in die
Geiſteswiſſenſchaften.
in die
Geiſteswiſſenſchaften.
für das
Studium der Geſellſchaft und der Geſchichte
Leipzig,:
Verlag von Duncker \& Humblot.
1883.
[[IV]]
Das Ueberſetzungsrecht bleibt vorbehalten.
[[V]]
An den Grafen Paul Yorck von Wartenburg.
In einer unſerer erſten Unterhaltungen entwickelte ich
Ihnen den Plan dieſes Buches, welches ich damals noch als
Kritik der hiſtoriſchen Vernunft zu bezeichnen wagte. In den
ſchönen Jahren ſeitdem habe ich des einzigen Glückes genoſſen,
auf der Grundlage der Verwandtſchaft der Ueberzeugungen in oft
täglichem Geſpräch gemeinſam zu philoſophiren. Wie könnte
ich ausſondern wollen, was der Gedankenzuſammenhang, welchen
ich vorlege, Ihnen verdankt? Nehmen Sie, da wir nun räum-
lich getrennt worden ſind, dies Werk als ein Zeichen unwandel-
barer Geſinnung. Der ſchönſte Lohn der langen Arbeit, in
welcher es entſtand, wird mir der Beifall des Freundes ſein.
[[VI]][[VII]]
Inhalt.
Seite
Erſtes einleitendes Buch.
Ueberſicht über den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes, in welcher die Nothwendigkeit einer grundlegenden
Wiſſenſchaft dargethan wird.
- 1. Abſicht dieſer Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften 3
- 2. Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze, neben den
Naturwiſſenſchaften 5 - 3. Das Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften 17
- 4. Die Ueberſichten über die Geiſteswiſſenſchaften 26
- 5. Ihr Material 30
- 6. Drei Klaſſen von Ausſagen in ihnen 32
- 7. Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften aus der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit 34 - 8. Wiſſenſchaften der Einzelmenſchen als der Elemente dieſer Wirk-
lichkeit 35 - 9. Stellung des Erkennens zu dem Zuſammenhang geſchichtlich-geſell-
ſchaftlicher Wirklichkeit 44 - 10. Das wiſſenſchaftliche Studium der natürlichen Gliederung der
Menſchheit ſowie der einzelnen Völker 49 - 11. Unterſcheidung von zwei weiteren Klaſſen von Einzelwiſſenſchaften 52
- 12. Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur 61
- Die Beziehungen zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der
äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Das Recht 65 - Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur. Sittenlehre iſt eine
Wiſſenſchaft von einem Syſtem der Kultur 73
- Die Beziehungen zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der
- 13. Die Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft 80
[VIII]Inhalt.- Seite
- Die pſychologiſchen Grundlagen 80
- Die äußere Organiſation der Geſellſchaft als geſchichtlicher That-
beſtand 88 - Die Aufgabe der theoretiſchen Darſtellung der äußeren Organi-
ſation der Geſellſchaft 95
- 14. Philoſophie der Geſchichte und Sociologie ſind keine wirklichen
Wiſſenſchaften 108 - 15. Ihre Aufgabe iſt unlösbar.
- Beſtimmung der Aufgabe der Geſchichtswiſſenſchaft im Zu-
ſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften 116
- Beſtimmung der Aufgabe der Geſchichtswiſſenſchaft im Zu-
- 16. Ihre Methoden ſind falſch 130
- 17. Sie erkennen nicht die Stellung der Geſchichtswiſſenſchaft zu den
Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft 137 - 18. Wachſende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzelwiſſen-
ſchaften 141 - 19. Die Nothwendigkeit einer erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung für
die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes 145
Zweites Buch.
Metaphyſik als Grundlage der Geiſteswiſſenſchaften.
Ihre Herrſchaft und ihr Verfall.
Erſter Abſchnitt.
Das mythiſche Vorſtellen und die Entſtehung der Wiſſenſchaft
in Europa.
- Erſtes Kapitel. Die aus dem Ergebniß des erſten Buches ent-
ſpringende Aufgabe 153 - Zweites Kapitel. Der Begriff der Metaphyſik. Das Problem
ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen 158 - Drittes Kapitel. Das religiöſe Leben als Unterlage der
Metaphyſik. Der Zeitraum des mythiſchen Vorſtellens 167 - Viertes Kapitel. Die Entſtehung der Wiſſenſchaft in Europa 177
- Fünftes Kapitel. Charakter der älteſten griechiſchen Wiſſen-
ſchaft 182
Zweiter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium in der Entwicklung der alten Völker.
- Erſtes Kapitel. Verſchiedene metaphyſiſche Standpunkte werden
erprobt und erweiſen ſich als zur Zeit nicht entwicklungsfähig 187 - Seite
- Zweites Kapitel. Anaxagoras und die Entſtehung der mono-
theiſtiſchen Metaphyſik in Europa 197 - Drittes Kapitel. Die mechaniſche Weltanſicht durch Leukipp
und Demokrit begründet. Die Urſachen ihrer vorläufigen Macht-
loſigkeit gegenüber der monotheiſtiſchen Metaphyſik 212 - Viertes Kapitel. Zeitalter der Sophiſten und des Sokrates.
Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird ein-
geführt 218 - Fünftes Kapitel. Plato 225
- Fortſchritt der metaphyſiſchen Methode 225
- Die Lehre von den ſubſtantialen Formen des Kosmos tritt
in die monotheiſtiſche Metaphyſik ein 229 - Die Begründung dieſer Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.
Ihr monotheiſtiſcher Abſchluß 234
- Sechſtes Kapitel. Ariſtoteles und die Aufſtellung einer ab-
geſonderten metaphyſiſchen Wiſſenſchaft 242- Die wiſſenſchaftlichen Bedingungen 242
- Die Sonderung der Logik von der Metaphyſik und ihre Be-
ziehung auf dieſelbe 247 - Aufſtellung einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft der Metaphyſik 251
- Der metaphyſiſche Zuſammenhang der Welt 253
- Metaphyſik und Naturwiſſenſchaft 262
- Die Gottheit als der letzte und höchſte Gegenſtand der Meta-
phyſik 265
- Siebentes Kapitel. Die Metaphyſik der Griechen und die
geſellſchaftlich geſchichtliche Wirklichkeit 271- Schranken der griechiſchen Geiſteswiſſenſchaft 271
- Stadium der Zurückführung der geſellſchaftlichen Ordnung
auf göttliche Stiftung 274 - Das Naturrecht der Sophiſten als eine atomiſtiſche Meta-
phyſik der Geſellſchaft und die Gründe ſeiner Unfruchtbarkeit 276 - Die politiſche Wiſſenſchaft der ſokratiſchen Schule. Der ideale
Staat Platos. Die vergleichende Staatswiſſenſchaft des
Ariſtoteles 284
- Achtes Kapitel. Zerſetzung der Metaphyſik im Skepticismus.
Die alten Völker treten in das Stadium der Einzelwiſſen-
ſchaften 296- Der Skepticismus 297
- Die nachariſtoteliſche Metaphyſik und ihr ſubjektiver Charakter 305
- Die Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften 309
Seite
Dritter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium der neueren Völker.
- Erſtes Kapitel. Chriſtenthum, Erkenntnißtheorie und Meta-
phyſik 315 - Zweites Kapitel. Auguſtinus 322
- Die Väter 323
- Auguſtinus 326
- Drittes Kapitel. Die neue Generation von Völkern und ihr
metaphyſiſches Stadium 338 - Viertes Kapitel. Erſter Zeitraum des mittelalterlichen
Denkens 345- Die Theologie und die Dialektik als ihr Werkzeug 346
- Die Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des allmächtigen und
allwiſſenden Gottes und der Vorſtellung der Freiheit des
Menſchen 353 - Die Antinomien in der Vorſtellung Gottes nach ſeinen Eigen-
ſchaften 362
- Fünftes Kapitel. Die Theologie wird mit der Naturer-
kenntniß und der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos ver-
knüpft 369- Die Naturerkenntniß der Araber und ihr ariſtoteliſcher
Standpunkt 371 - Uebertragung auf das Abendland 378
- Die Naturerkenntniß der Araber und ihr ariſtoteliſcher
- Sechſtes Kapitel. Zweiter Zeitraum des mittelalterlichen
Denkens 381- 1. Abſchluß der Metaphyſik der ſubſtantialen Formen 382
- 2. Die verſtandesmäßige Begründung der transſcendenten
Welt 385- Die Schlüſſe auf das Daſein Gottes 385
- Die Beweiſe für die Unſterblichkeit der Seele 395
- 3. Innerer Widerſpruch der mittelalterlichen Metaphyſik,
der aus der Verknüpfung der Theologie mit der Wiſſen-
ſchaft vom Kosmos entſpringt 402- Charakter der ſo entſtehenden Syſteme 402
- Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des göttlichen In-
tellekts und der Vorſtellung des göttlichen Willens 403 - Antinomie zwiſchen der Ewigkeit der Welt und ihrer
Schöpfung in der Zeit 412 - Dieſe Antinomien können in keiner Metaphyſik aufge-
löſt werden 415
- Seite
- Siebentes Kapitel. Die mittelalterliche Metaphyſik der Ge-
ſchichte und Geſellſchaft 418- Das Reich immaterieller Subſtanzen 418
- Aufſtellung eines metaphyſiſchen Zuſammenhangs in demſelben 422
- Der religiöſe Vorſtellungskreis 429
- Der weltliche Vorſtellungskreis 434
Vierter Abſchnitt.
Die Auflöſung der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen
zur Wirklichkeit.
- Erſtes Kapitel. Die Bedingungen des modernen wiſſenſchaft-
lichen Bewußtſeins 446 - Zweites Kapitel. Die Naturwiſſenſchaften 457
- Die Metaphyſik des Alterthums und Mittelalters wird durch
die Naturwiſſenſchaften aufgelöſt 458 - Die mechaniſche Naturerklärung iſt weder eine neue Meta-
phyſik noch kann ſie als Ausgangspunkt einer ſolchen be-
nutzt werden 464 - Der Rückſtand aus der naturwiſſenſchaftlichen Erklärung im
freien Bewußtſein der Gedankenmäßigkeit des Weltzu-
ſammenhangs und des Lebens in der Natur 473
- Die Metaphyſik des Alterthums und Mittelalters wird durch
- Drittes Kapitel. Die Geiſteswiſſenſchaften 475
- Die metaphyſiſche Konſtruktion der Geſellſchaft und der Ge-
ſchichte wird aufgelöſt durch die Analyſis in der Wiſſen-
ſchaft des Einzelmenſchen 478 - in den Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft 481
- in der auf dieſe gegründeten Geſchichtswiſſenſchaft 484
- Rückſtand aus den Geiſteswiſſenſchaften im freien Bewußtſein
von dem Meta-Phyſiſchen der Menſchennatur und des Lebens 489
- Die metaphyſiſche Konſtruktion der Geſellſchaft und der Ge-
- Viertes Kapitel. Schlußbetrachtung über die Unmöglichkeit
der metaphyſiſchen Stellung des Erkennens 491- Der logiſche Weltzuſammenhang als Ideal der Metaphyſik 491
- Der Widerſpruch der Wirklichkeit gegen dies Ideal und die
Unhaltbarkeit der Metaphyſik 499 - Die Bänder des metaphyſiſchen Weltzuſammenhangs können
von dem Verſtand nicht eindeutig beſtimmt werden 507 - Eine inhaltliche Vorſtellung des Weltzuſammenhangs kann
nicht erwieſen werden 512
[[XII]]
Berichtigungen und Zuſätze.
S. 206 Zeile 12. Es iſt mir werthvoll, in den memoires de l’in-
stitut Bd. XXIX S. 176 ff., Martin, hypothèses astronomiques des plus
anciens philosophes de la Grèce étrangers à la notion de la sphéricité
de la terre dieſe Kombination, welche ich ſeit einer Reihe von Jahren in
meinen Vorleſungen vorgetragen, zu finden.
S. 347 Anm. Z. 4 lies et ſtatt Et.
[[XIII]]
Vorrede.
Das Buch, deſſen erſte Hälfte ich hier veröffentliche, verknüpft
ein hiſtoriſches mit einem ſyſtematiſchen Verfahren, um die Frage
nach den philoſophiſchen Grundlagen der Geiſteswiſſenſchaften mit
dem höchſten mir erreichbaren Grad von Gewißheit zu löſen.
Das hiſtoriſche Verfahren folgt dem Gang der Entwicklung, in
welcher die Philoſophie bisher nach einer ſolchen Begründung
gerungen hat; es ſucht den geſchichtlichen Ort der einzelnen Theorien
innerhalb dieſer Entwicklung zu beſtimmen und über den vom hiſto-
riſchen Zuſammenhang bedingten Werth derſelben zu orientiren;
ja aus der Verſenkung in dieſen Zuſammenhang der bisherigen
Entwicklung will es ein Urtheil über den innerſten Antrieb der
gegenwärtigen wiſſenſchaftlichen Bewegung gewinnen. So bereitet
die geſchichtliche Darſtellung die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung
vor, welche Gegenſtand der anderen Hälfte dieſes Verſuchs
ſein wird.
Da hiſtoriſche und ſyſtematiſche Darlegung ſo einander er-
gänzen ſollen, erleichtert es wol die Lektüre des geſchichtlichen
Theils, wenn ich den ſyſtematiſchen Grundgedanken andeute.
Am Ausgang des Mittelalters begann die Emanzipation der
Einzelwiſſenſchaften. Doch blieben unter ihnen die der Geſellſchaft
und Geſchichte noch lange, bis tief in das vorige Jahrhundert
hinein, in der alten Dienſtbarkeit der Metaphyſik. Ja die an-
wachſende Macht der Naturerkenntniß hatte für ſie ein neues
[XIV]Vorrede.
Unterwürfigkeitsverhältniß zur Folge, das nicht weniger drückend war
als das alte. Erſt die hiſtoriſche Schule — dies Wort in einem um-
faſſenderen Sinne genommen — vollbrachte die Emanzipation des
geſchichtlichen Bewußtſeins und der geſchichtlichen Wiſſenſchaft. In
derſelben Zeit da in Frankreich das im ſiebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert entwickelte Syſtem der geſellſchaftlichen Ideen als Na-
turrecht, natürliche Religion, abſtrakte Staatslehre und abſtrakte po-
litiſche Oekonomie in der Revolution ſeine praktiſchen Schlüſſe zog,
da die Armeen dieſer Revolution das alte, ſonderbar verbaute und
vom Hauch tauſendjähriger Geſchichte umwitterte Gebäude des
deutſchen Reiches beſetzten und zerſtörten, hatte ſich in unſerem
Vaterlande eine Anſchauung von geſchichtlichem Wachsthum, als
dem Vorgang in dem alle geiſtigen Thatſachen entſtehen, ausge-
bildet, welche die Unwahrheit jenes ganzen Syſtems geſellſchaft-
licher Ideen erwies. Sie reichte von Winkelmann und Herder
durch die romantiſche Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm,
Savigny und Böckh. Sie wurde durch den Rückſchlag gegen die
Revolution verſtärkt. Sie verbreitete ſich in England durch Burke,
in Frankreich durch Guizot und Tocqueville. Sie traf in den
Kämpfen der europäiſchen Geſellſchaft, mochten ſie Recht, Staat
oder Religion angehen, überall mit den Ideen des achtzehnten
Jahrhunderts feindlich zuſammen. Eine rein empiriſche Betrach-
tungsweiſe lebte in dieſer Schule, liebevolle Vertiefung in die
Beſonderheit des geſchichtlichen Vorgangs, ein univerſaler Geiſt
der Geſchichtsbetrachtung, welcher den Werth des einzelnen That-
beſtandes allein aus dem Zuſammenhang der Entwicklung be-
ſtimmen will, und ein geſchichtlicher Geiſt der Geſellſchaftslehre,
welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im
Studium der Vergangenheit ſucht und dem ſchließlich geiſtiges
Leben an jedem Punkte geſchichtliches iſt. Von ihr iſt ein Strom
neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwiſſenſchaften zu-
gefloſſen.
Aber die hiſtoriſche Schule hat bis heute die inneren Schranken
[XV]Vorrede.
nicht durchbrochen, welche ihre theoretiſche Ausbildung wie ihren
Einfluß auf das Leben hemmen mußten. Ihrem Studium und
ihrer Verwerthung der geſchichtlichen Erſcheinungen fehlte der Zu-
ſammenhang mit der Analyſis der Thatſachen des Bewußtſeins,
ſonach Begründung auf das einzige in letzter Inſtanz ſichere Wiſſen,
kurz eine philoſophiſche Grundlegung. Es fehlte ein geſundes
Verhältniß zu Erkenntnißtheorie und Pſychologie. Daher kam ſie
auch nicht zu einer erklärenden Methode, und doch vermögen ge-
ſchichtliches Anſchauen und vergleichendes Verfahren für ſich weder
einen ſelbſtändigen Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften aufzu-
richten noch auf das Leben Einfluß zu gewinnen. So verblieb
es, als nun Comte, St. Mill, Buckle von Neuem das Räthſel
der geſchichtlichen Welt durch Uebertragung naturwiſſenſchaftlicher
Prinzipien und Methoden zu löſen verſuchten, bei dem unwirkſamen
Proteſt einer lebendigeren und tieferen Anſchauung, die ſich weder
zu entwickeln noch zu begründen vermochte, gegen eine dürftige und
niedere, die aber der Analyſe Herr war. Die Oppoſition eines
Carlyle und anderer lebensvoller Geiſter gegen die exakte Wiſſenſchaft
war in der Stärke des Haſſes wie in der Gebundenheit der Zunge
und Sprache ein Zeichen dieſer Lage. Und in ſolcher Unſicher-
heit über die Grundlagen der Geiſteswiſſenſchaften zogen ſich die
Einzelforſcher bald auf bloße Deſkription zurück, bald fanden ſie
in ſubjektiver geiſtreicher Auffaſſung Genüge, bald warfen ſie ſich
wieder einer Metaphyſik in die Arme, welche dem Vertrauensvollen
Sätze verſpricht, die das praktiſche Leben umzugeſtalten die Kraft
haben.
Aus dem Gefühl dieſes Zuſtandes der Geiſteswiſſenſchaften iſt
mir der Verſuch entſtanden, das Prinzip der hiſtoriſchen Schule
und die Arbeit der durch ſie gegenwärtig durchgehends beſtimmten
Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft philoſophiſch zu begründen
und ſo den Streit zwiſchen dieſer hiſtoriſchen Schule und den ab-
ſtrakten Theorien zu ſchlichten. Mich quälten bei meinen Arbeiten
Fragen, die wol jeder nachdenkliche Hiſtoriker, Juriſt oder Poli-
[XVI]Vorrede.
tiker auf dem Herzen hat. So erwuchſen in mir von ſelber Be-
dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften.
Welcher iſt der Zuſammenhang von Sätzen, der gleicherweiſe dem
Urtheil des Geſchichtsſchreibers, den Schlüſſen des Nationalöko-
nomen, den Begriffen des Juriſten zu Grunde liegt und deren
Sicherheit zu beſtimmen ermöglicht? Reicht derſelbe in die Me-
taphyſik zurück? Giebt es etwa eine von metaphyſiſchen Begriffen
getragene Philoſophie der Geſchichte oder ein ſolches Naturrecht?
Wenn das aber widerlegt werden kann: wo iſt der feſte Rückhalt
für einen Zuſammenhang der Sätze, der den Einzelwiſſenſchaften
Verknüpfung und Gewißheit giebt?
Die Antworten Comte’s und der Poſitiviſten, St. Mill’s
und der Empiriſten auf dieſe Fragen ſchienen mir die geſchicht-
liche Wirklichkeit zu verſtümmeln, um ſie den Begriffen und Me-
thoden der Naturwiſſenſchaften anzupaſſen. Die Reaktion hiergegen,
deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes iſt, ſchien mir
die berechtigte Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften, die frucht-
bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der
Grundlegung einer ſentimentaliſchen Stimmung zu opfern, welche
die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die
Wiſſenſchaft ſehnſüchtig zurückzurufen begehrt. Ausſchließlich in der
inneren Erfahrung, in den Thatſachen des Bewußtſeins fand ich
einen feſten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten
Muth, daß kein Lefer ſich der Beweisführung in dieſem Punkte
entziehen wird. Alle Wiſſenſchaft iſt Erfahrungswiſſenſchaft, aber
alle Erfahrung hat ihren urſprünglichen Zuſammenhang und ihre
hierdurch beſtimmte Geltung in den Bedingungen unſeres Be-
wußtſeins, innerhalb deſſen ſie auftritt, in dem Ganzen unſerer
Natur. Wir bezeichnen dieſen Standpunkt, der folgerecht die Un-
möglichkeit einſieht, hinter dieſe Bedingungen zurückzugehen, gleich-
ſam ohne Auge zu ſehen oder den Blick des Erkennens hinter das
Auge ſelber zu richten, als den erkenntnißtheoretiſchen; die moderne
Wiſſenſchaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte ſich
[XVII]Vorrede.
mir weiter, daß die Selbſtändigkeit der Geiſteswiſſenſchaften eben
von dieſem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die
hiſtoriſche Schule ſie bedarf. Denn auf ihm erweiſt ſich unſer
Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns ver-
borgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität wie ſie iſt beſitzen wir
nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Thatſachen des
Bewußtſeins. Die Analyſis dieſer Thatſachen iſt das Centrum
der Geiſteswiſſenſchaften, und ſo verbleibt, dem Geiſte der hiſto-
riſchen Schule entſprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der
geiſtigen Welt in dem Bereich dieſer ſelber, und die Geiſtes-
wiſſenſchaften bilden ein in ſich ſelbſtändiges Syſtem.
Fand ich mich in ſolchen Punkten vielfach in Uebereinſtimmung
mit der erkenntnißtheoretiſchen Schule von Locke, Hume und Kant,
ſo mußte ich doch eben den Zuſammenhang der Thatſachen des
Bewußtſeins, in dem wir gemeinſam das ganze Fundament der
Philoſophie erkennen, anders faſſen, als es dieſe Schule gethan hat.
Wenn man von wenigen und nicht zur wiſſenſchaftlichen Ausbil-
dung gelangten Anſätzen, wie denen Herder’s und Wilhelm von
Humboldt’s abſieht, ſo hat die bisherige Erkenntnißtheorie, die
empiriſtiſche wie die Kant’s, die Erfahrung und die Erkenntniß
aus einem dem bloßen Vorſtellen angehörigen Thatbeſtand erklärt.
In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und
Kant konſtruirten, rinnt nicht wirkliches Blut, ſondern der ver-
dünnte Saft von Vernunft als bloßer Denkthätigkeit. Mich führte
aber hiſtoriſche wie pſychologiſche Beſchäftigung mit dem ganzen
Menſchen dahin, dieſen, in der Mannichfaltigkeit ſeiner Kräfte,
dies wollend fühlend vorſtellende Weſen auch der Erklärung der
Erkenntniß und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Subſtanz,
Urſache) zu Grunde zu legen, ob die Erkenntniß gleich dieſe ihre
Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorſtellen und
Denken zu weben ſcheint. Die Methode des folgenden Verſuchs iſt
daher dieſe: jeden Beſtandtheil des gegenwärtigen abſtrakten, wiſſen-
ſchaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menſchennatur, wie
[XVIII]Vorrede.
Erfahrung, Studium der Sprache und der Geſchichte ſie erweiſen
und ſuche ihren Zuſammenhang. Und ſo ergiebt ſich: die wichtigſten
Beſtandtheile unſeres Bildes und unſerer Erkenntniß der Wirk-
lichkeit, wie eben perſönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen
außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechſelwirkung, ſie alle
können aus dieſer ganzen Menſchennatur erklärt werden, deren
realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorſtellen nur ſeine
verſchiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines ſtarren a priori
unſeres Erkenntnißvermögens, ſondern allein Entwicklungsgeſchichte,
welche von der Totalität unſeres Weſens ausgeht, kann die Fragen
beantworten, die wir alle an die Philoſophie zu richten haben.
Hier ſcheint ſich das hartnäckigſte aller Räthſel dieſer Grund-
legung, die Frage nach Urſprung und Recht unſerer Ueberzeugung
von der Realität der Außenwelt zu löſen. Dem bloßen Vorſtellen
bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unſerem
ganzen wollend fühlend vorſtellenden Weſen iſt uns mit unſerem
Selbſt zugleich und ſo ſicher als dieſes äußere Wirklichkeit (d. h.
ein von uns unabhängiges Andere, ganz abgeſehen von ſeinen
räumlichen Beſtimmungen) gegeben; ſonach als Leben, nicht als
bloßes Vorſtellen. Wir wiſſen von dieſer Außenwelt nicht kraft
eines Schluſſes von Wirkungen auf Urſachen oder eines dieſem
Schluß entſprechenden Vorganges, vielmehr ſind dieſe Vorſtellungen
von Wirkung und Urſache ſelber nur Abſtraktionen aus dem
Leben unſeres Willens. So erweitert ſich der Horizont der Er-
fahrung, die zunächſt nur von unſren eigenen inneren Zuſtänden
Kunde zu geben ſchien; mit unſerer Lebenseinheit zugleich iſt uns
eine Außenwelt gegeben, ſind andere Lebenseinheiten vorhanden.
Doch wieweit ich dies erweiſen kann und wieweit es dann ferner
überhaupt gelingt, von dem oben bezeichneten Standpunkte aus einen
geſicherten Zuſammenhang der Erkenntniſſe von der Geſellſchaft
und Geſchichte herzuſtellen, muß dem ſpäteren Urtheil des Leſers
über die Grundlegung ſelber anheimgegeben bleiben.
Ich habe nun eine gewiſſe Umſtändlichkeit nicht geſcheut, um
[XIX]Vorrede.
den Hauptgedanken und die Hauptſätze dieſer erkenntnißtheoretiſchen
Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften mit den verſchiedenen Seiten
des wiſſenſchaftlichen Denkens der Gegenwart in Beziehung zu
ſetzen und dadurch mehrfach zu begründen. So geht dieſer Verſuch
zuerſt von der Ueberſicht über die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes
aus, da in ihnen der breite Stoff und das Motiv dieſer ganzen
Arbeit liegt, und er ſchließt von ihnen rückwärts (erſtes Buch).
Dann führt der vorliegende Band die Geſchichte des philoſophiſchen
Denkens, das nach feſten Grundlagen des Wiſſens ſucht, durch
den Zeitraum hindurch, in welchem ſich das Schickſal der meta-
phyſiſchen Grundlegung entſchied (zweites Buch). Der Beweis wird
verſucht, daß eine allgemein anerkannte Metaphyſik durch eine Lage
der Wiſſenſchaften bedingt war, die wir hinter uns gelaſſen haben,
und ſonach die Zeit der metaphyſiſchen Begründung der Geiſtes-
wiſſenſchaften ganz vorüber iſt. Der zweite Band wird zunächſt
dem geſchichtlichen Verlauf in das Stadium der Einzelwiſſen-
ſchaften und der Erkenntnißtheorie nachgehen und die erkenntniß-
theoretiſchen Arbeiten bis zur Gegenwart darſtellen und beurtheilen
(drittes Buch). Er wird dann eine eigene erkenntnißtheoretiſche
Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften verſuchen (viertes und fünftes
Buch). Die Ausführlichkeit des hiſtoriſchen Theils iſt nicht nur
aus dem praktiſchen Bedürfniß einer Einleitung, ſondern auch aus
meiner Ueberzeugung von dem Werth der geſchichtlichen Selbſtbe-
ſinnung neben der erkenntnißtheoretiſchen hervorgegangen. Dieſelbe
Ueberzeugung ſpricht ſich aus in der ſeit mehreren Generationen
anhaltenden Vorliebe für die Geſchichte der Philoſophie ſowie in
Hegel’s, des ſpäteren Schelling und Comte’s Verſuchen, ihr Syſtem
hiſtoriſch zu begründen. Die Berechtigung dieſer Ueberzeugung
wird auf dem entwicklungsgeſchichtlichen Standpunkt noch augen-
ſcheinlicher. Denn die Geſchichte der intellektuellen Entwicklung
zeigt das Wachsthum deſſelben Baumes im hellen Lichte der Sonne,
deſſen Wurzeln unter der Erde die erkenntnißtheoretiſche Grund-
legung aufzuſuchen hat.
[XX]Vorrede.
Meine Aufgabe führte mich durch ſehr verſchiedene Felder
des Wiſſens, ſo wird mancher Irrthum mir nachgeſehen werden
müſſen. Möchte das Werk auch nur einigermaßen ſeiner Aufgabe
entſprechen können, den Inbegriff von geſchichtlichen und ſyſte-
matiſchen Einſichten zu vereinigen, deren der Juriſt und der Po-
litiker, der Theologe und der geſchichtliche Forſcher als Grundlage
für ein fruchtbares Studium ihrer Einzelwiſſenſchaften bedürfen.
Dieſer Verſuch erſcheint, bevor ich eine alte Schuld durch die
Vollendung der Biographie Schleiermacher’s abgetragen habe.
Nach dem Abſchluß der Vorarbeiten für die zweite Hälfte der-
ſelben ergab ſich bei der Ausarbeitung, daß die Darſtellung und
Kritik des Syſtems von Schleiermacher überall Erörterungen über
die letzten Fragen der Philoſophie vorausſetzten. So wurde die
Biographie bis zum Erſcheinen des gegenwärtigen Buches zurückge-
legt, welches mir dann ſolche Erörterungen erſparen wird.
Berlin, Oſtern 1883.
Wilhelm Dilthey.
Erſtes einleitendes Buch.
Ueberſicht über den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes, in welcher die Nothwendigkeit einer grundlegenden
Wiſſenſchaft dargethan wird.
‚Uebrigens hat ſich bisher die Wirklichkeit der
treu ihren Geſetzen nachforſchenden Wiſſenſchaft
immer noch viel erhabener und reicher enthüllt,
als die äußerſten Anſtrengungen mythiſcher
Phantaſie und metaphyſiſcher Speculation ſie
auszumalen wußten.’
Dilthey, Einleitung. 1
[[2]][[3]]
I.
Abſicht dieſer Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften.
Seit Bacon’s berühmtem Werke ſind Schriften, welche Grund-
lage und Methode der Naturwiſſenſchaften erörtern und ſo in das
Studium derſelben einführen, insbeſondere von Naturforſchern
verfaßt worden, die bekannteſte unter ihnen die von Sir John
Herſchel. Es erſchien als ein Bedürfniß, denen, welche ſich mit
der Geſchichte, der Politik, Jurisprudenz oder politiſchen Oekonomie,
der Theologie, Literatur oder Kunſt beſchäftigen, einen ähnlichen
Dienſt zu leiſten. Von den praktiſchen Bedürfniſſen der Geſell-
ſchaft, von dem Zweck einer Berufsbildung aus, welche der
Geſellſchaft ihre leitenden Organe mit den für ihre Aufgabe
nothwendigen Kenntniſſen ausrüſtet, pflegen diejenigen, welche ſich
den bezeichneten Wiſſenſchaften widmen, an ſie heranzutreten.
Doch wird dieſe Berufsbildung nur in dem Verhältniß den Ein-
zelnen zu hervorragenderen Leiſtungen befähigen, als ſie das Maß
einer techniſchen Abrichtung überſchreitet. Die Geſellſchaft iſt
einem großen Maſchinenbetrieb vergleichbar, welcher durch die
Dienſte unzähliger Perſonen in Gang erhalten wird: der mit der
iſolirten Technik ſeines Einzelberufs innerhalb ihrer Ausgerüſtete
iſt, wie vortrefflich er auch dieſe Technik inne habe, in der Lage
eines Arbeiters, der ein Leben hindurch an einem einzelnen Punkte
dieſes Betriebs beſchäftigt iſt, ohne die Kräfte zu kennen, welche
ihn in Bewegung ſetzen, ja ohne von den anderen Theilen dieſes
Betriebs und ihrem Zuſammenwirken zu dem Zweck des Ganzen
eine Vorſtellung zu haben. Er iſt ein dienendes Werkzeug der
Geſellſchaft, nicht ihr bewußt mitgeſtaltendes Organ. Dieſe Ein-
1*
[4]Erſtes einleitendes Buch.
leitung möchte dem Politiker und Juriſten, dem Theologen und
Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und
Regeln, welche ihn leiten, zu der umfaſſenden Wirklichkeit der
menſchlichen Geſellſchaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem
Punkte, an welchem er eingreift, ſchließlich die Arbeit ſeines
Lebens gewidmet iſt.
Es liegt in der Natur des Gegenſtandes, daß die Einſichten,
deren es zur Löſung dieſer Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten
zurückreichen, welche der Erkenntniß ſowol der Natur als der
geſchichtlich geſellſchaftlichen Welt zu Grunde gelegt werden müſſen.
So gefaßt begegnet ſich dieſe Aufgabe, die in den Bedürfniſſen
des praktiſchen Lebens gegründet iſt, mit einem Problem, welches
der Zuſtand der reinen Theorie ſtellt.
Die Wiſſenſchaften, welche die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirk-
lichkeit zu ihrem Gegenſtand haben, ſuchen angeſtrengter als je
zuvor geſchah ihren Zuſammenhang untereinander und ihre Be-
gründung. Urſachen, die in dem Zuſtande der einzelnen poſitiven
Wiſſenſchaften liegen, wirken in dieſer Richtung zuſammen mit den
mächtigeren Antrieben, die aus den Erſchütterungen der Geſellſchaft
ſeit der franzöſiſchen Revolution entſpringen. Die Erkenntniß der
Kräfte, welche in der Geſellſchaft walten, der Urſachen, welche ihre
Erſchütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines ge-
ſunden Fortſchritts, die in ihr vorhanden ſind, iſt zu einer Lebens-
frage für unſere Civiliſation geworden. Daher wächſt die Be-
deutung der Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gegenüber denen der
Natur; in den großen Dimenſionen unſeres modernen Lebens
vollzieht ſich eine Umänderung der wiſſenſchaftlichen Intereſſen,
welche der in den kleinen griechiſchen Politien im 5. und 4. Jahr-
hundert vor Chriſto ähnlich iſt, als die Umwälzungen in dieſer
Staatengeſellſchaft die negativen Theorien des ſophiſtiſchen Natur-
rechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der ſokratiſchen Schulen
über den Staat hervorbrachten.
[5]Der Name Geiſteswiſſenſchaft erläutert.
II.
Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze, neben den
Naturwiſſenſchaften.
Das Ganze der Wiſſenſchaften, welche die geſchichtlich-geſell-
ſchaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtande haben, wird in dieſem
Werke unter dem Namen der Geiſteswiſſenſchaften zuſammengefaßt.
Der Begriff dieſer Wiſſenſchaften, vermöge deſſen ſie ein Ganzes
bilden, die Abgrenzung dieſes Ganzen gegen die Naturwiſſenſchaft
kann endgültig erſt in dem Werke ſelber aufgeklärt und begründet
werden; hier an ſeinem Beginn ſtellen wir nur die Bedeutung
feſt, in welcher wir den Ausdruck gebrauchen werden und deuten
vorläufig auf den Thatſacheninbegriff hin, in welchem die Ab-
grenzung eines ſolchen einheitlichen Ganzen der Geiſteswiſſenſchaften
von den Wiſſenſchaften der Natur gegründet iſt.
Unter Wiſſenſchaft verſteht der Sprachgebrauch einen Inbegriff
von Sätzen, deſſen Elemente Begriffe d. h. vollkommen beſtimmt,
im ganzen Denkzuſammenhang conſtant und allgemeingültig,
deſſen Verbindungen begründet, in dem endlich die Theile zum
Zweck der Mittheilung zu einem Ganzen verbunden ſind, weil
entweder ein Beſtandtheil der Wirklichkeit durch dieſe Verbindung
von Sätzen in ſeiner Vollſtändigkeit gedacht oder ein Zweig der
menſchlichen Thätigkeit durch ſie geregelt wird. Wir bezeichnen
daher hier mit dem Ausdruck Wiſſenſchaft jeden Inbegriff geiſtiger
Thatſachen, an welchem die genannten Merkmale ſich vorfinden
und auf den ſonach insgemein der Name der Wiſſenſchaft ange-
wendet wird: wir ſtellen dem entſprechend den Umfang unſerer
Aufgabe vorläufig vor. Dieſe geiſtigen Thatſachen, welche ſich
geſchichtlich in der Menſchheit entwickelt haben, und auf die nach
einem gemeinſamen Sprachgebrauch die Bezeichnung von Wiſſen-
ſchaften des Menſchen, der Geſchichte, der Geſellſchaft übertragen
worden iſt, bilden die Wirklichkeit, welche wir nicht meiſtern,
ſondern zunächſt begreifen wollen. Die empiriſche Methode fordert,
daß an dieſem Beſtande der Wiſſenſchaften ſelber der Werth der
einzelnen Verfahrungsweiſen, deren das Denken ſich hier zur
[6]Erſtes einleitendes Buch.
