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Reiſebilder

Erſter Theil.

Hamburg,
: bey Hoffmann und Campe.
1826.
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Dedication.


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Der Frau Geh. Legationsraͤthin
Friedrike Varnhagen v. Enſe

widmet
die achtundachtzig Gedichte ſeiner «Heimkehr»
der Verfaſſer.

[][[1]]

Die Heimkehr.

(1823 — 1824.)


1[[2]]
Des Altars heil'ge Deck', um eines Diebes

Scheuſel'ge Bloͤße liederlich gewunden!

Der goldne Kelchwein des Gefuͤhls, geſoffen

Von einem Trunkenbolde! Eine Roſe,

Zu ſtolz, den Thau des Himmels zu empfangen,

Herberge nun der giftgeſchwollnen Spinne!
(Aus Immermanns Cardenio und Celinde.
1ſter Akt, 3ter Auftr.)

[[3]]

I.

In mein gar zu dunkles Leben

Stralte einſt ein ſuͤßes Bild;

Nun das ſuͤße Bild erblichen,

Bin ich gaͤnzlich nachtumhuͤllt.
Wenn die Kinder ſind im Dunkeln,

Wird beklommen ihr Gemuͤth,

Und um ihre Angſt zu bannen,

Singen ſie ein lautes Lied.
Ich, ein tolles Kind, ich ſinge

Jetzo in der Dunkelheit;

Iſt das Lied auch nicht ergoͤtzlich,

Macht's mich doch von Angſt befreyt.
[4]

II.

Ich weiß nicht, was ſoll es bedeuten,

Daß ich ſo traurig bin;

Ein Maͤhrchen aus alten Zeiten,

Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft iſt kuͤhl und es dunkelt,

Und ruhig fließt der Rhein;

Der Gipfel des Berges funkelt

Im Abendſonnenſchein.
Die ſchoͤnſte Jungfrau ſitzet

Dort oben wunderbar,

Ihr gold'nes Geſchmeide blitzet,

Sie kaͤmmt ihr gold'nes Haar.
Sie kaͤmmt es mit gold'nem Kamme,

Und ſingt ein Lied dabey;

Das hat eine wunderſame,

Gewaltige Melodey.
[5]
Den Schiffer im kleinen Schiffe

Ergreift es mit wildem Weh;

Er ſchaut nicht die Felſenriffe,

Er ſchaut nur hinauf in die Hoͤh'.
Ich glaube, die Wellen verſchlingen

Am Ende Schiffer und Kahn;

Und das hat mit ihrem Singen

Die Lore-Ley gethan.

III.

Mein Herz, mein Herz iſt traurig,

Doch luſtig leuchtet der May;

Ich ſtehe, gelehnt an der Linde,

Hoch auf der alten Baſtey.
Da drunten fließt der blaue

Stadtgraben in ſtiller Ruh';

Ein Knabe faͤhrt im Kahne,

Und angelt und pfeift dazu.
[6]
Jenſeits erheben ſich freundlich,

In winziger, bunter Geſtalt,

Luſthaͤuſer, und Gaͤrten, und Menſchen,

Und Ochſen, und Wieſen, und Wald.
Die Maͤdchen bleichen Waͤſche,

Und ſpringen im Graſ' herum;

Das Muͤhlrad ſtaͤubt Diamanten,

Ich hoͤre ſein fernes Geſumm'.
Am alten grauen Thurme

Ein Schilderhaͤuschen ſteht;

Ein rothgeroͤckter Burſche

Dort auf und nieder geht.
Er ſpielt mit ſeiner Flinte,

Die funkelt im Sonnenroth,

Er praͤſentirt und ſchultert —

Ich wollt', er ſchoͤſſe mich todt.
[7]

IV.

Im Walde wandl' ich und weine,

Die Droſſel ſitzt in der Hoͤh';

Sie ſpringt und ſingt gar feine:

Warum iſt dir ſo weh?
“Die Schwalben, deine Schweſtern,

Die koͤnnen's dir ſagen, mein Kind;

Sie wohnten in klugen Neſtern,

Wo Liebchens Fenſter ſind.”

V.

Die Nacht iſt feucht und ſtuͤrmiſch,

Der Himmel ſternenleer;

Im Wald, unter rauſchenden Baͤumen,

Wandle ich ſchweigend einher.
Es flimmert fern ein Lichtchen

Aus dem einſamen Jaͤgerhauſ';

Es ſoll mich nicht hin verlocken,

Dort ſieht es verdrießlich aus.
[8]
Die blinde Großmutter ſitzt ja

Im ledernen Lehnſtuhl dort‚

Unheimlich und ſtarr, wie ein Steinbild,

Und ſpricht kein einziges Wort.
Fluchend geht auf und nieder

Des Foͤrſters rothkoͤpfiger Sohn,

Und wirft an die Wand die Buͤchſe,

Und lacht vor Wuth und Hohn.
Die ſchoͤne Spinnerin weinet‚

Und feuchtet mit Thraͤnen den Flachs;

Wimmernd zu ihren Fuͤßen

Schmiegt ſich des Vaters Dachs.

VI.

Als ich, auf der Reiſe, zufaͤllig

Meines Liebchens Familie fand,

Schweſterchen, Vater und Mutter,

Sie haben mich freudig erkannt.
[9]
Sie fragten nach meinem Befinden,

Und ſagten ſelber ſogleich:

Ich haͤtte mich gar nicht veraͤndert,

Nur mein Geſicht ſey bleich.
Ich fragte nach Muhmen und Baſen,

Nach manchem langweil'gen Geſell'n,

Und nach dem kleinen Huͤndchen,

Mit ſeinem ſanften Bell'n.
Auch nach der vermaͤhlten Geliebten

Fragte ich nebenbey;

Und freundlich gab man zur Antwort:

Daß ſie in den Wochen ſey.
Und freundlich gratulirt' ich,

Und lispelte liebevoll:

Daß man ſie von mir recht herzlich

Viel tauſendmal gruͤßen ſoll.
Schweſterchen rief dazwiſchen:

Das Huͤndchen, ſanft und klein,

Iſt groß und toll geworden,

Und ward ertraͤnkt, im Rhein.
[10]
Die Kleine gleicht der Geliebten,

Beſonders, wenn ſie lacht;

Sie hat dieſelben Augen,

Die mich ſo elend gemacht.

VII.

Wir ſaßen am Fiſcherhauſe,

Und ſchauten nach der See;

Die Abendnebel kamen‚

Und ſtiegen in die Hoͤh'.
Im Leuchtthurm wurden die Lichter

Allmaͤhlig angeſteckt,

Und in der weiten Ferne

Ward noch ein Schiff entdeckt.
Wir ſprachen von Sturm und Schiffbruch,

Vom Seemann, und wie er lebt,

Und zwiſchen Himmel und Waſſer,

Und Angſt und Freude ſchwebt.
[11]
Wir ſprachen von fernen Kuͤſten,

Vom Suͤden und vom Nord,

Und von den ſeltſamen Menſchen,

Und ſeltſamen Sitten dort.
Am Ganges duftet's und leuchtet's,

Und Rieſenbaͤume bluͤh'n,

Und ſchoͤne, ſtille Menſchen

Vor Lotosblumen knie'n.
In Lappland ſind ſchmutzige Leute,

Plattkoͤpfig, breitmaͤulig und klein;

Sie kauern um's Feuer, und backen

Sich Fiſche, und quaͤken und ſchrey'n.
Die Maͤdchen horchten ernſthaft,

Und endlich ſprach Niemand mehr;

Das Schiff war nicht mehr ſichtbar,

Es dunkelte gar zu ſehr.
[12]

VIII.

Du ſchoͤnes Fiſchermaͤdchen,

Treibe den Kahn an's Land;

Komm zu mir und ſetze dich nieder,

Wir koſen Hand in Hand.
Leg' an mein Herz dein Koͤpfchen,

Und fuͤrchte dich nicht zu ſehr,

Vertrau'ſt du dich doch ſorglos

Taͤglich dem wilden Meer.
Mein Herz gleicht ganz dem Meere,

Hat Sturm und Ebb' und Fluth,

Und manche ſchoͤne Perle

In ſeiner Tiefe ruht.
[13]

IX.

Der Mond iſt aufgegangen

Und uͤberſtralt die Well'n;

Ich halte mein Liebchen umfangen

Und unſre Herzen ſchwell'n.
Im Arm des holden Kindes

Ruh' ich allein am Strand;

Was horchſt du bey'm Rauſchen des Windes?

Was zuckt deine weiße Hand?
“Das iſt kein Rauſchen des Windes,

Das iſt der Seejungfern Geſang,

Und meine Schweſtern ſind es,

Die einſt das Meer verſchlang.”
[14]

X.

Der Wind zieht ſeine Hoſen an,

Die weißen Waſſerhoſen;

Er peitſcht die Wellen ſo ſtark er kann,

Die heulen und brauſen und toſen.
Aus dunkler Hoͤh', mit wilder Macht,

Die Regenguͤſſe traͤufen;

Es iſt als wollt' die alte Nacht

Das alte Meer erſaͤufen.
An den Maſtbaum klammert die Moͤve ſich,

Mit heiſerem Schrillen und Schreyen;

Sie flattert und will gar aͤngſtlich

Ein Ungluͤck prophezeyen.
[15]

XI.

Der Sturm ſpielt auf zum Tanze,

Es pfeift und ſauſt und bruͤllt;

Heiſa, wie ſpringt das Schifflein!

Die Nacht iſt luſtig und wild.
Ein lebendes Waſſergebirge

Bildet die toſende See;

Hier gaͤhnt ein ſchwarzer Abgrund,

Dort thuͤrmt es ſich weiß in die Hoͤh'.
Ein Fluchen, Erbrechen und Beten,

Schallt aus der Kajuͤte heraus;

Ich halte mich feſt am Maſtbaum,

Und wuͤnſche: waͤr' ich zu Haus.
[16]

XII.

Der Abend kommt gezogen,

Der Nebel bedeckt die See;

Geheimnißvoll rauſchen die Wogen,

Da ſteigt es weiß in die Hoͤh'.
Die Meerfrau ſteigt aus den Wellen,

Und ſetzt ſich zu mir, am Strand;

Die weißen Bruͤſte quellen

Hervor aus dem Schleyergewand.
Sie druͤckt mich und ſie preßt mich

Und thut mir faſt ein Weh';

Du druͤckſt ja viel zu feſt mich,

Du ſchoͤne Waſſerfee!
„Ich preſſe dich, in meinen Armen,

Und druͤcke dich mit Gewalt;

Ich will bey dir erwarmen,

Der Abend iſt gar zu kalt.“
[17]
Der Mond ſchaut immer blaſſer

Aus daͤmmriger Wolkenhoͤh';

Dein Auge wird truͤber und naſſer,

Du ſchoͤne Waſſerfee!
„Es wird nicht truͤber und naſſer,

Mein Aug' iſt naß und truͤb',

Weil, als ich ſtieg aus dem Waſſer,

Ein Tropfen im Auge blieb.“
Die Moͤven ſchrillen klaͤglich,!

Es grollt und brandet die See;

Dein Herz pocht wild beweglich,

Du ſchoͤne Waſſerfee!
„Mein Herz pocht wild beweglich,

Es pocht beweglich wild;

Weil ich dich liebe unſaͤglich,

Du liebes Menſchenbild!“
2[18]

XIII.

Wenn ich an deinem Hauſe

Des Morgens voruͤber geh',

So freut's mich, du liebe Kleine,

Wenn ich dich am Fenſter ſeh'.
Mit deinen ſchwarzbraunen Augen

Siehſt du mich forſchend an:

Wer biſt du, und was fehlt dir,

Du fremder, kranker Mann?
“Ich bin ein deutſcher Dichter,

Bekannt im deutſchen Land;

Nennt man die beſten Namen,

So wird auch der meine genannt.
“Und was mir fehlt, du Kleine,

Fehlt Manchem im deutſchen Land;

Nennt man die ſchlimmſten Schmerzen,

So wird auch der meine genannt.”
[19]

XIV.

Das Meer erglaͤnzte weit hinaus,

Im letzten Abendſcheine;

Wir ſaßen am einſamen Fiſcherhaus,

Wir ſaßen ſtumm und alleine.
Der Nebel ſtieg, das Waſſer ſchwoll,

Die Moͤve flog hin und wieder;

Aus deinen Augen, liebevoll,

Fielen die Thraͤnen nieder.
Ich ſah ſie fallen auf deine Hand,

Und bin auf's Knie geſunken;

Ich hab' von deiner weißen Hand

Die Thraͤnen fortgetrunken.
Seit jener Stunde verzehrt ſich mein Leib,

Die Seele ſtirbt vor Sehnen; —

Mich hat das ungluͤckſeel'ge Weib

Vergiftet mit ihren Thraͤnen.
[20]

XV.

Da droben auf jenem Berge,

Da ſteht ein feines Schloß,

Da wohnen drey ſchoͤne Fraͤulein,

Von denen ich Liebe genoß.
Sonnabend kuͤßte mich Jette,

Und Sonntag die Julia,

Und Montag die Kunigunde,

Die hat mich erdruͤckt beynah.
Doch Dienſtag war eine Fete

Bey meinen drey Fraͤulein im Schloß;

Die Nachbarſchafts-Herren und Damen,

Die kamen zu Wagen und Roß.
Ich aber war nicht geladen,

Und das habt Ihr dumm gemacht!

Die ziſchelnden Muhmen und Baſen

Die merkten's und haben gelacht.
[21]

XVI.

Am fernen Horizonte

Erſcheint, wie ein Nebelbild,

Die Stadt mit ihren Thuͤrmen,

In Abenddaͤmmrung gehuͤllt.
Ein feuchter Windzug kraͤuſelt

Die graue Waſſerbahn;

Mit traurigem Tacte rudert

Der Schiffer in meinem Kahn.
Die Sonne hebt ſich noch einmal

Leuchtend vom Boden empor,

Und zeigt mir jene Stelle,

Wo ich das Liebſte verlor.
[22]

XVII.

Sey mir gegruͤßt, du große,

Geheimnißvolle Stadt,

Die einſt in ihrem Schooße

Mein Liebchen umſchloſſen hat.
Sagt an, Ihr Thuͤrme und Thore,

Wo iſt die Liebſte mein?

Euch hab' ich ſie anvertrauet,

Ihr ſolltet mir Buͤrge ſeyn.
Unſchuldig ſind die Thuͤrme,

Sie konnten nicht von der Stell',

Als Sie mit Koffern und Schachteln

Die Stadt verlaſſen ſo ſchnell.
Die Thore jedoch, die ließen

Mein Liebchen entwiſchen gar ſtill;

Ein Thor iſt immer willig,

Wenn eine Thoͤrin will.
[23]

XVIII.

So wandl' ich wieder den alten Weg,

Die wohlbekannten Gaſſen;

Ich komme von meiner Liebſten Haus,

Das ſteht ſo leer und verlaſſen.
Die Straßen ſind doch gar zu eng'!

Das Pflaſter iſt unertraͤglich!

Die Haͤuſer fallen mir auf den Kopf!

Ich eile ſo viel als moͤglich!

XIX.

Ich trat in jene Hallen,

Wo Sie mir Treue verſprochen;

Wo einſt ihre Thraͤnen gefallen,

Sind Schlangen hervor gekrochen.
[24]

XX.

Still iſt die Nacht, es ruhen die Gaſſen,

In dieſem Hauſe wohnte mein Schatz;

Sie hat ſchon laͤngſt die Stadt verlaſſen,

Doch ſteht noch das Haus auf demſelben Platz.
Da ſteht auch ein Menſch und ſtarrt in die Hoͤhe

Und ringt die Haͤnde, vor Schmerzensgewalt;

Mir grauſt es, wenn ich ſein Antlitz ſehe, —

Der Mond zeigt mir meine eigne Geſtalt.
Du Doppeltgaͤnger! du bleicher Geſelle!

Was aͤffſt du nach mein Liebesleid,

Das mich gequaͤlt auf dieſer Stelle,

So manche Nacht, in alter Zeit?
[25]

XXI.

Wie kannſt du ruhig ſchlafen,

Und weiſt ich lebe noch?

Der alte Zorn kommt wieder,

Und dann zerbrech' ich mein Joch.
Kennſt du das alte Liedchen:

Wie einſt ein todter Knab'

Um Mitternacht die Geliebte

Zu ſich geholt in's Grab?
Glaub' mir, du wunderſchoͤnes,

Du wunderholdes Kind,

Ich lebe und bin noch ſtaͤrker

Als alle Todten ſind!
[26]

XXII.

“Die Jungfrau ſchlaͤft in der Kammer,

Der Mond ſchaut zitternd hinein;

Da draußen ſingt es und klingt es,

Wie Walzermelodeyn.
Ich will mal ſchaun aus dem Fenſter,

Wer drunten ſtoͤrt meine Ruh'.

Da ſteht ein Todtengerippe,

Und fidelt und ſingt dazu:
Haſt einſt mir den Tanz verſprochen,

Und haſt gebrochen dein Wort,

Und heut iſt Ball auf dem Kirchhof,

Komm mit, wir tanzen dort.
Die Jungfrau ergreift es gewaltig,

Es lockt ſie hervor aus dem Haus;

Sie folgt dem Gerippe, das ſingend

Und fidelnd ſchreitet voraus.
[27]
Es fidelt und taͤnzelt und huͤpfet,

Und klappert mit ſeinem Gebein,

Und nickt und nickt mit dem Schaͤdel

Unheimlich im Mondenſchein.“

XXIII.

Ich ſtand in dunkeln Traͤumen

Und ſtarrte ihr Bildniß an,

Und das geliebte Antlitz

Heimlich zu leben begann.
Um ihre Lippen zog ſich

Ein Laͤcheln wunderbar,

Und wie von Wehmuthsthraͤnen

Erglaͤnzte ihr Augenpaar.
Auch meine Thraͤnen floſſen

Mir von den Wangen herab —

Und ach, ich kann es nicht glauben,

Daß ich Dich verloren hab'!
[28]

XXIV.

Ich ungluͤckſel'ger Atlas! eine Welt,

Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,

Ich trage Unertraͤgliches, und brechen

Will mir das Herz im Leibe.
Du ſtolzes Herz! du haſt es ja gewollt,

Du wollteſt gluͤcklich ſeyn, unendlich gluͤcklich

Oder unendlich elend, ſtolzes Herz,

Und jetzo biſt du elend.

XXV.

Die Jahre kommen und gehen,

Geſchlechter ſteigen in's Grab,

Doch nimmer vergeht die Liebe,

Die ich im Herzen hab'.
Nur einmal noch moͤcht' ich dich ſehen,

Und ſinken vor dir auf's Knie,

Und ſterbend zu dir ſprechen:

Madame, ich liebe Sie!
[29]

XXVI.

Mir traͤumte: traurig ſchaute der Mond,

Und traurig ſchienen die Sterne;

Es trug mich zur Stadt, wo Liebchen wohnt,

Viel hundert Meilen ferne.
Es hat mich zu ihrem Hauſe gefuͤhrt,

Ich kuͤßte die Steine der Treppe,

Die oft ihr kleiner Fuß beruͤhrt,

Und ihres Kleides Schleppe.
Die Nacht war lang, die Nacht war kalt,

Es waren ſo kalt die Steine;

Es lugt' aus dem Fenſter die blaſſe Geſtalt,

Beleuchtet vom Mondenſcheine.
[30]

XXVII.

Was will die einſame Thraͤne?

Sie truͤbt mir ja den Blick.

Sie blieb aus alten Zeiten

In meinem Auge zuruͤck.
Sie hatte viel leuchtende Schweſtern,

Die alle zerfloſſen ſind,

Mit meinen Qualen und Freuden,

Zerfloſſen in Nacht und Wind.
Wie Nebel ſind auch zerfloſſen

Die blauen Sternelein,

Die mir jene Freuden und Qualen

Gelaͤchelt in's Herz hinein.
Ach, meine Liebe ſelber

Zerfloß wie eitel Hauch!

Du alte, einſame Thraͤne,

Zerfließe jetzunder auch.
[31]

XXVIII.

Der bleiche, herbſtliche Halbmond

Lugt aus den Wolken heraus;

Ganz einſam liegt auf dem Kirchhof'

Das ſtille Pfarrerhaus.
Die Mutter lieſt in der Bibel,

Der Sohn der ſtarret in's Licht,

Schlaftrunken dehnt ſich die aͤlt're,

Die juͤngere Tochter ſpricht:
Ach Gott! wie Einem die Tage

Langweilig hier vergeh'n;

Nur wenn ſie Einen begraben,

Bekommen wir etwas zu ſehn.
Die Mutter ſpricht zwiſchen dem Leſen:

Du irrſt, es ſtarben nur Vier,

Seit man deinen Vater begraben,

Dort an der Kirchhofsthuͤr'.
[32]
Die aͤlt're Tochter gaͤhnet:

Ich will nicht verhungern bey Euch,

Ich gehe morgen zum Grafen,

Und der iſt verliebt und reich.
Der Sohn bricht aus in Lachen:

Drey Jaͤger zechen im Stern,

Die machen Gold und lehren

Mir das Geheimniß gern.
Die Mutter wirft ihm die Bibel

In's mag're Geſicht hinein:

So willſt du, Gottverfluchter,

Ein Straßenraͤuber ſeyn!
Sie hoͤren pochen an's Fenſter,

Und ſehn eine winkende Hand;

Der todte Vater ſteht draußen

Im ſchwarzen Pred'gergewand.
[33]

XXIX.

Das iſt ein ſchlechtes Wetter,

Es regnet und ſtuͤrmt und ſchney't;

Ich ſitze am Fenſter und ſchaue

Hinaus in die Dunkelheit.
Da ſchimmert ein einſames Lichtchen,

Das wandelt langſam fort;

Ein Muͤtterchen mit dem Laternchen

Wankt uͤber die Straße dort.
Ich glaube, Mehl und Eyer

Und Butter kaufte ſie ein;

Sie will einen Kuchen backen

Fuͤr's große Toͤchterlein.
Die liegt zu Haus im Lehnſtuhl,

Und blinzelt ſchlaͤfrig in's Licht;

Die goldnen Locken wallen

Ueber das ſuͤße Geſicht.
3[34]

XXX.

Man glaubt, daß ich mich graͤme

In bitter'm Liebesleid,

Und endlich glaub' ich es ſelber,

So gut wie andre Leut'.
Du Kleine mit großen Augen,

Ich hab' es dir immer geſagt,

Daß ich dich unſaͤglich liebe,

Daß Liebe mein Herz zernagt.
Doch nur in einſamer Kammer

Sprach ich auf ſolche Art,

Und ach! ich hab' immer geſchwiegen

In deiner Gegenwart.
Da gab es boͤſe Engel,

Die hielten mir zu den Mund;

Und ach! durch boͤſe Engel

Bin ich ſo elend jetzund.
[35]

XXXI.

Deine weichen Lilienfinger,

Koͤnnt' ich ſie noch einmal kuͤſſen,

Und ſie druͤcken an mein Herz,

Und vergehn in ſtillem Weinen!
Deine klaren Veilchenaugen

Schweben vor mir Tag und Nacht,

Und mich quaͤlt es: was bedeuten

Dieſe ſuͤßen, blauen Raͤthſel?

XXXII.

„Hat ſie ſich denn nie geaͤußert

Ueber dein verliebtes Weſen?

Konnteſt du in ihren Augen

Niemals Gegenliebe leſen?
Konnteſt du in ihren Augen

Niemals bis zur Seele dringen?

Und du biſt ja ſonſt kein Eſel,

Theurer Freund, in ſolchen Dingen.“
[36]

XXXIII.

Sie liebten ſich beide, doch keiner

Wollt' es dem andern geſtehn;

Sie ſahen ſich an ſo feindlich,

Und wollten vor Liebe vergehn.
Sie trennten ſich endlich und ſah'n ſich

Nur noch zuweilen im Traum;

Sie waren laͤngſt geſtorben‚

Und wußten es ſelber kaum.

XXXIV.

Und als ich Euch meine Schmerzen geklagt,

Da habt Ihr gegaͤhnt und nichts geſagt;

Doch als ich ſie zierlich in Verſe gebracht,

Da habt Ihr mir große Elogen gemacht.
[37]

XXXV.

Ich rief den Teufel und er kam,

Und ich ſah ihn mit Verwund'rung an.

Er iſt nicht haͤßlich und iſt nicht lahm,

Er iſt ein lieber, ſcharmanter Mann,

Ein Mann in ſeinen beſten Jahren,

Verbindlich und hoͤflich und welterfahren.

Er iſt ein geſcheuter Diplomat,

Und ſpricht recht ſchoͤn uͤber Kirch' und Staat.

Blaß iſt er etwas, doch iſt es kein Wunder,

Sanskritt und Hegel ſtudiert er jetzunder.

Sein Lieblingspoet iſt noch immer Fouquè.

Doch will er nicht mehr mit Kritik ſich befaſſen,

Die hat er jetzt gaͤnzlich uͤberlaſſen

Der theuren Großmutter Hekate.

Er lobte mein juriſtiſches Streben,

Hat fruͤher ſich auch damit abgegeben.

Er ſagte, meine Freundſchaft ſey

Ihm nicht zu theuer, und nickte dabey,

[38]
Und frug: ob wir uns fruͤher nicht

Schon einmal geſehn bey'm ſpan'ſchen Geſandten?

Und als ich recht beſah ſein Geſicht,

Fand ich in ihm einen alten Bekannten.

XXXVI.

Menſch, verſpotte nicht den Teufel,

Kurz iſt ja die Lebensbahn,

Und die ewige Verdammniß

Iſt kein bloßer Poͤbelwahn.
Menſch, bezahle deine Schulden,

Lang iſt ja die Lebensbahn,

Und du mußt noch manchmal borgen,

Wie du es ſo oft gethan.
[39]

XXXVII.

Die heil'gen drey Koͤn'ge aus Morgenland,

Sie frugen in jedem Staͤdtchen:

Wo geht der Weg nach Bethlehem,

Ihr lieben Buben und Maͤdchen?
Die Jungen und Alten, ſie wußten es nicht,

Die Koͤnige zogen weiter;

Sie folgten einem goldenen Stern,

Der leuchtete lieblich und heiter.
Der Stern blieb ſtehn uͤber Joſephs Haus,

Da ſind ſie hineingegangen;

Das Oechslein bruͤllte, das Kindlein ſchrie,

Die heil'gen drey Koͤnige ſangen.
[40]

XXXVIII.

Mein Kind, wir waren Kinder,

Zwey Kinder, klein und froh;

Wir krochen in's Huͤhnerhaͤuschen

Und ſteckten uns unter das Stroh.
Wir kraͤhten wie die Haͤhne,

Und kamen Leute vorbey —

Kikerekuͤh! ſie glaubten,

Es waͤre Hahnengeſchrey.
Die Kiſten auf unſerem Hofe,

Die tapezirten wir aus,

Und wohnten drin beyſammen,

Und machten ein vornehmes Haus.
Des Nachbars alte Katze

Kam oͤfters zum Beſuch;

Wir machten ihr Buͤckling' und Knixe,

Und Complimente genug.
[41]
Wir haben nach ihrem Befinden

Beſorglich und freundlich gefragt;

Wir haben ſeitdem daſſelbe

Mancher alten Katze geſagt.
Wir ſaßen auch oft und ſprachen

Vernuͤnftig, wie alte Leut',

Und klagten, wie Alles beſſer

Geweſen zu unſerer Zeit;
Wie Lieb' und Treu' und Glauben

Verſchwunden aus der Welt,

Und wie ſo theuer der Kaffee,

Und wie ſo rar das Geld! — — —
Vorbey ſind die Kinderſpiele,

Und Alles rollt vorbey, —

Das Geld und die Welt und die Zeiten,

Und Glauben und Lieb' und Treu'.
[42]

XXXIX.

Das Herz iſt mir bedruͤckt, und ſehnlich

Gedenke ich der alten Zeit;

Die Welt war damals noch ſo woͤhnlich,

Und ruhig lebten hin die Leut'.
Doch jetzt iſt alles wie verſchoben,

Das iſt ein Draͤngen! eine Noth!

Geſtorben iſt der Herrgott oben,

Und unten iſt der Teufel todt.
Und Alles ſchaut ſo graͤmlich truͤbe,

Und krausverwirrt und morſch und kalt,

Und waͤre nicht das bischen Liebe,

So gaͤb' es nirgends einen Halt.
[43]

XL.

Wie der Mond ſich leuchtend draͤnget

Durch den dunkeln Wolkenflor,

Alſo taucht aus dunkeln Zeiten

Mir ein lichtes Bild hervor.
Saßen all auf dem Verdecke,

Fuhren ſtolz hinab den Rhein,

Und die ſommergruͤnen Ufer

Gluͤhn im Abendſonnenſchein.
Sinnend ſaß ich zu den Fuͤßen

Einer Dame, ſchoͤn und hold;

In ihr liebes, bleiches Antlitz

Spielt' das rothe Sonnengold.
Lauten klangen, Buben ſangen,

Wunderbare Froͤhlichkeit!

Und der Himmel wurde blauer,

Und die Seele wurde weit.
[44]
Maͤhrchenhaft voruͤberzogen

Berg und Burgen, Wald und Au';

Und das Alles ſah ich glaͤnzen

In dem Aug' der ſchoͤnen Frau.

XLI.

Im Traum ſah ich die Geliebte,

Ein banges, bekuͤmmertes Weib,

Verwelkt und abgefallen

Der ſonſt ſo bluͤhende Leib.
Ein Kind trug ſie auf dem Arme,

Ein andres fuͤhrt ſie an der Hand,

Und ſichtbar iſt Armuth und Truͤbſal

Am Gang und Blick und Gewand.
Sie ſchwankte uͤber den Marktplatz,

Und da begegnet ſie mir,

Und ſieht mich an, und ruhig

Und ſchmerzlich ſag' ich zu ihr:
[45]
Komm mit nach meinem Hauſe,

Denn du biſt blaß und krank;

Ich will durch Fleiß und Arbeit

Dir ſchaffen Speiſ' und Trank.
Ich will auch pflegen und warten

Die Kinder, die bey dir ſind,

Vor Allem aber dich ſelber,

Du armes, ungluͤckliches Kind.
Ich will dir nie erzaͤhlen,

Daß ich dich geliebet hab',

Und wenn du ſtirbſt, ſo will ich

Weinen auf deinem Grab.
[46]

XLII.

“Theurer Freund! Was ſoll es nuͤtzen,

Stets das alte Lied zu leyern?

Willſt du ewig bruͤtend ſitzen

Auf den alten Liebes-Eyern!
Ach! das iſt ein ewig Gattern,

Aus den Schalen kriechen Kuͤchlein,

Und ſie piepſen und ſie flattern,

Und du ſperrſt ſie in ein Buͤchlein!”

XLIII.

Werdet nur nicht ungeduldig,

Wenn von alten Schmerzensklaͤngen

Manche noch vernehmlich klingen

In den neueſten Geſaͤngen.
Wartet nur, es wird verhallen

Dieſes Echo meiner Schmerzen,

Und ein neuer Liederfruͤhling

Sprießt aus dem geheilten Herzen.
[47]

XLIV.

Nun iſt es Zeit, daß ich mit Verſtand

Mich aller Thorheit entled'ge;

Ich hab' ſo lang als ein Comoͤdiant

Mit dir geſpielt die Comoͤdie.
Die praͤcht'gen Couliſſen, ſie waren bemalt

Im hochromantiſchen Style,

Mein Rittermantel hat goldig geſtrahlt,

Ich fuͤhlte die feinſten Gefuͤhle.
Und nun ich mich gar ſaͤuberlich

Des tollen Tands entled'ge,

Noch immer elend fuͤhl' ich mich,

Als ſpielt' ich noch immer Comoͤdie.
Ach Gott! im Scherz und unbewußt

Sprach ich was ich gefuͤhlet;

Ich hab' mit dem eignen Tod in der Bruſt

Den ſterbenden Fechter geſpielet.
[48]

XLV.

Den Koͤnig Wiswamitra,

Den treibt's ohne Raſt und Ruh',

Er will durch Kampf und Buͤßung

Erwerben Waſiſchtas Kuh'.
O, Koͤnig Wiswamitra,

O, welch ein Ochs biſt du,

Daß du ſo viel kaͤmpfeſt und buͤßeſt,

Und Alles fuͤr eine Kuh!

XLVI.

Herz, mein Herz ſey nicht beklommen,

Und ertrage dein Geſchick,

Neuer Fruͤhling giebt zuruͤck,

Was der Winter dir genommen.
Und wie viel iſt dir geblieben!

Und wie ſchoͤn iſt noch die Welt!

Und, mein Herz, was dir gefaͤllt,

Alles, Alles darfſt du lieben!
[49]

XLVII.

Du biſt wie eine Blume,

So hold und ſchoͤn und rein;

Ich ſchau' dich an, und Wehmuth

Schleicht mir in's Herz hinein.
Mir iſt, als ob ich die Haͤnde

Auf's Haupt dir legen ſollt',

Betend, daß Gott dich erhalte

So rein und ſchoͤn und hold.

XLVIII.

Kind! Es waͤre dein Verderben,

Und ich geb' mir ſelber Muͤhe,

Daß dein liebes Herz in Liebe

Nimmermehr fuͤr mich ergluͤhe.
Nur daß mir's ſo leicht gelinget,

Will mich dennoch faſt betruͤben,

Und ich denke manchmal dennoch:

Moͤchteſt du mich dennoch lieben!
4[50]

XLIX.

Wenn ich auf dem Lager liege,

In Nacht und Kiſſen gehuͤllt,

So ſchwebt mir vor ein ſuͤßes,

Anmuthig liebes Bild.
Wenn mir der ſtille Schlummer

Geſchloſſen die Augen kaum,

So ſchleicht das Bild ſich leiſe

Hinein in meinen Traum.
Doch mit dem Traum des Morgens

Zerrinnt es nimmermehr;

Dann trag' ich es im Herzen

Den ganzen Tag umher.
[51]

L.

Maͤdchen mit dem rothen Muͤndchen,

Mit den Aeuglein ſuͤß und klar,

Du mein liebes, kleines Maͤdchen,

Deiner denk' ich immerdar.
Lang iſt heut der Winterabend,

Und ich moͤchte bey dir ſeyn,

Bey dir ſitzen, mit dir ſchwatzen,

Im vertrauten Kaͤmmerlein.
An die Lippen wollt' ich preſſen

Deine kleine, weiße Hand,

Und mit Thraͤnen ſie benetzen,

Deine kleine, weiße Hand.
[52]

LI.

Mag da draußen Schnee ſich thuͤrmen,

Mag es hageln, mag es ſtuͤrmen,

Klirrend mir an's Fenſter ſchlagen,

Nimmer will ich mich beklagen,

Denn ich trage in der Bruſt

Liebchens Bild und Fruͤhlingsluſt.

LII.

Andre beten zur Madonne,

Andre auch zu Paul und Peter;

Ich jedoch, ich will nur beten

Nur zu dir, du ſchoͤne Sonne.
Gieb mir Kuͤſſe, gieb mir Wonne,

Sey mir guͤtig, ſey mir gnaͤdig,

Schoͤnſte Sonne unter den Maͤdchen,

Schoͤnſtes Maͤdchen unter der Sonne!
[53]

LIII.

Verrieth mein blaſſes Angeſicht

Dir nicht mein Liebeswehe?

Und willſt du, daß der ſtolze Mund

Das Bettlerwort geſtehe?
O, dieſer Mund iſt gar zu ſtolz,

Und kann nur kuͤſſen und ſcherzen;

Er ſpraͤche vielleicht ein hoͤhniſch Wort,

Waͤhrend ich ſterbe vor Schmerzen.

LIV.

Theurer Freund, du biſt verliebt,

Und dich quaͤlen neue Schmerzen;

Dunkler wird es dir im Kopf',

Heller wird es dir im Herzen.
Theurer Freund, du biſt verliebt,

Und du willſt es nicht bekennen,

Und ich ſeh' des Herzens Gluth

Schon durch deine Weſte brennen.
[54]

LV.

Ich wollte bey dir weilen,

Und an deiner Seite ruhn;

Du mußteſt von mir eilen,

Du hatteſt viel zu thun.
Ich ſagte, daß meine Seele

Dir gaͤnzlich ergeben ſey;

Du lachteſt aus voller Kehle,

Und machteſt 'nen Knix dabey.
Du haſt noch mehr geſteigert

Mir meinen Liebesverdruß,

Und haſt mir ſogar verweigert

Am Ende den Abſchiedkuß.
Glaub' nicht, daß ich mich erſchieße,

Wie ſchlimm auch die Sachen ſtehn!

Das Alles, meine Suͤße,

Iſt mir ſchon einmal geſchehn.
[55]

LVI.

Zu fragmentariſch iſt Welt und Leben,

Ich will mich zum deutſchen Profeſſor begeben,

Der weiß das Leben zuſammen zu ſetzen,

Und er macht ein verſtaͤndlich Syſtem daraus;

Mit ſeinen Nachtmuͤtzen und Schlafrockfetzen

Stopft er die Luͤcken des Weltenbau's.

LVII.

Ich hab' mir lang den Kopf zerbrochen

Mit Denken und Sinnen, Tag und Nacht,

Doch deine liebenswuͤrdigen Augen

Sie haben mich zum Entſchluß gebracht.
Jetzt bleib' ich, wo deine Augen leuchten,

In ihrer ſuͤßen, klugen Pracht —

Daß ich noch einmal wuͤrde lieben,

Ich haͤtt' es nimmermehr gedacht.
[56]

LVIII.

Sie haben heut Abend Geſellſchaft,

Und das Haus iſt lichterfuͤllt.

Dort oben am hellen Fenſter

Bewegt ſich ein Schattenbild.
Du ſchauſt mich nicht, im Dunkeln

Steh' ich hier unten allein;

Noch wen'ger kannſt du ſchauen

In mein dunkles Herz hinein.
Mein dunkles Herze liebt dich,

Es liebt dich und es bricht,

Und bricht und zuckt und verblutet,

Aber du ſiehſt es nicht.
[57]

LIX.

Ich wollt', meine Schmerzen ergoͤſſen

Sich all' in ein einziges Wort,

Das gaͤb' ich den luſtigen Winden,

Die truͤgen es luſtig fort.
Sie tragen zu dir, Geliebte,

Das ſchmerzerfuͤllte Wort;

Du hoͤrſt es zu jeder Stunde,

Du hoͤrſt es an jedem Ort.
Und haſt du zum naͤchtlichen Schlummer

Geſchloſſen die Augen kaum,

So wird dich mein Wort verfolgen

Bis in den tiefſten Traum.
[58]

LX.

