren; daher, und um einigen Le-
sern mehr Anknüpfungspuncte darzubieten, will ich hier
noch anhangsweise einige Bemerkungen über die Kant-
sche Lehre, sofern sie Kritik seyn soll, hinzufügen. Da-
bey könnte ich mich auf den Erfolg berufen, und diesen
gegen Kant gelten machen. Die Sätze, daſs Räumliches
und Zeitliches bloſse Erscheinung, Substanzen und Ursa-
chen nur unsre Gedanken, Einheit und Regierung der
Welt nur Ideen der Vernunft seyen, haben bekanntlich
die Nachfolger verleitet, sich die Welt a priori zu con-
struiren; und sich in sich selbst zu versenken, um die
Dinge wie sie sind, aus der Idee hervorgehen zu lassen.
Diese ganz unkritische Art zu philosophiren setze ich fürs
erste bey Seite, denn sie war nicht Kants Absicht, der
vielmehr das Wissen vom Glauben trennen, und es auf
Erfahrung beschränken wollte. Was aber mich eigent-
lich beschäfftigt, das ist das Unkritische der Kantschen
Kritik selbst.
Kann man das Erkenntniſsvermögen kritisiren, wenn
man den Proceſs des Erkennens ganz und gar ver-
kennt? wenn man nicht einmal nach diesem Processe
fragt; wenn man unterläſst, die Nachforschung auf ihn
zu richten?
„Was sind Raum und Zeit?“ So stellt Kant die
Frage seiner transscendentalen Aesthetik. Er macht also
[379]den Raum und die Zeit zu Objecten seines Denkens.
Kein Wunder, daſs seine Antworten sich auf den Welt-
raum beziehn, der übrig bleibt, wenn die Körper wegge-
dacht werden; und auf die Zeit, worin die Weltbegeben-
heiten geschehn; dergestalt, daſs dieser Raum und diese
Zeit die nothwendigen Voraussetzungen der Sinnenwelt
selbst auszumachen scheinen. So wird das Leere dem
Vollen vorausgeschickt; das Nichts wird zur Bedingung
des Etwas. Gewiſs die seltsamste und ungereimteste al-
ler Täuschungen!
In der That aber ist der Raum nur die Möglichkeit,
daſs Körper da seyen, und die Zeit nur die Möglichkeit,
daſs Begebenheiten geschehen. Diese Möglichkeiten las-
sen sich nicht mehr ableugnen, nachdem einmal wirk-
liche Körper wirklich als ein Räumliches, Ausgedehn-
tes und Begränztes aufgefaſst, und nachdem einmal
wirkliche Begebenheiten als dauernd eine bestimmte Zeit,
und als solche, die gerade nicht früher eintraten und
nicht später endigten, sind vorgestellt worden. Gerade
dasselbe gilt von allem, was sich jemals in der Wirklich-
keit vorgefunden hat. Man denke einmal alle wirklichen
Töne und Laute, alles Hörbare hinweg! Das kann man;
aber die Möglichkeit, daſs Töne gehört werden könnten,
kann man nicht leugnen. Folglich bleiben auch alle Re-
geln der Musik gerade so unwandelbar stehn, wie die
Geometrie ohne Körperwelt. Das Verhältniſs der Ter-
zen, Quinten, Octaven; die Nothwendigkeit, den Leitton
nach oben, die kleine Septime aber nach unten hin auf-
zulösen, dies alles steht vest a priori, ob nun in diesem
Augenblick wirkliche Saiten und Ohren vorhanden sind
oder nicht. Desgleichen denke man alle Farben hinweg;
aber die Möglichkeit der Farben kann man nicht leug-
nen; folglich auch nicht den Satz, daſs das Farbendrey-
eck zwey Dimensionen, hingegen die Tonlinie nur eine
Dimension habe. Nichts desto weniger beziehen sich alle
diese Sätze auf vorausgesetzte Töne und Farben, die
wirklich gehört und gesehen werden könnten; und eben
[380] so bezieht sich das Auſser-Einander auf irgend ein a
und b, welches könnte eins hier und das andre dort seyn;
und das Nach-Einander auf ein α und β, wovon eins
früher und ein andres später kommen soll. Die Form
der Zusammenfassung ist freylich losgerissen vom Zu-
sammengefaſsten; sie ist über dasselbe hinaus, ins Un-
endliche erweitert worden, weil die Erweiterung, nachdem
sie einmal in Gang kam, durch keine Gränze aufgehal-
ten wurde; das heiſst, weil eine Unmöglichkeit des
weitern Auſser- und Nach-Einander nirgends
anfängt. Gerade so fanden wir oben das Ich losgeris-
sen von allen individuellen Bestimmungen. Aber nichts
desto weniger bezieht sich das Ich auf die Individualität,
der Raum auf das Räumliche, die Zeit auf das Zeitliche;
und die Kantische Untersuchung, die eher vom Raum
als vom Räumlichen redet, behandelt die leere Form als
eine Sache, zerreiſst Beziehungspunct und Bezogenes;
kehrt das Hinterste nach vornen, und klebt an nichtigen
Hirngespinnsten.