Löſung ſeiner Aufgaben bedient, hiſtoriſch-kritiſch entwickelt, daß
an der Anſchauung dieſes großen Vorganges, deſſen Subjekt die
Menſchheit ſelber iſt, die Natur des Wiſſens und Erkennens auf
dieſem Gebiet aufgeklärt werde. Eine ſolche Methode ſteht in
Gegenſatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den ſo-
genannten Poſitiviſten geübten, welche aus einer meiſt in natur-
wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen erwachſenen Begriffsbeſtimmung
des Wiſſens den Inhalt des Begriffes Wiſſenſchaft ableitet, und
von ihm aus darüber entſcheidet, welchen intellektuellen Beſchäf-
tigungen der Name und Rang einer Wiſſenſchaft zukomme. So
haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wiſſens
aus, der Geſchichtſchreibung, wie ſie große Meiſter geübt haben,
kurzſichtig und dünkelhaft den Rang der Wiſſenſchaft abgeſprochen;
die Anderen haben die Wiſſenſchaften, welche Imperative zu ihrer
Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkennt-
niß der Wirklichkeit umbilden zu müſſen geglaubt.
Der Inbegriff der geiſtigen Thatſachen, welche unter dieſen
Begriff von Wiſſenſchaft fallen, pflegt in zwei Glieder getheilt zu
werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwiſſenſchaft
bezeichnet wird; für das andere iſt, merkwürdig genug, eine all-
gemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich ſchließe mich
an den Sprachgebrauch derjenigen Denker an, welche dieſe andere
Hälfte des globus intellectualis als Geiſteswiſſenſchaften bezeichnen.
Einmal iſt dieſe Bezeichnung, nicht am wenigſten durch die weite
Verbreitung der Logik J. St. Mill’s, eine gewohnte und allge-
mein verſtändliche geworden. Alsdann erſcheint ſie, verglichen
mit all den anderen unangemeſſenen Bezeichnungen, zwiſchen denen
die Wahl iſt, als die mindeſt unangemeſſene. Sie drückt höchſt
unvollkommen den Gegenſtand dieſes Studiums aus. Denn in
dieſem ſelber ſind die Thatſachen des geiſtigen Lebens nicht von
der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit der Menſchennatur getrennt.
Eine Theorie, welche die geſellſchaftlich-geſchichtlichen Thatſachen
beſchreiben und analyſiren will, kann nicht von dieſer Totalität der
Menſchennatur abſehen und ſich auf das Geiſtige einſchränken.
Aber der Ausdruck theilt dieſen Mangel mit jedem anderen, der
[7]Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze.
angewandt worden iſt; Geſellſchaftswiſſenſchaft (Sociologie), mora-
liſche, geſchichtliche, Cultur-Wiſſenſchaften: alle dieſe Bezeich-
nungen leiden an demſelben Fehler, zu eng zu ſein in Bezug auf
den Gegenſtand, den ſie ausdrücken ſollen. Und der hier gewählte
Name hat wenigſtens den Vorzug, den centralen Thatſachenkreis
angemeſſen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die
Einheit dieſer Wiſſenſchaften geſehen, ihr Umfang entworfen, ihre
Abgrenzung gegen die Naturwiſſenſchaften, wenn auch noch ſo
unvollkommen, vollzogen worden iſt.
Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus-
gegangen iſt, dieſe Wiſſenſchaften als eine Einheit von denen der
Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menſch-
lichen Selbſtbewußtſeins. Unangerührt noch von Unterſuchungen
über den Urſprung des Geiſtigen, findet der Menſch in dieſem
Selbſtbewußtſein eine Souveränität des Willens, eine Verant-
wortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken
zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit ſeiner
Perſon zu widerſtehen, durch welche er ſich von der ganzen Natur
abſondert. Er findet ſich in dieſer Natur in der That, einen Aus-
druck Spinoza’s zu gebrauchen, als imperium in imperio1). Und
da für ihn nur das beſteht, was Thatſache ſeines Bewußtſeins
iſt, ſo liegt in dieſer ſelbſtändig in ihm wirkenden geiſtigen
Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herſtellung
geiſtiger Thatbeſtände jedes Ziel ſeiner Handlungen. So ſondert
er von dem Reich der Natur ein Reich der Geſchichte, in welchem,
mitten in dem Zuſammenhang einer objektiven Nothwendigkeit,
welcher Natur iſt, Freiheit an unzähligen Punkten dieſes Ganzen
aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegenſatz
zu dem mechaniſchen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im
Anſatz Alles was in ihm erfolgt ſchon enthält, durch ihren Kraft-
[8]Erſtes einleitendes Buch.
aufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung des Individuum ja
in ſeiner Erfahrung gegenwärtig beſitzt, wirklich etwas her-
vor, erarbeiten Entwicklung, in der Perſon und in der Menſch-
heit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf
im Bewußtſein hinaus, in deren Vorſtellung als einem Ideal
geſchichtlichen Fortſchritts die Götzenanbeter der intellektuellen Ent-
wickelung ſchwelgen.
Vergeblich freilich hat die metaphyſiſche Epoche, für welche
dieſe Verſchiedenheit der Erklärungsgründe ſich ſofort als eine
ſubſtantiale Verſchiedenheit in der objektiven Gliederung des Welt-
zuſammenhangs darſtellte, gerungen, Formeln für die objektive
Grundlage dieſes Unterſchieds der Thatſachen des geiſtigen Lebens
von denen des Naturlaufs feſtzuſtellen und zu begründen. Unter
allen Veränderungen, welche die Metaphyſik der Alten bei den
mittelalterlichen Denkern erfahren hat, iſt keine folgenreicher ge-
weſen, als daß nunmehr, im Zuſammenhang mit den alles be-
herrſchenden religiöſen und theologiſchen Bewegungen, inmitten
deren dieſe Denker ſtanden, die Beſtimmung der Verſchiedenheit
zwiſchen der Welt der Geiſter und der Welt der Körper, alsdann
der Beziehung dieſer beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittel-
punkt des Syſtems trat. Das metaphyſiſche Hauptwerk des Mittel-
alters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas,
entwirft von ſeinem zweiten Buche ab eine Gliederung der ge-
ſchaffenen Welt, in welcher die Weſenheit (eessentia quidditas)
von dem Sein (esse) unterſchieden iſt, während in Gott ſelber
dieſe beiden eins ſind 1); in der Hierarchie der geſchaffenen Weſen
weiſt es als ein oberſtes nothwendiges Glied die geiſtigen Sub-
ſtanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zuſammenge-
ſetzt, ſondern per se körperlos ſind: die Engel; von ihnen ſcheidet
es die intellektuellen Subſtanzen oder unkörperlichen ſubſiſtirenden
Formen, welche zur Completirung ihrer Species (nämlich der Spe-
cies: Menſch) der Körper bedürfen, und entwickelt an dieſem Punkte
eine Metaphyſik des Menſchengeiſtes, im Kampf gegen die arabiſchen
[9]Metaphyſiſche Begründung ihrer Selbſtändigkeit.
Philoſophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphyſiſchen
Schriftſteller unſerer Tage verfolgt werden kann 1); von dieſer Welt
unvergänglicher Subſtanzen grenzt es den Theil des Geſchaffenen
ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie ſein Weſen
hat. Dieſe Metaphyſik des Geiſtes (rationale Pſychologie) wurde
dann, als die mechaniſche Auffaſſung des Naturzuſammenhangs
und die Corpuscularphiloſophie zur Herrſchaft gelangten, von
anderen hervorragenden Metaphyſikern zu derſelben in Beziehung
geſetzt. Aber jeder Verſuch ſcheiterte, auf dem Grunde dieſer
Subſtanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffaſſung der Natur
eine haltbare Vorſtellung des Verhältniſſes von Geiſt und Körper
auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der
klaren und deutlichen Eigenſchaften der Körper als von Raum-
größen ſeine Vorſtellung der Natur als eines ungeheuren Mechanis-
mus, betrachtete er die in dieſem Ganzen vorhandene Bewegungs-
größe als conſtant: ſo trat mit der Annahme, daß auch nur eine
einzige Seele von außen in dieſem materiellen Syſtem eine Be-
wegung erzeuge, der Widerſpruch in das Syſtem. Und die Un-
vorſtellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Subſtanzen auf dies
ausgedehnte Syſtem wurde dadurch um nichts verringert, daß er
die räumliche Stelle ſolcher Wechſelwirkung in Einen Punkt zuſammen-
zog: als könne er die Schwierigkeit damit verſchwinden machen. Die
Abenteuerlichkeit der Anſicht, daß die Gottheit durch immer ſich
wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechſelwirkungen unterhalte,
der anderen Anſicht, daß vielmehr Gott als der geſchickteſte Künſtler
die beiden Uhren des materiellen Syſtems und der Geiſterwelt
von Anfang an ſo geſtellt, daß ein Vorgang der Natur eine Em-
pfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der
Außenwelt zu bewirken ſcheine, erwieſen ſo deutlich als möglich
die Unverträglichkeit der neuen Metaphyſik der Natur mit der über-
lieferten Metaphyſik geiſtiger Subſtanzen. So wirkte dieſes Pro-
blem als ein beſtändig reizender Stachel zur Auflöſung des
metaphyſiſchen Standpunktes überhaupt. Dieſe Auflöſung wird ſich
[10]Erſtes einleitendes Buch.
vollſtändig in der ſpäter zu entwickelnden Erkenntniß vollziehen,
daß das Erlebniß des Selbſtbewußtſeins der Ausgangspunkt des
Subſtanzbegriffes iſt, daß dieſer Begriff aus der Anpaſſung dieſes
Erlebniſſes an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem
Satze vom Grunde fortſchreitende Erkennen vollzogen hat, ent-
ſpringt und ſo dieſe Lehre von den geiſtigen Subſtanzen nichts
als eine Rückübertragung des in einer ſolchen Metamorphoſe aus-
gebildeten Begriffs auf das Erlebniß iſt, in welchem ſein Anſatz
urſprünglich gegeben war.
An die Stelle des Gegenſatzes von materiellen und geiſtigen
Subſtanzen trat der Gegenſatz der Außenwelt, als des in der
äußeren Wahrnehmung (sensation) durch die Sinne Gegebenen,
zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffaſſung
der pſychiſchen Ereigniſſe und Thätigkeiten (reflection) Dargebotenen.
Das Problem empfängt ſo eine beſcheidenere, aber die Möglichkeit
empiriſcher Behandlung einſchließende Faſſung. Und es machen
ſich nun angeſichts der neuen beſſeren Methoden dieſelben Erleb-
niſſe geltend, welche in der Subſtanzenlehre der rationalen Pſycho-
logie einen wiſſenſchaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten.
Zunächſt genügt für die ſelbſtändige Conſtituirung der Geiſtes-
wiſſenſchaften, daß auf dieſem kritiſchen Standpunkt von den-
jenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen
Gegebenen, und nur aus dieſem, durch denkende Verknüpfung ge-
bildet werden, ſich die anderen als ein beſonderer Umkreis von
Thatſachen abſondern, welche primär in der inneren Erfahrung,
ſonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben ſind, und welche
alsdann aus dem ſo primär gegebenen Material innerer Erfahrung
auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formirt werden, um dieſen
durch ein gewiſſes dem Analogieſchluß in der Leiſtung gleich-
werthiges Verfahren untergelegt zu werden. So entſteht ein
eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebniß
ſeinen ſelbſtändigen Urſprung und ſein Material hat, und das
demnach naturgemäß Gegenſtand einer beſonderen Erfahrungs-
wiſſenſchaft iſt. Und ſo lange nicht Jemand behauptet, daß er
den Inbegriff von Leidenſchaft, dichteriſchem Geſtalten, denkendem
[11]Auflöſung derſelben. Kritiſche Begründung.
Erſinnen, welchen wir als Göthe’s Leben bezeichnen, aus dem
Bau ſeines Gehirns, den Eigenſchaften ſeines Körpers abzuleiten
und ſo beſſer erkennbar zu machen im Stande iſt, wird auch die
ſelbſtändige Stellung einer ſolchen Wiſſenſchaft nicht beſtritten
werden. Da nun was für uns da iſt, vermöge dieſer inneren
Erfahrung beſteht, was für uns Werth hat oder Zweck iſt, nur in
dem Erlebniß unſres Gefühls und unſres Willens uns ſo gegeben
iſt: ſo liegen in dieſer Wiſſenſchaft die Prinzipien unſers Erkennens,
welche darüber beſtimmen, wiefern Natur für uns exiſtiren kann,
die Prinzipien unſeres Handelns, welche das Vorhandenſein von
Zwecken, Gütern, Werthen erklären, in dem aller praktiſche Ver-
kehr mit der Natur gegründet iſt.
Die tiefere Begründung der ſelbſtändigen Stellung der
Geiſteswiſſenſchaften neben den Naturwiſſenſchaften, welche Stellung
den Mittelpunkt der Conſtruktion der Geiſteswiſſenſchaften in dieſem
Werke bildet, vollzieht ſich in dieſem ſelber ſchrittweiſe, indem die
Analyſis des Geſammterlebniſſes der geiſtigen Welt, in ſeiner
Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in
ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem,
indem ich auf den zweifachen Sinn hinweiſe, in welchem die Un-
vergleichbarkeit dieſer beiden Thatſachenkreiſe behauptet werden
kann: entſprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des
Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.
Einer unſrer erſten Naturforſcher hat dieſe Grenzen in einer
vielbeſprochenen Abhandlung zu beſtimmen unternommen, und ſo-
eben dieſe Grenzbeſtimmung ſeiner Wiſſenſchaft näher erläutert 1).
Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Be-
wegungen von Atomen aufgelöſt, die durch deren conſtante Cen-
tralkräfte bewirkt wären, ſo würde das Weltall naturwiſſenſchaftlich
erkannt. „Ein Geiſt“ — von dieſer Vorſtellung von Laplace geht
er aus —, „der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte,
welche in der Natur wirkſam ſind, und die gegenſeitige Lage der
[12]Erſtes einleitendes Buch.
Weſen, aus denen ſie beſteht, wenn ſonſt er umfaſſend genug wäre,
um dieſe Angaben der Analyſis zu unterwerfen, würde in der-
ſelben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des
leichteſten Atoms begreifen“ 1). Da die menſchliche Intelligenz in
der aſtronomiſchen Wiſſenſchaft ein „ſchwaches Abbild eines ſolchen
Geiſtes“ iſt, bezeichnet Du Bois-Reymond die von Laplace vorge-
ſtellte Kenntniß eines materiellen Syſtems als eine aſtronomiſche.
Von dieſer Vorſtellung aus gelangt man in der That zu einer
ſehr deutlichen Auffaſſung der Grenzen, in welche die Tendenz des
naturwiſſenſchaftlichen Geiſtes eingeſchloſſen iſt.
Es ſei geſtattet eine Unterſcheidung in Bezug auf den Begriff
der Grenze des Naturerkennens in dieſe Betrachtungsweiſe einzu-
führen. Da uns die Wirklichkeit, als das Correlat der Erfahrung,
in dem Zuſammenwirken einer Gliederung unſerer Sinne mit der
inneren Erfahrung gegeben iſt, entſpringt aus der hierdurch be-
dingten Verſchiedenheit der Provenienz ihrer Beſtandtheile eine
Unvergleichbarkeit innerhalb der Elemente unſerer wiſſenſchaftlichen
Rechnung. Sie ſchließt die Ableitung von Thatſächlichkeit einer
beſtimmten Provenienz aus der einer anderen aus. So gelangen
wir von den Eigenſchaften des Räumlichen doch nur vermittelſt der
Fakticität der Taſtempfindung, in welcher Widerſtand erfahren
wird, zu der Vorſtellung der Materie; ein jeder der Sinne iſt
in einen ihm eigenen Qualitätenkreis eingeſchloſſen; und wir
müſſen von der Sinnesempfindung zu dem Gewahren innerer Zu-
ſtände übergehen, ſollen wir eine Bewußtſeinslage in einem ge-
gebenen Moment auffaſſen. Wir können ſonach die Data in der
Unvergleichlichkeit, in welcher ſie in Folge ihrer verſchiedenen Pro-
venienz auftreten, eben nur hinnehmen; ihre Thatſächlichkeit iſt
für uns unergründlich; all unſer Erkennen iſt auf die Feſtſtellung
der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit einge-
ſchränkt, gemäß denen ſie nach unſrer Erfahrung in Beziehungen
zu einander ſtehen. Dies ſind Grenzen, welche in den Bedingungen
unſeres Erfahrens ſelber gelegen ſind, Grenzen, die an jedem
[13]Beſtimmung der Aufgabe derſelben.
Punkte der Naturwiſſenſchaft beſtehen: nicht äußere Schranken, an
welche das Naturerkennen ſtößt, ſondern dem Erfahren ſelber
immanente Bedingungen deſſelben. Das Vorhandenſein dieſer im-
manenten Schranken der Erkenntniß bildet nun durchaus kein
Hinderniß für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man
mit Begreifen eine völlige Durchſichtigkeit in der Auffaſſung eines
Zuſammenhangs, ſo haben wir es hier mit Schranken zu thun,
an welche das Begreifen anſtößt. Aber, gleichviel ob die Wiſſen-
ſchaft ihrer Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklich-
keit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten
unterordne oder Bewußtſeinsthatſachen: falls dieſe ſich ihr nur
unterwerfen laſſen, bildet die Thatſache der Unableitbarkeit kein
Hinderniß ihrer Operationen; ich vermag ſo wenig einen Ueber-
gang von der bloßen mathematiſchen Beſtimmtheit oder der Be-
wegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Be-
wußtſeinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch
die entſprechende Schwingungszahl ſo wenig erklärt, als das ver-
neinende Urtheil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die
Phyſik es der Phyſiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu
erklären, dieſe aber, welche in der Bewegung materieller Theile
eben auch kein Mittel beſitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der
Pſychologie übergiebt, bleibt es ſchließlich, wie in einem Vexirſpiel,
bei der Pſychologie ſitzen. An ſich aber iſt die Hypotheſe, welche
Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entſtehen läßt, zu-
nächſt nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Verände-
rungen in der Wirklichkeit, wie ſie in meiner Erfahrung gegeben
ſind, auf eine gewiſſe Claſſe von Veränderungen innerhalb der-
ſelben, welche einen Theilinhalt meiner Erfahrung bildet, radicirt,
um ſie für den Zweck der Erkenntniß gewiſſermaßen auf Eine
Fläche zu bringen. Wäre es möglich, beſtimmt definirten That-
ſachen, welche in dem Zuſammenhang der mechaniſchen Naturbe-
trachtung eine feſte Stelle einnehmen, conſtant und beſtimmt definirte
Bewußtſeinsthatſachen zu ſubſtituiren und nunmehr gemäß dem
Syſtem von Gleichförmigkeiten, in welchem die erſteren Thatſachen
ſich befinden, das Eintreten der Bewußtſeinsvorgänge ganz im
[14]Erſtes einleitendes Buch.
Einklang mit der Erfahrung zu beſtimmen: alsdann wären dieſe
Bewußtſeinsthatſachen ſo gut dem Zuſammenhang des Natur-
erkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe ſind.
Gerade hier macht ſich aber die Unvergleichbarkeit ma-
terieller und geiſtiger Vorgänge in einem ganz anderen Verſtande
geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus
anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geiſtigen
Thatſachen aus denen der mechaniſchen Naturordnung, welche in
der Verſchiedenheit ihrer Provenienz gegründet iſt, hindert nicht
die Einordnung der erſteren in das Syſtem der letzteren. Erſt
wenn die Beziehungen zwiſchen den Thatſachen der geiſtigen Welt
ſich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des
Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geiſtigen That-
ſachen unter die, welche die mechaniſche Naturerkenntniß feſtgeſtellt
hat, ausgeſchloſſen wird: dann erſt ſind nicht immanente Schranken
des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, ſondern Grenzen, an denen
Naturerkenntniß endigt und eine ſelbſtändige, aus ihrem eigenen
Mittelpunkte ſich geſtaltende Geiſteswiſſenſchaft beginnt. Das
Grundproblem liegt ſonach in der Feſtſtellung der beſtimmten Art
von Unvergleichbarkeit zwiſchen den Beziehungen geiſtiger That-
ſachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine
Einordnung der erſteren, eine Auffaſſung von ihnen als von Eigen-
ſchaften oder Seiten der Materie ausſchließt und welche ſonach
ganz anderer Art ſein muß als die Verſchiedenheit, die zwiſchen
den einzelnen Kreiſen von Geſetzen der Materie beſteht, wie ſie
Mathematik, Phyſik, Chemie und Phyſiologie in einem ſich immer
folgerichtiger entwickelnden Verhältniß von Unterordnung dar-
legen. Eine Ausſchließung der Thatſachen des Geiſtes aus dem
Zuſammenhang der Materie, ihrer Eigenſchaften und Geſetze wird
immer einen Widerſpruch vorausſetzen, der zwiſchen den Be-
ziehungen der Thatſachen auf dem einen und denen der Thatſachen
auf dem andern Gebiet bei dem Verſuch einer ſolchen Unterord-
nung eintritt. Und dies iſt in der That die Meinung, wenn
die Unvergleichbarkeit des geiſtigen Lebens an den Thatſachen
des Selbſtbewußtſeins und der mit ihm zuſammenhängenden Ein-
[15]Der wahre Begriff der Grenzen der Naturerkenntniß.
heit des Bewußtſeins, an der Freiheit und den mit ihr verbundenen
Thatſachen des ſittlichen Lebens aufgezeigt wird, im Gegenſatz
gegen die räumliche Gliederung und Theilbarkeit der Materie ſowie
gegen die mechaniſche Nothwendigkeit, unter welcher die Leiſtung
des einzelnen Theils derſelben ſteht. So alt beinahe, als das
ſtrengere Nachdenken über die Stellung des Geiſtes zur Natur,
ſind die Verſuche einer Formulirung dieſer Art von Unvergleich-
barkeit des Geiſtigen mit aller Naturordnung, auf Grund der That-
ſachen von Einheit des Bewußtſeins und Spontaneität des Willens.
Indem dieſe Unterſcheidung von immanenten Schranken des
Erfahrens einerſeits, von Grenzen der Unterordnung von That-
ſachen unter den Zuſammenhang der Naturerkenntniß andrerſeits
in die Darlegung des berühmten Naturforſchers eingeführt wird,
empfangen die Begriffe von Grenze und Unerklärbarkeit einen
genau definirbaren Sinn, und damit ſchwinden Schwierigkeiten,
welche in dem von dieſer Schrift hervorgerufenen Streit über die
Grenzen der Naturerkenntniß ſich ſehr bemerkbar gemacht haben.
Die Exiſtenz immanenter Schranken des Erfahrens entſcheidet in
keiner Weiſe über die Frage nach der Unterordnung von geiſtigen
Thatſachen unter den Zuſammenhang der Erkenntniß der Materie.
Wird, wie von Häckel und anderen Forſchern geſchieht, ein Ver-
ſuch vorgelegt, durch die Annahme eines pſychiſchen Lebens in den
Beſtandtheilen, aus denen der Organismus ſich aufbaut, eine
ſolche Einordnung der geiſtigen Thatſachen unter den Natur-
zuſammenhang herzuſtellen, dann beſteht zwiſchen einem ſolchen
Verſuch und der Erkenntniß der immanenten Schranken alles Er-
fahrens ſchlechterdings kein Verhältniß von Ausſchließung; über
ihn entſcheidet nur die zweite Art von Unterſuchung der Grenzen
des Naturerkennens. Daher iſt auch Du Bois-R. zu dieſer
zweiten Unterſuchung fortgegangen, und hat ſich in ſeiner Beweis-
führung ſowol des Arguments von der Einheit des Bewußtſeins
als des anderen von der Spontaneität des Willens bedient. Sein
Beweis, „daß die geiſtigen Vorgänge aus ihren materiellen Be-
dingungen nie zu begreifen ſind“ 1), wird folgendermaßen geführt.
[16]Erſtes einleitendes Buch.
Bei vollendeter Kenntniß aller Theile des materiellen Syſtems,
ihrer gegenſeitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durch-
aus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenſtoff-, Waſſerſtoff-,
Stickſtoff-, Sauerſtoff-Atomen nicht ſollte gleichgiltig ſein, wie ſie
liegen und ſich bewegen. Dieſe Unerklärbarkeit des Geiſtigen bleibt
ganz ebenſo beſtehen, wenn man dieſe Elemente nach Art der
Monaden ſchon einzeln mit Bewußtſein ausſtattet, und von dieſer
Annahme aus kann das einheitliche Bewußtſein des Individuums
nicht erklärt werden 1). Schon ſein zu beweiſender Satz enthält
in dem „nie zu begreifen“ einen Doppelſinn, und dieſer hat im
Beweis ſelber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz ver-
ſchiedener Tragweite neben einander zur Folge. Er behauptet ein-
mal, daß der Verſuch, aus materiellen Veränderungen geiſtige
Thatſachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus
verſchollen iſt, und nur noch in der Weiſe der Aufnahme pſychi-
ſcher Eigenſchaften in die Elemente gemacht wird), die immanente
[17]Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften.
Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was ſicher iſt,
aber nichts gegen die Unterordnung des Geiſtes unter das Natur-
erkennen entſcheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieſer Verſuch
an dem Widerſpruch ſcheitern muß, welcher zwiſchen unſerer Vor-
ſtellung der Materie und der Eigenſchaft der Einheit, die un-
ſerem Bewußtſein zukommt, beſteht. In ſeiner ſpäteren Polemik
gegen Häckel fügt er dieſem Argument das andere hinzu, daß
unter ſolcher Annahme ein weiterer Widerſpruch zwiſchen der
Art, wie ein materieller Beſtandtheil im Naturzuſammenhang
mechaniſch bedingt iſt, und dem Erlebniß der Spontaneität des
Willens entſteht; ein „Wille“ (in den Beſtandtheilen der Materie),
der „wollen ſoll, er mag wollen oder nicht und das im geraden
Verhältniß des Produktes der Maſſen und im umgekehrten des
Quadrates der Entfernungen“ iſt eine contradictio in adjecto1).
III.
Das Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften.
Jedoch in einem weiten Umfang faſſen die Geiſteswiſſen-
ſchaften Naturthatſachen in ſich, haben Naturerkenntniß zur
Grundlage.
Dächte man ſich rein geiſtige Weſen in einem aus ſolchen
allein beſtehenden Perſonenreich, ſo würde ihr Hervortreten,
ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verſchwinden (welche
Vorſtellungen man auch von dem Hintergrund ſich bilde, aus
welchem ſie hervorträten und in den ſie wieder zurücktreten wür-
den), an Bedingungen geiſtiger Art gebunden ſein; ihr Wohlſein
wäre in ihrer Lage zur geiſtigen Welt gegründet; ihre Verbindung
untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden ſich durch
rein geiſtige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer
Handlungen würden rein geiſtiger Art ſein; ſelbſt ihr Zurück-
Dilthey, Einleitung. 2
[18]Erſtes einleitendes Buch.
treten aus dem Reich der Perſonen würde in dem Geiſtigen ſeinen
Grund haben. Das Syſtem ſolcher Individuen würde in reinen
Geiſteswiſſenſchaften erkannt werden. In Wirklichkeit entſteht ein
Individuum, wird erhalten und entwickelt ſich auf Grund der
Funktionen des thieriſchen Organismus und ihrer Beziehungen zu
dem umgebenden Naturlauf; ſein Lebensgefühl iſt wenigſtens
theilweiſe in dieſen Funktionen gegründet; ſeine Eindrücke ſind
von den Sinnesorganen und ihren Affektionen ſeitens der Außen-
welt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit ſeiner Vor-
ſtellungen und die Stärke ſowie die Richtung ſeiner Willensakte
finden wir vielfach von Veränderungen in ſeinem Nervenſyſtem
abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfaſern zur Ver-
kürzung und ſo iſt ſein Wirken nach außen an Veränderungen in
den Lageverhältniſſen der Maſſentheilchen des Organismus ge-
bunden; dauernde Erfolge ſeiner Willenshandlungen exiſtiren nur
in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt.
So iſt das geiſtige Leben eines Menſchen ein nur durch Abſtrak-
tion loslösbarer Theil der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit, als
welche ein Menſchendaſein und Menſchenleben ſich darſtellt. Das
Syſtem dieſer Lebenseinheiten iſt die Wirklichkeit, welche den Gegen-
ſtand der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften ausmacht.
Und zwar iſt der Menſch als Lebenseinheit, vermöge des
doppelten Standpunktes unſerer Auffaſſung (gleichviel welcher der
metaphyſiſche Thatbeſtand ſei), ſo weit inneres Gewahrwerden
reicht, als ein Zuſammenhang geiſtiger Thatſachen, ſo weit wir
dagegen mit den Sinnen auffaſſen, als ein körperliches Ganze für
uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffaſſung finden
niemals in demſelben Akte ſtatt und daher iſt uns die Thatſache
des geiſtigen Lebens nie mit der unſeres Körpers zugleich gegeben.
Hieraus ergeben ſich mit Nothwendigkeit zwei verſchiedene, nicht in
einander aufhebbare Standpunkte für die wiſſenſchaftliche Auffaſſung,
welche die geiſtigen Thatſachen und die Körperwelt in ihrem Zu-
ſammenhang, deſſen Ausdruck die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit
iſt, erfaſſen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, ſo
finde ich die geſammte Außenwelt in meinem Bewußtſein gegeben,
[19]Die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit.
die Geſetze dieſes Naturganzen unter den Bedingungen meines
Bewußtſeins ſtehend und ſonach von ihnen abhängig. Dies iſt
der Standpunkt, welchen die deutſche Philoſophie an der Grenze
des achtzehnten und unſeres Jahrhunderts als Transſcendental-
Philoſophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzuſammenhang,
ſo wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffaſſen
ſteht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieſer Außenwelt ſowie
in ihre räumliche Vertheilung pſychiſche Thatſachen mit eingeordnet,
finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur ſelber oder das
Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen be-
ſteht, wann dieſe an das Nervenſyſtem herandringen, Veränderungen
des geiſtigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebens-
entwicklung und der krankhaften Zuſtände dieſe Erfahrungen zu
dem umfaſſenden Bilde der Bedingtheit des Geiſtigen durch das
Körperliche: dann entſteht die Auffaſſung des Naturforſchers,
welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung
zur geiſtigen Veränderung vorandringt. So iſt der Antagonismus
zwiſchen dem Philoſophen und dem Naturforſcher durch den
Gegenſatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.
Wir nehmen nun unſeren Ausgangspunkt in der Betrach-
tungsweiſe der Naturwiſſenſchaft. Sofern dieſe Betrachtungsweiſe
ſich ihrer Grenzen bewußt bleibt, ſind ihre Ergebniſſe unbeſtreitbar.
Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung
aus die nähere Beſtimmung ihres Erkenntnißwerthes. Die Natur-
wiſſenſchaft zergliedert den urſächlichen Zuſammenhang des Natur-
laufes. Wo dieſe Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen
ein materieller Thatbeſtand oder eine materielle Veränderung regel-
mäßig mit einem pſychiſchen Thatbeſtand oder einer pſychiſchen
Veränderung verbunden iſt, ohne daß zwiſchen ihnen ein weiteres
Zwiſchenglied auffindbar wäre: da kann eben nur dieſe regelmäßige
Beziehung ſelber feſtgeſtellt werden, das Verhältniß von Urſache und
Wirkung kann aber auf dieſe Beziehung nicht angewandt werden.
Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreiſes regelmäßig mit
ſolchen des anderen verknüpft und der mathematiſche Begriff der
Funktion iſt der Ausdruck dieſes Verhältniſſes. Eine Auffaſſung
2*
[20]Erſtes einleitendes Buch.
deſſelben, vermöge deren der Ablauf der geiſtigen neben dem der
körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgeſtellten
Uhren vergleichbar wäre, iſt mit der Erfahrung ſo gut im Einklang
als eine Auffaſſung, welche nur Ein Uhrwerk als Erklärungsgrund
annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreiſe als verſchiedene
Erſcheinungen Eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geiſtigen
vom Naturzuſammenhang iſt alſo das Verhältniß, welchem gemäß
der allgemeine Naturzuſammenhang diejenigen materiellen That-
beſtände und Veränderungen urſächlich bedingt, welche für uns
regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit
geiſtigen Thatbeſtänden und Veränderungen verbunden ſind. So
ſieht das Naturerkennen die Verkettung der Urſachen bis zu dem
pſycho-phyſiſchen Leben hin wirken: hier entſteht eine Veränderung,
an welcher die Beziehung des Materiellen und Phyſiſchen ſich der
urſächlichen Auffaſſung entzieht, und dieſe Veränderung ruft rück-
wärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In dieſem
Zuſammenhang ſchließt ſich dem Experiment des Phyſiologen die
Bedeutung der Struktur des Nervenſyſtems auf. Die verwirrenden
Erſcheinungen des Lebens werden in eine klare Vorſtellung der Ab-
hängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen
bis an den Menſchen heran führt, dieſe alsdann durch die Pforten
der Sinnesorgane in das Nervenſyſtem dringen, Empfindung, Vor-
ſtellen, Gefühl, Begehren entſtehen und auf den Naturlauf zurück-
wirken. Die Lebenseinheit ſelbſt, welche mit dem unmittelbaren Ge-
fühl unſeres ungetheilten Daſeins uns erfüllt, wird in ein Syſtem
von Beziehungen aufgelöſt, die zwiſchen den Thatſachen unſeres Be-
wußtſeins und der Struktur ſowie den Funktionen des Nerven-
ſyſtems empiriſch feſtgeſtellt werden können: denn jede pſychiſche
Aktion zeigt ſich nur vermittelſt des Nervenſyſtems mit einer
Veränderung innerhalb unſeres Körpers verbunden, und eine
ſolche iſt ihrerſeits nur vermittelſt ihrer Wirkung auf das Nerven-
ſyſtem von einem Wechſel unſerer pſychiſchen Zuſtände begleitet.
Aus dieſer Zergliederung der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten
entſpringt nun eine deutlichere Vorſtellung der Abhängigkeit der-
ſelben von dem ganzen Zuſammenhang der Natur, innerhalb deſſen
[21]Die Zerlegung derſelben.
ſie auftreten, wirken und aus dem ſie wieder zurücktreten, und
ſomit auch des Studiums der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklich-
keit von der Naturerkenntniß. Hiernach kann der Grad von Be-
rechtigung feſtgeſtellt werden, der den Theorien von Comte und
Herbert Spencer über die Stellung dieſer Wiſſenſchaften in der
von ihnen aufgeſtellten Hierarchie der Geſammtwiſſenſchaft zu-
kommt. Wie dieſe Schrift die relative Selbſtändigkeit der
Geiſteswiſſenſchaften zu begründen verſuchen wird, ſo hat ſie
als die andere Seite der Stellung derſelben im wiſſenſchaftlichen
Geſammtganzen das Syſtem von Abhängigkeiten zu entwickeln,
vermöge deſſen ſie durch die Naturerkenntniß bedingt ſind, und
ſonach in dem Aufbau, welcher in der mathematiſchen Grund-
legung anhebt, das letzte und höchſte Glied bilden. Thatſachen
des Geiſtes ſind die oberſte Grenze der Thatſachen der Natur, die
Thatſachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geiſtigen
Lebens. Eben weil das Reich der Perſonen oder die menſchliche
Geſellſchaft und Geſchichte die höchſte unter den Erſcheinungen der
irdiſchen Erfahrungswelt iſt, bedarf ſeine Erkenntniß an unzähligen
Punkten die des Syſtems von Vorausſetzungen, welche für ſeine
Entwicklung in dem Naturganzen gelegen ſind.
Und zwar iſt der Menſch, gemäß ſeiner ſo dargelegten
Stellung im cauſalen Zuſammenhang der Natur, von dieſer in
einer zwiefachen Beziehung bedingt.
Die pſycho-phyſiſche Einheit, ſo ſahen wir, empfängt, vermittelt
durch das Nervenſyſtem, beſtändig Einwirkungen aus dem all-
gemeinen Naturlauf und ſie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun
liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr
ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von
Zwecken geleitet wird. Für dieſe pſycho-phyſiſche Einheit kann
alſo einerſeits der Naturlauf und ſeine Beſchaffenheit in Bezug
auf die Geſtaltung der Zwecke ſelber leitend ſein, andrerſeits iſt
er für dieſelbe als ein Syſtem von Mitteln zur Erreichung dieſer
Zwecke mitbeſtimmend. Und ſo ſind wir ſelbſt da, wo wir wollen,
wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte
ſind, ſondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feſtſtellen,
[22]Erſtes einleitendes Buch.
von dem Naturzuſammenhang abhängig. Demnach befinden ſich
die pſycho-phyſiſchen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem
Naturlauf gegenüber. Dieſer bedingt einerſeits von der Stellung
der Erde im kosmiſchen Ganzen ab als ein Syſtem von Urſachen
die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit, und das große Problem
des Verhältniſſes von Naturzuſammenhang und Freiheit in dieſer
Wirklichkeit zerlegt ſich für den empiriſchen Forſcher in unzählige
Einzelfragen, welche das Verhältniß zwiſchen Thatſachen des
Geiſtes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andrerſeits
aber entſpringen aus den Zwecken dieſes Perſonenreiches Rück-
wirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Menſch in
dieſem Sinne als ſein Wohnhaus betrachtet, in dem ſich ein-
zurichten er thätig iſt, und auch dieſe Rückwirkungen ſind an die
Benutzung des naturgeſetzlichen Zuſammenhanges gebunden. Alle
Zwecke liegen dem Menſchen ausſchließlich innerhalb des geiſtigen
Vorgangs ſelber, da ja nur in dieſem etwas für ihn da iſt; aber
der Zweck ſucht ſeine Mittel in dem Zuſammenhang der Natur.