Du haſt Diamanten und Perlen,

Haſt alles, was Menſchenbegehr,

Und haſt die ſchoͤnſten Augen —

Mein Liebchen, was willſt du mehr?
Auf deine ſchoͤnen Augen

Hab' ich ein ganzes Heer

Von ewigen Liedern gedichtet —

Mein Liebchen, was willſt du mehr?
Mit deinen ſchoͤnen Augen

Haſt du mich gequaͤlt ſo ſehr,

Und haſt mich zu Grunde gerichtet —

Mein Liebchen, was willſt du mehr?
[59]

LXI.

Wer zum erſtenmale liebt,

Sey's auch gluͤcklos, iſt ein Gott;

Aber wer zum zweitenmale

Gluͤcklos liebt, der iſt ein Narr.
Ich, ein ſolcher Narr, ich liebe

Wieder ohne Gegenliebe!

Sonne, Mond und Sterne lachen,

Und ich lache mit — und ſterbe.

LXII.

O, mein genaͤdiges Fraͤulein, erlaubt

Mir kranken Sohn der Muſen,

Daß ſchlummernd ruhe mein Saͤngerhaupt

Auf Eurem Schwanenbuſen!
„Mein Herr! wie koͤnnen Sie es wagen,

Mir ſo was in Geſellſchaft zu ſagen?“
[60]

LXIII.

Gaben mir Rath und gute Lehren,

Ueberſchuͤtteten mich mit Ehren,

Sagten, daß ich nur warten ſollt',

Haben mich protegiren gewollt.
Aber bey all ihrem Protegiren,

Haͤtte ich koͤnnen vor Hunger krepiren,

Waͤr' nicht gekommen ein braver Mann,

Wacker nahm er ſich meiner an.
Braver Mann! Er ſchafft mir zu eſſen!

Will es ihm nie und nimmer vergeſſen!

Schade, daß ich ihn nicht kuͤſſen kann!

Denn ich bin ſelbſt dieſer brave Mann.
[61]

LXIV.

Dieſen liebenswuͤrd'gen Juͤngling

Kann man nicht genug verehren;

Oft tracktirt er mich mit Auſtern,

Und mit Rheinwein und Liquoͤren.
Zierlich ſitzt ihm Rock und Hoͤschen,

Doch noch zierlicher die Binde,

Und ſo kommt er jeden Morgen,

Fragt, ob ich mich wohlbefinde;
Spricht von meinem weiten Ruhme,

Meiner Anmuth, meinen Witzen;

Eifrig und geſchaͤftig iſt er

Mir zu dienen, mir zu nuͤtzen.
Und des Abends, in Geſellſchaft,

Mit begeiſtertem Geſichte,

Deklamirt er vor den Damen

Meine goͤttlichen Gedichte.
[62]
O, wie iſt es hoch erfreulich,

Solchen Juͤngling noch zu finden,

Jetzt in unſrer Zeit, wo taͤglich

Mehr und mehr die Beſſern ſchwinden.

LXV.

Mir traͤumt': ich bin der liebe Gott,

Und ſitz' im Himmel droben,

Und Englein ſitzen um mich her,

Die meine Verſe loben.
Und Kuchen eſſ' ich und Confeckt

Fuͤr manchen lieben Gulden,

Und Kardinal trink' ich dabey,

Und habe keine Schulden.
Doch Langeweile plagt mich ſehr,

Ich wollt', ich waͤr' auf Erden,

Und waͤr' ich nicht der liebe Gott,

Ich koͤnnt' des Teufels werden.
[63]
Du langer Engel Gabriel,

Geh', mach' dich auf die Sohlen,

Und meinen theuren Freund Eugèn

Sollſt du herauf mir holen.
Such' ihn nicht im Collegium,

Such' ihn beim Glas Tokayer;

Such' ihn nicht in der Hedwigskirch,

Such' ihn bey Mamſell Meyer.
Da breitet aus ſein Fluͤgelpaar

Und fliegt herab der Engel,

Und packt ihn auf, und bringt herauf

Den Freund, den lieben Bengel.
Ja, Jung', ich bin der liebe Gott,

Und ich regier' die Erde!

Ich hab's ja immer dir geſagt,

Daß ich was Rechts noch werde.
Und Wunder thu' ich alle Tag,

Die ſollen dich entzuͤcken,

Und dir zum Spaße will ich heut

Die Stadt Ix-Ix begluͤcken.
[64]
Die Pflaſterſteine auf der Straß',

Die ſollen jetzt ſich ſpalten,

Und eine Auſter, friſch und klar,

Soll jeder Stein enthalten.
Ein Regen von Zitronenſaft

Soll thauig ſie begießen,

Und in den Straßengoͤſſen ſoll

Der beſte Rheinwein fließen.
Wie freuen die Ix-Ixer ſich,

Sie gehen ſchon an's Freſſen;

Die Herren von dem Landgericht,

Die ſaufen aus den Goͤſſen.
Wie freuen die Poeten ſich

Bey ſolchem Goͤtterfraße!

Die Leutnants und die Faͤhnderichs,

Die lecken ab die Straße.
Die Leutnants und die Faͤhnderichs,

Das ſind die kluͤgſten Leute,

Sie denken, alle Tag' geſchieht

Kein Wunder ſo wie heute.
[65]

LXVI.

Von ſchoͤnen Lippen fortgedraͤngt, getrieben

Aus ſchoͤnen Armen, die uns feſt umſchloſſen!

Ich waͤre gern noch einen Tag geblieben,

Doch kam der Schwager ſchon mit ſeinen Roſſen.
Das iſt das Leben, Kind, ein ewig Jammern,

Ein ewig Abſchiednehmen, ew'ges Trennen!

Konnt' denn dein Herz das mein'ge nicht umklammern?

Hat ſelbſt dein Auge mich nicht halten koͤnnen?

LXVII.

Wir fuhren allein im dunkeln

Poſtwagen die ganze Nacht;

Wir ruhten einander am Herzen,

Wir haben geſcherzt und gelacht.
Doch als es Morgens tagte,

Mein Kind, wie ſtaunten wir!

Denn zwiſchen uns ſaß Amor,

Der blinde Paſſagier.
5[66]

LXVIII.

Das weiß Gott, wo ſich die tolle

Dirne einquartieret hat;

Fluchend, in dem Regenwetter,

Lauf' ich durch die ganze Stadt.
Bin ich doch von einem Gaſthof

Nach dem andern hingerannt,

Und an jeden groben Kellner

Hab' ich mich umſonſt gewandt.
Da erblick' ich ſie am Fenſter,

Und ſie winkt und kichert hell.

Konnt' ich wiſſen, du bewohnteſt,

Maͤdchen, ſolches Pracht-Hotel!
[67]

LXIX.

Wie dunkle Traͤume ſtehen

Die Haͤuſer in langer Reih';

Tief eingehuͤllt im Mantel

Schreite ich ſchweigend vorbey.
Der Thurm der Cathedrale

Verkuͤndet die zwoͤlfte Stund';

Mit ihren Reizen und Kuͤſſen

Erwartet mich Liebchen jetzund.
Der Mond iſt mein Begleiter,

Er leuchtet mir freundlich vor;

Da bin ich an ihrem Hauſe,

Und freudig ruf' ich empor:
Ich danke dir, alter Vertrauter,

Daß du meinen Weg erhellt;

Jetzt will ich dich entlaſſen,

Jetzt leuchte der uͤbrigen Welt!
[68]
Und findeſt du einen Verliebten,

Der einſam klagt ſein Leid,

So troͤſt' ihn, wie du mich ſelber

Getroͤſtet in alter Zeit.

LXX.

Haſt du die Lippen mir wund gekuͤßt‚

So kuͤſſe ſie wieder heil‚

Und wenn du bis Abend nicht fertig biſt,

So hat es auch keine Eil.
Du haſt ja noch die ganze Nacht,

Du Herzallerliebſte mein!

Man kann in ſolch einer ganzen Nacht

Viel kuͤſſen und ſelig ſeyn.
[69]

LXXI.

Und biſt du erſt mein eh'lich Weib,

Dann biſt du zu beneiden,

Dann lebſt du in lauter Zeitvertreib,

In lauter Plaiſir und Freuden.
Und wenn du ſchiltſt und wenn du tobſt,

Ich werd' es geduldig leiden;

Doch wenn du meine Verſe nicht lobſt,

Laß ich mich von dir ſcheiden.

LXXII.

Als Sie mich umſchlang mit zaͤrtlichem Preſſen,

Da iſt meine Seele gen Himmel geflogen!

Ich ließ ſie fliegen, und hab' unterdeſſen

Den Necktar von Ihren Lippen geſogen.
[70]

LXXIII.

Auf deinen ſchneeweißen Buſen

Hab' ich mein Haupt gelegt,

Und heimlich kann ich behorchen,

Was dir dein Herz bewegt.
Es blaſen die blauen Huſaren,

Und reiten zum Thor herein,

Und morgen will mich verlaſſen

Die Herzallerliebſte mein.
Und willſt du mich morgen verlaſſen,

So biſt du doch heute noch mein,

Und in deinen ſchoͤnen Armen

Will ich doppelt ſelig ſeyn.

LXXIV.

Es blaſen die blauen Huſaren,

Und reiten zum Thor hinaus;

Da komm' ich, Geliebte, und bringe

Dir einen Roſenſtrauß.
[71]
Das war eine wilde Wirthſchaft,

Viel Volk und Kriegesplag'!

Sogar in deinem Herzchen

Viel Einquartierung lag.

LXXV.

Habe auch, in jungen Jahren,

Manches bitt're Leid erfahren

Von der Liebe Gluth.

Doch das Holz iſt gar zu theuer,

Und erloͤſchen will das Feuer,

Ma foi! und das iſt gut.
Das bedenke, junge Schoͤne,

Schicke fort die dumme Thraͤne,

Und den dummen Liebesharm.

Iſt das Leben dir geblieben,

So vergiß das alte Lieben,

Ma foi! in meinem Arm.
[72]

LXXVI.

Himmliſch war's, wenn ich bezwang

Meine ſuͤndige Begier,

Aber wenn's mir nicht gelang,

Hatt' ich doch ein groß Plaiſir.

LXXVII.

Blamir' mich nicht, mein ſchoͤnes Kind,

Und gruͤß' mich nicht unter den Linden;

Wenn wir nachher zu Hauſe ſind‚

Wird ſich ſchon Alles finden.

LXXVIII.

Selten habt Ihr mich verſtanden‚

Selten auch verſtand ich Euch,

Nur wenn wir im Koth uns fanden,

So verſtanden wir uns gleich.
[73]

LXXIX.

Doch die Kaſtraten klagten

Als ich meine Stimm' erhob;

Sie klagten und ſie ſagten:

Ich ſaͤnge viel zu grob.
Und lieblich erhoben ſie alle

Die kleinen Stimmelein,

Die Trillerchen, wie Kriſtalle,

Sie klangen ſo fein und rein.
Sie ſangen von Liebesſehnen,

Von Lieb' und Liebeserguß;

Die Damen ſchwammen in Thraͤnen,

Bey ſolchem Kunſtgenuß.
[74]

LXXX.

Auf den Waͤllen Salamankas

Sind die Luͤfte lind und labend;

Dort, mit meiner holden Donna,

Wandle ich am Sommerabend.
Um den ſchlanken Leib der Schoͤnen

Hab' ich meinen Arm gebogen,

Und mit ſel'gem Finger fuͤhl' ich

Ihres Buſens ſtolzes Wogen.
Doch ein aͤngſtliches Gefluͤſter

Zieht ſich durch die Lindenbaͤume,

Und der dunkle Muͤhlbach unten

Murmelt boͤſe, bange Traͤume.
“Ach, Sennora, Ahnung ſagt mir:

Einſt wird man mich relegiren,

Und auf Salamankas Waͤllen

Geh'n wir nimmermehr ſpatzieren.”
[75]

LXXXI.

Kaum ſahen wir uns, und an Augen und Stimme

Merkt' ich, daß du mir gewogen biſt;

Und ſtand nicht dabey die Mutter, die ſchlimme,

Ich glaube, wir haͤtten uns gleich gekuͤßt.
Und morgen verlaſſe ich wieder das Staͤdtchen,

Und eile fort im alten Lauf;

Dann lauert am Fenſter mein blondes Maͤdchen,

Und freundliche Gruͤße werf' ich hinauf.

LXXXII.

Ueber die Berge ſteigt ſchon die Sonne,

Die Laͤmmerheerde laͤutet fern;

Mein Liebchen, mein Lamm, meine Sonne und Wonne,

Noch einmal ſaͤh' ich dich gar zu gern!
Ich ſchaue hinauf, mit ſpaͤhender Miene —

Leb' wohl, mein Kind, ich wandre von hier!

Vergebens! Es regt ſich keine Gardine; —

Sie liegt noch und ſchlaͤft, und traͤumt von mir
[76]

LXXXIII.

Zu Halle auf dem Markt,

Da ſtehn zwey große Loͤwen.

Ey, du halliſcher Loͤwentrotz,

Wie hat man dich gezaͤhmet!
Zu Halle auf dem Markt,

Da ſteht ein großer Rieſe.

Er hat ein Schwert und regt ſich nicht,

Er iſt vor Schreck verſteinert.
Zu Halle auf dem Markt,

Da ſteht eine große Kirche.

Die Burſchenſchaft und die Landsmannſchaft,

Die haben dort Platz zum Beten.
[77]

LXXXIV.

Schoͤne, wirthſchaftliche Dame,

Haus und Hof iſt wohlbeſtellt,

Wohlverſorgt iſt Stall und Keller,

Wohlbeackert iſt das Feld.
Jeder Winkel in dem Garten

Iſt geraͤutet und geputzt,

Und das Stroh, das ausgedroſch'ne,

Wird fuͤr Betten noch benutzt.
Doch dein Herz und deine Lippen,

Schoͤne Dame, liegen brach,

Und zur Haͤlfte nur benutzet

Iſt dein trautes Schlafgemach.
[78]

LXXXV.

Daͤmmernd liegt der Sommerabend

Ueber Wald und gruͤnen Wieſen;

Goldner Mond, am blauen Himmel,

Strahlt herunter, duftig labend.
An dem Bache zirpt die Grille,

Und es regt ſich in dem Waſſer,

Und der Wandrer hoͤrt ein Plaͤtſchern,

Und ein Athmen in der Stille.
Dorten, an dem Bach alleine,

Badet ſich die ſchoͤne Elfe;

Arm und Nacken, weiß und lieblich,

Schimmern in dem Mondenſcheine.
[79]

LXXXVI.

Nacht liegt auf den fremden Wegen, —

Krankes Herz und muͤde Glieder; —

Ach, da fließt, wie ſtiller Segen,

Suͤßer Mond, dein Licht hernieder.
Suͤßer Mond, mit deinen Strahlen

Scheucheſt du das naͤcht'ge Grauen;

Es zerrinnen meine Qualen,

Und die Augen uͤberthauen.

LXXXVII.

Der Tod das iſt die kuͤhle Nacht,

Das Leben iſt der ſchwuͤle Tag.

Es dunkelt ſchon, mich ſchlaͤfert,

Der Tag hat mich muͤd' gemacht.
Ueber mein Bett erhebt ſich ein Baum,

Drin ſingt die junge Nachtigall;

Sie ſingt von lauter Liebe,

Ich hoͤr' es ſogar im Traum.
[80]

LXXXVIII.

“Sag', wo iſt dein ſchoͤnes Liebchen,

Das du einſt ſo ſchoͤn beſungen,

Als die zaubermaͤcht'gen Flammen

Wunderbar dein Herz durchdrungen?”
Jene Flammen ſind erloſchen,

Und mein Herz iſt kalt und truͤbe,

Und dies Buͤchlein iſt die Urne

Mit der Aſche meiner Liebe.
[81]

Goͤtterdaͤmmerung.

Der May iſt da mit ſeinen goldnen Lichtern,

Und ſeidnen Luͤften und gewuͤrzten Duͤften,

Und freundlich lockt er mit den weißen Bluͤthen,

Und gruͤßt aus tauſend blauen Veilchenaugen,

Und breitet aus den blumreich-gruͤnen Teppich,

Durchwebt mit Sonnenſchein und Morgenthau,

Und ruft herbey die lieben Menſchenkinder.

Das bloͤde Volk gehorcht dem erſten Ruf;

Die Maͤnner ziehn die Nankinhoſen an,

Und Sonntagsroͤck' mit goldnen Spiegelknoͤpfen;

Die Frauen kleiden ſich in Unſchuldweiß,

Juͤnglinge kraͤuſeln ſich den Fruͤhlingſchnurrbart,

Jungfrauen laſſen ihre Buſen wallen,

Die Stadtpoeten ſtecken in die Taſche

Papier und Bleyſtift und Lorgnett'; und jubelnd

Zieht nach dem Thor die krausbewegte Schaar,

Und lagert draußen ſich auf gruͤnem Raſen,

6[82]
Bewundert, wie die Baͤume fleißig wachſen,

Spielt mit den bunten, zarten Bluͤmelein,

Horcht auf den Sang der luſt'gen Voͤgelein,

Und jauchzt hinauf zum blauen Himmelszelt.
Zu mir kam auch der May. Er klopfte dreymal

An meine Thuͤr', und rief: Ich bin der May,

Du bleicher Traͤumer, komm, ich will dich kuͤſſen!

Ich hielt verriegelt meine Thuͤr', und rief:

Vergebens lockſt du mich, du ſchlimmer Gaſt;

Ich habe dich durchſchaut, ich hab' durchſchaut

Den Bau der Welt, und hab' zu viel geſchaut‚

Und viel zu tief, und hin iſt alle Freude,

Und ew'ge Qualen zogen in mein Herz.

Ich ſchaue durch die ſteinern-harten Rinden

Der Menſchenhaͤuſer und der Menſchenherzen,

Und ſchau' in beyden Lug und Trug und Elend.

Auf den Geſichtern leſ' ich die Gedanken,

Viel ſchlimme. In der Jungfrau Scham-Erroͤthen

Seh' ich geheime Luſt begehrlich zittern;

Auf dem begeiſtert ſtolzen Juͤnglingshaupt'

[83]
Seh' ich die bunte Schellenkappe ſitzen;

Und Fratzenbilder nur und ſieche Schatten

Seh' ich auf dieſer Erde, und ich weiß nicht,

Iſt ſie ein Tollhaus oder Krankenhaus.

Ich ſehe durch den Grund der alten Erde,

Als ſey ſie von Kriſtall, und ſeh' das Grauſen,

Das mit dem freud'gen Gruͤne zu bedecken

Der May vergeblich ſtrebt. Ich ſeh' die Todten,

Sie liegen unten in den ſchmalen Saͤrgen,

Die Haͤnd' gefaltet und die Augen offen,

Weiß das Gewand und weiß das Angeſicht,

Und durch die gelben Lippen kriechen Wuͤrmer.

Ich ſeh', der Sohn ſetzt ſich mit ſeiner Buhle

Zur Kurzweil nieder auf des Vaters Grab;

Spottlieder ſingen rings die Nachtigallen,

Die ſanften Wieſenbluͤmchen lachen haͤmiſch,

Der todte Vater regt ſich in dem Grab',

Und ſchmerzhaft zuckt die alte Mutter Erde.
Du arme Erde, deine Schmerzen kenn' ich!

Ich ſeh' die Gluth in deinem Buſen wuͤhlen,

[84]
Und deine tauſend Adern ſeh' ich bluten,

Und ſeh', wie deine Wunde klaffend aufreißt,

Und wild hervorſtroͤmt Flamm' und Rauch und Blut.

Ich ſeh' die Rieſenſoͤhn' der alten Nacht,

Sie ſteigen aus der Erde off'nem Schlund,

Und ſchwingen rothe Fackeln in den Haͤnden,

Und legen ihre Eiſenleiter an,

Und ſtuͤrmen wild hinauf zur Himmelsveſte;

Und ſchwarze Zwerge klettern nach; und kniſternd

Zerſtieben droben alle goldnen Sterne.

Mit frecher Hand reißt man den goldnen Vorhang

Vom Zelte Gottes, heulend ſtuͤrzen nieder,

Auf's Angeſicht, die frommen Engelſchaaren.

Auf ſeinem Throne ſitzt der bleiche Gott,

Reißt ſich vom Haupt' die Kron', zerrauft ſein

Haar —

Und naͤher draͤngt heran die wilde Rotte;

Die Rieſen werfen ihre rothen Fackeln

In's Reich der Ewigkeit, die Zwerge ſchlagen

Mit Flammengeißeln auf der Englein Ruͤcken;

Die winden ſich und kruͤmmen ſich vor Qualen,

[85]
Und werden bey den Haaren fortgeſchleudert.

Und meinen eignen Engel ſeh' ich dort,

Mit ſeinen blonden Locken, ſuͤßen Zuͤgen,

Und mit der ew'gen Liebe um den Mund,

Und mit der Seligkeit im blauen Auge —

Und ein entſetzlich haͤßlich ſchwarzer Kobold

Reißt ihn vom Boden, meinen bleichen Engel,

Beaͤugelt grinſend ſeine edlen Glieder,

Umſchlingt ihn feſt mit griechiſcher Umſchlingung

Und gellend droͤhnt ein Schrey durch's ganze Weltall

Die Saͤulen brechen, Erd' und Himmel ſtuͤrzen

Zuſammen, und es herrſcht die alte Nacht.
[86]

Ratkliff.

Der Traumgott brachte mich in eine Landſchaft,

Wo Trauerweiden mir “Willkommen” winkten,

Mit ihren langen, gruͤnen Armen, wo die Blumen

Mit klugen Schweſteraugen ſtill mich anſahn,

Wo mir vertraulich klang der Voͤgel Zwitſchern,

Wo gar der Hunde Bellen mir bekannt ſchien,

Und Stimmen und Geſtalten mich begruͤßten,

Wie einen alten Freund, und wo doch Alles

So fremd mir ſchien, ſo wunderſeltſam fremd.

Vor einem laͤndlich ſchmucken Hauſe ſtand ich,

In meiner Bruſt bewegte ſich's, im Kopfe

War's ruhig, ruhig ſchuͤttelte ich ab

Den Staub von meinen Reiſekleidern,

Dumpf klang die Klingel, und die Thuͤr ging auf.
Das waren Maͤnner, Frauen, viel bekannte

Geſichter. Stiller Kummer lag auf allen

[87]
Und heimlich ſcheue Angſt. Seltſam verſtoͤrt,

Mit Beyleidsmienen faſt, ſahn ſie mich an,

Daß es mir ſelber durch die Seele ſchauert',

Wie Ahnung eines unbekannten Unheils.

Die alte Marg'reth' hab' ich gleich erkannt;

Ich ſah ſie forſchend an, jedoch ſie ſprach nicht.

“Wo iſt Maria?” fragt' ich, doch ſie ſprach nicht,

Griff leiſe meine Hand, und fuͤhrte mich

Durch viele lange, leuchtende Gemaͤcher,

Wo Prunk und Pracht und Todtenſtille herrſchte,

Und fuͤhrt' mich endlich in ein daͤmmernd Zimmer,

Und zeigt', mit abgewandtem Angeſicht',

Nach der Geſtalt, die auf dem Sopha ſaß.

“Sind Sie Maria?” fragt' ich. Innerlich

Erſtaunt' ich ſelber ob der Feſtigkeit,

Womit ich ſprach. Und ſteinern und metalllos

Scholl eine Stimm': “So nennen mich die Leute.”

Ein ſchneidend Weh durchfroͤſtelte mich da,

Denn jener hohle, kalte Ton war doch —

Die einſt ſo ſuͤße Stimme von Maria!

Und jenes Weib im fahlen Lillakleid,

[88]
Nachlaͤßig angezogen, Buſen ſchlotternd,

Die Augen glaͤſern ſtarr, die Wangenmuskeln

Des weißen Angeſichtes lederſchlaff —

Ach, jenes Weib war doch die einſt ſo ſchoͤne,

Die bluͤhend holde, liebliche Maria!

„Sie waren lang auf Reiſen!“ ſprach ſie laut,

Mit kalt unheimlicher Vertraulichkeit,

„Sie ſchaun nicht mehr ſo ſchmachtend, liebſter Freund

Sie ſind geſund, und pralle Lend' und Wade

Bezeugt Soliditaͤt“. Ein ſuͤßlich Laͤcheln

Umzitterte den gelblich blaſſen Mund.

In der Verwirrung ſprach's aus mir hervor:

„Man ſagte mir, Sie haben ſich vermaͤhlt?“

„Ach ja!“ ſprach ſie, gleichguͤltig laut und lachend,

„Hab' einen Stock von Holz, der uͤberzogen

Mit Leder iſt, bey mir im Bette liegt,

Und ſich Gemahl nennt. Aber Holz iſt Holz!“

Und klanglos widrig lachte ſie dabey,

Daß kalte Angſt durch meine Seele rann,

Und Zweifel mich ergriff:— ſind das die keuſchen,

Die blumenzarten Lippen von Maria?

[89]
Sie aber hob ſich in die Hoͤh', nahm raſch

Vom Stuhl den Tuͤrken-Shawl, warf ihn

Um ihren Hals, hing ſich an meinen Arm,

Zog mich von hinnen, durch die offne Hausthuͤr,

Und zog mich fort durch Feld und Buſch und Au'.
Die gluͤhend rothe Sonnenſcheibe ſchwebte

Schon niedrig, und ihr Purpur uͤberſtrahlte

Die Baͤume und die Blumen und den Strom,

Der in der Ferne majeſtaͤtiſch floß.

“Sehn Sie das große, goldne Auge ſchwimmen

Im blauen Waſſer?” rief Maria haſtig.

“Still, armes Weſen!” ſprach ich, und ich ſchaute

Im Daͤmmerlicht' ein maͤhrchenhaftes Weben.

Es ſtiegen Nebelbilder aus den Feldern,

Umſchlangen ſich mit weißen, weichen Armen;

Die Veilchen ſahn ſich zaͤrtlich an, ſehnſuͤchtig

Zuſammenbeugten ſich die Lilienkelche;

Aus allen Roſen gluͤhten Wolluſtgluthen!

Die Nelken wollten ſich im Hauch' entzuͤnden;

In ſel'gen Duͤften ſchwelgten alle Blumen,

[90]
Und alle weinten ſtille Wonnethraͤnen,

Und alle jauchzten: Liebe! Liebe! Liebe!

Die Schmetterlinge flatterten, die hellen

Goldkaͤfer ſummten feine Lieblingsliedchen,

Die Abendwinde fluͤſterten, es rauſchten

Die Eichen, ſchmelzend ſang die Nachtigall —

Und zwiſchen all dem Fluͤſtern, Rauſchen, Singen,

Schwatzte mit blechern klanglos kalter Stimme

Das welke Weib, das mir am Arme hing.

„Ich kenn' Ihr naͤchtlich Treiben auf dem Schloß;

Der lange Schatten iſt ein guter Tropf,

Er nickt und winkt zu allem was man will;

Der Blaurock iſt ein Engel; doch der Rothe,

Mit blankem Schwert, iſt Ihnen ſpinnefeind.“

Und noch viel bunt're, wunderliche Reden

Schwatzt' ſie in einem fort, und ſetzte ſich‚

Ermuͤdet, mit mir nieder auf die Moosbank,

Die unterm alten Eichenbaume ſteht.
Da ſaßen wir beyſammen, ſtill und traurig,

Und ſahn uns an, und wurden immer traur'ger.

[91]
Die Eiche ſaͤuſelte wie Sterbeſeufzer,

Tiefſchmerzlich ſang die Nachtigall herab.

Doch rothe Lichter drangen durch die Blaͤtter,

Umflimmerten Maria's weißes Antlitz,

Und lockten Gluth aus ihren ſtarren Augen,

Und mit der alten, ſuͤßen Stimme ſprach ſie:

“Wie wußteſt Du, daß ich ſo elend bin,

Ich las es juͤngſt in deinen wilden Liedern?”
Eiskalt durchzog's mir da die Bruſt, mir grauſte

Ob meinem eig'nen Wahnſinn, der die Zukunft

Geſchaut, es zuckte dunkel durch mein Hirn,

Und vor Entſetzen bin ich aufgewacht.
[92]

Donna Clara.

(Aus einem ſpaniſchen Romane.)


In dem abendlichen Garten

Wandelt des Alkaden Tochter;

Pauken- und Trommetenjubel

Klingt herunter von dem Schloſſe.
„Laͤſtig werden mir die Taͤnze

Und die ſuͤßen Schmeichelworte,

Und die Ritter, die ſo zierlich

Mich vergleichen mit der Sonne.
„Ueberlaͤſtig wird mir Alles,

Seit ich ſah, bei'm Strahl des Mondes,

Jenen Ritter, deſſen Laute

Naͤchtens mich an's Fenſter lockte.
„Wie er ſtand ſo ſchlank und muthig,

Und die Augen leuchtend ſchoſſen

Aus dem edelblaſſen Antlitz,

Glich er wahrlich Sanct Georgen.“
[93]
Alſo dachte Donna Clara,

Und ſie ſchaute auf den Boden;

Wie ſie aufblickt, ſteht der ſchoͤne,

Unbekannte Ritter vor ihr.
Haͤndedruͤckend, liebefluͤſternd,

Wandeln ſie umher im Mondſchein,

Und der Zephyr ſchmeichelt freundlich,

Maͤhrchenartig gruͤßen Roſen.
Maͤhrchenartig gruͤßen Roſen,

Und ſie gluͤhn wie Liebesboten.

Aber ſage mir, Geliebte,

Warum du ſo ploͤtzlich roth wirſt?
„Muͤcken ſtachen mich, Geliebter,

Und die Muͤcken ſind, im Sommer,

Mir ſo tief verhaßt, als waͤren's

Langenaſ'ge Judenrotten.“
Laß die Muͤcken und die Juden,

Spricht der Ritter, freundlich koſend.

Von den Mandelbaͤumen fallen

Tauſend weiße Bluͤthenflocken.
[94]
Tauſend weiße Bluͤthenflocken

Haben ihren Duft ergoſſen.

Aber ſage mir, Geliebte,

Iſt dein Herz mir ganz gewogen?
“Ja, ich liebe dich, Geliebter,

Bey dem Heiland ſey's geſchworen,

Den die gottverfluchten Juden

Boshaft tuͤckiſch einſt ermordet.”
Laß den Heiland und die Juden,

Spricht der Ritter, freundlich koſend.

In der Ferne ſchwanken traumhaft

Weiße Liljen, lichtumfloſſen.
Weiße Liljen, lichtumfloſſen,

Blicken nach den Sternen droben.

Aber ſage mir, Geliebte,

Haſt du auch nicht falſch geſchworen.
“Falſch iſt nicht in mir, Geliebter,

Wie in meiner Bruſt kein Tropfen

Blut iſt von dem Blut der Mohren

Und des ſchmutz'gen Judenvolkes.”
[95]
Laß die Mohren und die Juden,

Spricht der Ritter, freundlich koſend;

Und nach einer Myrthenlaube

Fuͤhrt er die Alkadentochter.
Wie mit weichen Liebesnetzen

Hat er heimlich ſie umflochten;

Kurze Worte, lange Kuͤſſe,

Und die Herzen uͤberfloſſen.
Und ein ſchmelzend ſuͤßes Brantlied

Singt im Laub' ein Zaubervogel;

Wie zum Fackeltanze huͤpfen

Feuerwuͤrmchen auf dem Boden.
In der Laube wird es ſtiller,

Und man hoͤrt nur, wie verſtohlen,

Das Gefluͤſter kluger Myrthen

Und ein langes Athemholen.
Aber Pauken und Drommeten

Schallen ploͤtzlich aus dem Schloſſe,

Und erwachend hat ſich Clara

Aus des Ritters Arm gezogen.
[96]
“Horch! da ruft es mich, Geliebter,

Doch, bevor wir ſcheiden, ſollſt du

Nennen deinen lieben Namen,

Den du mir ſo lang verborgen.”
Und der Ritter, heiter laͤchelnd,

Kuͤßt die Finger ſeiner Holden,

Kuͤßt die Lippen und die Stirne,

Und er ſpricht die langen Worte:
“Ich, Sennora, Eu'r Geliebter,

Bin der Sohn des vielbelobten,

Großen, ſchriftgelehrten Rabbi

Iſrael von Saragoſſa.”
[97]

Almanſor.


(Aus einem ſpaniſchen Romane.)



I.
In dem Dome zu Corduva

Stehen Saͤulen, dreyzehnhundert,

Dreyzehnhundert Rieſenſaͤulen

Tragen die gewalt'ge Kuppel.
Und auf Saͤulen, Kuppel, Waͤnden,

Zieh'n von oben ſich bis unten

Des Corans arab'ſche Spruͤche,

Klug und blumenhaft verſchlungen.
Mohrenkoͤn'ge bauten weiland

Dieſes Haus zu Allahs Ruhme,

Doch hat Alles ſich verwandelt

In der Zeiten dunkelm Strudel.
Auf dem Thurme, wo der Thuͤrmer

Zum Gebete aufgerufen‚

Hebt ſich jetzt der Chriſtenglocken

Melancholiſches Geſumme.
7[98]
Auf den Stufen, wo die Glaͤub'gen

Das Prophetenwort geſungen,

Zeigen jetzt die Glatzenpfaͤfflein

Ihrer Meſſe fades Wunder.
Und das iſt ein Drehn und Winden

Vor den buntbemalten Puppen,

Und das bloͤckt und dampft und klingelt,

Und die dummen Kerzen funkeln.
In dem Dome zu Corduva

Steht Almanſor ben Abdullah,

All die Saͤulen ſtill betrachtend,

Und die ſtillen Worte murmelnd:
“O, Ihr Saͤulen, ſtark und rieſig,

Einſt geſchmuͤckt zu Allahs Ruhme,

Jetzo muͤßt Ihr dienend huld'gen

Dem verhaßten Chriſtenthume!
“Ihr bequemt Euch in die Zeiten,

Und Ihr tragt die Laſt geduldig; —

Ey, da muß ja wohl der Schwaͤch're

Noch viel leichter ſich beruh'gen.”
[99]
Und ſein Haupt, mit heiterm Antlitz,

Beugt Almanſor ben Abdullah

Ueber den gezierten Taufſtein,

In dem Dome zu Corduva.
II.
Haſtig ſchritt er aus dem Dome,

Jagte fort auf ſeinem Rappen,

Daß im Wind die feuchten Locken

Und des Hutes Federn wallen.
Auf dem Weg' nach Alkolea,

Dem Guadalquivir entlange,

Wo die weißen Mandeln bluͤhen,

Und die duft'gen Gold-Orangen;
Dorten jagt der luſt'ge Ritter,

Pfeift und ſingt, und lacht behaglich,

Und es ſtimmen ein die Voͤgel,

Und des Stromes laute Waſſer.
[100]
In dem Schloß zu Alkolea

Wohnet Clara de Alvares,

In Navarra kaͤmpft ihr Vater,

Und ſie freut ſich mindern Zwanges.
Und Almanſor hoͤrt ſchon ferne

Pauken und Drommeten ſchallen,

Und er ſieht des Schloſſes Lichter

Blitzen durch der Baͤume Schatten.
In dem Schloß zu Alkolea

Tanzen zwoͤlf geſchmuͤckte Damen,

Tanzen zwoͤlf geſchmuͤckte Ritter,

Doch am ſchoͤnſten tanzt Almanſor.
Wie beſchwingt von muntrer Laune

Flattert er herum im Saale,

Und er weiß den Damen allen

Suͤße Schmeicheleyn zu ſagen.
Iſabellens ſchoͤne Haͤnde

Kuͤßt er raſch, und ſpringt von dannen;

Und er ſetzt ſich vor Elviren

Und er ſchaut ihr froh in's Antlitz.
[101]
Lachend fragt er Leonoren:

Ob er heute ihr gefalle?

Und er zeigt die goldnen Kreuze

Eingeſtickt in ſeinen Mantel.
Und zu jeder Dame ſpricht er:

Daß er ſie im Herzen trage;

Und “ſo wahr ich Chriſt bin” ſchwoͤrt er

Dreyzig Mal an jenem Abend.
III.
In dem Schloß zu Alkolea

Iſt verſchollen Luſt und Klingen,

Herr'n und Damen ſind verſchwunden,

Und erloſchen ſind die Lichter.
Donna Clara und Almanſor

Sind allein im Saal geblieben;

Einſam ſtreut die letzte Lampe

Ueber beyde ihren Schimmer.
[102]
Auf dem Seſſel ſitzt die Dame,

Auf dem Schemel ſitzt der Ritter,

Und ſein Haupt, das ſchlummermuͤde,

Ruht auf den geliebten Knieen.
Roſenoͤhl, aus gold'nem Flaͤſchchen,

Gießt die Dame, ſorgſam ſinnend,

Auf Almanſors braune Locken —

Und er ſeufzt aus Herzenstiefe.
Suͤßen Kuß, mit ſanftem Munde,

Druͤckt die Dame, ſorgſam ſinnend,

Auf Almanſors braune Locken —

Und es woͤlkt ſich ſeine Stirne.
Thraͤnenfluth, aus lichten Augen,

Weint die Dame, ſorgſam ſinnend,

Auf Almanſors braune Locken —

Und es zuckt um ſeine Lippen.
Und er traͤumt: er ſtehe wieder,

Tief das Haupt gebeugt und triefend,

In dem Dome zu Corduva,

Und er hoͤrt' viel dunkle Stimmen.
[103]
All die hohen Rieſenſaͤulen

Hoͤrt er murmeln unmuthgrimmig,

Laͤnger wollen ſie's nicht tragen,

Und ſie wanken und ſie zittern;
Und ſie brechen wild zuſammen,

Es erbleichen Volk und Prieſter,

Krachend ſtuͤrzt herab die Kuppel,

Und die Chriſtengoͤtter wimmern.
[104]

Die Wallfahrt nach Kevlaar.

I.
Am Fenſter ſtand die Mutter,

Im Bette lag der Sohn.