Was geschieht in mir, indem ich a, b, c, d neben
und auſser einander denke? Denn vom Anschauen mit
dem leiblichen Auge ist hier nicht nöthig zu reden. Wel-
che Modification erleidet mein Vorstellen des a dadurch,
daſs sich mit ihm das Vorstellen des b, c, d durch die
Bestimmung verbindet, b liege zwischena und c, und
wiederum czwischenb und d? Warum ist mein
Vorstellen im Uebergange von a zu d, oder von d zu a
begriffen, und warum geschieht dieser Uebergang nicht
sprungweise? Da alle diese Vorstellungen in mir sind,
nehmen sie denn auch in mir einen Raum ein? Etwa
so, wie die eingebildeten materialen Ideen, das heiſst,
Gehirn-Eindrücke, in verschiedenen Theilen der Gehirn-
masse neben einander liegen sollten? Wenn dies eine
lächerliche Hypothese ist, wie geht es denn zu, daſs mein
Vorgestelltes sich auſser einander, und reihenförmig dar-
stellt, während doch die Acte des Vorstellens hiebey schlech-
terdings nicht auseinander gerissen werden dürfen?
[381]
Das sind die Fragen, die beantwortet werden müs-
sen. Sie passen auf die Landkarte von Utopien eben so
gut, als auf die von Europa; und, mit gehöriger Abän-
derung auf die Zeit übertragen, eben so wohl auf die
Geschichte von Udepoten, als auf die vom Erdball und
vom Sonnensystem. Die Antworten darauf müssen eben
so wohl die Raumvorstellungen des Hundes und des Ha-
sen erklären, als die des Menschen, obgleich von den
Thieren schwerlich jemand glauben wird, sie stellten
Raum und Zeit als unendliche gegebene Gröſsen vor.
Wo und wie irgend ein Räumliches oder Zeitliches ge-
dacht, oder gedichtet, oder geträumt, oder gesehen, oder
gefühlt, oder als Symbol gleichniſsweise zur Erläuterung
unsinnlicher Gegenstände gebraucht und gestaltet wird,
in diesen und allen erdenklichen Fällen muſs das Vorge-
stellte darum geordnet auseinander treten, weil in dem
Vorstellen ein geordnetes Streben ist, vermöge dessen
jede kleinste Partial-Vorstellung alle die andern in be-
stimmter Reihenfolge nach sich zieht, und in sie hinüber-
flieſst. Zu erklären, wie dieses Streben und
Wirken in die Vorstellungen komme, das war
die Aufgabe; aber ein paar unendliche leere Gefäſse hin-
zustellen, in welche die Sinne ihre Empfindungen hinein-
schütten sollten, ohne irgend einen Grund der Anord-
nung und Gestaltung, das war eine völlig gehaltlose,
nichtssagende, unpassende Hypothese.
Eben so unkritisch war die Uebereilung, darum, weil
Raum und Zeit Formen unseres Anschauens sind, zu be-
haupten, sie wären nicht Formen der Auffassung un-
sinnlicher Gegenstände, oder mit andern Worten, sie
kämen den Dingen an sich nicht zu. Gerade umgekehrt!
Dieselben Gründe, derentwegen das Farbige und das
Fühlbare sich räumlich ordnet, kehren mit geringer Ver-
änderung auch dort wieder, wo eine Mannigfaltigkeit des
unsinnlichen Realen im zusammenfassenden Denken soll
überschauet werden. Wir schauen freylich bloſs mit den
Sinnen, wenn Schauen eine formale Modification des
[382]Empfindens seyn soll. Aber die Form des Anschauens
hat eine viel weitere Sphäre; sie ist Form des geordne-
ten Zusammenfassens überhaupt, der Gegenstand sey wel-
cher er wolle. Nur allein da, wo alle Zusammenfassung
wegfällt; da, wo man das primitive Reale einzeln be-
trachten will: hier gilt auch keine Form der Zusammen-
fassung; hier müssen Raum und Zeit verneint werden.
Räumliches und Zeitliches ist seinem Begriffe nach ein
Relatives; jedes Reale an sich betrachtet ist ein Ab-
solutes; darum, und aus keinem andern Grunde, ist das
Reale an sich unzeitlich und unräumlich.