Wie unſcheinbar iſt oft die Veränderung, welche die ſchöpferiſche
Macht des Geiſtes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und
doch ruht in dieſer allein die Vermittlung, durch welche der ſo
geſchaffene Werth auch für Andere da iſt. So ſind die wenigen
Blätter, welche, als ein materieller Rückſtand tiefſter Gedanken-
arbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung
der Erde, in die Hand des Copernikus kamen, der Ausgangspunkt
einer Revolution in unſrer Weltanſicht geworden.
An dieſem Punkte kann eingeſehen werden, wie relativ die
Abgrenzung dieſer beiden Claſſen von Wiſſenſchaften von einander
iſt. Streitigkeiten, wie ſie über die Stellung der allgemeinen
Sprachwiſſenſchaft geführt wurden, ſind unfruchtbar. An den
beiden Uebergangsſtellen, welche von dem Studium der Natur
zu dem des Geiſtigen führen, an den Punkten, an welchen der
Naturzuſammenhang auf die Entwicklung des Geiſtigen einwirkt,
und an den anderen Punkten, an welchen derſelbe von dem
Geiſtigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsſtelle
für die Einwirkung auf anderes Geiſtige bildet, vermiſchen ſich
[23]Auf ſie gegründete Beſtimmung des Verhältniſſes.
überall Erkenntniſſe beider Claſſen. Erkenntniſſe der Naturwiſſen-
ſchaften vermiſchen ſich mit denen der Geiſteswiſſenſchaften. Und
zwar verwebt ſich in dieſem Zuſammenhang, gemäß der zwie-
fachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geiſtige Leben
bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig
mit der Feſtſtellung des Einfluſſes, welchen dieſelbe als Material
des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Natur-
geſetze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der
muſikaliſchen Theorie abgeleitet, und wiederum iſt das Genie der
Sprache oder Muſik an dieſe Naturgeſetze gebunden, und das
Studium ſeiner Leiſtungen iſt daher bedingt durch das Verſtändniß
dieſer Abhängigkeit.
Es kann an dieſem Punkte weiter eingeſehen werden, daß die
Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von
der Naturwiſſenſchaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang
die Grundlage für das Studium der geiſtigen Thatſachen bilden.
Wie die Entwicklung des einzelnen Menſchen, ſo iſt auch die Aus-
breitung des Menſchengeſchlechts über das Erdganze und die Ge-
ſtaltung ſeiner Schickſale in der Geſchichte durch den ganzen kosmiſchen
Zuſammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbeſtandtheil
aller Geſchichte, da dieſe als politiſche es mit dem Willen von
Staaten zu thun hat, dieſer aber in Waffen auftritt und ſich durch
dieſelben durchſetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erſter Linie
von der Erkenntniß des Phyſiſchen ab, welches für die ſtreitenden
Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln
der phyſiſchen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde
unſeren Willen aufzuzwingen. Dies ſchließt in ſich, daß der
Gegner auf der Linie bis zur Wehrloſigkeit, welche das theoretiſche
Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu
dem Punkte hingezwungen werde, an welchem ſeine Lage nach-
theiliger iſt als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur
mit einer nachtheiligeren vertauſcht werden kann. In dieſer großen
Rechnung ſind alſo die für die Wiſſenſchaft wichtigſten, ſie zumeiſt
beſchäftigenden Zahlen die phyſiſchen Bedingungen und Mittel,
während über die pſychiſchen Faktoren ſehr wenig zu ſagen iſt.
[24]Erſtes einleitendes Buch.
Und zwar haben die Wiſſenſchaften des Menſchen, der Geſellſchaft
und der Geſchichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, ſofern
die pſycho-phyſiſchen Einheiten ſelber nur mit Hilfe der Biologie
ſtudirt werden können, alsdann aber, ſofern das Mittel, in dem ihre
Entwicklung und ihre Zweckthätigkeit ſtattfindet, auf deſſen Beherr-
ſchung alſo dieſe letztere ſich zu einem großen Theile bezieht, die Natur
iſt. In der erſteren Rückſicht bilden die Wiſſenſchaften des Organis-
mus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganiſchen
Natur. Und zwar beſteht der ſo aufzuklärende Zuſammenhang ein-
mal darin, daß dieſe Naturbedingungen Entwicklung und Vertheilung
des geiſtigen Lebens auf der Erdoberfläche beſtimmen, alsdann
darin, daß die Zweckthätigkeit des Menſchen an die Geſetze der Natur
gebunden und ſo durch ihre Erkenntniß und Benutzung bedingt
iſt. Daher zeigt das erſtere Verhältniß nur Abhängigkeit des
Menſchen von der Natur, das zweite aber enthält dieſe Abhängig-
keit nur als die andere Seite der Geſchichte ſeiner zunehmenden
Herrſchaft über das Erdganze. Derjenige Theil des erſteren Verhält-
niſſes, welcher die Beziehungen des Menſchen zu der umgebenden Natur
einſchließt, iſt von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen
worden. Glänzende Blicke, wie beſonders ſeine vergleichende Schätzung
der Erdtheile nach der Gliederung ihrer Umriſſe, ließen eine in den
Raumverhältniſſen des Erdganzen feſtgelegte Prädeſtination der
Univerſalgeſchichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben dieſe
bei Ritter als Teleologie der Univerſalgeſchichte gedachte, von einem
Buckle in den Dienſt des Naturalismus gezogene Anſchauung doch
nicht beſtätigt: an die Stelle der Vorſtellung einer gleichmäßigen
Abhängigkeit des Menſchen von den Naturbedingungen tritt die
vorſichtigere Vorſtellung, daß das Ringen der geiſtig-ſittlichen
Kräfte mit den Bedingungen der todten Räumlichkeit bei den ge-
ſchichtlichen Völkern, im Gegenſatz zu den geſchichtsloſen, das
Verhältniß von Abhängigkeit beſtändig vermindert hat. Und ſo
hat auch hier eine ſelbſtändige, die Naturbedingungen zur Er-
klärung benutzende Wiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit ſich behauptet. Das andere Verhältniß aber zeigt mit
der Abhängigkeit, welche durch die Anpaſſung an die Bedingungen
[25]Abhängigkeit und Herrſchaft des Menſchen.
gegeben iſt, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wiſſen-
ſchaftlichen Gedanken und die Technik ſo verbunden, daß die
Menſchheit in ihrer Geſchichte eben vermittelſt der Unterordnung
die Herrſchaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur1).
Das Problem des Verhältniſſes der Geiſteswiſſenſchaften zu
der Naturerkenntniß kann jedoch erſt als gelöſt gelten, wenn jener
Gegenſatz, von dem wir ausgingen, zwiſchen dem trans-
ſcendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Be-
dingungen des Bewußtſeins ſteht, und dem objektiv empiriſchen
Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geiſtigen unter den
Bedingungen des Naturganzen ſteht, aufgelöſt ſein wird. Dieſe
Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnißproblems. Iſolirt man
dies Problem für die Geiſteswiſſenſchaften, ſo erſcheint eine für
Alle überzeugende Auflöſung nicht unmöglich. Die Bedingungen
derſelben würden ſein: Nachweis der objektiven Realität der
inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Exiſtenz einer Außenwelt;
alsdann ſind in dieſer Außenwelt geiſtige Thatſachen und geiſtige
Weſen kraft eines Vorgangs von Uebertragung unſeres Inneren
in dieſelbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne
geblickt hat, ihr Bild in den verſchiedenſten Farben, an den
verſchiedenſten Stellen im Raume wiederholt: ſo vervielfältigt
unſre Auffaſſung das Bild unſres Innenlebens und verſetzt es in
mannigfachen Abwandlungen an verſchiedene Stellen des uns um-
gebenden Naturganzen; dieſer Vorgang läßt ſich aber logiſch als
ein Analogieſchluß von dieſem originaliter uns allein un-
mittelbar gegebenen Innenleben, vermittelſt der Vorſtellungen von
den mit ihm verketteten Aeußerungen, auf ein verwandten Er-
ſcheinungen der Außenwelt entſprechend Verwandtes, zu Grunde
Liegendes darſtellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an
ſich ſelber ſein mag, das Studium der Urſachen des Geiſtigen
kann ſich daran genügen laſſen, daß jedenfalls ihre Erſcheinungen
als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zu-
ſammenſein und ihrer Folge als ein Zeichen ſolcher Gleichförmig-
[26]Erſtes einleitendes Buch.
keiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können.
Tritt man aber in die Welt des Geiſtes und unterſucht die Natur,
ſofern ſie Inhalt des Geiſtes, ſofern ſie als Zweck oder Mittel
in den Willen eingewoben iſt: für den Geiſt iſt ſie eben, was
ſie in ihm iſt, und was ſie an ſich ſein mag, iſt hier ganz gleich-
gültig. Genug daß er ſo, wie ſie ihm gegeben iſt, auf ihre Geſetz-
mäßigkeit in ſeinen Handlungen rechnen und den ſchönen Schein
ihres Daſeins genießen kann.
IV.
Die Ueberſichten über die Geiſteswiſſenſchaften.
Es muß verſucht werden, dem, welcher in das vorliegende
Werk über die Geiſteswiſſenſchaften eintritt, einen vorläufigen
Ueberblick über den Umfang dieſer anderen Hälfte des globus
intellectualis zu geben, und vermittelſt deſſelben die Aufgabe des
Werkes zu beſtimmen.
Die Wiſſenſchaften des Geiſtes ſind noch nicht als ein Ganzes
conſtituirt; noch vermögen ſie nicht einen Zuſammenhang aufzu-
ſtellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängig-
keitsverhältniſſen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung
geordnet wären.
Dieſe Wiſſenſchaften ſind in der Praxis des Lebens ſelber er-
wachſen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und
die Syſtematik der dieſer Berufsbildung dienenden Fakultäten
iſt daher die naturgewachſene Form des Zuſammenhangs derſelben.
Wurden doch ihre erſten Begriffe und Regeln zumeiſt in der Aus-
übung der geſellſchaftlichen Funktionen ſelber gefunden. Ihering
hat nachgewieſen, wie juriſtiſches Denken durch eine im Rechts-
leben ſelber ſich vollbringende bewußte geiſtige Arbeit die Grund-
begriffe des römiſchen Rechts geſchaffen hat. So zeigt auch die
Analyſe der älteren griechiſchen Verfaſſungen in ihnen die Nieder-
ſchläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politiſchen
[27]Die Encyklopädien der Berufswiſſenſchaften.
Denkens auf Grund klarer Begriffe und Sätze. Der Grundgedanke,
welchem gemäß die Freiheit des Individuums in ſeinem Antheil
an der politiſchen Gewalt gelegen iſt, dieſer Antheil aber gemäß
der Leiſtung des Individuums für das Ganze durch die ſtaatliche
Ordnung geregelt wird, iſt zuerſt für die politiſche Kunſt ſelber
leitend geweſen, danach von den großen Theoretikern der ſokratiſchen
Schule nur in wiſſenſchaftlichem Zuſammenhang entwickelt wor-
den. Der Fortgang zu umfaſſenden wiſſenſchaftlichen Theorien
lehnte ſich dann vorwiegend an das Bedürfniß einer Berufsbildung
der leitenden Stände an. So entſprangen ſchon in Griechenland aus
den Aufgaben eines höheren politiſchen Unterrichts in dem Zeit-
alter der Sophiſten Rhetorik und Politik, und die Geſchichte der
meiſten Geiſteswiſſenſchaften bei den neueren Völkern zeigt den
herrſchenden Einfluß deſſelben Grundverhältniſſes. Die Literatur
der Römer über ihr Gemeinweſen empfing ihre älteſte Gliederung
dadurch, daß ſie in Inſtruktionen für die Prieſterthümer und die
einzelnen Magiſtrate ſich entwickelte1). Daher iſt ſchließlich die
Syſtematik derjenigen Wiſſenſchaften des Geiſtes, welche die Grund-
lage der Berufsbildung der leitenden Organe der Geſellſchaft ent-
halten, ſowie die Darſtellung dieſer Syſtematik in Encyklopädien
aus dem Bedürfniß der Ueberſicht über das für ſolche Vorbildung
Erforderliche hervorgegangen, und die natürlichſte Form dieſer
Encyklopädien wird, wie Schleiermacher meiſterhaft an der Theo-
logie gezeigt hat, immer die ſein, welche mit Bewußtſein von
dieſem Zwecke aus den Zuſammenhang gliedert. Unter dieſen ein-
ſchränkenden Bedingungen wird der in die Geiſteswiſſenſchaften
Eintretende in ſolchen encyklopädiſchen Werken einen Ueberblick über
einzelne hervorragende Gruppen dieſer Wiſſenſchaften finden2).
[28]Erſtes einleitendes Buch.
Verſuche, ſolche Leiſtungen überſchreitend, die Geſammt-
gliederung der Wiſſenſchaften zu entdecken, welche die geſchichtlich-
geſellſchaftliche Wirklichkeit zum Gegenſtande haben, ſind von der
Philoſophie ausgegangen. Sofern ſie von metaphyſiſchen Prinzipien
her dieſen Zuſammenhang abzuleiten verſuchten, ſind ſie dem
Schickſal aller Metaphyſik anheimgefallen. Einer beſſeren Methode
bediente ſich ſchon Bacon, indem er mit dem Problem einer Er-
kenntniß der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wiſſen-
ſchaften des Geiſtes in Beziehung ſetzte und ihre Leiſtungen wie ihre
Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabſichtigte in ſeiner
Panſophia aus dem Verhältniß der inneren Abhängigkeit der
Wahrheiten von einander die Stufenfolge, in welcher ſie im Unter-
richt auftreten müſſen, abzuleiten, und wie er ſo im Gegenſatz
gegen den falſchen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken
eines künftigen Unterrichtsweſens (das leider auch heute noch Zu-
kunft iſt) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der
Wahrheiten von einander eine angemeſſene Gliederung der Wiſſen-
ſchaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwiſchen dieſem
logiſchen Verhältniß von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu
einander ſtehen, und dem geſchichtlichen Verhältniß der Abfolge,
in welchem ſie auftreten, der Unterſuchung unterwarf: ſchuf er die
Grundlage für eine wahre Philoſophie der Wiſſenſchaften. Die Con-
ſtitution der Wiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklich-
keit betrachtete er als das Ziel ſeiner großen Arbeit und in der That
brachte ſein Werk eine ſtarke Bewegung in dieſer Richtung hervor;
Mill, Littré, Herbert Spencer haben das Problem des Zuſammen-
hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften aufgenommen1).
2)
[29]Gliederungen nach dem Verhältniß der Abhängigkeit der Wahrheiten.
Dieſe Arbeiten gewähren dem in die Geiſteswiſſenſchaften Eintre-
tenden eine ganz andere Art von Ueberblick als die Syſtematik
der Berufsſtudien. Sie ſtellen die Geiſteswiſſenſchaften in den
Zuſammenhang der Erkenntniß, ſie faſſen das Problem der-
ſelben in ſeinem ganzen Umfang, und nehmen die Löſung in
einer die ganze geſchichtlich - geſellſchaftliche Wirklichkeit umfaſſen-
den wiſſenſchaftlichen Conſtruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von
der unter den Engländern und Franzoſen heute herrſchenden ver-
wegenen wiſſenſchaftlichen Bauluſt, ohne das intime Gefühl der
geſchichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Be-
ſchäftigung mit derſelben in Einzelforſchung ſich bildet, haben dieſe
Poſitiviſten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten
nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzel-
wiſſenſchaften entſprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit be-
ginnen müſſen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung
beſtändig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch
Jahrtauſende allmälig entſtandenen Gebäudes der poſitiven Geiſtes-
wiſſenſchaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan ſich
verſtändlich zu machen, und ſo der Vielſeitigkeit, in welcher dieſe
Wiſſenſchaften ſich thatſächlich entwickelt haben, mit geſundem Blick
für die Vernunft der Geſchichte gerecht zu werden. Sie haben
1)
[30]Erſtes einleitendes Buch.
einen Nothbau errichtet, der nicht haltbarer iſt, als die verwegenen
Speculationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und
ſo iſt es gekommen, daß die aus einem metaphyſiſchen Prinzip ent-
wickelten Geiſtesphiloſophien Deutſchlands, von Hegel, Schleiermacher
und dem ſpäteren Schelling, den Erwerb der poſitiven Geiſtes-
wiſſenſchaften mit tieferem Blick verwerthen, als die Arbeiten dieſer
poſitiven Philoſophen es thun.
Andere Verſuche einer umfaſſenden Gliederung auf dem
Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ſind in Deutſchland von der Ver-
tiefung in die Aufgaben der Staatswiſſenſchaften ausgegangen,
wodurch freilich eine Einſeitigkeit des Geſichtspunktes bedingt iſt1).
Die Geiſteswiſſenſchaften bilden nicht ein Ganzes von einer
logiſchen Conſtitution, welche der Gliederung des Naturerkennens
analog wäre; ihr Zuſammenhang hat ſich anders entwickelt und
muß wie er geſchichtlich gewachſen iſt nunmehr betrachtet werden.
V.
Ihr Material.
Das Material dieſer Wiſſenſchaften bildet die geſchichtlich-ge-
ſellſchaftliche Wirklichkeit, ſo weit ſie als geſchichtliche Kunde im
Bewußtſein der Menſchheit ſich erhalten hat, als geſellſchaftliche,
über den gegenwärtigen Zuſtand ſich erſtreckende Kunde der
Wiſſenſchaft zugänglich gemacht worden iſt. So unermeßlich
dieſes Material iſt, ſo iſt doch ſeine Unvollkommenheit augen-
[31]Natur des Materials der Geiſteswiſſenſchaften.
ſcheinlich. Intereſſen, welche dem Bedürfniß der Wiſſenſchaft
keineswegs entſprechen, Bedingungen der Ueberlieferung, welche
in keiner Beziehung zu dieſem Bedürfniß ſtehen, haben den Beſtand
unſerer geſchichtlichen Kunde beſtimmt. Von der Zeit ab, in
welcher, um das Lagerfeuer verſammelt, Stammes- und Kriegs-
genoſſen von den Thaten ihrer Helden und dem göttlichen Ur-
ſprung ihres Stammes erzählten, hat das ſtarke Intereſſe der
Mitlebenden aus dem dunklen Fluſſe des gewöhnlichen menſchlichen
Lebens Thatſachen emporgehoben und bewahrt. Das Intereſſe
einer ſpäteren Zeit und geſchichtliche Fügung haben darüber ent-
ſchieden, was von dieſen Thatſachen auf uns gelangen ſollte.
Geſchichtſchreibung, als eine freie Kunſt der Darſtellung, faßt
einen einzelnen Theil dieſes unermeßlichen Ganzen zuſammen, der
des Intereſſes unter irgend einem Geſichtspunkt werth erſcheint.
Dazu kommt: die heutige Geſellſchaft lebt ſozuſagen auf den
Schichten und Trümmern der Vergangenheit; die Niederſchläge
der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht,
wie andererſeits in materiellen Veränderungen, die über Auf-
zeichnungen hinausgehen, enthalten eine Ueberlieferung, welche in
unſchätzbarer Weiſe die Aufzeichnungen unterſtützt. Auch über ihre
Erhaltung hat doch die Hand der geſchichtlichen Fügung entſchieden.
Nur an zwei Punkten beſteht ein den Anforderungen der Wiſſen-
ſchaft entſprechender Zuſtand des Materials. Der Verlauf der
geiſtigen Bewegungen in dem neueren Europa iſt in den Schriften,
welche ſeine Beſtandtheile ſind, mit einer zureichenden Vollſtändig-
keit erhalten. Und die Arbeiten der Statiſtik geſtatten für den
engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb
deren ſie zur Anwendung gekommen ſind, einen zahlenmäßig feſt-
geſtellten Einblick in die von ihnen umfaßten Thatſachen der Ge-
ſellſchaft: ſie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zuſtandes
der Geſellſchaft eine exakte Grundlage zu geben.
Die Unanſchaulichkeit in dem Zuſammenhang dieſes uner-
meßlichen Materials kommt zu dieſer Lückenhaftigkeit, ja hat nicht
wenig dazu beigetragen, die letztere zu ſteigern. Als der menſch-
liche Geiſt die Wirklichkeit ſeinen Gedanken zu unterwerfen begann,
[32]Erſtes einleitendes Buch.
wandte er ſich zuerſt, von Staunen angezogen, dem Himmel ent-
gegen; dieſe Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizontes
zu ruhen ſcheint, beſchäftigte ihn: ein in ſich verbundenes räum-
liches, den Menſchen ſtets und überall umgebendes Ganze; ſo
war die Orientirung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wiſſen-
ſchaftlicher Forſchung, in den öſtlichen Ländern wie in Europa.
Der Kosmos der geiſtigen Thatſachen iſt nicht dem Auge in ſeiner
Unermeßlichkeit ſichtbar, ſondern nur dem ſammelnden Geiſte des
Forſchers; in irgend einem einzelnen Theile tritt er hervor, wo
ein Gelehrter Thatſachen verbindet, und prüft und feſtſtellt: im
Inneren des Gemüthes baut er ſich dann auf. Eine kritiſche
Sichtung der Ueberlieferungen, Feſtſtellung der Thatſachen, Samm-
lung derſelben bildet daher eine erſte umfaſſende Arbeit der Geiſtes-
wiſſenſchaften. Nachdem die Philologie eine muſtergiltige Technik
an dem ſchwierigſten und ſchönſten Stoff der Geſchichte, dem claſ-
ſiſchen Alterthum, herausgebildet hat, wird dieſe Arbeit theils in
unzähligen Einzelforſchungen geleiſtet, theils bildet ſie einen
Beſtandtheil von weiter reichenden Unterſuchungen. Der Zu-
ſammenhang dieſer reinen Deſcription der geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Phyſik der
Erde, angelehnt an die Geographie, die Vertheilung des Geiſtigen
und ſeiner Unterſchiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum
zu beſchreiben zum Ziel hat, kann ſeine Anſchaulichkeit immer nur
durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältniſſe,
Zeitbeſtimmungen, durch die Hilfsmittel graphiſcher Darſtellung
empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht
hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung deſſelben
allmälig über.
VI.
Drei Claſſen von Ausſagen in ihnen.
Die Geiſteswiſſenſchaften, wie ſie ſind und wirken, kraft der
Vernunft der Sache, die in ihrer Geſchichte thätig war (nicht wie
die kühnen Architekten, die ſie neu bauen wollen, wünſchen), ver-
[33]Drei Claſſen von Ausſagen in den Geiſteswiſſenſchaften.
knüpfen in ſich drei unterſchiedene Claſſen von Ausſagen. Die
einen von ihnen ſprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahr-
nehmung gegeben iſt; ſie enthalten den hiſtoriſchen Beſtandtheil
der Erkenntniß. Die anderen entwickeln das gleichförmige Ver-
halten von Theilinhalten dieſer Wirklichkeit, welche durch Abſtrak-
tion ausgeſondert ſind: ſie bilden den theoretiſchen Beſtandtheil
derſelben. Die letzten drücken Werthurtheile aus und ſchreiben
Regeln vor: in ihnen iſt der praktiſche Beſtandtheil der Geiſtes-
wiſſenſchaften befaßt. Thatſachen, Theoreme, Werthurtheile und
Regeln: aus dieſen drei Claſſen von Sätzen beſtehen die Geiſtes-
wiſſenſchaften. Und die Beziehung zwiſchen der hiſtoriſchen Richtung
in der Auffaſſung, der abſtrakt-theoretiſchen und der praktiſchen
geht als ein gemeinſames Grundverhältniß durch die Geiſteswiſſen-
ſchaften. Die Auffaſſung des Singularen, Individualen bildet in
ihnen (da ſie die beſtändige Widerlegung des Satzes von Spinoza:
omnis determinatio est negatio ſind) ſo gut einen letzten Zweck als
die Entwicklung abſtrakter Gleichförmigkeiten. Von der erſten Wurzel
im Bewußtſein bis zur höchſten Spitze iſt der Zuſammenhang
der Werthurtheile und Imperative unabhängig von dem der zwei
erſten Claſſen. Die Beziehung dieſer drei Aufgaben zu einander
im denkenden Bewußtſein kann erſt im Verlauf der erkenntniß-
theoretiſchen Analyſis (umfaſſender: der Selbſtbeſinnung) ent-
wickelt werden. Jedenfalls bleiben Ausſagen über Wirklichkeit von
Werthurtheilen und Imperativen auch in der Wurzel geſondert: ſo
entſtehen zwei Arten von Sätzen, die primär verſchieden ſind. Und
zugleich muß anerkannt werden, daß dieſe Verſchiedenheit innerhalb
der Geiſteswiſſenſchaften einen doppelten Zuſammenhang in denſelben
zur Folge hat. Wie ſie gewachſen ſind enthalten die Geiſteswiſſen-
ſchaften neben der Erkenntniß deſſen was iſt das Bewußtſein des Zu-
ſammenhangs der Werthurtheile und Imperative, als in welchem
Werthe, Ideale, Regeln, die Richtung auf Geſtaltung der Zukunft
verbunden ſind. Ein politiſches Urtheil, das eine Inſtitution
verwirft, iſt nicht wahr oder falſch, ſondern richtig oder un-
richtig, inſofern ſeine Richtung, ſein Ziel abgeſchätzt wird; wahr
oder falſch kann dagegen ein politiſches Urtheil ſein, welches
Dilthey, Einleitung. 3
[34]Erſtes einleitendes Buch.
die Beziehungen dieſer Inſtitution zu anderen Inſtitutionen erörtert.
Erſt indem dieſe Einſicht für die Theorie von Satz, Ausſage, Urtheil
leitend wird, entſteht eine erkenntniß-theoretiſche Grundlage, die
den Thatbeſtand der Geiſteswiſſenſchaften nicht in die Enge einer
Erkenntniß von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwiſſen-
ſchaft zuſammendrängt und ſolchergeſtalt verſtümmelt, ſondern wie
ſie gewachſen ſind, begreift und begründet.
VII.
Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften aus der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit.
Die Zwecke der Geiſteswiſſenſchaften, das Singulare, In-
dividuale der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu erfaſſen,
die in ſeiner Geſtaltung wirkſamen Gleichförmigkeiten zu erkennen,
Ziele und Regeln ſeiner Fortgeſtaltung feſtzuſtellen, können nur
vermittelſt der Kunſtgriffe des Denkens, vermittelſt der Analyſis
und der Abſtraktion erreicht werden. Der abſtrakte Ausdruck, in
welchem von beſtimmten Seiten des Thatbeſtandes abgeſehen wird,
andere aber entwickelt werden, iſt nicht das ausſchließliche letzte
Ziel dieſer Wiſſenſchaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel.
Wie das abſtrahirende Erkennen nicht die Selbſtändigkeit der
anderen Zwecke dieſer Wiſſenſchaften in ſich auflöſen darf: ſo kann
weder die geſchichtliche, die theoretiſche Erkenntniß noch die Ent-
wicklung der die Geſellſchaft thatſächlich leitenden Regeln dieſes
abſtrahirenden Erkennens entrathen. Der Streit zwiſchen der
hiſtoriſchen und der abſtrakten Schule entſtand, indem die ab-
ſtrakte Schule den erſten, die hiſtoriſche den anderen Fehler be-
ging. Jede Einzelwiſſenſchaft entſteht nur durch den Kunſtgriff
der Herauslöſung eines Theilinhaltes aus der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit. Selbſt die Geſchichte ſieht von den Zügen
im Leben der einzelnen Menſchen und der Geſellſchaft, welche in
der von ihr darzuſtellenden Epoche denen aller anderen Epochen
[35]Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften.
gleich ſind, ab; ihr Blick iſt auf das Unterſcheidende und Singulare
gerichtet. Hierüber kann ſich der einzelne Geſchichtſchreiber täuſchen,
da aus einer ſolchen Richtung des Blickes ſchon die Auswahl der
Züge in ſeinen Quellen entſpringt; aber wer die wirkliche
Leiſtung deſſelben mit dem ganzen Thatbeſtand der geſellſchaftlich-
geſchichtlichen Wirklichkeit vergleicht, muß es anerkennen. Hieraus
ergiebt ſich der wichtige Satz, daß jede einzelne Wiſſenſchaft des
Geiſtes nur relativ, in ihrer Beziehung zu den anderen Wiſſen-
ſchaften des Geiſtes mit Bewußtſein erfaßt, die geſellſchaftlich-
geſchichtliche Wirklichkeit erkennt. Die Gliederung dieſer Wiſſen-
ſchaften, ihr geſundes Wachsthum in ihrer Beſonderung iſt ſonach
an die Einſicht in die Beziehung jeder ihrer Wahrheiten auf das
Ganze der Wirklichkeit, in der ſie enthalten ſind, ſowie an das
ſtete Bewußtſein der Abſtraktion, vermöge deren dieſe Wahrheiten
da ſind, und des begränzten Erkenntnißwerthes, der ihnen gemäß
ihrem abſtrakten Charakter zukommt, gebunden.
Nun kann vorgeſtellt werden, welche die fundamentalen Zer-
legungen ſind, vermöge deren die einzelnen Wiſſenſchaften des
Geiſtes ihren ungeheuren Gegenſtand zu bewältigen verſucht haben.
VIII.
Wiſſenſchaften der Einzelmenſchen als der Elemente dieſer
Wirklichkeit.
Die Analyſis findet in den Lebenseinheiten, den pſycho-
phyſiſchen Individuis die Elemente, aus welchen Geſellſchaft und
Geſchichte ſich aufbauen, und das Studium dieſer Lebenseinheiten
bildet die am meiſten fundamentale Gruppe von Wiſſenſchaften
des Geiſtes. Den Naturwiſſenſchaften iſt der Sinnenſchein von
Körpern verſchiedener Größe, die ſich im Raume bewegen, ſich
ausdehnen und erweitern, zuſammenziehen und verringern, in
welchen Veränderungen der Beſchaffenheiten vorgehen, als Ausgangs-
punkt ihrer Unterſuchungen gegeben. Sie haben ſich nur langſam
3*
[36]Erſtes einleitendes Buch.
richtigeren Anſichten über die Conſtitution der Materie genähert.
In dieſem Punkte beſteht ein viel günſtigeres Verhältniß zwiſchen
der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz.
Dieſer iſt in ihr ſelber die Einheit unmittelbar gegeben, welche
das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Geſellſchaft iſt,
während daſſelbe in den Naturwiſſenſchaften erſchloſſen werden
muß. Die Subjecte, an welche das Denken die Prädicirungen,
durch die alles Erkennen ſtattfindet, nach ſeinem unweigerlichen
Geſetz heftet, ſind in den Naturwiſſenſchaften Elemente, welche
durch eine Zertheilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerſchlagen,
Zerſplittern der Dinge nur hypothetiſch gewonnen ſind; in
den Geiſteswiſſenſchaften ſind es reale, in der inneren Er-
fahrung als Thatſachen gegebene Einheiten. Die Naturwiſſenſchaft
baut die Materie aus kleinen, keiner ſelbſtändigen Exiſtenz mehr
fähigen, nur noch als Beſtandtheile der Molecüle denkbaren
Elementartheilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar
verſchlungenen Ganzen der Geſchichte und der Geſellſchaft aufeinander
wirken, ſind Individua, pſycho-phyſiſche Ganze, deren jedes von
jedem anderen unterſchieden, deren jedes eine Welt iſt. Iſt doch
die Welt nirgend anders als eben in der Vorſtellung eines ſolchen
Individuums. Dieſe Unermeßlichkeit eines pſycho-phyſiſchen Ganzen,
in der ſchließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten iſt,
läßt ſich an der Analyſis der Vorſtellungswelt verdeutlichen, als
in welcher aus Empfindungen und Vorſtellungen eine Einzel-
anſchauung ſich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Ele-
menten ſie auch beſtehe, als ein Element in die bewußte Ver-
knüpfung und Trennung der Vorſtellungen eintritt. Und dieſe
Singularität eines jeden ſolchen einzelnen Individuums, das an
irgend einem Punkte des unermeßlichen geiſtigen Kosmos wirkt,
läßt ſich, gemäß dem Satz: individuum est ineffabile, in ſeine
einzelnen Beſtandtheile verfolgen, wodurch ſie erſt in ihrer ganzen
Bedeutung erkannt wird.
Die Theorie dieſer pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten iſt die
Anthropologie und Pſychologie. Ihr Material bildet die ganze
Geſchichte und Lebenserfahrung und gerade die Schlüſſe aus dem
[37]Die Wiſſenſchaften des Einzelmenſchen.
Studium der pſychiſchen Maſſenbewegungen werden in ihr
eine ſtets wachſende Bedeutung erlangen. Die Verwerthung
des ganzen Reichthums der Thatſachen, welche den Stoff der
Geiſteswiſſenſchaften überhaupt bilden, iſt der wahren Pſychologie
ſowohl mit den Theorien, von denen demnächſt zu ſprechen ſein
wird, als mit der Geſchichte gemeinſam. Alsdann aber iſt feſt-
zuhalten: außerhalb der pſychiſchen Einheiten, welche den Gegen-
ſtand der Pſychologie bilden, giebt es überhaupt keine geiſtige
Thatſache für unſere Erfahrung. Da nun die Pſychologie keines-
wegs alle Thatſachen in ſich ſchließt, welche Gegenſtand der
Geiſteswiſſenſchaften ſind, oder (was daſſelbe iſt) welche die
Erfahrung uns an pſychiſchen Einheiten auffaſſen läßt: ſo ergiebt
ſich hieraus, daß die Pſychologie nur einen Theilinhalt deſſen,
was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenſtande
hat. Sie kann daher nur durch eine Abſtraction von der Ge-
ſammtwiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit aus-
geſondert und nur in beſtändiger Beziehung auf ſie entwickelt
werden. Wohl iſt die pſycho-phyſiſche Einheit dadurch in ſich ge-
ſchloſſen, daß für ſie nur Zweck ſein kann, was in ihrem eigenen
Willen geſetzt iſt, nur werthvoll, was in ihrem Gefühl ſo gegeben
iſt, nur wirklich und wahr, was als gewiß, als evident vor ihrem
Bewußtſein ſich bewährt. Aber dieſes ſo geſchloſſene, im Selbſt-
bewußtſein ſeiner Einheit gewiſſe Ganze iſt andrerſeits nur in dem
Zuſammenhang der geſellſchaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten;
ſeine Organiſation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend
und nach außen zurückwirkend; ſeine ganze Inhaltlichkeit iſt nur
eine inmitten der umfaſſenden Inhaltlichkeit des Geiſtes in der
Geſchichte und Geſellſchaft vorübergehend auftretende einzelne Ge-
ſtalt; ja der höchſte Zug ſeines Weſens iſt es, vermöge deſſen es
in etwas lebt, das nicht es ſelber iſt. Der Gegenſtand der Pſycho-
logie iſt alſo jederzeit nur das Individuum, welches aus dem
lebendigen Zuſammenhang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit ausgeſondert iſt, und ſie iſt darauf angewieſen, die all-
gemeinen Eigenſchaften, welche pſychiſche Einzelweſen in dieſem
Zuſammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abſtraktion
[38]Erſtes einleitendes Buch.
feſtzuſtellen. Den Menſchen, wie er, abgeſehen von der Wechſel-
wirkung in der Geſellſchaft, gleichſam vor ihr iſt, findet ſie weder
in der Erfahrung noch vermag ſie ihn zu erſchließen: wäre das
der Fall, ſo würde der Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften ſich un-
gleich einfacher geſtaltet haben. Selbſt der ganz enge Umkreis
unbeſtimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt ſind
dem Menſchen an und für ſich zuzuſchreiben, unterliegt dem un-
geſchlichteten Streit hart aneinanderſtoßender Hypotheſen.
Hier kann alſo ſofort ein Verfahren abgewieſen werden,
welches den Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften unſicher macht, indem
es in die Grundmauern Hypotheſen einfügt. Das Verhältniß der
Individualeinheiten zur Geſellſchaft iſt von zwei entgegengeſetzten
Hypotheſen aus konſtruktiv behandelt worden. Seitdem dem
Naturrecht der Sophiſten Plato’s Auffaſſung des Staats als des
Menſchen im Großen gegenübertrat, befehden ſich dieſe beiden
Theorien, ähnlich wie die atomiſtiſche und die dynamiſche, in Be-
zug auf die Conſtruktion der Geſellſchaft. Wol nähern ſie ſich
einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflöſung des Gegenſatzes
iſt erſt möglich, wenn die conſtruktive Methode, die ihn hervor-
brachte, verlaſſen wird, wenn die einzelnen Wiſſenſchaften der
geſellſchaftlichen Wirklichkeit als Theile eines umfaſſenden analy-
tiſchen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Ausſagen über
Theilinhalte dieſer Wirklichkeit aufgefaßt werden. In dieſem
analytiſchen Gang der Unterſuchung kann die Pſychologie nicht,
wie durch die erſte dieſer Hypotheſen geſchieht, als Darſtellung
der anfänglichen Ausſtattung eines von dem geſchichtlichen Stamme
der Geſellſchaft losgelöſten Individuums entwickelt werden. Haben
doch z. B. die Grundverhältniſſe des Willens wol den Schauplatz
des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund.