“Willſt du nicht aufſtehn, Wilhelm,

Zu ſchau'n die Prozeſſion?” —
“Ich bin ſo krank, O Mutter,

Daß ich nicht hoͤr' und ſeh';

Ich denk' an das todte Gretchen,

Da thut das Herz mir weh.” —
“Steh' auf, wir wollen nach Kevlaar,

Nimm Buch und Roſenkranz;

Die Muttergottes heilt dir

Dein krankes Herze ganz.”
Es flattern die Kirchenfahnen,

Es ſingt im Kirchenton;

Das iſt zu Coͤlln am Rheine,

Da geht die Prozeſſion.
[105]
Die Mutter folgt der Menge,

Den Sohn, den fuͤhret ſie,

Sie ſingen beyde im Chore:

Gelobt ſey'ſt du Marie!
II.
Die Muttergottes zu Kevlaar

Traͤgt heut' ihr beſtes Kleid;

Heut' hat ſie viel zu ſchaffen,

Es kommen viel' kranke Leut'.
Die kranken Leute bringen

Ihr dar, als Opferſpend',

Aus Wachs gebildete Glieder,

Viel waͤchſerne Fuͤß' und Haͤnd'.
Und wer eine Wachshand opfert,

Dem heilt an der Hand die Wund';

Und wer einen Wachsfuß opfert,

Dem wird der Fuß geſund.
[106]
Nach Kevlaar ging Mancher auf Kruͤcken,

Der jetzo tanzt auf dem Seil',

Gar Mancher ſpielt jetzt die Bratſche,

Dem dort kein Finger war heil.
Die Mutter nahm ein Wachslicht,

Und bildete d'raus ein Herz.

“Bring das der Muttergottes,

Dann heilt ſie deinen Schmerz.”
Der Sohn nahm ſeufzend das Wachsherz,

Ging ſeufzend zum Heiligenbild;

Die Thraͤne quillt aus dem Auge,

Das Wort aus dem Herzen quillt:
“Du Hochgebenedeite,

Du reine Gottesmagd,

Du Koͤniginn des Himmels,

Dir ſey mein Leid geklagt!
“Ich wohnte mit meiner Mutter

Zu Coͤllen in der Stadt,

Der Stadt, die viele hundert

Kapellen und Kirchen hat.
[107]
“Und neben uns wohnte Gretchen,

Doch die iſt todt jetzund —

Marie, dir bring' ich ein Wachsherz,

Heil' Du meine Herzenswund'.
“Heil' Du mein krankes Herze,

Ich will auch ſpaͤt und fruͤh'

Inbruͤnſtiglich beten und ſingen:

Gelobt ſeyſt du, Marie!”
III.
Der kranke Sohn und die Mutter,

Die ſchliefen im Kaͤmmerlein;

Da kam die Muttergottes

Ganz leiſe geſchritten herein.
Sie beugte ſich uͤber den Kranken,

Und legte ihre Hand

Ganz leiſe auf ſein Herze,

Und laͤchelte mild und ſchwand.
[108]
Die Mutter ſchaut Alles im Traume,

Und hat noch mehr geſchaut;

Sie erwachte aus dem Schlummer,

Die Hunde bellten zu laut.
Da lag dahingeſtrecket

Ihr Sohn, und der war todt;

Es ſpielt auf den bleichen Wangen

Das lichte Morgenroth.
Die Mutter faltet die Haͤnde,

Ihr war, ſie wußte nicht wie;

Andaͤchtig ſang ſie leiſe:

Gelobt ſey'ſt du, Marie!

Der Stoff dieſes Gedichtes iſt nicht ganz mein
Eigenthum. Es entſtand durch Erinnerung an die
rheiniſche Heimath. — Als ich ein kleiner Knabe
war, und im Franziſkanerkloſter zu Duͤſſeldorf die
erſte Dreſſur erhielt, und dort zuerſt Buchſtabiren
und Stillſitzen lernte, ſaß ich oft neben einem an¬
[109] dern Knaben, der mir immer erzaͤhlte: wie ſeine
Mutter ihn nach Kevlaar (der Akzent liegt auf der
erſten Sylbe und der Ort ſelbſt liegt im Geldern¬
ſchen) einſtmals mitgenommen, wie ſie dort einen
waͤchſernen Fuß fuͤr ihn geopfert, und wie ſein eig¬
ner ſchlimmer Fuß dadurch geheilt ſey. Mit die¬
ſem Knaben traf ich wieder zuſammen in der ober¬
ſten Claſſe des Gymnaſiums, und als wir im Phi¬
loſophen-Collegium bey Rektor Schallmeyer, neben
einander zu ſitzen kamen, erinnerte er mich lachend
an jene Mirakel-Erzaͤhlung, ſetzte aber doch etwas
ernſthaft hinzu: jetzt wuͤrde er der Muttergottes
ein waͤchſernes Herz opfern. Ich hoͤrte ſpaͤter, er
habe damals an einer ungluͤcklichen Liebſchaft labo¬
rirt, und endlich kam er mir ganz aus den Augen
und aus dem Gedaͤchtniß. — Im Jahr 1819, als
ich in Bonn ſtudierte, und einmal, in der Gegend
von Godesberg, am Rhein ſpatzieren ging, hoͤrte
ich in der Ferne die wohlbekannten Kevlaar-Lieder,
wovon das vorzuͤglichſte den gedehnten Refrain hat
„Gelobt ſeyſt du, Maria!“ und als die Prozeſſion
[110] naͤher kam, bemerkte ich unter den Wallfahrtern
meinen Schulkameraden mit ſeiner alten Mutter.
Dieſe fuͤhrte ihn. Er aber ſah ſehr blaß und
krank aus.


Ich durfte dieſe Notiz nicht von dem Gedichte
trennen, weil beyde zugleich entſtanden, ſchon ein¬
mal zuſammen abgedruckt worden, und dadurch
gleichſam verwachſen ſind. Auf keinen Fall will
ich irgend eine Vorneigung andeuten, eben ſo
wenig, wie irgend eine Abneigung durch das vor¬
hergehende Gedicht ausgeſprochen werden ſoll. Die¬
ſes, Almanſor uͤberſchrieben, wird im Romane, dem
es entlehnt iſt, von einem Mauren, einem unmu¬
thigen Bekenner des Islams, gedichtet und geſun¬
gen. „Und wahrlich“ — ſo ſpricht ein engliſcher
Schriftſteller — „wie Gott, der Urſchoͤpfer, ſtehe
auch der Dichter, der Nachſchoͤpfer, partheylos er¬
haben uͤber allem Sektengeklaͤtſche dieſer Erde.“

[[111]]

Die Harzreiſe.

1824.


[[112]]

Nichts iſt dauernd, als der Wechſel; nichts beſtaͤn¬
dig, als der Tod. Jeder Schlag des Herzens ſchlaͤgt
uns eine Wunde, und das Leben waͤre ein ewiges Ver¬
bluten, wenn nicht die Dichtkunſt waͤre. Sie gewaͤhrt
uns, was uns die Natur verſagt: eine goldene Zeit,
die nicht roſtet, einen Fruͤhling, der nicht abbluͤht, wol¬
kenloſes Gluͤck und ewige Jugend.

Boͤrne.
[[113]]
Schwarze Roͤcke, ſeid'ne Struͤmpfe,

Weiße hoͤfliche Manſchetten,

Sanfte Reden, Embraſſiren —

Ach, wenn ſie nur Herzen haͤtten!
Herzen in der Bruſt, und Liebe,

Warme Liebe in dem Herzen —

Ach, mich toͤdtet ihr Geſinge

Von erlog'nen Liebesſchmerzen.
Auf die Berge will ich ſteigen‚

Wo die frommen Huͤtten ſtehen‚

Wo die Bruſt ſich frey erſchließet‚

Und die freyen Luͤfte wehen.
8[114]
Auf die Berge will ich ſteigen,

Wo die dunkeln Tannen ragen,

Baͤche rauſchen, Voͤgel ſingen,

Und die ſtolzen Wolken jagen.
Lebet wohl, ihr glatten Saͤle!

Glatte Herren! Glatte Frauen!

Auf die Berge will ich ſteigen,

Lachend auf Euch niederſchauen.

Die Stadt Goͤttingen, beruͤhmt durch ihre
Wuͤrſte und Univerſitaͤt, gehoͤrt dem Koͤnig von
Hannover, und enthaͤlt 999 Feuerſtellen, diverſe
Kirchen, eine Entbindungsanſtalt, eine Stern¬
warte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen
Rathskeller, wo das Bier ſehr gut iſt. Der [vor¬
beyfließende]
Bach heißt „die Leine“ und dient des
Sommers zum Baden; das Waſſer iſt ſehr kalt,
und an einigen Orten ſo breit, daß Luͤder wirklich
[115] einen großen Anlauf nehmen mußte, als er hin¬
uͤber ſprang. Die Stadt ſelbſt iſt ſchoͤn, und ge¬
faͤllt einem am beſten, wenn man ſie mit dem
Ruͤcken anſieht. Sie muß ſchon ſehr lange ſtehen;
denn ich erinnere mich, als ich vor fuͤnf Jahren
dort immatrikulirt und bald drauf konſiliirt
wurde, hatte ſie ſchon daſſelbe graue, altkluge
Anſehen, und war ſchon vollſtaͤndig eingerichtet
mit Schnurren, Pudeln, Diſſertazionen, Thee¬
danſants, Waͤſcherinnen, Compendien, Tauben¬
braten, Guelfenorden, Promozionskutſchen, Pfei¬
fenkoͤpfen, Hofraͤthen, Juſtizraͤthen, Relegazions¬
raͤthen, Profaxen und anderen Faxen. Einige be¬
haupten ſogar, die Stadt ſey zur Zeit der Voͤl¬
kerwanderung erbaut worden, jeder deutſche Stamm
habe damals ein ungebundenes Exemplar ſeiner
Mitglieder darin zuruͤckgelaſſen, und davon ſtamm¬
ten all die Vandalen, Frieſen, Schwaben, Teuto¬
nen, Sachſen, Thuͤringer u. ſ. w., die noch heut
zu Tage in Goͤttingen, hordenweis, und geſchieden
durch Farbe der Muͤtzen und der Pfeifenquaͤſte,
[116] uͤber die Weenderſtraße einherziehen, auf den blu¬
tigen Wahlſtaͤtten der Raſenmuͤhle, des Ritſchen¬
krugs und Bovdens ſich ewig unter einander her¬
umſchlagen, in Sitten und Gebraͤuchen noch im¬
mer wie zur Zeit der Voͤlkerwanderung dahin¬
leben, und theils durch ihre Duces, welche Haupt¬
haͤhne heißen, theils durch ihr uraltes Geſetzbuch,
welches Comment heißt und in den legibus bar¬
barorum
eine Stelle verdient, regiert werden.


Im Allgemeinen werden die Bewohner Goͤttin¬
gen's eingetheilt in Studenten, Profeſſoren, Phi¬
liſter und Vieh; welche vier Staͤnde doch nichts
weniger als ſtreng geſchieden ſind. Der Viehſtand
iſt der bedeutendſte. Die Namen aller Studenten
und aller ordentlichen und unordentlichen Profeſſo¬
ren hier herzuzaͤhlen, waͤre zu weitlaͤuftig; auch
ſind mir in dieſem Augenblick nicht alle Studen¬
tennamen im Gedaͤchtniſſe, und unter den Pro¬
feſſoren ſind manche, die noch gar keinen Namen
haben. Die Zahl der goͤttinger Philiſter muß ſehr
groß ſeyn, wie Sand, oder beſſer geſagt, wie
[117] Dreck am Meer; wahrlich, wenn ich ſie des Mor¬
gens, mit ihren ſchmutzigen Geſichtern und weißen
Rechnungen, vor den Pforten des akademiſchen
Gerichtes aufgepflanzt ſah, ſo mochte ich kaum
begreifen, wie Gott nur ſo viel Lumpenpack er¬
ſchaffen konnte.


Ausfuͤhrlicheres uͤber die Stadt Goͤttingen laͤßt
ſich ſehr bequem nachleſen in der Topographie der¬
ſelben von K. F. H. Marx. Obzwar ich ge¬
gen den Verfaſſer, der mein Arzt war und mir
viel Liebes erzeigte, die heiligſten Verpflichtungen
hege, ſo kann ich doch ſein Werk nicht unbe¬
dingt empfehlen, und ich muß tadeln, daß er jener
falſchen Meinung, als haͤtten die Goͤttingerinnen
allzugroße Fuͤße, nicht ſtreng genug widerſpricht.
Ja, ich habe mich ſogar ſeit Jahr und Tag mit
einer ernſten Widerlegung dieſer Meinung beſchaͤff¬
tigt, ich habe deshalb vergleichende Anatomie ge¬
hoͤrt, die ſeltenſten Werke auf der Bibliothek
excerpirt, auf der Weenderſtraße ſtundenlang die
Fuͤße der voruͤbergehenden Damen ſtudiert, und in
[118] der grundgelehrten Abhandlung, ſo die Reſultate
dieſer Studien enthaͤlt, ſpreche ich 1° von den
Fuͤßen uͤberhaupt, 2° von den Fuͤßen bey den Al¬
ten, 3° von den Fuͤßen der Elephanten, 4° von
den Fuͤßen der Goͤttingerinnen, 5° ſtelle ich Alles
zuſammen, was uͤber dieſe Fuͤße auf Ullrichs Gar¬
ten ſchon geſagt worden, 6° betrachte ich dieſe
Fuͤße in ihrem Zuſammenhang, und verbreite mich
bey dieſer Gelegenheit auch uͤber Waden, Knie
u. ſ. w., und endlich 7°, wenn ich nur ſo großes
Papier auftreiben kann, fuͤge ich noch hinzu einige
Kupfertafeln mit dem Facſimile goͤttingſcher Da¬
menfuͤße. —


Es war noch ſehr fruͤh, als ich Goͤttingen
verließ, und der gelehrte ** lag gewiß noch im
Bette und traͤumte wie gewoͤhnlich: er wandle
in einem ſchoͤnen Garten, auf deſſen Beeten lau¬
ter weiße, mit Citaten beſchriebene Papierchen
wachſen, die im Sonnenlichte lieblich glaͤnzen,
und von denen er hier und da mehrere pfluͤckt,
und muͤhſam in ein neues Beet verpflanzt, waͤh¬
[119] rend die Nachtigallen mit ihren ſuͤßeſten Toͤnen
ſein altes Herz erfreuen.


Vor dem Weender Thore begegneten mir zwey
eingeborne kleine Schulknaben, wovon der Eine
zum Andern ſagte: „Mit dem Theodor will ich
gar nicht mehr umgehen, er iſt ein Lumpenkerl,
denn geſtern wußte er nicht mal, wie der Ge¬
nitiv von Mensa heißt.“ So unbedeutend dieſe
Worte klingen, ſo muß ich ſie doch wieder erzaͤh¬
len, ja, ich moͤchte ſie als Stadt-Motto gleich
auf das Thor ſchreiben laſſen; denn die Jungen
piepſen wie die Alten pfeifen, und jene Worte
bezeichnen ganz den engen, trocknen Notizenſtolz
der hochgelahrten Georgia Auguſta.


Auf der Chauſſee wehte friſche Morgenluft, und
die Voͤgel ſangen gar freudig, und auch mir wurde
allmaͤhlig wieder friſch und freudig zu Muthe. Eine
ſolche Erquickung that Noth. Ich war die letzte
Zeit nicht aus dem Pandektenſtall herausgekommen,
roͤmiſche Caſuiſten hatten mir den Geiſt wie mit
einem grauen Spinnweb uͤberzogen, mein Herz war
[120] wie eingeklemmt zwiſchen den eiſernen Paragraphen
ſelbſtſuͤchtiger Rechtsſyſteme, beſtaͤndig klang es mir
noch in den Ohren wie „Tribonian, Juſtinian,
Hermogenian und Dummerjahn,“ und ein zaͤrtliches
Liebespaar, das unter einem Baume ſaß, hielt ich
gar fuͤr eine Corpusjuris-Ausgabe mit verſchlunge¬
nen Haͤnden. Auf der Landſtraße fing es ſchon an
lebendig zu werden. Milchmaͤdchen zogen voruͤber;
auch Eſeltreiber mit ihren grauen Zoͤglingen. Hin¬
ter Weende begegneten mir der Schaͤfer und Do¬
ris. Dieſes iſt nicht das idylliſche Paar, wovon
Geßner ſingt, ſondern es ſind wohlbeſtallte Univer¬
ſitaͤtspedelle, die wachſam aufpaſſen muͤſſen, daß ſich
keine Studenten in Bovden duelliren, und daß
keine neue Ideen, die doch immer einige Dezen¬
nien vor Goͤttingen Quarantaine halten muͤſſen,
von einem ſpekulirenden Privatdozenten eingeſchmug¬
gelt werden. Schaͤfer gruͤßte mich ſehr kollegialiſch;
denn er iſt ebenfalls Schriftſteller, und hat meiner
in ſeinen halbjaͤhrigen Schriften oft erwaͤhnt; wie
er mich denn auch außerdem oft citirt hat, und‚
[121] wenn er mich nicht zu Hauſe fand, immer ſo guͤtig
war, die Citation mit Kreide auf meine Stuben¬
thuͤr zu ſchreiben. Dann und wann rollte auch
ein Einſpaͤnner voruͤber, wohlbepackt mit Studen¬
ten, die fuͤr die Ferienzeit, oder auch fuͤr immer
wegreiſten. In ſolch einer Univerſitaͤtſtadt iſt ein
beſtaͤndiges Kommen und Abgehn, alle drey Jahre
findet man dort eine neue Studentengeneration,
das iſt ein ewiger Menſchenſtrom, wo eine Se¬
meſterwelle die andere fortdraͤngt, und nur die alten
Profeſſoren bleiben ſtehen in dieſer allgemeinen
Bewegung, unerſchuͤtterlich feſt, gleich den Pyra¬
miden Egyptens — nur daß in dieſen Univerſitaͤts-
Pyramiden nicht immer Weisheit verborgen iſt.


Aus den Myrthenlauben bey Rauſchenwaſſer
ſah ich zwey hoffnungsvolle Juͤnglinge hervorrei¬
ten. Ein Weibsbild, das dort ſein horizontales
Handwerk treibt, gab ihnen bis auf die Landſtraße
das Geleit, klaͤtſchelte mit geuͤbter Hand die ma¬
geren Schenkel der Pferde, lachte laut auf, als
der eine Reuter ihr hinten, auf die breite Spon¬
[122] taneitaͤt einige Galanterien mit der Peitſche uͤber¬
langte, und ſchob ſich alsdann gen Bovden. Die
Juͤnglinge aber jagten nach Noͤrten, und johlten
gar geiſtreich, und ſangen gar lieblich das Roſſini¬
ſche Lied: „Trink Bier, liebe, liebe Liſe!“ Dieſe
Toͤne hoͤrte ich noch lange in der Ferne; doch die
holden Saͤnger ſelbſt verlor ich bald voͤllig aus
dem Geſichte, ſintemal ſie ihre Pferde, die im
Grunde einen deutſch-langſamen Charakter zu ha¬
ben ſchienen, gar entſetzlich anſpornten und vor¬
waͤrtspeitſchten. Nirgends wird die Pferdeſchin¬
derey ſtaͤrker getrieben als in Goͤttingen, und oft,
wenn ich ſah, wie ſolch eine ſchweißtriefende, lahme
Kracke, fuͤr das bischen Lebensfutter, von unſern
Rauſchenwaſſerrittern abgequaͤlt ward, oder wohl
gar einen ganzen Wagen voll Studenten fort¬
ziehen mußte, ſo dachte ich auch: „O du armes
Thier, gewiß haben deine Voraͤltern im Paradieſe
verbotenen Hafer gefreſſen!“


Im Wirthshauſe zu Noͤrten traf ich die bey¬
den Juͤnglinge wieder. Der eine verzehrte einen
[123] Heringſalat, und der andere unterhielt ſich mit der
gelbledernen Magd, Fuſia Canina, auch Trittvo¬
gel genannt. Er ſagte ihr einige Anſtaͤndigkei¬
ten, und am Ende wurden ſie Hand-gemein. Um
meinen Ranzen zu erleichtern, nahm ich die ein¬
gepackten blauen Hoſen, die in geſchichtlicher Hin¬
ſicht ſehr merkwuͤrdig ſind, wieder heraus und
ſchenkte ſie dem kleinen Kellner, den man Colibri
nennt. Die Buſſenia, die alte Wirthin, brachte
mir unterdeſſen ein Butterbrod, und beklagte ſich,
daß ich ſie jetzt ſo ſelten beſuche; denn ſie liebt
mich ſehr.


Hinter Noͤrten ſtand die Sonne hoch und
glaͤnzend am Himmel. Sie meinte es recht ehr¬
lich mit mir und [erwaͤrmte] mein Haupt, daß alle
unreife Gedanken darin zur Vollreife kamen. Die
liebe Wirthshausſonne in Nordheim iſt auch nicht
zu verachten; ich kehrte hier ein, und fand das
Mittageſſen ſchon fertig. Alle Gerichte waren
ſchmackhaft zubereitet, und wollten mir beſſer beha¬
gen, als die abgeſchmackten akademiſchen Gerichte,
[124] die ſalzloſen, ledernen Stockfiſche mit ihrem al¬
ten Kohl, die mir in Goͤttingen vorgeſetzt wur¬
den. Nachdem ich meinen Magen etwas beſchwich¬
tigt hatte, bemerkte ich in derſelben Wirthsſtube
einen Herrn mit zwey Damen, die im Begriff
waren abzureiſen. Dieſer Herr war ganz gruͤn ge¬
kleidet, trug ſogar eine gruͤne Brille, die auf ſeine
rothe Kupfernaſe einen Schein wie Gruͤnſpan
warf, und ſah aus, wie der Koͤnig Nebukadnezar
in ſeinen ſpaͤtern Jahren ausgeſehen hat, als er,
der Sage nach, gleich einem Thiere des Waldes,
nichts als Salat aß. Der Gruͤne wuͤnſchte, daß
ich ihm ein Hotel in Goͤttingen empfehlen moͤchte,
und ich rieth ihm, dort von dem erſten beſten
Studenten das Hotel de Bruͤhbach zu erfragen.
Die eine Dame war die Frau Gemahlin, eine gar
große, weitlaͤuftige Dame, ein rothes Quadrat¬
meilen-Geſicht mit Gruͤbchen in den Wangen, die
wie Spucknaͤpfe fuͤr Liebesgoͤtter ausſahen, ein
langfleiſchig herabhaͤngendes Unterkinn, das eine
ſchlechte Fortſetzung des Geſichtes zu ſeyn ſchien,
[125] und ein hochaufgeſtapelter Buſen, der mit ſteifen
Spitzen und vielzackig feſtonirten Kraͤgen, wie mit
Thuͤrmchen und Baſtionen umbaut war, und einer
Feſtung glich, die gewiß eben ſo wenig wie jene
anderen Feſtungen, von denen Philipp von Mace¬
donien ſpricht, einem mit Gold beladenen Eſel
widerſtehen wuͤrde. Die andere Dame, die Frau
Schweſter, bildete ganz den Gegenſatz der eben
beſchriebenen. Stammte jene von Pharaos fetten
Kuͤhen, ſo ſtammte dieſe von den magern. Das
Geſicht nur ein Mund zwiſchen zwey Ohren, die Bruſt
troſtlos oͤde wie die Luͤneburger Haide; die ganze,
ausgekochte Geſtalt glich einem Freytiſch fuͤr arme
Theologen. Beyde Damen fragten mich zu gleicher
Zeit: ob im Hotel de Bruͤhbach auch ordentliche
Leute logirten. Ich bejahte es mit gutem Ge¬
wiſſen, und als das holde Kleeblatt abfuhr, gruͤßte
ich nochmals zum Fenſter hinaus. Der Sonnen¬
wirth laͤchelte gar ſchlau und mochte wohl wiſſen,
daß der Carzer von den Studenten in Goͤttingen
Hotel de Bruͤhbach genannt wird.


[126]

Hinter Nordheim wird es ſchon gebirgig und
hier und da treten ſchoͤne Anhoͤhen hervor. Auf
dem Wege traf ich meiſtens Kraͤmer, die nach der
Braunſchweiger Meſſe zogen, auch einen Schwarm
Frauenzimmer, deren jede ein großes, faſt haͤuſer¬
hohes, mit weißem Leinen uͤberzogenes Behaͤltniß
auf dem Ruͤcken trug. Darin ſaßen allerley ein¬
gefangene Singvoͤgel, die beſtaͤndig piepſten und
zwitſcherten, waͤhrend ihre Traͤgerinnen luſtig da¬
hinhuͤpften und ſchwatzten. Mir kam es gar
naͤrriſch vor, wie ſo ein Vogel den andern zu
Markte traͤgt.


In pechdunkler Nacht kam ich an zu Oſterode.
Es fehlte mir der Appetit zum Eſſen und ich legte
mich gleich zu Bette. Ich war muͤde wie ein
Hund und ſchlief wie ein Gott. Im Traume kam
ich wieder nach Goͤttingen zuruͤck, und zwar nach
der dortigen Bibliothek. Ich ſtand in einer Ecke
des juriſtiſchen Saals, durchſtoͤberte alte Diſſerta¬
zionen, vertiefte mich im Leſen, und als ich auf¬
hoͤrte, bemerkte ich zu meiner Verwundrung, daß
[127] es Nacht war, und herabhaͤngende Kriſtall-Leuch¬
ter den Saal erhellten. Die nahe Kirchenglocke
ſchlug eben zwoͤlf, die Saalthuͤre oͤffnete ſich lang¬
ſam, und herein trat eine ſtolze, gigantiſche Frau,
ehrfurchtsvoll begleitet von den Mitgliedern und
Anhaͤngern der juriſtiſchen Facultaͤt. Das Rieſen¬
weib, obgleich ſchon bejahrt, trug dennoch im Ant¬
litz die Zuͤge einer ſtrengen Schoͤnheit, jeder ihrer
Blicke verrieth die hohe Titanin, die gewaltige The¬
mis, Schwert und Wage hielt ſie nachlaͤſſig zu¬
ſammen in der einen Hand, in der andern hielt
ſie eine Pergamentrolle, zwey junge Doctores juris
trugen die Schleppe ihres grau verblichenen Ge¬
wandes, an ihrer rechten Seite ſprang windig
hin und her der duͤnne Hofrath Ruſticus, der
Lykurg Hannovers, und deklamirte aus ſeinem
neuen Geſetzentwurf; an ihrer linken Seite hum¬
pelte, gar galant und wohlgelaunt, ihr Cavaliere
servente
, der geheime Juſtizrath Cujacius, und riß
beſtaͤndig juriſtiſche Witze, und lachte ſelbſt daruͤber
ſo herzlich, daß ſogar die ernſte Goͤttin ſich mehr¬
[128] mals laͤchelnd zu ihm herabbeugte, mit der großen
Pergamentrolle ihm auf die Schulter klopfte, und
freundlich fluͤſterte: „Kleiner, loſer Schalk, der die
Baͤume von oben herab beſchneidet!“ Jeder von
den uͤbrigen Herren trat jetzt ebenfalls naͤher und
hatte etwas hin zu bemerken und hin zu laͤcheln,
etwa ein neu ergruͤbeltes Syſtemchen, oder Hypo¬
theschen, oder aͤhnliches Mißgebuͤrtchen des eige¬
nen Koͤpfchens. Durch die geoͤffnete Saalthuͤre
traten auch noch mehrere fremde Herren herein, die
ſich als die andern großen Maͤnner des illuſtren
Ordens kundgaben, meiſtens eckige, laurende Ge¬
ſellen, die mit breiter Selbſtzufriedenheit gleich
drauf los definirten und diſtinguirten und uͤber
jedes Titelchen eines Pandektentitels disputirten.
Und immer kamen noch neue Geſtalten herein,
alte Rechtsgelehrten, in verſchollenen Trachten,
mit weißen Alongeperucken und laͤngſt vergeſſenen
Geſichtern, und ſehr erſtaunt, daß man ſie, die
Hochberuͤhmten des verfloſſenen Jahrhunderts, nicht
ſonderlich regardirte; und dieſe ſtimmten nun ein,
[129] auf ihre Weiſe, in das allgemeine Schwatzen und
Schrillen und Schreyen, das, wie Meeresbrandung,
immer verwirrter und lauter, die hohe Goͤttin um¬
rauſchte, bis dieſe die Geduld verlor, und in
einem Tone des entſetzlichſten Rieſenſchmerzes ploͤtz¬
lich aufſchrie: „Schweigt! ſchweigt! ich hoͤre die
Stimme des theuren Prometheus, die hoͤhnende
Kraft und die ſtumme Gewalt ſchmieden den Schuld¬
loſen an den Marterfelſen, und all Euer Geſchwaͤtz
und Gezaͤnke kann nicht ſeine Wunden kuͤhlen und
ſeine Feſſeln zerbrechen!“ So rief die Goͤttin,
und Thraͤnenbaͤche ſtuͤrzten aus ihren Augen, die
ganze Verſammlung heulte wie von Todesangſt er¬
griffen, die Decke des Saales krachte, die Buͤcher
taumelten herab von ihren Brettern, vergebens
trat der alte Muͤnchhauſen aus ſeinem Rahmen
hervor, um Ruhe zu gebieten, es tobte und
kreiſchte immer wilder, — und fort, aus dieſem draͤn¬
genden Tollhauslaͤrm rettete ich mich in den hiſto¬
riſchen Saal, nach jener Gnadenſtelle, wo die hei¬
ligen Bilder des belvederiſchen Apoll's und der
9[130] mediceiſchen Venus neben einander ſtehen, und ich
ſtuͤrzte zu den Fuͤßen der Schoͤnheitsgoͤttin, in ih¬
rem Anblick vergaß ich all das wuͤſte Treiben, dem
ich entronnen, meine Augen tranken entzuͤckt das
Ebenmaß und die ewige Lieblichkeit ihres hochge¬
benedeiten Leibes, griechiſche Ruhe zog durch
meine Seele, und uͤber mein Haupt, wie himm¬
liſchen Seegen, goß ſeine ſuͤßeſten Lyraklaͤnge Phoͤ¬
bus Apollo.


Erwachend hoͤrte ich noch immer ein freundli¬
ches Klingen. Die Heerden zogen auf die Weide
und es laͤuteten ihre Gloͤckchen. Die liebe, gol¬
dene Sonne ſchien durch das Fenſter und beleuch¬
tete die Schildereyen an den Waͤnden des Zim¬
mers. Es waren Bilder aus dem Befreyungs¬
kriege, worauf treu dargeſtellt ſtand, wie wir alle
Helden waren, dann auch Hinrichtungs-Scenen aus
der Revolutionszeit, Ludwig XVI. auf der Guillo¬
tine, und aͤhnliche Kopfabſchneidereyen, die man
gar nicht anſehen kann, ohne Gott zu danken, daß
man ruhig im Bette liegt, und guten Kaffee trinkt
[131] und den Kopf noch ſo recht comfortabel auf den
Schultern ſitzen hat. Auch hingen noch an der
Wand Abeillard und Heloiſe, einige franzoͤſiſche Tu¬
genden, naͤmlich leere Maͤdchengeſichter, worunter
ſehr kalligraphiſch la prudence, la timidité, la
pitié etc.
geſchrieben war, und endlich eine Ma¬
donna, ſo ſchoͤn, ſo lieblich, ſo hingebend fromm,
daß ich das Original, das dem Maler dazu geſeſ¬
ſen hat, aufſuchen und zu meinem Weibe machen
moͤchte. Freylich, ſo bald ich mal mit dieſer Ma¬
donna verheirathet waͤre, wuͤrde ich ſie bitten, allen
fernern Umgang mit dem heiligen Geiſte aufzugeben,
indem es mir gar nicht lieb ſeyn moͤchte, wenn mein
Kopf, durch Vermittlung meiner Frau, einen Heili¬
genſchein, oder irgend eine andre Verzierung gewoͤnne.


Nachdem ich Kaffee getrunken, mich angezogen, die
Inſchriften auf den Fenſterſcheiben geleſen, und alles
im Wirthshauſe berichtigt hatte, verließ ich Oſterode.


Dieſe Stadt hat ſo und ſo viel Haͤuſer, ver¬
ſchiedene Einwohner, worunter auch mehrere See¬
len, wie in Gottſchalk's „Taſchenbuch fuͤr Harzrei¬
[132] ſende” genauer nachzuleſen iſt. Ehe ich die Land¬
ſtraße einſchlug, beſtieg ich die Truͤmmer der uralten
Oſteroder Burg. Sie beſtehen nur noch aus der
Haͤlfte eines großen, dickmaurigen, wie von Krebs¬
ſchaͤden angefreſſenen Thurms. Der Weg nach
Clausthal fuͤhrte mich wieder bergauf, und von ei¬
ner der erſten Hoͤhen ſchaute ich nochmals hinab in
das Thal, wo Oſterode mit ſeinen rothen Daͤchern
aus den gruͤnen Tannenwaͤldern hervor guckt, wie
eine Moosroſe. Die Sonne gab eine gar liebe,
kindliche Beleuchtung. Von der erhaltenen Thurm¬
haͤlfte erblickt man hier die imponirende Ruͤckſeite.
Es liegen noch viele andre Burgruinen in die¬
ſer Gegend. Der Hardenberg bey Noͤrten iſt die
ſchoͤnſte. Wenn man auch, wie es ſich gebuͤhrt,
das Herz auf der linken Seite hat, auf der libe¬
ralen, ſo kann man ſich doch nicht aller elegiſchen
Gefuͤhle erwehren, bey'm Anblick der Felſenneſter
jener privilegirten Raubvoͤgel, die auf ihre ſchwaͤch¬
liche Nachbrut bloß den ſtarken Appetit vererbten.
Und ſo ging es auch mir dieſen Morgen. Mein
[133] Gemuͤth war, je mehr ich mich von Goͤttingen
entfernte, allmaͤhlig aufgethaut, wieder wie ſonſt
wurde mir romantiſch zu Sinn, und wandernd
dichtete ich folgendes Lied:


Steiget auf, Ihr alten Traͤume!

Oeffne dich, du Herzensthor!

Liederwonne, Wehmuthsthraͤnen,

Stroͤmen wunderbar hervor.
Durch die Tannen will ich ſchweifen,

Wo die muntre Quelle ſpringt,

Wo die ſtolzen Hirſche wandeln,

Wo die liebe Droſſel ſingt.
Auf die Berge will ich ſteigen,

Auf die ſchroffen Felſenhoͤh'n,

Wo die grauen Schloßruinen

In dem Morgenlichte ſtehn.
Dorten ſetz' ich ſtill mich nieder

Und gedenke alter Zeit,

Alter bluͤhender Geſchlechter

Und verſunk'ner Herrlichkeit.
[134]
Gras bedeckt jetzt den Turnierplatz,

Wo gekaͤmpft der ſtolze Mann,

Der die Beſten uͤberwunden

Und des Kampfes Preis gewann.
Epheu rankt an dem Balkone,

Wo die ſchoͤne Dame ſtand,

Die den ſtolzen Ueberwinder

Mit den Augen uͤberwand.
Ach! den Sieger und die Sieg'rin

Hat beſiegt des Todes Hand. —

Jener duͤrre Senſenritter

Streckt uns Alle in den Sand!

