[][][][][][][][]
[figure]
[][]
Die
Wunder des Himmels,
oder

gemeinfaßliche Darſtellung
des
Weltſyſtems.


Mit Königl. Würtembergiſchem Privilegium.
Drei Bände.
Mit dem Bildniſſe des Verfaſſers und aſtronomiſchen Tafeln.

Erſter Theil: Theoriſche Aſtronomie.

Stuttgart,
Carl Hoffmann.
1834.

[]
Theoriſche Aſtronomie
oder
allgemeine Erſcheinungen
des
Himmels.


Mit dem Bildniſſe des Verfaſſers und aſtronomiſchen Tafeln.

Stuttgart,:
Carl Hoffmann.
1834.

[][[I]]

Die
Wunder des Himmels.


[[II]][[III]]

Vorrede.


Da der Verſuche, die vorzüglichſten Lehren der Aſtronomie
gemeinfaßlich darzuſtellen, ſelbſt in den letzten Jahren mehrere,
und unter ihnen manche glückliche gemacht worden ſind, ſo ſchien
es mir gewagt, den wiederholten Aufforderungen freundſchaftlicher
Leſer nachzukommen, und jene Verſuche noch mit einem neuen
zu vermehren. Ich fügte mich endlich ihrem Wunſche, noch eh’
ich ſelbſt darüber einig war, auf welche Weiſe ich ihn am beſten
erfüllen ſollte. Waren doch, wie es ſich nur zu bald zeigte, ſie
ſelbſt noch nicht darüber eins geworden. Die einen zogen eine
ganz populäre, und durchaus keine anderen Kenntniſſe voraus-
ſetzende Darſtellung als die geeignetſte für einen großen Kreis von
[VI[IV]] Leſern vor. Da aber eine ſolche mehrere der intereſſanteſten Ge-
genſtände nur an ihrer Oberfläche, und manche gar nicht berühren
durfte, ſo glaubten die Anderen, einen tiefer eindringenden, und
mehr für bereits vorgebildete Leſer geeigneten Vortrag vorziehen
zu müſſen. Dadurch würde aber das Ganze dem bei weitem
größten Theile der Leſer weniger zugängig geworden ſeyn, und
zwar eben jenem Theile, für welchen Schriften dieſer Art vorzüg-
lich beſtimmt zu werden pflegen. Zwiſchen jenen beiden Parteien
erhob ſich eine dritte, die den jetzt zu einer Art von Mode ge-
wordenen Wahlſpruch des juste milien auch hier geltend machen
wollte, in der Erwartung, dadurch jene beiden Klaſſen von Leſern
am beſten zu befriedigen.


Wir wurden bald einig, der letzten Art der Darſtellung den
Vorzug vor den übrigen einzuräumen, aber wir waren und ſind
es noch nicht über die Mittel, dieſen ſchönen, jedoch gewiß auch
ſchweren Zweck zu erreichen.


Bei einer näheren Unterſuchung wurde nämlich die nicht er-
freuliche Entdeckung gemacht, daß beinahe alle die Vorſchläge,
welche beiden Theilen zugleich genügen ſollten, oft noch mehr
geeignet waren, es mit beiden zu verderben. Auch fehlte es nicht
an Beiſpielen und verunglückten Verſuchen aller Art, die, mich
wenigſtens, nicht aufmuntern konnten, denſelben gefahrvollen Weg
zu betreten.


[V]

Und doch war er ſo lockend, dieſer Weg, und ſelbſt die
Schwierigkeiten, die er darbot, gaben ihm, wenigſtens für alle
diejenigen noch neue Reize, die nur einigermaßen hoffen durften,
ſie auch glücklich zu beſiegen.


Allein zu dieſen Letztern konnte ich nicht gehören, und was
Andere anzog, mußte mich nur zurückhalten. Ich habe nun, unter
den Malern meines Vaterlandes, lange genug den Pinſel geführt
und Farben verbraucht, um wenigſtens am Ende zu lernen, was
man freilich beſſer ſchon gleich anfangs wiſſen ſollte: ſeine eigenen
Kräfte nicht zu überſchätzen.


Bei dieſer Anſicht, bei dieſer Ueberzeugung dürfte ich ſagen,
glaubte ich am beſten zu thun, wenn ich die ganze Unternehmung
zurückwieſe, und ſie beſſeren Händen überließe.


Indeß, ſo ſehr ich auch darauf beſtand, die gefällig drängen-
den Freunde dachten anders. Aus einigen, vielleicht nicht ganz
mißlungenen Verſuchen, die ich in jüngeren Jahren, wo man ſo
gern Leichtigkeit für Genie hält, in mehreren kleinen Aufſätzen
gewagt hatte, glaubten ſie auch jetzt noch, auch für das Größere
noch, einen günſtigen Erfolg hoffen zu dürfen.


Ich verſuchte es alſo, ihnen einen der Pläne vorzulegen, die
ich während unſerer früheren Discuſſionen entworfen hatte, und
den ich, wenigſtens in Beziehung auf meine Kräfte, als den aus-
führbarſten betrachtete. Er fand ihren Beifall. Wird er aber
[VI] auch den der Leſer finden? Und wird die Ausführung ſelbſt nicht
allzuweit hinter dem Entwurfe zurückbleiben? — Das iſt die
Frage, die erſt am Ende entſchieden werden kann, und die ich,
um ſicher, oder vielmehr, um gar nicht zu gehen, lieber jetzt ſchon
beantwortet wüßte.


Wenn es wahr iſt, und wer zweifelt daran, daß die eigent-
liche Schönheit der Aſtronomie, die ſelbſt unter denen, die ſie
nicht kennen, ſchon zu einer Art von Sprüchwort geworden iſt,
weder in einem gedankenloſen Anſtaunen des Himmels, noch in
einer trockenen, chronikenmäßigen Aufzählung ſeiner Wunder, ſon-
dern daß ſie in dem Nachdenken über dieſe Wunder beſteht, ſo
kann es wohl auch eben ſo wenig bezweifelt werden, daß jede
Darſtellung dieſer Wiſſenſchaft auch ihre Richtung gegen dieſes
Nachdenken nehmen muß, wenn ſie anders nicht ihren Zweck ver-
fehlen, und, was ihrer ganz unwürdig wäre, in eine bloße, leere
Unterhaltung zur beliebigen Zeitverkürzung für müßige Leute aus-
arten ſoll. Die Langeweile zu tödten, gibt es andere Mittel,
und ein aſtronomiſches Noth- und Hilfsbuch zu dieſem Zwecke ſchrei-
ben, möchte ich nicht, wenn ich es auch könnte.


Auf der andern Seite aber, welches Recht hat der Verfaſſer
einer Schrift, die er ſelbſt eine „gemeinfaßliche“ zu nennen be-
liebt, höhere mathematiſche Vorkenntniſſe vorauszuſetzen, die der
größere Theil der Leſer nicht beſitzt, oder wohl gar ſeinen Vor-
trag mit algebraiſchen Formeln, wie er glaubt, auszuſchmücken,
[VII] die den Augen der Meiſten ein Gräuel ſind, und deren bloßer
Anblick ſie ſchon mit Entſetzen vor dem ganzen Buche erfüllt?


Beide Klippen zu vermeiden, habe ich einen, ſo viel ich weiß,
noch nicht betretenen Mittelweg eingeſchlagen. Die gegenwärtige
Schrift nämlich zerfällt in zwei, nicht bloß ihrem Inhalte, ſon-
dern auch ihrer Darſtellung nach, weſentlich verſchiedene Theile,
denen leicht, wenn jene nicht mißfallen, ein dritter folgen dürfte,
der die vorzüglichſten und intereſſanteſten Momente der Ge-
ſchichte der Aſtronomie
enthalten ſoll. Der erſte iſt näm-
lich, ohne ſich von dem beiden gemeinſchaftlichen Hauptzwecke der
Gemeinfaßlichkeit zu entfernen, vorzugsweiſe mehr didacti-
ſcher Art, und der andere, auf den jener gleichſam vorbereiten ſoll,
iſt, wenn ich das Wort hier brauchen darf, auf Unterhaltung
berechnet, auf Unterhaltung höherer Art meine ich, an der nur die
eigentlich Unterhaltſamen, aber dieſe, wie ich wünſche und hoffe,
gern und willig Theil nehmen werden. Sie werden, ich glaube
es mit einiger Zuverſicht auf den Stoff, wenn auch nicht auf die
Behandlung deſſelben, ſagen zu können, für die kleine Mühe,
welche ihnen der erſte Theil verurſachen könnte, durch den zweiten
reichlich entſchädigt werden. Dieſen Zweck noch mehr zu erreichen,
und ſelbſt den erſten Theil dem größtmöglichen Kreiſe von Leſern
zugängig zu machen, habe ich ihm eine Einleitung vorausgeſchickt,
in welcher ich mich nicht nur über dieſe Anordnung des ganzen
Werkes umſtändlicher äußerte, ſondern in welcher ich zugleich das
Vorzüglichſte über die erſten und nothwendigſten Vorkenntniſſe und
[VIII] die eigentliche Kunſtſprache der Aſtronomie kurz zuſammen zu
ſtellen ſtrebte. Ich ſuchte dadurch die Ueberſicht des Ganzen zu
erleichtern, Deutlichkeit und allgemeine Verſtändlichkeit zu beför-
dern, und endlich in dem Werke ſelbſt Wiederholungen und Cir-
cumlocutionen aller Art, zu welchen ich außerdem gezwungen ge-
weſen wäre, zu vermeiden; und ich erſuche daher jene Leſer, die
alle Vorreden zu überſchlagen pflegen, wenigſtens dieſe Einleitung
näher anzuſehen. Daß es mich freuen würde, ihnen recht viele
angenehme, und zugleich nützliche Stunden verſchafft zu haben,
darf ich ſie gewiß nicht erſt verſichern.


Wien, den 19. März 1834.


Der Verfaſſer.

[[9]]

Einleitung.


Unter allen Wiſſenſchaften, die der menſchliche Geiſt ſeit den
älteſten Zeiten, zu ſeiner eigenen Vervollkommnung, auszubilden
ſuchte, iſt wohl die Aſtronomie diejenige, welche die längſte Kette
von großen und wichtigen Entdeckungen darbietet. Es iſt ohne
Zweifel ſehr weit von dem erſten, gedankenloſen Anſchauen des
Himmels bis zu jenem Blicke, mit welchem wir jetzt alle die
mannigfaltigen Gegenſtände deſſelben umfaſſen, und nicht nur die
Erſcheinungen längſt vergangener Jahrhunderte, ſondern auch die-
jenigen, welche die Folgezeit erſt unſeren ſpäten Enkeln entwickeln
wird, mit einer Sicherheit beſtimmen können, deren ſich wohl nur
wenige unſerer ſogenannten menſchlichen Wahrheiten zu erfreuen
haben mögen.


Es kann für jeden, dem die Ehre ſeines eigenen Geſchlechtes
theuer iſt, nicht anders als höchſt intereſſant ſeyn, zu erfahren,
auf welchem Wege man zu dieſen Kenntniſſen gelangt iſt. Die
Bemühungen ſo vieler vorhergegangenen Jahrhunderte, und die
Vereinigung der vorzüglichſten Männer aller gebildeten Nationen
wurde erfordert, um die Aſtronomie auf diejenige Stufe ihrer
Vollendung zu erheben, auf welcher ſie jetzt den Gegenſtand un-
ſerer Bewunderung, und wie man ſagt, den Stolz des menſchlichen
Geiſtes macht.


Wie man ſagt, und wie man vielleicht nicht ſagen ſollte.
Denn ſo hoch auch das Ziel ſtehen mag, welches er zu erreichen
ſtrebte, und auch in der That, großentheils wenigſtens, erreicht
hat — der Weg, welcher ihn dazu führte, und die Art, wie er
[10]Einleitung.
ihn zurücklegte, ſcheint mehr geeignet, uns mit beſcheidener De-
muth, als mit Stolz, zu erfüllen, und uns, indem wir das
Wenige, was uns nach ſo vieler Mühe von den großen Werken
der Natur zu wiſſen gegönnt iſt, dankbar hinnehmen, durch dieſen
unſeren ſogenannten Reichthum ſelbſt an unſere Armuth und an
das Gefühl der Ohnmacht zu erinnern, welches der gewöhnliche
Begleiter des Menſchen auf ſeiner Bahn zur Wahrheit iſt. Wir
werden ſehen, daß der menſchliche Geiſt in dieſer Wiſſenſchaft in der
That weiter, als in allen anderen, vorgedrungen iſt, daß aber
auch zugleich in keiner anderen das Verhältniß des Bekannten zu
dem Unbekannten ſo klein iſt, als in eben dieſer, und daß über-
haupt die ſchönſten und wichtigſten Entdeckungen, deren wir uns
rühmen, nur durch Zufall und auf Abwegen gemacht wurden,
auf welchen man, ganz andere Schätze ſuchend, und nicht findend,
Jahrhunderte lang ohne Rath und Steuer herumgeirrt iſt.


Beinahe die vollen vier erſten Jahrtauſende unſerer ſoge-
nannten Weltgeſchichte verblieb die Aſtronomie in ihrer erſten,
hilfloſen Kindheit. Erſt zwei Jahrhunderte vor dem Anfange der
chriſtlichen Zeitrechnung unternahm ſie, in der Alexandriniſchen
Schule, unter dem Schutze der die Wiſſenſchaften liebenden Pto-
lemäer, die erſten furchtſamen Schritte. Aber die darauf folgende
Uebermacht der Römer, welche dieſe Wiſſenſchaft nie cultivirten,
und der gewaltſame Sturz ihres Reiches, der die ganze damals
bekannte Welt erſchütterte, begrub auch ſie unter den Trümmern,
die ſo lange Zeit nach jener Trauerepoche Kunſt und Wiſſenſchaft
und Bildung jeder Art bedeckten. Gleichſam zum Erſatze, oder
als eines jener ſonderbaren Spiele der Natur, erhob ſich, im
ſiebenten Jahrhundert, ein Nomadenvolk der Wüſte, ein Volk von
Eroberern, die Araber, berühmt durch das kurze, aber weithin
ſchimmernde Glück ihrer Waffen, und nicht minder groß durch
den Schutz, deſſen ſich unter ihrer Aegide die Wiſſenſchaften, und
vorzüglich die Königin derſelben, die Aſtronomie, erfreute. Aber
wieder lagerte ſich, mit dem Untergange dieſes Heldenvolkes, eine
tiefe Nacht der Barbarei über den Erdball. Unwiſſenheit und
Aberglaube wurden das Loſungswort der verwilderten Nationen.
Allgemeine Entartung der Sitten, abentheuerliche und unmenſch-
liche Kriege, und ihr gewöhnliches Gefolge, ſtumpfe Ermattung,
[11]Einleitung.
Mangel und Noth und verheerende Seuchen füllen die Blätter der
nächſtfolgenden Jahrhunderte unſerer Menſchengeſchichte.


Endlich, fünfzehn hundert Jahre nach dem Anfange unſerer
Zeitrechnung, ſchien der Genius des ſo lange verlaſſenen Ge-
ſchlechtes wieder aus ſeinem tiefen Schlafe zu erwachen. Ueber
das in Blut getränkte, und mit den Ruinen der Barbarei bedeckte
Europa ſchwang er zum zweitenmale ſeine Fackel, nachdem er ſie
in Aſien und Afrika, wie es ſcheint, für immer gelöſcht hatte, und
beleuchtete mit ihren wohlthätigen Strahlen neue, der Cultur
ganz ungewohnte, der bisherigen Menſchengeſchichte ganz unbe-
kannte Gegenden. Von ihrem Lichte geleitet entdeckte Columbus
die neue Welt, und Copernicus das neue Planetenſyſtem. Mit
beiden war die Epoche eines anderen und beſſeren geſelligen und
geiſtigen Lebens angebrochen. Schon war, aus dem Schooße
Deutſchlands, die wichtigſte aller Erfindungen hervorgegangen, die
uns die Erhaltung aller übrigen ſichern, und jeden Rückfall in die
frühere Barbarei unmöglich machen ſollte, während in Italien,
unter den Medicäern, die Schriften der Griechen und Römer
wieder aus ihren Gräbern ſtiegen, und die ſchönen Künſte, von
dem belebenden Geiſte der Alten angehaucht, in einer fröhlichen
Blüthe ſtanden.


Drei Jahrhunderte ſind ſeitdem verfloſſen, glänzende, ruhm-
volle Jahrhunderte für das Menſchengeſchlecht, und noch beben
die Saiten, noch vernimmt das geiſtige Ohr die Schwingungen
der, in jener Epoche der Wiedergeburt, angeregten, himmliſchen
Töne. Noch ſind wir, ſo wünſchen, ſo hoffen wir, im Fortſchreiten
begriffen, und zu breit, zu tief fließt der Strom der Erkenntniß
vor unſern Blicken, als daß eine Dämmung deſſelben, durch
Wiederkehr der alten feindlichen Mächte, in unſeren Tagen we-
nigſtens, befürchtet werden könnte.


Zwei Dinge ſind es, ſagt der unſterbliche Mann, der Deutſch-
land zur philoſophiſchen Schule Europas gemacht hat, zwei Dinge
ſind es, die vor allen andern würdig erſcheinen, die Aufmerkſamkeit des
menſchlichen Geiſtes zu feſſeln, und die ihn mit immer neuer
[12]Einleitung.
Bewunderung erfüllen: das moraliſche Geſetz in uns, und
der geſtirnte Himmel über uns
.


Jenes erſte trägt jeder Menſch in ſeinem eigenen Buſen, und
es liegt ihm nahe genug, um hier keiner Erläuterung zu bedürfen.
Das zweite aber — was iſt es, das uns an ihm ergötzt, und
das, auch noch ſo oft betrachtet, uns immer wieder zu ihm zu-
rückzieht? Worin beſteht eigentlich der ſo oft gerühmte, große
Genuß, den der Anblick des geſtirnten Himmels jedem gebildeten
und gefühlvollen Menſchen gewährt?


Der Anblick deſſelben allein kann es nicht ſeyn, ſo wenig als
der Anblick einer großen, zur Nachtzeit von unzähligen Lampen
beleuchteten Stadt, ſo wenig, als der eines endloſen Fackelzuges
oder als jener des unermeßlichen Meeres. Die Einförmigkeit
aller dieſer Dinge, ſo groß ſie auch an ſich ſeyn mögen, wird uns
bald ermüden, und auch das über uns ausgeſpannte Gewölbe des
Himmels mit ſeinen Tauſenden von Sternen würde uns nicht
länger feſſeln, als etwa das eines mit eben ſo vielen Lampen be-
ſetzten Doms, den wir das erſtemal anſtaunen, und an dem
wir ſpäter vielleicht gleichgültig und gedankenlos vorübergehen.


Sollte es nicht eben dieſe Gedankenloſigkeit ſeyn, die den
Anblick des geſtirnten Himmels, der ſich für den Gebildeten bei
jeder folgenden Betrachtung mit immer neuen Reizen ſchmückt,
für den Wilden nur zu einer höchſt gleichgültigen Sache macht?
Wie viele derſelben gibt es, und nicht bloß in den Wäldern von
Amerika und Neuholland, ſondern auch in den Hauptſtädten
Europas, die die Sonne und den Mond und dieſes zahlloſe Heer
von Sternen täglich vor ſich auf- und untergehen ſehen, ohne ſich
auch nur ein einziges Mal zu fragen, woher ſie kommen, und
wohin ſie gehen, und warum ſie ewig in denſelben Kreiſen um ſie
ziehen.


Das Nachdenken über dieſe Gegenſtände, und die nähere
Betrachtung derſelben mit unſerem geiſtigen Auge, dieſes muß
es alſo ſeyn, das uns ſo mächtig an ſie zieht, und das, weit ent-
fernt, uns durch die Einförmigkeit des Anblicks zu ermüden, uns
vielmehr immer neue, und immer größere Schönheiten dieſer Ge-
genſtände entdecken läßt.


[13]Einleitung.

Wir werden bald ſehen, welche Gelegenheiten zu dieſem Nach-
denken uns die Aſtronomie beinahe auf allen ihren Blättern
darbietet. Wie ſollte ſie auch nicht, da ſie das Größte und Höchſte
enthält, was dem Menſchen als Gegenſtand ſeiner Forſchung ge-
geben werden kann. Sie ſoll uns, nach dem Ausſpruche jenes
alten Weiſen, lehren, „wie die Himmel die Ehre deſſen erzäh-
len, der ſie gemacht hat.“ Welche ſchönere Genüſſe, welche erha-
benere Betrachtungen könnte ſelbſt ein Seraph zu den ſeinigen
wählen! Wenn es uns auch nicht vergönnt iſt, mit dem Blicke
dieſer höheren Geiſter, bis in das Innere des Heiligthumes der
Natur, bis dorthin zu dringen,


Où les confidens du Très-Haut, ces substances éternelles

Parent de ses feux et couvrent de ses ailes

Le trône, où leur Maître est assis parmi eux,

ſo wollen wir doch, ſo viel an uns iſt, dieſem hohen Ziele näher
zu kommen, und unſern eigenen Geiſt durch die uns mögliche
Erkenntniß jener Gegenſtände zu erheben und zu veredeln ſuchen.


Ehe wir uns aber zu dieſem Geſchäfte anſchicken, wird es
nöthig ſeyn, uns zuerſt von den Vorurtheilen zu befreien, die uns
von unſerer erſten Jugend an umgeben, und die reine Anſicht der
großen Werke der Natur unmöglich machen. Und auch dazu wird
uns dieſe Wiſſenſchaft ſelbſt die beſte Gelegenheit geben. Denn
beinahe alle ihre Lehren ſtehen im geraden Widerſpruche mit den
Meinungen der großen Menge, ja ſelbſt mit den unmittelbaren
Eindrücken unſerer Sinne. So ſcheint uns die Erde, auf der
wir ſtehen, ſo feſt und wohlgegründet, daß ſie in beinahe allen
unſern Sprachen zum Symbol der Stetigkeit geworden iſt, wäh-
rend ſie doch mit allem, was in und auf ihr iſt, ſelbſt mit dem
ſie umgebenden Luftmeere, täglich, wie ein Kreiſel, um ihre eigene
Axe, und jährlich von einer unſichtbaren Hand um die Sonne
mit einer Geſchwindigkeit geführt wird, die weit vor jener voraus
iſt, welche wir den Körpern der Erde durch die Kraft des Pulvers
oder der Dämpfe geben können. Der Mond und die Sonne er-
ſcheinen uns als kreisrunde Scheiben von nur mäßiger Größe
und Entfernung; da doch jener über fünfzig Tauſend, und dieſe
über zwanzig Millionen d. Meilen von uns abſteht, und überdieß
dieſe unſere Erde ſelbſt über anderthalb Millionenmal an körper-
[14]Einleitung.
licher Größe übertrifft. Jene Planeten, oft kaum bemerkbare
Punkte des Himmels, ſind Erden, ähnlich der unſeren, von Tau-
ſenden von Geſchöpfen bewohnt, und jene Sterne, ſchwache Licht-
funken, die, ihrer zahlloſen Menge ungeachtet, kaum unſere Nächte
ſpärlich erleuchten, ſind eben ſo viele Sonnen-, Licht- und Lebens-
quellen für Myriaden von Planeten und Kometen, die ſich alle,
Einem großen Geſetze gehorchend, ſeit undenklichen Zeiten in nie
geſtörter Ordnung um jene Centralkörper bewegen. Dieſe unſere
Erde ſelbſt, unſer Wohnort, unſere Wiege und unſer Grab, dieſe
ganze große Erde iſt nur ein Punkt, den man vielleicht von den
nächſten Hauptgliedern der Sonnen-Familie, von den übrigen
Schweſterplaneten, nicht einmal bemerkt. So klein, ſo ganz ver-
ſchwindend erſcheint uns, von jenem höheren Standpunkte betrach-
tet, ſelbſt das, was wir bisher das Größte nannten. Dieſe Erde
iſt nichts gegen das Sonnenſyſtem, dieſes Sonnenſyſtem iſt nichts
gegen den Weltenraum, den zahlloſe ähnliche Syſteme erfüllen,
und dieſer Raum ſelbſt, was iſt er gegen Den, der ihn zum
Schauplatze ſeiner unendlichen Schöpfung gemacht hat!


Uebrigens iſt die Aufgabe, die Wunder dieſer Schöpfung
nicht bloß anzuſtaunen, ſondern in ihrer Wechſelwirkung, und in
ihrem inneren Zuſammenhange zu erkennen, keine leichte, und die
Löſung derſelben, ſo weit ſie uns bisher gelungen iſt, war wohl
der Bemühungen ſo vieler Jahrhunderte werth. Die Erſcheinun-
gen, welche uns der geſtirnte Himmel darbietet, ſind ſo mannig-
faltig und ſo ſonderbar in einander verſchlungen, daß nur der
vereinigte Scharfſinn der Beſten einer jeden Zeit, und eines jeden
Volkes im Stande ſeyn konnte, dieſe Verwickelungen zu löſen,
und in der ſcheinbaren Unordnung ſelbſt jene Einheit und Har-
monie zu finden, welche noch immer die Werke der Natur, wo
wir ſie näher kennen lernten, ausgezeichnet haben. Es war ohne
Zweifel mit ganz beſonderen Schwierigkeiten verbunden, in dieſem
Gewirre von Complicationen die Haupturſache derſelben, die Be-
wegung der Erde, von der wir alle jene Phänomene zu betrachten
gezwungen ſind, zu erkennen, und dadurch die bloß ſcheinbaren
Bewegungen der Himmelskörper von den wahren zu trennen,
dann von der Kenntniß dieſer wahren Bewegungen zu den Ge-
ſetzen überzugehen, nach welchen die Planeten in ihren elliptiſchen
[15]Einleitung.
Bahnen um die Sonne laufen, und endlich von dieſen Geſetzen
ſich bis zu dem Prinzip der allgemeinen Gravitation zu erheben,
zu jenem Grundgeſetze des Himmels, durch welches alle jene ſo
mannigfaltig verwickelten Erſcheinungen auf die einfachſte und
vollſtändigſte Weiſe erklärt werden.


Um von den Schwierigkeiten, mit welchen die Auflöſung dieſer
Aufgabe verbunden iſt, den Leſern ſchon hier einen Begriff zu
geben, wollen wir bemerken, daß das Hauptgeſchäft der Aſtrono-
men darin beſteht, die uns zunächſt umgebende Welt oder die
Körper unſeres Sonnenſyſtems näher kennen zu lernen; denn was
jenſeits dieſes Syſtems liegt, iſt ſo weit von uns entfernt, daß
uns eine genauere Kenntniß deſſelben wohl immer verſagt ſeyn
wird. Und wie weit ſind ſie in ihrer Kenntniß jener Körper ge-
kommen? — Sie können von den meiſten derſelben den Ort,
welchen ſie zu einer beſtimmten Zeit am Himmel einnehmen
werden, auf mehrere Jahrhunderte vor- und rückwärts bis auf
den Durchmeſſer eines gewöhnlichen Menſchenhaares mit Genauig-
keit angeben. Sie ſind im Stande, ihr Fernrohr heute auf ihrer
Sternwarte ſo zu ſtellen, daß ſie mit mathematiſcher Sicherheit
erwarten können, Jupiter oder irgend ein anderer Planet werde,
nach dem Verlaufe mehrerer Jahrhunderte, zu einer beſtimmten
Secunde, in der Mitte dieſes unverrückt gebliebenen Fernrohrs
erſcheinen. Wem dieß unglaublich ſcheint, der mag nur bedenken,
daß dieſelben Aſtronomen auch die Sonnenfinſterniſſe, d. h. die
Augenblicke, wo ſich die Ränder der Sonne und des Mondes
eben in dem erſten Punkte berühren, bereits auf Jahrhunderte
voraus berechnet haben, und daß die Reſultate dieſer Berechnun-
gen mit den darauf folgenden Beobachtungen auf das Genaueſte
übereinſtimmen. Welche Kenntniſſe und Vorarbeiten der ver-
ſchiedenſten Art mögen aber erfordert werden, um dieſes Ziel zu
erreichen?


Wir werden in der Folge ſehen, daß jeder Körper der Natur
alle anderen im Verhältniſſe ſeiner Maſſe, und verkehrt wie das
Quadrat ſeiner Entfernung von demſelben, anzieht, und daß eben
in dieſem Geſetze das erwähnte Prinzip der allgemeinen Schwere
beſteht. Wenn bloß die Kraft der Sonne auf die Planeten wirkte,
ſo würden die letzten in reinen elliptiſchen Bahnen um die Sonne
[16]Einleitung.
gehen. Da aber dieſe Planeten ſelbſt auch eine, wenn gleich viel
geringere Maſſe, als die Sonne haben, ſo werden auch dieſe, nach
demſelben allgemeinen Prinzip, nicht nur gegen die Sonne, ſondern
auch gegen einander gravitiren, oder jeder Planet wird, nicht bloß
von der Sonne, ſondern auch von allen übrigen Planeten zugleich
angezogen werden, und die erwähnte einfache elliptiſche Bahn
eines jeden wird jetzt, durch die gemeinſame Einwirkung aller
Planeten unter einander, eine äußerſt zuſammengeſetzte und ver-
wickelte krumme Linie werden, deren genaue Beſtimmung wenig-
ſtens jetzt, und wahrſcheinlich immer, die menſchlichen Kräfte weit
überſteigt.


Während z. B. Jupiter durch die bloße Einwirkung der
Sonne in einer Ellipſe von mehr als 650 Millionen d. Meilen
um dieſelbe geführt wird, ſuchen ihn alle andern ihn umgebenden
Planeten immerwährend aus dieſer ſeiner Bahn herauszuziehen.
Nach den verſchiedenen Lagen dieſer Planeten zieht ihn der eine
näher zur Sonne, während ihn der andere davon entfernt; dieſer
reißt ihn auf ſeinem Wege vorwärts, jener zurück; dieſer erhebt
ihn über, jener ſtößt ihn unter ſeine urſprüngliche Bahn, und es
iſt leicht abzuſehen, daß alle dieſe immerfort wirkenden Störungen
nicht nur den Ort des Planeten in ſeiner Bahn, ſondern am Ende
auch dieſe Bahn ſelbſt verändern, daß ſie ihren Einfluß auch auf
die Größe, Geſtalt und Lage dieſer Bahn haben werden, und daß
daher der Planet, allen dieſen, ihn und einander ſelbſt immer ſtö-
renden Kräften Preis gegeben, eigentlich in jedem Augenblicke
eine andere, eine ganz neue krumme Linie um die Sonne be-
ſchreiben werde. Dieſe Verwirrung wird noch größer, wenn wir
bedenken, daß alle aſtronomiſchen Beſtimmungen der Orte, welche
die Planeten am Himmel einnehmen, ſich auf die Ebene der Bahn,
welche die Erde um die Sonne beſchreibt, oder auf die Ebene der
Ecliptik beziehen, und daß dieſe letzte Ebene ſelbſt wieder, durch
ähnliche Wirkungen aller übrigen Planeten auf die Erde, in ihrer
Lage auf gar mannigfaltige Weiſe verändert wird. Durch Jupi-
ters Einwirkung z. B. wird die Ebene der Erdbahn verrückt,
und dieß hat die nothwendige Folge, daß auch die Neigun-
gen der übrigen Planetenbahnen und ihrer Durchſchnittslinien
mit der Ecliptik ſich ändern, ſelbſt von jener Planetenbahn an ſich
[17]Einleitung.
unveränderlich wäre, was ſie doch nicht ſind, da auch ſie wieder
denſelben Wirkungen aller andern Planeten ausgeſetzt ſind. Eine
ähnliche Wirkung, wie die des Jupiters auf die Erdbahn, werden
auch alle übrigen Planeten äußern, ja ſelbſt dieſe Wirkungen eines
und deſſelben Planeten werden wieder mit der Folge der Zeiten
ſich ändern müſſen, wenn durch die vorhergehenden Einwirkungen
aller Planeten die Erdbahn eine ganz andere Lage am Himmel
erhalten haben wird. Wie ferner die Umdrehung der Erde um
ihre Axe die tägliche, wenn gleich nur ſcheinbare Umwälzung des
ganzen Sternenhimmels zur Folge hat, eben ſo wird auch die ge-
ringſte Verrückung in der Lage dieſer Erdaxe (und wir werden
mehrere derſelben kennen lernen) die ganze Sphäre des Himmels
erſchüttern, den Anfangspunkt, von dem wir alle Diſtanzen und
Winkel zählen, verrücken, alle Orte am Himmel verändern und aus
dem letzten der Geſtirne das erſte, aus dem erſten das letzte machen,
ſo daß an dieſem Himmel, an welchem wir früher nur Ordnung
und Harmonie zu bewundern gewohnt waren, alles Unordnung
und Verwirrung ſcheinen wird und daß, in dem verwickelten Ge-
wühle aller dieſer ſich ſelbſt durchkreuzenden Bewegungen, ſogar
die Gränzſteine, durch welche wir früher die große Karte des
Sternengewölbes entwerfen wollten, ſich verrücken und am Ende
auch nicht ein einziger Punkt in Ruhe bleiben wird, durch den
wir den ſeine Geſtalt in jedem Augenblicke verändernden Proteus
zu feſſeln hoffen dürfen; beſonders, wenn wir noch bedenken, daß
wir alle dieſe chaotiſchen Verwirrungen nicht von einem feſten
Standpunkte, ſondern von der Erde beobachten, die ſich ſelbſt wie-
der täglich um ihre eigene Axe und jährlich um die Sonne be-
wegt, und die überdieß mit einer dichten Lufthülle, der Urſache
von unzähligen optiſchen Täuſchungen, umgeben iſt, durch welche
wir kein einziges jener Geſtirne an dem Orte erblicken, den es in
der That am Himmel einnimmt.


Und doch enthält dieß alles nur einen kleinen Theil der Hin-
derniſſe, welche die Aſtronomie bereits beſiegt hat, und in der
Folge noch zu beſiegen hoffen darf. Aber es wird hinreichen, zu
zeigen, welcher Aufwand von geiſtiger Kraft erfordert wurde, je-
nes erhabene Ziel nicht zu erreichen, aber doch ihm ſo nahe zu
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 2
[18]Einleitung.
kommen, als wir in der That gekommen ſind. Viel, in der That,
iſt bereits gethan worden, aber Vieles iſt auch noch zu thun,


multum operis restat,

und an unſern Enkeln wird es ſeyn, den Schatz, den ſie von ih-
ren Vorfahren übernommen, zu bewahren und das reiche Erbe
durch eigene Kraft zu vermehren. Seit dem Anfange unſerer
Menſchengeſchichte ſind erſt einige Jahrtauſende verfloſſen, das
Geſchlecht iſt noch zu jung und die Erde zu neu, um größere For-
derungen an ſie zu ſtellen. Noch iſt unſer Auge zu ſchwach und
unſer Blick zu beſchränkt, um einen größeren Theil des unendlichen
Ganzen zu überſehen, das vor uns ausgebreitet iſt. Wir müſſen uns,
wie es Kindern, wie es Anfängern ziemt, mit den Elementen, mit dem
uns zunächſt Liegenden begnügen und den Nachkommen, die un-
ſere Vorarbeiten benützen können, die Erweiterung der Ausſicht
überlaſſen. Für uns beſchreibt der Mond, dieſer treue Gefährte
der Erde auf ihrem Wege um die Sonne, noch eine mehr kreis-
förmige Bahn um unſere Erde. Aber von der Sonne geſehen,
legt er in der That eine Reihe von Epicykeln zurück, deren Mit-
telpunkte alle auf der Peripherie der Erdbahn liegen. Eben ſo
beſchreibt aber auch die Erde eine andere Reihe von Epicykeln,
deren Mittelpunkte auf dem Bogen liegen, welchen die Sonne
in unſerem Milchſtraße-Syſteme beſchreibt; und dieſe Sonne ſelbſt
beſchreibt wieder eine dritte Reihe von Epicykeln, deren Mittel-
punkte auf demjenigen Bogen liegen, welchen der Schwerpunkt
dieſes Milchſtraßen-Syſtems um den Mittelpunkt des Univerſums
beſchreibt. Die Aſtronomie hat uns bisher nur die erſte Gattung
jener Epicykeln kennen gelehrt und dazu wurden bereits mehrere
Jahrtauſende erfordert — welche Zeit wird genügen, um auch jene
anderen kennen zu lernen?


Dieſes Kennenlernen alſo, um wieder auf unſere frühere
Behauptung zurück zu kommen, dieſes iſt es, nicht das bloße
Anſtaunen, ſondern die mit Nachdenken verbundene Betrachtung
des Himmels iſt das, was demſelben die ewige Schönheit und
den unvergänglichen Reiz verleiht, mit welchem er den auf Bil-
dung Anſpruch machenden Geiſt des Menſchen an ſich zu ziehen
pflegt. Und dieſes muß es daher auch ſeyn, worauf jede ſchrift-
[19]Einleitung.
liche oder mündliche Mittheilung über dieſen Gegenſtand beſondere
Rückſicht zu nehmen hat.


Aber dazu gehören vor allem diejenigen mathematiſchen Kennt-
niſſe, auf welche jene aſtronomiſchen Betrachtungen gebaut ſind
und ohne welche ſich die meiſten derſelben nicht einmal, wenigſtens
nicht mit der Präciſion und Ueberzeugung, vortragen laſſen, die
einen großen Theil ihres inneren Werthes conſtituiren. Wie viele
von den ſchönſten aſtronomiſchen Entdeckungen ſind der Art, daß
ſie ohne mathematiſche Vorkenntniſſe nicht einmal gehörig ver-
ſtanden werden können, und wie viele andere ſind ſo wunderbar
und auffallend, ſo allen Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens
widerſprechend, daß ſie von einem wohl organiſirten Kopfe un-
möglich auf Treu’ und Glauben angenommen werden können. Wie
ſoll man z. B. den Aſtronomen auf ihr bloßes Wort hin glauben,
daß die Sonne, die doch jeder von uns mit ſeinen eigenen Augen
täglich als eine Kugel von nur mäßigem Umfange ſieht, andert-
halb Millionenmale größer als unſere Erde und über zwanzig
Millionen Meilen von uns entfernt iſt; daß der nächſte Fixſtern
wenigſtens zweimalhundert Tauſendmale weiter, als dieſe Sonne,
von uns abſteht; daß das Licht mit einer Geſchwindigkeit begabt
iſt, mit welcher es, während wir mit unſern Augenliedern nicken,
ſchon die Reiſe um die Welt zurücklegt, und daß ſelbſt dieſe un-
glaubliche Geſchwindigkeit noch gegen jene ganz verſchwindet, mit
welcher die Kraft der Sonne, durch die ſie die Planeten um ſich
treibt, in einem untheilbaren Momente bis an die fernſten Grän-
zen unſeres Planetenſyſtems eilt. Wer hat dieſe Größe der Sonne,
dieſe Entfernung der Fixſterne, dieſe Geſchwindigkeiten des Lichts
und jene magiſche Kraft gemeſſen, und wie war es nur möglich,
zu Kenntniſſen dieſer Art zu gelangen? — Die Geometrie allein
kann dieſe Fragen beantworten, und ohne ihre Hilfe werden ſie
immer ungelöst bleiben.


Man muß es ohne Zweifel beklagen, daß die mathematiſchen
Wiſſenſchaften noch immer keinen weſentlicheren Theil unſerer Erzie-
hung und ſelbſt unſerer ſpäteren Ausbildung machen. Während wir
oft ſehr geringfügige, uns und Anderen meiſtens ganz nutzloſe Dinge
nicht zu wiſſen, für einen Mangel, ja für eine Schande halten,
werden jene Kenntniſſe als eine Nebenſache oder doch nur als eine
2 *
[20]Einleitung.
für die Schule, nicht aber für das eigentliche Leben beſtimmte
Sache behandelt, und die Meiſten ſelbſt von denjenigen, welche auf
vielſeitige Bildung und ſogar auf eigentliche Gelehrſamkeit gerech-
ten Anſpruch machen, die mit Stolz auf den Vorrath ihrer ge-
ſammelten Kenntniſſe herabſehen und Unkenntniß jeder Art für
ein Gebrechen halten, ſtehen doch gar nicht an, ſo oft zufällig die
Rede auf die mathematiſchen Wiſſenſchaften kömmt, ihre völlige
Unwiſſenheit als eine ganz erlaubte Sache, die ſich gleichſam von
ſelbſt verſteht, mit einer Offenheit, mit einer Naivetät zu bekennen,
die man für Scherz halten müßte, wenn ſie nicht gewöhnlich gleich
darauf von Fragen und Aeußerungen begleitet würde, die eine
Art von Entſetzen erregen und die Wahrheit jenes Geſtändniſſes
nur zu ſehr beſtätigen.


Abgeſehen von der Nothwendigkeit dieſer Kenntniſſe im wiſ-
ſenſchaftlichen und oft ſelbſt im gemeinen Leben; abgeſehen, daß
ohne ſie das ſchönſte und dem Menſchen angemeſſenſte Studium,
das der Natur im Großen, beinahe unmöglich iſt, ſo ſollte ſchon
der wohlthätige Einfluß, welchen die Kultur dieſer Wiſſenſchaften
in ihrer mittelbaren Rückwirkung auf den menſchlichen Geiſt ſelbſt
äußert, uns beſtimmen, ihnen in dem Felde unſerer öffentlichen
Erziehung eine der erſten Stellen anzuweiſen. Welche andere
Doctrin bietet dieſe Beſtimmtheit der Begriffe, dieſe ſtrenge Ord-
nung der Schlüſſe, dieſe Gewißheit ihrer Beweiſe dar? Aus ihrem
Gebiete iſt jenes heilloſe, vage Geſchwätz und jenes unſelige Mit-
telding zwiſchen Wiſſen und Glauben, das in allen andern ſoge-
nannten Wiſſenſchaften gleich einem Unkraut wuchert und keine
gute Pflanze aufkommen läßt, völlig verbannt. Durch ſie erfährt
man erſt, was eine Demonſtration iſt und welche Kraft ihr in-
wohnt. Durch ſie wird der Geiſt zur Aufnahme aller wahren
Erkenntniſſe, zur Bekämpfung der Vorurtheile und Irrthümer,
zur Entfernung aller Illuſionen und halbverſtandenen Annahmen
und zur Verwerfung aller nicht auf eigene Ueberzeugung gegrün-
deten Auctorität, würdig vorbereitet; und wenn endlich überhaupt
dem Menſchen gegönnt iſt, von Wahrheit zu ſprechen, ſo iſt es
hier und hier allein, wo er ſie finden kann. Endlich, und dieß
möchte in unſeren Tagen nicht zu überſehen ſeyn, bietet dieſe
Wiſſenſchaft, als die beſte Disciplin des menſchlichen Geiſtes,
[21]Einleitung.
unſerer Jugend und durch ſie den kommenden Geſchlechtern die
angemeſſenſte Gelegenheit, ihre geiſtige Kraft zu üben und ihren
Sinn für das Höchſte, was uns angeht, für Recht und Wahr-
heit
zu wecken und zu ſtählen, um dem ſie von allen Seiten
umgebenden Andrange eines kränkelnden und in ſich ſelbſt zerfalle-
nen Zeitgeiſtes zu widerſtehen, deſſen Fortſchritte eine männliche
und kraftvolle Anhänglichkeit an das Gute überall zu einem ſehr
dringenden Bedürfniſſe gemacht haben.


Zu dieſem Zwecke aber, ſo wie zu allen den oben erwähnten,
iſt keineswegs eine vollſtändige, eine alle ihre Höhen und Tiefen
umfaſſende Kenntniß jener Wiſſenſchaften nothwendig. Dieſe kann
überhaupt nicht Jedermanns Sache und daher auch kein Gegen-
ſtand einer allgemeinen Erziehung ſeyn. Sie mag immerhin, wie
bisher, jenen Wenigen überlaſſen bleiben, die Kraft und Muth ge-
nug beſitzen, das Innere des erhabenen Tempels zu betreten und
vielleicht ſelbſt mit eigener Hand zur Bereicherung oder Aus-
ſchmückung deſſelben beizutragen. Wir Andern wollen uns begnü-
gen, das Aeußere deſſelben und, wo es angeht, den Vorhof, oder
wenn wir ihn ſelbſt nicht ſehen können, wenigſtens den Grundriß
deſſelben zu betrachten, wie er uns von den Architecten überliefert
worden iſt.


Aber auch dazu werden noch immer einige jener Vorkennt-
niſſe erfordert, wenige in der That und leicht zu erwerbende, die
ich aber auch dafür deſto dringender von meinen Leſern, nicht ſo-
wohl zu meinem, als vielmehr zu ihrem eigenen größten Vortheile
in Anſpruch nehmen möchte. Wer weder Ton noch Note kennt,
der kann ſelbſt und mit dem kann auch ein Anderer über Muſik
nicht ſprechen. Und eben ſo, wer ein Quadrat von einem Rechteck
nicht unterſcheidet, wer die erſten Eigenſchaften eines Dreiecks nicht
kennt, wer vor jedem Decimalbruche erſchrickt und ein Buch, das
eines Sinus oder einer Tangente erwähnt, ſogleich mit Abſcheu
von ſich ſtößt — wie wäre es möglich, mit ihm über Aſtronomie
zu ſprechen? Statt dieſes Verſuches, deſſen Erfolg unglücklich ſeyn
muß, wäre es gerathener, ſich dieſe Vorkenntniſſe auf irgend eine
Weiſe vorerſt zu verſchaffen. Sie ſind der Art, daß ſie, bei einer
zweckmäßigen Anleitung, in wenigen Tagen erworben werden können
und daß die meiſten unſerer Kartenſpiele, in welchen es doch ſo Viele
[22]Einleitung.
zu einer beneidens- und oft ſelbſt beweinenswerthen Meiſterſchaft
gebracht haben, viel mehr Zeit und Mühe koſten.


Mit dieſen Leſern alſo, welche es ſich gefallen laſſen wollen,
einige Stunden zur Vorbereitung auf ihre Reiſe zu verwenden,
um wenigſtens die erſten Elemente der Sprache, die man in jenen
Gegenden ſpricht, ſich eigen zu machen, mit denen glaube ich,
wohlgemuth und in der Hoffnung eines glücklichen Erfolgs, un-
ſere Wanderung antreten zu können. Zwar werden wir von dem
großen und ſchönen Lande, das nun vor uns liegt, aus Mangel
an tieferen Kenntniſſen manche der intereſſanteſten Theile völlig
unbeſucht laſſen müſſen; wir werden weder jene ſteilen Berge, die
es begränzen, noch dieſe tiefen Schluchten, wo die Natur ihre
größten Seltenheiten verwahrt, betreten dürfen. Aber wir werden
deſſenungeachtet noch ſehr viele, nicht minder intereſſante und weit
verbreitete Ebenen treffen, die wir nicht nur ohne Mühe und ohne
jene fremde Hilfe durchwandern, ſondern von welchen wir auch
jene unzugänglichen Gegenden, zwar nur von ferne, aber dafür
auch in ihrem Ganzen überblicken und bewundern können.


Wie wir nämlich, um unſer Gleichniß fortzuſetzen, in einem
fremden Lande nur dann mit Vortheil und Vergnügen zu reiſen hoffen
dürfen, wenn wir zuerſt die Sprache der Eingeborenen deſſelben wenig-
ſtens einigermaßen kennen gelernt haben, eben ſo willkommen und
nützlich werden uns auch hier, wenn auch nur die erſten Elemente der
Sprache dieſes Landes ſeyn, welches wir nun zu durchreiſen im Be-
griffe ſtehen. Haben ſich doch alle, ſelbſt die bloß mechaniſchen Künſte,
ja ſogar die Handwerke, ſobald ſie einen gewiſſen Grad der Vollkom-
menheit erreichten, ihre eigene Sprache gebildet: wie ſollte daſſelbe
nicht auch von der Aſtronomie, von der erſten der Wiſſenſchaften,
gelten? — Allerdings würden wir ſie, während dieſer Reiſe
ſelbſt, ſo oft wir durch die Noth dazu gezwungen werden, auch
erlernen können. Aber dieß würde offenbar nicht ohne Beſchwerde,
nicht ohne vieles Hin- und Wiederreden möglich ſeyn. Auch iſt
es nicht unſere Abſicht, wie es wohl die mancher unſerer Vor-
gänger geweſen ſeyn mag, dieſe Wiſſenſchaft mit unſern Leſern,
unter dem angenommenen Scheine einer völligen Unkenntniß der-
ſelben, gleichſam von Neuem zu erfinden, oder auch den ſyſtema-
tiſchen Weg, der ihr ſonſt eigen iſt, in unſerem Vortrage mit
[23]Einleitung.
ängſtlicher Genauigkeit zu verfolgen. Wir wollen uns vielmehr
bemühen, die Leſer auf dem einfachſten und kürzeſten Wege mit
den vorzüglichſten Lehren der Aſtronomie, ſo weit dieſes ohne ei-
gentliche mathematiſche Analyſis möglich iſt, bekannt zu machen
und uns dabei an diejenigen Kenntniſſe anzuſchließen, die wir bei
jedem Gebildeten in unſeren Tagen mit Recht vorausſetzen dürfen.
In der That, daß die Erde, die wir bewohnen, ſo wie der über
ſie ausgeſpannte Himmel die Geſtalt einer Kugel habe; daß die
Geſtirne, welche an dieſem Himmelsgewölbe glänzen, in unter
ſich parallelen Kreiſen täglich um die Erde gehen oder doch zu ge-
hen ſcheinen; daß die tägliche Bewegung der Erde um ihre Axe
es iſt, welche dieſen Schein erzeugt und ſelbſt, daß dieſe Erde
noch eine andere Bewegung hat, mit welcher ſie jährlich um die
Sonne geht; alle dieſe und ähnliche Wahrheiten ſind in unſern
Tagen ſchon Gegenſtände des gewöhnlichen Unterrichts in unſeren
Schulen geworden und daher bereits bis zur Kenntniß des gemei-
nen Mannes vorgedrungen. Wir können ſie daher auch hier, ob-
ſchon ſie ſpäter Gelegenheit zu näheren Unterſuchungen geben wer-
den, gleichſam als bereits erworbene, hiſtoriſche Kenntniſſe voraus-
ſetzen und uns eben dadurch in den Stand ſetzen, ſogleich hier die
oben erwähnten erſten Elemente der Sprache unſerer Wiſſenſchaft
ſo weit vorzutragen, als wir hoffen dürfen, mit ihrer Hilfe, die
ihnen in dem Werke ſelbſt folgenden Betrachtungen kürzer, be-
ſtimmter und eben dadurch deutlicher darſtellen zu können.


Die nun folgende zweite Abtheilung dieſer Einleitung iſt je-
nem Zwecke gewidmet. Es wird uns erlaubt ſeyn, die Leſer zu
erſuchen, dieſe erſten Blätter mit einiger Aufmerkſamkeit und ſelbſt
wiederholt und mit dem Vertrauen zu leſen, daß ihnen eben da-
durch der Genuß des Ganzen ungemein erleichtert, ja eigentlich erſt
möglich gemacht werde. Um übrigens die Bedeutungen der we-
nigen Kunſtausdrücke, die wir hier nebſt ihrer Erklärung zuſam-
men ſtellen, dem Gedächtniſſe tiefer einzuprägen und zugleich die
Anführung derſelben in der Folge zu erleichtern, ſind ſie, nach Art des
mathematiſchen Vortrags, unter eigene Nummern gebracht werden.


§. 1. (Kreiſe auf der Oberfläche einer Kugel.) Jede Ebene
durch eine Kugel ſchneidet die Oberfläche der Kugel in einem Kreiſe.
Geht die ſchneidende Ebene durch den Mittelpunkt der Kugel, ſo
[24]Einleitung.
nennt man den durch ihren Schnitt entſtehenden Kreis einen
größten Kreis der Kugel. Wir betrachten hier zuerſt nur ſol-
che größte Kreiſe der Kugel.


Uebrigens wird, wie bekannt, die Peripherie eines jeden Krei-
ſes in 360 gleiche Theile, die man Grade nennt, getheilt. Jeder
Grad hat 60 Minuten und jede Minute 60 Secunden. Man
bezeichnet dieſe Theile in der angeführten Ordnung durch ° ′ ″,
ſo daß z. B. 45° 13′ 20″ eben ſo viel heißt, als 45 Grade, 13
Minuten und 20 Secunden.


§. 2. (Himmliſche und irdiſche Kreiſe.) Wir nehmen den
Himmel ANQN' (Fig. 1), ſo wie er uns in der That erſcheint,
als eine hohle Kugelſchale an, deren Mittelpunkt C zugleich der
Mittelpunkt der ebenfalls kugelförmigen Erde anqn' iſt. Dieß
vorausgeſetzt, wird alſo jede Ebene, welche durch den Mittelpunkt
C beider Kugeln geht, den Himmel ſowohl, als auch die Erde (nach
§. 1) in einem größten Kreiſe ſchneiden, von welchem man den
einen den himmliſchen und den andern den ihm entſprechenden
irdiſchen Kreis nennt. Solche zuſammen gehörende Kreiſe-Paare
ſind:


  • AWQO = I und aq = 1 oder
  • HWRO = II und hr = 2 oder endlich
  • ANQN' = III und anqn = 3.

Wir wollen dieſe Kreiſe-Paare der Kürze wegen künftig nur
durch dieſe ihre Zeichen I, 1, II., 2 ꝛc. anzeigen.


§. 3. Derjenige Durchmeſſer der Kugel, der auf der Ebene
eines größten Kreiſes ſenkrecht ſteht, heißt die Axe dieſes Kreiſes
und die beiden Endpunkte dieſes Durchmeſſers ſind die Pole je-
nes Kreiſes. Die Axe eines Kreiſes geht daher immer durch den
Mittelpunkt deſſelben und jeder Pol iſt von allen Punkten der
Peripherie ſeines Kreiſes um 90 Grade oder um einen rechten
Winkel entfernt.


So ſind NN' die Axe und N, N' die Pole des Kreiſes I,
und eben ſo ſind ZZ' die Axe und Z, Z' die Pole des Kreiſes II
und daſſelbe gilt auch von den Punkten n, n' und z, z' in Be-
ziehung auf die analogen irdiſchen Kreiſe 1 und 2.


§. 4. (Kreiſe, die durch die Pole anderer Kreiſe gehen.) Je-
der größte Kreis, der durch den Pol eines gegebenen größten
[25]Einleitung.
Kreiſes geht, geht auch durch den andern Pol des gegebenen Krei-
ſes und die Ebenen beider Kreiſe ſtehen auf einander ſenkrecht.


So gehen alle durch den Pol N gehende Kreiſe NQ, NQ',
NQ''.. auch durch den Pol N' und alle dieſe Kreiſe ſtehen ſenk-
recht auf I oder die Winkel der Bogen NQ, NQ', NQ''.. mit dem
Bogen QW ſind rechte Winkel. Eben ſo ſtehen alle durch Z ge-
hende Kreiſe ZR, ZR', ZR''.. ſenkrecht auf II und der durch N und
durch Z gehende Kreis III ſteht daher ſenkrecht auf I ſowohl, als
auch auf II.


§. 5. (Auf einander ſenkrecht ſtehende Kreiſe.) Stehen eben
ſo umgekehrt zwei Kreiſe auf einander ſenkrecht, ſo liegen die Pole
des einen in der Peripherie des anderen. Sind alſo die Kreiſe
NQ, NQ'.. auf I ſenkrecht, ſo liegen die Pole aller dieſer Kreiſe
in der Peripherie von I, und ſind die Kreiſe ZR, ZR'.. auf II
ſenkrecht, ſo liegen alle Pole dieſer Kreiſe irgendwo in der Peri-
pherie von II.


§. 6. (Wie größte Kreiſe die Kugel und ſich ſelbſt theilen.)
Jeder größte Kreis theilt die Oberfläche der Kugel in zwei gleich
große Theile, in deren Mitte die beiden Pole jenes Kreiſes lie-
gen. Je zwei größte Kreiſe der Kugel aber theilen ſich ſelbſt in
ihrer Durchſchnittslinie, die zugleich ein Durchmeſſer der Kugel
iſt, in zwei gleiche Theile und umgekehrt: halbiren ſich zwei Kreiſe
auf der Oberfläche der Kugel, ſo ſind ſie beide größte Kreiſe
derſelben.


§. 7. (Neigung zweier Kreiſe gegen einander.) Der Winkel
zweier größten Kreiſe, d. h. die Neigung ihrer Ebenen gegen
einander iſt gleich der Entfernung der beiden Pole dieſer Kreiſe.
So iſt die Neigung der Kreiſe I und II gleich der Diſtanz NZ =
N' Z'
ihrer Pole.


Dieſelbe Neigung der beiden Kreiſe I und II kann aber auch
durch den Bogen QR = AH desjenigen größten Kreiſes III aus-
gedrückt werden, der durch die Pole N und Z jener beiden Kreiſe
geht, welcher Bogen daher, nach §. 4, auf den beiden Kreiſen
I und II ſenkrecht ſteht, wo dann die Entfernungen der Punkte
R und Q, oder A und H von den beiden Durchſchnittspunkten O
und W der beiden gegebenen Kreiſe immer gleich 90 Grade ſind.
Dieſelben Neigungen zweier größten Kreiſe können endlich auch
[26]Einleitung.
ganz einfach durch die Winkel ausgedrückt werden, welche die Pe-
ripherien dieſer Kreiſe in ihren Durchſchnittspunkten, unter ſich
bilden. So iſt RWQ = AWH die Neigung der beiden Kreiſe I
und II. Eben ſo wird die Neigung der Kreiſe NQ' und NQ'' gegen
einander durch den Winkel Q' NQ'' oder durch den auf ihnen
ſenkrecht ſtehenden Bogen Q' Q'' des größten Kreiſes I ausge-
drückt, und die Neigung der Kreiſe ZR' und ZR'' gegen einander,
iſt der Winkel R' ZR'' oder auch der Bogen R' R'' des auf ihnen
ſenkrecht ſtehenden Kreiſes II.


Alle dieſe Sätze ſind zwar Gegenſtände der Geometrie und
können, als ſolche, ſtreng bewieſen werden; ſie ſind aber auch zu-
gleich der Art, daß ſie für Leſer von einiger Faſſungskraft gleich-
ſam ſchon für ſich klar ſind, beſonders wenn wir ſie mit Hilfe
eines Globus (§. 30) betrachten.


Wenden wir nun das Geſagte ſofort auf diejenigen Kreiſe
an, welche die Aſtronomen auf der Oberfläche des Himmels und
der Erde gezogen haben, um dadurch einzelne Punkte dieſer Flä-
chen näher beſtimmen zu können.


§. 8. (Horizont, Zenith und Nadir.) Wenn wir uns in ei-
ner ebenen Gegend oder auf der hohen See befinden, ſo erſcheint
uns die Oberfläche am Ende als eine von einem Kreiſe begränzte
Ebene. Dieſe Ebene, bis an das Himmelsgewölbe erweitert, heißt
der ſcheinbare Horizont des Beobachters, und eine mit ihm
parallele, durch den Mittelpunkt der Erde gehende Ebene iſt der
wahre Horizont deſſelben.


Zieht man endlich durch den Punkt der Erdoberfläche, welchen
der Beobachter einnimmt, eine gerade, auf ſeinem Horizont ſenk-
rechte Linie, ſo wird dieſe Linie, da ſie ſenkrecht auf der Ober-
fläche der Kugel ſteht, durch den Mittelpunkt der Erde gehen und,
verlängert, die Oberfläche des Himmels in zwei Punkten ſchnei-
den, deren einer, der über dem Beobachter ſteht, das Zenith
(der Scheitelpunkt), und der andere unten das Nadir (der Fuß-
punkt) des Beobachters heißt. Die Richtung, welche durch dieſe
Linie ausgedrückt wird, heißt vertical, während man die auf
dieſe Linie ſenkrechte Richtung des Horizonts horizontal (wa-
gerecht oder waſſerrecht) zu nennen pflegt.


I. Da die Richtung eines mit einem Bleilothe beſchwerten
[27]Einleitung.
Fadens auf der Oberfläche des ſtilleſtehenden Waſſers ſenkrecht
ſteht, ſo wird der Faden in dieſem Zuſtande jene ſenkrechte Rich-
tung angeben, ſo wie durch die Oberfläche des ſtillſtehenden Waſ-
ſers die horizontale Richtung angezeigt wird.


II. Denkt man ſich den Beobachter auf dem oberſten Punkte
z der Oberfläche der kugelförmigen Erde, ſo wird der Durchmeſſer
zCz' verlängert, am Himmel das Zenith Z und das Nadir Z'
des Beobachters angeben. Der auf dieſem Durchmeſſer ſenkrechte
größte Kreis hr aber wird, bis an die Himmelsſphäre erweitert,
den wahren Horizont HWRO des Beobachters, den wir oben durch
II bezeichnet haben, angeben, während der mit ihm parallele durch
den Punkt z gelegte Kreis den ſcheinbaren Horizont des Beobach-
ters bezeichnet.


§. 9. (Sichtbare und unſichtbare Hemiſphäre.) Dieſem ge-
mäß iſt alſo die Linie ZZ' die Axe, und die Punkte Z und Z'
ſind die Pole des wahren Horizontes (§. 3). Durch dieſen Hori-
zont HWRO wird die Oberfläche des Himmels in zwei gleiche
Theile getheilt (§. 6), von welchen der eine, obere, in welchem der
Zenith Z liegt, die ſichtbare und der andere untere die unſicht-
bare Hemiſphäre
genannt wird, weil in der That nur dieje-
nigen Geſtirne, die ſich in der oberen Hälfte des Himmels, oder
die ſich über unſerem Horizonte befinden, für uns ſichtbar ſind,
während die andern für uns von der unter uns ſtehenden Erde
bedeckt und daher unſichtbar ſind.


§. 10. (Verticalkreiſe und Höhe der Sterne.) Die größten
Kreiſe ZR, ZR', ZR''.., welche durch das Zenith Z, alſo auch
durch das Nadir Z' gehen und daher auf dem Horizonte ſenkrecht
ſtehen (§. 4), heißen Vertical- oder Höhenkreiſe.


Die Entfernung jedes Punktes des Verticalkreiſes von dem
Horizonte oder der Bogen des Verticalkreiſes, der zwiſchen jenem
Punkte und dem Horizonte enthalten iſt, heißt die Höhe jenes
Punktes, und eben ſo nennt man die Entfernung dieſes Punktes
von dem Zenithe Z die Zenithdiſtanz des Punktes. Höhen
und Zenithdiſtanzen ergänzen alſo einander immer zu 90 Graden.
So ſind [daher] die Bogen RS, R' S' und R'' S'' die Höhen der
drei Sterne S, S' und S'' und eben ſo ſind die Bogen ZS, ZS'
und ZS'' die Zenithdiſtanzen derſelben.


[28]Einleitung.

§. 11. (Weltaxe, Weltpole, Aequator.) Wenn man die
Sterne des Himmels nur kurze Zeit beobachtet, ſo bemerkt man
ſchon, daß ſie ſich alle täglich und zwar ſo um die Erde bewegen,
als ob ſich die ganze Himmelsſphäre um eine Axe drehte, die
durch den Mittelpunkt C der Erde geht. Iſt NCN' dieſe fixe
Drehungsaxe des Himmels oder die ſogenannte Weltaxe, ſo
nennt man die beiden Endpunkte derſelben N und N' die Welt-
pole
und zwar den in unſeren Gegenden ſichtbaren oder dem Ze-
nithe Z näheren N den Nordpol und den anderen entgegenge-
ſetzten N' den Südpol. Ein auf die Weltaxe durch den Mittel-
punkt der Erde gehender, alſo größter Kreis ſchneidet die Ober-
fläche des Himmels in den himmliſchen Aequator AWQO und
zugleich die Erde in den irdiſchen Aequator aq. Dieſe beiden
größten Kreiſe des Himmels und der Erde ſind die, welche wir
oben (§. 2) durch I und 1 bezeichnet haben. Analog mit den
beiden Weltpolen N und N' nennt man auch die beiden Punkte,
in welchen die Weltaxe die Oberfläche der Erde ſchneidet, die ir-
diſchen Pole und zwar n den Nordpol und n' den Südpol der
Erde.


§. 12. (Nördliche und ſüdliche Hemiſphäre.) Der Aequator
theilt als ein größter Kreis die Erde ſowohl, als auch den Him-
mel in zwei gleiche Theile (§. 6), von welchen der eine, in wel-
chem der Nordpol N liegt, die nördliche, und der andere die
ſüdliche Hemiſphäre heißt.


§. 13. (Deklination und Deklinationskreis.) Die größten
Kreiſe NQ, NQ', NQ''.. welche durch den Nordpol N, alſo auch
durch den Südpol N' gehen und daher (§. 4) auf dem Aequator
ſenkrecht ſtehen, heißen Deklinations- oder Stundenkreiſe,
und der Bogen des Deklinationskreiſes, der zwiſchen dem Aequa-
tor und einem Stern enthalten iſt, heißt des Sterns Deklination
oder Abweichung. So ſind die Bogen QS, Q' S' und Q'' S''
die Deklinationen der Sterne S, S' und S''. Iſt der Stern un-
ter
dem Aequator oder in der ſüdlichen Hemiſphäre (§. 12), ſo
wird auch ſeine Deklination ſüdlich genannt. Auch nennt man
die Entfernungen NS, NS', NS''.. der Geſtirne von dem Nord-
pole N des Aequators die Poldiſtanzen dieſer Sterne. Dekli-
nationen und Poldiſtanzen ergänzen daher einander immer zu 90
[29]Einleitung.
Graden, und für Sterne unter dem Aequator ſind die Poldiſtan-
zen größer als 90 Grade.


§. 14. (Meridian.) Derjenige größte Kreis NZRA des Him-
mels, der durch den Nordpol N des Aequators und durch das
Zenith Z des Beobachters z, alſo auch durch die Punkte N' und
Z' geht und daher (§. 4) ſowohl auf dem Aequator, als auch
auf dem Horizonte ſenkrecht ſteht, heißt der Meridian des
Beobachters. Der Meridian iſt alſo derjenige größte Kreis, den
wir oben durch III bezeichnet haben und er ſchneidet die Oberfläche
der Erde in den irdiſchen Meridian nzra des Beobachters z. Der
Meridian iſt alſo zugleich Deklinations- und Höhenkreis.


§. 15. (Mittagslinie, Nord und Süd.) Meridian und Ho-
rizont halbiren ſich (§. 6) in ihren beiden Durchſchnittspunkten R
und H, von welchen der eine R, der von dem Nordpole N weiter
entfernt iſt, der Südpunkt oder Mittag und der andere H der
Nordpunkt oder Mitternacht genannt wird. Der beide Punkte ver-
bindende Durchmeſſer HCR des Horizonts heißt die Mittagslinie.


§. 16. (Oſt und Weſt.) Eben ſo halbiren ſich Aequator und
Horizont (§. 6) in zwei Punkten O und W, von welchen der erſte
O, der dem nach Süd ſehenden Beobachter links liegt, Oſt oder
Morgen, und der andere entgegengeſetzte WWeſt oder Abend
genannt wird. Durch dieſe vier Punkte H, O, N, W wird der
Horizont in vier gleiche Theile getheilt.


§. 17. (Oeſtliche und weſtliche Hemiſphäre.) Der Meridian
theilt ebenfalls die ganze Oberfläche des Himmels in zwei gleiche
Theile (§. 6), von welchen der eine, in welchem der Oſtpunkt O
liegt, die öſtliche und der andere die weſtliche Hemiſphäre ge-
nannt wird.


§. 18. (Aequatorhöhe und Polhöhe des Beobachters.) Die
Neigung des Aequators AWQ gegen den Horizont HWR wird
(nach §. 7) durch den zwiſchen dieſen Ebenen enthaltenen Bogen
QR = AH des Meridians, oder auch durch die Diſtanz NZ = N' Z'
der Pole jener beiden Ebenen, oder endlich ganz einfach durch den
Winkel QWR = QOR ausgedrückt. Man nennt dieſe Neigung
QR = NZ = QWR die Aequatorhöhe des Beobachters z,
weil in der That (nach §. 10) der Bogen QR die Höhe des
höchſten Punkts Q des Aequators ausdrückt.


[30]Einleitung.

I. Da die Summe der Bogen HN und NZ, ſo wie die
Summe RQ und QZ gleich 90 Graden iſt, und da RQ gleich NZ
iſt, ſo muß auch QZ gleich HN ſeyn, und man nennt dieſen Bo-
gen QZ = HN die Polhöhe des Beobachters z, weil in der
That (nach §. 10) der Bogen HN die Höhe des Nordpols N
des Aequators über dem Horizonte ausdrückt. Man ſieht, daß
für jeden Ort der Erde die Polhöhe und Aequatorhöhe einem rech-
ten Winkel gleich iſt, oder daß dieſe beiden größeren einander zu
90 Graden ergänzen.


II. Ganz eben ſo iſt alſo auch auf der Oberfläche der Erde
der Bogen hn gleich dem Bogen qz, weil jeder derſelben eben
ſo viele Grade enthält, als die Bogen HN oder QZ. Daraus
folgt, daß die Polhöhe HN eines Beobachters z immer gleich iſt
der Entfernung qz ſeines Ortes z von dem irdiſchen Aequator aq.


§. 19. (Stundenwinkel.) Da der Aequator auf allen Stunden-
kreiſen (§. 13) ſenkrecht ſteht, ſo wird man die Abſtände derſelben
von dem Meridian, als von dem erſten Stundenkreiſe (§. 14), durch
die zwiſchen ihnen liegenden Bogen des Aequators, oder was (nach §. 7)
daſſelbe iſt, durch ihren Neigungswinkel in dem Nordpole N meſſen.
Man nennt dieſe Abſtände der Stundenkreiſe von dem Meridian,
Stundenwinkel und zählt ſie in der Richtung von Q gen W
oder von Süd gen Weſt bis 360° oder auch bis 24 Stunden, in-
dem 15° auf eine Stunde genommen werden. So iſt QQ' = QNQ'
der Stundenwinkel des Sterns S' und QQ'' = QNQ'' der Stun-
denwinkel des Sterns S'' u. ſ. f.


Iſt dieſes Geſtirn S' die Sonne, ſo pflegt man auch den
Stundenwinkel QQ' = QNQ' derſelben die wahre Sonnenzeit
des Beobachters z zu nennen. Wenn die Sonne durch den oberen
Theil des Meridians NQ geht, oder wenn ſie culminirt, ſo iſt
der Stundenwinkel derſelben oder die wahre Zeit des Beobachters
Null oder der Beobachter hat eben Mittag. Wenn die Sonne
durch den unteren, unſichtbaren Theil HZ' des Meridians geht
oder in ihrer unteren Culmination iſt, ſo iſt der Stundenwinkel
der Sonne oder die wahre Zeit des Beobachters 12 Uhr oder der
Beobachter hat eben Mitternacht. Wir werden ſpäter auf dieſe
Zeitrechnung der Aſtronomen wieder zurück kommen.


§. 20. (Azimut.) Da der Horizont auf allen Höhenkreiſen
[31]Einleitung.
(§. 10) ſenkrecht ſteht, ſo wird man die Abſtände derſelben von
dem Meridiane, als von dem erſten Höhenkreiſe (§. 14) durch die
zwiſchen ihnen liegenden Bogen des Horizonts, oder was (nach
§. 7) daſſelbe iſt, durch ihre Neigungswinkel in dem Zenithe Z
meſſen. Man nennt dieſe Abſtände der Höhenkreiſe von dem Me-
ridiane Azimute und zählt auch ſie von Süd gen Weſt bis 360°.
So iſt RR' = RZR' das Azimut des Sterns S' und RR'' =
RZR''
das Azimut des Sterns S'' u. ſ. f.


§. 21. (Ortsbeſtimmung der Sterne gegen den Horizont und
Meridian.) Dieſe drei Kreiſe oder Ebenen, die des Horizonts,
des Aequators und des Meridians, ſind, wie wir ſogleich ſehen
werden, ſehr geſchickt, die Lage der Geſtirne oder den Ort, wel-
chen ſie zu jeder Zeit am Himmel einnehmen, zu beſtimmen.


Will man nämlich die Lage eines Geſtirns gegen den Hori-
zont und Meridian beſtimmen, ſo wird man bloß das Azimut
(§. 20) und die Höhe (§. 10) dieſes Sterns für eine beſtimmte
Zeit anzugeben haben. Iſt z. B. das Azimut RR'' und die Höhe
R'' S'' des Sterns S'' gegeben, ſo iſt dadurch auch ſofort der
Ort S'' des Geſtirns am Himmel beſtimmt.


Wählt man aber zu dieſem Zwecke den Aequator und den
Meridian, ſo wird man bloß den Stundenwinkel (§. 19) und die
Deklination (§. 13) des Sterns für eine beſtimmte Zeit anzugeben
haben. Iſt z. B. der Stundenwinkel QQ'' und die nördliche De-
klination Q'' S'' des Sterns S'' gegeben, ſo iſt dadurch auch ſo-
fort der Ort S'' des Geſtirns am Himmel beſtimmt.


§. 22. (Rectaſcenſion und Deklination, Länge und Breite der
Sterne.) Allein die zwei vorhergehenden Beſtimmungsarten ha-
ben den Nachtheil, daß ſie dem Geſtirne nicht unverändert für alle
Zeiten zukommen. In der That ändern dieſe Geſtirne durch die
tägliche Bewegung des Himmels um die Axe NN' ihre Lage ge-
gen den Horizont ſowohl, als auch gegen den Meridian in jedem
Augenblicke, ſo daß man alſo, um eine vollſtändige Beſtimmung
ihres Ortes zu erhalten, nebſt Azimut und Höhe, oder nebſt
Stundenwinkel und Deklination, auch noch die Zeit angeben
müßte, für welche jene Beſtimmungen ſtatt haben ſollen. Ueber-
dieß ändert ſich der Horizont ſowohl, als auch der Meridian, ſo-
[32]Einleitung.
bald der Beobachter z ſeinen Ort auf der Oberfläche der Erde
ändert.


Von dieſen Nachtheilen frei iſt die Lage der Geſtirne, wenn
man ſie bloß auf den Aequator bezieht, weil dieſer, durch die
tägliche Bewegung des Himmels, in ſeiner Lage gegen die Ober-
fläche des Himmels ſelbſt keine Aenderung erleidet.


I. Zu dieſem Zwecke nimmt man irgend einen feſten Punkt
V des Aequators, den man den Frühlingspunkt nennt, und
zählt von ihm in der Richtung VQO oder von Süd gen Oſt die
Abſtände der Stunden- oder Deklinationskreiſe (§. 13). Dieſe
Abſtände, welche man Rectaſcenſionen oder gerade Aufſtei-
gungen nennt, geben, wenn man ſie mit den bereits oben (§. 13)
erwähnten Deklinationen verbindet, die geſuchte einfache und
vollſtändige Ortsbeſtimmung des Sterns. Iſt z. B. die Recta-
ſcenſion VQ'' und die nördliche Deklination Q'' S'' eines Sterns
S'' gegeben, ſo iſt dadurch auch der Ort S'' des Sterns am Him-
mel beſtimmt, und dieſe Beſtimmung iſt unabhängig von der Zeit,
da ſie immer dieſelbe bleibt, wie ſich auch der Himmel um ſeine
Axe NN' drehe und von welchem Punkte der Oberfläche der Erde
man auch das Geſtirn betrachten mag, wenn nur das letzte ſeinen
Ort ſelbſt am Himmel nicht ändert.


II. Die Aſtronomen legen durch dieſen Punkt V und durch
den Mittelpunkt C der Erde unter einem beſtimmten Winkel von
23½ Grad gegen den Aequator noch eine andere Ebene, welche
daher die Oberfläche des Himmels wieder in einem größten Kreiſe
VL'' L' ſchneidet, den man die Ekliptik nennt.


Sie gebrauchen ihn auf eine ähnliche Weiſe, wie den Aequa-
tor, zur Beſtimmung der Lage der Geſtirne. Läßt man nämlich
von den Punkten S' und S'' die Bogen S' L' und S'' L''ſenk-
recht
auf die Ekliptik herab, wo alſo die Kreiſe dieſer Bogen
durch die beiden Pole der Ekliptik gehen müſſen (§. 5), ſo wird
auch der Ort eines jeden Geſtirns S' vollſtändig gegeben ſeyn, wenn
die beiden Bogen VL' und L' S' gegeben ſind. Man nennt aber
VL' die Länge und L' S' die Breite des Sterns S'. Eben ſo
iſt alſo auch VL'' die Länge und L'' S'' die Breite des Sterns S''.
Iſt das Geſtirn unter der Ekliptik, ſo wird die Breite deſſelben
ſüdlich genannt. Dieſer Kreis VL' L'' oder die Ekliptik iſt der-
[33]Einleitung.
jenige größte Kreis am Himmel, in welchem wir jährlich die
Sonne einhergehen ſehen. Der Punkt V, in welchem die Ekliptik
den Aequator ſchneidet und von welchem man, wie geſagt, alle
Rectaſcenſionen und alle Längen zählt, heißt der Frühlings-
punkt
, und der ihm am Himmel gegenüberſtehende der Herbſt-
punkt
, beide zuſammen aber bilden die Aequinoctial- oder
die Nachtgleichenpunkte. Die zwiſchen den Aequinoctialpunkten in
der Mitte liegenden Punkte der Ekliptik ſind die Solſtitien
oder Wendepunkte und zwar derjenige, welcher am höchſten
über dem Aequator, in der nördlichen Hemiſphäre (§. 18) ſteht,
das Sommer- und der andere entgegengeſetzte unter der Ekliptik
das Winter-Solſtitium. Wir werden ſpäter noch oft auf
dieſe Gegenſtände zurück kommen.


§. 23. (Geographiſche Länge und Breite des Beobachters.)
Auf eine ähnliche Art wird man auch verfahren, um den Ort des
Beobachters z auf der Oberfläche der Erde gegen den irdiſchen
Meridian aq (§. 11) zu beſtimmen. Wir haben oben (§. 14) ge-
ſehen, daß der irdiſche Meridian eines jeden Ortes z der Erde
derjenige größte Kreis derſelben iſt, der durch dieſen Ort z und
durch die beiden Pole n und n' des Erdäquators geht.


Man verbinde z. B. die beiden Punkte S' und S'' des Him-
mels mit dem Mittelpunkte C der Erde durch gerade Linien,
welche die Oberfläche der Erde in den Punkten S' und S'' ſchnei-
den ſollen. Eben ſo ſollen die Ebenen der Stundenkreiſe NS' Q' N'
und NS'' Q'' N' die Oberfläche der Erde in den analogen Kreiſen
ns' q' n' und ns'' q'' n' ſchneiden. Dann werden alſo die zwei
letztgenannten Kreiſe die irdiſchen Meridiane derjenigen Orte s'
und s'' der Erde vorſtellen, von welchen der erſte den Stern s'
und der zweite den Stern s'' in ſeinem Zenithe ſieht. Solcher
irdiſchen Meridiane gibt es alſo ſo viele, als es Punkte des
Aequators gibt. Man nimmt von dieſen unzähligen Meridianen
willkürlich einen derſelben, z. B. den, der durch die bekannte ka-
nariſche Inſel Ferro geht, als den erſten irdiſchen Meridian an,
und zählt von ihm die Abſtände aller übrigen in der Richtung
von Süd gen Oſt bis 360 Grade. Dieſe Abſtände der übrigen
Meridiane von dem gewählten erſten, nennt man die geogra-
phiſche Länge
dieſer Meridiane. Alle Orte der Erde, welche
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 3
[34]Einleitung.
in demſelben Meridiane liegen, haben alſo auch dieſelbe geographi-
ſche Länge. Um daher dieſe Orte noch weiter von einander zu
unterſcheiden, gibt man auch den Abſtand derſelben von dem
Aequator an. Dieſer Abſtand iſt aber, nach §. 18. II., immer
gleich der Polhöhe des Ortes, die man auch die geographi-
ſche Breite
des Ortes zu nennen pflegt. Liegt der Ort unter
dem Aequator oder in der ſüdlichen Hemiſphäre der Erde (§. 12),
ſo heißt die geographiſche Breite deſſelben auch ſüdlich.


Die Lage eines Ortes auf der Erde iſt alſo vollkommen be-
ſtimmt, wenn die geographiſche Länge und Breite deſſelben gege-
[ben] iſt und dieſe Beſtimmung iſt ganz analog mit der (§. 22),
durch welche man die Lage der Geſtirne gegen den Aequator, durch
die Rectaſcenſion und Deklination derſelben anzugeben pflegt. So
hat man z. B.:

§. 24. (Parallelkreiſe, Tag- und Nachtbogen, Auf- und Un-
tergang der Sterne.) Alle bisher betrachteten Kreiſe ſind größte
Kreiſe der Kugel, oder ſolche, deren Mittelpunkt zugleich jener der
Kugel ſelbſt iſt. Allein zuweilen verdienen auch die kleineren
Kreiſe derſelben eine nähere Betrachtung.


Wenn ſich der Himmel in der That, wie wir bisher voraus-
geſetzt haben, täglich in der Richtung von Oſt nach Weſt um die
Weltaxe NN' dreht, ſo wird während dieſer Drehung jeder Stern
einen Kreis beſchreiben müſſen, deſſen Ebene ſenkrecht auf dieſer
Axe und deſſen Mittelpunkt auch irgendwo in dieſer Axe liegt.
Wegen dieſer allen gemeinſchaftlichen ſenkrechten Stellung dieſer
Kreiſe gegen die Weltaxe werden ſie alſo auch alle unter einander
parallel ſeyn, daher man ſie Parallelkreiſe genannt hat. Die
Peripherie dieſer Kreiſe ſteht, in allen ihren Punkten, von jedem
Punkte der Axe, alſo auch von jedem der beiden Weltpole N und
N' gleich weit ab. Der größte aller dieſer Parallelkreiſe iſt der
oben (§. 11) betrachtete Aequator, deſſen Mittelpunkt mit dem
Mittelpunkte C der Kugel ſelbſt zuſammen fällt, während die
[35]Einleitung.
Mittelpunkte aller übrigen Parallelkreiſe deſto weiter von C ent-
fernt oder deſto näher bei den Polen N oder N' liegen werden, je
kleiner dieſe Kreiſe ſelbſt ſind. Solche Parallelkreiſe ſind alſo in
unſerer Zeichnung der Kreis SS' E' E und DD' D'' B.


I. Um auch von dieſen himmliſchen Parallelkreiſen die ihnen
entſprechenden irdiſchen Parallelkreiſe, z. B. um aus
DD' D'' B den analogen irdiſchen Parallelkreis dd' d'' b zu er-
halten, wird man von allen Punkten des erſten Kreiſes gerade
Linien nach dem Mittelpunkte C der Kugel ziehen und dadurch
gleichſam die Oberfläche eines Kegels erhalten, deſſen Spitze in C
und deſſen Baſis der himmliſche Parallelkreis DD' D'' B iſt. Dieſe
Kegelfläche wird dann die Oberfläche der Erde in dem geſuchten
analogen irdiſchen Parallelkreiſe dd' d'' b ſchneiden.


Auf der Oberfläche der Erde unterſcheidet man vorzüglich
zwei dieſer Parallelkreiſe in der nördlichen ſowohl, als in der ſüd-
lichen Hemiſphäre. Nämlich die beiden Wendekreiſe, die von
dem Aequator, zu beiden Seiten deſſelben, um 23½ Grad abſte-
hen und daher durch die beiden Solſtitialpunkte (§. 22. II.) der
Ekliptik gehen, und die beiden Polarkreiſe, deren Peripherie
von den beiden Weltpolen N und N' um dieſelbe Größe von
23½ Graden abſteht und die daher durch die oben (§. 22. II.)
erwähnten Pole der Ekliptik gehen.


II. Alle dieſe kleineren Polarkreiſe werden von den bisher
betrachteten größten Kreiſen der Kugel, z. B. von dem Horizonte,
nicht mehr in zwei gleiche, ſondern oft, wie der Parallelkreis
SS' E' E in zwei ſehr ungleiche Theile, ja öfter, wie der Parallel-
kreis DD' D'' B, gar nicht mehr geſchnitten.


Von denjenigen Kreiſen, die von dem Horizonte noch ge-
ſchnitten werden, bezeichnet der Theil ESS'' E', der über dem
Horizonte des Beobachters z liegt, den ſogenannten Tagbogen
des Geſtirns, d. h. denjenigen Bogen, in welchem der in dieſem
Parallelkreiſe ſich bewegende Stern, während ſeiner täglichen Um-
drehung um die Erde, dem Beobachter noch ſichtbar bleibt, wäh-
rend der übrige Theil E' S''' E dieſes Parallelkreiſes den Nacht-
bogen
oder den für den Beobachter unſichtbaren Theil dieſes
Kreiſes bezeichnet.


3 *
[36]Einleitung.

III. Von den beiden Durchſchnittspunkten E und E' des
Parallelkreiſes mit dem Horizonte bezeichnet der erſte E, in der
öſtlichen Hemiſphäre (§. 17), den Punkt des Himmels, wo der
Stern dieſes Parallelkreiſes aufgeht, oder wo er ſich über den
Horizont zu erheben anfängt, während in dem entgegengeſetzten
Punkte E' der Stern untergeht oder ſichtbar zu ſeyn aufhört.


Für die Sterne im Aequator iſt der Tagbogen OQW gleich
dem Nachtbogen WAO. Für alle andere Sterne aber iſt, in der
nördlichen Hemiſphäre (§. 12) der Tagbogen deſto größer, je
weiter der Parallelkreis von dem Aequator abſteht oder je größer
die Deklination (§. 13) des Sterns iſt, und daſſelbe gilt auch von
dem Nachtbogen in der ſüdlichen Hemiſphäre.


IV. Iſt, wie für den Parallelkreis DD' B der nördlichen
Hemiſphäre der Bogen QD größer als der Bogen HN, das heißt,
iſt die nördliche Deklination eines Sterns größer als die Polhöhe
(§. 18. I.) des Beobachtungsorts, ſo ſchneidet der Parallelkreis
des Sterns den Horizont nicht mehr oder der Stern geht, für
den Beobachter z, nicht mehr unter und iſt daher immer ſichtbar.


Iſt aber für einen Parallelkreis der ſüdlichen Hemiſphäre die
Entfernung deſſelben von dem Aequator größer als der Bogen
RQ = AH, das heißt, iſt die ſüdliche Deklination eines Sterns
größer, als die Aequatorhöhe (§. 18) des Beobachtungsorts, ſo
geht der Stern, für dieſen Ort der Beobachtung, nicht mehr auf
und iſt daher immer unſichtbar.


§. 25. (Culmination der Sterne.) Alle Sterne, die für einen
Beobachter noch auf- oder untergehen, ſteigen nach ihrem Aufgange
immer höher über den Horizont, bis ſie, in dem Augenblicke ihres
Durchgangs durch den Meridian SZQR, d. h. in dem Augen-
blicke ihrer Culmination (vergl. §. 19. I.) ihre größte Höhe
erreichen, von welcher ſie dann auf dieſelbe Weiſe wieder zu dem
Horizonte herabſteigen, ſo daß, zu beiden Seiten des Meridians,
zu gleichen Stundenwinkeln (§. 19) oder auch zu gleichen Azimu-
ten (§. 20) auch gleich Höhen deſſelben Sterns gehören.


§. 26. (Circumpolarſterne, obere und untere Culmination der-
ſelben.) Solche Sterne, die ſo nahe bei dem Pole ſind, daß ſie
für einen beſtimmten Beobachtungsort nicht mehr untergehen
(§. 24. IV.), wie die des Parallelkreiſes DD' B, heißen Circum-
[37]Einleitung.
polarſterne. Sie werden daher zweimal, während einer Um-
laufszeit derſelben, im Meridian geſehen, nämlich zur Zeit der
oberen Culmination in D und zur Zeit der unteren Culmina-
tion in B; für auf- und untergehende Geſtirne iſt die untere Cul-
mination unſichtbar. (Vergl. §. 19. I.)


§. 27. (Beſtimmung der Polhöhe des Beobachtungsortes und
der Deklination der Sterne.) Wenn man die Höhe, oder was
daſſelbe iſt, die Zenithdiſtanz (§. 10) eines Geſtirns im Augen-
blicke der Culmination dieſes Sterns, durch irgend ein dazu geeig-
netes Inſtrument beobachtet hat, ſo kann man daraus ſofort die
Polhöhe des Beobachtungsortes finden, wenn die Deklination des
Sterns bekannt iſt, oder auch umgekehrt, die Deklination, wenn
die Polhöhe bekannt iſt.


Denn für Culminationen auf der Südſeite ZR des Zeniths
hat man, wenn der Stern von nördlicher Deklination, z. B. in S
culminirt, QZ = QS + SZ oder
Polhöhe = Deklination + Zenithdiſtanz,
und wenn der Stern von ſüdlicher Deklination, z. B. in T cul-
minirt, QZ = TZ — TQ oder
Polhöhe = Zenithdiſtanz — Deklination.


Eben ſo hat man für Culmination der Circumpolarſterne
auf der Nordſeite ZH des Zeniths, wenn der Stern über dem
Pole N, z. B. in dem Punkte D culminirt, HN = QZ = QD — DZ
oder
Polhöhe = Deklination — Zenithdiſtanz,
und wenn er unter dem Pol, z. B. in dem Punkte B culminirt,
HN = QZ = QB — BZ oder, da AB die Deklination, alſo QB
die Ergänzung der Deklination zu 180 Graden iſt,
Polhöhe = 180° — Deklination — Zenithdiſtanz,
wo immer + das bekannte Zeichen der Addition und — der Sub-
traktion iſt. Dieſe Ausdrücke zeigen, wie man von den drei Grö-
ßen, Polhöhe, Deklination und Zenithdiſtanz im Meridian, wenn
zwei derſelben gegeben ſind, die dritte finden kann.


§. 28. (Sternzeit.) Hätte man überdieß noch ein Mittel,
für dieſelbe Zeit der Culmination eines Sterns, z. B. in S auch
noch den Stundenwinkel des Frühlingspunkts V (§. 19 und 22. I.)
[38]Einleitung.
zu beobachten, ſo würde man die Deklination und die Rectaſcen-
ſion (§. 22) dieſes Sterns, alſo eine vollſtändige Beſtimmung
ſeines Ortes am Himmel erhalten. Denn dieſer Stundenwinkel
iſt (§. 19) gleich dem Winkel VNQ oder gleich dem Bogen VQ
und dieſer Bogen VQ iſt zugleich die Rectaſcenſion des Sterns S
im Augenblicke ſeiner Culmination.


Man nennt dieſen Stundenwinkel QV des Frühlingspunktes,
der für irgend einen Augenblick Statt hat, auch die Sternzeit
dieſes Augenblickes, ganz eben ſo, wie wir oben (§. 19. I.) den
Stundenwinkel der Sonne in jedem Augenblicke die wahre Son-
nenzeit dieſes Augenblicks genannt haben, ſo daß es Null Uhr
Sternzeit iſt, wenn der Frühlingspunkt durch den oberen Theil ZQ
des Meridians geht, und 12 Uhr Sternzeit, wenn er durch den
unteren Theil HZ' des Meridians geht. Auch heißt das Zeitintervall
zwiſchen zwei nächſten Culminationen der Sonne der Sonnen-
tag
, und eben ſo die Zeit zwiſchen zwei nächſten Culminationen
des Frühlingspunkts der Sterntag.


Bemerken wir noch, daß, wenn von den drei Größen, Recta-
ſcenſion eines Sterns, Stundenwinkel deſſelben und Sternzeit der
Beobachtung, zwei gegeben ſind, die dritte auch durch jene zwei
gegeben iſt, auch wenn der Stern irgendwo vor oder nach ſeiner
Culmination außer dem Meridian ſteht. So hat man z. B. für
den Stern S' die Rectaſcenſion VQ', den Stundenwinkel QQ' und
die Sternzeit VQ. Es iſt aber immer VQ = VQ' + Q' Q, das
heißt, die Sternzeit der Beobachtung iſt immer gleich der Summe
der Rectaſcenſion und des Stundenwinkels des Sterns. Iſt der
Stern, zur Zeit ſeiner Culmination, in dem Meridian, ſo iſt ſein
Stundenwinkel Null und daher die Sternzeit der Beobachtung
gleich der Rectaſcenſion des culminirenden Sterns, wie zuvor.


§. 29. (Zuſammenſtellung des Vorhergehenden.) Zur beque-
men Ueberſicht wollen wir die Fig. 1 noch einmal einfacher und
nur in ihren vorzüglichſten Beſtandtheilen in Fig. 2 wieder geben
und dabei dieſelben Zeichen, wie zuvor, gebrauchen. Hier iſt alſo


  • Z das Zenith des Horizonts HWR,
  • N der Nordpol des Aequators AWQ und
  • E der Nordpol der Ekliptik MVL. Ferner ſind
  • die Punkte H, W, R und V in derſelben Ordnung Nord,

[39]Einleitung.

Weſt, Süd und der Frühlingspunkt und HN = QZ iſt die Pol-
höhe des Beobachtungsortes, deſſen Zenith Z iſt.


Zieht man durch die drei genannten Pole Z, N und E in
derſelben Ordnung auf die drei Kreiſe HWR, AWQ und MVL
die ſenkrechten Kreiſe ZR', NQ' und EL', ſo ſind dieſe letzten
Kreiſe die Höhen-, Deklinations- und Breitenkreiſe des Sterns S'
und man nennt den Bogen dieſer Kreiſe
S' R' die Höhe,
S' Q' die Deklination und
S' L' die Breite des Sterns S'.


Endlich iſt RZR' = RR' das Azimut,
QNQ' = QQ' der Stundenwinkel,
VNQ' = VQ' die Rectaſcenſion und
VEL' = VL' die Länge des Sterns S', ſo wie

VNQ = VQ den Stundenwinkel des Frühlingspunkts oder die
Sternzeit bezeichnet.


§. 30. (Einrichtung des Globus.) Um der Imagination der-
jenigen Leſer zu Hilfe zu kommen, die nicht gewohnt ſind, was
von Kugelflächen geſagt wird, in einer Ebene dargeſtellt zu ſehen,
wie dieß in den beiden vorhergehenden Zeichnungen geſchehen iſt,
wird es räthlich ſeyn, ſich das bisher Geſagte auch durch den
Anblick eines ſogenannten Globus zu verſinnlichen. Man ſieht
einen ſolchen in Fig. 3 abgebildet. Da übrigens auf einem ſol-
chen Inſtrumente alle oben erwähnten Kreiſe und Winkel, der
Natur derſelben ganz gemäß, dargeſtellt werden, ſo wird es zweck-
mäßig erſcheinen, die Einrichtung und den Gebrauch deſſelben hier
kurz zu erläutern.


I. Man hat von demſelben bekanntlich zwei Gattungen, den
Himmels- und den Erd-Globus, von welchen jener die Oberfläche
des Himmels und dieſer die der Erde darſtellt. Die gegenwär-
tige Zeichnung bezieht ſich auf einen Himmelsglobus, in deſſen
Mittelpunkt man ſich wieder, wie in Fig. 1, den Mittelpunkt der
Erde denken kann, ſo daß die Ebenen der himmliſchen Kreiſe auf
der größeren Kugel, dort wo ſie die kleineren der Erde ſchneiden,
wieder die analogen irdiſchen Kreiſe, wie in §. 2 geſagt worden
iſt, anzeigen.


II. Der Himmelsglobus alſo beſteht in einer Kugel, die in
[40]Einleitung.
zwei einander gegenüberſtehenden Punkten N und N' durch zwei
Stifte in einem, in Grade getheilten, metallenen Ringe NQZ' B
ſo befeſtigt iſt, daß ſich dieſe Kugel um die gerade Linie NN',
als um eine Axe, frei drehen läßt. Dieſer Ring ruht auf einem
Fußgeſtelle HTRW, deſſen oberer Rand HR einen ebenfalls ein-
getheilten Ring trägt. Der Stift bei N, der ſich mit der Kugel
zugleich dreht, trägt einen Zeiger, der auf einem, an dem metal-
lenen Ringe befeſtigten und in 24 Stunden getheilten Kreiſe ab,
der ſogenannten Roſe, ſich bewegt.


III. Die beiden Punkte N und N' ſtellen die Weltpole und die
gerade Linie NN' die Weltaxe vor. In gleichen Entfernungen von
den beiden Polen iſt der Aequator AVQ (§. 11) mit ſeinen durch
L, S', D .. gehenden Parallelkreiſen (§. 24) und die Ekliptik
VL' L (§. 22. II). Die durch N und N', alſo ſenkrecht auf dem
Aequator gehenden Kreiſe, wie NQN', NQ' N, NVN' .. ſind
Deklinations- oder Stundenkreiſe (§. 23). Bezeichnet daher wie-
der V den Frühlingspunkt und S' irgend ein Geſtirn, ſo wird,
wenn S' L ſenkrecht auf der Ekliptik iſt, VQ' die Rectaſcenſion,
QS' die Deklination, VL' die Länge, L' S' die Breite des Ge-
ſtirns S' ſeyn.


IV. Der erwähnte metallene Ring NQZ' B, der immer mit
dem Deklinationskreiſe der Kugel zuſammenfällt, ſtellt den fixen
Meridian (§. 14) und der Kreis HR des Fußgeſtelles ſtellt den Ho-
rizont (§. 8) des Beobachters vor, deſſen Zenith Z und Radir Z'
iſt. Man denkt ſich daher dieſen Beobachter auf dem höchſten
Punkt der Erde oder in dem oberſten Punkte desjenigen Erddurch-
meſſers, der verlängert durch die beiden Punkte Z und Z' des
Himmels geht, weil in der That jeder Beobachter immer den
höchſten Punkt der Erdoberfläche einzunehmen glaubt.


§. 31. (Orientirung des Globus.) Um den Globus für jede
gegebene Zeit ſo zu ſtellen, daß er ein getreues Bild des Him-
mels für dieſe Zeit darſtellt, oder um ihn zu orientiren, hat
man Folgendes zu beobachten:


I. Bewegt man den metallenen Ring BNZQ in der hori-
zontalen Scheibe HR ſo lange auf oder nieder, bis der Bogen HN
der Polhöhe des gegebenen Beobachtungsortes gleich iſt, was man
an der Eintheilung jenes Ringes erkennt. Dadurch wird zugleich
[41]Einleitung.
das Zenith Z' dieſes Beobachtungsortes in den höchſten Punkt
des Globus gebracht.


II. Dann ſucht man in dem auf der horizontalen Scheibe
HR angebrachten Verzeichniſſe der Länge VL' die Sonne für den
gegebenen Tag, wodurch man den Punkt L' des Himmels erhält,
in welchem, an dieſem Tage, die Sonne ſich aufhält. Man dreht
dann den Globus um ſeine Axe NN' ſo lange, bis dieſer Ort L'
unter den oberen Theil NQH des Meridians oder des metallenen
Kreiſes kömmt und ſtellt, für dieſen Stand des Globus, den Zei-
ger der Roſe auf 12 Uhr.


III. Endlich dreht man das ganze Geſtelle ſammt ſeinem
Globus ſo, daß die Linie HR mit der Mittagslinie (§. 15) des
Beobachtungsorts nahe übereinſtimmt, ſo daß der Punkt H nach
Nord und R nach Süd gerichtet iſt. Zu dieſem Zwecke hat man
gewöhnlich an dem Fußgeſtelle eine kleine Magnetnadel angebracht,
die aber entbehrt werden kann, da dieſe letzte Stellung keineswegs
eine große Genauigkeit erfordert.


Auf dieſe Weiſe geordnet, zeigt der Globus den Zuſtand des
Himmels ſo, wie er für den gewählten Beobachtungsort im Mit-
tage des gegebenen Jahres ſtatt hat. Dreht man dann die Ku-
gel, ohne das Inſtrument weiter zu verrücken, gegen Weſt oder
von L' nach V, bis der Zeiger der Roſe ab auf 6, 12, 18 ..
Stunden fällt, ſo erhält man das Bild des Himmels, wie er an
demſelben Beobachtungsorte um 6 Uhr Abends, um Mitternacht,
um 6 Uhr Morgens … erſcheint.


Hat man ſo den Globus für eine gegenwärtige Stunde der
Nacht geſtellt, ſo wird man diejenigen Sterne, die man am Himmel
kennen lernen will, durch gerade Linien, bloß nach dem Augenmaße,
mit dem Mittelpunkte des Globus verbinden und in den Durch-
ſchnittspunkten dieſer Linien mit der Oberfläche des Globus, das
Sternbild und die Namen der Sterne, die man ſucht, verzeichnet
finden. Auf dieſe einfache Weiſe wird man in kurzer Zeit den
ganzen Himmel mit allen ſeinen vorzüglichſten Geſtirnen kennen
lernen. Man wird zugleich ſehen, daß alle die Sterne, die auf
dem Globus im Horizonte auf der Oſtſeite der Linie HR liegen,
in dem gewählten Augenblicke eben aufgehen, während die auf der
Weſtſeite untergehen und während zugleich die, welche ſich unter
[42]Einleitung.
dem Meridiane HNZQ befinden, eben culminiren; man wird die
Zeit des Auf- und Untergangs, ſo wie die der Culmination jedes
einzelnen Sterns auf der Roſe ableſen, die Größe der Tag- und
Nachtbogen derſelben beſtimmen u. ſ. f. Kurz, man wird ſich
auf dieſe Weiſe ohne alle Mühe und gleichſam nur ſpielend von
dem jedesmaligen Zuſtande des Himmels Rechenſchaft geben, eine
große Anzahl intereſſanter Fragen ohne alle Rechnung auflöſen,
und zu gleicher Zeit ſich in den Stand ſetzen, die nun folgenden
Betrachtungen, durch Verſinnlichung derſelben an dem Globus,
leichter und deutlicher zu überſehen.


[[43]]

Erſter Theil.


KapitelI.
Geſtalt der Erde.


§. 1. (Erſcheinungen am Himmel und auf der Erde). Die
Erde erſcheint uns auf den erſten Blick als eine, nach allen Sei-
ten endlos ausgebreitete Ebene, unter welcher uns alles feſt und
ſicher dünkt, und über welcher ſich der Himmel mit ſeinen Wolken
und Geſtirnen in der Geſtalt einer Halbkugel wölbt. Da wir in
der That von unſeren höchſten Thürmen und Gebirgen diejenigen
Theile der Erde, die wir von jenen Standpunkten überſehen, einige
Erhöhungen und Vertiefungen ausgenommen, immer nur als eine
Ebene erblicken, eine Erſcheinung, die auf der hohen glatten See
noch viel deutlicher hervortritt, ſo ſind wir dadurch veranlaßt, die
ganze Erde ſelbſt für eine ſolche Ebene zu halten, über welcher der
Himmel, gleich einem Gewölbe, ausgeſpannt iſt. Dieß war ohne
Zweifel die ganze Aſtronomie der erſten Menſchen; dieß iſt noch
die Aſtronomie der Wilden in Afrika und Amerika, und wohl auch
die vieler Zahmen in Europa, die ſich ſelbſt, in ihrer Beſcheiden-
heit, zum Unterſchiede von jenen, die Gebildeten zu nennen pflegen. —
Aber, wie weit iſt es von dieſem erſten gedankenloſen Anſtaunen
des Himmels und der Erde bis zu jener Anſicht, welche alle Er-
ſcheinungen derſelben, und den Zuſtand des ganzen Weltſyſtemes,
in den vergangenen und künftigen Zeiten, gleichſam mit einem
einzigen Blicke zu umfaſſen vermag.


[44]Geſtalt der Erde.

Um dahin zu gelangen, mußten Jahrtauſende von aufmerk-
ſamen Beobachtungen vorausgehen; mußte eine lange Reihe von
Täuſchungen und Irrthümern bekämpft, mußte der Fleiß und der
Scharfſinn der trefflichſten Männer aller Zeiten und Nationen
vereinigt werden, um in den äußerſt verwickelten Phänomenen,
welche uns der geſtirnte Himmel darbietet, die bloße Erſcheinung
von der ihr zu Grunde liegenden Wahrheit zu trennen, um in
dieſen Erſcheinungen die ihnen zu Grunde liegenden Thatſachen
zu erkennen, und um endlich von dieſen Thatſachen ſich bis zu
dem Geſetze, dem ſie alle gehorchen, bis zu dem Alles umfaſſenden
Prinzip der allgemeinen Gravitation, zu erheben, aus welchem alle
jene Phänomene, wie aus einer gemeinſchaftlichen Quelle, abge-
leitet werden können.


Dieß iſt der Weg, welchen der menſchliche Geiſt in dieſer
Wiſſenſchaft zurückgelegt hat, und welchen ich im gegenwärtigen
Werke zu zeichnen verſuchen will.


Soll ein Unternehmen ſolcher Art nach dieſer Einleitung,
noch einer Apologie des Verfaſſers, oder einer Aufmunterung des
Lehrers bedürfen? — Die Aſtronomie iſt der Stolz des
menſchlichen Geiſtes, und ihr Gegenſtand iſt das
Weltall
, das Größte und Herrlichſte, das uns umgibt. —
Wir wollen hören, wie der Menſch zur Erkenntniß dieſes erha-
benen Gegenſtandes gekommen iſt, und mit unſeren eigenen
Augen
wollen wir ſehen, wie die Himmel die Ehre Deſſen
erzählen, der ſie gemacht hat. In manchen Minen ſoll es Men-
ſchen geben, die dort geboren und begraben werden, ohne je die
Sonne und die Geſtirne geſehen zu haben. Dieſe Bedaurungswür-
digen aber, wie wenig ſind ſie von jenen Unglücklichen verſchieden,
die wohl auf der Oberfläche der Erde leben, aber darum nichts
bemerken von allen den Herrlichkeiten, die ſie umgeben, die ſtumm
und fühllos ſtehen in einer Welt voll Wundern, und deren Augen
jenem Lichte verſchloſſen bleiben, welches für andere Menſchen,
und ſelbſt für Weſen höherer Art, nichts anderes als die Quelle der
edelſten und erhabenſten Genüſſe ſeyn muß. Die Aſtronomie iſt
es, welche uns dieſe Augen des Geiſtes öffnet, und uns die
Wunder einer Welt entſchleiert, die beinahe nur von Blinden
bewohnt wird.


[45]Geſtalt der Erde.

§. 2. (Die Erde iſt keine Ebene, und hat keine Unterſtützung).
Es genügte vielleicht ſchon eine geringe Aufmerkſamkeit, die Un-
richtigkeit der oben angeführten Anſicht, einer nach allen Seiten
ihrer Gränzen ausgebreiteten ebenen Erde, mit der ſicheren
Grundlage unter ihr, auf der ſie, wie man wähnte, ruhen ſollte,
zu bemerken. Man ſah täglich die Sonne im Oſten auf- und im
Weſten untergehen, und konnte doch nicht zweifeln, daß es immer
dieſelbe Sonne iſt, welche dieſes Schauſpiel mit jedem neuen
Tage vor uns aufführt! — Wo war ſie aber während der Nacht?
und was geht mit dem Monde und mit allen anderen Geſtirnen
des Himmels vor, die uns ebenfalls täglich im Weſten verſchwin-
den, um bald darauf im Oſten wieder ſichtbar zu werden? Sie ſind
doch offenbar dieſelben, die wir geſtern, die wir alle Tage
ſchon geſehen haben. — Sie müſſen alſo wohl unter uns, unter
der Erde
durchgegangen ſeyn, ſo daß wir von den Kreiſen, die
ſie um uns beſchreiben, nur denjenigen Theil erblicken, der über
der Erde ſteht, während der andere Theil derſelben, der auf der
anderen Seite, unter der Erde liegt, uns von dieſer Erde ſelbſt
bedeckt, und daher für uns unſichtbar iſt. Die Erde kann alſo
erſtens kein endlos ausgedehnter Körper ſeyn, wie wir anfangs
glaubten, ſondern ſie muß, ſo groß ſie auch übrigens ſeyn mag,
doch immer in beſtimmte Gränzen eingeſchloſſen ſeyn, weil ſonſt
jene Geſtirne nicht um ſie gehen könnten.


Auch werden wir wohl zweitens den Glauben an ihren feſten
Stand, an die ſichere Unterlage, auf der ſie ruhen ſoll, aufgeben
müſſen, ſo ſehr wir auch gewohnt ſeyn mögen, die Erde als das
Symbol der Feſtigkeit zu betrachten, und ſo ſicher wir uns auch
bisher dünken mochten, wenn wir nur unſeren Fuß auf die
„dauernde, und wohlbegründete Erde“ ſetzen konnten. Denn
welcher Art ſollte jene Unterlage wohl ſeyn, wenn ſie die ganze
ſchwere Erde tragen, und nicht ſelbſt wieder einer anderen Unter-
lage bedürfen ſollte, und worauf ſollte die letzte aller dieſer Unter-
lagen ſelbſt ruhen? Jene Geſtirne endlich, wenn ſie, wie wir
geſehen haben, ihre Bahnen unter der Erde fortſetzen, ſollen ſie
jene Unterlage vermeiden, oder durchbrechen, oder in zahlloſen
Kanälen ſich ihre Wege durch dieſes Hinderniß bahnen? — Wir
werden alſo wohl auch dieſe ganze Unterlage aufgeben, und an-
[46]Geſtalt der Erde.
nehmen müſſen, daß die Erde nicht nur in horizontaler Richtung,
ſondern auch auf ihrer unteren Seite ebenſowohl ein begränzter
Körper iſt, wie wir dieſes auf der oberen Seite derſelben, auf der
wir uns ſelbſt befinden, bemerken. Welche Geſtalt alſo dieſe un-
ſere Erde auch haben mag; ſie iſt ein ringsum abgeſchloſſener
Körper, deſſen Oberfläche in allen ſeinen Theilen, mit der ſie um-
gebenden Luft, oder doch mit dem übrigen Weltraume in Ver-
bindung ſteht, und da ſie, wie wir geſehen haben, keine Unterlage
haben kann, wenn anders noch die Sterne ſich um ſie bewegen
ſollen; ſo bleibt nichts übrig, als anzunehmen, daß ſie frei in
dieſem Weltraume hängt, oder daß irgend ein unſichtbares, ein
uns unbekanntes Band ſie an dieſer Stelle des Himmels feſthält.
Ein kühner Gedanke für den, der ihn zuerſt gedacht hat, obſchon
er, wenn er anders folgerecht denken ſollte, beinahe dazu gezwun-
gen wurde.


§. 3. (Kugelgeſtalt der Erde). Noch iſt drittens die äußere
Form
dieſer im Himmelsraume freiſchwebenden Erde zu beſtim-
men übrig. Hat ſie die Geſtalt eines Würfels, eines Cilinders
oder irgend eines andern Körpers? Solche Fragen können offen-
bar nicht durch Schlüſſe, ſondern ſie müſſen durch Beobachtungen
entſchieden werden, und gewiß, wenn wir unſere Erde aus recht
großer Entfernung, etwa aus dem Monde ſehen, oder wenn wir
ſie ganz überſehen könnten, wir würden mit dieſer unſerer Unter-
ſuchung bald im Reinen ſeyn. Da wir aber an ſie gebunden,
und da alle Wege die zum Monde führen, uns unbekannt ſind,
ſo wollen wir uns wenigſtens ſo weit über ſie erheben als wir eben
dürfen, um, weil wir das Ganze nicht überſehen können, doch
einen möglichſt großen Theil deſſelben zu erblicken.


Unſere Berge, beſonders die iſolirt in der Ebene ſtehenden,
bieten uns dazu ein gutes Mittel. Und wie erſcheint uns da der
Theil der Erde, den wir von dem Gipfel jener Berge überſehen?
— Durchaus in der Geſtalt eines Kreiſes, über deſſen Mittel-
punkt wir ſelbſt zu ſtehen glauben. Immer ſehen wir die äußer-
ſten Gegenſtände der Erde, die unſeren Geſichtskreis begränzen,
in gleicher Entfernung von unſeren Augen, und alle gleich
tief
unter uns. Die ſchärfſten Meſſungen mit dazu geeigneten
Inſtrumenten beſtätigen dieſe Erſcheinung vollkommen, und auf
[47]Geſtalt der Erde.
der hohen See tritt ſie ſelbſt auf den erſten Blick als eine nicht
weiter zu bezweifelnde Thatſache hervor. Die Schiffer nehmen
bei allen ihren Beobachtungen auf dieſe Erſcheinung Rückſicht, die
bei ihnen unter der Benennung der Depreſſion des Horizonts
[Einl. §. 8] bekannt iſt.


Wenn uns aber die Oberfläche der Erde überall, wo wir ſie
aus einem Punkte über ihr betrachten, von einem Kreiſe be-
gränzt erſcheint, ſo muß dieſe Erde ſelbſt offenbar die Geſtalt
einer Kugel haben, da nur bei der Kugel in allen ihren Thei-
len jene Erſcheinung Statt haben kann.


§. 4. (Wieviel wir von der Erde in größeren Höhen über-
ſehen). Bleiben wir einen Augenblick bei dieſem Gegenſtande
ſtehen, um ihn etwas näher zu betrachten. — Wir werden weiter
unten ſehen, daß der Halbmeſſer dieſer Kugel 19.631.114 Pa-
riſer Fuß, oder nahe 859 3/10 deutſche Meilen beträgt, von wel-
chen eine der 15te Theil eines Grades des Umfanges der Erde
iſt, und daher 22.841 8/10 Par. Fuß hat. Dieß vorausgeſetzt, wie
viel überſehen wir von der Erde von der Spitze eines Thurmes,
oder von dem Gipfel eines Berges, deſſen Höhe gegeben iſt, und
unter welchem Winkel erſcheint uns, in jener Höhe, dieſer von
dort ſichtbare Theil der Erde?


Es iſt für ſich klar, daß wir immer mehr von dieſer kugel-
förmigen Erde überſehen werden, je höher wir ſteigen, und daß
zugleich der uns ſichtbare Theil der Erde, obſchon er, wenn wir
uns über ihn erheben, an ſich ſelbſt immer größer wird, doch
ſich unſerem Auge unter einem geringeren Winkel darſtellen, oder
immer kleiner erſcheinen wird. So werden wir ganz nahe über
der Oberfläche der Erde, in der geringen Höhe von 13 7/10 Fuß,
auf der offenen See einen Kreis derſelben überſehen, deſſen Peri-
pherie in allen ihren Punkten nahe eine Meile von uns entfernt
iſt, aber dieſer Halbmeſſer von einer deutſchen Meile ſteht uns ſo
nahe, daß er uns unter einem ſehr großen Winkel erſcheint, der
nur vier Minuten kleiner iſt als ein Quadrant, der alſo beinahe
ein rechter Winkel iſt, oder mit anderen Worten, die geraden
Linien aus unſerem Auge an alle Punkte der Peripherie werden
nur äußerſt wenig unter dem Horizont geneigt ſeyn, und jener
Kreis ſelbſt, alſo auch mit ihm die ganze ſichtbare Erde, wird
[48]Geſtalt der Erde.
uns als eine nahe horizontale Ebene erſcheinen. Könnten wir
uns aber ſo weit, als der Mond, von unſerer Erde entfernen,
der, wie wir ſpäter ſehen werden, 50.740 Meilen von der Ober-
fläche der Erde abſteht, ſo würden wir, von dieſem weiten Stand-
punkte aus, einen viel größeren kreisförmigen Theil der Erde
überſehen, deſſen Peripherie von dem mittleren Punkte dieſer
ſichtbaren Erdfläche ringsum 1.335 Meilen abſteht, d. h. wir
würden von dem Monde aus beinahe die ganze zu uns gekehrte
Hälfte der Erde, deren Umkreis 5.356 M. beträgt, überſehen, aber
deſſenungeachtet würde uns dieſe ganze große Kugel nur unter dem
ſehr kleinen Winkel von noch nicht zwei Graden oder noch nicht
einmal viermal ſo groß im Durchmeſſer erſcheinen, als wir jetzt
den Mond oder auch die ſcheinbar nahe gleich große Sonne am
Himmel erblicken. Sey C (Fig. 4) der Mittelpunkt der kugelför-
migen Erde BFD und ein Beobachter a in der Höhe Ba, ſo wie
ein zweiter A in der Höhe BA über der Oberfläche der Erde. Zieht
man von dieſen Punkten a und A die geraden Linien at und AF,
welche die Erde in t und T berühren, ſo ſtellen tt' und TT' die
Peripherien der Kreiſe vor, welche die aus a und A ſichtbaren
Theile der Erde begränzen, und man kann Bt und BT die Halb-
meſſer
dieſer Kreiſe, ſo wie die Winkel Cat und CAT, unter
welchen dieſe Halbmeſſer dem Beobachter in a und A erſcheinen,
die Geſichtswinkel derſelben nennen. Der bloße Anblick der
Zeichnung zeigt, daß, wenn die Höhe des Beobachters über der
Erde wächst, auch jene Halbmeſſer wachſen, und im Gegentheile
jene Geſichtswinkel abnehmen.