Ungeachtet aller Mängel behält gleichwohl die Kant-
sche transscendentale Aesthetik immer noch ihr groſses
Verdienst durch die einfache Bemerkung, daſs Raum und
Zeit Formen des Vorstellens sind. Dasselbe Verdienst
besitzt auch die transscendentale Logik in Ansehung der
sogenannten Kategorien; indessen ist längst bemerkt wor-
den, daſs dieser Theil der Kantschen Lehre noch viel
hohler und verworrener ist als jener. Man würde ein
weitläufiges Werk schreiben müssen, um die ungeheure
Masse von Fehlern aller Art, welche sich hier aufgehäuft
findet, auseinander zu setzen; und niemals hat sich die
Blindheit der Sectirer auffallender gezeigt, als an den
Kantianern, die viele hundertmal diese Fehler nachge-
betet, und der Welt als hohe Weisheit angepriesen ha-
ben *). Nichts in diesem ganzen Abschnitte der Ver-
nunftkritik ist gesund; von dem eingebildeten Leitfaden
zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe, der in ei-
ner falschen Tabelle der logischen Functionen bestehn
soll, bis zu der dreisten und völlig grundlosen Behaup-
tung einer Wechselwirkung aller Substanzen, wobey das
Zugleichseyn der Dinge für eine objective Bestimmung
[383] derselben ausgegeben wird (als ob daraus, daſs der Ju-
piter im Zeichen der Zwillinge steht, und dort mit den
Sternen dieses Zeichens zugleich wahrgenommen wird,
ein Causalverhältniſs zwischen diesem Planeten und jenen
Fixsternen folgte), ist hier Alles leere System-Künsteley,
und Mishandlung der wichtigsten metaphysischen Grund-
begriffe. Von dieser meiner Behauptung, die ich im
Nothfalle durch einen ausführlichen Commentar belegen
werde, kann ich hier nur den einen Punct näher be-
leuchten, welcher den obigen Fehlern der transscenden-
talen Aesthetik analog ist.
Was ist Einheit und Vielheit? Was Realität und
Negation? Was Substanz und Ursache? Was Mög-
lichkeit und Nothwendigkeit? Sind es leere Gefäſse, auf-
gestellt im menschlichen Verstande, in welche die Erfah-
rung ihre Anschauungen hineinschütten und bunt durch
einander werfen soll? Auf welche Anschauung (die als
solche allemal positiv ist) paſst die Kategorie der Nega-
tion; und wann ist von irgend einem anschauenden We-
sen ein Negatives unmittelbar wahrgenommen worden?
Welche Substanz, in ihrem Gegensatze als letztes
Subject gegen ihre Prädicate, Attribute und Accidenzen,
und als Beharrliches gegen das Mancherley was an ihr
wechselt, ist jemals ins Reich der Erscheinungen einge-
treten? Welche Kraft hat je die Nothwendigkeit, womit
aus ihr die Wirkung folgt, den Sinnen dargeboten?
Welche Möglichkeit, in ihrem Gegensatze gegen das
Wirkliche, hat jemals ihren Platz mitten unter den Er-
fahrungen, die als solche lauter Wirklichkeiten sind, ein-
genommen und behauptet? — Wenn nun die Anschau-
ung, unmittelbar und für sich allein, ganz unfähig ist,
sich der zu ihr gehörigen Kategorien zu bemächtigen:
wie kommen denn diese dazu, sich jener zu bemächti-
gen? Durch den Verstand? Also hat der Verstand die
Realität früher als das Reale, die Substantialität früher
als bestimmte Substanzen, die Causalität eher als be-
stimmte Ursachen, die Wirklichkeit eher als wirkliche
[384] Dinge! Gerade so hatte die Sinnlichkeit eher die leeren
Undinge, Raum und Zeit, als das Räumliche und das
Zeitliche! Aber Realität, Substantialität, Wirklichkeit
u. s. f., sind nichts als abstracte, und, wie die Geschichte
der Metaphysik bezeugt, sehr dunkle Begriffe, die, wenn
sie zu den Anschauungen gleichsam als eine fremde Zu-
that hinzukämen, ihnen den sehr schlechten Dienst lei-
sten würden, sie zu verfinstern und zu verwirren, anstatt
sie zu ordnen und verständlich oder verständig zu ma-
chen. Ist der Verstand ein Vermögen, die Anschauun-
gen zu verderben? Ihrer Klarheit ein trübes Element bey-
zumischen? Daſs für ihn zu fürchten sey, er werde im
Vergleich mit der Sinnlichkeit verlieren, scheint Kant
gefühlt zu haben; denn sonst lag ihm die Versuchung
sehr nahe, seine transscendentale Logik und Aesthetik
ganz analog und parallel abzufassen. Den bekannten vier
Sätzen der metaphysischen Erörterung über Raum und
Zeit wären dann folgende vier Behauptungen gegenüber
getreten:
1) Damit gewisse Empfindungen als Attribute auf
eine Substanz, als Wirkungen auf eine Kraft u. s. w.
bezogen werden, dazu müssen die Vorstellungen von Sub-
stanz, Kraft u. s. f., schon zum Grunde liegen.