Nachdem ich eine Strecke gegangen, traf ich
zuſammen mit einem reiſenden Handwerksburſchen,
der von Braunſchweig kam, und mir als ein dor¬
tiges Geruͤcht erzaͤhlte: der junge Herzog ſey auf
dem Wege nach dem gelobten Lande von den Tuͤr¬
ken gefangen worden, und koͤnne nur gegen ein gro¬
ßes Loͤſegeld frei kommen. Die große Reiſe des
Herzogs mag dieſe Sage veranlaßt haben. Das
[135] Volk hat noch immer den traditionell fabelhaften
Ideengang, der ſich ſo lieblich ausſpricht in ſeinem
„Herzog Ernſt.“ Der Erzaͤhler jener Neuigkeit
war ein Schneidergeſell, ein niedlicher, kleiner jun¬
ger Menſch, ſo duͤnn, daß die Sterne durchſchim¬
mern konnten, wie durch Oſſian's Nebelgeiſter, und
im Ganzen eine volksthuͤmlich barocke Miſchung
von Laune und Wehmuth. Dieſes aͤußerte ſich be¬
ſonders in der drollig ruͤhrenden Weiſe, womit er
das wunderbare Volkslied ſang: „Ein Kaͤfer auf
dem Zaune ſaß, ſumm, ſumm!“ Das iſt ſchoͤn
bey uns Deutſchen; Keiner iſt ſo verruͤckt, daß er
nicht einen noch Verruͤckteren faͤnde, der ihn ver¬
ſteht. Nur ein Deutſcher kann jenes Lied nach¬
empfinden, und ſich dabey todtlachen und todtweinen.
Wie tief das Goetheſche Wort in's Leben des Volks
gedrungen, bemerkte ich auch hier. Mein duͤnner
Weggenoſſe trillerte ebenfalls zuweilen vor ſich hin:
„Leidvoll und freudvoll, Gedanken ſind frei!“
Solche Corruption des Textes iſt bey'm Volke
etwas Gewoͤhnliches. Er ſang auch ein Lied, wo
[136] „Lottchen bey dem Grabe ihres Werthers“ trauert.
Der Schneider zerfloß vor Sentimentalitaͤt bey
den Worten: „Einſam wein' ich an der Roſen¬
quelle, wo uns oft der ſpaͤte Mond belauſcht! Jam¬
mernd irr' ich an der Silberquelle, die uns lieblich
Wonne zugerauſcht.“ Aber bald darauf ging er in
Muthwillen uͤber, und erzaͤhlte mir: „Wir ha¬
ben einen Preußen in der Herberge zu Caſſel, der
eben ſolche Lieder ſelbſt macht; er kann keinen ſeli¬
gen Stich naͤhen; hat er einen Groſchen in der
Taſche, ſo hat er fuͤr zwey Groſchen Durſt, und
wenn er im Thran iſt, haͤlt er den Himmel fuͤr
ein blaues Camiſol, und weint wie eine Dachtraufe,
und ſingt ein Lied mit der doppelten Poeſie!“ Von
[letzterem] Ausdruck wuͤnſchte ich eine Erklaͤrung,
aber mein Schneiderlein, mit ſeinen Ziegenhainer
Beinchen, huͤpfte hin und her und rief beſtaͤndig:
„Die doppelte Poeſie iſt die doppelte Poeſie!“ End¬
lich brachte ich es heraus, daß er doppelt gereimte
Gedichte, namentlich Stanzen, im Sinne hatte. —
Unterdeß, durch die große Bewegung und durch
[137] den contrairen Wind, war der Ritter von der
Nadel ſehr muͤde geworden. Er machte freilich noch
einige große Anſtalten zum Gehen und bramarba¬
ſirte: „Jetzt will ich den Weg zwiſchen die Beine
nehmen!“ Doch bald klagte er, daß er ſich Bla¬
ſen unter die Fuͤße gegangen, und die Welt viel
zu weitlaͤuftig ſey; und endlich, bey einem Baum¬
ſtamme, ließ er ſich ſachte niederſinken, bewegte
ſein zartes Haͤuptlein wie ein betruͤbtes Laͤmmer¬
ſchwaͤnzchen, und wehmuͤthig laͤchelnd rief er: „Da
bin ich armes Schindluderchen ſchon wieder ma¬
rode!“


Die Berge wurden hier noch ſteiler, die Tan¬
nenwaͤlder wogten unten wie ein gruͤnes Meer,
und am blauen Himmel oben ſchifften die weißen
Wolken. Die Wildheit der Gegend war durch
ihre Einheit und Einfachheit gleichſam gezaͤhmt.
Wie ein guter Dichter liebt die Natur keine ſchrof¬
fen Uebergaͤnge. Die Wolken, ſo bizarr geſtaltet
ſie auch zuweilen erſcheinen, tragen ein weißes,
oder doch ein mildes, mit dem blauen Himmel und
[138] der gruͤnen Erde harmoniſch correſpondirendes Co¬
lorit, ſo daß alle Farben einer Gegend wie leiſe
Muſik ineinander ſchmelzen, und jeder Natur-An¬
blick krampfſtillend und gemuͤthberuhigend wirkt. —
Der ſelige Hoffmann wuͤrde die Wolken buntſcheckig
bemalt haben. — Eben wie ein großer Dichter
weiß die Natur auch mit den wenigſten Mitteln
die groͤßten Effekte hervor zu bringen. Da ſind
nur eine Sonne, Baͤume, Blumen, Waſſer und
Liebe. Freilich, fehlt letztere im Herzen des Be¬
ſchauers, ſo mag das Ganze wohl einen ſchlechten
Anblick gewaͤhren, und die Sonne hat dann blos
ſo und ſo viel Meilen im Durchmeſſer, und die
Baͤume ſind gut zum Einheizen, und die Blumen
werden nach den Staubfaͤden claſſifizirt, und das
Waſſer iſt naß. — **! —


Ein kleiner Junge, der fuͤr ſeinen kranken Oheim
im Walde Reiſig ſuchte, zeigte mir das Dorf Lerrbach,
deſſen kleine Huͤtten, mit grauen Daͤchern, ſich uͤber
eine halbe Stunde durch das Thal hinziehen. „Dort,“
ſagte er, „wohnen dumme Kropf-Leute und weiße
[139] Mohren.“ — mit letzterem Namen werden die Albi¬
nos vom Volke benannt. Der kleine Junge ſtand mit
den Baͤumen in gar eigenem Einverſtaͤndniß; er
gruͤßte ſie wie gute Bekannte, und ſie ſchienen
rauſchend ſeinen Gruß zu erwiedern. Er pfiff wie
ein Zeiſig, ringsum antworteten zwitſchernd die an¬
dern Voͤgel, und ehe ich mich deſſen verſah, war
er mit ſeinen nackten Fuͤßchen und ſeinem Buͤndel
Reiſig in's Walddickigt fortgeſprungen. Die Kin¬
der, dacht' ich, ſind juͤnger als wir, koͤnnen ſich
noch erinnern, wie ſie ebenfalls Baͤume oder Voͤ¬
gel waren, und ſind alſo noch im Stande, dieſel¬
ben zu verſtehen; unſereins aber iſt ſchon alt und
hat zu viel Sorgen, Jurisprudenz und ſchlechte
Verſe im Kopf. Jene Zeit, wo es anders war,
trat mir bey meinem Eintritt in Clausthal wieder
recht lebhaft in's Gedaͤchtniß. In dieſes nette
Bergſtaͤdtchen, welches man nicht fruͤher erblickt,
als bis man davor ſteht, gelangte ich, als eben
die Glocke zwoͤlf ſchlug und die Kinder jubelnd aus
der Schule kamen. Die lieben Knaben, faſt alle
[140] rothbaͤckig, blauaͤugig und flachshaarig, jubelten
und jauchzten, und weckten in mir die wehmuͤthig
heitere Erinnerung, wie ich einſt ſelbſt, als ein
kleines Buͤbchen, in einer dumpfkatholiſchen Klo¬
ſterſchule zu Duͤſſeldorf den ganzen lieben Vormit¬
tag von der hoͤlzernen Bank nicht aufſtehen durfte,
und ſo viel Latein, Pruͤgel und Geographie aus¬
ſtehen mußte, und dann ebenfalls unmaͤßig jauchzte
und jubelte, wenn die alte Franziskanerglocke end¬
lich zwoͤlf ſchlug. Die Kinder ſahen an meinem
Ranzen, daß ich ein Fremder ſey, und gruͤßten
mich recht gaſtfreundlich. Einer der Knaben er¬
zaͤhlte mir, ſie haͤtten eben Religions-Unterricht ge¬
habt, und er zeigte mir den Koͤnigl. Hannoͤv. Ka¬
techismus, nach welchem man ihnen das Chriſten¬
thum abfragt. Dieſes Buͤchlein war ſehr ſchlecht
gedruckt, und ich fuͤrchte, die Glaubenslehren ma¬
chen dadurch ſchon gleich einen unerfreulichen Ein¬
druck auf die Gemuͤther der Kinder; wie es mir
denn auch erſchrecklich mißfiel, daß das Ein-mal-
Eins, welches doch mit der heiligen Dreyheitslehre
[141] bedenklich collidirt, im Catechismus ſelbſt, und
zwar auf dem letzten Blatte deſſelben, abgedruckt
iſt, und die Kinder dadurch ſchon fruͤhzeitig zu ſuͤnd¬
haften Zweifeln verleitet werden koͤnnen. Da ſind
wir im Preußiſchen viel kluͤger, und bey unſerem
Eifer zur Bekehrung jener Leute, die ſich ſo gut
auf's Rechnen verſtehen, huͤten wir uns wohl, das
Ein-mal-Eins hinter den Katechismus abdrucken
zu laſſen.


In der “Krone” zu Clausthal hielt ich Mit¬
tag. Ich bekam fruͤhlingsgruͤne Peterſilienſuppe,
veilchenblauen Kohl, einen Kalbsbraten, groß wie
der Chimboraſſo in Miniatur, ſo wie auch eine
Art geraͤucherter Heringe, die Buͤckinge heißen, nach
dem Namen ihres Erfinders, Wilhelm Buͤcking,
der 1447 geſtorben, und um jener Erfindung willen
von Carl V. ſo verehrt wurde, daß derſelbe anno
1556 von Middelburg nach Bievlied in Seeland
reiſte, bloß um dort das Grab dieſes großen Man¬
nes zu ſehen. Wie herrlich ſchmeckt doch ſolch ein
Gericht, wenn man die hiſtoriſchen Notizen dazu
[142] weiß und es ſelbſt verzehrt! Nur der Kaffee nach
Tiſche wurde mir verleidet, indem ſich ein junger
Menſch diskurſirend zu mir ſetzte und ſo entſetzlich
ſchwadronirte, daß mir die Milch auf dem Tiſche
ſauer wurde. Es war ein junger Handlungsbefliſſe¬
ner mit fuͤnf und zwanzig bunten Weſten und eben
ſo viel goldenen Petſchaften, Ringen, Bruſtnadeln
u. ſ. w. Er ſah aus wie ein Affe, der eine rothe
Jacke angezogen hat und nun zu ſich ſelber ſagt:
Kleider machen Leute. Eine ganze Menge Chara¬
den wußte er auswendig, ſo wie auch Anecdoten,
die er immer da anbrachte, wo ſie am wenigſten pa߬
ten. Er fragte mich, was es in Goͤttingen Neues
gaͤbe, und ich erzaͤhlte ihm: daß vor meiner Ab¬
reiſe von dort ein Decret des academiſchen Senats
erſchienen, worin bey drey Thaler Strafe verboten
wird, den Hunden die Schwaͤnze abzuſchneiden,
indem die tollen Hunde in den Hundstagen die
Schwaͤnze zwiſchen den Beinen tragen, und man
ſie dadurch von den Nicht-Tollen unterſcheidet, was
doch nicht geſchehen koͤnnte, wenn ſie gar keine
[143] Schwaͤnze haben. — Nach Tiſche machte ich mich
auf den Weg, die Gruben, die Silberhuͤtten und
die Muͤnze zu beſuchen.


In den Silberhuͤtten habe ich, wie oft im Le¬
ben, den Silberblick verfehlt. In der Muͤnze traf
ich es ſchon beſſer, und konnte zuſehen, wie das
Geld gemacht wird. Freylich, weiter hab' ich es
auch nie bringen koͤnnen. Ich hatte bey ſolcher
Gelegenheit immer das Zuſehen, und ich glaube,
wenn mal die Thaler vom Himmel herunter reg¬
neten, ſo bekaͤme ich davon nur Loͤcher in den
Kopf, waͤhrend die Kinder Iſrael die ſilberne
Manna mit luſtigem Muthe einſammeln wuͤrden.
Mit einem Gefuͤhle, worin gar komiſch Ehrfurcht
und Ruͤhrung gemiſcht waren, betrachtete ich die
neugebornen, blanken Thaler, nahm einen, der
eben vom Praͤgſtocke kam, in die Hand, und ſprach
zu ihm: junger Thaler! welche Schickſale erwar¬
ten dich! wie viel Gutes und wie viel Boͤſes wirſt
du ſtiften! wie wirſt du das Laſter beſchuͤtzen und
die Tugend flicken, wie wirſt du geliebt und dann
[144] wieder verwuͤnſcht werden! wie wirſt du ſchwelgen,
kuppeln, luͤgen und morden helfen! wie wirſt du
raſtlos umherirren, durch reine und ſchmutzige
Haͤnde, jahrhundertelang, bis du endlich, ſchuldbe¬
laden und ſuͤndenmuͤd, verſammelt wirſt zu den
Deinigen im Schooße Abrahams, der dich einſchmelzt
und laͤutert und umbildet zu einem neuen beſſeren
Seyn, vielleicht gar zu einem unſchuldigen Thee¬
loͤffelchen, womit einſt mein eignes Ur-Urenkelchen
ſein liebes Breyſuͤppchen zurechtmatſcht.


Das Befahren der zwey vorzuͤglichſten Claus¬
thaler Gruben, der „Dorothea“ und „Carolina,“
fand ich ſehr intereſſant und ich muß ausfuͤhrlich
davon erzaͤhlen.


Eine halbe Stunde vor der Stadt gelangt man
zu zwey großen ſchwaͤrzlichen Gebaͤuden. Dort
wird man gleich von den Bergleuten in Empfang
genommen. Dieſe tragen dunkle, gewoͤhnlich ſtahl¬
blaue, weite, bis uͤber den Bauch herabhaͤngende
Jacken, Hoſen von aͤhnlicher Farbe, ein hinten auf¬
gebundenes Schurzfell und kleine gruͤne Filzhuͤte,
[145] ganz randlos, wie ein abgekappter Kegel. In eine
ſolche Tracht, bloß ohne Hinterleder, wird der Be¬
ſuchende ebenfalls eingekleidet, und ein Bergmann,
ein Steiger, nachdem er ſein Grubenlicht angezuͤn¬
det, fuͤhrt ihn nach einer dunkeln Oeffnung, die
wie ein Kaminfegeloch ausſieht, ſteigt bis an die
Bruſt hinab, giebt Regeln, wie man ſich an den
Leitern feſt zu halten habe, und bittet angſtlos zu
folgen. Die Sache ſelbſt iſt nichts weniger als
gefaͤhrlich; aber man glaubt es nicht im Anfang,
wenn man gar nichts vom Bergwerksweſen verſteht.
Es giebt ſchon eine eigene Empfindung, daß man
ſich ausziehen und die dunkle Delinquenten-Tracht
anziehen muß. Und nun ſoll man auf allen Vie¬
ren hinab klettern, und das dunkle Loch iſt ſo dun¬
kel, und Gott weiß, wie lang die Leiter ſeyn mag.
Aber bald merkt man doch, daß es nicht eine ein¬
zige, in die ſchwarze Ewigkeit hinablaufende Leiter
iſt, ſondern daß es mehrere von funfzehn bis zwan¬
zig Sproſſen ſind, deren jede auf ein kleines Brett
fuͤhrt, worauf man ſtehen kann, und worin wieder
10[146] ein neues Loch nach einer neuen Leiter hinableitet.
Ich war zuerſt in die Carolina geſtiegen. Das iſt
die ſchmutzigſte und unerfreulichſte Carolina, die
ich je kennen gelernt habe. Die Leiterſproſſen ſind
kothignaß. Und von einer Leiter zur andern geht's
hinab, und der Steiger voran, und dieſer betheu¬
ert immer: es ſey gar nicht gefaͤhrlich, nur muͤſſe
man ſich mit den Haͤnden feſt an den Sproſſen
halten, und nicht nach den Fuͤßen ſehen, und nicht
ſchwindlich werden, und nur bey Leibe nicht auf
das Seitenbrett treten, wo jetzt das ſchnurrende
Tonnenſeil heraufgeht, und wo, vor vierzehn Ta¬
gen, ein unvorſichtiger Menſch hinunter geſtuͤrzt
und leider den Hals gebrochen. Da unten iſt ein
verworrenes Rauſchen und Summen, man ſtoͤßt
beſtaͤndig an Balken und Seile, die in Bewegung
ſind, um die Tonnen mit geklopften Erzen, oder
das hervorgeſinterte Waſſer, herauf zu winden. Zu¬
weilen gelangt man auch in durchgehauene Gaͤnge,
Stollen genannt, wo man das Erz wachſen ſieht,
und wo der einſame Bergmann den ganzen Tag
[147] ſitzt und muͤhſam mit dem Hammer die Erzſtuͤcke
aus der Wand heraus klopft. Bis in die unterſte
Tiefe, wo man, wie Einige behaupten, ſchon hoͤren
kann, wie die Leute in Amerika „Hurrah Lafayette!“
ſchreien, bin ich nicht gekommen; unter uns ge¬
ſagt, dort, bis wohin ich kam, ſchien es mir bereits
tief genug: — immerwaͤhrendes Brauſen und Sau¬
ſen, unheimliche Maſchinen-Bewegung, unterir¬
diſches Quellen-Gerieſel, von allen Seiten herab¬
triefendes Waſſer, qualmig aufſteigende Erdduͤnſte,
und das Grubenlicht immer bleicher hinein flim¬
mernd in die einſame Nacht. Wirklich, es war
betaͤubend, das Athmen wurde mir ſchwer, und
mit Muͤhe hielt ich mich an den glitſchrigen Lei¬
terſproſſen. Ich habe keinen Anflug von ſogenann¬
ter Angſt empfunden, aber, ſeltſam genug, dort
unten in der Tiefe erinnerte ich mich, daß ich im
vorigen Jahr, ungefaͤhr um dieſelbe Zeit, einen
Sturm auf der Nord-See erlebte, und ich meinte
jetzt, es ſey doch eigentlich recht traulich angenehm,
wenn das Schiff hin und her ſchaukelt, die Winde
[148] ihre Trompeter-Stuͤckchen losblaſen, zwiſchen drein
der luſtige Matroſen-Laͤrmen erſchallt, und Alles
friſch uͤberſchauert wird von Gottes lieber, freier
Luft. Ja, Luft! — Nach Luft ſchnappend ſtieg
ich einige Dutzend Leitern wieder in die Hoͤhe, und
mein Steiger fuͤhrte mich durch einen ſchmalen, ſehr
langen, in den Berg gehauenen Gang nach der
Grube Dorothea. Hier iſt es luftiger und friſcher,
und die Leitern ſind reiner, aber auch laͤnger und
ſteiler als in der Carolina. Hier wurde mir auch
beſſer zu Muthe, beſonders da ich wieder Spuren
lebendiger Menſchen gewahrte. In der Tiefe zeig¬
ten ſich naͤmlich wandelnde Schimmer; Bergleute
mit ihren Grubenlichtern kamen allmaͤhlig in die
Hoͤhe, mit dem Gruße “Gluͤckauf!” und mit dem¬
ſelben Wiedergruße von unſerer Seite ſtiegen ſie
an uns voruͤber; und wie eine befreundet ruhige,
und doch zugleich quaͤlend raͤthſelhafte Erinnerung,
trafen mich, mit ihren tiefſinnig klaren Blicken, die
ernſtfrommen, etwas blaſſen, und vom Grubenlicht
geheimnißvoll beleuchteten Geſichter dieſer, theils
[149] jungen, theils alten Maͤnner, die in ihren dunkeln,
einſamen Bergſchachten den ganzen Tag gearbeitet
hatten, und ſich jetzt hinauf ſehnten nach dem lieben
Tageslicht, und nach den Augen von Weib und
Kind.


Mein Cicerone ſelbſt war eine kreuzehrliche, pu¬
deldeutſche Natur. Mit innerer Freudigkeit zeigte
er mir jene Stolle, wo der Herzog von Cambridge,
als er die Grube befahren, mit ſeinem ganzen Gefolge
geſpeiſt hat, und wo noch der lange hoͤlzerne Spei¬
ſetiſch ſteht, ſo wie auch der große Stuhl von Erz,
worauf der Herzog geſeſſen. Dieſer bleibe zum ewi¬
gen Andenken ſtehen, ſagte der gute Bergmann, und
mit Feuer erzaͤhlte er: wie viele Feſtlichkeiten da¬
mals ſtatt gefunden, wie der ganze Stollen mit Lich¬
tern, Blumen und Laubwerk verziert geweſen, wie ein
Bergknappe die Zitter geſpielt und geſungen, wie der
vergnuͤgte liebe, dicke Herzog ſehr viele Geſundhei¬
ten ausgetrunken habe, und wie viele Bergleute,
und er ſelbſt ganz beſonders, ſich gern wuͤrden tod¬
ſchlagen laſſen fuͤr den lieben, dicken Herzog und
[150] das ganze Haus Hannover. — Innig ruͤhrt es mich
jedesmal, wenn ich ſehe, wie ſich dieſes Gefuͤhl der
Unterthanstreue in ſeinen einfachen Naturlauten
ausſpricht. Es iſt ein ſo ſchoͤnes Gefuͤhl! Und es
iſt ein ſo wahrhaft deutſches Gefuͤhl! Andere Voͤl¬
ker moͤgen gewandter ſeyn, und witziger und ergoͤtz¬
licher, aber keines iſt ſo treu, wie das treue deut¬
ſche Volk. Wuͤßte ich nicht, daß die Treue ſo alt
iſt, wie die Welt, ſo wuͤrde ich glauben, ein deut¬
ſches Herz habe ſie erfunden. Deutſche Treue! ſie
iſt keine moderne Adreſſen-Floskel. An Euren Hoͤ¬
fen, Ihr deutſchen Fuͤrſten, ſollte man ſingen und
wieder ſingen das Lied vom getreuen Eckart und
vom boͤſen Burgund, der ihm die lieben Kinder
toͤdten laſſen, und ihn alsdann doch noch immer treu
befunden hat. Ihr habt das treueſte Volk, und
Ihr irrt, wenn Ihr glaubt: der alte, verſtaͤndige,
treue Hund ſey ploͤtzlich toll geworden, und ſchnappe
nach Euren geheiligten Waden.


Wie die deutſche Treue hatte uns jetzt das kleine
Grubenlicht, ohne viel Geflacker, ſtill und ſicher ge¬
[151] leitet durch das Labyrinth der Schachten und Stol¬
len; wir ſtiegen hervor aus der dumpfigen Berg¬
nacht, das Sonnenlicht ſtrahlt' — Gluͤck auf!


Die meiſten Berg-Arbeiter wohnen in Clausthal
und in dem damit verbundenen Bergſtaͤdtchen Zeller¬
feld. Ich beſuchte mehrere dieſer wackern Leute,
betrachtete ihre kleine haͤusliche Einrichtung, hoͤrte
einige ihrer Lieder, die ſie mit der Zitter, ihrem
Lieblings-Inſtumente, gar huͤbſch begleiten, ließ mir
alte Bergmaͤhrchen von ihnen erzaͤhlen, und auch
die Gebete herſagen, die ſie in Gemeinſchaft zu hal¬
ten pflegen, ehe ſie in den dunkeln Schacht hinun¬
ter ſteigen, und manches gute Gebet habe ich mit
gebetet. Ein alter Steiger meinte ſogar, ich
ſollte bey ihnen bleiben und Bergmann werden; und
als ich dennoch Abſchied nahm, gab er mir einen
Auftrag an ſeinen Bruder, der in der Naͤhe von
Goslar wohnt, und viele Kuͤſſe fuͤr ſeine liebe Nichte.


So ſtillſtehend ruhig auch das Leben dieſer Leute
erſcheint, ſo iſt es dennoch ein wahrhaftes, lebendi¬
ges Leben. Die ſteinalte, zitternde Frau, die, dem
[152] großen Schranke gegenuͤber, hinter'm Ofen ſaß, mag
dort ſchon ein Viertel-Jahrhundert lang geſeſſen ha¬
ben, und ihr Denken und Fuͤhlen iſt gewiß innig
verwachſen mit allen Ecken dieſes Ofens und allen
Schnitzeleien dieſes Schrankes. Und Schrank und
Öfen leben, denn ein Menſch hat ihnen einen Theil
ſeiner Seele eingefloͤßt.


Nur durch ſolch tiefes Anſchauungsleben, durch
die “Unmittelbarkeit” entſtand die deutſche Maͤhr¬
chen-Fabel, deren Eigenthuͤmlichkeit darin beſteht,
daß nicht nur die Thiere und Pflanzen, ſondern
auch ganz leblos ſcheinende Gegenſtaͤnde ſprechen und
handeln. Sinnigem, harmloſen Volke, in der ſtil¬
len, umfriedeten Heimlichkeit ſeiner niedern Berg¬
oder Waldhuͤtten offenbarte ſich das innere Leben
ſolcher Gegenſtaͤnde, dieſe gewannen einen nothwen¬
digen, conſequenten Charakter, eine ſuͤße Miſchung
von phantaſtiſcher Laune und rein menſchlicher
Geſinnung; und ſo ſehen wir im Maͤhrchen, wun¬
derbar und doch als wenn es ſich von ſelbſt ver¬
ſtaͤnde: Naͤhnadel und Stecknadel kommen von
[153] der Schneider-Herberge und verirren ſich im Dun¬
keln; Strohhalm und Kohle wollen uͤber den Bach
ſetzen und verungluͤcken; Schippe und Beſen ſtehen
auf der Treppe und zanken und ſchmeißen ſich; der
befragte Spiegel zeigt das Bild der ſchoͤnſten Frau;
ſogar die Blutstropfen fangen an zu ſprechen, bange,
dunkle Worte des beſorglichſten Mitleids. — Aus
demſelben Grunde iſt unſer Leben in der Kindheit
ſo unendlich bedeutend, in jener Zeit iſt uns Alles
gleich wichtig, wir hoͤren Alles, wir ſehen Alles,
bey allen Eindruͤcken iſt Gleichmaͤßigkeit, ſtatt daß
wir ſpaͤterhin abſichtlicher werden, uns mit dem
Einzelnen ausſchließlicher beſchaͤftigen, das klare
Gold der Anſchauung fuͤr das Papiergeld der Buͤ¬
cher-Definitionen muͤhſam einwechſeln, und an Le¬
bensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe ver¬
lieren. Jetzt ſind wir ausgewachſene, vornehme
Leute; wir beziehen oft neue Wohnungen, die Magd
raͤumt taͤglich auf, und veraͤndert nach Gutduͤnken
die Stellung der Moͤbeln, die uns wenig intereſſi¬
ren, da ſie entweder neu ſind, oder heute dem
[154] Hans, morgen dem Iſaak gehoͤren; ſelbſt unſere
Kleider bleiben uns fremd, wir wiſſen kaum, wie
viel Knoͤpfe an dem Rocke ſitzen, den wir eben jetzt
auf dem Leibe tragen; wir wechſeln ja ſo oft als
moͤglich mit Kleidungsſtuͤcken, keines derſelben bleibt
im Zuſammenhange mit unſerer inneren und aͤuße¬
ren Geſchichte; — kaum vermoͤgen wir uns zu er¬
innern, wie jene braune Weſte ausſah, die uns
einſt ſo viel Gelaͤchter zugezogen hat, und auf deren
breiten Streifen dennoch die liebe Hand der Ge¬
liebten ſo lieblich ruhte!


Die alte Frau, dem großen Schrank gegenuͤber,
hinter'm Ofen, trug einen gebluͤmten Rock von
verſchollenem Zeuge, das Brautkleid ihrer ſeligen
Mutter. Ihr Urenkel, ein als Bergmann geklei¬
deter, blonder, blitzaͤugiger Knabe, ſaß zu ihren
Fuͤßen und zaͤhlte die Blumen ihres Rockes, und
ſie mag ihm von dieſem Rocke wohl ſchon viele
Geſchichten erzaͤhlt haben, viele ernſthafte, huͤbſche
Geſchichten, die der Junge gewiß nicht ſo bald
vergißt, die ihm noch oft vorſchweben werden,
[155] wenn er bald, als ein erwachſener Mann, in den
naͤchtlichen Stollen der Carolina einſam arbeitet,
und die er vielleicht wieder erzaͤhlt, wenn die liebe
Großmutter laͤngſt todt iſt, und er ſelber, ein ſilber¬
haariger, erloſchener Greis, im Kreiſe ſeiner En¬
kel ſitzt, dem großen Schranke gegenuͤber, hin¬
ter'm Ofen.


Ich blieb die Nacht ebenfalls in der Krone, wo
unterdeſſen auch der Hofrath B. aus Goͤttingen
angekommen war. Ich hatte das Vergnuͤgen, dem
alten Herrn meine Aufwartung zu machen; er ge¬
dachte ebenfalls den andern Tag nach Goslar zu
reiſen. Als ich mich in's Fremdenbuch einſchrieb
und im Monat Juli blaͤtterte, fand ich auch den
vieltheuern Namen Adalbert von Chamiſſo, den Bio¬
graphen des unſterblichen Schlemiehl. Der Wirth
erzaͤhlte mir: dieſer Herr ſey in einem unbeſchreib¬
bar ſchlechten Wetter angekommen, und in einem
eben ſo ſchlechten Wetter wieder abgereiſt.


Den andern Morgen mußte ich meinen Ranzen
nochmals erleichtern, das eingepackte Paar Stie¬
[156] fel warf ich uͤber Bord, und ich hob auf meine Fuͤße
und ging nach Goſlar. Ich kam dahin, ohne
zu wiſſen wie. Nur ſo viel kann ich mich erin¬
nern: ich ſchlenderte wieder bergauf, bergab, ſchaute
hinunter in manches huͤbſche Wieſenthal; ſilberne
Waſſer brauſten, ſuͤße Waldvoͤgel zwitſcherten, die
Heerdengloͤckchen laͤuteten, die mannigfaltig gruͤnen
Baͤume wurden von der lieben Sonne goldig an¬
geſtrahlt, und oben war die blauſeidene Decke des
Himmels ſo durchſichtig, daß man tief hinein
ſchauen konnte, bis in's Allerheiligſte, wo die En¬
gel zu den Fuͤßen Gottes ſitzen, und in den Zuͤgen
ſeines Antlitzes den Generalbaß ſtudieren. Ich
aber lebte noch in dem Traum der vorigen Nacht,
den ich nicht aus meiner Seele verſcheuchen konnte.
Es war das alte Maͤhrchen, wie ein Ritter hinab
ſteigt in einen tiefen Brunnen, wo unten die
ſchoͤnſte Prinzeſſin zu einem ſtarren Zauberſchlafe
verwuͤnſcht iſt. Ich ſelbſt war der Ritter, und
der Brunnen die dunkle Clausthaler Grube, und
ploͤtzlich erſchienen viele Lichter, aus allen Seiten¬
[157] loͤchern ſtuͤrzten die wachſamen Zwerglein, ſchnitten
zornige Geſichter, hieben nach mir mit ihren kur¬
zen Schwerdtern, blieſen gellend in's Horn, daß
immer mehr und mehre herzu eilten, und es
wackelten entſetzlich ihre breiten Haͤupter. Wie ich
darauf zuſchlug und das Blut heraus floß, merkte
ich erſt, daß es die rothbluͤhenden, langbaͤrtigen
Diſtelkoͤpfe waren, die ich den Tag vorher an der
Landſtraße mit dem Stocke abgeſchlagen hatte. Da
waren ſie auch gleich alle verſcheucht, und ich gelangte
in einen hellen Prachtſaal; in der Mitte ſtand,
weiß verſchleiert, und wie eine Bildſaͤule ſtarr und
regungslos, die Herzgeliebte, und ich kuͤßte ihren
Mund, und, bey'm lebendigen Gott! ich fuͤhlte den
beſeligenden Hauch ihrer Seele und das ſuͤße Be¬
ben der lieblichen Lippen. Es war mir, als hoͤrte
ich, wie Gott rief: “Es werde Licht!” blendend
ſchoß herab ein Strahl des ewigen Lichts; aber in
demſelben Augenblick wurde es wieder Nacht, und
Alles rann chaotiſch zuſammen in ein wildes, wuͤſtes
Meer. Ein wildes, wuͤſtes Meer! uͤber das gaͤh¬
[158] rende Waſſer jagten aͤngſtlich die Geſpenſter der
Verſtorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten
im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬
ſchender Peitſche, lief ein buntſcheckiger Harlequin,
und dieſer war ich ſelbſt — und ploͤtzlich, aus den
dunkeln Wellen, reckten die Meerungethuͤme ihre
mißgeſtalteten Haͤupter, und langten nach mir mit
ausgebreiteten Krallen, und vor Entſetzen er¬
wacht' ich.


Wie doch zuweilen die allerſchoͤnſten Maͤhrchen
verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter,
wenn er die ſchlafende Prinzeſſin gefunden hat, ein
Stuͤck aus ihrem koſtbaren Schleier heraus ſchnei¬
den; und wenn durch ſeine Kuͤhnheit ihr Zauber¬
ſchlaf gebrochen iſt, und ſie wieder in ihrem Pal¬
laſt auf dem goldenen Stuhle ſitzt, muß der Rit¬
ter zu ihr treten und ſprechen: Meine allerſchoͤnſte
Prinzeſſin, kennſt du mich? Und dann antwortet
ſie: Mein allertapferſter Ritter, ich kenne dich
nicht. Und dieſer zeigt ihr alsdann das aus ihrem
Schleyer heraus geſchnittene Stuͤck, das juſt in
[159] denſelben wieder hineinpaßt, und Beyde umarmen
ſich zaͤrtlich, und die Trompeter blaſen, und die
Hochzeit wird gefeiert.


Es iſt wirklich ein eigenes Mißgeſchick, daß
meine Liebestraͤume ſelten ein ſo ſchoͤnes Ende
nehmen.


Der Name Goslar klingt ſo erfreulich, und es
knuͤpfen ſich daran ſo viele uralte Kaiſer-Erin¬
nerungen, daß ich eine impoſante, ſtattliche Stadt
erwartete. Aber ſo geht es, wenn man die Be¬
ruͤhmten in der Naͤhe beſieht! Ich fand ein Neſt
mit meiſtens ſchmalen, labyrinthiſch krummen
Straßen, allwo mittendurch ein kleines Waſſer,
wahrſcheinlich die Goſe, fließt, verfallen und dum¬
pfig, und ein Pflaſter, ſo holprig wie Berliner
Hexameter. Nur die Alterthuͤmlichkeiten der Einfaſ¬
ſung, naͤmlich Reſte von Mauern, Thuͤrmen und Zin¬
nen, geben der Stadt etwas Pikantes. Einer die¬
ſer Thuͤrme, der Zwinger genannt, hat ſo dicke
Mauern, daß ganze Gemaͤcher darin ausgehauen
ſind. Der Platz vor der Stadt, wo der weitbe¬
[160] ruͤhmte Schuͤtzenhof gehalten wird, iſt eine ſchoͤne
große Wieſe, ringsum hohe Berge. Der Markt
iſt klein, in der Mitte ſteht ein Springbrunnen,
deſſen Waſſer ſich in ein großes Metallbecken er¬
gießt. Bey Feuersbruͤnſten wird einige Mal daran
geſchlagen; es giebt dann einen weitſchallenden Ton.
Man weiß nichts vom Urſprunge dieſes Beckens.
Einige ſagen, der Teufel habe es einſt, zur Nacht¬
zeit, dort auf den Markt hingeſtellt. Damals
waren die Leute noch dumm, und der Teufel war
auch dumm, und ſie machten ſich wechſelſeitig Ge¬
ſchenke.


Das Rathhaus zu Goslar iſt eine weißangeſtri¬
chene Wachtſtube. Das daneben ſtehende Gilden¬
haus hat ſchon ein beſſeres Anſehen. Ungefaͤhr von
der Erde und vom Dach gleich weit entfernt ſtehen
da die Standbilder deutſcher Kaiſer, raͤucherig
ſchwarz und zum Theil vergoldet, in der einen Hand
das Scepter, in der andern die Weltkugel; ſehen
aus wie gebratene Univerſitaͤts-Pedelle. Einer die¬
ſer Kaiſer haͤlt ein Schwerdt, ſtatt des Scepters.
[161] Ich konnte nicht errathen, was dieſer Unterſchied
ſagen ſoll; und es hat doch gewiß ſeine Bedeutung,
da die Deutſchen die merkwuͤrdige Gewohnheit ha¬
ben, daß ſie bey Allem, was ſie thun, ſich auch
etwas denken.


In Gottſchalk's “Handbuch” hatte ich von dem
uralten Dom und von dem beruͤhmten Kaiſerſtuhl
zu Goslar viel geleſen. Als ich aber Beides be¬
ſehen wollte, ſagte man mir: der Dom ſey nieder¬
geriſſen und der Kaiſerſtuhl nach Berlin gebracht
worden. So wird einſt der Wanderer nach Europa
kommen und vergebens nach Deutſchland fragen.
Unſre lanzenkundigen Freunde werden es eingeſteckt
und fortgeſchleppt haben, unter ihren hohen Saͤt¬
teln. Wir leben in einer bedeutungſchweren Zeit;
tauſendjaͤhrige Dome werden abgebrochen, und Kai¬
ſerſtuͤhle in die Rumpelkammer geworfen.


Einige Merkwuͤrdigkeiten des ſeligen Doms ſind
jetzt in der Stephanskirche aufgeſtellt. Glasmale¬
reien, die wunderſchoͤn ſind, einige ſchlechte Ge¬
maͤlde, worunter auch ein Lucas Cranach ſeyn ſoll,
11[162] ferner ein hoͤlzener Chriſtus am Kreuz, und ein heid¬
niſcher Opfer-Altar aus unbekanntem Metall; er
hat die Geſtalt einer laͤnglich viereckigen Lade, und
wird von vier Caryatiden getragen, die, in geduck¬
ter Stellung, die Haͤnde ſtuͤtzend uͤber dem Kopfe
halten, und unerfreulich haͤßliche Geſichter ſchnei¬
den. Indeſſen noch unerfreulicher iſt das dabeiſte¬
hende, ſchon erwaͤhnte, große hoͤlzerne Crucifix.
Dieſer Chriſtuskopf, mit natuͤrlichen Haaren und
Dornen und blutbeſchmiertem Geſichte, zeigt freilich
hoͤchſt meiſterhaft das Hinſterben eines Menſchen,
aber nicht eines gottgebornen Heilands. Nur das
materielle Leiden iſt in dieſes Geſicht hinein ge¬
ſchnitzelt, nicht die Poeſie des Schmerzes. Solch
Bild gehoͤrt eher in einen anatomiſchen Lehrſaal,
als in ein Gotteshaus. Die kunſterfahrene Frau
Kuͤſterin, die mich herum fuͤhrte, zeigte mir noch,
als ganz beſondere Raritaͤt, ein vieleckiges, wohl¬
gehobeltes, ſchwarzes, mit weißen Zahlen bedecktes
Stuͤck Holz, das ampelartig in der Mitte der
Kirche haͤngt. O, wie glaͤnzend zeigt ſich hier der
[163] Erfindungsgeiſt in der proteſtantiſchen Kirche! Denn,
wer ſollte dies denken! die Zahlen auf beſagtem Stuͤck
Holze ſind die Pſalm-Nummern, welche gewoͤhnlich
mit Kreide auf einer ſchwarzen Tafel verzeichnet
werden, und auf den aͤſthetiſchen Sinn etwas nuͤch¬
tern wirken, aber jetzt, durch obige Erfindung, ſo¬
gar zur Zierde der Kirche dienen, und die ſo
oft darin vermißten Raphaelſchen Bilder hinlaͤng¬
lich erſetzen. Solche Fortſchritte freuen mich un¬
endlich, da ich, der ich Proteſtant und zwar Luthe¬
raner bin, immer tief betruͤbt worden, wenn katho¬
liſche Gegner das leere, gottverlaſſene Anſehen pro¬
teſtantiſcher Kirchen beſpoͤtteln konnten.


Ich logirte in einem Gaſthofe nahe dem Markte,
wo mir das Mittageſſen noch beſſer geſchmeckt ha¬
ben wuͤrde, haͤtte ſich nur nicht der Herr Wirth
mit ſeinem langen, uͤberfluͤſſigen Geſichte und ſei¬
nen langweiligen Fragen zu mir hin geſetzt; gluͤck¬
licher Weiſe ward ich bald erloͤſt durch die Ankunft
eines andern Reiſenden, der dieſelben Fragen in der¬
ſelben Ordnung aushalten mußte: quis? quid? ubi?
[164] quibus auxiliis? cur? quomodo? quando?
Dieſer
Fremde war ein alter, muͤder, abgetragener Mann,
der, wie aus ſeinen Reden hervorging, die ganze
Welt durchwandert, beſonders lang auf Batavia
gelebt, viel Geld erworben und wieder alles verlo¬
ren hatte, und jetzt, nach dreyzigjaͤhriger Abwe¬
ſenheit nach Quedlinburg, ſeiner Vaterſtadt, zu¬
ruͤckkehrte, — “denn” ſetzte er hinzu, “unſre
Familie hat dort ihr Erbbegraͤbniß.” Der Herr
Wirth machte die ſehr aufgeklaͤrte Bemerkung: daß
es doch fuͤr die Seele gleichguͤltig ſey, wo unſer Leib
begraben wird. “Haben Sie es ſchriftlich?” ant¬
wortete der Fremde, und dabey zogen ſich unheim¬
lich ſchlaue Ringe um ſeine kuͤmmerlichen Lippen
und verblichenen Aeugelein. “Aber” ſetzte er aͤngſt¬
lich beguͤtigend hinzu, “ich will darum uͤber fremde
Graͤber doch nichts boͤſes geſagt haben; — die Tuͤr¬
ken begraben ihre Todten noch weit ſchoͤner als
wir, ihre Kirchhoͤfe ſind ordentlich Gaͤrten, und da
ſitzen ſie auf ihren weißen, beturbanten Grabſtei¬
nen, unter dem Schatten einer Zypreſſe, und ſtrei¬
[165] chen ihre ernſthaften Baͤrte, und rauchen ruhig
ihren tuͤrkiſchen Tabak, aus ihren langen tuͤrkiſchen
Pfeifen; — und bey den Chineſen gar iſt es eine
ordentliche Luſt zuzuſehen, wie ſie auf den Ruhe¬
ſtaͤtten ihrer Todten manierlich herumtaͤnzeln, und
beten, und Thee trinken, und die Geige ſpielen,
und die geliebten Graͤber gar huͤbſch zu verzieren
wiſſen, mit allerley vergoldetem Lattenwerk, Porze¬
lan-Figuͤrchen, Fetzen von buntem Seidenzeug,
kuͤnſtlichen Blumen, und farbigen Laternchen — Al¬
les ſehr huͤbſch — wie weit hab' ich noch bis Qued¬
linburg?”