Folgende Tafel gibt eine leichte Ueberſicht dieſer Größen.
Die erſte Columne enthält die Höhe BA des Beobachters über
der Oberfläche der Erde, die zweite gibt den Halbmeſſer BT oder
die Hälfte des ſichtbaren Kreiſes in deutſchen Meilen, beide in
Pariſer-Fuß ausgedrückt, und die dritte endlich gibt den Geſichts-
winkel CAT, unter welchem dieſer Halbmeſſer dem Auge in A er-
ſcheint.


[49]Geſtalt der Erde.

Dividirt man dieſe Halbmeſſer oder die Zahl der zweiten
Columne durch 22.842, ſo erhält man die Werthe derſelben in
deutſchen Meilen. So findet man z. B. für die vier letzten Angaben
der Tafel, daß man von dem Pic in Teneriffa (Höhe 10.000 P.
Fuß) einen Umkreis der Erde von 27 Meilen im Halbmeſſer
überſehen kann, und daß dieſer Halbmeſſer für den Montblanc
(Höhe 15,000 P. F) 34, für den Chimborasso (Höhe 20.000 P.
Fuß) 39, und endlich für den Gipfel des Dhawalagiri im Hima-
laja-Gebirge (Höhe 25.000 P. Fuß) nahe 39 d. Meilen beträgt,
während er, wie wir bereits oben geſehen haben, für den Mond
(Höhe 50.740 Meilen) auf 1.335 Meilen oder ſehr nahe auf den
4ten Theil der Oberfläche der Erde ſich ausbreitet. Nahe auf
dieſelbe Höhe von 25.000 Fuß erhoben ſich auch Biot und Gay-
Lussac
in ihren aeronautiſchen Expeditionen, und dieſe Höhe iſt
überhaupt die größte, welche Menſchen bisher erreicht haben.


§. 5. (Größe der Erde). Beobachtungen dieſer Art, welche
uns die kugelförmige Geſtalt der Erde kennen lehrten, könn-
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 4
[50]Geſtalt der Erde.
ten uns zugleich, was wohl nicht weniger intereſſant wäre, von
der eigentlichen Größe dieſer Kugel unterrichten. Nähmen wir
z. B. an, daß man für eine Höhe BA von 10.000 P. Fuß durch
irgend eine Meſſung den Halbmeſſer BT jenes ſichtbaren Kreiſes
626.400 Fuß gefunden hätte, — eine ſehr einfache Rechnung würde
uns dann aus dieſen beiden Zahlen den Halbmeſſer der Erde
geben. Er würde nämlich gleich ſeyn der Hälfte des Quadrats
der erſten Zahl 626.400, dividirt durch die zweite oder durch
10.000. Führt man dieſe kleine Rechnung aus, ſo findet man
für den Halbmeſſer der Erde 19.620.000 P. Fuß, oder 859 3/10
d. M. wie zuvor. Kennt man aber den Halbmeſſer einer Kugel,
ſo iſt es bekanntlich ſehr leicht, auch die Peripherie und die Fläche
eines größten Kreiſes derſelben, ſo wie die Oberfläche und den kör-
perlichen Inhalt der Kugel ſelbſt zu finden *). Allein dieſe
Beobachtungen ſind ſehr ſchwer mit der wünſchenswerthen Ge-
nauigkeit anzuſtellen, weil die Atmoſphäre, wie wir weiter unten
ſehen werden, alle Gegenſtände, die wir durch ſie erblicken, ver-
ſtellt, ſo daß ſie uns an ganz anderen Orten, als wo ſie in der
That ſind, erſcheinen, eine Verrückung, die beſonders in der Nähe
des Horizonts, wo jene Beobachtungen angeſtellt werden ſollen,
ſo groß, und ſo verwickelt iſt, daß man auf alle Präciſion in den
Reſultaten ſolcher Experimente Verzicht leiſten muß.


§. 6. (Folgen der Kugelgeſtalt der Erde). Wir wollen uns
daher begnügen, die wahre Geſtalt der Erde auf dieſem Wege er-
kannt zu haben. Unſer Wohnort iſt alſo, wie wir geſehen haben,
keine Ebene, die ſich ohne Ende in die Tiefe, und ohne Gränzen
nach der Seite ausdehnt, ſondern ſie iſt eine Kugel, die ohne
[51]Geſtalt der Erde.
Unterſtützung frei im Weltraume ſchwebt, wie der Mond und
die Sonne, die wir ebenfalls unter derſelben kugelförmigen Ge-
ſtalt am Himmel ſchweben ſehen. Dieſe Sonne bringt uns den
Tag, ſo oft ſie in Oſten erſcheint, und die von uns bewohnten
Gegenden mit ihren Strahlen beleuchtet. Wenn ſie aber ihren
Lauf, an dem uns ſichtbaren Gewölbe des Himmels, über uns
vollendet hat, und am Abend jedes Tages unſeren Augen ver-
ſchwindet, ſo legt ſie den übrigen Theil ihrer täglichen Bahn auf
der anderen Seite der Erde, alſo unter uns, zurück, und be-
leuchtet die uns entgegengeſetzten Gegenden der Erdkugel, die ſie
dann mit dem Lichte des Tages erfreut, während wir im Schat-
ten der Nacht ruhen, bis uns die Morgenröthe in Oſten aus
unſeren Träumen weckt, und wir einem neuen Tag entgegen gehen,
während jene wieder von dem dunklen Mantel der kommenden
Nacht bedeckt werden. So wechſeln Licht und Schatten auf un-
ſerer kugelförmigen Erde, Tag und Nacht haben ſie zu gleichen
Hälften unter ſich getheilt, und dieſelbe Sonne iſt es, die, täglich
ihren Kreislauf um die Erde vollendend, allmählig alle Gegenden
derſelben mit ihren wohlthätigen Strahlen beleuchtet und erwärmt.


— — Redit a nobis aurora diemque reducit
Nosque, ubi primus equis Oriens afflavit anhelis,
Illic sera rubens accendit lumina Vesper.

Georgi.
()

Wir werden ſpäter die Mittel kennen lernen, die Geſtalt
ſowohl, als auch die Größe der Erde mit der äußerſten Genauig-
keit zu beſtimmen. Hier wird es genügen, noch einige Bemer-
kungen anzuführen, durch welche die bereits erkannte Kugelgeſtalt
der Erde beſtätigt wird, und die ſämmtlich der Art ſind, daß ſie
keine weiteren Vorkenntniſſe vorausſetzen, und daher auch ſchon
in den früheſten Zeiten angeſtellt werden konnten.


§. 7. (Beweiſe der Kugelgeſtalt der Erde: I. Aus der Anſicht
ferner Gegenſtände). Wenn Reiſende in einer Ebene ſich fernen
Bergen oder einem hohen Thurme allmählig nähern, ſo erblicken
ſie bekanntlich zuerſt die höchſten Spitzen, und erſt ſpäter die
immer tiefer liegenden Theile derſelben. Noch deutlicher tritt
dieſe Erſcheinung auf der hohen See hervor, wo die am Ufer
ſtehenden Zuſchauer von dem abſegelnden, und ſich immer mehr
4 *
[52]Geſtalt der Erde.
von ihnen entfernenden Schiffe zuerſt die unterſten Theile deſſel-
ben aus dem Geſichte verlieren, und zuletzt, ehe das Ganze ver-
ſchwindet, nur noch die höchſten Spitzen der Maſte erblicken. Da
dieſe Erſcheinung auf allen Orten der Erde Statt hat, ſo muß
dieſe ſelbſt eine runde Geſtalt haben, und kann keine Ebene ſeyn,
weil in dem letztern Falle jenes Schiff, gleich einem Vogel oder
einem Luftballone, je weiter er ſich von uns entfernt, nicht, wie
zuvor bloß an ſeiner unteren Seite unſichtbar, ſondern in allen
ſeinen Theilen zugleich kleiner werden, und endlich als ein für
unſer Auge unſichtbarer Punkt gänzlich verſchwinden müßte.


§. 8. (II. Aus Reiſen in der Richtung des Meridians).
Jedermann kennt das ſchöne Sternbild am nördlichen Himmel,
welches man den großen Bären oder auch den Wagen nennt.
Es beſteht vorzüglich aus ſieben großen Sternen, deren vier wie
die Räder eines Wagens ſehr nahe ein regelmäßiges Viereck
bilden, während die drei anderen die etwas gekrümmte Deichſel
vorſtellen. Wenn man durch die beiden Hinterräder deſſelben eine
gerade Linie zieht, und die Verlängerung deſſelben gegen Norden,
fünfmal ſo groß nimmt, als die Diſtanz dieſer zwei Räder, ſo
trifft das Ende dieſer Linie einen anderen ſchönen Stern, den
man den Polarſtern nennt. Dieſer wichtige Stern, von wel-
chem wir ſpäter noch oft ſprechen werden, ſteht beinahe in völliger
Ruhe am Himmel, während alle anderen täglich kleinere oder
größere Kreiſe um ihn zu beſchreiben ſcheinen. Wenn man auf
der Erde in der Richtung von Süd nach Nord gleichſam auf den
Polarſtern zureist, ſo erhebt ſich jener Stern immer mehr über
unſeren Horizont, und zwar in demſelben Verhältniſſe, in
welchen man gegen Norden vorrückt. Eine ſolche Reiſe in der
Richtung von Süd gegen Nord würde z. B. die von Rom über
Venedig, Regensburg und Leipzig nach Roſtock ſeyn. In Rom
aber ſieht man den Polarſtern in der Höhe von 42 Graden über
dem Horizonte, während er in Roſtock 12 Grade höher oder in
der Höhe von 54 Graden über dem Horizont dieſer letzten Stadt
erſcheint. Allein die Diſtanz dieſer beiden Orte auf der Erde
beträgt 180 d. Meilen. Da aber, nach dem Vorhergebenden, 15
d. Meilen auf einen Grad des Umfangs der Erde gehen, ſo be-
tragen dieſe 180 Meilen ebenfalls 12 Grade auf der Oberfläche
[53]Geſtalt der Erde.
der Erde oder genau ebenſoviel, als jene Erhöhung des Polar-
ſternes auf der Oberfläche des Himmels, wie dieſes ſeyn muß,
wenn die Erde in der That die Geſtalt einer Kugel haben ſoll.


§. 9. (III. Aus den ſogenannten Reiſen um die Welt). Wir
wiſſen ferner, daß unſere ſogenannten Weltumſegler, wenn ſie
ihren Cours immer in derſelben Richtung z. B. von Oſt nach
Weſt beibehalten, alſo ſich ſcheinbar immer weiter von ihrem
Abfahrtspunkte entfernen, daß ſie doch am Ende ihrer Reiſe wieder
an demſelben Punkte ankommen, von welchem ſie ausgegangen
ſind, was unmöglich wäre, wenn die Erde die Geſtalt einer Ebene
hätte. Ebenſo entfernen ſich zwei ſolcher Schiffe, die aus dem-
ſelben Hafen, das eine nach Weſt, und das andere nach Oſt
auslaufen, nicht immer von einander, wie dieſes auf einer Ebene
der Fall ſeyn müßte, ſondern ſie begegnen einander auf halbem
Wege, obſchon ſie in der That immer in derſelben Richtung, und
zwar auf einer ſcheinbaren Ebene fortzuſegeln wähnten, ohne
irgendwo eine Ecke oder einen Abgrund zu treffen, der ſie in
ihrem Laufe aufgehalten hätte.


§. 10. (IV. Aus Mondesfinſterniſſen). Wer ferner je eine
Mondesfinſterniß angeſehen hat und weiß, daß ſie entſteht, wenn
der Mond in den Schatten tritt, welchen die von der Sonne be-
leuchtete Erde hinter ſich wirft, dem wird der bloße Anblick dieſer
Erſcheinung ſchon einen Beweis mehr für die runde Geſtalt der
Erde geben. Die Gränze des Erdſchattens erſcheint nämlich, bei
dieſen Finſterniſſen, auf der kugelförmigen Oberfläche des Mondes
immer rund, zum Zeichen, daß die Erde ſelbſt, welche dieſen
Schatten wirft, auch rund ſeyn müſſe. Zwar könnte man ein-
wenden, daß auch dann, wenn die Erde, und daher auch ihr
Schatten, eine Ebene wären, der letzte auf dem Monde doch rund
erſcheinen müßte. In der That iſt der Schnitt einer Kugel, alſo
auch des Mondes, mit einer Ebene immer ein Kreis, und ein
Kreis muß allen denen, welche außer der Ebene deſſelben, und
ſchief gegen dieſelbe ſtehen, als eine Elipſe, alſo als eine krumme
Linie erſcheinen. Allein wir, die Bewohner der Erde, ſind zur
Zeit jener Finſterniſſe immer ſehr nahe in der Ebene jenes Krei-
ſes, und dieſer Kreis oder dieſe Schattengränze müßte uns daher
auf dem Monde als eine gerade Linie erſcheinen, wenn dieſe
[54]Geſtalt der Erde.
Schattengränze ſelbſt eine Ebene wäre. Da dieß aber gegen die
Erfahrung iſt, oder da uns dieſe Gränze immer krumm erſcheint,
ſo muß auch unſere Erde ſelbſt eine krumme Geſtalt haben.


§. 11. (V. Aus der Geſtalt anderer Geſtirne). Als endlich
im ſechzehnten Jahrhunderte die Fernröhre erfunden wurden, be-
merkte man auch an mehreren anderen Himmelskörpern dieſelbe
Kugelgeſtalt, die man denn auch ſehr bald als die Lieblingsform der
Natur erkannte, bis ſie endlich durch die Theorie der allgemeinen
Schwere, nur mit einigen kleinen Abweichungen, von welchen wir
ſpäter reden werden, als die einzig mögliche erkannt und bewieſen
worden iſt. Sonne und Mond und alle Planeten mit ihren Sa-
telliten haben dieſe Geſtalt; warum ſollte allein die von uns be-
wohnte Erde ſie nicht auch haben? Ein dunkles Gefühl ſcheint
uns bereits aus den wenigen vorhergehenden Betrachtungen zuzu-
rufen, daß wir bisher im Irrthume waren, wenn wir die Erde,
unſeren Wohnort, als etwas Eigenes, für ſich Beſtehendes anſahen,
dergleichen nicht weiter in der übrigen Welt zu finden ſey, ja der
zu Liebe wohl, wie wir früher wähnten, alles andere da ſeyn
ſoll, und daß wir uns daher bei Zeiten gewöhnen müſſen, in
dieſer Erde nicht ſowohl unſeren ausſchließenden Wohnort, als
vielmehr einen der großen Himmelskörper mehr zu erblicken,
welche den Weltraum um uns erfüllen, von deren Chor wir nur
einen, und wie wir bald ſehen werden, einen ſehr kleinen Theil
ausmachen.


[[55]]

KapitelII.
Taͤgliche Bewegung der Erde.


§. 12. (Erſcheinung der täglichen Bewegung des Himmels).
Wir haben bereits geſehen, daß der ganze Himmel mit allen ſeinen
Geſtirnen täglich einmal von Oſt gegen Weſt um unſere Erde ſich
bewege. So ſcheint es allerdings uns Allen, daher denn auch
dieſe Meinung nicht nur von dem gemeinen Manne, ſondern auch,
in den früheren Zeiten wenigſtens, von den ſogenannten Weiſen ſo
einſtimmig angenommen wurde, daß man ſie endlich durch eine
ſonderbare Vermiſchung der Begriffe, für eine unantaſtbare Wahr-
heit zu betrachten anfing, an der zu zweifeln ſogar für ein Ver-
brechen gehalten werden konnte.


Ehe wir aber die Richtigkeit dieſer Meinung unterſuchen,
wird es nöthig ſeyn, die Erſcheinung ſelbſt, welche ihr zu Grunde
liegt, näher zu betrachten.


Wenn ſich eine Kugel um einen durch ihren Mittelpunkt ge-
henden Stab, als um eine Achſe, dreht, ſo wird jeder Punkt der
Oberfläche dieſer Kugel einen Kreis beſchreiben, deſſen Ebene ſenk-
recht auf dieſer Achſe, und deſſen Mittelpunkt irgendwo in dieſer
Achſe liegen wird. Der größte aller dieſer Kreiſe wird jener ſeyn,
deſſen Mittelpunkt zugleich der Mittelpunkt der Kugel iſt, und
zu beiden Seiten dieſes Kreiſes werden die übrigen Kreiſe gleich-
mäßig immer kleiner werden, bis ſie endlich, in den beiden End-
punkten jener Achſe, verſchwinden, oder bloß in zwei Punkte über-
gehen, die allein von allen Punkten der rotirenden Kugelfläche,
[56]Tägliche Bewegung der Erde.
ſich nicht bewegen. Dieſe beiden feſten Punkte, von welchen jeder
einzelne jener Kreiſe in allen Theilen ſeines Umfangs gleichweit
abſteht, nennt man die Pole (Einl. 3 und 11) jener Kreiſe, und
jener größte Kreis, der in der Mitte zwiſchen den Polen, alſo von
beiden Polen gleich entfernt iſt, heißt der Aequator (11) der
Kugel, während alle übrigen kleineren Kreiſe Parallelkreiſe
(24) genannt werden.


Dieſes vorausgeſetzt, wollen wir in irgend einer ausgedehnten
Ebene, an einem hellen Abend, bald nach Sonnenuntergang, un-
ſere Augen zu dem Himmel erheben, und die Gegenſtände be-
trachten, die er uns darbietet. Wir erblicken zuerſt ein weites,
halbkugelförmiges Gewölbe, mit Sternen von mannigfaltiger Größe
beſäet. Die ſtille Größe dieſes erhabenen Schauſpieles erfüllt
uns, ſelbſt bei wiederholter Betrachtung, mit immer neuer Bewun-
derung, und mit einer dunkeln Sehnſucht, dieſen Gegenſtänden
über uns näher zu kommen, und die Urſache und den Zweck dieſer
wunderbaren Erſcheinung kennen zu lernen.


Wenn wir einzelne, beſonders auffallende Gruppen dieſer
Geſtirne länger betrachten, und ihre Lage gegen feſte irdiſche
Gegenſtände, z. B. gegen Bäume oder Thürme, vergleichen, ſo
finden wir, daß alle jene Sterne, ohne ihre gegenſeitige Lage un-
ter ſich zu ändern, in einer gemeinſchaftlichen Bewegung von Oſt
gegen Weſt begriffen ſind. Wenden wir unſer Geſicht gegen den
bereits bekannten Polarſtern, oder gegen Nord, ſo ſehen wir die
zur rechten Hand, auf der Oſtſeite, liegenden Sterne ſich immer
mehr über den Horizont erheben, indeß jene auf der entgegenge-
ſetzten, linken oder weſtlichen Seite, immer tiefer herabſinken, und
wenigſtens die von dem Polarſterne entfernteſten Geſtirne zuletzt
ganz verſchwinden, und während endlich zu gleicher Zeit in Oſten
wieder andere, neu hervorkommende Sterne gleichſam aus der
Erde heraufſteigen, um ſich ſofort den übrigen beizugeſellen, und
gleich ihnen ihre Bewegung von Oſt nach Weſt fortzuſetzen.


Eine geringe Aufmerkſamkeit wird genügen, um zu zeigen, daß
die Bahnen, welche dieſe Geſtirne am Himmel beſchreiben, alle
kreisförmig ſind. Von den dem Polarſterne nahen Geſtirnen kann
man die ganzen von ihnen beſchriebenen Kreiſe in allen ihren
Theilen überſehen, da ſich dieſe Sterne immer über dem Horizonte
[57]Tägliche Bewegung der Erde.
befinden, und ohne auf- und unterzugehen (24. IV.) täglich ihre
kreisförmige Bahn um einen feſten Punkt, der dem Polarſtern
ſehr nahe iſt, zurücklegen. So ſieht man z. B. von dem oben
erwähnten Sternbilde des Wagens zur Zeit, wo es ſenkrecht unter
dem Polarſterne ſteht, die Deichſel nahe horizontal und gegen
Weſt gerichtet. Nach ſechs Stunden aber ſteht der Wagen öſtlich
in gleicher Höhe mit dem Polarſterne, und die Deichſel ſenkrecht
abwärts. Nach ſechs weiteren Stunden iſt der Wagen ſenkrecht
über dem Sterne, und die horizontale Deichſel richtet ſich nach
Oſten. Wieder nach ſechs Stunden ſteht der Wagen wieder
weſtlich vom Sterne, und ſeine Deichſel erſcheint ſenkrecht aufwärts
geſtellt, bis endlich, wenn volle vier und zwanzig Stunden ſeit
dem erſten Zeitpunkte verfloſſen ſind, das ganze Geſtirn wieder
ſeine erſte Lage unter dem Polarſterne einnimmt. Während dieſer
Zeit hat jedes einzelne Geſtirn dieſes Sternbildes ſeinen ganzen
Kreis um jenen feſten Punkt, um den Pol des Himmels, zurück-
gelegt, und dieſer Kreis iſt in demſelben Verhältniſſe größer (24),
in welchem die Entfernung des Sternes von jenem feſten Punkte
wächst.


Wenn dieſe Entfernung noch weiter zunimmt, und endlich
größer wird, als die Höhe des Polarſternes über unſerem Hori-
zonte, ſo werden uns die unteren Theile dieſer Kreiſe von dem
Horizont bedeckt, und daher für uns unſichtbar. Allein wir haben
bereits oben bemerkt, daß man nur von Süd nach Nord reiſen
darf, um den Polarſtern immer in einer größeren Höhe zu er-
blicken, ſo daß alſo für die nördlicheren Gegenden unſerer Erde
immer mehr Sterne in allen Punkten ihrer Bahn ſichtbar blei-
ben, zum Beweiſe, daß auch diejenigen Sterne, welche für ſüd-
lichere Gegenden nur den oberen Theil ihres Kreiſes ſichtbar
haben, den unteren Theil deſſelben, der von unſerer Erde verdeckt
wird, unter dem Horizont zurücklegen. Könnte man, wie Parry
und Raſe in unſeren Tagen verſuchten, ſo weit gegen Norden vor-
dringen, daß der Polarſtern endlich ſenkrecht über uns oder in
unſerem Zenithe ſtünde, ſo würden wir alle Sterne des uns
dort ſichtbaren Himmels ohne Ausnahme ganze Kreiſe beſchreiben
ſehen, die dort ſämmtlich dem Horizont parallel, und immer
größer ſeyn würden, je näher ſie dem Horizont ſelbſt kommen.
[58]Tägliche Bewegung der Erde.
Im Gegentheile, wenn wir, ſtatt wie bisher gen Norden, immer
weiter nach Süden reiſen, ſo wird der Polarſtern, auf unſerer
Rückſeite, immer tiefer zu unſerem Horizont herabſinken, während
dafür andere, bisher ungeſehene Sterne in Süden ſichtbar werden,
und die Kreiſe aller ſüdlichen Sterne immer höher ſteigen, ſo daß
von ihrem unteren Theile immer kleinere Bogen von dem Horizonte
bedeckt werden. Rücken wir ſo weit auf unſerer ſüdlichen Reiſe
vor, daß endlich der Polarſtern hinter uns den Horizont erreicht,
und uns unſichtbar wird, ſo ſtehen jetzt die Kreiſe aller Sterne,
deren Ebene bisher gegen Norden geneigt war, ſenkrecht auf un-
ſerem Horizonte, und wir ſehen von jedem derſelben genau die
eine Hälfte über der Erde, während die andere Hälfte unter der
Erde, und daher für uns unſichtbar iſt. In dieſer Lage iſt der-
jenige Kreis, der gerade über uns ſteht, d. h. der durch unſer
Zenith oder durch unſeren Scheitelpunkt geht, der größte von
allen, und zu beiden Seiten dieſes größten Kreiſes werden alle
übrigen gleichmäßig immer kleiner, bis ſie endlich in zwei einan-
der entgegengeſetzten Punkten des Horizonts gänzlich verſchwinden.
Dieſe zwei Punkte ſind zugleich die einzig unbeweglichen Punkte
des Himmels, von welchen der eine, wie bereits oben erwähnt,
der Nordpol, und der andere, ihm entgegengeſetzte, der Südpol
des Himmels heißt, während der erwähnte, durch unſer Zenith
gehende oder der größte aller Parallelkreiſe der Aequator des
Himmels genannt wird (Einl. 11).


Setzt man endlich dieſe Reiſe in ſüdlicher Richtung noch weiter fort,
ſo erhebt ſich auch der Südpol immer mehr über die Erde, und die ihn
zunächſt umgebenden Sternenkreiſe befreien ſich immer mehr von dem
Horizonte, und kurz dieſelben Erſcheinungen, die wir oben auf der
Reiſe nach Norden an den nördlichen Sternen bemerkten, kommen
jetzt in derſelben Ordnung an den ſüdlichen wieder, bis wir end-
lich dahin gelangen, wo der Südpol gerade über uns ſteht, und
alle Sternenkreiſe wieder mit unſerem gegenwärtigen Horizonte
parallel ſtehen, wo wir zugleich bemerken werden, daß alle die
Sterne, welche wir jetzt unter dem Südpole ſehen, durchaus von
denjenigen verſchieden ſind, welche wir früher unter dem Nordpole
erblickten, oder daß wir hier die ſüdliche, und dort die nördliche
Halbkugel des Himmels geſehen haben.


[59]Tägliche Bewegung der Erde.

Alles Vorhergehende zeigte, daß der kugelförmige Himmel
mit allen ſeinen Geſtirnen ſich täglich von Oſt gen Weſt um eine
gerade Linie, als um eine Axe, dreht, welche durch die beiden er-
wähnten feſten Punkte deſſelben, durch den Nord- und Südpol
des Himmels, geht. Da aber dieſe beiden Pole, wie wir geſehen
haben, einander gerade gegenüber ſtehen, und da wir überdieß
unſere ebenfalls kugelförmige Erde genau in den Mittelpunkt je-
ner Himmelskugel vorausſetzen, ſo wird auch jene Axe durch den
Mittelpunkt der Erde gehen, und die Oberfläche derſelben eben-
falls in zwei Punkten treffen, welche der Nord- und Südpol der
Erde genannt werden (Einl. 2, 11). Ganz ebenſo wird auch der
himmliſche Aequator oder die Ebene derjenigen größten Kreiſe,
in welchen die Sterne ſich bewegen, welche von den beiden Polen
gleichweit entfernt ſind, die Oberfläche der Erde in einem Kreiſe,
dem irdiſchen Aequator (11), ſchneiden, wie denn überhaupt
alle größte oder durch den Mittelpunkt gehende Kreiſe des Him-
mels auch durch den Mittelpunkt der Erde gehen, und die Ober-
fläche der letzten wieder in Kreiſen ſchneiden werden, die wir, zum
Unterſchiede von jenen, die gleichnamigen irdiſchen (2) Kreiſe heißen
werden.


§. 13. (Aeußere Wahrſcheinlichkeit der Bewegung des Himmels.)
Dieſe Erklärung der beobachteten täglichen Bewegung der Geſtirne,
durch eine Rotation des Himmels um eine fixe, durch den Mit-
telpunkt der Erde gehende Axe, iſt ſo einfach und der Sache ſelbſt
ſo angemeſſen, daß ſie gleichſam für eine unmittelbare Bezeich-
nung der Erſcheinung ſelbſt oder nur für einen andern Ausdruck
derſelben angeſehen werden kann. Auch werden dadurch alle ein-
zelnen Umſtände des ganzen Phänomens ſo genau dargeſtellt, daß
man an der Richtigkeit der Erklärung ſelbſt nicht leicht weiter
zweifeln kann.


Deſſenungeachtet wird es vielleicht nicht ganz überflüſſig er-
ſcheinen, auch hier auf unſerer Hut zu ſeyn. Wir wiſſen bereits,
welchen Täuſchungen unſere Sinne, und welchen oft noch viel
größeren Irrthümern die Schlüſſe unterworfen ſind, die wir
auf die Eindrücke dieſer Sinne zu bauen pflegen. Auch haben
wir an dieſer unſerer Erde ſelbſt bereits gelernt, auf unſerer Hut
zu ſeyn, da ſie uns Allen ebenſo unbezweifelt als eine Ebene er-
[60]Tägliche Bewegung der Erde.
ſchien, und deſſenungeachtet, wie wir geſehen haben, eine ganz an-
dere Geſtalt hat.


Wir müſſen daher, ehe wir weiter gehen, zuſehen, ob ſich
von derſelben Erſcheinung, von der täglichen Bewegung der Ge-
ſtirne um die Erde, nicht noch eine andere Erklärung, eine andere
Hypotheſe, aufſtellen laſſe, die vielleicht die Sache eben ſo genau
darſtellt wie jene. Wenn wir eine ſolche finden ſollten, ſo wird
es darauf ankommen, die inneren Gründe beider Hypotheſen ab-
zuwägen, und dadurch vielleicht zu entſcheiden, welche von ihnen
auf der Seite der Wahrheit liegt.


§. 14. (Tägliche Rotation der Erde.) Wir haben bisher an-
genommen, der Himmel drehe ſich täglich von Oſt gegen Weſt
um die in ſeinem Mittelpunkte ruhende Erde. Wie aber, wenn
wir den Himmel in Ruhe laſſen, und dafür die Erde, aber in
entgegengeſetzter Richtung, in Bewegung ſetzen? wenn wir anneh-
men wollten, die Erde drehe ſich täglich von Weſt gegen Oſt um
die durch ihren Mittelpunkt gehende Axe, während der ſie ringsum
concentriſch umgebende Himmel in völliger Ruhe bleibt?


§. 15. (Erklärung jener Erſcheinungen durch die Rotation der
Erde.) So ſonderbar dieſe Meinung auch auf den erſten Blick
erſcheinen mag, ſo kann man doch nicht läugnen, daß durch ſie
jene Erſcheinung ganz eben ſo gut und vollſtändig erklärt wird,
als durch die vorhergehende. Die Sterne, ſo ſagten wir, und ſo
ſcheint es uns in der That, ſteigen bei ihrem Aufgange an der
Oſtſeite des Himmels, über unſerem feſten Horizont herauf und
nähern ſich demſelben wieder bei ihrem Untergange auf der Weſt-
ſeite, wo ſie immer tiefer fallen und endlich ganz verſchwinden. —
Allein dieſe ganze Erſcheinung, mit allen den ſie begleitenden und
oben bereits erwähnten Umſtänden, wird auch eben ſo gut Statt
haben, wenn die Sterne des Himmels alle ruhig ſtehen bleiben,
und wenn dafür die Erde in einer entgegengeſetzten Richtung, oder
von Weſt gen Oſt, ſich um ihre Axe dreht. Dann wird nämlich
auch der Beobachter, wenn er ſonſt ſeinen Ort auf der Erde nicht
ändert, ſich mit derſelben nach Oſten bewegen, und da der Hori-
zont (8) eines jeden Beobachters immer durch den Fußpunkt
deſſelben geht, ſo wird auch dieſer Horizont, der in der erſten
Hypotheſe feſt war, jetzt beweglich ſeyn, und ſich mit dem
[61]Tägliche Bewegung der Erde.
Beobachter und mit der ganzen Erde ſelbſt von Weſt nach Oſt
drehen müſſen.


Sey O (Fig. 5) der Mittelpunkt der Erde mm' m'' und
CBA abc der ſie umgebende Himmel; bewegt ſich der Himmel
von Oſt nach Weſt in der Richtung CAc um die ruhende Erde,
ſo ſieht der ebenfalls ruhende Beobachter m über ſeinen feſten
Horizont Aa diejenigen Sterne des Himmels, welche bei A ſtehen,
aufgehen, während ihm die bei a eben untergehen. Nach einiger
Zeit hat ſich der Himmel von der linken zur rechten Hand ge-
dreht, ſo daß der Punkt B nach A geſtiegen und der Punkt b
nach a gefallen iſt, und daß daher, für den Beobachter in m
jetzt diejenigen Sterne aufgehen, welche bei B ſtehen, und dafür
die bei b, welche vorhin noch in beträchtlicher Höhe über dem
Horizont ſtanden, untergehen. Bald darauf werden die Sterne
bei C auf und die bei c untergehen u. ſ. w. — Bewegt ſich aber
die Erde von Weſt nach Oſt in der Richtung mm' m'', ſo dreht
ſich mit ihr auch der Beobachter ſowohl, als ſein Horizont, da
der letzte immer durch den Fußpunkt des Beobachters geht und in
dieſem Fußpunkte die Oberfläche der Erde berührt. Denkt man
ſich dieſen Horizont bis an die Oberfläche des Himmels erweitert,
ſo wird er, wenn der Beobachter in m iſt, durch den Punkt A
und a des Himmels gehen, oder die Sterne bei A werden ihm
aufzugehen, jene bei a aber unterzugehen ſcheinen. Nach einiger
Zeit hat ſich die Erde, und mit ihr der Beobachter, von m nach
m' gedreht, und der Horizont des Beobachters wird jetzt die Lage
Bb annehmen. Der Horizont wird ſich alſo in der Zwiſchen-
zeit auf der Oſtſeite von A nach B entfernt, und die Sterne bei a,
die uns vorhin eben aufzugehen ſchienen, werden nun ſchon hoch über
dem öſtlichen Horizonte m' B ſtehen, während die Sterne bei a,
die vorhin untergingen, jetzt ſchon tief unter dem neuen weſtlichen
Horizont m' b ſtehen und unſichtbar ſind, indeß die Sterne bei b,
die vorhin noch beträchtlich hoch ſtanden, eben untergehen. Bald
darauf kömmt der Beobachter mit ſeiner beweglichen Erde nach m''
und ſein Horizont nach Cc, wo ihm dann die Sterne bei C auf
und jene bei c untergehen u. ſ. f. So wie alſo dort der Him-
mel ſich um den feſten Horizont von Oſt nach Weſt bewegte, ſo
bewegt ſich hier der veränderliche Horizont von Weſt nach Oſt
[62]Tägliche Bewegung der Erde.
um den feſten Himmel, und ſo wie dort die ſichtbaren Sterne von
dem feſten öſtlichen Horizonte ſich entfernen oder höher ſteigen und
dem weſtlichen ſich nähern, ſo entfernt ſich hier der bewegliche öſt-
liche Horizont von ſeinen Sternen, die daher auch zu ſteigen ſchei-
nen werden, während ſich der weſtliche Horizont den auf der
Weſtſeite liegenden Sternen nähert, und ſie dadurch ihrem Unter-
gange immer näher bringt.


Beide Hypotheſen ſtellen alſo die Erſcheinung, die dadurch
erklärt werden ſoll, gleich gut und vollſtändig dar, und ſo lange
es bloß um dieſe Darſtellung der äußeren Erſcheinung zu thun
iſt, ſo hängt auch die Wahl zwiſchen beiden bloß von unſerer
Willkür ab, da keine derſelben einen Vorzug vor der andern hat,
und nichts in ihnen ſelbſt liegt, was uns zu der Annahme der
einen oder der andern vorzugsweiſe beſtimmen könnte.


§. 16. (Innere Wahrſcheinlichkeit der Rotation der Erde.
I. Aus der Geſchwindigkeit.) Allein verhält es ſich ebenſo mit den
inneren Wahrſcheinlichkeiten dieſer beiden Vorausſetzungen? —
Dort bewegt ſich der Himmel, während wir in gemächlicher Ruhe
ſtille ſitzend zuſehen: hier aber laſſen wir den Himmel ruhen,
während wir mit unſerer Kugel uns um uns ſelbſt drehen, und
zwar mit einer in der That ſehr großen Geſchwindigkeit, die unter
dem Aequator volle 225 Meilen in einer Stunde beträgt. Wer
von uns hat aber von dieſer Geſchwindigkeit, mit welcher wir alle
täglich um den Mittelpunkt der Erde fahren ſollen, auch nur das
Geringſte bemerkt? Wer wird alſo auch für dieſe zweite Hypotheſe
ſtimmen und dafür nicht gleich auf den erſten Blick die andere
für die unendlich wahrſcheinlichere, für die allein wahre erklären.


Auf den erſten Blick allerdings. — Allein die Sache iſt doch
wohl auch eines zweiten Blickes und überhaupt einer näheren Be-
trachtung werth.


Was zuerſt dieſe Geſchwindigkeit der Erde betrifft, ſo werden
wir bald mit noch viel größeren Geſchwindigkeiten in der Natur
bekannt werden, gegen welche dieſe, ſo groß ſie auch Manchem er-
ſcheinen mag, beinahe gänzlich verſchwindet. Dieſe Geſchwindig-
keit der Erde iſt eben nicht viel größer, als die des Schalles, der
nach den neueſten Verſuchen in einer Minute 2,724 Meilen zu-
rücklegt, während ein Punkt des Aequators der Erde in dieſer
[63]Tägliche Bewegung der Erde.
Zeit durch 3,75 M. geht. Ja weiter vom Aequator, wird dieſe
Geſchwindigkeit der Erde noch beträchtlich kleiner, weil die Paral-
lelkreiſe der Erde, in deren Ebene jene Bewegung der Erde vor
ſich geht, in größeren Entfernungen von dem Aequator, wie wir
oben geſehen haben, ebenfalls immer kleiner werden (§. 24). So
bewegt ſich Wien, welche Stadt in dem Parallelkreiſe liegt, deſſen
Breite 48 Grade beträgt (§. 23), in einer Minute durch 2,50,
Petersburg aber in der Breite von 60 Graden nur durch 1,87
und noch näher bei den beiden Polen der Erde wird endlich dieſe
Bewegung ſo klein, daß man ſie beinahe für eine abſolute Ruhe
halten kann.


Welche ganz anderen Geſchwindigkeiten aber werden wir er-
halten, wenn wir, gar zu ſehr auf die Ruhe unſerer Erde bedacht,
dafür den ganzen Himmel um ſie in Bewegung ſetzen wollen.
Der Mond z. B. iſt, wie wir ſpäter ſehen werden, nahe 52.000
Meilen von uns entfernt, alſo müßte er, wenn er ſeine Bahn
um die Erde von 326.730 Meilen in 24 Stunden vollendet, in
jeder Minute 227 Meilen zurücklegen, alſo über ſechzigmal ge-
ſchwinder gehen, als jener ſchnellſte Punkt des Erdäquators. Die
Sonne aber, welche gegen 21 Millionen Meilen von der Erde
entfernt iſt, müßte in jeder Minute 90.000 Meilen zurücklegen,
alſo über 24.000 Mal geſchwinder gehen, als jene Punkte der
Erde. Und damit ſind wir noch lange nicht an der Gränze dieſer
Geſchwindigkeiten angekommen, da es Körper des Himmels gibt,
deren Entfernung von der Erde, wie wir bald ſehen werden, ſo
groß iſt, daß ſelbſt dieſe ungeheure Diſtanz der Sonne von 21
Millionen Meilen nur als ein bloßer Punkt dagegen verſchwindet.
Mit welcher entſetzlichen, mit welcher unbegreiflichen Geſchwindig-
keit müßten dieſe Körper um unſere Erde geſchleudert werden, und
man bemerke wohl, zu welchem Zwecke müßten ſie es? — Um
uns in unſerer Ruhe nicht zu ſtören. Als ob ſie alle nur wegen
uns und um unſerer Bequemlichkeit zu fröhnen, da ſeyn ſollten!


§. 17. (II. Aus der Größe der übrigen Weltkörper.) Nicht
minder unbillig, ja unbeſcheiden wird uns dieſe Vorausſetzung
einer ruhenden Erde erſcheinen, wenn wir bedenken, welche Maſ-
ſen
wir dafür in Bewegung ſetzen wollen. Die Sonne iſt ſo
groß, daß man aus ihr gegen 1.500.000 ſolcher Kugeln als unſere
[64]Tägliche Bewegung der Erde.
Erde iſt, formen könnte, und doch ſoll dieſer ungeheure Körper ſich um
einen 1½ Millionen Mal kleineren bewegen, und zwar, wie wir
geſehen, mit einer 24.000 Mal größeren Geſchwindigkeit, als dieſe
Erde ſelbſt ſich drehen müßte. Und wie viele Tauſende von eben
ſo großen und wohl noch größeren Körpern finden wir am Him-
mel, von welchen allen dieſelbe höchſt unwahrſcheinliche Voraus-
ſetzung gelten müßte: daß das Große ſich um das viel Kleinere,
daß der ganze Himmel mit allen ſeinen zahlloſen Geſtirnen, deren
Größe eben ſo unbegreiflich iſt, als ihre Entfernung, ſich um dieſe
kleine Kugel, um einen Punkt bewegen ſoll, der gegen das übrige
Weltall als ein wahres Nichts verſchwindet, und dieß alles bloß
darum, weil wir uns nicht in unſerer Ruhe ſtören laſſen wollen,
und weil dieſer Punkt unſer Wohnort iſt, deſſen Exiſtenz vielleicht
den Bewohnern jener unzähligen und von ihm ſo weit entfernten
Himmelskörpern nicht einmal bekannt ſeyn mag.


§. 18. (III. Aus der Gleichförmigkeit der Bewegung ſo vieler
Himmelskörper.) Und welcher Art iſt dieſe Bewegung, in wel-
cher wir alle dieſe Körper um unſere Erde führen wollen? —
Eine ganz gleichförmige. Alle, die kleinen wie die großen,
die nahen wie die fernen, alle ſollen ſich genau in derſelben
Zeit, in vier und zwanzig Stunden, um uns bewegen. Welches
auch die unbegreifliche Kraft der Erde ſeyn mag, ſo unglaubliche
Erſcheinungen hervorzubringen, ſo müßte ſie doch, den Geſetzen
der Mechanik gemäß, auf die ihr näheren Körper anders wirken
als auf die entfernten, während ſie im Gegentheile hier alle gleich
betheilt, und auf den uns nahen Mond nicht anders als auf die
Billionenmal weiter entfernten Fixſterne wirkt. Alle, ohne Aus-
nahme, werden von dieſer Kraft mit einer Regelmäßigkeit in dem
Weltraume fortgeführt, daß auch nicht einer derſelben nicht eine
Secunde zu früh oder zu ſpät kömmt, als ob ihre ganze Beſtim-
mung nur die wäre, unſere Uhren zu reguliren, und uns das alle
Nächte wiederkommende Schauſpiel ihrer einförmigen Progreſſion
aufzuführen.


§. 19. (IV. Aus dem Mangel des Mittelpunkts dieſer Bewe-
gung.) Ja, dieſe abenteuerliche Kraft der Erde zugegeben, wo
ſollen wir den eigentlichen Sitz derſelben aufſuchen? Doch wohl
in dieſer Erde ſelbſt und zwar in dem Mittelpunkte derſelben. —
[65]Tägliche Bewegung der Erde.
Aber die tägliche Rotation des Himmels geht ja nicht eigentlich
um den Mittelpunkt der Erde, ſondern, wie wir geſehen haben,
um die Achſe derſelben, oder ſie geht in parallelen Kreiſen vor
ſich, deren Mittelpunkte alle in dieſer Axe (§. 24), in einer ge-
raden Linie, liegen, von welchen nur der kleinſte Theil mit der
Erde ſelbſt zuſammenfällt, während die beiden Endpunkte derſel-
ben ſich bis an den endloſen Himmelsraum erſtrecken. Die Kraft,
welche jeden Stern in ſeinem Parallelkreiſe treibt, muß doch wohl
in dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes liegen. Allein dieſer Mittel-
punkt iſt bei den meiſten Sternen ganz außer der Erde und in
einer Entfernung von ihr, gegen die ſie ſelbſt als ein bloßer Punkt
verſchwindet. Dieſer Mittelpunkt des Kreiſes, dieſer Sitz jener
ſonderbaren Kraft iſt alſo ein blos imaginärer, ein leerer Punkt
im Weltraume. Und da ſich, wie wir geſehen haben, dieſe Sterne
immer langſamer bewegen, je näher ſie den beiden Polen kommen,
ſo fordert auch jeder von ihnen eine eigene, immer abnehmende
Kraft, und der Sitz aller dieſer ſo äußerſt verſchiedenen Kräfte,
zu beiden Seiten der Erde, in’s Unendliche hin, iſt eine bloß ein-
gebildete, durch nichts bezeichnete, gerade Linie. Solchen Un-
wahrſcheinlichkeiten, ſolchen Widerſprüchen müßten wir uns aus-
ſetzen, bloß um unſere eigene, ſo theuer gewordene Ruhe zu retten.
Denn wie wir uns entſchließen, anzunehmen, daß wir es ſind,
die wir uns, ſammt unſerer Erde, täglich um ihre Axe bewegen,
ſo fallen ſofort alle jene, früher ſo unbegreiflichen Einwürfe weg,
und das ganze, erſt ſo räthſelhafte Phänomen, ſteht nun in ſeiner
Urſache rein und klar vor unſeren Augen. Wenn wir daher nicht
wieder zu dem kryſtallenen Himmel der Alten unſere Zuflucht
nehmen und mit ihnen vorausſetzen wollen, daß alle Geſtirne an
einer ſoliden Kugelſchale, wie Diamantnägel in einem ſchwarzen
Sammtgewölbe, befeſtigt ſind, eine Annahme, die mit allen un-
ſeren Beobachtungen über die Entfernung der Himmelskörper im
direkten Widerſpruche ſteht, und die wir auch ſchon wegen der be-
weglichen Geſtirne, die wir bald näher kennen lernen werden, als
ganz unzuläſſig von uns weiſen müſſen, — wenn wir, ſage ich, noch
Sinn für Wahrheit und für Ueberzeugung durch Vernunftgründe
haben wollen, ſo bleibt nichts übrig, als die Hypotheſe von der
Ruhe der Erde als unſtatthaft zu verwerfen, und dafür jene andere
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 5
[66]Tägliche Bewegung der Erde.
Vorausſetzung, von der täglichen Bewegung derſelben um ihre
Axe, als die einzig wahre anzuerkennen.


Wenn aber das Vorhergehende nur von der Unzuläſſigkeit der
Ruhe der Erde zeugt, alſo gleichſam nur als ein negativer Be-
weis für die Bewegung derſelben anzunehmen iſt, ſo fehlt es uns
deſſenungeachtet auch nicht an unmittelbaren, poſitiven Beweiſen
derſelben, und dieſe ſind es, die wir hier noch näher betrachten
wollen.


§. 20. (V. Aus dem Falle der Körper von größten Höhen.)
Es iſt allgemein bekannt (§. 8. I), daß alle Körper, wenn ſie
ihrer Unterſtützung beraubt werden, ſenkrecht auf die Oberfläche
der Erde, oder in der Richtung gegen den Mittelpunkt derſelben
herabfallen. Für geringe Höhen, z. B. fünfzig oder hundert Fuß,
iſt dieß auch in der That den Erfahrungen oder den darüber an-
geſtellten Beobachtungen vollkommen gemäß, wie es auch nach
den erſten Grundſätzen der Mechanik ſeyn muß, wenn die Erde
keine Rotation um ſich ſelbſt hat. Allein bei einer um ihre Axe
rotirenden Erde wird dieß nicht mehr der Fall ſeyn. In der
That hat man auch dieſe Beobachtungen, ſo lange man ſie nicht
mit der gehörigen Schärfe anſtellte, als einen direkten Einwurf
gegen die Umdrehung der Erde angeſehen, und ſelbſt Riccioli und
Tycho ließen ſich zu dem Irrthume verleiten. Sie meinten näm-
lich, daß ein z. B. von der Spitze eines Thurmes fallender Stein,
bei einer gegen Oſt rotirenden Erde, nicht mehr an dem Fuße
des Thurmes oder ſenkrecht unter ſeinem Abgangspunkte, ſondern
daß er weſtlich vom Thurme zur Erde fallen müßte, weil der
Thurm während des Falles des Steines durch die Bewegung der
Erde weiter gegen Oſt vorgerückt wäre. Da aber dieſes den bis-
her darüber angeſtellten Erfahrungen entgegen war, ſo hielt man
eben durch dieſe Erfahrungen die Umdrehung der Erde als voll-
kommen widerlegt. Mersenne und Montier ſtellten darüber eigene
Verſuche mit Kugeln an, welche ſie aus ſenkrecht in die Erde ge-
grabenen Kanonen in die Höhe ſteigen ließen. Allein Experimente
dieſer Art können keine Genauigkeit gewähren, da die Kugel nicht
in allen Punkten der Kanonenröhre gleich feſt anliegt. Auch ent-
ſprachen die Reſultate derſelben keineswegs den gehofften Erwar-
tungen, indem einige dieſer Kugeln weit ſüdweſtlich, die anderen
[67]Tägliche Bewegung der Erde.
noch weiter öſtlich an der Mündung niederfielen, und einige der-
ſelben gar nicht mehr gefunden werden konnten.


Erſt Newton hatte von dieſer Sache, wie von ſo vielen an-
deren, zuerſt die richtigen Begriffe aufgeſtellt, und ſelbſt dieſer
große Mann erkannte ſie, wenigſtens anfangs, nicht ganz in ih-
rem wahren Lichte. Es war am 28. November 1679, daß er an
Hooke, Secretär d. k. Societät der Wiſſenſchaften in London,
ſchrieb, daß er ein Mittel gefunden habe, die Umdrehung der Erde
durch unmittelbare Beobachtungen, deren man bisher entbehrt
hatte, zu beweiſen, und er ſchlug zu dieſem Zwecke die Beobach-
tungen des Falles kleiner und ſehr dichter Körper aus ſehr be-
trächtlichen Höhen, z. B. von der Spitze eines Thurmes, vor. Hat
die Erde, ſetzte er hinzu, keine Bewegung in ſich ſelbſt, ſo werden
jene Körper in einer ſenkrechten Linie zur Erde fallen. Hat ſie
aber, wie man bisher aus anderen Gründen mit Recht voraus-
ſetzte, eine Bewegung gegen Oſten, ſo muß der fallende Körper
am Ende ſeines Falles eine Abweichung von der ſenkrechten Linie,
und zwar gegen Oſten (nicht, wie man früher glaubte, gegen
Weſten) zeigen. Wenn nämlich die Erde ſich um ihre Axe dreht,
ſo müſſen auch alle zur Erde gehörigen Körper, alſo auch die
Luft, die ſie umgibt, und der Stein, den wir aus der Hand fal-
len laſſen, an dieſer Umdrehung der Erde Theil nehmen, ſo daß
alſo der Stein, während ſeines Falles, zugleich eben die Bewe-
gung nach Oſten haben wird, wie die Thurmſpitze, von welcher
er gefallen iſt. Dieſe Spitze hat aber eine ſchnellere Bewegung
nach Oſten, als der Fuß des Thurmes, weil ſie in größerer Ent-
fernung von dem Mittelpunkte der Erde iſt, alſo auch einen grö-
ßeren Kreis um denſelben beſchreibt, als der dem Mittelpunkte
nähere Fuß des Thurmes. Da alſo der Stein dieſe ſchnellere
Bewegung nach Oſten während ſeines Falles beibehält, ſo wird
er auch, wenn er die Erde erreicht, einen größeren Weg nach
Oſten zurückgelegt haben, als der Fuß des Thurmes, und daher
öſtlich von dieſem Fuße niederfallen.


Die königliche Geſellſchaft, welcher Newton’s Schreiben vorgelegt
wurde, ſetzte einen großen Werth auf die darin vorgetragenen Ideen
und trug ihrem Secretär auf, darüber unmittelbare Experimente an-
zuſtellen. Hooke war nicht nur ein Mann von ausgezeichnetem
5 *
[68]Tägliche Bewegung der Erde.
mathematiſchen Talente, ſondern auch ein ganz vorzüglicher Be-
obachter, daher es ihm auch gleich bei der erſten Betrachtung des
Gegenſtandes, deſſen Ausführung ihm überlaſſen war, nicht ent-
ging, daß Newton’s Darſtellung nicht vollſtändig ſey, und daß,
wenn die Erde in der That rotire, der Stein nicht bloß eine Ab-
weichung gegen Oſten, ſondern auch, wenigſtens außer dem Aequa-
tor, noch eine, obſchon geringe, Abweichung gegen Süden zeigen müſſe.


Newton erkannte ſofort die Richtigkeit dieſer Bemerkung,
in ſeiner Antwort an Hooke, an, und bemerkte zugleich, daß,
wie ſeine weiteren Rechnungen über dieſen Gegenſtand zeigen, die
Bahn des fallenden Körpers bei der rotirenden Erde eine Spirale
ſey. Allein auch dieſe Erweiterung fand Hooke unrichtig, indem
er aus ſeinen mit großer Umſicht angeſtellten Rechnungen fol-
gerte, daß jene Bahn des fallenden Körpers im freien Raume
eine Elipſe iſt. Dieſe Bemerkung kann für uns in doppelter
Rückſicht intereſſant ſeyn, weil ſie es war, die Newton ſpäter auf
die Entdeckung der allgemeinen Schwere leitete, und weil wir
daraus zu unſerem Troſte lernen mögen, daß auch Männer dieſer
Art zuweilen fehlen können.


Hooke’s Verſuche führten übrigens zu keinem entſcheidenden
Reſultate, weil er ſeine Fallhöhen viel zu gering genommen hatte.
Im Jahr 1791 wiederholte Gulielmini dieſelben Verſuche auf dem
Thurme Asinelli in Bologna, der eine Fallhöhe von 241 Fuß
darbot; allein auch dieſe Verſuche gelangen nicht, weil der Luftzug
im Innern des Thurmes einen ſtörenden Einfluß darauf hatte.
Eigentlich war ein ſolcher Beweis überflüſſig, da derſelbe bereits
über alle Zweifel erhoben war, und da man, wie wir bald ſehen
werden, andere, nicht minder direkte Verſuche, die als vollkommen
genügend gelten konnten, ſchon früher angeſtellt hatte.


Deſſenungeachtet übernahm es noch Benzenberg im J. 1802,
daſſelbe Experiment auf dem Michaelisthurme in Hamburg und
in dem Kohlenſchachte zu Schlehbuſch, in der Grafſchaft Mark, zu
wiederholen. Er fand, an dem erſten dieſer Orte bei einer Fall-
höhe von 235 Fuß eine öſtliche Abweichung von 4 Par. Linien, und
an dem zweiten bei einer Fallhöhe von 260 Fuß eine Abweichung von
nahe 5 Linien nach Oſten, welche beide Reſultate nahe genug mit der
darüber aufgeſtellten Theorie übereinſtimmten. Nach dieſer ſollte
[69]Tägliche Bewegung der Erde.
nämlich in Hamburg die öſtliche Ausweichung 3,873 Par. Linien, alſo
nur 0,122 Linien weniger betragen, als die Beobachtung gab. Die
oben erwähnte ſüdliche Deklination iſt, jener Theorie zufolge, für
eine Fallhöhe von 235 Fuß nur 0,0005 einer Linie, alſo ganz unmerk-
lich, wie denn auch Benzenberg keine ſolche Abweichung gegen Süden
gefunden hat. Für größere Fallhöhen würden jene Abweichungen viel
beträchtlicher ſeyn. So wäre z. B. für eine Fallhöhe von 10.000
Fuß, die nahe der Höhe des Aetna gleich iſt, die Deklination
gegen Oſten volle 1.076 Par. Linien, oder 7 Fuß 5 Zoll 8 Linien,
während auch hier die ſüdliche Abweichung noch ſehr klein ſeyn
und nur 0,88 Linien betragen würde.


§. 21. (VI. Aus der Centrifugalkraft der Erde.) Sollte aber
dieſe Umdrehung der Erde um ihre Axe, die doch ſo ſchnell iſt,
daß jeder Punkt des Aequators in nahe 16 Secunden ſchon eine
deutſche Meile zurücklegt, nicht irgendwo auf der Oberfläche der-
ſelben Spuren hinterlaſſen, an welchen man ſie erkennen, und von
welchen man daher, als von beobachteten Wirkungen, auf die Ur-
ſache derſelben, auf die Rotation der Erde ſelbſt, wieder zurück-
ſchließen könnte? — Es iſt bekannt, daß, wenn ein Körper ſchnell
in der Peripherie eines Kreiſes herumgetrieben wird, alle Theile
deſſelben ein Beſtreben äußern, ſich von dem Mittelpunkte deſſel-
ben zu entfernen. Dieſes Beſtreben, das man die Schwungkraft,
oder die Centrifugalkraft der rotirenden Körper genannt hat,
dieſe Kraft iſt es, welche das Band einer geſchwungenen Schleu-
der ſpannt, und den Stein in derſelben zurückhält, daß er, ſelbſt
wenn er in ſeinem Schwunge ſenkrecht über uns und ohne Unter-
ſtützung iſt, nicht zur Erde herabfallen kann. Wenn wir eine an
einem Faden befeſtigte Kugel ſchnell im Kreiſe herumführen, ſo
wird der Faden dadurch geſpannt und endlich ſogar zerriſſen, wenn
die Bewegung der Kugel zu ſchnell wird. Wenn wir einen zum
Theil mit Waſſer gefüllten Eimer an eine verticale Schnur hän-
gen, ſo ſteht, ſo lange der Eimer in Ruhe bleibt, die Oberfläche
des Waſſers in demſelben vollkommen horizontal. Sobald aber
der Eimer um ſeine immer verticale Schnur, als um eine Axe
gedreht wird, erhebt ſich das Waſſer, da es wegen der entgegen-
ſtehenden Wände des Gefäßes nicht entfliehen kann, an den
Wänden des Eimers immer mehr, je ſchneller die Bewegung wird,
[70]Tägliche Bewegung der Erde.
während die früher horizontale Oberfläche deſſelben in ſeiner Mitte
ſich vertieft und concav wird. Eine ſehr ſchnelle Bewegung des
Eimers um ſeine Schnur würde endlich alles Waſſer über die
Wände des Eimers heraustreiben und denſelben ganz trocken ma-
chen. Bringt man an die Stelle des Eimers eine ebene, mit
Sand bedeckte, horizontale Scheibe, die an der verticalen Schnur
befeſtigt iſt, und dreht man die Scheibe ſchnell um die Schnur, ſo
wird der auf ihr liegende Sand ſofort in Bewegung kommen, ſich
immer weiter von der Schnur, d. h. vom Mittelpunkte der Scheibe,
entfernen, und endlich ganz von ihr wegfliegen. — Wenn man
einen kreisrunden, elaſtiſchen Ring an einen Stift ſteckt, der in
der Ebene dieſes Ringes durch den Mittelpunkt deſſelben geht,
und wenn man dann den Ring ſchnell um den Stift, als um
ſeine Axe, dreht, ſo wird der anfangs kreisförmige Ring ſogleich
eine ovale oder eliptiſche Geſtalt annehmen, indem diejenigen
Theile deſſelben, die am weiteſten von dem Stifte abſtehen, alſo
die ſchnellſte Drehung erleiden, ſich auch am meiſten von der Dre-
hungsaxe zu entfernen ſtreben, während die dem Stifte näheren
Theile, wegen ihrer geringeren Bewegung, auch dieſes Beſtreben
ſich von ihm zu entfernen in einem geringeren Maße äußern, bis
endlich die beiden Pole des Ringes, durch welche die Axe geht,
und die gar keine Bewegung erleiden, auch von jener Kraft nicht
weiter afficirt werden. Wenn man endlich eine weiche Kugel von
naſſem Thone auf die Töpferſcheibe bringt und die Scheibe raſch
umdreht, ſo ſinkt ſofort der höchſte Punkt, der eine Pol der roti-
renden Kugel näher zur Scheibe, oder zu dem Mittelpunkte der
Kugel, während die Theile derſelben um den Aequator ſich immer
mehr aufblähen und von dem Mittelpunkte ſich entfernen, ſo daß
endlich die Kugel die Geſtalt einer Pomeranze oder eines an ſei-
nen beiden Polen eingedrückten oder abgeplatteten Körpers an-
nimmt, den man ein Sphäroid oder ein Ellipſoid zu nennen pflegt.


Ganz daſſelbe wird nun auch unſerer Erde widerfahren, wenn
ſie ſich in der That um ihre Axe dreht, wenn dabei vorausgeſetzt
wird, daß die Maſſe, aus der ſie beſteht, wenigſtens anfangs
flüſſig, oder doch weich genug war, um einem größeren auf ſie
geäußerten Drucke nachzugeben. Dieſe Vorausſetzung iſt aber
längſt ſchon außer Zweifel geſetzt, und die Menge verſteinerter
[71]Tägliche Bewegung der Erde.
Seethiere auf unſeren höchſten Gebirgen, ſo wie die Lage und
Form der verſchiedenen Schichten, aus welchen die Oberfläche der
Erde beſteht, ſind eben ſo viele Urkunden, auf welchen die Natur
mit unvergänglichen Charakteren jenen urſprünglich flüſſigen Zuſtand
unſerer Erde bezeichnet hat.


§. 27. (VII. Aus der Abplattung der Erde.) Wenn aber
alles dieſes ſo iſt, wo ſind denn jene Spuren, welche die Rotation
der Erde auf ihrer Oberfläche zurückgelaſſen haben ſoll? — Es
iſt wahr, wir haben bisher die Geſtalt unſerer Erde kugelför-
mig
gefunden, denn ſo ſtellen ſie in der That die Beobachtungen
vor, deren wir oben umſtändlich erwähnt haben. Allein jene Be-
obachtungen ſind, wenn wir ſie genau betrachten, alle der Art,
daß ſie keiner hohen Schärfe fähig ſind, und daher die Geſtalt
der Erde nur im Allgemeinen zeigen, ſo daß wir uns gleichſam
ſchon begnügen mußten, zu ſehen, daß dieſe Geſtalt jener einer
vollkommenen Kugel wenigſtens ſehr nahe komme, ungeachtet der
kleinen, und jetzt vielleicht noch ganz unmerklichen Abweichungen,
welche wir ſpäter, wenn wir den Gegenſtand genauer unterſuchen
werden, etwa noch daran finden könnten. Es iſt dieß einer der
Fälle, die ſo oft in der Aſtronomie und in allen denjenigen Wiſ-
ſenſchaften vorkommen, die nicht wie die Geometrie oder die Me-
taphyſik aus ſelbſtgeſchaffenen, oder aus uns angeborenen Ideen
entſtehen, ſondern die auf den Gegenſtänden außer uns und auf
den Experimenten beruhen, die wir mit ihnen anſtellen müſſen,
um ſie in allen ihren Verhältniſſen unter einander zu erkennen.
Dieſe Verhältniſſe ſind meiſtens zu verwickelt, um ſie ſogleich nach
allen ihren Beziehungen zu überſehen, und es iſt daher nicht nur
nothwendig, zuerſt nur das Allgemeine der Erſcheinung aufzufaſ-
ſen und ſie gleichſam nur im Rohen darzuſtellen, und die weitere,
feinere Ausbildung derſelben eigenen, ſpäteren Unterſuchungen vor-
zubehalten, ſondern es iſt zugleich eines der ſicherſten Kennzeichen
des höheren Talentes, gleich Anfangs die entſcheidenden Merkmale,
die Hauptmomente ſeines Gegenſtandes, zu ergreifen, und ſogleich
auf ſein Ziel loszugehen, ohne ſich von den ihn gewöhnlich be-
gleitenden Nebenumſtänden irre machen zu laſſen.


Eben ſo wurde auch hier verfahren. Es mochte dem erſten,
der über die Geſtalt der Erde nachgedacht hat, vielleicht ſchwer
[72]Tägliche Bewegung der Erde.
genug gefallen ſeyn, ſich von dem bisher von Niemand bezweifel-
ten Vorurtheile einer durchaus ebenen Erde zu befreien, und ſie
wenigſtens im Allgemeinen als eine große Kugel zu erkennen;
aber es würde ihm ohne Zweifel noch viel ſchwerer, wo nicht ganz
unmöglich geweſen ſeyn, die wahre Geſtalt dieſer Erde mit allen
ihren kleinen Abweichungen von der Kugelform zu erkennen. Man
begnügte ſich Jahrhunderte durch mit der Vorausſetzung, daß ſie
eine Kugel ſey, und ſie genügte auch vollkommen für den geſamm-
ten Zuſtand der aſtronomiſchen Kenntniſſe jener Zeiten. Als aber
ſpäter die Theorie ſowohl, als auch die eigentliche beobachtende
Aſtronomie und die Verfertigung der neuen Inſtrumente ſo große
Fortſchritte gemacht hatte, wurde das Bedürfniß, die genaue Kennt-
niß unſeres Wohnortes zu erlangen, immer dringender, bis man
endlich ſeit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts neue Me-
thoden zu dieſem Zwecke entworfen, und mit vielem Aufwande an
Zeit und Koſten auch ausgeführt hat. Seit dieſer Zeit hat man
in allen Welttheilen und mit der größten Schärfe eigentliche, un-
mittelbare Meſſungen der Erde vorgenommen, und dadurch
nicht nur die Größe, ſondern auch die Geſtalt derſelben auf das
Genaueſte zu beſtimmen geſucht. Die Reſultate dieſer Vermeſ-
ſungen vereinigen ſich dahin, daß die Erde allerdings, wie man
bisher angenommen hat, einer Kugel ſehr ähnlich, aber doch keine
eigentliche Kugel im ſtrengſten geometriſchen Sinne des Wortes,
ſondern daß ſie ein Körper iſt, der durch die Umdrehung einer
dem Kreiſe ſehr nahen Elipſe um ihre kleine Axe entſteht. Nach
den neueſten Beſtimmungen fand man im Mittel aus allen jenen
Beobachtungen, daß die halbe kleine Axe dieſer Elipſe oder die
Entfernung des Mittelpunktes der Erde von jedem ihrer Pole
856,55, und daß die halbe große Axe der Elipſe oder der Halb-
meſſer ihres vollkommen kreisförmigen Aequators 859,44 geogr.
Meilen beträgt, wo die geographiſche Meile gleich dem fünfzehn-
ten Theile eines Grades von dem Umfange des Erdäquators oder
gleich 22.841,84 Pariſer Fuß angenommen wird. Demnach hat
alſo die Erde in der That an ihren beiden Polen eine Abplattung
von nahe drei Meilen, und dieſe Abplattung gibt uns nicht nur
einen direkten Beweis für die Exiſtenz der Rotation der Erde,
ſondern ſie beſtätigt auch im Allgemeinen die Richtigkeit unſerer
[73]Tägliche Bewegung der Erde.
früheren Vorausſetzung, nach welcher die Erde einer vollkommenen
Kugel wenigſtens ſehr ähnlich iſt, da die äußerſt geringe Abplat-
tung der Erde nur den 286ſten Theil ihres Halbmeſſers beträgt,
eine Größe, die wir auch bei unſeren beſten Globen noch nicht
mit freiem Auge unterſcheiden können, und die daher auch, ſelbſt
bei unſeren beſten und größten Landkarten, als eine ganz ver-
ſchwindende Größe nicht berückſichtigt wird.


§. 23. (Verſchiedenheit der Schwere auf der Erde.) Wir alle
wiſſen, daß die Körper auf der Oberfläche der Erde, wenn ſie
ihrer Unterſtützung beraubt werden, in einer ſenkrechten Richtung
gegen dieſe Oberfläche fallen, und daß ſie unter dem Aequator
am Ende der erſten Secunde durch dieſen Fall eine Geſchwindig-
keit erhalten, vermöge welcher ſie, wenn ſie dieſe Geſchwindigkeit
auch ferner beibehielten, in jeder folgenden Secunde einen Raum
von 30,1028 Par. Fuß zurücklegen würden. Welches immer die
Urſache dieſer Bewegung ſeyn mag, man wird ſie in der Erde
ſelbſt und zwar, da ſie gegen den Mittelpunkt derſelben gerichtet iſt,
in dieſem Mittelpunkte ſuchen müſſen, und ſie gleichſam als eine Kraft
darſtellen können, welche in dieſem Mittelpunkte der Erde ihren
Sitz hat, und welche von da aus alle Körper an ſich zu ziehen
ſucht. Man nennt ſie daher die Anziehungskraft der Erde
oder auch mit einem gewöhnlichen Worte, die Schwere derſelben.


Dieſe Schwere der Erde iſt alſo unter dem Aequator, wenig-
ſtens in ihrer Richtung der oben betrachteten Centrifugalkraft, der-
ſelben gerade entgegengeſetzt, da beide Kräfte in der Ebene des
Aequators, und zwar in der Richtung des Halbmeſſers der Erde,
in welchem der fallende Körper iſt, liegen, und da die erſte den
Körper zu dem Mittelpunkte der Erde herabzieht, während
die zweite ihn, wie wir ſo eben geſehen haben, davon zu entfer-
nen ſtrebt, ſo daß alſo, durch die Centrifugalkraft, die Schwere
der Erde vermindert, oder daß die Schwere, bei einer um ihre
Axe rotirenden Erde kleiner wird, als ſie bei einer nicht rotirenden
ſeyn würde.


Wenn man aber den Halbmeſſer eines Kreiſes, und überdieß
die Zeit ſeiner Rotation kennt, ſo iſt es, aus den erſten Grund-
ſätzen der Mechanik ſehr leicht, die daraus entſtehende Centrifu-
galkraft jedes Punktes ſeiner Peripherie zu finden. Dieſe iſt
[74]Tägliche Bewegung der Erde.
nämlich gleich der Zahl 39,4784 multiplicirt mit dem Halbmeſſer
des Kreiſes und dividirt durch das Quadrat ſeiner Umlaufszeit.
Der Halbmeſſer des Aequators iſt nach dem vorhergehenden 859,4
Meilen, oder in runder Zahl 19.630.000 Par. Fuß und die Um-
laufszeit deſſelben oder die Länge des Tages iſt nahe 24 Stunden
oder 86.400 Secunden, woraus man leicht die Centrifugalkraft
gleich 0,104 Par. Fuß findet, d. h. wenn die Erde nicht um ihre Axe
rotirte, ſo würde die jetzt beobachtete Schwere derſelben am Aequa-
tor, die nach dem vorhergehenden 30,1028 Par. Fuß beträgt, um
0,104 Fuß größer, oder ſie würde 30,2068 Fuß betragen.


Der Unterſchied dieſer Schweren bei der ruhenden und bei
der bewegten Erde iſt, wie man ſieht, nicht eben ſehr bedeutend,
da er nur 1/289 der in der That beobachteten Schwere beträgt. Die
Urſache dieſer geringen Differenz iſt die noch immer langſame
Bewegung der Erde. Wenn die Geſchwindigkeit ihrer Rotation
größer, oder mit anderen Worten, wenn die Länge unſeres Tages
kürzer wäre, ſo würde dadurch die Centrifugalkraft der Erde grö-
ßer und endlich ſo groß, als die Schwere ſelbſt werden können.
Der letzte Fall würde eintreten, wenn unſer Tag nahe 17 Mal
kürzer wäre, oder wenn er ſtatt 24 Stunden nur 1 4/10 unſerer ge-
genwärtigen Stunden betrüge; und dann würden alſo die Körper,
wenn ſie unter dem Aequator ſich ſelbſt überlaſſen würden, nicht
mehr zur Erde fallen, ſondern in jedem Punkte über der Erde
frei ſtehen bleiben, ohne weiter einer Unterſtützung zu bedürfen.
Eine nur noch etwas vermehrte Geſchwindigkeit der Rotation der
Erde würde endlich alle Körper auf ihr, wenn ſie nicht an ihrer
Oberfläche befeſtigt ſind, von derſelben entfernen, oder die Körper
würden dann, etwa wie jetzt ein unter dem Waſſer eingetauchter
Kork, frei von der Erde wegſteigen, ſo wie ſie jetzt, wenn ſie
nicht unterſtützt werden, zu ihr hinfallen.


Dieſe Schwungkraft aber, welche die Schwere der Körper
am Aequator um 1/289 vermindert, wird ſchwächer, je weiter man
ſich auf der Oberfläche der Erde von dem Aequator zu beiden
Seiten deſſelben entfernt. Ihre Richtung liegt nämlich, wie be-
reits geſagt wurde, für jeden Punkt der Erde, in der Ebene des
Parallelkreiſes dieſes Punktes, und iſt dem Halbmeſſer dieſes
Parallelkreiſes proportionell.


[75]Tägliche Bewegung der Erde.

Je kleiner daher mit der Annäherung zu den beiden Polen
die Parallelkreiſe der Erde werden, deſto kleiner wird auch die
Schwungkraft, und an den beiden Polen ſelbſt verſchwindet ſie
gänzlich, weil dort auch die Halbmeſſer der Parallelkreiſe ver-
ſchwinden. An den beiden Polen iſt daher die beobachtete Schwere
gleich 30,2068 Fuß, oder ſo groß, als ſie bei einer rotirenden
Erde auf allen Punkten ihrer Oberfläche ſeyn würde.


Während aber die Schwungkraft von dem Aequator zu den
Polen wie die Halbmeſſer der Parallelkreiſe abnimmt, nimmt die
Schwere der Erde nicht in demſelben Verhältniſſe zu. Dieß würde
nur dann der Fall ſeyn, wenn dieſe beiden Kräfte in ihren Rich-
tungen einander immer entgegengeſetzt wären. Allein dieß ſind
ſie nur am Aequator, wo die eine Kraft, die Schwere, die Körper
ſenkrecht abwärts, und die andere, die Schwungkraft, dieſelben
ſenkrecht aufwärts treibt.


In allen übrigen Punkten der Erdoberfläche bilden dieſe bei-
den Richtungen immer kleinere Winkel, je näher man gegen die
Pole zu geht, weil die Richtung der Schwere, ihrer Natur nach,
gegen den Mittelpunkt, alſo überall ſenkrecht auf die Oberfläche
der Erde, wirkt, während die der Schwungkraft in der Ebene des
Parallelkreiſes liegt, der nicht durch den Mittelpunkt der Erde
geht. Die Folge davon iſt, daß die Schwere der Erde nicht bloß
im Verhältniſſe der Halbmeſſer der Parallelkreiſe, ſondern daß ſie
langſamer vermindert wird, d. h. daß ſie gegen die Pole zu
ſchneller wächst, weil ſie nämlich nicht durch die ganze Schwung-
kraft, wie am Aequator, ſondern, wegen der ſchiefen Lage derſelben,
nur um einen Theil dieſer Schwungkraft vermindert wird, und
da dieſe Theile ſich ebenfalls wie die Halbmeſſer der Parallelkreiſe
verhalten, ſo nimmt auf der um ihre Axe rotirenden Erde die
immer gegen ihren Mittelpunkt gerichtete Schwere zu, wie das
Quadrat der Halbmeſſer der Parallelkreiſe.


Die folgende kleine Tafel gibt, für verſchiedene Entfernungen
vom Aequator oder für verſchiedene Breiten, die Größe der da-
ſelbſt Statt findenden Schwere, wie ſie unmittelbar aus der vor-
hergehenden Betrachtung abgeleitet wurden:


[76]Tägliche Bewegung der Erde.

Allein dieſe Zahlen ſind bloß durch Rechnung gefunden wor-
den, indem man die Rotation der Erde vorausſetzte, und bloß auf
theoretiſchem Wege die Folgen ſuchte, welche dieſe Rotation in Bezie-
hung auf die Erſcheinung der Schwere der Erde in verſchiedenen Punk-
ten der Oberfläche derſelben haben würde. Wenn man daher auch
dieſe Unterſchiede der Schwere auf der Erde unmittelbar beobach-
ten
könnte, und wenn die Reſultate dieſer Beobachtungen mit
den Ergebniſſen der vorhergehenden Rechnung übereinſtimmend
gefunden würden, ſo dürften wir dieſe Harmonie als einen ferne-
ren, und zwar ſehr ſchönen Beweis für die Umdrehung der Erde
ſelbſt betrachten. Allein wie ſollen wir dieſe Schwere der Erde
in verſchiedenen Punkten ihrer Oberfläche meſſen?


§. 24. (Mittel, die Schwere zu meſſen.) Der Mittel dazu
gibt es manche, aber ſie ſind nicht alle der Art, daß wir viel
Gutes von ihnen zu hoffen hätten. Und hier begegnen wir einem
andern Umſtande, der nur zu oft in der Aſtronomie und über-
haupt in allen Naturwiſſenſchaften vorkömmt, und uns nicht ſel-
ten in große Verlegenheit ſetzt. In der Mathematik und in an-
deren poſitiven Doctrinen iſt es genug, einen Satz bewieſen oder
ein gegebenes Problem richtig aufgelöst zu haben, um von der
Wahrheit der Sache, die man ſucht, überzeugt zu ſeyn, und ſo
lange uns nur um dieſe Wahrheit, als um eine Hauptſache, zu
thun iſt, dürfen wir uns ſehr wenig darum kümmern, ob die von
uns gefundene Auflöſung auch zugleich die einfachſte, die kürzeſte
oder die eleganteſte nach ihrer äußeren Form ſeyn mag, da es zu
unſerem Zwecke vollkommen hinreicht, daß ſie richtig iſt. Nicht
ſo verhält ſich die Sache, wenn es ſich um Experimente oder um
[77]Tägliche Bewegung der Erde.
Beobachtungen handelt, durch welche irgend ein Problem aufge-
löst, ein Satz bewieſen, oder eine Erſcheinung der Gegenſtände
außer uns erklärt werden ſoll. Dieſe Beobachtungen, durch welche
hier die Sache ausgemacht werden ſoll, müſſen mit unſeren Sin-
nen, mit unſeren Inſtrumenten angeſtellt werden. Allein unſere
Sinne ſind Irrthümern und Täuſchungen, und unſere Inſtrumente,
auch die vollkommenſten, ſind Fehlern unterworfen, und die Gegen-
ſtände, welche wir auf dieſe Weiſe unterſuchen wollen, ſind oft ſo
klein oder ſo ſchwer aufzufaſſen, oder ſo ſonderbar mit einander
verwickelt, daß ſelbſt geringe Fehler, die wir bei den Beobachtun-
gen dieſer Gegenſtände begehen, die größten und ſchädlichſten Wir-
kungen auf die daraus abzuleitenden Reſultate erzeugen können.
Es kann daher hier nicht, wie bei anderen Wiſſenſchaften, genü-
gen, irgend eine, wenn auch in der Theorie richtige, Methode zu
geben, um dadurch ein Problem vermittelſt Beobachtungen aufzulöſen,
ſondern man muß auch zugleich der praktiſchen Sicherheit dieſer
Methode gewiß ſeyn, oder doch diejenigen Umſtände, unter wel-
chen ſie mit Zuverläßigkeit angewendet werden kann, und die Fol-
gen angeben, welche gegebene Beobachtungsfehler in den Reſulta-
ten, die man daraus ableiten will, hervorbringen können, ein
Geſchäft, das oft nicht weniger Umſicht und Scharfſinn erfordert,
als die Auffindung der Methode ſelbſt, und deſſen oft nur zu
häufige Vernachläſſigung eine der Haupturſachen iſt, warum meh-
rere Theile der Naturwiſſenſchaften, noch nicht denjenigen Grad
der Vollkommenheit erreicht haben, den wir mit ſo großem Ver-
gnügen an anderen Theilen bemerken, wo entweder dieſe prakti-
ſchen Hinderniſſe geringer, oder die geiſtigen Kräfte derer, die ſie
zu entfernen ſuchten, größer waren.


Um dieſes auf unſern Gegenſtand anzuwenden, wo ſich ſo-
gleich mehrere Beiſpiele zu dem oben Geſagten anbieten werden,
müſſen wir zuerſt den Begriff des Wortes Schwere feſtſetzen. Wir
haben bereits geſagt, daß man dadurch die Urſache andeutet,
welche macht, daß die Körper auf der Oberfläche der Erde, wenn
ſie nicht unterſtützt werden, ſenkrecht gegen dieſe Oberfläche herab-
fallen. Man ſucht die Urſache mit vieler Wahrſcheinlichkeit in
einer Kraft, deren Sitz im Mittelpunkte der Erde iſt, und welche
alle Körper außer ihr, zu dieſem Mittelpunkte anzieht. Demnach
[78]Tägliche Bewegung der Erde.
werden alſo eigentlich die Richtungen der Schwere in verſchiedenen
Punkten der Erdoberfläche alle gegen den Mittelpunkt derſelben
convergiren. Es iſt ferner bereits durch Erfahrung bewieſen, daß
dieſe Kraft der Erde in größeren Entfernungen von ihrer Ober-
fläche bedeutend abnimmt. Wenn man aber die ungemeine Größe der
Erde gegen alle die Höhen über ihrer Oberfläche, in welche wir
noch kommen, und auf welchen wir noch Beobachtungen anſtellen
können, erwägt, ſo wird man zuerſt ohne merklichen Fehler für
unſere Experimente, die Schwere als eine conſtante oder unverän-
derliche Kraft und die Richtung derſelben durch die ganze Aus-
dehnung der unſeren Beobachtungen unterworfenen Räume, als
unter ſich parallel, und auf der Oberfläche der Erde ſenkrecht oder
als vertical annehmen können.


Man nimmt an, daß alle Körper der Natur aus unendlich
kleinen Körpern oder aus Atomen beſtehen, die ihrer Weſenheit
und Geſtalt nach unveränderlich und von einander durch Zwiſchen-
räume, Poren, getrennt ſind, ſo daß jene Körper nur durch die
Natur und durch das Verhältniß dieſer Atome zu ihren Poren
verſchieden ſind. Dieſe Atome ſind es, auf welche man ſich die
Kraft der Schwere der Erde als unmittelbar wirkend vorſtellt,
woraus dann ſofort folgt, daß die Totalwirkung der Schwere auf
einen Körper von der Geſtalt deſſelben ganz unabhängig iſt. Dieſe
Totalwirkung iſt das, was man gewöhnlich das Gewicht des
Körpers nennt. Dieſes Gewicht P wird ſich alſo überhaupt, wie
die Intenſität g der Schwere an jedem Orte der Erde, und für
jeden beſondern Körper, wie die Anzahl der in ihm enthaltenen
Atome, d. h. wie die MaſſeM dieſes Körpers verhalten, d. h.
man wird die Gleichung P = g M haben. Für verſchiedene
Körper wird die Maſſe M derſelben deſto größer ſeyn, je näher
die verſchiedenen Atome an einander liegen, oder je größer die
Dichtigkeit D des Körpers iſt, und je mehr Raum derſelbe ein-
nimmt, oder je größer das Volumen V des Körpers iſt, wodurch
man die Gleichung erhält M = DV. Auf dieſen beiden Aus-
drücken beruhen alle Vergleichungen, die man über das Gewicht,
die Maſſen, und die Dichtigkeit der Körper anſtellen kann.


§. 25. (Meſſungen der Schwere. I. Durch Waagen.) Da
alſo, nach der erſten der vorhergehenden Gleichungen für denſelben
[79]Tägliche Bewegung der Erde.
Körper an den verſchiedenen Orten der Erdoberfläche das Gewicht
oder der Druck deſſelben auf ſeine Unterlage wie die Schwere an
dieſen Orten ſich verhält, und da wir bereits wiſſen, daß ſich die
Schwere am Aequator zu der am Pole, wenn die Erde in der
That retirt, wie 289 zu 290 verhalten ſoll, ſo dürften wir nur,
um unſere Hypotheſe von der Bewegung der Erde zu prüfen, ei-
nen Körper, deſſen Gewicht z. B. am Aequator 289 Pfunde be-
trägt, nach einem der beiden Pole bringen, und dort wieder ab-
wägen, wo er dann genau um ein Pfund ſchwerer gefunden wer-
den ſoll. — Allein dieſes Verfahren, ſo einfach es iſt, führt nicht
zum Ziele, da hier an ein eigentliches Abwägen nicht weiter ge-
dacht werden kann, weil das Gewicht in der einen Schale der
Waage ganz ebenſo, wie der abzuwägende Körper ſelbſt, denſelben
Veränderungen der Schwere unterliegt, und alſo unter dem Pole
ebenfalls um ſeinen 289ſten Theil ſchwerer geworden iſt, daher
dieſe Methode als ganz unbrauchbar verworfen werden muß.


§. 26. (II. Durch Rollen.) Wenn man über eine, um ihren
Mittelpunkt bewegliche, Rolle einen Faden ſchlägt und in den
Endpunkt deſſelben gleiche Gewichte hängt, ſo bleibt bekanntlich
die Rolle, ſo wie die Gewichte ſelbſt, in Ruhe, während bei der
geringſten Verſchiedenheit dieſer Gewichte ſogleich das Schwerere
herabſinkt, und das leichtere ſteigt. Daſſelbe würde auch der Fall
ſeyn, wenn man den Faden über mehrere horizontal neben einan-
derſtehende Rollen gehen laſſen wollte. Geſetzt alſo, wir hätten
zwei ſolcher Gewichte, entweder auf der erſten dieſer Rollen, oder
auf einer ſehr empfindlichen Waage auf das genaueſte abgeglichen,
und wir errichteten dann eine Reihe von ſehr hohen Rollen, die
in abgemeſſenen Diſtanzen vom Aequator bis zu einem der Pole
reichte. Wenn wir dann über alle dieſe Rollen einen Faden leg-
ten, und an ſeinen beiden herabhängenden Enden, vor der erſten
Rolle am Aequator das eine, und nach der letzten aller dieſer
Rollen an dem Pole das andere Gewicht befeſtigten — würde
nun, in dieſer Lage der beiden gleichgroßen Gewichte, noch das
Gleichgewicht beſtehen? — Gewiß nicht, wenn anders unſere vor-
hergehende Theorie richtig iſt, und die Erde ſich in der That um
ihre Axe bewegt. Das letzte Gewicht am Pole würde überwiegen
und man würde daſſelbe um ſeinen 289ſten Theil leichter, oder
[80]Tägliche Bewegung der Erde.
jenes am Aequator um eben ſo viel ſchwerer machen müſſen, um
das Gleichgewicht zwiſchen beiden wieder herzuſtellen. — Dieſe
Methode wäre nun allerdings einfach genug, um ſie zu verſtehen,
aber nicht, um ſie auszuführen, da die Beſchwerden und die Ko-
ſten der Vorrichtung, ſo wie die Hinderniſſe, welche von der Wir-
kung der Rollen und von der Steifigkeit und von anderer Unvoll-
kommenheit der über 1350 Meilen langen Schnur erzeugt würden,
das ganze Verfahren, ſo richtig auch die Theorie ſeyn mag, in
der That ſcheitern machen würden.


§. 27. (III. Durch Attwoods Maſchine.) Zwar könnte man
mit einer einzigen ſolchen Rolle auch ſchon einen Verſuch zu dieſem
Zweck anſtellen. Die ſogenannte Attwoodiſche Maſchine, an
welcher man bekanntlich die Geſetze der freifallenden Körper zu zeigen
pflegt, beſteht bloß aus einer ſolchen ſehr beweglichen Rolle, deren
Faden an ſeinen beiden Endpunkten zwei beträchtliche und gleich
große Gewichte trägt. Wenn das eine derſelben um einen germ-
gen Theil vermehrt wird, ſo beginnt es ſofort zu fallen und zwar
deſto langſamer zu fallen, je größer jene beiden gleichen Gewichte
gegen das neu hinzugekommene ſind. Wenn man den Fall des
ſchweren Gewichtes, z. B. während einer Minute, genau meſſen,
und dann dieſelbe Beobachtung an einem andern Orte der Erde
wiederholen wollte, ſo würde man allerdings zwei verſchiedene
Fallhöhen finden, und daraus auf die Verſchiedenheit der Schwere
dieſer Orte ſchließen können, aber dieſer Schluß würde äußerſt
unſicher, ja ganz unzuverläſſig ſeyn. Denn es handelt ſich hier,
wie die vorhergehende kleine Tafel zeigt, nur um die Beſtimmung
einer ganz kleinen Größe von kaum dem zehnten Theil eines Fußes,
die hier aus einer noch viel kleineren Verſchiedenheit der beiden
Fallräume beſtimmt werden ſoll, wo dann der Schluß von dem
Kleinen auf das Große hier, wie überall, mißlich iſt, beſonders
da in unſerem Falle noch die Unbiegſamkeit des Fadens, und die
Reibung deſſelben an der Rolle, ſo wie die der Rolle an ihrer
Axe, anderer Hinderniſſe nicht zu gedenken, beinahe unüberſteigliche
Hinderniſſe darbieten würde.


§. 28. (IV. Durch den Fall von großen Höhen.) In dieſer
Verlegenheit könnte man ſich vielleicht an unmittelbare Fallver-
ſuche von hohen Thürmen wenden, und die erwähnten Beobachtungen
[81]Tägliche Bewegung der Erde.
Benzenberges wiederholen. Man würde dann, der vorhergehenden
Theorie zu Folge, finden ſollen, daß ein ſchwerer Körper in ſechs
Sekunden unter dem Aequator 541,8 und unter den Polen 543,7
P. Fuß alſo nahe zwei Fuß tiefer fallen ſollte. Dieſe Differenz
wäre allerdings bedeutend genug, um bemerkt zu werden, allein
man wird erſtens nicht leicht ſo hohe Thürme finden, da ſelbſt
die Pyramiden, die größen von Menſchenhänden errichteten Ge-
bäude noch nicht die Höhe von 450 Fuß erreichen, und man würde
zweitens auch, wenn man ſie fände bald auf Hinderniſſe in der
Ausführung ſtoßen, die von dem Widerſtande der Luft, und von
der großen Schnelligkeit der Körper zu Ende ihres Falles kom-
men, ſo daß man auch dieſen Weg zu unſerem Ziele als un-
gangbar verwerfen wird.


§. 29. (V. Durch andere Mittel). Eben ſo könnte man eine
ſchiefe Ebene unter dem Aequator und unter den Polen ſo lange
gegen den Horizont neigen, bis ein auf ſie gelegter Körper die
durch ſeinen Druck entſtehende Reibung überwindet, und ſeine
abwärts gehende Bewegung beginnt, wo man dann aus dem Nei-
gungswinkel der Ebene an beiden Orten die ihnen entſprechende
Schwere finden würde. — Eine Kugel, an beiden Orten mit der-
ſelben Kraft, z. B. des Pulvers, ſenkrecht aufwärts getrieben,
würde am Aequator höher ſteigen als unter dem Pole, und die
Differenz dieſer beiden Höhen würde auch die Differenz der auf
die Kugel wirkenden Schweren zu erkennen geben, — die Tiefe
des Eindrucks, den derſelbe Körper am Aequator und unter dem
Pole auf einer weichen Unterlage, z. B. auf einer Wachstafel,
zurückläßt; — ein ſenkrechter Faden, oder ein Metalldrath an
beiden Orten mit den zum Zerreißen deſſelben nothwendigen Ge-
wichten beſchwert; — oder ein an ſeinen beiden Enden befeſtigter, und
in ſeiner Mitte frei hängender Faden, der unter dem Pole tiefer
zu dem Horizonte herabſteigen, oder eine ganz andere Kettenlinie
beſchreiben würde, als unter dem Aequator; — dieſe und noch
manche andere Mittel ſind, da ſie in der That von verſchiedenen
Schweren auf verſchiedene Weiſe afficirt werden, theoretiſch rich-
tig, und doch in der Ausführung ganz unbrauchbar, da die Beob-
achtungsfehler, welche man dabei nicht vermeiden kann, in den
daraus abzuleitenden Reſultaten Irrthümer erzeugen werden,
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 6
[82]Tägliche Bewegung der Erde.
welche die durch ſie zu beſtimmende Größe ſelbſt oft weit über-
ſteigen können.


§. 30. (IV. Durch Spiralfedern). Da wir, wie man oben
geſehen hat, mit dem eigentlichen Abwägen der Körper nicht zum
Ziele kommen können, weil die Schwere auf den abzuwägenden
Körper und auf ſein Gewicht auf gleiche Weiſe einwirkt, ſo
wollen wir noch eine andere Kraft aufſuchen, die von der Schwere
wenigſtens nicht unmittelbar afficirt wird. Eine ſolche iſt z. B.
die elaſtiſche Kraft einer Metallfeder. Denken wir uns alſo eine
ſolche Spiralfeder, die an ihrem oberſten Punkte befeſtigt iſt, und
an ihrem unteren ein Gewicht trägt, ſo daß der tiefſte Theil dieſes
Gewichtes, eine unter ihr befeſtigte, wohl geglättete Tafel, z. B.
von Agat, ſchon nahe berührt. Bringt man dieſen einfachen Ap-
parat unter den Pol, ſo wird man durch allmähliges Hinzufügen
ſehr kleiner Gewichte die Spiralfeder ſo weit verlängern können,
daß das Gewicht mit der Steintafel in unmittelbare Berührung
kömmt, was man ohne Zweifel mit großer Schärfe wird bewirken
können. Wird dann derſelbe Apparat in allen ſeinen Theilen
unverändert unter dem Aequator aufgeſtellt, ſo kann wegen der
hier kleineren Schwere das Gewicht nicht bis zur Agattafel her-
abſteigen, und man wird daher dem erſten großen Gewichte noch
einige kleinere hinzufügen müſſen, um auch hier den Contact
wieder hervorzubringen, und die bekannte Größe dieſes neuen
Gewichtes wird ſofort auch die Differenz der Schwere an beiden
Beobachtungsorten angeben. Wenn es möglich iſt, eine ſolche
Spiralfeder zu verfertigen, bei welcher ein Gewicht von 10.000
Granen eine Verlängerung der Feder von 10 Zollen hervorbringt,
ſo würde eine Vermehrung dieſes Gewichts von einem Gran die
Feder ſchon um den tauſendſten Theil eines Zolles verlängern,
eine Größe, die man mit Hilfe unſerer Microſcope noch immer
deutlich bemerken kann, ſo daß wir alſo, mit einem ſolchen Appa-
rat, an jedem Beobachtungsort die Schwere deſſelben bis auf
ihren zehntauſendſten Theil, alſo ſehr genau, würden angeben kön-
nen. Allein die Gleichförmigkeit der Ausdehnung ſolcher Federn,
bei verſchiedenen Gewichten, die Veränderlichkeit der elaſtiſchen
Kraft, die Ausdehnung durch Temperatur, die Schwierigkeit des
Transportes derſelben, und andere nicht geringe Hinderniſſe wer-
[83]Tägliche Bewegung der Erde.
den wohl auch hier nur wenig Hoffnung zu einem glücklichen Erfolge
übrig laſſen.


§. 31. (Ueberſicht des Vorhergehenden). So haben wir alſo
bisher keine anderen directen Beweiſe für die Umdrehung der
Erde erhalten können, als die obenangeführten unmittelbaren
Meſſungen derſelben, die uns die Abplattung der Erde, als eine
Folge ihrer Rotation, kennen gelehrt hat, und die Verſuche über
die öſtliche Ausweichung der von großen Höhen herabfallenden
Körper. Allein die letzten wurden erſt im Jahre 1802 angeſtellt,
da die ähnlichen früheren kein zuverläßiges Reſultat gaben. Selbſt
dieſe ließen noch Manches zu wünſchen übrig, da die Fallhöhe
von 260 Fuß noch zu klein war, und überdieß noch mehrere Um-
ſtände das ganze Verfahren mehr für eine Schätzung, als für
eine eigentliche genaue Meſſung halten ließen. Ja ſelbſt gegen
jene erſte Methode fingen ſich mehrere Zweifel an zu regen. Denn
die erſten wahren Vermeſſungen der Erde wurden nicht mit der
Sorgfalt und mit den guten Inſtrumenten vorgenommen, die ſie
verdienten. Nach der Theorie ſollten ſchon zwei derſelben hin-
reichen, die Abplattung der Erde zu finden. Aber man fand ſehr
verſchiedene Abplattungen, je nachdem man dieſes oder ein anderes
Paar von jenen Meſſungen unter einander verglich, ſo daß man
ſich lange nicht über die eigentliche Größe dieſer Abplattung der
Erde an den Polen vereinigen konnte. Ja einige Aſtronomen,
und unter ihnen ſelbſt Männer von Gewicht, läugneten dieſelbe
gänzlich, und wollten ſogar der Erde eine an ihren Polen längliche
Geſtalt geben. So hatte der berühmte Cassini einen Grad der
Erde im ſüdlichen, und einen anderen im nördlichen Frankreich
gemeſſen, und den letzten kleiner gefunden, als den erſten, da doch
das Gegentheil Statt haben müßte, wenn die Erde in der That
an den Polen abgeplattet wäre. Dieſe beiden Grade lagen in
der That zu nahe, um die Sache zu entſcheiden, aber was der
guten Wahl der beiden Orte abging, ſchien die Geſchicklichkeit
und die Autorität des großen Geometers zu erſetzen. Auch nahm
die franzöſiſche Academie die Partei ihres Landsmannes auf eine
ſehr eifrige Weiſe, und erklärte ſich einmüthig für die durch
Cassini gefundene, an den Polen länglichte Geſtalt der Erde, wäh-
rend Newton gegen ſie die frühere Meinung vertheidigte, und die
6 *
[84]Tägliche Bewegung der Erde.
Abplattung der Erde an ihren Polen durch theoretiſche Gründe,
denn andere hatte man nicht, zu beweiſen ſuchte.


§. 32. (Wirkung der Schwere auf den Gang der Uhren). So
ſtand dieſe Angelegenheit, als im Jahre 1672, im dreißigſten Le-
bensjahre Newton’s der franzöſiſche Aſtronom Richer von Paris
nach der Inſel Cayenne reiste, die nur fünf Grade nördlich vom
Aequator entfernt iſt. Als er hier ſeine Pendeluhr, die in Paris
genau nach mittlerer Zeit geſtellt war, wieder aufſtellte, fand er,
daß ſie täglich nahe um 2½ Minuten zu ſpät ging, ſo daß er das
Pendel nahe 5/4 einer Pariſer Linie verkürzen mußte, um ſeine
Uhr auch in Cayenne mit der mittleren Zeit dieſes Ortes über-
einſtimmend zu machen. Er konnte dieſes ſonderbare Ereigniß
um ſo weniger einer Störung der Uhr während ſeiner Reiſe zu-
ſchreiben, da das ſo verkürzte Pendel, als er es wieder nach Paris
zurückbrachte, um dieſelbe Größe verlängert werden mußte, indem
die Uhr bei ſeiner Ankunft in Paris täglich um 148 Secunden
gegen die mittlere Zeit zu ſchn[e]ll ging.


Newton, deſſen Scharfſinn ſogleich die Urſache dieſer Erſchei-
nung entdeckte, ſtand nicht an, ſie für den ſo lange geſuchten
experimentalen Beweis der Rotation der Erde zu erklären. Seit-
dem ſind die Beobachtungen dieſer Art ſehr vervollkommnet, und
beinahe in allen Orten der Erde wiederholt worden, und ſie
haben nicht nur Newton’s Anſicht von derſelben vollkommen beſtätigt,
oder einen vollſtändigen Beweis der Rotation der Erde geliefert,
ſondern ſie haben uns auch den wahren Werth ihrer Abplattung
an den Polen, und die Größe des Raumes, durch welche frei
fallende Körper in der erſten Secunde gehen, mit einer Genauig-
keit kennen gelehrt, die wir durch kein anderes Mittel hätten
erreichen können. Endlich haben dieſe Pendel, auf eine zweck-
mäßige Art an unſere Uhren angebracht, unſerer ganzen practi-
ſchen Aſtronomie eine neuere, beſſere Geſtalt gegeben, daher wir
ſie hier, ſo weit es unſer Gegenſtand erfordert, näher betrachten
wollen.


§. 33. (Secundenpendel). Ein Faden CA Fig. 6, der an
ſeinem oberen Ende C befeſtigt iſt, und an ſeinem unteren A
einen ſchweren Körper z. B. eine kleine Kugel von Blei trägt,
wird, wenn man ihn ſich ſelbſt überläßt, wegen der Wirkung der
[85]Tägliche Bewegung der Erde.
Schwere der Erde, eine vertikale Lage CA annehmen. Wenn man
aber den immer geſpannten Faden ſammt ſeinem Gewichte aus
dieſer vertikalen Lage CA in eine andere CB bringt, oder das
Gewicht gleichſam aufhebt, und es dann wieder ſich ſelbſt über-
läßt, ſo wird es, durch dieſelbe Wirkung der Schwere, wie die
Erfahrung lehrt, wieder in die erſte Lage zurückzukehren ſuchen,
indem es, weil der Faden immer geſpannt bleibt, den Kreisbogen
BA um den Mittelpunkt C beſchreibt. Wenn aber das Gewicht
wieder ſeinen tiefſten Punkt A erreicht, ſo hat es durch ſeinen
Fall in dem Bogen BA eine gewiſſe Geſchwindigkeit nach der ent-
gegengeſetzten Richtung AB' erhalten, und dieſe Geſchwindigkeit
iſt es, welche das Gewicht, wenn es in A angekommen iſt, auf
der anderen Seite der vertikalen Linie CA wieder aufwärts in
den Bogen AB' treibt, und zwar ebenſo hoch, als es früher in
B war, ſo daß die beiden Kreisbogen AB und BA' einander gleich
ſind. Durch dieſes Aufwärtsſteigen in den Bogen AB' hat es,
in dem höchſten Punkte B' ſeine Geſchwindigkeit wieder gänzlich
verloren, und ſinkt daher, wegen der Anziehung der Erde, wieder
durch den Bogen B'A, wie vorhin durch den Bogen BA, um,
wenn es in A mit der früheren Geſchwindigkeit ankömmt, wieder
in den Bogen AB aufwärts zu ſteigen. Auf dieſe Weiſe ſetzt das
Gewicht ſeine Schwingungen oder ſeinen Hin- und Hergang durch
den Bogen BB' immer in denſelben Zwiſchenzeiten ſo lange
fort, bis endlich die Reibung des Fadens bei ſeinem Aufhängungs-
punkte C und der Widerſtand der Luft, in welcher ſich das Ge-
wicht bewegt, daſſelbe in ſeinem tiefſten Punkte A zur Ruhe
bringt. Nimmt man, ſtatt des Fadens, eine Stahlſtange AC,
mit einer Oeffnung bei C, deren oberſter Theil auf einer horizon-
talen Meſſerſchneide, oder auf der ſcharfen Kante eines Prismas
von hartem Steine oſcillirt, ſo können dieſe Schwingungen des
Pendels mehrere Stunden dauern, in welchen zwar der Bogen
BB' immer kleiner wird, aber die Zeit des Hin- und Herganges
des Gewichts, — und dieſe iſt es, auf die hier alles ankommt,
— immer dieſelbe bleibt.


Es iſt für ſich klar, daß die Zeit eines Schwunges des Pen-
dels durch den Bogen BB' deſto größer ſeyn wird, je größer die
Länge des Fadens iſt, und ebenſo, daß, bei derſelben Fadenlänge,
[86]Tägliche Bewegung der Erde.
die Zeit des Schwunges deſto größer ſeyn, oder daß das Pendel deſto
langſamer gehen wird, je kleiner die Kraft iſt, welche dieſe Bewe-
gung des Pendels hervorbringt, d. h. je kleiner die Schwere der
Erde iſt. Aus dieſer Urſache mußte daher Richer’s Pendel in
Cayenne, in der Nähe des Aequators, wo bei der rotirenden
Erde die Schwungkraft am größten, alſo die Schwere am kleinſten
iſt, zu langſam gehen, und er mußte es verkürzen, um ihm den-
ſelben Gang wieder zu geben, welchen es früher in Paris unter
der größeren Breite oder unter der größeren Schwere dieſer Stadt
hatte.


Am einfachſten wäre, die Länge des Fadens ſo lange zu än-
dern, oder was daſſelbe iſt, das Gewicht an der erwähnten
Metallſtange auf- und abwärts zu bewegen, bis das Pendel jede
ſeiner Oſcillationen durch den Bogen BB' genau in einer Zeit-
ſecunde zurücklegt, wo es dann ein Secundenpendel genannt
wird. Man hat gefunden, daß die Länge eines ſolchen Pendels
unter dem Aequator nahe 439,207 unter den Polen aber 441,593
Pariſer Linien beträgt, deren 144 auf einen Fuß gehen. Dieſer
Unterſchied von nur 2,386 Linien iſt allerdings ſehr klein, aber
man kann ihn durch die Art, auf welche dieſe Pendel beobachtet
werden, mit der größten Genauigkeit beſtimmen, und daher auch
die daraus folgenden Reſultate mit großer Sicherheit ableiten.


Man kann nämlich, zum Vortheile und zur großen Bequem-
lichkeit für den Beobachter, irgend ein gegebenes, und in ſeiner
Länge unveränderliches Pendel an zwei verſchiedenen Orten der
Erde ſchwingen laſſen, und bloß mittelſt einer neben derſelben
aufgeſtellten Uhr die Anzahl der Schwingungen zählen, welche
das Pendel an den beiden Orten in derſelben Zwiſchenzeit, z. B.
in einem ganzen Tage, vollendet, eine Beobachtung, die eben ſo
leicht als ſicher zu machen iſt, und die allein ſchon hinreicht, das
Verbältniß der Längen der Secundenpendeln ſowohl, als auch das
der Schwere an jenen beiden Orten der Erde, mit der größten
Schärfe zu beſtimmen, da dieſes Verhältniß daſſelbe iſt, wie das
der Quadrate der Anzahl jener Schwingungen. Hätte man z. B.
bemerkt, daß irgend ein Pendel von irgend einer gegebenen Ge-
ſtalt und Länge unter dem Aequator in einem vollen Tage 86.400,
unter der Breite von London aber 86.535 Schwingungen macht,
[87]Tägliche Bewegung der Erde.
ſo verhalten ſich die Quadrate dieſer Zahlen wie 1 zu 1,0031,
und ebenſo verhalten ſich alſo auch an dieſen beiden Orten die
Länge der Secundenpendeln, ſo wie auch die Intenſität der Schwere
der Erde, d. h. eine Maſſe, die unter dem Aequator 10.000 Pfunde
wiegt, oder vielmehr die mit dieſem Gewichte von 10.000 Pfund
auf ihre Unterlage drückt, wird in der Breite von London einen
um 31 Pfund ſtärkeren Druck ausüben, als an ſeinem früheren
Orte.


Die folgende kleine Tafel enthält die vorzüglichſten bisher
gemeſſenen Längen des Secundenpendels, in Metern ausgedrückt,
wo der Meter 3,078454 Pariſer Fuß, oder 3,280899 Londoner, oder
endlich gleich 3,163463 Wiener Fuß hat.


§. 34. (Meſſung der Schwere durch Secundenpendel). Man
ſieht aus dieſem Verzeichniſſe, daß die Länge des Secundenpen-
dels in der That mit den größeren Entfernungen von dem Aequa-
tor zunehme, und daß daher durch dieſe Beobachtungen die Vor-
ausſetzung der Rotation der Erde um ihre Axe vollkommen be-
ſtätigt wird. Eine genauere Vergleichung dieſer Länge zeigt,
daß ſie unter dem Aequator gleich 439,207 Par. Linien beträgt,
und daß man für jede andere Breite die Länge ihres Secunden-
pendels erhält, wenn man zu der vorhergehenden Größe die Zahl
2,386, durch das Quadrat des Sinus dieſer Breite multiplicirt,
hinzu addirt. Daraus folgt zugleich eine ſehr genaue Beſtim-
[88]Tägliche Bewegung der Erde.
mung des Fallranmes der ſchweren Körper in der erſten Secunde
ihrer Bewegung. Am Aequator erhalten nämlich die Körper am
Ende der erſten Secunde ihres Falles eine Geſchwindigkeit, mit
welcher ſie, wenn ſie dieſelbe auch ferner beibehielten, in jeder
folgenden Secunde den Raum von 30,10276 P. Fuß zurücklegen
würden. Für jede andere Breite aber erhält man die ihr ent-
ſprechende Geſchwindigkeit, wenn man zu der vorhergehenden
Größe die Zahl 0,16354, ebenfalls durch das Quadrat des Sinus
dieſer Breite multiplicirt, hinzu addirt.


Wir könnten uns mit dieſem ſchönen Beweiſe für die Rota-
tion unſerer Erde allerdings begnügen, da er der Art iſt, daß er
bei Keinem, der ſeinen Werth zu erkennen weiß, irgend einem Zweifel
über ihn oder über die Sache ſelbſt weiter Raum geben könnte.
Da aber der Gegenſtand für uns ebenſo intreſſant als wichtig
iſt, ſo wird es erlaubt ſeyn, ihn noch kurz von einer andern Seite
zu betrachten.


§. 35. (Beſtändige Oſtwinde). Unſere Seeleute wiſſen ſehr
wohl, daß in der Entfernung von etwa zwanzig Graden vom
Aequator nordwärts ein beftändiger Nordoſtwind, und ebenſoweit
vom Aequator auf der ſüdlichen Seite ein Südoſtwind beinahe
durch das ganze Jahr weht, während nahe am Aequator ſelbſt
dieſe Winde nicht bemerkt werden. Man nennt ſie die tro-
piſchen Winde (vents alisés oder trade-winds), und benützt ſie
gewöhnlich zur Ueberfahrt von Europa nach Amerika, indem man
zuerſt in gerader Richtung gegen Süden ſegelt, und ſodann, wenn
man in den Bereich dieſer beſtändigen Oſtwinde gekommen
iſt, ſich von ihnen nach Weſt führen läßt. — Die Entſtehung
dieſer Winde hängt unmittelbar von der Rotation der Erde ab.
Diejenige Zone der Erde nämlich, die ſich bis auf 23 Grade zu
beiden Seiten des Aequators erſtreckt, iſt, wie wir bald ſehen
werden, diejenige, deren Bewohner die Sonne noch in ihrem Zenithe
ſehen können, und wo es folglich am wärmſten iſt, daher ſie auch
die heiße Zone genannt wird. In dieſen Gegenden der Erde
wird die ſie umgebende Luft durch die größere Temperatur ver-
dünnt, und daher leichter gemacht. Dieſe leichtere Luft erhebt
ſich über die benachbarte nördliche und ſüdliche, kältere alſo auch
dichtere Luft, und wenn ſie eine gewiſſe Höhe erreicht hat, ſo fließt
[89]Tägliche Bewegung der Erde.
ſie, da ſie an ihren Seiten nicht aufgehalten wird, gegen die
beiden Pole hinab. Auf dieſe Weiſe entſteht zu beiden Seiten
des Aequators, in den höheren Gegenden der Atmoſphäre, ein
beſtändiger Strom der Luft von dem Aequator nach den beiden
Polen. Wenn aber dieſe Luft ſich an dem Aequator von der Erde
aufhebt, ſo muß ſie daſelbſt einen verdünnten Raum zurücklaſſen,
in welchen dann ſofort die untere kältere und dichtere Luft von
der Seite der beiden Pole eindringt, ſo daß alſo in der Nähe des
Aequators in den unteren Gegenden der Atmoſphäre ein beſtän-
diger Strom der kälteren Luft von den Polen gegen den Aequa-
tor, und in den oberen Gegenden ein entgegengeſetzter Strom
der wärmeren Luft von dem Aequator gegen die beiden Pole hin
herrſchen muß. Da aber die Atmoſphäre, durch die Rotation der
Erde von Weſt nach Oſt, ſich gewiß ſchon ſeit Jahrtauſenden mit
derſelben in’s Gleichgewicht geſetzt hat, ſo wird jeder Theil der
Atmoſphäre dieſelbe Rotationsgeſchwindigkeit mit ſeinem Parallel-
kreiſe haben, alſo auch die den Polen nähere Luft ſich langſamer
drehen, als die am Aequator. Wenn daher die untere Polarluft
in der heißen Zone neben der Oberfläche der Erde ankömmt, ſo
wird ſie eine kleinere Geſchwindigkeit haben als der Aequator
ſelbſt, alſo hinter dem Aequator, oder hinter der Erdoberfläche
gegen Weſten zurückbleiben, und ebendadurch ſich den Erd-
bewohnern daſelbſt, die ihre eigene ſchnelle Bewegung nach Oſt
nicht bemerken, als ein Stoß von Oſt nach Weſt, d. h. als ein
beſtändiger Oſtwind, fühlbar machen, oder genauer zu ſprechen,
der von Nord gegen den Aequator ziehende untere Luftſtrom wird,
in Verbindung mit der öſtlichen Rotation der Erde, einen Nord-
oſtwind, und der von Süden kommende ähnliche Luftſtrom einen
Südoſtwind erzeugen.


Obſchon die, die Erde umgebende, Atmosphäre eine ſo ge-
ringe Dichtigkeit hat, daß die ganze Maſſe derſelben von der
unſerer Erde wohl über hundert Millionenmal übertroffen wird,
ſo würde doch ein beträchtliches Volumen dieſer Luft, z. B. von
mehreren Kubikmeilen, wenn es von den Polargegenden in die
Nähe des Aequators plötzlich verſetzt werden könnte, in dem
letzten Orte wegen ſeiner verſchiedenen Geſchwindigkeit einen ſehr
heftigen Sturm erzeugen. Allein die ſo eben betrachtete Ver-
[90]Tägliche Bewegung der Erde.
ſetzung der Luft aus den Polar- in die Aequatorialgegenden geht
nur ſehr langſam und allmählig vor ſich, ſo daß die ſie unmit-
telbar berührende Oberfläche der Erde Zeit genug hat, auf dieſe
Luftſchichten zu wirken, und ihnen, durch die Reibung derſelben
mit der Erde, nach und nach die Geſchwindigkeit der letzteren zu
ertheilen. Die Folge davon iſt, daß jene langſameren Luftſchich-
ten, wenn ſie an den beiden Gränzen der heißen Zone ankommen,
und ſich dem Aequator nähern, allmählig immer eine größere
öſtliche Geſchwindigkeit erhalten, und ſich mit der Erde ſelbſt
in’s Gleichgewicht ſetzen werden, um ſo mehr da die Parallelkreiſe
alſo auch ihre Geſchwindigkeiten, in der Nähe des Aequators ſich
nur ſehr wenig ändern. Daraus folgt: daß dieſes Gleichge-
wicht der Geſchwindigkeit der von den Polen zu dem Aequator
ſtrömenden Luftſchichten, mit der Geſchwindigkeit der Erde ſelbſt
ſchon vor der Ankunft jener Schichten am Aequator ſich herge-
ſtellt haben wird, und daß daher jene beſtändigen Oſtwinde nur
an den beiden Gränzen der heißen Zone herrſchen, und in der Mitte
derſelben, am Aequator ſelbſt, nicht mehr fühlbar ſeyn werden,
wie es der Erfahrung vollkommen gemäß iſt.


Im Gegentheile werden diejenigen wärmeren Luftſchichten
der heißen Zone, die ſich ihrer geringen Dichtigkeit wegen erheben,
und dann, wie wir oben geſehen haben, zu beiden Seiten gegen
die Pole hin abfließen, wenn ſie mit ihrer urſprünglich größeren
öſtlichen Geſchwindigkeit an der Oberfläche der Erde ankommen,
der Erde gegen Oſt voreilen, und uns daher auf der Nordſeite
des Aequators als ein Südweſtwind, auf der Südſeite deſſelben
aber als ein Nordweſtwind fühlbar werden, wodurch der Urſprung
der ſo häufigen Weſt- und Südweſtwinde erklärt wird, die in
ganz Europa und in den nördlichen Theilen des atlantiſchen
Meeres beinahe das ganze Jahr durch herrſchen, ſo wie alle dieſe
Erſcheinungen zugleich als Beweiſe der Rotation der Erde ange-
ſehen werden können.


§. 36. (Rotation anderer Himmelskörper). Endlich wird es
auch hier, wie bei der Unterſuchung der Kugelgeſtalt der Erde,
erlaubt ſeyn, dieſe Erde nicht bloß als unſeren Wohnort, ſondern
als einen derjenigen großen Körper zu betrachten, die in ſo großer
Anzahl unſeren nächtlichen Himmel ſchmücken. Wir kennen ſchon
[91]Tägliche Bewegung der Erde.
mehrere derſelben, an welchen wir mit unſeren Fernröhren eben-
falls eine Rotation, und zwar auch in der Richtung von Weſt
gegen Oſt beobachten. Der Mond dreht ſich in 27 3/10 Tagen um
ſeine Axe, die Sonne in 25½ Tagen, Mercur, Venus und Mars
beinahe in einem Tag, wie unſere Erde, und Jupiter, der größte
unter allen Planeten, und beinahe 1.300mal größer als die Erde,
vollendet ſeine Rotation ſchon in 9 9/10 Stunden. Ein Beobachter
auf der Oberfläche dieſes Planeten würde alſo den ganzen Him-
mel in der kurzen Zeit von noch nicht zehn vollen Stunden um
ſich rotiren ſehen, und doch würde dieſe Erſcheinung für ihn
nichts als eine leere Täuſchung ſeyn, da nicht der Himmel, ſon-
dern Er ſelbſt es iſt, der ſich ſammt ſeinem Wohnort um die Axe
deſſelben dreht. Dieſe ſchnelle Rotation Jupiters hat auch eine
ſehr ſtarke Abplattung ſeiner ebenfalls nahe kugelförmigen Geſtalt
zu Folge, die wir mit unſeren Fernröhren, ob er gleich ſelbſt in
ſeiner größern Nähe noch über 85 Millionen Meilen von uns
entfernt iſt, nicht nur deutlich ſehen, ſondern auch noch mit großer
Schärfe meſſen können, und die den vierzehnten Theil ſeines
Halbmeſſers oder 670 Meilen beträgt, während ſie bei der Erde,
wie wir oben geſehen haben, nur drei Meilen iſt. — Wenn wir
alſo dieſe Rotation und die unmittelbare Folge derſelben, die Ab-
plattung an den Polen, bei ſo vielen anderen Himmelskörpern
bemerken, warum ſollten wir ſie, der Analogie gemäß, nicht auch
bei unſerer Erde vorausſetzen dürfen?