Eine ſolche Iſolirung und dann eine mechaniſche Zuſammenſetzung
von Individuen, als Methode der Conſtruktion der Geſellſchaft, war
der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einſeitig-
keit dieſer Richtung iſt immer wieder bekämpft worden durch eine
entgegengeſetzte Einſeitigkeit. Dieſe hat, gegenüber einer mechaniſchen
Zuſammenſetzung der Geſellſchaft, Formeln entworfen, welche die
[39]Anthropologie und Pſychologie.
Einheit des geſellſchaftlichen Körpers ausdrücken und ſo der an-
deren Hälfte des Thatbeſtandes genugthun ſollten. Eine ſolche
Formel iſt die Unterordnung des Verhältniſſes des Einzelnen zum
Staat unter das Verhältniß des Theils zum Ganzen, welches
vor dem Theil iſt, in der Staatslehre des Ariſtoteles; iſt die
Durchführung der Vorſtellung vom Staat als einem wohlgeord-
neten thieriſchen Organismus bei den Publiciſten des Mittelalters,
welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftſtellern vertheidigt
und näher ausgebildet wird; iſt der Begriff einer Volksſeele oder
eines Volksgeiſtes. Nur durch den geſchichtlichen Gegenſatz haben
dieſe Verſuche, die Einheit der Individuen in der Geſellſchaft einem
Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der
Volksſeele fehlt die Einheit des Selbſtbewußtſeins und Wirkens,
welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des
Organismus ſubſtituirt für ein gegebenes Problem ein anderes,
und zwar wird vielleicht, wie ſchon J. St. Mill bemerkt hat, die
Auflöſung des Problems der Geſellſchaft früher und vollſtändiger
gelingen als die des Problems des thieriſchen Organismus; ſchon
jetzt aber kann die außerordentliche Verſchiedenheit dieſer beiden
Arten von Syſtemen, in denen zu einer Geſammtleiſtung einander
gegenſeitig bedingende Funktionen zuſammengreifen, gezeigt werden.
Das Verhältniß der pſychiſchen Einheiten zur Geſellſchaft darf ſo-
nach überhaupt keiner Conſtruktion unterworfen werden. Kate-
gorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Theil, ſind für
eine Conſtruktion nicht benutzbar: ſelbſt wo die Darſtellung ihrer
nicht entbehren kann, darf nie vergeſſen werden, daß ſie in der
Erfahrung des Individuums von ſich ſelber ihren lebendigen Ur-
ſprung gehabt haben, daß ſonach durch keine Rückanwendung mehr
an dem Erlebniß, welches das Individuum ſich ſelber in der
Geſellſchaft iſt, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für ſich
zu ſagen im Stande iſt.
Der Menſch als eine der Geſchichte und Geſellſchaft vorauf-
gehende Thatſache iſt eine Fiction der genetiſchen Erklärung; der-
jenige Menſch, den geſunde analytiſche Wiſſenſchaft zum Object hat,
iſt das Individuum als ein Beſtandtheil der Geſellſchaft. Das
[40]Erſtes einleitendes Buch.
ſchwierige Problem, welches Pſychologie aufzulöſen hat, iſt: analy-
tiſche Erkenntniß der allgemeinen Eigenſchaften dieſes Menſchen.
So aufgefaßt, iſt Anthropologie und Pſychologie die Grund-
lage aller Erkenntniß des geſchichtlichen Lebens, wie aller Regeln
der Leitung und Fortbildung der Geſellſchaft. Sie iſt nicht nur
Vertiefung des Menſchen in die Betrachtung ſeiner ſelbſt. Ein
Typus der Menſchennatur ſteht immer zwiſchen dem Geſchicht-
ſchreiber und ſeinen Quellen, aus denen er Geſtalten zu pul-
ſirendem Leben erwecken will; er ſteht nicht minder zwiſchen dem
politiſchen Denker und der Wirklichkeit der Geſellſchaft, welcher
dieſer Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wiſſenſchaft
will nur dieſem ſubjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit
geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subject dieſe
Individualeinheit iſt, deren Prädikate alle Ausſagen über ſie ſind,
welche für das Verſtändniß der Geſellſchaft und der Geſchichte
fruchtbar werden können. Dieſe Aufgabe der Pſychologie und An-
thropologie ſchließt aber in ſich eine Erweiterung ihres Umfangs.
Ueber die bisherige Erforſchung der Gleichförmigkeiten des geiſtigen
Lebens hinaus muß ſie typiſche Unterſchiede deſſelben erkennen,
die Einbildungskraft des Künſtlers, das Naturell des handelnden
Menſchen der Beſchreibung und Analyſis unterwerfen und das
Studium der Formen des geiſtigen Lebens durch die Deſcription
der Realität ſeines Verlaufs, ſowie ſeines Inhaltes ergänzen.
Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen
Syſtemen der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit zwiſchen der
Pſychologie einerſeits, der Aeſthetik, Ethik, den Wiſſenſchaften der
politiſchen Körper ſowie der Geſchichtswiſſenſchaft andrerſeits
exiſtirt: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generali-
ſationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter,
Darſtellungen der Weltmänner von Charakteren und Schickſalen,
unbeſtimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geſchichtſchreiber
in ſeine Erzählung verwebt, eingenommen war.
Die Aufgaben einer ſolchen grundlegenden Wiſſenſchaft kann
die Pſychologie nur löſen, indem ſie ſich in den Grenzen einer
deſcriptiven Wiſſenſchaft hält, welche Thatſachen und Gleichförmig-
[41]Die Biographie.
keiten an Thatſachen feſtſtellt, dagegen die erklärende Pſychologie,
welche den ganzen Zuſammenhang des geiſtigen Lebens durch
gewiſſe Annahmen ableitbar machen will, von ſich reinlich unter-
ſcheidet. Nur durch dieſes Verfahren kann für die letztere ein ge-
naues, unbefangen feſtgeſtelltes Material gewonnen werden, welches
eine Verification der pſychologiſchen Hypotheſen geſtattet. Vor
Allem aber: nur ſo können endlich die Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes eine Grundlegung erhalten, die ſelber feſt iſt, während
jetzt auch die beſten Darſtellungen der Pſychologie Hypotheſen auf
Hypotheſen bauen.
Wir ziehen das Ergebniß für den Zuſammenhang dieſer
Darlegung. Der einfachſte Befund, welchen die Analyſis der
geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt
in der Pſychologie vor; ſie iſt demnach die erſte und elementarſte
unter den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes; dem entſprechend bilden
ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre
Wahrheiten enthalten nur einen aus dieſer Wirklichkeit ausgelöſten
Theilinhalt und haben daher die Beziehung auf dieſe zur Voraus-
ſetzung. Demnach kann nur vermittelſt einer erkenntniß-theoretiſchen
Grundlegung die Beziehung der pſychologiſchen Wiſſenſchaft zu
den anderen Wiſſenſchaften des Geiſtes und zu der Wirklichkeit ſelber,
deren Theilinhalte ſie ſind, aufgeklärt werden. Für die Pſycho-
logie ſelber aber ergiebt ſich aus ihrer Stellung im Zuſammen-
hang der Geiſteswiſſenſchaften, daß ſie als deſcriptive Wiſſenſchaft
(ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) ſich
unterſcheiden muß von der erklärenden Wiſſenſchaft, welche, ihrer
Natur nach hypothetiſch, einfachen Annahmen die Thatſachen des
geiſtigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.
Die Darſtellung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit
iſt die Biographie. Das Gedächtniß der Menſchheit hat ſehr
viele Individualexiſtenzen des Intereſſes und der Aufbewahrung
würdig befunden. Carlyle ſagt einmal von der Geſchichte: „weiſes
Erinnern und weiſes Vergeſſen, darin liegt Alles“. Das Singulare
des Menſchendaſeins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das
Individuum die Anſchauung und die Liebe anderer Individuen
[42]Erſtes einleitendes Buch.
zu ſich hinreißt, ſtärker als irgend ein anderes Object oder irgend
eine Generaliſation. Die Stellung der Biographie innerhalb der
allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft entſpricht der Stellung der An-
thropologie innerhalb der theoretiſchen Wiſſenſchaften der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortſchritt der
Anthropologie und die wachſende Erkenntniß ihrer grundlegenden
Stellung auch die Einſicht vermitteln, daß die Erfaſſung der ganzen
Wirklichkeit eines Individualdaſeins, ſeine Naturbeſchreibung in
ſeinem geſchichtlichen milieu, ein Höchſtes von Geſchichtſchreibung
iſt, gleichwerthig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geſchichtlichen
Darſtellung, die aus breiterem Stoff geſtaltet. Der Wille eines
Menſchen, in ſeinem Verlauf und ſeinem Schickſal, wird hier
in ſeiner Würde als Selbſtzweck erfaßt, und der Biograph
ſoll den Menſchen sub specie aeterni erblicken, wie er ſelbſt ſich
in Momenten fühlt, in welchen zwiſchen ihm und der Gottheit
Alles Hülle, Gewand und Mittel iſt und er ſich dem Sternen-
himmel ſo nahe fühlt, als irgend einem Theil der Erde. Die
Biographie ſtellt ſo die fundamentale geſchichtliche Thatſache rein,
ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Hiſtoriker, der ſo-
zuſagen von dieſen Lebenseinheiten aus die Geſchichte aufbaut, der
durch den Begriff von Typus und Repräſentation ſich der Auf-
faſſung von Ständen, von geſellſchaftlichen Verbänden über-
haupt, von Zeitaltern zu nähern ſucht, der durch den Begriff von
Generationen Lebensläufe aneinander kettet, wird die Wirklichkeit
eines geſchichtlichen Ganzen erfaſſen, im Gegenſatz zu den todten
Abſtraktionen, die zumeiſt aus den Archiven entnommen werden.
Iſt die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere
Entwicklung einer wahren Realpſychologie, ſo hat ſie andrerſeits in
dem dermaligen Zuſtande dieſer Wiſſenſchaft ihre Grundlage. Man
kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der
Wiſſenſchaft der Anthropologie und Pſychologie auf das Problem,
eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schickſal lebendig und
verſtändlich zu machen, bezeichnen.
Regeln perſönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten
einen weiteren Zweig der Literatur gebildet; einige der ſchönſten
[43]Die phyſiologiſche Pſychologie.
und tiefſten Schriften aller Literatur ſind dieſem Gegenſtande ge-
widmet. Sollen ſie aber den Charakter der Wiſſenſchaft erlangen:
ſo führt eine ſolche Beſtrebung zurück in die Selbſtbeſinnung
über den Zuſammenhang zwiſchen unſerer Erkenntniß von der Wirk-
lichkeit der Lebenseinheit und unſerem Bewußtſein von den Beziehungen
der Werthe zu einander, welche unſer Wille und unſer Gefühl im
Leben finden.
An der Grenze der Naturwiſſenſchaften und der Pſychologie
hat ſich ein Gebiet von Unterſuchungen ausgeſondert, welches von
ſeinem erſten genialen Bearbeiter als Pſychophyſik bezeichnet wor-
den iſt und welches ſich durch das Zuſammenwirken hervorragender
Forſcher zu dem Entwurf einer phyſiologiſchen Pſychologie er-
weitert hat. Dieſe Wiſſenſchaft ging davon aus, ohne Rückſicht
auf den metaphyſiſchen Streit über Körper und Seele die that-
ſächlichen Beziehungen zwiſchen dieſen beiden Erſcheinungsgebieten
möglichſt genau feſtſtellen zu wollen. Der neutrale, in der äußerſten
hier denkbaren Abſtraktion verbleibende Begriff der Funktion in
ſeiner mathematiſchen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zu
Grunde gelegt, und Feſtſtellung der beſtehenden ſo in zwei Rich-
tungen darſtellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieſer Wiſſen-
ſchaft feſtgehalten. Den Mittelpunkt ſeiner Unterſuchungen bildete
das Funktionsverhältniß zwiſchen Reiz und Empfindung. Will
jedoch dieſe Wiſſenſchaft die Lücke, welche zwiſchen Phyſiologie und
Pſychologie beſteht, vollſtändig ausfüllen, will ſie alle Berührungs-
punkte des körperlichen und pſychiſchen Lebens umfaſſen und
zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie die Verbindung ſo voll-
ſtändig und wirkſam als möglich herſtellen: dann findet ſie ſich
genöthigt, dieſe Beziehung in die umfaſſende Vorſtellung des
urſächlichen Zuſammenhangs der geſammten Wirklichkeit einzu-
ordnen. Und zwar bildet die einſeitige Dependenz pſychiſcher That-
ſachen und Veränderungen von phyſiologiſchen den Hauptgegenſtand
einer ſolchen phyſiologiſchen Pſychologie. Sie entwickelt die Ab-
hängigkeit des geiſtigen Lebens von ſeiner körperlichen Unterlage;
unterſucht die Grenzen, innerhalb deren eine ſolche Abhängigkeit
nachweisbar iſt; ſtellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche
[44]Erſtes einleitendes Buch.
von den geiſtigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So
verfolgt ſie das geiſtige Leben, von den Beziehungen, welche
zwiſchen der phyſiologiſchen Leiſtung der Sinnesorgane und dem
pſychiſchen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung ob-
walten, zu denen zwiſchen dem Auftreten, Verſchwinden, der Ver-
kettung der Vorſtellungen einerſeits, der Struktur und den Funk-
tionen des Gehirns andrerſeits, bis zu denen, welche zwiſchen
dem Reflexmechanismus und motoriſchen Syſtem und entſprechend
der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung beſtehen.
IX.
Stellung des Erkennens zu dem Zuſammenhang geſchichtlich-
geſellſchaftlicher Wirklichkeit.
Von dieſer Zergliederung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Ein-
heiten iſt diejenige unterſchieden, welche das Ganze der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtande hat. Franzoſen
und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieſes Ganzen
entwickelnden Geſammtwiſſenſchaft entworfen und dieſelbe als
Sociologie bezeichnet. In der That kann die Erkenntniß der Ent-
wicklung der Geſellſchaft nicht von der Erkenntniß ihres gegen-
wärtigen status getrennt werden. Beide Claſſen von Thatſachen
bilden Einen Zuſammenhang. Der gegenwärtige Zuſtand, in
welchem die Geſellſchaft ſich befindet, iſt das Ergebniß des früheren
und er iſt zugleich die Bedingung des nächſten. Der ermittelte
status deſſelben in dem jetzigen Moment gehört im nächſten be-
reits der Geſchichte an. Jeder Durchſchnitt, der den status der
Geſellſchaft in einem gegebenen Augenblick darſtellt, iſt daher, ſo-
bald man ſich über den Moment erhebt, als ein geſchichtlicher
Zuſtand zu betrachten. Der Begriff der Geſellſchaft kann ſonach
gebraucht werden, dieſes ſich entwickelnde Ganze zu bezeichnen 1).
[45]Stellung des Erkennens zur Geſellſchaft.
Viel verſchlungener noch, räthſelhafter als unſer eigener
Organismus, als ſeine am meiſten räthſelhaften Theile, wie das
Gehirn, ſteht dieſe Geſellſchaft, d. h. die ganze geſchichtlich-geſell-
ſchaftliche Wirklichkeit, dem Individuum als ein Objekt der Be-
trachtung gegenüber. Der Strom des Geſchehens in ihr fließt
unaufhaltſam voran, während die einzelnen Individua, aus denen
er beſteht, auf dem Schauplatz des Lebens erſcheinen und von
ihm wieder abtreten. So findet das Individuum ſich in ihm
vor, als ein Element, mit anderen Elementen in Wechſelwirkung.
Es hat dies Ganze nicht gebaut, in das es hineingeboren iſt. Es
kennt von den Geſetzen, in denen hier Individuen auf einander
wirken, nur wenige und unbeſtimmt gefaßte. Wohl ſind es
dieſelben Vorgänge, die in ihm, vermöge innerer Wahrnehmung,
ihrem ganzen Gehalt nach bewußt ſind, und welche außer ihm
dieſes Ganze gebaut haben; aber ihre Verwickelung iſt ſo groß,
die Bedingungen der Natur, unter denen ſie auftreten, ſind ſo
mannigfaltig, die Mittel der Meſſung und des Verſuchs ſind ſo
eng begrenzt, daß die Erkenntniß dieſes Baues der Geſellſchaft
durch kaum überwindlich erſcheinende Schwierigkeiten aufgehalten
worden iſt. Hieraus entſpringt die Verſchiedenheit zwiſchen un-
ſerem Verhältniß zur Geſellſchaft und dem zur Natur. Die That-
beſtände in der Geſellſchaft ſind uns von innen verſtändlich, wir
können ſie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unſerer eigenen
Zuſtände, bis auf einen gewiſſen Punkt nachbilden, und mit Liebe
und Haß, mit leidenſchaftlicher Freude, mit dem ganzen Spiel unſerer
Affekte begleiten wir anſchauend die Vorſtellung der geſchichtlichen
Welt. Die Natur iſt uns ſtumm. Nur die Macht unſerer
Imagination ergießt einen Schimmer von Leben und Innerlichkeit
über ſie. Denn ſofern wir ein mit ihr in Wechſelwirkung ſtehen-
des Syſtem körperlicher Elemente ſind, begleitet kein inneres Ge-
wahrwerden das Spiel dieſer Wechſelwirkung. Darum kann auch
1)
[46]Erſtes einleitendes Buch.
die Natur für uns den Ausdruck erhabener Ruhe haben. Dieſer Aus-
druck ſchwände, wenn wir daſſelbe wechſelnde Spiel inneren Lebens
in ihren Elementen gewahrten oder in ihnen vorzuſtellen ge-
zwungen wären, welches die Geſellſchaft für uns erfüllt. Die
Natur iſt uns fremd. Denn ſie iſt uns nur ein Außen,
kein Inneres. Die Geſellſchaft iſt unſere Welt. Das Spiel der
Wechſelwirkungen in ihr erleben wir mit, in aller Kraft unſeres
ganzen Weſens, da wir in uns ſelber von innen, in lebendigſter
Unruhe, die Zuſtände und Kräfte gewahren, aus denen ihr Syſtem
ſich aufbaut. Das Bild ihres Zuſtandes ſind wir genöthigt in
immer regſamen Werthurtheilen zu meiſtern, mit nie ruhendem
Antrieb des Willens wenigſtens in der Vorſtellung umzugeſtalten.
Dies Alles prägt dem Studium der Geſellſchaft gewiſſe
Grundzüge auf, welche es durchgreifend von dem der Natur unter-
ſcheiden. Die Gleichförmigkeiten, welche auf dem Gebiet der
Geſellſchaft feſtgeſtellt werden können, ſtehen nach Zahl, Bedeu-
tung und Beſtimmtheit der Faſſung ſehr zurück hinter den Geſetzen,
welche auf der ſicheren Grundlage der Beziehungen im Raum und
der Eigenſchaften der Bewegung über die Natur aufgeſtellt werden
konnten. Die Bewegungen der Geſtirne, nicht nur unſeres Pla-
netenſyſtems, ſondern von Sternen, deren Licht erſt nach Jahren
unſer Auge trifft, können als dem ſo einfachen Gravitationsgeſetz
unterworfen aufgezeigt und auf lange Zeiträume voraus berechnet
werden. Eine ſolche Befriedigung des Verſtandes vermögen die
Wiſſenſchaften der Geſellſchaft nicht zu gewähren. Die Schwierig-
keiten der Erkenntniß einer einzelnen pſychiſchen Einheit werden
vervielfacht durch die große Verſchiedenartigkeit und Singularität
dieſer Einheiten, wie ſie in der Geſellſchaft zuſammenwirken, durch
die Verwicklung der Naturbedingungen, unter denen ſie verbunden
ſind, durch die Summirung der Wechſelwirkungen, welche in der
Aufeinanderfolge vieler Generationen ſich vollzieht und die es nicht
geſtattet, aus der menſchlichen Natur, wie wir ſie heute kennen,
die Zuſtände früherer Zeiten direkt abzuleiten oder die heutigen
Zuſtände aus einem allgemeinen Typus der menſchlichen Natur
zu folgern. Und doch wird dieſes Alles mehr als aufgewogen
[47]Grundzüge ihres Studiums.
durch die Thatſache, daß ich ſelber, der ich mich von innen erlebe
und kenne, ein Beſtandtheil dieſes geſellſchaftlichen Körpers bin,
und daß die anderen Beſtandtheile mir gleichartig und ſonach
für mich ebenfalls in ihrem Inneren auffaßbar ſind. Ich verſtehe
das Leben der Geſellſchaft. Das Individuum iſt einerſeits ein
Element in den Wechſelwirkungen der Geſellſchaft, ein Kreuzungs-
punkt der verſchiedenen Syſteme dieſer Wechſelwirkungen, in be-
wußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen
derſelben reagirend, und es iſt zugleich die dieſes Alles anſchauende
und erforſchende Intelligenz. Das Spiel der für uns ſeelenloſen
wirkenden Urſachen wird hier abgelöſt von dem der Vorſtellungen,
Gefühle und Beweggründe. Und grenzenlos iſt die Singularität,
der Reichthum im Spiel der Wechſelwirkung, die hier ſich auf-
thun. Der Waſſerſturz ſetzt ſich aus homogenen ſtoßenden Waſſer-
theilchen zuſammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein
Hauch des Mundes iſt, erſchüttert die ganze beſeelte Geſellſchaft
eines Welttheils durch ein Spiel von Motiven in lauter indivi-
duellen Einheiten: ſo verſchieden iſt die hier auftretende Wechſel-
wirkung, nämlich das in der Vorſtellung entſpringende Motiv, von
jeder anderen Art von Urſache. Andere unterſcheidende Grundzüge
folgen hieraus. Das auffaſſende Vermögen, welches in den Geiſtes-
wiſſenſchaften wirkt, iſt der ganze Menſch; große Leiſtungen in ihnen
gehen nicht von der bloßen Stärke der Intelligenz aus, ſondern
von einer Mächtigkeit des perſönlichen Lebens. Dieſe geiſtige
Thätigkeit findet ſich, ohne jeden weiteren Zweck einer Erkenntniß
des Totalzuſammenhangs von dem Singularen und Thatſäch-
lichen in dieſer geiſtigen Welt angezogen und befriedigt, und
mit dem Auffaſſen iſt für ſie praktiſche Tendenz in Beurtheilung,
Ideal, Regel verbunden.
Aus dieſen Grundverhältniſſen ergiebt ſich für das Individuum
der Geſellſchaft gegenüber ein doppelter Anſatzpunkt ſeines Nach-
denkens. Es vollbringt ſeine Thätigkeit an dieſem Ganzen mit Be-
wußtſein, bildet Regeln derſelben, ſucht Bedingungen derſelben in
dem Zuſammenhang der geiſtigen Welt. Andrerſeits aber verhält
es ſich als anſchauende Intelligenz und möchte in ſeiner Er-
[48]Erſtes einleitendes Buch.
kenntniß dies Ganze erfaſſen. So ſind die Wiſſenſchaften der
Geſellſchaft einerſeits von dem Bewußtſein des Individuums über
ſeine eigene Thätigkeit und deren Bedingungen ausgegangen; auf
dieſe Weiſe bildeten ſich Grammatik, Rhetorik, Logik, Aeſthetik,
Ethik, Jurisprudenz zunächſt aus; und hier iſt begründet, daß
ihre Stellung im Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften zwiſchen
Analyſis und Regelgebung, deren Objekt die Einzelthätigkeit des
Individuums iſt, und ſolcher, die ein ganzes geſellſchaftliches
Syſtem zum Gegenſtande hat, in unſicherer Mitte bleibt. Hatte die
Politik ebenfalls, wenigſtens Anfangs vorwiegend, dies Intereſſe: ſo
verband es ſich doch in ihr bereits mit dem einer Ueberſicht über
die politiſchen Körper. Ausſchließlich aus ſolchem Bedürfniß eines
freien, anſchauenden, von dem Intereſſe am Menſchlichen innerlich
bewegten Ueberblicks entſtand dann die Geſchichtſchreibung. Indem
aber die Berufsarten innerhalb der Geſellſchaft ſich immer mannig-
facher gliederten, die techniſche Vorbildung für dieſelben immer
mehr Theorie entwickelte und in ſich faßte: drangen dieſe tech-
niſchen Theorien von ihrem praktiſchen Bedürfniß aus immer
tiefer in das Weſen der Geſellſchaft ein; das Intereſſe der Er-
kenntniß geſtaltete ſie allgemach zu wirklichen Wiſſenſchaften um,
welche neben ihrer praktiſchen Abzweckung an der Aufgabe einer
Erkenntniß der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit mit-
arbeiteten.
Die Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft
vollzog ſich ſonach nicht durch einen Kunſtgriff des theoretiſchen
Verſtandes, welcher das Problem der Thatſache der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Welt durch eine methodiſche Zerlegung des zu unter-
ſuchenden Objektes zu löſen unternommen hätte: das Leben ſelber
vollbrachte ſie. So oft die Ausſcheidung eines geſellſchaftlichen
Wirkungskreiſes eintrat und dieſer eine Anordnung von Thatſachen
hervorbrachte, auf welche die Thätigkeit des Individuums ſich be-
zog, waren die Bedingungen da, unter denen eine Theorie ent-
ſtehen konnte. So trug der große Differenzirungsproceß der
Geſellſchaft, in welchem ihr wunderbar verſchlungener Bau ent-
ſtanden iſt, in ſich ſelber die Bedingungen und zugleich die
[49]Es vollzieht ſich in Einzelwiſſenſchaften.
Bedürfniſſe, vermöge deren die Abſpiegelung eines jeden relativ
ſelbſtändig gewordenen Lebenskreiſes derſelben in einer Theorie
ſich vollzog. Und ſo ſtellt ſich ſchließlich die Geſellſchaft, in welcher,
gleichſam der mächtigſten aller Maſchinen, jedes dieſer Räder, dieſer
Walzen nach ſeinen Eigenſchaften wirkt und doch in dem Ganzen
ſeine Funktion hat, in dem Nebeneinanderbeſtehen und Ineinander-
greifen ſo mannichfacher Theorien bis zu einem gewiſſen Grade
vollſtändig dar.
Auch machte ſich zunächſt innerhalb der poſitiven Wiſſen-
ſchaften des Geiſtes kein Bedürfniß geltend, die Beziehungen dieſer
einzelnen Theorien zu einander und zu dem umfaſſenden Zuſammen-
hang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, deſſen Theil-
inhalte ſie ausgeſondert betrachteten, feſtzuſtellen. Spät und ver-
einzelt ſind in dieſe Lücke die Philoſophie des Geiſtes, der Ge-
ſchichte, der Geſellſchaft eingetreten, und wir werden die Gründe
aufzeigen, aus welchen ſie den Beſtand ſtätig und ſicher ſich
entwickelnder Wiſſenſchaften nicht gewonnen haben. So heben ſich
die wirklichen und durchgebildeten Wiſſenſchaften einzeln und in
leichten Verknüpfungen von dem weiten Hintergrunde der großen
Thatſache der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit ab. Nur durch
die Beziehung auf dieſe lebendige Thatſache und ihre deſkriptive
Darſtellung, nicht aber durch die Beziehung auf eine allgemeine
Wiſſenſchaft iſt ihre Stelle beſtimmt.
X.
Das wiſſenſchaftliche Studium der natürlichen Gliederung der
Menſchheit ſowie der einzelnen Völker.
Dieſe deſkriptive Darſtellung, die man als Geſchichts- und
Geſellſchaftskunde im weiteſten Verſtande bezeichnen kann, umfaßt
die complexen Thatſachen der geiſtigen Welt in ihrem Zuſammen-
hang, wie derſelbe in der Kunſt der Geſchichtſchreibung und in der
Statiſtik der Gegenwart erfaßt wird. Wir ſahen früher (S. 30),
Dilthey, Einleitung. 4
[50]Erſtes einleitendes Buch.
wie die bloße Sammlung und Sichtung des Materials in einer bunten
Mannichfaltigkeit von Arbeiten allmälig, in continuirlicher Steigerung
der denkenden Bearbeitung, in Wiſſenſchaft übergeht. Die Stellung
der Geſchichtſchreibung in dieſem Zuſammenhang, zwiſchen der
Sammlung der Thatſachen und der Ausſcheidung des Gleichartigen
aus ihnen in einer einzelnen Theorie, ward in ihrer ſelbſtändigen
Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben. Sie war uns eine Kunſt,
weil in ihr, wie in der Phantaſie des Künſtlers ſelber, das All-
gemeine in dem Beſonderen angeſchaut, noch nicht durch Abſtraktion
von ihm geſondert und für ſich dargeſtellt wird, was erſt in der
Theorie geſchieht. Das Beſondere iſt hier nur von der Idee im
Geiſte des Geſchichtſchreibers geſättigt und geſtaltet, und wo eine
Generaliſation auftritt, beleuchtet ſie nur blitzartig die Thatſachen
und entbindet auf einen Moment das abſtrakte Denken. So dient
ja auch dem Dichter die Generaliſation, indem ſie aus dem Unge-
ſtüm, den Leiden und Affekten, welche er darſtellt, einen Augenblick
die Seele ſeines Zuhörers in die freie Region der Gedanken
erhebt.
Aus dieſem genialen Ueberblick des Geſchichtſchreibers, der
ſich über das mannichfaltige Leben der Menſchheit verbreitet,
löſt ſich nun aber eine erſte deſkriptive Zuſammenordnung von
Gleichartigem aus. Sie ſchließt ſich naturgemäß an die An-
thropologie des Einzelmenſchen. Entwickelte dieſe den allge-
meinen menſchlichen Typus, die allgemeinen Geſetze des Lebens
der pſychophyſiſchen Einheiten, die in dieſen Geſetzen angelegten
Differenzen von Einzeltypen: ſo geht die Ethnologie oder
vergleichende Anthropologie von hier aus weiter; ihren Gegen-
ſtand bilden Gleichartigkeiten engeren Umfangs, durch welche
Gruppen innerhalb der Geſammtheit ſich abgrenzen und als Ein-
zelglieder der Menſchheit ſich darſtellen: die natürliche Gliederung
des Menſchengeſchlechts und die durch ſie unter den Bedingungen
des Erdganzen entſtehende Vertheilung des geiſtigen Lebens und
ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde. Dieſe Völkerkunde
erforſcht alſo, wie auf der Grundlage des Familienverbandes und
der Verwandtſchaft, in durch den Grad der Abſtammung gebildeten
[51]Studium der natürlichen Gliederung der Menſchheit.
concentriſchen Kreiſen, das Menſchengeſchlecht natürlich gegliedert
iſt, d. h. wie in jedem engeren Kreiſe zuſammenhängend mit näherer
Verwandtſchaft neue gemeinſame Merkmale auftreten. Von der
Frage nach der Einheit der Abſtammung und Art, nach dem
älteſten Wohnſitze, dem Alter und den gemeinſamen Merkmalen
des Menſchengeſchlechts wendet dieſe Wiſſenſchaft ſich zur Abgren-
zung der einzelnen Racen und der Beſtimmung ihrer Merkmale,
zu den Gruppen, welche jede dieſer Racen in ſich faßt; auf der
Grundlage der Geographie entwickelt ſie die Vertheilung des geiſtigen
Lebens und ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde: man
ſieht den Strom der Bevölkerung ſich verbreiten, der Richtung der
leichteſten Befriedigung folgend, wie das Waſſernetz ſich den Be-
dingungen des Bodens anſchmiegt.
Mit dieſer genealogiſchen Gliederung verweben ſich geſchicht-
liche That und geſchichtliches Schickſal, und ſo bilden ſich die
Völker, lebendige und relativ ſelbſtändige Centren der Kultur
in dem geſellſchaftlichen Zuſammenhang einer Zeit, Träger der
geſchichtlichen Bewegung. Wohl hat das Volk in dem genea-
logiſchen Naturzuſammenhang ſeine Grundlage, die ſich auch
leiblich zu erkennen giebt; aber während verwandte Völker eine
Verwandtſchaft des körperlichen Typus zeigen, der ſich mit wunder-
barer Feſtigkeit erhält, geſtaltet ſich ihre geſchichtliche geiſtige Phy-
ſiognomie zu immer feiner verzweigten Unterſchieden auf allen ver-
ſchiedenen Gebieten des Volkslebens.
Dieſe individuelle Lebenseinheit in einem Volke, die ſich in
der Verwandtſchaft aller ſeiner Lebensäußerungen, wie ſeines
Rechts, ſeiner Sprache, ſeines religiöſen Inneren, untereinander
kundgiebt, wird myſtiſch durch Begriffe wie Volksſeele, Nation,
Volksgeiſt, Organismus ausgedrückt. Dieſe Begriffe ſind ſo un-
brauchbar für die Geſchichte, als der von Lebenskraft für die Phyſio-
logie. Was der Ausdruck: Volk bedeute, kann nur analytiſch
aufgeklärt werden (innerhalb gewiſſer Grenzen), mit Hilfe von Un-
terſuchungen, welche in dem methodologiſchen Zuſammenhang der
Geiſteswiſſenſchaften als Theorien zweiter Ordnung bezeichnet werden
können. Dieſe haben die Wahrheiten der Anthropologie zu ihrer
4*
[52]Erſtes einleitendes Buch.
Vorausſetzung, ſie wenden dieſe Wahrheiten auf die Wechſelwirkung
von Individuen unter den Bedingungen des Naturzuſammenhangs
an, und ſo entſtehen die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur
und ihrer Geſtaltungen, der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
und der einzelnen Verbände innerhalb derſelben. An ſich findet
die Wiſſenſchaft zwiſchen dem Individuum und dem verwickelten
Verlauf der Geſchichte drei große Claſſen von Objekten, die dem
Studium zu unterwerfen ſind: die äußere Organiſation der Ge-
ſellſchaft, die Syſteme der Kultur in ihr und die Einzelvölker:
dauernde Thatbeſtände, unter denen der von Volksganzen der am
meiſten complexe und ſchwierige iſt. Wie ſie alle drei nur Theil-
inhalte des wirklichen Lebens ſind, ſo kann keiner ohne die Be-
ziehung auf das wiſſenſchaftliche Studium des anderen hiſtoriſch
aufgefaßt oder theoretiſch behandelt werden. Jedoch iſt, dem Ver-
hältniß der Verwicklung entſprechend, die Thatſache des Einzel-
volkes nur mit Hilfe der Analyſis der beiden anderen Thatſachen
bearbeitet worden. Was durch den Ausdruck Volksſeele, Volks-
geiſt, Nation und nationale Kultur bezeichnet werde, das kann nur
dadurch anſchaulich vorgeſtellt und analyſirt werden, daß man zu-
nächſt die verſchiedenen Seiten des Volkslebens, z. B. Sprache,
Religion, Kunſt, in ihrer Wechſelwirkung auffaßt. Dies nöthigt
zu dem nächſten Schritt in der Analyſis der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit.
XI.
Unterſcheidung von zwei weiteren Claſſen von
Einzelwiſſenſchaften.
Wer die Erſcheinungen der Geſchichte und Geſellſchaft ſtudirt,
dem treten abſtrakte Weſenheiten überall gegenüber, dergleichen
Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, Geſellſchaft, Religion ſind. Sie gleichen
zuſammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen
zu dringen, und die ſich doch nicht greifen laſſen. Wie einſt die
[53]Zwei weitere Claſſen von Einzelwiſſenſchaften.
ſubſtantialen Formen, die Geſtirngeiſter und Eſſenzen zwiſchen dem
Auge des Forſchers und den Geſetzen ſtanden, welche unter den
Atomen und Molekülen walten, ſo verſchleiern dieſe Weſenheiten
die Wirklichkeit des geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens, die Wechſel-
wirkung der pſychophyſiſchen Lebenseinheiten unter den Bedingungen
des Naturganzen und ihrer naturgeborenen genealogiſchen Glie-
derung. Ich möchte dieſe Wirklichkeit ſehen lehren — eine Kunſt,
die lange geübt ſein will wie die der Anſchauung von räumlichen
Gebilden — und dieſe Nebel und Phantome verſcheuchen.
In der unermeßlichen Mannichfaltigkeit von kleinen, ſchein-
bar verſchwindenden Wirkungen, die von Individuum zu Indivi-
duum durch das Medium materieller Vorgänge ausſtrahlen, geht
ſo wenig eine Wirkung verloren, als ein Sonnenſtrahl in der
phyſiſchen Welt. Aber wer vermöchte, dem Lauf der Wirkungen
dieſes Sonnenſtrahls zu folgen? Nur wo gleichartige Effekte in
der geſellſchaftlichen Welt ſich vereinigen, entſtehen die That-
beſtände, welche eine deutliche und ſtarke Sprache zu uns reden.