Der Kirchhof in Goslar hat mich nicht ſehr
angeſprochen. Deſto mehr aber jenes wunderſchoͤne
Lockenkoͤpfchen, das bey meiner Ankunft in der
Stadt aus einem etwas hohen Parterre-Fenſter
laͤchelnd heraus ſchaute. Nach Tiſche ſuchte ich
wieder das liebe Fenſter; aber jetzt ſtand dort nur
ein Waſſerglas mit weißen Glockenbluͤmchen. Ich
kletterte hinauf, nahm die artigen Bluͤmchen aus
dem Glaſe, ſteckte ſie ruhig auf meine Muͤtze, und
[166] kuͤmmerte mich wenig um die aufgeſperrten Maͤuler,
verſteinerten Naſen und Glotzaugen, womit die Leute
auf der Straße, beſonders die alten Weiber, die¬
ſem qualifizirten Diebſtahle zuſahen. Als ich eine
Stunde ſpaͤter an demſelben Hauſe vorbey ging,
ſtand die Holde am Fenſter, und wie ſie die Glo¬
ckenbluͤmchen auf meiner Muͤtze gewahrte, wurde ſie
blutroth und ſtuͤrzte zuruͤck. Ich hatte jetzt das
ſchoͤne Antlitz noch genauer geſehen; es war eine
ſuͤße, durchſichtige Verkoͤrperung von Sommer-Abend¬
hauch, Mondſchein, Nachtigallenlaut und Roſen¬
duft. — Spaͤter, als es ganz dunkel geworden,
trat ſie vor die Thuͤre. Ich kam — ich naͤherte
mich — ſie zieht ſich langſam zuruͤck in den dunk¬
len Hausflur — ich faſſe ſie bey der Hand und
ſage: ich bin ein Liebhaber von ſchoͤnen Blumen
und Kuͤſſen, und was man mir nicht freiwillig giebt,
das ſtehle ich — und ich kuͤßte ſie raſch — und wie
ſie entfliehen will, fluͤſtere ich beſchwichtigend: mor¬
gen reiſ' ich fort und komme wohl nie wieder —
und ich fuͤhle den geheimen Wiederdruck der lieb¬
[167] lichen Lippen und der kleinen Haͤnde — und lachend
eile ich von hinnen. Ja, ich muß lachen, wenn
ich bedenke, daß ich unbewußt jene Zauberformel
ausgeſprochen, wodurch unſere Roth- und Blau¬
roͤcke, oͤfter als durch ihre ſchnurbaͤrtige Liebens¬
wuͤrdigkeit, die Herzen der Frauen bezwingen: „Ich
reiſe morgen fort, und komme wohl nie wieder!“


Mein Logis gewaͤhrte eine herrliche Ausſicht nach
dem Rammesberg. Es war ein ſchoͤner Abend.
Die Nacht jagte auf ihrem ſchwarzen Roſſe, und
die langen Maͤhnen flatterten im Winde. Ich ſtand
am Fenſter [und] betrachtete den Mond. Giebt es
wirklich einen Mann im Monde? Die Slaven
ſagen, er heiße Clotar, und das Wachſen des Mon¬
des bewirke er durch Waſſer-Aufgießen. Als ich
noch klein war, hatte ich gehoͤrt: Der Mond ſey
eine Frucht, die, wenn ſie reif geworden, vom lie¬
ben Gott abgepfluͤckt, und, zu den uͤbrigen Voll¬
monden, in den großen Schrank gelegt werde, der
am Ende der Welt ſteht, wo ſie mit Brettern zu¬
genagelt iſt. Als ich groͤßer wurde, bemerkte ich,
[168] daß die Welt nicht ſo eng begraͤnzt iſt, und daß
der menſchliche Geiſt die hoͤlzernen Schranken durch¬
brochen, und mit einem rieſigen Petri-Schluͤſſel,
mit der Idee der Unſterblichkeit, alle ſieben Him¬
mel aufgeſchloſſen hat. Unſterblichkeit! ſchoͤner Ge¬
danke! wer hat dich zuerſt erdacht? War es ein
Nuͤrnberger Spießbuͤrger, der, mit weißer Nacht¬
muͤtze auf dem Kopfe und weißer Tonpfeife im
Maule, am lauen Sommerabend vor ſeiner Haus¬
thuͤre ſaß, und recht behaglich meinte: es waͤre doch
huͤbſch, wenn er nun ſo immer fort, ohne daß ſein
Pfeifchen und ſein Lebensathemchen ausgingen, in
die liebe Ewigkeit hineinvegetiren koͤnnte! Oder
war es ein junger Liebender, der in den Armen ſei¬
ner Geliebten jenen Unſterblichkeits-Gedanken dachte,
und ihn dachte, weil er ihn fuͤhlte, und weil er
nichts anders fuͤhlen und denken konnte! — Liebe!
Unſterblichkeit! — in meiner Bruſt ward es ploͤtzlich
ſo heiß, daß ich glaubte, die Geographen haͤtten den
Aequator verlegt, und er laufe jetzt grade durch
mein Herz. Und aus meinem Herzen ergoſſen ſich
[169] die Gefuͤhle der Liebe, ergoſſen ſich ſehnſuͤchtig in
die weite Nacht. Die Blumen im Garten unter
meinem Fenſter dufteten ſtaͤrker. Duͤfte ſind die
Gefuͤhle der Blumen, und wie das Menſchenherz,
in der Nacht, wo es ſich einſam und unbelauſcht
glaubt, ſtaͤrker fuͤhlt, ſo ſcheinen auch die Blumen,
ſinnig verſchaͤmt, erſt die umhuͤllende Dunkelheit zu
erwarten, um ſich gaͤnzlich ihren Gefuͤhlen hinzuge¬
ben, und ſie auszuhauchen in ſuͤßen Duͤften. —
Ergießt Euch, Ihr Duͤfte meines Herzens! und
ſucht hinter jenen Bergen die Geliebte meiner
Traͤume! Sie liegt jetzt ſchon und ſchlaͤft; zu
ihren Fuͤßen knieen Engel, und wenn ſie im Schlafe
laͤchelt, ſo iſt es ein Gebet, das die Engel nach¬
beten; in ihrer Bruſt liegt der Himmel mit allen
ſeinen Seligkeiten, und wenn ſie athmet, ſo bebt
mein Herz in der Ferne; hinter den ſeidnen Wim¬
pern ihrer Augen iſt die Sonne untergegangen,
und wenn ſie die Augen wieder aufſchlaͤgt, ſo iſt
es Tag, und die Voͤgel ſingen, und die Heerden¬
gloͤckchen laͤuten, und die Berge ſchimmern in ihren
[170] ſchmaragdnen Kleidern, und ich ſchnuͤre den Ran¬
zen und wandre.


In dieſen philoſophiſchen Betrachtungen und
Privatgefuͤhlen uͤberraſchte mich der Beſuch des
Hofrath B., der kurz vorher ebenfalls nach Goslar
gekommen war. Zu keiner Stunde haͤtte ich die
wohlwollende Gemuͤthlichkeit dieſes Mannes tiefer
empfinden koͤnnen. Ich verehre ihn wegen ſeines
ausgezeichneten, erfolgreichen Scharfſinns; noch
mehr aber wegen ſeiner Beſcheidenheit. Ich fand
ihn ungemein heiter, friſch und ruͤſtig. Daß er
letzteres iſt, bewies er juͤngſt durch ſein neues Werk:
„Die Religion der Vernunft,“ ein Buch, das die
Nationaliſten ſo ſehr entzuͤckt, die Myſtiker aͤrgert,
und das große Publikum in Bewegung ſetzt. Ich
ſelbſt bin zwar in dieſem Augenblick ein Myſtiker,
meiner Geſundheit wegen, indem ich, nach der Vor¬
ſchrift meines Arztes, alle Anreizungen zum Den¬
ken vermeiden ſoll. Doch verkenne ich nicht den
unſchaͤtzbaren Werth der rationaliſtiſchen Bemuͤhun¬
gen eines Paulus, Gurlitt, Krug, Eichhorn, Bou¬
[171] terwek, Wegſcheider, u. ſ. w. Zufaͤllig iſt es mir
ſelbſt hoͤchſt erſprießlich, daß dieſe Leute ſo manches
verjaͤhrte Uebel fortraͤumen, beſonders den alten
Kirchenſchutt, worunter ſo viele Schlangen und boͤſe
Duͤnſte. Die Luft wird in Deutſchland zu dick
und auch zu heiß, und oft fuͤrchte ich zu erſticken,
oder von meinen geliebten Mitmyſtikern, in ihrer
Liebeshitze, erwuͤrgt zu werden. Drum will ich auch
den guten Rationaliſten nichts weniger als boͤſe
ſeyn, wenn ſie die Luft etwas gar zu ſehr verduͤnnen
und etwas gar zu ſehr abkuͤhlen. Im Grunde hat
ja die Natur ſelbſt dem Nationalismus ſeine Gren¬
zen geſteckt; unter der Luftpumpe und am Nordpol
kann der Menſch es nicht aushalten.


In jener Nacht, die ich in Goslar zubrachte, iſt
mir etwas hoͤchſt Seltſames begegnet. Noch immer
kann ich nicht ohne Angſt daran zuruͤck denken. Ich
bin von Natur nicht aͤngſtlich, und Gott weiß,
daß ich niemals eine ſonderliche Beklemmung em¬
pfunden habe, wenn z. B. eine blanke Klinge mit
meiner Naſe Bekanntſchaft zu machen ſuchte, oder
[172] wenn ich mich des Nachts in einem verrufenen
Walde verirrte, oder wenn mich im Conzert ein
gaͤhnender Lieutenant zu verſchlingen drohte —
aber vor Geiſtern fuͤrchte ich mich faſt ſo ſehr wie
der Oeſtreichiſche Beobachter. Was iſt Furcht?
Kommt ſie aus dem Verſtande oder aus dem Ge¬
muͤth? Ueber dieſe Frage diſputirte ich ſo oft mit
dem Doctor Saul Aſcher, wenn wir zu Berlin,
im Café royal, wo ich lange Zeit meinen Mittags¬
tiſch hatte, zufaͤllig zuſammen trafen. Er behaup¬
tete immer: wir fuͤrchten etwas, weil wir es durch
Vernunftſchluͤſſe fuͤr furchtbar erkennen. Nur die
Vernunft ſey eine Kraft, nicht das Gemuͤth. Waͤh¬
rend ich gut aß und gut trank, demonſtrirte er mir
fortwaͤhrend die Vorzuͤge der Vernunft. Gegen
das Ende ſeiner Demonſtration pflegte er nach
ſeiner Uhr zu ſehen, und immer ſchloß er damit:
“Die Vernunft iſt das hoͤchſte Prinzip!” — Ver¬
nunft! Wenn ich jetzt dieſes Wort hoͤre, ſo ſehe
ich noch immer den Doctor Saul Aſcher mit ſei¬
nen abſtrakten Beinen, mit ſeinem engen, trans¬
[173] cendentalgrauen Leibrock, und mit ſeinem ſchroffen,
frierend kalten Geſichte, das einem Lehrbuche der
Geometrie als Kupfertafel dienen konnte. Dieſer
Mann, tief in den Funfzigern, war eine perſonifi¬
zirte grade Linie, und bildete dadurch einen Gegen¬
ſatz zu mir, der ich damals nur in der Hogarth¬
ſchen Wellenlinie lebte. In ſeinem Streben nach
dem Poſitiven, hatte der arme Mann ſich alles Herr¬
liche aus dem Leben heraus philoſophirt, alle Son¬
nenſtrahlen, allen Glauben und alle Blumen, und
es blieb ihm nichts uͤbrig, als das kalte, poſitive
Grab. Auf den Apoll vom Belvedere und auf das
Chriſtenthum hatte er eine ſpezielle Malice. Ge¬
gen letzteres ſchrieb er ſogar eine Broſchuͤre, worin
er deſſen Unvernuͤnftigkeit und Unhaltbarkeit bewies.
Er hat uͤberhaupt eine ganze Menge Buͤcher [ge¬
ſchrieben]
, worin immer die Vernunft von ihrer eige¬
nen Vortrefflichkeit renommirt, und wobey es der
arme Doctor gewiß ernſthaft genug meinte, und
alſo in dieſer Hinſicht alle Achtung verdiente. Da¬
rin aber beſtand ja eben der Hauptſpaß, daß er ein
[174] ſo ernſthaft naͤrriſches Geſicht ſchnitt, wenn er das¬
jenige nicht begreifen konnte, was jedes Kind be¬
greift, eben weil es ein Kind iſt. Einige Mal
beſuchte ich auch den Vernunft-Doctor in ſeinem
eigenen Hauſe, wo ich ſchoͤne Maͤdchen bey ihm
fand; denn die Vernunft verbietet nicht die Sinn¬
lichkeit. Als ich ihn einſt ebenfalls beſuchen wollte,
ſagte mir ſein Bedienter: der Herr Doctor iſt eben
geſtorben. Ich fuͤhlte nicht viel mehr dabey, als
wenn er geſagt haͤtte: der Herr Doctor iſt ausge¬
zogen. —


Doch zuruͤck nach Goslar. “Das hoͤchſte Prin¬
zip iſt die Vernunft!” ſagte ich beſchwichtigend zu
mir ſelbſt, als ich in's Bett ſtieg. Indeſſen, es
half nicht. Ich hatte eben in Varnhagen von
Enſe's “deutſche Erzaͤhlungen,” die ich von Claus¬
thal mitgenommen hatte, jene entſetzliche Geſchichte
geleſen, wie der Sohn, den ſein eigener Vater er¬
morden wollte, in der Nacht von dem Geiſte ſei¬
ner todten Mutter gewarnt wird. Die wunder¬
bare Darſtellung dieſer Geſchichte bewirkte, daß
[175] mich waͤhrend des Leſens ein inneres Grauen durch¬
froͤſtelte. Auch erregen Geſpenſter-Erzaͤhlungen ein
noch ſchauerlicheres Gefuͤhl, wenn man ſie auf der
Reiſe lieſt, und zumal des Nachts, in einer Stadt,
in einem Hauſe, in einem Zimmer, wo man noch
nie geweſen. Wie viel Graͤßliches mag ſich ſchon
zugetragen haben auf dieſem Flecke, wo du eben
liegſt? ſo denkt man unwillkuͤhrlich. Ueberdies ſchien
jetzt der Mond ſo zweideutig in's Zimmer herein,
an der Wand bewegten ſich allerley unberufene
Schatten, und als ich mich im Bette aufrichtete,
um hin zu ſehen, erblickte ich —


Es giebt nichts Unheimlicheres, als wenn man,
bey Mondſchein, das eigne Geſicht zufaͤllig im
Spiegel ſieht. In demſelben Augenblick ſchlug
eine ſchwerfaͤllige, gaͤhnende Glocke, und zwar ſo
lang und langſam, daß ich nach dem zwoͤlften
Glockenſchlage ſicher glaubte, es ſeyen unterdeſſen
volle vier und zwanzig Stunden verfloſſen, und
es muͤßte wieder von vorn anfangen zwoͤlf zu
ſchlagen. Zwiſchen dem vorletzten und letzten
[176] Glockenſchlage ſchlug noch eine andere Uhr, ſehr
raſch, faſt keifend gell, und vielleicht aͤrgerlich uͤber
die Langſamkeit ihrer Frau Gevatterin. Als beide
eiſerne Zungen ſchwiegen, und tiefe Todesſtille im
ganzen Hauſe herrſchte, war es mir ploͤtzlich, als
hoͤrte ich auf dem Corridor, vor meinem Zimmer,
etwas ſchlottern und ſchlappen, wie der unſichere
Gang eines alten Mannes. Endlich oͤffnete ſich
meine Thuͤre, und langſam trat herein der verſtor¬
bene Doctor Saul Aſcher. Ein kaltes Fieber rie¬
ſelte mir durch Mark und Bein, ich zitterte wie
Eſpenlaub, und kaum wagte ich das Geſpenſt an¬
zuſehen. Er ſah aus wie ſonſt, derſelbe trans¬
cendentalgraue Leibrock, dieſelben abſtrakten Beine,
und daſſelbe mathematiſche Geſicht; nur war dieſes
jetzt etwas gelblicher als ſonſt, auch der Mund,
der ſonſt zwei Winkel von 22½ Grad bildete, war
zuſammengekniffen, und die Augenkreiſe hatten
einen groͤßeren Radius. Schwankend, und wie
ſonſt ſich auf ſein ſpaniſches Roͤhrchen ſtuͤtzend,
naͤherte er ſich mir, und in ſeinem gewoͤhnlichen
[177] mundfaulen Dialekte ſprach er freundlich: „Fuͤrch¬
ten Sie ſich nicht, und glauben Sie nicht, daß
ich ein Geſpenſt ſey. Es iſt Taͤuſchung Ihrer
Phantaſie, wenn Sie mich als Geſpenſt zu ſehen
glauben. Was iſt ein Geſpenſt? Geben Sie mir
eine Definition? Deduziren Sie mir die Bedin¬
gungen der Moͤglichkeit eines Geſpenſtes? In
welchem vernuͤnftigen Zuſammenhange ſtaͤnde eine
ſolche Erſcheinung mit der Vernunft? Die Ver¬
nunft, ich ſage die Vernunft —“ Und nun ſchritt
das Geſpenſt zu einer Analyſe der Vernunft, citirte
Kant's „Kritik der reinen Vernunft“ 2ten Theil, 1ſter
[A]bſchnitt, 2tes Buch, 3tes Hauptſtuͤck, die Unter¬
ſch[e]idung von Phaͤnomena und Noumena, conſtru¬
irte [a]lsdann den problematiſchen Geſpenſterglauben,
ſetzte einen Syllogismus auf den andern, und ſchloß
mit dem l[o]giſchen Beweiſe: daß es durchaus keine
Geiſter gie[b]t. Mir unterdeſſen lief der kalte
Schweiß uͤber den Ruͤcken, meine Zaͤhne klapperten
wie Kaſtanietten, aus Seelenangſt nickte ich unbe¬
dingte Zuſtimmung bei jedem Satz, womit der
12[178] ſpukende Doctor die Abſurditaͤt aller Geſpenſterfurcht
bewies, und derſelbe demonſtrirte ſo eifrig, daß
er einmal in der Zerſtreuung, ſtatt ſeiner golde¬
nen Uhr, eine Hand voll Wuͤrmer aus der Uhr¬
taſche zog, und ſeinen Irrthum bemerkend, mit
poſſirlich aͤngſtlicher Haſtigkeit wieder einſteckte.
„Die Vernunft iſt das hoͤchſte — “ da ſchlug die
Glocke Eins und das Geſpenſt verſchwand.


Von Goslar ging ich den andern Morgen wei¬
ter, halb auf Gerathewohl, halb in der Abſicht,
den Bruder des Clausthaler Bergmanns aufzu¬
ſuchen. Wieder ſchoͤnes, liebes Sonntagswetter.
Ich beſtieg Huͤgel und Berge, betrachtete wie [d]ie
Sonne den Nebel zu verſcheuchen ſuchte, wan[d]erte
freudig durch die ſchauernden Waͤlder, [und] um
mein traͤumendes Haupt klingelten die Glocken¬
bluͤmchen von Goslar. In ihren we[i]ßen Nacht¬
maͤnteln ſtanden die Berge, die Tan[n]en ruͤttelten
ſich den Schlaf aus den Gliedern, d[e]r friſche Mor¬
genwind friſirte ihnen die herabhaͤngenden, gruͤnen
Haare, die Voͤglein hielten Betſtunde, das Wie¬
[179] ſenthal blitzte wie eine diamantenbeſaͤete Golddecke,
und der Hirt ſchritt daruͤber hin mit ſeiner laͤuten¬
den Heerde. Ich mochte mich wohl eigentlich ver¬
irrt haben. Man ſchlaͤgt immer Seitenwege und
Fußſteige ein, und glaubt dadurch naͤher zum Ziele
zu gelangen. Wie im Leben uͤberhaupt, geht's uns
auch auf dem Harze. Aber es giebt immer gute
Seelen, die uns wieder auf den rechten Weg brin¬
gen; ſie thun es gern, und finden noch obendrein
ein beſonderes Vergnuͤgen daran, wenn ſie uns
mit ſelbſtgefaͤlliger Miene und wohlwollend lauter
Stimme bedeuten: welche große Umwege wir ge¬
macht, in welche Abgruͤnde und Suͤmpfe wir ver¬
ſinken konnten, und welch ein Gluͤck es ſey, daß
wir ſo wegkundige Leute, wie ſie ſind, noch zeitig
angetroffen. Einen ſolchen Berichtiger fand ich
unweit der Harzburg. Es war ein wohlgenaͤhrter
Buͤrger von Goslar, ein glaͤnzend wampiges,
dummkluges Geſicht; er ſah aus, als habe er
die Viehſeuche erfunden. Wir gingen eine
Strecke zuſammen, und er erzaͤhlte mir allerlei
[180] Spukgeſchichten, die huͤbſch klingen konnten, wenn
ſie nicht alle darauf hinaus liefen, daß es doch kein
wirklicher Spuk geweſen, ſondern, daß die weiße
Geſtalt ein Wilddieb war, und daß die wimmern¬
den Stimmen von den eben geworfenen Jungen
einer Bache (wilden Sau), und das Geraͤuſch auf
dem Boden von der Hauskatze herruͤhrte. Nur
wenn der Menſch krank iſt, ſetzte er hinzu, glaubt
er Geſpenſter zu ſehen; was aber ſeine Wenigkeit
anbelange, ſo ſey er ſelten krank, nur zuweilen
leide er an Hautuͤbeln, und dann kurire er ſich
jedesmal mit nuͤchternem Speichel. Er machte
mich auch aufmerkſam auf die Zweckmaͤßigkeit und
Nuͤtzlichkeit in der Natur. Die Baͤume ſind gruͤn,
weil gruͤn gut fuͤr die Augen iſt. Ich gab ihm
Recht, und fuͤgte hinzu: daß Gott das Rindvieh
erſchaffen, weil Fleiſchſuppen den Menſchen ſtaͤrken,
daß er die Eſel erſchaffen, damit ſie dem Menſchen
zu Vergleichungen dienen koͤnnen, und daß er den
Menſchen ſelbſt erſchaffen, damit er Fleiſchſuppen
eſſen und kein Eſel ſeyn ſoll. Mein Begleiter war
[181] entzuͤckt einen Gleichgeſtimmten gefunden zu ha¬
ben, ſein Antlitz erglaͤnzte noch freudiger, und bey
dem Abſchiede war er geruͤhrt.


So lange er neben mir ging, war gleichſam die
ganze Natur entzaubert, ſobald er aber fort war
fingen die Baͤume wieder an zu ſprechen, und die
Sonnenſtrahlen erklangen, und die Wieſenbluͤm¬
chen tanzten, und der blaue Himmel umarmte die
gruͤne Erde. Ja, ich weiß es beſſer; Gott hat
den Menſchen erſchaffen, damit er die Herrlichkeit
der Welt bewundere. Jeder Autor, und ſey er
noch ſo groß, wuͤnſcht, daß ſein Werk gelobt werde.
Und in der Bibel, den Memoiren Gottes, ſteht
ausdruͤcklich: daß er die Menſchen erſchaffen zu ſei¬
nem Ruhm und Preis.


Nach einem langen Hin- und Herwandern ge¬
langte ich zu der Wohnung des Bruders meines
Clausthaler Freundes, uͤbernachtete alldort, und er¬
lebte folgendes ſchoͤne Gedicht:


[182]
I.
Auf dem Berge ſteht die Huͤtte,

Wo der alte Bergmann wohnt;

Dorten rauſcht die gruͤne Tanne,

Und erglaͤnzt der gold'ne Mond.
In der Huͤtte ſteht ein Lehnſtuhl,

Reich geſchnitzt und wunderlich,

Der darauf ſitzt, der iſt gluͤcklich,

Und der Gluͤckliche bin Ich!
Auf dem Schemel ſitzt die Kleine,

Stuͤtzt den Arm auf meinen Schooß;

Aeuglein wie zwey blaue Sterne,

Muͤndlein wie die Purpurroſ'.
Und die lieben, blauen Sterne

Schau'n mich an ſo himmelgroß,

Und ſie legt den Liljenfinger

Schalkhaft auf die Purpurroſ'.
[183]
Nein, es ſieht uns nicht die Mutter,

Denn ſie ſpinnt mit großem Fleiß,

Und der Vater ſpielt die Zitter,

Und er ſingt die alte Weiſ'.
Und die Kleine fluͤſtert leiſe‚

Leiſe, mit gedaͤmpftem Laut;

Manches wichtige Geheimniß

Hat ſie mir ſchon anvertraut.
„Aber ſeit die Muhme todt iſt,

Koͤnnen wir ja nicht mehr geh'n

Nach dem Schuͤtzenhof zu Goslar,

Und dort iſt es gar zu ſchoͤn.
„Hier dagegen iſt es einſam,

Auf der kalten Bergeshoͤh',

Und des Winters ſind wir gaͤnzlich

Wie vergraben in dem Schnee.
„Und ich bin ein banges Maͤdchen,

Und ich fuͤrcht' mich wie ein Kind

Vor den boͤſen Bergesgeiſtern,

Die des Nachts geſchaͤftig ſind.“
[184]
Ploͤtzlich ſchweigt die liebe Kleine,

Wie vom eig'nen Wort erſchreckt,

Und ſie hat mit beyden Haͤndchen

Ihre Aeugelein bedeckt.
Lauter rauſcht die Tanne draußen,

Und das Spinnrad ſchnarrt und brummt,

Und die Zitter klingt dazwiſchen,

Und die alte Weiſe ſummt:
“Fuͤrcht' dich nicht, du liebes Kindchen,

Vor der boͤſen Geiſter Macht;

Tag und Nacht, du liebes Kindchen,

Halten Englein bey dir Wacht!”
II.
Tannenbaum, mit gruͤnen Fingern,

Pocht an's nied're Fenſterlein,

Und der Mond, der gelbe Lauſcher,

Wirft ſein ſuͤßes Licht herein.
[185]
Vater, Mutter ſchnarchen leiſe

In dem nahen Schlafgemach,

Doch wir Beyde, ſelig ſchwatzend,

Halten uns einander wach.
„Daß du gar zu oft gebetet,

Das zu glauben wird mir ſchwer,

Jenes Zucken deiner Lippen

Kommt wohl nicht vom Beten her.
„Jenes boͤſe, kalte Zucken,

Das erſchreckt mich jedesmal,

Doch die dunkle Angſt beſchwichtigt

Deiner Augen frommer Strahl.
„Auch bezweifl' ich, daß du glaubeſt,

Was ſo rechter Glauben heißt,

Glaubſt wohl nicht an Gott den Vater,

An den Sohn und heil'gen Geiſt?“ —
Ach, mein Kindchen, ſchon als Knabe,

Als ich ſaß auf Mutters Schooß,

Glaubte ich an Gott den Vater,

Der da waltet gut und groß;
[186]
Der die ſchoͤne Erd' erſchaffen,

Und die ſchoͤnen Menſchen d'rauf,

Der den Sonnen, Monden, Sternen,

Vorgezeichnet ihren Lauf.
Als ich groͤßer wurde, Kindchen,

Noch viel mehr begriff ich ſchon,

Und begriff, und ward vernuͤnftig,

Und ich glaub' auch an den Sohn;
An den lieben Sohn, der liebend

Uns die Liebe offenbart,

Und zum Lohne, wie gebraͤuchlich,

Von dem Volk gekreuzigt ward.
Jetzo, da ich ausgewachſen,

Viel geleſen, viel gereiſt,

Schwillt mein Herz, und ganz von Herzen

Glaub' ich an den heil'gen Geiſt.
Dieſer that die groͤßten Wunder,

Und viel groͤß're thut er noch;

Er zerbrach die Zwingherrnburgen,

Und zerbrach des Knechtes Joch.
[187]
Alte Todeswunden heilt er,

Und erneut das alte Recht:

Alle Menſchen, gleichgeboren,

Sind ein adliches Geſchlecht.
Er verſcheucht die boͤſen Nebel,

Und das dunkle Hirngeſpinſt,

Das uns Lieb' und Luſt verleidet,

Tag und Nacht uns angegrinzt.
Tauſend Ritter, wohlgewappnet,

Hat der heil'ge Geiſt erwaͤhlt,

Seinen Willen zu erfuͤllen,

Und er hat ſie muthbeſeelt.
Ihre theuern Schwerdter blitzen,

Ihre guten Banner weh'n!

Ey, du moͤchteſt wohl, mein Kindchen,

Solche ſtolze Ritter ſeh'n?
Nun, ſo ſchau' mich an, mein Kindchen,

Kuͤſſe mich und ſchaue dreiſt;

Denn ich ſelber bin ein ſolcher

Ritter von dem heil'gen Geiſt.
[188]
III.
Still verſteckt der Mond ſich draußen

Hinter'm gruͤnen Tannenbaum,

Und im Zimmer unſre Lampe

Flackert matt und leuchtet kaum.
Aber meine blauen Sterne

Strahlen auf in heller'm Licht,

Und es gluͤhn die Purpurroͤslein,

Und das liebe Maͤdchen ſpricht:
“Kleines Voͤlkchen, Wichtelmaͤnnchen,

Stehlen unſer Brod und Speck,

Abends liegt es noch im Kaſten,

Und des Morgens iſt es weg.
“Kleines Voͤlkchen, unſre Sahne

Naſcht es von der Milch, und laͤßt

Unbedeckt die Schuͤſſel ſtehen,

Und die Katze ſaͤuft den Reſt.
[189]
„Und die Katz' iſt eine Hexe,

Denn ſie ſchleicht, bey Nacht und Sturm,

Druͤben nach dem Geiſterberge,

Nach dem altverfall'nen Thurm.
„Dort hat einſt ein Schloß geſtanden,

Voller Luſt und Waffenglanz;

Blanke Ritter, Frau'n und Knappen

Schwangen ſich im Fackeltanz.
„Da verwuͤnſchte Schloß und Leute

Eine boͤſe Zauberin,

Nur die Truͤmmer blieben ſtehen,

Und die Eulen niſten d'rin.
„Doch die ſel'ge Muhme ſagte:

Wenn man ſpricht das rechte Wort,

Naͤchtlich zu der rechten Stunde,

Druͤben an dem rechten Ort;
„So verwandeln ſich die Truͤmmer

Wieder in ein helles Schloß,

Und es tanzen wieder luſtig

Ritter, Frau'n und Knappentroß;
[190]
“Und wer jenes Wort geſprochen,

Dem gehoͤren Schloß und Leut',

Pauken und Trompeten huld'gen

Seiner jungen Herrlichkeit.”
Alſo bluͤhen Maͤhrchenbilder

Aus des Mundes Roͤſelein,

Und die Augen gießen druͤber

Ihren blauen Sternenſchein.
Ihre gold'nen Haare wickelt

Mir die Kleine um die Haͤnd',

Giebt den Fingern huͤbſche Namen,

Lacht und kuͤßt, und ſchweigt am End'.
Und im ſtillen Zimmer Alles

Blickt mich an ſo wohlvertraut;

Tiſch und Schrank, mir iſt als haͤtt' ich

Sie ſchon fruͤher mal geſchaut.
Freundlich ernſthaft ſchwatzt die Wanduhr,

Und die Zitter, hoͤrbar kaum,

Faͤngt von ſelber an zu klingen,

Und ich ſitze wie im Traum.
[191]
Jetzo iſt die rechte Stunde,

Und es iſt der rechte Ort;

Staunen wuͤrdeſt du, mein Kindchen,

Spraͤch' ich aus das rechte Wort.
Sprech' ich jenes Wort, ſo daͤmmert

Und erbebt die Mitternacht,

Bach und Tannen brauſen lauter,

Und der alte Berg erwacht.
Zitterklang und Zwergenlieder

Toͤnen aus des Berges Spalt,

Und es ſprießt, wie'n toller Fruͤhling,

D'raus hervor ein Blumenwald;
Blumen, kuͤhne Wunderblumen,

Blaͤtter, breit und fabelhaft,

Duftig bunt und haſtig regſam,

Wie gedraͤngt von Leidenſchaft.
Roſen, wild wie rothe Flammen,

Spruͤh'n aus dem Gewuͤhl hervor;

Liljen, wie kryſtall'ne Pfeiler,

Schießen himmelhoch empor.
[192]
Und die Sterne, groß wie Sonnen,

Schau'n herab mit Sehnſuchtgluth;

In der Liljen Rieſenkelche

Stroͤmet ihre Strahlenfluth.
Doch wir ſelber, ſuͤßes Kindchen,

Sind verwandelt noch viel mehr;

Fackelglanz und Gold und Seide

Schimmern luſtig um uns her.
Du, du wurdeſt zur Prinzeſſin,

Dieſe Huͤtte ward zum Schloß,

Und da jubeln und da tanzen

Ritter, Frau'n und Knappentroß.
Aber Ich, ich hab' erworben

Dich und Alles, Schloß und Leut';

Pauken und Trompeten huld'gen

Meiner jungen Herrlichkeit!
[193]

Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie
Geſpenſter bey'm dritten Hahnenſchrey. Ich ſtieg
wieder bergauf und bergab, und vor mir ſchwebte
die ſchoͤne Sonne, immer neue Schoͤnheiten be¬
leuchtend. Der Geiſt des Gebirges beguͤnſtigte mich
ganz offenbar: er wußte wohl, daß ſo ein Dichter¬
menſch viel Huͤbſches wiedererzaͤhlen kann, und
er ließ mich dieſen Morgen ſeinen Harz ſehen,
wie ihn gewiß nicht Jeder ſah. Aber auch mich
ſah der Harz, wie mich nur Wenige geſehen; in
meinen Augenwimpern flimmerten eben ſo koſt¬
bare Perlen, wie in den Graͤſern des Thals. Mor¬
genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die
rauſchenden Tannen verſtanden mich, ihre Zweige
thaten ſich von einander, bewegten ſich herauf und
herab, gleich ſtummen Menſchen, die mit den Haͤn¬
den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's
wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengelaͤute einer
verlornen Waldkirche. Man ſagt, das ſeyen die
Heerdengloͤckchen, die im Harz ſo lieblich, klar und
rein geſtimmt ſind.


13[194]

Nach dem Stand der Sonne war es Mit¬
tag, als ich auf eine ſolche Heerde ſtieß, und der
Hirt, ein freundlich blonder junger Menſch, ſagte
mir: der große Berg, an deſſen Fuß ich ſtaͤnde,
ſey der alte, weltberuͤhmte Brocken. Viele Stun¬
den ringsum liegt kein Haus, und ich war froh
genug, daß mich der junge Menſch einlud, mit
ihm zu eſſen. Wir ſetzten uns nieder zu einem
Dejeuner dinatoire, das aus Kaͤſe und Brod be¬
ſtand; die Schaͤfchen erhaſchten die Krumen, die
lieben, blanken Kuͤhlein ſprangen um uns herum,
und klingelten ſchelmiſch mit ihren Gloͤckchen, und
lachten uns an mit ihren großen, vergnuͤgten Au¬
gen. Wir tafelten recht koͤniglich; uͤberhaupt ſchien
mir mein Wirth ein echter Koͤnig, und weil er
bis jetzt der einzige Koͤnig iſt, der mir Brod gege¬
ben hat, ſo will ich ihn auch koͤniglich beſingen.


Koͤnig iſt der Hirtenknabe,

Gruͤner Huͤgel iſt ſein Thron,

Ueber ſeinem Haupt die Sonne

Iſt die ſchwere, gold'ne Kron'.
[195]
Ihm zu Fuͤßen liegen Schafe,

Weiche Schmeichler, rothbekreuzt;

Cavaliere ſind die Kaͤlber,

Und ſie wandeln ſtolz geſpreizt.
Hofſchauſpieler ſind die Boͤcklein,

Und die Voͤgel und die Kuͤh',

Mit den Floͤten, mit den Gloͤcklein,

Sind die Kammermuſizi.
Und das klingt und ſingt ſo lieblich,

Und ſo lieblich rauſchen d'rein

Waſſerfall und Tannenbaͤume,

Und der Koͤnig ſchlummert ein.
Unterdeſſen muß regieren

Der Miniſter, jener Hund,

Deſſen knurriges Gebelle

Wiederhallet in der Rund'.
Schlaͤfrig lallt der junge Koͤnig:

“Das Regieren iſt ſo ſchwer,

Ach, ich wollt', daß ich zu Hauſe

Schon bey meiner Koͤn'gin waͤr'!
[196]
“In den Armen meiner Koͤn'gin

Ruht mein Koͤnigshaupt ſo weich,

Und in ihren lieben Augen

Liegt mein unermeßlich Reich!”

Wir nahmen freundſchaftlich Abſchied, und froͤh¬
lich ſtieg ich den Berg hinauf. Bald empfing mich
eine Waldung himmelhoher Tannen, fuͤr die ich,
in jeder Hinſicht, Reſpekt habe. Dieſen Baͤumen
iſt naͤmlich das Wachſen nicht ſo ganz leicht ge¬
macht worden, und ſie haben es ſich in der Ju¬
gend ſauer werden laſſen. Der Berg iſt hier
mit vielen großen Granitbloͤcken uͤberſaͤet, und
die meiſten Baͤume mußten mit ihren Wurzeln
dieſe Steine umranken oder ſprengen, und muͤhſam
den Boden ſuchen, woraus ſie Nahrung ſchoͤpfen
koͤnnen. Hier und da liegen die Steine, gleich¬
ſam ein Thor bildend, uͤber einander, und oben
darauf ſtehen die Baͤume, die nackten Wurzeln
uͤber jene Steinpforte hinziehend, und erſt am Fuße
derſelben den Boden erfaſſend, ſo daß ſie in der
[197] freien Luft zu wachſen ſcheinen. Und doch haben
ſie ſich zu jener gewaltigen Hoͤhe empor geſchwun¬
gen, und, mit den umklammerten Steinen wie zu¬
ſammengewachſen, ſtehen ſie feſter als ihre beque¬
men Collegen im zahmen Forſtboden des flachen Lan¬
des. So ſtehen auch im Leben jene großen Maͤn¬
ner, die durch das Ueberwinden fruͤher Hemmun¬
gen und Hinderniſſe ſich erſt recht geſtaͤrkt und be¬
feſtigt haben. Auf den Zweigen der Tannen klet¬
terten Eichhoͤrnchen und unter denſelben ſpazier¬
ten die gelben Hirſche. Wenn ich ſolch ein lie¬
bes, edles Thier ſehe, ſo kann ich nicht begrei¬
fen, wie gebildete Leute Vergnuͤgen daran finden,
es zu hetzen und zu toͤdten. Solch ein Thier
war barmherziger als die Menſchen, und ſaͤugte
den ſchmachtenden Schmerzenreich der heiligen
Genovefa.