§. 37. (Einwürfe gegen die Rotation der Erde). Aber, ſo
viele Gründe ſich auch für die Exiſtenz dieſer Rotation häufen
laſſen mögen, noch iſt ein Einwurf unbeantwortet, den unſere
Leſer ſchon längſt im Stillen gemacht haben werden. — „Aber
warum fühlen wir denn dieſe Bewegung der Erde nicht?“ werden
ſie fragen.


Dieſer Frage könnte man ſofort mit einer anderen begegnen:
Was ſollen wir denn von dieſer Bewegung fühlen?“ — Doch
nicht etwa das Rütteln und die Stöße derſelben, die hier gar
nicht Statt haben, da gerade dieſe Bewegung vielleicht die einzige
in der Natur iſt, welche mit immer gleicher Geſchwindigkeit und
ohne allen Stoß vor ſich geht. Fühlen wir doch auch die Bewe-
gung des Schiffes nicht, wenn es über den glatten Waſſerſpiegel
[92]Tägliche Bewegung der Erde.
hingleitet, obſchon wir deſſenungeachtet dieſer Bewegung ſehr gewiß
ſind, weil wir alle Gegenſtände am Ufer vor uns vorübereilen
ſehen, die doch, wie wir wohl wiſſen, unbeweglich auf denſelben
ſtehen. Und doch iſt die Bewegung des Schiffes noch lange nicht
ſo gleichförmig, wie die der Erde, da das Schiff nicht ſelten von
Wind und Wellen hin und her getrieben wird, und ſeinen Lauf
ſo oft ändert. Ueberhaupt ſind die natürlichſten und gewöhnlichſten
Bewegungen beinahe immer auch zugleich diejenigen, welche wir
am wenigſten empfinden, und von deren Daſeyn wir oft nichts
ahnen. Dieß begegnet uns nicht bloß, wie wir ſpäter noch oft
ſehen werden, in der phyſiſchen, ſondern ſelbſt in der moraliſchen
Welt. Welche innere Bewegungen ſind uns wohl gewöhnlicher
und ſtärker zugleich, als die der Eigenliebe, und wie ſelten ſind
wir uns dieſer Triebfeder beinahe aller unſerer Handlungen be-
wußt, wenn wir uns ſchmeicheln, ſie aus ganz anderen, und viel
edleren Gründen unternommen zu haben. Uebrigens iſt jenes
Beiſpiel eines auf der ruhigen Waſſerfläche hingleitenden Schiffes,
ein ſehr treues Bild unſerer gemeinſchaftlichen Fahrt auf dem
Weltenſchiffe, der Erde, die wir, wenn wir ſie gleich nicht unmit-
telbar fühlen, doch ſehr gut in dem ſchnellen Vorübereilen der
feſten Inſeln, und der glänzenden Körper erkennen, welche aus
dem unermeßlichen Ocean des Himmels hervorragen. Außer
unſerem Schiffe ſcheint alles in Bewegung, wenn gleich in der
That alles ſtille ſteht; in demſelben aber, wo ſich alles zugleich
mit uns bewegt, können wir dieſe Bewegung unſeres Schiffes
nicht bemerken, nicht einmal an der Luft die wir athmen, weil
die Atmoſphäre der Erde ſich mit der Erde zugleich, und mit
derſelben Geſchwindigkeit, und nach derſelben Richtung bewegt.
Aber, könnte man weiter einwenden, wenn wir nun ſammt unſe-
rer kugelförmigen Erde uns täglich einmal um ihre Axe drehen,
ſo müſſen wir ja, wenn wir jetzt aufrecht ſtehen, zwölf Stunden
ſpäter, alle den Kopf abwärts tragen, oder den Kopf unten, und
die Füße oben haben, und auch dieß ſollen wir nicht bemerken? —


Durch unſere Seereiſen, durch unſere ſogenannten Reiſen um
die Welt, iſt es eine ausgemachte Sache, daß wir Gegenfüßler
oder Antipoden haben, d. h. daß es gegenüber von der Gegend
der großen Kugel, die wir bewohnen, auch noch Menſchen und
[93]Tägliche Bewegung der Erde.
Thiere gibt, die ebenfalls, wie wir, auf ihren Füßen, und nicht
auf ihren Köpfen gehen, obſchon dieſe ihre Füße gegen die unſe-
ren, alſo in der Sprache jenes Einwurfs zu reden, aufwärts ge-
richtet ſind. Da aber die Exiſtenz der Antipoden durch unſere
Reiſen um die Welt über alle Zweifel erhoben iſt, ſo iſt auch die
Möglichkeit eines ſolchen ſogenannten aufrechten Standes derſelben
ſchon unmittelbar durch die Wirklichkeit dieſes Standes erwieſen.
Die Bewohner der Inſel Sumatra in Oſtindien ſind denen der
Stadt Quito in Süd-Amerika gerade entgegengeſetzt, ſo daß eine
gerade Linie, durch ſie gezogen, durch den Mittelpunkt der Erde
geht, und daß ſie ſich, wenn die Erde immer kleiner würde, end-
lich mit ihren Fußſohlen berühren würden. Die Sterne, die der
eine gerade über ſich, in ſeinem Scheitelpunkte ſieht, werden für
den anderen unſichtbar ſeyn, weil ſie in ſeinem Fußpunkte ſtehen,
und von der Erde verdeckt ſind. Aber nach zwölf Stunden wird
umgekehrt jener dieſelben Sterne in ſeinem Fußpunkte haben, und
dieſer ſie über ſeinem Scheitel ſehen. Beide ſtehen alſo in der
That in einander ganz entgegengeſetzten Lagen, und beide gehen
doch den Kopf aufwärts, mit ihren Füßen auf der Erde, wie alle
jene Seefahrer erzählten, und wie ſie es auch an ſich ſelbſt erfah-
ren haben, wenn ſie die Gegenden betreten, die denjenigen, von
welchen ſie mit ihren Schiffen ausgefahren ſind, gerade entgegen
liegen. Wer dieß läugnen wollte, müßte auch zugleich läugnen
wollen, daß je ein Schiff dieſe Reiſe um die Welt gemacht habe.


In der That ſtehen auch unſere Antipoden mit ihren Füßen
gegen uns, aber ſie ſtehen deſſenungeachtet aufwärts ſo wie wir.
Denn was nennen wir aufrecht ſtehen? Doch wohl: mit den
Füßen gegen die Erde, und mit dem Kopf gegen den Himmel gerichtet
ſeyn? — Nun wohl, ganz ebenſo ſtehen ja unſere Antipoden auch,
ſo wie wir ſelbſt. Für uns iſt oben was weiter von der Erde,
und unten was näher bei der Erde iſt, und ganz ebenſo werden
dieſe Worte auch von unſeren Antipoden verſtanden, denn auch ſie
glauben ohne Zweifel, daß ſie den Kopf über den Füßen tragen,
weil er auch bei ihnen weiter als dieſe von der Erde weggekehrt,
weil er auch bei ihnen, wie bei uns, gegen den Himmel gewendet
iſt. Der Regen fällt für ſie ganz ebenſo von d nach D (Fig. 1)
nämlich vom Himmel zur Erde herab, wie er bei uns von a nach
[94]Tägliche Bewegung der Erde.
B zur Erde herabfällt, und beide Richtungen dD und aB, wenn
ſie gleich an ſich entgegengeſetzt ſind, ſind es doch nicht mehr
in Rückſicht auf die Bewohner der Erde, die alles auf den Mit-
telpunkt C derſelben beziehen, da für ſie der Regen, ſo wie jeder
Stein, immer in derſelben Richtung, nämlich immer gegen den
Mittelpunkt der Erde fällt. — Und wohin ſollte er denn auch von D
nach d, von der Erde wegfallen? Er fällt von a nach B, weil ihn
die Erde nach ihrem Mittelpunkte C anzieht. Von D nach d hin
aber zieht ihn nichts an, umgekehrt vielmehr: von d nach D hin
wird er angezogen, und zwar wieder, wie zuvor, nach dem Mit-
telpunkte C der Erde, daher er dann auch wieder von d nach D
fallen, und daher eben durch dieſen Fall derſelben Richtung
nach dem Mittelpunkte folgen muß, welchem er in ſeinem Falle
von a nach B gefolgt war.


Warum fallen aber dann, hört man dieſe Leute ſagen, nicht
auch Sonne, Mond und Sterne zur Erde, wenn dieſe alles zu
ihrem Mittelpunkte anzieht? — So können aber nur diejenigen
fragen, die nicht wiſſen, daß kein Körper in der Natur ſeine
Stelle ändert, ohne daß er durch eine fremde Kraft dazu gezwun-
gen wird. Wenn der Stein auf unſerer Erde gehalten werden
muß, damit er nicht falle, ſo kömmt dieß daher, weil er von der
Kraft der Erde, von der Schwere angezogen wird. Aber die
Sterne werden von ihr nicht mehr angezogen, weil die Erde viel
zu klein, und viel zu weit von ihnen entfernt iſt, um noch auf ſie
wirken zu können, daher denn auch die Sterne keiner Unterſtützung
bedürfen, um dieſe Anziehung der Erde zu hindern.


Sie ſind in den weiten Räumen, in welchen wir ſie erblicken,
nicht befeſtigt, und ſie haben es auch nicht Noth, weil nichts da
iſt, was ſie aus ihrer Stelle bringen könnte, und ganz daſſelbe
gilt auch von unſerer Erde, die, wie jene Himmelskörper, frei im
Weltraume ſchwebt, und nach keiner Seite hin fallen kann, weil
ſie nach keiner angezogen wird. Da eigentlich alle Theile der
Erde einander anziehen, und da alle gleichmäßig gegen ihren
Mittelpunkt drücken, oder gegen denſelben ſchwer ſind, ſo wird
dadurch die Schwere der einen Halbkugel, durch die gleich große
Schwere der anderen aufgehoben, ſo daß die ganze Maſſe der Erde
eigentlich nach keiner Gegend des Sonnenſyſtems mit ihrem ganzen
[95]Tägliche Bewegung der Erde.
Gewichte drückt, ſondern ſich ſelbſt, in ihrem Mittelpunkt, das
Gleichgewicht hält, und nur gegen die Sonne eine, obſchon ver-
hältnißmäßig viel geringere Kraft der Schwere äußert, durch
welche ſie eben in ihrer Bewegung um dieſen großen Centralkörper
unſeres Syſtemes erhalten wird, wie wir weiter unten ſehen
werden. Doch genug, und vielleicht ſchon mehr als genug, über
einen Gegenſtand, der wohl in früheren Zeiten manche ſogenannte
gelehrte Streitigkeit, und ſelbſt manchen Kampf anderer Art ver-
anlaßte, der aber bereits in unſeren Tagen ſo oft und von ſo
vielen Seiten erörtert worden iſt, daß die wahre Anſicht deſſelben
ſelbſt ſchon bis zu dem gemeinen Manne vorgedrungen iſt, und
daß noch weitere Zweifel nur Unwiſſenheit und Unverſtand ver-
rathen können.


[[96]]

KapitelIII.
Jaͤhrliche Bewegung der Sonne.


§. 38. (Erſte Erſcheinungen). Wir haben im Vorhergehenden
geſehen, daß der ganze Himmel mit ſeinen Geſtirnen ſich täglich
von Oſt gegen Weſt zu drehen ſcheint, und daß die wahre Urſache
dieſer Erſcheinung in der Erde liegt, die ſich in derſelben Zeit,
aber in entgegengeſetzter Richtung, von Weſt gegen Oſt, um ihre
Axe dreht, während der ſie rings umgebende Himmel mit ſeinen
Sternen in Ruhe bleibt. Allein wenn wir dieſe Geſtirne einzeln
näher betrachten, ſo finden wir bald, daß einige derſelben eine
merkwürdige Ausnahme von dieſer allgemeinen Ruhe des Him-
mels machen. Bei weitem die meiſten Sterne kommen nämlich
in der That am Ende eines jeden Tags, immer wieder genau an
denſelben Ort, wo wir ſie am Ende der vorhergehenden Tage ge-
ſehen haben. Auch behalten ſie unter ſich ſelbſt immer dieſelbe
Lage unverändert bei, ſo daß z. B. ſolche Sterne, welche eine
gerade Linie, ein Dreieck, einen Kreis unter ſich bilden, dieſe Ge-
ſtalt ihrer Gruppirung am Himmel nicht weiter ändern. Aber
unter dieſen in der That zahlloſen Sternen, die ihren Ort am
Himmel gleichſam fixirt haben, und die man daher Fixſterne
nennt, gibt es doch auch einige, welchen dieſe Benennung nicht
zukömmt, da man ſie ihre Stelle am Himmel ändern, und mit
verſchiedenen Geſchwindigkeiten und nach allen Richtungen von
einem Fixſterne zum andern wandern ſieht. Man hat ſie daher
Wandelſterne oder Planeten (πλανεω, herumſchweifen) genannt.
[97]Jährliche Bewegung der Sonne.
Ein ſolches Geſtirn iſt z. B. der Mond. Wenn man ihn meh-
rere aufeinanderfolgende Nächte nur mit einiger Aufmerkſamkeit
betrachtet, ſo findet man, daß er unter den fixen Geſtirnen des
Himmels von Weſt gen Oſt mit einer gewiſſen, ſehr auffallenden
Regelmäßigkeit fortgeht; daß die Sterne, bei welchen wir ihn
z. B. geſtern um Mitternacht ſahen, heute um dieſelbe Zeit ſchon
nahe dreizehn Grade weſtlich von ihm ſtehen, und daß er über-
haupt ſeinen öſtlichen Umlauf an dem geſtirnten Himmel in nahe
27¼ Tagen vollendet. Aehnliche, nur bei weitem weniger regel-
mäßige Bewegungen bemerken wir noch an einigen andern Him-
melskörpern, die wir weiter unten näher kennen lernen werden. Ja
ſelbſt die Sonne ſcheint zu dieſen Wandelſternen zu gehören, da
auch ſie ihren Ort unter den Sternen des Himmels mit jedem
Tage ändert.


§. 39. (Woran die Bewegung der Sonne erkannt wird). Es
mag allerdings ſchon etwas mehr Aufmerkſamkeit und Ueberlegung
erfordert haben, dieſe Bewegung der Sonne zu erkennen, weil
nämlich dieſer Weltkörper alles um ſich her verfinſtert, oder viel-
mehr alles ſo mit ſeinem Lichte erfüllt, daß dadurch die Sterne,
dieſe feſten Punkte des Himmels, mit welchen man den täglichen
Stand vergleichen könnte, ganz unſichtbar werden. Allein, wenn
auch dieſe Sterne, welche wir an unſerm nächtlichen Himmel er-
blicken, unter ſich ſelbſt immer dieſelbe Lage behalten, ſo ſieht
man doch auch nicht zu allen Zeiten immer dieſelben Sterne.
Das Schauſpiel, welches ſie uns darbieten, verändert ſich mit
jedem Tage etwas, und völlig derſelbe Auftritt kömmt genau um
dieſelbe Jahreszeit wieder. So ſehen wir z. B. das ſchöne und
allgemein bekannte Sternbild des Orion in der Mitte des Dezem-
bers genau um Mitternacht am höchſten über dem Horizonte, oder
im Meridian (Einl. 14). Allein in vierzehn Tagen, oder im
Anfange eines jedes neuen Jahres erblicken wir dieſes Sternbild
ſchon viel früher an jenem Orte, nämlich um 10 U. 48 M. Abends;
am 1. Februar noch früher, um 8 U. 46 M.; am 1. März ſchon
um 7 U. 0 M. u. ſ. w., ſo daß alſo dieſes Sternbild am Ende
eines jeden Monats zur Zeit der Mitternacht um nahe 30 Grade
weiter gegen Weſten ſteht, als es am Anfange dieſes Monats
ſtand. In der Mitte des März iſt es ſchon ſo weit gegen Weſt
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 7
[98]Jährliche Bewegung der Sonne.
vorgerückt, daß die Mitte dieſes Sternbilds, oder der ſogenannte
Jacobsſtab, zur Zeit der Mitternacht bereits untergeht. Auf
dieſelbe Weiſe wird man bemerken, daß ſolche Sternbilder, die in
einer gewiſſen Jahreszeit um Mitternacht aufgingen, ſechs Monate
ſpäter um Mitternacht untergehen. Nicht minder bekannt iſt der
ſchöne Stern Aldebaran, der größte der Hyaden im Sternbilde
des Stiers. Um die Mitte des Mai ſieht man ihn noch bald
nach Sonnenuntergang auf der Weſtſeite in der Nähe der Sonne,
nach welcher er etwa in einer Stunde ebenfalls untergeht. Gegen
das Ende dieſes Monats ſieht man ihn gar nicht mehr, weil die
Sonne an dieſelbe Stelle des Himmels gekommen iſt, die Alde-
baran einnimmt. Aber gegen das Ende des Junius erblickt man
ihn wieder auf der Oſtſeite auf einige Augenblicke kurz vor dem
Aufgange der Sonne, und nun ſieht man ihn mit jedem folgenden
Tage immer früher vor der Sonne aufgehen, ſo daß er alſo auch
immer länger in den letzten Stunden der Nacht ſichtbar bleibt,
bis er endlich in dem Lichte der aufgehenden Sonne, oder mit
dem Anbruche des hellen Tages, verſchwindet. Die Alten waren
auf dieſe Verſchwindung der Sterne oder auf die Zeit, wo ein
Stern mit der Sonne zugleich auf- und untergeht, ſehr aufmerk-
ſam, und ſie nannten dieſelbe den cosmiſchen Auf- und Unter-
gang, ſo wie ſie die Zeit, wo der Stern kurz vor dem Aufgange
der Sonne auf-, und kurz nach dem Untergange derſelben unter-
geht, den heliſchen Auf- und Untergang des Sterns hießen.
Aus der Wiederkehr dieſer Phänomene, alſo aus dem Ein- und
Austritte gewiſſer Sterne in und aus den Sonnenſtrahlen, ſchloß
man, daß die Sonne wieder an derſelben Stelle des Himmels
ſey, daß ſie alſo in der Zwiſchenzeit ihren ganzen Umlauf um die
Erde zurückgelegt habe. Man nennt dieſe Zeit eines Umlaufs der
Sonne bekanntlich das Jahr, und die Alten wurden, eben durch
dieſe Art von Beobachtungen, bald gewahr, daß die Länge oder
die Dauer dieſes Jahrs nahe 365¼ Tage betrage.


Am deutlichſten bemerkt man dieſes Fortrücken der Sonne,
wenn man auf diejenigen Sterne merkt, die zu verſchiedenen Jah-
reszeiten um Mitternacht (§. 26) am höchſten in Süden ſtehen, alſo
eben durch den Meridian (§. 14) des Beobachters gehen. Im An-
fange des Frühlings ſehen wir um Mitternacht am ſüdlichen
[99]Jährliche Bewegung der Sonne.
Himmel die Sternbilder des Löwen und der Jungfrau, in den
erſten Sommernächten, zur Zeit der Mitte des Junius, das
Sternbild des Hercules und die zwei ſchönen Sterne Wega in
der Leyer und Atair im Adler, im Anfange des Herbſtes den
Pegaſus, die Kaſſiopeia und Andromada, und im Anfange des
Winters endlich, oder gegen das Ende des Jahres den Stier mit
den oben erwähnten Hyaden und Plejaden, ferner den Sirius, den
größten aller Fixſterne, und den Orion, das ſchönſte aller Sternbilder.
Da nun alle dieſe, der Sonne in den verſchiedenen Jahreszeiten
gegenüberſtehenden Sterngruppen in der oben angeführten Ord-
nung von Weſt gegen Oſt um den Himmel liegen, ſo muß auch
die Sonne ſelbſt in ihrer jährlichen Bewegung ſich in derſelben
Richtung, oder ebenfalls von Weſt gen Oſt, bewegen.


Uebrigens laſſen ſich dieſe Erſcheinungen allerdings auch eben ſo
gut durch eine eigene Bewegung der Sonne gegen Oſt, als durch
eine gemeinſchaftliche Bewegung des geſammten Himmels mit
allen ſeinen zahlloſen Fixſternen gegen Weſt erklären. Wenn wir
aber nicht wieder, wie in dem großen Kapitel bei der Rotation
der Erde, in den Widerſpruch fallen wollen, die ganze Welt um
einen einzigen Punkt zu bewegen, bloß weil wir dieſen Punkt,
ohne allen weitern Grund, für unbeweglich gelten laſſen wollen,
ſo werden wir ſofort für die erſte dieſer Erklärungen, für eine
Bewegung der Sonne gen Oſt, ſtimmen müſſen, um ſo mehr, da
der Mond und alle übrigen oben erwähnten Planeten ebenfalls,
und zwar mit ganz andern Geſchwindigkeiten, und nach ganz an-
dern Richtungen, ihren Ort unter den Sternen des Himmels
ändern.


Wir ſind alſo, unſern Beobachtungen und den daraus gezo-
genen Schlüſſen gemäß, gleichſam gezwungen, anzunehmen, daß
die Sonne eine eigene Bewegung von Weſt gegen Oſt habe,
und daß ſie dieſen ihren Weg um die Erde in einem Jahre vol-
lende, oder daß ſie auf dieſem ihrem Wege täglich etwas weniger
als einen Grad (genauer 0,986 eines Grades) gen Oſt weiter
rücke. Dieß von der Zeit, oder, was daſſelbe iſt, von der Ge-
ſchwindigkeit, mit welcher die Sonne um uns geht. Welches iſt
aber die Lage dieſer Bahn der Sonne am Himmel? Iſt ſie mit
7 *
[100]Jährliche Bewegung der Sonne.
Aequator parallel, oder bildet ſie mit dem Aequator irgend einen
Winkel, und welchen?


§. 40. (Die Sonnenbahn iſt gegen den Aequator geneigt).
Wenn dieſe Bahn der Aequator ſelbſt oder doch ihm parallel
wäre, ſo müßte die Sonne für jeden beſtimmten Ort der Erde,
z. B. für Wien, durch das ganze Jahr offenbar immer an dem-
ſelben Punkte des Horizonts, etwa immer bei derſelben Bergſpitze,
auf- und untergehen, wie wir dieß bei den Fixſternen in ihrer
täglichen Bewegung bemerken. Beſchriebe ſie z. B. den Parallel-
kreis des Aldebarans am Himmel, ſo müßte ſie auch alle Tage
des Jahrs in demjenigen Orte des Horizonts auf- und untergehen,
in welchem wir dieſen Fixſtern, und eben ſo alle andern Punkte
ſeines Parallelkreiſes, auf- und untergehen ſehen. Auch müßte
dann ihre Sichtbarkeit über unſerm Horizont, d. h. die Länge des
Tages, während des ganzen Jahres immer gleich groß, nämlich
dieſelbe mit der Sichtbarkeit des Aldebarans ſelbſt ſeyn. Allein
dieß widerſpricht allen unſern Erfahrungen. Die Längen unſerer
Tage ſind, wie wir Alle wiſſen, ſehr ungleich, da ſie z. B. für
Wien im Winter, wenn ſie am kürzeſten ſind, nur 8 St. 10 M.,
und im Sommer, wenn ſie am längſten ſind, 16 St. 6 M.
dauern. Auch geht, wie nicht weniger allgemein bekannt iſt, die
Sonne im Sommer ſehr viel näher bei Norden auf und unter,
als im Winter, wie ſie denn auch in jener Jahreszeit im Mittag
viel höher ſteht, als in dieſer. Die beiden äußerſten Punkte des
Horizonts, bei welchen die Sonne im Sommer und im Winter
auf- und untergeht, bilden in unſern Gegenden den ſehr beträcht-
lichen Winkel von 73 Graden, und dieſer Winkel iſt für nördlicher
liegende Länder noch viel größer. Eine nur geringe Aufmerkſam-
keit auf dieſe ſo auffallenden Unterſchiede mußte daher auf die
Idee leiten, daß die Sonne in ihrer eigenen Bewegung von Weſt
gegen Oſt auch zugleich von einem Parallelkreiſe zum andern
übergeht, daß ſie jeden Tag den Parallelkreis desjenigen Sterns
beſchreibt, in deſſen Nähe ſie ſich an dieſem Tage eben aufhält,
und daß alſo auch die Bahn, welche ſie während des ganzen
Jahres zurücklegt, gegen alle jene Parallelkreiſe unter einem ge-
wiſſen Winkel geneigt iſt, ſo daß alle dieſe Parallelkreiſe von der
Sonnenbahn unter dieſem Winkel geſchnitten werden.


[101]Jährliche Bewegung der Sonne.

§. 41. (Vorläufige Beſtimmung der Sonnenbahn). Allein,
wie groß iſt dieſer Winkel, oder mit andern Worten: welches iſt
die wahre Lage der Sonnenbahn am Himmel, und welches ſind
die Sterne, durch welche ſie ſich hinzieht?


Wenn wir auch die Sterne, in deren Nähe die Sonne ſich
aufhält, wegen des zu ſtarken Lichtes der letztern nicht ſehen kön-
nen, wie dieß, nach dem oben Geſagten, bei dem Monde geſchieht,
ſo können wir dafür (und dieß wird uns zu demſelben Ziele füh-
ren) diejenigen Sterne des Himmels deſto beſſer ſehen, die der
Sonne gerade gegenüberſtehen. Denn ſo wie wir die Zeit des
Tages Mittag (Einl. §. 26) nennen, wenn die Sonne (S. Fig. 1)
in Süden ihre größte Höhe über dem Horizonte erreicht, oder
durch den obern Theil des Meridians (§. 14) geht, ſo nennen wir
auch Mitternacht die Zeit, wann die Sonne S''' im Norden
am tiefſten unter dem Horizonte ſteht, oder in ihrer, uns unſicht-
baren, untern Culmination (§. 26) iſt. Da man nun bereits wußte,
daß die Sonne ihren Kreislauf um die Erde in der Zeit eines
Jahres von 365¼ Tagen zurücklege, ſo konnte man daraus
ſchließen, daß ſie ſich jedesmal nach einem halben Jahre wieder
in dem Punkte des Himmels befinden werde, der jenem gerade
entgegengeſetzt iſt, in welchem ſie ſich heute befindet. Hatte man
alſo einmal z. B. an dem kürzeſten Tage des Jahres die mit-
tägige Höhe der Sonne gemeſſen, wozu man ſich einer ſenkrecht
in dem Boden errichteten Stange oder einer Mauer bedienen
konnte, ſo mußte ein halbes Jahr nachher in der Mitte der kür-
zeſten Nacht, derjenige Punkt der Sonnenbahn, in welchem ſie
ſich vor einem halben Jahre befand, wieder über der Stange oder
über der Mauer ſtehen, wenn nämlich das Auge des Beobachters
auch wieder dieſelbe Stelle einnahm. Dieſen Punkt der Sonnen-
bahn konnte man ſich aber leicht merken, weil man an dieſer
Stelle Sterne ſah. Auf dieſe Weiſe konnte man an mehreren
Tagepaaren, die immer um ein halbes Jahr von einander ent-
fernt ſind, verfahren, und ſo alle die Sterne des Himmels, durch
welche die Sonne ihren Weg nimmt, und zugleich die Zeit be-
ſtimmen, wann ſie zu dieſen Sternen kömmt.


Dieſe Beobachtungsart mag vielleicht die erſte geweſen ſeyn,
die man angeſtellt hat, um die Bahn der Sonne am Himmel zu
[102]Jährliche Bewegung der Sonne.
beſtimmen. Allein ſie iſt weder ſehr bequem, noch auch genau zu
nennen, da das erwähnte Alignement mit einer Stange oder einer
Mauer keiner großen Schärfe fähig iſt, und da endlich, wie wir
ſpäter ſehen werden, die Sonne in ihrer Bahn nicht gleichförmig,
ſondern bald geſchwinder, bald langſamer fortgeht, ſo daß dadurch
die vorhergehende Vorausſetzung, daß ſie in einem halben Jahre
genau in dem entgegengeſetzten Punkte ihrer Bahn ſey, unrichtig
und mit dieſer Vorausſetzung auch die ganze Methode, wenn man
durch ſie ein genaues Reſultat verlangt, unbrauchbar wird.
Uebrigens könnte man ſich die läſtige Wiederholung dieſer Beo-
bachtungen erſparen, da in der That ſchon ein einziger Tag hin-
reicht, die Lage der Ecliptik auf dieſe obſchon unzuverläßige Weiſe
zu beſtimmen, wenn man nämlich dazu, wie zuvor, den längſten
oder auch den kürzeſten Tag des Jahres nimmt.


§. 42. (Vereinfachung dieſer genäherten Beſtimmung der
Sonnenbahn). Man wußte nämlich bereits, daß gegen die Mitte
des März und Septembers für die ganze Erde die Länge des
Tages eben ſo groß als die Nacht iſt, und daß daher (Einl. §. 24, II)
an dieſen beiden Tagen die Sonne im Aequator ſeyn, alſo auch
hier die Ecliptik den Aequator ſchneiden müſſe, weil dieſer Paral-
lelkreis der einzige iſt, für welchen der Tag- und Nachtbogen
gleiche Größe hat. Da aber der Aequator den Horizont in zwei
Punkten, die von Süd und Nord gleich weit entfernt ſind, oder
in dem Oſt- und Weſtpunkte (Einl. §. 16) ſchneidet, ſo war
es genug, nur an einem jener beiden Tage der Nachtgleichen den
Auf- und Untergang der Sonne zu beobachten, um ſofort auch in
ſeinem Horizonte diejenigen zwei Punkte aufzufinden, welche dem
Oſt- und Weſtpunkte entſprechen. Hatte man aber einmal
dieſe beiden Punkte, ſo durfte man nur noch an demſelben Tage,
z. B. um Mittag, die Sonne anſehen, und ſie, etwa nach dem
Augenmaße, mit jenen zwei Punkten verbinden, um ſofort die
Lage des Aequators am Himmel gleichſam mit einem Blicke
zu überſehen. Genauer wird man dieſe Lage erhalten, wenn
man eine Ebene, z. B. eine Tafel, durch jene beiden Punkte, den
Oſt- und Weſtpunkt des Horizonts, legt, und dann dieſe Tafel um
die durch jene Punkte gehende Linie um eine Axe ſo lange dreht,
bis das in dieſer Tafel ſtehende Auge des Beobachters die Sonne
[103]Jährliche Bewegung der Sonne.
in der Ebene der Tafel erblickt, um dadurch ſogleich die Hälfte
desjenigen Kreiſes zu beſtimmen, die der Aequator am Himmel
beſchreibt, woraus ſich dann die andere Hälfte von ſelbſt ergibt.


Ganz auf dieſelbe Weiſe wird man nun auch mit der Ecliptik
verfahren, nur wird man dazu nicht die Tage der Nachtgleichen,
ſondern die der Solſtitien, d. h. den längſten oder auch den kür-
zeſten Tag des Jahres, wählen. Wir haben bereits geſehen, daß
die Sonne an den zwei Tagen der Nachtgleichen in der Ebene
des Aequators iſt, wo ſie dem Horizont in zwei einander gegen-
überſtehenden Punkten, in Oſt und Weſt, begegnet. Die beiden
Punkte des Aequators, welche ſie an dieſen zwei Tagen einnimmt,
müſſen alſo auch zwei Puncte der Sonnenbahn ſeyn, und da dieſe
zwei Punkte einander genau entgegen geſetzt ſind, ſo wird dieſe
Sonnenbahn den Aequator in zwei gleiche Theile theilen, und
daher (Einl. 6) ſelbſt ein größter Kreis des Himmels ſeyn.
Man nennt daher auch dieſe beiden der Ecliptik und dem Aequa-
tor gemeinſchaftlichen Punkte die Aequinoctial- oder Nachtgleichen-
punkte, und zwar den einen, wo die Sonne im Anfange des
Frühlings, am 21. März, iſt, den Frühlingspunkt, und den
andern, welchen ſie im Anfange des Herbſtes, am 22. September,
einnimmt, den Herbſtpunkt. — Zur Zeit der Solſtitien aber,
ein Vierteljahr vor und nach der Zeit der Nachtgleichen, iſt die
Sonne in der Mitte zwiſchen dem Frühlings- und Herbſtpunkte,
oder von jedem derſelben um 90 Grade entfernt. Man darf
daher nur am Mittage eines dieſer beiden Tage, deren einer der
längſte, und der andere der kürzeſte Tag des Jahres iſt, die
Sonne im Meridian beobachten, um ſofort drei Punkte zu über-
ſehen, die alle in der Ebene der Ecliptik liegen, nämlich den
Mittelpunkt der Sonne in Süden, und die beiden bereits bekann-
ten Oſt- und Weſtpunkte des Horizonts, die an dem Mittag
dieſer beiden Tage mit den beiden Nachtgleichenpunkten zuſam-
menfallen, wo dann wieder eine durch dieſe drei Punkte gelegte
Ebene, wenn man ſie bis an den Himmel verlängert, an dem-
ſelben den geſuchten größten Kreis der Sonnenbahn oder die
Ecliptik anzeigen wird. Man nennt dieſe beiden Punkte der
Ecliptik, die von dem Aequator am weiteſten abſtehen, die Sol-
ſtitial
- oder Wendepunkte, und zwar den höchſten, den die
[104]Jährliche Bewegung der Sonne.
Sonne gegen den 21. Junius einnimmt, die Sommerwende,
und den tiefſten, wo ſie am 22. Dezember iſt, die Winter-
wende
.


§. 43. (Quadrant als Inſtrument zum Höhenmeſſen). Allein
da man auf dieſe Weiſe, wie geſagt, weder die Ecliptik, noch
auch ſelbſt den Aequator am Himmel mit großer Genauigkeit
angeben kann, ſo wird man, da dieſe beiden Kreiſe für die ge-
ſammte Aſtronomie von der äußerſten Wichtigkeit ſind, noch auf
andere Mittel bedacht ſeyn müſſen, die Lage derſelben mit der
größten Schärfe feſtzuſetzen, und hier iſt es, wo wir zuerſt ge-
zwungen ſind, zu eigentlichen aſtronomiſchen Beobachtungen, mit
Hilfe eines Inſtrumentes, unſere Zuflucht zu nehmen.


Es iſt leicht, ſich ein ſolches Inſtrument vorzuſtellen, mit
welchem man die Höhe der Geſtirne, und überhaupt alle Gegen-
ſtände meſſen kann. Sey z. B. ACB (Fig. 7) eine ebene Tafel
in der Geſtalt des vierten Theiles eines Kreiſes ausgeſchnitten, ſo
daß der Punkt C der Mittelpunkt dieſes Kreiſes, und der Winkel
0. C. 90 gleich einem rechten Winkel ſey. Die Peripherie AB dieſes
Quadranten ſey in ſeine einzelnen Grade, und ſelbſt in die klei-
nern Theile des Grades eingetheilt, und um den Mittelpunkt C
bewege ſich, als um eine Axe, ein Fernrohr oder ein Diopter ſo,
daß deſſen Länge in allen Punkten des Quadranten mit der Ebene
deſſelben parallel bleibe. Man denke ſich nun dieſes Inſtrument
an einem Pfeiler oder an einer Wand ſo befeſtigt, daß die Ebene
ABC deſſelben genau vertical (Einl. §. 8) und der höchſte Halbmeſſer
C0 deſſelben vollkommen horizontal iſt. Zeigt nun in dieſem Zu-
ſtande das Fernrohr, wenn es in die Lage des höchſten Halb-
meſſers C0 gebracht wird, dem Auge des Beobachters in 0 den
Stern S, ſo wird dieſer Stern in dem Horizonte des Beobachters
liegen, oder ſeine Höhe wird Null ſeyn. Wird aber das Fern-
rohr in die Lage des Halbmeſſers C. 30 gebracht, und ſieht dann
das Auge in 30 den Stern S', ſo wird, da 0CS, nach der Vor-
ausſetzung, eine horizontale Linie iſt, die Höhe des Sterns S'
gleich dem Winkel SCS' ſeyn, oder, da die Scheitelwinkel SCS'
und 0. C. 30 einander gleich ſind, ſo wird die Höhe des Sterns
S' über dem Horizonte CS des Beobachters 30 Grade betragen,
und eben ſo wird die Höhe des Sterns S'' gleich SCS'' oder
[105]Jährliche Bewegung der Sonne.
0. C. 60, das heißt gleich 60 Graden, ſeyn u. ſ. w. Man ſieht,
daß ein Inſtrument dieſer Art, wenn es mit Sorgfalt gebaut,
und mit Umſicht behandelt wird, die Höhen der Geſtirne mit
großer Genauigkeit anzugeben vermag.


§. 44. (Beſtimmung der Polhöhe durch Beobachtung). Dieſes
vorausgeſetzt, wollen wir nun dieſes Inſtrument, ohne die verticale
Lage ſeiner Ebene, und die horizontale Lage ſeines höchſten Halb-
meſſers 0. C zu ändern, in die ebenfalls verticale Ebene (Ein. §. 14)
des Meridians, und zwar ſo bringen, daß die Seite C deſſelben
gegen Nord und die Seite A gegen Süd gekehrt iſt. Beobachten
wir in dieſer Stellung des Quadranten die Höhe eines dem
Weltpole N (Fig. 1 oder 2) nahen Sterns, der nicht mehr auf-
und untergeht, und daher (Einl. §. 26) den ſichtbaren Theil des
Meridians täglich zweimal durchſchneidet. Zur Zeit ſeiner oberen
Culmination in D iſt die Höhe des Sterns HD, und, zwölf
Stunden vor oder nachher, zur Zeit ſeiner untern Culmination in
B, iſt die Höhe deſſelben HB. Da aber (Einl. §. 24) alle Punkte
jedes Parallelkreiſes von jedem der Weltpole gleichweit abſtehen,
ſo iſt BN gleich ND, ſo daß man daher ſagen kann, die beiden
beobachteten Höhen des Sterns ſind
in der obern Culmination gleich HN mehr ND,
und in der untern Culmination gleich HN weniger ND,

woraus folgt, daß das Mittel aus beiden Höhen gleich HN
oder gleich der Polhöhe (§. 18, I) des Beobachtungsortes iſt,
welche Polhöhe zugleich den Abſtand des Beobachters von dem
irdiſchen Aequator, d. h. die geographiſche Breite (§. 18 u. 23)
deſſelben ausdrückt.


Man erhält alſo die Polhöhe eines Ortes, wenn man die
Höhen eines nicht untergehenden Sternes in ſeinen beiden Cul-
minationen beobachtet, und von der Summe dieſer Höhen die
Hälfte nimmt. Von dem bereits oben erwähnten Polarſtern
beobachtete man z. B. in Wien dieſe beiden Höhen 49° 48′,8
und 46° 36′,4. Die Summe derſelben iſt 96° 25′,2 und ihre
Hälfte 48° 12′,6 iſt daher die geſuchte Polhöhe von Wien.


§. 45. (Gleichmäßige Beſtimmung der Declination der Sterne
durch Beobachtung). Dieſe Beobachtungsart gibt zugleich ein
gutes Mittel, nebſt der Polhöhe des Beobachtungsorts auch die
[106]Jährliche Bewegung der Sonne.
Declination (§. 13) des Sterns zu beſtimmen. Es iſt nämlich der
Unterſchied der beiden Höhen HD und HB gleich BD oder gleich
2ND, das heißt: die halbe Differenz der zwei beobachteten Höhen
iſt gleich dem Abſtande des Sterns D von dem Pole N, oder
gleich ND, und da NQ gleich 90° iſt, ſo iſt QD gleich 90° weniger
ND, oder mit andern Worten: Man erhält die Declination des
beobachteten Sterns, wenn man die halbe Differenz ſeiner beiden
Höhen von 90 Graden ſubtrahirt. In unſerm Beiſpiele waren
die beiden Höhen 49° 48′,8 und 46° 36′,4, alſo iſt ihre halbe
Differenz 1° 36′,2 und dieſe von 90 Graden abgezogen, gibt
88° 23′,8 für die geſuchte Declination des Polarſterns.


§. 46. (Beſtimmung der Declination aller übrigen Sterne
durch Beobachtung). Die vorhergehende Methode iſt, wie man
ſieht, nur auf die dem Pole nahen Sterne, welche nicht mehr
untergehen, oder nur auf die ſogenannten Circumpolarſterne
anwendbar. Allein ſie läßt ſich, wenn durch ſie einmal die Pol-
höhe des Beobachtungsorts bekannt iſt, auch auf alle übrigen Ge-
ſtirne des Himmel fortführen.


Da man nämlich bereits die PolhöheHN (Fig. 1, 2) ſei-
nes Ortes kennt, ſo kennt man auch die AequatorhöheRQ
deſſelben, weil (nach Einl. §. 18. I) die Summe dieſer beiden Höhen
immer einen rechten Winkel beträgt, oder weil die Aequatorhöhe
immer gleich 90° weniger der Polhöhe iſt. So haben wir oben
für die Polhöhe von Wien 48° 12′,6 gefunden, woraus alſo ſofort
folgt, daß die Aequatorhöhe dieſes Orts 41° 47′,4 beträgt, das
heißt alſo, die Bewohner Wiens ſehen den Nordpol N des Aequa-
tors in der Höhe von 48° 12′,6 über ihrem Horizonte, und daher
auch den höchſten Punkt Q des Aequators in der Höhe von
41° 47,4 [...].


Dieſes vorausgeſetzt, wollen wir nun unſern Quadranten
(Fig. 7) aus ſeiner frühern Lage um die Linie CB als um eine
Axe drehen, bis die Ebene des Inſtruments wieder in dem Me-
ridian liegt, aber die Seite C gegen Süd und A gegen Nord
gewendet wird, und dann die Linie 0C, wie zuvor, wieder hori-
zontal ſtellen. Beobachtet man mit dem Inſtrumente in dieſer
Lage die Höhe RS (Fig. 1) eines Sterns auf der Südſeite des
Zeniths zur Zeit ſeines Durchgangs durch den Meridian ZR, ſo
[107]Jährliche Bewegung der Sonne.
wird man nur von dieſer Höhe RS die bereits bekannte Aequa-
torhöhe RQ abziehen, um ſofort die geſuchte nördliche Declination
QS des Sterns zu erhalten. Geht aber der Stern unter dem
Aequator, zwiſchen den Punkten R und Q, durch den Meridian,
ſo wird man umgekehrt die beobachtete Höhe des Sterns von
der Aequatorhöhe abziehen, um die ſüdliche Declination (Einl. §. 13)
des Sterns zu erhalten, wie dieß alles bereits in der Einleitung
(§. 27) angeführt worden iſt.


§. 47. (Genauere Beſtimmung der Lage der Sonnenbahn
gegen den Aequator). Was ſo eben von den auf der Südſeite des
Zeniths culminirenden Sternen geſagt worden iſt, gilt unverändert
auch von dem großen Geſtirn des Tages, von unſerer Sonne.
Jeden Mittag wird man mit jenem Inſtrumente ihre Meridian-
höhe meſſen, und, indem man dieſelbe mit der bereits bekannten
Aequatorhöhe vergleicht, daraus ihre Declination ableiten, und
auf dieſe Weiſe ſo viele Punkte, in Beziehung auf den Aequator,
beſtimmen, als man Beobachtungstage hat, und dieſe Punkte oder
ihre entgegengeſetzten am Himmel werden alle in der geſuchten
Ebene der Sonnenbahn liegen, und daher die Lage dieſer Bahn
am Himmel bezeichnen.


Zu unſerem Zwecke wird es aber ſchon genügen, die Sonne
nur zur Zeit des Solſtitiums (§. 42) zu beobachten, wo ſie am
weiteſten von dem Aequator entfernt iſt, und von den beiden
Aequinoctien um 90 Grade abſteht. Wenn die Sonne zur Zeit
des Solſtitiums im Meridian oder im Mittag iſt, ſo ſtehen die
beiden Aequinoctien in dem Oſt- und Weſtpunkte des Horizonts.
Für dieſe Lage iſt aber der Bogen des Meridians, der zwiſchen
der Ecliptik und dem Aequator enthalten iſt, d. h. für dieſe Lage
iſt die Declination der Sonne gleich der Neigung (Einl. §. 18)
jener beiden Ebenen, oder gleich der ſogenannten Schiefe der
Ecliptik, die durch den Winkel LVQ (Fig. 1) der Ecliptik mit
dem Aequator ausgedrückt wird. Man braucht daher nur im
Augenblicke des Solſtitiums die Höhe der Sonne im Meridian
zu beobachten, wo dann die Differenz dieſer Höhe und der Aequa-
torhöhe (wie in §. 46) ſogleich die größte Declination der Sonne,
d. h. die geſuchte Schiefe der Ecliptik, geben wird. So beobach-
[108]Jährliche Bewegung der Sonne.
tete man im Jahre 1830 auf der Sternwarte in Wien die mit-
tägige Höhe des Mittelpunkts der Sonne


  • am 20. Juni . 65° 14′ 27″
  • 21. . 65° 14′ 51″
  • 22. . 65° 14′ 52″
  • 23. . 65° 14′ 28″

die größte dieſer Höhen iſt die vom 22. Junius. Subtrahirt man
davon die bekannte Aequatorhöhe Wiens 41° 47′ 24″, ſo erhält
man ſofort die geſuchte Schiefe der Ecliptik gleich 23° 27′ 28″.


I. Das Vorhergehende ſetzt allerdings voraus, daß die Zeit
des Solſtitiums mit der Zeit des Mittags genau zuſammenfalle,
da jenes doch auch in den Vor- oder Nachmittagsſtunden ein-
treten kann. Aber da die Aenderungen der Declinationen zur Zeit
der Sonnenwende, wie man aus dem vorigen Beiſpiele ſehen
kann, ſo gering ſind, ſo wird auch die größte mittägige Höhe der
Sonne von der eigentlichen Solſtitialhöhe nur wenig verſchieden
ſeyn, und daher, wenigſtens in einer erſten Näherung, ohne merk-
lichen Fehler eine für die andere genommen werden können. Wir
werden übrigens bald (§. 51. III) ein Mittel finden, die hier etwa
noch fehlende Größe nachzutragen.


Da uns demnach drei Punkte gegeben ſind, in welchen die
Ebene der Sonnenbahn liegt, nämlich die beiden ſchon früher be-
kannten Aequinoctialpunkte und einer der Wendepunkte derſelben,
und da drei Punkte die Lage einer Ebene vollkommen beſtimmen,
ſo iſt dadurch auch die Lage der Ecliptik gegen den Aequator
gegeben.


§. 48. (Beſtimmung der Schiefe der Ecliptik und der Polhöhe
zugleich). Es wurde bereits bemerkt, daß man nur einen der
beiden Solſtitialpunkte am Himmel zu beobachten braucht, um
daraus, und aus der bereits bekannten Polhöhe die Schiefe der
Ecliptik abzuleiten. Dieſe Polhöhe aber haben wir, wie oben
(§. 44) geſagt wurde, aus den Beobachtungen der Circumpolarſterne
in ihren beiden Culminationen gefunden. Allein man kann ſich
auch von dieſen letzten Beobachtungen ganz unabhängig machen,
und allein durch die Sonne ſowohl die Schiefe der Ecliptik als
auch die Polhöhe erhalten, wenn man nicht bloß, wie zuvor, ein
einziges Solſtitium, ſondern wenn man, in dem Laufe eines halben
[109]Jährliche Bewegung der Sonne.
Jahres, beide Sonnenwenden beobachtet. Da nämlich die Ecliptik
und der Aequator größte Kreiſe des Himmels ſind, alſo auch
(Einl. §. 6) ſich gegenſeitig in zwei gleiche Theile theilen, ſo werden
nicht bloß die Nachtgleichen-, ſondern auch die beiden Wende-
punkte einander genau gegenüberſtehen, und die eine, nördliche
Hälfte der Ecliptik wird ſich eben ſo hoch über den Aequator
erheben, als die andere unter ihn herabſteigt, ſo daß daher der
Aequator ſelbſt in der Mitte zwiſchen den beiden Solſtitien liegen
wird. Hat man daher die Sonne zur Zeit der beiden Solſtitien
beobachtet, ſo wird die halbe Differenz dieſer beiden Höhen die
Schiefe der Ecliptik ſeyn, die man ſonach, ohne die Polhöhe zu
kennen, finden kann. Die halbe Summe jener beiden Höhen aber
wird zugleich die geſuchte Höhe des Aequators ſeyn, die, von 90
Graden ſubtrahirt, die Polhöhe des Beobachtungsortes geben
wird. So beobachtete man in Wien im Jahre 1830 folgende
Solſtitialhöhen der Sonne:


  • am 22ten Junius . 65° 14′ 52″ und
  • am 22ten Dezember . 18° 19′ 56″

Die halbe Differenz dieſer beiden Zahlen, oder 23° 27′ 28″,
iſt die Schiefe der Ecliptik, und die halbe Summe derſelben, oder
41° 47′ 24″, iſt die Aequatorhöhe, alſo auch 48° 12′ 36″ die ge-
ſuchte Polhöhe des Beobachtungsortes.


§. 49. (Gnomon). So einfach das in (§. 43) erwähnte In-
ſtrument, mit welchem man die Höhe der Sterne meſſen kann,
auch ſeyn mag, ſo wird man doch wohl bemerkt haben, daß es,
wenn es anders ſehr genaue Reſultate liefern ſoll, in ſeiner Con-
ſtruction ſowohl, als auch in ſeinem Gebrauche ſelbſt manchen
Schwierigkeiten ausgeſetzt iſt, welche für die erſten Künſtler und
Aſtronomen nicht ſo leicht zu beſeitigen geweſen ſeyn mögen.
Auch iſt es erſt ſehr ſpät in die beobachtende Aſtronomie eingeführt,
und erſt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts mit einer der
Würde der Wiſſenſchaft angemeſſenen Genauigkeit, beſonders von
den engliſchen Künſtlern, verfertigt worden. Die Alten mußten
ſich mit viel einfacheren Werkzeugen begnügen, und da ſie ſich
vorzüglich mit den Beobachtungen der Sonne beſchäftigten, ſo
ſuchten ſie auch ihre Inſtrumente dieſen Beobachtungen gemäß
einzurichten.


[110]Jährliche Bewegung der Sonne.

Das älteſte und das einfachſte dieſer Inſtrumente war ohne
Zweifel der Gnomon, der in einer bloßen Säule 0 der in einem
geradlinigen Stabe beſtand, den man vertical auf einer horizon-
talen Ebene aufſtellte. Aus dem Schatten, den der Gnomon,
wenn er von der Sonne beſchienen wurde, auf ſeine Ebene warf,
ſuchte man die Höhe der Sonne über dieſer horizontalen Ebene
abzuleiten.


Um dieß beſſer zu überſehen, ſey CD (Fig. 6) die Höhe des
verticalen Gnomons z. B. von 30 Fuß und DB die Länge ſeines
horizontalen Schattens von 15 Fuß. Verbindet man die beiden
äußerſten Punkte C und B des Gnomons und des Schattens
durch die gerade Linie BC, ſo erhält man ein geradliniges, in D
rechtwinkliges Dreieck BCD, und es wird nun darauf ankommen,
die Größe des Winkels B dieſes Dreiecks zu beſtimmen. Denn
dieſer Winkel iſt der geſuchten Höhe der Sonne gleich, weil ein
Auge in B den Mittelpunkt der Sonne in der Richtung der Linie
BC, alſo in der Höhe DBC über der horizontalen Linie BD ſehen
würde.


I. Aufgaben dieſer Art gehören in die ſogenannte ebene
Trigonometrie
, die einen intereſſanten Theil der Geometrie
ausmacht, und die uns lehrt, wie man, wenn von den Seiten und
Winkeln eines Dreiecks drei Stücke gegeben ſind, die andern drei
durch Rechnung finden kann. So ſind hier zwei Seiten mit dem
von ihnen eingeſchloſſenen rechten Winkel gegeben, und der einer
dieſer Seiten gegenüberſtehende Winkel zu finden. Da es gegen
unſere Abſicht iſt, dieſe Lehren der Trigonometrie hier vorzutra-
gen, oder ſie bei unſern Leſern als ſchon bekannt vorauszuſetzen,
ſo wollen wir ein anderes Mittel angeben, Dreiecke dieſer Art
auch ohne jene Kenntniſſe aufzulöſen.


Man ſieht leicht, daß der geſuchte Winkel auch in jedem an-
dern, ſelbſt viel kleinern, rechtwinkligen Dreiecke dieſelbe Größe,
d. h. dieſelbe Anzahl von Graden haben werde, wenn nur das
Verhältniß der beiden gegebenen Seiten CD und BD in dem
kleinern Dreiecke daſſelbe wie in dem großen iſt. In dem Dreiecke
des Gnomons iſt aber dieſes Verhältniß gleich dem der beiden
Zahlen 30 zu 15 oder einfacher gleich 2 zu 1. Man verzeichne
ſich alſo auf irgend einer Ebene, z. B. auf der des Papiers, zwei
[111]Jährliche Bewegung der Sonne.
ſich unter einem rechten Winkel in dem Punkte d durchſchneidende
Linien, und nehme von dieſem Punkte d auf der einen dieſer
Linien mittelſt des Maßſtabs z. B. die Länge db von 5 Zoll,
und auf der andern die Länge dc von 10 Zoll, und vereinige
dann die beiden Endpunkte b und c dieſer Linie durch die gerade
bc, ſo erhält man ein anderes Dreieck bcd, welches dem gegebe-
nen Dreiecke des Gnomons vollkommen ähnlich iſt, d. h. welches
dieſelben Winkel mit jenem hat, wenn gleich die Seiten der beiden
Dreiecke ſehr von einander verſchieden ſind. In dieſem kleinern
Dreiecke bcd kann man aber den Winkel an b mittelſt des be-
kannten Winkelmeſſers (Transporteur’s) beſtimmen, und man
wird ihn ſehr nahe gleich 63° 26′ finden, und ganz eben ſo groß
wird alſo auch der Winkel B in dem großen Dreiecke BCD des
Gnomons ſeyn. Es iſt für ſich klar, daß man dieſen Winkel
deſto genauer finden wird, je größer man das kleinere Dreieck
macht, je beſſer der Winkelmeſſer gearbeitet iſt, und je mehr Sorg-
falt man bei dieſem Verfahren anwendet. Die oben erwähnte
trigonometriſche Rechnung aber wird dieſe Reſultate immer mit
größerer Genauigkeit geben, daher es wünſchenswerth wäre, ſich
damit näher bekannt zu machen, um ſo mehr, da ſich dieſe Kennt-
niſſe ſo häufig mit Nutzen anwenden, und mit einiger Aufmerk-
ſamkeit von jedem Leſer in kurzer Zeit erwerben laſſen.


Um das Vorhergehende auf eine Beobachtung mit dem Gno-
mon anzuwenden, wollen wir die allerälteſte aſtronomiſche Beob-
achtung, die überhaupt auf uns gekommen iſt, zu dieſem Zwecke
auswählen. Der Jeſuit Ganbil, der ſich in der Mitte des vori-
gen Jahrhunderts lange bei der Miſſion in China aufgebalten
hat, berichtet uns aus einem alten chineſiſchen Manuſcripte, daß
der Kaiſer Tschu-Kong in dem Jahre 1100 vor dem Anfange
der chriſtlichen Zeitrechnung, alſo zur Zeit, als Codrus in Athen
und David in Judäa lebten, die Höhe der Sonne in ihren beiden
Solſtitien mit einem Gnomon beobachtet habe. Der Ort dieſer
Beobachtung war die Stadt Loyang, oder, wie ſie heute genannt
wird, Honan-Fu in der Provinz Honan, dem ſogenannten Garten
des Reiches, deſſen Hauptſtadt Kai-fong-fu iſt. Die Höhe ſeines
Gnomons betrug 8 chineſiſche Schuhe über ſeiner horizontalen
Baſis, und die Länge des beobachteten Schattens war, nach der
[112]Jährliche Bewegung der Sonne.
daran angebrachten Correction (wegen des Halbmeſſers der Sonne
und der Refraction) 1,54 chineſiſche Fuß im Sommer- und 13,12
Fuß im Winterſolſtitium. Ohne die wahre Größe des chineſiſchen
Fußes zu kennen, kann man mit dieſen Zahlen nach dem ſo eben
Erwähnten verfahren, wodurch man für die Solſtitialhöhe der
Sonne im Sommer 79° 6′ 20″ und im Winter 31° 22′ 20″
finden wird. Daraus folgt ſofort (nach §. 48), daß die halbe Dif-
ferenz dieſer beiden Zahlen, oder 23° 52′ 0″ die Schiefe der
Ecliptik, und die halbe Summe derſelben, oder 55° 14′ 20″ die
Aequatorhöhe des Beobachtungsortes, alſo auch deſſen Comple-
ment zu 90 Graden oder 34° 45′ 40″ die Polhöhe von Honan-
Fu
iſt.


§. 50. (Säculäre Abnahme der Schiefe der Ecliptik). Man
hat gegen dieſe Nachricht des P. Ganbil und gegen die Authen-
ticität dieſer altergrauen Beobachtung Zweifel erhoben, weil die
von Tschu-Kong gefundene Schiefe der Ecliptik viel größer iſt,
als die, welche wir in unſern Tagen beobachten. Allein außer-
dem, daß die Polhöhe der Stadt Honan-Fu nach den neuern
Beobachtungen derſelben Miſſionäre ſehr gut mit der von Tschu-
Kong
übereinſtimmt, iſt es auch jetzt ſehr gut bekannt, daß die
Schiefe der Ecliptik ſeit beinahe drei Jahrtauſenden immer ab-
nimmt. Die folgende Tafel zeigt dieſe Schiefe, wie ſie von den
verſchiedenen aufeinanderfolgenden Beobachtern gefunden wurde.


  • Schiefe der Ecliptik.
  • Tschu-Kong in China, 1100 vor Chr. G. _ _ 23° 52′ 0″
  • Der Grieche Pytheas in Marſeille, 350 v. Chr. _ _ 23° 49′ 20″
  • Der Araber Ibn-Iunis in Aegypten, 1000 nach Ch. _ _ 23° 34′ 26″
  • Coschu-King in China, 1280 _ _ 23° 32′ 2″
  • Ulug-Beigh in Samarkand, 1437 _ _ 23° 31′ 48″
  • Bradley in England, 1750 _ _ 23° 18′ 18″
  • In unſern Zeiten, 1830 _ _ 23° 27′ 40″

Man ſieht die mit der Zeit fortgehende Abnahme der Schiefe
und wenn die Regelmäßigkeit derſelben nicht immer genau der
Zwiſchenzeit proportionirt iſt, ſo mag dieſes der Unvollkommenheit
jener älteren Beobachtungen zuzuſchreiben ſeyn. In unſern Tagen
iſt die Verfertigung der Inſtrumente, und die Beobachtungskunſt
ſelbſt ſo weit vorgerückt, daß man dieſe der Zeit proportionale
[113]Jährliche Bewegung der Sonne.
Abnahme der Schiefe von fünf zu fünf Jahren deutlich bemerken
kann. Endlich hat man auch durch Hilfe der mathematiſchen
Analyſis in der höhern Mechanik die wahre Urſache dieſer Er-
ſcheinung gefunden. Durch die Wirkung der Planeten unſeres
Sonnenſyſtems auf die Bahn der Sonne wird nämlich dieſe Bahn
dem Aequator immer näher gebracht, und dieſe Annäherung be-
trägt nach den neueſten Unterſuchungen in einem Jahrhundert
48,368 Secunden. Geht man daher von dem Jahre 1750 aus,
in welchem die Schiefe der Ekliptik 23° 28′ 18″ betrug, ſo wird
man die Schiefe für jede andere Zeit, die T Jahre von 1750
entfernt iſt, erhalten, wenn man das Produkt der Größe 0″,48368
mit T von 23° 28′ 18″ ſubtrahirt. Liegt das geſuchte Jahr vor
jener Epoche von 1750, ſo muß dieſes Produkt addirt werden.
Um dieſes auf das vorhergehende Beiſpiel anzuwenden, ſo hat
man für den Zwiſchenraum von Tschu-kong bis Bradley 1750
+ 1100 = 2850 Jahre, die mit 0″,48368 multiplicirt, 0° 22′ 58″
geben. Addirt man dieſe Größe zu 23° 28′ 18″, ſo erhält man
für die durch jene Theorie beſtimmte Schiefe Tschu-kong’s 23°
51′ 16″, alſo nur 44 Secunden kleiner, als ſie durch den Gno-
mon gefunden wurde. Eine ſo geringe Differenz bei einer ſo alten
Beobachtung, die überdieß ihrer Natur nach keiner ſehr großen
Schärfe fähig iſt, zeugt von der Richtigkeit der Theorie, ſo wie
ſie auch zugleich die Authenticität jener Beobachtung ſelbſt be-
ſtätigt.


I. Wenn aber dieſe Abnahme der Schiefe immer mit der
Zeit proportional fortgeht, ſo wird die Folge davon ſeyn, daß
einmal dieſe Schiefe ganz verſchwindet, oder daß die Ekliptik mit
dem Aequator zuſammenfällt. Eine leichte Rechnung zeigt, daß
dieß in oder in 177547 Jahren nach dem Jahre 1750
unſerer Epoche, alſo in dem Jahre 179297 unſerer Zeitrechnung
der Fall ſeyn wird, und da dann die Sonne immer in dem
Aequator einhergehen muß, ſo würde von dieſer Zeit an Tag und
Nacht das ganze Jahr durch einander gleich ſeyn, oder die Erde
würde einen ewigen Frühling feiern und die beiden Extreme der
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 8
[114]Jährliche Bewegung der Sonne.
Temperatur, der Sommer und der Winter, würden ganz von ihr
verſchwinden.


II. Allein dieſe Hoffnung des ewigen Frühlings iſt unge-
gründet und wohl eben ſo eitel, als die des ewigen Friedens, den
uns der Abbé St. Pierre ſo reizend geſchildert hat. Es iſt näm-
lich, wie dieſelbe Theorie zeigt, nur annähernd wahr, daß die
Schiefe der Ecliptik mit der Zeit proportional abnimmt und die
oben aufgeſtellte Formel gilt, ſtreng genommen, kaum für das
ganze gegenwärtige Jahrhundert. Für die früheren und folgenden
Jahrhunderte muß die angeführte Zahl 0,48368 immer, obſchon
nur wenig, geändert werden. Eine genauere Unterſuchung dieſes
Gegenſtandes zeigt, daß der analytiſche Ausdruck dieſer Aenderung
der Schiefe eigentlich gar kein der Zeit proportionales Glied, ſon-
dern bloß periodiſche Glieder enthält, das heißt, ſolche, die eine
Zeit durch wachſen und dann wieder abnehmen, um, wenn ſie ih-
ren kleinſten Werth erreicht haben, wieder allmählig zu ihrem
größten heraufzuſteigen. Dieſem gemäß geht alſo der wahre Werth
der Schiefe der Ekliptik zwiſchen den beiden Gränzen von 21 und
28 Graden auf und ab, ohne dieſelben je zu überſchreiten und ſie
wird daher in der Folge der Zeiten eben ſo wenig mit dem Aequa-
tor zuſammenfallen, als ſie je in der grauen Vorzeit ſenkrecht auf
demſelben geſtanden iſt. Dieſe Bewegung der Ekliptik iſt aber ſo
langſam, daß die Perioden, in welchen ſie zwiſchen dieſen beiden
Bogen von ſieben Graden wie ein ungeheures Pendel auf und
niederſchwingt, viele Jahrtauſende umfaſſen. Nach den Unterſu-
chungen, die Lagrange über dieſe Perioden angeſtellt hat, war die
Schiefe i. J. 29.400 vor Chr. in ihrem größten Werthe von 27°
31′. Seit jener Zeit nahm ſie durch 15.000 Jahre ab, bis ſie
i. J. 14.400 v. Chr. ihren kleinſten Werth 21° 20′ erreichte. Von
da wuchs ſie wieder durch 12.400 Jahre, und war i. J. 2000 v.
Chr. in ihrem größten Werthe 23° 53′. Seit dieſer Epoche nimmt
ſie durch 8600 Jahre ab und wird i. J. 6600 nach Chr. ihren
kleinſten Werth 22° 54′ haben, und endlich von da durch 12.700
Jahre wieder wachſen, bis ſie i. J. 19.300 nach Chr. ihren größ-
ten Werth 25° 21′ erreichen wird.


Zum Schluſſe dieſes Gegenſtandes theilen wir noch einige
Nachrichten über die oben erwähnten Aſtronomen des Alterthums mit.


[115]Jährliche Bewegung der Sonne.

Tschu-kong, Bruder des Uwang, des Stifters der Dynaſtie
Tschu, beherrſchte China, während der Minderjährigkeit ſeines
Neffen, von dem Jahre 1104 bis 1098 vor unſerer Zeitrechnung.
Das Andenken dieſes vortrefflichen Fürſten iſt jetzt noch, nach bei-
nahe drei Jahrtauſenden, der Gegenſtand der Verehrung bei den
Chineſen. In dem heiligſten ihrer Bücher, dem Schu-king, deſſen
Verfaſſer der berühmte Confucius iſt, wird dieſer Fürſt eingeführt,
wie er ſeinen Zöglingen die weiſeſten Grundſätze der Moral und
der Regierungskunſt mittheilt. Von den vielen Beobachtungen,
die er ſelbſt gemacht hatte und von ſeinen Aſtronomen machen
ließ, ſind nur drei auf uns gekommen, die älteſten von allen, die
ſich aus der Vorzeit erhalten haben. Die zwei erſten ſind die
oben erwähnten Beobachtungen der Höhe der Solſtitien in Loyang,
und die dritte iſt eine Beſtimmung der Länge der Sonne zur Zeit
des Winterſolſtitiums von derſelben Epoche. Indem er die Sonne
mit dem Stern ε im Sternbilde des Waſſermanns verglich, fand
er die Rectaſcenſion dieſes Sterns gleich 268° 2′, was mit der
neuern Theorie der Aſtronomie eben ſowohl übereinſtimmt, als
die aus den beiden vorhergehenden Beobachtungen abgeleitete
Schiefe der Ecliptik.


Nach ihm verfiel die Aſtronomie in dieſem Lande, beſonders als
der barbariſche K. Chi-Hoanti i. J. 213 vor Chr. Geb. alle Bücher
des Reiches verbrennen ließ. Erſt im fünften Jahrhundert nach
unſerer Zeitrechnung erhob ſich die Wiſſenſchaft wieder unter dem
Aſtronomen Tsu-tschong, der um d. J. 460 zu Nankin beobach-
tete und die Länge des Jahres gleich 365,24282 Tage fand, nur
0,00057 Tage oder 49,2 Secunden größer als nach den neueſten
Beſtimmungen. — Während ſpäter im dreizehnten Jahrhunderte
Holaku-Hekukan die Aſtronomie in Perſien aufblühen machte,
gewährte ihr ſein Bruder Kobilai in China denſelben Schutz, in-
dem er den oben erwähnten Coschu-king, den berühmteſten Aſtro-
nomen China’s, i. J. 1271 zum Vorſteher des mathematiſchen
Tribunals dieſes Landes ernannte. Coschu-king ließ viel größere
und vorzüglichere Inſtrumente bauen, als man bisher kannte. Das
koſtbarſte derſelben war ein Gnomon von 40 chin. Fuß Höhe, der an
ſeinem obern Ende eine Kupferplatte mit einer freien Oeffnung
trug. Mit ihm iſt die oben angeführte Beobachtung gemacht
8 *
[116]Jährliche Bewegung der Sonne.
worden. Er beſtimmte überdieß die Länge der Sonne zur Zeit
der Solſtitien und die Länge des Jahres zu 365,2425 Tagen, ge-
nau mit unſerem Gregorianiſchen Jahre übereinſtimmend.


Ibn-Junis, einer der ausgezeichnetſten Aſtronomen der Ara-
ber, beobachtete in Kahira gegen das Jahr 1000 nach Chr. unter
dem ägyptiſchen Kalifen Hakem. Sein Werk über Aſtronomie
wurde erſt zu Ende des letzten Jahrhunderts in einer Bibliothek
zu Leyden gefunden, und ein Theil deſſelben von Caussin über-
ſetzt. Seine in dieſem Werke gegebenen Sonnen- und Planeten-
tafeln werden im Oriente wegen ihrer großen Genauigkeit gerühmt,
und es enthält überdieß viele ſehr ſchätzbare Nachrichten über die
aſtronomiſchen Arbeiten der Araber und eine große Anzahl von
Beobachtungen ſeit der Zeit des Kalifen Almanzar in der Mitte
des achten Jahrhunderts bis auf die Zeit des Verfaſſers.


In Perſien endlich erhob ſich die Aſtronomie in der Mitte
des eilften Jahrhunderts, wo die Einwohner dieſes Landes das
Joch der Araber abgeworfen hatten, unter Omar-Cheian, der eine
ſehr ſinnreiche Einrichtung des Kalenders einführte, welche in ei-
nem Cyclus von 33 Jahren zu 365 Tagen acht Schaltjahre zu
366 Tagen enthält, wodurch die Länge des Jahres auf 365,242424
Tage gebracht wird, die daher nur 0,000169 Tage oder 14,6 Se-
cunden zu groß iſt. Im dreizehnten Jahrhunderte verſammelte
der bereits erwähnte König Holaku-Hekukan die beſten Aſtrono-
men ſeines Reiches in Maragha, wo er eine prächtige Sternwarte
erbaute, die der Leitung des berühmten Nassireddin anvertraut
wurde. Noch mehr endlich zeichnete ſich Ulug-Beigh unter den
Fürſten dieſes Landes als eifriger Beſchützer und Selbſtkenner der
Aſtronomie aus, der i. J. 1430 in Samerkand, der Hauptſtadt
ſeines Reiches, eine Sternwarte erbaute und ſie mit den beſten
Inſtrumenten ſeiner Zeit verſah. Er war ſelbſt einer der geſchick-
teſten Beobachter, und man verdankt ihm, nebſt der oben ange-
führten Beſtimmung der Schiefe der Ekliptik, auch noch einen
neuen Sternkatalog und die beſten Tafeln der Sonne, des Mon-
des und der Planeten, die man bis zur Zeit von Tycho-Brahe
erhalten hat.


§. 51. (Beſtimmung der Nachtgleichenpunkte durch Beobach-
tungen.) Indem wir nach dieſer Digreſſion zu unſerem Gegen-
[117]Jährliche Bewegung der Sonne.
ſtande, der Beſtimmung der Sonnenbahn, zurückkehren, müſſen
wir bemerken, daß wir uns bisher nur mit dem Winkel beſchäf-
tigt haben, welchen die Ekliptik mit dem Aequator bildet, da wir
doch zu einer vollſtändigen Beſtimmung der Lage der Sonnenbahn
gegen den Aequator auch noch die zwei Punkte kennen müſſen,
in welchen dieſe beiden Ebenen einander ſchneiden. Zwar haben
wir im Vorhergehenden ſchon ein Mittel angegeben, dieſe beiden
Punkte, d. h. die Nachtgleichen, im Aequator wenigſtens bei-
nahe aufzufinden, indem ſie, wie wir geſehen haben, an den bei-
den Tagen, wo die Sonne in den Solſtitien iſt, am Mittage mit
dem ſchon faſt bekannten Oſt- und Weſtpunkte des Horizonts zu-
ſammenfallen. Allein dieſe Beſtimmung iſt, wie man ohne meine
Erinnerung bemerken wird, nur ſehr ungenau und unzuverläſſig und
daher keineswegs geeignet, dieſe beiden wichtigen Punkte mit der-
jenigen Schärfe anzugeben, die ſie in ſo hohem Grade verdienen,
da (nach Einl. § 22. I. II.) dieſe Punkte es ſind, von welchen man
den Anfang der Rectaſcenſion ſowohl, als auch der Länge aller
Geſtirne zählt, und von deren genauer Beſtimmung daher unſere
Kenntniß des Himmels abhängt.


Sobald man aber durch irgend ein Verfahren dahin gelangt
iſt, den einen dieſer beiden Punkte, z. B. den Frühlingspunkt, am
Himmel mit Genauigkeit anzugeben, ſo kennt man dadurch auch
ſofort den Herbſtpunkt, da, wie wir bereits wiſſen, beide Punkte,
als Durchſchnittspunkte zweier größten Kreiſe, einander gegenüber
liegen, oder da ſie in Länge ſowohl, als in Rectaſcenſion genau
um 180 Grade verſchieden ſeyn müſſen. Wir wollen alſo ſehen,
wie man die Lage des erſten dieſer Punkte oder die des Frühlings-
punktes am Himmel beſtimmen kann.


Man wird aber die Lage des Frühlingspunktes kennen, wenn
man die Rectaſcenſion irgend eines der zahlloſen fixen Sterne des
Himmels kennt, da man nur von dieſem Sterne, als von einem
feſten Punkte, auf den Aequator um den Bogen, der die Recta-
ſcenſion dieſes Sterns ausdrückt, zurückgehen darf, um am Ende
dieſes Bogens den geſuchten Frühlingspunkt zu erhalten. Weiß
man z. B., daß der ſchöne Stern Schedir oder α auf der Bruſt
der Cassiopeia die Rectaſcenſion von 7° 46′ 45″ hat, ſo wird
man nur von dem Punkte, in welchem der Deklinationskreis
[118]Jährliche Bewegung der Sonne.
dieſes Sterns den Aequator ſchneidet, in dem Aequator um den
Bogen 7° 46′ 45″ rückwärts oder gegen Weſt gehen, um am
Ende deſſelben den Frühlingspunkt zu finden.


Wie ſollen wir nun aber dieſe erſte Rectaſcenſion irgend eines
jener Sterne finden, indem wir doch den Frühlingspunkt ſelbſt,
von dem ſie gezählt werden muß, noch nicht kennen? — Da wir
offenbar von dieſen beiden Dingen, Ort des Frühlingspunkts und
Rectaſcenſion eines Sterns, eines ohne das andere nicht finden
können, ſo wird wohl nichts übrig bleiben, als zuzuſehen, ob man
nicht beide zugleich ſuchen kann.


Da der Frühlingspunkt nur durch die Beobachtung der Sonne
beſtimmt werden kann, indem er eben derjenige Punkt des Him-
mels iſt, in welchem die Sonne zur Zeit der Frühlingsnachtgleiche
ſteht, ſo wollen wir alſo wieder unſern Quadranten (§. 43) in der Ebene
des Meridians gegen Süden aufſtellen, und an ihm um die Zeit
dieſer Nachtgleiche an mehreren Mittagen die Höhe des Mittel-
punkts der Sonne beobachten, und überdieß an einer Uhr zugleich
die Zeit bemerken, wann dieſer Mittelpunkt der Sonne durch den
Meridian geht. Am Abend eines jeden dieſer Tage wollen wir
auch noch an derſelben Uhr die Culmination irgend eines Sterns
oder die Durchgangszeit deſſelben durch den Meridian des Qua-
dranten bemerken, wobei wir vorausſetzen, daß der Gang dieſer
Uhr gleichförmig iſt und daß ſie zwiſchen zwei nächſten Culmina-
tionen deſſelben Fixſterns genau 24 Stunden gebe. Dieß voraus-
geſetzt, wird alſo die Ubrzeit, die zwiſchen der Culmination der
Sonne und der des Sterns an jedem dieſer Beobachtungstage
verfließt, zugleich die Differenz der Rectaſcenſion dieſer beiden Ge-
ſtirne für den Augenblick des Mittags eines jeden dieſer Tage
ſeyn.


Da die Sonne eine eigene Bewegung hat, oder ihre Recta-
ſcenſion immer ändert, und da im Gegentheile der Stern am
Himmel feſt ſteht, ſo wird die Zwiſchenzeit zwiſchen der Culmina-
tion der Sonne und des Sterns an jedem jener Mittage eine
andere ſeyn, und man wird bald bemerken, daß dieſe Zwiſchenzeit
von einem Tage zum andern ſich ſehr nahe gleichförmig än-
dert
, weil nämlich die Rectaſcenſion der Sonne ebenfalls täglich
nahe um dieſelbe Größe, alſo gleichförmig wächst.


[119]Jährliche Bewegung der Sonne.

Wir haben ſonach für alle dieſe Tage eine Reihe von Diffe-
renzen der Rectaſcenſionen der Sonne und des Sterns, für den
Augenblick des Mittags eines jeden dieſer Tage erhalten, und die
ſo eben bemerkte regelmäßige Aenderung dieſer Differenzen wird
uns in den Stand ſetzen, durch eine einfache Proportion auch die-
jenige Differenz anzugeben, welche für irgend einen, von dem
Mittage verſchiedenen, Augenblick jener Beobachtungstage Statt
haben muß.


Wüßten wir alſo nur den Augenblick, wo der Mittelpunkt
der Sonne durch den Frühlingspunkt ging, ſo würden wir ſofort für
denſelben Augenblick auch die Differenz der Rectaſcenſionen beider
Geſtirne durch jene einfache Rechnung angeben können, und dieſe
Differenz der beiden Geſtirne wird, da eines derſelben, die Sonne,
im Frühlingspunkte ſteht, zugleich die Rectaſcenſion des andern,
oder die geſuchte Rectaſcenſion des Sterns ſeyn.


Demnach iſt alſo die Auflöſung unſerer Aufgabe dahin redu-
cirt, den Augenblick anzugeben, wann der Mittelpunkt der Sonne
durch den Frühlingspunkt gebt. Die Angabe dieſes Moments
hat aber keine weitere Schwierigkeit mehr. Denn da wir, wie
oben geſagt, an jedem Mittage auch die Höhe der Sonne an dem
Quadranten beobachtet haben, und da wir die Aequatorhöhe
unſeres Beobachtungsortes bereits aus früheren Beobachtungen
(nach §. 44 oder auch nach §. 48) kennen, ſo wird man durch eine
einfache Differenz dieſer beiden Größen (nach Einl. §. 27) auch die
Deklination der Sonne für den Mittag eines jeden Tages er-
halten, und der geſuchte Augenblick des Durchgangs der Sonne
durch den Frühlingspunkt, d. h. durch den Aequator, wird derje-
nige ſeyn, in welchem dieſe beobachtete Deklination der Sonne
verſchwindet.


Iſt alſo irgend eine dieſer mittägigen Deklinationen der Sonne
gleich Null, ſo iſt der Mittag dieſes Tages zugleich der Augen-
blick der Culmination des Frühlingspunktes und die Differenz
jener Uhrzeiten für dieſen Mittag die geſuchte Rectaſcenſion des
mit der Sonne verglichenen Fixſterns.


Iſt aber, wie dieſes meiſtens der Fall iſt, keine der beobach-
teten mittägigen Deklinationen der Sonne gleich Null, ſo wird
man aus der erhaltenen Reihe von Deklinationen die beiden klein-
[120]Jährliche Bewegung der Sonne.
ſten nehmen und aus ihnen, durch eine einfache Proportion, leicht
den vor oder nach dem Mittage fallenden Augenblick der ver-
ſchwindenden Deklination ableiten. Kennt man aber dieſen Au-
genblick, d. h. kennt man die Zeit des Durchgangs der Sonne
durch den Frühlingspunkt, ſo wird man aus den oben erwähnten
Differenzen der mittägigen Zwiſchenzeiten der Culminationen bei-
der Geſtirne, durch eine ähnliche Proportion, auch die Zwiſchen-
zeit für dieſen Augenblick finden, und dieſe wird die geſuchte
Rectaſcenſion des beobachteten Sterns ſeyn.


§. 52. (Erläuterung dieſer Methode durch ein Beiſpiel.) Um
das Vorhergehende durch ein Beiſpiel zu erläutern, wollen wir
annehmen, daß man i. J. 1830 in Wien folgende Höhen des
Mittelpunkts der Sonne und die Uhrzeiten der Culminationen
derſelben und des Sterns a Widder beobachtet habe.


Da die Aequatorhöhe des Beobachtungsortes 41° 47′ 24″ iſt,
ſo findet man aus den beobachteten Höhen der Sonne folgende
mittägige Deklinationen derſelben:

Man ſieht daraus, daß das Aequinoctium zwiſchen die Mittage
des 20. und 21. März fällt. Um die Zeit derſelben genauer zu fin-
den, hat man aus den beiden letzten Beobachtungen die Proportion
23′ 41″ : 24h = 15′ 11″ : Xh
woraus folgt X = 15h 3861 oder X = 15h 23′ 10″ oder die
Sonne ging durch den Frühlingspunkt am 20. März um 15h
23′ 10″.


Um nun für dieſen Augenblick auch die Uhrzeit der Culmi-
nation des Sterns zu finden, ſo geben die vorhergehenden Be-
obachtungen die Differenz dieſer Culminationen für den 20. und
21. März gleich 0h 3′ 38″, ſo daß man daher hat
[121]Jährliche Bewegung der Sonne.
24h : 0h 3′ 38″ = 15h 13′ 10″ : X
woraus folgt X = 0h 2′ 19″ X,7.


Addirt man zu dieſer Größe die Culminationszeit 10h 0′ 1″
des 20. März, ſo erhält man für die geſuchte Culminationszeit
des Sterns zur Zeit des Aequinoctiums 10h 2′ 20″,7, die dann,
von der Culminationszeit 12h der Sonne an demſelben Tage ſub-
trahirt, 1h 57′ 39″,3 gibt, ſo daß man alſo hat

oder um ſo viel Uhrzeit ging zur Zeit des Aequinoctiums der
Stern vor der Sonne, d. h. vor dem Frühlingspunkte voraus,
alſo iſt auch die geſuchte Rectaſcenſion des Sterns gleich derſelben
Größe oder gleich 1h 57′ 39″,4 oder, wenn man dieſe Zahl durch
15 multiplicirt, um ſie in Graden auszudrücken (Einl. §. 19) gleich
29° 24′ 51″,0.


I. Man ſieht, daß dieſe Methode nebſt einem guten Inſtru-
mente, um die Höhen und Durchgangszeiten zu meſſen, auch eine
genaue Kenntniß der Polhöhe erfordert. Von der letzten kann
man ſich größtentheils unabhängig machen, wenn man dieſelben
Beobachtungen auch in der Nähe des Herbſtäquinoctiums wieder-
holt, wo man, wenn die Polhöhe noch etwas unrichtig iſt, in der
einen Zeit die Rectaſcenſion des Sterns eben ſo viel zu groß, als
in der andern zu klein finden wird, und daher die wahre Recta-
ſcenſion erhält, wenn man aus beiden das Mittel nimmt.


II. Kennt man aber auf dieſe Art einmal die Rectaſcenſion
irgend eines Sterns, ſo darf man nur in mehreren aufeinander
folgenden Nächten die Culminationen dieſes Sterns mit den an-
dern beobachten, wo dann die Differenzen der Durchgangszeiten
derſelben durch den Meridian, zu der bereits bekannten Rectaſcen-
ſion des erſten Sterns addirt, auch die Rectaſcenſionen aller
übrigen Sterne geben werden. Hat man ſo eine große Anzahl
von Fixſternen in Beziehung auf Rectaſcenſion und, durch ihre
beobachteten Meridianhöhen, in Beziehung auf Deklination (nach
[122]Jährliche Bewegung der Sonne.
§. 46) beſtimmt, ſo wird man ſie, nach ihrer Rectaſcenſion geordnet,
in einen Catalog bringen, um die Angaben deſſelben für jeden
vorkommenden künftigen Fall zu benutzen. Will man nämlich
den Ort der Sonne oder den eines Planeten für irgend einen
Tag durch Beobachtung beſtimmen, ſo wird man ihn mit irgend
einem der in dem Sternkatalog verzeichneten, alſo genau be-
kannten Sterne durch den Meridian gehen laſſen, wo dann die
beobachtete Differenz der Durchgangszeit zu der durch den Catalog
gegebenen Rectaſcenſion des Sterns geſchlagen, die geſuchte Recta-
ſcenſion des Planeten geben wird. Eben ſo wird man die Dekli-
nation des Planeten entweder unmittelbar durch ſeine beobachtete
Meridianhöhe (nach §. 46), oder, wenn man ſich auf die abſoluten
Höhen ſeines Inſtruments weniger verlaſſen kann, durch die be-
obachtete Differenz der mittägigen Höhen des Sterns und des
Planeten erhalten, indem man nämlich dieſe Differenz zu der aus
dem Sternkataloge gegebenen Deklination des Sterns addirt.


Man ſieht, daß die Verfertigung eines ſolchen Sternkatalogs
eines der wichtigſten Geſchäfte der praktiſchen Aſtronomie iſt, weil
der Gebrauch deſſelben allen andern Beobachtungen zu Grunde
liegt. Die vorzüglichſten der neueren Sternkataloge ſind die von
Piazzi(Catalogus proc. stellarum, Edit. II); von M. Lalande
(Histoire céleste)
und Beſſel (Aſtron. Beob. in Königsberg).


III. Wir haben oben (§. 47. I) bemerkt, daß die dort gegebene
Methode, die Schiefe der Ekliptik zu beſtimmen, vorausſetzt, daß
die Zeit des Solſtitiums mit der Zeit des Mittags zuſammen-
falle. Da dieß aber nur ſehr ſelten eintreffen wird, ſo müſſen
wir ein Mittel haben, auf dieſe Abweichung Rückſicht zu nehmen.


Nehmen wir alſo an, daß man an jedem der dem Solſtitium
nahen Mittage nebſt der Höhe der Sonne auch noch, nach dem
(in II) erklärten Verfahren die Rectaſcenſion der Sonne beobachtet
habe, ſo wird man dadurch die Zeit des Solſtitiums genau beſtim-
men können. Die Sonne wird nämlich in den Wendepunkt in
dem Augenblicke treten, wo ihre Rectaſcenſion 90 oder 270 Grade
beträgt. Nehmen wir an, daß an dem dem Solſtitium nächſten
Mittage noch a Secunden zu 90° oder 270° fehlen, ſo wird man
zu der beobachteten Deklination dieſes Mittags noch das Quadrat
dieſer Zahl a, multiplicirt durch 0,0000018, addiren, um die wahre
[123]Jährliche Bewegung der Sonne.
Deklination des Solſtitiums, d. h. um die wahre Schiefe der
Ecliptik zu erhalten.


Iſt in jenem Beiſpiele an dem der Sonnenwende nächſten
Tage, d. h. am Mittage des 22. Junius, die Rectaſcenſion der
Sonne gleich 89° 24′ 50″, ſo fehlen noch 0° 35′ 10″ oder a =
2110 Secunden zu 90°. Das Quadrat dieſer Zahl mit 0,0000018
multiplicirt, gibt 7″,8. Es war aber die mittägige Deklination
des 22. Junius gleich 23° 27′ 28″, alſo iſt auch die wahre Schiefe
der Ecliptik gleich 23° 27′ 35″,8, und ſo wird man ebenfalls in
allen andern Fällen verfahren. Ja man wird ſelbſt mittelſt der
hier angeführten Correction auch die Deklinationen der übrigen
Tage zur Beſtimmung der Schiefe benützen können. Für den
23. Junius z. B. war die beobachtete Höhe der Sonne 65° 14′
28″, alſo die mittägige Deklination derſelben 23° 27′ 4″. Hatte
man aber an dieſem Mittage die Rectaſcenſion der Sonne gleich
91° 10′ 20″ beobachtet, ſo iſt a = 1° 10′ 20″ = 4220 Secunden,
und daher 0,0000018 mit dem Quadrat von a multiplicirt, gleich
32″, ſo daß man alſo hat


  • mittägige Deklination 23° 27′ 4″
  • Correction 32,0
  • Schiefe der Ecliptik 23° 27′ 36″0

bis auf 0″,2 mit der vorhergehenden übereinſtimmend.


Hat man auf dieſe Weiſe aus mehreren Beobachtungen eine
größere Anzahl von Werthen für die Schiefe der Ecliptik erhalten,
die alle unter ſich nahe genug übereinſtimmen müſſen, wenn an-
ders die Beobachtungen für gut gehalten werden ſollen, ſo wird
man aus ihnen allen das ſogenannte Mittel nehmen, d. h. man
wird ſie alle addiren und dieſe Summe derſelben durch die An-
zahl der Beobachtungen dividiren. Dieſes Mittel aus mehreren
einzelnen Beobachtungen wird im Allgemeinen der Wahrheit
deſto näher liegen, je beſſer die einzelnen Beobachtungen unter
ſich harmoniren und je größer die Anzahl derſelben iſt. Man
wird daher in allen Fällen, wo eine größere Genauigkeit erfordert
wird, die Beobachtungen zu wiederholen und die Reſultate der-
ſelben alle auf eine gemeinſchaftliche Zeit, wie hier die Zeit des
Solſtitiums, zu bringen ſuchen, wodurch man ſich von den oft
[124]Jährliche Bewegung der Sonne.
unvermeidlichen Fehlern der einzelnen Beobachtungen, die zum
Theil von der Unvollkommenheit der Inſtrumente, zum Theil aber
auch von der unſerer Sinne kommen, ſo viel möglich unabhängig
machen kann. Man bemerkt von ſelbſt, daß ſich dieſes Verfahren
auch auf die vorhergehende Beſtimmung des Frühlingspunkts an-
wenden läßt, wenn man, wie dort, mehrere beobachtete mittägige
Deklinationen der Sonne hat. Man wird nämlich dann jede
dieſer in Secunden ausgedrückten Deklinationen, ſo lange ſie noch
klein ſind, durch die Zahl 0,15353 multipliciren und dieſes Produkt
zu der beobachteten Differenz der Culmination der Sonne und des
Sterns ſetzen, um ſofort die geſuchte Rectaſcenſion des Sterns
zu bekommen. So hat man in dem obigen Beiſpiele für den
19. März die mittägige Deklination 0° 38′ 53″ = 2333″, alſo
das erwähnte Produkt gleich 358″,2 = 0h 5′ 58″,2 und dieß von
der Culminationsdifferenz dieſes Tages oder von 2h 3′ 37″,5
ſubtrahirt, gibt die Rectaſcenſion des Sterns 1h 57′ 39″,3 wie
zuvor. Eben ſo gibt den 20. März jenes Produkt 0h 2′ 19″,9
und die Rectaſcenſion 1h 57′ 39″,2. Für den 21. März endlich
iſt das Produkt 0h 1′ 18″,3 und daher die Rectaſcenſion 1h 57′
39″,4, ſo daß man im Mittel aus allen drei Beobachtungen für
die geſuchte Rectaſcenſion des Sterns 1h 57′ 39″,3 annehmen
kann, wo zugleich die gute Uebereinſtimmung der täglichen Be-
obachtungen für die Zuverläßigkeit derſelben und daher auch für
die Genauigkeit des Endreſultats zeugen wird.


§. 53. (Orte der Sonne für alle Tage des Jahres.) Das
Vorhergehende ſetzt uns in den Stand, für alle Mittage des Jah-
res die Rectaſcenſion ſowohl, als auch die Deklination der Sonne
durch Beobachtungen zu beſtimmen. Iſt V (Fig. 2) der Früh-
lingspunkt, AVQ der Aequator und MVL die Ekliptik, und be-
zeichnet S den Ort der Sonne in der Ekliptik für einen gegebenen
Tag, ſo ſey ST der Bogen eines größten, auf dem Aequator in T
ſenkrechten Kreiſes, deſſen Verlängerung alſo (Einl. §. 5) durch den
Pol N des Aequators geht. Dieß vorausgeſetzt, bezeichnet der
Winkel QVL = AVM die Schiefe der Ekliptik und der Bogen VT
die Rectaſcenſion, ſo wie TS die Deklination (Einl. §. 22. I)
der Sonne für jenen Tag. Der Bogen VS der Ekliptik aber, der
[125]Jährliche Bewegung der Sonne.
zwiſchen dem Frühlingspunkte und der Sonne enthalten iſt, drückt
(Einl. §. 22. II) die Länge der Sonne aus, deren Breite immer
gleich Null iſt, weil ſich der Mittelpunkt der Sonne eben in der
Ebene der Ekliptik bewegt.


Wie man aber, nach dem oben (§. 49. I) Geſagten, in
einem ebenen oder geradlinigen Dreiecke, wenn mehrere Seiten
und Winkel deſſelben gegeben ſind, die andern Seiten und Winkel
durch die Vorſchriften der ebenen Trigonometrie finden kann,
ſo läßt ſich daſſelbe auch für ſolche Dreiecke thun, die von größten
Kreiſen auf der Oberfläche einer Kugel gebildet werden. Solche
ſogenannte ſphäriſche Dreiecke ſind in unſerer Figur NZS', ENS'
und VTS, und die Lehren, welche die Auflöſung ſolcher Dreiecke
betreffen, bilden die ſogenannte ſphäriſche Trigonometrie,
die ebenfalls einen Theil der geſammten Geometrie ausmacht, aber
hier, dem uns gegebenen Zwecke gemäß, nicht vorgetragen werden
kann. Wir werden uns daher begnügen, zu wiſſen, daß man,
wenn in einem ſphäriſchen, bei T rechtwinkeligen Dreiecke die bei-
den Seiten VT und TS, oder auch der Winkel V und eine jener
beiden Seiten, gegeben iſt, die Seite VS oder die Länge der Sonne,
mittelſt der ſphäriſchen Trigonometrie, durch eine einfache Rech-
nung leicht finden kann.


Die nun folgende Tafel enthält für jeden zehnten Tag des
Jahres, für den Mittag deſſelben in Wien, in der zweiten Co-
lumne die Länge, in der dritten die Deklination und in den bei-
den letzten die Rectaſcenſion, die letzte in Graden und Zehntheilen
derſelben, und dann auch in Stunden und Minuten ausgedrückt,
wo 15 Grade auf eine Stunde gehen. Diejenigen Tage des
Jahres, wo die Sonne unter dem Aequator oder in der ſüdlichen
Hemiſphäre (Einl. §. 12) iſt, haben eine ſüdliche Deklination (Einl.
§. 13) und ſind daher mit einem Striche bezeichnet. Aus dieſer
Tafel findet man die Länge, Deklination und Rectaſcenſion der
Sonne für jeden, in derſelben nicht unmittelbar angegebenen Tag
leicht durch eine einfache Proportion. Sucht man z. B. die Länge
der Sonne für den Mittag des 4. Januars, ſo hat man, da die
Differenz der Tafel für den 1. und 11. Januar 10°,3 beträgt,


[126]Jährliche Bewegung der Sonne.
  • T T
  • 10 : 3 = 10°,3 : X

woraus folgt X = 3°,09


  • 1. Jan. . . 280,3
  • 4. Jan. . . 283°,39 geſuchte Länge.

Eben ſo findet man für denſelben Mittag die Deklination der
Sonne 22°,74 ſüdlich und die Rectaſcenſion 284°,5 oder in Zeit
18h 58′,2.


Man wird dieſe Tafel zur Orientirung des Globus (Einl. §. 30.
III und §. 31) ſtatt des dort erwähnten Verzeichniſſes der Sonnen-
orte auf dem Horizontalkreiſe des Fußgeſtells und auch in der
Folge noch zu mehreren anderen Zwecken mit Nutzen gebrauchen
können. Hier wollen wir nur bemerken, daß dieſe Tafel, genau
genommen, eigentlich nur für ſolche Jahre, wie 1827, 1831, 1835,
gilt, die unmittelbar vor einem Schaltjahre vorhergehen. Will
man ſie auch für andere Jahre genau haben, ſo wird man Fol-
gendes bemerken:


Für ſolche Jahre, die mitten zwiſchen zwei Schaltjahren lie-
gen, wie 1830, 1834, wird man alle Zahlen der Tafel um 0°,3
vermehren, und z. B. für die Länge des 1. Aprils nicht 10°,9,
ſondern 11°,2 haben.


Für ſolche Jahre, die unmittelbar auf ein Schaltjahr folgen,
wie 1829, 1833, 1837, wird man dieſe Zahlen um 0°,5 vermehren,
und daher für die Länge des 2. März haben 341°,6.


Für Schaltjahre ſelbſt endlich, wie 1832, 1836, wird man die
Zahlen der Tafel in den beiden erſten Monaten des Jahres, im
Januar und Februar, um 0°,3 vermindern und in den zehn fol-
genden Monaten um 0°,8 vermehren, ſo daß man z. B. für die
Länge am 10. Februar hat 320°,6 und für die des 10. Junius
79°,5.


In der letzten Columne, welche die Rectaſcenſion in Zeit an-
gibt, wird man, ſtatt der vorhergehenden Zahlen, 0°,3, 0°,5 und
0°,8 in derſelben Ordnung ſetzen 0h 1′, 0h 2′ und 0h 3′.


[127]Jährliche Bewegung der Sonne.

Tafel der Sonnenorte für alle Tage des Jahres.


[128]Jährliche Bewegung der Sonne.

Tafel der Sonnenorte für alle Tage des Jahres.


Bemerken wir noch, daß die früheren Aſtronomen den Kreis,
welchen die Sonne am Himmel beſchreibt, nicht in 360 Grade, wie
alle übrigen Kreiſe, ſondern in zwölf ſogenannte Zeichen getheilt
haben, deren jedes 30 Grade enthielt. Dieſe Zeichen benannten
ſie nach den zwölf Sternbildern, welche den ganzen Umkreis der
Ekliptik einnehmen und die, mit ihren eigenen Charakteren, in der
Ordnung, wie ſie von dem Frühlingspunkte gen Oſt auf einander
folgen, ſind:
[129]Jährliche Bewegung der Sonne.

Man kann ſich die Aufeinanderfolge dieſer Zeichen der Eclip-
tik leicht durch die zwei bekannten Verſe dem Gedächtniſſe ein-
prägen:
Sunt: Aries, Taurus, Gemini, Cancer, Leo, Virgo,
Libraque, Scorpius, Arcitenens, Caper, Amphora, Pisces.


Die Alten drückten die Länge der Sonne und überhaupt aller
Himmelskörper durch dieſe Zeichen ſo aus, daß ſie z. B. die
Länge der Sonne für den 9. Auguſt, die nach der vorhergehenden
Tafel 136 Grade beträgt, durch ♌, 16, das heißt durch den 16ten
Grad des Löwen bezeichneten. Wenn man dieſe Zeichen mit den
Sternbildern der Ecliptik, wie ſie auf dem Globus erſcheint, ver-
gleicht, ſo wird man dieſe Sternbilder alle um ein Zeichen, oder
nahe um 30 Grade weiter gegen Oſten erblicken, ſo daß z. B.
das Sternbild des Widders nicht den Raum des erſten, ſondern
ſchon des zweiten Zeichens, das des Stiers das dritte Zeichen u. ſ. f.
einnimmt, eine ſehr merkwürdige Veränderung, auf welche wir
ſpäter wieder zurückkommen werden.


Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 9
[[130]]

KapitelIV.
Jährliche Bewegung der Erde.


§. 54. (Doppelte Erklärung der jährlichen Bewegung der Sonne.)
Wir haben in dem vorhergehenden Kapitel geſehen, wie man die
Bahn der Sonne und die Bewegung derſelben um die Erde be-
ſtimmen könne. Dabei ſcheint es ſich nun gleichſam von ſelbſt zu
verſtehen, daß dieſe Sonne ſich auch in der That um unſere Erde
bewege, und daß wir nicht ſo umſtändlich uns über eine Erſchei-
nung verbreiten werden, die am Ende etwa wieder mit einer blo-
ßen Täuſchung endet, wie wir dieß ſchon bei der täglichen Bewe-
gung des ganzen Himmels erfahren haben, den wir nun in ſeiner
Ruhe nicht weiter ſtören und dafür die unendlich kleine Erde
ſich täglich um ihre Axe drehen laſſen, wodurch, wie wir geſehen
haben, dieſe Erſcheinung der täglichen Bewegung des Himmels
eben ſo vollſtändig und genügend dargeſtellt wird.


Daſſelbe hat aber auch in Beziehung auf die jährliche Be-
wegung der Sonne um die Erde ſtatt. Alle die Erſcheinungen,
die wir im dritten Kapitel unter der Vorausſetzung betrachtet ha-
ben, daß die Sonne in der Ebene der Ecliptik jährlich ihren Kreis-
lauf um die im Mittelpunkte dieſes Kreiſes ruhende Erde vollende,
werden ſich genau eben ſo unſerem Auge unter der ganz entgegen-
geſetzten Vorausſetzung darſtellen, daß die Erde in demſelben
Kreiſe, den wir zuvor der Sonne angewieſen haben, ſich jährlich
um die in dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes ruhende Sonne be-
wegt. Auch hier, wie dort bei der täglichen Bewegung des Him-
[131]Jährliche Bewegung der Erde.
mels, kann in der äußern Erſcheinung ſelbſt nichts gefunden wer-
den, was uns für die Annahme der einen oder der andern dieſer
beiden Hypotheſen vorzugsweiſe beſtimmen könnte, und es muß
daher wieder anderen, inneren Gründen überlaſſen bleiben, zu ent-
ſcheiden, welche von den beiden Vorausſetzungen die wahre iſt.


Die Fixſterne, mit welchen wir oben die Bewegung der Sonne
verglichen haben, um daraus die Bahn der letztern abzuleiten,
dienen uns, als die einzigen fixen Punkte des Himmels, die wir
kennen, gleichſam nur als Gränzſteine, mit welchen wir die Sonne,
den Mond und andere uns nähere und daher auch näher ange-
bende Himmelskörper zu vergleichen, und durch welche wir, als
durch bekannte und unveränderliche Punkte, die Orte dieſer Him-
melskörper zu beſtimmen pflegen. Wir denken uns in der Mitte
dieſer großen Rotunde, auf deren Gewölbe die Sterne befeſtigt
ſind, und ſehen in einiger Entfernung von uns einen Körper, die
Sonne, der den links oder öſtlich von ihm ſtehenden Sternen im-
mer näher rückt und einen nach dem andern auf ſeinem Wege
mit dem Lichte bedeckt, das er nach allen Seiten ausſtrahlt.
Allein ganz daſſelbe werden wir auch zu ſehen glauben, wenn
dieſer leuchtende Körper ſelbſt im Mittelpunkte jener Rotunde
ruhte und wir, oder unſere Erde dafür in derſelben öſtlichen
Richtung um ihn liefe. Der Punkt der Rotunde, den uns die
Sonne verdeckt, wird eben ſo, wie dort, nach der linken Seite
laufen, die Sonne wird auch hier den von ihr öſtlich liegenden
Fixſternen immer näher rücken und die ganze Erſcheinung wird die-
ſelbe ſeyn. Wenn man in der Mitte eines großen runden Saa-
les ein Licht auf den Tiſch ſtellt und nahe um dieſen Tiſch herum
geht, ſo wird man das Licht ganz auf dieſelbe Art an der Wand
herum rücken ſehen, als wenn man ſelbſt in der Mitte des Saa-
les ſtill ſteht und das Licht in derſelben Nähe und in derſelben
Richtung um ſich herum tragen läßt.


Denken wir uns die Erde S (Fig. 8) im Mittelpunkte des
geſtirnten Himmels und laſſen wir um ſie die Sonne ſich jährlich
in dem Kreiſe a b c d in der Richtung von a nach b bewegen.
Die Sonne ſey


9 *
[132]Jährliche Bewegung der Erde.
  • in dem Punkte a im Anfange des Frühlings am 21. März
  • — — b — — — Sommers — 21. Junius
  • — — c — — — Herbſtes — 22. September
  • — — d — — — Winters — 21. December,

ſo wird alſo die Sonne, von der Erde S aus geſehen, im Anfange
dieſer vier Jahreszeiten


  • im Frühling in der Linie Sa oder im Widder
  • — Sommer — — Sb — Krebs
  • — Herbſt — — Sc — Wage
  • — Winter — — Sd — Steindock

erſcheinen, und ſo im Laufe des Jahres alle Sternbilder der Eclip-
tik, in der oben (§. 53) angeführten Ordnung, oder von Weſt gen
Oſt, zurückzulegen ſcheinen.


Nehmen wir im Gegentheile an, daß S die Sonne bezeichne,
die im Mittelpunkte des Kreiſes abcd ruht, den die Erde jährlich
um ſie in derſelben Richtung beſchreibt, ſo daß die Erde im An-
fange der vier Jahreszeiten diejenigen Punkte der Ecliptik ein-
nehme, die der Sonne, in der vorhergehenden Annahme, gegenüber
ſtehen, ſo wird die Erde ſeyn


  • in dem Punkte c im Anfange des Frühlings, am 21. März
  • — — d — — — Sommers — 21. Junius
  • — — a — — — Herbſtes — 22. Sept.
  • — — b — — — Winters — 21. December

und man wird daher die Sonne S, von der Erde aus geſehen, im
Anfange dieſer vier Jahreszeiten, im Frühlinge in der Linie cSa
oder im Widder, im Sommer in der Linie dSb oder im Krebs
u. ſ. f., kurz wieder in denſelben Sternbildern, wie zuvor erblicken,
ſo daß alſo, wie geſagt, die Erſcheinung der jährlichen Bewegung
der Sonne um die ruhende Erde ganz eben ſo gut durch eine Be-
wegung der Erde um die ruhende Sonne dargeſtellt werden kann.


Welche dieſer beiden Vorausſetzungen iſt nun die wahre? —
Wir wollen die Gründe für und wider abwägen und zuſehen,
welche von beiden den Ausſchlag geben.


§. 55. (Die Sonne, als vorzüglichſter Körper des Planeten-
ſyſtems, ſteht in der Mitte deſſelben.) Die Sonne iſt bekanntlich
die Quelle des Lichts und der Wärme, nicht bloß für unſere Erde,
ſondern noch für eine ſehr große Anzahl anderer unſerer Erde
[133]Jährliche Bewegung der Erde.
ähnlichen Himmelskörper, der Planeten und Kometen, alſo auch
wohl, wenigſtens höchſt wahrſcheinlich, die Quelle aller der man-
nigfaltigen Bewegungen, welche wir an dieſen Himmelskörpern
bemerken. Um dieſe letzten für die zahlloſen Wohlthaten, welche
ſie von der Sonne erhalten, am meiſten fähig und empfänglich
zu machen, wird es wohl am angemeſſenſten ſeyn, den Thron der
Sonne in der Mitte aller anderen Bahnen, alſo auch in der Mitte
der Erdbahn zu errichten, damit alle übrigen Körper ihres Syſte-
mes von ihren Strahlen gleichförmig erleuchtet und erwärmt
werden können. Aber Gründe dieſer Art gehören mehr der Imagi-
nation, als dem Verſtande, mehr der Dichtkunſt, als der Mathe-
matik an. Sie ſind, wie ſo manche andere, aus dem Gebiete der
Metaphyſik, auf eine vielleicht nur eingebildete Harmonie des
Weltalls gebaut, die zu ergründen dem menſchlichen Geiſte wahr-
ſcheinlich immer unmöglich bleiben wird. Wenn wir uns der
Wahrheit mit ſicheren Schritten nähern wollen, ſo müſſen wir
jene Abwege, die ſchon oft genug irre geführt haben, vermeiden
und uns nur an ſolche Gründe halten, die entweder aus bloßen
Beobachtungen hervorgehen, oder die ein unmittelbares Re-
ſultat der Rechnung ſind, da dieſe beiden die zwei einzigen
ſicheren Grundlagen aller menſchlichen Erkenntniſſe ſind.


§. 56. (Die Erde bewegt ſich um die viel größere Sonne.) Et-
was beſſer werden wir verfahren, wenn wir auf die bereits be-
kannte Größe der zwei Körper, um die es ſich hier handelt, Rück-
ſicht nehmen. Die Sonne aber iſt, wie wir geſehen haben, eine
Kugel von ſo ungeheurer Größe, daß man daraus nahe eine und
eine halbe Million ſolcher Kugeln, wie unſere Erde iſt, machen
könnte. Welches mächtige, uns unſichtbare Band nun auch dieſe
beiden Körper an einander knüpfen, welche Kraft den einen der-
ſelben um den anderen führen mag, iſt es nicht, auf den erſten
Blick ſchon, unendlich wahrſcheinlicher, daß dieſe Kraft in dem
größeren wohnen, daß alſo der kleinere Körper ſich um den ſo
vielmal größeren, nicht aber dieſer um jenen ſich bewegen werde?
Wenn wir zwei Steine von ſehr verſchiedenem Gewichte an die bei-
den Enden einer Schnur befeſtigen und ſie ſo verbunden in die
Luft ſchleudern, ſo werden ſich, nach den erſten Geſetzen der Me-
chanik beide Körper des Syſtems um ihren gemeinſchaftlichen
[134]Jährliche Bewegung der Erde.
Schwerpunkt drehen, und wenn der eine dieſer Steine von nahe
gleichem ſpecifiſchem Gewichte 1 ½ Millionenmal größer iſt, als
der andere, ſo wird jener gemeinſchaftliche Schwerpunkt des Sy-
ſtems ſo nahe bei dem Mittelpunkte des größeren Stemes liegen,
daß er beinahe mit dieſem Mittelpunkte zuſammenfallen, alſo nahe
in der Mitte des größeren Steines liegen wird. Die Folge da-
von wird ſeyn, daß der kleinere Stein ſich um den großen bewe-
gen, und daß dieſer große ſeinen Ort nur unmerklich verändern
oder nur ſehr kleine Bewegungen um jenen gemeinſchaftlichen
Schwerpunkt, der zugleich ſehr nahe mit dem Schwerpunkte des
größeren Körpers zuſammenfällt, haben wird. Daſſelbe wird alſo
auch der Fall mit jenen zwei Körpern des Himmels ſeyn, die
eben ſo ſehr an Größe unter ſich verſchieden ſind, wenn ſie ſich
frei und ohne fremde Einwirkung anderer Körper im Weltraume
bewegen.


§. 57. (Analogie der Erde mit den übrigen Planeten.) Wir
haben ſchon öfters der Planeten erwähnt, dieſer Himmelskörper,
die, wie die Fernröhre zeigen, uns viel näher ſind, als die Fir-
ſterne. Sie erſcheinen uns in der Geſtalt von kleineren oder grö-
ßeren runden Scheiben, während die unendlich weiter entfernten,
obſchon vielleicht an ſich viel größeren Fixſterne, wegen ihrer gro-
ßen Entfernung, nur als untheilbare Punkte geſehen werden. Sie
kommen uns öfters ſo nahe, daß der Durchmeſſer dieſer ihrer Schei-
ben, wie bei der Venus ſiebenmal, bei Mars neunmal, größer
erſcheint, als zu anderen Zeiten, und daß ſie ähnliche Lichtphaſen,
wie die des Mondes im zu- und abnehmenden Lichte, zeigen. Sie
ſcheinen alſo recht eigentlich uns, unſerem Sonnenſyſteme, anzuge-
hören, wie unſere Erde ſelbſt und daher auch in dieſer Beziehung
mit der Erde verwandte Himmelskörper zu ſeyn. Wenn man aber
ihre Bewegungen, wie ſie von der Erde geſehen werden, unter den
fixen Sternen des Himmels einige Zeit verfolgt, ſo bemerkt man
bald, daß die Bahnen derſelben äußerſt unregelmäßig und beinahe
keinem Geſetze unterworfen ſind. Die Sonne bewegt ſich, wie die
Tafel des § 53 zeigt, während ihres ſcheinbaren jährlichen Laufes,
ſehr regelmäßig, und daſſelbe bemerkt man auch bei dem Monde,
der täglich nahe um dreizehn Grade öſtlich gegen die Fixſterne
fortſchreitet. Nicht ſo die Planeten. Dieſe zeigen nicht nur ſehr
[135]Jährliche Bewegung der Erde.
auffallende Aenderungen ihrer Geſchwindigkeiten, ſondern ſie ſtehen
oft längere Zeit ganz unbeweglich bei einem Sterne und bewegen
ſich bald gen Oſten, bald auch, in verkehrter Richtung, gegen
Weſten. Verfolgt man ſie einige Monate, ſo findet man, daß ihr
Weg am Himmel, wie er von der Erde geſehen wird, eine äußerſt
verwickelte krumme Linie iſt, die aus mehreren Knoten und Schlin-
gen beſteht und in keinem ihrer Theile auch nur die kleinſte Spur
von Ordnung und Regelmäßigkeit zeigt. Noch verwickelter er-
ſcheinen die Bahnen der Kometen, wie man auf den älteren Ho-
mann’ſchen Himmelskarten ſieht, wo mehrere derſelben verzeich-
net ſind.


Die Alten haben ſich lange gequält, dieſe Sonderbarkeiten
zu erklären, und ſie ſind dabei auf eben ſo wunderliche, als auch
in der That ſinnreiche Mittel verfallen, die aber nicht zu dem
gewünſchten Zwecke führten, wie wir ſpäter ſehen werden. Coper-
nicus war der erſte, der lebhaft fühlte, daß dieſe ſo wunderlich
verſchlungenen Linien nicht die wahren Bahnen der Planeten ſeyn
können und der, von dieſem Gefühle gedrängt, den wahren und
einzig möglichen Weg einſchlug, dieſen empörenden und ſo lange
unerklärbaren Unregelmäßigkeiten dadurch ein Ende zu machen,
daß er ſuchte, wie die Bahnen der Planeten, die aus der Erde ge-
ſehen, ſo ungemein verwickelt erſcheinen, aus dem Mittelpunkte
der Sonne geſehen werden. Er fand, daß, von dieſem Stand-
punkte aus, alle jene Unregelmäßigkeiten, wie ein gelöster Zauber,
verſchwinden, und daß dieſe früher ſo complicirten Bewegungen
ganz eben ſo einfach und regelmäßig werden, wie die, welche wir
bei der Sonne und dem Monde bemerken. Jene ſonderbaren Kno-
ten lößten ſich ſofort von ſelbſt auf und die Stillſtände, ſo wie
die rückgängigen Bewegungen erſchienen nur als optiſche Täuſchun-
gen, die bloß daher kommen, weil wir dieſe Planeten nicht aus der
Sonne, als aus dem fixen Mittelpunkte ihrer Bewegungen, ſon-
dern weil wir ſie aus der Erde, aus der ſich ſelbſt um die Sonne
bewegenden Erde, alſo aus einem Standpunkte betrachten, der
ſeinen Ort im Weltraume ſelbſt mit jedem Tage ändert. Die
einfache und ſo lange verborgene Idee, daß alle Planeten, alſo
auch die Erde, Kreiſe von beſtimmten Halbmeſſern beſchreiben, in
deren gemeinſchaftlichem Mittelpunkte die Sonne ruht, dieſe Idee
[136]Jährliche Bewegung der Erde.
löste mit eins, wie wir weiter unten noch näher ſehen werden,
alle die großen Schwierigkeiten, die den ſcharfſinnigſten Aſtrono-
men des Alterthums unüberſteiglich ſchienen; ſie verwandelte eine
unerklärbare Unordnung und Geſetzloſigkeit in die ſchönſte, ein-
fachſte Harmonie und ſchuf, gleich einem Blitze, die dunkelſte Nacht
zum hellſten Tage um. Dieſe Idee war es, wodurch uns Coper-
nicus die wahre Anordnung des Weltſyſtems offenbarte, und wo-
durch er der Vater der neuen Aſtronomie geworden iſt. Wer von
uns könnte, wenn er anders noch Sinn für verſtändige Klarheit
und Ordnung hat, der Kraft eines ſolchen Beweiſes ſich noch län-
ger entziehen? Welche Complicationen in den Bewegungen aller
anderen Planeten, wenn wir die Erde nicht auch, gleich jenen, ſich
um die Sonne bewegen laſſen! Welche entſetzliche Geſchwindigkeit
müßte man bei den entfernteren Planeten vorausſetzen, um ſie alle
Jahre ihren großen Kreis um die ruhende Erde vollenden zu laſ-
fen. Uranus z. B. iſt neunzehnmal weiter, als die Sonne, von
uns entfernt und er müßte daher, um die Peripherie ſeiner Bahn
von 2500 Millionen d. M. jährlich zu vollenden, jeden Tag ſieben
Millionen Meilen zurücklegen.


Wir haben bereits oben geſehen, daß man die Erde nicht als
einen iſolirten, für ſich beſtehenden Körper, deſſen Gleichen nicht
mehr in der Natur zu finden iſt, ſondern daß man ſie im Chor der
anderen Erden unſeres Sonnenſyſtems, als ein Glied der ganzen,
großen Planetenfamilie betrachten müſſe, denen ſie in ſo vielen
Beziehungen ganz ähnlich iſt. So wie Jupiter, unſeren Beobach-
tungen zu Folge, in jedem ſeiner Tage ſich um ſich ſelbſt und in
jedem ſeiner Jahre, in der Begleitung ſeiner vier Monden, ſich
um die Sonne bewegt, ſo dreht auch unſere Erde ſich täglich um
ihre Axe, ſo bewegt auch ſie ſich, in Begleitung ihres Mondes,
jährlich um die Sonne. Ein Beobachter auf Jupiters Oberfläche
würde wohl eben ſo, wenn er bloß dem erſten Eindrucke ſeiner
Sinne folgt, das ganze Planetenſyſtem und die Sonne ſelbſt, um
ſich, als um den Mittelpunkt aller jener Bahnen, in Bewegung
glauben und ſeine beinahe 1300mal größere Erde würde dieſe
Täuſchung noch beträchtlich vermehren.