Von dieſen entſpringen einige aus einer gleichartigen, aber vor-
übergehenden Spannung der Kräfte in einer beſtimmten Richtung
oder auch durch die ſingulare Gewalt einer einzigen mächtigen
Willenskraft, welche doch immer nur in der Richtung ſolcher in
der Geſchichte und Geſellſchaft angeſammelten Spannkräfte große
Wirkungen hervorbringen kann. So brechen in der Geſchichte
plötzliche gewaltige Erſchütterungen, wie Revolutionen und Kriege,
hervor, und gehen vorüber. Dauernde Wirkungen entſtehen aus
ihnen nur, indem ſie in einem ſchon vorhandenen conſtanten ge-
ſellſchaftlichen Gebilde eine Modifikation hervorbringen: ſo wirkte
die Epoche des Sturms und Drangs von der mächtigen Perſon
Rouſſeau’s aus auf die angeſammelten Spannkräfte in unſerm
Volksleben und gab unſrer Dichtung eine andere Geſtalt. Eben
dieſe conſtanten Gebilde ſind der andere in der geſellſchaft-
lichen Wirklichkeit ſtark hervortretende Thatbeſtand, ſie entſpringen
aber aus dauernden Beziehungen der Individuen, und ſie allein
haben bisher eine wirklich wiſſenſchaftliche theoretiſche Bearbeitung
gefunden.
[54]Erſtes einleitendes Buch.
Wir ſahen, die Naturgrundlage der geſellſchaftlichen Glie-
derung, welche in das tiefſte metaphyſiſche Geheimniß zurückreicht
und von dort her in geſchlechtlicher Liebe, Kindesliebe, Liebe zum
mütterlichen Boden mit ſtarken dunklen Banden naturgewaltiger
Gefühle uns zuſammenhält, bringt in den Grundverhältniſſen der
genealogiſchen Gliederung und der Niederlaſſung Gleichartigkeit
kleinerer und größerer Gruppen und Gemeinſchaft zwiſchen ihnen
hervor; das geſchichtliche Leben entwickelt dieſe Gleichartigkeit, ver-
möge deren insbeſondere die einzelnen Völker ſich dem Studium
als abgegrenzte Einheiten darbieten. Hierüber hinaus entſtehen
nun dauernde Gebilde, Gegenſtände der geſellſchaftlichen Analyſe,
wenn entweder ein auf einem Beſtandtheil der Menſchennatur be-
ruhender, und darum andauernder Zweck pſychiſche Akte in den
einzelnen Individuen in Beziehung zu einander ſetzt und ſo zu
einem Zweckzuſammenhang verknüpft, oder wenn dauernde Ur-
ſachen Willen zu einer Bindung in einem Ganzen vereinen, mögen
nun dieſe Urſachen in der natürlichen Gliederung oder in den
Zwecken, welche die Menſchennatur bewegen, gelegen ſein. Inſo-
fern wir jenen erſteren Thatbeſtand auffaſſen, unterſcheiden wir in
der Geſellſchaft die Syſteme der Kultur; inſofern wir dieſen letz-
teren betrachten, wird die äußere Organiſation ſichtbar, welche ſich
die Menſchheit gegeben hat: Staaten, Verbände, und, wenn man
weiter greift, das Gefüge dauernder Bindungen der Willen, nach
den Grundverhältniſſen von Herrſchaft, Abhängigkeit, Eigenthum,
Gemeinſchaft, welches neuerdings in einem engeren Verſtande als
Geſellſchaft im Gegenſatz zum Staat bezeichnet worden iſt.
Die Einzelnen ſind in der Wechſelwirkung des geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Lebens thätig, indem ſie in dem lebendigen Spiel
ihrer Energien eine Mannichfaltigkeit von Zwecken zu verwirklichen
ſuchen. Die Bedürfniſſe, welche in der menſchlichen Natur ange-
legt ſind, werden in Folge der Eingeſchränktheit des Menſchenda-
ſeins nicht von der iſolirten Thätigkeit des Einzelnen befriedigt,
ſondern in der Theilung der menſchlichen Arbeit und in dem Erb-
gang der Generationen. Dies wird möglich durch die Gleichartig-
keit der Menſchennatur und die im Dienſt dieſer Zwecke ſtehende
[55]Einzelwiſſenſchaften der Syſteme der Kultur.
überſchauende Vernunft in ihr. Aus dieſen Eigenſchaften ent-
ſpringt die Anpaſſung des Handelns an den Ertrag der Arbeit
des Vorlebens, an die Mitwirkung der Thätigkeit der Gleichzeitigen.
So greifen die weſenhaften Lebenszwecke des Menſchen durch Ge-
ſchichte und Geſellſchaft hindurch.
Die Wiſſenſchaft unternimmt nun, nach dem Satze vom
Grunde, welcher allem Erkennen zu Grunde liegt, die Abhängig-
keiten feſtzuſtellen, welche innerhalb eines ſolchen auf einem Be-
ſtandtheil der Menſchennatur beruhenden, über das Individuum
hinausgreifenden Zweckzuſammenhangs zwiſchen den einzelnen pſy-
chiſchen oder pſychophyſiſchen Elementen beſtehen, die ihn bilden,
ſowie die Abhängigkeiten, welche zwiſchen ihren Eigenſchaften ſtatt-
finden. Sie beſtimmt, wie Ein Element das andere in dieſem
Zweckzuſammenhang bedingt, von dem Auftreten Einer Eigenſchaft
in ihm das einer anderen abhängig iſt. Da dieſe Elemente bewußt
ſind, können ſie in gewiſſen Grenzen in Worten ausgedrückt werden.
Daher bildet ſich dieſer Zuſammenhang in einem Ganzen von
Sätzen ab. Jedoch ſind dieſe Sätze ſehr verſchiedener Natur; je
nachdem die pſychiſchen Elemente, welche in dem Zweckzuſammen-
hang verbunden ſind, vorwiegend dem Denken oder dem Fühlen
oder dem Willen angehören, treten Wahrheiten, Gefühlsausſagen,
Regeln auseinander. Und dieſer Verſchiedenheit ihrer Natur ent-
ſpricht die ihrer Verbindung, folgerichtig der Abhängigkeiten, welche
die Wiſſenſchaft zwiſchen ihnen findet. Schon an dieſem Punkte
kann eingeſehen werden, daß es einer der größten Fehler der ab-
ſtrakten Schule war, alle dieſe Verbindungen gleichmäßig als
logiſche aufzufaſſen, und ſonach ſchließlich alle dieſe geiſtigen Zweck-
thätigkeiten in Vernunft und Denken aufzulöſen. Ich wähle für
einen ſolchen Zweckzuſammenhang den Ausdruck: Syſtem.
Die Abhängigkeiten, die ſolchergeſtalt in Beziehung auf den
Zweckzuſammenhang von pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Ele-
menten innerhalb eines einzelnen Syſtems beſtehen, exiſtiren zu-
nächſt in Bezug auf diejenigen Grundverhältniſſe deſſelben, welche
ihm an allen Punkten gleichförmig eigen ſind. Solche bilden die
allgemeine Theorie eines Syſtems. Abhängigkeiten dieſer
[56]Erſtes einleitendes Buch.
allgemeinſten Art hat Schleiermacher innerhalb des Syſtems der
Religion zwiſchen der Thatſache des religiöſen Gefühls und den
Thatſachen der Dogmatik und philoſophiſchen Weltanſchauung,
zwiſchen der Thatſache dieſes Gefühls und denen des Cultus
ſowie der religiöſen Geſelligkeit aufgeſtellt. Das Thünen’ſche Ge-
ſetz drückt das Verhältniß aus, in welchem die Entfernung vom
Markte, indem ſie die Verwerthung der Bodenprodukte beeinflußt,
die Intenſität der Landwirthſchaft bedingt. Solche Abhängigkeiten
werden naturgemäß gefunden und dargeſtellt in dem Zuſammen-
wirken der Analyſe des Syſtems mit dem Schluß aus der
Natur der Wechſelwirkung der in ihm verbundenen pſychiſchen
oder pſychophyſiſchen Elemente ſowie der Bedingungen von Natur
und Geſellſchaft, unter denen ſie ſtattfindet. Alsdann beſtehen Ab-
hängigkeiten engeren Umfangs zwiſchen den Modifikationen dieſer
allgemeinen Eigenſchaften eines Syſtems, welche eine Einzelge-
ſtalt deſſelben bilden. So iſt ein Dogma innerhalb eines religiöſen
Einzelſyſtems nicht unabhängig von den anderen, welche in dem-
ſelben mit ihm vereinigt ſind; ja die Hauptaufgabe der Dogmenge-
ſchichte und Dogmatik, wie ſie durch Schleiermachers tiefere Analyſe
der Religion zu klarem Bewußtſein gelangte, wird darin liegen, an
die Stelle eines untergeſchobenen logiſchen Verhältniſſes von Ab-
hängigkeit, vermöge deſſen nur ein Lehrſyſtem entſteht, in beiden
Wiſſenſchaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander
zu ſetzen, welche in der Natur der Religion, insbeſondere des
Chriſtenthums gegründet iſt.
Und zwar beruhen dieſe Wiſſenſchaften von den Syſtemen
der Kultur auf pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Inhalten, und
dieſen entſprechen Begriffe, welche von denen, die von der
Individualpſychologie benutzt werden, ſpecifiſch verſchieden ſind und
verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im
Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften bezeichnet werden können. Denn
die Inhaltlichkeit, wie ſie in dem Beſtandtheil der Menſchen-
natur angelegt iſt, auf welchem der Zweckzuſammenhang eines
Syſtems beruht, bringt in der Wechſelwirkung der Indivi-
duen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geſchichtlicher
[57]Sie weiſen auf Pſychologie und Erkenntnißtheorie zurück.
Steigerung zuſammengeſetzte Thatſachen hervor, welche ſich von
der in der Pſychologie entwickelten zu Grunde liegenden Inhalt-
lichkeit ſelber unterſcheiden und die Grundlage der Analyſis des
Syſtems bilden. So beherrſcht der Begriff der wiſſenſchaftlichen Ge-
wißheit in ſeinen verſchiedenen Geſtalten, als Ueberzeugung von Wirk-
lichkeit im Wahrnehmen, als Evidenz im Denken, als Bewußtſein
von Nothwendigkeit gemäß dem Satz vom Grunde im Erkennen die
ganze Theorie der Wiſſenſchaft. So bilden die pſychophyſiſchen
Begriffe von Bedürfniß, Wirthſchaftlichkeit, Arbeit, Werth u. a.
die nothwendige Grundlage für die von der politiſchen Oekonomie
zu vollziehende Analyſis. Und wie zwiſchen den Begriffen, ſo be-
ſteht (gemäß der Begriffe mit Sätzen verknüpfenden Beziehung)
zwiſchen den fundamentalen Sätzen dieſer Wiſſenſchaften und den
Ergebniſſen der Anthropologie ebenfalls ein Verhältniß, nach welchem
ſie als Wahrheiten zweiter Ordnung in dem aufſteigenden
Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften bezeichnet werden können.
Wir können dem Zuſammenhang der Argumentation, welchem
dieſe Analyſe der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes gewidmet iſt,
nunmehr ein weiteres Glied einfügen. Die Thatſachen, welche
die Syſteme der Kultur bilden, können nur vermittelſt der That-
ſachen, welche die pſychologiſche Analyſe erkennt, ſtudirt werden.
Die Begriffe und Sätze, welche die Grundlage der Erkenntniß
dieſer Syſteme ausmachen, ſtehen in einem Verhältniß von Ab-
hängigkeit zu den Begriffen und Sätzen, welche die Pſychologie
entwickelt. Aber dies Verhältniß iſt ſo verwickelt, daß nur eine
zuſammenhängende erkenntniß-theoretiſche und logiſche Grundlegung,
welche von der beſonderen Stellung des Erkennens zu der ge-
ſchichtlichen, der geſellſchaftlichen Wirklichkeit ausgeht, die Lücke
ausfüllen kann, welche zwiſchen den Einzelwiſſenſchaften der pſycho-
phyſiſchen Einheiten und denen der politiſchen Oekonomie, des
Rechts, der Religion u. a. bis heute beſteht. Dieſe Lücke wird
von jedem Einzelforſcher gefühlt. Die engliſch-franzöſiſche Wiſſen-
ſchaftslehre, welche auch hier ein bloßes Verhältniß der deduktiven
und der induktiven Operation ſieht, und daher auf dem rein
logiſchen Wege durch Unterſuchung der Tragweite dieſer beiden
[58]Erſtes einleitendes Buch.
Operationen die ſchwierige Frage zu löſen glaubt, hat ihre Un-
fruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten
über dieſen Punkt dargethan. Die methodologiſchen Vorausſetzungen
dieſer Debatten ſind irrig. Die Frage iſt nicht, wie dieſe Forſcher
ſie ſtellen, ob ſolche Wiſſenſchaften einer deduktiven Entwickelung
fähig ſeien, welche dann einer induktiven Verifikation und An-
paſſung an die complexen Verhältniſſe des thatſächlichen Lebens
unterliege, oder ob ſie induktiv zu entwickeln und dann durch eine
Deduktion aus der menſchlichen Natur zu beſtätigen ſeien. Dieſe
Frageſtellung ſelber iſt in der Uebertragung eines abſtrakten
Schema’s aus den Naturwiſſenſchaften gegründet. Nur das
Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen
der beſonderen Aufgabe der Geiſteswiſſenſchaften ſteht, kann das
Problem des hier beſtehenden Zuſammenhangs auflöſen.
Man könnte ſich nun vorſtellen, es gebe Weſen, deren Wechſel-
wirkung nur in einem ſolchen Ineinandergreifen pſychiſcher Akte
in Einem oder einer Mehrheit von Syſtemen verliefe. Man
dächte ſich dann alle Wirkungen ſolcher Weſen als fähig in einen
ſolchen Zweckzuſammenhang einzugreifen und ſchränkte ihr ganzes
Verhältniß zu einander auf dieſe Fähigkeit ihre Zweckthätigkeit einem
oder mehreren ſolcher Zuſammenhänge anzupaſſen ein. Ob gleich
ein jedes dieſer Weſen ſein Thun dem der vor oder neben ihm
befindlichen anpaſſte, um es zweckmäßig einzurichten, verbliebe jedes
derſelben für ſich, nur die Intelligenz ſtiftete zwiſchen ihnen einen
Zuſammenhang, ſie rechneten auf einander, aber kein lebendiges
Gefühl von Gemeinſchaft beſtünde zwiſchen ihnen; ſie vollzögen ſo
pünktlich und vollſtändig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben
ihrer Zweckzuſammenhänge, daß kein Zwang und kein Verband
zwiſchen ihnen nothwendig wäre.
Der Menſch iſt nicht ein Weſen ſolcher Art. Es beſtehen
andere Eigenſchaften ſeiner Natur, welche in der Wechſelwirkung
dieſer pſychiſchen Atome zu den dargelegten noch andere conſtante
Beziehungen hinzufügen, deren am meiſten in’s Auge fallenden
von uns als Staat bezeichnet werden. Es beſteht in Folge hiervon
eine andere theoretiſche Betrachtung des geſellſchaftlichen Lebens,
[59]Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft.
welche in den Staatswiſſenſchaften ihren Mittelpunkt hat. Die regelloſe
Gewalt ſeiner Leidenſchaften ſo gut als ſein inniges Bedürfniß und
Gefühl von Gemeinſchaft machen den Menſchen, wie er Beſtandtheil
in dem Gefüge dieſer Syſteme iſt, ſo zu einem Glied in deräußeren
Organiſation der Menſchheit. Von der Struktur, welche ein
Zuſammenhang pſychiſcher Elemente in dem Zweckganzen eines
Syſtems zeigt, von der Analyſis derſelben, welche die Beziehungen
in einem ſolchen Syſtem unterſucht, unterſcheiden wir die Struktur,
welche in dem Verbande von Willenseinheiten entſteht, und die
Analyſis der Eigenſchaften der äußeren Organiſation der Geſell-
ſchaft, der Gemeinſamkeiten, der Verbände, des Gefüges, das in
Herrſchaftsverhältniſſen und äußerer Bindung vom Willen entſteht.
Die Grundlage, auf welcher dieſe andere Form dauernder
Beziehungen in der Wechſelwirkung beruht, reicht eben ſo tief, als
die, welche die Thatſache der Syſteme hervorbringt. Sie liegt zu-
nächſt in der Eigenſchaft des Menſchen, vermöge deren er ein ge-
ſelliges Weſen iſt. Mit dem Naturzuſammenhang, in welchem der
Menſch ſteht, den Gleichartigkeiten, die ſo entſpringen, den dauern-
den Beziehungen von pſychiſchen Akten in Einem Menſchenweſen
auf ſolche in einem anderen ſind dauernde Gefühle von Zuſammen-
gehörigkeit verbunden, nicht nur ein kaltes Vorſtellen dieſer Ver-
hältniſſe. Andere gewaltſamer wirkende Kräfte nöthigen die Willen
zum Verbande zuſammen: Intereſſe und Zwang. Wirken dieſe
beiden Arten von Kräften nebeneinander: ſo kann die uralte
Streitfrage, welchen Antheil jede von ihnen an der Ent-
ſtehung des Verbands, des Staates habe, nur durch hiſtoriſche
Analyſis von Fall zu Fall aufgelöſt werden.
Natur und Umfang der Wiſſenſchaften, welche ſo ent-
ſtehen, ergiebt ſich erſt näher aus der Erörterung der Kulturſyſteme
und ihrer Wiſſenſchaften. Bevor wir in dieſe eintreten, ziehen wir
zwei weitere Folgerungen in dem Zuſammenhang der Beweisführung,
welche durch dieſe Analyſe der Geiſteswiſſenſchaften hindurch geht.
Augenſcheinlich beſteht daſſelbe Verhältniß, vermöge deſſen
Begriffe und Sätze der Wiſſenſchaften der Kultur von denen der
Anthropologie abhängig waren, auch auf dieſem Gebiet der
[60]Erſtes einleitendes Buch.
Wiſſenſchaften von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die
Thatſachen zweiter Ordnung, welche hier die Grundlage bilden,
werden an einem ſpäteren Punkt erörtert werden, da ſie erſt nach
einer näheren Analyſis der Syſteme der Kultur mit hinreichender
Deutlichkeit geſehen werden können. Aber wie wir ſie auch be-
ſtimmen werden, ſie müſſen daſſelbe Problem einſchließen, deſſen
Vorhandenſein Beweis für die Nothwendigkeit einer Wiſſenſchaft
iſt, welche unter den allgemeinen Bedingungen menſchlichen Er-
kennens die Geſtaltung des auf die geſchichtliche und geſellſchaft-
liche Wirklichkeit gerichteten Erkenntnißproceſſes unterſucht, ſeine
Grenzen, ſeine Mittel, den Zuſammenhang der Wahrheiten dar-
legt, in welchem voran zu ſchreiten der Wille der Erkenntniß in
der Menſchheit auf dieſem Gebiet gebunden iſt. Die Lücke im
Zuſammenhang des wiſſenſchaftlichen Denkens hat ſich den Staats-
wiſſenſchaften ſo fühlbar gemacht, als denen der Religion oder
politiſchen Oekonomie.
Faßt man alsdann das Verhältniß dieſer beiden Claſſen von
Wiſſenſchaften zu einander in’s Auge, ſo entſteht hier für den
Logiker eine Forderung an methodiſches Bewußtſein über den
Zuſammenhang des Erkenntnißvorgangs, in dem dieſe Einzel-
wiſſenſchaften entſtanden ſind, welche noch weiter führt. Die
Wiſſenſchaften einer jeden dieſer beiden Claſſen können gemäß
der Natur des Vorgangs von Zerlegung, in welchem ſie ſich
ſchieden, nur in der beſtändigen Relation ihrer Wahrheiten auf
die in der anderen Claſſe gefundenen entwickelt werden. Und
innerhalb einer jeden dieſer Claſſen beſteht daſſelbe Verhältniß,
oder wie könnten die Wahrheiten der Wiſſenſchaft der Aeſthetik
ohne die Beziehung zu denen der Moral wie zu denen der Re-
ligion entwickelt werden, da doch der Urſprung der Kunſt, die
Thatſache des Ideals, in dieſen lebendigen Zuſammenhang zurück-
weiſt? Wir erkennen auch hier, indem wir analyſiren und
den Theilinhalt abſtrakt entwickeln; aber Bewußtſein über
dieſen Zuſammenhang und Verwerthung deſſelben: das iſt
die große methodologiſche Anforderung, welche aus dieſem That-
beſtand entſpringt; nie darf die Beziehung des ſo gewiſſermaßen
[61]Sie weiſen auf Pſychologie und Erkenntnißtheorie zurück.
herauspräparirten Theilinhaltes auf den Organismus der Wirk-
lichkeit, in welchem allein das Leben ſelber pulſirt, vergeſſen
werden, vielmehr kann das Erkennen nur von dieſer Beziehung
aus den Begriffen und Sätzen ihre genaue Form geben und ihren
angemeſſenen Erkenntnißwerth zutheilen. Es war der Grundfehler
der abſtrakten Schule, die Beziehung des abſtrahirten Theilinhaltes
auf das lebendige Ganze außer Acht zu laſſen und ſchließlich dieſe
Abſtraktionen als Realitäten zu behandeln. Es war der com-
plementäre, aber nicht minder verhängnißvolle Irrthum der
hiſtoriſchen Schule, in dem tiefen Gefühl der lebendigen, irrational
gewaltigen, alles Erkennen nach dem Satze vom Grunde über-
ſchreitenden Wirklichkeit aus der Welt der Abſtraktion zu flüchten.
XII.
Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur.
Den Ausgangspunkt für das Verſtändniß des Begriffs von
Syſtemen des geſellſchaftlichen Lebens bildet der Lebensreichthum
des einzelnen Individuums ſelber, das als Beſtandtheil der Geſell-
ſchaft Gegenſtand der erſten Gruppe von Wiſſenſchaften iſt.
Denken wir uns einmal dieſen Lebensreichthum in einem gegebenen
Individuum als gänzlich unvergleichbar mit dem in einem anderen
und auf daſſelbe nicht übertragbar. Alsdann könnten dieſe Individua
einander durch phyſiſche Gewalt bewältigen und unterjochen, allein
ſie beſäßen keinen gemeinſamen Inhalt, jedes wäre in ſich ſelber
verſchloſſen gegen alle anderen. In der That giebt es in jedem
Individuum einen Punkt, an welchem es ſich ſchlechterdings nicht
einordnet in eine ſolche Coordination ſeiner Thätigkeiten mit an-
deren. Was von dieſem Punkte aus in der Lebensfülle des
Individuums bedingt iſt, das geht in keines der Syſteme des
geſellſchaftlichen Lebens ein. Die Gleichartigkeit der Individuen iſt
die Bedingung dafür, daß eine Gemeinſamkeit ihres Lebens-
inhaltes da iſt. — Denken wir uns dann das Leben in einem jeden
[62]Erſtes einleitendes Buch.
dieſer Individua wohl vergleichbar und übertragbar, aber einfach
und unzerleglich, alsdann würde die Thätigkeit der Geſellſchaft Ein
einziges Syſtem bilden. Wir machen uns die einfachſten Eigen-
ſchaften eines ſolchen Grundſyſtems klar. Daſſelbe beruht zunächſt
auf der Wechſelwirkung der Individuen in der Geſellſchaft, ſofern
ſie, auf der Grundlage eines denſelben gemeinſamen Beſtand-
theils der Menſchennatur, ein Ineinandergreifen der Thätigkeiten
zur Folge hat, in welchem dieſer Beſtandtheil der Menſchennatur
zu ſeiner Befriedigung gelangt. Hierdurch unterſcheidet ſich ein
ſolches Grundſyſtem von jeder Veranſtaltung, welche nur ein
Syſtem von Mitteln für die Bedürfniſſe der Geſellſchaft in ſich
faßt. Geht man von der Wechſelwirkung von Individuen aus,
ſo unterſcheidet ſich die direkte, in welcher ein Individuum A ſeine
Wirkung auf B C D erſtreckt und von ihnen Einwirkung em-
pfängt, von den indirekten, welche auf den Fortwirkungen der
Veränderung in B auf R Z beruhen. Vermöge der erſteren ent-
ſteht ein Horizont direkter Wechſelwirkungen der einzelnen Indi-
viduen und dieſer iſt für ſie ein ſehr verſchiedener. Die
indirekten ſind in der Geſellſchaft nur begrenzt durch die ſie ver-
mittelnden Bedingungen der Außenwelt. Ein ſolches Syſtem,
wie es auf den direkten und indirekten Wechſelwirkungen von In-
dividuen in der Geſellſchaft beruht, hat nothwendig die Eigen-
ſchaften der Steigerung und Entwicklung. Denn zu den Geſetzen
der pſychiſchen Lebenseinheit, welche Steigerung und Entwicklung
bedingen, tritt das entſprechende Grundverhältniß ihrer Wechſel-
wirkungen, welchem gemäß Empfindungen, Gefühle, Vorſtellungen
bei ihrer Uebertragung von dem Individuum A auf das B in
A mit ihrer alten Stärke verbleiben, während ſie auf B über-
gehen. — Beſtünde nun ein einziges ſolches Syſtem, ſo würde es
das ganze Leben der Geſellſchaft ausmachen; der Vorgang der
Uebertragung in ihm und ſein Inhalt wären eins und einfach.
In Wirklichkeit iſt der Lebensreichthum des Individuums in Wahr-
nehmungen und Gedanken, in Gefühle, in Willensakte geſchieden.
Gleichviel alſo, welche Sonderungen und Verbindungen in ihm
ſonſt noch ſtattfinden, ſchon hierdurch, vermöge der natürlichen
[63]Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur.
Gliederung des pſychiſchen Lebens, ermöglicht dieſer Lebensinhalt
eine Verſchiedenheit der Syſteme im Leben der Geſellſchaft.
Dieſe Syſteme beharren, während die einzelnen Individuen
ſelber auf dem Schauplatz des Lebens erſcheinen und von dem-
ſelben wieder abtreten. Denn jedes iſt auf einen beſtimmten, in
Modifikationen wiederkehrenden Beſtandtheil der Perſon gegründet.
Die Religion, die Kunſt, das Recht ſind unvergänglich, während
die Individua, in denen ſie leben, wechſeln. So ſtrömt in jeder
Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichthum der Menſchen-
natur, ſofern ſie in einem Beſtandtheil derſelben gegenwärtig oder
mit ihm in Beziehung ſind, in das auf dieſen gegründete Syſtem
ein. Iſt auch z. B. die Kunſt auf das Vermögen der Phantaſie, als
einen einzelnen Beſtandtheil der Menſchennatur, gegründet: ſo iſt
doch in ihren Schöpfungen der ganze Reichtum der Menſchen-
natur gegenwärtig. Seine volle Realität, Objektivität empfängt
das Syſtem aber erſt dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von
Individuen, die raſch vergänglich ſind, auf eine mehr dauernde oder
ſich wiedererzeugende Weiſe aufzubewahren und zu vermitteln die
Fähigkeit hat. Dieſe Verbindung von werthvoll nach dem Zweck
eines ſolchen Syſtems geſtalteten Beſtandtheilen der Außenwelt
mit der lebendigen, aber vorübergehenden Thätigkeit der Perſonen,
erzeugt eine von den Individuen ſelber unabhängige äußere Dauer
und den Charakter von maſſiver Objektivität dieſer Syſteme. Und
ſo geſtaltet ſich jedes derſelben als eine auf einem Beſtandtheil
der Natur der Perſonen beruhende, von ihm aus mannichfach ent-
wickelte Thätigkeitsweiſe, welche im Ganzen der Geſellſchaft einem
Zweck derſelben genügt, und die mit denjenigen in der Außenwelt
hergeſtellten dauernden oder im Zuſammenhang mit der Thätigkeit
ſich erneuenden Mitteln ausgeſtattet iſt, welche dem Zweck dieſer
Thätigkeit dienen.
Das einzelne Individuum iſt ein Kreuzungspunkt einer Mehr-
heit von Syſtemen, welche ſich im Verlauf der fortſchreitenden
Kultur immer feiner ſpecialiſiren. Ja derſelbe Lebensakt eines
Individuums kann dieſe Vielſeitigkeit zeigen. Indem ein Gelehrter
ein Werk abfaßt, kann dieſer Vorgang ein Glied in der Verbin-
[64]Erſtes einleitendes Buch.
dung von Wahrheiten bilden, welche die Wiſſenſchaft ausmachen;
zugleich iſt derſelbe das wichtigſte Glied des ökonomiſchen Vor-
gangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare ſich voll-
zieht; derſelbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine
rechtliche Seite, und er kann ein Beſtandtheil der in den Ver-
waltungszuſammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Ge-
lehrten ſein. Das Niederſchreiben eines jeden Buchſtabens dieſes
Werkes iſt ſo ein Beſtandtheil all dieſer Syſteme.
Die abſtrakte Wiſſenſchaft ſtellt nunmehr dieſe ſo in der
geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit verwebten Syſteme neben-
einander. Wird doch der Einzelne in ſie hineingeboren und findet
ſie daher als eine Objektivität ſich gegenüber, die vor ihm war,
nach ihm verbleibt und mit ihren Veranſtaltungen auf ihn wirkt.
So ſtellen ſie ſich der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft als auf
ſich ſelber beruhende Objektivitäten dar. Nicht nur die Wirth-
ſchaftsordnung oder die Religion, ſelbſt die Wiſſenſchaft ſteht als
eine ſolche bildlich vor uns. Der umfaſſende Schluß von der
erſcheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Be-
wegung der Sonne, den theilweiſe ſo verſchlungenen Bewegungen
der Geſtirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Maſſen, Be-
wegungsformen, Geſchwindigkeiten der Körper im Weltraume
exiſtirt in ſeinen Gliedern für den heutigen Menſchen als ein ob-
jektiver Thatbeſtand, Theil des umfaſſenderen der Naturwiſſenſchaft,
ganz losgelöſt von den Perſonen, in denen er ſich vollzieht: ein
Thatbeſtand, zu welchem ſich der Einzelne als zu einer geiſtigen
Wirklichkeit verhält.
Indem ſo dieſe Syſteme nebeneinander der Analyſis unterworfen
werden, können ſolche Unterſuchungen nur in ſteter Beziehung auf die
andere Claſſe von Unterſuchungen angeſtellt werden, welche die Ge-
meinſamkeiten und Verbände innerhalb der geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Welt zu ihrem Gegenſtande haben. Im Hinblick auf dieſe
Beziehung tritt ein für die Conſtitution dieſer Wiſſenſchaften folgen-
reicher Unterſchied zwiſchen den einzelnen Syſtemen hervor.
Ein jedes derſelben entwickelt ſich innerhalb des Ganzen der
geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Denn jedes iſt das Er-
[65]Ihr Studium m. dem d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft verbunden.
zeugniß eines Beſtandtheils der menſchlichen Natur, einer in ihm
angelegten, durch den Zweckzuſammenhang des geſellſchaftlichen
Lebens näher beſtimmten Thätigkeit. Es iſt in dieſer der Geſell-
ſchaft aller Zeiten gemeinſamen Grundlage angelegt, wenn es auch
erſt auf einer höheren Kulturſtufe zu abgeſonderter und innerlich
reicher Entfaltung gelangt. In einem ſtärkeren oder geringeren
Grade ſtehen nun dieſe Syſteme mit der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft in Beziehung, und dies Verhältniß bedingt ihre
nähere Geſtaltung. Insbeſondere kann das Studium der Syſteme,
in welche das praktiſche Handeln der Geſellſchaft ſich zerlegt hat, von
dem Studium des politiſchen Körpers nicht getrennt werden, da
ſein Wille alle äußeren Handlungen der ihm unterworfenen In-
dividuen beeinflußt.
Die Beziehungen zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der
äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Das Recht.
Das vorige Kapitel war der Darlegung des Unterſchieds
zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft gewidmet. Das Kapitel, in welchem der Leſer ſich
befindet und das die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur
behandelt, hat zunächſt auf der Grundlage dieſer Darlegung den
Begriff eines Syſtems der Kultur entwickelt. Von der Auffaſſung
des Unterſchieds zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der
äußeren Organiſation der Geſellſchaft wenden wir uns nun zu
der Auffaſſung der Beziehungen zwiſchen ihnen.
Goethe hat in ſeiner reifen Epoche, in welcher ſeine natur-
wiſſenſchaftliche Betrachtungsweiſe durch den Fortgang zur Zer-
gliederung der geſchichtlichen Welt erſt zu einer Weltanſicht ſich
erweiterte, nach dem Tode ſeines Freundes Karl Auguſt, aus
der Einſamkeit von Dornburg (Juli 1828), ſeine Anſicht der ge-
ſchichtlichen Welt folgendermaßen ausgedrückt. Er geht von dem
Blick auf das Schloß und die Gegend unter ihm aus; ſo entſteht
ihm ein anſchauliches Bild für die abſtrakte Wahrheit: „die ver-
nünftige Welt ſei von Geſchlecht zu Geſchlecht auf ein folgerechtes
Dilthey, Einleitung. 5
[66]Erſtes einleitendes Buch.
Thun entſchieden angewieſen.“ Die Anſicht der geſellſchaftlich-ge-
ſchichtlichen Wirklichkeit, welche ſich hieraus ergiebt, faßt er in dem
„hohen Wort eines Weiſen“ zuſammen: „die vernünftige Welt iſt
als ein großes unſterbliches Individuum zu betrachten, welches
unaufhaltſam das Nothwendige bewirkt und dadurch ſich ſogar
über das Zufällige zum Herrn erhebt.“ Dieſer Satz begreift wie
in einer Formel das in ſich, was die hier verſuchte Ueberſicht
über die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit und ihre Wiſſen-
ſchaften auf dem Wege einer allmäligen Zergliederung, welche
von den Individuen als den Elementen der geſellſchaftlich-geſchicht-
lichen Wirklichkeit ausgeht, gewonnen hat und noch gewinnen
wird. Die Wechſelwirkung der Individuen ſcheint zufällig und
unzuſammenhängend; Geburt und Tod und die ganze Zufälligkeit
des Schickſals, die Leidenſchaften und der beſchränkte Egoismus,
welche ſich im Vordergrund der Bühne des Lebens ſo breit machen:
dies Alles ſcheint die Anſicht der Menſchenkenner zu beſtätigen,
welche in dem Leben der Geſellſchaft nur Spiel und Widerſpiel
von Intereſſen der Individuen unter der Einwirkung des Zufalls
erblicken, die Anſicht des pragmatiſchen Hiſtorikers, für welchen
der Verlauf der Geſchichte ſich ebenfalls in das Spiel der perſön-
lichen Kräfte auflöſt. Aber in Wirklichkeit wird eben vermittelſt
dieſer Wechſelwirkung der einzelnen Individuen,
ihrer Leidenſchaften, ihrer Eitelkeiten, ihrer Intereſſen der noth-
wendige Zweckzuſammenhang der Geſchichte der
Menſchheit verwirklicht. Der pragmatiſche Hiſtoriker und
Hegel verſtehen einander nicht, da ſie wie von der feſten Erde zu
luftigen Höhen miteinander reden. Einen Theil der Wahrheit be-
ſitzt doch jeder von beiden. Denn Alles was in dieſer geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit vom Menſchen bewirkt wird, geſchieht
vermittelſt der Sprungfeder des Willens: in dieſem aber wirkt
der Zweck als Motiv. Es iſt ſeine Beſchaffenheit, es iſt das
Allgemeingiltige und über das Einzelleben Hinausgreifende in ihm,
gleichviel in welcher Formel man es faſſe, auf welchem der Zweck-
zuſammenhang beruht, der durch die Willen hindurchgreift. In
dieſem Zweckzuſammenhang vollbringt das gewöhnliche Treiben
[67]Der Zweckzuſammenhang in der Geſellſchaft.
der Menſchen, das nur mit ſich ſelber beſchäftigt iſt, doch was es
muß. Und ſelbſt von den Handlungen ihrer Helden läßt die
Geſchichte dasjenige erfolglos verſinken, was ſich dieſem Zweckzu-
ſammenhang nicht einordnet. Dieſer große Zweckzuſammenhang
verfügt aber in erſter Linie über zwei Mittel. Das erſte iſt
das folgerichtige Ineinandergreifen der einzelnen Handlungen der
verſchiedenen Individuen, aus welchem die Syſteme der Kultur
hervorgehen. Das andere iſt die Macht der großen Willensein-
heiten in der Geſchichte, welche ein folgerichtiges Thun innerhalb
der Geſellſchaft vermittelſt der ihnen unterworfenen Einzelwillen
herſtellen. Beide wirken Zweckzuſammenhang, ja beide ſind leben-
diger Zweckzuſammenhang. Aber dieſer verwirklicht ſich dort durch
das Thun ſelbſtändiger vermöge der Natur der Sache einander
in ihrem Thun angepaßter Individuen, hier durch die Macht,
welche eine Willenseinheit über die durch ſie gebundenen Individuen
übt. Freies Thun und Regulirung der Thätigkeit, Fürſichſein
und Gemeinſchaft ſtehen ſich hier einander gegenüber. Aber dieſe
beiden großen Thatbeſtände ſtehen, wie Alles in der lebendigen
Geſchichte, miteinander in Beziehung. Die ſelbſtändige folge-
richtige Thätigkeit der Einzelnen geſtaltet bald Verbände zur Be-
förderung ihrer Ziele, bald ſucht und findet ſie Stützpunkte in
der vorhandenen Organiſation der Geſellſchaft oder ſie wird dieſer
Organiſation auch gegen ihren Willen unterworfen. Ueberall aber
ſteht ſie überhaupt unter der allgemeinen Bedingung der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft, welche dem ſelbſtändigen und folge-
richtigen Thun der Einzelnen einen Spielraum ſichert und
eingrenzt.