Allerliebſt ſchoſſen die goldenen Sonnenlichter
durch das dichte Tannengruͤn. Eine natuͤrliche
Treppe bildeten die Baumwurzeln. Ueberall ſchwel¬
lende Moosbaͤnke; denn die Steine ſind fußhoch
[198] von den ſchoͤnſten Moosarten, wie mit hellgruͤnen
Sammetpolſtern, bewachſen. Liebliche Kuͤhle und
traͤumeriſches Quellengemurmel. Hier und da ſieht
man, wie das Waſſer unter den Steinen ſilberhell
hinrieſelt und die nackten Baumwurzeln und Faſern
beſpuͤlt. Wenn man ſich nach dieſem Treiben hinab
beugt, ſo belauſcht man gleichſam die geheime Bil¬
dungsgeſchichte der Pflanzen und das ruhige Herz¬
klopfen des Berges. An manchen Orten ſprudelt
das Waſſer aus den Steinen und Wurzeln ſtaͤrker
hervor und bildet kleine Kaskaden. Da laͤßt ſich
gut ſitzen. Es murmelt und rauſcht ſo wunderbar,
die Voͤgel ſingen abgebrochene Sehnſuchtslaute, die
Baͤume fluͤſtern wie mit tauſend Maͤdchen-Zungen,
wie mit tauſend Maͤdchen-Augen ſchauen uns an
die ſeltſamen Bergblumen, ſie ſtrecken nach uns
aus die wunderſam breiten, drollig gezackten Blaͤt¬
ter, ſpielend flimmern hin und her die luſtigen
Sonnenſtrahlen, die ſinnigen Kraͤutlein erzaͤhlen
ſich gruͤne Maͤhrchen, es iſt Alles wie verzau¬
bert, es wird immer heimlicher und heimlicher,
[199] ein uralter Traum wird lebendig, die Geliebte
erſcheint — ach, daß ſie ſo ſchnell wieder ver¬
ſchwindet!


Je hoͤher man den Berg hinauf ſteigt, deſto
kuͤrzer, zwerghafter werden die Tannen, ſie ſcheinen
immer mehr und mehr zuſammen zu ſchrumpfen,
bis nur Heidelbeer- und Rothbeer-Straͤuche und
Bergkraͤuter uͤbrig bleiben. Da wird es auch ſchon
fuͤhlbar kaͤlter. Die wunderlichen Gruppen der
Granitbloͤcke werden hier erſt recht ſichtbar; dieſe
ſind oft von erſtaunlicher Groͤße. Das moͤgen wohl
die Spielbaͤlle ſeyn, die ſich die boͤſen Geiſter ein¬
ander zuwerfen in der Walpurgis-Nacht, wenn hier
die Hexen auf Beſenſtielen und Miſtgabeln einher¬
geritten kommen, und die abentheuerlich verruchte
Luſt beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzaͤhlt,
und wie es zu ſchauen iſt auf den huͤbſchen Fauſt¬
bildern des Meiſter Retzſch. Ja, ein junger Dich¬
ter, der auf einer Reiſe von Berlin nach Goͤttin¬
gen in der erſten Mainacht am Brocken vorbey ritt,
bemerkte ſogar, wie einige belletriſtiſche Damen auf
[200] einer Bergecke ihre aͤſthetiſche Thee-Geſellſchaft hiel¬
ten, ſich gemuͤthlich die „Abendzeitung“ vorlaſen,
ihre poetiſchen Ziegenboͤckchen, die meckernd den Thee¬
tiſch umhuͤpften, als Univerſal-Genies prieſen, und
uͤber alle Erſcheinungen in der deutſchen Literatur ihr
Endurtheil faͤllten; doch, als ſie auch auf den „Rat¬
kliff“ und „Almanſor“ geriethen, und dem Verfaſſer
alle Froͤmmigkeit und Chriſtlichkeit abſprachen, da
ſtraͤubte ſich das Haar des jungen Mannes, Ent¬
ſetzen ergriff ihn — ich gab dem Pferde die Sporen
und jagte voruͤber.


In der That, wenn man die obere Haͤlfte des
Brockens beſteigt, kann man ſich nicht erwehren,
an die ergoͤtzlichen Blocksberg-Geſchichten zu denken,
und beſonders an die große, myſtiſche, deutſche Na¬
tional-Tragoͤdie vom Docter Fauſt. Mir war im¬
mer, als ob der Pferdefuß neben mir hinauf klet¬
tere, und Jemand humoriſtiſch Athem ſchoͤpfe. Und
ich glaube, auch Mephiſto muß mit Muͤhe Athem
holen, wenn er ſeinen Lieblingsberg erſteigt; es iſt
ein aͤußerſt erſchoͤpfender Weg, und ich war froh,
[201] als ich endlich das langerſehnte Brockenhaus zu
Geſicht bekam.


Dieſes Haus, das, wie durch vielfache Abbil¬
dungen bekannt iſt, bloß aus einem Parterre beſteht,
und auf der Spitze des Berges liegt, wurde erſt
1800 vom Grafen Stollberg-Wernigerode erbaut,
fuͤr deſſen Rechnung es auch, als Wirthshaus, ver¬
waltet wird. Die Mauern ſind erſtaunlich dick, we¬
gen des Windes und der Kaͤlte im Winter: das
Dach iſt niedrig, in der Mitte deſſelben ſteht eine
thurmartige Warte, und bei dem Hauſe liegen noch
zwei kleine Nebengebaͤude, wovon das eine, in
fruͤhern Zeiten, den Brockenbeſuchern zum Obdach
diente.


Der Eintritt in das Brockenhaus erregte bei
mir eine etwas ungewoͤhnliche, maͤhrchenhafte Em¬
pfindung. Man iſt nach einem langen, einſamen
Umherſteigen durch Tannen und Klippen ploͤtzlich
in ein Wolkenhaus verſetzt; Staͤdte, Berge und
Waͤlder blieben unten liegen, und oben findet man
eine wunderlich zuſammengeſetzte, fremde Geſell¬
[202] ſchaft, von welcher man, wie es an dergleichen Orten
natuͤrlich iſt, faſt wie ein erwarteter Genoſſe, halb
neugierig und halb gleichguͤltig, empfangen wird.
Ich fand das Haus voller Gaͤſte, und wie es
einem klugen Manne geziemt, dachte ich ſchon an
die Nacht, an die Unbehaglichkeit eines Strohla¬
gers; mit hinſterbender Stimme verlangte ich
gleich Thee, und der Herr Brockenwirth war
vernuͤnftig genug einzuſehen, daß ich kranker
Menſch fuͤr die Nacht ein ordentliches Bett ha¬
ben muͤſſe. Dieſes verſchaffte er mir in einem
engen Zimmerchen, wo ſchon ein junger Kauf¬
mann, ein langes Brechpulver in einem braunen
Oberrock, ſich etablirt hatte. In der Wirthsſtube
fand ich lauter Leben und Bewegung. Studenten
von verſchiedenen Univerſitaͤten. Die Einen ſind
kurz vorher angekommen und reſtauriren ſich, An¬
dere bereiten ſich zum Abmarſch, ſchnuͤren ihre
Ranzen, ſchreiben ihre Namen in's Gedaͤchtnißbuch,
erhalten Brockenſtraͤuße von den Hausmaͤdchen; da
wird in die Wangen gekniffen, geſungen, geſprungen,
[203] gejohlt, man fragt, man antwortet, gut Wetter,
Fußweg, Proſit, Adieu. Einige der Abgehenden
ſind auch etwas angeſoffen, und dieſe haben von
der ſchoͤnen Ausſicht einen doppelten Genuß, da
ein Betrunkener Alles doppelt ſieht.


Nachdem ich mich etwas rekreirt, beſtieg ich die
Thurmwarte, und fand daſelbſt einen kleinen Herrn
mit zwey Damen, einer jungen und einer aͤltlichen.
Die junge Dame war ſehr ſchoͤn. Eine herrliche
Geſtalt, auf dem lockigen Haupte ein helmartiger,
ſchwarzer Atlashut, mit deſſen weißen Federn die
Winde ſpielten, die ſchlanken Glieder von einem
ſchwarzſeidenen Mantel ſo feſt umſchloſſen, daß die
edlen Formen hervortraten, und das freie, große
Auge ruhig hinabſchauend in die freie, große Welt.


Als ich noch ein Knabe war, dachte ich an
nichts als an Zauber- und Wundergeſchichten, und
jede ſchoͤne Dame, die Straußfedern auf dem Kopfe
trug, hielt ich fuͤr eine Elfen-Koͤnigin, und jede
ſchoͤne Dame, bey der ich bemerkte, daß die Schleppe
ihres Kleides naß war, hielt ich fuͤr eine Waſſer¬
[204] Nixe. Jetzt denke ich anders, ſeit ich aus der Na¬
turgeſchichte weiß, daß jene ſymboliſchen Federn
von dem duͤmmſten Vogel herkommen, und daß die
Schleppe eines Damenkleides auf ſehr natuͤrliche
Weiſe naß werden kann. Haͤtte ich mit jenen Kna¬
ben-Augen die erwaͤhnte junge Schoͤne, in erwaͤhnter
Stellung, auf dem Brocken geſehen, ſo wuͤrde ich
ſicher gedacht haben: das iſt die Fee des Berges,
und ſie hat eben den Zauber ausgeſprochen, wodurch
dort unten Alles ſo wunderbar erſcheint. Ja, in
hohem Grade wunderbar erſcheint uns Alles bey'm
erſten Hinabſchauen vom Brocken, alle Seiten un¬
ſeres Geiſtes empfangen neue Eindruͤcke, und dieſe,
meiſtens verſchiedenartig, ſogar ſich widerſprechend,
verbinden ſich in unſerer Seele zu einem großen,
noch unentworrenen, unverſtandenen Gefuͤhl. Ge¬
lingt es uns, dieſes Gefuͤhl in ſeinem Begriffe zu
erfaſſen, ſo erkennen wir den Charakter des Ber¬
ges. Dieſer Charakter iſt ganz deutſch, ſowohl in
Hinſicht ſeiner Fehler, als auch ſeiner Vorzuͤge.
Der Brocken iſt ein Deutſcher. Mit deutſcher
[205] Gruͤndlichkeit zeigt er uns, klar und deutlich, wie
ein Rieſen-Panorama, die vielen hundert Staͤdte,
Staͤdtchen und Doͤrfer, die meiſtens noͤrdlich liegen,
und ringsrum alle Berge, Waͤlder, Fluͤſſe, Flaͤchen,
unendlich weit. Aber eben dadurch erſcheint Alles
wie eine ſcharfgezeichnete, rein illuminirte Spezial¬
karte, nirgends wird das Auge durch eigentlich
ſchoͤne Landſchaften erfreut; wie es immer geſchieht,
daß wir deutſchen Compilatoren, wegen der ehrli¬
chen Genauigkeit, womit wir Alles und Alles hin¬
geben wollen, nie daran denken koͤnnen, das Ein¬
zelne auf eine ſchoͤne Weiſe zu geben. Der Berg
hat auch ſo etwas Deutſchruhiges, Verſtaͤndiges,
Tolerantes; eben weil er die Dinge ſo weit und klar
uͤberſchauen kann. Und wenn ſolch ein Berg ſeine
Rieſen-Augen oͤffnet, mag er wohl noch etwas
mehr ſehen, als wir Zwerge, die wir mit unſern
bloͤden Aeuglein auf ihm herum klettern. Viele
wollen zwar behaupten, der Brocken ſey ſehr phi¬
liſtroͤſe, und Claudius ſang: “Der Blocksberg iſt
der lange Herr Philiſter!” Aber das iſt Irrthum.
[206] Durch ſeinen Kahlkopf, den er zuweilen mit einer
weißen Nebelkappe bedeckt, giebt er ſich zwar einen
Anſtrich von Philiſtroͤſitaͤt; aber, wie bey manchen
andern großen Deutſchen, geſchieht es aus purer
Ironie. Es iſt ſogar notoriſch, daß der Brocken
ſeine burſchikoſen, phantaſtiſchen Zeiten hat, zum
Beiſpiel die erſte Mai-Nacht. Dann wirft er ſeine
Nebelkappe jubelnd in die Luͤfte, und wird, eben
ſo gut wie wir Uebrigen, recht echtdeutſch roman¬
tiſch verruͤckt.


Ich ſuchte gleich die ſchoͤne Dame in ein Ge¬
ſpraͤch zu verflechten; denn Naturſchoͤnheiten ge¬
nießt man erſt recht, wenn man ſich auf der
Stelle daruͤber ausſprechen kann. Sie war nicht
geiſtreich, aber aufmerkſam ſinnig. Wahrhaft vor¬
nehme Formen. Ich meine nicht die gewoͤhnliche,
ſteife, negative Vornehmheit, die uns genau ſagt,
was unterlaſſen werden muß; ſondern jene ſelt¬
nere, freie, poſitive Vornehmheit, die uns genau
ſagt, was wir thun duͤrfen, und die uns, bey aller
Unbefangenheit, die hoͤchſte geſellige Sicherheit
[207] giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬
wunderung, viele geographiſche Kenntniſſe, nannte
der wißbegierigen Schoͤnen alle Namen der Staͤdte,
die vor uns lagen, ſuchte und zeigte ihr dieſelben
auf meiner Landkarte, die ich uͤber den Steintiſch,
der in der Mitte der Thurmplatte ſteht, mit echter
Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt
konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr
mit den Fingern ſuchte, als mit den Augen, die
ſich unterdeſſen auf dem Geſicht der holden Dame
orientirten, und dort ſchoͤnere Partieen fanden,
als „Schierke“ und „Elend.“ Dieſes Geſicht ge¬
hoͤrte zu denen, die nie reizen, ſelten entzuͤcken,
und immer gefallen. Ich liebe ſolche Geſichter,
weil ſie mein ſchlimmbewegtes Herz zur Ruhe laͤ¬
cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬
gleich ſchon in jener Vollbluͤthe, die zum Eheſtande
hinlaͤnglich berechtigt. Aber es iſt ja eine taͤgliche
Erſcheinung, juſt bey den ſchoͤnſten Maͤdchen haͤlt
es ſo ſchwer, daß ſie einen Mann bekom¬
men. Dies war ſchon im Alterthum der Fall,
[208] und, wie bekannt iſt, alle drey Grazien ſind ſitzen
geblieben.


In welchem Verhaͤltniß der kleine Herr, der
die Damen begleitete, zu denſelben ſtehen mochte,
konnte ich nicht errathen. Es war eine duͤnne,
merkwuͤrdige Figur. Ein Koͤpfchen, ſparſam be¬
deckt mit grauen Haͤrchen, die uͤber die kurze Stirn
bis an die gruͤnlichen Libellen-Augen reichten, die
runde Naſe weit hervor tretend, dagegen Mund
und Kinn ſich wieder aͤngſtlich nach den Ohren zu¬
ruͤck ziehend. Dieſes Geſichtchen ſchien aus einem
zarten, gelblichen Tone zu beſtehn, woraus die
Bildhauer ihre erſten Modelle kneten; und wenn
die ſchmalen Lippen zuſammen kniffen, zogen ſich
uͤber die Wangen einige tauſend halbkreisartige,
feine Faͤltchen. Der kleine Mann ſprach kein
Wort, und nur dann und wann, wenn die aͤltere
Dame ihm etwas Freundliches zufluͤſterte, laͤchelte
er wie ein Mops, der den Schnupfen hat.


Jene aͤltere Dame war die Mutter der juͤnge¬
ren, und auch ſie beſaß die vornehmſten Formen.
[209] Ihr Auge verrieth einen krankhaft-ſchwaͤrmeriſchen
Tiefſinn, um ihren Mund lag ſtrenge Froͤmmigkeit,
doch ſchien mir's, als ob er einſt ſehr ſchoͤn gewe¬
ſen ſey, und viel gelacht und viele Kuͤſſe empfangen
und viele erwiedert habe. Ihr Geſicht glich einem
Codex palympſeſtus, wo, unter der neuſchwarzen
Moͤnchsſchrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬
loſchenen Verſe eines altgriechiſchen Liebes-Dichters
hervorlauſchen. Beyde Damen waren mit ihrem
Begleiter dieſes Jahr in Italien geweſen, und
erzaͤhlten mir allerley Schoͤnes von Rom, Florenz
und Venedig. Die Mutter erzaͤhlte viel von den
Raphaelſchen Bildern in der Peterskirche; die
Tochter ſprach mehr von der Oper im Theater
Fenice. Beyde waren entzuͤckt von der Kunſt der
Improviſatoren. Nuͤrnberg war der Damen Va¬
terſtadt; doch von deſſen alterthuͤmlichen Herrlich¬
keiten wußten ſie mir wenig zu ſagen. Die hold¬
ſelige Kunſt des Meiſtergeſangs, wovon uns der
gute Wagenſeil die letzten Klaͤnge erhalten, iſt er¬
loſchen, und die Buͤrgerinnen Nuͤrnbergs erbauen
14[210] ſich an welſchem Stegreif-Unſinn und Kapaunen-
Geſang. O Sanct Sebaldus, was biſt du jetzt
fuͤr ein armer Patron!


Derweilen wir ſprachen, begann es zu daͤmmern;
die Luft wurde noch kaͤlter, die Sonne neigte ſich
tiefer, und die Thurmplatte fuͤllte ſich mit Studen¬
ten, Handwerksburſchen und einigen ehrſamen Buͤr¬
gerleuten, ſammt deren Frauen und Toͤchtern, die
Alle den Sonnen-Untergang ſehen wollten. Es iſt
ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet
ſtimmt. Wohl eine Viertelſtunde ſtanden Alle ernſt¬
haft ſchweigend, und ſahen, wie der ſchoͤne Feuer¬
ball im Weſten allmaͤhlig verſank; die Geſichter
wurden vom Abendroth angeſtrahlt, die Haͤnde fal¬
teten ſich unwillkuͤhrlich; es war, als ſtaͤnden wir,
eine ſtille Gemeinde, im Schiffe eines Rieſendoms,
und der Prieſter erhoͤbe jetzt den Leib des Herrn,
und von der Orgel herab ergoͤſſe ſich Paleſtrina's
ewiger Choral.


Waͤhrend ich ſo in Andacht verſunken ſtehe,
hoͤre ich, daß neben mir Jemand ausruft: „Wie
[211] iſt die Natur doch im Allgemeinen ſo ſchoͤn!” Dieſe
Worte kamen aus der gefuͤhlvollen Bruſt meines
Zimmergenoſſen, des jungen Kaufmanns. Ich ge¬
langte dadurch wieder zu meiner Werkeltags-Stim¬
mung, war jetzt im Stande, den Damen uͤber den
Sonnen-Untergang recht viel Artiges zu ſagen, und
ſie ruhig, als waͤre nichts paſſirt, nach ihrem Zim¬
mer zu fuͤhren. Sie erlaubten mir auch, ſie noch
eine Stunde zu unterhalten. Wie die Erde ſelbſt
drehte ſich unſre Unterhaltung um die Sonne. Die
Mutter aͤußerte: die in Nebel verſinkende Sonne
habe ausgeſehen wie eine rothgluͤhende Roſe, die
der galante Himmel herab geworfen in den weit¬
ausgebreiteten, weißen Brautſchleier ſeiner gelieb¬
ten Erde. Die Tochter laͤchelte und meinte, der
oͤftere Anblick ſolcher Naturerſcheinungen ſchwaͤche
ihren Eindruck. Die Mutter berichtigte dieſe falſche
Meinung durch eine Stelle aus Goͤthes Reiſebrie¬
fen, und die Rede kam auf Goͤthes Werke. Kei¬
ner meiner aͤſthetiſchen Collegen wuͤrde ſich hier die
Gelegenheit rauben laſſen, uͤber letztere ein lang
[212] und breites Geſpraͤch einzuflechten. Aber ich
ſchreibe nicht gerne was unwahr iſt, und wir
haben wirklich nicht lange uͤber Goͤthe geſprochen,
indem ich, aus Furcht, daß ich mich, wie ein
deutſcher Literatus, am Lieblingsthema feſtſchwatzen
moͤchte, das Geſpraͤch auf andre Gegenſtaͤnde lei¬
tete, und ſo kamen wir auf roͤmiſche Vaſen, An¬
gorakatzen, Lord Byron, Makaroni, tuͤrkiſche
Shawls u. ſ. w. Die aͤltere Dame liſpelte ſehr
huͤbſch einige Sonnenuntergangsſtellen aus Byrons
Gedichten. Der juͤngern Dame, die kein Engliſch
verſtand, und jene Gedichte kennen lernen wollte,
empfahl ich die Ueberſetzungen meiner ſchoͤnen,
geiſtreichen Landsmaͤnnin, der Baronin Eliſe von
Hohenhauſen; bey welcher Gelegenheit ich nicht
ermangelte, wie ich gegen junge Damen zu thun
pflege, uͤber Byrons Gottloſigkeit, Liebloſigkeit,
Troſtloſigkeit, und der Himmel weiß was noch
mehr, zu eifern.


Nach dieſem Geſchaͤfte ging ich noch auf dem
Brocken ſpazieren; denn ganz dunkel wird es dort
[213] nie. Der Nebel war nicht ſtark, und ich betrach¬
tete die Umriſſe der beyden Huͤgel, die man den
Hexen-Altar und die Teufels-Kanzel nennt. Ich
ſchoß meine Piſtolen ab, doch es gab kein Echo.
Ploͤtzlich aber hoͤre ich bekannte Stimmen und fuͤhle
mich umarmt und gekuͤßt. Es waren meine Lands¬
leute, die Goͤttingen vier Tage ſpaͤter verlaſſen hat¬
ten, und bedeutend erſtaunt waren, mich ganz
allein auf dem Blocksberge wieder zu finden. Da
gab es ein Erzaͤhlen und Verwundern und Verab¬
reden, ein Lachen und Erinnern, und im Geiſte
waren wir wieder in unſerem gelehrten Sibirien,
wo die Cultur ſo groß iſt, daß die Baͤren in den
Wirthshaͤuſern angebunden werden, und die Zobel
dem Jaͤger guten Abend wuͤnſchen.


Im großen Zimmer wurde eine Abendmahlzeit
gehalten. Ein langer Tiſch mit zwey Reihen
hungriger Studenten. Im Anfang gewoͤhnliches
Univerſitaͤts-Geſpraͤch: Duelle, Duelle und wieder
Duelle. Die Geſellſchaft beſtand meiſtens aus Hal¬
lenſern, und Halle wurde daher Hauptgegenſtand
[214] des Geſpraͤchs. Die Fenſterſcheiben des Hofraths
Schuͤtz wurden exegetiſch beleuchtet. Dann erzaͤhlte
man, daß die letzte Cour bey dem Koͤnig von Cy¬
pern ſehr glaͤnzend geweſen ſey, daß er einen natuͤrli¬
chen Sohn erwaͤhlt, daß er ſich eine lichtenſteinſche
Prinzeſſin an's linke Bein antrauen laſſen, daß er
die Staatsmaitreſſe abgedankt, und daß das ganze
geruͤhrte Miniſterium vorſchriftmaͤßig geweint habe.
Ich brauche wohl nicht zu erwaͤhnen, daß ſich die¬
ſes auf Halleſche Bierwuͤrden bezieht. Hernach ka¬
men die zwey Chineſen auf's Tapet, die ſich vor
zwey Jahren in Berlin ſehen ließen, und jetzt in
Halle zu Privat-Dozenten der chineſiſchen Aeſthetik
abgerichtet werden. Nun wurden Witze geriſſen.
Man ſetzte den Fall: ein Deutſcher ließe ſich in
China fuͤr Geld ſehen; und zu dieſem Zweck wurde
ein Anſchlag-Zettel geſchmiedet, worin die Manda¬
rinen Tſching-Tſching-Tſchung und Hi-Ha-Ho
begutachteten, daß es ein echter Deutſcher ſey, worin
ferner ſeine Kunſtſtuͤcke aufgerechnet wurden, die
hauptſaͤchlich in Philoſophiren, Tabackrauchen und
[215] Geduld beſtanden, und worin noch ſchließlich bemerkt
wurde, daß man um zwoͤlf Uhr, welches die Fuͤtte¬
rungſtunde ſey, keine Hunde mitbringen duͤrfe, in¬
dem dieſe dem armen Deutſchen die beſten Brocken
weg zu ſchnappen pflegten. — Ein junger Burſchen¬
ſchafter, der kuͤrzlich zur Purifikazion in Berlin gewe¬
ſen, ſprach viel von dieſer Stadt; aber ſehr einſeitig.
Er hatte Wiſotzki und das Theater beſucht; beide
beurtheilte er falſch. „Schnell fertig iſt die Ju¬
gend mit dem Wort u. ſ. w.“ Er ſprach von
Garderobe-Aufwand, Schauſpieler- und Schauſpie¬
lerinnen-Skandal u. ſ. w. Der junge Menſch
wußte nicht, daß, da in Berlin uͤberhaupt der Schein
der Dinge am meiſten gilt, was ſchon die allge¬
meine Redensart „man ſo duhn“ hinlaͤnglich an¬
deutet, dieſes Scheinweſen auf den Brettern erſt
recht floriren muß, und daß daher die Intendanz
am meiſten zu ſorgen hat fuͤr „die Farbe des Barts,
womit eine Rolle geſpielt wird,“ fuͤr die Treue
der Coſtuͤme, die von beeidigten Hiſtorikern vorge¬
zeichnet, und von wiſſenſchaftlich gebildeten Schnei¬
[216] dern genaͤht werden. Und das iſt nothwendig.
Denn truͤge mahl Maria Stuart eine Schuͤrze,
die ſchon zum Zeitalter der Koͤnigin Anna gehoͤrt,
ſo wuͤrde gewiß der Banquier Chriſtian Gumpel
ſich mit Recht beklagen, daß ihm dadurch alle
Illuſion verloren gehe; und haͤtte mahl Lord Bur¬
leigh aus Verſehen die Hoſen von Heinrich IV
angezogen, ſo wuͤrde gewiß die Kriegsraͤthin von
Steinzopf, geb. Lilienthau, dieſen Anachronismus
den ganzen Abend nicht aus den Augen laſſen.
Solche taͤuſchende Sorgfalt der General-Inten¬
danz erſtreckt ſich aber nicht bloß auf Schuͤrzen
und Hoſen, ſondern auch auf die darin verwickel¬
ten Perſonen. So ſoll kuͤnftig der Othello von
einem wirklichen Mohren geſpielt werden, den
Profeſſor Lichtenſtein ſchon zu dieſem Behufe aus
Afrika verſchrieben hat; in Menſchenhaß und Reue
ſoll kuͤnftig die Eulalia von einem wirklich verlau¬
fenen Weibsbilde, der Peter von einem wirklich
dummen Jungen, und der Unbekannte von einem
wirklich geheimen Hahnrey geſpielt werden, die man
[217] alle drey nicht erſt aus Afrika zu verſchreiben
braucht; in der “Macht der Verhaͤltniſſe” ſoll ein
wirklicher Schriftſteller, der ſchon mahl ein paar
Maulſchellen bekommen, die Rolle des Helden ſpie¬
len; in der Ahnfrau ſoll der Kuͤnſtler, der den
Jaromir giebt, ſchon wirklich einmal geraubt,
oder doch wenigſtens geſtohlen haben; die Lady
Macbeth ſoll von einer Dame geſpielt werden, die
zwar, wie es Tiek verlangt, von Natur ſehr liebe¬
voll iſt, aber doch mit dem blutigen Anblick eines
meuchelmoͤrderiſchen Abſtechens einigermaßen ver¬
traut iſt; und endlich, zur Darſtellung gar beſon¬
ders ſeichter, witzloſer, poͤbelhafter Geſellen ſoll
der große Angeli engagirt werden, der große An¬
geli, der ſeine Geiſtesgenoſſen jedesmal entzuͤckt,
wenn er ſich erhebt in ſeiner wahren Groͤße, hoch,
hoch, “jeder Zoll ein Lump!” — Hatte nun
obenerwaͤhnter junger Menſch die Verhaͤltniſſe des
Berliner Schauſpiels ſchlecht begriffen, ſo merkte er
noch viel weniger, daß die Spontiniſche Janitſcha¬
ren-Oper, mit ihren Pauken, Elephanten, Trompe¬
[218] ten und Tamtams, ein heroiſches Mittel iſt, um
unſer erſchlafftes Volk kriegeriſch zu ſtaͤrken, ein
Mittel, das ſchon Plato und Cicero ſtaatspfiffig
empfohlen haben. Am allerwenigſten begriff der
junge Menſch die diplomatiſche Bedeutung des Bal¬
lets. Mit Muͤhe zeigte ich ihm, wie in Hoguets
Fuͤßen mehr Politik ſitzt als in Bucholz Kopf,
wie alle ſeine Tanztouren diplomatiſche Verhand¬
lungen bedeuten, wie jede ſeiner Bewegungen eine
politiſche Beziehung habe, ſo z. B. daß er unſer
Kabinet meynt, wenn er, ſehnſuͤchtig vorgebeugt,
mit den Haͤnden weitausgreift, daß er den —
— — meynt, wenn er ſich hundertmal auf einem
Fuße herumdreht ohne vom Fleck zu kommen, daß
er die kleinen Fuͤrſten meynt, wenn er wie mit ge¬
bundenen Beinen herumtrippelt, daß er das Euro¬
paͤiſche Gleichgewicht bezeichnet, wenn er wie ein
Trunkener hin und herſchwankt, daß er einen Con¬
greß andeutet, wenn er die gebogenen Arme knaͤul¬
artig in einander verſchlingt, und endlich daß er
unſern allzugroßen Freund im Oſten darſtellt,
[219] wenn er in allmaͤhliger Entfaltung ſich in die
Hoͤhe hebt, in dieſer Stellung lange ruht, und
ploͤtzlich in die erſchrecklichſten Spruͤnge ausbricht.
Dem jungen Manne fielen die Schuppen von den
Augen, und jetzt merkte er, warum Taͤnzer beſſer
honorirt werden als große Dichter, warum das
Ballet beym diplomatiſchen Corps ein unerſchoͤpfli¬
cher Gegenſtand des Geſpraͤchs iſt, und warum
oft eine ſchoͤne Taͤnzerin noch privatim von dem
Miniſter unterhalten wird, der ſich gewiß Tag
und Nacht abmuͤht, ſie fuͤr ſein politiſches Syſtem¬
chen empfaͤnglich zu machen. Bey'm Apis! wie
groß iſt die Zahl der exoteriſchen und wie klein die
Zahl der eſoteriſchen Theaterbeſucher! Da ſteht
das bloͤde Volk und gafft und bewundert Spruͤnge
und Wendungen, und ſtudiert Anatomie in den
Stellungen der Lemiere, und applaudirt die Entre¬
chats der Roͤhniſch, und ſchwatzt von Grazie,
Harmonie und Lenden — und keiner merkt, daß
er in getanzten Chiffern das Schickſal des deut¬
ſchen Vaterlandes vor Augen hat.


[220]

Waͤhrend ſolcherley Geſpraͤche hin und her flo¬
gen, verlor man doch das Nuͤtzliche nicht aus den
Augen, und den großen Schuͤſſeln, die mit Fleiſch,
Kartoffeln u. ſ. w. ehrlich angefuͤllt waren, wurde
fleißig zugeſprochen. Jedoch das Eſſen war ſchlecht.
Dieſes erwaͤhnte ich leichthin gegen meinen Nach¬
bar, der aber, mit einem Accente, woran ich den
Schweizer erkannte, gar unhoͤflich antwortete: daß
wir Deutſchen wie mit der wahren Freiheit, ſo auch
mit der wahren Genuͤgſamkeit unbekannt ſeyen. Ich
zuckte die Achſeln und bemerkte: daß die eigentlichen
Fuͤrſtenknechte und Leckerkram-Verfertiger uͤberall
Schweizer ſind und vorzugsweiſe ſo genannt werden,
und daß uͤberhaupt diejetzigen ſchweizeriſchen Freiheits¬
helden, die ſo viel Politiſch-Kuͤhnes in's Publikum
hineinſchwatzen, mir immer vorkommen, wie Haſen,
die auf oͤffentlichen Jahrmaͤrkten Piſtolen abſchie¬
ßen, alle Kinder und Bauern durch ihre Kuͤhnheit
in Erſtaunen ſetzen, und dennoch Haſen ſind.


Der Sohn der Alpen hatte es gewiß nicht boͤſe
gemeint, „es war ein dicker Mann, folglich ein
[221] guter Mann,” ſagt Cervantes. Aber mein Nach¬
bar von der andern Seite, ein Greifswalder, war
durch jene Aeußerung ſehr piquirt; er betheuerte,
daß deutſche Thatkraft und Einfaͤltigkeit noch nicht
erloſchen ſey, ſchlug ſich droͤhnend auf die Bruſt,
und leerte eine ungeheure Stange Weißbier. Der
Schweizer ſagte: “Nu! Nu!” Doch, je beſchwich¬
tigender er dieſes ſagte, deſto eifriger ging der
Greifswalder in's Geſchirr. Dieſer war ein Mann
aus jenen Zeiten, als die Laͤuſe gute Tage hatten
und die Friſeure zu hungern fuͤrchteten. Er trug
herabhaͤngend langes Haar, ein ritterliches Barett,
einen ſchwarzen, altdeutſchen Rock, ein ſchmutziges
Hemd, das zugleich das Amt einer Weſte verſah,
und darunter ein Medaillon mit einem Haarbuͤſchel
von Bluͤchers Schimmel. Er ſah aus wie ein
Narr in Lebensgroͤße. Ich mache mir gern einige
Bewegung beym Abendeſſen, und ließ mich daher
von ihm in einen patriotiſchen Streit verflechten.
Er war der Meynung, Deutſchland muͤſſe in 33
Gauen getheilt werden. Ich hingegen behauptete:
[222] es muͤßten 48 ſeyn, weil man alsdann ein ſyſte¬
matiſcheres Handbuch uͤber Deutſchland ſchreiben
koͤnne, und es doch nothwendig ſey, das Leben mit
der Wiſſenſchaft zu verbinden. Mein Greifswalder
Freund war auch ein deutſcher Barde, und, wie
er mir vertraute, arbeitete er an einem National-
Heldengedichte zur Verherrlichung Hermanns und
der Hermannsſchlacht. Manchen nuͤtzlichen Wink
gab ich ihm fuͤr die Anfertigung dieſes Epos. Ich
machte ihn darauf aufmerkſam, daß er die Suͤmpfe
und Knuͤppelwege des teutoburger Waldes ſehr ono¬
matopoͤiſch durch waͤßrige und holprige Verſe an¬
deuten koͤnne, und daß es eine patriotiſche Feinheit
waͤre, wenn er den Varus und die uͤbrigen Roͤmer
lauter Unſinn ſprechen ließe. Ich hoffe, dieſer
Kunſtkniff wird ihm, eben ſo erfolgreich wie andern
Berliner Dichtern, bis zur bedenklichſten Illuſion
gelingen.


An unſerem Tiſche wurde es immer lauter und
traulicher, der Wein verdraͤngte das Bier, die
Punſch-Bowlen dampften, es wurde getrunken,
[223] ſmollirt und geſungen. Der alte Landesvater und
herrliche Lieder von W. Muͤller, Ruͤckert, Uhland
u. ſ. w. erſchollen. Schoͤne Methfeſſelſche Melo¬
dien. Am allerbeſten erklangen unſeres Arndt's
deutſche Worte: „Der Gott, der Eiſen wachſen
ließ, der wollte keine Knechte!“ Und draußen
brauſte es, als ob der alte Berg mitſaͤnge, und
einige ſchwankende Freunde behaupteten ſogar, er
ſchuͤttle freudig ſein kahles Haupt und unſer Zim¬
mer werde dadurch hin und her bewegt. Die
Flaſchen wurden leerer und die Koͤpfe voller. Der
Eine bruͤllte, der Andere fiſtulirte, ein Dritter de¬
klamirte aus der „Schuld“, ein Vierter ſprach
Latein, ein Fuͤnfter predigte von der Maͤßigkeit,
und ein Sechster ſtellte ſich auf den Stuhl und
dozirte: „Meine Herren! Die Erde iſt eine runde
Walze, die Menſchen ſind einzelne Stiftchen dar¬
auf, ſcheinbar arglos zerſtreut; aber die Walze
dreht ſich, die Stiftchen ſtoßen hier und da an
und toͤnen, die einen oft, die andern ſelten, das
giebt eine wunderbare, complizirte Muſik, und
[224] dieſe heißt Weltgeſchichte. Wir ſprechen alſo erſt
von der Muſik, dann von der Welt und endlich
von der Geſchichte; letztere aber theilen wir ein in
Poſitiv und ſpaniſche Fliegen —” Und ſo ging's
weiter mit Sinn und Unſinn.