§. 58. (Das bekannte Kepler’ſche Geſetz der Planeten gilt auch
für die Erde). Aus der Sonne geſehen, würden uns alle Pla-
[137]Jährliche Bewegung der Erde.
neten einfache Kreiſe, deren gemeinſchaftlicher Mittelpunkt in dem
der Sonne liegt, zu beſchreiben ſcheinen. Die Ebene dieſer
Kreiſe liegen alle in geringen Entfernungen um die Ecliptik,
d. h. um die Bahn der Erde, die alſo mitten unter den Bahnen
aller übrigen angetroffen wird. Die Bewegungen jener Planeten
in ihren Kreiſen gehen alle in der Richtung von Weſt gen Oſt
vor ſich, und eben dieſelbe Richtung muß auch die Bewegung
der Erde haben, wenn die in §. 54 erwähnten Erſcheinungen
Statt haben ſollen. Schon dieſe beiden Analogien machen die
jährliche Bewegung der Erde um die ruhende Sonne ſehr wahr-
ſcheinlich, aber dieſe Wahrſcheinlichkeit wird noch ſehr vermehrt,
wenn man auf das bekannte Geſetz Rückſicht nimmt, welches
zwiſchen den Umlaufszeiten der Planeten und zwiſchen den Halb-
meſſern der von ihnen beſchriebenen Kreiſe beſteht. Nach dieſem,
von Kepler entdeckten, Geſetze verhalten ſich bei den Planeten
die Quadrate der Umlaufszeiten, wie die Würfel der Halbmeſſer
ihrer Bahnen. Wenn daher daſſelbe Verhältniß, welches bei
allen Planeten ſtatt hat, auch zwiſchen der Erde und einem jener
Planeten beſteht, ſo folgt daraus, daß auch dieſe Erde für
einen Planeten gehalten werden ſoll. Nun kennen wir z. B.
für Jupiter die Umlaufszeit 4.331.974 Tage, und den Halb-
meſſer ſeiner Bahn 109.214.000 d. Meilen. Für die Erde aber
iſt, den Beobachtungen zu Folge, ihre mittlere Entfernung von
der Sonne gleich 21.000.000 Meilen. Nennt man daher T die
Umlaufszeit der Erde, ſo muß, in Folge jenes Geſetzes, das Qua-
drat des Bruches gleich ſeyn dem Würfel des Bru-
ches . Allein der Würfel des letzten Bruches iſt 0,00710924,
und von dieſer Zahl die Quadratwurzel 0,0843163. Multiplicirt
man daher die letzte Zahl durch 4.331.974, ſo erhält man für
die geſuchte Umlaufszeit der Erde T = 365,256 Tage, vollkom-
men mit der wahren Länge des Jahres, wie ſie die Beobach-
tungen geben, übereinſtimmend. Zwar haben wir oben (§. 50)
dieſe Länge des Jahres um nahe den hundertſten Theil eines
Tages kleiner gefunden, allein unſer bürgerliches Jahr bezieht
[138]Jährliche Bewegung der Erde.
ſich auf den Frühlingspunkt, und da derſelbe, wie wir ſpäter
ſehen werden, ſelbſt etwas veränderlich iſt, ſo muß auch das bür-
gerliche Jahr der Erde von dem wahren oder von der in der
That Statt habenden Umlaufszeit der Erde um die Sonne etwas
verſchieden ſeyn.


Da alſo jenem Geſetze, dem alle Planeten gehorchen, auch
die Erde unterworfen iſt, ſo werden wir auch annehmen müſſen,
daß die Erde ſelbſt ein Planet iſt, und ſich, wie alle übrigen,
um die Sonne bewegt. Dieſelbe Centralkraft der Sonne, welche
die Planeten in ihren Bahnen zurückhält, und welche die den
Planeten eigenthümliche, aus ihrer Bewegung entſpringende Cen-
trifugalkraft aufwiegt, wie ſollte ſie nicht auch auf die Erde wir-
ken, und wie ſollte dann die Erde dieſer Wirkung der Central-
kraft der Sonne widerſtehen, wenn nicht auch ſie mit einer Cen-
trifugalkraft, d. h. wenn nicht auch ſie mit einer Bewegung um
die Sonne begabt wäre?


§. 59. (Die jährliche Bewegung der Erde iſt eine Folge der
täglichen). Wenn wir ferner die tägliche Rotation der Erde als
bewieſen vorausſetzen, wie wir dieſes nach dem Vorhergehenden
zu thun wohl berechtigt ſind, und wenn wir dann die Urſache
aufſuchen, welche dieſer Rotation ihre Entſtehung gegeben hat,
ſo können wir ſie nur in einem augenblicklichen Stoße finden,
den die Erde im Augenblicke ihrer Entſtehung durch eine äußere
Kraft erhalten hat, und der z. B. von der Anziehung irgend
eines Körpers außer ihr entſtanden ſeyn kann. Wenn die Rich-
tung dieſes Stoßes nicht genau durch den Mittelpunkt der Erde
gegangen iſt, — und wie unwahrſcheinlich wäre dieſe Annahme unter
den unzähligen andern möglichen Fällen — ſo mußte dadurch die
Erde, gleich einem Kreiſel, eine Rotation erhalten, die deſto
ſchneller ſeyn müßte, je größer jener urſprüngliche Stoß, und je
weiter ſeine Richtung von dem Mittelpunkte der Erde entfernt
geweſen iſt. Allein jeder ſolche Stoß, der eine Rotation der
Erde hervorbringt, mußte auch zugleich eine fortſchreitende Be-
wegung ihres Mittelpunkts erzeugen. Wir wiſſen aus Erfah-
rung, wie ſchwer es iſt, uns ſelbſt oder einen andern Körper um
eine Axe zu drehen, ohne ihn zugleich aus ſeiner Stelle zu rücken,
und man ſieht leicht, daß dieſes eigentlich ganz unmöglich iſt,
[139]Jährliche Bewegung der Erde.
wenn der Körper nicht auf irgend eine Weiſe an ſeiner Stelle
feſtgehalten wird. Da aber die Erde, ſo viel wir wiſſen, durch
keine äußere Kraft an ihre Stelle im Weltraume feſtgehalten
wird, ſo iſt ſchon die bloße Exiſtenz ihrer Rotation zugleich ein
Beweis für die progreſſive Bewegung derſelben.


Uebrigens iſt dieſe jährliche Bewegung der Erde viel ſchneller,
als die tägliche. Vermöge der letztern beſchreibt jeder Punkt der
Oberfläche des Aequators, während ſeiner Rotation um die Axe,
in einer Secunde nur 0,0626 einer d. Meile, oder 1.430 Par. Fuß,
während jeder Punkt der Erde, in ihrer jährlichen Bewegung um
die Sonne, während einer Secunde nahe 4 d. Meilen zurücklegt,
ſo daß alſo die letzte Geſchwindigkeit gegen 64mal größer iſt, als
die erſte. Während wir alſo die wenigen Zeilen dieſes letzten Abſatzes
geleſen haben, ſind wir ſchon über 20 Meilen im Raume fortge-
rückt. Könnten wir in irgend einem Fahrzeuge mit derſelben
Geſchwindigkeit, welche die Erde in ihrer Bahn hat, auf der
Oberfläche der Erde uns bewegen, ſo würden wir eine ſogenannte
Reiſe um die Welt, oder den Umkreis der Erde von 5.400 Mei-
len, ſchon in 22½ Minuten zurücklegen, wozu Capitän Cook 3
Jahre und 14 Tage brauchte. Ohne die Umwege und Abhaltun-
gen aller Art, denen eine ſolche Reiſe gewöhnlich ausgeſetzt iſt,
würde ein Schiff, das in jeder Secunde 10 Fuß zurücklegt, und
daher unabläßig fortſegelt, was vielleicht um die Hälfte zu viel
iſt, jene Reiſe um die Welt doch erſt in 142 Tagen 18 Stunden,
alſo in mehr als 4½ Monaten, vollenden.


Obſchon wir alſo, nach allem Vorhergehenden, die Voraus-
ſetzung der jährlichen Bewegung der Erde um die Sonne als
höchſt wahrſcheinlich, wenn nicht als unzweifelhaft, annehmen
dürfen, ſo müſſen wir doch auch geſtehen, daß die Gründe, welche
wir bisher für die Exiſtenz dieſer Bewegung vorgetragen haben,
ſo großen Gewichtes ſie auch an ſich ſeyn mögen, doch ſämmtlich
nur äußere oder aus der Analogie mit andern Weltkörpern ent-
lehnte Gründe ſind, und daß es daher noch immer wünſchens-
werth bleibt, auch innere, von der Erde ſelbſt genommene, Be-
weiſe für dieſe Bewegung derſelben aufzufinden. So hatten wir
oben, für die tägliche Rotation der Erde, ſehr deutliche Spuren
an ihr ſelbſt gefunden, nämlich an ihrer Abplattung bei den Po-
[140]Jährliche Bewegung der Erde.
len, an der öſtlichen Abweichung frei fallender Körper, an der
Aenderung der Pendellänge u. ſ. w. Sollten ſich nun nicht auch
von der jährlichen Bewegung der Erde ähnliche Zeugniſſe auf
ihr ſelbſt
finden laſſen, beſonders da, wie wir ſo eben geſehen
haben, dieſe Bewegung ſo viel ſchneller iſt, als jene?


Dieſer Wunſch wird allerdings ſchwer zu befriedigen ſeyn,
da beide Bewegungen, in Beziehung auf dieſen unſern Zweck, ſo
ſehr von einander verſchieden ſind. Denn bei der täglichen Ro-
tation bewegen ſich verſchiedene Punkte der Erdfläche ebenfalls
mit ſehr verſchiedenen Geſchwindigkeiten, der Aequator am ſchnell-
ſten, die kleineren Parallelkreiſe immer langſamer, und die
beiden Pole endlich gar nicht. Eben dieſe Verſchiedenheiten bo-
ten uns aber zugleich die Merkmale dar, an welchen wir jene
Rotation ſelbſt erkennen konnten. Bei der jährlichen Bewegung
aber verhält ſich die Sache nicht mehr ſo, da hier alle, ſelbſt
die inneren Theile der Erde, mit gleicher Geſchwindigkeit und
in derſelben Richtung fortgeführt werden, daher denn auch
dieſe Bewegung durch eine bloße Vergleichung der einzelnen
Theile der Erde nicht weiter erkannt werden kann.


Sollte ſie aber, wenn auch nicht mehr an der Erde ſelbſt,
doch wenigſtens an den Gegenſtänden außer ihr bemerkbar ſeyn,
und da Spuren zurücklaſſen, welche von ihrer eigenen Bewegung
zeugen? — Die beiden folgenden Kapitel werden uns Gelegen-
heit geben, dieſe Frage näher zu unterſuchen.


[[141]]

KapitelV.
Parallaxen und Entfernungen der Geſtirne
von der Erde.


§. 60. (Scheinbare Bewegung der Gegenſtände). Wenn man
ſich in einer mit Bäumen oder Gebäuden beſetzten, und in weiter
Ferne mit Bergen begränzten Ebene nach irgend einer Richtung
vorwärts bewegt, ſo ſcheinen ſich die uns näheren Bäume, in
Beziehung auf jene fernen Berge, rückwärts zu bewegen, oder ſie
ſcheinen ſüdlich hinter uns zu rücken, wenn wir ſelbſt gegen Nor-
den gehen, und dieſe ſüdliche Bewegung der uns zu beiden Sei-
ten umgebenden Gegenſtände erſcheint deſto ſchneller, je näher ſie
uns ſtehen, während jene fernen Berge zwar auch, aber nur ſehr
langſam, gegen Süden zurückgehen, und wir ſelbſt ſchon einen
beträchtlichen Weg gegen Norden gemacht haben müſſen, um zu
bemerken, daß einer dieſer Berge, der z. B. im Anfange unſerer
Reiſe genau im Oſt- oder Weſtpunkte ſtand, nun auch etwas
gegen Süd zurückgegangen iſt. Eben ſo werden uns diejenigen
Bäume, die vor uns gegen Norden ſtehen, immer weiter ausein-
ander zu rücken ſcheinen, je weiter wir ſelbſt gen Norden vorgehen,
oder je näher wir ihnen kommen, während im Gegentheile die-
jenigen, die hinter uns im Süden ſtehen, immer näher an ein-
ander rücken werden, je weiter wir uns von ihnen entfernen.
Aus dieſer Urſache erſcheinen uns die zwei Reihen einer Allee,
obſchon ſie einander ganz parallel ſind, doch immer deſto näher
[142]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
an einander zu rücken, je weiter ſie von uns, wenn wir dieſe Allee
betreten, entfernt ſind. Dieſe Erfahrungen ſind zu bekannt, als
daß wir uns hier länger dabei aufhalten ſollten.


Daſſelbe, was hier von den Bäumen einer Gegend geſagt
wurde, muß nun auch von den Sternen des Himmels gelten,
wenn ſie anders nicht etwa ſo weit von uns entfernt ſind, daß
alle Veränderungen unſeres Ortes, daß alle Wege, die wir auf
oder auch mit der Erde machen können, gegen diejenigen Ab-
ſtände, welche uns von den Geſtirnen trennen, für nichts zu
achten ſeyn ſollten, wo wir dann die Verrückung dieſer Geſtirne
eben ſo wenig bemerken würden, als wir z. B. die Verrückung
eines mehrere Meilen von uns entfernten Berges bemerken,
wenn wir ihn aus einem oder aus dem andern Fenſter unſerer
Stube betrachten. In der That haben wir auch bereits (§. 57)
geſehen, daß ſich dieſe Veränderung bei den Planeten zeige, und
wir haben eben daraus eine beinahe an völlige Ueberzeugung
gränzende Wahrſcheinlichkeit der Bewegung der Erde abgeleitet.
Allein ſollte ſich dieſe Bewegung nicht eben ſo gut auch an den
Fixſternen zeigen?


§. 61. (Tägliche Parallaxe der Geſtirne). Sey C (Fig. 11)
der Mittelpunkt der Erde, deſſen höchſten Punkt A der Beobach-
ter einnimmt, der den Mond L eben aufgehen ſieht, ſo daß alſo
die Gerade L A den Horizont des Beobachters bezeichnet und da-
her der Winkel L A C ein rechter Winkel iſt. Verlängert man
die Geſichtslinie A L des Beobachters bis an die hier als unend-
lich weit vorausgeſetzte Sphäre des Himmels, ſo wird der Beob-
achter A den Mond L bei dem Stern a erblicken, während ein
Auge im Mittelpunkte C der Erde den Mond in der Geraden
C L oder bei dem Stern c ſehen würde. Der Winkel, welchen
dieſe beiden Linien A a und C c in dem Punkte L bilden, heißt die
Horizontalparallaxe des Mondes, und da, unſerer Voraus-
ſetzung gemäß, die Linie L a gegen L A als unendlich groß ange-
nommen wird, ſo kann man den Mittelpunkt des Kreisbogens
a c eben ſo gut in L als in C, oder auch in A annehmen, ſo
daß alſo dieſer Bogen a c als das Maß jenes Winkels a L c =
A L C angeſehen werden darf, oder daß man ſagen kann, die
Horizontalparallaxe des Mondes ſey der Bogen a c, an deſſen
[143]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
Endpunkte der Mond von einem Beobachter im Mittelpunkte C
der Erde, und von einem andern A auf der Oberfläche derſelben
geſehen wird, für welchen letzteren der Mond eben in ſeinem
Horizonte ſtebt.


Da dieſer Winkel A L C durch den Halbmeſſer A C der Erde
begränzt wird, der auf der Seite A L ſenkrecht ſteht, ſo kann
man auch ſagen, daß die Horizontalparallaxe des Mondes der-
jenige Winkel iſt, unter welchem einem Auge L in dem Mittel-
punkte des Mondes der auf deſſen Geſichtslinie L A ſenkrecht
ſtehende Halbmeſſer A C der Erde erſcheinen würde. Wir werden
bald ſehen, auf welche Art man dieſe Parallaxe der Geſtirne
durch Beobachtungen beſtimmen, und wie man aus der einmal
bekannten Parallaxe auch die Entfernung, und ſelbſt die
Größe der Geſtirne von der Erde ableiten kann. Da die Meſ-
ſung dieſer Gegenſtände, in ihrer Diſtanz von uns ſowohl, als
auch in ihrer abſoluten Größe dieſer Gegenſtände, zu welchen
man mit keinem Maßſtabe kommen kann, und die ſo weit von
uns abſtehen, ohne Zweifel zu den intereſſanteſten Gegenſtänden
der Aſtronomie gehört, ſo wird es nicht unangemeſſen ſeyn, hier
etwas länger bei ihnen zu verweilen.


§. 62. (Beſtimmung unzugänglicher Punkte und Linien auf
der Oberfläche der Erde). Das Verfahren, deſſen ſich die Aſtro-
nomen bedienen, die Diſtanzen der Geſtirne von der Erde zu fin-
den, iſt daſſelbe, welches unſere Geodäten und Feldmeſſer bei
ihren terreſtriſchen Vermeſſungen anwenden, und beide ſind auf
dieſelben einfachen Sätze der Geometrie gegründet, durch welche
man in einem Dreiecke aus den durch Beobachtung oder unmit-
telbare Meſſung bekannten Seiten und Winkeln die übrigen
Theile des Dreiecks findet.


I. Sey z. B. ein Gegenſtand C (Fig. 6) auf dem Felde
gegeben, zu welchem ein Beobachter, der ſich in der Gegend der
Linie B B' aufhält, nicht kommen kann, weil er etwa durch einen
Fluß oder einen unzugänglichen Sumpf von dem Gegenſtande
getrennt iſt. Wenn er deſſen ungeachtet die Entfernung deſſelben
von ihm beſtimmen will, ſo darf er nur in irgend einem Punkte
D ſeiner Umgegend einen ſenkrechten Stab aufrichten, und dann
auf dem Felde durch dieſen Punkt D eine auf C D ſenkrechte
[144]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
Linie D B von willkürlicher Länge abſtecken. Mißt er dann die
Länge dieſer Linie D B mit dem Maßſtabe oder mit der Meß-
kette, und mißt er noch, an dem Endpunkte B dieſer Linie, mit
irgend einem Winkelmeſſer, den Winkel C B D', welchen der Ge-
genſtand C mit dem Stabe D in dem Auge B des Beobachters
macht, ſo ſind in dem bei D rechtwinkligen Dreiecke die Seite
D B und der Winkel C B D bekannt, woraus ſich dann ſofort,
durch eine ſehr einfache trigonometriſche Rechnung, auch die Seite
D C oder B C, das heißt die geſuchte Entfernung des Gegenſtan-
des C von dem in D aufgeſteckten Stabe oder von dem Beob-
achter in B finden läßt. Es iſt nämlich die Seite D C gleich der
Seite B D, multiplicirt durch die Tangente des Winkels B, und
eben ſo iſt die Seite B C gleich der Seite B D, dividirt durch den
Coſinus des Winkels B (Einl. §. 32). Geſetzt, man hätte die Linie
B D gleich 100 Fuß, und den Winkel D gleich 30 Graden ge-
meſſen, ſo wird man C D = 57,735, und B C = 115,47 Fuß fin-
den. Will man auch dieſe kleinen Rechnungen vermeiden, und
das oben (§. 49. I.) erwähnte graphiſche Verfahren anwenden,
ſo wird man in der Ebene einer Tafel, oder in der des Papiers,
zwei auf einander ſenkrechte Linien errichten, die ſich in einem
Punkte d durchſchneiden. Dann wird man mit einem, in ſehr
kleine Theile getheilten, Maßſtabe auf der einen dieſer ſenkrechten
Linien, von dem Punkte d an, die Länge d b gleich 100 ſolchen
Theilen des Maßſtabes nehmen, und in dem Endpunkte b dieſer
Linie, mit einem ſogenannten Winkelmaße (Transporteur), den
Winkel d b c gleich 30 Graden errichten, deſſen Seite b c die an-
dere der beiden ſenkrechten Linien in dem Punkte c ſchneidet.
Dadurch hat man auf dem Papier ein kleines Dreieck b d c er-
balten, welches dem großen B C D auf dem Felde ganz ähnlich
iſt. Mißt man dann mit dem Maßſtabe die Seite d c und b c
des kleinen Dreiecks, ſo wird man d c = 57,7 und b c = 115,5
Theile des Maßſtabes finden; und da man bereits weiß, daß
dieſe Theile des Stabes auf dem Felde Fuß bedeuten, ſo wird
man ſagen, daß auch in dem großen Dreiecke die Seite D C =
57,7 und B C = 115,5 Fuß betrage. Man ſieht übrigens, daß
es wohl am einfachſten, aber keineswegs nothwendig iſt, für die
erſte Seite b c des kleinen Dreiecks genau eben ſo viele Theile
[145]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
des Maßſtabes zu nehmen, als man auf dem Felde für die Linien
BC Fuß genommen hat. Hätte man z. B. die Seite bd nun gleich
20 Theilen des Maßſtabes genommen, und dann, durch Auftragung
deſſelben Winkels d b c von 30 Graden, das kleine Dreieck b c d
conſtruirt, ſo würde man mit dem Maßſtabe die Seite c d =
11,54 und b c = 23,10 ſolcher Theile gefunden haben. Da man
aber weiß, daß 20 Theile des Stabes 100 Fuß, d. h. daß ein
Theil des Stabes 5 Fuß auf dem Felde bezeichne, ſo wird man
auch dieſe Zahlen 11,54 und 23,10 fünfmal nehmen, um C D =
57,7 und PC = 115,5 Fuß zu erhalten, wie zuvor. Man pflegt
das kleinere Dreieck bcd das verjüngte des großen Dreiecks
BCD zu nennen. Beide Dreiecke haben dieſelben Winkel, aber die
Seiten des verjüngten Dreiecks ſind alle in demſelben Verhältniſſe,
z. B. 100 oder 1000mal kleiner, als die Seiten des geodätiſchen
Dreiecks, deſſen getreue Abbildung, im verjüngten Maßſtabe, das
kleinere Dreieck iſt.


II. Um eben ſo die Höhe der Spitze B eines ſenkrechten
Thurmes AB (Fig. 9) über dem Horizonte AC zu finden, meſſe
man die horizontale Linie A C von dem Fußpunkte A des Thur-
mes bis zu irgend einem willkürlichen Punkte C und in dieſem
letzten Punkte den Winkel ACB. Dann iſt die geſuchte Höhe AB
gleich der gemeſſenen Seite AC, multiplicirt durch die Tangente
des Winkels ACB. Iſt z. B. AC = 50 Fuß und ACB = 80 Grade,
ſo hat man für die geſuchte Höhe AB = 283,56 Fuß, und daſſelbe
wird man auch durch das verjüngte Dreieck abc finden, deſſen
Winkel in a gleich 90 und in c gleich 80 Grade betragen.


Iſt AC = 50 Fuß die Länge des Schattens des von der Sonne
beſchienenen Thurmes AB und beträgt zu derſelben Zeit die Schat-
tenlänge Ca eines 10 Fuß langen und ſenkrecht auf den Horizont
geſtellten Stabes ab 1,763 Fuß, ſo kann das Dreieck abC ſelbſt
als das verjüngte des großen ABC angeſehen werden und da ſich
die Höhe des Thurmes zu der des Stabes verhält, wie der
Schatten des Thurmes zu dem des Stabes, ſo hat man die ein-
fache Proportion
1,763 : 10 = 50 : AB,
woraus für die geſuchte Höhe des Thurmes folgt AB = 283,56 F.,
wie zuvor.


Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 10
[146]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.

Dieß ſetzt voraus, daß man von C bis zu dem Fußpunkte A
des Thurmes kommen kann, um die Länge der Linie AC oder um
den Schatten des Thurmes zu meſſen. Wenn dieß aber nicht an-
geht und der Beobachter z. B. durch einen Fluß von dem Thurme
getrennt iſt, ſo wird er von dem Punkte C aus in der Richtung
nach dem Fußpunkte A eine gerade Linie CD als Baſis und an ihren
beiden Endpunkten C und D die Winkel ACB und ADB meſſen.
Dadurch wird er in den Stand geſetzt, das verjüngte Dreieck bcd
zu conſtruiren und dadurch die Länge der Linie BC zu finden.
Kennt er aber BC und den anliegenden Winkel ACB, ſo wird er
das verjüngte in a rechtwinkelige Dreieck abc conſtruiren und
daraus die Seite ab, alſo auch die geſuchte Höhe AB des Thur-
mes finden.


III. Beſtimmen wir nun noch die horizontale Diſtanz AB
(Fig. 10) der beiden Punkte A und B, zu deren keinem man un-
mittelbar mit dem Maßſtabe gelangen kann.


Zu dieſem Zwecke wird man in derſelben horizontalen Ebene,
in welcher die Linie AB liegt, die Länge irgend einer willkürlichen
Standlinie CD mit einer Meßkette und überdieß, an den beiden
Endpunkten C und D dieſer Baſis, die einen Winkel ACB,BCD
und BDC,ADC mit dem Winkelmeſſer beſtimmen. Dieß voraus-
geſetzt, wird man auf der Ebene des Papiers das verjüngte Dreieck
acd verzeichnen, da man zwei Winkel und die ihnen anliegende
Seite cd kennt. An dieſer Seite cd wird man eben ſo das ver-
jüngte Dreieck bcd verzeichnen, deſſen zwei Winkel mit derſelben
anliegenden Seite cd ebenfalls bekannt ſind. Durch dieſe Con-
ſtruktion der beiden Dreiecke acd und bcd ſind aber auch die bei-
den Punkte a und b in der Ebene der Tafel gegeben, deren Di-
ſtanz ab man daher nur mit dem zur Conſtruktion der Baſis cd
gebrauchten Maßſtabe zu meſſen braucht, um ſofort den geſuchten
Abſtand der beiden Punkte A und B auf dem Felde zu erhalten.


IV. Das Vorhergehende wird mehr als hinreichen, uns von
den Meſſungen der Diſtanzen ſolcher Körper, die uns wegen ihrer zu
großen Diſtanz ganz unzugänglich ſind, einen deutlichen Begriff zu
geben. Wir bemerken nur noch, daß dieſe Beſtimmungen dieſer
Diſtanzen, da ſie nicht durch unmittelbare Meſſungen, ſondern erſt
durch Schlüſſe oder durch Rechnungen oder, was im Grunde daſſelbe
[147]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
iſt, durch graphiſche Verzeichnungen, die auf jene Meſſungen ge-
gründet ſind, erhalten werden, im Allgemeinen deſto genauer ſeyn
müſſen, je zuverläßiger jene vorhergegangenen Meſſungen ſind,
und daß man z. B. in den beiden letzten Aufgaben die Höhe des
Thurmes AB (Fig. 9) oder die Diſtanz der beiden Punkte A und
B (Fig. 10) mit einer um ſo größeren Genauigkeit erhalten wird,
je größer die den beiden erwähnten Verfahren zu Grunde liegende
Baſis CD iſt. Wenn nämlich dieſe Grundlinie CD in Beziehung
auf die Diſtanzen AC, BD ſehr klein iſt, ſo werden auch die an
den Endpunkten C und D gemeſſenen Winkel nur ſehr wenig von
einander verſchieden ſeyn, und dann wird der geringſte, oft ganz
unvermeidliche Fehler, den man entweder in der Meſſung dieſer
Grundlinie oder auch in der Beobachtung jener Winkel begangen
hat, ſchon einen ſehr nachtheiligen Einfluß auf die daraus abge-
leitete Größe AB haben. In der Geodäſie hängt die Wahl der
Lage und der Größe dieſer Standlinie CD meiſtens von uns ab,
nicht ſo aber iſt es in der Aſtronomie, weil es da geſchehen kann,
daß die Diſtanzen der himmliſchen Körper von der Erde ſo un-
gemein groß ſeyn, daß auch die größten Grundlinien, die wir auf
der Erde ſelbſt noch ziehen können, gegen jene Diſtanzen ſehr klein
und beinahe als verſchwindend betrachtet werden müſſen, ſo daß
alſo dieſe Diſtanzen ſelbſt in jenen Fällen nicht mehr mit der hier
wünſchenswerthen Schärfe beſtimmt werden können.


Wir wollen daher ſogleich zu der Anwendung des Vorherge-
henden auf die Körper des Himmels übergehen und zuerſt ſehen,
wie man, wenn die Horizontalparallaxe derſelben (§. 61) als be-
kannt vorausgeſetzt wird, daraus die Entfernung dieſer Körper
von uns oder von dem Mittelpunkte der Erde ableiten kann. Dieß
wird keine weiteren Schwierigkeiten darbieten, da es bloß als eine
Wiederholung des in §. 62. I. Geſagten betrachtet werden kann.
Allein dann wird noch die Frage zu beantworten ſeyn, auf welche
Weiſe man durch aſtronomiſche Beobachtungen zur Kenntniß jener
Parallaxe der Geſtirne kommen kann. Wir wollen dieſe Gegen-
ſtände in den beiden nun folgenden Abſchnitten näher betrachten.


§. 63. (Wie man die Entfernung des Geſtirns aus der be
kannten Parallaxe deſſelben findet.) Man ſieht von ſelbſt, daß,
wenn man durch irgend eine Beobachtung dahin gelangt iſt, die
10 *
[148]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
Parallaxe des Mondes (§. 61) zu finden, man dadurch auch ſchon
die Entfernung deſſelben von dem Mittelpunkte der Erde gefunden
hat. Da man nämlich in dem bei A rechtwinkeligen Dreiecke
ACL (Fig. 11) den Winkel ALC oder die Parallaxe des Mondes
und die Seite AC oder den Halbmeſſer der Erde kennt, der (nach
§. 4) 859,3 d. Meilen beträgt, ſo wird man nur das Dreieck ACL
nach den bekannten Vorſchriften der ebenen Trigonometrie, oder
auch nach dem oben (§. 49. I) vorgetragenen graphiſchen Verfah-
ren auflöſen, um daraus die geſuchte Entfernung LC des Mondes
von dem Mittelpunkte der Erde zu finden. Die erwähnten Be-
obachtungen gaben den Winkel ALC oder die Horizontalparallaxe
des Mondes nahe gleich einem Grade, woraus daher folgt, daß
die Entfernung LC deſſelben von dem Mittelpunkte der Erde
49.236 Meilen beträgt. Man ſieht, daß dieß ganz daſſelbe Ver-
fahren mit dem in §. 62. I. vorgetragenen iſt, wenn nämlich in
dem Dreiecke BCD (Fig. 6) B den Mittelpunkt, BD den Halb-
meſſer der Erde, D den Beobachter und C das Geſtirn, alſo der
Winkel BCD = 90 — CBD die Horizontalparallaxe des Geſtirns
bezeichnet.


§. 64. (Wie die Parallaxe durch Beobachtungen beſtimmt wird.)
Es wird aber leicht ſeyn, ſich mehrere Arten von Beobachtungen
vorzuſtellen, durch die man die Parallaxe des Mondes finden kann.
Sucht man z. B. denjenigen Ort A' der Oberfläche der Erde, der
den Mond L' in demſelben Augenblicke in ſeinem Zenithe (Einl. §. 8),
das heißt, in der Verlängerung ſeines Erdhalbmeſſers CA' ſiebt,
während ein anderer Ort A den Mond in ſeinem Horizonte AL
erblickt, ſo werden ſich zwei Beobachter, die ſich zu dieſem Zwecke
verabredet haben, nach den Punkten A und A' begeben. Mißt
dann jeder von ihnen in dem entſprechenden Augenblicke die Di-
ſtanz Ma und Mc des Mondes von irgend einem benachbarten
Fixſterne M, ſo wird die Differenz ac dieſer ſcheinbaren Diſtanzen
die geſuchte Horizontalparallaxe des Mondes ſeyn.


Da es vielleicht ſchwer ſeyn würde, dieſe beiden Orte der
Erde mit der hier nöthigen Genauigkeit auszuwählen, und da
überhaupt alle Beobachtungen der Geſtirne in der Nähe des Ho-
rizonts ſehr unſicher ſind, wovon wir die Urſache ſpäter ſehen wer-
den, ſo wollen wir die Parallaxe der Geſtirne noch auf eine an-
[149]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
dere Art zu beſtimmen ſuchen. Sey C (Fig. 12) der Mittelpunkt
und N N' der Nord- und Südpol der Erde. Die beiden Be-
obachter A und A' ſollen zu beiden Seiten des Aequators und in
demſelben Meridian NAA' N' liegen, ſo daß daher der Mond L
für beide zu derſelben Zeit culminirt. Nehmen wir an, daß
beide die Zenithdiſtanzen des Mondes zur Zeit ſeiner Culmination
beobachtet haben. Dieſe Zenithdiſtanzen ſind die Winkel LAZ und
LA' Z', welche die Geſichtslinien LA und LA' mit den verlänger-
ten Erdhalbmeſſern CA und CA' bilden. Da dieſe beiden Winkel
durch die unmittelbare Beobachtung der Zenithdiſtanzen des Mon-
des bekannt ſind, ſo ſind alſo auch die beiden an A und A' lie-
genden inneren Winkel des Vierecks LACA' bekannt.


Wenn nun der Mond L in Beziehung auf den Halbmeſſer AC
der Erde unendlich weit entfernt wäre, ſo würde er keine merkbare
Parallaxe haben, oder man würde ihn an demſelben Orte des
Himmels ſehen, man mag ihn aus dem Punkte A oder A' der
Oberfläche der Erde oder aus dem Mittelpunkte C derſelben beobachten,
d. h. die beiden Zenithdiſtanzen ZAL und Z' A' L würden den
beiden Winkeln ZCL und Z'CL am Mittelpunkte der Erde, alſo
würde auch die Summe jener Zenithdiſtanzen gleich der Summe
dieſer Winkel oder gleich dem Winkel ACA' ſeyn, welchen die bei-
den Erdhalbmeſſer im Mittelpunkte der Erde machen. Dieſer
Winkel ACA' iſt aber gleich der Summe der geographiſchen Breite
(Einl. §. 18. II. §. 23) der beiden Beobachter und daher ebenfalls
eine gegebene Größe, wenn, wie hier vorausgeſetzt wird, die Brei-
ten der Beobachtungsorte A und A' gegeben ſind. Demnach iſt
alſo auch der Winkel ACA' in dem Vierecke LACA' bekannt,
woraus ſofort folgt, daß auch der vierte Winkel ALA' deſſelben
Vierecks bekannt iſt, da die vier Winkel eines jeden Vierecks im-
mer vier rechten gleich, und da drei derſelben ſchon bekannt ſind.
Auch ſieht man ſchon aus dem bloßen Anblicke der Figur, daß in
dem Dreiecke ACL die beobachtete Zenithdiſtanz LAZ der äußere
Winkel iſt, der bekanntlich den beiden inneren entgegengeſetzten
ALC und ACL zuſammen genommen gleich iſt, ſo daß alſo der
Winkel ALA' am Monde gleich iſt der Summe der beiden Ze-
nithdiſtanzen weniger der Summe der beiden geographiſchen Brei-
ten. Da ſonach in dem Vierecke ACA'L alle Winkel und überdieß
[150]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
noch die zwei gleichen Seiten AC und A'C, die den Halbmeſſer
der Erde ausdrücken, bekannt ſind, ſo wird man dadurch noch das
ganze Viereck nach (§. 49. I) auflöſen und die Entfernung des
Mondes von den beiden Beobachtern beſtimmen können.


Kennt man aber ſo den Winkel ALA' am Mittelpunkte des
Mondes, ſo findet man daraus leicht die Horizontalparallaxe des
Mondes für die Zeit der Beobachtung, da ſie gleich iſt jenem
Winkel ALA' dividirt durch die Summe der Sinus (Einl. §. 32)
der beiden beobachteten Zenithdiſtanzen.


Sollten die beiden Beobachter nicht genau in demſelben Me-
ridian ſeyn, eine Bedingung, die nicht leicht zu erhalten iſt, ſo
wird es genügen, wenn ihre Meridiane, d. h. wenn ihre geogra-
phiſchen Längen nur eben nicht viel von einander verſchieden ſind.
Dann werden nämlich die beiden beobachteten mittägigen Zenith-
diſtanzen nicht mehr gleichzeitig ſeyn, was doch Statt haben
muß, wenn die Methode überhaupt noch anwendbar ſeyn ſoll.
Allein man kann entweder aus den Mondstafeln oder auch aus
den an den vorhergehenden und nachfolgenden Tafeln beobachteten
Mittagshöhen des Mondes leicht die kleine Höhenänderung deſ-
ſelben ableiten, die der kurzen Zwiſchenzeit jener beiden Cul-
minationen entſpricht und dadurch die beobachteten Zenithdiſtanzen
auf gleichzeitige oder auf ſolche bringen, die in demſelben Au-
genblicke Statt gehabt hätten. Je weniger die Meridiane der
beiden Orte von einander verſchieden ſind, deſto kleiner, deſto
ſicherer wird alſo auch jene Reduction ſeyn. Umgekehrt aber wird
man, wie es für ſich klar iſt, die Diſtanz der Parallelkreiſe AA'
oder die Differenz der geographiſchen Breiten der Beobachter ſo
groß als möglich nehmen, um die Parallaxe des Geſtirns mit der
größtmöglichen Sicherheit zu beſtimmen. Endlich wird dieſe Be-
ſtimmung im Allgemeinen deſto genauer ſeyn, je kleiner die Di-
ſtanz LC des Geſtirns von dem Mittelpunkte der Erde, oder mit
anderen Worten, je größer die geſuchte Horizontalparallaxe deſſel-
ben iſt, da für ſehr weit entfernte Geſtirne die Zenithdiſtanz ZAL
dem geometriſchen Winkel ZCL ſehr nahe gleich iſt, ſo daß ſchon
der geringſte Fehler in dieſen Zenithdiſtanzen, oder auch in den
geographiſchen Breiten der Beobachtungsorte, den ſehr kleinen Win-
kel ALA' ſehr entſtellen und endlich die ganze Methode unbrauchbar
[151]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
machen würde, wie dieß z. B. bei der Sonne ſchon ſehr nahe der
Fall iſt, da ihre Horizontalparallaxe nur 8,58 Secunden beträgt.


Ja für die der Erde ſehr nahen Geſtirne, wie z. B. für den
Mond, wird man ſelbſt dieſe Correſpondenz eines zweiten Beobach-
ters entbehren und die Parallaxe ſchon durch einen einzelnen Be-
obachter beſtimmen können, ohne daß dieſer genöthigt wäre, ſeine
Stelle auf der Oberfläche der Erde zu verlaſſen. Wenn nämlich
der Mond L (Fig. 9) für den Beobachter in A aufgeht, ſo ſieht
er ihn bei dem Sterne a, während ihn ein Beobachter im Mit-
telpunkte C der Erde bei dem Sterne c ſehen würde, ſo daß, wie
geſagt, ac die Horizontalparallaxe des Mondes iſt. Allein der
Beobachter kennt den Stern noch nicht, bei dem der Mond, von
C geſehen, erſcheinen würde, alſo iſt ihm auch dieſer Bogen ac
noch unbekannt. Allein in ſechs Stunden ſpäter, wo der Mond
durch das Zenith Z, oder doch durch den Meridian deſſelben Be-
obachters A geht, fallen die beiden Linien LA und LC zuſammen,
nämlich beide auf die Linie CAZ und nun ſieht der Beobachter in
A, ſo wie der in C, den Mond bei demſelben Stern c, deſſen
Diſtanz von a man daher nur zu meſſen braucht, um die geſuchte
Horizontalparallaxe ac des Monds zu erhalten. Noch beſſer wird
es ſeyn, den Mond bei ſeinem Aufgange und bei ſeinem darauf
folgenden Untergange zu beobachten, weil man auf dieſe Weiſe die
doppelte Horizontalparallaxe erhält und kleinere Fehler der Beobach-
tungen, die man nie ganz vermeiden kann, einen geringeren Ein-
fluß auf das geſuchte Reſultat liefern.


So wie nämlich der Winkel CLA, wo das Geſtirn L im Ho-
rizonte AL des Beobachters iſt, die Horizontalparallaxe des
Geſtirns heißt, ſo heißt auch der Winkel CL'A, wo das Geſtirn
L' von dem Beobachter in A in der Höhe LAL' über ſeinem Ho-
rizonte (ſ. Einl.) geſehen wird, die Höhenparallaxe des Ge-
ſtirns, die immer kleiner wird, je größer die Höhe LA L' des
Geſtirns iſt, bis ſie endlich im Zenithe, wo die Höhe gleich 90°
wird, völlig verſchwindet. Man ſieht leicht, daß die Höhenpa-
rallaxe eines Geſtirns gleich iſt der Horizontalparallaxe multipli-
cirt durch den Coſinus (Einl. §. 32) der Höhe deſſelben.


§. 65. (Wie die Größe der Geſtirne gefunden wird.) Wir
haben oben (§. 62) gezeigt, wie man, wenn die Horizontalparallaxe
[152]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
eines Geſtirns bekannt iſt, die Entfernung deſſelben von der Erde
finden kann. Nimmt man nämlich den Halbmeſſer der Erde zu
859,3 Meilen (§. 4) an, ſo findet man die Entfernung des Mittel-
punkts des Geſtirns von dem der Erde, wenn man dieſe Zahl
859,3 durch den Sinus (Einl. §. 32) der Horizontalparallaxe di-
vidirt, oder kürzer, wenn man die Zahl 177.243.000 durch die
Horizontalparallaxe ſelbſt dividirt. Für die Sonne z. B. hat
man, wie wir bereits oben geſagt haben, die Horizontalparallaxe
8″,58, alſo iſt die Entfernung derſelben von dem Mittelpunkte der
Erde gleich 20.657.700 Meilen.


Der Planet Venus, der unter der Benennung des Morgen-
und Abendſterns bekannt iſt, erſcheint uns in ſeinem Durchmeſſer
von ſehr verſchiedener Größe, woraus folgt, daß ſeine Entfernung
von der Erde ebenfalls ſehr verſchieden ſeyn müſſe. Wenn er uns
am nächſten ſteht, oder wenn er am größten erſcheint, beträgt ſeine
Horizontalparallaxe 34″,58, woraus, wie zuvor, folgt, daß er zu
dieſer Zeit 5.125.600 M. von uns entfernt iſt. In ſeinem größ-
ten Abſtande von der Erde aber iſt ſeine Horizontalparallaxe nur
5″,06 und daher ſeine Entfernung 35.028.000 Meilen.


Kennt man aber einmal die Entfernung eines Geſtirns von
der Erde, ſo darf man ſie nur durch den Sinus des ſcheinbaren
Halbmeſſers deſſelben multipliciren, um ſofort auch den wahren
Halbmeſſer des Geſtirns zu erhalten. Der ſcheinbare Halbmeſſer
aber iſt die Hälfte des Winkels, z. B. in Secunden ausgedrückt,
unter welchem uns der Durchmeſſer des Geſtirns erſcheint, wäh-
rend der wahre Halbmeſſer deſſelben den Abſtand des Mittelpunkts
des Geſtirns, z. B. in Meilen ausgedrückt, von jedem anderen
Punkte ſeiner ſphäriſchen Oberfläche bezeichnet. Kennt man aber
den wahren Halbmeſſer einer Kugel, ſo findet man daraus,
nach den in §. 5 aufgeſtellten Formeln, auch die Oberfläche und
den körperlichen Inhalt deſſelben, jenen in Quadrat- und dieſen
in Kubikmeilen. Um endlich bei dieſen kleinen Rechnungen die
Sinus gänzlich zu vermeiden, kann man auch ſagen, daß der
wahre Halbmeſſer eines Geſtirns gleich iſt der Zahl 859,3 multi-
plicirt durch den ſcheinbaren Halbmeſſer und dividirt durch die
Horizontalparallaxe des Geſtirns.


So hat man für die Sonne den ſcheinbaren Halbmeſſer 961″
[153]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
und die Horizontalparallaxe 8″,58, alſo iſt der wahre Halbmeſſer
der Sonne 96.246 Meilen, oder nahe 112mal größer als der
Halbmeſſer der Erde. Da ſich nun die Oberfläche der Kugeln
wie die Quadrate, und die körperlichen Inhalte derſelben wie die
Würfel ihrer Halbmeſſer verhalten, ſo folgt, daß die Oberfläche
der Sonne 12.544mal größer iſt, als die der Erde, und daß das
Volumen der Sonne 1.404.928 mal größer iſt, als das der Erde,
oder daß man aus der Sonne gegen 1½ Millionen ſolcher Ku-
geln, wie unſere Erde iſt, bilden könnte.


Wendet man endlich dieſelben kleinen Berechnungen auf die
Venus an, deren ſcheinbarer Halbmeſſer in ihrer größten Nähe
32″,8 und in ihrer größten Entfernung 4″,8 iſt, ſo findet man
für den wahren Halbmeſſer der Venus 815 Meilen, woraus folgt,
daß dieſer Planet nur wenig kleiner iſt, als unſere Erde.


§. 66. (Genauigkeit der vorhergehenden Beſtimmungen.) Die
vorhergehenden Beſtimmungen der Entfernung ſowohl, als auch
die der abſoluten Größe der Geſtirne beruhen, wie man ſieht, auf
den Winkeln, welche die ſcheinbaren Halbmeſſer und die Horizon-
talparallaxe dieſer Geſtirne ausdrücken. Je genauer dieſe Winkel
gemeſſen werden können, deſto genauer werden auch im Allgemei-
nen die daraus durch Rechnung abgeleiteten Reſultate für die
Entfernung und die Größe der Geſtirne ſeyn. Eine beſondere
Sorgfalt wird man aber auf die genaueſte Beſtimmung der Ho-
rizontalparallaxe vorzüglich in denjenigen Fällen wenden, wo dieſe
Parallaxe, wie bei der Sonne, ſelbſt nur ſehr klein iſt. Denn
da, nach dem Vorhergehenden, der Bruch, der die Entfernung
ſowohl, als die abſolute Größe ausdrückt, zu ſeinem Nenner dieſe
Parallaxe hat, ſo wird der geringſte Fehler in der letzten auf die
Entfernung ſowohl, als auf den wahren Halbmeſſer des Geſtirns
ſchon einen ſehr ungünſtigen Einfluß äußern. Wäre z. B. die
Horizontalparallaxe der Sonne um eine Secunde größer, alſo
9″,58, ſo würde der wahre Halbmeſſer derſelben 86.200, alſo über
10.046 Meilen kleiner als früher, und die Entfernung derſelben
von der Erde 18.501.000, oder über 2 Millionen Meilen kleiner
als zuvor gefunden werden. Beſonders wichtig wird dieſe Be-
ſtimmung der Sonnenparallaxe ſeyn, weil ſie, wie wir ſpäter ſe-
hen werden, auf die genaue Kenntniß der Dimenſionen unſeres
[154]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
ganzen Planetenſyſtems den wichtigſten Einfluß hat, und weil ſie,
oder was daſſelbe iſt, die aus ihr abgeleitete Entfernung der
Sonne von der Erde, gleichſam der Maßſtab iſt, mit welchem wir
alle übrigen Diſtanzen der Himmelskörper auszumeſſen pflegen.
Wir werden daher weiter unten die Leſer noch mit einem andern
Mittel bekannt zu machen ſuchen, dieſe Parallaxe der Sonne mit
der größten Schärfe zu beſtimmen. Uebrigens würde man aus
dieſen großen Unterſchieden mit Unrecht folgern, daß wir die Ent-
fernungen aller Körper unſeres Planetenſyſtems nur ſehr unvoll-
kommen kennen, da jene großen Differenzen nur für die von uns
ſehr entfernten, nicht aber auch für die näheren Geſtirne Statt
haben. Für den Mond z. B. findet man, wenn man die Hori-
zontalparallaxen gleich einem Grad vorausſetzt, die Entfernung
deſſelben gleich 49.236 Meilen. Iſt aber die Horizontalparallaxe
deſſelben gleich 1° 0′ 1″, ſo iſt die Entfernung gleich 49.223 M.
Sind wir alſo über die Horizontalparallaxe des Mondes eine
Secunde ungewiß, ſo heißt dieß, daß wir über die Entfernung
deſſelben nur über 13 M. oder über den 3800ſten Theil der gan-
zen Diſtanz ungewiß ſind. Es iſt aber ſehr zweifelhaft, ob wir
die Diſtanz der vorzüglichſten Städte der Erde auf ihren 3800ſten
Theil genau kennen und dann darf man allerdings ſagen, daß die
Aſtronomen die Wege am Himmel beſſer wiſſen, als unſere Geo-
graphen auf der Erde.


I. Was nun überhaupt unſere Meſſungen der Winkel zwi-
ſchen den Geſtirnen des Himmels betrifft, ſo wollen wir bemerken,
daß die Kreiſe unſerer beſten neueren Inſtrumente von zwei zu
zwei Secunden getheilt ſind, und daß man in den meiſten Fällen,
wenn man mit der gehörigen Umſicht zu Werke geht und die
Beobachtungen unter günſtigen Umſtänden wiederholt, jeden Winkel
bis auf eine Secunde, d. h. alſo, bis auf den 1.296.000ſten Theil
der Peripherie des Kreiſes genau erhalten kann. Mißt man mit
einem ſolchen Inſtrumente den Winkel eines Gegenſtandes, der eine
d. Meile oder 22841,8 Par. Fuß von dem Mittelpunkte des In-
ſtruments entfernt iſt, und beträgt der Fehler des beobachteten
Winkels eine Secunde, ſo beträgt dieſer Fehler in dem Gegen-
ſtande ſelbſt einen Fehler von 0,1107 Fuß, um welchen derſelbe in
ſeinem Durchmeſſer zu klein oder zu groß gefunden würde. Für
[155]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
eine Entfernung von 100 oder 1000 M. würde dieſer Fehler von
einer Secunde 11,07 oder 110,74 Fuß u. ſ. w. Kurz, er würde
immer den 0,0000048481ſten Theil der Entfernung des Gegenſtandes
von dem Beobachter betragen. Für den Mond, deſſen Entfernung
49.200 M. iſt, würde dieſer Fehler nahe zwei Zehntel einer Meile,
für die Sonne aber, die 20½ Millionen M. von uns abſteht, würde
dieſer Fehler ſchon nahe 100 M. ausmachen, über die wir z. B.
in dem wahren Halbmeſſer der Sonne unſicher ſind, wenn der
Fehler unſerer Beobachtung des ſcheinbaren Halbmeſſers derſelben
eine Secunde beträgt. Uebrigens iſt eine Secunde, am Himmel
geſehen, nur eine ſehr kleine Größe, und wohl nur durch unſere
beſſeren Fernröhre mit einiger Sicherheit zu meſſen, da der Durch-
meſſer der Sonne nahe 2000 Secunden und der des Saturns,
ohne ſeinen Ring, ſo klein er uns auch erſcheint, ſchon volle 18
Secunden, d. h., ſo viel und mehr beträgt, als ein gewöhnliches
Menſchenhaar mit ſeiner Breite am Himmel bedecken würde, wenn
es in der Entfernung vom Auge, wo es am reinſten und deutlich-
ſten erſcheint, gehalten wird.


II. Um dieſelbe Sache noch von einer anderen, unſerem Zwecke
mehr angemeſſenen Seite darzuſtellen, ſo können wir, der vorher-
gehenden Vorausſetzung gemäß, mittelſt unſerer Inſtrumente und
der an ſie angebrachten Fernröhre den Durchmeſſer eines Ge-
genſtandes noch bemerken und ſelbſt an unſerem Inſtrumente meſ-
ſen, wenn derſelbe in unſerem durch das Fernrohr bewaffneten Auge
einen Winkel von einer Secunde einnimmt, oder was daſſelbe iſt,
wenn dieſer Durchmeſſer nur den 0,0000048481ſten Theil, oder nahe
den zweimalhunderttauſendſten Theil der Entfernung des Gegen-
ſtandes von unſerem Auge beträgt. Alſo werden wir auch in dem
ſcheinbaren Durchmeſſer dieſes Gegenſtandes ſchon eine Aenderung,
und zwar von einer Secunde, bemerken, wenn wir den Standpunkt
unſeres Auges, oder wenn wir den Mittelpunkt unſeres Inſtru-
mentes, ſenkrecht auf die Geſichtslinie, um eine Linie verrücken,
die nur den 200.000ſten Theil jener Entfernung des Gegenſtandes
von uns ausmacht, und wenn wir, bei einer ſolchen Verrückung
des Auges, keine Aenderung an dem ſcheinbaren Durchmeſſer des
Gegenſtandes bemerken ſollten, ſo werden wir daraus den Schluß
[156]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
ziehen, daß er noch weiter von uns entfernt ſeyn muß, als dieſe
Verrückung des Auges, 200.000mal genommen, beträgt.


Nehmen wir z. B. an, der Mittelpunkt unſeres Inſtruments
ſey in der Peripherie des Kreiſes AA' (Fig. 13), und zwar zuerſt
in dem Punkte A aufgeſtellt, und man habe damit den Winkel
VAm des Gegenſtandes m mit der fixen Linie AV gemeſſen. Es
ſey nun AA' ein Bogen von 90 Graden und die Linie A'V' mit
AV parallel. Wenn der Halbmeſſer CA oder CA' des Kreiſes
fünf Fuß und die Diſtanz Cm des Gegenſtandes eine Million
Fuße oder nahe 44 M. beträgt, ſo werden wir, wenn wir von A
nach A' gehen, wo der Halbmeſſer A'C ſenkrecht auf die erſte Ge-
ſichtslinie CAm ſteht, mit unbewaffnetem Auge und ohne Inſtru-
ment keine, auch nicht die geringſten Aenderung in dem ſcheinbaren
Durchmeſſer des Gegenſtandes mn bemerken, oder die Winkel
VAm und V'A'm werden uns vollkommen gleich erſcheinen. Mit
unſerem Inſtrumente aber werden wir, wenn wir den Mittelpunkt
deſſelben in B aufſtellen, den Unterſchied dieſer Winkel, da er in
der That eine Secunde beträgt, ſchon bemerken können.


III. Dieß iſt demnach einer von den vielen Fällen, die ſo oft
in der Aſtronomie vorkommen, wo uns genaue Meſſungen, die
wir mit Hilfe eines guten Inſtruments angeſtellt haben, in eine
ſehr vortheilhafte und von jener ganz verſchiedene Lage verſetzen,
mit welcher wir uns, ohne den Beiſtand dieſer Inſtrumente und
bloß unſeren Sinnen vertrauend, begnügen müßten. Durch die
Unterſtützung dieſer Inſtrumente, durch den vollkommenen Bau
und die genaue Eintheilung der Kreiſe ſowohl, als auch durch die
Vorzüglichkeit der Fernröhre, die beide durch die Künſtler unſerer
Zeit zu einem ſo hohen Grade der Vollendung gebracht worden
ſind, iſt es uns möglich geworden, Gegenſtände, von welchen un-
ſere Vorfahren keine Ahnung haben konnten, nicht bloß zu ſehen,
ſondern förmlich zu beobachten, einer genauen Meſſung zu unter-
werfen, darauf mit Sicherheit weitere Schlüſſe zu bauen und auf
dieſem Wege die Natur um die ſo lange vor uns verborgenen
Geheimniſſe zu befragen. Aber, ſo weit wir auch auf dieſer Bahn
vorgedrungen ſind, und ſo ſehr ſich, durch die Vervollkommnung jener
mechaniſchen Hilfsmittel ſowohl, als auch durch die Vollendung
der mathematiſchen Analyſe, dieſes wundervollen Inſtrumentes
[157]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
unſeres geiſtigen Auges, ſo ſehr ſich auch durch dieſe vielfache
Hilfe der Kreis unſerer Kenntniſſe der Natur und ihrer Geſetze
erweitert haben mag — noch liegt ein großer Theil dieſes unab-
ſehbaren Feldes unerforſcht und in Dunkel gehüllt vor uns, und
unſeren glücklicheren Nachkommen wird es aufbehalten ſeyn, die
uns unüberſteiglichen Hinderniſſe zu beſiegen, die Gränzen der
erhabenen Wiſſenſchaft zu erweitern und den, in Betracht des
noch Unbekannten, gewiß nur ſehr kleinen Schatz von Kenntniſſen,
den wir ihnen mit Vertrauen als ihr beſtes Erbe hinterlaſſen,
durch Fleiß und Einſicht und durch neue Verbeſſerungen ihrer
Hilfsmittel zu vermehren. Wir werden ſogleich ſehen, wo und
wie ſehr es uns noch fehlt, wie viel uns noch zu wünſchen übrig
iſt und wie beſchränkt unſere Kenntniſſe ſelbſt in derjenigen Wiſ-
ſenſchaft ſind, in welcher der menſchliche Geiſt weiter, als in jeder
anderen, vorgedrungen iſt.


§. 67. (Entfernung und Größe der Fixſterne.) Wir haben
oben (§. 64) die Mittel vorgetragen, die Horizontalparallaxe der
Geſtirne durch Beobachtungen zu beſtimmen und ſie auch auf ei-
nige Körper unſeres Planetenſyſtems, auf den Mond, die Venus
und die Sonne angewendet. Allein dieſe Körper ſind uns alle,
wenn ſie gleich durch Tauſende, ja ſelbſt durch Millionen Meilen
von uns getrennt ſind, doch immer noch für nahe, wenigſtens für
ſo nahe zu achten, daß der Halbmeſſer unſerer Erde, in Beziehung
auf die Diſtanz jener Körper, nicht mehr als ein verſchwindender
Punkt angeſehen werden darf, wenigſtens nicht mehr für die beſten
unſerer Inſtrumente, mit welchen wir noch, wie wir oben ange-
nommen haben, die gewiß ſehr kleine und unſeren unbewaffneten
Augen ganz unmerkliche Größe von einer Secunde deutlich un-
terſcheiden können. Für den entfernteſten Körper unſeres Sy-
ſtems, für den Planeten Uranus, beträgt dieſe Horizontalparall-
axe, ſelbſt wenn ſie am größten iſt, nur 0,47 einer Secunde, und
ſie iſt daher bereits ſo klein, daß wir ſie, ungeachtet der großen
Vollkommenheit unſerer neueren Inſtrumente, nicht mehr bemerken
würden. Auch iſt ſie uns nicht durch Beobachtungen der Art, wie
ſie in §. 64 auseinander geſetzt werden, erhalten worden. Aber
nach dem oben (§. 58) angeführten Geſetze Keplers und der be-
kannten Umlaufszeit des Uranus um die Sonne, der 30.689 Tage
[158]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
beträgt, findet man, daß ſeine kleinſte Entfernung von der Erde 376
Millionen Meilen beträgt. Dividirt man alſo den Halbmeſſer
der Erde von 859 M. durch 376 Millionen, ſo erhält man den
Sinus der Horizontalparallaxe dieſer entfernteſten aller Planeten,
die alſo, auf dieſem Wege, gleich 0″,47 gefunden wird.


Allein dieſer Weg iſt uns für die Fixſterne verſchloſſen, da
dieſe nicht, wie die Planeten, für welche allein jenes Geſetz gilt,
ſich um die Sonne bewegen. Daß aber dieſe Fixſterne noch wei-
ter, als jener Planet, von uns entfernt ſeyn müſſen, folgt ſchon
daraus, weil wir dieſen Planeten, ſo oft er an einem jener Sterne
nahe vorbei geht, ſie bedecken ſehen, während man noch nie einen
Stern auf der Scheibe des Planeten, oder während man noch nie
den Planeten von einem jener Sterne bedeckt geſehen hat.


Da nun die Parallaxe des Uranus bereits ſo klein iſt, daß
ſie ſelbſt für unſere beſten Inſtrumente als ganz unmerkbar be-
trachtet werden muß, ſo würde es eine vergebene Mühe ſeyn, die
Parallaxe, alſo auch die Entfernung der noch viel weiter entfernten
Fixſterne durch eine der oben angeführten Methoden kennen lernen
zu wollen.


Wir haben oben (§. 62. IV) geſehen, daß bei dieſen Metho-
den, die Parallaxe zu beſtimmen, alles auf die Größe der Baſis
oder der Grundlinie ankömmt, von welchen die ganze Meſſung
abhängt, und daß das Reſultat im Allgemeinen deſto genauer
ſeyn wird, je größer dieſe Baſis iſt. Allein die größte dieſer Grund-
linien, die wir auf der Erde erhalten können, iſt der Halbmeſſer,
oder, wenn man das Doppelte dieſer Parallaxe ſucht, der Durch-
meſſer der Erde, d. h. eine gerade Linie von 1718,6 M. Dieſe
Größe, die nahe zehnmal größer iſt, als die Diſtanz von Wien
nach Paris, iſt daher gegen die Diſtanz der Fixſterne von uns
nur als ein unmerklicher Punkt zu betrachten, und wir haben, ſo
lange uns keine andere Standlinie, als der Halbmeſſer der Erde
iſt, gegeben wird, durchaus kein Mittel, die Entfernung derjeni-
gen Himmelskörper zu beſtimmen, die mehr als 177 Millionen
Meilen von uns abſtehen, da für dieſen Abſtand die Horizontal-
parallaxe bereits eine Secunde oder den kleinſten Theil des Win-
kels beträgt, den wir mit unſeren vollkommenſten Inſtrumenten
noch ſehen können. Ein Geſtirn, welches eine Billion Meilen von
[159]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
uns entfernt iſt, würde eine Parallaxe von 0,0002 einer Secunde
oder eine ſo geringe Größe haben, daß ſie wohl nie für ein menſch-
liches Auge bemerkbar ſeyn wird, welches auch die Verbeſſerungen
ſeyn mögen, deren in der Folgezeit unſere Inſtrumente ſich noch
erfreuen können.


§. 68. (Jährliche Parallaxe der Fixſterne.) Wenn aber die
jährliche Bewegung der Erde um die Sonne, die wir in dem vor-
hergehenden Kapitel betrachtet, und aus den dort angeführten
Gründen bereits ſehr wahrſcheinlich gefunden haben, in der That
wahr ſeyn ſollte, ſo würde uns dadurch zugleich nicht nur die
gewünſchte größere Baſis, ſondern auch noch zugleich einer der
ſchönſten Beweiſe für dieſe jährliche Bewegung der Erde ſelbſt ge-
geben ſeyn. Denn, wenn die Erde ſich in der That in jedem
Jahre in einem Kreiſe bewegt, deſſen Halbmeſſer gleich der Ent-
fernung derſelben von der Sonne oder gleich 20.658.000 M. iſt,
ſo werden wir uns auf dieſem unſerem Weltſchiffe am Ende eines
jeden halben Jahres an einer Stelle des Himmels befinden, die
über 41 Millionen Meilen von dem Punkte entfernt iſt, wo ſich
die Erde am Anfange jenes Semeſters befand, und eine ſo gewal-
tige Entfernung wird ohne Zweifel auf die, aus dieſen beiden
Stellungen der Erde ſichtbaren Geſtirne und ihre Lage am Him-
mel, einen ſehr deutlichen Einfluß äußern. Dadurch wäre uns
alſo ein ganz anderer Maßſtab, die Räume des Univerſums aus-
zumeſſen, gegeben, der gegen 24.000mal größer iſt, als jener erſte,
und für den daher auch wohl jene kleinen Winkel, die in Bezie-
hung auf den Halbmeſſer der Erde für unſere Sinne gänzlich
verſchwinden, da ſie nun nahe in demſelben Verhältniſſe oder
24.000mal vergrößert werden, ſich unſeren Beobachtungen nicht
weiter entziehen werden. Wir wollen dieſen glücklichen Umſtand,
in welchen uns die Bewegung unſerer Erde verſetzt, und durch
welchen unſer Geſichtskreis am Himmel ſo bedeutend erweitert
werden ſoll, ſogleich näher betrachten.


Zuerſt wird es zweckmäßig ſeyn, ſich von der eigentlichen
Größe dieſer neuen Standlinie von 41 Millionen Meilen einen
uns angemeſſenen ſinnlichen Begriff zu machen zu ſuchen. Sie iſt
nahe 100.000 mal größer als die Entfernung Wiens von Paris.
Sie verhält ſich zu einer Meile, wie die Zeit von einem Jahre
[160]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
und 329 ½ Tagen zu einer Secunde. Die ſchnellſten unſerer eng-
liſchen Rennpferde legen in einer Secunde 50 Par. Fuß zurück.
Ein ſolches Pferd würde, um den Durchmeſſer der Erdbahn von
41 Millionen Meilen zurückzulegen, volle 594 Jahre brauchen.
Die größte Geſchwindigkeit eines leichtſegelnden Schiffs, die man
bisher bemerkt hat, iſt unter den günſtigſten Umſtänden von Wind
und Waſſer auf der See, gleich 26 Par. Fuß in einer Secunde
oder nahe 100 Meilen in einem Tage. Ein ſolches Schiff würde
daher auf jenem dem Durchmeſſer unſerer Erdbahn gleichen Wege
1.178 Jahre zubringen.


Dieſer Weg darf alſo in der That ungeheuer genannt werden.
Und an den beiden Endpunkten einer ſolchen unüberſehlichen, bei-
nahe unbegreiflichen Straße — welche Veränderungen wird da
der geſtirnte Himmel und alle die Gegenſtände erleiden, die zu
beiden Seiten dieſer Straße in dem großen Weltenraume zerſtreut
ſind? Sterne, die hier nahe beiſammen ſtehen, weil ſie ſo weit
von uns entfernt ſind, werden dort, wo wir ihnen 41 Millionen
Meilen näher gekommen ſind, weit aus einander ſtehen, und
umgekehrt, anfangs weit von einander entfernte Sterne, werden
ganz nahe an einander rücken; ſolche Sterne, die uns hier groß
erſcheinen, werden dort kaum mehr geſehen werden, und dafür
andere hell und groß erſcheinen, die wir hier noch nicht ſehen
konnten; alle Sterne werden verändert, alle Sternbilder in ihrer
Geſtalt verrückt, und der ganze Himmel wird ein anderer er-
ſcheinen.


Dieß läßt ſich allerdings bei einer ſo gewaltigen Veränderung
unſeres Standpunkts mit der größten Wahrſcheinlichkeit erwarten.
Auch haben die Aſtronomen ſeit Copernicus, d. h. ſeit ihnen dieſe
Bewegung der Erde bekannt war, ſich bemüht, dieſe wunderbaren
Veränderungen des Himmels zu entdecken und durch ihre Beob-
achtungen über alle Zweifel zu erheben. Und welche Verän-
derungen haben ſie gefunden? — Gar Keine! Ihre beſten Fern-
röhren, ihre vollkommenſten Inſtrumente, die ſeit Jahrhunderten
vereinigte Arbeiten der ausgezeichnetſten Beobachter — alles war
umſonſt; jene mit ſo vieler Sicherheit erwarteten Veränderungen
exiſtiren nicht, und der uns umgebende unüberſehbare Wald von
Sternen zeigt durchaus denſelben Anblick, man mag ihn am
[161]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
Anfange oder am Ende dieſes 41 Millionen Meilen langen We-
ges betrachten. Alle dieſe mit ſo viel Aufwand von Zeit und
Mühe angeſtellten Beobachtungen glichen den Bemühungen einer
Milbe, die den Gipfel eines entfernten Gebirges zuerſt von dieſer,
und dann von der anderen Seite eines Hirſekorns betrachtet.


§. 69. (Die Entfernung der Fixſterne iſt ungemein groß.) Und
was ſoll man aus dem Mißlingen aller dieſer Arbeiten ſchließen?
Eins von beiden: entweder iſt es nicht wahr, daß die Erde ſich
um die Sonne bewegt, und dann fallen jene nur geträumten Verän-
derungen des geſtirnten Himmels von ſelbſt weg; oder aber, die
Diſtanz dieſer Fixſterne von uns iſt ſo ungeheuer, daß ſelbſt jene
Entfernung von 41 Millionen Meilen nur wie ein unmerklicher
Punkt gegen dieſelbe verſchwindet.


Das erſte wird man nicht annehmen können, wenn man die
Gründe, die in dem vorhergehenden Kapitel für die jährliche Be-
wegung der Erde aufgeſtellt ſind, auch nur mit einiger Aufmerk-
ſamkeit erwägt.


Wenn jetzt in der 11ten Figur C den Mittelpunkt der Sonne
und zugleich den Mittelpunkt des Kreiſes AA B bezeichnet, welchen
die Erde jährlich um die Sonne zurücklegt, ſo wird ein Fixſtern
L, wenn er in der That ſo weit von der Erde, oder, was hier
daſſelbe iſt, von der Sonne entfernt iſt, daß der Halbmeſſer CA
der Erdbahn gegen jene Entfernung nur als ein Punkt betrachtet
werden muß, an demſelben Orte des Himmels erſcheinen, er mag
von dem Mittelpunkte C der Sonne oder von dem A der Erde
beobachtet werden, oder mit anderen Worten, der Winkel ACL,
unter welchem einem Auge in dem Mittelpunkte des Sterns der
Halbmeſſer AC der Erdbahn erſcheint, wird kleiner als eine Se-
cunde, alſo für unſere Sinne, der obigen Annahme gemäß, unmerk-
lich ſeyn. Man kann dieſen Winkel, analog mit der vorigen Be-
zeichnung, die jährliche Parallaxe des Geſtirns heißen, wäh-
rend die bisher betrachtete, oder der ſcheinbare Winkel des Halb-
meſſers der Erdbahn, zum Unterſchiede von jenen, die tägliche
Parallaxe
des Geſtirns genannt wird. Wir haben oben (§. 67)
die tägliche Parallaxe des entfernteſten unſerer Planeten, des Ura-
nus, gleich 0,47 Secunden gefunden, und dieſe iſt allerdings ſo
klein, daß ſie auch mit unſeren beſten Inſtrumenten nicht mehr
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 11
[162]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
bemerkt werden kann. Die jährliche Parallaxe dieſes Planeten
aber iſt der Winkel L des in A rechtwinkligen Dreiecks, deſſen
Seite CA, dem Halbmeſſer der Erdbahn und deſſen Hypotenuſe
CL gleich der Entfernung der Planeten von der Sonne oder nahe
19mal größer als CA iſt. Daraus folgt, daß dieſer Winkel, oder
daß die jährliche Parallaxe des Uranus mehr als drei volle Grade
beträgt, wie er denn auch durch alle Beobachtungen genau von
dieſer Größe gefunden wird. Noch viel größer iſt er für die
übrigen Planeten, die der Sonne alle näher ſtehen. Für Mars
z. B., deſſen Entfernung CL von der Sonne nahe ein und ein
halbmal ſo groß als CA iſt, beträgt die jährliche Parallaxe 41°
49′, ebenfalls den Beobachtungen vollkommen gemäß. Durch
dieſe jährlichen Parallaxen der Planeten iſt daher die jährliche
Bewegung der Erde um die Sonne bereits hinlänglich, als durch
Thatſachen, die ſich nicht weiter bezweifeln laſſen, erwieſen, und
wenn ſich die jährliche Parallaxe der Fixſterne unſeren Beobach-
tungen entzieht, ſo kann der Grund davon nicht mehr in der
Nichtexiſtenz der Bewegung der Erde, ſondern er muß allein in
der zu großen Entfernung der Fixſterne von uns geſucht werden.


§. 70. (Negative Beſtimmung der Entfernung der Fixſterne.)
Da dieſer Durchmeſſer der Erdbahn die größte Linie iſt, die wir
unſeren Meſſungen der Entfernung der Fixſterne als Baſis noch
zu Grunde legen können und da ſie, wie wir ſo eben geſehen ha-
ben, noch immer zu klein iſt, um über dieſe Entfernung irgend
eine poſitive Kenntniß zu verſchaffen, ſo werden wir uns begnü-
gen müſſen, die Gränze anzugeben, inner welcher, aller Wahrſchein-
lichkeit zu Folge, noch kein Fixſtern gefunden werden kann. Wenn
die jährliche Parallaxe des Sterns, das heißt alſo, wenn der Halb-
meſſer der Erdbahn aus dem Stern geſehen, noch eine ganze Se-
cunde betrüge, ſo würden wir, nach ſo vielen zu dieſem Zwecke
angeſtellten Beobachtungen, den oder die Sterne ſchon gefunden
haben, welchen dieſe Parallaxe zukömmt. Nach dem Vorhergehenden
aber iſt die Entfernung eines Geſtirns, deſſen jährliche Parallaxe
gegeben iſt, gleich dem Halbmeſſer der Erdbahn dividirt durch den
Sinus dieſer Parallaxe. Nehmen wir daher den Halbmeſſer der
Erdbahn zu 20.658.000 Meilen und die jährliche Parallaxe gleich
einer Secunde an, ſo finden wir für die Entfernung des Sterns
[163]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
eine Diſtanz von 4.261.000 Millionen oder, in runder Zahl, von
vier Billionen Meilen. Daraus folgt alſo, daß der nächſte Fix-
ſtern wenigſtens noch vier Billionen Meilen von uns entfernt ſeyn
müſſe. Ja man könnte dieſe Diſtanz mit Recht noch verdoppeln,
da es ſich hier, nicht um den Halbmeſſer, ſondern um den Durch-
meſſer der Erdbahn handelt, aus deſſen äußerſten Endpunkten wir,
im Anfange und am Ende eines jeden halben Jahres, den Stern
beobachten können, wo wir dann den Winkel ALB (Fig. 11) gleich
zwei Secunden finden würden, wenn die jährliche Parallaxe ALC
nur eine einzige Secunde beträgt.


Bleiben wir, um gewiß nichts zu übertreiben, und dafür
deſto ſicherer zu geben, bei der erſten Beſtimmung ſtehen und
wählen wir auch hier noch die kleineren runden Zahlen, ſo können
wir mit Beſtimmtheit ſagen, daß der nächſte Fixſtern wenigſtens
noch 4 Billionen M. oder 200.000mal weiter, als die Sonne, von
uns entfernt ſeyn müſſe. Der Kürze wegen wollen wir dieſe Entfer-
nung der Erde von der Sonne oder dieſe Diſtanz von 20.000.000 M.
eine Erdweite, und die 200.000mal größere des nächſten Fixſterns,
oder die Diſtanz von 4 Billionen M. eine Sternweite nennen.


Wenn aber die Größe dieſer Erdweite, wie wir in §. 68 ge-
ſehen haben, mit anderen ſinnlichen Wahrnehmungen verglichen,
uns ſchon ſo ungemein groß erſcheint, wie ſollen wir erſt dieſe
Entfernung des nächſten Fixſterns mit einem ihrer würdigen Na-
men nennen? Sie verhält ſich zu einer Meile, wie 190.000 Jahre
zu einer Secunde; jenes ſchnell ſegelnde Schiff würde gegen 118
Millionen Jahre und jenes Rennpferd würde noch immer über
59 Millionen Jahre brauchen, um jene Diſtanz von dem Fixſtern
bis zu uns zurückzulegen. Das Licht, deſſen Geſchwindigkeit die
größte iſt, die wir in der Natur kennen, legt den Weg von der
Sonne zur Erde in 8 Minuten und 13 Secunden zurück; ſeine
Geſchwindigkeit iſt alſo gegen 38 Millionenmal größer, als die
jenes Schiffes, und doch würde es, um von dem Fixſterne bis zu
uns zu gelangen, auf ſeinem Wege mehr als drei volle Jahre zu-
bringen. Und dieß gilt nur von dem nächſten Fixſterne. Die
anderen können vielleicht noch viele Tauſendmale weiter von uns
entfernt ſeyn, ja es iſt nicht nur möglich, ſondern ſelbſt wahr-
ſcheinlich, daß es Fixſterne gibt, von welchen das Licht, ungeachtet
11 *
[164]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
ſeiner an das Entſetzliche gränzenden Geſchwindigkeit, erſt in
Jahrtauſenden bis zu uns gelangt, ſo daß zur Zeit unſeres
Moſes oder Alexanders am Himmel totale Veränderungen vor-
gegangen ſeyn können, von welchen wir, die wir ihn noch immer
unverändert ſehen, keine Kunde haben, weil der Bote, der ſie uns
bringen ſoll, weil das Licht ſeitdem noch nicht Zeit gehabt hat,
aus jenem Raume bis zu uns zu gelangen.


§. 71. (Wahre Größe der Fixſterne.) Da wir über die Ent-
fernung der Fixſterne keine nähere Kenntniß haben, ſo bleiben wir
auch über die wahre Größe dieſer Himmelskörper in Ungewißheit.
Dieſe Ungewißheit wird noch dadurch vermehrt, daß wir die ſchein-
bare Größe derſelben oder die Winkel, welche ihre Durchmeſſer in
unſerem Auge bilden, wegen der ungemeinen Kleinheit dieſer Win-
kel, nicht mehr mit Zuverläßigkeit angeben können. Zwar erſchei-
nen Sirius, die Ziege, die Leier und andere Geſtirne der erſten
Größe mit ihrem lebhaften Lichte dem freien Auge noch immer
von nicht unbeträchtlicher Größe, aber dieſes ſcintillirende Licht,
welches ſie ringsum umgibt, iſt nicht der Kern, der eigentliche
Körper des Sterns, ſondern nur ein nach allen Seiten überfließen-
des, paraſitiſches Licht, deſſen Urſprung nicht ſowohl in dem Stern,
als vielmehr in der Unvollkommenheit unſeres Auges zu ſuchen
iſt, daher denn auch im Allgemeinen die Fixſterne immer kleiner,
immer mehr als eigentliche Punkte erſcheinen, je vollkommener
das Fernrohr iſt, durch welches man ſie betrachtet.


Da übrigens der wahre Halbmeſſer eines jeden kugelförmig
gebauten Geſtirns gleich iſt dem Produkte der Entfernung deſſelben
von der Erde in dem Sinus des ſcheinbaren Halbmeſſers des Ge-
ſtirns, ſo würde es leicht ſeyn, die wahre Größe derſelben anzu-
geben, wenn man ihre ſcheinbare Größe und ihre Entfernungen
als bekannt vorausſetzen könnte. So will z. B. der ältere Her-
ſchel den ſcheinbaren Halbmeſſer des ſchönen Sterns in der Leier,
der unter dem Namen Wega bekannt iſt, gleich ⅙ einer Secunde
gefunden haben. Nimmt man die Entfernung deſſelben gleich einer
Sternweite oder gleich 200.000 Erdweiten, oder ſeine jährliche
Parallaxe gleich einer Secunde an, ſo folgt daraus, daß ſein wah-
rer Halbmeſſer gleich 0,16 Erdweiten oder, da eine Erdweite 214
Sonnenhalbmeſſer beträgt, gleich 34 Sonnenhalbmeſſer iſt, ſo daß
[165]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
daher der körperliche Inhalt dieſes Sterns den der Sonne gegen
39.000mal übertreffen würde. Wäre die jährliche Parallaxe eines
Sterns, ſo wie ſein ſcheinbarer Halbmeſſer, jede gleich einer Se-
cunde, ſo würde der wahre Halbmeſſer des Sterns gleich dem
Halbmeſſer der Erdbahn oder der Stern würde ſo groß ſeyn, daß
er den Raum, den die jährliche Bahn der Erde im Weltraume
einnimmt, ganz ausfüllen würde. Damit der ſcheinbare Halb-
meſſer der Sonne von der Erde geſehen, der jetzt 960 Secunden
beträgt, nur eine halbe Secunde betrage, müßte die Diſtanz der
Sonne von uns nahe gleich 1890 Erdweiten, oder ſie müßte 1890
mal weiter von uns entfernt ſeyn, als ſie jetzt iſt. Wollte man
aber die Sonne in die Entfernung des nächſten Fixſterns, alſo in
die Diſtanz von 4 Billionen Meilen von uns verſetzen, ſo würde
ihr ſcheinbarer Halbmeſſer nur mehr unter dem äußerſt gerin-
gen Winkel von 0″,002 Secunden von uns geſehen werden.


Ohne Zweifel ſind jene ſo weit von uns entfernte Fixſterne
an Größe unter einander ſehr verſchieden und es iſt nicht unwahr-
ſcheinlich, daß viele derſelben die Sonne an Größe weit übertref-
fen, obſchon ſie alle darin unſerer Sonne ähnlich ſind, daß ſie,
wie dieſe, mit ihrem eigenen Lichte leuchten, während der Mond
und die Planeten und andere an ſich dunkle Körper nur durch
das von der Sonne geborgte und an ihrer Oberfläche reflectirte
Licht uns ſichtbar werden. Ohne Zweifel ſind jene Fixſterne
ebenfalls ſolche Sonnen, um welche ſich wieder andere dunkle Kör-
per bewegen, die von ihren Centralpunkten, wie die Planeten von
unſerer Sonne, Licht und Wärme erhalten. Es iſt ſelbſt möglich,
daß viele dieſer Centralkörper, die Quelle der Bewegung unzähli-
ger ſie umkreiſenden Planeten und Kometen, an ſich dunkle, alſo
uns für immer unſichtbare Körper ſind, und vielleicht ſind eben
die größten unter ihnen ſolche dunkle Sterne, deren ungeheure
Maſſe eine ſo gewaltige Anziehung aller Theile ihrer Oberfläche
gegen den Mittelpunkt derſelben ausübt, daß die Kraft dieſer At-
traction die Schnellkraft des Lichtes, mit welcher ſich daſſelbe von
den leuchtenden Körpern zu entfernen ſucht, überwiegt und daher
dieſes Licht nicht mehr ausſtrömen läßt. Ueberhaupt ſind wohl
die lichten und dunklen Himmelskörper nicht eben ſo verſchieden,
wie wir ſie uns bisher vorzuſtellen pflegten. Unſere Sonne ſelbſt
[166]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
iſt wahrſcheinlich ein vollkommen dunkler Körper, nur mit einer
leuchtenden Atmoſphäre umgeben. Der Mond, den wir für einen
durchaus lichtloſen Körper halten, ſcheint doch auch ein eigenes
phosphorescirendes Licht zu haben, wie ſeine Kupferfarbe bei to-
talen Mondsfinſterniſſen zeigt. Die Kometen haben wahrſcheinlich
alle ein ihnen eigenthümliches Licht und die ſogenannten verän-
derlichen Sterne, die regelmäßige Abwechslungen ihres Lichtes
zeigen, haben vielleicht die Eigenſchaft, das Licht an ihrer Ober-
fläche gleichſam pulſirend oder periodenweiſe ſelbſtthätig zu ent-
wickeln und in dieſem Wechſel ihrer inneren An- und Abſpannung
bald als leuchtende, bald als dunkle Körper zu erſcheinen. Wer
mag es läugnen, daß ähnliche Veränderungen ſelbſt in dem Inne-
ren unſerer Erde, das wir noch gar nicht kennen, vorgehen? Die
Erde beſitzt, wie unſere Beobachtungen zeigen, eine ihr eigenthüm-
liche, innere Wärme und in der Nähe ihres Mittelpunktes viel-
leicht eine ſehr große Hitze. Auf ihrer Oberfläche geht dieſe Wärme
oft in Flammen und gewaltſame Erſchütterungen über, die ihren
Grund in jener Centralhitze haben mögen. Könnten wir die
Rinde, welche jenen großen Herd bedeckt, aufbrechen und bis zu
ihm vordringen, ſo würden wir vielleicht ganze Strecken von
vielen Quadratmeilen finden, die an Licht und Feuer mit der
Sonne wetteifern.


Wie es ſich aber auch mit dieſen uns leider noch ganz unbe-
kannten Gegenſtänden verhalten mag, dieß geht aus unſeren Be-
obachtungen klar hervor, daß die Fixſterne alle in ſolchen Entfer-
nungen von uns abſtehen, daß ſelbſt die Diſtanz der Sonne von
der Erde, von 20 Millionen Meilen, aus jenen Entfernungen ge-
ſehen, nur als ein für unſere Sinne untheilbarer Punkt erſcheint,
und daß der nächſte dieſer Fixſterne wenigſtens 200.000 Erdweiten
oder vier Billionen Meilen von uns, oder was hier daſſelbe iſt,
von der Sonne abſtehen muß. Wie weit ſich, jenſeits dieſer näch-
ſten Sterne, nach allen Seiten der Weltraum, jener unabſehbare
Wald von Sonnen, erſtreckt, wird uns wohl immer unbekannt
bleiben. Alles, was uns von dieſem unermeßlichen Himmelsbau
noch einigermaßen zu kennen erlaubt iſt, bezieht ſich auf die kleine
Colonie, die ſich um unſere Sonne angebaut hat, die uns zunächſt
umgibt, und zu der die Erde, unſer Wohnort, ſelbſt gehört. Die
[167]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
Stelle, auf welcher ſich dieſe Colonie niedergelaſſen hat, iſt ein
kleiner Kreis von nahe fünfmalhunderttauſend Billionen Q. Meilen,
in deſſen Mitte die Sonne wohnt und an deſſen äußerſter Gränze,
vierhundert Millionen Meilen von der Sonne, ſich der Planet
Uranus angeſiedelt hat. Ein kleiner Kreis, ſage ich, denn ſchon
der nächſte Nachbar, der nächſte der uns umgebenden Fixſterne,
ſieht den Halbmeſſer dieſes Kreiſes nur unter dem kleinen Winkel
von 20 Secunden, oder nicht einmal ſo groß, als uns der Halb-
meſſer des Planeten Jupiter, wenn er uns am nächſten ſteht, er-
ſcheint. Zwiſchen dieſer äußerſten Gränze, die unſerer kleinen
Sonnenfamilie in dem Weltraume angewieſen iſt, und zwiſchen
den nächſten Sternen findet ſich nach allen Seiten hin eine unab-
ſehbare Wüſte, eine rings um unſer Planetenſyſtem laufende, leere
Zone, deren Breite 3.999.600 Millionen Meilen beträgt, die alſo
9.999mal breiter, als der Halbmeſſer des unſerer Colonie ange-
wieſenen Kreiſes iſt. Welche Abſicht der Urheber der Natur gehabt
hat, die einzelnen Länder ſeines Reiches durch ſolche Wüſten von
einander zu trennen, wird uns wohl immer ein Geheimniß blei-
ben. Auf unſerer Erde wäre dieß ohne Zweifel das einzige Mit-
tel, die ſchönen Träume St. Pierre’s von dem goldenen Zeitalter
und dem ewigen Frieden, nach dem man ſich ſchon ſo lange ver-
gebens ſehnt, endlich einmal zu verwirklichen.


§. 72. (Geſchichte der Parallaxe.) Sobald Copernicus ſein
neues Planetenſyſtem, das ganz auf die Bewegung der Erde um
die Sonne gegründet war, aufgeſtellt hatte, mußte die Frage, ob
die Fixſterne eine jährliche Parallaxe haben, von der größten
Wichtigkeit erſcheinen, da die Exiſtenz dieſer Parallaxe zugleich
als der beſte und auffallendſte Beweis für jene Bewegung der
Erde angeſehen wurde. In unſeren Tagen, wo dieſe Bewegung
bereits durch die in dem vorhergehenden Kapitel enthaltenen
Gründe, und noch mehr durch die Betrachtungen, die den Gegen-
ſtand des nächſtfolgenden Kapitels machen, über alle Zweifel er-
hoben iſt, hat dieſe Frage in jener Beziehung ihr Intereſſe ver-
loren, obſchon ſie, in Rückſicht auf unſere Kenntniß der Ausdeh-
nung des Weltraumes überhaupt, immer von der äußerſten Wich-
tigkeit bleiben wird; und ſo wird es daher nicht unangemeſſen ſeyn,
[168]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
hier eine kurze Geſchichte der Bemühungen der Aſtronomen zu
dieſem Zwecke mitzutheilen.


Schon Galilei, das erſte Opfer jenes neuen Syſtems, war
auf ein Mittel bedacht, die Parallaxe der Fixſterne durch Beobach-
tungen zu beſtimmen. Er ſchlug dazu Beobachtung des Unter-
ganges eines Sterns der erſten Größe an einem einige Meilen
entfernten Thurme zu verſchiedenen Zeiten des Jahres vor. Allein
der Vorſchlag blieb unausgeführt und er würde auch kein Reſultat
geliefert haben, da alle Beobachtungen in der Nähe des Hori-
zonts, wie wir ſpäter ſehen werden, großen Unſicherheiten unter-
worfen ſind.


Später beſchäftigten ſich Tycho Brahe und Biccioli
fleißig mit dieſen Unterſuchungen. Aber ihre Quadranten, mit
welchen ſie die Parallaxe der Fixſterne beſtimmen wollten, waren
viel zu unvollkommen, um dadurch eine ſo kleine Größe beſtim-
men zu können. Ihre Abſicht war, die Lehre des Copernicus
durch die Nichtexiſtenz dieſer Parallaxe als irrig darzuſtellen, und
ſo wird es kaum als ein Beweis ihres Beobachtungstalentes, wie
einige Aſtronomen gemeint haben, angeſehen werden können, daß
ſie auch in der That keine Parallaxe gefunden haben.


Zu Ende des 17ten Jahrhunderts nahm der berühmte engli-
ſche Geometer Wallis dieſen Gegenſtand wieder vor. Er befe-
ſtigte das Objectiv eines Fernrohrs von ſehr großer Brennweite
an der Spitze eines Thurmes und beobachtete dadurch und durch
ein in die Wand ſeines Hauſes eingemauertes Ocular die Diffe-
renz der Azimute größerer Sterne zu verſchiedenen Jahreszeiten.
Er wollte durch dieſes Verfahren vorzüglich die Störungen der
Refraction, von der wir ſpäter ſprechen werden, vermeiden. Allein
auch er fand nichts Entſcheidendes, obſchon er ſeinen Gegenſtand,
wie er ſelbſt ſagte, über 40 Jahre verfolgte. Bald darauf wollte
Rowley dieſelben Beobachtungen an einem der Thürme der
Paulskirche in London wiederholen, aber Newton ſoll die Aus-
führung gehindert haben, weil er beſorgte, daß das ohnehin nicht
zweckmäßige Verfahren durch ſein wahrſcheinliches Mißlingen die
neue Lehre bei den weniger Unterrichteten in Mißcredit bringen
könnte.


Newton’s Zeitgenoſſe und Gegner, Hooke, ſuchte denſelben
[169]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
Zweck durch ein feſtgemauertes Fernrohr von 36 Fuß Focallänge
zu erreichen, aber die dann angeſtellten Beobachtungen waren zu
unvollkommen, um durch ſie eine Beantwortung der Frage zu
erwarten. Flamstead beobachtete um das Jahr 1690 an ſeinem
ſechsfüßigen Mauerquadranten in Greenwich durch längere Zeit
den Polarſtern und wollte daraus eine nicht unbeträchtliche Pa-
rallaxe dieſes Sterns gefunden haben. Allein der berühmte Do-
menico Cassini
zeigte, daß die von Flamstead bemerkten Verän-
derungen des Sterns mit denjenigen nicht übereinſtimmen, welche
aus einer richtigen Theorie der Parallaxe folgen, und daß ſie da-
her aus ganz anderen Urſachen abgeleitet werden müſſen. Der
Däne Römer, dem die praktiſche Aſtronomie ſo viel verdankt,
zeigte zuerſt, daß die beobachteten Rectaſcenſionen der Sterne zu
jenem Zwecke viel geſchickter ſind, als die von Flamstead an-
gewendeten Zenithdiſtanzen. Er verfolgte ſelbſt dieſen Gegenſtand
durch achtzehn Jahre. Man muß es bedauern, daß er bei der
Redaction dieſer Beobachtungen durch den Tod überraſcht wurde.
Uebrigens fand er die Summe der Parallaxen der beiden Sterne
Sirius und Wega zwiſchen 30 und 45 Secunden, alſo viel zu
groß gegen die Reſultate, welche neuere Beobachtungen dieſer
Sterne gegeben haben. Auch der berühmte Aſtronom Bradley,
Flamstead’
s Nachfolger in Greenwich, verfolgte dieſen Gegen-
ſtand durch viele Jahre mit großem Eifer, fand aber dadurch ſtatt
der Parallaxe, die er ſuchte, zwei andere merkwürdige Bewe-
gungen der Fixſterne, von denen wir ſpäter ſprechen werden. Die
Parallaxe ſelbſt erklärte er, ſeinen Beobachtungen zu Folge, für
unmerklich.


In unſeren Zeiten beſchäftigten ſich vorzüglich Piazzi und Ca-
landrelli
mit der Beantwortung dieſer Frage. Piazzi in Palermo
wählte wieder die Beobachtungen der Zenithdiſtanzen. Er fand
die Parallaxe der Capella und mehrerer anderer Fixſterne der er-
ſten Größe ſehr nahe gleich Null, die des Sirius aber wollte er
vier Secunden groß gefunden haben. Die Beobachtungen anderer
Aſtronomen ſtimmen damit nicht überein. Auch iſt der letzte
Stern zu Unterſuchungen dieſer Art nicht geeignet, da er für alle
Sternwarten Europa’s in einer zu geringen Höhe durch den Me-
ridian geht. Endlich ſcheint es, als ob die Veränderungen, welche
[170]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
er zu verſchiedenen Jahreszeiten in der Lage der Sterne gefunden
hatte, ihren eigentlichen Grund in den Veränderungen des Ge-
bäudes hatten, in welchem ſein Inſtrument aufgeſtellt war, indem
dieſes, wie vielleicht jedes andere Gebäude, durch die theilweiſe
Beſcheinung der Sonne und durch die verſchiedene Temperatur der
Jahreszeiten, periodiſchen Veränderungen ſeiner Lage unterworfen
iſt, deren Folgen er, ohne die Urſache derſelben zu kennen, auf
den Himmel übertrug.


Calandrelli in Rom beobachtete um das Jahr 1805 zu
dieſer Abſicht beſonders den ſchönen Stern Wega in der Leier, der
für ſeinen Parallelkreis nahe durch das Zenith des Beobachters
geht. Er wählte dazu einen Sector von neun Fuß im Halbmeſſer
und ſeine mit vieler Umſicht angeſtellten und unter ſich gut har-
monirenden Beobachtungen gaben die Parallaxe dieſes Sterns
gleich 4,4 Secunden, woraus die Entfernung deſſelben von uns
gleich 46.880 Erdweiten folgen würde.


Allein Beſſel in Königsberg, der nach Calandrelli denſel-
ben Stern unterſuchte, fand aus Bradley’s Beobachtungen der
Rectaſcenſionen ſelbſt die Summe der Parallaxen für Wega und
Sirius gleich Null, für Atair im Adler und Procyon im kleinen
Kind, erhielt er zur Summe der Parallaxen nur die ſehr geringe
Größe von 5/8 einer Secunde. Er wählte dazu ſehr zweckmäßig
ſolche Sternpaare, die nahe in demſelben Parallelkreiſe liegen und
in Rectaſcenſion nur wenig von 180 Graden verſchieden ſind; für
ſolche Sterne liegen die Jahreszeiten, wo ihre Parallaxe der Recta-
ſcenſion am kleinſten und am größten iſt, nahe ſechs Monate von
einander, und dieſe größten und kleinſten Werthe haben dann
Statt, wenn die Sonne in Rectaſcenſion dem Stern nahe um
6 Uhr voran geht oder ihm eben ſo viel folgt.


Der jüngere Herſchel ſchlug endlich zu dieſem Zwecke die Be-
obachtung der Doppelſterne, d. h. ſolcher Sterne vor, die von der
Erde geſehen, ſehr nahe an einander zu ſtehen ſcheinen. Unter
der Vorausſetzung, daß dieſe Nähe in der That nur ſcheinbar iſt
und bloß von der Stellung unſerer Erde gegen dieſe Sterne ab-
hängt, während die letzten vielleicht ſehr weit hinter einander ſte-
hen, würde eine Ortsveränderung der Erde auch die ſcheinbare
Diſtanz jener Sterne ändern müſſen. Jeder dieſer beiden Sterne
[171]Parallaxen u. Entfernungen d. Geſtirne von d. Erde.
würde nämlich, in Folge der jährlichen Bewegung der Erde, eine
kleine Ellipſe am Himmel zu beſchreiben ſcheinen, die der Durch-
ſchnitt der Himmelsfläche mit einem ſchiefen elliptiſchen Kegel iſt,
der ſeine Scheitel in dem Sterne und ſeine Baſis in dem Umkreiſe
der Erdbahn hat. Dieſe Ellipſe wird für den entfernteren der
beiden Sterne viel kleiner, als für den anderen ſeyn. Mißt man
daher mit einem ſogenannten Poſitions-Mikrometer, zu verſchie-
denen Zeiten des Jahres, die Diſtanz der beiden Sterne ſowohl,
als auch die Lage, welche die ſie verbindende gerade Linie mit der
Ebene des Horizonts oder des Aequators bildet, und bemerkt man
in dieſen beiden Größen periodiſche Aenderungen, ſo wird man
leicht ſehen, ob dieſe Aenderungen mit der Theorie der Parallaxe
übereinſtimmen.


Dieſe Methode iſt ganz unabhängig von all’ den Fehlern,
denen jede Beobachtung der Zenithdiſtanz oder der Rectaſcenſion
unterworfen iſt, und ſie empfiehlt ſich vorzüglich dadurch, daß die
Refraction, dieſes große Hinderniß aller genauen Beobachtungen,
auf ſie keinen weiteren Einfluß mehr hat. Aber ſie ſetzt voraus,
daß die Duplicität dieſer Sterne nur ſcheinbar iſt, oder daß beide
Sterne in ſehr verſchiedener Entfernung von uns auf der gemein-
ſchaftlichen Geſichtslinie derſelben ſtehen, und daß ſie überdieß kei-
nen anderen Bewegungen unterworfen ſind. Allein beide Voraus-
ſetzungen ſcheinen nur ſehr ſelten oder vielleicht nie Statt zu fin-
den. Wir werden ſpäter ſehen, daß die meiſten dieſer doppelten
und vielfachen Sterne nicht bloß ſcheinbar, ſondern in der That
ſehr nahe bei einander ſtehen, daß ſie gleichſam iſolirte Stern-
ſyſteme am Himmel bilden, und daß bei weitem die meiſten der-
ſelben nicht nur einer relativen Bewegung um einander, ſondern
auch einer gemeinſchaftlichen, fortſchreitenden Bewegung im Raume
unterworfen ſind. Dieß iſt ohne Zweifel die Urſache, warum
dieſe ſinnreiche Methode, von der man ſich Anfangs einen ſo glück-
lichen Erfolg verſprach, noch keine Reſultate geliefert hat, und
warum wir überhaupt über die Parallaxe der Fixſterne noch ſo
ganz im Dunkeln ſind.


[[172]]

KapitelVI.
Aberration der Fixſterne.


§. 73. (Erſte hierher gehörende Erſcheinungen). Wir haben
bereits zu Ende des vorhergehenden Kapitels der Beobachtungen
erwähnt, die James Bradley zur Auffindung der Parallaxe der
Fixſterne angeſtellt hatte. Er begann ſie zu Ende des Jahrs 1725
in Verbindung mit Samuel Molineux, mit welchem er zu Kew,
in der Grafſchaft Essex, vorzüglich den Stern γ im Kopfe des
Drachen, der nahe durch das Zenith dieſer Stadt geht, durch
mehre Jahre mit großer Aufmerkſamkeit verfolgte. Sein treffli-
ches Inſtrument, ein Zenithſector von Graham, ſetzte ihn bald in
den Stand, Aenderungen in der Lage dieſes Sterns zu bemerken,
die zwar nur ſehr klein, aber auch zugleich ſehr regelmäßig waren,
und deren Urſache zu erforſchen ihm daher ſehr angelegen ſeyn
mußte.


Er fand zuerſt, daß die Veränderungen der Länge und der
Breite dieſes Sterns eine Periode haben, deren Länge gleich der
Länge des Jahres iſt. Da dieß zugleich die Periode iſt, in wel-
cher die jährliche Parallaxe des Fixſterns, wenn ſie überhaupt
exiſtirt, eingeſchloſſen ſeyn muß, ſo mochte er, auf den erſten An-
blick dieſes Gegenſtandes, wohl geglaubt haben, die ſo lang ge-
ſuchte Parallaxe endlich einmal gefunden zu haben. Allein eine
nähere Betrachtung dieſer jährlichen Veränderung des Sterns
mußte ihn bald von dieſer Vermuthung zurückbringen. Er fand,
[173]Aberration der Fixſterne.
daß die Länge dieſes Sterns immer in der Mitte des Junius
am größten, und in der Mitte des Dezembers am kleinſten war,
und daß ſie in der Mitte des März und Septembers ihren mitt-
lern Werth hatte. Die Breite im Gegentheile hatte im März
ihren kleinſten, im September ihren größten, und im Junius und
Dezember ihre mittleren Werthe.


§. 74. (Dieſe Erſcheinungen ſind nicht aus der Parallaxe zu
erklären). Dieſe Veränderungen paßten aber durchaus nicht in
eine parallactiſche Bewegung des Sterns, ſie mußten alſo eine
ganz andere Urſache haben.


Um das Folgende leichter zu überſehen, ſey S (Fig. 8) die
Sonne, und abcd die jährliche Bahn der Erde. Denken wir uns
ein Geſtirn im ♑ nahe im 270ſten Grad der Länge, wo in der
That der oben erwähnte Stern γ Draconis ſteht. Iſt die Erde
im Dezember in b, ſo ſieht ſie den Stern in derſelben Richtung
wie die Sonne, nämlich beide bei ♑ und man ſagt dann, der
Stern ſey mit der Sonne in Conjunction. Iſt aber die Erde
im Junius in d, ſo ſieht ſie den Stern, wie zuvor, im ♑, die
Sonne aber auf der entgegengeſetzten Seite des Himmels im ♋,
und man ſagt dann, der Stern ſey mit der Sonne in Oppo-
ſition
. Für die beiden Punkte a und c endlich, die zwiſchen den
vorhergehenden b und d in der Mitte liegen, ſagt man, der Stern
ſey in der Quadratur mit der Sonne. In der Conjunction iſt
die Länge der Sonne gleich der Länge des Sterns, und der Stern
geht mit der Sonne zugleich durch den Meridian, oder er culmi-
nirt um Mittag. In den beiden Quadraturen iſt jene Differenz
der Längen gleich 90° oder 270° und der Stern culminirt um
6 Uhr Morgens oder um 6 Abends. In der Oppoſition endlich
beträgt jener Längenunterſchied 180 Grade, und der Stern culmi-
nirt um Mitternacht. Conjunction und Oppoſition zuſammen
pflegt man auch mit einem Worte, die Syzygien zu nennen.


Dieß vorausgeſetzt, können wir nun jene Veränderungen des
Sterns kürzer ſo ausdrücken: „Die Länge deſſelben hat in ſeiner
„Conjunction mit der Sonne den kleinſten, in der Oppoſition
„den größten, und in den beiden Quadraturen ſeinen mittlern
„Werth; die Breite aber hat in den Quadraturen ihren größten
„und kleinſten und in den beiden Syzygien ihren mittlern Werth.“
[174]Aberration der Fixſterne.
Und ganz demſelben Geſetze folgten auch die jährlichen Bewegun-
gen aller andern Sterne, die Bradley nebſt γ Draconis an
ſeinem Sector beobachtete. Dabei mußte es ihm auffallen, daß
der Unterſchied der größten und kleinſten Länge, in dem Orte
des Sterns ſelbſt betrachtet, bei allen Sternen von gleicher
Größe
war, und 40,5 Secunden betrug, während die Verände-
rungen der Breite immer kleiner wurden, je näher der Stern an
der Ecliptik ſtand, bis endlich für Sterne in der Ecliptik die
Breite derſelben ganz unveränderlich, oder immer gleich Null blieb.
Bradley nannte dieſe Veränderungen der Sterne die Aberra-
tion
derſelben.


Daß aber dieſe Bewegungen ſich aus einer gewöhnlichen
Parallaxe der Erdbahn nicht erklären laſſen, war wohl für ſich klar.
Die Wirkungen einer ſolchen Parallaxe laſſen ſich nämlich, nach
dem vorhergehenden Kapitel, auf folgende Weiſe bildlich darſtellen.
Man denke ſich durch den Stern und durch die Erde in allen
Punkten ihrer Bahn gerade Linien gezogen, ſo werden dieſe ge-
raden Linien die Oberfläche eines Kegels bilden, deſſen Baſis die
Erdbahn und deſſen Spitze der Stern iſt. Verlängert man dann
dieſe geraden Linien über den Stern hinaus, bis an die Fläche
des Himmels, ſo werden ſie dieſe Fläche in einer krummen, ellip-
ſenförmigen Linie ſchneiden, welche die parallactiſchen Orte des
Sterns, d. h. alle diejenigen Orte enthalten wird, in welcher
während dem Laufe des ganzen Jahrs der Stern, von der Erde
geſehen, erſcheint, während er, von der Sonne geſehen, immer in
dem Mittelpunkte jener Ellipſe oder in demjenigen Punkte des
Himmels erſcheinen wird, wo die, von der im Mittelpunkte der
Erdbahn ruhenden Sonne nach der Spitze jenes Kegels gezogene
gerade Linie verlängert, den Himmel treffen wird. Aus dieſer einfa-
chen Conſtruction folgt ſofort, daß wir den Stern, in Beziehung
auf ſeinen mittlern Punkt, d. h. in Beziehung auf den Mittel-
punkt ſeiner Ellipſe, immer auf der entgegengeſetzten Seite
des Himmels von derjenigen ſehen werden, welche unſere Erde
ſelbſt in ihrer Bahn einnimmt. Wir werden ihn alſo z. B. am
meiſten öſtlich ſehen, wenn wir in dem weſtlichſten Punkte a unſe-
rer Bahn ſind, am meiſten weſtlich aus dem öſtlichſten Punkte
der Bahn, und wenn er über der Ecliptik ſteht, ſo wird man ihn
[175]Aberration der Fixſterne.
am meiſten über derſelben, oder in ſeiner größten Breite ſehen,
wenn die Erde am tiefſten unter ihm, oder wenn ſie ihm in der
Oppoſition am nächſten ſteht, und wieder am nächſten bei der
Ecliptik oder in ſeiner kleinſten Breite, wenn die Erde in der
Conjunction den größten Abſtand von dem Stern hat u. ſ. w.
Kurz: „Die Länge jedes Sterns hat wegen ſeiner parallactiſchen
„Bewegung in den Syzygien ihren mittlern, und in den Quadra-
„turen ihren größten und kleinſten Werth, während die Breite in
„den Quadraturen ihren mittlern, in der Conjunction den klein-
„ſten, und in der Oppoſition den größten Werth hat,“ welches
Geſetz demnach in allen ſeinen Theilen das Gegentheil von dem
oben aufgeſtellten Geſetze der Aberration iſt, dem die von Bradley
entdeckten Veränderungen unterworfen ſind. Zwar laſſen ſich auch
dieſe letzten Veränderungen durch eine Ellipſe darſtellen, welche
der Stern um ſeinen mittlern Ort, oder um den Mittelpunkt
dieſer Ellipſe, jährlich zurücklegt, aber dieſe beiden Ellipſen ſind
eben ſo weſentlich von einander verſchieden, als die Bewegungen
ſelbſt, welche die Sterne in dieſen beiden Ellipſen befolgen.


§. 75. (Differenz zwiſchen den Wirkungen der Parallaxe und der
Aberration). In der parallactiſchen Ellipſe αβγδ (Fig. 8) nämlich iſt
der Stern immer in demjenigen Punkte ſeiner Peripherie, der dem
gleichzeitigen Punkte der Erde in ihrer Bahn gerade entgegen geſetzt
iſt, oder der Stern iſt bei ſeiner kleinſten Länge in α, wenn die
Erde in a und bei ſeiner größten Länge in γ, wenn die Erde in
c iſt. In beiden Fällen ſteht aber der Stern mit der Sonne in
den Quadraturen. Die mittleren Längen aber haben Statt, wenn
der Stern in β und δ und die Erde in b und d in den Syzygien iſt.
Eben ſo iſt für die größte Breite der Stern in δ und die Erde
in d zur Zeit der Oppoſition; für die kleinſte Breite der Stern
in β und die Erde in b zur Zeit der Conjunction, und endlich
für die mittlere Breite der Stern in α oder γ, während die Erde
in a oder c zur Zeit der Quadraturen iſt. Was endlich dieſe
Ellipſe ſelbſt betrifft, ſo iſt ſie für jeden Stern eine andere, und
überhaupt deſto kleiner, je größer die Entfernung deſſelben von
der Erde iſt, bis ſie endlich für alle die Sterne, deren jährliche
Parallaxe Null iſt, in einen einzigen Punkt übergeht, oder gänz-
lich verſchwindet.


[176]Aberration der Fixſterne.

Im Gegentheile iſt die zweite Ellipſe, welche die von Brad-
ley
beobachtete Aberration der Sterne enthält, in derſelben Figur
auf eine ähnliche Weiſe durch a'b'c'd' dargeſtellt, wo wieder der
Stern in a' und die Erde zu derſelben Zeit in a, oder der Stern in
b' und die Erde in b iſt u. ſ. w. Hier hat, wie ſchon der bloße
Anblick der Zeichnung zeigt, der Stern ſeine kleinſte Länge in
b', wenn die Erde zur Zeit der Conjunction in b iſt, und die
größte Länge in d', wenn die Erde zur Zeit der Oppoſition in d
iſt, während die mittleren Längen in a' und c' in die Zeiten der
Quadraturen fallen. Die Breite aber hat ihre größten und klein-
ſten Werthe in den Punkten a' und c' zur Zeit der Quadraturen
und ihre mittleren Werthe in b' und d' zur Zeit der Syzygien,
vollkommen mit dem oben aufgeſtellten Geſetze übereinſtimmend.
Was endlich dieſe Ellipſe ſelbſt betrifft, ſo iſt der große Durch-
meſſer derſelben bei allen Sternen parallel mit der Ecliptik, und
für alle Sterne von gleicher Größe, nämlich gleich 40,5 Secunden.
Der kleine Durchmeſſer aber, der ſenkrecht auf der Ecliptik, oder
in dem breiten Kreiſe des Sterns liegt, wird immer kleiner, je
näher die Sterne an der Ecliptik liegen, bis er endlich für Sterne
in der Ecliptik gänzlich verſchwindet, und hier die ganze Ellipſe
in eine gerade, der Ecliptik parallele Linie von 40,5 Secunden
Länge übergeht.


§. 76. (Entſtehung der Aberrations-Ellipſe). Um auch die
genetiſche Erklärung dieſer zweiten Ellipſe a'b'c'd' zu geben, ſo
wollen wir die Bahn der Erde durch den auf die Geſichtslinie
S♑ des Sterns ſenkrechten Durchmeſſer ac in zwei Hälften theilen,
wo wir ſodann Folgendes bemerken: Iſt die Erde in der von
dem Stern abgewendeten Hälfte abc ihrer Bahn, ſo iſt der Stern
in dem Bogen a'b'c', in welchem durchaus ſeine ſcheinbare Länge
kleiner iſt als die wahre oder mittlere Länge. Iſt aber die Erde
in der dem Stern zugekehrten Hälfte cda ihrer Bahn, ſo iſt der
Stern in dem Bogen c'd'a', wo die ſcheinbare Länge deſſelben
überall größer iſt, als die mittlere. Da wir alſo die Länge des
Sterns aus der ihm zugekehrten Hälfte der Erdbahn immer grö-
ßer, und aus der abgewendeten Hälfte immer kleiner ſehen, ſo
folgt daraus, daß die ſcheinbare Geſichtslinie, in welcher wir den
Stern im Laufe des ganzen Jahres durch ſehen, gegen die wahre
[177]Aberration der Fixſterne.
oder mittlere Geſichtslinie, in welcher man ihn aus der ruhenden
Sonne ſehen würde, etwas geneigt, und zwar nach derſelben Seite
hin geneigt iſt, nach welcher die Erde in ihrer jährlichen Bewe-
gung hingeht.


Sey alſo ABCD (Fig. 14) die Erdbahn, in deren Mittel-
punkte die Sonne S ruht. Wenn man von der Sonne aus einen
Fixſtern in п in der Richtung Sп ſieht, ſo wird man denſelben
Stern auch von allen Punkten D, A, B, C der Erdbahn aus in
demſelben Punkte des Himmels ſehen, wenn die Entfernung
deſſelben in der That ſo groß iſt, daß dagegen der Halbmeſſer
der Erdbahn, oder daß die jährliche Parallaxe des Sterns als
ganz unmerklich verſchwindet. Zieht man daher durch dieſe Punkte
D, A, B, C der Erdbahn gerade Linien DP, AP', BP'' und CP''',
die alle mit der durch die Sonne gehenden Linie Sп parallel
ſind, ſo werden dieſe Linien DP, AP', die mittlern oder wahren
Geſichtslinien des Sterns п ſeyn. Wenn ſich nun die Erde in
der Richtung DAB oder von Weſt gen Oſt bewegt, ſo wird die
ſcheinbare Geſichtslinie des Sterns für jeden Punkt der Erdbahn,
dem Vorhergehenden gemäß, in Beziehung auf die wahre Ge-
ſichtslinie, gegen die Seite, wohin ſich die Erde bewegt, geneigt
ſeyn, oder dieſe ſcheinbare Geſichtslinie wird durch die punktirten
Linien Dp, Ap', Bp'', Cp''' vorgeſtellt werden. Den Beobach-
tungen gemäß, wird der Winkel P'Dp, P'Ap' .. der beiden Ge-
ſichtslinien für alle Punkte der Erdbahn immer gleich groß ſeyn,
und 20,25 Secunden betragen, und die ſcheinbare Geſichtslinie
wird für jeden Punkt der Erde immer in der Ebene liegen, welche
durch die wahre Geſichtslinie und durch die Tangente der Erd-
bahn in dieſem Punkte geht. Stellen alſo die kleinen Linien Dd,
Aa, Bb
und Cc dieſe Tangente der Erdbahn in den Punkten
D, A, B und C vor, ſo liegen für jeden dieſer Punkte, die drei
von ihnen ausgehenden Linien, wie DP, Db und Dd, in einer und
derſelben Ebene
, und der Winkel PDp der beiden erſten Li-
nien iſt immer von derſelben Größe, und gleich 20,25 Secunden,
daher er auch der Aberrations-Winkel genannt wird.


Allein dieſe Ebene, in welcher der wahre und der ſcheinbare
Ort des Sterns liegt, dreht ſich, weil ſie immer durch die Tan-
gente der Erdbahn geht, die ſich ſelbſt dreht, indem ſie nach und
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 12
[178]Aberration der Fixſterne.
nach die Lagen Dd, Aa, Bb u. ſ. f. annimmt. Durch dieſe Dre-
hung jener Ebene geſchieht es, daß der ſcheinbare Ort des Sterns,
der immer nach der Seite zu liegt, wohin die Erde geht, einmal
links oder rechts, einmal über oder unter dem wahren Orte des
Sterns zu liegen kömmt, wie die Zeichnung zeigt, und daß alſo
auch die Ebene des parallactiſchen Winkels bald parallel, bald
ſenkrecht, und bald wieder in verſchiedenen ſchiefen Lagen gegen
die Ebene der Ecliptik ſteht, wodurch denn auch die Länge ſowohl,
als die Breite des Sterns auf ſehr mannigfaltige Weiſe verän-
dert werden, wenn gleich die abſolute Größe des parallactiſchen
Winkels immer dieſelbe bleibt.


So ſteht z. B. dieſe Ebene zur Zeit der beiden Quadraturen,
wo die Erde in A und C iſt, ſenkrecht auf der Ecliptik, der Aber-
rationswinkel liegt in dem Breitenkreiſe, daher auch die Breite
des Sterns am meiſten, die Länge deſſelben aber gar nicht geän-
dert wird. In den Quadraturen hat daher die Breite des Sterns
in A ihren größten, in C ihren kleinſten Werth, während die
Länge des Sterns gleich der aus der Sonne S geſehenen Länge
iſt, oder ihren mittlern Werth hat. Zur Zeit der Syzygien aber,
wo die Erde in B und D iſt, liegt jene Ebene gegen die Ecliptik
ſo, daß der Aberrationswinkel ſeine ganze Wirkung auf die Länge
des Sterns, und gar keine auf die Breite deſſelben äußert, daher
auch in der Conjunction in B die Länge ihrer kleinſten, und in
der Oppoſition in D ihren größten Werth hat, weil dort der
Stern in der Geſichtslinie Bp'' und hier in der Richtung Dp
erſcheint, und da dieſe beiden ſcheinbaren Geſichtslinien mit ihren
mittlern BP'' und DP dieſelbe Neigung gegen die Ecliptik haben,
ſo wird dadurch die Breite des Sterns gar nicht geändert, oder
in den Syzygien hat die Breite des Sterns ihren mittlern Werth,
was alles mit den in §. 74 aufgeſtellten Geſetzen der Aberration
genau übereinſtimmt. Erinnert man ſich endlich noch, daß vermöge
der verſchwindenden jährlichen Parallaxe der Fixſterne der Halb-
meſſer der Erdbahn gegen die Entfernung der Sterne als unend-
lich klein angenommen werden kann, ſo wird man auch annehmen
können, daß der Umkreis ABCD der Erdbahn bloß durch ſeinen
Mittelpunkt S, und daß alle wahre Geſichtsſtrahlen DP, AP',
BP''
.. bloß durch den mittlern, durch die Sonne S gehenden
[179]Aberration der Fixſterne.
Geſichtsſtrahl SΠ vorgeſtellt werden. Zeichnet man dann um
dieſen mittlern Geſichtsſtrahl SΠ alle ſcheinbare Dp, Ap', Bp''..
ſo, daß jeder von ihnen parallel mit ſeiner frühern Lage, durch
denſelben Punkt S geht, ſo wird man dadurch die Oberfläche eines
Kegels erhalten, deſſen Spitze in S und deſſen Baſis ein mit der
Ecliptik paralleler Kreis iſt, deſſen Mittelpunkt der wahre, aus
der ruhenden Sonne geſehene Stern und deſſen Halbmeſſer, aus der
Sonne betrachtet, unter dem Winkel von 20,25 Secunden erſcheint.
Dieſer Kreis iſt es, der, wenn er auf der Fläche des Himmels
projicirt wird, daſelbſt die oben erwähnte Aberrationsellipſe gibt.