2) Substanz, Kraft, Reales, Nothwendiges u. s. f.,
sind nothwendige Vorstellungen a priori. Man kann
sich niemals eine Vorstellung davon machen, daſs gar
Nichts sey und wirke, obgleich man sich ganz wohl den-
ken kann, daſs jedes einzelne Ding, jede einzelne Thä-
tigkeit aufgehoben würde.
3) Substanz, Realität, Kraft u. s. w., sind keine dis-
cursiven, allgemeinen Begriffe, sondern reine Anschauun-
gen. Denn erstlich kann man sich nur eine einzige Sub-
stanz vorstellen; und wenn man von vielen Substanzen
redet, so verstehet man darunter nur Theile einer und der-
selben alleinigen Substanz. Diese Theile können auch nicht
vor der einigen allbefassenden Substanz gleichsam als
deren Bestandtheile (daraus ihre Zusammensetzung mög-
lich
[385] lich sey), vorhergehen, sondern nur in ihr gedacht wer-
den. Sie ist wesentlich einig; das Mannigfaltige in ihr,
mithin auch der allgemeine Begriff von Substanzen über-
haupt, beruhet lediglich auf Einschränkungen. Hieraus
folgt, daſs in Ansehung ihrer eine Anschauung a priori
allen Begriffen von derselben zum Grunde liegt. So wer-
den auch alle naturphilosophische Grundsätze, z. E. daſs
alle Substanzen in der Welt in Wechselwirkung stehn,
niemals aus allgemeinen Begriffen von Substanz und Welt,
sondern aus der Anschauung, und zwar a priori, mit apo-
dictischer Gewiſsheit abgeleitet.
4) Die Substanz wird als eine unendliche gegebene
Gröſse vorgestellt. Diese Unendlichkeit bedeutet Nichts
weiter, als daſs alle bestimmte Gröſse von Substanzen
nur durch Einschränkungen einer einzigen zum Grunde
liegenden Substanz möglich sey. Daher muſs die ur-
sprüngliche Erkenntniſs der Substanz als uneingeschränkt
gegeben seyn.
Wer Kants Kritik aufschlägt, wird sehn, daſs ich
hier mit geringer Veränderung wörtlich abgeschrieben
habe. In diesen Sätzen spiegelt sich aber die heutige so-
genannte Naturphilosophie so klar, daſs Niemand mir die
veränderte Lesart als meine Erfindung zurechnen wird.
Nun hat Kant, obgleich er die Symmetrie, die er
hier so leicht erlangen konnte, nur gar zu sehr liebte,
doch nicht für gut befunden, sich selbst in der Lehre
von den Kategorien also abzuschreiben. Er läſst es sich
vielmehr eine saure Mühe kosten, seine Kategorien als
Formen der Verknüpfung darzustellen, wodurch das
Mannigfaltige der Erfahrung, nicht bloſs so, wie es in
der Zeit zufällig zusammenkomme, sondern wie es in der
Zeit objectiv sey, zu einer Erkenntniſs von Objecten
zusammentrete. Die Substantialität ist daher bey ihm
keine Substanz, die Realität kein Reales, die Causalität
keine Kraft, sondern es sollen erst Substanzen, reale Ge-
genstände, Kräfte u. s. w., in der zeitlichen Erfahrung ge-
funden werden; und nach seiner ausdrücklichen Versiche-
I. B b
[386] rung „hat die Kategorie keinen andern Gebrauch zur Er-
kenntniſs der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegen-
stände der Erfahrung.“
Kant sahe also ein, daſs in Ansehung der wahren
Bedeutung der Kategorien alles auf die Frage ankomme:
wie bildet sich unsre Erfahrung?
Wenn er nun dies einsah: wie mag es zugegan-
gen seyn, daſs er in einer so wichtigen Untersuchung die
einfachsten Zeugnisse der Erfahrung selbst überhörte?
Es ist nämlich klare Thatsache: daſs in Anse-
hung des Gebrauchs, den wir von den Katego-
rien zu machen haben, die Erfahrung noch bey
weitem nicht vollständig bestimmt, daſs sie
nichts Fertiges, sondern im Werden und im
Schwanken begriffen ist.