So weiſen die Beziehungen, in denen die Syſteme der Kultur
und die äußere Organiſation der Geſellſchaft in dem lebendigen
Zweckzuſammenhang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Welt zu ein-
ander ſtehen, auf eine Thatſache zurück, welche die Bedingung alles
folgerichtigen Thuns der Einzelnen bildet und in welcher noch
Beides, Syſteme der Kultur und äußere Organiſation der Geſell-
ſchaft ungeſchieden zuſammen iſt. Dieſe Thatſache iſt das Recht.
In ihm iſt in ungeſonderter Einheit, was dann in Syſteme der
5*
[68]Erſtes einleitendes Buch.
Kultur und äußere Organiſation der Geſellſchaft auseinandergeht:
ſo klärt die Thatſache des Rechts die Natur der Sonderung, die
hier ſtattfindet, und der mannigfachen Beziehungen des Geſonder-
ten auf.
In der Thatſache des Rechts ſind, als an der Wurzel des
geſellſchaftlichen Zuſammenlebens der Menſchen, die Syſteme der
Kultur noch nicht von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
getrennt. Das Merkmal dieſes Thatbeſtandes iſt, daß jeder Rechts-
begriff das Moment der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in
ſich enthält. An dieſem Punkte erklärt ſich ein Theil der Schwierig-
keiten, welche ſich dem entgegenſtellen, der aus der Wirklichkeit des
Rechts einen allgemeinen Begriff deſſelben abzuleiten beabſichtigt.
Es erklärt ſich zugleich, wie der Neigung eines Theils der po-
ſitiven Forſcher, die Eine der beiden Seiten in der Thatſache des
Rechts herauszuheben, ſtets die Neigung eines anderen Theils
gegenübertritt, welcher dann die von jenem vernachläſſigte Seite
geltend macht.
Das Recht iſt ein auf das Rechtsbewußtſein als eine be-
ſtändig wirkende pſychologiſche Thatſache gegründeter Zweckzu-
ſammenhang. Wer dies beſtreitet, tritt in Widerſpruch mit dem
realen Befund der Rechtsgeſchichte, in welchem der Glaube an eine
höhere Ordnung, das Rechtsbewußtſein und das poſitive Recht in
einem inneren Zuſammenhang mit einander ſtehen. Er tritt in
Widerſpruch mit dem realen Befund der lebendigen Macht des
Rechtsbewußtſeins, welches über das poſitive Recht übergreift, ja
ſich demſelben entgegenſtellt. Er verſtümmelt die Wirklichkeit des
Rechts (wie ſie z. B. in der hiſtoriſchen Stellung des Gewohn-
heitsrechtes erſcheint), um ſie in ſeinen Vorſtellungskreis aufnehmen
zu können. So opfert hier der ſyſtematiſche Geiſt, welcher ſich
in den Geiſteswiſſenſchaften ſo ſelten der Grenzen ſeiner Leiſtung
bewußt iſt, die volle Wirklichkeit der abſtrakten Anforderung an
Einfachheit der Gedankenentwicklung.
Aber dieſer Zweckzuſammenhang des Rechts iſt auf eine
äußere Bindung der Willen in einer feſten und allgemeingültigen
Abmeſſung gerichtet, durch welche die Machtſphären der Individuen
[69]Die Natur des Rechts.
in ihrer Beziehung auf einander und die Welt der Sachen, ſowie
auf die Geſammtwillen beſtimmt werden. Das Recht exiſtirt nur
in dieſer Funktion. Selbſt das Rechtsbewußtſein iſt nicht ein
theoretiſcher Thatbeſtand, ſondern ein Willensthatbeſtand.
Schon äußerlich angeſehn iſt der Zweckzuſammenhang des
Rechts correlativ zu der Thatſache der äußeren Organiſation der
Geſellſchaft: die beiden Thatſachen beſtehen jederzeit nur neben-
einander, miteinander, und zwar ſind ſie nicht als Urſache und
Wirkung miteinander verbunden, ſondern jede hat die andere zur
Bedingung ihres Daſeins. Dies Verhältniß iſt eine der ſchwierig-
ſten und wichtigſten Formen cauſaler Beziehung; es kann nur in
einer erkenntnißtheoretiſchen und logiſchen Grundlegung der Geiſtes-
wiſſenſchaften aufgeklärt werden; und ſo fügt ſich hier wieder ein
Glied in die Kette unſerer Beweisführung, welche zeigt, wie die
poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes gerade an den für ihre ſtrengere
wiſſenſchaftliche Geſtaltung entſcheidenden Punkten zurückführen in
eine grundlegende Wiſſenſchaft. Die poſitiven Forſcher, welche
Klarheit ſuchen, aber ſie nicht durch Flachheit erkaufen wollen,
finden ſich beſtändig auf eine ſolche grundlegende Wiſſenſchaft zu-
rückgewieſen. Inſofern nun dies correlative Verhältniß zwiſchen
dem Zweckzuſammenhang des Rechts und der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft beſteht, hat das Recht, als Zweckzuſammenhang, in
welchem das Rechtsbewußtſein wirkſam iſt, den Geſammtwillen
d. h. den einheitlichen Willen der Geſammtheit und ſeine Herr-
ſchaft über einen abgegrenzten Theil der Sachen zur Vorausſetzung.
Der theoretiſche Satz, daß der Zweckzuſammenhang des Rechts,
wenn man ihn hypothetiſch zuſammen mit der Abweſenheit jeder Art
von Geſammtwillen vorſtellt, die Entſtehung eines ſolchen Geſammt-
willens zur Folge haben müßte, enthält keinen benutzbaren Inhalt.
Er ſagt nur aus, daß in der menſchlichen Natur Kräfte wirkſam
ſind und mit dem Zweckzuſammenhang, der vom Rechtsbewußt-
ſein ausgeht, in Verbindung ſtehen, welche dieſer Zweckzuſammen-
hang alsdann mitzuergreifen vermögen würde, um ſich ſo die
Vorausſetzungen ſeiner Wirkſamkeit zu ſchaffen. Weil dieſe Kräfte
vorhanden ſind, weil ſie als Sprungfedern des geiſtigen Lebens
[70]Erſtes einleitendes Buch.
in Wirkſamkeit ſind: darum iſt eben, wo menſchliche Natur iſt,
auch äußere Organiſation der Geſellſchaft da und hat nicht auf
die Bedürfniſſe der Rechtsordnung zu warten. Und eben ſo wahr
als dieſer Satz würde, entſprechend der angegebenen Zweiſeitigkeit
in der Thatſache des Rechts, welche ſich bis auf jeden Rechtsbe-
griff erſtreckt, der correſpondirende Satz ſein, welcher von der
andern Seite in der Thatſache des Rechts ausginge. Denkt man
ſich die äußere Organiſation der Geſellſchaft, etwa als Familien-
verband oder als Staat, allein funktionirend: alsdann würde die-
ſelbe die Beſtandtheile der Menſchennatur ergreifen, welche im
Rechtsbewußtſein wirkſam ſind, der Verband würde in ſich eine
Rechtsordnung entwickeln, er würde in den feſten und allgemein-
giltigen Abmeſſungen des Rechts die Machtſphären der ihm Unter-
worfenen gegen einander, in Bezug auf die Sachen, im Verhältniß
zu ihm ſelber ordnen.
Alſo die beiden Thatſachen des Zweckzuſammenhangs im
Recht und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſind correlativ.
Aber auch dieſe Einſicht erſchöpft nicht die wahre Natur ihres
Zuſammenhangs.
Das Recht tritt nur auf in der Form von Imperativen,
hinter welchen ein Wille ſteht, der die Abſicht hat, ſie durchzu-
ſetzen. Dieſer Wille iſt nun ein Geſammtwille d. h. der einheitliche
Wille einer Geſammtheit; er hat in der äußeren Organiſation der
Geſellſchaft ſeinen Sitz: ſo in der Gemeinde, dem Staat, der
Kirche. Je mehr wir nämlich auf die älteſten Zuſtände der Ge-
ſellſchaft zurückgehn und uns ihrer genealogiſchen Gliederung
nähern, um ſo deutlicher finden wir den Thatbeſtand: die Macht-
ſphären der Individuen in Bezug auf einander und in Bezug auf
die Sachen ſind im Zuſammenhang mit den Funktionen dieſer
Individuen in der Geſellſchaft, ſonach mit der äußeren Organi-
ſation dieſer Geſellſchaft abgemeſſen. Die Verſelbſtändlichung des
Privatrechts gegenüber den Funktionen der Individuen und ihres
Beſitzes in der Geſellſchaft bezeichnet ein ſpätes Stadium, in
welchem der anwachſende Individualismus die Rechtsentwicklung
beſtimmt, und ſie bleibt immer nur relativ. Da ſo der Geſammt-
[71]Die Natur des Rechts.
wille unter Berückſichtigung der Funktion der Einzelnen innerhalb
der Organiſation, welche er beherrſcht, die Rechte derſelben abmißt,
ſo hat die Rechtsbildung in dieſem Geſammtwillen ihren Sitz.
Dem entſprechend iſt es auch dieſer Geſammtwille, welcher die
von ihm aufgeſtellten Imperative aufrecht erhält und ihre Ver-
letzung zu ahnden den Antrieb ſelbſtverſtändlich in ſich enthält.
Und zwar beſteht dieſer Antrieb und ſtrebt ſich durchzuſetzen,
mögen dem Geſammtwillen beſondere regelmäßige Organe für die
Formulirung und Promulgation ſowie für die Vollziehung ſeiner
Imperative zu Gebote ſtehen oder mögen dieſe fehlen. Wie ſie
ja z. B. nach der einen Richtung im Gewohnheitsrecht, nach der
anderen im Völkerrecht wie hinſichtlich der den Souverän ſelber
betreffenden Sätze im Staatsrecht nicht vorhanden ſind.
Sonach wirken in der Rechtsbildung der Geſammtwille,
welcher Träger des Rechtes iſt, und das Rechtsbewußtſein der
Einzelnen zuſammen. Dieſe Einzelnen ſind und verbleiben leben-
dige rechtsbildende Kräfte; auf ihrem Rechtsbewußtſein beruht die
Geſtaltung des Rechtes einerſeits, während ſie andrerſeits von der
Willenseinheit, die ſich in der äußeren Organiſation der Geſell-
ſchaft gebildet hat, abhängt. Das Recht hat daher weder voll-
ſtändig die Eigenſchaften einer Funktion des Geſammtwillens noch
vollſtändig die eines Syſtems der Kultur. Es vereinigt weſent-
liche Eigenſchaften beider Claſſen von geſellſchaftlichen Thatſachen
in ſich.
Jenſeit deſſelben treten das auf einander bezogene Thun der
Einzelnen, in welchem ein Syſtem der Kultur ſich ausbildet,
und die Leiſtungen von Geſammtwillen, welche Glieder
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſind, in zunehmen-
der Sonderung auseinander.
Das Syſtem, welches die politiſche Oekonomie analyſirt,
hat zwar ſeine Anordnung nicht durch den Staatswillen erhalten,
aber es iſt durch die ganze Gliederung des geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Ganzen ſehr beeinflußt und durch Anordnungen ſeitens des
Staatswillens innerhalb der einzelnen politiſchen Körper erheblich
mitbeſtimmt. So ſtellt es ſich unter dem einen Geſichtspunkt als
[72]Erſtes einleitendes Buch.
Gegenſtand einer allgemeinen Theorie, der Wirthſchaftslehre dar,
unter dem anderen als Inbegriff von Einzelgeſtalten, von Volks-
wirthſchaftsganzen, deren jedes wie durch alles, was alle Volks-
genoſſen zuſammen beeinflußt, ſo auch durch den Staatswillen und
die Rechtsordnung bedingt iſt. Das Studium der allgemeinen Eigen-
ſchaften des Syſtems, welche aus dem Beſtandtheil der Natur des
Menſchen, in welchem es gegründet iſt, und den allgemeinen Be-
dingungen der Natur und der Geſellſchaft, unter denen es wirkt,
herfließen, wird hier ergänzt durch das Studium des Einfluſſes,
welchen die nationale Organiſation und die regelnde Einwirkung
des Staatswillens ausüben.
In der Sittlichkeit löſt ſich ſchon auf dem Gebiet des prak-
tiſchen Handelns die innere Kultur von der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft los. Wenn wir die Syſteme, in welche das prak-
tiſche Handeln der Geſellſchaft ſich zerlegt hat, verlaſſen, finden wir
dieſe Abſonderung überall. Sprache und Religion haben unter
dem Einfluß der Gliederung der Menſchheit, der Strömungen der
Geſchichte, der Bedingungen der äußeren Natur, ſich zu mehreren
abgegrenzten Ganzen entwickelt, innerhalb deren der Beſtandtheil
und Zweck des geiſtigen Wirkens, der in ſeiner Gleichartigkeit durch
das eine und das andere Syſtem hindurchgeht, ſich zu einer Viel-
heit beſonderer Geſtalten der Anordnung entfaltet. Kunſt und
Wiſſenſchaft ſind Weltthatſachen, die von keiner Schranke der
Staaten oder der Völker oder der Religionen aufgehalten werden,
ſo mächtig auch dieſe Abgrenzungen des geſellſchaftlichen Kosmos
auf ſie eingewirkt haben und obwol ſie in hohem Grade noch
heute auf ſie einwirken. Das Syſtem der Kunſt wie das der
Wiſſenſchaft können in den Grundzügen entwickelt werden, ohne
daß die Einführung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in
die Unterſuchung für die Entwicklung dieſer Grundzüge erforderlich
wäre. Weder die Grundlagen der Aeſthetik noch die der Wiſſen-
ſchaftslehre ſchließen den Einfluß des nationalen Charakters auf
Kunſt und Wiſſenſchaft oder die Wirkung von Staat und Ge-
noſſenſchaften auf dieſelben ein.
Von der Erörterung der Beziehung, in welcher die Syſteme
[73]Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur.
der Kultur, um deren Erkenntniß es ſich hier handelt, zu der
äußern Organiſation der Geſellſchaft ſtehen, wenden wir uns nun-
mehr zu den allgemeinen Eigenſchaften der Wiſſenſchaften von den
Syſtemen der Kultur ſowie zu den Fragen über die Abgrenzung
des Umfangs dieſer Wiſſenſchaften.
Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur. Sittenlehre iſt eine
Wiſſenſchaft von einem Syſtem der Kultur.
Die Erkenntniß eines einzelnen Syſtems vollzieht ſich in einem
Zuſammenhang methodiſcher Operationen, welche durch die Stellung
deſſelben innerhalb der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit
bedingt iſt. Ihre Hilfsmittel ſind mannigfach: Zergliederung des
Syſtems, Vergleichung der Einzelgeſtalten, welche es in ſich faßt,
Verwerthung der Beziehungen, in welchen dies Unterſuchungs-
gebiet einerſeits zu der pſychologiſchen Erkenntniß der Lebens-
einheiten ſteht, welche die Elemente der das Syſtem bildenden
Wechſelwirkungen ſind, andrerſeits zu dem geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Zuſammenhang, aus welchem es für die Unterſuchung aus-
geſondert iſt. Aber der Erkenntnißvorgang ſelber iſt nur
Einer. Die Unhaltbarkeit der Sonderung philoſophiſcher und poſi-
tiver Unterſuchung ergiebt ſich einfach daraus, daß die Begriffe,
deren ſich dieſe Erkenntniſſe bedienen (z. B. im Recht der Wille, die
Zurechnungsfähigkeit etc., in der Kunſt die Einbildungskraft, das
Ideal etc.), ſowie die elementaren Sätze, zu welchen ſie gelangen oder
von denen ſie ausgehen (z. B. das Prinzip der Wirthſchaftlichkeit
in der politiſchen Oekonomie, das Prinzip der Metamorphoſe der
Vorſtellungen unter dem Einfluß des Gemüthslebens in der
Aeſthetik, die Denkgeſetze in der Wiſſenſchaftslehre), nur unter Mit-
wirkung der Pſychologie zureichend feſtgeſtellt werden können. Ja
die großen Gegenſätze ſelber, welche die poſitiven Forſcher in Be-
zug auf die Auffaſſung dieſer Syſteme trennen, können nur mit
Hilfe einer wahrhaft deſcriptiven Pſychologie eine Löſung finden,
weil ſie in der Verſchiedenheit des typiſchen Bildes der menſch-
lichen Natur, das den Forſchern vorſchwebte, mitbegründet waren.
[74]Erſtes einleitendes Buch.
Ich erläutere dieſen wichtigen Punkt an einem hervorragenden
Beiſpiel. Die Ableitung der Sprache, der Sitten, des Rechts aus
verſtandesmäßiger Erfindung hat lange auch die poſitiven Wiſſen-
ſchaften dieſer Syſteme beherrſcht; dieſe pſychologiſche Theorie
wurde abgelöſt durch die großartige Anſchauung eines unbewußt
in der Weiſe des künſtleriſchen Genius ſchaffenden Volksgeiſtes,
eines organiſchen Wachsthums ſeiner Hauptlebensäußerungen. Dieſe
Theorie, getragen durch die metaphyſiſche Formel eines unbewußt
ſchaffenden Weltgeiſtes, verkannte aber, mit derſelben pſychologiſchen
Einſeitigkeit als jene ältere, den Unterſchied zwiſchen den Schöpfungen,
welche auf einem geſteigerten Vermögen der Anſchauung beruhen,
und denen, welche die harte Arbeit des Verſtandes und die Be-
rechnung hervorbringt. Jene wirkt unbewußt in der geſetzmäßigen
Entfaltung ihrer Bilder, wie man dies ſchon an den von Johannes
Müller zuerſt aufgedeckten elementaren Proceſſen ſtudiren kann:
von pſychologiſchen Unterſuchungen in dieſer Richtung wird das
Verſtändniß der Geſtaltungen im Syſtem der Kunſt mitbedingt 1).
Verſtand, der in Begriffen, Formeln und Inſtitutionen arbeitet, iſt
anderer Art. So hat Ihering den Nachweis unternommen, daß
die Begriffe und Formeln des älteren römiſchen Rechts das Er-
gebniß bewußter, verſtandesmäßig geſchulter juriſtiſcher Kunſt ſind,
harter Arbeit juriſtiſchen Denkens, welcher Vorgang freilich nicht
in ſeiner urſprünglichen flüſſigen Geſtalt erhalten iſt, ſondern „ob-
jektivirt und comprimirt auf kleinſtem Raume, d. h. in Geſtalt
von Rechtsbegriffen“. Die juriſtiſche Methode als die des zer-
legenden Verſtandes, gegenüber ihrem Material, den realen Lebens-
verhältniſſen, wird von Ihering zuerſt an der Struktur des älteren
römiſchen Proceſſes und des Rechtsgeſchäftes aufgezeigt, alsdann
an der Struktur der materiellen Rechtsbegriffe dieſer älteren
[75]Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur.
römiſchen Jurisprudenz. Faßt man dieſes Problem für das
Syſtem des Rechts allgemein und vergleichend, ſo kann die Mit-
wirkung der Pſychologie nicht entbehrt werden, und Ihering ſelber
hat, indem er von ſeinem Geiſt des römiſchen Rechts zu dem
Werke über den Zweck im Recht vorandrang und den Nachweis
unternahm, daß „der Zweck die Grundlage des ganzen Rechts-
ſyſtems ſei“, ſich entſchließen müſſen, „auf ſeinem Gebiet Philo-
ſophie zu treiben“ d. h. eine pſychologiſche Grundlegung zu ſuchen.
Dieſe einzelnen Syſteme und ihr Zuſammenhang im Leben
der Geſellſchaft können nur in dem Zuſammenhang der Unter-
ſuchungen ſelber, an deren Eingang wir uns befinden, aufgefunden
werden. Inzwiſchen ſtehen dieſelben vor der Betrachtung wie
anſchauliche mächtige objektive Thatſachen. Der menſchliche Geiſt
hat ſie zu ſolchen geſtaltet, bevor er ſie wiſſenſchaftlich be-
trachtet hat. Es giebt ein Stadium in der Entwicklung dieſer
Syſteme, in welchem das theoretiſche Nachdenken von dem prak-
tiſchen Wirken und Bilden noch ungeſchieden iſt. So war der-
ſelbe Verſtand, welcher ſich ſpäter der bloß theoretiſchen Begrün-
dung und Erklärung des Rechts, des wirthſchaftlichen Lebens
zuwandte, zunächſt mit der Geſtaltung dieſer Syſteme beſchäftigt.
Einige unter dieſen mächtigen Realitäten (als ſolche erſcheinen ſie
wenigſtens der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft), wie die Religion
und das Recht, haben ſich zu ſehr umfangreichen Syſtemen von
Wiſſenſchaften ausgebildet.
So viel ich ſehe, ſcheint nur die Betrachtung der Gebiete
des Rechts und der Sittlichkeit Schwierigkeiten darbieten zu können,
wenn man die hier dargelegte Auffaſſung von Grundſyſtemen
der Geſellſchaft auf den Beſtand der poſitiven Wiſſenſchaften des
Geiſtes anwendet. — Dieſe Schwierigkeiten ſind in Bezug auf das
Recht ganz andere als in Bezug auf die Sittlichkeit und ſie ſind
in dem Vorhergehenden aufzulöſen verſucht worden. Die Wiſſen-
ſchaften des Rechts können dem Entwickelten zufolge von denen
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nur in einer unvoll-
kommenen Weiſe getrennt werden; denn in dem Recht iſt der
Charakter eines Syſtems der Kultur von dem eines Beſtandtheils
[76]Erſtes einleitendes Buch.
der äußeren Organiſation nicht geſchieden und es vereinigt weſent-
liche Eigenſchaften beider Claſſen von geſellſchaftlichen Thatſachen
in ſich. — Ein Bedenken ganz anderer Art ſcheint ſich zu erheben,
wenn man die Sittlichkeit als ein ſolches Syſtem auffaßt, das
auch eine Funktion in dem geſellſchaftlichen Leben hat, die
Sittenlehre als eine Wiſſenſchaft eines ſolchen Syſtems der
Kultur. Nicht als eine ſolche Objektivität, ſondern als ein Im-
perativ des perſönlichen Lebens iſt ſie gerade von einigen ſehr
tiefen Forſchern aufgefaßt worden. Selbſt ein Philoſoph von der
Richtung Herbert Spencer’s hat in dem Plan ſeines Rieſenwerkes
die Ethik, „die Theorie über das rechtſchaffene Leben“ als den
Schlußtheil deſſelben von der Sociologie getrennt. So iſt unum-
gänglich, dieſe Inſtanz gegen die vorliegende Vorſtellung in’s
Auge zu faſſen.
In der That exiſtirt ein Syſtem der Sittlichkeit, mannig-
fach abgeſtuft, in langer geſchichtlicher Entwicklung erwachſen, örtlich
vielfach ſelbſtändig geartet, in einer Vielfachheit von Formen aus-
geprägt: eine nicht minder mächtige und wahrhafte Realität als
Religion oder Recht. Sitte, als die Regel, das Wiederkehrende,
die Form des Stetigen und Allgemeinen in Handlungen, bildet
nur die neutrale Grundlage, die ſowohl den Erwerb aufgefundener
Zweckmäßigkeit des Handelns, das unter möglichſt geringem
Widerſtand ſein Ziel erreichen will, in ſich faßt, als den an-
geſammelten Reichthum von Maximen der Sittlichkeit, ſelbſt eine
Seite des Gewohnheitsrechts, nach welcher es den Inbegriff ge-
meinſamer Rechtsüberzeugungen umfaßt, ſofern ſie durch Uebung
ſich als beherrſchende Macht über die Einzelnen manifeſtiren.
Wie denn Ulpian die mores definirt als tacitus consensus po-
puli, longa consuetudine inveteratus1). Die Sitte grenzt ſich
nach Völkern und Staaten deutlich ab. Dagegen bildet die Sitt-
lichkeit ein einziges Idealſyſtem, das durch den Unterſchied
von Gliederungen, Gemeinſchaften, Verbänden nur modificirt
wird. Die Erforſchung dieſes Idealſyſtems vollzieht ſich in der
[77]Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur.
Verbindung pſychologiſcher Selbſtbeſinnung mit der Vergleichung
ſeiner Modifikationen bei verſchiedenen Völkern, für welche von
allen Geſchichtſchreibern Jakob Burckhardt den tiefſten Blick ge-
zeigt hat.
Dieſes Syſtem der Sittlichkeit beſteht nicht in Handlungen
der Menſchen, ja kann nicht einmal an dieſen zunächſt ſtudirt
werden, ſondern es beſteht in einer beſtimmten Gruppe von
Thatſachen des Bewußtſeins und demjenigen Beſtandtheil der
menſchlichen Handlungen, welcher durch ſie hervorgebracht wird.
Wir ſuchen zunächſt dieſe Thatſachen des Bewußtſeins in ihrer
Vollſtändigkeit aufzufaſſen. Das Sittliche iſt in einer doppelten
Form vorhanden, und die beiden Geſtalten, in denen es erſcheint,
wurden Ausgangspunkte für zwei einſeitige Schulen der Moral.
Es iſt da als Urtheil des Zuſchauers über Handlungen und als
ein Beſtandtheil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem
Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (ſonach der Zweck-
mäßigkeit derſelben) unabhängigen Gehalt giebt. Es iſt in beiden
Geſtalten daſſelbe. In der einen erſcheint es als in der Motivation
lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Hand-
lungen anderer Individuen in unparteiiſcher Billigung oder Miß-
billigung reagirende Kraft. Dieſer wichtige Satz kann folgender-
maßen bewieſen werden. In jedem Fall, in welchem ich mich
als Handelnder unter der Nöthigung einer moraliſchen Verbind-
lichkeit befinde, läßt ſich dieſe in demſelben Satz ausdrücken, welcher
meinem Urtheil als Zuſchauer zu Grunde liegt. Indem die Ethik
bisher immer eine von beiden Geſtalten zu Grunde legte, Kant
und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft,
die hervorragenden engliſchen Moraliſten und Herbart als eine
von außen gegen die Handlungen Anderer reagirende Kraft: gingen
ſie der allſeitigen, ganz gründlichen Einſicht verluſtig. Denn Bei-
fall und Mißfallen des Zuſchauers enthalten das Sittliche zwar
ungeſondert (ein unſchätzbarer Vortheil), aber in abgeblaßter Form.
Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen
Inhalt des Geiſtes, wie ſie in den ſittlichen Kämpfen des Han-
delnden mit ſolcher Gewalt an das Licht gebracht wird, iſt hier
[78]Erſtes einleitendes Buch.
ganz abgeſchwächt. Wo andrerſeits das Sittliche in der Motivation
ſelber zum Gegenſtand der Unterſuchung gemacht wird, iſt die
Analyſe ſehr ſchwierig. Denn nur der Zuſammenhang zwiſchen
Motiv und Handlung iſt uns in klarem Bewußtſein gegeben; die
Motive aber treten auf eine uns räthſelhafte Weiſe hervor. Daher
iſt der Charakter des Menſchen dieſem ſelber ein Geheimniß, welches
ihm nur ſeine Handlungsweiſe theilweiſe ſichtbar macht. Durch-
ſichtigkeit des Zuſammenhangs von Charakter, Motiv und Hand-
lung eignet den Geſtalten des Dichters, nicht der Anſchauung des
wirklichen Lebens, und ſo liegt auch das Aeſthetiſche in der Er-
ſcheinung des wirklichen Menſchen darin, daß über ſeinen Hand-
lungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender
als über denen der anderen Menſchen liegt.
In dieſer Doppelgeſtalt durchwirkt nun das ſittliche Bewußt-
ſein in einem unendlich verzweigten Spiel von Wirkungen und
Reaktionen die ganze beſeelte Geſellſchaft. Dem Entwickelten ent-
ſprechend kann das Bewegende in ihm in zwei Formen von
Kräften zerlegt werden. Es wirkt zunächſt direkt, als Ausbildung
eines moraliſchen Bewußtſeins und unter ſeinem Antrieb ſtehende
Regelung der Handlungen. Alles was das Leben für den Menſchen
lebenswerth macht, ruhet auf dem Grunde des Gewiſſens: denn
wer Gefühl ſeiner Würde hat und darum dem, was ſonſt ſich
wandeln kann, gefaßt in’s Auge blickt, bedarf doch dieſes Fun-
damentes nicht nur bei ſich, ſondern auch bei denen, die er liebt,
um leben zu können. Die andere Form von pſychologiſcher Kraft,
durch welche das ſittliche Bewußtſein in der Geſellſchaft wirkt, iſt
indirekt. Das moraliſche Bewußtſein, das ſich in der Geſellſchaft
ausbildet, wirkt als ein Druck auf den Einzelnen. Gerade hierauf
iſt es gegründet, daß Sittlichkeit als ein Syſtem über den weiteſten
Umkreis der Geſellſchaft herrſcht und ſich die mannigfachſten Be-
weggründe in ihr unterwirft. Sklaven gleich, dienen gezwungen
dieſer Macht des ſittlichen Syſtems auch die niedrigſten Motive.
Die öffentliche Meinung, das Urtheil der anderen Menſchen, die
Ehre: dieſe ſind die ſtarken Bänder, welche die Geſellſchaft da zu-
ſammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, verſagt. Und
[79]Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur.
wenn ein Menſch auch ganz überzeugt wäre, daß die Mehrzahl
der ihn Verurtheilenden ganz ſo handeln würde, als er ſelber
gehandelt hat, falls ſie nur dem Urtheil der Welt ſich dabei zu
entziehen vermöchten: auch dies hebt den Bann nicht auf, unter
dem ſeine Seele ſteht, wie das Raubthier unter dem Bann der
Augen eines muthigen Menſchen, wie der Verbrecher unter dem
Bann der hundert Augen des Geſetzes. Will er dieſer Totalmaſſe
der öffentlichen ſittlichen Meinung ſich wirklich entziehen, ſo erträgt
er nur dann die Wucht ihres Anpralls, wenn er zuſammenſteht
mit Anderen, in einer anderen Atmosphäre von öffentlicher Mei-
nung, welche ihn trägt. Dieſe regulirende Gewalt des ſittlichen
Geſammtgewiſſens bewirkt andrerſeits im Beginn der perſönlichen
Entwicklung, ſowie für die nicht ſittlich ſelbſtändig Fühlenden, ja
im Einzelnen ſchließlich auch für die ſittlich Höchſtſtehenden die
Uebertragung des Geſammtergebniſſes der ſittlichen Kultur, welches
Niemand in jedem Moment des bewegten Lebens ganz ſelbſtändig
in ſeinen mannigfachen Verzweigungen in ſich hervorzubringen
vermöchte.
So bildet ſich in der Geſellſchaft ein ſelbſtändiges Syſtem
der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den
äußeren Zwang angewieſen iſt, regulirt es mit einer Art von
innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat ſonach in
den Geiſteswiſſenſchaften nicht ihre Stelle als bloßer Inbegriff
von Imperativen, der das Leben des Einzelnen regelt, ſondern ihr
Gegenſtand iſt eines der großen Syſteme, welche im Leben der
Geſellſchaft ihre Funktion haben.
An den Zuſammenhang dieſer Syſteme, welche in direkter Weiſe
Zwecke verwirklichen, die in den Beſtandtheilen der menſchlichen
Natur angelegt ſind, ſchließen ſich die Syſteme von Mitteln, welche
in dem Dienſte der direkten Zwecke des geſellſchaftlichen Lebens ſtehen.
Ein ſolches Syſtem von Mitteln iſt die Erziehung. Aus den Be-
dürfniſſen der Geſellſchaft entſtanden die einzelnen Schulkörper,
als Leiſtung von Privatperſonen ſowie von Verbänden, aus un-
ſcheinbaren Anfängen: differenzirten ſich, traten in Verbindung
untereinander, und nur allmälig, nur theilweiſe wurde das
[80]Erſtes einleitendes Buch.
Erziehungsweſen in den Zuſammenhang der Staatsverwaltung
ſelber aufgenommen.
Dieſe Syſteme erlangen in der Geſellſchaft vermöge der
beſtändigen Anpaſſung Einer Einzelthätigkeit in ihnen an die
andere, ſowie vermöge der einheitlichen Zweckthätigkeit der zu
ihnen gehörigen Verbände eine allgemeine Anpaſſung ihrer Funk-
tionen und Leiſtungen aneinander, welche ihrer inneren Beziehung
gewiſſe Eigenſchaften eines Organismus giebt. Die menſchlichen
Lebenszwecke ſind Bildungskräfte der Geſellſchaft, und wie ver-
mittelſt ihrer Gliederung die Syſteme auseinandertreten: bilden
dieſe Syſteme untereinander eine entſprechende Gliederung höherer
Ordnung. Der letzte Regulator dieſer vernünftigen Zweckthätig-
keit in der Geſellſchaft iſt der Staat.
XIII.
Die Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft.
Die pſychologiſchen Grundlagen.
Von dieſen Wiſſenſchaften, welche die Syſteme der Kultur
ſowie die in dieſen Syſtemen ausgebildete Inhaltlichkeit zum
Objekte haben, ſie in geſchichtlichem Erfaſſen, in Theorie und
Regelgebung erforſchen, trennte ein überall gleichförmig durch-
geführter Vorgang von Abſtraktion die anderen Wiſſenſchaften,
deren Gegenſtand die äußere Organiſation der Geſellſchaft iſt.
In den Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur werden die
pſychiſchen Elemente in verſchiedenen Individuen zunächſt nur
als in einem Zweckzuſammenhang geordnet aufgefaßt. Es giebt
eine hiervon verſchiedene Betrachtungsweiſe, welche die äußere
Organiſation der Geſellſchaft betrachtet, ſonach die Verhältniſſe
von Gemeinſchaft, äußerer Bindung, Herrſchaft, Unterordnung
der Willen in der Geſellſchaft. Dieſelbe Richtung der Abſtraktion
[81]Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
iſt wirkſam, wenn die politiſche Geſchichte von der Kulturgeſchichte
unterſchieden wird. Insbeſondere die dauernden Geſtaltungen,
welche in dem Leben der Menſchheit, auf der Baſis der Gliede-
rung derſelben in Völker, auftreten und welche vor Allem die Träger
ihres Fortſchritts ſind, fallen unter dieſen doppelten Geſichtspunkt
von Beziehungen pſychiſcher Elemente in verſchiedenen Individuen
innerhalb eines Zweckzuſammenhangs zu einem Kulturſyſtem, und
von Bindung der Willen nach den Grundverhältniſſen von Ge-
meinſchaft und Abhängigkeit zu einer äußeren Organiſation der
Geſellſchaft.