§. 77. (Meſſung der Geſchwindigkeit des Lichts). Wir haben
bisher die Erſcheinungen der Aberration durch die Annahme dar-
zuſtellen geſucht, daß die ſcheinbare Geſichtslinie des Sterns gegen
die wahre auf der Seite, nach welcher ſich die Erde bin bewegt,
um einen conſtanten Winkel geneigt iſt, und haben aus dieſer
Annahme den Schluß gezogen, daß der ſcheinbare Ort des Sterns
um den mittlern während der Zeit eines Jahres eine Ellipſe be-
ſchreiben werde, deren große Axe bei allen Sternen mit der
Ecliptik parallel, und gleich 40'',5 iſt, während die kleine Axe mit
der Breite des Sterns abnimmt, und für Sterne in der Ecliptik
gänzlich verſchwindet.


Dieſe Hypotheſe ſtellt allerdings, wie wir geſehen haben, die
Beobachtungen Bradley’s vollkommen dar, und wir könnten uns
ſonach damit begnügen. Allein, welches iſt die Urſache, die dieſen
ſcheinbaren Ort des Sterns immer nach der Gegend des Himmels
treibt, auf welche die Erde ſelbſt in ihrer jährlichen Bahn in jedem
Augenblicke zugeht. Sollte dieſe kleine Erde auf jene unendlich
weit von ihr entfernten Fixſterne in der That einen ſo ſonderbaren
Einfluß äußern?


Da die beobachteten Aenderungen der Aberration allen Ster-
nen, ohne Ausnahme, zukommen; da jene Abweichung der ſchein-
baren Geſichtslinie derſelben ſich offenbar nach dem Laufe der
Erde richtet, da die Aenderungen der Breite der Sterne, wie wir
geſehen haben, mit der Nähe derſelben bei der Ecliptik im unmit-
telbaren Zuſammenhange ſteht, und da endlich die Periode aller
dieſer Aenderungen, der Länge ſowohl als der Breite, genau die-
ſelbe Länge, wie die Umlaufzeit der Erde um die Sonne hat, ſo
12 *
[180]Aberration der Fixſterne.
iſt wohl nicht weiter zu zweifeln, daß dieſe Bewegungen der
Sterne nur ſcheinbar ſind, und bloß durch die Bewegung der
Erde, gleichſam wie durch eine optiſche Täuſchung, hervorgebracht
werden, und daß ſie daher als ein Beweis für die Exiſtenz dieſer
jährlichen Bewegung der Erde angeſehen werden könnten, indem,
wenn unſere Erde, alſo auch unſer Auge, ſtill ſtünde, gar nicht
abzuſehen wäre, wie dann eine ſolche Verrückung aller Sterne
möglich ſeyn könnte.


Um aber die wahre Urſache der Aberration aus der jährlichen
Bewegung der Erde um die Sonne abzuleiten, müſſen wir zuerſt
eine andere Betrachtung vorausſchicken.


Unter den Planeten, die, gleich unſerer Erde, um die Sonne
laufen, iſt der ſchon oben erwähnte Jupiter, wegen ſeiner Größe,
wegen ſeiner mäßigen Entfernung von der Erde, und vorzüglich
wegen der vier Monde, die ihn umgeben, ſehr wichtig, und die
Entdeckung dieſer Monde durch Galilei, gleich nach der Erfin-
dung des Fernrohrs, bildet eine der intereſſanteſten Epochen in
der Geſchichte der Aſtronomie. Indem dieſe vier Satelliten um
den Jupiter ihren Umlauf machen, treten ſie faſt in jeder Nacht
in den Schatten, welchen der große Körper dieſes Planeten hinter
ſich wirft, wo dann die Beobachter Jupiters das für ſie ſo oft
wiederkehrende Schauſpiel einer Mondsfinſterniß haben, an wel-
cher auch wir, durch Hilfe unſerer Fernröhre, Theil nehmen
können.


Dieſe Finſterniſſe gaben uns, wie ebenfalls ſchon Galilei be-
merkte, die erſte Auflöſung des für die Nautik und für die ge-
ſammte mathematiſche Geographie ſo wichtigen Problems, die
Länge des Beobachtungsortes auf der Erde oder auf der hohen
See zu finden. Die Beobachtungen der Bewegungen dieſer vier
Monde um ihren Hauptplaneten würden mit Recht als eine ſchöne
Beſtätigung des neuen, von Copernicus aufgeſtellten Weltſyſtems
angeſehen werden. Denn jener Planet mit ſeinen Satelliten bildet
gleichſam ein iſolirtes Syſtem am Himmel, in welchem wir, wie
in einem getreuen Abbilde, diejenigen Veränderungen, die ſich
unter den übrigen Planeten erſt in dem Zeitraume von vielen
Jahrhunderten entwickeln, raſch aufeinander folgen ſehen, in wel-
chen wir das bereits erwähnte Geſetz Keplers, wodurch die Diſtanzen
[181]Aberration der Fixſterne.
der Planeten nach ihren Umlaufzeiten geregelt werden, und ſelbſt
die gegenſeitigen Perturbationen oder die Wirkungen dieſer Körper
unter einander, wie in einem Spiegel abgebildet erblickten, und
in welchen endlich die Natur, um das Maß des Intereſſes, das
ſie in dieſe kleine Welt von Monden legte, voll zu machen, uns
ein Mittel geboten hat, die Geſchwindigkeit ihres ſchnellſten Kör-
pers, des Lichts, zu meſſen.


Um die erwähnten Verfinſterungen dieſer Monde zu geogra-
phiſchen Längenbeſtimmungen zu benützen, beſtimmte man, aus
lange fortgeſetzten Beobachtungen, den Umlauf der Satelliten um
Jupiter, und ſuchte daraus die Zeiten ihrer Finſterniſſe zu berech-
nen. Der däniſche Aſtronom, Olof Roemer, war der
erſte, der um das Jahr 1675, alſo 50 Jahre vor Bradley’s
Entdeckung der Aberration, die Bemerkung machte, daß dieſe
Rechnungen zwar zur Zeit, als Jupiter mit der Sonne in den
Quadraturen war, ſehr gut, aber dafür deſto weniger in den Sy-
zygien mit den Beobachtungen übereinſtimmten, daß dieſe Fin-
ſterniſſe nämlich zur Zeit der Oppoſition um nahe 8 Minuten und
13 Secunden früher, und in der Conjunction eben ſo viel ſpäter,
als die Berechnung gab, beobachtet wurden. Iſt z. B. Jupiter in
♋ (Fig. 8), und die Sonne in S, ſo iſt die Erde zur Zeit der
Oppoſition in b und zur Zeit der Conjunction in d, alſo in der
letzten Zeit um die ganze Strecke bSd, das heißt, um den Durch-
meſſer der Erdbahn, weiter, als in der erſten Zeit, von Jupiter
entfernt. Dieſe einfache Bemerkung der verſchiedenen Entfernun-
gen Jupiters von der Erde zur Zeit der Syzygien reichte für
den Scharfſinn Römer’s hin, ſogleich die wahre Erklärung jener
Beſchleunigung und Verzögerung der Finſterniſſe zu finden, eine
Erklärung, die ſo natürlich iſt, daß man nicht weiter an ihrer
Wahrheit zweifeln kann.


In der Conjunction ſind wir von Jupiter um den ganzen
Durchmeſſer der Erdbahn weiter entfernt, als in der Oppoſition.
Warum ſehen wir alſo dort alle Finſterniſſe um 16 Min. 26 Sec.
ſpäter, als hier? — Offenbar, weil das Licht, weil der Bote,
der uns dieſe Nachricht bringt, dort einen viel größern Weg als
hier zu durchlaufen hat, um bis zur Erde zu gelangen.


[182]Aberration der Fixſterne.

Das Licht, deſſen Geſchwindigkeit man früher für unendlich
groß gehalten hat, braucht alſo auch eine gewiſſe Zeit, um einen
beſtimmten Raum zu durchlaufen. Und welche Zeit? — Es legt
den Durchmeſſer der Erdbahn, d. h. es legt den Weg von 41.316.000
Meilen in 16 Minuten und 26 Sec. zurück. Die Geſchwindig-
keit des Lichts in einer Secunde beträgt daher nahe 41.900 Meilen.


§. 78. (Nähere Betrachtung der Geſchwindigkeit des Lichts).
Bleiben wir einen Augenblick bei dieſer Geſchwindigkeit ſtehen,
um ſie mit der von andern uns bekannten Körpern zu vergleichen.
Das in §. 68 erwähnte, ſchnell ſegelnde Schiff, das täglich hundert
Meilen zurücklegt, würde den Durchmeſſer der Erdbahn erſt in
1178 Jahren durchſchiffen, und der eben daſelbſt angeführte Ren-
ner, der in jeder Secunde 50 Par. Fuß durchläuft, würde zu jenem
Wege 594 Jahre brauchen. Eine Kanonenkugel, die in jeder
Secunde 600 P. Fuß fliegt, brauchte 50 Jahre, und der Schall,
der jede Secunde 1038 P. Fuß zurücklegt, braucht 29 Jahre, und
das Licht endlich, das in jeder Secunde durch 41.900 Meilen
fliegt, braucht zu demſelben Wege von mehr als 41 Millionen
Meilen noch nicht einmal 16½ Minuten, oder nur etwas weniges
mehr als eine Viertelſtunde. — Die ſogenannte Reiſe um die
Welt oder den Umkreis der Erde von 5400 Meilen würde ein
Wanderer, wenn er auch täglich 10 Meilen macht, erſt in 540
Tagen oder nahe in 1½ Jahren zurücklegen; jenes Schiff braucht
dazu 55 Tage, jene Kanonenkugel 2½ Tage, der Schall nur 1 4/10 Tage,
und das Licht bloß den zehnten Theil einer Secunde. Alſo in
einer einzigen Secunde, in der Zeit, die wir brauchen, mit unſern
Augenliedern zu winken, in der Zeit eines einzigen Flügelſchlags
des mächtigſten Adlers, ſchwingt ſich das Licht, gleich einer unge-
heuern Schlange, in großen Kreiſen, zehnmal um die ganze Erde.
Und doch würde daſſelbe Licht, mit dieſer uns unbegreiflichen Ge-
ſchwindigkeit, um nur von dem nächſten Fixſtern in gerader Linie
oder auf dem kürzeſten Wege bis zu uns zu gelangen, wie wir
§. 70 geſehen haben, über drei volle Jahre brauchen.


§. 79. (Andere wichtige Eigenſchaften des Lichts). Und dieſe
erſtaunenswürdigen Reſultate ſind eine Folge von einfachen Rech-
nungen, die ſo leicht ſind, daß ſie ohne Zweifel jeder Leſer mit
[183]Aberration der Fixſterne.
uns gemacht hat. Wer von uns würde, wenn er ſie nicht machen
könnte, von dem Intereſſe, welches dieſer Gegenſtand einflößt, un-
widerſtehlich angezogen, dieſe einfachen Rechnungen, und durch ſie
den einzigen Weg nicht kennen lernen wollen, auf welchem man zur
Kenntniß dieſer Reſultate, und zur Ueberzeugung gelangen kann,
daß ſie der Wahrheit vollkommen gemäß, und über allen Zweifel
erhaben ſind. Möchte dieß doch bei den Leſern dieſer Blätter eine
Veranlaſſung ſeyn, auch die andern, minder einfachen Theile der
mathematiſchen Analyſis etwas näher kennen zu lernen. Wir
werden ſpäter noch oft andere nicht minder überraſchende, nicht
minder wunderbare Reſultate unſerer Wiſſenſchaft mitzutheilen
Gelegenheit haben, aber nur ſelten wird es uns vergönnt ſeyn,
von ihnen, ſo wie hier, auch ihre Beweiſe mitzutheilen, weil dieſe
Kenntniſſe jene Analyſis erfordern, die wir, dem Zwecke dieſer
Schrift gemäß, bei den Leſern nicht vorausſetzen. Alsdann werden
wir, des beſten Willens ungeachtet, gezwungen ſeyn, die ſchönſten
Blüthen und Früchte der Wiſſenſchaft, ohne ihre Gründe, nur
hiſtoriſch mitzutheilen, und die Leſer, ſie auf Treu und Glauben
anzunehmen. So weiß man z. B., um nur bei dem Lichte, das
jetzt den Gegenſtand unſerer Betrachtung bildet, ſtehen zu bleiben,
man weiß mit derſelben Ueberzeugung, mit welcher wir ſo eben
die Geſchwindigkeit deſſelben kennen gelernt haben, daß es, wenn
es die Oberfläche eines Körpers trifft, jeden einzelnen Punkt oder
jedes Atom des Körpers in Schwingungen verſetzt, die mit einer
außerordentlichen Geſchwindigkeit, und in regelmäßig wiederkeh-
renden Perioden, vor ſich gehen. Die Schnelligkeit dieſer Schwin-
gungen iſt ſo groß, daß mehre hundert Billionen derſelben noch
nicht eine Secunde Zeit erfüllen. Dieſe Schwingungen, welche
den Elementen der Körper ſowohl, als auch unſeren Sehnerven
durch das Licht mitgetheilt werden, ſind die eigentliche Urſache,
daß wir dieſe Körper mit unſeren Augen fühlen, d. h. daß wir
ſie ſehen, und eben ſo ſind die Unterſchiede in der Wiederkehr
ihrer Perioden die Urſache von den verſchiedenen Farben, unter
welchen uns die Körper der Natur erſcheinen. Um z. B. einen
Gegenſtand in der rothen Farbe zu ſehen, werden die Elemente
unſerer Augennerven, gleich den Vibrationen einer tönenden Saite,
480 Billionenmal, durch die gelbe Farbe 540 Billionenmal, und durch
[184]Aberration der Fixſterne.
die violette Farbe 700 Billionenmal während einer Secunde auf
und niedergeſchwungen.


Die Kraft, mit welcher die Erde alle Körper auf ihrer Ober-
fläche an ſich hält, iſt ohne Zweifel viel größer, als alle uns
bekannten Kräfte, die wir durch unſere Maſchinen, durch die
Preſſe, durch das Schwungrad, durch das Schießpulver oder durch
die Spannkraft unſerer Dämpfe hervorbringen können, da jene
Kraft es iſt, die ſelbſt den über 50.000 Meilen entfernten Mond
noch an die Erde kettet, und ihn zwingt, um ſie ſeine vorgezeich-
nete Bahn zu beſchreiben. Deſſenungeachtet iſt aber dieſe Schwer-
kraft, dieſe Anziehung, wie ſie jedem Elemente der Erde inwohnt,
nur ein unendlich kleiner Theil jener in der That bewunderungs-
würdigen Kraft, mit welcher das Licht von jedem Atom der Kör-
per angezogen wird. Es iſt bekannt, daß der in einer geraden
Linie an den Körper kommende Lichtſtrahl von den Elementen des
Körpers erſt dann angezogen, oder, bei ſpiegelnden Flächen abge-
ſtoßen wird, wenn das Licht dieſen Elementen ſchon gleichſam
unendlich nahe iſt. Ueberdieß kann die eigentliche Wirkung dieſer
Kraft, wegen der ungemeinen Geſchwindigkeit des Lichts, nur eine
unendlich kleine Zeit durch währen, und doch bewirkt dieſe An-
ziehung des Elements in dem geradlinigen Lichtſtrahl oft ſchon eine
gleichſam urplötzliche Beugung von dreißig und mehr Graden.
Die mathematiſche Analyſe zeigt, daß die Schwerkraft eines ku-
gelförmigen Elements der Erde, deſſen Durchmeſſer den tauſendſten
Theil eines Zolls beträgt, nur den zweimalhundert tauſend mil-
lionſten Theil der Schwerkraft der ganzen Erde beträgt, und daß
im Gegentheile die Kraft, mit welcher ein eben ſo großes körper-
liches Element, das in dem Lichtſtrahle eine Beugung von dreißig
Graden erzeugt, das Licht anzieht, jene Schwerkraft des Elements
mehr als tauſend ſeptillionenmal übertrifft, ſo daß alſo, wenn die
allgemeine Schwerkraft deſſelben die Einheit iſt, die Attractions-
kraft des Atoms gegen das Licht durch eine Zahl ausgedrückt
wird, die wenigſtens aus 45 Ziffern beſteht. — Wer ſollte wohl
ſo gefühllos, ſo gleichgültig ſtumpf ſeyn, um nicht gern zu er-
fahren, auf welche Weiſe und durch welche Mittel man zu Kennt-
niſſen dieſer Art, zu Dingen gekommen iſt, die dem mit der Ma-
thematik Unbekannten mehr wie Viſionen eines Wahnwitzigen,
[185]Aberration der Fixſterne.
als wie Reſultate einer ſtrengen und geregelten Unterſuchung er-
ſcheinen müſſen.


Doch kehren wir von dieſen Betrachtungen wieder zu unſerm
Gegenſtande, zu der Geſchwindigkeit des Lichts, zurück, und ſehen
wir, auf welche Weiſe dieſelbe mit den oben erläuterten Erſchei-
nungen der Aberration in Verbindung ſtehen mag.


§. 80. (Zerlegung der Kräfte). Wenn ein Körper mit einer
beſtimmten Kraft, die z. B. dem Druck von 30 Pfunden gleich
iſt, nach einer beſtimmten Richtung, z. B. von Süd nach Nord,
getrieben wird, und wenn noch eine andere Kraft, etwa von 10
Pfund, hinzukömmt, deren Richtung dieſelbe mit der vorherge-
henden iſt, ſo iſt es offenbar gleichviel, ob dieſe beiden Kräfte
von 30 und von 10 Pfunde jede für ſich, aber beide zugleich auf
den Körper wirken, oder ob derſelbe nur von einer einzigen Kraft
von 40 Pfunden getrieben wird, die gleich der Summe jener beiden
Kräfte und deren Richtung dieſelbe mit der jener beiden Kräfte iſt.
Wenn aber die erſte Kraft von 30 Pfund den Körper nach Nord, und
die andere von 10 Pfund ihn in der entgegengeſetzten Richtung
nach Süd treibt, ſo wird dieſen beiden Kräften eine andere gleich-
geltend ſeyn, die den Körper mit der Gewalt von 20 Pfunden
nach Nord treibt, deren Größe alſo die Differenz und deren Rich-
tung mit jener der größern der beiden erſten Kräfte dieſelbe iſt.
Dieß iſt für ſich klar, und bedarf keiner weitern Erläuterung.
Nach dem Begriffe, den man in der Mechanik mit dem Worte
Kraft verbindet, wird die doppelte Kraft eine doppelte, die drei-
fache Kraft eine dreifache Bewegung oder Geſchwindigkeit des
Körpers hervorbringen, dieſe vielfache Kraft mag entweder auf
einmal, oder auch theilweiſe, oder nach und nach an dem Körper
angebracht werden; und wenn dieſer Körper ſchon vor der Wir-
kung dieſer Kräfte nach einer gewiſſen Richtung in Bewegung
war, ſo wird die durch die hinzukommende Kraft entſtandene
Bewegung zu jener erſten addirt, wenn ſie dieſelbe Richtung, oder
von ihr ſubtrahirt, wenn ſie eine entgegengeſetzte Richtung hat.


Wenn aber die Richtungen der beiden auf einen Körper wir-
kenden Kräfte weder dieſelben, noch auch einander entgegengeſetzt
ſind? Wenn z. B. die erſte Kraft von 30 Pf., nach der Rich-
tung PA (Fig. 15) wirkend, allein den Körper in einer Secunde
[186]Aberration der Fixſterne.
durch den Weg Pa, und die zweite Kraft von 10 Pf. nach der
Richtung PB ebenfalls allein wirkend, den Körper in derſelben
Zeit durch den Weg Pb treiben würde, wo wird, am Ende dieſer
Secunde, der Körper P ſeyn? — Um dieſe Frage zu beantworten,
ziehe man durch den erſten Punkt a eine mit dem zweiten Weg
BP, und eben ſo durch den zweiten Punkt b eine mit dem erſten
Weg PA parallele Linie, und nenne c den Durchſchnittspunkt die-
ſer beiden Parallelen, ſo wird der Körper am Ende der erſten
Secunde in dieſem Durchſchnittspunkte c ſeyn. Man nennt aber
jedes Viereck, deſſen zwei gegenüberſtehende Seiten parallel ſind,
ein Parallelogramm, und in demſelben die gerade Linie
Pc, welche zwei gegenüberſtehende Winkelſpitzen verbindet, die
Diagonale des Parallelogramms. — Wenn alſo zwei Kräfte
von gegebener Größe Pa und Pb unter einem gegebenen Winkel
APB auf einen Körper P wirken, ſo wird die Wirkung dieſer
beiden Kräfte zuſammen gleichgeltend ſeyn einer einzigen Kraft
Pc, welche, ihrer Größe ſowohl als ihrer Richtung nach, durch
die Diagonale des Parallelogramms dargeſtellt wird, deſſen Sei-
ten Pa und Pb die Größe und Richtung der beiden gegebenen
Seitenkräfte ausdrücken. Denn da die erſte jener zwei gegebenen
Kräfte den Körper nach der Richtung der Linie PA, die der bc
parallel iſt, treibt, ſo wird dieſe Kraft die von der zweiten Kraft
herrührende Geſchwindigkeit des Körpers, mit welcher er ſich der
Linie bc nähert, nicht ändern, oder der Körper wird ſich dieſer
Linie bc immer auf dieſelbe Weiſe nähern, die erſte Kraft nach
PA mag auf ihn wirken oder nicht, und er wird daher, am Ende
jener Secunde, irgendwo in dieſer Linie bc ſeyn. Ganz eben ſo
wird man aber auch zeigen, daß er, bloß durch die Wirkung der
erſten Kraft, am Ende derſelben Secunde, irgendwo in der Linie
ac ſeyn, daß er alſo, am Ende dieſer Zeit, zugleich in der Linie
bc und in der Linie ac, d. h. daß er in dem Durchſchnittspunkte
dieſer beiden Linien ſeyn müſſe.


Man wird alſo je zwei ihrer Größe und Richtung nach ge-
gebenen Seitenkräften Pa und Pb eine einzige ihnen gleichgeltende
mittlere Kraft Pc ſubſtituiren können, und da die Wirkungen der
Kräfte durch die Wege, welche ſie die Körper beſchreiben machen,
oder durch die Geſchwindigkeiten dieſer Körper, gemeſſen werden,
[187]Aberration der Fixſterne.
ſo wird man auch die Wege und die Geſchwindigkeiten der Körper
eben ſo zerlegen und zuſammenſetzen können, wie wir dieß eben
bei den Kräften ſelbſt gethan haben. Ein Körper alſo, der in
derſelben Zeit zugleich durch den Weg Pa und durch den Weg Pb
gehen ſoll, wird durch den Weg Pc gehen; oder ein Körper, deſſen
Geſchwindigkeit nach der Richtung PA gleich Pa, und nach der
Richtung PB gleich Pb iſt, wird eigentlich die Geſchwindigkeit
Pc nach der Richtung PC haben.


Daſſelbe Parallelogramm, durch deſſen Hilfe wir zwei Kräfte
oder zwei Geſchwindigkeiten auf eine einzige, jenen beiden gleich-
geltende, gebracht haben, wird uns auch dienen, jede einzelne ge-
gebene Kraft oder Geſchwindigkeit Pc auf zwei andere Pa und
Pb zu bringen, die, beide zuſammengenommen, jener gegebenen ein-
zelnen Kraft gleichgeltend ſind. Wir werden zu dieſem Zwecke
die gegebene Größe ac als die Diagonale eines Parallelogramms
anſehen, oder auf ihr, als Grundlinie, ein willkührliches Dreieck
Pca errichten, und auf der andern Seite von Pc die Linie Pb
mit ca und cb mit Pa parallel ziehen, wo dann die Linie Pa und
Pb die beiden geſuchten Seitenkräfte vorſtellen werden. Am ein-
fachſten wird es ſeyn, wenn man von all’ den Dreiecken Pca, die
man über der Baſis Pc errichten kann, ein bei a rechtwinkliges Dreieck
wählt, wo dann die beiden Seitenkräfte Pa und Pb ſelbſt auf
einander ſenkrecht ſtehen werden. Nennt man für dieſen Fall r
die mittlere, nach der Diagonale Pc des Rechtecks Pabc gerichtete
Kraft, und bezeichnet beide Seitenkräfte Pa durch x und Pb
durch y, ſo wie den Winkel aPc durch a, ſo hat man die drei
einfachen Ausdrücke
r2 = x2 + y2, x = rCosa und y = rSina
woraus man, wenn die Seitenkräfte x, y gegeben ſind, die mitt-
lere Kraft r und ihren Winkel a mit x, oder wenn die mittlere
Kraft r mit ihrem Winkel a gegeben iſt, die beiden unter ſich
ſenkrechten Seitenkräfte leicht, und ohne alle Mühe beſtimmen
wird.


Dieſe einfache Lehre von der Zuſammenſetzung und Zerlegung
der Kräfte iſt durch das ganze Gebiet der Mechanik von der
größten Wichtigkeit, ſo daß nur wenige Probleme dieſer Wiſſen-
ſchaft gefunden werden, in welchen man ſie nicht mit Nutzen an-
[188]Aberration der Fixſterne.
wenden könnte. Wir wollen nur einige Beiſpiele aus dem gemei-
nen Leben kurz anführen.


Wenn bei ganz ruhigem Wetter die Regentropfen ſenkrecht
zur Erde fallen, ſo treffen ſie den ſenkrecht ſtehenden Wanderer
in ſeinem Scheitel, aber ſo wie er, in irgend einer Richtung dem
Regen zu entlaufen ſucht, ſcheinen dieſelben Tropfen alle die Rich-
tung gegen ſein Geſicht zu nehmen, und er hat dieſelbe Empfin-
dung, als ſtünde er noch ſtill, während ein in der entgegenge-
ſetzten Richtung ſeines Laufes wehender Wind ihm den Regen
ins Geſicht führte.


Wir fühlen im Gehen den uns gerade entgegen blaſenden
Wind ſtärker, weil es uns ſcheint, daß er, außer ſeiner eigenen
Geſchwindigkeit, auch noch diejenige habe, mit welcher wir ſelbſt
ihm entgegenlaufen. Wenn der Wind von Weſten weht, und wir
gehen gen Süden, ſo haben wir dieſelbe Empfindung, als wenn
der Wind, außer ſeiner wahren Bewegung von Weſten, auch noch
eine andere von Süden hätte, d. h. als wenn er von Südweſt
käme; und dieſe neue Richtung des Windes wird uns deſto näher
aus Süden zu kommen ſcheinen, je ſchneller wir ſelbſt gegen
Süden laufen.


Sey M (Fig. 16) der Vordertheil, und N der Hintertheil
eines Schiffes, deſſen Segel in der Richtung AB aufgeſtellt iſt,
während der Wind in der ſehr ſchiefen Lage EC weht, die das
Schiff mehr rück- als vorwärts zu treiben ſcheint. Drückt die
Länge der Linie EC die Kraft oder die Größe des Windes aus,
ſo ſey ACDE ein Rechteck, an welchem EC die Diagonale iſt.
Man wird alſo ſtatt dieſer Kraft EC des Windes zwei andere
Kräfte oder zwei andere Winde ſubſtituiren können, von welchen
der eine CA nach der Richtung des Segels wehen, und daher
weder auf das Segel, noch auf das Schiff weiter wirken wird,
während der andere CD die Fläche des Segels ſenkrecht trifft,
und ſeine ganze Kraft gegen daſſelbe ausübt. Wir wollen daher
nur mehr die Wirkung dieſes letzten Windes betrachten, und dieſe
Linie CD verlängern, bis Cd gleich CD wird. Betrachtet man
auch hier die Linie Cd als die Diagonale eines Rechtecks abdC,
ſo wird der für das Schiff noch wirkende Theil Cd des Windes
in zwei andere Ca und Cd aufgelöst, und von dieſen wirkt der
[189]Aberration der Fixſterne.
erſte Ca in der Direction NM des Schiffkiels oder längs des
Weges, welchen das Schiff nehmen ſoll, und der andere Cd ſenk-
recht auf dieſen Weg oder ſenkrecht auf die Länge des Schiffs.
Da aber das Schiff abſichtlich ſo gebaut worden iſt, daß es viel
leichter in der Richtung ſeiner Länge NM, als in der bC ſeiner
Breite bewegt werden kann, ſo wird es ungeachtet der erſten ſehr
ungünſtigen Richtung EC des Windes mit beträchtlicher Geſchwin-
digkeit nach der Richtung Ca oder längs ſeines Kieles, und nur
ſehr wenig in der darauf ſenkrechten Richtung bC fortgehen, wel-
cher letztere Weg in der engliſchen Schifferſprache bekanntlich der
Lee-way des Schiffes heißt. In dieſem Beiſpiele ſind demnach
zwei auf einander folgende Aufflöſungen der Kräfte enthalten, da
zuerſt der urſprüngliche Wind EC in die zwei Seitenwinde DC
und AC zerfällt wird, von welchen der zweite ganz unwirkſam,
und der erſte DC oder dC wieder in die beiden Ca und Cb ſich
auflöst. Der bloße Anblick der Zeichnung zeigt ſchon, daß der
Weg Ca, den das Schiff durch Hilfe des urſprünglichen Windes
EC zurücklegt, deſto größer ſeyn wird, je größer erſtens die Kraft
dieſes Windes, d. h. je größer die Linie EC, und je größer zwei-
tens der Winkel MCE iſt, unter welchem er gegen den Kiel MN
des Schiffes gerichtet iſt.


§. 81. (Phyſiſche Urſache der Aberration). Nehmen wir nun,
um noch einige Augenblicke bei unſerem letzten Gleichniſſe zu
bleiben, an, es befinde ſich ein Reiſender auf einem Schiffe A B
(Fig. 17), das die Geſtalt eines Rechteckes hat, und auf einem
Strome von Weſt nach Oſt oder von A nach B fährt. Auf dem
Boden des Schiffes ſeyen die auf die Seiten des Schiffes ſenk-
rechten Linien mn, m' n', m'' n''.. gezogen, die alſo alle von
Süd nach Nord gehen, oder Mittagslinien vorſtellen. Nehmen
wir noch an, daß eine Kanonenkugel, vom ſüdlichen Ufer, gerade
in der Richtung der Mittagslinie kommend, das Schiff in dem
Punkte m' treffe, und beide Seitenwände deſſelben durchſchlage.
Wenn das Schiff ſtille ſteht, ſo wird die in m' einbrechende Kugel
das Schiff wieder in n' verlaſſen, oder der Weg der Kugel innerhalb
des Schiffsraumes wird genau eine jener auf dem Boden deſſelben
verzeichneten Mittagslinien m' n' ſeyn. Wenn aber das Schiff ſich
ſehr ſchnell von Weſt gen Oſt bewegt, ſo wird es, nachdem die
[190]Aberration der Fixſterne.
Kugel in m' durch die erſte Wand geſchlagen, einen gewiſſen
Weg zurücklegen, bis die Kugel durch die zweite Wand bricht,
und dieſer Weg des Schiffs wird deſto größer ſeyn, je größer
die Geſchwindigkeit des Schiffs in Vergleichung mit der Ge-
ſchwindigkeit der Kugel iſt. Wären die Geſchwindigkeiten beider
gleich, ſo iſt klar, daß das zweite Loch n des Schiffes eben ſo
weit von der Mittagslinie m' n' des erſten Loches m' gegen Weſt
abliegen würde, als das Schiff ſelbſt breit iſt, daß alſo die beide
Löcher m' und n verbindende Linie m' n mit der Mittagslinie
m' n' einen Winkel von 45 Graden bilden wird, und daß daher
auch der Reiſende in dem Schiffe, der nicht wußte, daß das Schiff
ſelbſt in Bewegung iſt, glauben wird, man habe ſein Schiff in
dieſer Richtung von 45 Graden gegen die Mittagslinie, durch-
ſchoſſen, da man doch in der That in der Richtung der Mittags-
linie ſelbſt darauf geſchoſſen hat.


Wollte er nun, um Wiedervergeltung zu üben, aus ſeiner
eigenen Kanone, in dem Schiffe auf den Schützen am ſüdlichen
Ufer zurückſchießen, und würde er, ſeinem erwähnten Glauben zu
Folge, ſeine Kanone ebenfalls unter 45 Graden gegen die Mit-
tagslinie, alſo in dieſelbe Richtung nm' ſtellen, welche, nach ſeiner
Anſicht, die Richtung des Schuſſes vom Ufer war, ſo würde er
ſeine Schiffskanone um volle 45 Grade falſch gerichtet haben.


Oder auch, wollte man das Schiff gegen ſolche von dem ſüd-
lichen Ufer in der Richtung der Mittagslinie abgeſchoſſene Kugeln
dadurch wenigſtens in einem Punkte m', etwa in der Nähe der
Pulverkammer, ſicher ſtellen, daß man in m' und n' eine Oeffnung
in den Seiten des Schiffs anbrächte, und ſie mit einer ſtarken
metallenen Röhre in der Richtung der Mittagslinie m' n' ver-
bände, durch welche die Kugel, wenn ſie in m' ankömmt, frei
durchgehen ſoll, ſo würde man dadurch ſeinen Zweck nicht errei-
chen, weil die Kugel, obſchon ſie in der Richtung der Mittags-
linie abgeſchoſſen wird, in dem Schiffsraume doch nicht den
mit der Mittagslinie parallelen, ſondern den um 45 Grade gegen
jenen gelegten Weg m' n zurücklegte, daher man alſo auch jener
Röhre dieſelbe Lage m' n geben muß, wenn die Kugel in der
That durch dieſelbe frei durchgehen ſoll, ohne die Wand der
Röhre zu treffen, und ohne das Schiff zu verletzen. Alles unter
[191]Aberration der Fixſterne.
der oben gegebenen Vorausſetzung, daß die Geſchwindigkeit der
Kugel und des Schiffs einander gleich, und die Richtungen beider
Bewegungen auf einander ſenkrecht ſind, wie oben, bloß der grö-
ßern Einfachheit wegen, angenommen worden iſt. Hätte dieſe
Vorausſetzung nicht Statt, und wäre z. B. die Geſchwindigkeit der
Kugel zehn- oder hundertmal größer, als die des Schiffs, ſo
würde der Winkel nm' n' nicht mehr 45 Grade betragen, aber
ſeine wahre Größe würde ſich aus den in §. 81 gegebenen For-
meln in allen Fällen leicht finden laſſen. Jenem Ausdrucke zu
Folge wird nämlich, wenn m' n' die Geſchwindigkeit der Kugel,
und n' n die des Schiffs bezeichnet, die Größe gleich der
Tangente des geſuchten Winkels nm' n' ſeyn. Iſt z. B. die Ge-
ſchwindigkeit der Kugel 10 oder 100mal größer als die des Schiffs,
ſo iſt jener Winkel gleich 5°,7 oder gleich 0°,6.


Was von dieſem Schiffe und ſeiner Röhre geſagt worden iſt,
gilt nun ebenfalls von dem großen Weltſchiffe, der Erde, und von
unſern Fernröhren, mit welchen wir die Gegenſtände des großen
Oceans, die wir auf unſerer Reiſe um die Sonne befahren, zu
betrachten pflegen. Auch dieſe Fernröhre müſſen gegen die Ge-
ſtirne ſo gerichtet werden, daß das Licht, welches von den Sternen
ausgeht, ohne an die Wände des Fernrohrs zu ſtoßen, frei durch-
gehen, und zu unſerem Auge gelangen können.


Um dieſe Richtung des Fernrohrs oder des ſcheinbaren Licht-
ſtrahls gegen die wahre zu finden, werden wir, nach dem Vor-
hergehenden, die Geſchwindigkeit der Erde durch die des Lichtes
dividiren, wo dann der Quotient dieſer beiden Zahlen die Tan-
gente des geſuchten Winkels ſeyn wird, den der ſcheinbare Licht-
ſtrahl mit dem wahren bildet. Die Erde legt aber in ihrer jähr-
lichen Bahn um die Sonne während einer Secunde 4,113, und das
Licht legt, wie wir oben (§. 77) geſehen haben, in derſelben Zeit
41.900 Meilen zurück. Der Quotient beider Zahlen iſt aber
0,0000981623 und dieß iſt die Tangente von 20,25 Secunden, alſo
genau derſelbe Winkel, den wir oben (§. 76) unmittelbar aus den
beobachteten Erſcheinungen der Aberration abgeleitet haben. Dieſe
ſchöne Uebereinſtimmung der aus der bekannten Geſchwindigkeit
[192]Aberration der Fixſterne.
des Lichtes gefundenen Theorie der Bewegung der Fixſterne mit
den unzähligen Beobachtungen, die ſeitdem an dieſen Fixſternen
mit den genaueſten Inſtrumenten angeſtellt worden ſind, iſt daher
nicht bloß ein neuer Beweis für die Richtigkeit von Römer’s Ent-
deckung, ſondern ſie gibt auch zugleich der bereits im vorherge-
henden Kapitel als ſehr wahrſcheinlich gefundenen jährlichen Be-
wegung der Erde um die Sonne einen Grad von Beſtätigung,
der unmittelbar an das volle Licht der Wahrheit gränzt, und
deſſen ſich wohl nur wenige Hypotheſen der Aſtronomie und der
Phyſik zu erfreuen haben mögen.


Betrachten wir zum Schluſſe dieſes Gegenſtandes, indem
wir unſere Augen auf die bereits zurückgelegte Bahn rückwärts
wenden, einen Augenblick die Weiſe, auf welche, und die kleinen
Mittel, durch welche die Entdeckungen, deren wir bereits erwähnt
haben, gemacht worden ſind. Eine Linie, kaum ſo groß, als der
zehnte Theil eines Zolls, um die nämlich das Secundenpendel
in Südamerika kürzer gefunden wurde, als in Paris, lehrte uns
die tägliche Umdrehung der Erde um ihre Axe, das Verhältniß
der Centrifugalkraft derſelben zu ihrer Schwere, die Verſchieden-
heit dieſer Schwere auf der Oberfläche der Erde, und endlich die
Geſtalt und die Abplattung derſelben an ihren Polen kennen, die
ſelbſt wieder ſo klein iſt, daß ſie nur den dreihundertſten Theil
ihres Halbmeſſers beträgt. Dieſes Pendel, das heißt, eine ein-
fache, mit einem Gewichte verſehene Schnur, gab uns ein Maß,
damit die wahre Größe der Schwere unſerer Erde oder den Raum,
den frei fallende Körper zurücklegen, mit einer Genauigkeit zu
meſſen, die uns kaum über den hunderttauſendſten Theil dieſer
Größe ungewiß läßt, und es lehrte uns zugleich die Wirkungen
derſelben Schwere auf den Mond, in einer Entfernung von 50.000
Meilen von uns, mit einer noch größeren Schärfe zu beſtimmen.
Andere Meſſungen, mit ſcheinbar noch viel geringeren Mitteln,
mit dem ſchwächſten Spinnenfaden im Brennpunkte unſerer Fern-
röhre, zeigten uns die Entfernung der Sonne von mehr als
zwanzig Millionen Meilen, ſowohl als auch die nicht minder er-
ſtaunenswürdige Größe dieſes Himmelskörpers, deſſen Volumen
eine und eine halbe Million größer iſt, als das unſerer Erde.
Dieſelben Spinnenfäden und ein Stückchen Glas, auf Thon abge-
[193]Aberration der Fixſterne.
rieben, lehrte uns die ungeheuren Diſtanzen der Fixſterne kennen,
die wenigſtens zweimalhunderttauſendmal weiter, als ſelbſt die
Sonne, von uns entfernt ſind, und ſie lehrten uns endlich die
Geſchwindigkeit des ſchnellſten Körpers der Natur, des Lichtes,
meſſen, und in der Aberrations-Ellipſe der Fixſterne, an dem
Himmelsgewölbe, wie in einem verkleinernden Hohlſpiegel die
große Bahn der Erde von nahe 130 Millionen Meilen im Um-
fange erkennen, von welchen jene kleine, mit unbewaffnetem Auge
nicht einmal ſichtbare Ellipſe als ein getreues Miniaturgemälde
betrachtet werden kann.


Welche Reſultate, und mit welchen Mitteln wurden ſie er-
halten! Welche andere Wiſſenſchaft hat ähnliche Siege mit ähn-
lichen Waffen aufzuweiſen. Wohl mag es uns gegönnt ſeyn, die
Aſtronomie als den Triumph des menſchlichen Geiſtes, als den
Gegenſtand des gerechten Stolzes des Menſchen zu preiſen, der
mit den Augen der Milbe jenen belebten Bläschen zuſieht, von
denen Tauſende einen Waſſertropfen bewohnen, und die heerden-
weiſe durch das Oehr einer Nadel ziehen, und der dann, wenn er
von dieſen Welten im Kleinen, die ihn in zahlloſen Mengen nach
allen Seiten umgeben, ſeinen Blick aufwärts, zu den großen
Welten über ihn erhebt, mit den Augen eines Cherubs ſich in
die ungemeſſenen Höhen des Himmels ſchwingt, und Räume
durchwandert, vor deren Größe ſelbſt die kühnſte Einbildungskraft
erſchrocken zurückbebt. Die Leſer werden, wir hoffen es auch, in
der Folge noch oft Gelegenheit haben, dieſe Bemerkung ſelbſt zu
beſtätigen, da wir bisher nur wenige Schritte über den Eingang
des erhabenen Tempels der Natur gemacht haben, und uns bei
weitem der größte Theil deſſen, was ſein Inneres birgt, noch
völlig unbekannt iſt.


Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 13
[[194]]

KapitelVII.
Jahreszeiten.


§. 82. (Vortheile der Abwechslung der Jahreszeiten.) Nach-
dem wir in dem Vorhergebenden die Exiſtenz der Bewegung der
Erde um die Sonne über allen Zweifel erhoben haben, wollen
wir in dem gegenwärtigen Kapitel eine der wichtigſten Folgen die-
ſer Bewegung, verbunden mit der täglichen Rotation der Erde um
ihre Axe, näher betrachten.


Dieſer Doppelbewegung der Erde verdanken wir unſere Ta-
ges- und Jahreszeiten, zwei der wohlthätigſten Geſchenke des
Himmels, ohne die unſer Leben nicht den tauſendſten Theil des
Reizes hätte, der uns jetzt ſo innig an daſſelbe kettet, daß ſelbſt
der Unglücklichſte von uns es nur mit Schmerz und widerſtre-
bendem Kampfe verlaſſen kann. Wie wir uns an jedem Mor-
gen, nach einem erquickenden Schlafe, mit neuen Kräften der
kommenden Sonne entgegen erheben, ſo gießt auch jeder wieder-
kommende Frühling wieder ſanfte Wärme in unſere Adern und,
erfüllt uns mit neuen Hoffnungen, indem er die ganze Natur aus
ihrem ſtarren Winterſchlafe erweckt und unſere Gärten und Flu-
ren mit duftenden Blühten ſchmückt. Wenn dieſe wohlthätigen
Veränderungen auf der Oberfläche unſerer Erde nicht exiſtirten,
wie würde es dann um die geſammte Vegetation, um das Leben
der Pflanzen und Thiere, um die Verſchiedenheit der Erzeugniſſe
des Bodens und der Manufacturen, wie würde es um den Länder
[195]Jahreszeiten.
verbindenden Handel, um unſere geiſtige Cultur, um uns ſelbſt
ſtehen?


§. 83. (Wenn die Erde eine andere, oder gar keine Rotation
um ihre Axe hätte.) Nehmen wir auf einen Augenblick an, daß
die Erde ſich ſo um die Sonne bewegt, wie der Mond um die
Erde geht, der ihr immer dieſelbe Seite zuwendet, während die
andere ewig von ihr abgekehrt bleibt, der alſo in derſelben Zeit,
in welcher er um die Erde geht, ſich auch um ſeine eigene Axe
dreht. Dann würde alſo auch die eine Hälfte unſerer Erde nie
das Licht der Sonne ſchauen und immerdar in finſterer Nacht
begraben liegen. Wenn der Welttheil, den wir bewohnen, wenn
Europa dieſer unglücklichen Hemiſphäre angehörte, wie ganz anders
würde dann die Geſchichte deſſelben, ja die des geſammten Men-
ſchengeſchlechtes ausſehen, wenn überhaupt noch zur ewigen Fin-
ſterniß verwünſchte Weſen — eine Geſchichte ihrer Thaten und
Erfindungen haben können.


Oder wenn die Erde zwar eine jährliche Bewegung um die
Sonne, aber keine tägliche um ihre eigene Axe hätte? — Dann
würden wohl alle Theile der Erde ſich nach und nach der Sonne
zuwenden, Tag und Nacht würden auf ihr wechſeln, aber welch
ein Tag und welche Nacht! — Jeder dieſer zwei Tagszeiten würde
ein volles halbes Jahr währen und im Laufe des ganzen langen
Sonnenjahres würde jeder Ort der Erde gleich unſeren gegenwär-
tigen Bewohnern der beiden Pole, ſechs Monate die Sonne ſehen
und ſechs andere in tiefer Nacht und in einer alles erſtarrenden
Kälte vertrauern. Ohne Zweifel würde auch eine ſolche Einrich-
tung, ſo weit ſie auch der vorhergehenden vorzuziehen ſeyn mag,
auf die Befriedigung der erſten Bedürfniſſe und auf alle Bequem-
lichkeiten des Lebens, die uns jetzt ſo theuer und unentbehrlich
ſcheinen, den ungünſtigſten Einfluß äußern, und ſo oft die arge,
halbjährige Nacht mit ihren ſchwarzen Schwingen ſich über dem
Lande niederließe, auf welche heilloſe Zeitvertreibe würden Manche
von uns verfallen, bloß um ſich vor der immer näher rückenden,
tödtenden Langeweile zu ſchützen.


In dieſer Anordnung würde die Ebene der Erdbahn die Ober-
fläche der Erde immer in demjenigen Kreiſe ſchneiden, der jetzt
13 *
[196]Jahreszeiten.
auf unſeren Erdgloben, eben ſo zweckwidrig als unnütz, durch die
Ecliptik bezeichnet wird, und die Folge davon würde ſeyn, daß
alle die Orte der Erde, welche unter dieſem Kreiſe liegen, die
Sonne einmal im Jahre in ihrem Zenithe ſehen und zwar ſehr
lange ſehen würden, indem die Strahlen derſelben für jeden Be-
wohner jener Orte beinahe zwei volle Monate durch — immer
nahe ſenkrecht auf ſeinen Scheitel fallen würden. Welche lange,
drückende Mittagsſtunden, deren Schwüle nur wieder mit der
ſtarren Kälte der eben ſo langen Stunden der Mitternacht in
Vergleich gebracht werden können! Auch die übrigen Menſchen,
die zu beiden Seiten dieſes unheilvollen Kreiſes wohnen, würden
keine Urſache haben, ſich aus dieſem Grunde glücklicher zu preiſen,
da auch ſie in der zu lange anhaltenden Hitze verſchmachten oder
in dem halbjährigen Froſte erſtarren müßten. Die kalte und ein
großer Theil der gemäßigten Zone endlich würde für Menſchen
und Thiere ganz unbewohnbar ſeyn.


§. 84. (Wenn die Ecliptik mit dem Aequator zuſammenfiele.)
Allen dieſen Uebeln iſt durch die einfache Einrichtung, daß die
Erde in der kurzen Zeit eines Tages ſich um ihre Axe dreht, we-
nigſtens größtentheils abgeholfen. Ich ſage, größtentheils, denn
wenn zu dieſer Umdrehung nicht noch eine Bedingung hinzu
kömmt, ſo würde es um den ſchönen Wechſel unſerer Jahreszeiten,
den wir nun einmal weder entbehren wollen noch können, immer
noch ſehr mißlich ſtehen. Denn man laſſe nur die Erde ſich täg-
lich drehen, aber in derſelben Ebene drehen, in welcher ſie zu-
gleich jährlich um die Sonne geht, oder mit anderen Worten,
man laſſe die Ecliptik mit dem Aequator zuſammen fallen. Die
unmittelbare Folge dieſer neuen Einrichtung würde ſeyn, daß
überall auf der ganzen Erde und durch das ganze Jahr der Tag
gleich lang mit jeder Nacht ſeyn, daß ein immerwährender Früh-
ling auf der Erde herrſchen, und daß von einem Wechſel der Tem-
peratur und der Jahreszeiten keine Rede mehr ſeyn würde. Ob wir
aber bei dieſem ewigen Frühling, den unſere Dichter wahrſchein-
lich nur deßhalb ſo oft preiſen, weil ſie ihn nicht kennen, uns
beſſer oder auch nur überhaupt noch erträglich befinden würden,
möchte ſehr zu bezweifeln ſeyn. Die Gegenden unter dem Aequa-
tor würden wahrſcheinlich unter der ſengenden Hitze ihres Klima’s
[197]Jahreszeiten.
verdorren; die weiter von ihm entfernten Länder würden unter
ewigem Eiſe begraben bleiben; ein verhältnißmäßig nur ſehr klei-
ner Theil der ſogenannten temperirten Zone würde für uns noch
bewohnbar ſeyn, und auch hier würden die meiſten ſelbſt unſerer
weniger edlen Früchte nicht mehr zur Reife gelangen.


§. 85. (Schiefe Stellung der Erdaxe gegen die Ecliptik.) Und
welches iſt die Bedingung, an die wir jene tägliche Rotation der
Erde knüpfen müſſen, wenn wir all’ dem erzählten Ungemach
entfliehen und uns des ſo wünſchenswerthen Wechſels der Jah-
reszeiten auf unſerer Erde in der That erfreuen wollen?


Die Natur hat dieſen Zweck durch eine, wie es ſcheint, ſehr ge-
ringfügige Einrichtung zu erreichen gewußt, indem ſie nämlich der
Axe, um welche ſich die Erde dreht, und die wir, in unſerer letz-
ten Hypotheſe ſenkrecht auf die Ebene der Erdbahn geſtellt haben,
eine etwas ſchiefe Neigung gegen dieſe Ebene gab. Dieſe
ſchiefe Stellung der Erdaxe gegen die Erdbahn iſt die eigentliche
Urſache der Jahreszeiten und die Quelle aller der reichen Seg-
nungen, welche dadurch über uns und über unſere Erde ausgegoſ-
ſen werden. Wir wollen dieſen wichtigen Umſtand, wie er es
verdient, ſogleich etwas näher betrachten.


Man denke ſich durch den Mittelpunkt S (Fig. 18) der Sonne
eine fixe Linie SR, die auf die Ebene der Erdbahn oder der Eclip-
tik ſenkrecht ſteht und eine andere SP, welche mit jener den Win-
kel PSR gleich 23½ Grad, alſo denſelben Winkel macht, unter
welchem der Aequator gegen die Ecliptik geneigt iſt. Die Erde
bewege ſich jährlich in dem Kreiſe ABCD der Ecliptik um die
Sonne und drehe ſich zugleich täglich um ihre Axe pq, welche
letzte in allen Punkten der Erdbahn mit der zweiten der erwähn-
ten fixen Linien, d. h. mit SP parallel bleiben ſoll, ſo daß alſo p
den Nord- und q den Südpol der Erde vorſtellt.


Dieß vorausgeſetzt, gibt es vorzüglich vier Lagen der Erde
gegen die Sonne, die wir hier näher betrachten wollen, nämlich
die Lage A, B, C und D, wo die Erde zur Zeit des Anfangs
des Frühlings, des Sommers, des Herbſtes und des Winters in
unſerer nördlichen Hemiſphäre iſt. In allen dieſen Lagen wird
immer nahe die Hälfte der Oberfläche der Erde von der Sonne
[198]Jahreszeiten.
beſchienen, während die andere Hälfte im Schatten oder Dunkel
bleibt, wie dieß bei jeder von einem Lichte beleuchteten Kugel der
Fall iſt. Aber dieſe beiden Hälften, die lichte und die dunkle, ſind in
Beziehung auf die feſte Erdaxe pq in jenen vier Lagen verſchieden
vertheilt oder die Lichtgränze, das heißt, der größte Kreis, welcher
jene beiden Hälften trennt, geht zuweilen gerade durch die beiden
Pole p und q der Erde, zuweilen aber auch in beträchtlicher Ent-
fernung rechts oder links vor dieſen Polen vorbei.


Die Ebene der Lichtgränze ſteht nämlich immer ſenkrecht auf
allen den Linien Sb . Sc .., welche den Mittelpunkt der Sonne
mit dem der Erde verbinden. Die Linie pq aber, oder die Erdaxe,
macht mit jenen Linien einen ſpitzen Winkel, ſo lange die Erde
in der Hälfte ABC ihrer Bahn iſt und einen ſtumpfen Winkel
in der anderen Hälfte CDA, während bloß in den zwei Punkten
A und C, d. h. im Anfange des Frühlings und des Herbſtes,
dieſer Winkel ebenfalls ein rechter iſt. Dieſer Winkel der Erdaxe
mp mit der Entfernung m S der Erde von der Sonne oder der
Winkel Smp iſt nämlich gleich dem Winkel, unter dem man aus
dem Mittelpunkte m der Erde die Entfernung der Sonne S von
dem Nordpole p ſehen würde, oder dieſer Winkel Smp iſt die
Poldiſtanz (Einl. §. 13) der Sonne, und dieſer Winkel iſt am
kleinſten oder gleich 90 — 23½° = 66,5 Grade, wenn die Erde
in B iſt. Von da wächst er, bis er in C gleich 90° und endlich
in D gleich 90 + 23,5 = 113,5 Grade wird, wo er zugleich ſei-
nen größten Werth hat. Von dem Punkte D an nimmt jener
Winkel wieder ab, bis er in A, gegenüber von C, ein rechter wird
und endlich in B, gegenüber von D, wieder ſeinen früheren klein-
ſten Werth von 66,5 Graden erreicht.


Denken wir uns noch auf der Oberfläche den Aequator durch
a, der von beiden Polen gleich weit abſteht, die beiden Wende-
kreiſe durch b und c (Einl. §. 24. I), die von dem Aequator um
den Bogen ab = ac = 23½° entfernt ſind, und die beiden Po-
larkreiſe durch d und e, die von den beiden Polen p und q um
denſelben Bogen von 23½ Graden abſtehen.


§. 86. (Erklärung der vier Jahreszeiten.) Dieß vorausgeſetzt,
betrachten wir zuerſt die Erde, wenn ſie in dem Punkte B ihrer
[199]Jahreszeiten.
Bahn ſteht, wo jener Winkel Smp am kleinſten oder gleich 66½
Grad iſt, und daher der Nordpol p am tiefſten in die beleuchtete,
der Südpol q aber am weiteſten in die dunkle Hälfte der Erde
fällt. Wenn hier die Erde ſich um ihre Axe dreht, ſo bleibt der
Nordpol p immer in der beleuchteten, der Südpol q aber immer
in der dunkeln Hemiſphäre oder jener ſieht die Sonne, die für
ihn nicht untergeht, immer über ſeinem Horizonte, bat alſo im-
mer Tag, während dieſer, dem die Sonne nicht mehr aufgeht,
immer Nacht hat. Daſſelbe gilt auch von den Umgegenden der
beiden Pole bis dorthin, wo dieſe Gegenden von den beiden Po-
larkreiſen, durch d und e, begränzt werden. Denn da in dieſer
Lage der Erde die Lichtgränze mit der Erdaxe den Winkel 23½
Grad macht, ſo berührt dieſe Lichtgränze die beiden Polarkreiſe
und daher haben alle, welche innerhalb des nördlichen Polarkreiſes
wohnen, einen immerwährenden Tag, und im Gegentheile diejeni-
gen, welche von dem ſüdlichen Polarkreiſe eingeſchloſſen werden,
eine immerwährende Nacht. Auch auf die noch weiter von den
Polen wohnende Menſchen hat dieſe Stellung der Erdaxe gegen
die Sonne einen ähnlichen, wenn gleich immer geringeren Einfluß,
je näher ſie ſelbſt dem Aequator kommen. Denn da die ſämmt-
lichen Parallelkreiſe der Erde durch die Schattengränze derſelben
hier in ſehr ungleiche Theile getheilt werden, von welchen der
größere Theil in der nördlichen Hemiſphäre der Tagſeite, in der
ſüdlichen aber der Nachtſeite angehört, ſo ſind, wie ſchon der erſte
Blick auf die Zeichnung zeigt, für alle Bewohner der nördlichen
Halbkugel die Tagbogen (Einl. §. 24. III) die Nächte, während im
Gegentheile für die ſüdliche Halbkugel die Nächte länger als die
Tage ſind. Da endlich der Bogen ac und ab, ſo wie der Bo-
gen pB, jeder 23½° beträgt, ſo ſehen die Bewohner des nördli-
chen, durch c gehenden Wendekreiſes die Sonne zu Mittag in
ihrem Zenithe oder ſenkrecht über ihrem Scheitel. Alle noch
weiter gegen Nord liegende Orte ſehen dieſe ihre größte mittägige
Höhe der Sonne immer kleiner als 90, bis ſie endlich für den
Bewohner p des Pols p ſelbſt den ganzen Tag in der Höhe von
23°,5 über dem Horizonte ſteht. Der Bewohner des nördlichen
Polarkreiſes d B ſieht die Sonne um Mittag, wenn er in d iſt,
in der Höhe von 47° und um Mitternacht, wenn er durch die
[200]Jahreszeiten.
Rotation der Erde in die Schattengränze B fällt, ſieht er die
Sonne an ſeinem Horizonte, während im Gegentheile der Be-
wohner des ſüdlichen Polarkreiſes e die Sonne nur eben in ſei-
nem Mittage an der Nordgränze ſeines Horizontes erblickt und
gleichſam nur einen Augenblick Tag hat. Aus allem Vorherge-
henden folgt, daß die Erde in dieſem Orte B ihrer Bahn, am
21. Junius iſt, wenn in der nördlichen Hemiſphäre der Sommer
und in der ſüdlichen der Winter anfängt. An dieſem Tage würde
ein Auge im Mittelpunkte der Erde die Sonne um 23,5 Grade
über der Ebene des himmliſchen Aequators oder in der nördlichen
Deklination von 23,5 Graden ſehen.


Von allem das Gegentheil, erfolgt ein halbes Jahr ſpäter,
am 21. Dezember, wo die Erde in dem entgegengeſetzten Punkte
D ihrer Bahn und wo der Nordpol p derſelbe, der früher zur
Sonne hin geneigt war, jetzt um denſelben Winkel von der Sonne
weg gewendet iſt.


Da auch hier wieder die Schattengränze auf der Linie S b,
welche die Sonne mit der Erde verbindet, ſenkrecht ſteht, ſo iſt
nun der Nordpol p immer in der dunkeln und der Südpol q
immer in der hellen Erdhälfte, oder die Sonne geht für jenen
Punkt nicht mehr auf und für dieſen nicht mehr unter. Die ſämmt-
lichen Parallelkreiſe werden jetzt von der Schattengränze ganz eben
ſo ungleich, wie zuvor, getheilt, aber mit dem Unterſchiede, daß
jetzt in der nördlichen Hemiſphäre die größeren Theile im Schat-
ten liegen, oder daß hier die Nächte länger ſind, als die Tage,
während das Gegentheil in der ſüdlichen Hälfte Statt findet.
Jetzt ſehen die Bewohner des ſüdlichen Wendekreiſes b die Sonne
in ihrem Zenithe, während ſie für den Aequator a im Mittage um
23°,5 und für den nördlichen Parallelkreis c um 47° vom Zenithe
entfernt iſt, und endlich für den nördlichen Polarkreis d nur mehr
im Mittage für einen Augenblick im ſüdlichen Horizonte erſcheint.
An dieſen Tage wird ein Auge im Mittelpunkte der Erde die
Sonne um 23,5 Grade unter dem himmliſchen Aequator ſehen,
weil in der That die Erde um denſelben Winkel über dem Aequa-
tor erhoben iſt.


Zwiſchen dieſen zwei Lagen der Erde, in B zu Anfang des
[201]Jahreszeiten.
Sommers und in D zu Anfang des Winters der nördlichen Halb-
kugel, gibt es mitten inne zwei andere, in A und C, wo die
Erdaxe weder zur Sonne hin, noch von ihr weg gekehrt, ſondern
wo ſie nach der Seite gewendet iſt und wo der Winkel Smp, der
in B ſpitz und in D ſtumpf war, ein rechter Winkel wird. Da
jetzt der obere und der untere Theil der Erdaxe gegen die fixe
Axe SR der Ecliptik zu beiden Seiten derſelben die gleiche Ent-
fernung haben, oder da jetzt dieſe Erdaxe auf der die Sonne und
Erde verbindenden Linie eben ſo ſenkrecht ſteht, wie dieß die Ebene
der Lichtgränze immer thut, ſo müſſen auch die beiden Pole in
dieſe Schattengränze ſelbſt fallen und dieſe Schattengränze wird
alle Parallelkreiſe in zwei gleiche Theile theilen oder endlich: Tag
und Nacht wird auf der ganzen Erde dieſelbe Länge von zwölf
Stunden haben. Beide Pole ſehen jetzt die Sonne den ganzen
Tag in ihrem Horizonte und die Bewohner des Aequators ſehen
ſie um Mittag in ihrem Zenithe, daher auch ein Auge im Mittel-
punkte der Erde die Sonne ſelbſt in der Ebene des himmliſchen
Aequators erblicken würde. In dieſen beiden Punkten iſt die Erde
im Anfange unſeres Frühlings in A am 21. März und im An-
fange unſeres Herbſtes in C am 23. September. In dieſen bei-
den Punkten geht die Erde durch die Ebene des himmliſchen
Aequators oder die beide Punkte verbindende gerade Linie iſt der
Durchſchnitt des Aequators mit der Ecliptik, die auch die Aequi-
noctiallinie
oder die Nachtgleichenlinie heißt, weil für die
ganze Erde, wenn ſie in dieſen beiden Punkten ſteht, Tag und
Nacht einander gleich ſind. Im Gegentheile heißen die Punkte
B und D, wo in dem erſten die Sonne am höchſten über und in
dem zweiten am tiefſten unter dem Aequator erſcheint, die Sol-
ſtitial-
oder Wendepunkte, weil in ihnen die Sonne ihre jetzt
größte Entfernung vom Aequator am wenigſten ändert und gleich-
ſam einige Tage ſtille zu ſtehen ſcheint, um ſich dann wieder dem
Aequator zuzuwenden.


Wir haben in dem Vorhergehenden nur die vier vorzüglich-
ſten Punkte der Erdbahn näher betrachtet, wo der Winkel Smp
entweder gleich 90 oder um 23,5 größer oder kleiner als 90 iſt,
wo er alſo ſeinen mittlern, ſeinen größten und ſeinen kleinſten
Werth erreicht. Es iſt aber klar, daß die Erde in den Zwiſchen-
[202]Jahreszeiten.
zeiten von jenen vier Hauptpunkten allmählig alle Lagen erreicht,
die zwiſchen den erwähnten Hauptſtellungen liegen, und daß ſonach
jeder Ort der Erde durch allmählige Abſtufungen ſeiner Jahres-
zeiten durchgeht.


§. 87. (Heiße, kalte und gemäßigte Zone der Erde.) Durch
die Wende- und Polarkreiſe wird die Oberfläche der Erde ſehr
angemeſſen in Theile geſchieden, die ſich vorzüglich durch die Tem-
peratur, welche in ihnen durch die Wirkung der Sonnenſtrahlen
hervorgebracht wird, weſentlich von einander unterſcheiden.


Der Theil zu beiden Seiten des Aequators, der ſich bis zu
den beiden Wendekreiſen erſtreckt, heißt die heiße Zone; zwi-
ſchen den Wende- und Polarkreiſen liegen die beiden gemäßig-
ten Zonen
; und die beiden übrigen Räume, die von den zwei
Polarkreiſen begränzt werden und den Nord- und Südpol in ihrer
Mitte haben, heißen die kalten Zonen. Die Breite der heißen
Zone beträgt 47 Grade und ihre Oberfläche hat nahe 3,7 Millio-
nen Quadratmeilen. Jede gemäßigte Zone hat zur Breite 43
Grade und beide zuſammen haben eine Oberfläche von 4,8 Millio-
nen Q. Meilen. Die Gränzen der kalten Zonen endlich ſind von
ihren Polen 23,5 Graden entfernt und die Oberfläche beider betra-
gen 0,8 Millionen Q. Meilen. Da die Oberfläche der ganzen Erde
nahe 9.280.000 Q. Meilen beträgt, ſo nimmt die heiße Zone 0,4,
die beiden gemäßigten 0,5 und die beiden kalten 0,1 der Fläche
der Erde ein. Die Bewohner der heißen Zone ſehen die Sonne
am Mittage des Tages, wo die Declination der Sonne gleich
der geographiſchen Breite ihres Parallelkreiſes iſt, in ihrem Ze-
nithe, und da ſie auch die übrigen Tage des Jahres ſich am
Mittage nie beträchtlich von dem Zenithe entfernt, ſo fallen die
Strahlen derſelben nahe ſenkrecht auf die Fläche dieſer Zone, da-
her die höhere Temperatur und die Benennung derſelben. In
dieſer Zone ſind die Tageslängen nie ſehr von denen der Nächte
verſchieden, da ſelbſt an den Gränzen dieſer Zone, unter den Wen-
dekreiſen, der längſte Tag, ſo wie die längſte Nacht nur 13 Stun-
den 28 Minuten beträgt, während beide unter dem Aequator ſelbſt
durch das ganze Jahr einander immer gleich ſind. Die Schatten
aller ſenkrechten Gegenſtände fallen im Jahre zweimal zu Mittag
unter ſie und außer dieſen beiden Epochen durch einen Theil des
[203]Jahreszeiten.
Jahres nach Norden und durch den anderen Theil nach Süden,
daher die Bewohner dieſes Erdgürtels zweimal im Jahre ganz
ſchattenlos und die andere Zeit hindurch zweiſchattig ſind. Für
ſie liegen die beiden Pole in dem Horizonte, die Parallelkreiſe
ſtehen alle ſenkrecht über dem Horizonte, daher alle Geſtirne eben-
falls im ſenkrechten Bogen auf und nieder gehen und im Laufe
jedes Tages alle Theile des Himmels ſich über dem Horizonte
erheben oder ſichtbar ſind.


In den beiden gemäßigten Zonen erreicht die Sonne auch im
Mittage nie das Zenith des Beobachters und bleibt von demſel-
ben um ſo weiter entfernt, je weiter der Beobachter ſelbſt von dem
Aequator abſteht, und mit dieſem Abſtande wächst auch die Un-
gleichheit der Tage und Nächte, bis endlich an den äußerſten
Gränzen dieſer Zonen unter den Polarkreiſen der längſte Tag, ſo
wie die längſte Nacht volle 24 Stunden beträgt. In dieſen beiden
Zonen ſind die vier Jahreszeiten, die in dem heißen Erdgürtel
bloß in einem durch eine periodiſche Regenzeit unterbrochenen
Sommer beſtehen, deutlich unterſchieden, aber immer einander ent-
gegengeſetzt, ſo daß die nördliche Zone Frühling oder Sommer
hat, wenn die ſüdliche Herbſt oder Winter hat.


Den Bewohnern dieſer Zonen iſt immer ein Theil des Him-
mels in der Nähe des entgegengeſetzten Poles ganz verborgen
oder unſichtbar, und die ihnen noch auf- und untergehenden Ge-
ſtirne beſchreiben alle gegen die Ebene des Horizonts ſchiefe
Kreiſe. Der Schatten aller ſenkrechten Gegenſtände endlich fällt
in der nördlichen Zone immer nach Norden und in der ſüdlichen
immer nach Süden.


In den kalten Zonen endlich, geht die Sonne, wenn ſie dem
Aequator nahe oder gar auf der der Zone entgegengeſetzten Seite
des Aequators ſteht, nicht mehr auf, und eben ſo, wenn ſie dem
dieſe Zone begränzenden Wendekreiſe nahe genug gekommen iſt,
nicht mehr unter. Dann ſieht man ſie ſo, wie überhaupt alle dort
ſichtbare Geſtirne in ununterbrochenen Kreiſen um ſich herumge-
hen, die ſich immer weniger gegen den Horizont neigen, bis ſie
endlich für den Mittelpunkt dieſer Zonen, für den Pol ſelbſt, ganz
mit dem Horizonte parallel werden. An der äußerſten Gränze
[204]Jahreszeiten.
oder unter dem Polarkreiſe, deſſen Breite 66°,5 iſt, dauert der
längſte Tag im Sommer, ſo wie die längſte Nacht im Winter
volle 24 Stunden. Näher bei den Polen, unter der Breite von
67,3, 69,7, 72,4, 78,2 und 83,8 Graden beträgt, dieſe größte Länge
des Tages oder der Nacht in der angeführten Ordnung 1, 2, 3,
4 und 5 volle Monate, bis endlich unter den beiden Polen ſelbſt
die Sonne die eine Hälfte des Jahres über, und die andere unter
dem Horizonte bleibt. Da für dieſe Zonen die Sonne ſich nie
hoch über den Horizont erhebt und daher die Strahlen derſelben
immer nur ſehr ſchief auf die Oberfläche der Erde fallen, ſo er-
reicht auch die Temperatur dieſer Gegenden keinen beträchtlichen
Grad, und die dadurch erregte Kälte nimmt mit der Annäherung
zu den beiden Polen ſchnell zu, bis ſie endlich eine Intenſität und
Ausdauer erhält, die beinahe allem vegetabiliſchen und animaliſchen
Leben feindlich entgegen tritt. Für die wenigen Bewohner dieſer
mit ewigem Schnee bedeckten Gegenden erſcheint der eine Pol im-
mer nahe beim Zenithe, während ihnen die ihnen entgegengeſetzte
Hälfte des Himmels, in deren Mitte der andere Pol iſt, immer
unſichtbar bleibt. Die Schatten endlich, welche die von der Sonne
beſchienenen Körper werfen, gehen, wie die Sonne ſelbſt, täglich
durch alle Punkte des Horizontes um ſie herum, daher auch die
Bewohner dieſer Gegenden umſchattige genannt werden.


§. 88. (Klimate der Alten.) Die älteren Geographen haben
die Oberfläche der Erde in mehrere dem Aequator ebenfalls pa-
rallele Zonen getheilt, die ſie auch Klimate nannten und ſo
wählten, daß der längſte Tag im Sommer, alſo auch die längſte
Nacht im Winter am Ende jeder Zone immer um eine halbe Stunde
größer iſt als im Anfange derſelben. Die folgende Tafel gibt die
geographiſche Breite des von dem Aequator entfernteren End-
punktes und die größte Länge des Tages oder der Nacht in die-
ſem Endpunkte für alle Klimate, welche zwiſchen dem Aequator
und den beiden Polarkreiſen liegen.


[205]Jahreszeiten.

Wien z. B. hat die Breite 48°,2, liegt alſo im 8ten Klima
und ſein längſter Tag im Sommer, ſo wie ſeine längſte Nacht
im Winter beträgt 16h,2 oder 16 Stunden 12 Minuten, oder
der längſte Tag iſt um 4h 12′ länger als 12h, und daher iſt
auch ſein kürzeſter Tag im Winter um 4h 12′ kürzer als 12h oder
gleich 7h 48′. Die Stadt Arkhangel im Gegentheile, deren Breite
64°,5 beträgt, liegt im 18ten Klima und ihr längſter Tag iſt 20h,7
oder 20h 42′, alſo auch ihr kürzeſter Tag im Winter nur 3h 18′.
Für den Parallelkreis von 66°,4 endlich, dauert der längſte Tag
23h 30′ und daher auch der kürzeſte Tag nur eine halbe Minute.
Das Vorhergehende ſetzt voraus, daß der Tag erſt dann anfange
und ende, wann der Mittelpunkt der Sonne durch den Hori-
zont geht. Da aber das Tageslicht ſchon bei dem Anfange des
oberſten Sonnenrandes anfängt und da überdieß dieſer Aufgang
des oberen Randes durch die Wirkung der Refraction, von der wir
weiter unten ſprechen werden, etwas beſchleunigt wird, ſo wird aus
dieſen beiden Urſachen für alle Punkte der Erde der Tag größer
ſeyn, als er in der vorhergehenden Tafel angenommen wurde,
und dieſer Unterſchied iſt beſonders in den höheren Breiten merk-
lich, wo er ſelbſt über einige Stunden gehen kann.


§. 89. (Temperatur der verſchiedenen Gegenden der Erde.)
Uebrigens richtet ſich die eigentliche Temperatur, oder was wir
das phyſiſche Klima einer Gegend nennen, nicht immer nach dem
[206]Jahreszeiten.
Winkel, unter welchem die Sonnenſtrahlen auf dieſelbe auffallen
oder nach der geographiſchen Breite der Gegend, ſondern ſie iſt
auch, und zwar oft in einem ſehr hohen Grade, durch die Höhe
des Ortes über der Meeresfläche, durch die Umgebung deſſelben
von Bergen, durch die Nähe des Meeres oder anderer großer
Waſſermaſſen und Waldungen und durch die Conſtitution des Bo-
dens ſelbſt bedingt. Auch iſt es nicht ſowohl die ſenkrechte Lage
der auf eine Gegend fallenden Sonnenſtrahlen, als vielmehr das
längere Verweilen der Sonne in der Nähe des Zeniths, wodurch
die Wärme beſonders befördert werden muß. Der Aequator hat
um die Mitte des März und Septembers die Sonne im Zenith,
aber da ſich um dieſe Jahreszeit die Declination der Sonne ſehr
ſchnell ändert (in einem Tage beinahe um 23 Minuten), ſo ent-
fernt ſie ſich ſchon in einigen Tagen wieder von dem Zenith. In der
Mitte des Junius oder des Dezembers aber, wo die Sonne den
Bewohnern der Wendekreiſe in ihrem Scheitel erſcheint, ändert ſie
ihre Declination ſehr langſam (in einem Tage nur einige Secun-
den), daher ſie für dieſe Gegenden durch mehrere Wochen immer
in der Nähe des Zeniths bleibt. Auch iſt in der That die Tem-
peratur dieſer Gegenden beträchtlich höher, als die des Aequators.
Ueberhaupt aber wird die Wärme der heißen Zone durch die bei-
nahe immer gleich langen Nächte wieder abgekühlt, und dieß iſt
die Urſache, warum manche Gegenden der höheren gemäßigten
Zonen zur Zeit ihres hohen Sommers eine beträchtlich höhere
Temperatur haben, als ſelbſt die der heißen Zone, weil dort die
längeren Tage und die dauernde Gegenwart der Sonne über
dem Horizonte die Wärme bedeutend erhöht. So ſteigt in der
nördlichen Breite von 60 Graden im Julius die Höhe oft bis über
30 Grade Réaumur im Schatten; im 70ſten Breitengrade macht
ſie noch das Pech der Schiffe flüſſig und ſelbſt im 80ſten Grade
vermag ſie noch den tief gefrorenen Boden aufzuthauen und die
ihr anvertrauten Pflanzen durch eine unſeren Treibhäuſern ähnliche,
ſchnelle Vegetation zur Reife zu bringen. Aber in noch höheren
Breiten nimmt die erwärmende Kraft der Natur ſo ſehr ab, daß ſie
ſich beinahe nur mehr auf die Bildung des Eiſes beſchränkt, die dort
mit jedem Jahre zuzunehmen ſcheint. Allein weder die Richtung
der Sonnenſtrahlen, noch auch die Verweilung der Sonne in der
[207]Jahreszeiten.
Nähe des Zeniths kann, den Beobachtungen zu Folge, als die
einzige Urſache der Temperatur einer Gegend angenommen wer-
den, da oft Länder, wie Norddeutſchland und Kamtſchatka, in
denſelben Breitengraden liegen, und doch in ihrer mittleren Wärme
ungemein verſchieden ſind. Ohne Zweifel haben hier die zum
Theil bereits oben erwähnten localen Urſachen einen ſehr thätigen
Einfluß.


Schon Halley, Newton’s Zeitgenoſſe, hat es verſucht, die Er-
wärmung der verſchiedenen Gegenden der Erde durch die Sonne
darzuſtellen, wenn dieſe Erwärmung bloß als eine Function der
verſchiedenen Mittagshöhen der Sonne und ihrer Verweilung über
dem Horizonte betrachtet wird. Indem er auf dieſe Weiſe die
Temperatur der Erde unter dem Aequator zur Zeit der Aequi-
noctien als 100 annahm, fand er die Temperaturen für andere
Orte.


Nach dieſer Tafel verhielte ſich die Temperatur des längſten
Tags in der Breite von 80 zu der in der Breite von 40 wie 123
zu 115. Eben ſo verhält ſich unter der Breite von 40 Graden
die Temperatur des längſten Tages zu der des kürzeſten wie 115
zu 34. Die Sonnenwärme der längſten Tage wächst von dem
Aequator gegen die Pole, wie auch bereits oben als der Erfahrung
[208]Jahreszeiten.
gemäß bemerkt worden iſt. Lambert gab in ſeiner Photometrie
eine andere Tafel, die aber eben ſo wenig mit den Beobachtungen
übereinſtimmt, da auch ſie auf alle übrigen Urſachen, welche die
Wärme eines Ortes bedingen, keine Rückſicht nimmt.


§. 90. (Schneegränze und iſothermiſche Linien.) Eine der
vorzüglichſten dieſer auf die Temperatur eines Ortes einwirkenden
Bedingungen iſt die Höhe deſſelben über der Meeresfläche. In
den Tropenländern von Amerika hängt die Wärme der Orte faſt
gar nicht von der geographiſchen Breite, ſondern bloß von ihrer
Höhe ab, indem man z. B. von dem Rio guayaquil bis auf den
Gipfel des Chimborasso alle Klimate von der Tropenregion bis
zur Polarzone durchwandern kann. Ueberhaupt befindet ſich über
jedem einzelnen Orte der Erde in der Atmoſphäre ein Punkt,
wo ſelbſt in der Mitte des Sommers Eis und Schnee nicht mehr
aufthauen, oder wo das Thermometer nicht über den Gefrierpunkt
ſteigt. Eine durch alle dieſe Punkte über der Erde gezogene Fläche
heißt die Schneegränze. Nach Humboldt iſt die Höhe der
Schneegränze über der Oberfläche der Erde in der nördlichen He-
miſphäre


  • in der Breite 0° . . 14.800 Par. Fuß
  • — 23,5 . . 14.200 —
  • — 30 . . 13.500 —
  • — 35 . . 11.100 —
  • — 40 . . 9.860 —
  • — 45 . . 8.500 —
  • — 62 . . 5.142 —
  • — 66,5 . . 4.014 —
  • — 70 . . 3.400 —

Die Schneegränze liegt alſo unter dem Aequator am höchſten
und ſenkt ſich von da gegen die Pole immer tiefer zur Erde, bis
ſie endlich, unter den Polen ſelbſt, mit der Meeresfläche zuſam-
menfällt. Auf der ſüdlichen Hemiſphäre, wo überhaupt die Kälte
vorherrſcht, liegt die Schneegränze durchaus beträchtlich tiefer,
als in der nördlichen.


Wenn man die im Laufe eines oder mehrerer Jahre täglich
zu beſtimmten Stunden beobachteten Thermometerſtände addirt und
ihre Summe durch die Anzahl der Beobachtungen dividirt, ſo
[209]Jahreszeiten.
erhält man die ſogenannte mittlere Temperatur des Beob-
achtungsortes. Dieſe iſt z. B. für Cumana 22°,3, Batavia 21°,5
Réaum., Kairo 18,0, Neapel 14,4, Mailand 10,6, Paris 8,8,
Wien 8,6, London 8,4, Berlin 6,7, Stockholm 4,8, Petersburg 2,5,
Nordcap 0,1. Man findet dieſe mittlere Temperatur eines jeden
andern Ortes, wenn man die Zahl 13,7 mit dem Coſinus der
doppelten Breite dieſes Orts multiplicirt, und das Produkt zu
10,93 addirt.


Vergleicht man dieſe mittleren Temperaturen mehrerer Orte
mit ihren geographiſchen Breiten, ſo findet man beinahe keine
Uebereinſtimmung zwiſchen den beiden Zahlen. Zieht man aber
auf einer Karte durch alle die Orte, welche dieſelbe mittlere Tem-
peratur haben, eine krumme Linie, ſo erhält man die ſogenannten
iſothermiſchen Linien von 0°, 5°, 10°, 15°, und man findet,
daß dieſe Linien in der heißen Zone dem Aequator nahe parallel
laufen, aber dann mit den wachſenden Breiten immer unregel-
mäßiger werden, doch ſo, daß ſie ſich alle am meiſten gegen den
Nordpol erheben, öſtlich in der Nähe des Meridians, der durch
die Mitte von Deutſchland geht, und weſtlich in einem durch die
Weſtküſte Amerikas gehenden Meridian, während ſie wieder am
meiſten gegen den Aequator herabſteigen, in den beiden Meridia-
nen, die durch die Mitte von China, und durch die Oſtküſte von
Nordamerika gehen.


§. 91. (Erſcheinungen für eine größere oder kleinere Schiefe
der Ecliptik). Alle dieſe und noch viele andere Erſcheinungen, die
wir auf der Oberfläche der Erde bemerken, ſind eine Folge der
Jahreszeiten, und durch dieſe eine mittelbare Folge der oben er-
wähnten ſchiefen Stellung der Erdaxe gegen die Axe der Ecliptik.
Würden dieſe beiden Axen zuſammenfallen, alſo die Schiefe der
Ecliptik, die jetzt nahe 23,5 Grade beträgt, gleich Null ſeyn, ſo
würde, wie ſchon erwähnt, die mittägige Höhe der Sonne für
jeden Ort der Erde durch das ganze Jahr dieſelbe, und für alle
Orte der Erde würde der Tag immer gleich der Nacht ſeyn. Wir
haben bereits oben die Nachtheile einer ſolchen Stellung der Erd-
axe angegeben. Wäre aber der Winkel der Ecliptik mit dem
Aequator größer als jetzt, und z. B. gleich 45 Graden, ſo würde
die beiße Zone von dem Aequator zu beiden Seiten deſſelben bis
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 14
[210]Jahreszeiten.
zu dem Parallelkreiſe von 45°, und die beiden kalten Zonen wür-
den von 45° bis 90° oder bis zu den Polen gehen; und es würde,
in der obigen Bedeutung des Wortes, keine gemäßigte Zone mehr
geben. Dieſer Mangel würde ohne Zweifel einen ſehr wichtigen
Einfluß, nicht bloß auf die Cultur unſeres Bodens, ſondern auch
auf unſere geiſtige Bildung haben, und unſerer ganzen Menſchen-
geſchichte eine andere Geſtalt geben. So lange die Erde beſteht,
iſt weder in der heißen, noch in der kalten Zone irgend eine neue
Wahrheit entdeckt, oder eine Erfindung in der Wiſſenſchaft ge-
macht worden. Die beiden Extreme der Temperatur treten der kör-
perlichen und geiſtigen Entwicklung des Menſchen feindlich entgegen,
und nur in dem gemäßigten Erdſtriche ſcheint die Natur mit einer
Art von Vorliebe die feinſten Genüſſe, die nützlichſten Früchte
und Thiere, die edelſten und geiſtreichſten Menſchen zu erzeugen.


Noch nachtheiliger endlich würde die Einrichtung ſeyn, in
welcher die Erdaxe auf der Axe der Ecliptik, alſo auch der Aequa-
tor auf der Ebene der Erdbahn ſenkrecht ſtünde, oder wenn die
Schiefe der Ecliptik 90 Grade betrüge. Dann würden alle drei
Zonen von dem Aequator bis zu den Polen gehen, oder jede
derſelben würde, ſich unabhängig von den beiden übrigen, über die
ganze Erde erſtrecken. Bei dieſer Lage der Ecliptik würde zur
Zeit des Anfangs des Sommers der nördlichen Hemiſphäre die
Sonne ſenkrecht über dem Nordpol ſtehen, und dieſe Hälfte der
Erde eine längere Zeit durch beleuchten, während die andere Nacht
hat, indem die Lichtgränze für dieſe Zeit mit dem Aequator zu-
ſammenfällt, und der Nordpol in der Mitte der heißen Zone
liegt. Bald darauf würde ſich dieſe Lichtgränze, die den Aequa-
tor immer halbirt, auf der Oſtſeite gegen den Nordpol, und auf
der Weſtſeite eben ſo viel gegen den Südpol ziehen, bis ſie, nach
drei Monaten, zur Zeit unſeres Herbſtes, ſenkrecht auf dem Aequa-
tor ſteht, und durch beide Pole geht, wo daher Tag und Nacht
auf der ganzen Erde einander gleich ſind. Von da dreht ſich die
Lichtgränze noch weiter in derſelben Richtung, bis ſie endlich,
ſechs Monate nach der erſten Epoche, wieder mit dem Aequator
zuſammenfällt, wo dann die ſüdliche Hälfte der Erde gegen die
Sonne gewendet, und die ganze nördliche von ihr abgekehrt iſt,
ſo daß jetzt der Südpol die Sonne im Zenith ſieht, und der Nord-
[211]Jahreszeiten.
pol ſeine lange Nacht hat, oder in der Mitte der kalten Zone
liegt. Von da dreht ſich die Lichtgränze auf der andern Seite
des Aequators auf dieſelbe Weiſe, bis ſie nach weitern drei Mo-
naten wieder ſenkrecht auf dem Aequator ſteht, wo wieder Tag
und Nacht für die ganze Erde gleich wird, und endlich am Ende
des Jahres in dieſelbe Lage zurückkömmt, die ſie im Anfange
deſſelben hatte. Bei dieſer Stellung der Erdaxe würde daher
jeder Punkt der Erde, ſelbſt die beiden Pole nicht ausgenommen,
zweimal im Jahre die Sonne in ſeinem Zenithe ſehen, und für
jeden würde es eine Zeit des Jahres geben, wo ihm durch meh-
rere Tage die Sonne nicht auf- oder nicht untergeht, ſo daß alſo
jede Gegend der Erde einen Theil des Jahres durch, zu der heißen,
und den andern Theil zu der kalten Zone gezählt werden müßte,
eine Einrichtung, die auf die ſämmtlichen Bewohner derſelben
wohl nicht andere als ſehr nachtheilige Wirkungen äußern könnte.


14 *
[[212]]

KapitelVIII.
Planetenſyſteme.


§. 92. (Aufzählung der Planeten und Satelliten unſeres Son-
nenſyſtems). Zu den Körpern des Himmels, welche ſich zunächſt
um uns in dem großen Weltraume befinden, gehören nebſt der
Sonne noch eilf Planeten, unſere Erde als einen ſolchen mitge-
zählt, mit achtzehn Monden, von welchen einer der Erde gehört,
und einer bisher noch unbekannten, aber gewiß ſehr großen Zahl von
Kometen. Dieſe Himmelskörper bilden gleichſam eine iſolirte Gruppe,
zu der wir ſelbſt gehören, und die wir daher vor allem näher
kennen lernen ſollen. Was jenſeits des dieſer Familie angewie-
ſenen Raumes iſt, ſteht in ſo weiter Entfernung von uns, daß es
wohl immer ein uns gänzlich unbekanntes Land bleiben wird.


Von den genannten uns nähern Körpern ſind es vorzüglich
die Planeten, die unſere Aufmerkſamkeit in hohem Grade er-
fordern. Sie zeichnen ſich von den übrigen Geſtirnen durch ihre
eigene ſonderbare Bewegung, durch ihr matteres Licht, und die
meiſten derſelben durch einen beträchtlichen Durchmeſſer ihrer kreis-
förmigen Geſtalt uns, während die Fixſterne, auch in den beſten
Fernröhren, nur wie unmeßbare Punkte erſcheinen. Ihre Namen
und Zeichen ſind:


[213]Planetenſyſteme.
  • Merkur ☿
  • Venus ♀
  • Erde ♁
  • Mars ♂
  • Veſta ⚶

  • Juno ⚵
  • Ceres ⚳
  • Pallas ⚴
  • Jupiter ♃
  • Saturn ♄
  • Uranus ♅

Die Sonne endlich wird durch ☉ und der Mond unſerer
Erde durch ☾ angezeigt. Von dieſen Himmelskörpern waren fünf
den Alten unbekannt. Uranus nämlich wurde erſt am 13. März
1781 von Herſchel, Ceres am 1. Januar 1801 von Piazzi, Juno am
1. Septbr. 1804 von Harding und Pallas am 28. März 1802, ſo wie
Veſta am 29. März 1807 von Olbers entdeckt. Von dieſen Pla-
neten hat die Erde einen, Jupiter vier, Uranus ſechs und Saturn
endlich ſieben Monde mit einem Doppelringe, der den letzten
Planeten concentriſch umgibt.


Hier handelt es ſich vor allem um die Anordnung oder um
die gegenſeitige Stellung dieſer Himmelskörper. Dieſe Stellung
kann nur ein Reſultat der Beobachtungen ſeyn, und nicht, wie
wohl mehrere Philoſophen der alten und neuern Zeit verſucht
haben, a priori oder aus hyperphyſiſchen Gründen, die hier ſo
viel als keine Gründe ſind, beſtimmt werden. Sehen wir alſo
was uns die Beobachtungen über dieſe Stellung der Planeten ge-
lehrt haben.


§. 93. (Mannigfaltige Bewegungen der Planeten). Zuerſt be-
merken wir, daß die Planeten zwar auch, wie die Sonne und der
Mond, eine eigene Bewegung unter den fixen Sternen gegen Oſt
haben, abgeſehen von der täglichen, allen Himmelskörpern ge-
meinſchaftlichen Bewegung, die, wie wir bereits wiſſen, nur ſchein-
bar iſt, und ihren Grund in der täglichen Bewegung der Erde
um ihre Axe hat. Allein dieſe Bewegung der Planeten iſt
keineswegs ſo regelmäßig, wie die der Sonne oder des Mondes,
und ſie iſt nicht einmal immer, wenn gleich größtentheils, nach
Oſten, ſondern auch öfter nach Weſten gerichtet, und zuweilen
ſcheinen dieſe Körper ſogar gänzlich ſtille zu ſtehen, und ihren
Ort am Himmel durch längere Zeit gar nicht zu ändern.


Dieſe Abwechslungen ihrer Bewegungen ſind offenbar in
regelmäßige Perioden eingeſchloſſen, die, wie man bald bemerkt,
[214]Planetenſyſteme.
von dem Stande dieſer Körper gegen die Sonne oder von dem
Winkel abhängen, welchen die Geſichtslinien von unſerm Auge
nach der Sonne und nach den Planeten unter ſich bilden. Die
nach Oſt gerichtete Bewegung nennt man direct oder rechtläufig,
die nach Weſt gekehrte retrograd oder rückläufig, und wenn der
Planet ſeinen Ort am Himmel einige Zeit durch, nicht verändert,
heißt er ſtationär oder ſtillſtehend.


Die Erſcheinungen, von denen hier die Rede iſt, ſind wohl
im Allgemeinen für alle Planeten dieſelben, aber die beiden erſt-
genannten, Merkur und Venus, zeigen doch mehrere Eigenheiten,
welche bei den übrigen nicht angetroffen werden, daher wir gleich-
ſam beide Klaſſen von Planeten geſondert betrachten wollen.


§. 94. (Bewegung der unteren Planeten). Jene zwei, die
man auch die unteren Planeten heißt, entfernen ſich ſcheinbar nie
weit von der Sonne, ſo daß ſie gleichſam als Begleiter derſelben
anzuſehen ſind, während alle übrigen ſich in alle Entfernungen
von ihr wagen, und uns daher auch oft an der der Sonne
gegenüberſtehenden Gegend des Himmels erſcheinen. Wenn die
unteren Planeten der Sonne am nächſten ſtehen, und ihre Scheibe
ganz beleuchtet, wie der Mond im Volllichte, und zugleich am
kleinſten erſcheint, ſo iſt ihre directe Bewegung zugleich am
ſchnellſten, oder ſie entfernen ſich am geſchwindeſten von der Sonne
gegen Oſt. Wenn auf dieſe Weiſe Merkur nahe 23 Grade öſtlich
von der Sonne ſich entfernt hat, kömmt er wieder zu ihr zurück,
obſchon ſeine Bewegung, in Beziehung auf die Fixſterne, noch immer
direct, aber auch ſchon ſehr langſam geworden iſt. Wenn er auf
dieſem Gang zur Sonne etwa 18 Grade von ihr abſteht, ver-
ſchwindet ſeine Bewegung gänzlich, und er wird ſtationär. Bald
darauf nimmt er eine retrograde Bewegung an, die immer ge-
ſchwinder wird, und mit welcher er ſich der Sonne noch weiter
nähert, bis er ſie endlich erreicht, und da er jetzt in ihren Strah-
len ſchwimmt, für uns ganz unſichtbar wird. Während dieſer
ganzen Periode hat ſeine ſcheinbare Größe immer zugenommen,
aber von ſeiner Scheibe iſt nach und nach immer ein kleinerer
Theil auf der weſtlichen oder der Sonne zugekehrten Seite beleuch-
tet, wie wir dieß bei dem abnehmenden Monde bemerken, bis ſie
[215]Planetenſyſteme.
endlich am Ende dieſer Periode, wie der Mond im Neulichte,
gänzlich verſchwindet. Wenn er ſo zum zweitenmale in die Nähe
der Sonne gekommen iſt, ſo iſt ſeine retrograde Bewegung am
ſchnellſten. Bald darauf entfernt er ſich mit einer immer ſchwä-
cher werdenden Geſchwindigkeit auf der Weſtſeite von der Sonne,
bis er, in der weſtlichen Entfernung von 18°, wieder eine Zeit
durch ſtill ſteht. Wenn er dann mit einer allmählig ſchneller
werdenden directen Bewegung ſich bis 23° von der Sonne ent-
fernt hat, fängt er an, ſich ihr zu nähern, und kömmt endlich,
wenn ſeine directe Bewegung am größten iſt, wieder bei ihr, das
heißt, wieder in dem Punkte an, von welchem er im Anfange
der erſten Periode ausgegangen iſt, um fortan dieſelben Erſchei-
nungen in der aufgezählten Ordnung zu wiederholen. Während
dieſer zweiten Periode hat ſeine ſcheinbare Größe immer abge-
nommen, aber ſeine öſtliche, d. h. ſeine der Sonne zugewendete,
Seite wurde, wie der zunehmende Mond, immer mehr und mehr
beleuchtet, während die weſtliche Seite dunkel blieb, bis ſie endlich
am Ende der zweiten Periode, wie der Mond im Volllichte, gänz-
lich beleuchtet iſt. Die Dauer jeder dieſer zwei Perioden iſt nahe
58 Tage, alſo die Zeit, welche den ganzen Wechſel dieſer Er-
ſcheinungen umfaßt, 116 Tage; die Zeit aber, während welcher
Merkur eine retrograde Bewegung hat, beträgt 17½ Tage und der
Bogen, den er während dieſer rückläufigen Bewegung beſchreibt,
iſt nahe 12½ Grad. — Ganz ähnliche Erſcheinungen bietet auch
der zweite untere Planet, die Venus, dar, nur ſind die ſo eben
für Merkur angeführten Zahlen bei dieſem Planeten durchaus
etwas größer. Seine größte Ausweichung von der Sonne beträgt
46½ Grade, während die Ausweichung zur Zeit ihres öſtlichen
und weſtlichen Stillſtandes 28 Grade hat. Die Zeit einer jeden
ihrer zwei Perioden beträgt 291, alſo die des ganzen Wechſels
der Erſcheinungen 582 Tage, und die Zeit ihres Rückgangs 41
Tage, ſo wie endlich der Bogen ihres Rückgangs nahe 16 Grade
umfaßt. Beide Planeten endlich ſtehen während der Zeit ihrer
erſten Periode öſtlich von der Sonne, gehen alſo, als Abendſterne,
nach der Sonne unter, während ſie in der zweiten Periode der
Sonne weſtlich ſtehen, oder als Morgenſterne vor ihr auf- und
untergehen.


[216]Planetenſyſteme.

§. 95. (Bewegungen der oberen Planeten). Anders ſind dieſe
Erſcheinungen bei den ſogenannten oberen Planeten; Mars z. B.
hat, ſo wie jene, ſeine größte öſtliche Bewegung, und zugleich
ſeine kleinſten Durchmeſſer zu der Zeit, wo er uns ganz nahe bei
der Sonne erſcheint. Aber dieſe Geſchwindigkeit nimmt mit der öſt-
lichen Entfernung von der Sonne immer ab, und verſchwindet end-
lich in der Entfernung von 137 Graden, wo er unter den Fixſternen
eine kurze Zeit ſtill zu ſtehen ſcheint, und bald darauf mit einer
immer ſchneller werdenden retrograden Geſchwindigkeit, noch wei-
ter von der Sonne entfernt. Wenn er der Sonne gerade gegen-
über kömmt, oder um Mitternacht durch den Meridian gebt, iſt
ſeine retrograde Bewegung, ſo wie auch ſein ſcheinbarer Durch-
meſſer, am größten. Von dieſem Punkte nimmt ſeine Geſchwin-
digkeit allmählig ab, bis ſie, in der Entfernung von 137 auf der
Weſtſeite der Sonne wieder verſchwindet, und der Planet daher
wieder ſtationär wird. Bald darauf nimmt er ſeine öſtliche oder
directe Bewegung wieder an, und nähert ſich mit einer immer
größern Geſchwindigkeit wieder der Sonne, die er endlich mit
ſeiner größten directen Bewegung, und mit ſeinem kleinſten ſcheinba-
ren Durchmeſſer erreicht, um von ihr aus wieder eine neue Periode
derſelben Erſcheinungen zu beginnen. Die Dauer und Größe dieſer
einzelnen Phänomene für die einzelnen obern Planeten enthält
die folgende kleine Tafel;


Dauer der
ganzen
Periode
Ausweichung
von der
Sonne beim
Stillſtand
Bogen des
Rückgangs
Dauer des
Rückgangs
Mars . 780,4 Tage137 Grade14 Grade70 Tage
Jupiter 398,811710119
Saturn 378,01087136
Uranus 369,71024150

Uebrigens ſind dieſe Zahlen nur die mittleren von denjenigen,
die man in der That beobachtet, und dieſe letzten ſind oft nicht
unbeträchtlich von jenen verſchieden. So verändert ſich die Aus-
weichung des Mars bei ſeinem Stillſtande von 129 bis 147
Graden, und die Dauer ſeines Rückgangs von 60 bis 80 Tagen,
[217]Planetenſyſteme.
und äbnliche Variationen hat man auch bei allen übrigen Plane-
ten bemerkt.


Bisher haben wir nur die Bewegung der Planeten in ihrer
Länge betrachtet, und ſie iſt, wie man ſieht, bereits nicht wenig
verwickelt. Allein noch viel verwickelter wird ſie, wenn man, wie
man ſoll, zugleich auch auf die Veränderungen ihrer Breite Rück-
ſicht nimmt.


§. 96. (Geographiſche Darſtellung dieſer Bewegungen). Um
dieß ſogleich durch ein Beiſpiel zu zeigen, ſo enthält die kleine
Karte (Fig. 18 A) für die Monate Februar bis September des
Jahres 1835 den Lauf der Sonne ſowohl, als auch den des Mer-
kurs, wie er von der Erde in Beziehung auf den Aequator er-
ſcheint. Die gerade Linie 00 ſtellt den Aequator vor, auf welchem
die Rectaſcenſionen in Stunden I. II. III. genommen ſind, deren
jede 15 Grade enthält, und ſenkrecht darauf ſtehen die in Grade
getheilten Declinationskreiſe. Der Lauf der Sonne iſt durch die
krumme Linie ABC . . F und der des Merkurs durch abc . . f vor-
geſtellt, ſo daß die Zeichen A und a den Ort der Sonne und des
Merkurs für den 1. März, B und b für den 1. April, C und c
für den 1. May … und F und f für den 1. Auguſt des Jahres
1835 angeben. So iſt z. B. für die Punkte C und c oder für
den erſten May die Rectaſcenſion der Sonne 2h 30′ und die des
Merkurs 1h 25′; die nördliche Declination der Sonne aber 15°
und die von Merkur 6°. Schon der erſte Blick auf dieſe Karte
zeigt die große Unregelmäßigkeit des Laufes des Planeten, wäh-
rend die Bahn der Sonne als ein einfacher größter Kreis des
Himmels erſcheint. Im Allgemeinen geht zwar auch Merkur von
Weſt gegen Oſt, indem er die in derſelben Richtung fortſchrei-
tende Sonne bald in geringer, bald in einer größern Entfernung
begleitet, aber dieſe directe Bewegung des Planeten wird ſelbſt in
dieſer kurzen Zeit mehr als einmal unterbrochen. So erſcheint
er in Rectaſcenſion ſtationär am 1. März oder in dem Punkte a,
wo die Richtung ſeiner Bahn ſenkrecht auf dem Aequator iſt, und
daſſelbe iſt der Fall am 24. März, am 4. Julius und am 29.
Julius, und ſeine Bewegung iſt daher retrograd vom 1. bis 25.
März durch einen Bogen von 11,5 Grad, und vom 4. bis 28.
Juli durch einen Bogen von 11,0 Grad. Nicht geringeren Ver-
[218]Planetenſyſteme.
änderungen iſt auch die Declination dieſes Planeten unterworfen.
Im Anfange des Jahrs 1835 war ſeine ſüdliche Declination am
größten, und nimmt von da ab, bis Merkur am 26. Februar
durch den Aequator geht. Dann wächst die nördliche Declina-
tion, aber nur bis zu einem Grad am 4. März, wo ſie ſtationär
iſt, weil dann die Bahn des Planeten eine gegen den Aequator
parallele Lage annimmt. Bald darauf nimmt dieſe ohnehin nur
kleine nördliche Declination wieder ab, bis Merkur am 10. März
zum zweitenmale durch den Aequator geht, und ſeine ſüdliche
Declination bis zum 29. März wächst, wo ſie wieder am größ-
ten und ſtationär iſt. Darauf nähert er ſich wieder dem Aequa-
tor, den er am 21. April zum drittenmale ſchneidet. Von dieſem
Punkte an wächst die nördliche Declination durch längere Zeit
bis zum 4. Junius, wo ſie ihren größten Werth von 26° erhält,
und von da wieder abnimmt, bis ſie am 14. Juli ihren kleinſten
Werth von 16° hat, und ſtationär wird. Von dieſem Punkte an
wächst die Declination wieder, bis ſie am 8. Auguſt neuerdings
ihren größten Werth von 20° erhält, einige Zeit durch ſtationär
iſt, und dann allmählig wieder kleiner wird, indem der Planet
ſich dem Aequator nähert, um ihn erſt am 14. September zu
erreichen. Am 22. Februar, und am 19. Junius hat Merkur
ſeine größte öſtliche, und am 7. April und 5. Auguſt ſeine größte
weſtliche Ausweichung von der Sonne. Im Gegentheile ſteht er
am 14. März, 17. Mai, 16. Juli und 29. Auguſt der Sonne am
nächſten, doch mit dem Unterſchiede, daß ſein Durchmeſſer am 14.
März und 16. Julius am größten, aber beinahe ganz unbeleuchtet,
am 17. Mai und 29. Auguſt aber am kleinſten, und ganz voll be-
leuchtet erſcheint. Auch ſteht Merkur vom 11. Febr. bis 14. März,
ſo wie vom 17. Mai bis 16. Julius öſtlich von der Sonne, und
geht daher erſt in den Nachmittagsſtunden durch den Meridian,
während er vom 14. März bis 17. Mai, und vom 16. Julius
bis 29. Auguſt weſtlich von der Sonne ſteht, und in den Morgen-
ſtunden culminirt.


§. 97. (Dieſe Bewegungen ſind nur ſcheinbar). Was ſoll man
nun von allen dieſen Sonderbarkeiten denken, und dann auf welche
Weiſe ſollen wir ſie uns erklären? Denn daß dieſes immerwäh-
rende Vor- und Rückwärtsgehen, dieſe abwechſelnden Näherungen
[219]Planetenſyſteme.
und Entfernungen in Beziehung auf den Aequator, dieſe auffal-
lenden Stillſtände in Rectaſcenſion und Declination, dieſes häufige
Ab- und Zunehmen der Geſchwindigkeit, mit welcher ſich dieſe
Himmelskörper bewegen, und daß überhaupt dieſe ſonderbare und
höchſt unregelmäßige Bahn des Planeten mit ihren Knoten und
Schlingen zwiſchen den Punkten a, b und e, f, daß dieß die
wahre Bahn des Planeten ſeyn ſoll, iſt doch äußerſt unwahr-
ſcheinlich, wenn wir bedenken, daß die Natur beinahe überall, wo
wir ſie näher kennen zu lernen Gelegenheit haben, die einfachſten
Mittel in Bewegung zu ſetzen pflegt, um ihre Zwecke zu errei-
chen. Wir werden daher wohl annehmen müſſen, daß dieſe Un-
regelmäßigkeiten und Verwicklungen, welche wir bei dem Laufe der
Planeten bemerken, nur ſcheinbar ſind, und daß ſie ſich nur für
uns mit allen dieſen Complicationen darſtellen, während ſie viel-
leicht für Andere oder auch für uns, aber unter andern Verhält-
niſſen eben ſo einfach ſeyn würden, als die Bahnen der Sonne
und des Mondes, die beide ſo regelmäßig in größten Kreiſen am
Himmel einhergehen.


Aber welcher Art ſind dieſe Verhältniſſe, wodurch jene Ein-
fachheit der Bewegung der Planeten bedingt ſeyn ſoll? — Was
auch die Antwort auf dieſe Frage ſeyn mag, ſo viel iſt klar, daß
jene Unregelmäßigkeiten, ſo verwickelt ſie uns auch erſcheinen, ſich
doch offenbar nach dem Stand der Sonne, oder was hier daſſelbe
iſt, nach der Stellung der Erde richten, welche dieſe, die immer
der Sonne gegenüberſteht, im Himmelsraume eben einnimmt.
Es wird nicht unangenehm ſeyn, dieß etwas genauer zu unter-
ſuchen, da wir vielleicht eben dadurch der wahren Erklärung jener
Erſcheinungen näher kommen werden.


§. 98. (Periode dieſer Bewegungen, und ſynodiſche Revolution
der Planeten). Die auffallendſten jener Unregelmäßigkeiten, die
Schlingen der Bahn, wo der Planet einen Rückſprung macht, um
ſeinen eigenen Weg zu durchſchneiden, haben immer in der Nähe
ſeines Stillſtandes, und um die Zeit Statt, wo er entweder bei
der Sonne, oder, für die oberen Planeten, ihr gerade gegenüber
ſteht, und wo der Durchmeſſer deſſelben am größten erſcheint,
alſo wohl der Planet ſelbſt uns am nächſten iſt. Die Orte des
Himmels, wo dieſe Stillſtände und Schlingen Statt haben, än-
[220]Planetenſyſteme.
dern ſich zwar mit jedem Jahre, aber die Stellung des Planeten
gegen die Sonne, wenn jene Erſcheinungen Statt haben, bleibt
immer dieſelbe, und die Zeiten, welche von einer Zurückkunft des
Planeten zur Sonne bis zur nächſtfolgenden verfließen, ſind im
allgemeinen immer dieſelben. Man nennt dieſe Zeiten die ſy no-
diſchen Umläufe
oder die Revolutionen der Planeten in Be-
ziehung auf die Sonne. Es fehlt allerdings auch hier nicht an
Ungleichheiten, wie auch bereits oben bemerkt worden iſt, aber
wenn man die ſogenannte mittlere Größe dieſer Umläufe aus ſehr
weit z. B. aus Jahrhunderten von einander entfernten Beobach-
tungen ſucht, ſo findet man ſie immer von gleicher Größe. Man
findet ſo für die ſynodiſche Revolution Merkurs 115,87 Tage,
Venus 583,92, Mars 779,38, Veſta 505,0, Juno 474,0, Pallas und
Ceres 466,5, Jupiter 398,8, Saturn 378,0 und Uranus 369,7 Tage.
Dieſe Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne ſind es alſo,
durch welche jene Erſcheinungen des Vor- und Rückwärtsgehens,
und des Stillſtandes der Planeten gleichſam regulirt werden,
ſo daß dieſe Phänomene alle in derſelben Ordnung während einer
ſynodiſchen Revolution periodiſch wiederkehren. So kömmt z. B.
Jupiter immer 142 Tage nach ſeiner Conjunction (§. 73) mit der
Sonne, wenn er von ihr 117 Grade entfernt iſt, zu ſeinem erſten
Stillſtand, nach welchem er ſeine rückgängige Bewegung anfängt,
die 119 Tage dauert, ſo daß er am Ende von 261 Tagen nach
ſeiner Conjunction in ſeinen zweiten Stillſtand tritt, nach welchen
er wieder ſeine rechtläufige Bewegung anfängt, und ſo fort bei
allen anderen Planeten.


§. 99. (Durchgang der Planeten durch die Ebene der Ecliptik).
Noch auffallender zeigt ſich dieſe Abhängigkeit jener Anomalien
von der Sonne bei dem Durchgange der Planeten durch die
Ecliptik oder durch die Ebene der Erobahn. Es iſt leicht, den
Augenblick zu finden, wann der Planet durch die Ecliptik geht.
Man darf nur zu der Zeit, wo er ſich in ihrer Nähe aufhält,
täglich die Rectaſcenſion und Declination deſſelben beobachten,
und daraus durch Rechnung die Länge und Breite der Planeten
ableiten. Findet man auf dieſe Weiſe zwei Tage, an deren erſtem
der Planet nördlich, und an den zweiten ſüdlich von der Ecliptik
ſtand, ſo findet man daraus, und aus der täglichen Aenderung der
[221]Planetenſyſteme.
Breite durch eine einfache Proportion die Zeit, wann dieſe Breite
verſchwindet, oder wann der Planet durch die Ecliptik geht. Ver-
gleicht man nun wieder, um andere kleinere Ungleichheiten d[e]s
Planetenlaufs zu umgehen, Jahrhunderte weit von einander ent-
fernte Zeiten ſolcher Durchgänge, ſo findet man, für je zwei
nächſte Durchgänge des Planeten, immer denſelben mittlern
Werth, oder mit andern Worten, die Zeit von einem Durchgange
des Planeten bis zu dem nächſtfolgenden, iſt im allgemeinen
immer dieſelbe, der Planet mag bei dieſen Durchgängen eine
directe oder eine retrograde, eine große oder eine kleine Geſchwin-
digkeit haben. Da nun der Mittelpunkt der Sonne ebenfalls in
der Ecliptik liegt, wie jener der Erde, ſo wird auch ein Beobachten
in der Sonne den Planeten in demſelben Augenblicke, wo wir ihn
durch die Ebene der Ecliptik gehen ſehen, in derſelben Ebene erblicken,
daher auch für jenen die Intervalle dieſer Durchgangszeiten einan-
der gleich ſeyn werden. Dieſe auffallende Regelmäßigkeit der Be-
wegung der Planeten, wenn ſie von der Sonne aus in dem Punkte,
wo ſie durch die Ecliptik gehen, betrachtet werden, muß auf die
Vermuthung führen, daß vielleicht auch noch mehrere andere der
oben angeführten Anomalien verſchwinden würden, wenn wir die
Planeten in allen ihren Punkten von der Sonne aus beobachten
könnten; daß alſo wohl die Sonne, und nicht die Erde, die
eigentliche Stelle ſeyn möge, aus welcher wir dieſes Schau-
ſpiel betrachten ſollten, um es in ſeiner ganzen Schönheit und
Einfachheit zu überſehen, und daß endlich alle jene Sonderbarkeiten
nur ſcheinbar ſeyn, und ihren Grund darin haben können, da[ß]
wir ſie von einem Standpunkte, der ſich ſelbſt um die Sonne be-
wegt, alſo von einem in jedem Augenblicke veränderten Stand-
punkte betrachten.


So richtig dieſer Schluß auch ſeyn mag, und ſo ſicher er,
wie uns alles, was wir bisher über die Bewegung der Erde be-
reits kennen gelernt haben, vermuthen läßt, zu einer glücklichen
Auflöſung des großen Problemes zu führen ſcheint — unſern Vor-
gängern war dieſer Weg verſchloſſen, und die Aufgabe mußte, ſo
viel Scharfſinn ſie auch darauf verwendeten, für ſie unauflösbar
bleiben.


[222]Planetenſyſteme.

§. 100. (Sideriſche Umlaufszeiten der Planeten). Dieſe Be-
merkung, daß die Zwiſchenzeiten der Zurückkunft der Planeten zur
Ecliptik, von dem Mittelpunkte der Sonne geſehen, immer die-
ſelben
, oder daß ſie conſtant ſind, ließ uns vermuthen, daß wohl
dieſe Sonne ſelbſt der wahre Mittelpunkt der Bewegung jener
Planeten ſeyn könne. Gehen wir noch einen Schritt weiter, und
nehmen wir an, daß, aus dieſem Mittelpunkte der Sonne geſehen,
die früher ſo ſonderbaren und verwickelten Bewegungen eben ſo ein-
fach erſcheinen mögen, wie uns die Bewegung der Sonne und
des Mondes erſcheint. Dieſe beiden Geſtirne gehen nämlich für
uns in einem größten Kreiſe des Himmels um den Mittelpunkt
der Erde, und dieß aus der Urſache, weil diejenigen Ebenen, in
welchen ihre kreisförmigen Bahnen liegen, ſelbſt durch den Mit-
telpunkt der Erde gehen. Sollen alſo die Planeten um die Sonne
eben ſo einfache größte Kreiſe am Himmel beſchreiben, ſo müſſen
ihre Bahnen ebenfalls in Ebenen liegen, die durch den Mittelpunkt
der Erde gehen. Dieſe Ebenen können aber den Ebenen der
Ecliptik nicht parallel ſeyn, weil wir ſonſt, ſelbſt von der Erde
aus, die immer in der Ecliptik bleibt, die Planeten nie über oder
unter derſelben ſehen könnten. Dieſe durch den Mittelpunkt der
Sonne gehenden Ebenen der Planetenbahnen, werden alſo die Ebene
der Ecliptik irgendwo in einer geraden Linie ſchneiden, und dieſe
Linie wird ſelbſt wieder durch den Mittelpunkt der Sonne gehen.
Wir wollen dieſen Durchſchnitt beider Ebenen die Knotenlinie
der Planetenbahn nennen. Verlängert man ſie zu beiden Seiten,
bis ſie die Sphäre des Himmels in zwei Punkten trifft, ſo kön-
nen dieſe zwei Punkte die Knoten der Planetenbahn heißen, und
zwar der eine der aufſteigende, von dem ſich der Planet, wenn
er in jene Durchſchnittslinie kömmt, über die Ecliptik oder gen
Norden erhebt, und der andere entgegengeſetzte, von dem er unter
die Ecliptik oder gegen Süden geht, der niederſteigende
Knoten. Man pflegt jenen durch ☋ und dieſen durch ☊ zu be-
zeichnen.


Iſt dieſe Vorausſetzung, daß die Bahnen aller Planeten ebene
Curven ſind, und daß die Ebenen, in welchen ſie liegen, alle durch
den Mittelpunkt der Sonne gehen, richtig — und wir werden ſie
weiter unten vollkommen beſtätigt finden — ſo wird alſo auch jene
[223]Planetenſyſteme.
Zwiſchenzeit zwiſchen den zwei nächſten Durchgängen des Planeten
durch denſelben Knoten, von der Sonne oder, was, wie wir be-
reits wiſſen, daſſelbe iſt, von der Erde geſehen, die Zeit des
Umlaufs
des Planeten um die Sonne, oder, wie man ſich auch
auszudrücken pflegt, jene Zwiſchenzeiten werden die ſideriſchen
Revolutionen
des Planeten ſeyn, weil nämlich in dieſer Zeit
der Planet in ſeiner Bahn volle 360 Grade um die Sonne be-
ſchrieben haben, und am Ende dieſer Zeit, von der Sonne aus ge-
ſehen, wieder bei demſelben Knoten, oder, was daſſelbe iſt, bei
demſelben Fixſtern (sidus) erſcheinen wird, bei welchem er am
Anfange derſelben geſehen wurde, vorausgeſetzt, daß dieſer Knoten
ſelbſt, während jener Zwiſchenzeit, ſeinen Ort am Himmel nicht
verändert hat, was, den Beobachtungen zu Folge, wenigſtens ſehr
nahe der Fall iſt. Dieſe ſideriſchen Revolutionen werden von den
oben (§. 98) angeführten ſynodiſchen Umlaufszeiten ſehr verſchie-
den ſeyn, da die letzten die Zeiten der Zurückkunft des Planeten
zur Sonne, alſo zu einem ſelbſt wieder beweglichen Punkte,
jene aber die Wiederkehr zu einem Fixſterne, d. h. zu einem
feſten Punkte des Himmels bezeichnen.