Ein gemuͤthlicher Mecklenburger, der ſeine
Naſe im Punſchglaſe hatte, und ſelig laͤchelnd den
Dampf einſchnupfte, machte die Bemerkung: es
ſey ihm zu Muthe, als ſtaͤnde er wieder vor dem
Theater-Buͤffet in Schwerin! Ein Anderer hielt
ſein Weinglas wie ein Perſpektiv vor die Augen
und ſchien uns aufmerkſam damit zu betrachten,
waͤhrend ihm der rothe Wein, uͤber die Backen,
ins hervortretende Maul hinablief. Der Greifs¬
walder, ploͤtzlich begeiſtert, warf ſich an meine Bruſt
und jauchzte: “O, verſtaͤndeſt Du mich, ich bin
ein Liebender, ich bin ein Gluͤcklicher, ich werde
wieder geliebt, und Gott verdamm' mich! es iſt
ein gebildetes Maͤdchen, denn ſie hat volle Bruͤſte,
und traͤgt ein weißes Kleid und ſpielt Clavier!” —
Aber der Schweizer weinte, und kuͤßte zaͤrtlich
[225] meine Hand und wimmerte beſtaͤndig: „O Baͤbeli!
O Baͤbeli!“


In dieſem verworrenen Treiben, wo die Teller
tanzen und die Glaͤſer fliegen lernten, ſaßen mir
gegenuͤber zwey Juͤnglinge, ſchoͤn und blaß wie
Marmorbilder, der Eine mehr dem Adonis, der
Andere mehr dem Apollo aͤhnlich. Kaum bemerk¬
bar war der leichte Roſenhauch, den der Wein
uͤber ihre Wangen hinwarf. Mit unendlicher Liebe
ſahen ſie ſich einander an, als wenn Einer leſen
koͤnnte in den Augen des Andern, und in dieſen
Augen ſtrahlte es, als waͤren einige Lichttropfen
hinein gefallen aus jener Schaale voll lodernder
Liebe, die ein frommer Engel dort oben von einem
Stern zum andern hinuͤber traͤgt. Sie ſprachen
leiſe, mit ſehnſuchtbebender Stimme, und es waren
traurige Geſchichten, aus denen ein wunderſchmerz¬
licher Ton hervor klang. „Die Lore iſt jetzt auch
todt!“ ſagte der Eine und ſeufzte, und nach einer
Pauſe erzaͤhlte er von einem Halleſchen Maͤdchen,
das in einen Studenten verliebt war, und als die¬
15[226] ſer Halle verließ, mit Niemand mehr ſprach, und
wenig aß, und Tag und Nacht weinte, und immer
den Canarienvogel betrachtete, den der Geliebte
ihr einſt geſchenkt hatte. “Der Vogel ſtarb, und
bald darauf iſt auch die Lore geſtorben!” ſo ſchloß
die Erzaͤhlung, und beyde Juͤnglinge ſchwiegen wie¬
der und ſeufzten, als wollte ihnen das Herz zer¬
ſpringen. Endlich ſprach der Andere: “Meine
Seele iſt traurig! Komm mit hinaus in die dunkle
Nacht! Einathmen will ich den Hauch der Wolken
und die Strahlen des Mondes. Genoſſe meiner
Wehmuth! ich liebe Dich, Deine Worte toͤnen wie
Rohrgefluͤſter, wie gleitende Stroͤme, ſie toͤnen wie¬
der in meiner Bruſt, aber meine Seele iſt traurig!”
Nun erhoben ſich die beyden Juͤnglinge, Einer
ſchlang den Arm um den Nacken des Andern, und
ſie verließen das toſende Zimmer. Ich folgte ihnen
nach und ſah, wie ſie in eine dunkle Kammer tra¬
ten, wie der Eine, ſtatt des Fenſters, einen gro¬
ßen Kleiderſchrank oͤffnete, wie Beide vor demſel¬
ben, mit ſehnſuͤchtig ausgeſtreckten Armen, ſtehen
[227] blieben und wechſelweiſe ſprachen. “Ihr Luͤfte der
daͤmmernden Nacht!” rief der Erſte, “wie erqui¬
ckend kuͤhlt Ihr meine Wangen! Wie lieblich ſpielt
Ihr mit meinen flatternden Locken! Ich ſteh' auf
des Berges wolkigem Gipfel, unter mir liegen die
ſchlafenden Staͤdte der Menſchen, und blinken die
blauen Gewaͤſſer. Horch! dort unten im Thale rau¬
ſchen die Tannen! Dort uͤber die Huͤgel ziehen, in
Nebelgeſtalten, die Geiſter der Vaͤter. O, koͤnnt'
ich mit Euch jagen, auf dem Wolkenroß, durch die
ſtuͤrmiſche Nacht, uͤber die rollende See, zu den
Sternen hinauf! Aber ach! ich bin beladen mit
Leid und meine Seele iſt traurig!” — Der andere
Juͤngling hatte ebenfalls ſeine Arme ſehnſuchtsvoll
nach dem Kleiderſchrank ausgeſtreckt, Thraͤnen ſtuͤrz¬
ten aus ſeinen Augen, und zu einer gelbledernen
Hoſe, die er fuͤr den Mond hielt, ſprach er mit
wehmuͤthiger Stimme: “Schoͤn biſt du, Tochter
des Himmels! Holdſelig iſt deines Antlitzes Ruhe!
Du wandelſt einher in Lieblichkeit! Die Sterne
folgen deinen blauen Pfaden im Oſten. Bey dei¬
[228] nem Anblick erfreuen ſich die Wolken, und es
lichten ſich ihre duͤſtern Geſtalten. Wer gleicht dir
am Himmel, Erzeugte der Nacht? Beſchaͤmt, in
deiner Gegenwart, ſind die Sterne, und wenden
ab die gruͤnfunkelnden Augen. Wohin, wenn des
Morgens dein Antlitz erbleicht, entfliehſt du von
deinem Pfade? Haſt du gleich mir deine Halle?
Wohnſt du im Schatten der Wehmuth? Sind
deine Schweſtern vom Himmel gefallen? Sie, die
freudig mit dir die Nacht durchwallten, ſind ſie
nicht mehr? Ja, ſie fielen herab, o ſchoͤnes Licht,
und du verbirgſt dich oft, ſie zu betrauern. Doch
einſt wird kommen die Nacht, und du, auch du
biſt vergangen, und haſt deine blauen Pfade dort
oben verlaſſen. Dann erheben die Sterne ihre
gruͤnen Haͤupter, die einſt deine Gegenwart be¬
ſchaͤmt, ſie werden ſich freuen. Doch jetzt biſt du
gekleidet in deiner Strahlenpracht und ſchauſt herab
aus den Thoren des Himmels. Zerreißt die Wol¬
ken, o Winde, damit die Erzeugte der Nacht her¬
vor zu leuchten vermag, und die buſchigen Berge
[229] erglaͤnzen und das Meer ſeine ſchaͤumenden Wogen
rolle in Licht!“


Ein wohlbekannter, nicht ſehr magerer Freund,
der mehr getrunken als gegeſſen hatte, obgleich er
auch heute Abend, wie gewoͤhnlich, eine Porzion
Rindfleiſch verſchlungen, wovon ſechs Gardelieute¬
nants und ein unſchuldiges Kind ſatt geworden
waͤren, dieſer kam jetzt in allzugutem Humor, d.
h. ganz en Schwein, vorbeygerannt, ſchob die bey¬
den elegiſchen Freunde etwas unſanft in den
Schrank hinein, polterte nach der Hausthuͤre, und
wirthſchaftete draußen ganz moͤrderlich. Der Laͤrm
im Saal wurde auch immer verworrener und dum¬
pfer. Die beyden Juͤnglinge im Schranke jammer¬
ten und wimmerten, ſie laͤgen zerſchmettert am Fuße
des Berges; aus dem Hals ſtroͤmte ihnen der edle
Rothwein, ſie uͤberſchwemmten ſich wechſelſeitig,
und der Eine ſprach zum Andern: „Lebe wohl! Ich
fuͤhle, daß ich verblute. Warum weckſt du mich,
Fruͤhlingsluft? Du buhlſt und ſprichſt: ich bethaue
dich mit Tropfen des Himmels. Doch die Zeit
[230] meines Welkens iſt nahe, nahe der Sturm, der
meine Blaͤtter herabſtoͤrt! Morgen wird der Wan¬
derer kommen, kommen der mich ſah in meiner
Schoͤnheit, ringsum wird ſein Auge im Felde mich
ſuchen, und wird mich nicht finden. — “ Aber
Alles uͤbertobte die wohlbekannte Baßſtimme, die
draußen vor der Thuͤre, unter Fluchen und Jauch¬
zen, ſich gottlaͤſterlich beklagte: daß auf der ganzen
dunkeln Weenderſtraße keine einzige Laterne brenne,
und man nicht einmal ſehen koͤnne, bey wem man
die Fenſterſcheiben eingeſchmiſſen habe.


Ich kann viel vertragen — die Beſcheidenheit
erlaubt mir nicht, die Bouteillen-Zahl zu nennen
— und ziemlich gut conditionirt gelangte ich nach
meinem Schlafzimmer. Der junge Kaufmann lag
ſchon im Bette, mit ſeiner kreideweißen Nachtmuͤtze
und ſafrangelben Jacke von Geſundheits-Flanell.
Er ſchlief noch nicht und ſuchte ein Geſpraͤch mit
mir anzuknuͤpfen. Er war ein Frankfurt-am-
Mayner, und folglich ſprach er gleich von den
Juden, die alles Gefuͤhl fuͤr das Schoͤne und Edle
[231] verloren haben, und die engliſchen Waaren 25
Prozent unter dem Fabrikpreiſe verkaufen. Es
ergriff mich die Luſt, ihn etwas zu myſtifiziren;
deshalb ſagte ich ihm: ich ſey ein Nachtwandler,
und muͤſſe im Voraus um Entſchuldigung bitten,
fuͤr den Fall, daß ich ihn etwa im Schlafe ſtoͤren
moͤchte. Der arme Menſch hat deshalb, wie er
mir den andern Tag geſtand, die ganze Nacht
nicht geſchlafen, da er die Beſorgniß hegte, ich
koͤnnte mit meinen Piſtolen, die vor meinem Bette
lagen, im Nachtwandler-Zuſtande ein Malheur
anrichten. Im Grunde war es mir nicht viel beſ¬
ſer als ihm gegangen, ich hatte ſehr ſchlecht geſchla¬
fen. Wuͤſte, beaͤngſtigende Phantaſie-Gebilde. Ein
Clavier-Auszug aus Dante's “Hoͤlle.” Am Ende
traͤumte mir gar, ich ſaͤhe die Auffuͤhrung einer juri¬
ſtiſchen Oper, die Falcidia geheißen, erbrechtlicher
Text von Gans, und Muſik von Spontini. Ein tol¬
ler Traum. Das roͤmiſche Forum leuchtete praͤchtig,
Serv. Aſinius Goͤſchenus als Praͤtor auf ſeinem
Stuhle, die Toga in ſtolze Falten werfend, ergoß
[232] ſich in polternden Recitativen, Marcus Tullius El¬
verſus, als Prima Donna legataria, all' ſeine holde
Weiblichkeit offenbarend, ſang die liebeſchmelzende
Bravour-Arie quicunque civis romanus, ziegelroth ge¬
ſchminkte Referendarien bruͤllten als Chor der Un¬
muͤndigen, Privat-Dozenten, als Genien in fleiſch¬
farbigen Trikot gekleidet, tanzten ein antejuſtinianei¬
ſches Ballet und bekraͤnzten mit Blumen die zwoͤlf
Tafeln, unter Donner und Blitz ſtieg aus der Erde
der beleidigte Geiſt der roͤmiſchen Geſetzgebung,
Poſaunen, Tamtam, Feuerregen, cum omni causa.

Aus dieſem Laͤrmen zog mich der Brockenwirth,
indem er mich weckte, um den Sonnen-Auf¬
gang anzuſehen. Auf dem Thurm fand ich ſchon
einige Harrende, die ſich die frierenden Haͤnde rie¬
ben, Andere, noch den Schlaf in den Augen, tau¬
melten herauf: endlich ſtand die ſtille Gemeinde
von geſtern Abend wieder ganz verſammelt, und
ſchweigend ſahen wir: wie am Horizonte die kleine,
carmoiſinrothe Kugel empor ſtieg, eine winterlich
daͤmmernde Beleuchtung ſich verbreitete, die Berge
[233] wie in einem weißwallenden Meere ſchwammen,
und bloß die Spitzen derſelben ſichtbar hervor tra¬
ten, ſo daß man auf einem kleinen Huͤgel zu ſtehen
glaubte, mitten auf einer uͤberſchwemmten Ebene,
wo nur hier und da eine trockene Erdſcholle her¬
vortritt. Um das Geſehene und Empfundene
in Worten feſt zu halten, zeichnete ich folgendes
Gedicht:


Heller wird es ſchon im Oſten

Durch der Sonne kleines Glimmen,

Weit und breit die Bergesgipfel

In dem Nebelmeere ſchwimmen.
Haͤtt' ich Siebenmeilenſtiefel,

Lief ich mit der Haſt des Windes,

Ueber jene Bergesgipfel,

Nach dem Haus des lieben Kindes.
Von dem Bettchen, wo ſie ſchlummert,

Zoͤg' ich leiſe die Gardinen,

Leiſe kuͤßt' ich ihre Stirne,

Leiſe ihres Mund's Rubinen.
[234]
Und noch leiſer wollt' ich fluͤſtern

In die kleinen Liljen-Ohren:

Denk' im Traum, daß wir uns lieben,

Und daß wir uns nie verloren.

Indeſſen, meine Sehnſucht nach einem Fruͤh¬
ſtuͤck war ebenfalls groß, und nachdem ich meinen
Damen einige Hoͤflichkeiten geſagt, eilte ich hinab,
um in der warmen Stube Kaffee zu trinken. Es
that Noth; in meinem Magen ſah es ſo nuͤchtern
aus, wie in der Goslarſchen Stephans-Kirche.
Aber mit dem arabiſchen Trank rieſelte mir auch
der warme Orient durch die Glieder, oͤſtliche Ro¬
ſen umdufteten mich, ſuͤße Bulbul-Lieder erklangen,
die Studenten verwandelten ſich in Kameele, die
Brockenhaus-Maͤdchen, mit ihren Congrevſchen
Blicken, wurden zu Houris, die Philiſter-Naſen
wurden Minarets u. ſ. w.


Das Buch, das neben mir lag, war aber
nicht der Koran. Unſinn enthielt es freilich genug.
Es war das ſogenannte Brockenbuch, worin alle
[235] Reiſende, die den Berg erſtiegen, ihre Namen
ſchreiben, und die Meiſten noch einige Gedanken,
und in Ermangelung derſelben, ihre Gefuͤhle hinzu
notiren. Viele druͤcken ſich ſogar in Verſen aus.
In dieſem Buche ſieht man, welche Greuel entſte¬
hen, wenn der große Philiſter-Troß bey gebraͤuchli¬
chen Gelegenheiten, wie hier auf dem Brocken, ſich
vorgenommen hat, poetiſch zu werden. Der Pal¬
laſt des Prinzen von Pallagonia enthaͤlt keine ſo
große Abgeſchmacktheiten wie dieſes Buch, wo be¬
ſonders hervor glaͤnzen die Herren Acciſe-Einneh¬
mer mit ihren verſchimmelten Hochgefuͤhlen, die
Comptoir-Juͤnglinge mit ihren pathetiſchen Seelen-
Erguͤſſen, die altdeutſchen Revolutions-Dilettanten
mit ihren Turn-Gemein-Plaͤtzen, die Berliner
Schullehrer mit ihren verungluͤckten Entzuͤckungs-
Phraſen u. ſ. w. Herr Johannes Hagel will ſich
auch mal als Schriftſteller zeigen. Hier wird des
Sonnen-Aufgangs majeſtaͤtiſche Pracht beſchrieben;
dort wird geklagt uͤber ſchlechtes Wetter, uͤber ge¬
taͤuſchte Erwartungen, uͤber den Nebel, der alle
[236] Ausſicht verſperrt. “Benebelt herauf gekommen
und benebelt hinunter gegangen!” iſt ein ſtehender
Witz, der hier von Hunderten nachgeriſſen wird.
Eine Carolina ſchreibt: daß ſie bey dem Erſteigen
des Berges naſſe Fuͤße bekommen. Ein naives
Hannchen hat dieſe Klage im Sinn, und ſchreibt
lakoniſch: auch ich bin bey der Geſchichte naß ge¬
worden. Das ganze Buch riecht nach Kaͤſe, Bier
und Tabak; man glaubt einen Roman von Clau¬
ren zu leſen.


Waͤhrend ich nun beſagtermaßen Kaffee trank
und im Brockenbuche blaͤtterte, trat der Schweizer
mit hochrothen Wangen herein, und voller Begei¬
ſterung erzaͤhlte er von dem erhabenen Anblick, den
er oben auf dem Thurm genoſſen, als das reine,
ruhige Licht der Sonne, Sinnbild der Wahrheit,
mit den naͤchtlichen Nebelmaſſen gekaͤmpft, daß es
ausgeſehen habe wie eine Geiſterſchlacht, wo zuͤrnende
Rieſen ihre langen Schwerdter ausſtrecken, gehar¬
niſchte Ritter, auf baͤumenden Roſſen, einher jagen,
Streitwagen, flatternde Banner, abentheuerliche
[237] Thierbildungen aus dem wildeſten Gewuͤhle hervor
tauchen, bis endlich Alles in den wahnſinnnigſten
Verzerrungen zuſammen kraͤuſelt, blaſſer und blaſſer
zerrinnt, und ſpurlos verſchwindet. Dieſe demago¬
giſche Natur-Erſcheinung hatte ich verſaͤumt, und
ich kann, wenn es zur Unterſuchung kommt, eidlich
verſichern: daß ich von nichts weiß, als vom Ge¬
ſchmack des guten braunen Kaffee's. Ach, dieſer
war ſogar Schuld, daß ich meine ſchoͤne Dame
vergeſſen, und jetzt ſtand ſie vor der Thuͤr, mit
Mutter und Begleiter, im Begriff den Wagen
zu beſteigen. Kaum hatte ich noch Zeit, hin zu
eilen [und] ihr zu verſichern, daß es kalt ſey. Sie
ſchien unwillig, daß ich nicht fruͤher gekommen;
doch ich glaͤttete bald die mißmuͤthigen Falten ihrer
ſchoͤnen Stirn, indem ich ihr eine wunderliche
Blume ſchenkte, die ich den Tag vorher, mit hals¬
brechender Gefahr, von einer ſteilen Felſenwand
gepfluͤckt hatte. Die Mutter verlangte den Namen
der Blume zu wiſſen, gleichſam als ob ſie es un¬
ſchicklich faͤnde, daß ihre Tochter eine fremde, unbe¬
[238] kannte Blume vor die Bruſt ſtecke — denn wirk¬
lich, die Blume erhielt dieſen beneidenswerthen
Platz, was ſie ſich gewiß geſtern auf ihrer einſamen
Hoͤhe nicht traͤumen ließ. Der ſchweigſame Beglei¬
ter oͤffnete jetzt auf einmal den Mund, zaͤhlte die
Staubfaͤden der Blume und ſagte ganz trocken: ſie
gehoͤrt zur achten Claſſe.


Es aͤrgert mich jedesmal, wenn ich ſehe, daß
man auch Gottes liebe Blumen, eben ſo wie uns,
in Caſten getheilt hat, und nach aͤhnlichen Aeußer¬
lichkeiten, nemlich nach Staubfaden-Verſchiedenheit.
Soll doch mal eine Eintheilung ſtattfinden, ſo folge
man dem Vorſchlage Theophraſt's, der die Blumen
mehr nach dem Geiſte, naͤmlich nach ihrem Geruch,
eintheilen wollte. Was mich betrifft, ſo habe ich in
der Naturwiſſenſchaft mein eignes Syſtem, und
demnach theile ich Alles ein: in dasjenige, was
man eſſen kann, und in dasjenige, was man nicht
eſſen kann.


Jedoch, der aͤltern Dame war die geheimni߬
volle Natur der Blumen nichts weniger als ver¬
[239] ſchloſſen, und unwillkuͤhrlich aͤußerte ſie: daß ſie
von den Blumen, wenn ſie noch im Garten oder
im Topfe wachſen, recht erfreut werde, daß hinge¬
gen ein leiſes Schmerzgefuͤhl, traumhaft beaͤngſti¬
gend, ihre Bruſt durchzittere, wenn ſie eine abge¬
brochene Blume ſehe — da eine ſolche doch eigent¬
lich eine Leiche ſey, und ſo eine gebrochene, zarte
Blumenleiche ihr welkes Koͤpfchen recht traurig herab
haͤngen laſſe, wie ein todtes Kind. Die Dame
war faſt erſchrocken uͤber den truͤben Wiederſchein
ihrer Bemerkung, und es war meine Pflicht,
denſelben mit einigen Voltaireſchen Verſen zu
verſcheuchen. Wie doch ein Paar franzoͤſiſche
Worte uns gleich in die gehoͤrige Convenienzſtim¬
mung zuruͤck verſetzen koͤnnen! Wir lachten,
Haͤnde wurden gekuͤßt, huldreich wurde gelaͤchelt,
die Pferde wieherten und der Wagen holperte,
langſam und beſchwerlich, den Berg hinunter.


Nun machten auch die Studenten Anſtalt zum
Abreiſen, die Ranzen wurden geſchnuͤrt, die
Rechnungen, die uͤber alle Erwartung billig aus¬
[240] fielen, berichtigt, die empfaͤnglichen Hausmaͤdchen,
auf deren Geſichtern die Spuren gluͤcklicher Liebe,
brachten, wie gebraͤuchlich iſt, die Brockenſtraͤu߬
chen, halfen ſolche auf die Muͤtzen befeſtigen, wur¬
den dafuͤr mit einigen Kuͤſſen oder Groſchen hono¬
rirt; und ſo ſtiegen wir Alle den Berg hinab,
indem die Einen, wobey der Schweizer und Greifs¬
walder, den Weg nach Schierke einſchlugen, und
die Andern, ungefaͤhr zwanzig Mann, wobey auch
meine Landſleute und ich, angefuͤhrt von einem
Wegweiſer, durch die ſogenannten Schneeloͤcher
hinab zogen nach Ilſenburg.


Das ging uͤber Hals und Kopf. Halleſche
Studenten marſchiren ſchneller als die oͤſtreichiſche
Landwehr. Ehe ich mich deſſen verſah, war die
kahle Partie des Berges mit den darauf zerſtreu¬
ten Steingruppen ſchon hinter uns, und wir ka¬
men durch einen Tannenwald, wie ich ihn den Tag
vorher geſehen. Die Sonne goß ſchon ihre feſtlich¬
ſten Strahlen herab und beleuchtete die humoriſtiſch
buntgekleideten Burſchen, die ſo munter durch das
[241] Dickigt drangen, hier verſchwanden, dort wieder
zum Vorſchein kamen, bey Sumpfſtellen uͤber die
quergelegten Baumſtaͤmme liefen, bey abſchuͤſſigen
Tiefen an den rankenden Wurzeln kletterten, in
den ergoͤtzlichſten Tonarten empor johlten, und
eben ſo luſtige Antwort zuruͤck erhielten von den
zwitſchernden Waldvoͤgeln, von den rauſchenden
Tannen, von den unſichtbar plaͤtſchernden Quellen
und von dem ſchallenden Echo. Wenn frohe Ju¬
gend und ſchoͤne Natur zuſammen kommen, ſo
freuen ſie ſich wechſelſeitig.


Je tiefer wir hinab ſtiegen, deſto lieblicher
rauſchte das unterirdiſche Gewaͤſſer, nur hier und da,
unter Geſtein und Geſtrippe, blinkte es hervor, und
ſchien heimlich zu lauſchen, ob es an's Licht treten
duͤrfe, und endlich kam eine kleine Welle entſchloſ¬
ſen hervor geſprungen. Nun zeigt ſich die gewoͤhn¬
liche Erſcheinung: ein Kuͤhner macht den Anfang,
und der große Troß der Zagenden wird ploͤtzlich,
zu ſeinem eigenen Erſtaunen, von Muth ergriffen,
und eilt, ſich mit jenem Erſten zu vereinigen. Eine
16[242] Menge anderer Quellen huͤpften jetzt haſtig aus
ihrem Verſteck, verbanden ſich mit der zuerſt her¬
vorgeſprungenen, und bald bildeten ſie zuſammen
ein ſchon bedeutendes Baͤchlein, das in unzaͤhligen
Waſſerfaͤllen, und in wunderlichen Windungen,
das Bergthal hinab rauſcht. Das iſt nun die Ilſe,
die liebliche, ſuͤße Ilſe. Sie zieht ſich durch das
geſegnete Ilſethal, an deſſen beyden Seiten ſich die
Berge allmaͤhlig hoͤher erheben, und dieſe ſind, bis
zu ihrem Fuße, meiſtens mit Buchen, Eichen und
gewoͤhnlichem Blattgeſtraͤuche bewachſen, nicht
mehr mir Tannen und anderm Nadelholz. Denn
jene Blaͤtterholzart wird vorherrſchend auf dem
„Unterharze,“ wie man die Oſtſeite des Brockens
nennt, im Gegenſatz zur Weſtſeite deſſelben, die
der „Oberharz“ heißt, und wirklich viel hoͤher iſt,
und alſo auch viel geeigneter zum Gedeihen der
Nadelhoͤlzer.


Es iſt unbeſchreibbar, mit welcher Froͤhlichkeit,
Naivitaͤt und Anmuth die Ilſe ſich hinunter ſtuͤrzt
uͤber die abentheuerlich gebildeten Felsſtuͤcke, die ſie
[243] in ihrem Laufe findet, ſo daß das Waſſer hier wild
empor ziſcht oder ſchaͤumend uͤberlaͤuft, dort aus
allerley Steinſpalten, wie aus tollen Gießkannen,
in reinen Boͤgen ſich ergießt, und unten wieder
uͤber die kleinen Steine hintrippelt, wie ein mun¬
teres Maͤdchen. Ja, die Sage iſt wahr, die Ilſe
iſt eine Prinzeſſin, die lachend und bluͤhend den
Berg hinab laͤuft. Wie blinkt im Sonnenſchein
ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im
Winde ihre ſilbernen Buſenbaͤnder! Wie funkeln
und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen
ſtehen gleich ernſten Vaͤtern, die verſtohlen laͤchelnd
dem Muthwillen des lieblichen Kindes zuſehen; die
weißen Birken bewegen ſich tantenhaft vergnuͤgt,
und doch zugleich aͤngſtlich uͤber die gewagten
Spruͤnge; der ſtolze Eichbaum ſchaut drein wie ein
verdrießlicher Oheim, der das ſchoͤne Wetter bezah¬
len muß; die Voͤgelein in den Luͤften jubeln ihren
Beyfall, die Blumen am Ufer fluͤſtern zaͤrtlich: O,
nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schweſter¬
chen! — aber das luſtige Maͤdchen ſpringt unauf¬
[244] haltſam weiter, und ploͤtzlich ergreift ſie den traͤu¬
menden Dichter, und es ſtroͤmt auf mich herab ein
Blumenregen von klingenden Strahlen und ſtrah¬
lenden Klaͤngen, und die Sinne vergehen mir vor
lauter Herrlichkeit, und ich hoͤre nur noch die floͤ¬
tenſuͤße Stimme:


Ich bin die Prinzeſſin Ilſe,

Und wohne im Ilſenſtein;

Komm mit nach meinem Schloſſe,

Wir wollen ſelig ſeyn.
Dein Haupt will ich benetzen

Mit meiner klaren Well',

Du ſollſt deine Schmerzen vergeſſen,

Du ſorgenkranker Geſell!
In meinen weißen Armen,

An meiner weißen Bruſt,

Da ſollſt du liegen und traͤumen

Von alter Maͤhrchenluſt.
[245]
Ich will dich kuͤſſen und herzen,

Wie ich geherzt und gekuͤßt

Den lieben Kayſer Heinrich,

Der nun geſtorben iſt.
Es bleiben todt die Todten,

Und nur der Lebendige lebt;

Und ich bin ſchoͤn und bluͤhend,

Mein lachendes Herze bebt.
Und bebt mein Herz dort unten,

So klingt mein kriſtallenes Schloß,

Es tanzen die Fraͤulein und Ritter,

Es jubelt der Knappentroß.
Es rauſchen die ſeidenen Schleppen,

Es klirren die Eiſenſpor'n,

Die Zwerge trompeten und pauken,

Und fiedeln und blaſen das Horn.
Doch dich ſoll mein Arm umſchlingen,

Wie er Kayſer Heinrich umſchlang;

Ich hielt ihm zu die Ohren,

Wenn die Trompet' erklang.
[246]

Unendlich ſelig iſt das Gefuͤhl, wenn die Er¬
ſcheinungswelt mit unſerer Gemuͤthswelt zuſammen¬
rinnt, und gruͤne Baͤume, Gedanken, Vogelge¬
ſang, Wehmuth, Himmelsblaͤue, Erinnerung und
Kraͤuterduft ſich in ſuͤßen Arabesken verſchlingen.
Die Frauen kennen am beſten dieſes Gefuͤhl, und
darum mag auch ein ſo holdſelig unglaͤubiges
Laͤcheln um ihre Lippen ſchweben, wenn wir mit
Schulſtolz unſere logiſchen Thaten ruͤhmen, wie
wir Alles ſo huͤbſch eingetheilt in objektiv und ſub¬
jektiv, wie wir unſere Koͤpfe apothekenartig mit
tauſend Schubladen verſehen, wo in der einen
Vernunft, in der andern Verſtand, in der dritten
Witz, in der vierten ſchlechter Witz, und in der
fuͤnften gar nichts, naͤmlich die Idee, enthalten iſt.


Wie im Traume fortwandelnd, hatte ich faſt
nicht bemerkt, daß wir die Tiefe des Ilſethales ver¬
laſſen, und wieder bergauf ſtiegen. Dies ging ſehr
ſteil und muͤhſam, und Mancher von uns kam au¬
ßer Athem. Doch wie unſer ſeliger Vetter, der zu
Moͤlln begraben liegt, dachten wir im voraus an's
[247] Bergabſteigen, und waren um ſo vergnuͤgter. End¬
lich gelangten wir auf den Ilſenſtein.


Das iſt ein ungeheurer Granitfelſen, der ſich
lang und keck aus der Tiefe erhebt. Von drey
Seiten umſchließen ihn die hohen, waldbedeckten
Berge, aber die vierte, die Nordſeite, iſt frei und
hier ſchaut man das unten liegende Ilſenburg und
die Ilſe, weit hinab in's niedere Land. Auf der
thurmartigen Spitze des Felſens ſteht ein großes,
eiſernes Kreuz, und zur Noth iſt da noch Platz
fuͤr vier Menſchenfuͤße.


Wie nun die Natur, durch Stellung und Form,
den Ilſenſtein mit phantaſtiſchen Reizen geſchmuͤckt,
ſo hat auch die Sage ihren Roſenſchein daruͤber
ausgegoſſen. Gottſchalk berichtet: “Man erzaͤhlt,
hier habe ein verwuͤnſchtes Schloß geſtanden, in
welchem die reiche, ſchoͤne Prinzeſſin Ilſe gewohnt,
die ſich noch jetzt jeden Morgen in der Ilſe bade;
und wer ſo gluͤcklich iſt, den rechten Zeitpunkt zu
treffen, werde von ihr in den Felſen, wo ihr
Schloß ſey, gefuͤhrt und koͤniglich belohnt!” An¬
[248] dere erzaͤhlen von der Liebe des Fraͤuleins Ilſe
und des Ritters von Weſtenberg eine huͤbſche Ge¬
ſchichte, die einer unſerer bekannteſten Dichter ro¬
mantiſch in der “Abendzeitung” beſungen hat.
Andere wieder erzaͤhlen anders: es ſoll der altſaͤch¬
ſiſche Kayſer Heinrich geweſen ſeyn, der mit Ilſe,
der ſchoͤnen Waſſer-Fee, in ihrer verzauberten Fel¬
ſenburg die kayſerlichſten Stunden genoſſen. Ein
neuerer Schriftſteller, Herr Niemann, Wohlgeb.,
der ein Harzreiſebuch geſchrieben, worin er die
Gebirgshoͤhen, Abweichungen der Magnetnadel,
Schulden der Staͤdte und dergleichen mit loͤblichem
Fleiße und genauen Zahlen angegeben, behauptet
indeß: “Was man von der ſchoͤnen Prinzeſſin
Ilſe erzaͤhlt, gehoͤrt dem Fabelreiche an.” So
ſprechen alle dieſe Leute, denen eine ſolche Prinzeſ¬
ſin niemals erſchienen iſt, wir aber, die wir von
ſchoͤnen Damen beſonders beguͤnſtigt werden, wiſſen
das beſſer. Auch Kayſer Heinrich wußte es. Nicht
umſonſt hingen die altſaͤchſiſchen Kayſer ſo ſehr an
ihrem heimiſchen Harze. Man blaͤttere nur in
[249] der huͤbſchen Luͤneburger Chronik, wo die guten, alten
Herren, in wunderlich treuherzigen Holzſchnitten, ab¬
conterfeyt ſind, wohlgeharniſcht, hoch auf ihrem ge¬
wappneten Schlachtroß, die heilige Kayſerkrone auf
dem theuren Haupte, Scepter und Schwerdt in feſten
Haͤnden; und auf den lieben, knebelbaͤrtigen Geſich¬
tern kann man deutlich leſen, wie oft ſie ſich nach
den ſuͤßen Herzen ihrer Harz-Prinzeſſinnen und
dem traulichen Rauſchen der Harzwaͤlder zuruͤck¬
ſehnten, wenn ſie in der Fremde weilten, wohl gar
in dem zitronen- und giftreichen Welſchland, wohin
ſie und ihre Nachfolger ſo oft verlockt wurden von
dem Wunſche, roͤmiſche Kayſer zu heißen, einer
echtdeutſchen Titelſucht, woran Kayſer und Reich
zu Grunde gingen.


Ich rathe aber Jedem, der auf der Spitze des
Ilſenſteins ſteht, weder an Kayſer und Reich, noch
an die ſchoͤne Ilſe, ſondern bloß an ſeine Fuͤße zu
denken. Denn als ich dort ſtand, in Gedanken
verloren, hoͤrte ich ploͤtzlich die unterirdiſche Muſik
des Zauberſchloſſes, und ich ſah, wie ſich die Berge
[250] ringsum auf die Koͤpfe ſtellten, und die rothen
Ziegeldaͤcher zu Ilſenburg anfingen zu tanzen, und
die gruͤnen Baͤume in der blauen Luft herum flo¬
gen, daß es mir blau und gruͤn vor den Augen
wurde, und ich ſicher, vom Schwindel erfaßt, in
den Abgrund geſtuͤrzt waͤre, wenn ich mich nicht,
in meiner Seelennoth, an's eiſerne Kreuz feſtge¬
klammert haͤtte. Daß ich, in ſo mißlicher Stel¬
lung, dieſes letztere gethan habe, wird mir gewiß
niemand verdenken.


[251]

Die „Harzreiſe“ iſt und bleibt Fragment,
und die bunten Faͤden, die ſo huͤbſch hineinge¬
ſponnen ſind, um ſich im Ganzen harmoniſch
zu verſchlingen, werden ploͤtzlich, wie von der
Scheere der unerbittlichen Parze, abgeſchnitten.
Vielleicht verwebe ich ſie weiter in kuͤnftigen Lie¬
dern, und was jetzt kaͤrglich verſchwiegen iſt,
wird alsdann vollauf geſagt. Am Ende kommt
es auch auf Eins heraus, wann und wo man
etwas ausgeſprochen hat, wenn man es nur uͤber¬
haupt einmal ausſpricht. Moͤgen die einzelnen
Werke immerhin Fragmente bleiben, wenn ſie nur
in ihrer Vereinigung ein Ganzes bilden. Durch
ſolche Vereinigung mag hier und da das Mangel¬
hafte ergaͤnzt, das Schroffe ausgeglichen und das
Allzuherbe gemildert werden. Dieſes wuͤrde viel¬
leicht ſchon bey den erſten Blaͤttern der Harzreiſe
der Fall ſeyn, und ſie koͤnnten wohl einen minder
ſauren Eindruck hervorbringen, wenn man am
derweitig erfuͤhre, daß der Unmuth, den ich ge¬
gen Goͤttingen im Allgemeinen hege, obſchon er
[252] noch groͤßer iſt als ich ihn ausgeſprochen, doch
lange nicht ſo groß iſt wie die Verehrung, die ich
fuͤr einige Individuen dort empfinde. Und warum
ſollte ich es verſchweigen, ich meyne hier ganz be¬
ſonders jenen viel theueren Mann, der ſchon in
fruͤhern Zeiten ſich ſo freundlich meiner annahm,
mir ſchon damals eine innige Liebe fuͤr das Stu¬
dium der Geſchichte einfloͤßte, mich ſpaͤterhin in
dem Eifer fuͤr daſſelbe beſtaͤrkte, und dadurch mei¬
nen Geiſt auf ruhigere Bahnen fuͤhrte, meinem
Lebensmuthe heilſamere Richtungen anwies, und
mir uͤberhaupt jene hiſtoriſchen Troͤſtungen berei¬
tete, ohne welche ich die qualvollen Erſcheinungen
des Tages nimmermehr ertragen wuͤrde. Ich
ſpreche von Georg Sartorius, dem großen Ge¬
ſchichtsforſcher und Menſchen, deſſen Auge ein
klarer Stern iſt in unſerer dunklen Zeit, und
deſſen gaſtliches Herz offen ſteht fuͤr alle fremde
Leiden und Freuden, fuͤr die Beſorgniſſe des Bett¬
lers und des Koͤnigs, und fuͤr die letzten Seufzer
untergehender Voͤlker und ihrer Goͤtter. —


[253]

Ich kann nicht umhin, hier ebenfalls anzudeu¬
ten: daß der Oberharz, jener Theil des Harzes,
den ich bis zum Anfang des Ilſethals beſchrieben
habe, bey weitem keinen ſo erfreulichen Anblick
wie der romantiſch maleriſche Unterharz gewaͤhrt,
und in ſeiner wildſchroffen, tannendunklen Schoͤn¬
heit gar ſehr mit demſelben kontraſtirt; ſo wie
ebenfalls die drey, von der Ilſe, von der Bode und
von der Selke gebildeten Thaͤler des Unterharzes
gar anmuthig unter einander kontraſtiren, wenn man
den Charakter jedes Thales zu perſonifiziren weiß.
Es ſind drey Frauengeſtalten, wovon man nicht ſo
leicht zu entſcheiden vermag, welche die Schoͤnſte ſey.