Ich erläutere dieſen Begriff der äußeren Organiſation. Das
Erlebniß, vom Subjekt aus angeſehen, iſt, daß daſſelbe
ſeinen Willen in einem Zuſammenhang äußerer Bindungen, in
Herrſchafts- und Abhängigkeitsverhältniſſen gegenüber Perſonen und
Sachen, in Gemeinſchaftsbeziehungen findet. Dieſelbe ungetheilte
Perſon iſt zugleich Glied einer Familie, Leiter einer Unternehmung,
Gemeindeglied, Staatsbürger, in einem kirchlichen Verbande, dazu
etwa Genoſſe eines Gegenſeitigkeitsvereines, eines politiſchen Ver-
eines. Der Wille der Perſon kann ſo auf höchſt vielfache Weiſe
verwoben ſein, und wirkt dann in jeder dieſer Verwebungen nur
vermittelſt des Verbandes, in welchem er ſich befindet. Dieſer That-
beſtand, zuſammengeſetzt wie er iſt, hat eine Miſchung von Macht-
gefühl und Druck, von Gefühl der Gemeinſchaft und des Fürſich-
ſeins, von äußerer Bindung und Freiheit zur Folge, welche einen
weſentlichen Beſtandtheil unſeres Selbſtgefühls bildet. Objektiv
angeſehen, finden wir in der Geſellſchaft die Individuen nicht
nur durch Correſpondenz ihrer Thätigkeiten aufeinander bezogen,
nicht als nur in ſich ruhende oder auch in der freien ſittlichen Tiefe
ihres Weſens einander hingegebene Einzelweſen, ſondern dieſe Ge-
ſellſchaft bildet einen Zuſammenhang von Verhältniſſen der Ge-
meinſchaft und Bindung, in welchen die Willen der Individuen
eingefügt ſind, gleichſam eingebunden. Und zwar zeigt uns ein
Blick auf die Geſellſchaft zunächſt eine unermeßliche Anzahl ver-
ſchwindend kleiner, raſch vorübergehender Beziehungen, in welchen
Willen vereinigt und in Bindungsverhältniß erſcheinen. Alsdann
Dilthey, Einleitung. 6
[82]Erſtes einleitendes Buch.
entſpringen dauernde Verhältniſſe dieſer Art aus dem wirthſchaft-
lichen Leben und den anderen Kulturſyſtemen. Vor Allem aber:
in Familie, Staat und Kirche, in Körperſchaften und in Anſtalten
ſind Willen zu Verbänden zuſammengefügt, durch welche eine theil-
weiſe Einheit derſelben entſteht: dies ſind conſtante Gebilde von
freilich ſehr verſchiedener Lebensdauer, welche beharren, während
Individuen ein- und austreten, wie ein Organismus beharrt trotz
des Eintritts und Austritts der Molecüle und Atome, aus denen
er beſteht. Wie viele Geſchlechter der Menſchen, wie viele Geſtal-
tungen der Geſellſchaft hat die mächtigſte Organiſation, welche der
Boden dieſer Erde bisher getragen hat, die katholiſche Kirche,
kommen und gehen ſehen, von der Zeit, in welcher Sklaven neben
ihren Herren zu den unterirdiſchen Grüften der Märtyrer ſchlichen, zu
der Zeit, in welcher in ihren mächtigen Domen der adlige Grund-
herr und der leibeigene Mann, dazwiſchen ein freier Bauer, der
Innungsgenoſſe aus der Stadt und der Mönch vereinigt waren,
bis zu dem heutigen Tag, an dem dieſe bunte Gliederung in dem
modernen Staat großentheils untergegangen iſt! So ſind in der
Geſchichte Verbände der verſchiedenſten Lebensdauer ineinanderver-
flochten. Indem das Verbandsleben der Menſchheit eine Generation
mit der anderen in einem ſie überdauernden Gebilde verknüpft,
ſammelt ſich in der feſteren Form, die ſo entſteht, ſichrer, behüte-
ter, wie unter einer ſchützenden Bedeckung, der durch die
Arbeit des Menſchengeſchlechtes innerhalb der Kulturſyſteme wach-
ſende Erwerb. So iſt Aſſociation eines der mächtigſten Hilfsmittel
des geſchichtlichen Fortſchritts. Indem ſie die Gegenwärtigen mit
denen vor ihnen und nach ihnen verknüpft, entſtehen willensmächtige
Einheiten, deren Spiel und Widerſpiel das große Welttheater der
Geſchichte erfüllt. Keine Phantaſie kann die Fruchtbarkeit dieſes
Prinzips in der künftigen Geſtaltung der Geſellſchaft ausdenken.
Vermochte doch die Menſchenbeobachtung eines Kant das Traum-
bild vor ſeiner Seele nicht zu verſcheuchen, welches zu dem Gefühl
von Verwandtſchaft, das die Menſchheit einſchließt, zu der Coordi-
nation unſrer Thätigkeiten und unſerer Zwecke, zu der örtlichen
Vereinigung auf dieſer Erde, als unſrem gemeinſamen Wohnhauſe,
[83]Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
auch die äußere Verbindung hinzudachte: eine das ganze Menſchen-
geſchlecht umſpannende Aſſociation.
Zwei pſychiſche Thatſachen liegen dieſer äußeren Organiſation
der Menſchheit überall zu Grunde. Sie gehören ſonach zu den
pſychiſchen Thatſachen zweiter Ordnung, welche für dieſe theore-
tiſchen Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft grundlegend ſind.
Eine von ihnen iſt in jeder Art von Gemeinſchaft und Be-
wußtſein von Gemeinſchaft vorliegend. Wird ſie mit dem
Ausdruck: Gemeinſinn oder Geſelligkeitstrieb bezeichnet, ſo muß,
wie bei der Unterſcheidung von Vermögen rückſichtlich der pſychi-
ſchen Thatſachen erſter Ordnung, feſtgehalten werden, daß dies
nur ein zuſammenfaſſender Ausdruck für das dieſer Thatſache zu
Grunde liegende x iſt; daſſelbe kann ebenſogut eine Mehrheit von
Faktoren enthalten als eine einheitliche Grundlage. — Die That-
ſache ſelber aber iſt dieſe: mit ſehr verſchiedenen pſychiſchen Be-
ziehungen zwiſchen Individuen, mit dem Bewußtſein gemeinſamer
Abſtammung, mit örtlichem Zuſammenwohnen, mit der Gleich-
artigkeit der Individuen, die in ſolchen Verhältniſſen gegründet iſt
(denn Ungleichheit iſt nicht als ſolche ein Band von Gemeinſchaft,
ſondern nur ſofern ſie ein Ineinandergreifen der Verſchiedenen
zu einer Leiſtung ermöglicht, ſei ſie auch nur die eines geiſtreichen
Geſprächs oder eines erfriſchenden Eindrucks in der Einförmig-
keit des Lebens), mit der mannigfachen Zuſammenordnung durch
die im pſychiſchen Leben angelegten Aufgaben und Zwecke, mit dem
Thatbeſtand von Verband iſt in irgend einem Grade ein Gemein-
ſchaftsgefühl verknüpft, wofern es nicht durch eine entgegenſtehende
pſychiſche Einwirkung aufgehoben wird. So iſt mit der Zweck-
vorſtellung eines Thuns und den ihr verbundenen Antrieben in A,
welche auf den entſprechenden mitwirkenden Vorgang in B und C
rechnen, in A ein Gefühl von Zuſammengehörigkeit und Gemein-
ſchaft verwebt: eine Solidarität der Intereſſen. Wir können die
beiden pſychiſchen Thatbeſtände, das Verhältniß, das zu Grunde
liegt, und das Gemeinſchaftsgefühl, vermöge deſſen es ſich gewiſſer-
maßen im Gefühlsleben reflektirt, von einander deutlich ſondern. —
Jeder Kunſt der Analyſe ſpottet nun die außerordentliche Mannig-
6*
[84]Erſtes einleitendes Buch.
faltigkeit, die Feinheit der Unterſchiede, in welcher dies für das
geſchichtlich-geſellſchaftliche Leben ſo wichtige Gefühl die äußere
Organiſation der Menſchheit durchzittert und mit ſeiner Innigkeit
belebt. Die Analyſe deſſelben bildet daher eines der fundamentalen
Probleme dieſer Einzeltheorien der Geſellſchaft. Auch an dieſem
Punkte ſteht der verſchleiernde Nebel einer Abſtraktion, eines Triebs
oder Sinns, der als eine Weſenheit in den Staatswiſſenſchaften
und der Geſchichte aufzutreten pflegt, zwiſchen dem Beobachter und
der Mannigfaltigkeit des Phänomens. Es bedarf der Einzel-
analyſen. Wie außerordentlich war die Wirkung jener Einzel-
analyſe auf die theologiſche Wiſſenſchaft, in welcher Schleiermachers
berühmte vierte Rede über Religion aus den Eigenſchaften des re-
ligiöſen Gefühlslebens das Bedürfniß religiöſer Geſelligkeit und die
Eigenſchaften des Gemeindebewußtſeins in ihrer ſpecifiſchen Diffe-
renz von anderen Formen dieſes allgemeinen Gemeinſchaftsgefühls
abzuleiten, und ſo die Beziehungen zwiſchen dem wichtigſten Kul-
turſyſtem und der aus ihm entſpringenden äußeren Organiſation
aufzuzeigen unternahm. Sein Verſuch zeigt beſonders deutlich,
daß es hier zunächſt eine Vertiefung in das Erlebniß ſelber giebt,
welche der Selbſtbeobachtung in der Einzelpſychologie entſpricht,
und die von der vergleichenden Unterſuchung der geſchichtlichen
Erſcheinungen wie von der pſychologiſchen Analyſis geſondert auf-
treten kann, wenn dies auch naturgemäß Einſeitigkeit des Ergeb-
niſſes zur Folge hat.
Die andere dieſer beiden für das Verſtändniß der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft fundamentalen pſychiſchen und pſycho-
phyſiſchen Thatſachen wird durch das Verhältniß von Herrſchaft
und Abhängigkeit zwiſchen Willen gebildet. Auch dies Verhält-
niß iſt, wie das der Gemeinſchaft, nur relativ; folgerecht iſt auch jeder
Verband nur relativ. Auch die größte Steigerung der Intenſität
eines äußeren Machtverhältniſſes iſt begrenzt und kann unter Um-
ſtänden von einer Gegenwirkung überboten werden. Man kann
einen Widerſtrebenden von einem Ort zum anderen bewegen; aber
ihn zwingen ſich an dieſen Ort zu begeben, das können wir nur,
indem wir ein Motiv in ihm in Bewegung ſetzen, das ſtärker
[85]Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
wirkt als die Motive, welche ihn zu bleiben beſtimmen. Das
Quantitative in dieſem Verhältniß der Intenſitäten, deſſen Ergeb-
niß die äußere Bindung eines Willens in einer Steigerung bis
zu dem Punkte, daß kein gegenwirkendes Motiv Ausſicht auf Er-
folg hat, d. h. der äußere Zwang iſt, der Zuſammenhang dieſer quan-
titativen Beziehungen mit dem Begriff einer Mechanik der Geſell-
ſchaft machen dieſe Begriffsreihe zu einer der fruchtbarſten in der
von uns als Begriffe zweiter Ordnung bezeichneten Claſſe. — So-
fern ein Wille nicht äußerlich gebunden iſt, nennen wir ſeinen
Zuſtand Freiheit.
Hier nehmen wir die Folgerungen wieder auf, welche zu der
Einſicht in die Beſchaffenheit der Grundlegung für die Geiſtes-
wiſſenſchaften hinleiten. Es ſtand zu vermuthen, daß den Wiſſen-
ſchaften von der äußeren Organiſation der Menſchheit Begriffe von
pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Thatſachen und Sätze über ſie
zu Grunde liegen würden, welche denen entſprechen, auf denen
die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur gegründet ſind.
Gemeingefühl, Gefühl des Fürſichſeins (eine Thatſache, für die
wir kein Wort haben), Herrſchaft, Abhängigkeit, Freiheit, Zwang:
das ſind ſolche pſychiſche und pſychophyſiſche Thatſachen zweiter
Ordnung, deren Erkenntniß in Begriffen und Sätzen dem Studium
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zu Grunde liegt. Hier
fragt ſich zunächſt, welches das Verhältniß dieſer Thatſachen zu
einander ſei. Iſt z. B. Gefühl der Gemeinſchaft nicht auflösbar in das
gegenſeitiger Abhängigkeit? Es fragt ſich dann, in welchem Um-
fang die Analyſis dieſer Thatſachen, ihre Zurückführung auf die
pſychiſchen Thatſachen erſter Ordnung möglich ſei. So ſchließen
wir nunmehr: den beiden Claſſen der theoretiſchen Wiſſenſchaften
der Geſellſchaft liegen Thatſachen zu Grunde, welche nur vermittelſt
der pſychologiſchen Begriffe und Sätze analyſirt werden können.
Das Centrum aller Probleme einer ſolchen Grundlegung der
Geiſteswiſſenſchaft iſt ſonach: die Möglichkeit einer Erkenntniß der
pſychiſchen Lebenseinheiten und die Grenzen einer ſolchen Erkennt-
niß; es handelt ſich dann um die Beziehung der pſychologiſchen
Erkenntniß zu den Thatſachen zweiter Ordnung, durch welche über
[86]Erſtes einleitendes Buch.
die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent-
ſchieden wird.
Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer-
ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab-
hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut
in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft.
Alle Verbandsverhältniſſe ſind, pſychologiſch angeſehen,
aus ihnen zuſammengeſetzt. Und zwar iſt das Vorhandenſein
dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft,
ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles
Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der
Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung
der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt
beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und
Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe
nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren
feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt
ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer
engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur-
grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be-
ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich-
artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt-
ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch
wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein-
ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung,
welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl
von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen
Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge-
meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. —
Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen
großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und
näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu-
ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe
ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften
gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt-
[87]Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
geſchichtliche That gebildet, welche die Naturgliederung durchbricht.
Aber wenn ſie auch das volle Gefühl von Zuſammengehörigkeit
in der Regel (nicht immer, wie das Beiſpiel der durch National-
gefühl verbundenen griechiſchen Politien zeigt) durch Zuſammen-
faſſung zur Staatseinheit erhalten haben: dieſe nationale Gemein-
ſchaft, die ſich als Nationalgefühl im Gefühlsleben der zu der
Gruppe gehörigen Individuen reflektirt, vermag den Beſtand des
Staates lange zu überleben, und ſo iſt auch hier Gemeinſchaft
nicht abhängig vom Beſtand eines Verbandes. — Mit dieſen Kreiſen
von Gemeinſchaft, welche in genealogiſcher Gliederung und Nieder-
laſſung gegründet ſind, kreutzen ſich nun weiter die Gemeinſam-
keiten und Abhängigkeitsverhältniſſe dauernder Art, welche auf dem
Grunde der Kulturſyſteme der Menſchheit entſtehen. Gemeinſam-
keit der Sprache ſchließt ſich an die genealogiſche Gliederung und
das nationale Leben; Verwandtſchaft der Geburtsſtellung, des Be-
ſitzes und des Berufs bringt die Zuſammengehörigkeit des Standes
hervor; Gleichheit der wirthſchaftlichen Beſitzverhältniſſe, der durch
ſie bedingten ſocialen Lage und Bildung verbindet die Individuen
zu einer Claſſe, die ſich zuſammengehörig fühlt und ihre Intereſſen
denen der anderen Claſſen gegenüberſtellt; Gleichartigkeit der Ueber-
zeugung und thätigen Richtung begründet politiſche und kirchliche
Parteien: Gemeinſamkeiten, deren keine an und für ſich einen Ver-
band einſchließt. Andererſeits entſpringen aus dem Zweckzuſammen-
hang in den Syſtemen Verhältniſſe von Abhängigkeit, welche der
Staat ebenfalls nicht direkt hervorbringt, ſondern welche von jenen
Kulturſyſtemen her in ihm ſich geltend machen. Ihr Verhältniß
zu der Zwangsgewalt, welche vom Staat ſelber ausgeht, bildet eines
der Hauptprobleme einer Mechanik der Geſellſchaft. Die zwei
wirkſamſten Arten von Abhängigkeit dieſer Art ſind die aus dem
Wirthſchaftsleben und dem kirchlichen Leben entſpringenden.
So bilden dieſe beiden pſychiſchen Grundverhältniſſe das ganze
Gewebe der äußeren Organiſation der Menſchheit. Das Willens-
verhältniß von Herrſchaft und Abhängigkeit findet ſeine Grenze
an der Sphäre der äußern Freiheit; das der Gemeinſchaft an der,
in welcher ein Individuum nur für ſich da iſt. Ausdrücklich
[88]Erſtes einleitendes Buch.
kann der Deutlichkeit wegen hervorgehoben werden: gänzlich ver-
ſchieden von all dieſen äußeren Willensverhältniſſen iſt der aus
den Tiefen der menſchlichen Freiheit entſpringende Vorgang, in
welchem ein Wille ſich ſelber theilweiſe oder ganz aufopfert, nicht
ſich als Willen mit einem anderen Willen vereinigt, ſondern ſich
als Willen theilweiſe dahin giebt. Dieſe Seite in einer Handlung
oder einem Verhältniß macht ſie zu einem ſittlichen.
Die äußere Organiſation der Geſellſchaft als geſchichtlicher
Thatbeſtand.
Unter einem Verband verſtehen wir eine dauernde auf einen
Zweckzuſammenhang gegründete Willenseinheit mehrerer Perſonen.
Wie vielfach auch die Formen von Verbänden ſich geſtaltet haben,
ihnen allen iſt eigen: die Einheit in ihnen geht über das formloſe
Bewußtſein von Zuſammengehörigkeit und Gemeinſchaft, über die
dem Einzelvorgang überlaſſene intimere Wechſelwirkung innerhalb
einer Gruppe hinaus: eine ſolche Willenseinheit hat eine Struktur:
die Willen ſind in einer beſtimmten Form zum Zuſammenwirken
verbunden. Zwiſchen dieſen Merkmalen eines jeden Verbands be-
ſteht aber eine ſehr einfache Beziehung. Schon das kann als
tautologiſch angeſprochen werden, daß die Willenseinheit zwiſchen
mehreren Perſonen auf einen Zweckzuſammenhang gegründet ſei.
Denn welchen Einfluß auch die Gewalt auf die Geſtaltung einer
ſolchen Willenseinheit habe: Gewalt iſt doch nur eine Art und
Weiſe, in welcher die Zuſammenordnung des Gefüges ſich voll-
ziehen kann: den Arm der Gewalt ſetzt ein Wille in Bewegung,
der von einem Zweck geleitet wird, und er hält den Unterworfenen
feſt, weil derſelbe ein Mittel für einen von ihm herzuſtellenden
Zweckzuſammenhang iſt. Daher behält Ariſtoteles Recht, der am Be-
ginn ſeiner Politik dem Sinne nach ſagt: πᾶσα κοινωνία ἀγαϑοῦ τινός
ἕνεκα συνέστηκεν. Die Gewalt unterwarf, auch geſchichtlich ange-
ſehen, nur, um die Geknechteten in den Zweckzuſammenhang des
eignen Thuns einzuordnen. Ein dauernder Zweckzuſammenhang aber
bringt in der Anordnung der Individuen, die ihm unterworfen
ſind, alsdann der Güter, deren er bedarf, eine Struktur hervor:
[89]Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
ſo iſt von dem Merkmal des Zweckzuſammenhangs wieder das
der Struktur bedingt: der Zweckzuſammenhang wirkt als Bildungs-
geſetz für die Geſtaltung des Verbandes. Welch merkwürdige That-
ſache! die Beziehung von Zweck, Funktion und Struktur, welche
im Reich der organiſchen Weſen nur als ein hypothetiſch einge-
führtes Hilfsmittel der Erkenntniß die Forſchung leitet, iſt hier
erlebte, geſchichtlich aufweisbare, geſellſchaftlicher Erfahrung zugäng-
liche Thatſache. Und welche Umdrehung des Verhältniſſes alſo,
den Begriff des Organismus, wie er in den Thatſachen der or-
ganiſchen Natur feſtgeſtellt werden kann, in denen er dunkel und
hypothetiſch iſt, als Leitfaden für die durch dieſe Beziehung in
der Geſellſchaft entſtehenden Verhältniſſe gebrauchen zu wollen,
welche erlebt und klar ſind.
Daher iſt es viel naturgemäßer, wenn die Naturforſchung
ſich der Analogie mit den geſellſchaftlichen Thatſachen jetzt gern
bedient, ſo oft ſie vom thieriſchen Organismus ſpricht. Nur entſteht
ſo die Gefahr, daß ein neues naturphiloſophiſches Spiel mit dem
Leben in der Materie durch dieſe Bilderſprache ſanft eingänglich
gemacht werde. Für die Staatswiſſenſchaften iſt jedenfalls die Auf-
gabe klar vorgezeichnet in dieſer Rückſicht. Da die Naturwiſſenſchaften
an einem Sinnlichen eine anſchauliche Vorlage haben, da ſie eine
anſchauliche ja eindringliche Terminologie entwickelt haben, durch
welche die Lücken in der Terminologie der Wiſſenſchaften von der
Geſellſchaft auszufüllen ſehr verlockend iſt: ſo gilt es, klare
und eigentliche Ausdrücke in den Geiſteswiſſenſchaften feſtzuſtellen,
welche die vorhandenen Lücken ergänzen, und ſo einen reinen und
in ſich folgerichtigen Sprachgebrauch auszubilden, welcher die
Geiſteswiſſenſchaften vor der Sprachmiſchung mit den Naturwiſſen-
ſchaften ſchützt und die Entwicklung feſter und allgemeingiltiger
Begriffe auf dem Gebiet geiſtiger Thatſachen auch von der Seite
der Terminologie aus fördert.
Die Grenze, welche den Verband von anderen Formen des
Zuſammenwirkens in der Geſellſchaft trennt, kann nicht in ein-
deutiger und doch für alle Rechtsordnungen gleichmäßig giltiger
Weiſe in Begriffen feſtgeſtellt werden.
[90]Erſtes einleitendes Buch.
Das Merkmal der Dauer unterſcheidet den Verband von vor-
übergehenden Beziehungen der Willen in einem Zweckzuſammen-
hang, insbeſondere im Vertrag, nur inſofern, als es in der Natur
des Vertrags an und für ſich nicht liegt, dauernde Verhältniſſe
herbeizuführen. Dieſes Merkmal iſt außerdem in ſich unbeſtimmt,
und ſteht es auch mit dem Zweckzuſammenhang in Beziehung, deſſen
Natur auf die Dauer der Verbindung wirkt, ſo ermöglicht doch
dieſe Beziehung nicht eine klare Abgrenzung des Verbandes von
mehr vorübergehenden Formen der Willenseinigung. Denn zunächſt
bringt nicht jeder Zweck einen Verband hervor. Viele unſrer Lebens-
äußerungen, ob ſie gleich zweckmäßig ſind, greifen gar nicht in das
zweckmäßige Handeln andrer Perſonen ein. Wo dies alsdann der
Fall iſt, kann oftmals der Zweck durch eine Coordination von Einzel-
thätigkeiten nach- und nebeneinander wirkender Perſonen erreicht
werden. So liegt es im Weſen des künſtleriſchen Schaffens, daß
ihm ſeine Geſtalten aus der einſamen Tiefe des Gemüths empor-
ſteigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die
Phantaſie der Menſchheit erfüllen, an einer beſtimmten Stelle
eintreten und in dieſem ſtillen Reich nach einem höheren über
den Künſtler hinausreichenden Zweckzuſammenhang einen Platz
ausfüllen. Wo ſchließlich ein ſolcher Zweckzuſammenhang auf
andere Perſonen rechnet, reicht dann wieder meiſt der Vertrag
aus, ſofern er eine Einigung über ein einzelnes Geſchäft oder
eine Reihe von Geſchäften bewirkt. Von ihm führt zum Ver-
band ein Fortgang, innerhalb deſſen unmöglich auf eine für die
Lebensverhältniſſe und Rechtsordnungen der verſchiedenſten Kultur-
ſtufen gleichmäßig gültige Weiſe der Einſchnitt des Begriffs
vollzogen werden kann. Denn dieſe Grenze zwiſchen einem Ver-
trag, der ſich auf ein einzelnes Geſchäft oder eine Reihe von
Geſchäften bezieht, und der Begründung eines Verbands wird
durch das Recht fixirt; ſonach kann ſie ihrer Natur nach nur
juriſtiſch auf eindeutige Weiſe ausgedrückt werden; und da nun
die Rechtsordnungen verſchieden ſind, ſo iſt z. B. eine Con-
ſtruktion, welche aus dem römiſchen Gegenſatz von societas
und universitas die Beſtimmung des Punktes ableitet, an dem
[91]Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
Vertragsverhältniſſe in Verbandsverhältniſſe übergehen, doch offen-
bar unbrauchbar, den Punkt im deutſchen Recht zu bezeichnen,
an welchem irgend eine Form von Verband auftritt.
So wenig als der Grenzpunkt, kann eine Eintheilung der
Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Weiſe in be-
grifflicher Faſſung feſtgeſtellt werden.
Der Begriff, welcher dieſe Abgrenzungen conſtruirt, gehört
als Rechtsbegriff nothwendig irgend einer einzelnen Rechtsord-
nung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein ſolcher
Begriff in einer beſtimmten Rechtsordnung hat, verglichen werden
mit der, welche in einer anderen einem entſprechenden Begriff
zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von
municipium, collegium, societas publicanorum in der römiſchen
Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden,
welche im deutſchen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Er-
werbsgenoſſenſchaft haben. Thatſachen, wie die Familie und der
Staat, können aber, wie uns die erkenntniß-theoretiſche Grund-
legung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Conſtruktion durch
den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches
ſich dieſe Aufgabe ſtellt, ſetzt einen Mechanismus zuſammen.
Immer wieder erneuert ſich in anderen Formen der fundamen-
tale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkennt-
niß aus, daß das Recht ein in einem Beſtandtheil der menſch-
lichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates
entſprungenes Syſtem ſei, nunmehr ſeinerſeits zur Conſtruktion
des Staates aus dem Recht fortſchritt: eine verhängnißvolle Ver-
kennung der anderen Seite des Thatbeſtandes, der gewaltigen Ur-
ſprünglichkeit des menſchlichen Verbandslebens. Das Verfahren
einer zuſammenſetzenden Conſtruktion iſt ſehr fruchtbar für die Ab-
leitung der Rechtsverhältniſſe innerhalb eines in ſeinen Elementen
beſtimmten Rechtsſyſtemes; aber es hat hier ſeine Grenze. Dieſe
große geſchichtliche Wirklichkeit kann nur als ſolche, kann nur in
ihrem hiſtoriſchen Zuſammenhang verſtanden werden, und deſſen
Grundgeſetz iſt: das Verbandsleben der Menſchheit hat ſich nicht
auf dem Wege der Zuſammenſetzung gebildet, ſondern es hat ſich
[92]Erſtes einleitendes Buch.
aus der Einheit des Familienverbands differenzirt und entfaltet.
All unſer Erkennen vermag nur, rückſchreitend von der Gliederung
dieſes Verbandslebens, wie wir es auf uns zugänglichen den pri-
mären Zuſtänden möglichſt nahen Stufen der äußeren geſellſchaft-
lichen Organiſation vorfinden, die Reſte zu interpretiren, welche
ein Licht auf den großen geſchichtlichen Vorgang werfen,
in welchem von der lebens- und machtvollen Einheit des
Familienverbandes aus die äußere Organiſation der
Geſellſchaft ſich differenzirt hat, und Verbandsleben, Ver-
bandsentwicklung bei den verſchiedenen Völkerfamilien und Völkern
einem vergleichenden Verfahren zu unterwerfen. Es iſt die
außerordentliche Bedeutung der germaniſchen Verbandsentwick-
lung für eine ſolche vergleichende Unterſuchung, daß auf eine
verhältnißmäßig ſehr frühe Stufe einer Verbandsentwicklung,
welche zu einer außerordentlich reichen Entfaltung genoſſenſchaft-
lichen Daſeins beſtimmt war, ein ausreichendes geſchichtliches Licht
fällt. 1) Auf dem Gebiet der äußeren Organiſation der Menſch-
heit iſt das umfaſſende Grundgeſetz des geſchichtlichen Lebens in
ſeiner Wirkſamkeit noch deutlich fühlbar, nach welchem, wie
ich zeigen werde, auch die Totalität des inneren Zwecklebens
ſich nur allmälig zu den einzelnen Kulturſyſtemen differenzirt
hat, und nach welchem dieſe Kulturſyſteme erſt allmälig zu ihrer
vollen Selbſtändigkeit und Einzelausbildung gelangt ſind.
Die Familie iſt der fruchtbare Schooß aller menſchlicher Ord-
nung, alles Verbandslebens: Opfergemeinſchaft, wirthſchaftliche Ein-
heit, Schutzverband, auf dem Grunde der naturmächtigen Bande von
Liebe und Pietät, enthält ſie das, was ihre bleibende Funktion iſt,
in noch nicht differenzirter Einheit mit Recht, Staat, religiöſem Ver-
band in einander gewachſen. Doch iſt auch dieſe concentrirteſte
Form von Willenseinheit unter Individuen, die in der Welt iſt,
nur relativ; die Individuen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt,
gehen nicht gänzlich in ſie ein; das Individuum iſt in ſeiner letzten
Tiefe für ſich ſelber. Wenn die Auffaſſung, welche die menſch-
[93]Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
liche Freiheit und That in das Naturleben des Organismus ver-
ſenkt, die Familie als „ſociale Gewebezelle“ 1) betrachtet: ſo wird
in einem ſolchen Begriff gleich im Beginn der Wiſſenſchaft von
der Geſellſchaft das freie Fürſichſein des Individuums ſchon im
Familienverbande eliminirt, und wer mit dem zellenhaften Leben
der Familie beginnt, kann nur mit der ſocialiſtiſchen Geſtaltung
der Geſellſchaft endigen.
Indem dann weiter Familien die Verbände der Geſchlechter-
ordnung bilden, dieſe in Verbände anderer Struktur, wie die von
Niederlaſſung ſind, eintreten, oder von einem weiteren Verbande
umfaßt werden, muß, gemäß der Grundfunktion des Staates,
Macht zu ſein, welche die Souveränität zu ſeinem ſpecifiſchen
Merkmal macht, die Staatsfunktion jedesmal in dem weiteſten
Verbande ihren Sitz haben; ſo ſondern ſich Familienverband und
Staatsverband von einander. Wo die Germanen in die Geſchichte
eintreten, finden wir dieſe Trennung lange vollzogen, den deut-
ſchen Hausverband für ſich geſtaltet, von der Zeit, in welcher die
Sippe einſt die Familien zu einem ſelbſtändigen Verbande ver-
knüpft haben mag, nur noch Reſte, und Volksgemeinden als ſelb-
ſtändige ſtaatliche Gemeinweſen. Die Stadien, welche hier von
keinem Beobachter wahrgenommen durchlaufen worden ſind, ehe
ein Cäſar oder Tacitus aufzeichneten, was in der nördlichen Wild-
niß geſchah, ſind nur theilweiſe zugänglich in den Berichten der
Reiſenden von dem Verbandsleben der Naturvölker. Aber während
die Reſte des älteſten germaniſchen Verbandslebens darauf deuten,
daß die patriarchaliſche Gewalt (mundium), die im Hausverbande
waltete, nicht conſtitutiv für den Geſchlechtsverband wurde, be-
gegnen wir nun hier bei vielen Stämmen einer aus der patriar-
chaliſchen Hausordnung erwachſenden Häuptlingsverfaſſung. So
iſt der Vorgang der Differenzirung, welcher die äußere geſellſchaft-
liche Organiſation bei den verſchiedenen Völkerfamilien und Völkern
hervorbringt, gleich in ſeinem Anſatz verſchieden. Dies zieht einem
vergleichenden Verfahren, welches ſich der Zuſtände von Natur-
[94]Erſtes einleitendes Buch.
völkern zur Aufhellung älterer Zuſtände der jetzigen europäiſchen
Nationen bedient, feſte Grenzen.
Es entfaltet ſich aber die äußere Organiſation der Geſellſchaft
in Familie, Geſchlechterordnung, örtlichem Verband, in jedem herr-
ſchaftlichen Verbande, in Kirche und anderem Religionsverband, in
den mannigfachen Modifikationen dieſer Formen mit einer natur-
mächtigen Urſprünglichkeit und Unermeßlichkeit, Biegſamkeit und
Anpaſſung, welcher gemäß jeder dieſer Verbände eine unbeſtimmte
und wechſelnde Mannigfaltigkeit von Zwecken in ſich hegt, dieſen
Zweckzuſammenhang fallen läßt und jenen aufnimmt, ja nur für
heute einen Zweck fallen läßt, um ihn dann morgen wieder auf-
zunehmen und ſubſidiär jedes Gemeinbedürfniß zu befriedigen die
Tendenz hat. So beſteht wohl im Verbandsleben der Menſch-
heit der am meiſten gleichmäßig durchgreifende Unterſchied zwiſchen
dieſen Verbänden und den anderen, welche durch einen beſtimmten
Akt bewußter Willensvereinigung, für einen mit Bewußtſein ge-
ſetzten und begrenzten Zweck conſtituirt worden ſind und welche
daher naturgemäß einem ſpäteren Stadium des Verbandslebens
bei einem jeden Volke angehören.
Ueberblickt man das Ganze der äußeren Organiſation, das ſo
die Menſchheit ſich geſchaffen hat, ſo iſt der Reichthum der Formen
unermeßlich. In allen dieſen Formen iſt es die Beziehung zwiſchen
Zweck, Funktion und Struktur, welche ihr Bildungsgeſetz und daher
die Ausgangspunkte für die Methode der Vergleichung darbietet.
Und in irgend einem geſchichtlichen Durchſchnitt findet das Studium
des Verbandslebens der Menſchheit beinahe jeden Grad von Umfang
des Zweckzuſammenhangs irgend einem Verbande zu Grunde
liegend, von der Lebensgemeinſchaft der Familie bis zu der gegen-
ſeitigen Verſicherungsgeſellſchaft gegen Hagelſchaden: ſie findet bei-
nahe jede Form von Struktur, von den Despotenſtaaten im Herzen
von Afrika bis zu der modernen Aktiengeſellſchaft, in welcher jeder
Theilnehmer ſeine Einzelperſönlichkeit voll behauptet und nur
vertragsmäßig einen genau begrenzten Theil ſeines Vermögens
dem gemeinſamen Zwecke widmet.
[95]Die Aufgabe der theoretiſchen Darſtellung.
Die Aufgabe der theoretiſchen Darſtellung der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft.
Die bisherige Erörterung hat die fundamentalen pſychiſchen
Thatſachen beſtimmt, welche dem ganzen Gewebe der äußeren Or-
ganiſation der Geſellſchaft überall gleichförmig, überall irgendwie
mit einander verbunden zu Grunde liegen. Sie hat das auf ſie
gebaute Verbandsleben der Menſchheit, unter Verwerfung einer
begrifflichen Abgrenzung und Eintheilung deſſelben, in einer ge-
ſchichtlichen Anſchauung umſchrieben. Von hier aus kann nun
wenigſtens das Problem ſichtbar gemacht werden, welches in dieſem
geſchichtlichen Ganzen für die Theorie liegt. Zwei Fragen ſind
für die Stellung und den Aufbau der einzelnen Wiſſenſchaften,
in welche dieſe Theorie der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
ſich zerlegt, beſonders wichtig. Die Eine von ihnen betrifft die
Stellung der äußeren Organiſation, insbeſondere des Staats zum
Recht; die andere das Verhältniß des Staats zur Geſellſchaft.
Indem zunächſt die Frage nach der Stellung des Rechts
zu der äußeren Organiſation der Geſellſchaft be-
handelt wird, gilt es den Ertrag der bisherigen Erörterungen
über das Recht 1) mit dem nunmehr entwickelten Begriff der
äußeren Organiſation der Geſellſchaft zu verbinden.
Nicht jeder Zweck, ſo ſahen wir 2), bringt einen Verband hervor;
viele unſerer Lebensäußerungen greifen in die anderer Perſonen
überhaupt nicht zu einem Zweckzuſammenhang ein; wo dann ein
ſolcher auftritt, kann er durch die bloße Coordination von Ein-
zelthätigkeiten, ohne die Unterſtützung eines Verbandes, in vielen
Fällen erreicht werden; es giebt aber Zwecke, welche beſſer von
einem Verbande erreicht oder welche nur von einem ſolchen erreicht
werden können. Hieraus ergiebt ſich das Verhältniß, welches zwiſchen
der Lebensthätigkeit der Individuen, den Syſtemen der Kultur
und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft beſteht. Die Einen
dieſer Lebensäußerungen ſtellen keinen dauernden Zuſammenhang
[96]Erſtes einleitendes Buch.
zwiſchen den pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten her; die Anderen
haben einen ſolchen Zweckzuſammenhang zur Folge und ſtellen
ſich dem entſprechend in einem Syſtem dar, und zwar wird die
Aufgabe, welche in ihnen wirkſam iſt, in einigen Fällen durch
eine bloße Coordination der Perſonen im Zweckzuſammenhang
vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Auf-
gabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen iſt.
In den Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des geſellſchaft-
lichen Zuſammenlebens ſind Syſteme und äußere Organiſation ſo
ineinandergewachſen, daß nur die Verſchiedenheit der Betrachtungs-
weiſe ſie ſondert. Die am meiſten vitalen Intereſſen des Menſchen
ſind die Unterwerfung der zur Befriedigung ſeiner Bedürfniſſe
dienenden Mittel oder Güter unter ſeinen Willen und ihre Um-
änderung gemäß dieſen Bedürfniſſen, zugleich aber die Sicherung
ſeiner Perſon und des ſo entſtandenen Eigenthums. Hier iſt
die Beziehung zwiſchen dem Recht und dem Staat angelegt
Den Unbilden der Natur mag der Körper des Menſchen lange
widerſtehen: aber ſein Leben und was er bedarf, um zu leben, iſt
ſtündlich von ſeines Gleichen bedroht. Daher war die Betrachtung
der Verknüpfung pſychiſcher Elemente in mehreren Perſonen unter
einem Zweckzuſammenhang zu einem Syſtem eine Abſtraktion.
Die regelloſe Gewalt der Leidenſchaften geſtattet den Menſchen
nicht, ſich in die Ordnung eines ſolchen Zweckzuſammenhangs in
klarer Selbſtbeſchränkung einzufügen: eine ſtarke Hand hält jeden
in ſeinen Grenzen: der Verband, der dieſe Aufgabe vollbringt,
der alſo jeder Macht auf dem Gebiet, über das ſeine ſtarke Hand
ſich erſtreckt, überlegen ſein und daher mit dem Attribut der Sou-
veränität ausgeſtattet ſein muß, iſt Staat, gleichviel ob er noch
in Familieneinheit oder Geſchlechterverein oder Gemeinde beſchloſſen
iſt, oder ob ſeine Funktionen ſich ſchon von denen dieſer Verbände
geſondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch ſeine Willens-
einheit eine Aufgabe, die ſonſt weniger gut durch Coordination
von Einzelthätigkeiten beſorgt würde: er iſt die Bedingung jeder
ſolchen Coordination. Dieſe Funktion des Schutzes wendet ſich
nach außen in der Vertheidigung der Unterthanen; nach innen in
[97]Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.
der Aufſtellung und zwangsweiſen Aufrechterhaltung von Regeln
des Rechts.