Dieß gibt daher ein ſehr einfaches Mittel, die ſideriſchen
Umlaufszeiten der Planeten um die Sonne zu beſtimmen, da die
Beobachtungen ihres Durchgangs durch die Ecliptik, wie wir oben
geſehen haben, keinen weiteren Schwierigkeiten unterliegen. Die
folgende Tafel gibt dieſe Umlaufszeiten für alle Planeten. Da
aber, wenn dieſe Zeiten bekannt ſind, durch Hilfe des oben (§. 58)
angeführten Geſetzes von Kepler auch ſofort die Verhältniſſe
der mittleren Diſtanzen der Planeten von der Sonne oder die
Halbmeſſer ihrer kreisförmigen Bahnen gegeben ſind, ſo wurden
auch dieſe der Tafel beigefügt. Unter dieſen Diſtanzen iſt die
mittlere Diſtanz der Erde von der Sonne als Einheit angenom-
men worden. Da aber, wie bereits §. 65 geſagt wurde, dieſe
mittlere Diſtanz 20.657.700 Meilen beträgt, ſo wird man die
Zahlen der zweiten Kolumne dieſer Tafel durch 20.657.700 mul-
tipliciren, um die Halbmeſſer der übrigen Planetenbahnen in
Meilen ausgedrückt zu erhalten.


[224]Planetenſyſteme.
  • Sideriſche Revolutionen Mittlere Diſtanzen
  • Merkur . 87,9693 Tage . . . . 0,38710
  • Venus . 224,7008 . . . . 0,72333
  • Erde . . 365,2564 . . . . 1,00000
  • Mars . . 686,9796 . . . . 1,52369
  • Veſta . . 1327,6 . . . . 2,5632
  • Juno . . 1593,8 . . . . 2,6704
  • Ceres . . 1681,4 . . . . 2,7872
  • Pallas . 1682,5 . . . . 2,7683
  • Jupiter . 4332,5963 . . . . 5,20116
  • Saturn 10758,96984 . . . . 9,53781
  • Uranus 30688,71268 . . . . 19,18318

§. 101. (Grundſätze der Planetentheorie bei den älteren Aſtro-
nomen). Nach dieſer Digreſſion gehen wir nun wieder zu den
Erklärungen der alten Aſtronomen zurück. Sie gingen von dem
Grundſatze aus, daß die Erde in der Mitte des Weltraums un-
beweglich ruhe, weil dieß dem äußern Scheine gemäß iſt, und
weil die Erde, nach ihrer Meinung, der wichtigſte Körper des
Himmels iſt, dem es daher nicht angemeſſen ſeyn kann, ſich um
die andern, die nur ihretwegen da ſind, zu bewegen. Mit dieſem
Princip verbanden ſie ein zweites von nicht größerm Werthe, daß
nämlich alle Bewegungen der Himmelskörper, wo ſie Statt haben,
in Kreiſen vor ſich gehen müſſen, weil der Kreis die vollkom-
menſte aller krummen Linien, und daher allein dem großen Ur-
heber der Natur angemeſſen iſt. Dieſe zwei teleologiſchen, auf
nichts gegründeten Meinungen wurden allgemein als unumſtöß-
lich, ja ſogar, durch eine ſonderbare Verwirrung der Begriffe, als
unangreifbar angenommen, und ſie waren es, die uns Jahrtau-
ſende hindurch die Wahrheit verſchleierten, und die richtige Erkennt-
niß der Einrichtung der Natur unmöglich machten.


§. 102. (Ptolemäiſches Planetenſyſtem). Deſſenungeachtet
drängten ſich jene Erſcheinungen der Planeten dem aufmerkſamen
Beobachter auf, und eine Erklärung derſelben mußte verſucht
werden. Ptolemäus, der um die Mitte des zweiten Jahrhunderts
unſerer Zeitrechnung in der berühmten Schule von Alexandrien
lebte, war, ſo viel wir wiſſen, der erſte, der ſich an dieſes Problem
gewagt hat. Er gab ſeine Auflöſung in dem Werke, μεγαλη
[225]Planetenſyſteme.
συνταξις, das bei uns unter der arabiſchen Benennung des Al-
mageſts
bekannter iſt. Nach ihm ſteht die Erde in dem Mittel-
punkte von eilf concentriſchen Kreiſen oder Sphären ſtill, und die
Planeten bewegen ſich in der Peripherie dieſer Kreiſe ſo, daß in
dem erſten, kleinſten oder der Erde nächſten Kreiſe der Mond
einhergeht, während in den ſechs folgenden immer weitern Kreiſen
ſich Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn bewegen;
Uranus und die vier neuen Planeten kannte er noch nicht, konnte
ſie alſo auch in ſein ſogenanntes Syſtem nicht aufnehmen. Ueber
dem Kreiſe Saturns, der die ſiebente Sphäre bildet, nahm er
eine achte an, in welcher alle Fixſterne ſich bewegen ſollten. Eine
neunte und zehnte gebrauchte er, um die Phänomene der Präceſ-
ſion, von welchen wir weiter unten ſprechen werden, zu erklären,
und eine eilfte Sphäre endlich, die unter dem Namen des Pri-
mum mobile
alle andern umſchloß, hatte den Auftrag erhalten,
alle zehn innere Sphären, in welchen jeder der genannten Him-
melskörper vermöge ſeiner ihm eigenthümlichen jährlichen Bewe-
gung gen Oſt ging, gemeinſchaftlich in jedem Tage von Oſt nach
Weſt um die ruhende Erde zu führen. Indem dieſem allgemeinen
Impulſe auch die vierte Sphäre, in welcher die Sonne ſich be-
wegte, gehorchte, entſtand der Tag und die Nacht, und um eben
ſo auch die Entſtehung der Jahreszeiten nicht unerklärt zu laſſen,
ertheilte er dieſer Sonne in ihrer Sphäre noch eine eigene jähr-
liche, ſchraubenförmige Bewegung, wodurch ſie ſich in mannigfal-
tigen Windungen während der einen Hälfte des Jahres von dem
Aequator der Erde entfernen, und in den andern ſich ihm wieder
nähern ſollte.


§. 103. (Fehler dieſes Syſtems) Dieſe Anordnung unſerer
Sonnenwelt wird das Ptolemäiſche Planetenſyſtem ge-
nannt. Es wird aber nicht angemeſſen ſeyn, daſſelbe hier um-
ſtändlich zu erläutern, da es für jeden, der das Vorhergehende
auch nur mit einiger Aufmerkſamkeit geleſen hat, ſeine Widerle-
gung ſelbſt mit ſich trägt. In der That laſſen ſich viele der oben
angeführten Erſcheinungen durch dieſes Syſtem nicht erklären, ja
einige ſtehen ſogar mit demſelben in geradem Widerſpruche. Nach
dieſer Anordnung, müßten wir die zwei untern Planeten, Merkur
und Venus, auch zuweilen der Sonne gegenüber oder mit ihr in
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 15
[226]Planetenſyſteme.
Oppoſition (§. 73) ſehen, was aber den Beobachtungen zu Folge
nie der Fall iſt, da wir ſie vielmehr immer in der Nähe der
Sonne erblicken. Ptolemäus ordnete offenbar die Planeten in
ſeinem Syſteme ſo an, daß er den geſchwindeſten für den nächſten,
und den langſamſten für den entfernteſten von der Erde hielt.
So kam der Mond, der in 27 Tagen, und Saturn, der erſt in
29 Jahren um die Erde geht, an die beiden äußerſten Gränzen,
und die Sonne, Mars und Jupiter wurden nach dieſer Regel
leicht zwiſchen jene eingeſchaltet. Aber wo ſollten nun Merkur und
Venus hingeſetzt werden, ſie, die bald geſchwinder, bald wieder
langſamer, als die Sonne gehen? Sie mit Ptolemäus ohne wei-
teres zwiſchen die Erde und die Sonne zu ſetzen, geſchieht offen-
bar ohne hinreichende Urſache, und nur auf Gerathwohl. Ferner
ändern ſich die ſcheinbaren Durchmeſſer der meiſten Planeten, alſo
auch ihre Entfernungen von der Erde, ſo ſehr, daß man die letz-
ten unmöglich für den Mittelpunkt der Kreiſe, in welchen ſich die
Planeten bewegen, anſehen kann. So iſt der ſcheinbare Durch-
meſſer der Venus zuweilen ſieben und der des Mars neun Mal
größer, als zu andern Zeiten. Wenn man aber für dieſelben Zeiten
ihre Entfernungen von der Sonne berechnet, ſo findet man, daß
dieſe letzte ſehr nahe immer dieſelbe bleibt, daß alſo auch die
Sonne, und nicht die Erde, der Mittelpunkt ihrer Bewegungen
ſeyn muß. Wie unwahrſcheinlich iſt es ferner, daß dieſe kleine
Erde ſo große und ſo entfernte Himmelskörper, wie z. B. Jupiter
oder ſelbſt die Sonne iſt, in Kreiſen um ſich führen ſoll, und wie
viel unwahrſcheinlicher iſt es noch, daß dieſelbe Erde die äußerſte
oder eilfte Sphäre, und durch dieſe die Sphären aller andern
Planeten, und ſelbſt die der Fixſterne, in einer ſo ſonderbaren Be-
wegung, und alle ohne Ausnahme in derſelben Zeit täglich um
ihren Mittelpunkt bewegen ſoll. Ptolemäus ſcheint dieſen Unge-
reimtheiten dadurch begegnen zu wollen, daß er jene Sphären
als feſte Körper, gleichſam als kryſtallene Kugelſchaalen, annahm,
die den in ihren Oeffnungen angebrachten Planeten mit ſich ſelbſt
um die Erde wälzen. Aber was ſollte man, wenn man auch
dieſen wunderlichen Einfall annehmen wollte, mit den unzähligen
Kometen anfangen, die oft aus viel größeren Entfernungen, als
die äußerſten Planeten, ſich zur Erde oder zur Sonne herablaſſen,
[227]Planetenſyſteme.
und ſich dann, auf ihrem Rückwege wieder in die ungemeſſenen
Räume des Himmels verlieren? Müßten ſie dieſe kryſtallene
Sphären nicht ſchon längſt in allen ihren Theilen durchlöchert und
zertrümmert haben?


§. 104. (Aegyptiſches Planetenſyſtem). Dieſe und mehrere
andere Gründe zeigen die Unzuläßigkeit dieſes Syſtems zu deut-
lich, als daß man ihm noch länger anhängen könnte. Auch
fühlten dieß ſchon die älteren Aſtronomen, und beſonders fiel
ihnen die bereits oben angeführte Bemerkung auf, daß man Merkur
und Venus nie der Sonne gegenüber ſieht, wie man ſie doch, bei
einer ſolchen Anordnung derſelben, ſehen müßte. Sie ſuchten
daher auch die angegebene Ordnung der Planeten dahin abzuän-
dern, daß ſie den Mond, die Sonne, Mars, Jupiter und Saturn
in immer größeren Kreiſen, wie zuvor, um die in ihrem gemein-
ſchaftlichen Mittelpunkte ruhende Erde einhergehen ließen, die
beiden unteren Planeten aber in andern kleineren Kreiſen, deren
Mittelpunkt die Sonne iſt, um dieſelbe bewegten. Auf dieſe
Weiſe entſtand das ſogenannte Aegyptiſche Syſtem, in welchem
die Sonne der Mittelpunkt der Bewegung für die zwei unteren
Planeten, die Erde aber für die Sonne ſowohl, als auch für alle
übrigen Planeten war. Dadurch wurde nun wohl die erwähnte
Erſcheinung, welche dieſe zwei Planeten darbieten, gerettet, da
ſie fortan immer nur als Begleiter der Sonne in ihrer Nähe ge-
ſehen werden konnten, aber die anderen Einwürfe, welche wir gegen
das ganze Syſtem aufgeſtellt haben, bleiben noch immer in ihrer
ganzen Stärke, und vor allem iſt die Frage noch nicht einmal
berührt, wie man ſich denn, bei einer ſolchen Anordnung, das
Vor- und Rückwärtsgehen, und den Stillſtand der Planeten er-
klären ſoll.


§. 105. (Zwei verſchiedene Arten von Ungleichheiten der Pla-
neten). Dieſe wichtige Frage beſchäftigte die griechiſchen Aſtrono-
men eine lange Zeit, und ſie beantworteten ſie endlich auch auf
eine Weiſe, die, man muß es geſtehen, ihrem Scharfſinne Ehre
macht, wenn ſie gleich jetzt, wo wir die wahre Antwort bereits
kennen gelernt haben, als irrig erklärt, und als einer der vielen
Beweiſe angeführt werden muß, wie weit ſich der menſchliche
Geiſt, wenn er ſich einmal von einer Meinung beherrſchen läßt,
15 *
[228]Planetenſyſteme.
von der Wahrheit verlieren, und indem er ſie mit dem beſten
Willen, und mit aller Anſtrengung ſeiner Kräfte zu erreichen
ſtrebt, ſich immer nur noch tiefer in den Irrthum hineinſtudiren
kann.


Um aber dieſe ältere Auflöſung unſeres Problemes beſſer zu
überſehen, iſt es nöthig, voraus zu bemerken, daß die Ungleich-
heiten, welche man in den Bewegungen der Planeten beobachtete,
eigentlich zweierlei Art ſind. Die einen ſind die bereits erwähn-
ten Ungleichheiten, die ſich, wie wir geſehen haben, bloß nach dem
Stande der Planeten gegen die Sonne richten, und deren Periode
die ſynodiſche Revolution der Planeten (§. 98) iſt, und man
nannte ſie die zweite Ungleichheit. Allein außer dieſen Ano-
malien gab es noch andere, die keineswegs in die Periode der
ſynodiſchen Revolution paßten, ſondern die vielmehr mit der ſide-
riſchen Umlaufszeit (§. 100) zuſammen hingen, indem ſie immer
dann wieder eintraten, wenn der Planet dieſelbe Lage, nicht gegen
die Sonne, ſondern gegen die Fixſterne einnahm. Dieſe Anomalie,
welche ſie die erſte Ungleichheit nannten, zeigte ſich nicht in
ſo auffallenden Veränderungen, von Vor- und Rückwärtsgehen,
von Schlingen und Stillſtänden, ſondern vorzüglich nur in einer
Aenderung der Geſchwindigkeit, mit welcher der Planet in
ſeiner Bahn einhergeht. Dieſe Ungleichheit zeigte ſich z. B. ſelbſt
bei der Sonne, wo ſie von den Alten um ſo leichter bemerkt
werden konnte, da die Sonne keine Ungleichheiten der zweiten
Art hatte, und daher jene erſte allein, und mit andern Störungen
unvermiſcht zeigte. Man bemerkte nämlich, daß die tägliche Aen-
derung der Sonne in Länge immer am größten wurde, und 3671
Secunden betrug, wenn die Länge der Sonne ſelbſt nahe 280°
hatte, oder wenn ſie, im Anfange des Januars, im Sternbilde
des Schützen erſchien, während ſie die kleinſte Geſchwindigkeit von
3432 Secunden in der Länge von 100° oder im Anfang des Ju-
lius hatte, wo ſie ſich in dem Sternbilde der Zwillinge aufhielt.
Noch viel bedeutender waren dieſe Differenzen bei Merkur, der,
wenn er von der Sonne geſehen, in dem öſtlichen Theile des
Widders erſchien, 6° 18′ und gegenüber in der Mitte der Wage,
nur 2° 44′ täglich in ſeiner Länge vorrückte, eine Veränderung,
die während einer Woche ſchon 24 Grade betrug, und daher der
[229]Planetenſyſteme.
Aufmerkſamkeit der älteren Beobachter nicht entgehen konnte,
wenn ſie gleich bei dieſem Planeten noch mit den Ungleichheiten
der zweiten Art vermiſcht erſchien. Eben ſo fanden ſie die Länge
des Mondes, ſo oft er eine beſtimmte Stelle unter den Fixſter-
nen einnahm, um ſechs Grade weiter voraus, die er vermöge
ſeiner mittlern Bewegung hätte einnehmen ſollen, und eben ſo
viel wieder hinter ſeinem mittlern Orte zurück, wenn er die ent-
gegengeſetzte Stelle des Himmels einnahm.


Es wird vielleicht nicht unangemeſſen ſeyn, ſchon hier die
Bemerkung einzuſchalten, daß dieſe erſte Ungleichheit daher kömmt,
daß die Planeten in der That nicht in Kreiſen, ſondern in Ellip-
ſen, ſich um die Sonne bewegen, und daß daher ihre Geſchwin-
digkeiten in verſchiedenen Punkten dieſer Ellipſen auch verſchieden
ſeyn müſſen. Die zweite Ungleichheit aber hat ihre Urſache da-
rin, daß wir die Planeten von der Erde, alſo ſelbſt von einem
veränderlichen Standpunkte, beobachten.


Auf dieſen Unterſchied der zwei Ungleichheiten mußte alſo
bei jeder Erklärung, welche die Alten über die Bewegung der
Planeten aufſtellen wollten, gehörig Rückſicht genommen werden,
ohne ſich übrigens von den beiden in §. 101 aufgeſtellten, und
als bereits erwieſen vorausgeſetzten Prinzipien, der Ruhe der Erde
und der kreisförmigen Geſtalt der Planetenbahnen, im geringſten
zu entfernen. Sehen wir zu, wie ſie dabei zu Werke gegan-
gen ſind.


§. 106. (Erklärung der erſten Ungleichheit durch den excentri-
ſchen Kreis). Sey A der Mittelpunkt der kreisförmigen Sonnen-
bahn C C' C'' und AV die Linie der Frühlingsnachtgleichen, von
welchen alle Längen in der Richtung C''' C von Weſt gen Oſt
gezählt werden. Da die Bewegung im Kreiſe nur gleichförmig
ſeyn kann, ſo nehmen wir an, daß die Sonne, welche den ganzen
Kreis CC' C'' in 365,2564 Tagen zurücklegt, in jedem Tage den-
ſelben
Bogen Cm = C'' m'' beſchreibe. Wäre nun die Erde
im Mittelpunkte A jenes Kreiſes, ſo würde ſie dieſe gleichen
Bogen auch immer unter den gleichen Winkeln CAm = C'' Am''
ſehen, was gegen die Beobachtungen iſt, da wir, nach dem Vor-
hergehenden, die Sonne im Winter täglich um einen größern
Bogen in Länge vorrücken ſehen, als im Sommer. Nehmen wir
[230]Planetenſyſteme.
aber die Erde irgendwo außer dem Mittelpunkte jenes Kreiſes,
z. B. in B an, wo dann wieder die mit AV parallele Linie BV
die Linie der Nachtgleichen bezeichnet, ſo werden, von dieſem
Punkte B geſehen, die beiden gleichgroßen Bogen Cm und C''m''
unter den verſchiedenen Winkeln CBm und C''Bm'' erſchei-
nen, und da der erſtere dieſer Winkel der kleinere iſt, ſo wird C
der Ort der Sonne im Sommer, wo ihre Länge VAC = VBC =
100° iſt, und C'' der Ort derſelben im Winter ſeyn, wo ihre
Länge VAC'' = VBC'' = 280 Grade beträgt, wenn man nur
die Entfernung AB der Erde von dem Mittelpunkte des Kreiſes
ſo beſtimmt, daß jene zwei Winkel CBm = 3432″ und C''Bm'' =
3671″ betragen. Dieß wird aber dann der Fall ſeyn, wenn man
den Punkt B ſo annimmt, daß C''B = 0,955CB oder, was daſ-
ſelbe iſt, daß AB = 0,0336 AC wird, oder daß die geſuchte Ent-
fernung AB nahe den dreihundertſten Theil des Halbmeſſers AC
des Sonnenkreiſes beträgt.


Dieß war auch in der That die Anordnung, durch welche
die Griechen die Bewegung der Sonne darſtellten. Der Kreis
CC'C'', in welchem die Sonne einhergeht, während die Erde
außer dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes, in dem Punkte B iſt,
nannten ſie den excentriſchen Kreis. Nach dieſer Darſtellung
iſt alſo die Sonne im Anfang des Julius in C, wo ſie die kleinſte
Geſchwindigkeit, und, wegen ihrer größten Entfernung von der
Erde, auch den kleinſten ſcheinbaren Durchmeſſer hatte, und im
Anfang des Junius in C'', wo ſie die größte Geſchwindigkeit,
und zugleich ihren größten Durchmeſſer hatte. In dem Halbkreiſe
CC C'' nahmen Geſchwindigkeit und Durchmeſſer, wie die Sonne
der Erde näher kam, allmählig zu, und eben ſo auch in dem an-
dern Halbkreiſe C''C'''C nach demſelben Geſetze wieder ab. Bald
nach C' und kurz vor C''' hatten beide Größen ihren mittlern
Werth, und dieß ſtimmte alles genau genug mit den in jenen
Zeiten allerdings noch ſehr unvollkommenen Beobachtungen.


Ein ähnliches Verfahren beobachteten ſie auch bei dem Monde
und bei allen übrigen Planeten, um dadurch die oben angeführte
erſte Ungleichheit derſelben darzuſtellen. Ohne Zweifel wurden
ſie in der Meinung von der Richtigkeit dieſer Hypotheſe noch da-
durch beſtärkt, daß durch ſie nicht bloß die Veränderung der Ge-
[231]Planetenſyſteme.
ſchwindigkeit, ſondern auch die des Halbmeſſers der Planeten
ihren Beobachtungen gemäß dargeſtellt wurden, indem ſie vor-
ausſetzten, daß dieſe beiden Aenderungen bloß von der größern
oder kleinern Entfernung der Planeten von der Erde kämen.
Allein dieß iſt keineswegs der Fall, und ſelbſt ihre unvollkommenen
Inſtrumente hätten ſie von dem Irrthum ihrer Vorausſetzung
zurückbringen können, wenn ſie damit die ſo beträchtlichen Aende-
rungen des Durchmeſſers des Mondes mit Aufmerkſamkeit beob-
achtet hätten. Bei ihm verhalten ſich nämlich die größten und
kleinſten Geſchwindigkeiten in einer Stunde wie die Zahlen 2302″
und 1767 oder wie 1,303 zu 1. Der größte und kleinſte Durch-
meſſer des Mondes aber ſind wie 2011″ und 1762 oder wie 1,141
zu 1, da doch dieſe beiden Verhältniſſe, die Geſchwindigkeiten
und der Durchmeſſer einander gleich ſeyn ſollten, wenn ihre Ver-
änderungen bloß von den verſchiedenen Entfernungen des Mondes
von der Erde herrühren. Sie hätten daher, wenn der kleinſte
Durchmeſſer des Mondes 1762″ betrug, den größten gleich 2296″
oder nahe 4¾ Minuten größer ſehen ſollen, als ſie ihn in der
That ſahen, eine Größe, die auch ihren Inſtrumenten nicht leicht
entgehen konnte. Sie würden dann geſehen haben, daß nicht das
Verhältniß der von ihnen beobachteten Mondsdurchmeſſer, aber
wohl das Quadrat dieſes Verhältniſſes gleich der Zahl 1,303,
alſo gleich dem Verhältniſſe der Geſchwindigkeiten des Mondes
ſey, und dieſe Bemerkung würde ſie vielleicht auf die Entdeckung
des zweiten Keplerſchen Geſetzes, von dem wir ſpäter ſprechen
werden, und dadurch auf eine ganz andere, und was mehr iſt,
auf die wahre Theorie der Planetenbewegung geführt haben.
Wenn ſie alſo auch durch dieſes Verfahren die Längen oder die
Geſchwindigkeiten der Planeten, den Beobachtungen nahe gemäß,
darſtellen konnten, ſo war es doch unmöglich, dadurch auch die Entfer-
nungen derſelben von der Erde ſo, wie die Beobachtungen ſie for-
derten, darzuſtellen. In der That war auch beinahe alles, was uns
die Alten von den Diſtanzen der Planeten, etwa die des Mondes
ausgenommen, überliefert haben, von keinem Werthe, da ſie über
dieſen wichtigen Gegenſtand der Aſtronomie ganz im Dunklen ge-
blieben ſind.


[232]Planetenſyſteme.

§. 107. (Erklärung der zweiten Ungleichheit durch die Epi-
cykel). Um nun auch die zweite Ungleichheit der Planeten oder
ihren Stillſtand und Rückgang darzuſtellen, ohne dadurch weder
die Erde in ihrer Ruhe zu ſtören, noch auch ſich von der einmal
beliebten Bewegung in Kreiſen zu entfernen, nahm man an, daß
ſich auf der Peripherie CC' des excentriſchen Kreiſes (§. 106) der
Mittelpunkt eines andern Kreiſes Ca von Weſt gen Oſt gleichför-
mig bewege, während der Mittelpunkt der Planeten in der Pe-
ripherie dieſes zweiten Kreiſes ebenfalls von Weſt gen Oſt, und
ebenfalls gleichförmig einhergeht. Man nannte dieſen zweiten
Kreis Ca den Epicykel, und den erſten oder den excentriſchen
Kreis CC' auch den deferirenden Kreis, weil dieſer in der That
dem Epicykel zum Leiter diente, oder ihn um die Erde B fortführte.


Man ſieht, daß man durch eine ſolche Anordnung das Vor-
und Rückwärtsgehen und das Stillſtehen der Planeten im allge-
meinen leicht erklären kann. Denn wenn z. B. das Centrum des
Epicykels in C'' und der Planet in ſeinem entfernteſten Punkte
a'' von der Erde B iſt, ſo haben beide Punkte C'' und a''die-
ſelbe
directe Bewegung nach dem Punkte m'' hin, und der Pla-
net wird, von der Erde geſehen, die Summe jener beiden Ge-
ſchwindigkeiten, oder er wird ſeine größte directe Bewegung
haben. Wenn aber der Mittelpunkt des Epicykels nach einer
halben Revolution in dem Punkte C und zugleich der Planet in
dem der Erde nächſten Punkte a ankömmt, ſo wird die Bewegung
des Punktes C gegen die linke, die des Punktes a aber gegen die
rechte Seite gerichtet ſeyn, oder beide Punkte werden hier eine
entgegengeſetzte Bewegung haben, und wenn, wie hier vor-
ausgeſetzt wird, die Geſchwindigkeit des Planeten in der Peripherie
ſeines Epicykels größer iſt als die des Mittelpunkts des Epicy-
kels, ſo wird der Planet, an der Erde B geſehen, mit
der Differenz jener beiden Geſchwindigkeiten ſich zu bewegen
ſcheinen, und in dieſem Punkte a zugleich ſeine größte retro-
grade
Bewegung haben. In dem Punkte C'' ſteht die Richtung
der Bewegung des Planeten in ſeinem Epicykel ſenkrecht auf die
Linie BC'', welche den Mittelpunkt des Epicykels mit der Erde
verbindet. Wenn aber C'' im deferirenden Kreiſe und a'' im
Epicykel weiter rechts fortſchreitet, wird ſich die Richtung der
[233]Planetenſyſteme.
Bewegung des Planeten a'' immer mehr gegen die Erde hin nei-
gen, und daher derjenige Theil der täglichen Bewegung deſſelben,
der von der Bewegung des Planeten in ſeinen Epicykel kömmt,
immer kleiner erſcheinen, während die des Mittelpunkts des Epi-
cykels von A geſehen, immer dieſelbe bleibt. Auf dieſe Weiſe
wird der Mittelpunkt des Epicykels in einen Punkt gelangen, wo
jener Theil der Bewegung ganz verſchwindet, und wo daher der
Planet nur mehr mit der conſtanten Geſchwindigkeit des Epicy-
kels, d. h. mit ſeiner mittleren, noch immer directen Geſchwin-
digkeit fortgehen wird. Nach dieſem Punkte wird ſich die Rich-
tung der Bewegung des Planeten in ſeinem Epicykel wieder von
der Erde immer mehr und mehr entfernen, oder jener Theil der
Bewegung wird rückgängig, die ganze Bewegung jedoch noch immer
direct ſeyn, aber auch zugleich immer kleiner werden, weil jener
rückgängige Theil immer wächst, bis er endlich ſo groß, als die
ihrer Natur nach immer rechtläufige Bewegung des Mittelpunkts
des Epicykels wird, und dann wird der Planet für die Erde ganz
ſtill zu ſtehen ſcheinen. Da von dieſem Punkte an die retrograde
Geſchwindigkeit jenes Theils noch weiter wächst, ſo wird auch
die totale retrograde Geſchwindigkeit des Planeten wachſen, bis
ſie für den Punkt C ihren größten Werth erreicht, wie oben ge-
ſagt worden iſt. Aehnliche Erſcheinungen werden in derſelben,
nur verkehrten, Ordnung, auch in der zweiten Hälfte CC'C'' der
Bahn ſtatt haben. Verfolgt man auf dieſe Art den Planeten
durch den Lauf einer ganzen Revolution, in einer Zeichnung, ſo
wird man dadurch nicht nur die verſchiedenen Geſchwindigkeiten
deſſelben, wie ſie von der Erde aus erſcheinen, ſondern auch die Punkte
ſeines Stillſtandes, die Bogen ſeines Rückgangs, und ſelbſt die
oben erwähnten Schlingen ſeiner Bahn leicht und deutlich dar-
ſtellen können.


§. 108. (Beſtimmung der Umlaufszeiten und der Halbmeſſer dieſer
beiden Kreiſe). Alles wird alſo darauf ankommen, die Halbmeſſer
der beiden Kreiſe, und die Bewegungen der beiden, in ihrer Peri-
pherie laufenden Punkte ſo einzurichten, daß ſie den Beobach-
tungen, welche man an den Planeten gemacht hat, entſprechen.


Zu dieſem Zwecke nahm man an, daß die Umlaufszeit des
Planeten in der Peripherie ſeines Epicykels gleich iſt der ſynodi-
[234]Planetenſyſteme.
ſche Revolution (§. 98) deſſelben, während die Umlaufszeit des
Mittelpunkts des Epicykels in der Peripherie des deferirenden
Kreiſes für die oberen Planeten gleich der ſideriſchen Revolution
(§. 100) dieſer Planeten, und für die zwei unteren Planeten,
Merkur und Venus, gleich der ſideriſchen Revolution der Sonne
von 365,2564 Tagen, oder gleich unſerem Jahre iſt, ſo daß bei dieſen
letzten Planeten die Länge VBC des Centrums des Epicykels
immer gleich der Länge der Sonne iſt. Da man ferner bemerkt,
daß die oberen Planeten zur Zeit ihrer Conjunction (§. 73) ihre
größte directe, und zur Zeit der Oppoſition ihre größte retrograde
Bewegung haben, ſo verſetzte man den Ort des Planeten zur Zeit
der Conjunction in den fernſten Punkt a'' und zur Zeit der Op-
poſition in den nächſten Punkt a ſeines Epicykels. Bei den unteren
Planeten endlich, wo es keine Oppoſitionen, ſondern nur zwei
Conjunctionen gibt, nannte man diejenige, wo der Planet ſeine
größte rechtläufige Bewegung, und ſeinen kleinſten Durchmeſſer
hat, die obere, und die andere, wo der Planet ſeine größte rück-
läufige Bewegung, und ſeinen größten ſcheinbaren Durchmeſſer
hat (§. 94), die untere Conjunction. Um auch ſie mit den
Beobachtungen in Uebereinſtimmung zu bringen, wurden ſie zur
Zeit ihrer obern Conjunction in den fernſten Punkt a'' und zur
Zeit ihrer untern Conjunction in den der Erde nächſten Punkt a
ihres Epicykels gezeichnet.


Noch iſt die Beſtimmung der Halbmeſſer dieſer beiden Kreiſe
übrig. Ptolemäus ſcheint ſich um die Kenntniß der wahren Ent-
fernungen der Planeten von der Erde oder von der Sonne nicht
ſehr bemüht zu haben. Auch gibt die aufgeſtellte epicykliſche
Hypotheſe, da ſie ſich nur mit den Erſcheinungen der Planeten
beſchäftigt, ohne ſich um den wahren Ort derſelben im Welt-
raume zu bekümmern, bloß die Verhältniſſe, nicht aber die abſo-
luten Größen jener Halbmeſſer. Man findet, daß für die oberen
Planeten der Halbmeſſer des Epicykels ſich zu denen des deferi-
renden Kreiſes verhalten müſſe, wie die mittlere Entfernung der
Erde zur mittleren Entfernung der Planeten (§. 100) von der
Sonne, und daß für die untern Planeten des umgekehrte Ver-
hältniß ſtatt hat. Uebrigens ſieht man leicht, daß die Wirkung
des excentriſchen Kreiſes auch durch einen zweiten Epicykel erhalten
[235]Planetenſyſteme.
werden könnte, deſſen Mittelpunkt auf der Peripherie des erſten
Epicykels einhergeht, ſo daß dann die Erde in dem Mittelpunkte
A des deferirenden Kreiſes angenommen werden kann.


§. 109. (Fehler der epicykliſchen Hypotheſe). Obſchon aber
durch dieſe Hypotheſe die Erſcheinungen, wie ſie bei den Planeten
ſtatt haben, wenigſtens in Beziehung auf ihre Länge, wenn auch
nicht auf ihre Diſtanzen, von den unvollkommenen Beobachtungen der
Alten genau genug dargeſtellt wurden, ſo kann man ſie doch nicht
für das wahre Syſtem der Natur halten. Ja die Schwierigkeiten,
welche dieſe Anordnung darbot, häuften ſich immer mehr, je
beſſer man die Natur ſelbſt durch aufmerkſame Beobachtungen
kennen lernte. Die Bewegung der beiden unteren Planeten konn-
te durch jene beiden Kreiſe auf keine Art genügend dargeſtellt
werden, und der Mond beſonders zeigte noch mehrere große Un-
gleichheiten, die einer epicykliſchen Bewegung deſſelben ſogar
entgegen liefen. Man verſuchte es daher, auf dem Umkreiſe des
Epicykels noch einen anderen, ja ſelbſt einen dritten Kreis laufen,
und erſt in der Peripherie des letzten den Planeten ſelbſt einher-
gehen zu laſſen, ohne aber dadurch der Wahrheit viel näher zu
kommen, da durch alle dieſe Maſchinerien höchſtens nur die
Längen, die Entfernungen aber, oder die ſcheinbaren Durchmeſſer
der Planeten nicht beſſer, zuweilen ſogar noch ſchlechter, als
zuvor, dargeſtellt wurden. Nicht minder kläglich, ja meiſtens
gar nicht, wurden dadurch die Bewegungen der Planeten in der
Breite berückſichtigt, da zu dieſem Zwecke die Epicykeln unter
einander und gegen den deferirenden Kreis beſondere Neigungen
erhalten müßten, wodurch das ganze Gerüſte von ſchief auf ein-
ander laufenden Kreiſen noch mehr verwickelt worden wäre.
Welch’ ein Syſtem, das einigen Punkten zwei und drei Epicykeln,
andern nur einen, und wieder andern, wie der Sonne, gar keinem
anwies, und das alle Planeten in ihrem Lauf um die Erde von
der Sonne abhängig machte, die doch auch nichts weiter, als
wieder ein Planet ſeyn ſollte! Welche abenteuerliche Kraft iſt
es, die in dem Mittelpunkte des Epicykels, einem bloß eingebil-
deten, durch nichts ausgezeichneten Punkte, ihren Sitz hat, und
doch den Planeten um ſich zu bewegen, im Stande iſt? Welch'
eine ſonderbare, äußerſt verwickelte krumme Linie iſt es, die der
[236]Planetenſyſteme.
in ſeinem Epicykel einhergehende Planet in der That im Welt-
raume beſchreibt? Und dieſer verworrenen Linie, voll Knoten und
Schlingen, ungeachtet, ſoll derſelbe Planet doch täglich einmal mit
allen Fixſternen in derſelben Zeit um die Erde laufen. Darf man
ſich noch verwundern, daß die Alten, vor der Complication aller
dieſer ſo wunderbar in einander verſchlungenen Bewegungen ſelbſt
zurückſchreckend, endlich auf den Einfall geriethen, jedem Planeten
einen geiſtigen Führer, eine höhere Intelligenz, zuzuordnen, der
ſie, damit ſie ſich auf ihren labyrinthiſchen Bahnen, nicht verirren,
mit unſichtbarer Hand durch die Himmel ſteuern mußte? Und ſie
kannten nur die größeren Ungleichheiten dieſer Himmelskörper, die
wenigſtens ganze Grade betrugen, und denen ſie auf dieſe Weiſe
entgegen kommen wollten. Was würden ſie gethan haben, wenn
ſie auch die unzähligen kleineren Anomalien, die unſere genaueren
Inſtrumente kennen gelehrt haben, wenn ſie die Aberration, die
Nutation, die Präceſſion, und die tauſend kleineren Perturbationen,
welche die Planeten unter einander bewirken, auf dieſelbe Weiſe
hätten darſtellen wollen. Welche unüberſehbare Anhäufung von
Epicykeln würden wir nöthig haben, um nur diejenigen Ungleich-
heiten, die über eine Minute gehen, dadurch aus zudrücken. Wahr-
lich, unſere Aſtronomie würde unter dieſer Maſſe von Gerüſten
eben ſo erdrückt werden, wie unſere Chemie, die ſchon ſo lange
auf ihren Copernicus und Kepler wartet, unter der Maſſe von
neuen Erden und Metallen, und unter einem zahlloſen Heere von
Namen darnieder liegt, die nur die Standorte, von welchen alles
einfach erſcheint, unzugänglich, und alle Ueberſicht des Ganzen,
ſo wie alle gegenſeitige Verſtändlichkeit unmöglich machen. Ohne
Zweifel iſt dieſes epicykliſche Syſtem eines der ſcharfſinnigſten,
aber auch der künſtlichſten und verworrenſten, das der menſchliche
Geiſt je ausgedacht hat, ein Gewebe von Spitzfindigkeit und Ver-
blendung, wie nur je eines in der Metaphyſik von unſern neueren
Naturphiloſophen ausgebrütet worden iſt, und deſſen ſich die ſonſt
ſo nüchternen Aſtronomen eigentlich ſchämen ſollten. Auch regte
ſich zuweilen die Kraft der Wahrheit gegen dieſe unnatürliche
Hypotheſe, aber ihre Stimme war zu ſchwach, und ſie durfte am
Ende gar nicht mehr gehört werden, als ſich nach Jahrtauſenden
[237]Planetenſyſteme.
der Irrth um aller beſſern Köpfe bemächtigt, und ſich ſogar eine
Art von Unverletzlichkeit höherer Art zu verſchaffen gewußt hatte.


§. 110. (Copernicus). Dieß war der Zuſtand des erhabenſten
Theiles der Naturlehre von den älteſten Zeiten, die wir kennen,
bis zur Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts unſerer Zeitrechnung,
bis zu Copernicus, der der erſte es unternahm, der ſo lange
und ſo ſchnöde verkannten Wahrheit wieder ihr heiliges Recht zu
verſchaffen. Zwar fehlte es ſchon unter den älteren Griechen nicht
an Männern, die freien Blicks, und ungefeſſelt von den verjähr-
ten Vorurtheilen der Menge, dieſe Wahrheit erkannten. So er-
zählt Plutarch (De placitis philosoph. Lib. III.) daß Philolaus
von Crotona, der gegen das Jahr 450 vor Chriſto lebte, die Be-
wegung der Erde um die Sonne angenommen habe, und eben ſo
ſoll Nicetas, der bald nach Philolaus in Syracus lehrte, wie
Cicero ſagt (Acad. Quaest. Lib. IV.), durch die tägliche Bewe-
gung der Erde um ihre Axe, die bloß ſcheinbare tägliche Bewe-
gung aller übrigen Geſtirne von Oſt gegen Weſt erklärt haben.
Aber dieſe Philoſophen ſagten dieß nur, wie ſie ſo vieles Andere
ſagten, ohne es zu beweiſen, und ohne die glückliche Idee weiter
zu verfolgen, daher ſie auch keinen Eingang, aber dafür
wohl Mißachtung, und ſpäter ſogar Verfolgung erfuhr. Coper-
nicus aber pflegte ſie in ſeinem Geiſte mit unermüdlicher Sorg-
falt durch ſein ganzes, langes, ſiebenzigjähriges Leben, und nicht
zufrieden, ſie in ſeinem Werke (De revolutionibus orbium coe-
lestium, Norimb.
1543), das kurz vor ſeinem Tode erſchien, mit
aller Vorliebe, die er für ſie gefaßt hatte, auszubilden, ſuchte er
ſie auch durch Vergleichungen mit dem Himmel, durch unmittel-
bare Beobachtungen zu beweiſen, und ſie ſo, nicht wie jene,
als einen philoſophiſchen Satz, als einen Gegenſtand für inhalts-
leere metaphyſiſche Diatriben, ſondern als eine mathematiſche,
durch Rechnung und Beobachtung erwieſene Wahrheit, als ein
Factum darzuſtellen, an dem zu zweifeln, fortan nur denjenigen
erlaubt ſeyn konnte, die von der Sache ſelbſt nichts verſtanden.
Wo jene Philoſophen des Alterthums ſagten, es könnte wohl ſo
ſeyn, da ſagte Copernicus, es muß ſo ſeyn, und zeigte zugleich
die Gründe dieſer Nothwendigkeit. Auch gehörte eine ſeltene
Kraft und ſelbſt ein hoher Muth dazu, der allgemeinen, ſeit Jahr-
[238]Planetenſyſteme.
tauſenden herrſchenden Meinung kühn entgegen zu treten, und ſich
den Gefahren auszuſetzen, oder ſie geſchickt zu umgehen, denen ein
Jahrhundert ſpäter ſein große Nachfolger, Galilei, auf derſelben
Bahn unterlegen iſt. Daher Kepler, in Beziehung auf dieſe Vor-
urtheile, die Copernicus zu bekämpfen hatte, von ihm ſagte: Vir
fuit maximi ingenii et, quod in hoc exercitio magni mo-
menti est, animo liber.


§. 111. (Copernicaniſches Planetenſyſtem). Nach ſeinem Sy-
ſteme alſo ruht die Sonne in der Mitte der Planetenwelt, und
um ſie bewegen ſich in immer größeren concentriſchen Kreiſen,
deren Halbmeſſer und Umlaufszeiten bereits oben (§. 100) gegeben
wurden, zunächſt Merkur, dann Venus, die Erde, Mars, Jupiter
und Saturn, denn die fünf übrigen Planeten waren ihm (nach
§. 92) noch unbekannt. Die Bewegungen aller dieſer Planeten
um die Sonne gehen ſämmtlich in der Richtung von Weſt gen
Oſt, während zugleich die Erde, von dem in 27 Tagen ſich um
ſie bewegenden Mond begleitet, in derſelben Richtung, ſich täglich
um ihre gegen die Ecliptik oder gegen die Ebene der jährlichen
Bahn der Erde ſchief geſtellte Axe dreht, und dadurch die Abwechs-
lung des Tags und der Nacht ſowohl, als auch die der Jahres-
zeiten erzeugt, wie wir bereits oben (Kapitel VII.) geſehen haben.


§. 112. (Erklärung der Erſcheinungen durch dieſes Syſtem).
Dieſe Darſtellung iſt ſo einfach, daß ſie nur gehört zu werden
braucht, um auch ſogleich verſtanden zu werden, und daß ſie daher
auch, zu ihrer weitern Erläuterung, keiner eigenen Zeichnung be-
dürfen wird. Sehen wir dafür, ob ſich durch ſie jene ſonderbaren
Bewegungen der Planeten, die den Alten ſo viele Mühe machten
eben ſo leicht erklären laſſen.


Sey S (Fig. 20) der Mittelpunkt der Sonne, und zugleich
der Mittelpunkt der beiden Kreiſe I, II, III. . und 1, 2, 3. . in
deren erſtem ſich die Erde, und in dem zweiten irgend ein oberer
Planet um die Sonne gleichförmig gegen Oſten, und ſo bewegen
ſoll, daß für dieſelben Augenblicke, wo die Erde in dem Punkte I,
oder II . . iſt, der Planet den Punkt 1 oder 2 . . ſeiner Bahn ein-
nehme. Wenn die Erde bald nach der Conjunction des Planeten
mit der Sonne in I iſt, ſo ſieht ſie den Planeten 1 in der Sphäre
des Himmels bei dem Punkte 1, und die ſcheinbare directe Be-
[239]Planetenſyſteme.
wegung des Planeten erſcheint hier ſehr groß, weil ſie die
Summe der zwei wahren Bewegungen des Planeten und der
Erde iſt, von denen jene gegen die linke, dieſe aber gegen die
rechte Seite gerichtet iſt, ſo daß alſo hier die Bewegung des
Planeten durch die ganze Bewegung der Erde vergrößert erſcheint.
Kömmt in einiger Zeit darauf die Erde nach II und der Planet
in ſeiner Bahn nach 2, oder in die erſte Quadratur, ſo daß der
Winkel S II 2 ein rechter wird, ſo ſind jetzt die Richtungen der
beiden wahren Bewegungen, der Erde und des Planeten, nicht
mehr einander gerade entgegengeſetzt, wie in der Conjunction; der
Winkel, welchen ſie unter einander bilden, iſt vielmehr immer
kleiner, und jetzt zu einem rechten Winkel geworden. Die Rich-
tung der Erde geht jetzt gerade auf den Planeten zu, und die
ſcheinbare Bewegung des Planeten wird jetzt durch die wahre der
Erde weder vergrößert noch verkleinert, oder die ſcheinbare noch
immer directe Bewegung des Planeten wird hier gleich ſeiner
wahren ſeyn, und der Planet 2 wird, von der Erde geſehen, am
Himmel in dem Punkte 2′, viel weiter gen Oſt, als in der Con-
junction, erſcheinen.


Nach der Quadratur aber fängt die Bewegung der Erde an,
ſich immer mehr gegen die linke Seite oder nach Oſt zu krümmen;
die Richtung ihrer Bewegung kömmt derjenigen des Planeten
immer näher; ſie gehen beide in der That immer mehr nach
einer Seite, und die ſcheinbare Bewegung des Planeten wird
alſo jetzt durch die Bewegung der Erde immer mehr verkleinert
werden. Zur Zeit der Oppoſition, wo die Erde in III und der
Planet in 3, der Sonne gegenüber, iſt, werden die beiden wahren
Bewegungen genau nach derſelben Seite, beide ſenkrecht auf die Ge-
ſichtslinie S III 3 und gegen Oſten gerichtet ſeyn. Hier wird alſo auch
die ſcheinbare Bewegung des Planeten genau gleich der Diffe-
renz
der beiden wahren Bewegungen ſeyn, und da die wahre
Bewegung der Erde, als des der Sonne nähern Planeten, größer
iſt, als die des Planeten, ſo wird hier die ſcheinbare Bewegung
des Planeten retrograd, und zwar am ſchnellſten retrograd ſeyn,
daher auch der Planet von der Erde geſehen, in 3′, ſtark weſtlich
hinter 2′ zurückgerückt erſcheint. Es muß daher irgendwo zwiſchen
II und III, zwiſchen der erſten Quadratur, und der Oppoſition
[240]Planetenſyſteme.
einen Augenblick gegeben haben, wo die beiden, nach derſelben
Seite gerichteten wahren Bewegungen der Erde und des Planeten
gleich groß waren, und dieß war der Augenblick des Stillſtan-
des
, wo der Planet, von der Erde geſehen, ſich am Himmel gar
nicht zu bewegen ſcheint.


Nach der Oppoſition fängt die Bewegung der Erde an,
ſich wieder allmählig von der des Planeten weg zu krümmen,
wodurch die ſcheinbare retrograde Bewegung des Planeten immer
mehr verringert wird, bis endlich wieder beide wahre Bewegungen
einander aufheben, und der Planet, von der Erde geſehen, zum
zweitenmale ſtille ſteht. Von da wird ſeine ſcheinbare Bewegung
wieder direct, und immer größer. Zur Zeit der zweiten Quadra-
tur, wo die Erde in IV und der Planet in 4 iſt, erſcheint der
letzte in 4′ etwas weiter gegen Oſt vorgerückt, und hier iſt wieder,
wie in der erſten Quadratur, ſeine ſcheinbare Bewegung gleich der
wahren, weil die der Erde, die gerade auf den Planeten gerichtet
iſt, keinen Einfluß auf ſie äußern kann. Nach dieſer Quadratur
wächst die directe ſcheinbare Bewegung noch mehr, daher er auch,
wenn die Erde in V und der Planet in 5 iſt, noch weiter gen
Oſt in 5′ vorgerückt erſcheint, bis er endlich wieder, wenn die Erde
in der Mitte der von dem Planeten abgewendeten Hälfte ihrer Bahn
oder in Conjunction iſt, die größte ſcheinbare directe Bewegung
erhält, und von da eine zweite, der eben angeführten ganz ähn-
liche, Periode ſeiner Bewegungen beginnt.


Es wird kaum nothwendig ſeyn, dieſelbe Erläuterung auch
für die unteren Planeten zu wiederholen. Man wird ſehr leicht,
die hier vorkommenden Erſcheinungen durch zwei ähnliche con-
centriſche Kreiſe darſtellen, von welchen der äußere die Bahn der
Erde, und der kleinere innere die des Planeten bezeichnet. Zur
Zeit ihrer obern Conjunction (§. 108), wo die Sonne zwiſchen
ihnen und der Erde iſt, ſind die wahren Bewegungen des Pla-
neten und der Erde nach entgegengeſetzten Seiten gerichtet, daher
hier die von der Erde geſehene oder ſcheinbare Bewegung direct,
und am größten iſt. Nach der obern Conjunction neigt ſich die
Richtung der wahren Bewegung des Planeten immer mehr gegen
die Erde hin, oder ſeine ſcheinbare directe Bewegung wird lang-
ſamer. Zur Zeit der größten öſtlichen Digreſſion geht die Richtung
[241]Planetenſyſteme.
ſeiner Bewegung, oder die Tangente ſeiner Bahn, gerade auf die
Erde zu, und er ſcheint deßhalb nunmehr eben ſo viel auf die linke
Seite zu rücken, als die Erde in ihrer Bahn rechts rückt. Nach
dieſem Momente entfernt ſich die Tangente ſeiner Bahn auf der
andern oder weſtlichen Seite immer mehr von der Erde, und es
muß daher eine Stelle geben, wo ſeine Bewegung nach der rech-
ten Seite genau mit jener der Erde, die ihn ſcheinbar nach der
linken Seite vorrückt, übereinkömmt, und in dieſer Stelle wird
daher der Planet ſeinen Stillſtand haben. Von da an wird
nun ſeine ſcheinbare Bewegung rückgängig ſeyn, da die wahren
Bewegungen, des Planeten und der Erde, beide nach der rechten
Seite gerichtet ſind, und die des erſteren, als des der Sonne
näheren Körpers, auch zugleich die größere iſt. In der unteren
Conjunction endlich ſind beide nach der rechten Seite gehenden
Richtungen der wahren Bewegungen einander genau parallel,
daher hier die ſcheinbare, rückgängige Bewegung des Planeten
ihren größten Werth haben wird. Nach der untern Conjunction
erneuern ſich, in der andern Hälfte der Bahn, dieſelben Erſchei-
nungen in umgekehrter Zeitfolge, bis der Planet wieder ſeine
obere Zuſammenkunft mit der Sonne erreicht.


§. 113. (Vorzüge dieſes Syſtems.) Alles dieß harmonirt
mit dem oben (§. 94, 95.) erwähnten, und durch unmittelbare
Beobachtungen gegebenen Phänomen, auf das Genaueſte. Wenn
man den beiden concentriſchen Kreiſen die in §. 100 angewieſe-
nen Halbmeſſer gibt, und in der Peripherie derſelben die Orte
des Planeten und der Erde nach den ebendaſelbſt mitgetheilten
Umlaufszeiten bezeichnet, ſo findet man dadurch die Orte des
Stillſtandes und die Bogen des Rückgangs derſelben genau an
deren Stelle, und von der Größe, welche ihnen dieſe Beobach-
tungen anweiſen. Man ſieht in einer ſolchen Zeichnung gleich-
ſam auf den erſten Blick, warum die untern Planeten immer in
der Nähe der Sonne ſich aufhalten, und warum die Durchmeſſer
der obern Planeten in der Oppoſition, und die der untern in der
untern Conjunction am größten erſcheinen, weil ſie da zugleich
in ihrer geringſten Entfernung von der Erde ſtehen. Eben ſo
ſtimmt dieſe Erklärung mit der Lichtſphäre, die wir an den bei-
den untern Planeten beobachten, und die ganz den Abwechſelungen
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 16
[242]Planetenſyſteme.
der Lichtgeſtalten ähnlich ſind, welche man an dem Monde bemerkt;
überhaupt auch werden durch dieſe Anordnung alle jene ſo auffal-
lenden Sonderbarkeiten der planetariſchen Bewegungen, alle jene
Veränderungen, der Größe ſowohl als der Richtung ihrer Ge-
ſchwindigkeiten, und der durch ſie erzeugten Knoten und Schlingen
ihrer ſcheinbaren Bahnen, auf die natürlichſte und einfachſte Art
erklärt. Die Planeten, ſammt der Erde, haben alle eine directe
Bewegung in Kreiſen, deren gemeinſchaftlicher Mittelpunkt die
Sonne iſt. Dieſes iſt die Thatſache, und alles übrige iſt bloß
Schein und Täuſchung, die aus der Bewegung der Erde entſteht.
Das Ptolemäiſche Syſtem iſt aus unförmlichen Stücken zuſam-
mengetragen, und äußerſt zuſammengeſetzt, während das Coper-
nicaniſche im höchſten Grade einfach und ſymmetriſch erſcheint,
ſo, daß man es gleichſam nur zu kennen braucht, um es auch
ſofort ſchon für das einzig wahre zu erkennen. In jenem wuch-
ſen die Schwierigkeiten mit der Schärfe der Beobachtungen,
während in dieſem jede neue Beobachtung, jede neue Entdeckung
auch zugleich eine neue Beſtätigung der Wahrheit deſſelben iſt,
wie es denn z. B. durch die Entdeckung der Aberration des Lich-
tes Tauſende von Sternen als Zeugen dieſer ſeiner innern Wahr-
heit erhalten hat. Auch gewann die Wiſſenſchaft, ſeit der Be-
gründung jenes Syſtems, eine ganz neue Geſtalt, und fand ſich
jetzt erſt in den Stand geſetzt, ihrer Vollendung mit großen
Schritten entgegen zu eilen. Denn, ſo lange die Erde ſtille ſtand,
mußte auch die Aſtronomie ſtille ſtehen, und keine der großen
Erſcheinungen, die uns der Himmel darbietet, konnte erklärt wer-
den, ſo lange wir den Standpunkt, aus welchem wir ſie betrach-
ten, und die Veränderlichkeit dieſes Standpunktes, nicht anzu-
geben wußten. Nun plötzlich war die ſo lange verſchloſſene
Bahn geöffnet, und wo ſonſt nichts als Finſterniß war, verbreitete
ſich ſchnell das helle Licht der Wahrheit. Seit jener für immer-
währende Zeiten denkwürdigen Epoche, erzeugte eine Kenntniß,
eine Entdeckung die andere, in ſtätem Fortgange bis auf unſere
Tage, denn das iſt das unterſcheidende Kennzeichen der Wahr-
heit, daß ſie nie allein und unfruchtbar da ſteht, ſondern wie ein
Lichtſtrahl die ganze Gegend um ſich erleuchtet, und andere Wahr-
heiten erſchließt, die ſie oft in ganzen Reihen als ihr Gefolge mit
[243]Planetenſyſteme.
ſich führt. Die neue Geſtalt, welche die Wiſſenſchaft durch jene
Entdeckung erhalten hat, iſt nicht eine von den vorübergehenden,
die mit jedem Jahrhundert wechſelt, und die vielleicht durch künf-
tige Beobachtungen verdrängt, durch andere, höhere Entdeckungen
wieder verdunkelt zu werden fürchten darf; ſie iſt eine für alle
Folgezeiten bleibende Geſtalt, die durch jede neue Beobachtung
auch eine neue Beſtätigung ihrer Wahrheit erhalten wird, und
an deren innerer Richtigkeit zu zweifeln fortan keinem Vernünf-
tigen mehr erlaubt ſeyn kann, da es wohl unter allen unſern ſo-
genannten menſchlichen Wahrheiten kaum eine einzige geben mag,
die ſo oft und ſo ſorgfältig geprüft, die von allen Seiten, und
die ſeit beinahe drei vollen Jahrhunderten durch ſo viele Tauſende
von Beobachtungen beſtätigt wäre, als eben ſie.


§. 114. (Heliocentriſcher und geocentriſcher Ort der Planeten.)
Da alſo die Bewegung der Planeten, die, aus dem veränderlichen
Standpunkt der Erde betrachtet, ſo äußerſt verwickelt erſcheint,
aus dem wahren Centralpunkte aller Planetenbahnen, aus dem
Mittelpunkte der Sonne, ſo einfach ſich darſtellt, ſo wird es, zur
nähern Kenntniß dieſer Bewegungen, ſehr angemeſſen ſeyn, eine
Methode zu ſuchen, durch welche man den von der Erde geſehenen,
oder den durch unmittelbare Beobachtungen gegebenen geocen-
triſchen
Ort des Planeten in den von der Sonne geſehenen oder
in den heliocentriſchen Ort deſſelben verwandeln kann. Sey
alſo S (Fig. 8.) die Sonne, T die Erde und P der Planet.
Zieht man durch T die Linie T A parallel mit der Linie S S,
die durch die Sonne und durch den Punkt der Frühlingsnachtgleiche
geht, ſo wird, wegen der hier als unendlich weit vorausgeſetzten
Entfernung der Fixſterne, S S T die heliocentriſche Länge der
Erde, S S P die heliocentriſche Länge des Planeten, und A T P die
geocentriſche Länge des Planeten ſeyn. Zieht man endlich noch
durch S die Linie S B parallel mit T P, ſo wird auch der Winkel
S S B = A T P die geocentriſche Länge des Planeten ausdrücken.


Man beſchreibe daher mit dem größten Halbmeſſer, den z.
B. die Ebene einer Tafel verträgt, aus dem Mittelpunkte S
einen Kreis S ♋ ♎ ♑, der die in Grade getheilte Ecliptik an
der von der Sonne oder von der Erde unendlich weit entfernten
Fläche des Himmels vorſtellt. Aus demſelben Mittelpunkte S
16 *
[244]Planetenſyſteme.
beſchreibe man mit dem im §. 100 nach irgend einem Maßſtabe
genommenen Halbmeſſer die Bahn a T b der Erde und die P B
des Planeten. Nehmen wir nun an, daß man für irgend eine
Zeit, für welche der heliocentriſche Ort T der Erde, z. B. von
30 Graden, gegeben iſt, durch eine unmittelbare Beobachtung die
geocentriſche Länge des Planeten, die etwa 63 Grade betragen
mag, kennen gelernt habe. Sucht man dann die heliocentriſche
Länge des Planeten für dieſelbe Zeit, ſo wird man an der Linie
S S, in dem Punkte S, die gerade Linie S B unter dem Winkel
S S B = 63° ziehen, und dann mit dieſer Linie eine zweite durch
T parallel ziehen, ſo wird dieſe zweite Linie die kreisförmige
Bahn des Planeten in irgend einem Punkte B ſchneiden, und
dieſer Punkt B wird der geſuchte Ort des Planeten in ſeiner
Bahn ſeyn. Zieht man daher die Linie P S, ſo wird der Winkel
S S P, hier nahe gleich 50 Grade, die geſuchte heliocentriſche
Länge des Planeten ſeyn.


Iſt aber umgekehrt für irgend eine Zeit die heliocentriſche
Länge der Erde 30°, und die heliocentriſche Länge des Planeten
50° gegeben, ſo kennt man dadurch die Lage der zwei Punkte T
und P in den Bahnen dieſer beiden Planeten. Verbindet man
ſie durch die gerade Linie T P, und zieht man mit ihr durch S
die Gerade S B, welche den äußerſten Kreis der Zeichnung in dem
Punkte 63° trifft, ſo erhellt, daß die geſuchte geocentriſche Länge
des Planeten 63 Grade beträgt. Durch dieſes Verfahren erhält
man auch zugleich die Größe der Linie T P oder die Entfernung
des Planeten von der Erde.


Man kann noch bemerken, daß in dem Dreiecke S T P der
Winkel T S P an der Sonne, oder die Commutation, gleich iſt
der heliocentriſchen Länge des Planeten, weniger der heliocen-
triſchen Länge der Erde, der Winkel S P T an den Planeten aber,
oder die jährliche Parallaxe, iſt gleich der geocentriſchen
Länge, weniger der heliocentriſchen Länge des Planeten, und end-
lich der Winkel S T P an der Erde, oder die Elongation, iſt
gleich 180°, mehr der heliocentriſchen Länge der Erde, weniger der
geocentriſchen Länge des Planeten.


§. 115. (Theorie der Planeten in ihrer größten Einfachheit.)
Die Auflöſung dieſer beiden Aufgaben, beſonders die der erſten,
[245]Planetenſyſteme.
bildet ein Hauptgeſchäft des practiſchen Aſtronomen, dem es vor-
züglich darum zu thun iſt, die Bewegung der Planeten um die
Sonne, durch fortgeſetzte Beobachtungen, mit der größten Genauig-
keit kennen zu lernen. Indem er nämlich aus der, durch ſeine
Beobachtung unmittelbar erhaltenen, geocentriſchen Länge des Pla-
neten die heliocentriſche Länge deſſelben ableitet, und dieſe letzte
mit der durch die Theorie erhaltenen, heliocentriſchen Länge des
Planeten vergleicht, findet er unmittelbar den Fehler, dem dieſe
Theorie etwa noch unterworfen iſt, und iſt daher im Stande die-
ſen Fehler zu verbeſſern.


Welches iſt aber dieſe Theorie der heliocentriſchen Bewegung,
mit welcher man die beobachteten, geocentriſchen Längen ver-
gleichen ſoll?


Wenn wir dieſe heliocentriſchen Bewegungen aus dem ein-
fachen Geſichtspunkte betrachten, aus welchem wir ſie bisher be-
trachtet haben, ſo beſteht dieſe ganze Theorie in einer ſehr leich-
ten und kurzen Rechnung. Wenn nämlich die Planeten alle in
der That, wie wir bisher vorausgeſetzt haben, um die Sonne
concentriſche Kreiſe beſchreiben, deren Ebenen mit der der Ecliptik
zuſammenfallen, ſo braucht man, da in jedem Kreiſe die Bewe-
gung nicht anders als gleichförmig ſeyn kann, nur die Geſchwin-
digkeit des Planeten, und einen einzigen Punkt ſeiner Bahn zu
kennen, den er, für eine gegebene Zeit, von der Sonne geſehen,
eingenommen hat, um daraus ſofort, mittels einer einfachen Ad-
dition oder Subtraction, den heliocentriſchen Ort des Planeten
für jede andere Zeit abzuleiten. Wäre z. B. die heliocentriſche
Länge eines Planeten am 1. Januar Mittags in Wien gleich
10 Grade, und betrüge ſeine tägliche Bewegung einen Grad, ſo
wird ſeine heliocentriſche Länge am 20. May, oder am 140ſten
Tage, gleich 10 + 140 = 150 Grade, und am 20. September,
oder am 263ſten Tage, gleich 10 + 263 = 273 Grade betragen,
und ſo fort für jeden andern Tag.


Dieſe ſogenannte Theorie der Planeten hängt alſo, in ihrer
größten Einfachheit, bloß von zwey Dingen ab, erſtens von der
Kenntniß einer heliocentriſchen Länge deſſelben für eine gegebene
Zeit, welche Länge man die Epoche des Planeten nennt, und
zweitens von der Kenntniß ſeiner Umlaufszeit um die Sonne,
[246]Planetenſyſteme.
aus welcher man dann leicht die tägliche oder ſtündliche Bewe-
gung deſſelben finden kann. Dieſe zwei Elemente jeder Pla-
netenbahn ſind es alſo, die man durch die oben erwähnten Beob-
achtungen mit der größten Genauigkeit beſtimmen ſoll.


§. 116. (Epoche und mittlere Bewegung der Planeten.) Die
Revolutionen der Planeten ſind bereits oben (§. 101.) gegeben
worden, und wenn man die Zahl 360 durch ſie dividirt, ſo er-
hält man die tägliche Bewegung der Planeten in heliocentriſcher
Länge in Graden ausgedrückt. Allein man muß bemerken, daß
jene Revolutionen ſideriſche ſind, oder daß ſie die Umlaufszeit der
Planeten um die Sonne in Beziehung auf einen Fixſtern, oder
auf irgend einen feſten Punkt des Himmels, ausdrücken. Hier
aber handelt es ſich um die heliocentriſchen Längen, die alle von
dem Nachtgleichenpunkte gezählt werden, und da dieſer Nacht-
gleichenpunkt, wie wir ſpäter ſehen werden, ſich ſelbſt, obgleich ſehr
langſam, nämlich in jedem Jahr um 50″,2113 oder um 0°,01394,
von Oſt gegen Weſt bewegt, ſo werden die Umlaufszeiten, in Be-
ziehung auf dieſen Punkt, oder, wie man ſie nennt, die tropi-
ſchen
Revolutionen der Planeten, ſämmtlich etwas kleiner aus-
fallen, als die ſideriſchen. Dieſer Unterſchied beträgt bei der
Venus nur 0,0055, bei der Erde 0,0142, bei Mars 0,0499 und bei
Uranus ſchon 99,3554 Tage. Die folgende Tafel enthält die
Epochen der ältern Planeten für den Mittag des 1. Januars
1832 in Wien, und die täglichen Aenderungen ihrer heliocentri-
ſchen Längen.


Planeten.Epoche.Tägliche Aenderung.
Mercur59°,724°,09238
Venus151°,231°,60217
Erde100°,100°,98568
Mars237°,880°,52467
Jupiter333°,760°,08313
Saturn153°,840°,03350
Uranus311°,040°,01177
[247]Planetenſyſteme.

Für die vier neuen Planeten hat man folgende Epochen für
den 1. Januar 1820 mit ihren täglichen Aenderungen:


Epoche.Tägliche Aenderung.
Vesta278°,500°,27120
Juno200°,270°,22591
Ceres123°,270°,21414
Pallas108°,420°,21400

§. 117. (Neigung und Knoten der Planetenbahnen.) Es wird
aber gut ſeyn, ſchon hier zu bemerken, daß dieſe Auflöſung un-
ſeres Problems noch in manchen Beziehungen ſehr unvollſtändig
iſt. Wir haben, um nur des wichtigſten Mangels deſſelben zu
erwähnen, vorausgeſetzt, daß die kreisförmigen Planetenbahnen
alle in den Ebenen der Ecliptik liegen, und daher mit ihr zuſam-
menfallen, was der Wahrheit nicht gemäß iſt. Sie liegen zwar
in Ebenen, die ſämmtlich durch den Mittelpunkt der Sonne ge-
hen, aber dieſe Ebenen ſind, die eine mehr, die andere weniger,
gegen die Ebene der Ecliptik geneigt, und dieſe Neigung wird,
wie es für ſich klar iſt, auch den Ort des Himmels, an welchem
man den Planeten, von der Sonne oder von der Erde aus, beob-
achtet, verändern, daher man auf ſie Rückſicht nehmen muß.


Wir haben bereits oben (§. 100) geſagt, daß man die ge-
rade, durch den Mittelpunkt der Sonne gehende Linie, in welcher
die Ebene der Planetenbahn die der Ecliptik ſchneidet, die Kno-
tenlinie
, und den einen Punkt derſelben, wo ſie, verlängert, die
Sphäre des Himmels trifft, den aufſteigenden Knoten der
Bahn nennt. Dieſer Punkt fällt alſo immer in die Ebene der
Ecliptik, und damit in ſie die ganze Knotenlinie. Zieht man
dann, durch irgend einen Punkt dieſer Knotenlinie, zwei auf die-
ſelbe ſenkrechte Gerade, von welchen die eine in der Ebene der
Ecliptik, und die andere in der Ebene der Planetenbahn liegt,
ſo heißt der Winkel, welchen dieſe beiden Ebenen mit einander
bilden, die Neigung der Planetenbahn. Dieß ſind alſo zwei
[248]Planetenſyſteme.
neue Elemente der Bahn, die man ebenfalls kennen oder durch
Beobachtungen genau beſtimmen muß, um jenes Problem gehörig
auflöſen zu können.


Die folgende kleine Tafel gibt die Länge des aufſteigenden
Knotens der älteren Planetenbahnen und ihrer Neigungen gegen
die Ecliptik für den Anfang des Jahrs 1801. Bei der Länge
des Knotens iſt zugleich die Größe beigefügt, um welche ſie in
einem Jahrhundert zunimmt. Auch die Neigung iſt mit der
Folge der Zeit veränderlich, aber dieſe Veränderungen ſind zu
gering, um hier weiter berückſichtiget zu werden.


Planeten.Länge des auf-
ſteigenden Kno-
tens.
Säculäre
Aenderung.
Neigung der
Bahn.
Mercur45°,961°,187°,02
Venus74°,900°,883°,06
Mars48°,000°,751°,86
Veſta102°,961°,397°,14
Juno170°,861°,3913°,07
Ceres80°,431°,3910°,62
Pallas172°,391°,3934°,58
Jupiter98°,440°,961°,31
Saturn111°,940°,772°,49
Uranus73°,000°,390°,78

§. 118. (Länge des Planeten in der Bahn und in der Eclip-
tik. Breite und Argument der Breite.) Durch dieſe Neigungen
der Planetenbahnen gegen die Ecliptik werden nun die vorherge-
henden Auflöſungen unſerer Aufgaben etwas geändert. Wir wol-
len ſie daher noch einmal vornehmen.


Zu dieſem Zwecke ſey wieder S (Fig. 21) die Sonne, T die
Erde und P der Planet, der letzte irgendwo außer der Ecliptik,
während Sonne und Erde immer in derſelben liegen. Die Ebene
der Ecliptik ſchneide erweitert die Fläche des Himmels in dem
größten Kreiſe A K P' und die Ebene der Planetenbahn, die, nach
dem Vorhergehenden, immer durch den Mittelpunkt der Sonne
[249]Planetenſyſteme.
S geht, treffe die Himmelsfläche in dem größten Kreiſe B K p', ſo
iſt alſo der Durchſchnittspunkt K beider Kreiſe der aufſteigende
Knoten der Planetenbahn und der Winkel A K B, welchen beide
Kreiſe mit einander bilden, iſt die Neigung dieſer Bahn gegen
die Ecliptik.


Sey der Punkt A in der Ecliptik der Frühlingspunkt, von
welchem alle Längen in der Richtung A K, oder von Weſt gen
Oſt, gezählt werden. Man nehme auch auf der Planetenbahn,
rückwärts von K, den Bogen K B gleich dem Bogen K A, ſo wird
alſo dieſer Bogen K A oder K B gleich der Länge des aufſteigen-
den Knotens der Bahn ſeyn, die durch unſere vorhergehende
Tafel für jede gegebene Zeit als bekannt angeſehen werden kann.
Wir wollen dieſe Länge des Knotens durch k und die Neigung
der Bahn oder den Winkel A K B durch n bezeichnen.


Dieß vorausgeſetzt, verlängern wir nun die geraden Linien
S T und S p, welche die Sonne mit der Erde und mit den Pla-
neten verbinden, bis ſie der Fläche des Himmels, die erſte in
dem Punkte T', und die zweyte in dem Punkte p', begegnen, ſo
wird der Bogen A T' die Länge der Erde in der Ecliptik bezeich-
nen, und analog mit dieſer Bezeichnung wird man den Bogen
B p' die Länge des Planeten in der Bahn nennen. Da
aber, der eingeführten Gewohnheit gemäß, alle Längen in der
Ecliptik gezählt werden, ſo werden wir, um uns auch hier dieſem
Gebrauche zu fügen (nach Cinl. §. 22. I.), durch den Mittel-
punkt p' des Planetenorts einen größten, auf die Ecliptik ſenk-
rechten Kreis oder einen Breitenkreis (Einl. l. c.) p' P' ziehen,
der die Ecliptik in P' ſchneidet, und dann wird, der eingeführten
Benennung gemäß, dieſer ſenkrechte Bogen p' P' die Breite des
Planeten, und der Bogen A P' der Ecliptik die eigentliche Länge
des Planeten ſeyn, die man auch, zum Unterſchiede mit der obi-
gen Länge in der Bahn, die gleich B p' war, die reducirte
Länge
oder die Länge des Planeten in der Ecliptik heißt.


Man ſieht von ſelbſt, daß die Breite p' P' des Planeten un-
mittelbar von der Größe des Bogens K p' der Bahn, der zwi-
ſchen dem Ort p' des Planeten und zwiſchen dem aufſteigenden
Knoten K enthalten iſt, abhängt, daher auch dieſer Bogen K p,
[250]Planetenſyſteme.
das Argument der Breite heißt. Man erhält dieſes Argu-
ment der Breite, wenn man von der Länge B p' des Planeten
in der Bahn, die man aus der in §. 116 gegebenen Epoche des
Planeten findet, die Länge k des Knotens (§. 117.) ſubtra-
hirt. — Dieß vorausgeſetzt, gehen wir nun wieder zu unſeren
vorhergehenden Aufgaben zurück.


§. 119. (Theorie der Planeten, mit Rückſicht auf die Neigung
ihrer Bahnen.) Um die heliocentriſche Länge A P' = l eines Pla-
neten in der Ecliptik und ſeiner heliocentriſchen Breite P' p' = b
für jede angegebene Zeit zu finden, wird man zuerſt die Länge
B p' des Planeten in der Bahn, nach §. 116, und die Länge k
des aufſteigenden Knotens, ſo wie die Neigung n der Bahn aus
§. 117 ſuchen. Dieſe Länge in der Bahn weniger k gibt dann
das Argument der Breite K p', welches wir, der Kürze wegen,
u nennen wollen.


Kennt man ſo die Größe u nebſt n und k, ſo findet man
in dem bey P' rechtwinkligen, ſphäriſchen Dreiecke P' K p' die bei-
den geſuchten Größen l und b auf folgende Weiſe.


Der Coſinus von n, multiplicirt mit der Tangente von u,
gibt die Tangente von l — k, alſo auch den Winkel l — k,
und da man k ſchon kennt, die Größe l ſelbſt. Ebenſo gibt der
Sinus von n, multiplicirt mit dem Sinus von u, den Sinus von
b, alſo auch dieſe Größe b ſelbſt.


So findet man z. B. aus den vorhergehenden Tafeln für
Saturn am 12. November 1835 im Mittag Wiens die Länge in
der Bahn B p' = 201° 6′, und die Länge des Knotens k = 112°
12′. Beider Unterſchied gibt das Argument der Breite u =
88° 54′.


Allein wir wollen hier bemerken, daß man dabei noch auf
die erſte Ungleichheit der Planeten, deren wir §. 106 erwähnt
haben, Rückſicht nehmen ſollte. Wir werden ſpäter ſehen, daß
dieſe Ungleichheit für unſern gegenwärtigen Fall 5° 48′ beträgt,
um welche das Argument der Breite vermehrt werden ſoll, ſo
daß man alſo für dieſes verbeſſerte Argument u = 94° 42′ hat.


Sucht man nun mit dieſem Werthe von u und mit der Nei-
gung n = 2° 29′,5 die Saturnsbahn gegen die Ecliptik, nach
[251]Planetenſyſteme.
den ſo eben angeführten Ausdrücken, die Größen l und b, ſo er-
hält man


  • l—k = 94° 43′
  • k = 112° 12′
  • l = 206° 55′ und b = + 2° 29′,4

Da hier das Argument der Breite ſo nahe an 90°, oder da
der Planet ſehr nahe in der Mitte zwiſchen ſeinen beiden Knoten
ſteht, ſo iſt u = k p' von l — k = K P' ſehr wenig verſchieden.


§. 120. (Ableitung des geocentriſchen Ortes aus dem helio-
centriſchen.) Da wir nun die heliocentriſche Länge A P' = l und
Breite P' p' = b des Planeten kennen, ſo wird es nicht mehr
ſchwer ſeyn, auch die geocentriſche Länge λ und Breite β deſſel-
ben zu finden. Man könnte ſich dazu deſſelben graphiſchen Ver-
fahrens bedienen, welches wir ſchon oben (§. 114.) angewendet
haben. Allein da dieſes keine große Genauigkeit gewährt, und
überdieß hier, wegen der Rückſicht auf die Neigung der Planeten-
bahn, weniger bequem iſt, ſo wird es beſſer ſeyn, auch hier die
unmittelbare Rechnung anzuwenden.


Es ſey alſo wieder L = A S T' die Länge der Erde, und
R = S T ſo wie r = S p der Halbmeſſer der Erd- und der
Planetenbahn, ſo ſuche man zuerſt die Größe r Cor b, die wir,
der Kürze wegen, r' nennen. Nach §. 114 iſt der Winkel T S P
an der Sonne oder die Commutation gleich l — L, alſo eine
bekannte Größe, die wir C nennen wollen. Sucht man nun die
Größe r' Sin C und dividirt ſie durch r' Cor C — R, ſo erhält
man die Tangente von λ — L, alſo auch, da L bekannt iſt, die
geſuchte geocentriſche Länge λ des Planeten.


Multiplicirt man dann den Sinus dieſes Winkels λ — L
durch die Tangente der heliocentriſchen Breite b, und dividirt
man das Product durch Sin C, ſo erhält man ſofort auch die
Tangente von β oder die geocentriſche Breite β des Planeten.


Wenden wir dieß auf unſer vorhergehendes Beiſpiel an, ſo
haben wir für den 12. November 1835 gefunden


  • hel. Länge Saturns l = 206° 55′
  • hel. Breite — b = 2° 29′,4

Der Halbmeſſer der Saturnsbahn iſt (nach der Tafel des
[252]Planetenſyſteme.
§. 100) gleich r = 9,538, während der der Erdbahn R = 1 iſt.
Die Länge der Erde aber, für dieſelbe Zeit, iſt L = 49° 22′.
Dieß vorausgeſetzt hat man r' = 9,5298, l — L = 157° 33′
und daher die geocentriſche Länge λ = 209° 0′ und die geocen-
triſche, nördliche Breite des Planeten β = 2° 16′.


§. 121. (Correction der Elemente der Planetenbahnen.) Auf
dieſe Weiſe alſo kann man, wenn die Elemente der Planetenbahn
bekannt ſind, wie man ſieht, durch bloße Rechnung für jede ge-
gebene Zeit die geocentriſche Länge und Breite eines Planeten
finden. Hat man nun in derſelben Zeit auch den Planeten in
der That beobachtet, ſo müſſen dieſe beiden Größen, die berech-
nete und die beobachtete Länge und Breite des Planeten, über-
einſtimmen, wenn anders die Beobachtung gut, und die der Rech-
nung zu Grunde liegenden Elemente richtig ſind. Geſetzt, man
hätte aber die geocentriſche Länge λ' = 209° 2′ und die geocen-
triſche Breite β' = 2° 13′ beobachtet, alſo jene um 2′ größer,
und dieſe um 3′ kleiner, als ſie durch die vorhergehende Rechnung
erhalten würden, zum Beweiſe, daß die Elemente nicht genau
richtig ſind, und daher noch einer weiteren Verbeſſerung bedürfen.
Dieſer Elemente ſind aber jetzt nicht mehr zwei, wie in §. 115,
ſondern vier, nämlich I. die Epoche oder die vorausgeſetzte
Länge des Planeten für irgend eine gegebene Zeit. II. Die Um-
laufszeit oder, was daſſelbe iſt, die tägliche Geſchwindigkeit
deſſelben. III. Die Lage der Durchſchnittslinie ſeiner Bahn mit
der Ecliptik oder die Länge des Knotens, und endlich IV. die
Neigung dieſer Bahn gegen die Ecliptik.


Man könnte glauben, daß auch noch der Halbmeſſer der
Planetenbahn als ein neues Element betrachtet werden müſſe,
da von ihm die Größe des Kreiſes abhängt, welchen der Planet
um die Sonne beſchreibt. Allein da durch das bereits oben
(§. 58) erwähnte Geſetz Keplers die Halbmeſſer der Bahnen ge-
geben ſind, ſobald die Umlaufszeiten bekannt ſind, ſo iſt es, da
wir die Umlaufszeiten ſchon in II. berückſichtiget haben, überflüſſig,
dieſe Halbmeſſer noch beſonders zu beachten. Auch muß man
bemerken, daß bei jenen Rechnungen die Länge der Erde oder
die Größe L einen ſehr weſentlichen Einfluß auf das Endreſul-
tat derſelben hat, da der geringſte Fehler in L oft ſchon einen
[253]Planetenſyſteme.
ſehr großen in λ oder β zur Folge haben kann. Allein man ſetzt
voraus, daß der Aſtronom, ehe er an das ſchwierige Geſchäft
der Correction der Planeten-Elemente geht, die Theorie der
Sonne durch ähnliche, vorhergegangene Arbeiten, ſchon ſo weit
vervollkommnet habe, daß er im Stande iſt, für jeden Augen-
blick den Ort der Sonne, oder was daſſelbe iſt, der Erde, mit
aller hier nothwendigen Genauigkeit anzugeben.


Es bleibt ihm ſonach nur noch die Frage zu beantworten
übrig, wie viel jedes der eben angeführten vier Elemente der
Planetenbahn geändert werden müſſe, damit nicht nur die eine
oben mitgetheilte, ſondern damit überhaupt alle über den Plane-
ten angeſtellte und als gut erkannte Beobachtungen mit der Theo-
rie deſſelben vollkommen übereinſtimmen. Es würde leicht ſeyn,
irgend eines dieſer Elemente ſo zu ändern, daß dadurch unſere
obige Beobachtung genau dargeſtellt wird. Allein dadurch würde
man ſich vielleicht wieder deſto mehr von den übrigen Beobach-
tungen entfernen, die doch, durch jene Elemente, alle gleich gut
dargeſtellt werden ſollen. Es iſt hier nicht der Ort, die Leſer
mit dieſem eben ſo wichtigen als ſchwierigen Geſchäfte der Aſtro-
nomie näher bekannt zu machen; da es genügt, nur den Weg
gezeigt zu haben, auf welchem man dieſen Zweck erreichen kann,
worauf wir uns hier um ſo mehr beſchränken müſſen, da wir
noch nicht mit allen Eigenheiten der planetariſchen Bewegungen
bekannt ſind, und da das Copernicaniſche Syſtem, ſeiner großen,
unbeſtreitbaren Vorzüge ungeachtet, doch noch nicht das wahre
Syſtem der Natur iſt, wie wir im folgenden Kapitel ſehen
werden.


§. 122. (Beobachtung der Diſtanzen der Planeten.) Wir
haben oben (§. 112) bemerkt, daß zur Zeit der größten Digreſ-
ſion der untern Planeten die Richtung ſeiner Bewegung oder die
Tangente ſeiner Bahn gerade auf die Erde zugeht. Dieß gibt
ein einfaches Mittel, die Diſtanz des Planeten von der Sonne
zu finden. Hat man nämlich eine ſolche größte Diſtanz beob-
achtet, wo der Planet in II (Fig. 20) und die Erde in 2 iſt, ſo
iſt in dem Dreiecke S II 2 der Winkel an II ein rechter Winkel,
und der Winkel an 2 iſt unmittelbar durch die Beobachtung ge-
geben, da er gleich der Differenz der geocentriſchen Längen des
[254]Planetenſyſteme.
Planeten und der Sonne iſt. Der Sinus dieſes Winkels iſt da-
her gleich S II/S 2 und dadurch iſt alſo das Verhältniß der Halb-
meſſer der beiden Kreiſe, alſo auch der Halbmeſſer S II der Pla-
netenbahn bekannt, wenn jener der Erde, wie gewöhnlich, für die
Einfachheit genommen wird.


Daſſelbe Verfahren läßt ſich auch, mit einer geringen Ab-
änderung, auf den Mond anwenden. Zur Zeit ſeiner Quadratu-
ren, oder in dem Augenblicke des erſten und letzten Viertels,
ſteht die Linie, welche ſeinen Mittelpunkt mit dem der Sonne
verbindet, ſenkrecht auf derjenigen Geraden, welche durch ſeinen
und durch den Mittelpunkt der Erde geht. Man erkennt dieſen
Moment daran, daß die Oberfläche des Mondes genau zur
Hälfte beleuchtet iſt, oder daß die Lichtgränze, welche den dunk-
len Theil deſſelben von dem beleuchteten trennt, eine Gränze, die
ſonſt immer eine convexe oder concave Curve iſt, in eine gerade
Linie
übergeht. Da man nun in dieſem Momente den Winkel
meſſen kann, welchen die beiden Geſichtslinien nach dem Monde
und nach der Sonne in dem Auge des Beobachters bilden, ſo iſt
der Coſinus dieſes Winkels gleich der Entfernung des Mondes
von der Erde, dividirt durch die Entfernung der Erde von der
Sonne. Es iſt aber ſehr ſchwer, den Augenblick mit Schärfe zu
beobachten, wo jene Lichtgränze des Mondes eine gerade Linie,
oder wo die untern Planeten in dem Punkte ihrer größten
Digreſſion ſind, daher auch dieſe Meſſung der Diſtanzen ſehr
unſicher iſt, obſchon ſie es ſind, denen wir die erſten genäherten
Kenntniſſe dieſer Entfernungen verdanken.


§. 123. (Beſtimmung der Umlaufszeiten der Planeten um die
Sonne.) Wir haben bereits oben (§. 100) ein Mittel angegeben,
die ſideriſche Umlaufszeit eines Planeten durch die Beobachtung
ſeiner Durchgänge durch die Knotenlinie zu beſtimmen. Da aber
dieſe Umlaufszeiten zu den wichtigſten Elementen der Planeten-
bahnen gehören, da ihre Beobachtung, mit gehöriger Sorgfalt
angeſtellt, große Sicherheit gewährt, und da endlich auch, nach
dem ſchon öfter angeführten Geſetze Keplers, die Halbmeſſer der
Planetenbahnen unmittelbar durch jene Umlaufszeiten gegeben
[255]Planetenſyſteme.
werden, ſo wird es nicht unangemeſſen ſeyn, noch ein anderes
Mittel zur Beſtimmung dieſer Zeiten hier beizufügen.


Die Durchgänge der Planeten durch die Knoten ſind näm-
lich bei den meiſten Planeten nur ſchwer mit Schärfe zu beob-
achten, da die Neigungen ihrer Bahnen ſo klein ſind, und daher
die Planeten die Ecliptik nur in ſehr ſchiefer Richtung durch-
ſchneiden. Auch ſind dieſe Knoten verſchiedenen Bewegungen un-
terworfen, die ſelbſt noch nicht völlig genau bekannt ſind. Aus
beiden Urſachen iſt jene Beſtimmung der Umlaufszeiten noch
etwas unverläßlich.


Bemerken wir zuerſt, daß die ſideriſchen Revolutionen der
Planeten die eigentlichen oder wahren Umlaufszeiten derſelben
um die Sonne ſind, da ſie die Zeit bezeichnen, in welcher der
Planet wieder zu demſelben feſten Punkt des Himmels zu-
rück kömmt, in welcher er alſo in der That volle 360 Grade um
die Sonne zurückgelegt hat. Die tropiſche Revolution im Ge-
gentheile (§. 116) iſt die Zeit, in welcher der Planet wieder zur
Frühlingsnachtgleiche zurück kömmt, ſo wie die ſynodiſche Revo-
lution (§. 98) die Zeit zwiſchen zwey nächſten Conjunctionen des
Planeten mit der Sonne iſt.


Da aber der Frühlingspunkt ſowohl, als auch die Sonne
ſelbſt, eine eigene Bewegung am Himmel hat, ſo werden die
letztgenannten Revolutionen von der ſideriſchen verſchieden ſeyn.
Es gibt aber ein ſehr leichtes Mittel, ſie alle unter einander zu
verwandeln. Aus §. 116 weiß man, daß die tägliche, rückgän-
gige, ſideriſche Bewegung des Frühlingspunkts 0°,0000381, und daß
die tägliche, directe, tropiſche Bewegung der Sonne oder der
Erde 0°,98568 beträgt. Dividirt man dieſe Zahlen durch 360, ſo
erhält man 0,000000106 und 0,002738. Iſt daher A die ſideriſche
Revolution eines Planeten, ſo erhält man die tropiſche Revolu-
tion deſſelben, wenn man A durch 1 + 0,000000106A dividirt.
Und iſt eben ſo B die tropiſche Revolution, ſo erhält man die
ſynodiſche, wenn man B durch 1 — 0,002738B dividirt. So iſt
z. B. für Mars (nach §. 100) die ſideriſche Revolution 686,9796
Tage, alſo hat man auch für die tropiſche Revolution dieſes
Planeten 686,9297, und für die ſynodiſche 779,88 Tage, wie wir
auch ſchon §. 98 gefunden haben.


[256]Planetenſyſteme.

§. 124. (Beobachtung der ſynodiſchen Revolutionen.) Um
nun irgend eine dieſer Umlaufszeiten durch unmittelbare Beob-
achtung zu beſtimmen, woraus dann alle andern durch Rechnung
gefunden werden, wird es nothwendig ſeyn, zwei heliocentri-
ſche
Orte des Planeten mit der Zwiſchenzeit zu kennen, welche,
während der Planet von dem einen dieſer Orte zu dem andern ge-
kommen, verfloſſen iſt. Es iſt klar, daß man dadurch ſofort die
Umlaufszeit des Planeten erhält. Denn wären z. B. jene beiden
heliocentriſchen Längen 60° und 210°, und wäre die Zwiſchenzeit
der Beobachtung 100 Tage, ſo hätte man für die tropiſche Re-
volution des Planeten 360 × 100/150 = 240 Tage. Allein woher
ſoll man dieſe heliocentriſchen oder von der Sonne geſehenen Orte
erhalten, da wir die Planeten nur von der Erde beobachten können?


Zu dieſem Zwecke wird man den Planeten zur Zeit ſeiner
Oppoſition, oder, wenn es ein unterer Planet iſt, zur Zeit einer
ſeiner beiden Conjunctionen beobachten. Da in dieſen beiden
Fällen die von der Erde geſehene Länge des Planeten der von
der Sonne geſehenen entweder gleich oder genau 180 Grade von
ihr verſchieden iſt (§. 74), ſo erhält man dadurch ſofort die ge-
ſuchten heliocentriſchen Längen. Hat man daher zwey nächſte
Oppoſitionen des Planeten mit der Sonne beobachtet, ſo würde
die Zwiſchenzeit beider Beobachtungen auch zugleich die ſynodiſche
Revolution des Planeten ſeyn, woraus man dann die tropiſche
und ſideriſche Revolution deſſelben durch die oben angeführten
Rechnungen leicht finden kann.


Allein man wird bald erkennen, daß die ſynodiſchen Revolu-
tionen, welche man auf dieſe Weiſe erhält, beträchtlich verſchieden
ſind, wenn man verſchiedene Paare von Oppoſitionen unter ſich
vergleicht. Dieſe Differenzen ſind zu groß, als daß man ſie den
Beobachtungsfehlern zuſchreiben dürfte, da man in der That die
Zeiten und Orte dieſer Oppoſitionen mit großer Genauigkeit beob-
achten kann. Man muß daher vorausſetzen, daß uns die Bewe-
gungen der Planeten nicht vollſtändig bekannt ſind, daß ihre Ge-
ſchwindigkeiten vielleicht nicht gleichförmig, oder daß ihre Bah-
nen um die Sonne vielleicht keine Kreiſe ſind, wie wir doch bis-
[257]Planetenſyſteme.
her vorausgeſetzt haben. So viel iſt immer klar, daß die Ab-
weichungen der Planeten von der gleichförmigen Bewegung in
einem Kreiſe wenigſtens nicht groß ſind, und daß wir, bei einer
erſten Annäherung, uns dieſe Vorausſetzung wohl erlauben kön-
nen. Da aber die Beſtimmung der Umlaufszeit ſo wichtig iſt,
und da ſie gleichſam aller weitern Ausbildung der Planetentheorie
vorausgehen muß, ſo muß man auf Mittel bedacht ſeyn, dieſe
Umlaufzeiten unabhängig von einer genauern Kenntniß der übri-
gen Ungleichheiten zu erhalten, welchen die Bewegungen der Pla-
neten etwa noch unterworfen ſeyn könnten.


§. 125. (Benutzung der älteren Beobachtungen.) Dazu gibt
es aber keinen beſſeren Weg, als zwei in der Zeit ſehr weit von
einander entfernte Oppoſitionen zu wählen, um aus ihnen die
wahre ſynodiſche Revolution abzuleiten, vorausgeſetzt, daß man
bereits einen genäherten Werth derſelben kennt. Dann werden
nämlich die Fehler, die man entweder bei den Beobachtungen
ſelbſt oder die man dadurch begangen hat, daß man die Bewe-
gung des Planeten vollkommen gleichförmig vorausgeſetzt hat, da
ſie dieſes doch nur beinahe ſind, durch die große Zwiſchenzeit der
beiden Beobachtungen ungemein vermindert, wie wir dieß am
beſten durch ein Beiſpiel ſehen werden.


Wir haben bereits oben (§. 49 II) der älteſten Beobachtung,
die auf uns gekommen iſt, vom Jahre 1100 vor unſerer Zeitrech-
nung, Erwähnung gethan. Nehmen wir an, es ſey uns von dem-
ſelben Jahre auch die Oppoſition eines Planeten erhalten worden,
die am 20. Nov. alten Styls 1100 vor Chr. im Augenblicke des
Mittags in Peking beobachtet worden iſt. In dem gegenwärtigen
Jahre 1834 iſt am 22. Mai neuen Styls zur Zeit, wo es an dieſem
Tage wieder in Peking Mittag iſt, eine andere Oppoſition deſſel-
ben Planeten irgendwo in Europa beobachtet worden, und man
weiß bereits, daß die ſynodiſche Revolution dieſes Planeten nahe
535¾ Tage betrage. Die Zwiſchenzeit zwiſchen beiden Beobach-
tungen beträgt 2933 Jahre und 183 Tage, oder da das Juliani-
ſche Jahr 365¼ Tage hat, und da der neue oder Gregorianiſche
Styl in dem gegenwärtigen Jahrhundert um 12 Tage vor dem
alten Style voraus iſt, ſo beträgt jene Zwiſchenzeit 2933 Jahre
und 171 Tage oder 1.071.449,25 Tage. Da nun die ſynodiſche
Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 17
[258]Planetenſyſteme.
Revolution dieſes Planeten nahe 535,7 Tage betragen ſoll, ſo ſind
in dieſer Zwiſchenzeit volle 2000 ſyn. Revolutionen vorübergegan-
gen, und man wird daher die wahre Dauer einer ſolchen Revolu-
tion erhalten, wenn man die Zahl 1.071.449,25 durch 2000 dividirt.
Dieß gibt für die geſuchte wahre ſynodiſche Revolution 535,724625
Tage. Nehmen wir nun an, die erſte jener beiden Beobachtungen
wäre fehlerhaft, und volle 6 Stunden zu ſpät beobachtet worden,
dann würde die wahre Zwiſchenzeit zwiſchen beiden Beobachtungen
ebenfalls um 6 Stunden größer, und daher gleich 1.071.449,5 Tage
geweſen ſeyn. Dividirt man auch dieſe Zahl wieder durch die An-
zahl der Revolutionen oder durch 2000, ſo erhält man für die
wahre ſynodiſche Revolution des Planeten 535,72475 Tage, alſo
nur 0,000125 Tage oder 10″,8 Secunden mehr als zuvor. Jener
Fehler von 6 Stunden iſt alſo hier, durch die große Zwiſchenzeit,
auf 10,8 Secunden, d. h. auf ſeinen 2000ſten Theil herabgebracht
worden.


Aus dieſer Urſache haben auch die Griechen, welchen dieſer
Vortheil der ältern Beobachtungen zu jenem Zwecke nicht entgan-
gen war, die Umlaufszeiten der ihnen bekannten Planeten mit ſo
großer Genauigkeit beſtimmt, daß die neueren Aſtronomen an den
Revolutionen, die Ptolemäus in ſeinem Almageſt mitgetheilt hat,
nur ſehr wenig mehr zu verbeſſern gefunden haben. Solche in
der Zeit ſehr weit von uns entfernte Beobachtungen würden auch
noch zu anderen intereſſanten Unterſuchungen ſehr wichtig ſeyn,
allein ſie ſind meiſtens ſo unvollkommen, daß man ſich ihrer nicht
mit Sicherheit bedienen kann. Unſere wahrhaft guten und zu-
verläßigen Beobachtungen beginnen erſt mit dem Anfange oder
genauer in der Mitte des verfloſſenen achtzehnten Jahrhunderts,
und unſere Nachkommen werden ſie einſt mit großen Vortheilen
zu denjenigen Beſtimmungen benützen, über welche wir, aus
Mangel ähnlicher Hilfsmittel, noch ſehr in Ungewißheit ſind.


[[259]]

KapitelIX.
Kepler’s Geſetze.


§. 126. (Unvollkommenheit des copernicaniſchen Syſtems.)
Copernicus hatte durch die Aufſtellung ſeines Planetenſyſtems die
ſeit den älteſten Zeiten allgemein angenommenen und gleichſam
geheiligten Lehren von der Ruhe der Erde im Mittelpunkte des
Weltalls für immer zerſtört, und dadurch das große Hinderniß
weggeräumt, das bisher unſere wahre Erkenntniß des Himmels
und alle eigentlichen Fortſchritte der Wiſſenſchaft gleichſam un-
möglich gemacht hatte. Er iſt dadurch der Gründer oder viel-
leicht beſſer, der eigentliche Veranlaſſer der neuern Aſtronomie
geworden, aber ohne auch zugleich der Vater derſelben zu ſeyn,
obſchon man ihn oft genug ſo genannt hat. Denn unſer gegen-
wärtiges Syſtem iſt nicht das Copernicaniſche, ſo wie es uns
ſein Erfinder ſelbſt in ſeinem Werke dargeſtellt hat. Es iſt viel-
mehr ſehr davon verſchieden, und dieſe Verſchiedenheit beſteht nicht
in kleinen Verbeſſerungen und Zuſätzen, ſondern in ſehr weſent-
lichen Aenderungen, die ihm, wenn er jetzt wieder käme, ſein
eigenes Syſtem vielleicht ſelbſt unkenntlich machen würden, obſchon
allerdings die vorzüglichſte Idee, die von der täglichen Bewegung
der Erde um ſich ſelbſt und der jährlichen um die Sonne, aber
auch ſonſt nichts mehr, dem neuen Syſteme ebenfalls zu Grunde
liegt.


17 *
[260]Kepler’s Geſetze.

Er hatte uns gezeigt, daß die größere jener beiden Anoma-
lien, die wir bei den Bewegungen der Planeten bemerken, oder
daß die ſogenannte zweite Ungleichheit (§. 105) der Alten
nicht den Planeten eigenthümlich, ſondern daß ſie bloß ſcheinbar
ſey, und ihren Grund in der Bewegung der Erde um die Sonne
habe; und dieß hat er uns auf eine Weiſe gezeigt, daß fortan
Niemand mehr an der Wahrheit ſeiner Erklärung zweifeln kann,
und daß dieſe Vorausſetzung jeder künftigen Verbeſſerung oder
Erweiterung der Wiſſenſchaft zu Grunde liegen muß, wenn ſie
anders auf dieſe Benennung Anſpruch zu machen würdig iſt.


Allein jene erſte Ungleichheit (§. 106) ließ ſich durch die
von Copernicus entdeckte Bewegung der Erde nicht darſtellen.
Dieſe Ungleichheit iſt den Planeten eigenthümlich, und kein bloßer
Schein, daher auch die wahre Urſache derſelben in der Bewegung
der Planeten ſelbſt, nicht außer ihnen, geſucht werden muß. Die
Griechen nahmen zu ihrer Erklärung den excentriſchen Kreis zu
Hilfe, und wir haben bereits oben (§. 108) geſehen, daß die Be-
wegung in dem excentriſchen Kreiſe auch durch die in einem con-
centriſchen Kreiſe mit einem Epicykel vorgeſtellt werden kann, ſo
wie auch bereits mehr als einmal bemerkt worden iſt, daß dieſe
Hypotheſe nicht einmal die unvollkommenen Beobachtungen der
Alten mit hinlänglicher Genauigkeit, und daß ſie beſonders die
Entfernungen der Planeten von der Erde gar nicht darſtellte.


Copernicus aber behielt deſſenungeachtet dieſe Hypotheſe der
Griechen bei, ſo wie er ſich auch nicht von der kreisförmigen Ge-
ſtalt der Planetenbahnen, welche dieſe als die einzig mögliche er-
kannt haben wollten, losreißen konnte. Ihm war es genug, den
einen der beiden Haupttheile der alten Irrlehren geſtürzt zu
haben, den wichtigſten vielleicht, oder doch den ſchädlichſten und
gefährlichſten. Der zweite forderte ohne Zweifel mehr geiſtige
Kraft, mehr Kenntniſſe und Beharrlichkeit, aber nicht mehr jenen
edeln Muth, mit welchem er einem für unerſchütterlich gehaltenen
Irrthume, und ſelbſt dem täglichen Zeugniſſe der Sinne entgegen trat.


§. 127. (Tycho’s Planetenſyſtem.) Eine ſolche Verbeſſerung
des copernicaniſchen Syſtems verſuchte, ein halbes Jahrhundert
nach der Bekanntmachung deſſelben, Tycho Brahe, einer der
größten practiſchen Aſtronomen, deſſen Urtheilskraft aber in den
[261]Kepler’s Geſetze.
Vorurtheilen ſeiner Zeit befangen war, und dem die Wahrheit
weniger galt, als eine übel begründete Auctorität. Zwar konnte
auch er die nicht weiter zu bezweifelnde Bewegung der Planeten um
die Sonne nicht verkennen, daher er auch Merkur, Venus, Mars,
Jupiter und Saturn in immer größeren concentriſchen Kreiſen um
die Sonne gehen ließ, die den Mittelpunkt aller dieſer Kreiſe
einnahm. Aber dieſe Sonne war nicht wie bei Copernicus, in
Ruhe, ſondern ſie bewegte ſich ſelbſt in einem andern Kreiſe, deſſen
Mittelpunkt die ruhende Erde einnahm. Er ſtellte alſo wieder,
wie die Alten, die Erde in den Mittelpunkt des Weltalls, und
ließ um ſie die Sonne gehen, welche letzte zugleich der bewegliche
Mittelpunkt anderer Kreiſe war, in deren Peripherie die übrigen
Planeten unmittelbar um die Sonne, und durch dieſe mittelbar
um die Erde ſich bewegten. Auf dieſe Weiſe glaubte er einen
Mittelweg zwiſchen der Wahrheit, deren innere Kraft er nicht
ganz verkennen durfte, und zwiſchen einer Auctorität, der er nicht
entgegen zu treten wagte, gefunden, ſich mit beiden abgefunden,
und vielleicht zugleich ſeiner Eitelkeit einen Tribut gebracht zu
haben, wenn er fortan als der Erfinder eines Syſtemes geprieſen
wurde, das wenigſtens den Beifall der einen Parthei, um deren
Gunſt es ihm vorzüglich zu thun war, zu erhalten hoffen konnte.
Aber die immer gerechte Zukunft hat dieſe Hoffnungen nicht er-
füllt. Sein Syſtem iſt, wie alle früheren und wie alle, die der
einmal erkannten Wahrheit widerſtreben wollen, der verdienten
Vergeſſenheit übergeben, und es iſt in unſeren Tagen kaum mehr
einer Erwähnung, und noch weniger einer umſtändlichen Wider-
legung, würdig.


§. 128. (Verfahren Kepler’s). Anders verfuhr Kepler, der
Zeitgenoſſe Tycho’s. Sein durchdringender Geiſt erkannte ſofort
die Wahrheit des copernicaniſchen Syſtems, d. h. die Bewegung
aller Planeten, ſammt der Erde, um die ruhende Sonne. Aber
er erkannte auch den Mangel, den ſein großer Vorgänger in ſei-
nem Syſteme gelaſſen hatte, und er fühlte in ſich die Kraft und
die Ausdauer, dieſen Mangel zu erſetzen.


Die für ihre Zeiten vortrefflichen Beobachtungen Tycho’s,
deren Gebrauch für Kepler offen lag, veranlaßten ihn, die von
Copernicus aufgeſtellte Theorie mit dieſen Beobachtungen, d. h.
[262]Kepler’s Geſetze.
unmittelbar mit dem Himmel ſelbſt zu vergleichen, und er über-
zeugte ſich endlich durch zahlreiche und lange fortgeſetzte Rechnun-
gen, daß beide mit einander nicht in dem Grade übereinſtimm-
ten, wie man es wohl von Tycho’s Beobachtungen erwarten konnte,
wenn anders jene Theorie ſelbſt der Wahrheit ganz gemäß ſeyn ſollte.


Es wurde bereits oben bemerkt, daß Copernicus durch ſein
Syſtem eigentlich nur die zweite Ungleichheit der planetariſchen
Bewegung erklärt, und zwar auf eine ſolche Weiſe erklärt hatte,
daß daran nicht weiter gezweifelt, und daß dieſe Sache für alle
künftigen Zeiten als völlig abgethan betrachtet werden konnte.
Aber die Erklärung der erſten Ungleichheit ward dadurch nicht ge-
geben, und Copernicus hatte es in ſeinen Werken nicht einmal
gewagt, ſie auch nur von ferne zu berühren. Dieſe erſte Ungleich-
[heit] beſteht vorzüglich darin, daß die Geſchwindigkeiten der Pla-
neten, ſelbſt wenn ſie von der Sonne aus beobachtet werden,
nicht gleichförmig ſind, wie ſie doch ſeyn müßten, wenn ſie ſich
in Kreiſen bewegten, deren Mittelpunkt die Sonne einnimmt.
Die Alten ſuchten dieſe Erſcheinungen, wie bereits oben geſagt
wurde, dadurch zu erklären, daß ſie die Sonne außer den
Mittelpunkt jener Kreiſe verſetzten. Sie konnten durch dieſe
excentriſchen Kreiſe allerdings dieſe Veränderungen der Geſchwin-
digkeiten, ſo weit es die unvollkommenen Beobachtungen jener
Zeit erforderten, darſtellen, aber ſie begegneten dadurch zugleich
einer anderen Schwierigkeit, die ſich durch dieſes Hilfsmittel des
excentriſchen Kreiſes nicht entfernen ließ, und die, wenn ſie ihm
die Aufmerkſamkeit, die es verdiente, geſchenkt hätten, ſie allein
ſchon hätte überzeugen ſollen, daß ihre Erklärung nicht die wahre
ſey, und daß daher ihre excentriſchen Kreiſe als ganz unrichtig
verworfen werden müſſen.


§. 129. (Veränderung der ſcheinbaren Durchmeſſer und der
Geſchwindigkeiten der Planeten.) Man beobachtete nämlich, daß
die Planeten zu derſelben Zeit, wo ihre heliocentriſche Geſchwin-
digkeit am größten oder kleinſten iſt, auch zugleich, für ein Auge
im Mittelpunkte der Sonne, am größten und kleinſten erſchienen.
Am beſten ſah man dieß bei dem Monde, von dem auch die Alten
annahmen, daß er ſich in einem Kreiſe bewege, deſſen Mittelpunkt
die Erde einnimmt. Die größte ſtündliche Bewegung des Mon-
[263]Kepler’s Geſetze.
des in die Länge iſt 0°,6176, und für dieſe Zeit beobachtet man auch
den größten ſcheinbaren Durchmeſſer deſſelben gleich 0°,553. Nach
einer halben Revolution des Mondes, während dieſe beiden Größen
immer abnehmen, bemerkt man die kleinſte ſtündliche Bewegung
zu 0°,493 und zugleich den kleinſten Durchmeſſer zu 0°,494. Da
uns nun dieſelben Größen, wenn ſie uns näher gebracht werden,
unter einem größern Winkel erſcheinen und umgekehrt, ſo glaubten
die Griechen dadurch auch ſofort jene Erſcheinung erklären zu
können. Sie nahmen daher an, daß die Erde außer dem Mittelpunkte
der kreisförmigen Mondsbahn liege, und daß der Mond, der um
den wahren Mittelpunkt dieſes Kreiſes in immerwährender gleich-
förmiger Bewegung einhergeht, zur Zeit ſeiner größten ſcheinbaren
Geſchwindigkeit, die zugleich die Zeit ſeines größten ſcheinbaren
Durchmeſſers iſt, in demjenigen Punkte ſeiner Bahn iſt, wo er
der Erde am nächſten ſteht, während er, nach einer halben Revo-
lution, zur Zeit ſeiner kleinſten Geſchwindigkeit und ſeines kleinſten
Durchmeſſers, in dem von der Erde entfernteſten Punkte ſeiner
Bahn ſtehe. Man nannte dieſe beiden Punkte die Abſiden
der Mondsbahn, und zwar jenen, wo der Mond der Erde am
nächſten ſteht, das Perigeum und den ihm entgegengeſetzten
das Apogeum des Mondes.


§. 130. (Woher dieſe Aenderungen kommen.) Wenn aber
dieſe beiden Erſcheinungen, nämlich die Veränderung der täglichen
Geſchwindigkeit und die des Durchmeſſers des Mondes, bloß von
der Veränderung der Diſtanz des Mondes von der Erde kommen
ſollen, wie die Griechen glaubten, ſo müßten ſich jene beiden
Extreme der Geſchwindigkeiten ſowohl, als auch dieſe Extreme
der Durchmeſſer, beide zugleich wie die größte und kleinſte
Diſtanz des Mondes von der Erde verhalten. Halten wir uns
nun bloß an die Geſchwindigkeiten, ſo iſt ihr Verhältniß
oder 1,2527 und dieß ſoll daher auch das Verhältniß der größten
und kleinſten Diſtanz des Mondes von der Erde in ſeinem excen-
triſchen Kreiſe ſeyn. Daſſelbe muß nun auch, wenn anders ihre
Hypotheſe richtig iſt, aus dem Verhältniſſe der beiden Durchmeſſer
folgen. Allein dieß Verhältniß iſt oder 1,1194, alſo ganz
[264]Kepler’s Geſetze.
ein anderes als zuvor, alſo iſt auch jene Vorausſetzung unrichtig,
oder die beobachteten Veränderungen der an ſich ſelbſt immer
gleichgroßen Geſchwindigkeiten des Mondes ſind nicht bloß ſchein-
bar, kommen nicht bloß von den verſchiedenen Diſtanzen des
Mondes, ſondern ſie ſind, zum Theil wenigſtens, einer andern
Urſache zuzuſchreiben, und ſie müſſen ſich daher auf eine, dem
Monde ſelbſt zukommende, ihm eigenthümliche Veränderung ſeiner
Bewegung gründen, oder mit andern Worten, die Bahn des
Mondes kann kein Kreis ſeyn, weil die Geſchwindigkeit eines in
einem Kreiſe bewegten Körpers, der Natur dieſer krummen Linie
gemäß, nicht anders als gleichförmig ſeyn kann, während hier
doch die Bewegung des Mondes um die Erde als weſentlich un-
gleichförmig erſcheint.


Daſſelbe läßt ſich auch bei der Sonne bemerken, deren Bewe-
gung um die Erde ebenfalls ſehr einfach iſt, da ſie, ſo wie der
Mond, in einem größten Kreiſe des Himmels um uns zu gehen
ſcheint. Die größte tägliche Bewegung der Sonne in Länge be-
trägt 1°,01943 und zu dieſer Zeit, gegen Ende des Dezembers, hat
auch der ſcheinbare Durchmeſſer der Sonne ſeinen größten Werth
von 0°,54321. Ein halbes Jahr ſpäter, in den erſten Tagen des
Julius, haben dieſe beiden Größen ihren kleinſten Werth, indem
dann die tägliche Geſchwindigkeit 0°,95319, und der Durchmeſſer
nur 0°,52527 beträgt. Das Verhältniß dieſer beiden Geſchwindig-
keiten iſt 1,0695 und das der beiden Durchmeſſer nur 1,0341, alſo
beide wieder verſchieden, da ſie doch, wenn jene Hypotheſe des
excentriſchen Kreiſes der Natur gemäß wäre, einander vollkommen
gleich ſeyn müßten. Auch dieſe beiden Punkte der Sonnenbahn
oder eigentlich der Erdbahn werden die Abſiden derſelben genannt,
und zwar jener, wo die Erde der Sonne am nächſten ſteht, das
Perihelium und der andere das Aphelium der Erde. Es iſt merk-
würdig, daß die Zeit, welche der Mond oder welche die Erde
braucht, von einem Endpunkte ihrer Abſidenlinie zum anderen zu
kommen, zu beiden Seiten dieſer Linie immer dieſelbe iſt; daß
dieſe beiden Punkte immer dieſelbe Declination, die eine nördlich,
die andere ſüdlich, haben, und daß endlich ihre Rectaſcenſion
immer um 180 Grade verſchieden iſt, woraus folgt, daß dieſe
beiden Punkte in der That auf einer und derſelben Grade-Linie,
[265]Kepler’s Geſetze.
der Abſidenlinie, liegen müſſen, und daß dieſe gerade bei der
Mondsbahn durch den Mittelpunkt der Erde und bei der Erdbahn
durch den Mittelpunkt der Sonne gehen muß. Daſſelbe bemerkt
man auch bei allen übrigen Planetenbahnen, deren Abſidenlinien,
den Beobachtungen zufolge, alle durch den Mittelpunkt der Sonne
gehen.


§. 131. (Verhältniſſe dieſer beiden Veränderungen.) Wir
haben alſo gefunden, daß die Verhältniſſe der Extreme der Ge-
ſchwindigkeiten dem der Durchmeſſer keineswegs gleich ſind.
Allein wenn wir dieſe Verhältniſſe etwas näher betrachten, ſo
werden wir doch ohne Mühe eine andere, ſehr wichtige Eigenſchaft
derſelben bemerken. Bei dem Monde war dieſes Verhältniß der
Geſchwindigkeiten 1,2527 und das der Durchmeſſer 1,1194, alſo das
letzte bedeutend kleiner. Allein, wenn man etwa zufällig verleitet
werden ſollte, die ſogenannten Potenzen dieſer Zahlen unter ein-
ander zu vergleichen, ſo würde man finden, daß das Quadrat der
letzten Zahl (1,1194)2 gleich 1,2529 alſo ſchon nahe gleich der erſten
Zahl iſt. Ganz daſſelbe hat auch bei der Sonne ſtatt, wo das
Verhältniß der Geſchwindigkeiten 1,0695 und das der Durchmeſſer
1,0341 betrug, und wo auch das Quadrat der letzten Zahl gleich
1,0694 oder wieder ſehr nahe gleich der erſten Zahl iſt. Um dieſe
Entdeckung, wenn es eine iſt, in Worten auszudrücken, würden
wir alſo ſagen, daß die Geſchwindigkeiten der Planeten, nicht, wie
die Alten glaubten, wie ihre Entfernungen, ſondern daß ſie ſich,
wie die Quadrate ihrer Entfernungen von der Sonne verhalten,
oder mit anderen Worten: daß das Product der Geſchwindigkeit
in das Quadrat der Entfernung bei jedem Planeten durch alle Punkte
ſeiner Bahn eine beſtändige und unveränderliche Größe ſey. Bei
der Sonne z. B. iſt dieſes Product, da man ſtatt der Entfernung
nur die Einheit dividirt durch den Durchmeſſer ſetzen darf, gleich
1,01943 dividirt durch das Quadrat von 0,54321 oder gleich 3,455 im
Perihelium, und eben ſo groß findet man dieſes Product auch im
Aphelium. Wird aber dieſelbe Erklärung auch für alle anderen
Punkte der Erdbahn, außer jenen beiden, noch wahr ſeyn? —
Dieß zu entſcheiden, iſt aber bloß Sache der Beobachtung.