Das Universum, ist es Eins? Oder ist die Welt
nur eine Summe von ursprünglich Vielem? Darüber ist
Streit! Das geistige Erdenleben des Menschen, ist es
eine Realität, oder eine Negation, und bloſse Ein-
schränkung eines höheren Daseyns. Darüber ist Streit!
Die Imponderabilien, Licht, Wärme, Elektricität u. s. w.,
ja die Seele selbst, sind es Substanzen oder Acci-
denzen? Darüber ist Streit! Die sogenannten freyen
Handlungen der Menschen, sind sie zufällig oder noth-
wendig? Darüber ist Streit!
Wie sollen diese Streitfragen zu ihrer Beantwortung
gelangen? Durch die Kategorien? Allerdings müſste es
so geschehen, wenn dieselben den vollständigen Grund
ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände in sich selbst
enthielten. Warum aber, wenn die Kategorien in jedem
menschlichen Verstande, die nämlichen, wenn die Ver-
fahrungsarten und Gesetze des Verstandes in uns Allen
die gleichen sind, warum finden wir nicht alle die Be-
antwortung dieser Fragen auf gleichlautende Weise?
Ohne Zweifel darum, weil weder unser Nachdenken voll-
endet, noch unsre Wahrnehmung und Beobachtung voll-
ständig ist.
[387]
Noch weit weniger vollendet ist die Erfahrung des
gemeinen Mannes, so wie er sie sich denkt. Er empfin-
det jeden Augenblick Wärme oder Kälte; aber die Fra-
gen: Ist die Wärme eine Substanz? Muſs man
die Kälte als bloſse Negation der Wärme, oder
umgekehrt die Wärme als Aufhebung der Kälte
betrachten? — Diese Fragen fallen ihm nicht ein. Er
hält von Jugend auf das Wasser für eine Substanz; aber
bey weiterer Ausbildung läſst er sich geduldig belehren
das Wasser sey nur eine Verbindung des Eises mit der
Wärme, das Eis aber nur eine Form, wie Sauerstoff
und Wasserstoff verbunden sich in der Erscheinung dar-
stellen. Seine Kategorien haben ihn nicht belehrt, und
widersetzen sich der Belehrung nicht; sie verhalten sich
bloſs passiv!
Die kritische Untersuchung des Verstandes, was will
sie nun eigentlich wissen? Die Anzahl der ursprünglich
vorhandenen Kategorien? Angenommen, es gäbe der-
gleichen ursprüngliche Denkformen wirklich: so sind die-
selben für sich allein nur leere Begriffe, aber kein wirk-
liches Denken und Erkennen; dasjenige aber, was wir
kritisiren wollten, um es besser zu leiten, war eben das
wirkliche Erkennen. Die Bewegung, welche in uns
vorgeht, während wir denken, die Aufregung, die Er-
regbarkeit selbst, welche dabey vorausgesetzt wird,
diese muſste untersucht werden.
Hat aber diese Bewegung bestimmte Gesetze, denen
sie mit Nothwendigkeit folgt: so können auch die Kate-
gorien Erzeugnisse des Denkens seyn; und zwar un-
vollendete Erzeugnisse eines noch weiter fortzu-
setzenden Denkens. Die Nothwendigkeit, welche eini-
gen Lehrsätzen über dieselben beywohnt, ist alsdann zwar
nicht empirisch, sondern a priori; jedoch auf eine Weise,
die mit präformirten Begriffen nicht die geringste Aehn-
lichkeit hat. Hierüber schweigen aber die Argumente der
Kantschen Schule gänzlich, und das ist sehr natürlich, denn
sie hat vom Mechanismus des Denkens keine Kenntniſs.