Von der lieben, ſuͤßen Ilſe und wie ſuͤß und
lieblich ſie mich empfangen, habe ich ſchon geſagt
und geſungen. Die duͤſtere Schoͤne, die Bode,
empfing mich nicht ſo gnaͤdig, und als ich ſie im
ſchmiededunklen Ruͤbeland zuerſt erblickte, ſchien
ſie gar muͤrriſch und verhuͤllte ſich in einen ſilber¬
grauen Regenſchleyer; aber mit raſcher Liebe warf
ſie ihn ab, als ich auf die Hoͤhe der Roßtrappe
[254] gelangte, ihr Antlitz leuchtete mir entgegen in
ſonnigſter Pracht, aus allen Zuͤgen hauchte eine
koloſſale Zaͤrtlichkeit, und aus der bezwunge¬
nen Felſenbruſt drang es hervor wie Sehnſucht¬
ſeufzer und ſchmelzende Laute der Wehmuth. Min¬
der zaͤrtlich, aber froͤhlicher zeigte ſich mir die
ſchoͤne Selke, die ſchoͤne, liebenswuͤrdige Dame,
deren edle Einfalt und heitre Ruhe alle ſentimen¬
tale Familiaritaͤt entfernt haͤlt, die aber doch durch
ein halbverſtecktes Laͤcheln ihren neckenden Sinn
verraͤth; und dieſem moͤchte ich es wohl zu¬
ſchreiben, daß mich im Selkethale gar mancherley
kleines Ungemach heimſuchte, daß ich, indem ich
uͤber das Waſſer ſpringen wollte, juſt in die Mitte
hineinplumpſte, daß nachher, als ich das naſſe
Fußzeug mit Pantoffeln vertauſcht hatte, einer
derſelben mir abhanden, oder vielmehr ab¬
fuͤßen kam, daß mir ein Windſtoß die Muͤtze
entfuͤhrte, daß mir Wald-Dorne die Beine
zerfetzten, u. leider ſ. w. Doch all dieſes Unge¬
mach verzeihe ich gern der ſchoͤnen Dame, denn
[255] ſie iſt ſchoͤn. Und jetzt ſteht ſie vor meiner Ein¬
bildung mit all ihrem ſtillen Liebreiz, und ſcheint
zu ſagen: wenn ich auch lache, ſo meyne ich es doch
gut mit Ihnen, und ich bitte Sie, beſingen Sie
mich. Die herrliche Bode tritt ebenfalls hervor
in meiner Erinnerung, und ihr dunkles Auge
ſpricht: du gleichſt mir im Stolz und im Schmerze,
und ich will, daß du mich liebſt. Auch die ſchoͤne
Ilſe kommt herangeſprungen, zierlich und bezau¬
bernd in Miene, Geſtalt und Bewegung; ſie
gleicht ganz dem holden Weſen, das meine Traͤume
beſeligt, und ganz, wie Sie, ſchaut ſie mich an,
mit unwiderſtehlicher Gleichguͤltigkeit und doch zu¬
gleich ſo innig, ſo ewig, ſo durchſichtig wahr —
Nun, ich bin Paris, die drey Goͤttinnen ſte¬
hen vor mir, und den Apfel gebe ich der ſchoͤnen
Ilſe.


Es iſt heute der erſte May, wie ein Meer des
Lebens ergießt ſich der Fruͤhling uͤber die Erde,
der weiße Bluͤthenſchaum bleibt an den Baͤumen
haͤngen, ein weiter, warmer Nebelglanz verbrei¬
[256] tet ſich uͤberall, in der Stadt blitzen freudig die
Fenſterſcheiben der Haͤuſer, an den Daͤchern
bauen die Spatzen wieder ihre Neſtchen, auf der
Straße wandeln die Leute und wundern ſich, daß
die Luft ſo angreifend und ihnen ſelbſt ſo wunder¬
lich zu Muth iſt, die bunten Vierlanderinnen
bringen Veilchenſtraͤußer, die Waiſenkinder, mit
ihren blauen Jaͤckchen und ihren lieben, unehlichen
Geſichtchen, ziehen uͤber den Jungfernſtieg und
freuen ſich, als ſollten ſie heute einen Vater wie¬
derfinden, der Bettler an der Bruͤcke ſchaut ſo
vergnuͤgt, als haͤtte er das große Loos gewonnen,
ſogar den ſchwarzen, noch ungehenkten Makler,
der dort mit ſeinem ſpitzbuͤbiſchen Manufaktur¬
waaren-Geſicht einherlaͤuft, beſcheint die Sonne
mit ihren toleranteſten Strahlen, — ich will hin¬
auswandern vor das Thor.


Es iſt der erſte May, und ich denke deiner,
du ſchoͤne Ilſe — oder ſoll ich dich “Agnes” nen¬
nen, weil dir dieſer Name am beſten gefaͤllt? —
ich denke deiner, und ich moͤchte wieder zuſehen
[257] wie du leuchtend den Berg hinablaͤufſt. Am lieb¬
ſten aber moͤchte ich unten im Thale ſtehen und
dich auffangen in meine Arme. — Es iſt ein ſchoͤ¬
ner Tag! Ueberall ſehe ich die gruͤne Farbe, die
Farbe der Hoffnung. Ueberall, wie holde Wunder,
bluͤhen hervor die Blumen, und auch mein Herz
will wieder bluͤhen. Dieſes Herz iſt auch eine
Blume, eine gar wunderliche. Es iſt kein beſchei¬
denes Veilchen, keine lachende Roſe, keine reine
Lilie, oder ſonſtiges Bluͤmchen, das mit artiger
Lieblichkeit den Maͤdchenſinn erfreut, und ſich huͤbſch
vor den huͤbſchen Buſen ſtecken laͤßt, und heute
welkt und morgen wieder bluͤht. Dieſes Herz gleicht
mehr jener ſchweren, abentheuerlichen Blume aus
den Waͤldern Braſiliens, die, der Sage nach,
alle hundert Jahre nur einmal bluͤht. Ich erin¬
nere mich, daß ich als Knabe eine ſolche Blume ge¬
ſehen. Wir hoͤrten in der Nacht einen Schuß,
wie von einer Piſtole, und am folgenden Mor¬
gen erzaͤhlten mir die Nachbarskinder, daß es ihre
“Aloe” geweſen, die mit ſolchem Knalle ploͤtz¬
17[258] lich aufgebluͤht ſey. Sie fuͤhrten mich in ihren
Garten, und da ſah ich, zu meiner Verwunderung,
daß das niedrige, harte Gewaͤchs, mit den naͤr¬
riſch breiten, ſcharfgezackten Blaͤttern, woran man
ſich leicht verletzen konnte, jetzt ganz in die Hoͤhe
geſchoſſen war, und oben, wie eine goldne Krone,
die herrlichſte Bluͤthe trug. Wir Kinder konnten
nicht mahl ſo hoch hinaufſehen, und der alte,
ſchmunzelnde Chriſtian, der uns lieb hatte, baute
eine hoͤlzerne Treppe um die Blume herum, und
da kletterten wir hinauf, wie die Katzen, und
ſchauten neugierig in den offnen Blumenkelch, wor¬
aus die gelben Strahlenfaͤden und wildfremden Duͤfte
mit unerhoͤrter Pracht hervordrangen.


Ja, Agnes, oft und leicht kommt dieſes Herz
nicht zum Bluͤhen; ſo viel ich mich erinnere, hat
es nur ein einziges Mal gebluͤht, und das mag
ſchon lange her ſeyn, gewiß ſchon hundert Jahr.
Ich glaube, ſo herrlich auch damals ſeine Bluͤthe
ſich entfaltete, ſo mußte ſie doch aus Mangel an
Sonnenſchein und Waͤrme elendiglich verkuͤmmern,
[259] wenn ſie nicht gar von einem dunklen Winterſturme
gewaltſam zerſtoͤrt worden. Jetzt aber regt und
draͤngt es ſich wieder in meiner Bruſt, und hoͤrſt
du ploͤtzlich den Schuß — Maͤdchen! erſchrick nicht!
ich hab' mich nicht todt geſchoſſen, ſondern meine
Liebe ſprengt ihre Knospe, und ſchießt empor in
ſtrahlenden Liedern, in ewigen Dithyramben, in freu¬
digſter Sangesfuͤlle.


Iſt dir aber dieſe hohe Liebe zu hoch, Maͤd¬
chen, ſo mach' es dir bequem, und beſteige die hoͤl¬
zerne Treppe, und ſchaue von dieſer hinab in mein
bluͤhendes Herz.


Es iſt noch fruͤh am Tage, die Sonne hat
kaum die Haͤlfte ihres Weges zuruͤckgelegt, und
mein Herz duftet ſchon ſo ſtark, daß es mir betaͤu¬
bend zu Kopfe ſteigt, daß ich nicht mehr weiß
wo die Ironie aufhoͤrt und der Himmel anfaͤngt,
daß ich die Luft mit meinen Seufzern bevoͤlkere,
und daß ich ſelbſt wieder zerrinnen moͤchte in ſuͤße
Atome, in die unerſchaffene Gottheit; — wie ſoll
das erſt gehen, wenn es Nacht wird, und die Sterne
[260] am Himmel erſcheinen, „die ungluͤckſel'gen Sterne,
die dir ſagen koͤnnen — —“


Es iſt der erſte May, der lumpigſte Laden¬
ſchwengel hat heute das Recht ſentimental zu wer¬
den, und dem Dichter wollteſt du es verwehren?

[[261]]

Die Nordſee.

1825.


Erſte Abtheilung.

[[262]]

Uneigennuͤtzig zu ſeyn in Allem, am uneigennuͤtzig¬
ſten in Liebe und Freundſchaft, war meine hoͤchſte Luſt,
meine Maxime, meine Ausuͤbung, ſo daß jenes freche,
ſpaͤtere Wort „Wenn, ich dich liebe, was gebt's dich
an?“ mir recht aus der Seele geſprochen iſt.


(Aus Goͤthes «Dichtung und Wahrheit»
vierzehntes Buch.)

[[263]]

I.
Huldigung.

Ihr Lieder! Ihr meine guten Lieder!

Auf, auf! und wappnet Euch!

Laßt die Trompeten klingen,

Und hebt mir auf den Schild

Dies junge Maͤdchen,

Das jetzt mein ganzes Herz

Beherrſchen ſoll, als Koͤnigin.
Heil dir! du junge Koͤnigin!
Von der Sonne droben

Reiß' ich das ſtrahlend rothe Gold,

Und webe d'raus ein Diadem

Fuͤr dein geweihtes Haupt.

[264]
Von der flatternd blauſeid'nen Himmelsdecke,

Worin die Nachtdiamanten blitzen,

Schneid' ich ein koſtbar Stuͤck,

Und haͤng' es dir, als Kroͤnungsmantel,

Um deine koͤnigliche Schulter.

Ich gebe dir einen Hofſtaat

Von ſteifgeputzten Sonetten,

Stolzen Terzinen und hoͤflichen Stanzen;

Als Laͤufer diene dir mein Witz,

Als Hofnarr meine Phantaſie,

Als Herold, die lachende Thraͤne im Wappen,

Diene dir mein Humor.

Aber ich ſelber, Koͤnigin,

Ich kniee vor dir nieder,

Und huld'gend, auf rothem Sammetkiſſen,

Ueberreiche ich Dir

Das bischen Verſtand,

Das mir, aus Mitleid, noch gelaſſen hat

Deine Vorgaͤngerin im Reich.
[265]

II.
Abenddaͤmmerung.

Am blaſſen Meeresſtrande,

Saß ich gedankenbekuͤmmert und einſam.

Die Sonne neigte ſich tiefer, und warf

Gluͤhrothe Streifen auf das Waſſer,

Und die weißen, weiten Wellen,

Von der Fluth gedraͤngt,

Schaͤumten und rauſchten naͤher und naͤher —

Ein ſeltſam Geraͤuſch, ein Fluͤſtern und Pfeifen,

Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sauſen,

Dazwiſchen ein wiegenliedheimliches Singen —

Mir war als hoͤrt' ich verſcholl'ne Sagen,

Uralte, liebliche Maͤhrchen,

Die ich einſt, als Knabe,

Von Nachbarskindern vernahm,

Wenn wir am Sommerabend,

[266]
Auf den Treppenſteinen der Hausthuͤr,

Zum ſtillen Erzaͤhlen niederkauerten,

Mit kleinen, horchenden Herzen

Und neugierklugen Augen; —

Waͤhrend die großen Maͤdchen,

Neben duftenden Blumentoͤpfen,

Gegenuͤber am Fenſter ſaßen,

Roſengeſichter,

Laͤchelnd und mondbeglaͤnzt.
[267]

III.
Sonnenuntergang.

Die gluͤhend rothe Sonne ſteigt

Hinab in's weitaufſchauernde,

Silbergraue Weltmeer;

Luftgebilde, roſig angehaucht,

Wallen ihr nach, und gegenuͤber,

Aus herbſtlich daͤmmernden Wolkenſchleyern,

Ein traurig todtblaſſes Antlitz,

Bricht hervor der Mond,

Und hinter ihm, Lichtfuͤnkchen,

Nebelweit, ſchimmern die Sterne.
Einſt am Himmel, glaͤnzten,

Ehlich vereint,

[268]
Luna, die Goͤttin, und Sol, der Gott,

Und es wimmelten um ſie her die Sterne,

Die kleinen, unſchuldigen Kinder.
Doch boͤſe Zungen ziſchelten Zwieſpalt,

Und es trennte ſich feindlich

Das hohe, leuchtende Eh'paar.
Jetzt, am Tage, in einſamer Pracht,

Ergeht ſich dort oben der Sonnengott,

Ob ſeiner Herrlichkeit

Angebetet und vielbeſungen

Von ſtolzen, gluͤckgehaͤrteten Menſchen.

Aber des Nachts,

Am Himmel, wandelt Luna,

Die arme Mutter

Mit ihren verwaiſten Sternenkindern,

Und ſie glaͤnzt in ſtummer Wehmuth,

Und liebende Maͤdchen und ſanfte Dichter

Weihen ihr Thraͤnen und Lieder.
[269]
Die weiche Luna! Weiblich geſinnt,

Liebt ſie noch immer den ſchoͤnen Gemahl.

Gegen Abend, zitternd und bleich,

Lauſcht ſie hervor aus leichtem Gewoͤlk,

Und ſchaut nach dem Scheidenden, ſchmerzlich,

Und moͤchte ihm aͤngſtlich rufen: „Komm!

Komm! die Kinder verlangen nach Dir —“

Aber der trotzige Sonnengott,

Bey dem Anblick der Gattin, ergluͤht' er

In doppeltem Purpur,

Vor Zorn und Schmerz,

Und unerbittlich eilt er hinab

In ſein fluthenkaltes Wittwerbett.
Boͤſe, ziſchelnde Zungen

Brachten alſo Schmerz und Verderben

Selbſt uͤber ewige Goͤtter.

Und die armen Goͤtter, oben am Himmel
[270]
Wandeln ſie, qualvoll,

Troſtlos unendliche Bahnen,

Und koͤnnen nicht ſterben,

Und ſchleppen mit ſich

Ihr ſtrahlendes Elend.
Ich aber, der Menſch,

Der niedriggepflanzte, der Tod-begluͤckte,

Ich klage nicht laͤnger.
[271]

IV.
Die Nacht am Strande.

Sternlos und kalt iſt die Nacht,

Es gaͤhrt das Meer;

Und uͤber dem Meer', glatt auf dem Bauch',

Liegt der ungeſtaltete Nordwind,

Und heimlich, mit aͤchzend gedaͤmpfter Stimme,

Wie'n ſtoͤrriger Griesgram, der gutgelaunt wird,

Schwatzt er in's Waſſer hinein,

Und erzaͤhlt viel tolle Geſchichten,

Rieſenmaͤhrchen, todtſchlaglaunig,

Uralte Sagen aus Norweg,

Und dazwiſchen, weitſchallend, lacht er und heult er

Beſchwoͤrungslieder der Edda,

Graue Runenſpruͤche,

So dunkeltrotzig und zaubergewaltig,

Daß die weißen Meerkinder

[272]
Hochaufſpringen und jauchzen,

Uebermuth-berauſcht.
Derweilen, am flachen Geſtade,

Ueber den fluthbefeuchteten Sand,

Schreitet ein Fremdling, mit einem Herzen,

Das wilder noch als Wind und Wellen;

Wo er hintritt,

Spruͤhen Funken und kniſtern die Muſcheln,

Und er huͤllt ſich feſt in den grauen Mantel,

Und ſchreitet raſch durch die wehende Nacht;

Sicher geleitet vom kleinen Lichte,

Das lockend und lieblich ſchimmert,

Aus einſamer Fiſcherhuͤtte.
Vater und Bruder ſind auf der See,

Und mutterſeelallein blieb dort

In der Huͤtte die Fiſchertochter,

Die wunderſchoͤne Fiſchertochter.

Am Heerde ſitzt ſie

Und horcht auf des Waſſerkeſſels

[273]
Ahnungſuͤßes, heimliches Summen,

Und ſchuͤttet kniſterndes Reiſig in's Feuer,

Und blaͤßt hinein,

Daß die flackernd rothen Lichter

Zauberlieblich wiederſtrahlen

Auf das bluͤhende Antlitz,

Auf die zarte, weiße Schulter,

Die ruͤhrend hervorlauſcht

Aus dem groben, grauen Hemde,

Und auf die kleine, ſorgſame Hand,

Die das Unterroͤckchen feſter bindet,

Um die feine Huͤfte.
Aber ploͤtzlich, die Thuͤr ſpringt auf,

Und es tritt herein der naͤchtige Fremdling;

Lieb ſicher ruht ſein Auge

Auf dem weißen, ſchlanken Maͤdchen,

Das ſchauernd vor ihm ſteht,

Gleich einer erſchrockenen Lilje;

Und er wirft den Mantel zur Erde,

Und lacht und ſpricht:
18[274]
Siehſt du, mein Kind, ich halte Wort,

Und ich komme, und mit mir kommt

Die alte Zeit, wo die Goͤtter des Himmels

Niederſtiegen zu Toͤchtern der Menſchen,

Und die Toͤchter der Menſchen umarmten,

Und mit ihnen zeugten

Zeptertragende Koͤnigsgeſchlechter

Und Helden, Wunder der Welt.

Doch ſtaune, mein Kind, nicht laͤnger

Ob meiner Goͤttlichkeit,

Und ich bitte dich, koche mir Thee mit Rum,

Denn draußen war's kalt,

Und bey ſolcher Nachtluft

Frieren auch wir, wir ewigen Goͤtter,

Und kriegen wir leicht den goͤttlichſten Schnupfen,

Und einen unſterblichen Huſten.
[275]

V.
Poſeidon.

Die Sonnenlichter ſpielten

Ueber das weithinrollende Meer;

Fern' auf der Rehde glaͤnzte das Schiff,

Das mich zur Heimath tragen ſollte;

Aber es fehlte an gutem Fahrwind,

Und ich ſaß noch ruhig auf weißer Duͤhne,

Am einſamen Strand,

Und ich las das Lied vom Oduͤſſeus,

Das alte, ewig junge Lied,

Aus deſſen meerdurchrauſchten Blaͤttern

Mir freudig entgegenſtieg

Der Athem der Goͤtter,

Und der leuchtende Menſchenfruͤhling,

Und der bluͤhende Himmel von Hellas.
[276]
Mein edles Herz begleitete treulich

Den Sohn des Laërtes, in Irrfahrt und Drangſal,

Setzte ſich mit ihm, ſeelenbekuͤmmert,

An gaſtliche Heerde,

Wo Koͤniginnen Purpur ſpinnen,

Und half ihm luͤgen und gluͤcklich entrinnen

Aus Rieſenhoͤhlen und Nymphenarmen,

Folgte ihm nach in kuͤmeriſche Nacht,

Und in Sturm und Schiffbruch,

Und duldete mit ihm unſaͤgliches Elend.
Seufzend ſprach ich: Du boͤſer Poſeidon,

Dein Zorn iſt furchtbar,

Und mir ſelber bangt

Ob der eignen Heimkehr.
Kaum ſprach ich die Worte‚

Da ſchaͤumte das Meer,

Und aus den weißen Wellen ſtieg

Das ſchilfbekraͤnzte Haupt des Meergotts,

Und hoͤhniſch rief er:
[277]
Fuͤrchte dich nicht, Poetlein!

Ich will nicht im gringſten gefaͤhrden

Dein armes Schiffchen,

Und nicht dein liebes Leben beaͤngſt'gen

Mit allzubedenklichem Schaukeln.

Denn Du, Poetlein, haſt nie mich erzuͤrnt,

Du haſt kein einziges Thuͤrmchen verletzt

An Priamos heiliger Veſte,

Kein einziges Haͤrchen haſt du verſengt

Am Aug' meines Sohns Poluͤphemos,

Und Dich hat niemals rathend beſchuͤtzt

Die Goͤttin der Klugheit, Pallas Athene.
Alſo rief Poſeidon

Und tauchte zuruͤck in's Meer;

Und uͤber den groben Seemannswitz

Lachten unter dem Waſſer

Amphitrite, das plumpe Fiſchweib,

Und die dummen Toͤchter des Nereus.
[278]

VI.
Erklaͤrung.

Herangedaͤmmert kam der Abend,

Wilder toſte die Fluth,

Und ich ſaß am Strand, und ſchaute zu

Dem weißen Tanz der Wellen,

Und meine Bruſt ſchwoll auf wie das Meer,

Und ſehnend ergriff mich ein tiefes Heimweh

Nach dir, du holdes Bild,

Das uͤberall mich umſchwebt,

Und uͤberall mich ruft,

Ueberall, uͤberall,

Im Sauſen des Windes, im Brauſen des Meers,

Und im Seufzen der eigenen Bruſt.
Mit leichtem Rohr ſchrieb ich in den Sand:

„Agnes, ich liebe Dich!“

[279]
Doch boͤſe Wellen ergoſſen ſich

Ueber das ſuͤße Bekenntniß,

Und loͤſchten es aus.
Zerbrechliches Rohr, zerſtiebender Sand,

Zerfließende Wellen, Euch trau' ich nicht mehr!

Der Himmel wird dunkler, mein Herz wird wilder,

Und mit ſtarker Hand, aus Norwegs Waͤldern

Reiß ich die hoͤchſte Tanne,

Und tauche ſie ein

In des Aetnas gluͤhenden Schlund, und mit ſolcher

Feuergetraͤnkten Rieſenfeder

Schreib' ich an die dunkle Himmelsdecke:

“Agnes, ich liebe Dich!”
Jedwede Nacht lodert alsdann

Dort oben die ewige Flammenſchrift,

Und alle nachwachſende Enkelgeſchlechter

Leſen jauchzend die Himmelsworte:

“Agnes, ich liebe Dich!”
[280]

VII.
Nachts in der Cajuͤte.

Das Meer hat ſeine Perlen,

Der Himmel hat ſeine Sterne,

Aber mein Herz, mein Herz,

Mein Herz hat ſeine Liebe.
Groß iſt das Meer und der Himmel,

Doch groͤßer iſt mein Herz,

Und ſchoͤner als Perlen und Sterne

Leuchtet und ſtrahlt meine Liebe.
Du kleines, junges Maͤdchen,

Komm an mein großes Herz;

Mein Herz und das Meer und der Himmel

Vergehn vor lauter Liebe.
[281]
An die blaue Himmelsdecke,

Wo die ſchoͤnen Sterne blinken,

Moͤcht' ich preſſen meine Lippen,

Preſſen wild und ſtuͤrmiſch weinen.
Jene Sterne ſind die Augen

Meiner Liebſten, tauſendfaͤltig

Schimmern ſie und gruͤßen freundlich,

Aus der blauen Himmelsdecke.
Nach der blauen Himmelsdecke,

Nach den Augen der Geliebten,

Heb' ich andachtsvoll die Arme,

Und ich bete und ich flehe:
Holde Augen, Gnadenlichter,

O, beſeligt meine Seele,

Laßt mich ſterben und erwerben

Euch und Euren ganzen Himmel!
[282]
Aus den Himmelsaugen droben,

Fallen zitternd lichte Funken

Durch die Nacht, und meine Seele

Dehnt ſich liebeweit und weiter.
O, Ihr Himmelsaugen droben!

Weint Euch aus in meine Seele,

Daß von lieben Sternenthraͤnen

Ueberfließet meine Seele.
Eingewiegt von Meereswellen,

Und von traͤumenden Gedanken,

Lieg' ich ſtill in der Kajuͤte,

In dem dunkeln Winkelbette.
Durch die off'ne Luke ſchau' ich

Droben hoch die hellen Sterne,

Die geliebten, ſuͤßen Augen

Meiner ſuͤßen Vielgeliebten.
[283]
Die geliebten, ſuͤßen Augen,

Wachen uͤber meinem Haupte,

Und ſie klingen und ſie winken

Aus der blauen Himmelsdecke.
Nach der blauen Himmelsdecke

Schau' ich ſelig lange Stunden,

Bis ein weißer Nebelſchleyer

Mir verhuͤllt die lieben Augen.
An die bretterne Schiffswand,

Wo mein traͤumendes Haupt liegt,

Branden die Wellen, die wilden Wellen.

Sie rauſchen und murmeln

Mir heimlich in's Ohr:

“Bethoͤrter Geſelle!

Dein Arm iſt kurz, und der Himmel iſt weit,

Und die Sterne droben ſind feſtgenagelt,

Vergebliches Sehnen, vergebliches Seufzen,

Das Beſte waͤre, du ſchliefeſt ein.”
[284]
Es traͤumte mir von einer weiten Haide,

Weit uͤberdeckt von weißem, weißem Schnee,

Und unter'm weißen Schnee lag ich begraben,

Und ſchlief den einſam kalten Todesſchlaf.
Doch droben aus dem dunkeln Himmel ſchauten

Herunter auf mein Grab die Sternenaugen,

Die ſuͤßen Augen! und ſie glaͤnzten ſieghaft

Und ruhig heiter, aber voller Liebe.
[285]

VIII.
Sturm.

Es wuͤthet der Sturm,

Und er peitſcht die Well'n,

Und die Wellen, wuthſchaͤumend und baͤumend,

Thuͤrmen ſich auf, und es wogen lebendig

Die weißen Waſſerberge,

Und das Schifflein erklimmt ſie

Haſtig muͤhſam,

Und ploͤtzlich ſtuͤrzt es hinab

In ſchwarze, weitgaͤhnende Fluthabgruͤnde —
O Meer!

Mutter der Schoͤnheit, der Schaumentſtiegenen!

Großmutter der Liebe! ſchone meiner!

Schon flattert, leichenwitternd,

[286]
Die weiße, geſpenſtiſche Moͤve,

Und wetzt an den Maſtbaum den Schnabel,

Und lechzt, voll Fraßbegier, nach dem Mund,

Der vom Ruhm deiner Tochter ertoͤnt‚

Und lechzt nach dem Herzen,

Das dein Enkel, der kleine Schalk,

Zum Spielzeug erwaͤhlt.
Vergebens mein Bitten und Flehn!

Mein Rufen verhallt im toſenden Sturm,

Im Schlachtlaͤrm der Winde;

Es braußt und pfeift und praſſelt und heult‚

Wie ein Tollhaus von Toͤnen!

Und zwiſchendurch hoͤr' ich vernehmbar

Lockende Harfenlaute,

Sehnſuchtwilden Geſang,

Seelenſchmelzend und ſeelenzerreißend‚

Und ich erkenne die Stimme.
Fern an ſchottiſcher Felſenkuͤſte,

Wo das graue Schloͤßlein hinausragt

[287]
Ueber die brandende See,

Dort am hochgewoͤlbten Fenſter,

Steht eine ſchoͤne, kranke Frau,

Zartdurchſichtig und marmorblaß,

Und ſie ſpielt die Harfe und ſingt,

Und der Wind durchwuͤhlt ihre langen Locken,

Und traͤgt ihr dunkles Lied'

Ueber das weite, ſtuͤrmende Meer.
[288]

IX.
Meeresſtille.

Meeresſtille! Ihre Strahlen

Wirft die Sonne auf das Waſſer,

Und im wogenden Geſchmeide

Zieht das Schiff die gruͤnen Furchen.
Bey dem Steuer liegt der Bootsmann,

Auf dem Bauch, und ſchnarchet leiſe.

Bey dem Maſtbaum, ſeegelflickend,

Kauert der betheerte Schiffsjung.
Hinter'm Schmutze ſeiner Wangen

Spruͤht es roth, wehmuͤthig zuckt es

Um das breite Maul, und ſchmerzlich

Schau'n die großen, ſchoͤnen Augen.
[289]
Denn der Capitaͤn ſteht vor ihm,

Tobt und flucht und ſchilt ihn: Spitzbub.

“Spitzbub! einen Hering haſt du

Aus der Tonne mir geſtohlen!”
Meeresſtille! Aus den Wellen

Taucht hervor ein kluges Fiſchlein,

Waͤrmt das Koͤpfchen in der Sonne,

Plaͤtſchert luſtig mit dem Schwaͤnzchen.
Doch die Moͤve, aus den Luͤften,

Schießt herunter auf das Fiſchlein,

Und den raſchen Raub im Schnabel

Schwingt ſie ſich hinauf in's Blaue.
19[290]

X.
Seegeſpenſt.

Ich aber lag am Rande des Schiffes,

Und ſchaute, traͤumenden Auges,

Hinab in das ſpiegelklare Waſſer,

Und ſchaute tiefer und tiefer —

Bis tief, im Meeresgrunde,

Anfangs wie daͤmmernde Nebel,

Jedoch allmaͤhlig farbenbeſtimmter,

Kirchenkuppel und Thuͤrme ſich zeigten

Und endlich, ſonnenklar, eine ganze Stadt,

Alterthuͤmlich niederlaͤndiſch,

Und menſchenbelebt.

[291]
Bedaͤchtige Maͤnner, ſchwarzbemaͤntelt,

Mit weißen Halskrauſen und Ehrenketten

Und langen Degen und langen Geſichtern,

Schreiten, uͤber den wimmelnden Marktplatz,

Nach dem treppenhohen Rathhauſ',

Wo ſteinerne Kayſerbilder

Wacht halten mit Zepter und Schwerdt.

Unferne, vor langen Haͤuſer-Reih'n

Mit ſpiegelblanken Fenſtern,

Stehn pyramidiſch beſchnittene Linden,

Und wandeln ſeidenrauſchende Jungfrau'n,

Ein guͤlden Band um den ſchlanken Leib,

Die Blumengeſichter ſittſam umſchloſſen

Von ſchwarzen, ſammtnen Muͤtzchen,

Woraus die Lockenfuͤlle hervordringt.

Bunte Geſellen, in ſpaniſcher Tracht,

Stolziren voruͤber und nicken.

Bejahrte Frauen,

In braunen, verſchollnen Gewaͤndern,

Geſangbuch und Roſenkranz in der Hand,

Eilen, trippelnden Schritts,

[292]
Nach dem großen Dome,

Getrieben von Glockengelaͤute

Und rauſchendem Orgelton.
Mich ſelbſt ergreift des fernen Klangs

Geheimnißvoller Schauer,

Unendliches Sehnen, tiefe Wehmuth

Beſchleicht mein Herz,

Mein kaumgeheiltes Herz;

Mir iſt als wuͤrden ſeine Wunden

Von lieben Lippen aufgekuͤßt,

Und thaͤten wieder bluten,

Heiße, rothe Tropfen,

Die lang und langſam niederfall'n

Auf ein altes Haus dort unten

In der tiefen Meerſtadt,

Auf ein altes, hochgegiebeltes Haus,

Das melancholiſch menſchenleer iſt,

Nur daß am untern Fenſter

Ein Maͤdchen ſitzt,

Den Kopf auf den Arm geſtuͤtzt,

Wie ein armes, vergeſſenes Kind —

Und ich kenne dich armes, vergeſſenes Kind!
[293]
So tief, ſo tief alſo

Verſteckteſt du dich vor mir,

Aus kindiſcher Laune,

Und konnteſt nicht mehr hinauf,

Und ſaßeſt fremd unter fremden Leuten,

Fuͤnfhundert Jahre lang,

Derweilen ich, die Seele voll Gram,

Auf der ganzen Erde dich ſuchte,

Und immer dich ſuchte,

Du Immergeliebte,

Du Laͤngſtverlorene,

Du Endlichgefundene, —

Ich hab' dich gefunden und ſchaue wieder

Dein ſuͤßes Geſicht,

Die klugen, treuen Augen,

Das liebe Laͤcheln —

Und nimmer will ich dich wieder verlaſſen,

Und ich komme hinab zu dir,

[294]
Und mir ausgebreiteten Armen

Stuͤrz' ich hinab an dein Herz —
Aber zur rechten Zeit noch

Ergriff mich beym Fuß der Capitaͤn,

Und zog mich vom Schiffsrand,

Und rief, aͤrgerlich lachend:

Doktor, ſind Sie des Teufels?
[295]

XI.
Reinigung.

Bleib' Du in deiner Meerestiefe,

Wahnſinniger Traum,

Der du einſt ſo manche Nacht

Mein Herz mit falſchem Gluͤck gequaͤlt haſt

Und jetzt, als See-Geſpenſt,

Sogar am hellen Tag' mich bedroheſt —

Bleib' Du dort unten, in Ewigkeit,

Und ich werfe noch zu dir hinab

All meine Schmerzen und Suͤnden

Und die Schellenkappe der Thorheit,

Die ſo lange mein Haupt umklingelt,

Und die kalte, gleißende Schlangenhaut

Der Heucheley,

Die mir ſo lang' die Seele umwunden,

Die kranke Seele,

[296]
Die gottverleugnende, engelverleugnende,

Unſelige Seele —

Hoiho! Hoiho! Da kommt der Wind!

Die Segel auf! Sie flattern und ſchwell'n;

Ueber die ſtillverderbliche Flaͤche

Eilet das Schiff,

Und es jauchzt die befreyte Seele.
[297]

XII.
Frieden.

Hoch am Himmel ſtand die Sonne,

Von weißen Wolken umwogt,

Das Meer war ſtill.

Und ſinnend lag ich am Steuer des Schiffes,

Traͤumeriſch ſinnend, — und halb im Wachen

Und halb im Schlummer, ſchaute ich Chriſtus,

Den Heiland der Welt.

Im wallend weißen Gewande

Wandelt' er rieſengroß

Ueber Land und Meer;

Es ragte ſein Haupt in den Himmel,

Die Haͤnde ſtreckte er ſegnend

Ueber Land und Meer;

Und als ein Herz in der Bruſt

Trug er die Sonne,

[298]
Die rothe, flammende Sonne,

Und das rothe, flammende Sonnenherz

Goß ſeine Gnadenſtrahlen

Und ſein holdes, liebſeliges Licht,

Erleuchtend und waͤrmend,

Ueber Land und Meer.
Glockenklaͤnge zogen feyerlich

Hin und her, zogen wie Schwaͤne,

Am Roſenbande, das gleitende Schiff,

Und zogen es ſpielend an's gruͤne Ufer,

Wo Menſchen wohnen, in hochgethuͤrmter,

Ragender Stadt.
O Friedenswunder! Wie ſtill die Stadt!

Es ruhte das dumpfe Geraͤuſch

Der ſchwatzenden, ſchwuͤlen Gewerbe,

Und durch die reinen, hallenden Straßen

Zogen Menſchen, weißgekleidete,

Palmzweig-tragende,

Und wo ſich Zwey begegneten,

[299]
Sahn ſie ſich an, verſtaͤndnißinnig,

Und ſchauernd, in Liebe und ſuͤßer Entſagung,

Kuͤßten ſie ſich auf die Stirne,

Und ſchauten hinauf

Nach des Heilands Sonnenherzen,

Das freudig verſoͤhnend ſein rothes Blut

Hinunterſtrahlte,

Und dreymalſelig ſprachen ſie:

Gelobt ſey Jeſu Chriſt!
Haͤtteſt du doch dies Traumbild erſonnen,

Was gaͤbeſt du d'rum,

Geliebteſter!

Der du in Kopf und Lenden ſo ſchwach,

Und im Glauben ſo ſtark biſt,

Und die Dreyfaltigkeit ehreſt in Einfalt,

Und den Mops und das Kreuz und die Pfote

Der hohen Goͤnnerin taͤglich kuͤſſeſt,

Und dich hinaufgefroͤmmelt haſt

Zum Hofrath und dann zum Juſtizrath,

[300]
Und endlich zum Rathe bey der Regierung,

In der frommen Stadt,

Wo der Sand und der Glauben bluͤht,

Und der heiligen Sprea geduldiges Waſſer

Die Seelen waͤſcht und den Thee verduͤnnt —

Haͤtteſt du doch dies Traumbild erſonnen,

Geliebteſter!

Du truͤgeſt es, hoͤheren Ortes, zu Markt,

Dein weiches, blinzelndes Antlitz

Verſchwaͤmme ganz in Andacht und Demuth,

Und die Hocherlauchte,

Verzuͤckt und wonnebebend,

Saͤnke betend mit dir auf's Knie,

Und ihr Auge, ſelig ſtrahlend,

Verhieße dir eine Gehaltzulage

Von hundert Thalern Preußiſch Courant,

Und du ſtammelteſt haͤndefaltend:

Gelobt ſey Jeſu Chriſt!
[]

Appendix A Anmerkung.


Obſchon ich mich bey der Correctur dieſes Bandes
unſaͤglich abmuͤhte, ſo ſind doch gewiß viele Errata ſtehen
geblieben, und ich wuͤrde ſie auch gern nachtraͤglich ver¬
beſſern, wenn ich ſie nur in dieſem Augenblick gleich auf¬
zufinden wuͤßte. Zufaͤllig ſehe ich eben auf S. 123,
Z. 7 v. u. ſteht „erwaͤmte“ ſtatt: „erwaͤrmte.“ Auf
S. 217, Z. 8 v. u. ſteht „Angeli“ ſtatt: „Wurm.“
Ehrlich geſtanden, Erſteren habe ich niemals geſehen und
die gewiß ſehr bedeutende Namensverwechſelung iſt zu¬
faͤllig. S. 53, Z. 4 v. ob. ſteht „Bettlerwort“ ſtatt:
„Bettelwort.“ Letzteres iſt der beſſere Ausdruck. — Die
uͤbrigen Verbeſſerungen ſollen nachgeliefert werden im
zweiten Theile der Reiſebilder, welcher noch außerdem
recht viel Huͤbſches enthalten wird, z. B. abgebrochene Er¬
zaͤhlungen, halbe Anſichten der Hauptſtaͤdte Nord-Deutſch¬
land's, ſogar Bemerkungen uͤber polniſche Waͤlder und
deutſche Literatur u. ſ. w. — Saumſeligen Freunden,
die noch immer Mſpte von mir zuruͤckhalten und viel¬
leicht von gedruckten Bitten ſtaͤrker geruͤhrt werden, als
von geſchriebenen, wird recht liebevoll angedeutet: daß
Briefe und Paquete, mit der Aufſchrift “an Heinrich
Heine, Dr. Jur., per Adreſſe der Herren Hoffmann und
Campe in Hamburg“ jederzeit richtig an mich befoͤr¬
dert werden.


[]

Appendix B

Gedruckt in der Langhoffſchen Buchdruckerei in Hamburg.


[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Reisebilder. Reisebilder. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjcq.0