§. 132. (Erſtes Geſetz Kepler’s.) Solcher Beobachtungen
ſind aber bereits eine unzählige Menge, nicht bloß bei der Sonne
[266]Kepler’s Geſetze.
und dem Monde, ſondern überhaupt bei allen Planeten angeſtellt
worden, und ſie haben alle, ohne Ausnahme, gezeigt, daß dieſes
Geſetz zwiſchen den Geſchwindigkeiten und den Entfernungen der
Planeten von der Sonne für alle dieſe Himmelskörper, und in
allen Punkten ihrer Bahnen ſtatt habe, und daß man daher, der
Analogie und der größten Wahrſcheinlichkeit gemäß, daſſelbe für
das wahre Geſetz der Natur anſehen könne. Wir werden ſogleich
ſehen, daß dieſes Geſetz, deſſen Kenntniß wir Kepler’n verdanken,
und das daher auch unter der Benennung des erſten Kepler’ſchen
Geſetzes bekannt iſt, für die ganze Theorie der Bewegung der
Planeten von der größten Wichtigkeit iſt. Es iſt, wie weiter un-
ten gezeigt werden wird, ein ganz allgemeines Geſetz, das nicht
bloß den Planeten, ſondern überhaupt allen Körpern zu Grunde
liegt, die ſich um einen feſten Punkt, als Centralpunkt ihrer Bah-
nen, bewegen.


§. 133. (Unterſuchung der wahren krummen Linie der Plane-
tenbahnen.) Indem alſo Kepler die Beobachtungen Tycho’s mit
der Hypotheſe des Copernicus verglich, nach welcher alle Planeten
in Kreiſen um die Sonne gehen, und indem er fand, daß ſich
dieſe Beobachtungen durch jene Hypotheſe nicht mit der erforder-
lichen Genauigkeit darſtellen ließen, war er gleichſam gezwungen,
irgend eine ſchickliche Aenderung jenes Syſtemes vorzunehmen,
um dadurch jene ſo wünſchenswerthe Uebereinſtimmung zu erhal-
ten. Sein Verdacht fiel gleich anfangs auf jene Kreiſe, welche
die Alten bloß aus dem Grunde eingeführt hatten, weil der Kreis,
nach ihrer Anſicht, unter allen krummen Linien die vollkommenſte,
alſo auch die der Natur angemeſſenſte, ja die ihr allein würdige
ſeyn ſollte. So wenig entſcheidend ſolche bloß metaphyſiche Ur-
ſachen für die Kenntniß der Natur, die ſich nur durch unmittel-
bare Beobachtungen erhalten läßt, auch immer ſeyn mögen, ſo
wußte ſich doch dieſe Idee bald allgemeinen Eingang zu verſchaf-
fen, und ſie blieb, bis zu dem Anfang des ſiebenzehnten Jahr-
hunderts die herrſchende Meinung nicht bloß der Menge, ſondern
auch der eigentlichen Aſtronomen. Copernicus, der ſich doch ſo
wenig von Vorurtheilen leiten ließ, daß er vielmehr ſein ganzes
Leben darauf verwendete, eines der älteſten und hartnäckigſten,
das ſich des menſchlichen Geiſtes bemeiſtert hatte, zu beſiegen,
[267]Kepler’s Geſetze.
konnte ſich doch von jener Anſicht nicht trennen, und ſo groß auch
ſein Verdienſt um die Wiſſenſchaft war, ſo beſchränkte er ſich
doch nur darauf, die von den Alten eingeführten Kreiſe anders
zu vertheilen, aber dieſe Kreiſe ſelbſt, an die er eben ſo feſt, wie
alle ſeine Vorgänger glaubte, wagte er nicht zu berühren.


Keplern fehlte dieſer Muth nicht, und er ging mit der Kraft
und der Ausdauer an ſein für jene Zeiten großes, und mit vielen
Schwierigkeiten verbundenes Werk. Es iſt hier nicht der Ort,
die Leſer durch alle die Labyrinthe von Schlüſſen und Rechnungen
zu führen, die er ſelbſt durchwandern mußte, um ſeinen Zweck zu
erreichen. Er theilte uns die Reſultate dieſer Arbeiten in ſeinem
Werke: Astronomia nova de motibus stellae Martis. Pragae
1609. Fol.
mit und die Leſer mögen in dieſem Buche ſelbſt Ge-
legenheit finden, den unverdroſſenen Muth, die unermüdliche Ge-
duld, und den immer treffenden Scharfblick zu bewundern, mit
welchem er ſich durch die weitläufigen und verwickelten Rechnun-
gen durchwindet, und ſelbſt die gute Laune und die lebhaften
Witzſpiele zu bemerken, mit welchen er ſeinen von ſo anſtrengenden
Arbeiten ermüdeten Geiſt wieder aufzuheitern ſuchte. Er ſagt
ſelbſt in einer Stelle dieſes Werkes: „Wem das Durchleſen dieſer
„mühevollen Rechnungen lange Weile macht, der mag immerhin
„Mitleid mit mir haben, der ich ſie wenigſtens ſiebenzigmal wie-
„derholen mußte, während er ſie nur einmal leſen darf.“ Und
eine einzige dieſer Rechnungen nimmt volle zehn Folioſeiten ein.
Hier wird es genug ſeyn, den Weg gezeigt zu haben, den er ging,
oder vielmehr, den er hätte gehen können, um ſein Ziel mit dem
wenigſten Aufwand von Zeit und Mühe zu erreichen.


§. 134. (Verhältniſſe der Entfernungen der Planeten von der
Sonne.) Wenn alſo die Planetenbahnen fernerhin keine Kreiſe
mehr ſeyn konnten, welche andere krumme Linie ſollte man ihnen
ſubſtituiren? — Auch dieſe Frage konnte nur durch unmittelbare
Beobachtungen entſchieden werden. Es handelte ſich dabei vor-
züglich um eine größere Anzahl von Entfernungen irgend eines
Planeten von der Sonne in verſchiedenen Punkten ſeiner Bahn.
Kannte man dieſe Entfernungen, ſo ließ ſich die Geſtalt der Bahn
auf dem Papiere vorzeichnen, und dann konnte man zuſehen, wel-
cher Art die neue krumme Linie ſeyn ſoll.


[268]Kepler’s Geſetze.

Aber woher ſollte man eine ſolche Anzahl von Entfernungen
nehmen? Die Beobachtungen Tycho’s, die Kepler ſonſt ſo gut zu
brauchen wußte, reichten dazu nicht hin. Nach vielen vergeblichen
Verſuchen konnte er endlich bemerken, daß das von ihm bereits
gefundene erſte Geſetz der planetariſchen Bewegung auch zu jenem
Zwecke die gehörigen Mittel darbot.


Nehmen wir dazu wieder die Sonne, oder vielmehr die
Erde, deren Bewegung ſich für uns ſo einfach am Himmel dar-
ſtellt, während die der andern Planeten noch durch die oben er-
wähnte zweite Ungleichheit, die bei der Erde ganz wegfällt, ver-
wickelt werden. Die Aſtronomen haben von jeher die Sonne mit
großem Fleiße beobachtet, und Tycho war hinter ihnen nicht zurück
geblieben. In ſeinen Manuſcripten fand Kepler eine große An-
zahl von beobachteten Längen, aber keine Diſtanzen derſelben von
der Erde, welche letztere er doch vorzüglich brauchte. Allein ſo
oft Tycho die Länge der Sonne in zwei zunächſt auf einander
folgenden Mittagen beobachtet hatte, war dadurch auch ſofort die
tägliche Aenderung ihrer Länge oder die tägliche Geſchwindigkeit
der Sonne für dieſen Punkt ihrer Bahn gegeben, und mehr be-
durfte er nicht, um daraus, wenn auch nicht die abſolute Diſtanz,
ſo doch die Verhältniſſe dieſer Diſtanzen unter einander abzuleiten.


Nach dem erſten Geſetze Kepler’s iſt nämlich das Produkt des
Quadrats der Diſtanz der Sonne von der Erde in die tägliche
Bewegung, für alle Punkte der Sonnenbahn, eine conſtante
Größe. Wir haben oben dieſe conſtante Größe gleich 3,455 ge-
funden. Allein wir können ſie hier, wo es ſich bloß um die
Verhältniſſe dieſer Diſtanzen handelt, am einfachſten gleich der
Einheit annehmen. Daraus folgt alſo, daß für jeden Punkt der
Sonnenbahn die Diſtanz der Sonne von der Erde gleich ſeyn
muß der Einheit, dividirt durch die Quadratwurzel der täglichen
Geſchwindigkeit der Sonne.


Betrachten wir nun einige dieſer Punkte, für das Perihelium,
wo die Länge der Sonne, von der Erde geſehen, nahe 279° iſt,
d. h. zu Ende des Dezembers jedes Jahrs würde die tägliche
Geſchwindigkeit der Sonne, wie bereits oben bemerkt, gleich
1°,01943 Grade beobachtet. Die Einheit, dividirt durch die Qua-
dratwurzel dieſer Zahl, gibt 0,9904. Wir können alſo für dieſen
[269]Kepler’s Geſetze.
Punkt der Bahn, der der Erde am nächſten liegt, die Diſtanz der
Sonne von der Erde gleich 0,9904 annehmen. Zwar kennen wir
dadurch noch nicht die wahre Diſtanz der Sonne für dieſe Zeit,
weil wir noch nicht wiſſen, auf welche Einheit ſich dieſe Zahl
0,9904 bezieht. Aber dieſe Kenntniß iſt uns auch hier nicht noth-
wendig, da wir nur die Verhältniſſe mehrerer ſolcher Diſtanzen
ſuchen, denen doch alle dieſelbe, wenn gleich noch unbekannte Ein-
heit zu Grunde liegt. Wir werden alſo mit irgend einem Maß-
ſtabe dieſe Diſtanz auf einer gegebenen Linie AB (Fig. 22) von
irgend einem Punkte S derſelben auftragen. Sey SB = 0,9904
dieſe Diſtanz, ſo iſt alſo B ein Punkt der Erdbahn und zwar der
der Sonne S nächſte Punkt dieſer Bahn.


Nach etwa 60 Tagen am 28. Februar wurde die Länge der
Sonne gleich 339° alſo 60° größer als zuvor, und zugleich die
tägliche Geſchwindigkeit derſelben gleich 1,0025 beobachtet. Dieß
gibt, nach dem erſten Kepler’ſchen Geſetze, die Diſtanz der Sonne
von der Erde gleich 0,9987 alſo um 0,0085 größer, als zuvor. Man
nehme alſo den Winkel BSP = 60° und trage auf dem einen
Schenkel deſſelben die Linie SP = 0,9987 auf, ſo wird P ein
zweiter Punkt der Erdbahn ſeyn.


Wieder nach 60 Tagen, gegen den 30. April, wo die Länge
der Sonne 39° beträgt, beobachtete man die tägliche Geſchwindig-
keit derſelben zu 0°,9694, woraus die Diſtanz 1,0156 folgt. Man
nehme daher den Winkel BSP' = 120° und trage mit demſelben
Maßſtabe auf der Linie SB' die Diſtanz SB' = 1,0156 auf, ſo
iſt B' ein dritter Punkt der Erdbahn.


Nach neuen 60 Tagen, am 2. Juli ward die Länge der Sonne
99° und die tägliche Geſchwindigkeit 0°,95319 beobachtet, daher die
Diſtanz der Sonne 1,0242 iſt. Da nun die Sonne ſeit der erſten
Epoche volle 180 Grade in Länge zurückgelegt hat, ſo wird man
auf der erſten Linie ſelbſt, aber auf der anderen Seite des Punk-
tes A, die Linie SA = 1,0242 nehmen, und A wird ein neuer
Punkt der Erdbahn ſeyn.


§. 135. (Nähere graphiſche Beſtimmung der Planetenbahnen.)


Setzt man dieſes Verfahren noch weiter für die Sonnen-
längen von 159°, 219 und 279 Graden fort, ſo findet man die-
ſelben Geſchwindigkeiten, alſo auch dieſelben Diſtanzen wieder, die
[270]Kepler’s Geſetze.
wir bereits für die Längen von 39°, 339 und 279° gefunden haben,
ſo daß man alſo die Linien SP, SP' nur um ihre Größe rück-
wärts verlängern darf, um ſofort auch die jenen Längen ent-
ſprechenden Punkte der Erdbahn unter der Linie ASB zu erhal-
ten, ſo daß überhaupt für jeden Winkel BSP über und unter
dieſer Linie ASB die Diſtanz SP immer dieſelbe iſt, zum Zeichen,
daß die geſuchte krumme Linie durch dieſe grade ASB in zwei
gleiche und ähnliche Theile getheilt wird. Um dieſe Curve mit
größerer Genauigkeit verzeichnen zu können, wird man mehrere
Punkte derſelben auf die angezeigte Weiſe z. B. von 10 oder von
5 Tagen Zeitunterſchied beſtimmen, und dann alle dieſe Punkte
mit freier Hand durch eine krumme Linie vereinigen, wodurch
man gleichſam eine getreue Abbildung der Erdbahn im Kleinen
erhält.


Um nun aus dieſer Zeichnung die Natur der krummen Linie,
welche die Erde jährlich um die Sonne S beſchreibt, näher kennen
zu lernen, wird man zuerſt den Mittelpunkt C der Graden AB
oder der Abſidenlinie ſuchen. Wir hatten aber SA = 1,0242 und
SB = 0,9904. Die halbe Summe dieſer beiden Größen gibt ſofort
CA oder auch CB = 1,0075 und die halbe Differenz derſelben
Größen gibt CS = 0,0169. Will man aber der größern Einfach-
heit wegen die Hälfte der Abſidenlinie zur Einheit aller Dimen-
ſionen annehmen, oder ſetzt man CA = CB = 1, ſo wird man
alle vorhergehenden Zahlen nur durch 1,0075 dividiren, um die
Ausmeſſungen aller Theile dieſer krummen Linie in dieſer Einheit
zu erhalten. Man bekömmt ſo CA = CB = 1, CS = 0,01677,
SB = 0,9832 und SA = 1,9268.


Die eyförmige, in der Richtung der Abſidenlinie verlängerte
Geſtalt dieſer Curve hat viele Aehnlichkeit mit derjenigen krum-
men Linie, die unter der Benennung der Ellipſe allgemein bekannt
iſt, und auf die daher jeder gleichſam von ſelbſt geführt wird.
Eine genauere Betrachtung derſelben zeigt in der That, daß dieſe
Vermuthung vollkommen beſtätigt wird.


§. 136. (Eigenſchaften der Ellipſe.) Seyen S und S' zwei
feſte Punkte in einer Ebene, an welche man die zwei Enden eines
biegſamen, aber unausdehnbaren Fadens befeſtigt, deſſen Länge
größer als die Diſtanz SS' iſt. Wenn man dieſen Faden mit
[271]Kepler’s Geſetze.
Hilfe eines Stiftes z. B. der Spitze T einer Bleifeder ſpannt,
und ſo dieſe Spitze bei immer geſpanntem Faden in jener Ebene
um die Linie SS' führt, ſo wird man dadurch eine krumme Linie
beſchreiben, welche die Eigenſchaft hat, daß für alle Punkte P
ihrer Peripherie die Summe der beiden Theile SP und SP' des
Fadens oder die Summe der beiden Diſtanzen SP und SP' immer
dieſelbe iſt. Unter dieſen Punkten ſind vorzüglich zwei merk-
würdig, nämlich die Punkte B und A, die in der Verlängerung
der Linie SS' liegen, welche jene zwei fixen Punkte verbindet. Iſt
der beſchreibende Stift in B, ſo liegt ein Theil des Fadens über
der Linie S'B und der andere über SB, er liegt alſo über SB
doppelt und die Diſtanz von S' nach B iſt gleich der Länge des
Fadens weniger dieſem Stücke SB. Kömmt dann der beſchrei-
bende Stift nach A, ſo liegt wieder ein Theil des Fadens auf der
Linie SA und der andere auf S'A; er liegt alſo hier über S'A
doppelt, und die Diſtanz von S nach A iſt wieder gleich der Länge
des Fadens weniger dieſem Stücke S'A. Da aber dieſe beiden
Poſitionen des Stiftes in nichts, als in der Lage deſſelben ver-
ſchieden ſind, indem er einmal rechts und dann links von SS'
ſtand, ſo müſſen auch die beiden Stücke SB und S'A, wo der
Faden in beiden Fällen doppelt lag, einander gleich ſeyn. In
der erſten Lage waren die beiden Theile des Fadens S'B und SB
das heißt alſo S'B und S'A oder gleich AB, und in der zweiten
Lage waren dieſe Theile SA und S'A das heißt SA und SB alſo
wieder gleich AB. Daraus folgt alſo, daß die zwei äußerſten
Punkte A und B, in welchen der beſchreibende Stift die verlän-
gerte, durch die beiden fixen Punkte gehende Linie SS' trifft, um
die ganze Länge des Fadens von einander entfernt ſind, und daß
daher auch die Summe der Diſtanzen eines jeden andern Ortes
P des beſchreibenden Stiftes von ihren beiden fixen Punkten gleich
derſelben Diſtanz AB jener beiden äußerſten Punkte iſt.


Die krumme Linie, welche auf dieſe Art von dem Stifte be-
ſchrieben wird, nennt man eine Ellipſe. Man ſieht, daß ſie einem
Kreiſe deſto näher kömmt, je näher die beiden fixen Punkte S
und S' an einander genommen werden. Verſetzt man endlich
dieſe beiden Punkte S und S' in die Mitte C der Linie SS', ſo
geht die Ellipſe ganz in einen Kreis über, weil dann die beiden
[272]Kepler’s Geſetze.
Diſtanzen PS und PS' für alle Punkte P immer dieſelben, und
zwar gleich der Hälfte des Fadens oder gleich CP, d. h. gleich
dem Halbmeſſer des Kreiſes werden.


Man nennt in der Ellipſe jene beiden fixen Punkte S und S'
die Brennpunkte, die erwähnten äußerſten Punkte B und A
aber die Scheitel und ihre Diſtanz AB endlich die große
Axe
der Ellipſe. Theilt man die Linie SS' oder was daſſelbe
iſt, die Linie AB in dem Punkte C in zwei gleiche Theile, ſo
heißt C der Mittelpunkt und CS = CS' die Excentri-
cität
. Errichtet man durch dieſen Punkt C eine auf die große
Axe AB ſenkrechte Linie, ſo iſt der Theil derſelben, der zu beiden
Seiten von AB durch die krumme Linie begränzt wird, die kleine
Axe
der Ellipſe. Da für die Endpunkte dieſer kleinen Axe die
beiden Theile SP und S'P einander gleich, alſo auch jeder dieſer
Theile gleich der halben kleinen Axe ſind, ſo iſt die Summe der
Quadrate der Excentricität und der halben kleinen Axe gleich dem
Quadrate der halben großen Axe, ſo daß daher, wenn zwei von
dieſen drei Größen bekannt ſind, auch ſo fort die dritte derſelben
gegeben iſt. Endlich nennt man die Diſtanz PS oder PS' eines
jeden Punktes P der Ellipſe von einem der beiden Brennpunkte
derſelben den Radius Vector dieſes Punktes.


§. 137. (Zweites Geſetz Keplers.) Kepler hatte alſo gefun-
den, daß die jährliche Bahn der Erde eine Ellipſe iſt, in deren
einem Brennpunkte der Mittelpunkt der Sonne liegt. Es war
wohl ſehr natürlich, zu vermuthen, daß daſſelbe auch bei den
übrigen Planeten nicht anders ſeyn werde, und dieſe Vermuthung
wurde bald durch die darüber angeſtellten Rechnungen vollkommen
beſtätigt. Dadurch war das zweite Geſetz Keplers gefunden,
nach welchem ſich alſo alle Planeten in Ellipſen bewegen, deren
einen, allen dieſen Bahnen gemeinſchaftlichen, Brennpunkt der
Mittelpunkt der Sonne einnimmt.


Es war nun nur noch übrig, dieſe ſchöne und wichtige Ent-
deckung anzuwenden und zu zeigen, wie man nun nach ihr die
Bewegung der Planeten berechnen ſoll, um ſie mit den Beobach-
tungen zu vergleichen, oder mit andern Worten: es handelte ſich
um die neue Theorie der planetariſchen Bewegung, da die alte,
welche die Planetenbahnen kreisförmig vorausſetzte, was ſie nicht
[273]Kepler’s Geſetze.
ſind, nicht weiter beibehalten werden konnte. Allein dabei zeigte
ſich ſogleich eine neue und nicht geringe Schwierigkeit. In dem
Ptolemäiſchen ſowohl als in dem Copernicaniſchen Syſteme hing
dieſe Theorie, wie wir oben (§. 115) geſehen haben, bloß von
zwei Dingen ab: von der Epoche oder von der heliocentriſchen
Länge des Planeten zu einer gegebenen Zeit, und von der Um-
laufszeit oder der täglichen Bewegung deſſelben. Denn da die
Bewegung in Kreiſen nicht anders als gleichförmig ſeyn kann, ſo
reichten dieſe beiden Elemente, ſo lange man die Neigung der
Planetenbahnen nicht berückſichtiget, vollkommen hin, den helio-
centriſchen Ort des Planeten für jede andere Zeit zu beſtimmen,
aus welcher man dann (nach §. 114 oder 120) den geocentriſchen
Ort deſſelben durch Rechnung ableiten, und ihn mit den unmit-
telbaren Beobachtungen vergleichen konnte.


Allein in dem neuen, von Kepler entdeckten, Planetenſyſtem
fallen die Kreiſe, und mit ihnen alle gleichförmigen Bewegungen
der Planeten, weg. Jeder Planet bewegt ſich, wie wir oben bey
der Erde geſehen haben, am ſchnellſten in ſeinem Perihelium
B, wo er der Sonne S in dem einen Brennpunkte ſeiner Bahn,
am nächſten iſt. Von dieſem Punkte an entfernt ſich der Planet
immer weiter von der Sonne, während ſeine Geſchwindigkeit re-
gelmäßig wie verkehrt das Quadrat dieſer Entfernung abnimmt,
bis er endlich im ApheliumA am weiteſten von der Sonne
abſteht, und zugleich ſeine kleinſte Geſchwindigkeit hat. Nach
dem Durchgange durch ſein Aphelium nimmt die Entfernung von
der Sonne wieder eben ſo ab, und ſeine Geſchwindigkeit eben ſo
zu, wie jene in der erſten Hälfte ſeiner Bahn zu- und dieſe ab-
genommen hat, bis er endlich, nachdem er ſeinen ganzen Um-
lauf um die Sonne vollendet hat, mit derſelben Geſchwindigkeit
wieder in ſeinem Perihelium B ankömmt, mit welcher er von
demſelben ausgegangen iſt.


§. 138. (Beſtimmung der Bewegung in der Ellipſe.) Wie
ſoll man nun bey einem Körper, deſſen Bewegung, ihrer Größe
und Richtung gegen die Sonne nach, in jeder Secunde eine an-
dere iſt, angeben können, welchen Ort er für jeden gegebenen
Augenblick in ſeiner Bahn einnehmen wird?


Die Auflöſung dieſes Problems iſt von der größten Wichtig-
Littrow’s Himmel u. ſ. Wunder I. 18
[274]Kepler’s Geſetze.
keit, da ſich ohne ſie eine eigentliche Theorie der Planeten in dem
neuen Syſteme nicht einmal denken läßt. Sie iſt aber ſo lange
als ganz unmöglich zu betrachten, als man nicht in dieſer Be-
wegung der Planeten irgend etwas aufgefunden hat, von dem
dieſe ungleichförmige Bewegung abhängt, und das ſelbſt ſich
gleichförmig, oder mit der Zeit proportional, ändert, ſo daß man
das letzte, wie etwa in dem ältern Syſteme, durch eine einfache
Addition (§. 115) finden, und dann daraus das erſte durch
irgend eine Rechnung ableiten kann. Wäre z. B. die Zeit be-
kannt, wann der Planet, von der Sonne geſehen, durch ſein Pe-
rihelium B gegangen iſt, und wüßte man, daß der Bogen B P,
den er in ſeiner Ellipſe um die Sonne beſchreibt, es iſt, der im-
mer gleichförmig oder proportional mit der Zeit zunimmt, ſo
würde es nicht mehr ſchwer ſeyn, den heliocentriſchen Ort des
Planeten in ſeiner Bahn für jeden andern Augenblick anzugeben.
Denn wenn die große Axe A B und die Excentricität CS der El-
lipſe bekannt iſt, ſo kann man daraus auch die Größe ihrer Pe-
ripherie finden, und dieſe, durch die bekannte Umlaufszeit des
Planeten dividirt, würde ſofort auch denjenigen Theil ſeiner Pe-
ripherie, oder den elliptiſchen Bogen geben, welchen der Planet
in dem Laufe eines jeden Tages zurücklegt. Iſt alſo die Zeit,
für welche man den Ort des Planeten ſucht, z. B. hundert Tage
nach ſeinem Durchgange durch ſein Perihelium, ſo wird man nun
jenen Bogen hundertmal nehmen, und dadurch den Bogen B P
kennen, aus welchem ſich dann durch Rechnung auch die Entfer-
nung P S des Planeten von der Sonne, oder ſein Radius Vec-
tor, und der Winkel B S P, oder die Neigung ſeines Radius Vec-
tor’s gegen die große Axe S B finden laſſen wird. Iſt endlich der
Winkel, welchen dieſe Linie S B mit der Nachtgleichenlinie macht,
oder iſt die Länge des Periheliums B bekannt, ſo wird man nur
dieſe Länge des Periheliums zu jenem Winkel B S P addiren, um
ſofort auch die heliocentriſche Länge des Planeten zu erhalten.
Dadurch aber, durch die Länge des Planeten und durch ſeinen
Radius Vector, iſt der Ort deſſelben in der Ellipſe vollkommen
beſtimmt.


Allein dieſes Verfahren kann nicht zugelaſſen werden, weil
die Bewegung der Planeten keineswegs ſo, wie hier vorausgeſetzt
[275]Kepler’s Geſetze.
wurde, vor ſich geht, daß nämlich die Bogen der Ellipſe in
gleichen Zeiten gleich viel wachſen. Dieſe Vorausſetzung ſteht ſo-
gar mit dem bereits oben gefundenen erſten Geſetze Kepler’s in
directem Widerſpruch. Denn ſey z. B. P t (Fig. 22) der Bo-
gen, welchen der Planet in der Ellipſe, oder auch in jeder andern
krummen Linie, während einer ſehr kurzen Zeit, z. B. während
einer Secunde, beſchreibt. Da dieſe Punkte P und t ſehr nahe
bei einander liegen, ſo wird man dieſen kleinen Bogen T t im-
mer als den Bogen eines Kreiſes anſehen können, deſſen Mittel-
punkt in S iſt. Der Fehler, den man dabei begeht, wird deſto
kleiner ſeyn, je näher jene Punkte an einander liegen, und wir
können ſie ſo nahe als nur immer möglich annehmen, da es für
unſern Schluß ganz gleichgültig iſt, ob dieſer Bogen P t von dem
Planeten in einer Secunde, oder in dem tauſendſten Theil einer
Secunde, beſchrieben wird. Iſt aber P t ein Kreisbogen, deſſen
Halbmeſſer S t oder S P = r iſt, und nennt man v den Winkel
P S t, zu welchem jener Bogen gehört, ſo iſt bekanntlich jener
Bogen ſelbſt gleich dem Producte der beiden Größen r und v,
und dieſes Product kann, in der Bewegung der Planeten, keine
conſtante Größe ſeyn, weil, nach dem erſten Geſetze Keplers, erſt
das Product des Quadrats von r in v eine ſolche conſtante Größe
iſt. Dadurch fällt alſo jene ganze Vorausſetzung als unſtatthaft
von ſelbſt weg.


Wenn aber für jeden ſehr kleinen Bogen P t der Ellipſe, oder
überhaupt für jede krumme Linie, das Product der Größe r in v
gleichſam das ſinnliche Bild dieſes Bogens P t iſt, ſollte man
nicht auch ein ähnliches Bild für das andere Product, und eben
dadurch vielleicht jene gleichförmig ſich ändernde Größe, die wir
eigentlich ſuchen, erhalten können?


§. 139. (Anderer Ausdruck des erſten Geſetzes.) Es iſt allge-
mein bekannt, daß die Oberfläche eines jeden geradlinigen Drei-
ecks gleich iſt dem halben Producte der Baſis deſſelben in ſeine
Höhe oder in die ſenkrechte Linie, welche man aus dem Scheitel
des Dreiecks auf die Baſis deſſelben herabgelaſſen hat. Nun
kann das Dreieck S t P immerhin, und ohne allen merklichen
Fehler, als ein geradliniges Dreieck angeſehen werden. Zwar iſt
die Baſis P t, unſer oben betrachteter Bogen, eigentlich eine
18 *
[276]Kepler’s Geſetze.
krumme Linie, aber da es, wie bereits geſagt, von unſerer Will-
kühr abhängt, die beiden Endpunkte P und t dieſer Baſis ſo
nahe, als nur immer möglich, an einander zu rücken, ſo wird
endlich die Krümmung derſelben ganz unmerklich werden, und für
jede auch noch ſo genaue Betrachtung gänzlich verſchwinden müſſen.
Für dieſen Fall wird aber auch die Höhe des Dreiecks, oder das
Loth von ſeiner Spitze S auf dieſe Baſis P t, ganz mit den bei-
den Seiten S t oder S P zuſammen fallen, und daher, ebenfalls
ohne allen merklichen Fehler, gleich r ſeyn müſſen. Da nun die
Baſis dieſes Dreyecks S P t oder der Bogen P t, nach dem Vor-
hergehenden, gleich dem Producte von r in v, und da die Höhe
deſſelben Dreiecks gleich r iſt, ſo wird auch die Fläche deſſelben,
wie das jedes andern Dreiecks, gleich dem halben Producte
des Quadrats von r in v, oder gleich ½ r r v ſeyn. Dieſes letzte
Product aber iſt, nach dem erſten Kepler’ſchen Geſetze, in allen
planetariſchen Bewegungen eine conſtante Größe, alſo iſt auch
die Fläche, welche der Radius Vector der Planeten
in jeder ſehr kleinen Zeit beſchreibt, ebenfalls eine
ſolche conſtante Größe
.


Die Planeten bewegen ſich alſo um die Sonne ſo, daß in
jedem Punkte ihrer Bahnen die Flächen B p S, P t S, A a S..,
welche der Radius Vector während einem Augenblicke beſchreibt,
immer von derſelben Größe ſind. In dem nächſtfolgenden,
eben ſo langen Augenblicke, in der nächſtfolgenden Secunde
z. B. wird alſo die neue Fläche wieder eben ſo groß ſeyn,
wie zuvor, und da dieß von allen folgenden Secunden gilt, ſo
wird es auch von allen folgenden, nur gleichgroßen Zeiträumen
von 60 Secunden, d. h. von allen Minuten, und eben ſo von
allen Stunden, Tagen u. ſ. w. gelten, und man wird daher jenen
Satz kurz ſo ausdrücken können: Die Flächen des Radius
Vectors verhalten ſich wie die Zeiten, in welchen
ſie beſchrieben werden
. Dieſer Satz iſt, wie man ſieht,
eine unmittelbare Folge des erſten Kepler’ſchen Geſetzes, oder er
iſt vielmehr dieſes Geſetz ſelbſt, nur anders ausgedrückt. Auch
hat es Kepler unter dieſer zweiten Geſtalt bekannt gemacht, un-
ter welcher es auch in die Wiſſenſchaft übergegangen iſt.


Dadurch iſt alſo jene gleichförmige Bewegung in den Pla-
[277]Kepler’s Geſetze.
netenbahnen gefunden, an welche wir nun die ungleichförmige
Bewegung der Planeten ſelbſt anknüpfen können.


Man erhält nämlich die Oberfläche der ganzen Ellipſe, wenn
man den vierten Theil des Products ihrer großen und kleinen
Axe in die bekannte Ludolph’ſche Zahl 3,14159 multiplicirt, welche
die Peripherie eines Kreiſes ausdrückt, deſſen Durchmeſſer gleich
der Einheit iſt. Da nun dieſe Fläche von dem Radius Vector
gleichförmig beſchrieben wird, ſo wird man nur die Fläche der
ganzen Ellipſe durch die bekannte Umlaufszeit des Planeten di-
vidiren, um ſofort denjenigen Theil dieſer Fläche zu erhalten,
welchen der Radius Vector des Planeten in jedem einzelnen Tage
zurücklegt. Iſt alſo die Zeit des Durchgangs des Planeten durch
ſein Perihelium B gegeben, und ſein Ort P für irgend eine an-
dere Zeit, die z. B. hundert Tage nach jenem Durchgang fällt,
zu ſuchen, ſo wird man die bereits bekannte, tägliche Fläche deſ-
ſelben hundertmal nehmen, wodurch demnach die Fläche des ellip-
tiſchen Sectors B S P gegeben iſt. Iſt aber dieſe Fläche B P S
bekannt, ſo reduzirt ſich dann die Aufgabe, den Ort des Planeten
für jede Zeit zu finden, auf das einfache, geometriſche Problem,
für jede gegebene Fläche B P S eines elliptiſchen Sectors, ſowohl
den Winkel B S P als auch den Radius Vector S P zu finden,
welcher zu dieſem Sector gehört.


§. 140. (Anwendung dieſes Geſetzes auf die Bewegung der
Planeten; mittlere und wahre Planeten.) Es kann nicht unſere
Abſicht ſeyn, hier die umſtändliche Auflöſung dieſes geometriſchen
Problems zu geben. Das Folgende wird genügen, um wenigſtens
den Weg kennen zu lernen, welchen man dabey einſchlagen muß.


Man denke ſich einen um S (Fig. 23) als Mittelpunkt beſchrie-
benen Kreis, deſſen Halbmeſſer S A' = S B' gleich der halben gro-
ßen Axe C B = C A der Ellipſe iſt. In dieſem Kreiſe bewege
ſich ein Punkt M gleichförmig und ſo, daß er mit dem wahren
Planeten, der in der Peripherie der Ellipſe einher geht, immer
zu gleicher Zeit durch die große Axe A B derſelben, zu beiden
Seiten des Punktes S, geht. Wenn alſo der Planet im Perihe-
lium B iſt, ſo iſt jener Punkt in B', und die Fläche des ellipti-
ſchen Sectors, ſo wie der Bogen dieſes Kreiſes, die beide von
[278]Kepler’s Geſetze.
der Linie S B B' gezählt werden, ſind hier beide gleich Null.
Wenn aber nach einer halben Revolution der Planet in der El-
lipſe nach A, und jener Punkt in der Peripherie ſeines Kreiſes
nach A' kömmt, ſo iſt die von dem Radius Vector in der Zwiſchenzeit
beſchriebene Fläche des elliptiſchen Sectors genau die Hälfte von
der Fläche der ganzen Ellipſe, ſo wie auch der von jenem Punkte
beſchriebene Bogen B' M A' genau die Hälfte der ganzen Peri-
pherie ſeines Kreiſes iſt. Und daſſelbe Verhältniß zwiſchen dieſer
Fläche des Sectors und dem Bogen des Kreiſes wird auch für
jede andere Zeit ſtatt haben, weil beide, nach der vorhergehenden
Vorausſetzung, gleichförmig wachſen, und weil beide von der
Linie S B B' an gezählt werden. Iſt alſo ſeit jener Epoche, wo
der Planet durch ſein Perihelium B ging, z. B. der zwanzigſte
Theil der Umlaufszeit verfloſſen, und iſt P B S ebenfalls der zwan-
zigſte Theil der Fläche der ganzen Ellipſe, ſo wie B' M der zwan-
zigſte Theil des Umfangs des Kreiſes, oder endlich, was daſſelbe
iſt, der Winkel B' S M der zwanzigſte Theil von 360 Graden, ſo
wird der Planet in P und jener Punkt zu derſelben Zeit in M
ſeyn. Man ſieht demnach, daß man ſtatt jenes elliptiſchen Sec-
tors den Winkel B' S M dieſes Punktes ſubſtituiren kann, und daß
unſer Problem ſich eigentlich darauf reduzirt, aus dem gegebenen
Winkel B' S M jenes Punktes den Winkel B S P und den Radius
Vector S P des Planeten zu finden.


Was nun den heliocentriſchen Ort dieſes Punktes M betrifft,
ſo wird er ganz ſo, wie der nach den ältern Syſtemen in einem
Kreiſe ſich bewegende Planet für jede gegebene Zeit ohne Mühe
gefunden werden können. Man wird nämlich, wenn man die
Zeit kennt, wo der Punkt in B' durch die Linie S B' ging, und
wenn überdieß die Umlaufszeit dieſes Punktes in ſeinem Kreiſe,
die mit der Umlaufszeit des Planeten in ſeiner Ellipſe identiſch
iſt, bekannt iſt, den Ort des Punktes M in der Peripherie ſeines
Kreiſes durch eine einfache Addition beſtimmen, ganz ſo, wie
wir oben (§. 115) in der einfachen Kreishypotheſe für die dort
ebenfalls gleichförmig bewegten Planeten verfahren ſind. Man
nennt daher auch dieſen Punkt den mittleren Planeten,
während der eigentliche Planet, im Gegenſatze mit jenem, der
wahre genannt wird. In der That iſt auch, weil die Umlaufs-
[279]Kepler’s Geſetze.
zeiten beider um den Punkt S, oder um die Sonne, einander
gleich ſind, die durch ſeine ganze Bahn gleichförmige Geſchwin-
digkeit dieſes mittleren Planeten gleich dem Mittel aus allen
verſchiedenen Geſchwindigkeiten des wahren Planeten.


Es iſt alſo, wie man ſieht, ſehr leicht, den Winkel B' S M
des mittleren Planeten für jede gegebene Zeit zu finden, und es
handelt ſich nur noch darum, wie man, wenn m gegeben iſt,
auch den Winkel B S P und den Radius Vector S P = r des
wahren Planeten für dieſelbe Zeit finden ſoll. Man nennt aber
den Winkel B' S M oder m die mittlere Anomalie und den
Winkel B S P oder v die wahre Anomalie des Planeten.


§. 141. (Gleichung der Bahn und elliptiſcher Radius Vector.)
Ohne uns hier in eine ſtrenge Auflöſung dieſes Problems ein-
zulaſſen, wird es hinreichen, zu zeigen, wie man dieſe Auflöſung
bei allen jenen Ellipſen leicht und mit hier hinlänglicher Genauig-
keit finden kann, deren Excentricität C S gegen ihre halbe große
Axe C B ſehr klein iſt, ein Fall, der in der That bei allen Pla-
neten, beſonders bei den ſieben älteren, ſtatt hat. Bezeichnet man
alſo dieſes Verhältniß in jeder Ellipſe durch e, ſo iſt die
wahre Anomalie v immer gleich der mittleren m mehr dem dop-
pelten Producte der Größe e in den Sinus von m, und der Ra-
dius Vector r iſt immer gleich der halben großen Axe, weniger
dem Producte dieſer Halbaxe in die Größe e und in den Coſinus
von m, wobei dieſe Winkel m und v ohne Unterbrechung von 0°
bis 360° gezählt werden. Demnach beſteht alſo die Bewegung
jedes Planeten aus zwei Theilen. Der erſte iſt gleichförmig, ge-
hört gleichſam dem Kreiſe an und iſt auch ganz derſelbe, den
wir ſchon in dem vorhergehenden Kapitel betrachtet haben. Der
andere aber iſt ungleichförmig, gehört der Ellipſe an, und iſt
gleich 2 e Sin m. Man nennt dieſen zweiten Theil die Gleichung
der Bahn
, und ſie wird mit ihren Zeichen zur mittleren Länge
des Planeten geſetzt, um die wahre oder elliptiſche Länge
deſſelben in der Bahn zu erhalten. Eben ſo iſt die wahre oder
elliptiſche Diſtanz des Planeten von der Sonne, oder ſein Radius
Vector, aus zwei ähnlichen Theilen zuſammengeſetzt, davon der
[280]Kepler’s Geſetze.
erſte gleich der halben großen Axe a, und der andere gleich
dem Producte dieſer Halbaxe in die Größe a e Cos m iſt.


§. 142. (Elemente der Planetenbahnen.) Um dieſe Rech-
nungen auszuführen, muß man alſo, nebſt den bereits oben
(§. 121) angeführten vier Elementen, noch zwei andere kennen,
nämlich die ExcentricitätC S, oder, da die halbe große Axe C A
ſchon bekannt iſt (§. 100), das Verbältniß e dieſer Excentricität
zur großen Halbaxe, und die Lage dieſer Axe, oder, was daſſelbe
iſt, die Länge des PeriheliumsB. Iſt nämlich A S V
(Fig. 23) die Knotenlinie der Bahn mit der Ecliptik (§. 117),
alſo A der aufſteigende Knoten, von welchem ſich der Planet
über die Ecliptik, gegen Norden, erhebt, und nimmt man von
dieſem Punkt A, in der Ebene der Bahn, wie in §. 118, den
Winkel A V S eben ſo groß, als derſelbe Punkt A von dem Früb-
lingsnachtgleichenpunkte, in der Ebene der Ecliptik abſteht, ſo iſt
V S B die Länge des Periheliums. Die folgende Tafel enthält
dieſe beiden Elemente zugleich mit den vier erſten (aus §. 100,
116 und 117), die hier zur bequemen Ueberſicht zuſammenge-
ſtellt, und ſämmtlich auf den mittleren Pariſer Mittag des 1ſten
Januars 1810 gebracht ſind.


[281]Kepler’s Geſetze.

Dieſe Tafel gibt zugleich die Aenderung der Länge des Knotens und des Peribeliums fuͤr 100 Jahre,
von der Epoche 1810 gerechnet. Zwar iſt auch die Neigung und die Größe e ähnlichen Veränderungen un-
terworfen, ſie ſind aber ſo klein, daß ſie hier ganz übergangen werden können.


[282]Kepler’s Geſetze.

§. 143. (Berechnung des elliptiſchen Orts der Planeten.)
Dieſe Tafel iſt hinreichend, den heliocentriſchen Ort der Planeten
für jede gegebene Zeit zu finden. Suchen wir z. B. wieder, wie
in §. 119, den heliocentriſchen Ort Saturns für den 12. Novem-
ber 1835. Die Tafel gibt die Epoche für den Anfang des Jahres
1810 gleich 244°,6255. Das Intervall zwiſchen dieſen beiden Zei-
ten beträgt 25 Jahre, zu 365 Tagen, und 316 Tage, wozu noch
die 6 Schalttage gezählt werden müſſen, alſo 25 gemeine Jahre
und 322 Tage.


Nach derſelben Tafel iſt die tägliche tropiſche Bewegung
Saturns 0°,03350, die daher in einem gemeinen Jahre 12°,2372,
und in 25 ſolchen Jahren 305°,6875, und endlich in 322 Tagen
10°,7870 beträgt. Wir haben daher


  • 1810 . . . 244°,6255
  • 25 Jahre . . 305°,6875
  • 322 Tage . 10°,7870
  • 561°,10000 oder 201°,10000

oder die Länge Saturns in der Bahn iſt für die geſuchte Zeit
gleich 201° 6′,0, wie §. 119. Eben ſo iſt die Länge k des auf-
ſteigenden Knotens für 1810 gleich 112° 0′,92, und die Verän-
derung in 25 Jahren 11′,4, alſo für die geſuchte Zeit k = 112°
12′, und die Neigung n = 2° 29′,6 wie dort. Endlich iſt die
halbe große Axe der Bahn 9,53781, und mit dieſen Daten haben
wir oben (§. 119) in der Kreishypotheſe das Argument der Breite
und die beliocentriſche Länge l des Planeten in der Ecliptik, und
ſeine heliocentriſche Breite b geſucht. In unſerer gegenwärtigen
elliptiſchen Hypotheſe werden wir nun zuerſt die Länge des Peri-
heliums von der Länge des Planeten in der Bahn ſubtrahiren,
wodurch wir die mittlere Anomalie m erhalten. Es iſt aber die
Länge des Perihels für 1810 gleich 89° 15′,18, und die Aende-
rung deſſelben für 25 Jahre 28′,92, alſo die Länge des Perihels
für die geſuchte Zeit 89° 44′,10, und daher die mittlere Anomalie
m = 111° 21′,9. Sucht man damit, und mit der Größe e =
0,0562, die wahre Anomalie v und den Radius Vector r Saturns,
ſo findet man 2 e Sin m, auf Bogen gebracht, gleich 5° 49′, und
a e Cos m = 0,19315, ſo daß daher die wahre Anomalie des Pla-
[283]Kepler’s Geſetze.
neten v = m + 5° 49′ = 117° 11′, und der Radius Vector
r = 9,7330 iſt. Addirt man dann zu der wahren Anomalie die
Länge des Perihels, und ſubtrahirt von dieſer Summe die Länge
des Knotens, ſo erhält man das Argument der Breite u = 94°
43′, wie §. 119, daher man dann aus dieſen Größen, ſo wie
dort, die heliocentriſche und geocentriſche Länge und Breite erhal-
ten wird, weil wir dort ſchon auf die erſt hier gefundene Verbeſ-
ſerung von 5° 49′ Rückſicht genommen haben. Die Aenderung,
welche durch die elliptiſchen Hypotheſen in jenen Rechnungen ein-
geführt wird, bezieht ſich alſo bloß auf die Correction, welche
das Argument u der Breite und der Radius Vector r erhält,
während alles übrige ungeändert bleibt.


Das Vorhergehende wird genügen, das Verfahren, welches
die Aſtronomen bei ihren Berechnungen der Planeten beobachten,
wenigſtens im Allgemeinen kennen zu lernen. Uebrigens iſt in
dieſer elliptiſchen Hypotheſe die Uebereinſtimmung der Berechnun-
gen mit den Beobachtungen ſo groß, daß ſie mit den Reſul-
taten der älteren Aſtronomen in keine weitere Vergleichung ge-
bracht werden kann, und daß eben dieſe Uebereinſtimmung von
beinahe zahlloſen Beobachtungen mit der neuen Theorie der beſte
Beweis für die Wahrheit der letzteren iſt.


§. 144. (Einrichtung der Planetentafeln.) Um die vielen
Additionen zur Erhaltung der mittleren Länge der Planeten in
der Bahn zu vermeiden, hat man die mittleren Bewegungen
derſelben in Tafeln gebracht. Es wird nicht unangemeſſen
ſeyn, von der Einrichtung und dem Gebrauche dieſer Tafeln hier
kurz Nachricht zu geben. Sie enthalten zuerſt die Epochen der
mittleren Länge der einzelnen Jahre für den Mittag Wiens, und
zwar für den 1. Januar deſſelben, wenn es ein Schaltjahr, und
für den 31. December des vorhergehenden Jahres, wenn das ge-
genwärtige ein gemeines Jahr iſt. Hätten nämlich beide Gat-
tungen von Jahren einerlei Epoche, ſo würde man, da der Schalt-
tag am Ende des Februars angebracht wird, in Schaltjahren
alle zehn folgenden Monate des Jahres einen Tag mehr nehmen,
da man im Gegentheile jetzt, wo die Epoche des Schaltjahrs
ſchon einen Tag mehr hat, bloß in den beiden erſten Monaten
einen Tag weniger zu nehmen braucht, um dieſelbe Tafel für
[284]Kepler’s Geſetze.
beide Jahresarten zu benützen. Ueberdieß geben dieſelben Tafeln
auch die Epochen der mittleren Längen für den 0ten Tag eines
jeden Monats, d. b. für den letzten Tag des vorhergehenden Mo-
nats, und endlich die Bewegung der Planeten für die einzelnen
Tage. Dadurch iſt man in den Stand geſetzt, die mittlere
Länge des Planeten in der Bahn für jede gegebene Zeit eben ſo
ſicher als bequem zu erhalten. Um aber auch die oben (§. 143)
erwähnten beiden veränderlichen Theile der Bewegung und des
Radius Vectors des Planeten zu beſtimmen, fügt man dieſen Ta-
feln noch zwei andere bei, von welchen die erſte die Gleichung
der Bahn
, und die zweite die eben dort erwähnte elliptiſche
Correction des Radius Vectors gibt. Setzt man dieſe beiden
Größen, die erſte zur mittleren Länge, und die zweite zur halben
großen Axe, ſo erhält man die wahre Länge des Planeten in
ſeiner Bahn, und ſeine wahre oder elliptiſche Diſtanz von der
Sonne, aus welcher man dann wieder, wie in §. 119, das Ar-
gument der Breite, die heliocentriſche Länge in der Ecliptik, die
heliocentriſche Breite, und daraus, nach §. 120, auch den geocen-
triſchen Ort des Planeten für jede gegebene Zeit ableiten wird.


Hier folgen ſolche abgekürzte Tafeln der Sonne und der
Venus für den Mittag von Wien.


[285]Kepler’s Geſetze.
[286]Kepler’s Geſetze.

§. 145. (Erläuterung und Gebrauch dieſer Tafeln.) In die-
ſen Tafeln ſind die Schaltjahre durch * bezeichnet. Sucht man
in einem Schaltjahre den Ort der Sonne oder der Venus für
irgend einen Tag der beiden erſten Monate des Jahres, ſo nimmt
man immer einen Tag weniger, oder man geht z. B. in die
Tafel mit dem 7ten Februar ein, wenn man eigentlich die Länge
der Sonne für den 8. Februar ſucht.


Hat man ſo die mittlere Länge gefunden, ſo ſubtrahirt man
[287]Kepler’s Geſetze.
von ihr bei der Sonne 100°,064, und bei der Venus 309°,178,
wodurch man die ſogenannten mittleren Anomalien dieſer bei-
den Himmelskörper erhält, wo man ſodann mit den ſo erhaltenen
Zahlen als Argument in die zwei letzten Täfelchen eingeht,
welche die Gleichung der Bahn und die Correction des Radius
Vectors geben. Die Gleichung der Bahn iſt poſitiv, wenn das
Argument größer als 180° iſt, oder ſie iſt poſitiv im 3ten und
4ten Quadranten, und negativ im 1ſten und 2ten. Die Correction
des Radius Vectors aber iſt poſitiv im 1ſten und 4ten, und ne-
gativ im 2ten und 3ten Quadranten, und dieſe letzte Correction
wird mit ihrem Zeichen bei der Sonne zu 1, und bei der Venus
zu 0,7233 geſetzt. Vermehrt man endlich die ſo gefundene, wahre
Länge der Sonne um 180°, ſo erhält man die wahre Länge der Erde.


Ein Beiſpiel wird den Gebrauch dieſer Tafeln deutlich
machen. Man ſuche den Ort der Sonne und der Venus für den
25. Mai 1835 im Mittag Wiens.


Für die Sonne hat man

  • 1
  • mittl. Länge ☉ = 62°,308 Corr. des Rad. Vect. + 0,0133
  • Gleichung d. Bahn + 1°,159 ellipt. Rad. Vector 1,0133
  • wahre Länge ☉ 63°,467
  • 180
  • wahre Länge ♁ 243°,467

Für die Venus hat man eben ſo

  • 0,7243
  • mittl. Länge ♀ 337,921 Corr. des Rad. Vect. + 0,0044
  • Gleichg. d. Bahn — 0,375 ellipt. Radius Vector 0,7977
  • wahre hel. Länge ♁ 337,346 in der Bahn.

[288]Kepler’s Geſetze.

Sucht man daraus die wahre Länge der Venus in der Eclip-
tik, ſo findet man, da die Länge des aufſteigenden Knotens 75°
10′,5, und die Neigung der Bahn 3° 23′,5 iſt, nach den in §. 119
angeführten Ausdrücken


  • hel. Länge ♀ in der Ecliptik _ _ 337° 19′,7
  • und hel. Breite _ _ 3° 21′,6 ſüdl.

Will man endlich aus dieſen heliocentriſchen Orten der Erde
und der Venus den geocentriſchen Ort der Venus finden, ſo hat
man, nach den Ausdrücken des §. 120, r' = 0,72646 und C =
l — L
= 93° 51′,7, woraus man ſofort erhält λ — L = 145°
41′,5, und daher iſt die geſuchte


  • geoc. Länge der Venus λ = 29° 9′,5
  • und die geoc. Breite 1° 54′,9 ſüdl.

§. 146. (Drittes Geſetz Kepler’s.) Die zwei erwähnten Ent-
deckungen Kepler’s lehrten uns, daß alle Planeten, alſo auch
die Erde, ſich in Ellipſen bewegen, in deren einem Brennpunkte
die Sonne iſt, und ſie zeigten uns zugleich das Geſetz, nach
welchem ſich jeder dieſer Himmelkörper in ſeiner elliptiſchen Bahn
bewegt, indem nämlich die Flächenräume, welche ſein Radius
Vector durchläuft, der Zeit proportional ſind, oder mit der Zeit
gleichförmig wachſen, und dieſes Geſetz gab uns endlich auch die
Mittel an die Hand, den Ort der Planeten in ſeiner Bahn für
jede gegebene Zeit durch Rechnung zu beſtimmen.


Dieſe beiden Geſetze betreffen, wie man ſiebt, jeden Planeten
für ſich, indem ſie in jedem Punkte ſeiner Bahn die Krüm-
mung des Bogens und die Geſchwindigkeit des Planeten, der in
dieſem Bogen einhergeht, beſtimmen, und ſie würden beide ſelbſt
dann noch gelten, wenn ſich auch nur ein einziger Planet um die
Sonne bewegte. Aber nachdem Kepler einmal die Regeln gefun-
den hatte, denen die Bewegung eines jeden Planeten, einzeln be-
trachtet, unterworfen iſt, war ihm auch noch die Exiſtenz eines
andern Geſetzes ſehr wahrſcheinlich, welches für alle Planeten
zugleich gehörte, und von welchem die Stellung und Entfernung
derſelben abhängt, die wir nun in der That an ihnen bemerken.
Er ſah bald, daß ſie im allgemeinen deſto langſamer um
die Sonne geben, je weiter ſie von ihr entfernt ſind. So iſt
z. B. Mars nahe doppelt ſo weit als Venus von der Sonne
[289]Kepler’s Geſetze.
entfernt, und wenn beide dieſelbe mittlere Geſchwindigkeit hätten,
ſo würde auch die Umlaufszeit des Mars nahe das Doppelte
von jener der Venus ſeyn. Aber ſie iſt nahe dreimal größer,
woraus dann folgt, daß Mars ſich in der That auch langſamer
bewege, als die der Sonne viel nähere Venus. Durch ſeine
frühern glücklichen Entdeckungen aufgemuntert, ſuchte er nun auch,
von einer Art von Vorgefühl getrieben, das Verhältniß, welches
zwiſchen den Umlaufszeiten und den großen Axen ihrer Bahnen
ſtatt haben ſoll. Und er ſuchte volle ſiebenzehn Jahre, ohne zu
ermüden und ohne die Idee aufzugeben, welche er von der Exiſtenz
eines ſolchen Verhältniſſes einmal gefaßt hatte.


Schon in einem ſeiner frühern Werke, in dem Mysterium
cosmographicum,
das im Jahr 1596 zu Grätz erſchien, ſuchte er
die ſogenannten harmoniſchen Verhältniſſe, mit welchen bereits
die alten Pythagoräer ſo viel geſpielt hatten, auf dieſe Diſtanzen
der Planeten von der Sonne anzuwenden. Später wollte er ihnen
in ſeinem Werke „Harmonice mundi. Linz 1619” die verſchiedenen
Längen der Seiten anpaſſen, welche in der Tonlehre eine Terze,
Quarte, Octave u. ſ. w. geben, fand aber auch dieſe Idee
eben ſo wenig als die vorhergehende, mit der Natur übereinſtim-
mend. In dem letzten Werke ſuchte er auch die ſogenannten
platoniſchen Körper, den Kubus, das Tetraeder u. f. mit den
Zwiſchenräumen der Planetenbahnen zu vergleichen. Aber auch
dieſe wollten nicht paſſen, obſchon er ſich lange genug mit ihnen
geplagt hatte. Später verglich er, immer wieder auf ſeine frühere
Muthmaßung zurück kommend, die verſchiedenen Potenzen der
Zahlen, welche die Umlaufszeiten und die großen Axen bei den
Planeten ausdrücken, aber auch hier konnte er nichts Genügendes
finden, ſo daß er endlich nahe daran war, alle ſeine weitern Spe-
culationen über dieſen ihn ſchon ſo lange hinhaltenden Gegenſtand
gänzlich aufzugeben. Einige Tage nur nach dem letzterwähnten
Verſuch kam es ihm vor, als hätte er bei dieſen Rechnungen,
ſeiner Gewohnheit nach, ſich von ſeiner Ungeduld verführen laſſen,
zu ſchnell gerechnet, und ſich auch wohl ganz verrechnet. Sogleich
nahm er die Sache noch einmal vor, rechnete jetzt bedächtiger, und
fand bald, daß ſein Verdacht gegen jene erſten Arbeiten nur zu
gegründet war. Gleich die erſten Verſuche zeigten ihm, daß er
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 19
[290]Kepler’s Geſetze.
das ſo lange und ſo mühſam geſuchte Verhältniß endlich einmal
gefunden habe. Es war, wie er ſelbſt in ſeinem Harmonice
mundi.
S. 189 erzählt, am 15ten Mai d. J. 1618, daß er die
Freude hatte, ſeine ſiebzehnjährigen Bemühungen durch dieſe ſchöne
Entdeckung belohnt zu ſehen. Er fand, daß ſich die Quadrate
der ſideriſchen Umlaufszeiten der Planeten wie die
Würfel der großen Axen ihrer Bahnen verhielten
,
und dieß iſt das dritte und letzte der Naturgeſetze, die unter dem
Nahmen der Keplerſchen Geſetze bekannt ſind. Wir werden die
Wichtigkeit deſſelben weiter unten kennen lernen. Hier mag es
uns genügen, zu bemerken, daß es uns das ſicherſte Mittel dar-
biethet, dieſe großen Axen ſelbſt, die ſo ſchwer zu beobachten ſind,
aus den ſo leicht zu beſtimmenden Umlaufszeiten (§. 100) abzu-
leiten. Alle Beobachtungen der zwei letzten Jahrhunderte, die
ſeit der Entdeckung jener drei Geſetze verfloſſen ſind, haben die
Genauigkeit derſelben in einem Grade beſtätigt, daß fortan Nie-
mand mehr an der Wahrheit derſelben zweifeln kann. Sie ſind
es, die allen Bewegungen der Planeten, auch den entfernteſten
Kometen um die Sonne, ſo wie den Bewegungen der Satelliten
um ihre Hauptplaneten zu Grunde liegen. Jahrtauſende ſind
vorüber gezogen und dieſe Geſetze blieben dem ganzen Menſchen-
geſchlechte unlesbar, obſchon ſie mit Feuerzügen auf dem geſtirn-
ten Himmel geſchrieben waren, bis es endlich den Scharfſinne
und der unermüdlichen Geduld eines ſeltenen Mannes gelang,
jene Charaktere zu entziffern und dadurch ſeinen eigenen Nahmen
mit eben ſo unvergänglichen Zügen an demſelben Himmel ein
Denkmahl zu ſetzen, das dauern wird, wenn andere Monumente
von Erz und Stein längſt zu Staub geworden, und wenn die
Geſetzbücher Juſtinians und Napoleons längſt ſchon vergeſſen
ſeyn werden.


§. 147. (Zuſammenhang und Wichtigkeit dieſer drei Geſetze.)
Die Leſer werden ohne meine Erinnerung erwarten, daß in dieſem
eben ſo einfachen als erhabenen Codex des Himmels die in ihm
enthaltenen Geſetze nicht der Willkühr überlaſſen oder, wie es
wohl in ſo manchem anderen menſchlichen Codex der Fall ſeyn
mag, bloß durch einzelne Fälle entſtanden, und daher ohne wei-
teren Zuſammenhang unter ſich ſtehen werden. Wir werden in
[291]Kepler’s Geſetze.
der That ſpäter ſehen, daß ſie alle drei nur der Ausfluß eines
einzigen, höchſten Geſetzes ſind. Hier aber wird es hinreichen
zu zeigen, daß das erſte dieſer Geſetze nicht nur durch dieſes dritte
beſtätiget werde, ſondern daß es zugleich durch daſſelbe eine nähere
Beſtimmung erhalte. Nach dem erſten Geſetze bewegen ſich näm-
lich die Planeten ſo, daß die Flächen ihrer elliptiſchen Sectoren
der Zeit proportional ſind, oder daß dieſe Fläche, dividirt durch
die auf ſie verwendete Zeit, für jeden Planeten eine beſtändige
Größe iſt. Allein dieſe beſtändige Größe iſt für jeden Planeten
eine andere, und man ſieht noch nicht, auf welche Weiſe dieſe
conſtanten Größen ſelbſt unter einander zuſammenhängen. Be-
trachtet man aber das erſte und dritte Geſetz zugleich, ſo wird
dieſer Zuſammenhang ſogleich klar.


Wenn man durch einen der beiden Brennpunkte S oder S'
(Fig. 22) auf der großen Axe AB der Ellipſe eine ſenkrechte Linie
errichtet, ſo heißt dieſe Linie, ſo weit ſie zu beiden Seiten von
der Peripherie der Ellipſe begränzt iſt, der Parameter der Ellipſe,
und man findet leicht, daß der halbe Parameter gleich iſt dem
Quadrate der halben kleinen, dividirt durch die halbe große Axe
der Ellipſe. Sind nun 2a,2a' die großen, 2b,2b' die kleine Axen,
2p,2p' die Parameter und f, f' die Oberflächen von zwei Ellipſen,
zu welchen die Umlaufszeiten t und t' gehören, ſo hat man, nach
dem erſten Geſetze, in der einen Ellipſe f = Ct und in der an-
deren f' = C't', wo C und C' die zwei erwähnten conſtanten
Größen bezeichnen, die für eine und dieſelbe Planetenbahn immer
dieſelbe bleibt, von einer Bahn zur andern aber verſchieden iſt,
und deren abſolute Größe für jede einzelne Bahn hier eben be-
ſtimmt werden ſoll.


§. 148. (Nähere Beſtimmung des erſten Geſetzes.) Nach dem
dritten Geſetze aber hat man für beide Planeten zugleich a3 t'2 =
a'3 t2
. Endlich iſt, wie bereits oben (§. 139) geſagt wurde, die
Oberfläche der erſten Ellipſe gleich dem Producte der Zahl 3,14159 in
das Product beider Halbaxen, oder es iſt f = 3,14159 ab, und eben ſo
hat man auch für die zweite Ellipſe f' = 3,14159 a'b', ſo daß
daher das erſte Geſetz auch ſo ausgedrückt werden kann 3,14159
ab = Ct und 3,14159a'b' = C't'. Vergleicht man aber dieſe
beiden Ausdrücke mit dem oben für das dritte Geſetz gegebenen
19 *
[292]Kepler’s Geſetze.
Ausdruck, ſo findet man ſofort, daß die beiden Conſtanten C und C'
ſich genau, wie die Quadratwurzeln aus den beiden halben Para-
metern p und p' der Bahnen verhalten, und daß daher das erſte
Kepler’ſche Geſetz genauer ſo ausgedrückt werden muß: Die Fläche,
welche der Radius Vector des Planeten beſchreibt, verhält ſich zu
der Zeit, in welcher ſie beſchrieben wird, wie das Product von
zwei beſtändigen Größen. Von dieſen zwei Größen iſt die eine
gleich der Quadratwurzel aus dem Semiparameter, und gehört
daher jeder einzelnen Planetenbahn ausſchließend an; die andere
aber iſt eine allen Planetenbahnen gemeinſchaftliche beſtändige
Größe, die ſich leicht beſtimmen läßt, wenn man nur die Fläche
einer einzigen dieſer Planetenbahnen mit ihrem Parameter und
der Umlaufszeit des Planeten in dieſer Bahn kennt. Drückt man
die Umlaufszeiten, wie wir bisher gethan haben, in Tagen und
Theilen des Tages aus, ſo findet man für dieſe, allen Planeten
und Kometenbahnen gemeinſchaftlichen Conſtanten die Größe 0,017202,
und ſie iſt es, die unſerem ganzen Sonnenſyſteme eigenthümlich
iſt, und gleichſam die Charakteriſtik deſſelben bildet, da man ſie
bei allen Planeten und Kometen, die ſich um die Sonne bewegen,
wieder findet. Anders verhält es ſich mit den Bewegungen der-
jenigen Geſtirne, die ſich um andere Centralkörper bewegen. So iſt
es z. B. mit den vier Satelliten Jupiters, die nicht um die Sonne,
ſondern um dieſen ihren Hauptplaneten gehen, und dieſe bilden daher
ein eigenes Syſtem, deſſen Charakteriſtik von dem vorhergehenden
des eigentlichen Sonnenſyſtems eben ſo verſchieden iſt, wie das
Syſtem, welches unſere Erde mit ihrem Monde bildet.


Obſchon alſo das erſte Geſetz viel allgemeiner iſt, als das dritte,
indem jenes, wie wir ſpäter ſehen werden, überhaupt allen Bewe-
gungen, die um einen fixen Punkt ſtatt haben, oder allen Cen-
tralbewegungen zukömmt, während dieſes ſich nur auf die hier
betrachtete ſpecielle Centralbewegung der Planeten in Ellipſen be-
zieht, ſo iſt doch, und zwar aus eben dieſer Urſache, das dritte
Geſetz dasjenige, welches den eigentlichen Charakter des Plane-
tenſyſtems ausdrückt, und durch welches alle Körper dieſes Sy-
ſtems gleichſam zu einem beſondern Staate unter ſich verbunden
werden. Die Planeten und Kometen, welche die Bevölkerung dieſes
Staates ausmachen, ſind nicht mehr durch bloße Analogie, durch
[293]Kepler’s Geſetze.
bloße Aehnlichkeit ihres äußern Ausſehens, ſondern ſie ſind durch
weſentliche Kennzeichen, durch wahre Familienzüge mit einander
verbunden, und um ſie alle ſchlingt ſich eine Kette der Verwandt-
ſchaft und des innigſten Zuſammenhanges, die ſich von dem Mit-
telpunkte des großen Reiches bis an ſeine entfernteſten Gränzen
erſtreckt. Dieſes dritte Geſetz lehrt uns zugleich, daß die eigent-
liche Urſache der Bewegung aller jener Himmelskörper in der
Sonne liege, und daß dieſe Kraft der Sonne, oder wie wir
jene Urſache ſonſt nennen mögen, für alle jene Körper ohne
Ausnahme dieſelbe ſeyn müſſe. Sie wird zwar durch die Di-
ſtanzen dieſer Körper modificirt, indem ſie auf die näheren ſtärker
einwirkt, als auf die entfernteren, aber ſie iſt unabhängig von
der Verſchiedenheit der Stoffe, aus welchem dieſe Körper ſelbſt
beſtehen mögen. Dieſe Kraft muß daher ſehr verſchieden ſeyn von
den magnetiſchen, electriſchen oder chemiſchen Kräften der Körper,
deren Aeußerungen wir auf der Oberfläche der Erde ſo oft zu
beobachten Gelegenheit haben, und von welchen z. B. nur auf
das Eiſen und einige verwandte Körper, aber gar nicht auf alle
anderen gewirkt wird, während jene ohne Unterſchied auf alle Körper
dieſelben Wirkungen äußert. Wenn z. B. unſere Erde durch
irgend eine Macht plötzlich in die Region Jupiters geführt und
dort dieſelbe Richtung und Geſchwindigkeit, wie jener Planet,
erhalten würde, ſo würde ſie auch fortan in derſelben Zeit und in
derſelben Bahn, wie Jupiter ſelbſt, um die Sonne laufen.


§. 149. (Ueberſicht des ganzen Planetenſyſtems.) Beſchließen
wir dieſen Gegenſtand durch einen allgemeinen Ueberblick dieſes
Planetenſyſtems, welchen uns daſſelbe etwa gewähren würde, wenn
wir es von einem ſehr entfernten Standpunkte aus betrachten
könnten. — In dem Mittelpunkte einer großen Ebene ſoll eine
Kugel von zwei Fuß im Durchmeſſer die Sonne vorſtellen. Um
ſie, als Mittelpunkt, beſchreiben wir mehrere concentriſche Kreiſe.
Der erſte und nächſte an der Sonne, deſſen Halbmeſſer 82 Fuß,
iſt die Bahn Merkurs, den wir etwa in der Größe eines Senf-
korns darſtellen können. In dem zweiten Kreiſe, des Halbmeſſers
142 Fuß, bewegt ſich Venus von der Größe einer Erbſe; im
dritten von 215 Fuß Halbmeſſer die nahe eben ſo große Erde;
im vierten von 327 Fuß der im Durchmeſſer nur halb ſo große
[294]Kepler’s Geſetze.
Mars. Dann folgen vier, in ihrer Ausdehnung nur wenig ver-
ſchiedene Kreiſe von 500 bis 600 Fuß Halbmeſſer, in welchen
die vier neuen Planeten, Beſta, Juno, Ceres und Pallas gehen,
die alle nur die Größe des kleinſten Sandkorns haben. Im
neunten Kreis, deſſen Halbmeſſer nahe 1430 Fuß beträgt, iſt Ju-
piter in der Größe einer mäßigen Orange; im zehnten, deſſen
Halbmeſſer 2284 Fuß, der etwas kleinere Saturn und endlich im
eilften Kreiſe, 3900 Fuß im Halbmeſſer, Uranus von der Größe
einer gewöhnlichen Apricoſe. Ueber dieſe Gränze hinaus kennen wir
keinen Planeten mehr. Von den Kometen aber erreichen noch viele
in ihren Aphelien jene außer der Uranusbahn gelegenen Gegenden.
Der große Komet von dem Jahre 1680, deſſen äußerſt excentri-
ſche elliptiſche Bahn wir noch mit einiger Verläßlichkeit kennen,
entfernt ſich 44mal weiter von der Sonne, als Uranus oder
ſeine größte Entfernung würde in unſerem Modelle 171600 Fuß,
alſo nahe acht deutſche Meilen, betragen. Jenſeits ſeiner Bahn
iſt für uns völlig unbekanntes Land, und wir haben bereits oben
geſehen, daß der nächſte Fixſtern von unſerer Sonne wenigſtens
200000 Erdweiten entfernt iſt, eine Diſtanz, die in unſerm Modelle
gegen 2000 d. Meilen einnehmen würde.


Allein ſtatt dieſer zu ſinnlichen und vielleicht ſchon tändelnden
Darſtellung wollen wir die verſchiedenen Verhältniſſe der Diſtan-
zen und Größen der Planeten in Tafeln zuſammenſtellen, aus
denen man den Bau und die Organiſation des ganzen Syſtems
mit mehr Genauigkeit abnehmen und gleichſam mit einem Blicke
überſehen kann.


Umlaufszeiten.


[295]Kepler’s Geſetze.

Entfernungen von der Sonne.


Durchmeſſer.


[296]Kepler’s Geſetz.

Oberfläche und Volum.


[297]Kepler’s Geſetze.

Mittlere Geſchwindigkeiten während einer Zeitſecunde.

[[298]]

KapitelX.
Naͤchſte Folgen der elliptiſchen Bewegung der
Planeten.


§. 150. (Beſtimmung der Excentricität der Planetenbahnen.)
Nach dem erſten Geſetze Kepler’s (§. 139) ſind die Flächen, welche
der Radius Vector des Planeten beſchreibt, der Zeit proportional.
Wäre die Bahn deſſelben ein Kreis und die Sonne im Mittel-
punkte dieſes Kreiſes, ſo würden dieſe Flächen auch zugleich den
Winkeln der Radien an der Sonne proportional oder die Bewe-
gung des Planeten würde gleichförmig ſeyn. Die Ungleichheiten,
die man in der heliocentriſchen Bewegung dieſer Körper bemerkt,
ſind daher eine bloße Folge der Excentricität ihrer Bahnen.


Vergleichen wir den Gang des wahren Planeten P (Fig. 23)
in der Ellipſe mit dem ſchon in §. 141 betrachteten imaginären oder
mittleren Planeten M, der ſich in einem Kreiſe B'M, deſſen Mit-
telpunkt die Sonne iſt, gleichförmig und ſo bewegt, daß er mit
dem wahren Planeten immer zugleich durch die große Axe in B'
und A' geht, deſſen Bewegung daher die mittlere Bewegung des
wahren Planeten und deſſen Umlaufszeit gleich der des wahren
Planeten ſeyn wird. Während ſich alſo der mittlere Planet M in
ſeinem Kreiſe gleichförmig bewegt, geht der wahre Planet P in
[299]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
der Ellipſe ungleichförmig und zwar ſo fort, daß die Fläche BPS
des elliptiſchen Sectors in jedem Tage um dieſelbe Größe
wächst. Da die Bewegung des wahren Planeten zur Zeit ſeines
Durchgangs durch das Perihelium B am größten iſt (§. 129), ſo
wird er anfangs vor dem mittleren Planeten voraus, oder die
Gleichung der Bahn, d. h. der Winkel MSP (§. 142) wird po-
ſitiv ſeyn, während ſie im Perihelium ſelbſt gleich Null geweſen
iſt. Da dieſe Gleichung aber im Aphelium A ebenfalls ver-
ſchwindet, weil dann die beiden Planeten, der eine in A, der an-
dere in A', zu gleicher Zeit durch die große Axe gehen, ſo muß
es zwiſchen dieſen beiden Punkten A und B einen dritten geben,
wo die Gleichung der Bahn am größten iſt. Der eigentliche
Werth dieſer größten Gleichung des Mittelpunkts wird bloß von
der Excentricität e der Bahn abhängen, und man wird daher
auch umgekehrt, wenn man dieſe größte Gleichung m kennt, dar-
aus die Excentricität e finden können. Die Geometrie zeigt, daß
e nahe gleich iſt der Größe 0,000002424m, wenn m in Secunden
ausgedrückt wird, und e eine ſehr kleine Größe iſt. Dieß gibt
ein Mittel, die Excentricität der Bahnen aus der größten Glei-
chung derſelben zu finden, da ſich die letztere ſehr leicht beobachten
läßt. Für die Erde hat man z. B. nach den Tafeln des §. 144
die Größe m = 1°,927 = 6937″ und daher e = 0,0168 für das
Verhältniß der Excentricität zur halben großen Axe der Erdbahn,
wie wir auch ſchon §. 135 gefunden haben.


Auch wird es zwiſchen dieſen beiden Punkten A und B einen
andern geben, in welchem die Geſchwindigkeit des wahren Plane-
ten jener des mittleren gleich iſt, von welchem Punkte aus dann
die Bewegung des wahren Planeten immer kleiner wird, bis ſie
endlich im Aphelium ſelbſt am kleinſten iſt. Aehnliche Bemer-
kungen wird man auch über die zweite Hälfte AVB der Bahn
machen, in welcher die Gleichung der Bahn negativ oder in wel-
cher der mittlere Planet vor dem wahren voraus iſt, während er
in der erſten Hälfte BPA hinter dem wahren Planeten zurück
bleibt.


Es wurde übrigens ſchon oben (§. 142) bemerkt, daß dieſe
Größe e mit der Zeit Aenderungen, obſchon in der That ſehr
kleinen Aenderungen unterworfen iſt. Bei der Erdbahn z. B.
[300]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
iſt dieſe Größe jetzt gleich 0,0168, und ſie nimmt mit jedem Jahr-
hundert um 0,000042 ab, aber nur bis zu einer gewiſſen Gränze,
nämlich bis zu 0,0039, welche Gränze ſie aber erſt in nahe vier
und zwanzig tauſend Jahren erreichen, und dann wieder durch
viele Jahrtauſende zunehmen wird. Wir werden weiter unten
den ſehr merkwürdigen Einfluß kennen lernen, welche dieſe Aen-
derung der Excentricität der Erdbahn auf die Bewegung unſeres
Mondes bat. Uebrigens iſt dieſe ſäculäre Abnahme der Excen-
tricität von 0,000042 in Theilen der halben großen Axe der Erdbahn
ſehr gering, da ſie in einem Jahre noch nicht neun d. Meilen,
alſo in einem Tage nur 540 Fuß beträgt. Noch viel geringer iſt
die Aenderung der Excentricität der Merkursbahn, die in 100
Jahren nur 0,000004 Theile der Halbaxe dieſer Planetenbahn, alſo
in einem Tage nur zwanzig Fuß beträgt. Dieſe Bewegungen
gehören daher zu den langſamſten, die wir am Himmel bemerken,
und ſie bilden einen auffallenden Contraſt mit der Geſchwindig-
keit des Lichtes, von welcher wir bereits oben geſprochen haben.


§. 151. (Beſtimmung der Lage der Abſidenlinie.) So wie
wir die Excentricität der Planetenbahnen aus der Beobachtung
der größten Gleichung des Mittelpunktes gefunden haben, welche
Gleichung immer nahe in der Mitte zwiſchen den beiden Abſiden
ſtatt hat, ſo werden wir nun auch die Lage der großen Axe ſelbſt
aus denjenigen Punkten A und B der Bahn ableiten können, wo
man die größte und die kleinſte heliocentriſche Geſchwindigkeit oder
auch den größten und kleinſten ſcheinbaren Durchmeſſer derſelben,
wie er von der Sonne geſehen wird, beobachtet. Da aber dieſe
Beobachtungen keine große Schärfe gewähren, ſo wird es beſſer
ſeyn, unter den Beobachtungen, die man eine ganze Umlaufszeit
durch z. B. an der Erde angeſtellt hat, diejenigen zwei heraus-
zuſuchen, die genau ein halbes Jahr von einander entfernt ſind,
und für welche die beiden Längen der Erde um 180 Grade ver-
ſchieden ſind. An der Vereinigung dieſer beiden Eigenſchaften
erkennt man nämlich, daß die Erde in ihren Abſiden geweſen
ſeyn muß, für jede andere gerade durch die Sonne S gehende
Linie ☊☋ wird nämlich die Differenz der beiden Längen der Erde
in ☊ und in ☋ ebenfalls 180 Grade betragen, aber die Zeit
durch den Bogen ☊P☋ wird beträchtlich kürzer ſeyn, als die durch
[301]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
V☊, weil in jenen Bogen das Perihelium, in dieſem aber das
Aphelium der Erde liegt oder weil jene Bogen mit einer größeren
Geſchwindigkeit, als dieſer, von der Erde beſchrieben wird.


Vergleicht man zwei ſolche Beobachtungen der Abſiden, die
durch mehrere Jahrhunderte von einander getrennt ſind, ſo findet
man, daß die Länge des Periheliums, alſo auch des Apheliums,
aller Planetenbahnen mit der Zeit immer größer wird. Die
Tafel des §. 142 gibt dieſe Aenderung der Abſiden für die ein-
zelnen Bahnen. Die Länge des Periheliums der Erdbahn z. B.
wächst in jedem Jahre um 0°,0172. Wenn alſo die Erde, am
Ende eines Jahres, wieder in dem Punkte ihrer Bahn ankömmt,
wo am Anfange ihres Jahrs ihr Perihelium war, ſo wird ſie
noch 0°,0172 zurücklegen müſſen, um auch jetzt ihr Perihelium
wieder zu erreichen. Die Zeit, welche ſie dazu braucht, wird
multiplicirt durch das tropiſche Jahr oder durch 365,24225
das heißt, dieſe Zeit wird 0,017487 Tage betragen. Die Erde
wird alſo um dieſe Zeit mehr brauchen, um ihre Umlaufszeit um
die Sonne, in Beziehung auf ihr Perihelium zurückzulegen oder,
wie man ſagt, das anomalyſtiſche Jahr der Erde wird 365,24225
+ 0,017487 das heißt 365,259737 Tage betragen. Noch genauer wird
man die anomaliſtiſche Revolution der Erde ſowohl als auch die
aller andern Planeten nach der in §. 123 gegebenen Vorſchrift
finden.


§. 152. (Folgen der Bewegung der Abſiden.) Die Länge
des Periheliums der Erde iſt für den Anfang dieſes Jahrhunderts,
nach §. 142, gleich 99,6 Grade, und die jährliche Bewegung deſ-
ſelben in Beziehung auf die Aequinoctien iſt 0°,0172.


Bezeichnen daher die zwei auf einander ſenkrechten Linien
♈♎ (Fig. 24) die Aequinoctial- und ♋♑ die Solſtitiallinie, in
deren Durchſchnittspunkte O wir uns die Sonne vorſtellen, ſo
wird die elliptiſche Bahn der Erde für den Anfang dieſes Jahr-
hunderts die in der Zeichnung angegebene Lage haben, wo B
das Perihelium und A das Aphelium, alſo AB die große Axe
der Erdbahn iſt. In dieſer Bahn iſt die Erde zur Zeit des Früh-
lingsanfangs in demjenigen Punkte, wo die Ellipſe von der Linie
O♎ geſchnitten wird, und eben ſo iſt ſie im Anfange des Som-
[302]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
mers, des Herbſtes und des Winters der nördlichen Hemiſphäre
in denjenigen Punkten, wo die Ellipſe von den Linien 0♑, 0♈
und 0♋ geſchnitten wird, welche Punkte die Erde (nach §. 86) in
der genannten Ordnung zur Zeit des 21. März, 21. Junius, 23.
September und 21. Dezembers einnimmt. Wird die Ebene des
Aequators durch die des Papiers vorgeſtellt, ſo wird dieſe Ebene
von jener der Ecliptik, in welcher die Erdbahn liegt, in der Linie
♎√ und zwar ſo geſchnitten, daß der Theil der Ellipſe, der von
♎√ gegen ♋ zu liegt, über, der andere, gegen ♑ zu liegende
Theil aber unter den Ebenen des Papiers liegen ſoll. In jenem
Theile, der auch das Perihelium enthält, iſt die Erde zur Zeit
unſeres Winters, d. h. vom Anfang des Herbſtes bis zum An-
fang des Frühlings und in dem andern Theile hält ſie ſich zur
Zeit unſeres Frühlings und Sommers auf, ſo daß alſo, wie man
ſieht, die Erde im Winter der Sonne näher ſteht, als im
Sommer.


Da nun die Bewegung der Erde im Perihelium an ſchnell-
ſten und im Aphelium am langſamſten iſt, ſo iſt klar, daß jetzt
Frühling und Sommer zuſammengenommen etwas länger dauern,
als Herbſt und Winter. Der Unterſchied beträgt in unſerem
Jahrhundert nahe acht Tage. Berechnet man nämlich mittels der
in §. 144 gegebenen Sonnentafel die Tage des Jahres, an wel-
chen die Länge der Sonne gleich 0, 90, 180 und 270 Grade be-
trägt, ſo erhält man die Dauer einer jeden der vier Jahreszeiten.
Man findet ſo die Zeit von dem Augenblicke, wo die Sonne im
Frühlingsäquinoctium iſt, bis zu der, wo ſie in das Sommerſol-
ſtitium (§. 86) tritt, oder die Dauer des Frühlings auf der nörd-
lichen Hemiſphäre gleich 92,91 Tage, und eben ſo dauert jetzt der
Sommer 93,57, der Herbſt 89,70 und der Winter 89,07 Tage.
Die Summe der beiden erſten beträgt 186,48 und die der beiden
letzten 178,77 Tage, alſo 7,71 Tage weniger, als die erſte Summe.
Dieſe längere Dauer der beiden wärmeren Jahreszeiten wird be-
ſtehen, ſo lange das Perihelium der Erde auf derjenigen Seite
der Aequinoctiallinie ♎√ bleibt, wo es jetzt iſt. Aber in der
Folge der Zeiten wird ſich dieſes Verhältniß umkehren, und dann
wird die kältere Jahreszeit die längere ſeyn.


[303]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.

§. 153. (Dauer der Jahreszeiten in verſchiedenen Jahrhun-
derten.) Wir haben bereits oben (§. 142) geſehen, daß die Ele-
mente aller Planetenbahnen mit der Zeit veränderlich ſind, mit
Ausnahme der großen Axe, die, wie wir ſpäter zeigen werden,
immer dieſelbe bleibt. Allein dieſe Aenderungen ſind ſämmtlich
ſehr gering, und überdieß in gewiſſe Perioden eingeſchloſſen, wäh-
rend welchen ſie zwiſchen oft ſehr engen Gränzen auf und ab
gehen, wie die Schwingungen eines Pendels, ohne jene Gränzen
je zu überſchreiten. Beiſpiele ſolcher periodiſchen Aenderungen
haben wir ſchon oben bei der Abnahme der Schiefe der Ecliptik
und erſt in dieſem Kapitel (§. 150) bei der Aenderung der Ex-
centricität der Erdbahn gefunden.


Bloß die Bewegung der Abſiden macht davon eine Ausnahme.
Zwar gehen auch ſie bald langſamer, bald geſchwinder, aber doch
zugleich immer nach derſelben Richtung fort, ſo daß ſie in keine
beſtimmten Gränzen eingeſchloſſen ſind, und allmählig, wenn gleich
in Perioden von vielen Jahrtauſenden, endlich den ganzen Him-
mel durchwandern. Wir werden werter unten auf dieſen ſehr
intereſſanten Gegenſtand wieder zurückkommen. Hier wird es
genügen, die Lage unſerer Erdbahn zu den verſchiedenen Epochen
unſerer Menſchengeſchichte etwas genauer zu betrachten.


Die Länge des Periheliums der Erde beträgt für den Anfang
dieſes Jahrhunderts 99,8 Grade. Nach den Beobachtungen wächst
die Länge deſſelben während jedem Jahrhundert in Beziehung auf
die Fixſterne um 0.3276 Grade. Addirt man dazu die ſäculäre
Aenderung des Frühlingspunktes, die nach dem oben Geſagten
1,3947 Grade beträgt, ſo erhält man die ſäculäre tropiſche Aende-
rung des Periheliums 1,72 Grade, übereinſtimmend mit der Tafel
des §. 142.


Rechnet man mit dieſer jährlichen Bewegung von 0,72
Grade zurück, in die Zeit, wo die Länge des Periheliums gleich
0 Grade war, ſo findet man für dieſe Zeit 5800 Jahre, oder
mit andern Worten: gegen das Jahr 4000 vor Ch. G. fiel das
Perihelium B der Erdbahn in die Linie 0♈ der Herbſtnacht-
gleiche. Damals war alſo die große Axe dieſer Bahn in der
Linie der Nachtgleichen und die kleine Axe derſelben mußte mit
der Solſtitiallinie ♋♑ parallel ſeyn. Für dieſe Zeit war daher
[304]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
auch die Dauer der beiden wärmern Jahreszeiten jener der käl-
tern völlig gleich. Es iſt auffallend, daß die meiſten unſerer
Chronologen die Zeit der Entſtehung der Erde, oder, wie man
vielleicht angemeſſener ſagen ſollte, die Zeit der erſten Spuren des
Menſchengeſchlechtes auf unſerer Erde, in jene Epoche geſetzt
haben.


Zur Zeit Hipparchs, 140 Jahre vor Ch. G., war die Länge
des Periheliums 66 Grade und fiel daher in den Winkel ♈0♋,
während das Aphelium in dem Winkel ♎0♑ lag. Zu jener Zeit
betrug, nach den Beobachtungen dieſes großen Aſtronomen, die
Dauer des Frühlings 94,5 und die des Sommers 92,5 Tage, ſo
daß alſo der Frühling länger war, als der Sommer, ſo wie auch
der Winter länger dauerte, als der Herbſt, während jetzt das Ge-
gentheil ſtatt findet.


Im Jahre 1250 nach Chr., zur Zeit Friedrichs II. oder wäh-
rend dem letzten Kreuzzuge unter Ludwig IX., betrug die Länge
des Perihels 90 Grade und fiel daher in die Linie 0♋ des Win-
terſolſtitiums, ſo daß alſo die große Axe der Ellipſe in der Linie
♋♑ und die kleine in ♈♎ lag. Die Aequinoctiallinie ♈;♎ theilte
dieſe Ellipſe in zwei ungleiche Theile, und die Mitte des kleineren
Theiles nahm das Perihelium ein, daher auch dieſer Theil in
einer viel kürzeren Zeit zurückgelegt wurde, als der andere, weil
der Umfang jenes Theiles ſchon an ſich kleiner, und überdieß von
der Erde mit einer größeren Geſchwindigkeit durchlaufen wurde.
Die beiden kälteren Jahreszeiten waren alſo damals beträchtlich
kürzer, als die Summe der beiden wärmern, obſchon der Frühling
mit dem Sommer, ſo wie auch der Herbſt mit dem Winter eine
und dieſelbe Dauer hatte.


Nach 4670 Jahren von dem Anfange des gegenwärtigen
Jahrhunderts, d. h. im Jahre 6470 nach Ch. wird die Länge des
Periheliums 180 Grade betragen, und die Ellipſe der Erdbahn
wird dann eine Lage haben, welche jener um das Jahr 4000
vor Ch. G. ganz entgegengeſetzt ſeyn wird. Dann wird nämlich
das Perihelium in die Linie 0♎, das Aphelium in 0√ fallen
und die kleinere Axe der Ellipſe wird mit der Solſtitiallinie ♋♑
parallel ſeyn. Nach dieſer Epoche wird das Perihelium in den
[305]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
Winkel ♎0♑ treten, und die Dauer des Frühlings und des
Sommers zuſammengenommen, wird kürzer werden, als die des
Herbſtes und Winters.


Alle dieſe Erſcheinungen könnten nicht ſtatt haben, wenn die
Bahn der Erde ein Kreis, und die Bewegung der Erde in dem-
ſelben gleichförmig wäre. Die Excentricität der Erdbahn, ſo ge-
ring ſie auch, in Beziehung auf die Axe derſelben, iſt, hat doch
einen ſehr weſentlichen Einfluß auf die Dauer der Jahreszeiten,
einen Einfluß, den wir zwar, während der kurzen Zeit eines
Menſchenlebens, nicht bemerken, der ſich aber mit der Folge von
Jahrhunderten immer mehr entwickelt, und endlich auch ſelbſt den
Bewohnern der Erde fühlbar werden mag.


§. 154. (Zeitbeſtimmung. Sternzeit.) Die bisher betrachtete
Bewegung der Erde, um ſich ſelbſt ſowohl, als auch um die
Sonne, iſt zugleich die Grundlage aller unſerer Zeitrechnun-
gen
, eines der wichtigſten Elemente des bürgerlichen ſowohl,
als auch des wiſſenſchaftlichen Lebens, daher ſie hier eine beſon-
dere Rückſicht verdient.


Wir nennen bekanntlich Zeit den Eindruck, welchen eine
Reihe von aufeinander folgenden Ereigniſſen auf unſer Gedächt-
niß macht. Gewöhnlich meſſen wir ſie durch die Bewegung ir-
gend eines Körpers, von welchem wir vorausſetzen, daß die Ge-
ſchwindigkeit deſſelben immer dieſelbe iſt. Bey der Bewegung
des Pendels z. B. haben wir dieſe Eigenſchaft bemerkt, daher
man daſſelbe auch bey unſern Uhren allgemein zum Zeitmaße
angewendet hat.


Aber auch am Himmel bemerken wir mehrere ſolche Bewe-
gungen, die, allen unſern, ſelbſt den genaueſten Erfahrungen zu
Folge, völlig gleichförmig vor ſich gehen, und daher zur Zeitbe-
ſtimmung ſehr geſchickt ſind. Dahin gehören vor allen die Rota-
tionen der Planeten, und unter dieſen beſonders die tägliche Be-
wegung der Erde um ihre Axe, die, der Theorie und den Beob-
achtungen gemäß, völlig gleichförmig, und ſeit den älteſten Zeiten
immer dieſelbe iſt.


Man erkennt dieſe Bewegung der Erde an den Fixſternen,
die ihren Ort am Himmel nicht ändern, und ſich doch, in Folge
jener Drehung der Erde, täglich um uns zu bewegen ſcheinen,
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 20
[306]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
und man ſagt, daß ein Tag vollendet iſt, wenn ein ſolcher Fix-
ſtern für uns wieder an demſelben Punkte, z. B. für denſelben
Standpunkt des Auges, an derſelben Thurmſpitze erſcheint, an
welcher er geſtern erſchienen iſt. Dieſe Zeit eines ganzen Tages
pflegt man dann in 24 gleiche Theile einzutheilen, die man
Stunden nennt, deren jede wieder 60 Minuten, und jede Mi-
nute 60 Secunden hat, und dieſe kleineren Theile des Tages ſind
es eben, welche wir durch die oben erwähnten Pendel, d. h. durch
unſere Uhren, zu meſſen pflegen.


Da hier von der ſcheinbaren Bewegung des Himmels, d. h.
von der wahren täglichen Bewegung der Erde, die Rede iſt, und
da dieſe um die Axe der Erde, oder parallel mit dem Aequator,
vor ſich geht, ſo kann man auch ſagen, daß der Tag die Zeit iſt,
in welcher jeder Punkt des Aequators ſeinen ganzen Umkreis
oder volle 360 Grade um den Mittelpunkt der Erde zurücklegt,
ſo daß daher in einer Stunde 15 Grade, in einer Zeitminute 15
Raumminuten, und in einer Zeitſecunde 15 Raumſecunden des
Aequators durch den Meridian gehen.


Gewöhnlich wählt man zu dieſem Zwecke unter den fixen
Punkten des Himmels denjenigen, welchen eben der Frühlings-
punkt einnimmt. Dieſer Punkt iſt zwar, wie wir bereits geſehen
haben, ſelbſt nicht ganz unbeweglich, aber ſeine Bewegung iſt ſo
langſam und gleichförmig, daß man, wenigſtens bei dieſer erſten
Betrachtung des Gegenſtandes, ſie ganz außer Acht laſſen kann.


Wir ſagen alſo, daß der Sterntag gleich iſt der Zwiſchen-
zeit zwiſchen zwei nächſten Durchgängen des Frühlingspunktes
durch den Meridian, und daß, für einen jeden Ort der Erde,
dieſer Tag in dem Augenblicke anfängt und endet, in welchem
der Frühlingspunkt durch den Meridian dieſes Ortes geht. Eine
Stunde nach dieſer Culmination hat jeder Punkt des Aequators,
alſo auch der Frühlingspunkt ſelbſt, den 24ſten Theil ſeines Um-
kreiſes zurückgelegt, oder der Stundenwinkel (Einl. §. 19) dieſes
Punktes iſt gleich einer Stunde, oder gleich 15 Graden, und eben
ſo wird in 2, 3, 4 Stunden nach der Culmination dieſes Punk-
tes der Stundenwinkel deſſelben 2, 3, 4 Stunden, oder 30, 45,
60 Grade betragen u. ſ. w., ſo daß man daher kurz ſagen kann:
der Sterntag iſt die Zeit zwiſchen zwei nächſten Culminationen
[307]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
des Frühlingspunktes, und die Sternzeit eines jeden ſol-
chen Tages iſt der Stundenwinkel dieſes Frühlingspunktes (Einl.
§. 28).


§. 155. (Mittlere und wahre Sonnenzeit.) Allein wir ſind
von jeher gewöhnt, die Sonne als das eigentliche Maaß unſe-
rer Zeit zu betrachten, wie ſie ſich denn auch in der That ganz
vorzüglich dazu eignet. Durch die tägliche Abwechslung von
Licht und Schatten gibt ſie uns den Tag und die Nacht, welche
beide zuſammen den Tag, im weitern Sinne des Worts, bil-
den, und eben ſo gibt ſie uns, durch ihre Wiederkehr zu dem
Frühlingspunkte, die Abwechslung der vier Jahreszeiten, welche
zuſammen unſer Jahr ausmachen.


Wir werden daher, analog mit dem Vorhergehenden, ſagen:
der Sonnentag iſt die Zeit zwiſchen zwei nächſten Culmina-
tionen der Sonne, und die Sonnenzeit eines jeden Ortes iſt
der Winkel, welchen die Sonne ſeit ihrem letzten Durchgang
durch den Meridian dieſes Ortes, in Beziehung auf den Aequa-
tor, zurückgelegt hat, d. h. die Sonnenzeit eines jedes Augen-
blicks iſt der Stundenwinkel der Sonne für denſelben Augenblick.


Allein hier begegnen wir ſogleich einer Schwierigkeit, die
wir, ehe wir weiter gehen, zu entfernen ſuchen müſſen.


Die Zeit geht gleichförmig fort, und kann daher auch nur
durch ſolche Bewegungen gemeſſen werden, die ebenfalls gleich-
förmig vor ſich gehen, wie wir bereits oben (§. 154) geſagt ha-
ben. Die Sonne aber geht, wie wir aus dem IX. Capitel von
ihrer elliptiſchen Bewegung wiſſen, bald langſamer, bald geſchwin-
der in ihrer Bahn fort, und ſie kann daher eigentlich nicht als
Zeitmeſſer gebraucht werden. Ja ſelbſt, wenn ſie in der Ecliptik
immer mit derſelben Geſchwindigkeit fortginge, ſo würde doch
dieſe ihre in der Ecliptik gleichförmige Bewegung, in Beziehung
auf den Aequator, wieder ungleichförmig erſcheinen, und da wir,
wie geſagt, die Zeit auf dem Aequator oder durch die Bewegung des
Aequators, meſſen, ſo würde die Sonne auch dann nicht als
Zeitmaaß gebraucht werden können, wenn ſie ſelbſt eine an ſich
vollkommen gleichförmige Bewegung hätte. Die Tage, die Stun-
den des einzelnen Tags, und ſelbſt die kleinen Theile deſſelben,
würden in verſchiedenen Jahreszeiten nicht mehr dieſelbe Dauer
20 *
[308]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
haben, und das Maaß, mit dem wir die Zeit beſtimmen wollten,
würde ſelbſt ungleich und veränderlich, und daher zu allen Zeit-
meſſungen, in welchen nur einige Genauigkeit erfordert wird,
unbrauchbar ſeyn.


Dem ungeachtet dringt ſich uns dieſe Sonne gleichſam zum Zeit-
maaße auf, und ſie iſt überdieß, ſeit den älteſten Zeiten, ſo allgemein
als ein ſolches gebraucht worden, daß wir nicht umhin können,
zuzuſehen, ob ſich jene Unregelmäßigkeiten ihrer Bewegung, die
wir aus der Natur ſelbſt nicht wegſchaffen können, vielleicht doch
durch Rechnung umgehen laſſen mögen.


§. 156. (Zeitgleichung.) Die Sonne eignet ſich alſo, ſo
wie ſie iſt, nicht zur Zeitbeſtimmung, weil ſie erſtens, wegen ihrer
elliptiſchen Bahn, eine ungleichförmige Bewegung hat, und weil
dieſe Bewegung zweitens, ſelbſt wenn ſie gleichförmig wäre, in
Beziehung auf den Aequator, in welcher Beziehung wir allein
die Zeit meſſen, doch wieder ungleichförmig erſcheinen würde.
Würde ſich die Sonne, ſtatt in einer Ellipſe, in einem Kreiſe,
alſo gleichförmig bewegen, und würde dieſer Kreis ſelbſt in der
Ebene des Aequators liegen, ſo würden beide Hinderniſſe wegfal-
len, und die Sonne würde ganz eben ſo gut, wie oben der Früh-
lingspunkt, zur Meſſung der Zeit gebraucht werden können.


Wir haben uns aber ſchon oben, wo wir einem ähnlichen
Hinderniſſe begegneten, bei der Beſtimmung des Orts der Erde
oder der Sonne in ihrer elliptiſchen Bahn eines Mittels bedient,
das wir, mit einer kleinen Veränderung, auch hier wieder an-
wenden können. Wir haben uns nämlich zu jenem Zwecke eine
imaginäre Sonne, eine mittlere Sonne, wie wir ſie §. 140
nannten, vorgeſtellt, welche die Eigenſchaft hat, daß ſie in der-
ſelben Ebene der Ecliptik, wie die wahre Sonne, aber gleich-
förmig
um die Erde, und zwar ſo gehe, daß ſie mit der wah-
ren Sonne immer zugleich in den beiden Punkten der Abſiden-
linie eintreffe, alſo auch mit der wahren Sonne dieſelbe Umlaufs-
zeit habe. Mit Hilfe dieſer mittleren Sonne, deren Ort in der
Ecliptik, oder deren Länge wir dort für jede Zeit durch eine ein-
fache Addition gefunden haben, wurde es uns leicht, durch eine
kleine Rechnung auch den, nie weit von jenem entfernten Ort
der wahren Sonne aufzufinden.


[309]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.

Denken wir uns nun noch eine zweite mittlere Sonne,
welche ebenfalls gleichförmig, aber in der Ebene des Aequators
einhergeht, und welche immer zugleich mit jener erſten, mitt-
leren Sonne durch die beiden Punkte der Nachtgleichen geht, de-
ren Umlaufszeit alſo wieder dieſelbe, wie jene der beiden andern
Sonnen iſt. Dieß vorausgeſetzt, wird es ebenfalls ſehr leicht ſeyn,
den Ort dieſer zweiten mittleren Sonne im Aequator, d. h. ihre
Rectaſcenſion für jeden Augenblick anzugeben. Dieſe Rectaſcen-
ſion wird nämlich offenbar gleich der Länge der erſten mittleren
Sonne ſeyn, und dieſe letzte erhält man ſofort aus der Tafel des
§. 144. So haben wir z. B. für den 10. Julius des Jahres
1836 im Mittag Wiens

1836 . . .280°,136
0 Juli . . .178°,402
10 Tage . .9°,857
108°,395

oder die geſuchte Rectaſcenſion der zweiten mittleren Sonne für
dieſen Augenblick iſt 108°,395 oder durch 15 dividirt, um ſie auf
Zeit zu bringen, 7 St. 13′ 35″.


Dieſer Punkt des Aequators alſo, der die zweite mittlere
Sonne einnimmt, und den man für jeden Augenblick ſo leicht
finden kann, dieſer Punkt wird es ſeyn, deſſen Stundenwinkel
die mittlere Sonnenzeit für dieſen [Augenblick] angeben wird.


Welches wird aber der Punkt des Aequators ſeyn, welchem
in demſelben Augenblick die wahre Sonne entſpricht, d. h. derje-
nige Punkt, der in dieſem Augenblick von dem Declinationskreiſe
der wahren Sonne getroffen wird? — Man wird dieſen Punkt
kennen, wenn man die Rectaſcenſion der wahren Sonne kennt.
Dieſe Rectaſcenſion aber wird man leicht finden, wenn man ein-
mal die Länge der wahren Sonne weiß, und dieſe letzte findet
man durch dieſelbe Tafel des §. 144, wenn man an die bereits
gefundene mittlere Länge 108°,395 die Gleichung der Bahn an-
bringt. Man hat nämlich, nach §. 145, das Argument 108,395
— 100,064 = 8,331, mit welchem man die Gleichung der Bahn
0,273, und daher die wahre Länge der Sonne gleich 108°,122 findet.


Kennt man aber die Länge der wahren Sonne, ſo iſt es
leicht, daraus auch die Rectaſcenſion derſelben abzuleiten. Es iſt
[310]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
nämlich die Tangente der Länge multiplicirt mit dem Coſinus
der Schiefe der Ecliptik (23° 28′) gleich der Tangente der Recta-
ſcenſion, welche letzte man daher hier gleich 109°,63, oder in Zeit
gleich 7 St. 18′ 32″ findet.


Und dieſer letzte Punkt des Aequators, der um 7 St. 18′ 32″
vom Frühlingspunkte abſteht, und der die Rectaſcenſion der wah-
ren Sonne für den gegebenen Augenblick (1836, Juli 10) be-
ſtimmt, dieſer Punkt wird es ſeyn, deſſen Stundenwinkel die
wahre Sonnenzeit für jenen Augenblick angeben wird. Der
Unterſchied zwiſchen dieſen beiden Punkten des Aequators, d. h.
alſo die Rectaſcenſion der wahren Sonne, weniger der Länge der
zweiten mittleren Sonne, oder hier die Zahl 7h 18′ 32″ — 7h
13′ 35″ = 4′ 57″, dieſe Zahl wird auch zugleich der Unter-
ſchied zwiſchen der wahren und zwiſchen der mittleren Sonnenzeit
für jeden Augenblick ſeyn. Man nennt dieſen Unterſchied die
Zeitgleichung, und addirt ihn mit ſeinem Zeichen zur wahren
Zeit, um die mittlere Zeit zu erhalten.


Es iſt alſo ſehr leicht, die Zeitgleichung für jeden gegebenen
Augenblick durch eine einfache Rechnung, und daher auch die
wahre Zeit für jede gegebene mittlere Zeit, und umgekehrt, zu
erhalten. Die Aſtronomen haben auch dafür eigene Tafeln ent-
worfen, durch welche dieſe Verwandlungen der beiden Zeiten noch
erleichtert werden. Auch findet man in den aſtronomiſchen Ephe-
meriden derſelben dieſe Zeitgleichung für jeden Mittag des Jahres
angegeben, woraus man ſie dann auch leicht für jede zwiſchen
dieſe Mittage fallende Zeit berechnen kann.


§. 157. (Gebrauch der aſtronomiſchen Uhren.) Die wahre
Zeit iſt der Gegenſtand der Beobachtung, weil dieſe nur an der
wahren Sonne angeſtellt werden kann. Die mittlere Zeit hinge-
gen kann nicht unmittelbar durch Beobachtung gefunden, ſondern
aus dieſer nur durch Rechnung abgeleitet werden. Im Augen-
blicke, wo man die wahre Sonne durch den Meridian ſeines Or-
tes gehen ſieht, hat der wahre Mittag ſtatt, oder es iſt 12h an
dieſem Orte. Hat man dieſe Culmination der Sonne am 10. Ju-
lins 1836 zu einer Zeit beobachtet, wo die dazu gebrauchte Uhr
z. B. 12h 2′ 30″ gab, ſo ſagt man, die Uhr ging für dieſen
Augenblick zu früh um 2′ 30″ gegen wahre Zeit, und da, nach
[311]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
dem Vorgehenden, für die Zeit dieſes wahren Mittags die mitt-
lere Zeit 12h 4′ 57″ ſeyn ſoll, ſo kann man auch ſagen, die
Uhr ging in dieſem Augenblicke zu ſpät um 2′ 27″ gegen mitt-
lere Zeit.


Die älteren Aſtronomen gebrauchten durchgängig die Ver-
gleichung ihrer Uhren mit der wahren Sonnenzeit, und dieſer
Gebrauch war auf dem Feſtlande Europa’s noch vor wenigen
Jahrzehnten üblich. Die engliſchen Aſtronomen führten ſeit
Bradley, d. h. ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die
mittlere oder eigentlich, wie wir bald ſehen werden, die Stern-
zeit (§. 154) bey ihren Beobachtungen ein, indem ſie, wie in
der vorhergehenden zweiten Vergleichung, den Stand ihrer Uhren
unmittelbar mit einer dieſer beiden letzten Zeiten verglichen, und
dies iſt beſſer, da dieſe Zeiten gleichförmig fortſchreiten, was bei der
wahren Sonnenzeit nicht der Fall iſt. Wenn man aber die Uh-
ren unmittelbar mit der wahren Zeit vergleicht, ſo wird man,
ſelbſt wenn die Uhr ganz gut, d. h. völlig gleichförmig geht, für
die aufeinander folgenden Mittage ungleiche Correctionen der
Uhr erhalten.


Nehmen wir an, man hätte durch drei auf einander fol-
gende Tage für den Augenblick des wahren Mittags den Stand
der Uhr gegen wahre Zeit gefunden


  • 1. Tag _ _ 0h 3′ 15″
  • 2. — _ _ 0h 3′ 27″
  • 3. — _ _ 0h 3′ 39″

Hat man nun, am Abend des zweiten Tags, irgend eine an-
dere Beobachtung, z. B. die einer Finſterniß, zu einer Zeit ge-
funden, wo die Uhr 4 St. 21′ 36″,9 zeigte, und ſoll nun gefunden
werden, um welche wahre oder mittlere Zeit dieſe Beobachtung
angeſtellt worden iſt, ſo wird man ſo verfahren: — Die Uhr gab
am Mittag des zweiten Tags um 3′ 27″ zu viel gegen wahre
Zeit. Da ſie ferner, wie die vorhergehende kleine Tafel zeigt,
während jedem wahren Sonnentag, d. h. während 24 St. 0′ 12″
Uhrzeit, um 12″ voraus geht, und da jene Finſterniß um 4 St.
18′ 10″ nach dem wahren Mittag beobachtet wurde, ſo hat man
die einfache Proportion
24 St. 0′ 12″ : 12″ = 4 St. 18′ 10″ : x
[312]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
oder x = 2″,1, das heißt, zur Zeit jener Beobachtung gab die
Uhr gegen wahre Zeit zu viel um 3′ 27″ + 2″,1 oder um 3′
29″,1, alſo iſt auch die wahre Zeit der Beobachtung 4h 18′
7″,8. Kennt man nun auch, nach §. 156, die Zeitgleichung für
dieſe wahre Zeit, und beträgt ſie z. B. + 2′ 30″,2, ſo iſt auch
die mittlere Zeit der beobachteten Finſterniß 4h 20′ 38″,00.


§. 158. (Einführung der mittleren Zeit in das bürgerliche Le-
ben.) In dieſer mittleren Zeit pflegen die Aſtronomen alle ihre
Beobachtungen anzugeben, obſchon ſie dieſelbe alle unmittelbar,
entweder in wahrer oder auch, wie wir bald ſehen werden, in
Sternzeit gefunden haben. In derſelben mittleren Zeit werden
auch alle Elemente und Tafeln der Planeten berechnet. So be-
ziehen ſich die Umlaufszeiten des §. 100 und 149, die täglichen
Bewegungen des §. 142 und §. 144 durchaus nur auf die mittlere
Zeit und die mittleren Sonnentage. Selbſt im bürgerlichen Le-
ben hat man, wenigſtens in den größern Städten Europa’s, dieſe
mittlere Zeit bereits eingeführt, indem man den Bewohnern der-
ſelben, meiſtens von den Sternwarten dieſer Städte, jeden Tag
den Augenblick des mittleren Mittags durch ein beſonderes
Zeichen anzugeben pflegt, ſo, daß ſie ihre Uhren, und dadurch
auch ihre Geſchäfte, nur nach der mittleren Zeit richten, während
unſere Vorfahren, die ſich an die wahre Zeit hielten, ihre Uhren,
ſelbſt wenn ſie vollkommen gut, d. h. gleichförmig gingen, an
jedem wahren Mittage wieder ſtellen oder, mit andern Worten,
ihre Uhren durch dieſe immerwährende Correction verderben muß-
ten, um ſie dadurch zu zwingen, mit der ungleichförmig gehenden
Sonne gleichen Schritt zu halten.


Unſere Sonnenuhren z. B., nach welchen leider noch die
meiſten unſerer Uhrmacher ſich zu richten pflegen, weil ſie die
beſſeren Mittel, ihre Zeit zu beſtimmen, nicht kennen, geben na-
türlich nur die wahre Zeit an, und man muß daher die Zeit-
gleichung für alle Mittage des Jahrs kennen, um daraus die
mittlere Zeit jedes wahren Mittags zu finden, wenn man die
Uhr, wie es ſeyn ſoll, mit dieſer mittleren Zeit vergleichen will.
Zwar hat man auch eigene Vorrichtungen an mehreren Sonnen-
ubren angebracht, durch welche man aus dem Endpunkte des
Schattens, welchen ihre Stiele werfen, auch die mittlere Zeit des
[313]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
wahren Mittags unmittelbar ableſen kann. Man erkennt dieſe
Uhren an einer eigenen Zeichnung, an einer krummen Linie,
welche die Geſtalt der Ziffer 8 hat, und die in der Nähe der
Schattenlinie des Mittags angebracht iſt. Man findet eine ſolche
Uhr an dem Palais du Luxembourg in Paris, an dem Gebäude
der alten Sternwarte in Berlin u. dgl. Allein dieſe Zeichnungen
ſind gewöhnlich eben ſo unvollkommen, als die ganze Sonnenuhr
ſelbſt, und unſere Uhrmacher, wenigſtens jene, denen es um eine
genaue Zeitbeſtimmung zu thun iſt, ſollten Mittel dieſer Art um
ſo weniger gebrauchen, da ihnen, wie wir ſpäter ſehen werden,
viel einfachere und beſſere Mittel zugleich zu Gebote ſtehen.


Die folgende Tafel gibt dieſe Zeitgleichung auf den zehnten
Theil einer Minute genau, was zu den gewöhnlichen Bedürf-
niſſen hinreichend iſt, von fünf zu fünf Tagen des Jahres. Sie
iſt für ſolche Jahre ganz genau, die in der Mitte zwiſchen zwei
Schaltjahren ſtehen, wie 1830, 1834 u. f., doch iſt ſie auch für
andere Jahre nur um einige Secunden verſchieden. Man ſetzt
dieſe Zeitgleichung mit ihrem Zeichen zu 12h oder zu dem wah-
ren Mittage, um die mittlere Zeit des wahren Mittags an die-
ſem Tage zu erhalten. So iſt z. B. dieſe mittlere Zeit am
1. Januar gleich 12h 3′,8 oder 12h 3′ 48″ und am 1. Mai
gleich 23h 56′,9 oder 23h 56′ 54″. Viermal im Jahre endlich,
am 15. April, 15. Junius, 1. September und 25. Dezember ſind
beide Zeiten einander gleich, und die Zeitgleichung iſt Null.


Zeitgleichung.


[314]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.

§. 159. (Vergleichung der Sternzeit mit der mittleren Son-
nenzeit.) Da die in §. 156 betrachtete zweite mittlere Sonne
mit der erſten, von welcher wir in §. 140 geſprochen haben, zu
derſelben Zeit durch die beiden Aequinoctien geht, ſo iſt auch die
Umlaufszeit beider Sonnen gleich dem tropiſchen Jahre (§. 149)
der Erde, oder gleich 365,242255 mittlerer Sonnentage. In dieſer
Zeit nimmt alſo die Länge der erſten, oder, was daſſelbe iſt, die
Rectaſcenſion der zweiten mittleren Sonne um volle 360 Grade
zu, und da dieſe Zunahme durch das ganze Jahr gleichförmig
iſt, ſo folgt, daß die Rectaſcenſion dieſer zweiten mittleren Sonne
während der Dauer eines mittleren Sonnentages um 360°, divi-
dirt durch 365,242255, das heißt um 0,9856472 Grade zunimmt.
Bringt man dieſen Winkel auf Zeit, indem man ihn durch 15
[315]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
dividirt, ſo erhält man 0,0657098 Stunden oder 0 St. 3 M.
56,555 Sec., oder endlich 0,0027579 Tage.


Wenn alſo an einem beſtimmten Tage dieſe zweite Sonne
zugleich mit dem Frühlingspunkte durch den Meridian eines ge-
gebenen Ortes geht, oder wenn für dieſen Tag der Anfang des
Sterntages und des mittleren Sonnentages in denſelben Augen-
blick fällt, ſo wird an dem folgenden Tage die Sonne, vermöge
ihrer eigenen Bewegung, öſtlich von dem Frühlingspunkte ſtehen,
und zwar, im Augenblicke der zweiten Culmination der mittleren
Sonne, um den 0,0027379ten Theil eines Sterntages, ſo daß daher
der mittlere Sonnentag gleich 1,0027379 Sterntage, und daher
auch umgekehrt, der Sterntag gleich oder 0,9972696
eines Sonnentages iſt. Mit andern Worten, der mittlere Son-
nentag iſt um 3′ 56″,555 eines Sterntages länger als der Stern-
tag, oder der Sonnentag hat 24h 3′ 56″,555 Sternzeit, und der
Sterntag hat nur 23h 56′ 4″,093 mittlere Zeit. Daraus folgt
zugleich, daß das tropiſche Jahr oder die Zeit von 365,242255
Sonnentagen gleich iſt 366,242255 Sterntagen, oder daß nach Ver-
fluß eines tropiſchen Jahres der Frühlingspunkt genau einen vol-
len Umlauf mehr um die Erde gemacht hat, als die mittlere
Sonne.


Mittels dieſer Zahlen iſt es nun leicht, jedes gegebene, in
Sternzeit ausgedrückte Intervall in mittlerer Zeit auszudrücken,
wenn man von jeder Stunde der Sternzeit 9,829 Secunden ſub-
trahirt, oder auch umgekehrt, jedes in mittlere Zeit gegebene In-
tervall in Sternzeit auszudrücken, wenn man zu jeder Stunde
mittlerer Zeit 9,856 Secunden addirt.


§. 160. (Verwandlung dieſer beiden Zeiten.) Allein wie fin-
det man die abſolute Sternzeit für einen Augenblick, der bloß in
mittlerer Zeit gegeben iſt, oder umgekehrt, wie findet man die
mittlere Zeit eines in Sternzeit ausgedrückten Moments?


Nach dem, was in §. 154 und 155 geſagt wurde, iſt die mitt-
lere Zeit eines gegebenen Augenblicks der Stundenwinkel der
mittleren Sonne, und die Sternzeit der Stundenwinkel des
Frühlingspunktes, der in demſelben Augenblicke ſtatt hat. Es
[316]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
ſtelle daher der Kreis B T D (Fig. 4) den Aequator, und die ge-
rade Linie B D den Durchſchnit des Aequators mit der Ebene des
Meridians vor. Sey für den gegebenen Augenblick der Früh-
lingspunkt in T und die mittlere Sonne in t, ſo iſt alſo der
Bogen B T der Stundenwinkel (Einl. §. 28) des Frühlingspunk-
tes oder die geſuchte Sternzeit, und B t iſt der Stundenwinkel
der Sonne oder die gegebene mittlere Zeit. Allein der Bogen
T t iſt zugleich die Rectaſcenſion (Einl. §. 22) der zweiten, oder
was daſſelbe iſt, die Länge der erſten mittleren Sonne (§. 156),
die man ſehr leicht durch die Tafel des §. 144 finden kann.
Man ſieht daher, daß man für jede gegebene mittlere Zeit zu
derſelben nur die Rectaſcention der mittleren Sonne, welche für
dieſe Zeit ſtatt hat, addiren darf, um ſofort die geſuchte Stern-
zeit zu erhalten. Iſt z. B. für den mittleren Mittag des 10. Ju-
lius 1836 die mittlere Zeit 0h gegeben, ſo hat man für dieſe
Zeit bereits oben (§. 156) die Rectaſcenſion der mittleren Sonne
108° 23′,7 oder in Zeit 7h 13′ 35″, und dieß iſt zugleich die ge-
ſuchte Sternzeit dieſes Augenblickes.