[388]
Kant dachte sich seine Kritik als Propädeutik zu
einem künftigen System. Hinwiederum seine Lehre von
den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sollte
die Vorbereitung ausmachen zur Kritik der Vernunft im
engern Sinne. Allein ich glaube jetzt hinreichend gezeigt
zu haben, daſs noch etwas ganz anderes, nämlich die
Hauptansichten der Statik und Mechanik des Geistes, vor-
ausgehn müssen, wenn selbst das, was Kant als seine
Elementarlehre betrachtete, zum Gegenstande einer gründ-
lichen Untersuchung soll gemacht werden. Im Allgemei-
nen hat man längst erkannt, daſs der Kantschen Kritik
irgend etwas vorangeschickt werden müsse. Aber man
wird sich nicht verhehlen können, daſs Reinhold, Fichte
und Schelling sich in ihren Bemühungen, die Kant-
schen Untersuchungen besser zu begründen, sehr weit
von diesem Gegenstande entfernten; während Fries,
Krug u. a. der Darstellung ihres Meisters so nahe blie-
ben, daſs eigentlich nur die Form des Vortrags geändert
wurde. Die deutsche Philosophie befindet sich nun noch
immer in einer solchen Lage, daſs Kants Schriften die
Hauptwerke sind, welche Jeder lesen muſs, um sich zu
orientiren; daſs also auch der Gang, welchen Kant ein-
mal eingeschlagen hat, eine ganz entschiedene historische
Wichtigkeit behauptet, wie man auch übrigens darüber
urtheilen möge. Daher können wir diese Lehren von den
Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes weder bey
Seite setzen, noch sie mit allen ihren Fehlern so lassen
wie sie sind; es bleibt nichts anderes übrig, als sie ge-
nauer zu prüfen. Wollen nun einige Leser dieses Buchs
sich vorläufig selbst versuchen, ob sie aus dem, was hier
vorgetragen worden, sich Rechenschaft über den Ursprung
unserer Vorstellungen von Raum, Zeit, und den Katego-
rien herleiten können: so wird dies für sie eine zweck-
mäſsige Vorbereitung auf den zweyten Theil dieses Werks
seyn; obgleich meine Absicht, indem sie die ganze Psy-
chologie umfaſst; sich beträchtlich weiter erstreckt.
Durch Fichte, und ganz unstreitig schon durch sei-
nen
[389] nen Vorgänger Kant, war die Philosophie auf den Weg
des Idealismus gerathen; hier stand ihr ein theoretischer,
höchst durchgreifender Irrthum im Wege, und sie konnte
nicht von der Stelle kommen. Später sind die Dinge des
Wissens und des Glaubens, die Kant sorgfältig geschie-
den hatte, wieder durch einander gemengt worden; daher
ist der Untersuchungsgeist gelähmt; der Nebel der My-
stik hat sich überall ausgebreitet; und die Philosophie
liegt wiederum still. Den Idealismus zerstört die Unter-
suchung über das Ich, schon in der noch unvollendeten
Gestalt, wie ich sie hier (mit dem Vorbehalte, sie im
zweyten Theile dieses Werkes wieder aufzunehmen) fürs
erste liegen lasse. Damit die Mystik sich von der Wis-
senschaft zurückziehe, braucht nur die Verbindung zwi-
schen Mathematik und Philosophie, die ich hier wieder
angeknüpft habe, gehörig benutzt zu werden. Daher
schlieſse ich diesen Theil mit der Ueberzeugung, schon
jetzt das Nothwendige geleistet zu haben, um die Wis-
senschaft von ihren Hindernissen zu befreyen. Nur guter
Wille muſs hinzukommen; diesen kann ich nicht schaf-
fen, ich kann ihn nur wünschen, nicht mir sondern der
Wissenschaft. Wenn man nicht nachdenken will, so
gehn nicht bloſs meine Bemühungen verloren, sondern
jeder Andere, der Aehnliches versucht, wird gleiches
Schicksal haben. Glaubt dies heutige Geschlecht, es
dürfe nur mit alten Formen und Gebräuchen auch alte
Meinungen und Irrthümer wieder auf die Bahn bringen;
versinkt es in den Wahn von einer goldenen alten-Zeit,
die Einige in die Jahre unserer Väter, Andre ins Mittel-
alter, noch Andre in eine vorhistorische Periode hinein-
dichten; kennt es keine andre Weisheit als den Empi-
rismus, und liebt es kein geistiges Wohlseyn auſser Träu-
men und Ahnungen: so wird der psychologische Mecha-
nismus, der in der Weltgeschichte wie im Einzelnen
wirkt, die nächsten Jahrhunderte so fortführen, wie er die
vorhergehenden geführt hat; man wird abwechselnd von
Freyheit und von Gesetzmäſsigkeit reden, und weder Eins
I. C c
[390] noch das Andere erreichen; die Literatur wird die Biblio-
theken sprengen; aber aus allem Schreiben und Lesen,
ja aus allem Beobachten und Versuchen wird kein wah-
res Wissen hervorgehn. Einer spätern Zeit aber ist es
alsdann vorbehalten, sich das Licht, was man hatte aus-
gehn lassen, noch einmal anzuzünden. Was geschehen
kann, das geschieht irgend einmal gewiſs. Dem mensch-
lichen Geiste ist es möglich, seine wahre Natur zu er-
kennen; darum wird er sie erkennen; alsdann werden die
Wege des Lebens sich erhellen; der Mensch wird wis-
sen was er thut, er wird seine Kräfte nutzen, und nicht
mehr blindlings sein Heil zerstören.