Die folgende Tafel gibt für jeden zehnten Tag des Jahres
diejenigen Zahlen, welche man zu der gegebenen Sternzeit im
mittleren Mittag addiren muß, um die mittlere Zeit zu erhalten.
Dieſe Zahlen nehmen für jeden Tag nahe um 0h 4′ ab. Eigent-
lich gehören ſie wieder nur für ſolche Jahre, die, wie 1830, 1834 …
zwiſchen zwei Schaltjahren in der Mitte liegen. Für ſolche Jahre,
welche die erſten nach einem Schaltjahre ſind, wird man alle Zah-
len um 1′ vermindern, und für die erſten vor einem Schaltjahre
um 1′ vermehren, für Schaltjahre ſelbſt endlich werden die Zah-
len der beiden erſten Monate um 2′ vermehrt, und die aller an-
derer Monate um 2′ vermindert.


[317]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.

Dieſe Tafel zeigt z. B., daß im Jahre 1834 im mittleren
Mittag des 12. März die mittlere Zeit um 0h 42′ größer iſt,
als die Sternzeit, daß alſo die Sternzeit am mittleren Mittag
[318]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
dieſes Tages 23h 18′ iſt. Am 24. Auguſt aber iſt die mittlere
Zeit 13h 51′ größer, alſo die Sternzeit im Mittag 10h 9′ u. ſ. w.


§. 161. (Gebrauch der Sternzeit.) Da die Sternzeit nichts
anderes iſt, als der Stundenwinkel des Frühlingspunkts, und da
für jeden Stern, im Augenblicke ſeiner Culmination, dieſer
Stundenwinkel des Frühlingspunkts gleich der Rectaſcenſion des
culminirenden Sterns ſeyn muß, ſo iſt alſo auch die Sternzeit
der Culmination eines jeden Sterns gleich der Rectaſcenſion deſ-
ſelben in Zeit ausgedrückt.


In den aſtronomiſchen Ephemeriden findet man für jeden
Tag des Jahres die Rectaſcenſion der Sonne, des Mondes und
aller Planeten bereits voraus berechnet. Beobachtet man alſo
dieſe Geſtirne an einer nach mittlerer Sonnenzeit gehenden Uhr,
ſo wird man, mit Hilfe der vorhergehenden Tafel, auch leicht die
mittlere Zeit der Culmination derſelben finden, da ihre Recta-
ſcenſion zugleich die Sternzeit ihrer Culmination iſt, vorausgeſetzt,
daß dieſe Rectaſcenſion ſchon für dieſe Zeit ihres Durchgangs
durch den Meridian berechnet worden iſt. Daſſelbe wird man
auch bey den Fixſternen thun, deren Ort in den Sterncatalogen
durch Rectaſcenſion und Declination gegeben iſt. Da nun die
Zahlen der vorhergehenden Tafel für jeden Tag um nahe vier
Minuten abnehmen, ſo kommen auch alle Fixſterne jeden folgen-
den Tag um vier Minuten, oder genauer, um 3′ 55″,907 mitt-
lerer Zeit früher in den Meridian, als an dem vorhergehenden
Tage. Man nennt dieß die Acceleration der Fixſterne. Wegen
dieſer Acceleration wird die mittlere Zeit der Culmination jedes
Fixſterns, obgleich ſein Ort am Himmel ganz unverändert bleibt,
das ganze Jahr durch immer auf eine frühere Tagesſtunde fal-
len, und anfangs, wenn er z. B. bei der Sonne iſt, um Mittag,
in drei Monaten ſpäter um 6 Uhr Morgens, nach ſechs Mona-
ten um Mitternacht, und nach neun Monaten um 6 Uhr Abends
culminiren. Dieſe Veränderlichkeit macht eine, zwar ſehr leichte,
aber doch durch ihre immerwährende Wiederholung beſchwerliche
Reduction nothwendig, die man ganz übergehen kann, wenn man
ſeine Uhr, nicht nach mittlerer Sonnenzeit, ſondern nach Stern-
zeit gehen läßt. Zu dieſem Zwecke darf man nur die Linſe des
Uhrpendels ſo weit erhöhen, oder dem Aufhängepunkte des Pen-
[319]Nächſte Folgen d. elliptiſchen Bewegung d. Planeten.
dels näbern, wodurch der Gang der Uhr beſchleunigt wird, bis
ſie zwiſchen zwey nächſten Culminationen eines Fixſterns genau
24 Stunden gibt. Hat die Uhr dieſen Gang, ſo wird man dann
zur Zeit der Culmination eines Sterns, deſſen Rectaſcenſion be-
kannt iſt, die Zeiger der Uhr ſo ſtellen, daß ſie in dieſem Augen-
blicke die Rectaſcenſion des Sterns anzeigen, wodurch dann dieſe
Uhr auch im Laufe des ganzen Jahres die Sternzeit der Culmi-
nation dieſes und aller andern Fixſterne anzeigen wird. Man
ſieht, daß eine ſo geſtellte Uhr die Bequemlichkeit der Beobach-
tungen ſehr erhöht, daher ſie auch bereits auf allen neuern, thä-
tigen Sternwarten eingeführt worden iſt.


[[320]]

KapitelXI.
Der Mond der Erde und die Satelliten der
uͤbrigen Planeten.


§. 162. (Umlaufszeit und Entfernung des Mondes.) Nächſt
der Sonne erregte ohne Zweifel der Mond ſchon die Aufmerk-
ſamkeit der erſten Beobachter des Himmels. Er erhellt unſere
Nächte, er leitet den Wanderer in fremden Ländern, und den
Schiffer auf unbekannten Meeren; ihm verdanken wir den größ-
ten und wichtigſten Theil unſerer Zeitrechnung, und die tägliche
Ebbe und Fluth des Oceans, und vielleicht auch einen weſent-
lichen Einfluß auf unſere Witterung, und dadurch ſelbſt auf un-
ſere Geſundheit.


Wenige Tage ſchon reichen hin, zu bemerken, daß er, nebſt
ſeinem täglichen Umlaufe um die Erde, die er mit allen Geſtir-
nen des Himmels gemein hat, und die, wie wir wiſſen, bloß
ſcheinbar iſt, auch noch eine ihm eigenthümliche Bewegung hat,
mit welcher er täglich unter den Fixſternen nahe dreizehn Grade
von Weſt gen Oſt fortſchreitet. Genaue Beobachtungen dieſer
ſeiner Bewegung haben gezeigt, daß die ſideriſche Umlaufszeit
des Mondes um die Erde 27,32165 mittlere Sonnentage beträgt.
Da die Punkte der Nachtgleichen in einem Jahre um 50″,211
rückwärts oder gen Weſt gehen (§. 123), und da die mittlere
[321]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
tropiſche Bewegung der Sonne in einem Tage gleich 0°,98363 iſt
(§. 144), ſo iſt die tropiſche Umlaufszeit des Mondes, in Bezie-
hung auf die Aequinoctien, gleich 27,32158 Tage, und endlich die
Zeit zwiſchen zwei nächſten Conjunctionen mit der mittleren
Sonne (§. 140) oder die ſynodiſche Revolution des Mondes
gleich 29,53059 Tage.


Der Mond vollendet dieſe ſeine Bewegung um die Erde in
einer Ellipſe, deren einen Brennpunkt der Mittelpunkt der Crde
einnimmt. Die halbe große Axe dieſer Ellipſe, d. h. die mittlere
Entfernung des Mondes von der Erde, beträgt 60,2965 Erdhalb-
meſſer oder 51812,8 deutſche Meilen, und die Excentricität der-
ſelben beträgt 0,05484 Theile der halben großen Axe, oder 2850
Meilen. Wenn der Mond in ſeiner mittleren Entfernung von
der Erde iſt, ſo beträgt die Horizontalparallaxe deſſelben unter
dem Aequator der Erde 0°,9503, und dann erſcheint der Halbmeſ-
ſer des Mondes im Horizonte unter dem Winkel von 0°,2594,
woraus folgt, daß der wahre Halbmeſſer des Mondes 233 Mei-
len beträgt. Das Verhältniß des Mondes zur Erde iſt daher
im Durchmeſſer wie 1 zu 3,69, in der Oberfläche wie 1 zu 13,60,
und im Volum wie 1 zu 50,15.


§. 163. (Phaſen des Mondes.) Die auffallendſten Erſchei-
nungen, die uns der Mond darbietet, ſind die abwechſelnden Licht-
geſtalten oder die Phaſen deſſelben.


Sey S (Fig. 26) die Sonne in einer ſehr großen Entfernung
von der Erde T, um welche ſich der Mond in ſeiner Bahn
A B C D bewegt. Wenn der Mond in A zwiſchen Sonne und
Erde iſt, ſo iſt uns derſelbe ganz unſichtbar, und da er für uns
an demſelben Orte des Himmels ſteht, wo wir auch die Sonne
ſehen, ſo geht er auch mit der Sonne zugleich auf und unter.
Man nennt dieſe Zeit den Neumond. Wenn wir, dem Vor-
hergehenden gemäß, den Mond, gleich den übrigen Körpern des
Himmels, kugelförmig annehmen, und überdieß vorausſetzen, daß
er kein eigenes Licht habe, ſondern nur mit dem von der Sonne
geborgten und auf uns reflectirten Lichte ſcheine, ſo wird die
Mondskugel, wie alle andern Kugeln, von der Sonne immer
zur Hälfte beleuchtet werden, während die andere im Schatten
oder dunkel iſt. Zur Zeit des Neumonds wird alſo dieſe beleuch-
Littrow’s Himmel u. ſ. Wunder I. 21
[322]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
tete Hälfte, die ihrer Natur nach immer der Sonne zugewendet
ſeyn muß, zugleich von der Erde abgewendet ſeyn, oder wir wer-
den nur die dunkle Seite des Mondes, d. h. wir werden ihn gar
nicht ſehen.


Einige Tage nach dem Neumonde erblickt man den Mond,
der anfangs bei der Sonne ſtand, ſchon bedeutend links oder öſt-
lich von derſelben. Da nämlich ſeine ſynodiſche Revolution
29 ½ Tag beträgt, ſo wird er z. B. in 3 ¾ Tagen ſchon den
achten Theil ſeines Umkreiſes um die Erde, in Beziehung auf die
Sonne, zurückgelegt haben, und in dem Punkte m ſeiner Bahn
ſeyn. Da die beleuchtete Seite, wie geſagt, immer der Sonne
S zugewendet bleibt, ſo wird er in dieſer Stellung der Erde T
nicht mehr die ganze dunkle Seite zukehren, ſondern die Erde
wird bereits auf der rechten oder weſtlichen Seite des Mondes
einen, obſchon nur kleinen Theil jener beleuchteten Seite ſehen,
und der Mond wird uns daher hier nur als eine beleuchtete Sichel
erſcheinen, deren hohle Seite von der Sonne abgewendet oder
links gekehrt iſt, oder der beleuchtete Theil wird, wie die Zeich-
nung bey m zeigt, die Geſtalt eines umgekehrten C haben. Da
übrigens jetzt der Mond links von der Sonne ſteht, ſo wird er
erſt nach ihr, oder bey Tage, in den Morgenſtunden, aufgeben,
und eben ſo erſt nach der Sonne, in den bereits dunklen Abend-
ſtunden, untergehen.


In 7 ⅖ Tagen nach dem Neumonde iſt er in B, wo er be-
reits den vierten Theil ſeiner ſynodiſchen Bahn zurückgelegt hat.
In dieſer Lage des Mondes, die man die erſte Quadratur oder
das erſte Viertel nennt, iſt von der beleuchteten ſowohl, als
auch von der dunklen Seite des Mondes genau die Hälfte gegen
die Erde gekehrt, und die letzte ſieht ihn daher als eine halbe,
kreisförmige Scheibe. Die frühere Sichel iſt ſeit dem Neumonde
immer breiter geworden, indem ſich ihre innere Höhlung allmäh-
lig mit Licht ausfüllte, bis endlich hier ihre innere Krümmung
zu einer geraden Linie, zu einem Durchmeſſer des Mondes wird,
der übrigens noch immer, ſo wie jene Krümmung, auf der lin-
ken, von der Sonne abgewendeten Seite ſteht. Da der Mond
hier genau um 90 Grade von der Sonne, auf der Oſtſeite der-
ſelben, abſteht, ſo wird er, in ſeinem erſten Viertel, ſechs Stun-
[323]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
den nach der Sonne, oder nahe um Mittag, auf- und um Mit-
ternacht untergehen, alſo auch die erſten Stunden der Nacht be-
leuchten, nach Mitternacht aber unter dem Horizonte oder un-
ſichtbar ſeyn.


Nach weitern 7 ⅖ Tagen ſeit dem erſten Viertel iſt der
Mond in C. Hier iſt ſeine zur Sonne gewendete oder beleuch-
tete Seite auch zugleich ganz der Erde zugewendet, und die Erde
ſieht ihn daher hier, im Vollmonde, als eine ganze, kreis-
runde, beleuchtete Scheibe. Da er jetzt der Sonne gerade gegen-
über oder mit ihr in Oppoſition ſteht, ſo wird er aufgehen,
wenn die Sonne untergeht, und untergehen, wenn die Sonne
aufgeht. Man wird ihn alſo nun die ganze Nacht durch ſehen.


Indem er ſich von da noch weiter gegen die linke Seite des
Beobachters bewegt, wird er ihm auch allmählig einen immer grö-
ßern Theil ſeiner dunklen Hälfte, und zwar jetzt auf der rechten
oder von der Sonne wieder abgekehrten Seite des Mondes, zu-
wenden, und dieſe Verdunklung wird immer zunehmen, bis ſie
endlich in D die ganze rechte Hälfte deſſelben einnehmen wird.
Der Mond wird uns nun, in der zweyten Quadratur oder im
letzten Viertel, ganz ſo wie in B, zur Zeit des erſten Vier-
tels, erſcheinen, nur mit dem Unterſchiede, daß die lichte Hälfte
hier links ſteht, da ſie dort rechts gewendet war. Da übrigens
der Mond hier wieder 90 Grade oder 6 Stunden von der Sonne,
aber auf der Weſtſeite derſelben, abſteht, ſo wird er auch 6 Stun-
den vor der Sonne, d. h. um Mitternacht auf- und um Mittag
untergehen. Nach dem Vollmonde werden alſo die erſten Stun-
den der Nacht ohne Mondſchein ſeyn, ſo wie vor dem Voll-
monde dieſe erſten Stunden beleuchtet waren. Nach dem Neu-
monde ſehen wir daher den Mond immer länger in den Abend-
ſtunden, am weſtlichen Himmel, nach dem Vollmonde aber ſehen
wir ihn immer länger in den nächtlichen Morgenſtunden auf der
Oſtſeite des Himmels.


Indem nun der Mond auch von dieſem Punkte D ſeiner
Bahn noch weiter gen Oſt fortgeht, wird die dunkle Seite am
weſtlichen Rande immer größer, und die beleuchtete linke Seite
deſſelben nimmt wieder die Geſtalt einer immer ſchmälern Sichel
an, deren innere Höhlung aber jetzt rechts oder weſtlich gewendet
21 *
[324]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
iſt, und die Form eines aufrechtſtehenden C hat. Je mehr ſich der
Mond auf der Weſtſeite der Sonne derſelben krümmt, deſto mehr
nimmt die Breite dieſer lichten Sichel ab, bis ſie, wenn er der
Sonne ſehr nahe kömmt, nur mehr als ein feiner Silberfaden er-
ſcheint, und endlich, wenn der Mond wieder bey der Sonne in
A iſt, ganz verſchwindet. Der Mond iſt nun wieder im Neu-
monde, oder unſichtbar, und beginnt eine zweyte Periode ſeiner
Lichtgeſtalten, die er in derſelben Ordnung, wie die vorherge-
hende, durchläuft.


Es wird nicht nothwendig ſeyn, zu bemerken, daß dieſe Pha-
ſen des Mondes und die gegebene, den Beobachtungen vollkom-
men genügende Erklärung derſelben, zugleich der beſte Beweis
für die oben aufgeſtellte Vorausſetzung iſt, daß der Mond die
Geſtalt einer Kugel haben und ſein Licht bloß von der Sonne
erhalten müſſe. Da wir dieſelben Phaſen auch bey Merkur und
Venus bemerken, ſo wird jener Schluß auch auf dieſe Himmels-
körper anwendbar ſeyn. Selbſt bey Mars ſieht man noch ähn-
liche, obſchon viel geringere Veränderungen der Geſtalt, indem
er, nach ſeinen verſchiedenen Stellungen gegen die Sonne, an der
öſtlichen oder weſtlichen Seite ſtark abgeplattet erſcheint. Die
übrigen Planeten aber ſind alle zu weit von uns entfernt, daher
ſie immer ſchon mehr dieſelbe Seite, welche ſie zur Sonne wen-
den, auch der Erde zukehren, und wir alſo auch an ihnen keine
Lichtphaſen mehr bemerken.


§. 164. (Aehnliche Erſcheinungen der Erde für den Mond.)
Da aber die Erde ebenfalls eine dunkle Kugel iſt, welche ihr
Licht von der Sonne erhält, ſo muß die Erde den Bewohnern
des Mondes, wenn es ſolche gibt, ähnliche Lichtveränderungen
zeigen, ja dieſe müſſen dort noch viel auffallender erſcheinen, da
die Oberfläche der Erde über dreyzehnmal größer iſt, als die
des Mondes.


Wenn nämlich der Mond zur Zeit des Neumonds in A und
uns unſichtbar iſt, ſo erſcheint ihm im Gegentheile die Erde in
ihrem ganzen Lichte als eine vollbeleuchtete Scheibe, da hier die
von der Sonne beſchienene Hälfte der Erde zugleich ganz dem
Monde zugekehrt iſt. Die Mondsbewohner in dem der Erde
nächſten Punkte des Mondes, die eben Mitternacht haben, ſehen
[325]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
alſo die Erde ganz beleuchtet, während ihre der Sonne zugewen-
deten Antipoden eben Mittag haben. Im Vollmonde aber, wenn
der Mond in C iſt, wendet die Erde ihre dunkle Seite dem
Monde zu, und die Bewohner des Mondes, die der Erde zu-
nächſt ſtehen und eben Mittag haben, ſehen die Erde nicht, weil
ſie für ſie nicht beleuchtet iſt, ſo wie die Antipoden derſelben ſie
auch nicht ſehen, weil ſie hinter dem Monde ſteht, und daher
für ſie durch den Mond ſelbſt verdeckt wird. Die Mondsbewoh-
ner ſehen alſo die Erde im Volllichte, wenn wir Neumond ha-
ben, und im Neulichte, wenn wir Vollmond haben, und eben ſo
ſeben ſie die Erde im erſten oder letzten Viertel, wenn wir den
Mond im letzten oder erſten Viertel ſehen. Iſt nämlich der
Mond zur Zeit ſeines erſten Viertels in B, ſo ſehen ſeine Be-
wohner von der Erde eben ſo die linke oder öſtliche Hälfte be-
leuchtet, wie wir den Mond zur Zeit des letzten Viertels ſehen,
und umgekehrt.


§. 165. (Aſchgraues Licht des Mondes.) Kurz vor und nach
dem Neumonde, wo der Mond, wie oben geſagt, nur als eine
feine Sichel erſcheint, bemerkt man mit guten Augen, und noch
beſſer durch Fernröhre, auch den übrigen, dunkeln Theil des
Mondes in einem ſchwachen Lichte ſchimmern, das immer ſchwä-
cher wird, je näher der Mond an ſeine Quadraturen kömmt.
Man nennt dieſes Licht das aſchgraue Licht (lumière cendrée)
des Mondes. Man hat die Urſache deſſelben lange geſucht, bis
ſie endlich Möſtlin, der Lehrer Kepler’s, entdeckte. Zur Zeit
des Neumonds nämlich, wenn die uns zugekehrte Seite des
Mondes in A ganz im Schatten ſeiner Nacht liegt, und daher
für uns unſichtbar ſeyn ſollte, zu dieſer Zeit iſt zugleich die von
der Sonne beleuchtete Hälfte der Erde, nach §. 164, völlig gegen
jene dunkle Seite des Mondes gekehrt, und da, wie bereits er-
wähnt, die Erde den Mond an Oberfläche nahe dreyzehnmal
übertrifft, ſo wirft dieſe große und durchaus beleuchtete Scheibe
der Erde eine ſo bedeutende Maſſe Lichts auf die dunkle Seite
des Mondes, daß uns die letzte dadurch wieder ſichtbar ſeyn
muß. Dieſes den Mond beleuchtende Erdenlicht erhalten wir
demnach von ihm, wie man zu ſagen pflegt, aus der dritten
Hand, da es, urſprünglich aus der Sonne kommend, die Erde
[326]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
trifft, von dieſer auf den Mond reflectirt und endlich von dem
Monde wieder auf die Erde zurückgeworfen wird, und uns ſo
die dunkle Seite des Mondes ſichtbar macht.


§. 166. (Tägliche Bewegung oder Rotation des Mondes.)
Die oben (§. 162) angegebenen Revolutionen des Mondes um die
Erde, welche wir auch Mondsmonate heißen, könnte man, ana-
log mit der Erde, auch die jährliche Bewegung des Mondes
nennen. Außer ihr bemerkt man aber auch an dem Monde eine
Rotation um ſeine eigene Axe, die man dann, wie dort bey der
Erde, die tägliche Bewegung des Mondes beißen könnte.


Bey der Erde iſt die jährliche Bewegung von der täglichen
ſehr verſchieden, da jene mehr als 365 mal länger dauert, als
dieſe. Nicht ſo iſt es bey dem Monde, wo beide Bewegungen,
die jährliche um die Erde, und die tägliche um ſich ſelbſt, voll-
kommen gleich ſind.


Wenn man nämlich die, bekanntlich mit mehreren Flecken
bedeckte, Oberfläche des Mondes etwas genauer betrachtet, ſo fin-
det man, daß ſie immer dieſelbe Stelle der Mondsſcheibe
einnehmen, und daß z. B. diejenigen Flecken, welche man in dem
Mittelpunkte dieſer Scheibe, oder an dem öſtlichen Rande deſ-
ſelben, ſieht, dieſen Mittelpunkt oder dieſen Rand nie verlaſſen,
mit anderen Worten, daß uns der Mond immer dieſelbe Seite
zuwendet. In der That hat auch noch kein Menſchenauge die
andere Seite des Mondes geſehen, die von der Erde abgewendet
iſt, und ewig von ihr abgewendet bleiben wird, gleichſam als
wenn die feſte Maſſe des Mondes durch eine Stange, die durch
den Mittelpunkt der Erde und des Mondes geht, mit uns un-
veränderlich verbunden wäre, und an dieſer Stange in jedem
Monate um uns herum geführt würde.


Dieſe Sonderbarkeit in der Bewegung des Mondes, die wir
auch bey den Monden aller übrigen Planeten wieder finden wer-
den, hat zu einem langen und heftigen Streite unter den Ge-
lehrten Anlaß gegeben. Newton war es, der jene Erſcheinung
zuerſt durch folgende Worte ausdrückte: „Der Mond zeigt uns
„immer dieſelbe Seite, alſo dreht er ſich um ſeine Axe.“ An-
dere Aſtronomen wollten daraus gerade das Gegentheil ſchließen,
[327]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
daß er ſich nämlich nicht um ſeine Axe drehe, eben weil er uns
immer dieſelbe Seite zuwendet.


Ohne uns hier bei der Geſchichte jener Discuſſionen länger
aufzuhalten, wollen wir nur bemerken, daß die Sache in letzter
Inſtanz ſich mit einem Wortſtreite endet, und daß man, je nach-
dem man das Wort Drehen in dem einen oder dem andern
Sinne nimmt, eben ſo gut ſagen kann, der Mond drehe ſich, als
er drehe ſich nicht. Etwa ſo, wie man von dem Tiſche, auf dem
man ſchreibt, ganz mit demſelben Rechte ſagen kann, er habe
eine, und er habe keine Bewegung. Er hat keine, weil er ſeinen
Ort gegen die nächſten Umgebungen, gegen die Wände des Zim-
mers, nicht ändert; und er hat eine, weil er auf der Erde iſt,
die, wie Jeder weiß, ſich um die Sonne und um ſich ſelbſt be-
wegt, und mit der ſich daher auch der Tiſch bewegen muß.


Das Mißverſtändniß bei dem Monde kam daher, weil wir
denſelben aus der Erde, aus dem eigentlichen Mittelpunkte ſeiner
Bewegung, betrachten. Denken wir uns aber ein Auge außer
der Mondsbahn, z. B. in der Sonne S (Fig. 26), ſo wird daſ-
ſelbe zur Zeit unſeres Neumonds in A die uns immer verbor-
gene Seite, zur Zeit des Vollmonds in C aber, zugleich mit uns,
die uns immer ſichtbare Seite des Mondes ſehen, und für einen
ſolchen Beobachter in der Sonne würde es daher keinem weitern
Zweifel unterliegen, daß der Mond ſich in der That, und zwar
in derſelben Zeit um ſeine Axe dreht, in welcher er um die Erde
geht, oder daß die Rotation deſſelben ſeiner Revolution, ſein
Jahr ſeinem Tage gleich iſt.


§. 167. (Jahreszeiten des Mondes.) Die Jahreszeiten der
Erde hängen, wie wir im ſiebenten Capitel geſehen haben, von
dem Winkel, welchen der Aequator der Erde mit der Ebene ihrer
Bahn um die Sonne macht, oder von der Schiefe der Ecliptik
ab. Je kleiner dieſer Winkel iſt, deſto weniger ſind die Jahres-
zeiten von einander verſchieden, und wenn dieſe beiden Ebenen
ganz zuſammenfallen, ſo würde ein immerwährender Frühling
auf der ganzen Erde herrſchen.


Nun iſt die Bahn des Mondes, die er um die Erde be-
ſchreibt, gegen den Aequator dieſes Satelliten nur um den kleinen
[328]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
Winkel von 6,6 Graden geneigt. Zwiſchen beiden liegt die Ebene
der Erdbahn oder der Ecliptik in der Mitte, ſo daß ſie mit der
Mondsbahn einen Winkel von 5°,1, und mit dem Mondsäquator
einen Winkel von 1°,5 bildet. Da aber die Durchſchnittslinie
der Mondsbahn mit der Ecliptik, oder die Knotenlinie derſelben,
ſehr veränderlich iſt, und in 19 Jahren ihren ganzen Umkreis
um die Erde vollendet, ſo wird dieſelbe Hälfte der Bahn 9 ½
Jahre über, und 9 ½ Jahre unter der Ecliptik liegen, ſo daß
man, der Wahrheit gemäßer, ſagen kann, daß die Mondsbahn
mit der Ecliptik ganz zuſammenfalle, und daher mit dem Monds-
äquator nur den ſehr kleinen Winkel von 1°,5 bilde. Aus dieſer
Urſache gibt es daher auf dem Monde beynahe gar keinen Un-
terſchied der Jahreszeiten, und die Temperatur, ſo wie die Länge
der Tage und Nächte, iſt auf dieſem Himmelskörper beynahe im-
mer dieſelbe.


§. 168. (Tageszeiten des Mondes.) Wenn wir, dem ge-
wöhnlichen Sprachgebrauche gemäß, durch das Wort Tag die
Zeit zwiſchen zwei nächſten Aufgängen der Sonne bezeichnen, ſo
ſind die Tage auf dem Monde unvergleichbar länger, als die auf
der Erde. Der Mondstag iſt nämlich die Zeit, von einem Neu-
monde zum andern, alſo 29 ½ unſerem Tage gleich. Die Be-
wohner des Monds ſehen alſo die Sonne durch 14 ¾ unſerer
Tage über, und eben ſo lange unter dem Horizonte, oder ihr
Tag, im engeren Sinne des Wortes, dauert 14 ¾ mal unſerer
24 Stunden, und eben ſo lange iſt auch, nach §. 167, ihre Nacht.
Die vier vorzüglichſten Phaſen der Erde, von denen wir §. 164
geſprochen haben, werden den Bewohnern des Mondes gleichſam
zu einer Himmelsuhr dienen, an welcher ſie ihre langen Tage
abmeſſen können, da ihnen die Erde im letzten Viertel, im Neu-
lichte, im erſten Viertel und im Volllichte erſcheinen wird, wenn
ſie in derſelben Ordnung Morgen, Mittag, Abend und Mitter-
nacht haben. Allein dieſe Uhr iſt nur für diejenigen Bewohner
des Mondes da, welche die vordere oder uns zugekehrte Seite
deſſelben einnehmen. Die andere Hälfte ſieht unſere Erde eben
ſo wenig, als ſie ſelbſt von uns geſehen werden kann, und jene
kennen die Exiſtenz dieſes großen und ſchönen Geſtirns nur vom
Hörenſagen ihrer Nachbarn.


[329]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.

§. 169. (Meſſung der Entfernung des Monds und der Sonne.)
Um die Diſtanz des Monds von der Erde zu meſſen, kann man
die oben bei Gelegenheit der Parallaxe erwähnten Methoden auf
ihn anwenden. Allein ſeine in §. 163 erklärten Phaſen geben
uns zugleich ein ſehr einfaches Mittel, die Diſtanz der Sonne zu
zu finden, ein Mittel, das ſelbſt den Alten ſchon bekannt war.
Zur Zeit ſeines erſten oder letzten Viertels ſieht man nämlich,
wie oben geſagt wurde, genau die Hälfte des Mondes beleuchtet.
Man erkennt dieſen Augenblick daran, daß die Lichtgränze, welche
den dunkeln Theil des Randes von dem hellen trennt, und die
ſonſt immer eine krumme Linie iſt, jetzt zu einer Graden, zu
einem Durchmeſſer des Mondes wird. In dieſem Momente iſt
die Linie, welche die Mittelpunkte der Erde und des Mondes
verbindet, ſenkrecht auf die den Mond mit der Sonne verbindende
Linie. In dem Dreiecke alſo, welches dieſe drei Himmelsförper
verbindet, iſt der Winkel an dem Monde gleich 90 Graden, der
Winkel an der Erde aber wird durch unmittelbare Beobachtung
der ſcheinbaren Diſtanz der Sonne von dem Monde gegeben.
Man kann daher in dieſem Dreiecke das Verhältniß der wahren
Diſtanz der Sonne und des Monds von der Erde beſtimmen,
und da man die Diſtanz des Monds ſchon aus andern Beobach-
tungen kennt, ſo wird man dadurch auch die Diſtanz der Sonne
von der Erde erhalten. Es iſt allerdings ſehr ſchwer, den Augen-
blick genau aufzufaſſen, in welchem jene Lichtgränze eine gerade
Linie wird, und von dieſer Beſtimmung hängt die Sicherheit des
Verfahrens ab. Demungeachtet verdankt man doch dieſer ein-
fachen Methode die erſten Kenntniſſe, die wir von der ungemeinen
Größe und Entfernung der Sonne erhalten haben.


§. 170. (Bewegung der Knoten und der Abſiden der Monds-
bahn.) Wir haben bereits oben geſagt, daß die Durchſchnitts-
linie der Mondsbahn mit der Ecliptik oder die ſogenannte Kno-
tenlinie der Mondsbahn ihren Ort am Himmel ſehr ſchnell ändert.
Nach den neueſten Beſtimmungen nimmt die Länge des Monds-
knotens, in Beziehung auf die Fixſterne, in 365 Tagen um 19°,3476
ab, oder dieſe Knoten gehen in jedem gemeinen Jahre um dieſen
Winkel rückwärts in der Ecliptik. Daraus folgt die ſideriſche
Revolution der Knoten 6793,28587, und die tropiſche 6798,17704
[330]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
Tage. Berechnet man daraus die Revolution des Monds ſelbſt
in Beziebung auf dieſe Knoten, ſo findet man ſie gleich 27,21214
Tage oder in dieſer Zeit vollendet der Mond zwei nächſte Durch-
gänge durch denſelben Knoten. Man nennt dieſe Zeit in der
Kalenderſprache den Drachenmonat.


Einer ähnlichen Bewegung ſind auch die Abſiden der Monds-
bahn unterworfen, oder die Endpunkte der großen Axe derſelben,
die man analog mit §. 137 das Perigeum und Apogeum der
Mondsbahn nennt. Sie gehen nämlich beide während einem ge-
meinen Jahre von 365 Tagen in Beziehung auf die Fixſterne,
durch einen Bogen von 40°,6488vorwärts, woraus wieder folgt,
daß die ſideriſche Revolution der Abſiden 3232,56753, die tropiſche
aber 3231,46119 Tage, und daß endlich die Revolution des Monds
ſelbſt in Beziehung auf dieſe Abſiden, d. h. daß die anomaliſtiſche
Revolution des Monds 27,55490 Tage beträgt.


§. 171. (Säculäre Aenderung der mittleren Bewegung des
Mondes.) Der Theorie und den Beobachtungen zu Folge iſt die
ſideriſche Revolution aller Planeten (§. 140) eine unveränderliche
Größe, die in den älteſten Zeiten ganz eben ſo groß, wie in den
neueſten, gefunden wurde (§. 125). Da aber dieſe Revolutionen
unmittelbar durch das dritte Geſetz Keplers (§. 146) von den
großen Axen der Planetenbahnen abhängen, ſo muß man alſo
auch dieſe Axen als conſtante, und für alle Zeiten unveränderliche
Größen betrachten. Es iſt ſehr merkwürdig, daß dieſe Größen
am Himmel die einzigen ſind, die keiner Veränderung unterworfen
ſind, während alles andere in immerwährender Bewegung iſt, und
während ſelbſt die Gränzpunkte und Normalebenen, auf die wir
alles beziehen, der Frühlingspunkt, der Aequator, die Ecliptik
u. ſ. w. ihren Stand am Himmel beſtändig wechſeln. Wir werden
weiter unten auf dieſen ſehr intereſſanten Gegenſtand wieder zu-
rückkommen, und bemerken hier nur, daß der Mond von jenem
allgemeinen Geſetze eine Ausnahme zu machen ſcheint. Wenn
man die älteſten Beobachtungen deſſelben mit den neueren ver-
gleicht, ſo findet man, daß die ſideriſche Revolution deſſelben
immer kleiner, daß alſo die mittlere Bewegung deſſelben (§. 140)
immer ſchneller wird. Eine unmittelbare Folge dieſer ſonder-
baren Erſcheinung, verbunden mit dem dritten Geſetze Keplers,
[331]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
würde die immerwährende Verkleinerung der großen Axe der
Mondsbahn, alſo eine ſtätige Annäherung des Mondes zur Erde
und endlich, in der Folge der Zeiten, ein Zuſammentreffen dieſer
beiden Geſtirne ſeyn.


Den Aſtronomen war die Urſache dieſes Phänomens, welches
gleichſam von der Natur eine Ausnahme macht, und für uns mit
der Zeit von den wichtigſten Folgen ſeyn muß, lange verborgen.
Endlich fanden ſie, daß dieſe Beſchleunigung der mittleren Bewe-
gung des Mondes, und eine ihr analoge Verzögerung der mitt-
leren Bewegung des Knotens und der Abſiden der Mondsbahn,
ihren Grund in der Veränderlichkeit der Excentricität der Erd-
bahn habe. Nach der Theorie hatte dieſe Excentricität der Erd-
bahn in dem Jahre 11400 vor unſerer Zeitrechnung den größten
Werth von 0,01965, und ſie nimmt ſeit jener Epoche durch 36900
Jahre immer ab, bis ſie in dem Jahre 25500 nach Ch. G. ihren
kleinſten Werth 0,0039 erreichen, und dann wieder allmählig zu-
nehmen wird. (Vergl. §. 150.) In dieſelbe große Periode von
36900 Jahren ſind alſo auch jene drei Veränderungen des Monds
und ſeiner Bahn eingeſchloſſen. Man darf daher nicht beſorgen,
daß der Mond in der Folge der Zeiten auf die Erde ſtürzen, und
ſich mit ihr vereinigen werde. Zwar nähert er ſich ihr ſchon ſeit
langer Zeit, und wird ſich ihr noch ferner nähern, aber nur bis
zu einer beſtimmten Gränze, von welcher an er wieder von der
Erde ſich allmählig entfernen wird.


§. 172. (Beleuchtung der Erde iſt nicht der Zweck des Mondes.)
Man glaubt gewöhnlich, daß der Mond nur der Erde und der
Beleuchtung ihrer Nächte wegen da ſey. Allein wenn die Natur
dieſen Zweck gehabt hätte, ſo würde ſie ihn nur ſehr unvollkommen
erreicht haben, da beinahe die Hälfte der Nächte eines jeden Mo-
nats ohne Mondlicht iſt. Hätte ſie dieſe Abſicht gehabt, ſo würde
ſie dieſelbe ſehr leicht erreicht haben, wenn der Mond im Augen-
blicke ſeiner Entſtehung im Vollmonde oder der Sonne gegenüber,
und zwar in einer Entfernung von der Erde geſtanden wäre, die
nahe den hundertſten Theil der Entfernung der Erde von der
Sonne betragen hätte, und wenn damals die Geſchwindigkeit des
Mondes ebenfalls der hundertſte Theil der Geſchwindigkeit der
Sonne geweſen wäre. Denn dann würde der Mond der Sonne
[332]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
immer gerade gegenüber geſtanden, oder immer im Vollmonde
geblieben ſeyn, und ſelbſt die Finſterniſſe, die uns jetzt zuweilen
einen Anblick rauben, würden in dieſer Entfernung nicht mehr
ſtatt gehabt haben. Damit er aber, in einer beinahe viermahl
größern Diſtanz auch eben ſo viel Licht im Vollmonde, als jetzt,
auf die Erde reflectiren könne, hätte ſeine Oberfläche auch eben
ſo vielmahl vergrößert werden müſſen. Da jedoch der große Ur-
heber der Natur dieſes einfache Mittel, welches allein zu jenem
Zwecke führt, nicht gewählt hat, ſo müſſen wir vorausſetzen, daß
er auch dieſen Zweck nicht erreichen wollte, und daß es daher
ſeine Abſicht nicht geweſen ſeyn kann, den Mond bloß für uns
hinzuſtellen, um ihn zum Fackelträger oder zum Diener der Erde
zu machen.


§. 173. (Verwickelte Bewegungen des Monds.) Wenn man
die oben (§. 141) erklärten elliptiſchen Bewegungen der Planeten
auf die Beobachtungen des Mondes anwendet, ſo ſieht man bald,
daß ſie allein nicht hinreichen, den Ort dieſes Satelliten am Him-
mel für jede Zeit zu beſtimmen. Man bemerkt nämlich, daß die
Bewegung des Mondes ſehr unregelmäßig, und großen Un-
gleichheiten unterworfen iſt, die ſich aber beinahe alle auf den
Stand deſſelben gegen die Sonne beziehen.


Die größte dieſer Ungleichheiten, und zugleich die erſte, die
man in den Beobachtungen des Monds erkannt hat, iſt die ſoge-
nannte Evection. Sie iſt gleich dem Winkel 1°,342 multiplicirt
in den Sinus der doppelten Winkeldiſtanz des Monds von der
Sonne, weniger der Winkeldiſtanz des Monds von ſeinem Peri-
geum. Zur Zeit der Syzygien vermiſcht ſich die Evection mit der
Gleichung der Bahn (§. 141), daher die alten Griechen, welche
den Mond nur in ſeinen Syzygien, wo allein die Finſterniſſe ſich
ereignen, beobachtete, dieſe Gleichung der Bahn des Mondes um
die ganze Evection zu klein gefunden haben.


Eine andere Ungleichheit iſt die Variation, die gleich
0,°595 multiplicirt in den Sinus der doppelten Winkeldiſtanz des
Monds von der Sonne. Dieſe Ungleichheit verſchwindet daher
in den Syzygien ſowohl, als auch in den beiden Quadraturen,
und ſie hat ihren größten Werth zwiſchen den Syzygien und
Quadraturen oder in den ſogenannten Octanten des Mondes.


[333]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.

Die jährliche Gleichung endlich iſt gleich 0°,187 multi-
plicirt in den Sinus der mittleren Anomalie (§. 140) der Sonne,
und durch ſie wird die Bewegung des Mondes beſchleuniget, wenn
die der Sonne, zur Zeit unſeres Sommers, verzögert wird und
umgekehrt.


Außer den erwähnten drei Ungleichheiten gibt es aber noch
eine große Anzahl kleinerer, welchen die Bewegung des Monds
unterworfen iſt, und die alle ihren Grund in den Störungen
haben, welche die Sonne auf den um die Erde ſich bewegenden
Mond ausübt. Ihre Entdeckung und die Beſtimmung ihrer
wahren Größe iſt das Reſultat der Vervollkommnung, zu welcher
die mathematiſche Analyſe, und die Beobachtungskunſt in den
neueren Zeiten gebracht worden iſt.


§. 174. (Mondsfinſterniſſe.) Da die Erde eine an ſich dunkle
Kugel iſt, welche ihr Licht nur von der Sonne erhält, ſo wird
ſie, wenn ſie von der Sonne beſchienen wird, einen Schatten hinter
ſich werfen. Dieſer Schatten hat die Geſtalt eines Kegels, deſſen
Baſis den Umfang der Erde und deſſen Länge nahe 3½mal grö-
ßer als die Entfernung des Monds von der Erde iſt. Die ganze
Breite dieſes Kegels in dem Orte, wo er von der Mondsbahn
geſchnitten wird, beträgt nahe 2⅔ Durchmeſſer des Mondes.


Wenn alſo die Bahn des Mondes mit der Ecliptik zuſam-
men fiele, ſo müßte der Mond jedesmahl zur Zeit ſeines vollen
Lichtes, wo er der Sonne gerade gegenüber ſteht, in den Schat-
tenkegel der Erde treten, und uns daher jeden Monat das Schau-
ſpiel einer Mondsfinſterniß geben. Da aber jene beiden Ebenen,
nach §. 167, den Winkel von 5°,1 mit einander bilden, ſo geht
der Mond meiſtens über oder unter dieſem Schattenkegel weg,
ohne ihn zu berühren. Er kann daher nur dann verfinſtert wer-
den, wenn er zur Zeit des Vollmondes zugleich nahe bei ſeinem
Knoten iſt, und dieß iſt nahe 29 mal in 18 Jahren der Fall.
Wenn ſich die ganze Scheibe des Mondes in den Schatten der
Erde ſenkt, ſo heißt die Finſterniß total, und im Gegentheile
partial, wenn nur ein Theil derſelben verfinſtert wird. Man
gibt die Größe der Verfinſterung gewöhnlich in Zollen an, deren
zwölf auf den Durchmeſſer des Mondes gehen. Die längſte
Dauer einer partialen Finſterniß kann nicht über 2 St. 18 M.,
[334]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
und die einer totalen nicht über 4 St. 38 M. währen. Die näch-
ſten bei uns ſichtbaren Mondsfinſterniſſe, die wir erwarten, werden
ſtatt haben:


  • 1835 am 10. Junius.
  • 1836 — 1. Mai und 24. Oktober.
  • 1837 — 20. April und 13. Oktober.
  • 1838 — 10. April und 3. Oktober.
  • 1840 — 17. Februar und 13. Auguſt.
  • 1841 — 6. Februar und 2. Auguſt.
  • 1842 — 26. Januar und 22. Julius.

§. 175. (Sonnenfinſterniſſe.) Oft ſieht man den Schatten
einer Wolke, wenn ſie von den Winden getrieben wird, über die
Erde ziehen, und wenn der Schatten den Zuſchauer erreicht, ihm
den Anblick der Sonne rauben, während andere, außer dieſer
Schattengränze, noch von ihr beſchienen werden. Dieß iſt ein
treues Bild einer andern Erſcheinung, die der Mond öfter zur
Zeit ſeines Neulichtes darbietet. Dann ſteht er nämlich in der-
ſelben Gegend des Himmels, wie die Sonne, und wenn ihn ſeine
Bahn nahe genug bei der Sonne vorüberführt, ſo wird er auch
allen denjenigen, die ſich in der geraden Linie, die durch Sonne
und Mond geht, befinden, den Anblick der Sonne entziehen,
oder eine Sonnenfinſterniß verurſachen.


Geht daher der Mond zur Zeit ſeines Neulichtes für uns
mitten durch die Sonne, ſo wird er, wenn ſein ſcheinbarer Halb-
meſſer größer iſt, als jener der Sonne, die ganze Sonne bedecken,
oder die Finſterniß wird total ſeyn. Im Gegentheile wird er
die Sonne nicht ganz bedecken, ſondern noch rings um ſich einen
hellen Rand der Sonne frei laſſen, oder die Finſterniß wird
ringförmig ſeyn. Geht endlich, wie es meiſtens geſchieht, der
Mond nicht mitten durch die Sonne, ſo wird er uns nur einen
Seitentheil derſelben bedecken, oder die Finſterniß wird partial
ſeyn.


Bei einer Mondsfinſterniß ſehen alle Bewohner der Erde, die
nur überhaupt noch den Mond ſehen, die Finſterniß in demſelben
Augenblicke, und auch von derſelben Größe, weil hier der Mond,
durch den Erdſchatten, ſeines Lichtes in der That beraubt wird.
Bei einer Sonnenfinſterniß aber wird das Licht der Sonne durch
[335]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
den Mond nur verſtellt, und zwar nur für diejenigen verſtellt,
welche ſich in der Richtung der durch Sonne und Mond gehenden
Linie befinden, während die außer jener Richtung liegenden Be-
wohner der Erde, wie dort bei der Wolke, dieſe Finſterniß ent-
weder gar nicht, oder doch eine andere Größe derſelben ſehen.
Man ſieht daraus, daß die Berechnung einer Sonnenfinſterniß
mehr Schwierigkeiten darbietet, als die einer Mondsfinſterniß,
weil dort auch auf den Stand des Beobachters Rückſicht genom-
men werden muß, die hier ganz wegfällt. Doch hat man die
Regeln, welche man bei der Berechnung beider Arten von Finſter-
niſſen zu beobachten hat, auf ſo einfache Ausdrücke zurückgebracht,
daß ſie von jedem nur mit einiger Kenntniß des Gegenſtandes
verſehenen Anfänger ohne Mühe ausgeführt werden können.


Uebrigens ſind die Sonnenfinſterniſſe für die ganze Erde im
allgemeinen viel häufiger, als die des Mondes, da in 18 Jahren nahe
40 derſelben ſtatt haben; für einen beſtimmten Ort der Erde aber,
z. B. für Paris oder Wien ſind die daſelbſt ſichtbaren Sonnenfin-
ſterniſſe beinahe dreimal ſeltener, als die Mondsfinſterniſſe, ſo daß
im Durchſchnitte jeder Ort nur alle zwei Jahre eine Sonnen-
finſterniß, und erſt in 200 Jahren eine totale zu erwarten hat.


Die nächſten in Europa ſichtbaren größeren Sonnenfinſter-
niſſe ſind:


  • 1836 am 15. Mai.
  • 1837 — 4. Mai.
  • 1839 — 15. März.
  • 1841 — 21. Februar und 18. Julius.
  • 1842 — 8. Julius.

Die älteſte Nachricht von Finſterniſſen, die auf uns gekom-
men iſt, iſt die von dem Jahre 2550 vor Ch. G. welche wie die
heiligen Bücher der Chineſen erzählen, die Aſtronomen Ho und Hi
falſch berechneten, und dafür mit dem Tode beſtraft wurden. Die
älteſte eigentliche Beobachtung von Finſterniſſen hat uns Ptole-
mäus in ſeinem Almageſt erhalten. Sie beſtehen in zwei Monds-
finſterniſſen, welche die Chaldäer zu Babylon i. J. 719 und 720
vor Ch. beobachtet haben.


§. 176. (Satelliten Jupiters.) Um den Planeten Jupiter
bewegen ſich vier Monde, die gleich nach der Erfindung der Fern-
[336]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
röhre von Galilei im Jahre 1610 entdeckt worden ſind. Obgleich
man ſie erſt ſeit 200 Jahren mit Genauigkeit beobachtet, ſo haben
ſie uns doch, durch die Schnelligkeit ihrer Revolutionen, bereits
alle die Veränderungen kennen laſſen, welche ſich in unſerem
Planetenſyſteme erſt in einer Reihe von vielen Jahrtauſenden ent-
wickeln werden.


Folgende Tafel zeigt ihre Umlaufszeiten und Entfernungen
von dem Mittelpunkte Jupiters, und die wahren Halbmeſſer
deſſelben.


Dieſe Tafel zeigt, daß auch dieſe Satelliten das dritte Geſetz Keplers (§. 146)
beobachten.


[337]Der Mond der Erde u. d. Satelliten d. übrig. Planeten.

Oft ſieht man dieſe Monde plötzlich verſchwinden, und nach
einigen Stunden weiter öſtlich wieder erſcheinen. Man erkannte
bald, daß dieſe Mondsfinſterniſſe durch den Schatten ihres
Hauptplaneten hervorgebracht werden, und daß daher beide Him-
melskörper an ſich dunkel ſind, und ihr Licht nur von der Sonne
erhalten. Mit guten Fernröhren ſieht man dieſe Satelliten auch
oft an der öſtlichen Scheibe Jupiters in dieſelbe eintreten, und
auf derſelben gegen den weſtlichen Rand fortrücken, wo ihnen
nahe eben ſo große dunkle Flecken folgen, die denſelben Weg,
wie jene, und mit derſelben Geſchwindigkeit zurücklegen, alſo die
Schatten der Satelliten ſind, welche ſie auf ihren Hauptplaneten
werfen. Dieſe Erſcheinungen ſind daher wahre Sonnenfin-
ſterniſſe
, welche dieſe Monde auf der Oberfläche Jupiters ver-
anlaſſen.


§. 177. (Merkwürdige Verhältniſſe zwiſchen dieſen Satelliten.)
Vergleicht man die mittleren Längen der drei dem Jupiter näch-
ſten Satelliten, ſo findet man, daß für jede gegebene Epoche die
Länge des erſten oder nächſten ſammt der doppelten Länge des
zweiten, weniger der dreifachen Länge des dritten immer gleich
180 Graden iſt. Eben ſo iſt die mittlere ſideriſche Bewegung des
erſten für irgend einen Zeitraum ſammt der doppelten des zweiten
immer gleich der dreifachen Bewegung des dritten während der-
ſelben Zeit. Daraus folgt, daß dieſe drei Satelliten nie alle
zugleich verfinſtert werden können.


Die Neigungen der Bahnen dieſer Satelliten gegen den
Aequator Jupiters ſind ſämmtlich ſehr gering. Ohne Zweifel
ſind ſie ebenfalls Ellipſen, in deren einem Brennpunkte der Mittel-
punkt ihres Hauptplaneten liegt. Aber ſie ſind ſämmtlich zu weit
von uns entfernt, um die Excentricität ihrer Bahnen beobachten
zu können, die zwei äußerſten ausgenommen, bei denen man ſie
in der That ſchon bemerkt hat.


§. 178. (Anwendung derſelben zu andern aſtronomiſchen Unter-
ſuchungen.) Es iſt bereits oben bemerkt worden (§. 77), daß die
Beobachtung der Finſterniſſe dieſer Monde uns die Geſchwindig-
keit des Lichts kennen gelehrt hat.


Littrow’s Himmel u. ſ. Wunder I. 22
[338]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.

Eben ſo geben uns auch dieſelben Finſterniſſe wenigſtens eine
erſte genäherte Kenntniß der Entfernung Jupiters von der Sonne.
Denn zur Zeit der Mitte einer jeden dieſer Finſterniſſe iſt der
Satellit, aus dem Mittelpunkte Jupiters geſehen, ſehr nahe in
Oppoſition mit der Sonne, oder ſeine von Jupiter geſehene Länge
iſt gleich der beliocentriſchen Länge Jupiters, die uns durch die
Tafeln (§. 144) dieſes Planeten gegeben iſt. Eben ſo geben uns
aber auch die Sonnentafeln die heliocentriſche Länge der Erde für
dieſelbe Zeit. Man kennt daher in dem Dreiecke zwiſchen Sonne,
Erde und Jupiter den Winkel an der Sonne, der gleich der Dif-
ferenz jener beiden heliocentriſchen Längen iſt, und überdieß, durch
unmittelbare Beobachtung, auch den Winkel an der Erde, alſo
kennt man auch die Entfernungen Jupiters von der Sonne in
Theilen der Entfernung der Erde von der Sonne.


§. 179. (Beſtimmung der geographiſchen Länge.) Endlich
kann man dieſe Finſterniſſe auch ſehr bequem zu den Beſtimmun-
gen der geographiſchen Länge der Beobachtungsorte auf der Ober-
fläche der Erde anwenden. Da ſie nämlich, ſo wie unſere Monds-
finſterniſſe (§. 175), wahrhafte Beraubungen des Lichts ſind, wel-
ches dieſe Satelliten von der Sonne erhalten, und welches ſie,
wenn ſie in den Schatten ihres Hauptplaneten treten, verlieren, ſo
muß der Anfang oder das Ende dieſer Finſterniſſe an allen Orten
der Erde in einem und demſelben Augenblicke geſehen werden.
Drückt daher jeder Beobachter derſelben dieſen Anfang der Fin-
ſterniß in der Zeit ſeines Ortes aus, ſo darf man nur dieſe
Ortszeiten zweier Beobachter von einander ſubtrahiren, um ſofort
auch die Differenz der Längen beider Beobachter zu erhalten.
Hätte man z. B. eine ſolche Finſterniß zu Paris um 8h 20′ 40″
und zu Wien um 9h 16′ 50″ beobachtet, ſo würde die Differenz
der Meridianen, d. h. die Differenz der geographiſchen Längen
dieſer beiden Orte 0h 56′ 10″ oder 14° 2′ 30″ ſeyn, um wel-
chen Bogen Wien öſtlicher als Paris liegt. Daſſelbe gilt unver-
ändert auch von den Mondsfinſterniſſen des Satelliten unſerer
Erde, aber nicht von den Sonnenfinſterniſſen (§. 175). Denn
dieſe letzten haben für verſchiedene Beobachter zu verſchiedenen
Zeiten ſtatt, und können daher nicht, wie jene, als tautochrone
[339]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
Erſcheinungen beobachtet werden. Man verfährt bei dieſen Son-
nenfinſterniſſen, ſo wie bei den Bedeckungen der Fixſterne von
dem Monde gewöhnlich ſo, daß man die Ortszeit jeder Beobach-
tung durch eine eigene Rechnung auf diejenige Zeit bringt, zu
welcher man dieſelbe Finſterniß aus dem Mittelpunkte der Erde
geſehen haben würde. Dieſe Rechnung kann, bei der gegenwärti-
gen Vollkommenheit unſerer Mondstafeln, mit großer Sicherheit
geführt werden. Dieſe geocentriſchen Beobachtungen aber, in
verſchiedenen Ortszeiten ausgedrückt, ſind offenbar wieder als ſolche
tautochrone Erſcheinungen zu betrachten, deren Zeiten man daher
nur von einander ſubtrahiren darf, um ſofort die geſuchte Diffe-
renz der geographiſchen Länge jener Beobachtungsorte zu erhalten.


§. 180. (Satelliten Saturns.) Den Saturn umgeben ſieben
Monde, welche aber, den ſechsten ausgenommen, der an Größe
den Mars übertrifft, ſämmtlich ſo klein ſind, daß ſie nur durch
gute Fernröhre wahrgenommen werden können, aus welcher Ur-
ſache auch die Theorie ihrer Bewegungen noch ſehr wenig bekannt
iſt. Ihre ſideriſchen Umlaufszeiten um dieſen Planeten, ihre mitt-
leren Entfernungen von denſelben, und endlich die Durchmeſſer
derſelben gibt folgende Tafel.


22 *
[340]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.

Man bemerkt daher auch bei ihnen die Bewegung nach dem
dritten Geſetze Keplers. Die Durchmeſſer der beiden erſten ſind
äußerſt ſchwer zu beſtimmen, beſonders des nächſten an dem
Hauptplaneten, der wahrſcheinlich der kleinſte der uns bekannten
Himmelskörper iſt. Die Excentricitäten dieſer Satellitenbahnen
können wegen der zu großen Entfernung derſelben, nicht mit Ge-
nauigkeit beſtimmt werden. Die Neigungen dieſer Bahnen aber
gegen die Saturnsbahn ſind viel beträchtlicher, als bei den Monden
Jupiters, daher auch ihre Finſterniſſe viel ſeltener ſind. Bei dem
ſiebenten oder dem von Saturn entfernteſten Monde hat man be-
merkt, daß er auf der Oſtſeite ſeines Hauptplaneten immer heller
erſcheint, als bei ſeiner weſtlichen Digreſſion. Mit mehr Verläß-
lichkeit hat man ähnliche Beobachtungen auch an den Satelliten
Jupiters angeſtellt, und daraus geſchloſſen, daß ſich dieſe Satelli-
ten alle, ſo wie unſer Mond (§. 166) in derſelben Zeit um ſeine
Axe drehen, in welchen ſie ſich um ſeinen Hauptplaneten bewegen.
Dieſe Gleichheit der Revolution und der Rotation ſcheint daher
ein, allen Satelliten gemeinſames Geſetz zu ſeyn.


§. 181. (Satelliten des Uranus.) Noch unbekannter ſind uns
die ſechs Satelliten des äußerſten unſeres Planeten, des Uranus.
Nach den Beobachtungen des älteren Herſchels ſind die ſideriſchen
Umlaufszeiten und die Entfernungen derſelben von dem Mittel-
punkte des Uranus folgende.


Die Bahnen dieſer ſechs Monde ſollen alle auf der Uranus-
bahn nahe ſenkrecht ſtehen. Wenn daher auch hier, wie es bei
[341]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
Jupiter und Saturn der Fall iſt, die Bahnen der Satelliten nahe
mit dem Aequator ihrer Hauptplaneten zuſammen fallen, ſo würde
die Schiefe der Ecliptik bei Uranus nahe ein rechter Winkel ſeyn,
und daher auf ihn die oben (§. 91) gegebene Bemerkung un-
mittelbar angewendet werden können.


§. 182. (Ring Saturns.) Wir kehren noch einmal zu dieſem
Planeten zurück, um einer Eigenthümlichkeit deſſelben zu erwäh-
nen, die im ganzen geſtirnten Himmel, ſo weit wir denſelben ken-
nen, ohne Beiſpiel iſt. Saturn iſt nämlich, nebſt ſeinen ſieben
Monden, noch mit einem doppelten, kreisförmigen, dem Haupt-
planeten concentriſchen Ringe umgeben, deſſen Daſeyn zuerſt
Huygens im Jahre 1655 erkannt hat. Beide Ringe liegen nahe
in der Ebene des Aequators dieſes Planeten. Die Dimenſionen
dieſer Ringe ſind für die mittlere Diſtanz des Uranus von der
Erde nach den neueſten Meſſungen folgende.


  • Aeußerer Ring. Aeußerer Halbmeſſer A = 20″,047; inne-
    rer Halbmeſſer B = 17″,644.
  • Innerer Ring. Aeußerer Halbmeſſer a = 17″.237; inne-
    rer Halbmeſſer b = 13″,334.

Dabei wird der Aequatorialhalbmeſſer Saturns ſelbſt gleich
r = 8″,995 vorausgeſetzt. Dem gemäß iſt daher die Breite des
äußeren Rings A — B = 2″,403 und die des inneren a — b =
3″,903. Die Breite der Spalte zwiſchen beiden Ringen iſt B —
a
= 0″,408, und der Abſtand des inneren Randes des kleineren
Rings von der Oberfläche Saturs endlich iſt b — r = 4″,339.
Multiplicirt man dieſe Zahlen durch 951, ſo erhält man dieſe
Dimenſionen in deutſche Meilen ausgedrückt.


Da die Ebene dieſes kreisförmigen Ringes gegen die Ecliptik
nahe 28°,37 geneigt iſt, ſo zeigt er ſich uns in der Geſtalt einer
Ellipſe. Die große Axe dieſer Ellipſe erſcheint uns unter dem
Winkel von 40″,2, wenn Saturn in ſeiner mittlern Entfernung
von der Erde iſt, die kleinere Axe derſelben aber iſt, nach der
Lage der Ringebene gegen die Erdbahn, ſehr verſchieden. Wenn
dieſe kleine Axe am größten iſt, ſo beträgt ſie 19″,1. Sie kann
aber auch für die Bewohner der Erde völlig verſchwinden, und
dann ſehen wir den Saturnsring entweder nur als eine gerade
[342]Der Mond d. Erde u. die Satelliten d. übrig. Planeten.
Linie, oder er wird uns gänzlich unſichtbar. Dieſer Fall tritt
ein, wenn die erweiterte Ebene des Rings durch die Sonne gebt,
und daher nur die ſchmale Kante deſſelben beſchienen wird, oder
wenn die Ringebene durch die Erde geht, oder endlich, wenn die
von der Sonne beſchienene Seitenfläche des Rings von der Erde
abgewendet, und nur die dunkle Seite deſſelben uns zugekehrt
iſt. Wir werden ſpäter auf dieſe intereſſanten Gegenſtände wieder
zurückkommen.


[[343]]

KapitelXII.
Refraction, Praͤceſſion und Nutation.


§. 183. (Höhe und Dichtigkeit der Atmoſphäre.) Nachdem
wir in dem Vorhergehenden die Erſcheinungen des Himmels im
Allgemeinen betrachtet haben, gehen wir nun zu einigen anderen
zurück, die zwar weniger auffallend und für die erſten Beobachter
vielleicht ganz unbemerkbar ſind, die aber ſowohl an ſich, als auch
in Beziehung auf jene größeren Erſcheinungen und überhaupt auf
unſere genauere Kenntniß der himmliſchen Bewegungen, zu wichtig
ſind, als daß ſie hier übergangen werden könnten.


Unſere Erde iſt bekanntlich ringsum von einem Luftmeere umge-
ben, an deſſen Grunde wir uns aufhalten. Dieſe Luft ſcheint ſich nicht
eben ſehr hoch über die Oberfläche der Erde zu erſtrecken, da wir auf
den Gipfeln hoher Berge und in unſern Aeroſtaten ſchon in der
Höhe von einer deutſchen Meile die Abnahme derſelben durch ein
deutliches Gefühl bemerken. Genauer aber können wir dieſe Ab-
nahme durch das bekannte Barometer beobachten. Dieſes Inſtru-
ment iſt nämlich nicht, wie man noch jetzt ſo häufig glaubt, be-
ſtimmt, uns die künftige Witterung zu verkündigen, ſondern bloß
das Gewicht oder den Druck desjenigen Theiles der Luft anzuge-
ben, der noch über dieſem Inſtrumente bis zur höchſten Gränze
der Atmoſphäre enthalten iſt. Je höher das Barometer über der
[344]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Oberfläche der Erde ſteht, deſto kürzer iſt die noch übrige Luft-
ſäule, die über demſelben enthalten iſt, deſto geringer iſt alſo auch
der Druck dieſer Säule, ſelbſt wenn ſie überall von gleicher Dichte
wäre und deſto niedriger iſt endlich auch der Stand des Queckſil-
bers in der Glasröhre des Inſtruments, ſo daß man daher, durch
den Stand des Barometers, den Druck der Luft in jeder Höhe
über der Erde, alſo auch, wenn dieſer Druck ſchon aus anderen
Gründen bekannt iſt, jene Höhe über der Erde meſſen kann.


Die Luft hat nämlich, wie alle anderen Körper, eine be-
ſtimmte Schwere oder ein beſtimmtes Gewicht, mit welchem ſie
auf die unter ihr liegenden Gegenſtände einen Druck ausübt. An
der Oberfläche des Meeres hält dieſer Druck der Luft einer Queck-
ſilberſäule des Barometers von 28 Par. Zollen das Gleichgewicht,
wenn das Thermometer 0 Grad R. zeigt, wodurch man alſo
gleichſam das Maaß dieſes Druckes erhält. Unter dieſem Drucke
und bei dieſer Temperatur der Luft verhält ſich, wie die phyſiſchen
Verſuche von Biot und Arago zeigen, die ſpecifiſche Schwere
der Luft zu der des Queckſilbers wie 1 zu 10462. Wenn daher
die Atmoſphäre durchaus dieſelbe Dichte hätte, ſo würde ihre
Höhe über der Erde 28mal 10462 Zolle oder 24411 Par. Fuß,
d. h. alſo nahe eine d. Meile betragen und das Queckſilber würde
an allen Orten der Atmoſphäre gleichviel, z. B. um einen Zoll
fallen, wenn man an dieſen Orten um dieſelbe Größe, z. B. um 1000
Fuß höher ſteigt. Dann würde man nämlich für die Barometer-
ſtände von 27, 26, 25 und 24 Zollen in derſelben Ordnung die
Höhen der Beobachtungsorte über der Erde 872, 1744, 2615 und 3587
Fuß erhalten. Allein dieß iſt den Beobachtungen keineswegs gemäß.
Wenn man ſich nahe 1050 P. Fuß über das Meer erhebt, ſo ſenkt das
Barometer auf 27 Zolle herab; in der Höhe von 1970 Fuß über dem
Meere zeigt es 26 Zolle, in der Höhe von 2930 Fuß 25 Zolle, in der
Höhe von 3930 Fuß 24 Zolle u. ſ. w. Aus dieſen Zahlen folgt, daß
die Dichte der Luft nicht in allen ihren Höhen dieſelbe ſeyn kann.
Der berühmte Phyſiker Marrotti hat gefunden, daß dieſe Dichte
der Luft dem Druck derſelben, alſo den Barometerhöhen ſelbſt
proportional iſt. Nach dieſem Geſetze müſſen alſo die unteren,
der Erde näheren Schichten dichter ſeyn, als die oberen, deren
Gewicht jene erſten zuſammendrückt. Wenn die Temperatur der
[345]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Luft durchaus dieſelbe wäre, ſo würde aus dieſem Geſetze folgen,
daß die Dichte der Luft, alſo auch die Barometerhöhe in einer
ſogenannten geometriſchen Progreſſion abnimmt, wenn die Diffe-
renzen der Höhen über der Erde in einer arithmetiſchen Progreſ-
ſion wachſen. Dieß iſt bei den vorhergehenden Höhen für 27, 26,
25 und 24 Zoll des Barometers der Fall, da die Differenzen
dieſer Höhen 920, 960, 1000 Fuß betragen, wo man jede dieſer Zah-
len findet, wenn man die nächſtvorhergehende durch 1,04 multipli-
cirt, was eine charakteriſtiſche Eigenſchaft der geometriſchen Pro-
greſſionen iſt. Allein auch dieß iſt nicht der Fall der Natur und
wir wiſſen, daß es auf hohen Bergen immer beträchtlich kälter
iſt, als in den Ebenen. Die in den oberen Gegenden der Atmoſphäre
herrſchende Kälte wird alſo die Dichte der oberen Luftſchichten
wieder vermehren und ſo der Atmoſphäre ſelbſt Gränzen ſetzen.
Wenn das Mariotti’ſche Geſetz nach aller Schärfe wahr wäre,
und wenn die Luft durchaus dieſelbe Temperatur hätte, ſo würde
ſie ſich, obſchon in immer dünneren Schichten, von der Erde aus
ohne Gränzen in den unendlichen Raum erſtrecken. Wie es aber
auch mit dieſer Gränze der Atmoſphäre ſich verhalten mag, ſo iſt
aus den erwähnten Beobachtungen über die Abnahme der Dichte
derſelben klar, daß ſie in einer Höhe, die den hundertſten Theil
des Erddurchmeſſers, alſo nahe 17 Meilen, beträgt, ſchon ſo dünne
ſeyn muß, daß nicht nur keines der uns bekannten Thiere mehr
darin leben kann, ſondern daß ſelbſt unſere feinſten phyſiſchen In-
ſtrumente uns nicht einmal die Exiſtenz derſelben mehr anzugeben
im Stande ſeyn würden. Die für unſere Sinne vielleicht noch
fühlbare Luft erſtreckt ſich nicht über zwei d. Meilen von der Ober-
fläche der Erde und in dieſen Gegenden iſt die Dichte derſelben
nahe der achte Theil ihrer Dichte an der Oberfläche des Meeres.
Bis zu dieſer Höhe kann man, den Beobachtungen gemäß, die
Atmoſphäre, ihre Dichte ausgenommen, in allgemeinen als
gleichförmig oder aus der Oberfläche der Erde parallelen ſphäri-
ſchen Schichten beſtehend annehmen, deren jede in allen Punkten
gleich dicht iſt, während die Dichte der verſchiedenen Schichten
ſelbſt mit ihrer Höhe von der Erde nach dem erwähnten Geſetze
abnimmt. Dieſe Annahme iſt auch der Lehre von dem Gleichge-
wichte der Flüſſigkeiten vollkommen gemäß und ſie ſetzt uns zu-
[346]Refraction, Präceſſion und Nutation.
gleich in den Stand, die Wirkungen dieſer auf die erwähnte Weiſe
conſtituirten Atmoſphäre der Rechnung zu unterwerfen. Die Ueber-
einſtimmung der Reſultate dieſer Rechnungen mit jenen der un-
mittelbaren Beobachtungen wird dann zeigen, ob jene Voraus-
ſetzung ſelbſt der Wahrheit gemäß iſt.


§. 184. (Refraction.) Wie alle durchſichtigen Körper, ſo
hat auch die Luft die Eigenſchaft, daß ſie die auf ſie fallenden
Lichtſtrahlen, indem ſie dieſelben anzieht, bricht und ihnen eine
andere Richtung gibt. Die Folge davon iſt, daß wir die Sonne
und überhaupt alle Körper des Himmels an einem ganz andern
Orte ſehen, als an dem, welchen ſie in der That einnehmen.


Iſt C (Fig. 25) der Mittelpunkt der Erde, B der Beobachter
auf der Oberfläche derſelben und S ein Geſtirn, ſo wird der Licht-
ſtrabl Ss, wenn er der erſten der oben erwähnten concentriſchen
Luftſchichten in s begegnet, von derſelben ſo gebrochen, daß er
auf der anderen Seite von s der Linie Cs oder dem Einfallslothe
näher kömmt, als er ohne Brechung gekommen ſeyn würde. Da
ferner die Veſchaffenheit der Schichten in allen Richtungen um den
Punkt s durchaus dieſelbe iſt, ſo wird der Strahl durch die Bre-
chung nur von dem Zenithe weg, aber nicht ſeitwärts gebracht,
ſo daß er auch nach ſeiner Brechung noch in derſelben Verti-
calebene CSs liegt, wie vor derſelben, oder daß durch dieſe Bre-
chung nur die Zenithdiſtanz, aber nicht das Azimut des Sterns
(Einl. 20) verändert wird. Dieſe Veränderung iſt allerdings nur
ſehr gering, weil die Dichte ſowohl, als die Dicke dieſer erſten
Schicht ebenfalls nur äußerſt klein iſt. Aber die zweite Schicht
bewirkt eine ähnliche Veränderung oder eine ähnliche Beugung
des Lichtſtrahls, und da daſſelbe auch von allen folgenden Schich-
ten gilt, ſo wird die Wirkung aller dieſer Brechungen ſeyn, daß
der anfänglich geradlinige Strahl Ss innerhalb der Atmoſphäre
oder von dem Punkte s bis zu dem Auge des Beobachters in B
eine gegen die Erde hohle krumme Linie sB beſchreibt. Nun
ſieht man aber alle Gegenſtände in derjenigen Richtung, welche
der von ihm ausgehende Lichtſtrahl in dem Augenblicke hat, in
welchem er das Auge des Beobachters trifft, unbeſchadet aller der
andern Richtungen, die er etwa vor dieſem Augenblicke gehabt
haben kann. Daraus folgt, das Auge ſieht den Stern S in der
[347]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Richtung der Tangente des letzten Punktes der krummen Linie,
die er in der Atmoſphäre beſchreibt, oder in der Richtung der ge-
raden Linie Bs' S', alſo auch näher bei dem Zenithe Z, als es den
Stern ohne Refraction geſehen haben würde. So wie aber BS
die letzte Tangente jener krummen Linie iſt, ſo iſt auch die gerade
Linie Ss die erſte Tangente derſelben. Verlängert man dieſe Linie
Ss auf der anderen Seite von s, bis ſie die letzte Tangente in n
und die Erde in D trifft, ſo iſt der Winkel BnD dieſer beiden
Tangenten die eigentliche Ablenkung des Strahls, die durch die
Refraction hervorgebracht wird, oder dieſer Winkel BnD iſt die
geſuchte Refraction oder die Strahlenbrechung des Sterns S für die
ſcheinbare Zenithdiſtanz ZBS, in welcher ihm der Beobachter in B ſieht.


§. 185. (Beſtimmung der Größe der Refraction.) Es iſt nun
Sache der Geometrie, die Größe dieſes Winkels BnD oder die
Refraction der Geſtirne für jede ſcheinbare Zenithdiſtanz ZBS' zu
beſtimmen. Man ſieht von ſelbſt, daß dieſe Beſtimmung durch
das ganze Gebiet der praktiſchen Aſtronomie von der größten
Wichtigkeit iſt, da ſie alle unſere Beobachtungen ohne Ausnahme
afficirt, und da wir durchaus von keinem Himmelskörper den
wahren Ort angeben können, den er im Weltraume einnimmt,
wenn wir ihn nicht zuerſt von dieſer optiſchen Täuſchung befreit
haben, durch welche wir alle dieſe Körper höher über dem Hori-
zonte ſehen, als ſie es in der That ſind.


Unglücklicher Weiſe iſt aber dieſe Aufgabe ſehr ſchwer mit
vollkommener Schärfe zu löſen. Wir haben bereits oben (§. 162)
geſagt, daß die Dichte der Luft, die, nach Marrotti’s Geſetz, in
jedem Punkte derſelben dem Drucke der oberen Schichten propor-
tional iſt, durch die in den höheren Gegenden der Atmoſphäre
herrſchende Kälte wieder vergrößert wird. Man nimmt gewöhn-
lich an, daß für jede Erhöhung von nahe 670 Par. Fuß über die
Oberfläche der Erde die Temperatur der Atmoſphäre um einen
Grad Reaum. abnimmt. Allein dieſe Annahme iſt keineswegs
hinlänglich begründet. Unſere größten Berge und ſelbſt unſere
höchſten Luftfahrten ſind noch viel zu gering, um von ihnen eine
ſichere Belehrung über die Conſtitution der höchſten Luftſchichten
hoffen zu können. Mit einem Worte, das Geſetz, nach welchem
ſich die Kälte in den höheren Gegenden und alſo auch die Dichte
[348]Refraction, Präceſſion und Nutation.
der Luft daſelbſt ändert, iſt uns noch ſo gut als gänzlich unbekannt
und ſo lange wir die Dichte der Luft in ihren verſchiedenen Schich-
ten nicht kennen, iſt es auch nicht möglich, die Refraction, die ganz
von dieſer Dichte abhängt, zu beſtimmen. Dieſen Hinderniſſen
ungeachtet haben die Aſtronomen, beſonders in den letzten Zeiten,
die Theorie der Refraction ſo weit vervollkommnet, daß ſie nun,
ſelbſt für unſere genaueſten Beobachtungen, wohl nur ſehr wenig
mehr zu wünſchen übrig läßt. Sie haben uns ſolche Tafeln ge-
liefert, aus welchen man für jede beobachtete Zenithdiſtanz die
Refraction finden kann, die, zu der beobachteten Zenithdiſtanz ad-
dirt, die wahre oder diejenige gibt, welche man beobachten würde,
wenn unſere Erde von keiner Atmoſphäre umgeben wäre, oder
wenn wir alle Geſtirne an demjenigen Orte des Himmels ſehen
könnten, den ſie in der That einnehmen.


Ohne hier dieſe Tafel mitzutheilen, wird es genügen, fol-
gende Eigenſchaften der Refraction zu bemerken, 1) für Sterne
im Zenithe des Beobachters verſchwindet die Refraction. 2) Je
größer die Zenithdiſtanz des Sterns iſt, deſto größer iſt auch die
Refraction, bis ſie endlich, für Sterne, die im Horizonte erſchei-
nen, am größten iſt, wo ſie nahe 0° 33′ beträgt. 3) Von der
Entfernung der Geſtirne iſt ſie ganz unabhängig, weil ſie alle
weit außer unſerer Atmoſphäre liegen und die Refraction nur durch
die letzte bedingt wird. 4) Bis zur ſcheinbaren Zenithdiſtanz von
45 Graden läßt ſich die Refraction noch genau genug durch das
Product von 58 Secunden in die Tangente der ſcheinbaren Zenith-
diſtanz darſtellen, aber für weiter vom Zenithe entfernte Sterne
iſt der Ausdruck für die Refraction mehr zuſammengeſetzt. 5) End-
lich ändert ſich die Refraction mit dem Zuſtande der Atmoſphäre,
beſonders wenn die Dichte oder die Temperatur deſſelben ſich än-
dert, daher man noch zwei Correctionen an die Refraction an-
bringt, deren die erſte von dem Barometer und die zweite von
dem Thermometer abhängt.


§. 186. (Horizontalrefraction.) Wenn ein Gegenſtand, z. B.
die Sonne AC (Fig. 25), auch noch unter dem Horizonte BH des
Beobachters in B iſt und alſo für denſelben noch unſichtbar ſeyn
ſollte, ſo wird der von ihr ausgehende Lichtſtrahl Aa, ſobald er
die Atmoſphäre in a trifft, dieſelben ebenfalls in einer krummen
[349]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Linie aB durchlaufen und der Beobachter wird die Sonne in der
Richtung der letzten Tangente dieſer Curve, d. h. in der Höhe
HBA'über ſeinem Horizonte erblicken. Dieß iſt die Urſache,
warum für alle Orte der Erde die Sonne früher auf und ſpäter
unterzugehen ſcheint, als ſie in der That durch den Horizont dieſer
Orte geht. Durch die Refraction werden alſo die Tage verlän-
gert. Dieſe Verlängerung iſt beſonders für die Gegenden inner-
halb der Polarkreiſe ſehr wohlthätig, wo die Sonne noch mehrere
Tage, ja Wochen über dem Horizonte geſehen wird, wenn ſie
gleich ſchon in der That unter ihm ſteht und die lange Nacht
dieſer kalten Zonen anfangen ſollte. Die folgende Tafel zeigt
dieſe Beſchleunigung des Aufgangs oder Verzögerung des Unter-
gangs der Geſtirne, alſo auch der Sonne, für verſchiedene Pol-
höhen und Declinationen.


So geht z. B. in Wien, deſſen geogr. Breite 48°,2 iſt, die
Sonne am 21. Mai und am 24. Julius, wo ihre Declination
20 Grade beträgt, um 3M 53S früher auf und ſpäter unter, als
ſie ohne Refraction thun würde und daſſelbe hat auch am 21. Jan.
und am 22. November ſtatt. An dieſen Tagen wird daher die
Dauer der Sonne über dem Horizonte durch die Refraction um
7M 46′ verlängert. Für größere Breiten und größere Declinatio-
nen wird dieſer Unterſchied immer beträchtlicher.


Die ſtarke Refraction am Horizonte iſt die Urſache der auf-
fallenden Geſtalt der Sonne und des Mondes bei dem Auf- oder
[350]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Untergange dieſer Himmelskörper, wo ſie an ihrem oberen und
noch mehr an ihrem unteren Rande ſtark abgeplattet erſcheinen.
Wenn die Sonne eben ganz aufgegangen iſt und ihr unterer Rand
noch im Horizonte ſteht, ſo wird derſelbe durch die Horizontalre-
fraction um 33M erhöht (§. 185). Der obere Rand aber, der
bereits eine Höhe von 32M über dem Horizonte hat, leidet durch
die Refraction nur eine Erhöhung von 28M, ſo daß dieſer der
höchſte und tiefſte Punkt der Sonne einander um volle fünf Mi-
nuten näher gebracht werden, während der öſtliche und weſiliche
Punkt des Sonnenrandes durch die Refraction gleichmäßig erhöht
und daher in ihrer Entfernung von einander nicht verändert werden.


Dieſe Horizontalrefraction iſt auch der Grund, warum man
bei ſolchen Mondsfinſterniſſen, die am Horizonte ſtatt haben, den
Mond ſowohl als auch die Sonne über dem Horizonte ſieht, ob-
ſchon dieſe beiden Himmelskörper zu jener Zeit um volle 180 Grade
von einander entfernt ſeyn müſſen.


Uebrigens erſcheinen uns die Geſtirne, wenn ſie nahe am
Horizonte ſtehen, in ihrem Lichte ſehr geſchwächt, ſo daß wir z. B.
die Sonne bei ihrem Auf- und Untergange ohne Schmerzen be-
trachten können, während ſie um Mittag unſere Augen blendet.
Die Urſache dieſer Erſcheinung liegt darin, daß die Sonne, wenn
ſie in der Nähe des Horizonts, in A (Fig. 25) iſt, ihre Strahlen
durch den Weg aB in der Atmoſphäre ſchickt, während ſie, bei
einer größeren Höhe der Sonne in S, durch den Weg sB gehen.
Jener Weg iſt aber bedeutend länger als dieſer und er geht über-
dieß durch einen größeren Raum der unteren, der Erde näheren
und daher dichteren Luftſchichten, wodurch das Licht der Sonne ſehr
geſchwächt wird. Nach Bouguer hat man für die Stärke des Lich-
tes der Himmelskörper, wenn man ſie außer unſerer Atmoſphäre
gleich der Einheit ſetzt, für

ſo daß daher die Lichtſtärke der Sonne am Horizonte über 810mal
ſchwächer iſt, als im Zenithe.


§. 187. (Terreſtriſche Refraction.) Aus dem Vorhergehenden
folgt, daß der Lichtſtrahl, wenn er von irgend einem Punkte zu
[351]Refraction, Präceſſion und Nutation.
einem anderen durch die Luft geht und dabei die concentriſchen
Schichten derſelben in einer ſchiefen Richtung durchſchneidet, von
dieſen Schichten gebrochen wird und daher zwiſchen beiden Punkten
eine krumme Linie beſchreibt. Da daſſelbe nicht bloß von den
Gegenſtänden des Himmels, die außer der Atmoſphäre ſich befin-
den, ſondern auch von allen Körpern, die in dieſer Atmoſphäre
ſelbſt liegen, der Fall iſt, ſo ſehen wir auch alle irdiſchen Gegen-
ſtände, die Spitzen der Berge, Thürme u. f. nicht an der Stelle,
an welchen ſie unſerem Auge erſcheinen würden, wenn die Erde
nicht von Luft umgeben wäre. Der Unterſchied dieſer beiden Hö-
hen nennt man die terreſtriſche Strahlenbrechung. Sie iſt
in den meiſten Fällen, beſonders wenn der Gegenſtand näher bei
dem Beobachter ſteht, viel geringer als die eigentliche aſtronomi-
ſche Strahlenbrechung, aber doch auch öfter beträchtlich genug,
um bei genaueren Beobachtungen auf ſie Rückſicht zu nehmen.
Bei jener Refraction geht nämlich der Lichtſtrahl von dem terre-
ſtriſchen Objekte nur durch einen, meiſtens ſehr geringen Theil der
Atmoſphäre, während er bei der aſtronomiſchen Refraction den
ganzen Weg von einer Gränze der Atmoſphäre bis zur anderen
zurücklegt. Schon daraus folgt, daß die terreſtriſche Refraction
im Allgemeinen deſto größer iſt, je weiter das Objekt von dem
Beobachter abſteht. Für nicht gar zu große Diſtanzen nimmt
man, den Beobachtungen gemäß an, daß die terreſtriſche Refrac-
tion, in Secunden ausgedrückt, gleich iſt der Zahl 0,005 multipli-
cirt in die Anzahl P. Toiſen, die zwiſchen dem Beobachter und
dem terreſtriſchen Objekte enthalten iſt. So iſt für eine Diſtanz
des Objekts von 1000 Toiſen oder 6000 Fuß die terreſtriſche
Refraction gleich 5 Secunden.


§. 188. (Dämmerung.) Wir haben oben (§. 165) geſehen,
daß durch die Wirkung der Atmoſphäre auf die Lichtſtrahlen die
Sonne noch einige Zeit über unſerem Horizonte erſcheint, wenn
ſie in der That ſchon unter demſelben iſt, wodurch die Dauer des
Tages, vorzüglich in den höheren Breiten, bedeutend verlängert
wird. Aber ſelbſt dann, wenn die Sonne ſchon ſo tief unter dem
Horizonte ſteht, daß die Refraction ſie nicht mehr bis zu ihm er-
haben kann, ſelbſt dann verdanken wir derſelben Atmoſphäre noch
wenigſtens einen Theil des Sonnenlichtes, das die erſte und letzte
[352]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Gränze unſerer Nächte erleuchtet und unter der Benennung der
Dämmerung allgemein bekannt iſt. Dieſe Beleuchtung unſerer
Erde kömmt zwar nicht mehr von dem direkten, aber wohl von
dem reflektirten Lichte der Sonne, nämlich von denjenigen Son-
nenſtrahlen, welche von den höheren Theilen der Atmoſphäre, von
den Dünſten und Wolken, die noch nach dem Untergange oder
ſchon vor dem Aufgange der Sonne von ihr beſchienen werden,
wie von einem Spiegel auf die Erde geworfen, den Anfang und
das Ende unſerer Nächte erleuchten.


Wenn die Sonne für einen Ort der Erde eben untergegangen
iſt, ſo ſieht dieſer Ort zwar die Sonne ſelbſt nicht mehr, aber er
ſieht noch einen großen Theil des weſtlichen Himmels, den die
Sonnenſtrahlen noch beleuchten und von dem dieſe Strahlen nach
allen Seiten zurückgeworfen werden. Je mehr ſich aber dieſer
Ort, durch die tägliche Bewegung der Erde, nach Oſten dreht,
oder je weiter er ſich von der Sonne entfernt, ein deſto größerer
Theil jener beleuchteten Stelle des weſtlichen Himmels verſchwin-
det für ihn, weil er von der undurchſichtigen Erde, von unten
herauf immer mehr und mehr bedeckt wird, bis endlich auch der
höchſte und ſchwächſte Theil dieſer Stelle ſich dem Auge entzieht
und jetzt erſt die vollkommene Nacht über demſelben einbricht.


Man nimmt gewöhnlich an, daß dieſe Dämmerung anfängt
und aufhört, wenn die Sonne 18 Grade unter dem Horizonte
ſteht. Für die Mitte Deutſchlands hat ſie ihre kürzeſte Dauer
von nahe zwei Stunden im Anfange des März und gegen die
Mitte des Oktobers. Von der Mitte des Mai aber bis zu dem
Ende des Julius dauert für uns dieſe Dämmerung die ganze
Nacht durch, weil die Sonne während dieſer Zeit ſelbſt um Mit-
ternacht nicht die Tiefe von 18 Graden unter dem Horizonte er-
reicht. In höheren Breiten iſt die Dauer der Dämmerung viel
größer. Unter den Polen ſelbſt werden der halbjährigen Nacht,
im Anfange ſowohl, als am Ende derſelben, volle 50 Tage
durch die Dämmerung entzogen, wodurch die eigentliche lange
Nacht auf 3½ Monate herabgebracht wird. Ueberhaupt aber
kann man annehmen, daß wegen dieſem Dämmerungsbogen von
18 Graden nicht mehr bloß 180 Grade von dem Umfange der
[353]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Erde, ſondern noch 36 Grade mehr, alſo 216 Grade dieſes Um-
fangs von dem direkten und reflektirten Sonnenlichte beleuchtet
werden.


Von dieſer ſogenannten aſtronomiſchen Dämmerung iſt die
bürgerliche verſchieden, die dann anfängt und endet, wenn man
in mäßig frei liegenden Wohnungen das Licht Abends anzuzünden
oder Morgens auszulöſchen pflegt. Man nimmt für dieſe Zeit
die Tiefe der Sonne unter dem Horizonte zu 6½ Grad an. Dieſe
bürgerliche Dämmerung iſt alſo viel kürzer, als jene, und ſie
dauert für das mittlere Deutſchland im März und Oktober, wo
ſie am kürzeſten iſt, nur 40 Minuten, im höchſten Sommer aber
oder in der Mitte des Junius nahe eine Stunde.


§. 189. (Allgemeine Reflexion der Sonnenſtrahlen durch die
Atmoſphäre.) Wenn wir einen Sonnenſtrahl durch die enge Oeff-
nung eines Fenſterladens in ein verſchloſſenes, finſteres Zimmer
leiten, ſo ſieht man denſelben nicht bloß als einen lichten, golde-
nen Faden durch die ganze Länge des Zimmers gehen, ſondern
man bemerkt auch die um ihn liegenden Gegenſtände in einem
matten Lichte ſchimmern, ſo daß durch dieſen einen Strahl das
ganze Zimmer ſchwach beleuchtet erſcheint, offenbar weil einzelne
Theile des Lichtſtrahls von der Luft, durch die er geht, zurückge-
worfen und auf die benachbarten Gegenſtände gebracht werden,
von welchen ſie wieder in unſer Auge reflektiren. Dieſelbe Er-
ſcheinung hat noch in einem viel höheren Grade für alle Theile
der Erde ſtatt, die eben von der über ihrem Horizonte ſtehenden
Sonne beſchienen werden. Die Sonne beſcheint dieſe Gegenſtände
auf der Erde, ſo wie die Atmoſphäre und die in ihr enthaltenen
Wolken und Dünſte über der Erde, und dieſe zerſtreuen das von
der Sonne erhaltene Licht, wie zahlloſe Spiegel, nach allen Sei-
ten, ſo daß gleichſam von jedem ſichtbaren Punkte auf und über
der Erde zu jedem andern ſichtbaren Punkte die Strahlen des
Lichtes ſich nach allen Richtungen durchkreuzen. Das allgemein
über uns verbreitete Tageslicht, deſſen wir uns während der
Gegenwart der Sonne erfreuen, iſt daher ein Phänomen, das im
Grunde aus derſelben Urſache, wie die eben betrachtete Morgen-
und Abenddämmerung entſteht. Wäre die Erde von keiner At-
Littrows Himmel u. ſ. Wunder. I. 23
[354]Refraction, Präceſſion und Nutation.
moſphäre umgeben oder hätten die Elemente der Atmoſphäre nicht die
Eigenſchaft, das Licht nach allen Seiten wieder zurück zu werfen, ſo
würden wir auf der Erde nur diejenigen Gegenſtände ſehen, welche
direkt von der Sonne beſchienen werden und alle von den Sonnen-
ſtrahlen nicht unmittelbar getroffenen Körper würden in den finſtern
Schatten der Nacht zu liegen ſcheinen; jede kleine Wolke, die
zwiſchen der Sonne und uns vorüberzieht, würde uns ſofort in
die tiefſte Dunkelheit der Mitternacht verſetzen; die Fixſterne würden,
ganz nahe an der Sonne, auch am Tage ſichtbar ſeyn; der Him-
mel ſelbſt würde an allen den von Sternen freien Stellen, ſchwarz
und finſter erſcheinen und ſelbſt unſere Wohnungen würden, ſobald
ihr Inneres nicht unmittelbar von dem Sonnenlichte getroffen
wird, in nächtlicher Finſterniß eingehüllt ſeyn, und da endlich,
ohne Atmoſphäre, auch keine Dämmerung mehr ſtatt haben könnte,
ſo würden wir nicht nur das ſchöne Schauſpiel der Morgen- und
Abendröthe enthehren, ſondern auch unmittelbar nach der tiefſten
Nacht die hellleuchtende Sonne, und eben ſo ſchnell nach dem
Tage wieder die ſchwärzeſte Nacht über uns einbrechen ſehen, ein
Zuſtand, der auf unſere Augen nicht anders, als ſehr nachtheilig
einwirken könnte.


§. 190. (Präceſſion der Nachtgleichen.) Schon der bereits
oben erwähnte Hipparch, der größte unter den griechiſchen Aſtro-
nomen, der gegen d. J. 130 vor Chr. G. lebte, hatte bemerkt,
daß die Länge der Sterne jährlich um nahe 50,2113 Secunden
zunimmt, während die Breite derſelben unverändert bleibt. Man
hat dieſe Bewegung der Fixſterne die Präceſſion genannt.
(Vergl. §. 116.) Da dieſe Bewegung allen Sternen gemeinſchaft-
lich iſt, ſo ſchloß er daraus, daß ſie ihre Urſache, nicht in den
Sternen ſelbſt, ſondern in dem Frühlingspunkte habe, und daß
daher dieſer Punkt es ſey, der jährlich um dieſe Größe von 50″,21
rückwärts oder von Oſt nach Weſt, gegen die Ordnung der Zei-
chen gehe. Da aber dabei die Breite der Sterne unverändert
bleibt, ſo kann auch die Lage der Ecliptik keine Aenderung lei-
den und daher muß jene Zunahme der Länge der Sterne in
einem Rückwärtsgehen des Aequators auf der feſten
Ebene der Ecliptik geſucht werden
. Zwar behält dieſe
[355]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Ebene der Ecliptik ſelbſt nicht immer dieſelbe Lage am Himmel
bei, und wir haben bereits oben geſehen, daß ſie dem Aequator
jährlich um nahe 0,48 Secunden näher tritt. Aber dieſe eigene
Bewegung der Ecliptik iſt erſtens viel geringer, als jene des Aequa-
tors, ſie entſpringt auch zweitens aus einer ganz anderen Quelle
und ſie iſt endlich ſelbſt veränderlich, ſo daß wir ſie hier ohne merk-
lichen Fehler ganz außer unſerer Betrachtung laſſen können. Neh-
men wir daher an, daß die Schiefe der Ecliptik immer dieſelbe
und die Lage derſelben am Himmel unverändert bleibt, ſo werden
wir die Präceſſion dadurch vorſtellen können, daß wir den Aequa-
tor VQ (Fig. 2) mit ſich ſelbſt parallel jährlich um 50″,21 auf
der feſten Ecliptik VL rückwärts gehen laſſen, wodurch alſo auch
der Frühlingspunkt V in der Ecliptik jährlich um dieſelbe Größe
von V in der Richtung VM rückwärts gehen und daher die Länge
aller Sterne in jedem Jahre um dieſelbe Größe wachſen wird.


Wenn aber die Schiefe der Ecliptik oder der Winkel LVQ
conſtant iſt, ſo iſt auch die Entfernung NE des Pols N des Ae-
quators von dem Pole E der Ecliptik conſtant, da dieſe Entfernung
gleich jenem Winkel iſt (Einl. §. 7). Da ferner der größte Kreis,
der durch die beiden Pole L und N dieſer zwei Ebenen geht, im-
mer ſenkrecht auf beiden Ebenen iſt (Einl. §. 4) und da jener größte
Kreis dieſe beiden Ebenen immer in der Entfernung von 90 Gra-
den von dem Durchſchnitte V dieſer Ebenen trifft (Einl. §. 7), ſo
wird, wenn der Frühlingspunkt V in der feſten Ecliptik LV um
einen beſtimmten Bogen gegen M fortgeht, auch der Pol N des
Aequators um den feſten Pol E der Ecliptik in der Richtung von
N gegen S' einen Kreisbogen von derſelben Größe beſchreiben.
Wir können daher jene Veränderung der Länge der Sterne auch
durch eine Bewegung des Pols N des Aequators darſtellen, der
um den feſten Pol E der Ecliptik, als um einen Mittelpunkt ei-
nen Kreis beſchreibt, deſſen Halbmeſſer gleich EN oder gleich der
Schiefe der Ecliptik LVQ iſt.


§. 191. (Scheinbare Verrückung der Sterne durch die Prä-
ceſſion.) Durch die Wirkung der Präceſſion geht der Frühlings-
punkt, alſo auch der Herbſtpunkt, in jedem Jahrhundert um
1,3947 Grade rückwärts, wodurch daher die Länge aller Sterne
23 *
[356]Refraction, Präceſſion und Nutation.
mit der Zeit ſehr verändert wird. So fand Hipparch i. J. 130
vor Chr. die Länge der Spica oder der Kornähre in dem Stern-
bilde der Jungfrau gleich 174°,0. Von jener Zeit bis zum Jahre
1834 ſind 1964 Jahre verfloſſen, in welchen die Länge dieſes
Sterns um 27°,4 zugenommen hat, ſo daß ſie jetzt 201°,4 beträgt.
Um eben ſo viel iſt alſo auch die Länge aller andern Sterne vor-
gerückt. Die Sternbilder des Thierkreiſes (S. 129) und die Na-
men derſelben wurden wahrſcheinlich zu einer Zeit erfunden, wo
dieſe Namen noch mit den Jahreszeiten im Zuſammenhange ſtan-
den. So hieß der Widder, in deſſen Vorderfüßen damals der
Frühlingspunkt geſtanden haben mag, dasjenige Zeichen, in wel-
chem ſich die Sonne über dem Aequator zu erheben anfängt. Der
Löwe, in dem die Sonne zur Zeit des höchſten Sommers erſchien,
ſollte die größere Hitze dieſer Jahreszeit, die Waage die Gleichheit
des Tages und der Nacht zur Zeit des Herbſtäquinoctiums be-
zeichnen u. dgl. Dieſe Bedeutung der zwölf Himmelszeichen kann
aber jetzt nicht mehr gelten, wo ſie alle, durch die Präceſſion,
um beinahe 30 Grade vorgerückt ſind, ſo daß jetzt der Frühlings-
punkt im öſtlichen Ende des weſtlichen Fiſches und der Herbſtpunkt
auf der ſüdlichen Schulter der Jungfrau ſteht. Wenn daher die
älteren Aſtronomen die Länge der Sterne durch dieſe Himmels-
zeichen angaben und z. B. für einen Stern, deſſen Länge 90 Grade
betrug, ſagten, daß er in der Mitte des Krebſes ſtehe oder daß
ſeine Länge z. B. ♋10° ſey, ſo war dieß dem damaligen Stande
des Himmels ganz angemeſſen. Wenn aber dieſe Sprache auch
jetzt noch von einigen Aſtronomen oder wenigſtens in unſeren Ka-
lendern beibehalten wird, ſo iſt ſie ganz unzweckmäßig und ſollte
daher nicht weiter angewendet werden, da ſie nur zu Irrungen
Anlaß geben kann. Es wäre übrigens intereſſant, ſehr alte Zeich-
nungen des Himmels, Sternkarten mit der Ecliptik zu beſitzen,
um daraus, nicht ſowohl den Stand des Himmels zu jener Zeit,
den uns die gegenwärtige Kenntniß der Präceſſion mit hinlängli-
cher Genauigkeit gibt, als vielmehr diejenige Zeit abzuleiten, zu
welchen jene Karten verfertiget worden ſind. So ſtand z. B. um
das Jahr 320 vor Chr. die Bruſt des Widders im Frühlings-
punkte, im Jahre 2470 nahmen die Hyaden im Stier, im Jahre
4620 das weſtliche Ende der Zwillinge und im Jahre 6770 die
[357]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Mitte des Krebſes den Frühlingspunkt auf. Im Gegentheile
wird er in der Folgezeit um das Jahr 4000 nach Chr. in der
Mitte des Waſſermanns, i. J. 6140 im Kopfe des Steinbocks
und i. J. 8300 in der Spitze des Pfeils des Schützen ſeyn.


§. 192. (Polarſterne für verſchiedene Epochen.) Die Aſtrono-
men pflegen denjenigen unter den größeren Sternen, der dem Nord-
pole des Aequators am nächſten ſteht, den Polarſtern zu nen-
nen. Sie geben ihm dieſen Eigennamen, weil er durch dieſe ſeine
Stellung am Himmel zu mehreren wichtigen Beobachtungen und
Unterſuchungen vorzüglich geſchickt iſt. Jetzt trägt dieſe Benen-
nung der Stern α im kleinen Bären, deſſen Rectaſcenſion nahe
15° und deſſen Abſtand von dem Pole des Aequators 1° 30′ iſt.
Dieſer Abſtand wird in den nächſten Jahrhunderten noch kleiner
werden, weil wegen der Präceſſion der Pol N des Aequators
(Fig. 2) ſich dieſem Sterne immer mehr nähert. Im J. 2100 aber
wird dieſer Pol am nächſten bei ihm ſeyn, und dann nur mehr
28 Minuten von ihm abſtehen. Nach dieſer Zeit wird der Pol N
ſich wieder von ihm entfernen, um ſich anderen Sternen zu nähern,
die dann einen größeren Anſpruch auf die Benennung des Polar-
ſterns machen werden. Auch war jener Stern zur Zeit Hipparchs
noch gegen zwölf Grade von dem Pole N entfernt und verdiente
daher damals dieſen Namen noch gar nicht. Um diejenigen Sterne
zu finden, denen in verſchiedenen Epochen der Pol des Aequators
am nächſten ſteht, wird man auf einer Sternkarte um den Pol
der Ecliptik einen Kreis mit dem Halbmeſſer von 23° 28′ ziehen
und dadurch die Sterne angeben, durch welche dieſer Kreis geht.
Genauer noch wird man für die verſchiedene Epochen die Halb-
meſſer dieſer Kreiſe dahin verändern, daß ſie die Schiefe der
Ecliptik für jene Epoche (S. 112) vorſtellen. Auf dieſe Weiſe fin-
det man, daß gegen das Jahr 2700 vor Chr. der Stern α im
Drachen der Polarſtern war, und daß i. J. 4100 nach Chr. der
Stern γ Cephei, dann α Cephei und endlich gegen d. J. 14000
nach Chr. α Cygni oder Deneb im Schwan auf dieſe Benennung
Anſpruch machen wird.


Wenn man die jährliche Präceſſion von 0°,013947 für alle
Jahre gleich groß annimmt, ſo würde daraus folgen, daß die
[358]Refraction, Präceſſion und Nutation.
Pole des Aequators ihren ganzen Umlauf um die Pole der Eclip-
tik in 25812 Jahren vollenden, welche Periode einige Chronologen
das platoniſche Jahr genannt haben. Allein dieſe Vorausſetzung
iſt nicht ganz richtig, da die Größe der Präceſſion mit der Zeit
ſelbſt ſich ändert und da ſie überhaupt noch nicht mit der Ge-
nauigkeit bekannt iſt, um ſie auf ſo entfernte Zeiten noch mit
Sicherheit anwenden zu können.


§. 193. (Nutation.) Eigentlich wird durch dieſe Bewegung
des Poles des Aequators in einem Kreiſe, deſſen Mittelpunkt der
Pol der Ecliptik iſt, noch nicht die ganze Ortsveränderung jenes
Poles an den Sphären des Himmels, ſondern nur der vorzüg-
lichſte Theil derſelben, oder die Erſcheinung im Großen, darge-
ſtellt. Genauere Beobachtungen haben uns nämlich gelehrt, daß
der Pol des Aequators in jenem Kreiſe zwar im Allgemeinen mit
der Zeit immer weiter zurückgeht, daß er aber nicht immer in der
Peripherie dieſes Kreiſes bleibt, ſondern ſich dem Mittelpunkte
deſſelben bald nähert, bald wieder etwas davon entfernt, und daß
er ſelbſt zuweilen durch einige Jahre etwas vorwärts ſchreitet.
Jene Annäherung und Entfernug kann bis auf neun, und dieſes
Vorwärtsſchreiten bis auf achtzehn Secunden betragen. Aber beide
Unregelmäßigkeiten ſind in die enge Periode von neunzehn Jahren
eingeſchloſſen, nach welchen ſie ſich immer wieder in der alten
Ordnung wiederholen. Man nennt ſie die Nutation oder das
Wanken der Erdaxe. Man kann ſie dadurch vorſtellen, daß man
den Pol des Aequators binnen 19 Jahren in der Peripherie einer
kleinen Ellipſe herumgehen läßt, deren Mittelpunkt auf jenem Kreiſe
in jedem Jahre 50″,21 rückwärts geht, und deren große Axe gegen
den Pol der Ecliptik gerichtet iſt. Die Wirkung dieſer zuſammen-
geſetzten Bewegung des Pols iſt ein immerwährendes Verändern
der Länge ſowohl, als auch der Rectaſcenſion und der Declination
der Sterne, während die Breite immer dieſelbe bleibt. Allein am
Ende jeder Periode von 19 Jahren verſchwinden die Anomalien der
Nutation, während die der Präceſſion mit den Jahrhunderten ohne
Ende fortgehen. Die Aſtronomen, für welche die genaue Kenntniß
der Lage der Fixſterne für jede gegebene Zeit von der größten Wich-
tigkeit iſt, haben dieſe Aenderungen derſelben mit Sorgfalt be-
ſtimmt und in Tafeln gebracht, die hier ohne Umſtändlichkeit nicht
[359]Refraction, Präceſſion und Nutation.
mitgetheilt werden können. Wir werden in der Folge wieder auf
dieſe Erſcheinungen zurückkommen und die Quellen aufſuchen, aus
welchen ſie entſpringen. Hier bemerken wir nur noch, daß wir
von der Größe der Präceſſion ſchon oben (§. 116 und 123) bei
Beſtimmung der tropiſchen Umlaufszeiten der Erde und der Pla-
neten Gebrauch gemacht haben.


§. 194. (Anwendung der Präceſſion auf chronologiſche Unter-
ſuchungen.) Wir haben bereits erwähnt, daß ältere Nachrichten
von dem Zuſtande des Himmels uns über die Zeit, welcher dieſe
Nachrichten angehören, belehren können. Es wird nicht unange-
meſſen ſeyn, einige Beiſpiele davon anzuführen.


Ptolemäus erzählt uns in ſeinem Almageſt, daß Eudox, ein
Zeitgenoſſe Plato’s, einen der größeren Fixſterne ſehr nahe bei
dem Pole des Aequators geſehen habe. Da Plato nahe 350 Jahre
vor Chr. lebte, ſo kann dieß, wie aus dem Vorhergehenden folgt,
nicht unſer gegenwärtiger Polarſtern oder α im kleinen Bären
geweſen ſeyn, der damals noch ſehr weit von dem Pole entfernt
war. Betrachtet man den oben erwähnten, von dem Pole des
Aequators vermöge der Präceſſion beſchriebenen Kreis etwas ge-
nauer, ſo findet man nur einen einzigen Fixſtern in jener Gegend
des Himmels, der von bedeutender Größe iſt und in der Vorzeit
nahe genug bei dem Pole geweſen ſeyn kann. Es iſt dieß H im
Drachen, deſſen Rectaſcenſion im Anfange des gegenwärtigen Jahr-
hunderts 186″,2 und deſſen Declination 70°,9 iſt. Daraus findet
man die Länge deſſelben für unſere Zeit gleich 133°,43. Wenn
nun dieſer Stern in der That zu jener Zeit ſehr nahe bei dem
Pole des Aequators war, ſo muß ſeine Länge nahe gleich 90°
geweſen ſeyn. Die Differenz dieſer Länge von 43,43 Graden wird
aber von der Präceſſion, die jährlich nur 0°,013947 beträgt, in
3110 Jahren zurückgelegt, ſo daß alſo dieſer Stern um das Jahr 1310
vor Chr. dem Pole am nächſten geweſen ſeyn muß. Da aber dieſe
Epoche gegen 1000 Jahre vor Plato’s Zeit fällt, ſo hat Eudox in
jener Nachricht nicht den Zuſtand des Himmels beſchrieben, wie
er zu ſeiner Zeit war, für welche jener Stern ſchon weit von dem
Pole entfernt ſeyn müßte, ſondern er hat uns vielleicht nur eine
nahe tauſend Jahre ältere Sage erzählt, die er von den Aegyp-
tiern oder Chaldäern erhalten haben mag.


[360]Refraction, Präceſſion und Nutation.

Laplace glaubt, daß die Bezeichnung und Benennung der
Sternbilder des Thierkreiſes zu einer Zeit erfunden worden ſey,
wo der Steinbock, den man immer nur auf den höchſten Spitzen
der Felſen erblickte, auch den höchſten Punkt der Ecliptik über
dem Aequator eingenommen habe. In unſeren Tagen iſt er aber
ſchon nahe 30 Grade über dem tiefſten Punkt der Ecliptik vorge-
rückt. Dann würde die Waage ſehr zweckmäßig in die Frühlings-
nachtgleiche gekommen ſeyn und die meiſten der übrigen Stern-
bilder des Thierkreiſes würden eine auffallende Verbindung mit
der Agricultur und dem Klima von Aegypten zeigen. Die
Differenz der Länge von 210 Graden, welche dieſe Annahme vor-
ausſetzt, wird von der jährlichen Präceſſion erſt in 15050 Jahren
beſchrieben und dadurch würde die Erfindung der Namen des
Thierkreiſes über dreizehntauſend Jahre vor dem Anfang unſerer
Zeitrechnung zurückfallen. Allein mit dieſer Hypotheſe ſcheint un-
ſere ganze Menſchengeſchichte in direktem Widerſpruche zu ſeyn,
daher ſie, die weder auf einer beſtimmten Nachricht, noch auf ei-
ner Beobachtung, ſondern nur auf einer bloßen Meinung beruht,
nicht zugelaſſen werden kann.


Die Ruinen der alten Stadt Tentyris (Denderah) in Ober-
ägypten zeichnen ſich durch einen großen Tempel aus, den uns
die Zeit ohne beträchtliche Zerſtörungen erhalten hat. An dem
Plafond des Porticus dieſes Tempels ſieht man die zwölf Figuren
des Thierkreiſes in der Ordnung, in welcher ſie von der Sonne
durchlaufen werden. Dieſer Thierkreis iſt in den letzten Jahren
nach Paris gebracht und daſelbſt aufgeſtellt worden, wo er bald
der Gegenſtand der allgemeinen Aufmerkſamkeit wurde. An der
Spitze der Reihe dieſer Figuren erblickt man das Sternbild des
Löwen, der zuerſt aus dem Thore des Tempels zu treten ſcheint.
Man wollte daraus den Schluß ziehen, daß zur Zeit der Er-
richtung dieſes Thierkreiſes die Sonne im Anfange des Jahres
in dieſem Zeichen geweſen ſey. Das Ruraljahr der alten Aegyp-
tier begann aber mit dem Sommerſolſtitium, zu welcher Zeit der
Nil austritt. Nimmt man alſo, aus Mangel an näheren Nach-
richten, die Mitte des Löwen für denjenigen Punkt an, in dem
die Sonne im Anfange jenes Jahres war, ſo war das Solſtitium
zu jener Zeit volle 60 Grade weiter öſtlich, als es jetzt iſt und
[361]Refraction, Präceſſion und Nutation.
dieß gibt einen Zeitraum von 60/0,01395 oder von 4300 Jahren, ſo daß
alſo jener Tempel gegen das Jahr 2740 vor Chr. G. erbaut wor-
den wäre. Würde man aber den Anfang dieſes Sternbildes für
den entſcheidenden Punkt nehmen, ſo hätte man nur 40 Grade
für die Präceſſion und die Erbauung des Tempels würde in das
Jahr 1100 vor Chr. oder in die Zeit von David fallen, in wel-
cher auch der Tempel von Jeruſalem erbaut worden iſt. Biot,
der ſich mit dieſem Gegenſtande ſorgfältig beſchäftigte, wollte mit
großer Sicherheit gefunden haben, daß die Errichtung dieſes Tem-
pels in das Jahr 700 v. Chr., alſo kurz nach der Erbauung
Roms fällt. Fourier ſetzt dafür die Zeit der Errichtung des
Tempels zu Latopolis, des älteſten ägyptiſchen Gebäudes dieſer
Art, welches uns die alles zerſtörende Zeit erhalten hat, auf das
Jahr 2500 vor Chr. und Dupuis (in ſ. origine des cultes,
Vol. 3e.
) ſogar auf das Jahr 15000 vor unſerer Zeitrechnung.
Da ihm aber ſpäter dieſes Alter des Tempels ſelbſt wieder unglaub-
lich erſchien, ſo fand er für gut, anzunehmen, daß durch dieſen
Thierkreis nicht ſowohl die Orte der Sonne zur Zeit der Solſtitien,
als vielmehr die ihr gegenüberſtehenden Punkte dargeſtellt werden
ſollten, wodurch er jenes Alter um eine volle halbe Revolution der
Aequinoctien oder um 13000 Jahre verminderte und die Entſtehung
des Tempels wieder auf das Jahr 2000 v. Chr. zurückbrachte.
Champollion endlich und Letronne, welche dieſen Thierkreis
auf ganz andere und mehr kritiſche Weiſe unterſuchten, kamen,
beſonders durch die griechiſchen Inſcriptionen, die ſie auf jenen Tem-
peln gefunden hatten, auf das Reſultat, daß dieſe religiöſen Gebäude
erſt unter der Regierung Trajans und ſeiner nächſten Nachfolger
erbaut worden ſeyn ſollen. Auf ähnliche Reſultate ſind auch Vis-
conti und Paravey gekommen, die ſich zuletzt mit dieſen alten
Thierkreiſen, die man in Denderah, Latopolis, Esne und auch in
Palmyra, Cathay und in mehreren Städten Indiens gefunden
hat, beſchäftiget haben. Die große Verſchiedenheit dieſer Alters-
beſtimmungen jener merkwürdigen Monumente der Vorzeit erregt
den Verdacht, daß dieſe Denkmäler wohl nicht der Art ſind, um
aus ihnen ſelbſt die Zeit ihrer Entſtehung mit Sicherheit abzulei-
ten und daß die meiſten der eben angeführten Schlüſſe auf Mei-
nungen und Anſichten gebaut ſind, die, bei dem Mangel aller
[362]Refraction, Präceſſion und Nutation.
anderen Hülfsmittel, weder einer Widerlegung, noch auch eines
ſtrengen Beweiſes fähig zu ſeyn ſcheinen. Selbſt wenn man aus
der Conſtruction dieſer Bildniſſe mit Gewißheit beſtimmen könnte,
unter welche Geſtirne die Erbauer derſelben die Nachtgleichen oder
die Solſtitien verſetzt haben — aber wie weit iſt man noch von
dieſer Beſtimmung, über welche noch die größte Ungewißheit herrſcht,
entfernt — ſelbſt dann noch würde man über das Alter dieſer
Denkmähler keinen ſicheren Ausſpruch wagen können, da die be-
kannte Luſt der Aegyptier und Indier, mit einem hohen Alter-
thume ihres Volkes zu prahlen, ſie leicht verleiten konnte, nicht
den zur Zeit der Erbauung jener Tempel beſtandenen, ſondern
einen viel früheren, vielleicht ganz imaginären Zuſtand des Him-
mels darzuſtellen. So haben uns die Engländer erſt in unſeren
Tagen mit ſehr alten Planetentafeln der Indier bekannt gemacht,
die ſämmtlich von einer Conjunction aller Planeten anfangen,
welche um das Jahr 3100 vor Chr. G. beobachtet worden ſeyn
ſoll. Allein als man dieſe Tafeln, deren hohes Alterthum ſie uns
in der That ganz beſonders merkwürdig gemacht hätte, näher un-
terſuchte, fand man, daß ſie noch eine andere, viel neuere Epoche
vorausſetzen, die in das Jahr 1491 nach Chr. G. fällt, und daß
man, wenn man mit dieſer Epoche und mit den mittleren Bewe-
gungen dieſer Tafeln rückwärts rechnet, allerdings jene allgemeine
Conjunction der Planeten findet, die aber demungeachtet nicht
ſtatt gehabt hat, weil unſere neueſten Tafeln, welche jene indiſchen
an Vollkommenheit weit hinter ſich zurücklaſſen, dieſer Conjunction
gänzlich widerſprechen und dadurch zugleich zeigen, daß jene erſte,
altergraue Epoche nur eines der vielen Opfer war, welche die auf
ihr hohes Alterthum ſtolzen Indier ihrer Eitelkeit bringen wollten.

[]
[figure]
[][]
[figure]
[][]
[figure]
[][]
[figure]
[][][][]
Notes
*)
Iſt nämlich r der Halbmeſſer der Kugel, und π die Zahl
31.415.926, ſo iſt die Peripherie eines größten Kreiſes derſelben
2rπ und die Fläche dieſes Kreiſes rrπ; die Oberfläche der Kugel
ſelbſt aber 4rrπ und endlich ihr Volumen oder ihr körperlicher
Inhalt 4/3rrrπ. Nimmt man, wie zuvor, r gleich 859 3/10 Mei-
len, ſo findet man für die Peripherie des größten Kreiſes der
Erde 5.399 Meilen, und die Fläche deſſelben 2.319.740 Quad-
rat-Meilen. Die Fläche der ganzen Kugel aber 9.278.960 Quad-
rat-Meilen, und das Volumen derſelben 2.657.804.000 Kubik-
Meilen.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjd4.0