Appendix A
Gedruckt bey August Wilhelm Schade, in Berlin.
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phie.
Processes erfunden; ja ich erinnere mich in einem französischen Buche
von einer Metaphysik des Violinspielens gelesen zu haben.
gleichen.
genannten Hauptpuncte der Metaphysik verantworten. Man vergleiche
auch unten, §. 33—35., und mein Lehrbuch zur Einleitung in die Phi-
losophie, im vierten Abschnitte.
enthalten, nämlich vermöge ihrer Beziehungen, welche vollständig auf-
zusuchen eine Aufgabe ist: der beliebe in die §§. 11 — 13. zurück-
zublicken.
Abschn. 4, Cap. 2.
Hauptsätze des Gorgias und Protagoras hier anzuführen; welche in der
That auf das angegebene Resultat hinauslaufen, so weit auch übrigens
ihre Lehrart von der des Sokrates entfernt war. Das: παντων χρημα-
των μετρον ανϑρωπος, ist eigentlich eine Ermahnung, alles Wissen sey
relativ und subjectiv.
understanding, wie gewöhnlich, durch Verstand übersetzen wollen.
in the schools, where men are allowed without shame to deny the
agreement of ideas, that do manifestly agree etc.
den vielleicht Einige das besser verstanden haben, was ich in mei-
ner praktischen Philosophie S. 28—31. über das Begehren gesagt
habe.
Theorie des Vorstellungsvermögens, drittes Buch §. 38.
und de attentionis mensura.
meint sey, das erfährt man nicht so wohl wenn man die Psychologen
fragt, als wenn man sie ertappt. So läſst sich Wolff ertappen
im §. 601. der psych. empir. Zuerst sagt er recht gut: appetitus mu-
tatur in aversationem; dann verbessert er sich: appetitus dicitur mu-
tari in aversationem, quando loco facultatis appetendi sese exe-
rit facultas aversandi!
allein, oder ob nur Eine Substanz für mehrere Individuen anzuneh-
men sey? welche Frage übrigens die Psychologie nicht berühren darf,
weil das Letztere schon aus Gründen der allgemeinen Metaphysik ent-
schieden zu verneinen ist.
ist, citire ich, was mir zuerst in die Hände fällt, Poley’s 140 ste
Anmerkung zu seiner Uebersetzung des Locke.
dergeschrieben worden.
denselben Gründen keine Rücksicht genommen, derentwegen hier alles
vermieden wird, was als Persönlichkeit könnte ausgelegt werden. Der
Leser hat nun die Freyheit, anzunehmen, der Gegenstand meines Tadels
sey schon verschwunden, und das Neueste sey davon weit verschieden.
die Rede zu seyn, als von einigen neuern Schriftstellern, die in den-
selben Irrthümern befangen sind, wie die oben bezeichneten.
ein Verfahren, welches bisher absichtlich ist im Dunkeln gehalten
worden.
der Metaphysik, wird für manche der hier berührten allgemein-meta-
physischen Gegenstände mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philoso-
phie leisten können. Man vergleiche daselbst §§. 97. 101. und beson-
ders §. 113.
ὁυτω δη τȣτων ȣδεποτε των αυτων ἑκαςων φανταζομενων, ποιον αυ-
των, ὡς ον ὁτιȣν τȣτο και ȣ03BA; α[λλ]ο, παγιως διισχυριζομενος, ȳκ αισχυ-
νει γε τις ἁυτον; ȳκ εςιν!
principia metaphysica, hat sich in die Note zum §. 9., wo die zweyte
Formel der Methode kurz angegeben ist, ein Fehler eingeschlichen,
den ich hier berichtigen muſs. Es heiſst nämlich dort: accedente au-
tem τ ῳ N ad M, pristina redit contradictio. Allein dies paſst nicht;
denn die Meinung würde seyn, daſs M durch N modificirt werden,
nicht daſs es ihm gleich seyn solle; und das bloſse Modificiren würde
keinen Widerspruch in sich schlieſsen.
pag. 414.) gegen Mendelssohn auftritt, ist nichts als ein Beweis
mehr, wie gänzlich der berühmte Kritiker seinen metaphysischen Scharf-
versenkt, wie wenig er dagegen die eigenthümliche Bedeutung man-
cher Hauptbegriffe, und besonders des Begriffs vom Seyn, erwogen
hatte. (Ein paar andre Beyspiele haben wir oben an den Begriffen von
Substanz und Ursache gehabt.) Dem Seyenden eine reale Mehrheit
von Graden beyzulegen, welche wirklich ab- und zunehmen könnten;
oder ihm eine reale Mehrheit von Attributen beylegen, die sich (wie
in Spinoza’s Gott) unabhängig von einander entwickeln könnten;
oder ihm eine Ausdehnung durch wirklich verschiedene Theile des
Raums, oder eine reale Dauer in der Zeit, oder endlich gar eine Ver-
änderlichkeit in der Zeit zuschreiben: alles dies sind gleich arge, klare
Ungereimtheiten; denn sie setzen immer Ein Seyendes als ein Mehre-
res, und das Mehrere wiederum durch wer weiſs welches Band zu ei-
ner unbekannten Einheit verbunden; von welcher Einheit gleichwohl
so viel bekannt ist, daſs eben sie die wahre Qualität jenes Seyenden
ausmachen würde (indem von dem Mehrern nur als von Einem ge-
sagt wird, daſs es sey); womit denn das Geständniſs abgelegt wäre,
daſs die vorgebliche Mehrheit, in ihrem Gegensatze gegen die Einheit,
nicht real, nicht die wahre Qualität des Wesens sey, sondern aufs
Höchste (falls sie sich dazu schickt) für eine zufällige Ansicht
des Wesens gelten könne. — Wie dergleichen zufällige Ansichten als
Hülfsmittel unseres Denkens gebraucht werden müssen, wenn
Wir von den Störungen und Selbsterhaltungen der Wesen eine Theo-
rie aufstellen wollen (so wie der Astronom seine Logarithmen und
Integralformeln beym Rechnen braucht, ohne dergleichen für reale
Prädicate der Gestirne zu halten), dies ist in meinen Hauptpuncten
der Metaphysik a. a. O. angegeben worden.
Leser vielleicht nicht bloſs den §. 5. meiner Hauptpuncte der Meta-
physik, sondern auch die schon angeführte Abhandlung de attractione
elementorum vergleichen, worin ich ausführlich die Unmöglichkeit rea-
ler bewegender Kräfte gezeigt, und die Anziehung der Elemente
auf eine bloſs formale Nothwendigkeit zurückgeführt habe, welche in
der Art der Raumerfüllung durch einfache Wesen ihren Sitz hat.
Grade der Stärke und des Gegensatzes, welche hier nachgewiesen wor-
den. Bey einem Gegenstande, worüber die Erfahrung so deutlich
spricht, mag dies zum Beginnen der Untersuchung hinreichen. Die
reale Möglichkeit folgt aus allgemein-metaphysischen Betrachtungen
über die zufälligen Ansichten der Wesen, und über das Zusammen
derselben, als Bedingungen der Störungen und Selbsterhaltungen.
jener Linie enthält.
jedem neuen Element, welches sinkt, fragt sich gleichsam von neuem,
wie es vertheilt werden solle? und es regt dadurch die widerstreben-
den Kräfte auf. Auch widerstehen dieser Vertheilung immer die ganzen
Vorstellungen, folglich die nämlichen Kräfte.
allein die obige Unterscheidung befördert die Faſslichkeit.
den Rechnungen hinzuzudenken ist, vergleiche man unten §. 144.
sehr wichtig werden in Hinsicht auf Alles, was sich mit zwischenfal-
lenden Pausen im Gemüthe gleichmäſsig wiederhohlt; auf die Stöſse
erneuerter Anstrengung; desgleichen auf Hebung und Senkung in der
Metrik und Musik.
Hemmungssummen ganz sinken. Vergl. §. 74.
phie u. s. w. habe ich die gegenwärtige Aufgabe behandelt, und dort
die Rechnungen ausführlicher als hier dargestellt, auch einige Erörte-
rungen und Folgerungen umständlicher enwickelt; indessen wolle man
lieber die neue Bearbeitung in der Abhandlung: de attentionis men-
sura, vergleichen.
tables d’une nouvelle fonction transcendante, à Munic. 1809; und
Herrn Professor Bessels Aufsatz im ersten Stück des Königsberger
Archiv’s für Naturwissenschaft und Mathematik.
weil sie, ohne mir besonders wichtig zu seyn, Andre veranlassen kann
weiter zu gehn.
gen, ist hier nicht nöthig. Andre Voraussetzungen werden andre Con-
structionen ergeben, auf deren Gestalt hier nichts ankommt.
Gröſse etwas Achtungswerthes bekommt. Auch haben diese Männer
darin Recht, daſs sie nicht mit den rüstigen Führern der Zeit vor-
wärts eilen wollten; aber sehr unrecht, wenn sie vom Standpuncte
Kants auch nicht weiter rückwärts gehen wollen.
- Lizenz
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Herbart, Johann Friedrich. Psychologie als Wissenschaft. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjdz.0