Sonach iſt das Recht eine Funktion der äußeren Or-
ganiſation der Geſellſchaft. Es hat in den Geſammtwillen
innerhalb dieſer Organiſation ſeinen Sitz. Es mißt die Macht-
ſphären der Individuen im Zuſammenhang mit der Aufgabe ab,
welche ſie innerhalb dieſer äußeren Organiſation gemäß ihrer
Stellung in ihr haben. Es iſt die Bedingung alles folgerichtigen
Thuns der Einzelnen in den Syſtemen der Kultur 1).
Dennoch hat das Recht eine andere Seite, durch welche es
den Syſtemen der Kultur verwandt iſt2). Es iſt ein Zweckzu-
ſammenhang. Einen ſolchen bringt jeder Wille hervor, ſonach auch
der Staatswille, in jeder ſeiner Aeußerungen, mag er Wege bauen,
Heere organiſiren oder Recht ſchaffen. Auch iſt dieſer Staatswille
auf die Mitwirkung der ihm Unterworfenen in jeder ſeiner
Aeußerungen ſo gut als im Recht angewieſen. Aber der Zweck-
zuſammenhang des Rechts hat beſondere Eigenſchaften, die aus dem
Verhältniß des Rechtsbewußtſeins zur Rechtsordnung fließen.
Der Staat ſchafft nicht durch ſeinen nackten Willen dieſen
Zuſammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsord-
nungen gleichförmig wiederkehrt, noch den concreten Zuſammen-
hang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in
dieſer Rückſicht nicht gemacht, ſondern gefunden. So paradox
es lautet: Dies iſt der tiefe Gedanke des Naturrechts.
Der älteſte Glaube, welchem gemäß die Rechtsordnung des ein-
zelnen Staats von Göttern ſtammte, ſetzte ſich in dem Fortgang
des griechiſchen Denkens in den Satz um, daß ein göttliches Welt-
geſetz der hervorbringende Grund aller Staats- und Rechtsord-
nung ſei 3). Dies war die älteſte Form der Annahme eines
Dilthey, Einleitung. 7
[98]Erſtes einleitendes Buch.
natürlichen Rechtes in Europa. Sie faßte daſſelbe noch als die
Grundlage jeder einzelnen poſitiven Geſetzgebung auf. Als die
erſten Theoretiker, welche die Geſetzgebung der Natur zu den po-
ſitiven Geſetzen des einzelnen Staats in Gegenſatz ſtellten, und ſo
das Naturrecht verſelbſtändigten, treten in den Trümmern des
älteren griechiſchen Naturrechts Archelaos und Hippias hervor;
es war die geſchichtliche Bedeutung des letzteren, daß er, offenbar
im Zuſammenhang mit ſeinen archäologiſchen Studien, die un-
geſchriebenen Geſetze, welche ſich gleichmäßig bei den verſchiedenſten,
durch ihre Sprachen getrennten Völkern finden und die daher
nicht durch Reception von Einem zum Anderen gebracht ſein können,
als Naturrecht von dem poſitiven Rechte ſchied und dem letzteren
die Verbindlichkeit abſprach1). Ein bedeutſames Denkmal dieſes
Stadiums des Naturrechts bilden die Tragödien des Sophokles,
welche dieſen Gegenſatz der ungeſchriebenen Normen des Rechtes
und der poſitiven Geſetzgebung zweifellos aus den Debatten jener
Zeit aufnahmen, ihm aber einen claſſiſchen Ausdruck gaben.
Bildete ſo das Naturrecht den Gedanken eines Zweckzuſammen-
hanges im Rechte aus, welchem gemäß daſſelbe ein Syſtem iſt
— mochte es nun dieſen als einen göttlichen oder einen natür-
lichen Zuſammenhang faſſen —, ſo unterſchied es von ihm natur-
gemäß das, was der Wille des Verbandes hinzugefügt hat. So
ſtellen die mittelalterlichen Naturrechtslehrer dem natürlichen
Syſtem das aus der Gewalt des Verbands entſprungene poſitive
Recht gegenüber2).
[99]Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.
Auf dem Thatbeſtand, den das Naturrecht ſo auszudrücken
verſuchte, beruht die Eine Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts-
und Staatswiſſenſchaften: die relative Selbſtändigkeit der erſteren.
Das Recht iſt Selbſtzweck. Das Rechtsbewußtſein wirkt im Vor-
gang der Entſtehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung
mit den organiſirten Geſammtwillen zuſammen. Denn es iſt
Willensinhalt, deſſen Macht in die Tiefe der Perſönlichkeit und
des religiöſen Erlebniſſes zurückreicht.
Die Conception des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft,
daß dieſer Zweckzuſammenhang im Recht losgelöſt von ſeinen Be-
ziehungen, insbeſondere denen zum Wirthſchaftsleben ſowie zur
äußeren Organiſation der Geſellſchaft, betrachtet und in eine Region
jenſeit der geſchichtlichen Entwicklung verſetzt wurde. So nahmen
Abſtraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der
Geſtaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich.
Der Kern dieſer abſtrakten Theorien kann nur durch die Me-
thode, welche allen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gemeinſam iſt,
nämlich Verbindung geſchichtlicher mit pſychologiſcher Analyſis, eine
wiſſenſchaftliche Bearbeitung empfangen. An dieſem Punkte iſt ein
weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in
die Stellung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zu ihrer Grund-
legung zurückführen. Dies Problem, welches ſich das Natur-
recht ſtellte, iſt nur lösbar im Zuſammenhang der
poſitiven Wiſſenſchaften des Rechts. Dieſe ihrerſeits
können ein klares Bewußtſein der Stellung der Abſtraktionen, durch
welche ſie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittelſt einer grund-
legenden erkenntniß-theoretiſchen Wiſſenſchaft, vermittelſt der Feſt-
ſtellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren ſie ſich bedienen,
zu den pſychologiſchen und pſychophyſiſchen erhalten. Hieraus
folgt, daß es eine beſondere Philoſophie des Rechts nicht giebt,
2)
7*
[100]Erſtes einleitendes Buch.
daß vielmehr ihre Aufgabe dem philoſophiſch begründeten Zuſammen-
hang der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes wird anheimfallen
müſſen. Dies ſchließt nicht aus, daß Arbeitstheilung und Schul-
betrieb es nützlich erſcheinen laſſen, daß die Aufgabe der allge-
meinen Rechtswiſſenſchaft auch in der Form des Naturrechts immer
wieder einmal gelöſt werde; aber es beſtimmt den methodiſchen
Zuſammenhang, in dem ſchlechterdings die Löſung einer ſolchen
Aufgabe ſtehen muß.
Und wie könnte nun dieſe allgemeine Rechtswiſſenſchaft das
Recht anders als in ſeinem lebendigen Zuſammenhang mit den Ge-
ſammtwillen innerhalb der Organiſation der Geſellſchaft erkennen?
Die Tragweite der Thatſachen der Rechtsüberzeugungen und der
mit ihnen verbundenen elementaren pſychiſchen Regungen, des Ge-
wohnheitsrechtes, des Völkerrechts kann nur ſo weit reichen, die
Exiſtenz eines Beſtandtheils in der menſchlichen Natur zu erweiſen,
auf welchem der Charakter des Rechts als eines Selbſtzweckes
beruht. Dieſe Beweisführung wird eine wichtige Ergänzung
durch die hiſtoriſche Erörterung der Beziehungen von Rechtsbegriffen
und Rechtsinſtituten zu religiöſen Ideen erhalten, welche wir an
den auffaßbaren Anfängen unſerer Kultur gewahren. Aber — das
iſt die andere Seite dieſes Verhältniſſes von Recht und Staat —
keine Argumentation kann die Tragweite haben, die Exiſtenz eines
von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft unabhängigen that-
ſächlichen Rechtes zu erweiſen. Die Rechtsordnung iſt die Ordnung
der Zwecke der Geſellſchaft, welche von der äußeren Organiſation
derſelben durch Zwang aufrecht erhalten wird. Und zwar (S. 96.
97) bildet der Zwang des Staats (das Wort in dem (S. 96) ent-
wickelten allgemeinen Verſtande genommen) den entſcheidenden Rück-
halt der Rechtsordnung; aber äußere Bindung der Willen ſahen
wir durch die ganze organiſirte Geſellſchaft verbreitet (S. 84 ff.),
und ſo erklärt ſich, daß in dieſer auch andere Geſammtwillen neben
dem Staat Recht bilden und aufrecht erhalten. Jeder Rechtsbegriff
enthält alſo das Moment der äußeren Organiſation der Geſell-
ſchaft in ſich. Andrerſeits kann jeder Verband nur in Rechts-
begriffen conſtruirt werden. Dies iſt eben ſo wahr, als daß
[101]Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.
das Verbandsleben der Menſchheit nicht aus dem Bedürfniß der
Rechtsordnung erwachſen iſt und daß der Staatswille nicht erſt
mit ſeinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtſein geſchaffen hat.
So wird die andre Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts-
und Staatswiſſenſchaften ſichtbar: jeder Begriff in jenen kann
nur vermittelſt der Begriffe in dieſen entwickelt werden und um-
gekehrt.
Die Unterſuchung der beiden Seiten des Rechts in der all-
gemeinen Rechtswiſſenſchaft führt zu einem noch allgemeineren
Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweck-
zuſammenhang, welchen das Recht enthält, hat ſich vermittelſt
der einzelnen Geſammtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker,
ſonach geſchichtlich entwickelt. Der Gegenſatz des 18. Jahrhunderts,
welches die geſchichtlich geſellſchaftliche Wirklichkeit in einen Inbegriff
von natürlichen Syſtemen auflöſte, die den Einwirkungen des ge-
ſchichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der hiſtoriſchen Schule
des 19. Jahrhunderts, welche ſich dieſer Abſtraktion entgegenſetzte,
aber, trotz ihres höheren Standpunktes, in Folge des Mangels
einer wahrhaft empiriſchen Philoſophie eine in Begriffen und
Sätzen klare und ſo verwerthbare Erkenntniß der geſchichtlich-ge-
ſellſchaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grund-
legung der Geiſteswiſſenſchaften aufgehoben werden, welche den
Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegen-
über dem Empirismus durchführt. Von einer ſolchen Grund-
legung aus können die Probleme, die am Recht hervortraten, ſich
einer Auflöſung nähern: Fragen, die mit der Menſchheit ſelber
herangewachſen ſind, welche ſchon im 5. Jahrhundert vor Chriſto
die Geiſter beſchäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz
in verſchiedene Heerlager theilen, andere Fragen, welche heute zwiſchen
dem Geiſte des 18. und dem des 19. Jahrhunderts ſchweben.
Jenſeit dieſer Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des
geſellſchaftlichen Zuſammenlebens treten dann Syſteme und
Verbände deutlicher auseinander. Die Religion,
als ein Syſtem des Glaubens, iſt in ſolchem Grade von dem
Verbande ablösbar, in welchem ſie wohnt, daß ein hervorragen-
[102]Erſtes einleitendes Buch.
der und gläubiger Theologe der letzten Generation die Ange-
meſſenheit von kirchlichen Verbänden an unſer gegenwärtiges
chriſtliches Leben in Abrede ſtellen konnte. In Wiſſen-
ſchaft und Kunſt erreicht aber die Coordination von ſelb-
ſtändigen Einzelthätigkeiten einen ſolchen Grad von Ausbildung,
daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche ſich zur Ver-
wirklichung der künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Zwecke gebildet
haben, ganz zurücktritt; dem entſprechend entwickeln die Wiſſen-
ſchaften, welche dieſe Syſteme zum Gegenſtand haben, Aeſthetik und
Wiſſenſchaftslehre, ihr Objekt, ohne je ſolcher Verbände zu gedenken.
Solchergeſtalt hat eine ihrer ſelbſt unbewußte Kunſt der Ab-
ſtraktion mit zunehmender Klarheit dieſe beiden Claſſen von Wiſſen-
ſchaften von einander geſondert. Dies that ſie, obwohl naturgemäß
die Vorbildung des Einzelnen, ſeine Thätigkeit an den Verbänden
das Studium des Syſtems mit dem des Verbandes verknüpfte.
Aus dieſen Darlegungen über das Verhältniß des Verbands
zum Syſtem entſpringt ſchließlich eine methodiſch wichtige Folgerung
in Bezug auf die Natur der Wiſſenſchaften, welche die
äußere Organiſation der Menſchheit zu ihrem Objekt haben.
Die Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
haben ſo wenig als die von den Syſtemen der Kultur die concrete
Wirklichkeit ſelber zu ihrem Gegenſtande. Alle Theorie erfaßt
nur Theilinhalte der complexen Wirklichkeit; die Theorien des ge-
ſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſcheiden die unermeßlich verwickelte
Thatſächlichkeit, der ſie ſich nähern, um in ſie einzudringen. So
hebt die Wiſſenſchaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den
Verband als Gegenſtand heraus. Eine Gruppe von Individuen,
die in einem Verbande verknüpft iſt, geht niemals in dieſem gänz-
lich auf. In dem modernen Leben iſt in der Regel ein Menſch
Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach unter-
geordnet ſind. Aber auch wenn ein Menſch nur Einem Verbande
angehörte: ſein ganzes Weſen geht doch in denſelben nicht ein.
Denkt man ſich den älteſten Familienverband, ſo hat man den ele-
mentaren ſocialen Körper vor ſich, die concentrirteſte Form von
Willenseinheit, die unter Menſchen denkbar iſt. Und doch iſt
[103]Staat nicht ein Ausſchnitt der Wirklichkeit, ſondern ein Theilinhalt.
auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Indivi-
duen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt, gehen nicht gänzlich in ſie
als in ihre Einheit auf. Das, was die Anſchauung als Land,
Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt, und ſo als eine
volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutſchland oder Frankreich
vorſtellt, iſt nicht der Staat, iſt nicht der Gegenſtand der Staats-
wiſſenſchaften. So tief auch die ſtarke Hand des Staats in die
Lebenseinheit des Individuums, dieſes an ſich reißend, greift: der
Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur theilweiſe,
nur relativ: Etwas in ihnen iſt, das nur in der Hand Gottes
iſt. So vieles auch die Staatswiſſenſchaften von den Bedingungen
dieſer Willenseinheit einbegreifen: direkt haben ſie es nur mit einer
in der Abſtraktion allein darſtellbaren Theilthatſache zu thun, und
von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden
Menſchen bilden, laſſen ſie einen Rückſtand von ſehr großer Er-
heblichkeit zurück. Die Staatsgewalt ſelber umfaßt nur ein be-
ſtimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der geſammten
Volkskraft, das freilich größer ſein muß als irgend eine andere
Kraft auf ſeinem Territorium, welches aber das ihm nothwendige
Machtübergewicht nur durch ſeine Organiſation und durch die
Mitwirkung von pſychologiſchen Motiven empfängt1).
Innerhalb der äußeren Organiſation iſt neuerdings vom
Staat die Geſellſchaft (das Wort in einem engeren Ver-
ſtande gefaßt) unterſchieden worden.
[104]Erſtes einleitendes Buch.
Das Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft hat,
ſeitdem es in Europa auftrat, ſeinen Mittelpunkt in der Staats-
wiſſenſchaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechiſchen
Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche
das Fundament dieſer Wiſſenſchaft gelegt haben. Wohl beſtanden
damals noch die Phylen und Phratrien einerſeits, die Demen
andrerſeits, als die Reſte der alten Geſchlechter- und Gemeinde-
ordnungen, beſaßen Rechtsperſönlichkeit und Vermögen, neben ihnen
beſtanden auch freie Genoſſenſchaften. Aber im poſitiven Rechte
Athens ſcheint1) zwiſchen dem Beſchluß einer Corporation und der
Abrede für eine gemeinſame Handelsunternehmung kein Unterſchied
beſtanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von κοινωνία
wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterſcheidung
wie die römiſche zwiſchen universitas und societas hatte ſich nicht
herausgebildet. Ariſtoteles formulirt daher nur das Ergebniß
der griechiſchen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff
der κοινωνία in ſeiner Politik ausgeht, das genetiſche Verhält-
niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband
(κώμη), von dieſem zum Stadtſtaat (πόλις) führt, alsdann aber
den Dorfverband, als ein Stadium von nur geſchichtlichem In-
tereſſe in ſeiner politiſchen Theorie ſelber verſchwinden läßt und
den freien Genoſſenſchaften keine Stelle in ſeinem Staate zutheilt.
War doch im griechiſchen Leben in der Herrſchaftsordnung des
Stadtſtaates alles Verbandsleben untergegangen. — Es entwickelten
ſich dann weitere Beſtandtheile einer Theorie der äußeren Organi-
ſation der Geſellſchaft in der Rechtswiſſenſchaft, in der kirchlichen
Wiſſenſchaft: am hellen Tage der Geſchichte ſehen wir den größten
Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholiſche Kirche,
heranwachſen und in theoretiſchen Formeln ſeine Natur ausſprechen,
aus ihr heraus ſeine Rechtsordnung ſich ſchaffen.
Die europäiſche Geſellſchaft zeigte nach der franzöſiſchen Re-
volution ein ganz neues Phänomen, als ſozuſagen die Hemmungs-
apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organiſation zwiſchen
den ſtarken Leidenſchaften der arbeitenden Claſſen und der die
[105]Die Geſellſchaftswiſſenſchaft.
Eigenthums- und Rechtsordnung aufrecht erhaltenden Staatsmacht
beſtanden hatten, nunmehr größtentheils weggefallen waren, und
das rapide Wachsthum der Induſtrie und der Verkehrsverbindungen
eine täglich anwachſende Maſſe von Arbeitern, durch Intereſſenge-
meinſchaft über die Grenzen der Einzelſtaaten hinaus verbunden,
durch den Fortſchritt der Aufklärung ihrer Intereſſen immer deut-
licher bewußt, der Staatsmacht gegenüberſtellte. Aus der Auffaſſung
dieſer neuen Thatſache entſprang der Verſuch einer neuen Theorie,
der Geſellſchaftswiſſenſchaft. In Frankreich bedeutete
Sociologie die Ausführung der gigantiſchen Traumidee, aus der
Verknüpfung aller von der Wiſſenſchaft gefundenen Wahrheiten die
Erkenntniß der wahren Natur der Geſellſchaft abzuleiten, auf
Grund dieſer Erkenntniß eine neue den herrſchenden Thatſachen
der Wiſſenſchaft und Induſtrie entſprechende äußere Organiſation
der Geſellſchaft zu entwerfen, ſowie vermittelſt dieſer Erkenntniß
die neue Geſellſchaft zu leiten. In dieſem Verſtande hat während
der gewaltthätigen Kriſen in der Wende des Jahrhunderts der
Graf Saint-Simon den Begriff der Sociologie entwickelt. Sein
Schüler Comte hat die angeſtrengte Arbeit eines ganzen Lebens
mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem ſyſtematiſchen Aufbau dieſer
Wiſſenſchaft gewidmet.
In der Rückwirkung auf dieſe Arbeiten, unter dem Einfluß
derſelben Lage der Geſellſchaft entſtand in Deutſchland der Begriff
und Verſuch einer Geſellſchaftslehre1). In geſundem, wiſſenſchaft-
lich poſitivem Sinn, unternahm ſie nicht, die Staatswiſſenſchaften
durch ein Ganzes von ungeheuren Dimenſionen zu erſetzen: ſie
wollte ſie ergänzen. Das Unzureichende des abſtrakten Staatsbe-
griffs war, ſeit den erſten Blicken von Schlözer, durch die hiſtoriſche
Schule immer deutlicher zum Bewußtſein gekommen, dieſe hatte
die Thatſache des Volkes durch ihre Arbeiten in einer ganz neuen
[106]Erſtes einleitendes Buch.
Tiefe geſehen. Hegel, Herbart, Krauſe wirkten in derſelben
Richtung. Es kann nicht beſtritten werden, daß man, von
dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortſchreitend,
zwiſchen beiden ein weites Reich von Thatſachen antrifft, welche
dauernde Beziehungen dieſer Individuen aufeinander und die Welt
der Güter enthalten. Der Staatsmacht ſtehen die Individuen nicht
als iſolirte Atome gegenüber, ſondern als ein Zuſammenhang.
Im Sinne unſerer bisherigen Darlegungen wird man weiter an-
erkennen müſſen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familien-
gliederung und der Niederlaſſung, im Ineinandergreifen der Thätig-
keiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine
Organiſation entſteht, welche der Staat von Anfang an trägt und
ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie ſie iſt, in den Zuſammen-
hang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk
und Geſellſchaft haben zu dieſer Thatſache eine augenſcheinliche
Beziehung.
Die Frage nach der Exiſtenzberechtigung einer beſonderen
Geſellſchaftswiſſenſchaft iſt nicht die über die Exiſtenz dieſer That-
ſache, ſondern über die Zweckmäßigkeit, ſie zum Gegenſtand einer
beſonderen Wiſſenſchaft zu machen. — Im Ganzen gleicht die Frage,
ob irgend ein Theilinhalt der Wirklichkeit geeignet ſei, von ihm
aus bewieſene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob
ein Meſſer das vor mir liegt ſcharf ſei. Man muß ſchneiden.
Eine neue Wiſſenſchaft wird conſtituirt durch die Entdeckung wich-
tiger Wahrheiten, aber nicht durch die Abſteckung eines noch nicht
occupirten Terrains in der weiten Welt von Thatſachen. Das
muß gegen den Entwurf Robert von Mohl’s Bedenken erregen.
Dieſer geht davon aus, daß zwiſchen Einzelperſon, Familie,
Stamm und Gemeinde1) einerſeits, dem Staat andrerſeits, gleich-
förmige Beziehungen und in Folge deſſen bleibende Geſtaltungen
einzelner Beſtandtheile der Bevölkerung ſich befinden: ſolche werden
[107]Die Geſellſchaftswiſſenſchaft.
durch die Gemeinſchaft der Abſtammung von bevorzugten Familien,
die Gemeinſchaft der perſönlichen Bedeutung, der Verhältniſſe des
Beſitzes und Erwerbs ſowie der Religion gebildet. Ob auf Grund
dieſer Abgrenzung eines Thatbeſtandes eine „allgemeine Geſell-
ſchaftslehre d. h. Begründung des Begriffs und der allgemeinen
Geſetze“ 1) der Geſellſchaft nothwendig ſei, würde nur durch die
Auffindung dieſer Geſetze bewieſen werden können. Jede andere
Art von Erörterung ſcheint kein Ergebniß zu verſprechen. — In
vieljähriger Arbeit hat Lorenz von Stein verſucht, einen ſolchen
Zuſammenhang von Wahrheiten zu entwickeln; was er anſtrebt iſt
eine wirkliche erklärende Theorie, welche zwiſchen die Güterlehre2),
in der letzten Faſſung: zwiſchen die Erkenntniß der wirthſchaft-
lichen Thätigkeit, der Arbeit des Gottesbewußtſeins und der Arbeit
des Wiſſens3) einerſeits und die Staatswiſſenſchaft andrerſeits
treten ſoll. Uebertragen wir das in den hier entwickelten Zu-
ſammenhang, ſo wäre dieſe Wiſſenſchaft das Bindeglied zwiſchen
den Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur und der Staats-
wiſſenſchaft. Die Geſellſchaft iſt ihm, dem entſprechend, eine
dauernde und allgemeine Seite in allen Zuſtänden der menſchlichen
Gemeinſchaft, ein weſentliches und machtvolles Element der ganzen
Weltgeſchichte4). Erſt wenn wir an einer ſpäteren Stelle ſeine
tiefgedachte Theorie einer logiſchen Prüfung unterwerfen, kann die
Frage entſchieden werden, ob die von ihm entwickelten Wahrheiten
zur Abſonderung einer Geſellſchaftslehre berechtigen.
Auch an dieſem Punkte tritt die Nothwendigkeit einer erkennt-
nißtheoretiſchen und logiſchen Grundlegung hervor, welche das
Verhältniß der abſtrahirten Begriffe zu der geſellſchaftlich-geſchicht-
lichen Wirklichkeit, deren Theilinhalte ſie ſind, aufklärt. Denn bei
den Staatsgelehrten macht ſich die Neigung bemerkbar, die Ge-
ſellſchaft als eine für ſich beſtehende Wirklichkeit zu betrachten.
Will doch Mohl die Geſellſchaft geradezu als „ein wirkliches Leben,
[108]Erſtes einleitendes Buch.
einen außer dem Staate ſtehenden Organismus“ 1) verſtanden
wiſſen, als ob irgend einer ihrer Lebenskreiſe außerhalb der
Alles erhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat ge-
ſchaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm
ſelber zu ihren Merkmalen gehört. Stein conſtruirt geſellſchaftliche
Ordnungen und Verbände und läßt dann über ſie im Staat ſich
die Einheit in abſoluter Selbſtbeſtimmung zur höchſten Form all-
gemeiner Perſönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Geſellſchaft
und Staat einander als Mächte gegenübertreten, ſo kann der Em-
piriker dem doch nur die Unterſcheidung der zu einer gegebenen
Zeit beſtehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrſchaftsſphäre
befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, ſondern in einem
eigenen Syſtem von Beziehungen ſtehenden freien Kräfte unter-
legen. In einer theoretiſchen Betrachtung über die Kräfteverhält-
niſſe im politiſchen Leben kann man ſo gut als das Kräfteverhält-
niß zwiſchen Staatseinheiten auch das zwiſchen der Staatsmacht
und den freien Kräften in’s Auge faſſen. Aber Geſellſchaft in
dieſem Verſtande faßt auch Reſte älterer ſtaatlicher Ordnungen in
ſich ſie ſetzt ſich nicht wie die Geſellſchaft Steins aus Beziehungen
von einer beſtimmten Provenienz zuſammen.
XIV.
Philoſophie der Geſchichte und Sociologie ſind keine
wirklichen Wiſſenſchaften.
Wir ſtehen an der Grenze der bisher zur Ausbildung ge-
langten Einzelwiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit. Dieſe haben zunächſt Bau und Funktionen der wichtigſten
dauernden Thatbeſtände in der Welt der pſychophyſiſchen Wechſel-
wirkungen zwiſchen Individuen innerhalb des Naturganzen erforſcht.
Es bedarf anhaltender Uebung, um dieſe übereinander ſich lagernden,
einander ſich ſchneidenden engeren Zuſammenhänge von Wechſel-
[109]Philoſophie der Geſchichte und Sociologie keine Wiſſenſchaften.
wirkung, die ſich in ihren Trägern, den Individuen, kreuzen,
gleichzeitig als Theilinhalte der Wirklichkeit, nicht als Abſtraktionen,
vorzuſtellen. Verſchiedene Perſonen ſind in jedem von uns, das
Familienglied, der Bürger, der Berufsgenoſſe; wir finden uns im
Zuſammenhang ſittlicher Verpflichtungen, in einer Rechtsordnung,
in einem Zweckzuſammenhang des Lebens, der auf Befriedigung
gerichtet iſt: nur in der Selbſtbeſinnung finden wir die Lebens-
einheit und ihre Continuität in uns, welche alle dieſe Beziehungen
trägt und hält. So hat auch die menſchliche Geſellſchaft ihr Leben
in der Hervorbringung und Geſtaltung, Beſonderung und Ver-
knüpfung dieſer dauernden Thatbeſtände, ohne daß ſie oder eines
der ſie mittragenden Individuen darum ein Bewußtſein von dem
Zuſammenhang derſelben beſäße. Welch ein Vorgang von Diffe-
renzirung, in welchem das römiſche Recht die Privatrechtsſphäre
abſonderte, die mittelalterliche Kirche der religiöſen Sphäre zu
voller Selbſtändigkeit verhalf! Von den Veranſtaltungen ab,
welche der Herrſchaft des Menſchen über die Natur dienen, bis zu
den höchſten Gebilden der Religion und Kunſt arbeitet ſo der
Geiſt beſtändig an Scheidung, Geſtaltung dieſer Syſteme, an der
Entwicklung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Ein
Bild, nicht weniger erhaben als jedes, das Naturforſchen von
Entſtehung und Bau des Kosmos entwerfen kann: während die
Individuen kommen und gehen, iſt doch jedes von ihnen Träger
und Mitbildner an dieſem ungeheuren Bau der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit.
Löſt nun aber die Einzelwiſſenſchaft dieſe dauernden Zuſtände
aus dem raſtloſen, wirbelnden Spiel von Veränderungen los,
welches die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt erfüllt: ſo haben ſie
doch Entſtehung und Nahrung nur in dem gemeinſchaftlichen
Boden dieſer Wirklichkeit; ihr Leben verläuft in den Beziehungen
zu dem Ganzen, aus welchem ſie abſtrahirt ſind, zu den Indivi-
duen, welche ihre Träger und Bildner ſind, zu den anderen dauern-
den Geſtaltungen, welche die Geſellſchaft umfaßt. Das Problem
des Verhältniſſes der Leiſtungen dieſer Syſteme zu einander im
Haushalt der geſellſchaftlichen Wirklichkeit tritt hervor. Dieſe Wirk-
[110]Erſtes einleitendes Buch.
lichkeit ſelber, als ein lebendiges Ganze, möchten wir erkennen. Und
ſo werden wir unaufhaltſam dem allgemeinſten und letzten Problem
der Geiſteswiſſenſchaften entgegengetrieben: giebt es eine Erkennt-
niß dieſes Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit?
Die wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Thatſachen, welche irgend
eine der Einzelwiſſenſchaften vollbringt, führt den Gelehrten in
der That in mehrere Zuſammenhänge, deren Enden von ihm
ſelber weder aufgefunden noch verknüpft werden zu können ſcheinen.
Ich verdeutliche dies an dem Beiſpiel des Studiums poetiſcher
Werke. — Die mannichfaltige Welt der Dichtungen, in der Auf-
einanderfolge ihrer Erſcheinungen, kann zunächſt nur in und aus
der umfaſſenden Wirklichkeit des Kulturzuſammenhangs verſtanden
werden. Denn Fabel, Motiv, Charaktere eines großen dichteriſchen
Werkes ſind durch das Lebensideal, die Weltanſicht, ſowie die ge-
ſellſchaftliche Wirklichkeit der Zeit bedingt, in der es entſtand, rück-
wärts durch die weltgeſchichtliche Uebertragung und Entwicklung
dichteriſcher Stoffe, Motive und Charaktere. — Andrerſeits führt die
Analyſe eines dichteriſchen Werkes und ſeiner Wirkungen zurück
auf die allgemeinen Geſetze, welche dieſem Theil des in der Kunſt
vorliegenden Syſtems der Kultur zu Grunde liegen. Denn die
wichtigſten Begriffe, durch welche ein dichteriſches Werk erkannt
wird, die Geſetze, welche in ſeiner Geſtaltung wirken, ſind in
der Phantaſie des Dichters und ihrer Stellung zur Welt der
Erfahrungen begründet und können nur durch ihre Zergliederung
gewonnen werden. Die Phantaſie aber, welche uns als ein
Wunder, als ein vom Alltagsleben der Menſchen ganz verſchie-
denes Phänomen zunächſt gegenübertritt, iſt für die Analyſis nur
die mächtigere Organiſation beſtimmter Menſchen, welche in der
ausnahmsweiſen Stärke beſtimmter Vorgänge gegründet iſt. So-
nach baut ſich das geiſtige Leben ſeinen allgemeinen Geſetzen ge-
mäß in dieſen mächtigen Organiſationen zu einem Ganzen von
Form und Leiſtung auf, welches von der Natur der Durchſchnitts-
menſchen ganz abweicht und doch nur in denſelben Geſetzen ge-
gründet iſt. Wir werden alſo in die Anthropologie zurückgeführt.
Die Correlatthatſache der Phantaſie bildet die äſthetiſche Empfäng-
[111]Dreifache Verbind. j. Unterſ. m. d. Ganzen d. geſch.-geſ. Wirklichkeit.
lichkeit. Sie verhalten ſich zu einander wie das ſittliche Urtheil
zu den Beweggründen des Handelns. Auch dieſe Thatſache, welche
die Wirkung von Dichtungen, die auf die Berechnung dieſer Wir-
kungen gegründete Technik, die Uebertragung äſthetiſcher Stimmungen
auf ein Zeitalter erklärt, iſt eine Folgethatſache der allgemeinen
Geſetze des geiſtigen Lebens. — Sonach iſt das Studium der Ge-
ſchichte dichteriſcher Werke und der nationalen Literaturen an zwei
Punkten von dem des geiſtigen Lebens überhaupt bedingt. Ein-
mal fanden wir es nämlich abhängig von der Erkenntniß des
Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Der concrete
urſächliche Zuſammenhang iſt hineinverwebt in den der menſchlichen
Kultur überhaupt. Wir fanden aber zweitens: die Natur geiſtiger
Thätigkeit, welche dieſe Schöpfungen hervorgebracht hat, wirkt nach
den Geſetzen, welche das geiſtige Leben überhaupt beherrſchen.
Daher muß eine wahre Poetik, welche Grundlage für das Studium
der ſchönen Literatur und ihrer Geſchichte ſein ſoll, ihre Begriffe
und Sätze aus der Verknüpfung geſchichtlicher Forſchung mit
dieſem allgemeinen Studium der menſchlichen Natur gewinnen. —
Unverächtlich iſt endlich die alte Aufgabe einer ſolchen Poetik,
Regeln für die Hervorbringung und die Beurtheilung von dich-
teriſchen Werken zu entwerfen. Die zwei claſſiſchen Arbeiten
Leſſings haben gezeigt, wie klare Regeln aus den Bedingungen,
unter die unſere äſthetiſche Empfänglichkeit vermöge der allgemeinen
Natur einer beſtimmten künſtleriſchen Aufgabe tritt, abgeleitet
werden können. Den Hintergrund einer allgemeinen Methode von
Abſchätzung deſſen, was den Eindruck dichteriſcher Werke beſtimmt,
hat freilich Leſſing abſichtlich, nach der ihm eigenen Strategie der
Theilung von Fragen und Ausſonderung der zur Zeit ihm auf-
lösbaren Einzelprobleme, in ſeinem Dunkel gelaſſen; aber es iſt klar,
daß die Behandlung dieſes ſolchergeſtalt allgemein gefaßten Problems
vermittelſt der Analyſe der äſthetiſchen Wirkungen auf die allge-
meinſten Eigenſchaften der menſchlichen Natur zurückgeführt haben
würde. Wir können alſo das äſthetiſche Urtheil nicht auslöſen
aus der Auffaſſung dieſes Theils der Geſchichte; ſchon dem In-
tereſſe, das aus dem Strom des Gleichgiltigen ein Werk zur Be-
[112]Erſtes einleitendes Buch.
trachtung heraushebt, liegt dies Urtheil zu Grunde. Wir können
nicht eine exakte Cauſalerkenntniß, welche die Beurtheilung aus-
ſchlöſſe, herſtellen. Dieſe iſt von der geſchichtlichen Erkenntniß durch
keine Art von geiſtiger Chemie abzuſcheiden, ſolange der Erkennende
ein ganzer Menſch iſt. Und doch bilden andrerſeits Beurtheilung,
Regel, wie ſie in den Zuſammenhang dieſer Erkenntniß verwebt
ſind, eine dritte ſelbſtändige Claſſe von Sätzen, die nicht aus den
beiden anderen abgeleitet werden kann. Dies trat uns ſchon am
Beginn dieſes Ueberblicks entgegen. Nur in der pſychologiſchen
Wurzel mag ein ſolcher Zuſammenhang beſtehen: zu dieſer aber
dringt nur die über die Einzelwiſſenſchaften hinausgehende Selbſt-
beſinnung.
Dieſe dreifache Verbindung jeder Einzelunterſuchung, jeder
Einzelwiſſenſchaft mit dem Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit und ihrer Erkenntniß kann an jedem anderen Punkte
nachgewieſen werden: Verbindung mit dem concreten Cauſalzu-
ſammenhange aller Thatſachen und Veränderungen dieſer Wirklich-
keit mit den allgemeinen Geſetzen, unter denen dieſe Wirklichkeit
ſteht, und mit dem Syſtem der Werthe und Imperative, das in dem
Verhältniß des Menſchen zu dem Zuſammenhang ſeiner Aufgaben
angelegt iſt. Giebt es, ſo fragen wir nun genauer, eine Wiſſen-
ſchaft, welche dieſen dreifachen die Einzelwiſſenſchaften
überſchreitenden Zuſammenhang erkennt, die Beziehungen
erfaßt, welche zwiſchen der geſchichtlichen Thatſache, dem Geſetz und
der das Urtheil leitenden Regel beſtehen?
Zwei Wiſſenſchaften von ſtolzem Titel, die Philoſophie
der Geſchichte in Deutſchland, die Sociologie in England und
Frankreich beanſpruchen eine Erkenntniß dieſer Art zu ſein.
Der Urſprung der einen dieſer Wiſſenſchaften lag in dem
chriſtlichen Gedanken eines inneren Zuſammenhangs fortſchreiten-
der Erziehung in der Geſchichte der Menſchheit. Clemens und
Auguſtinus bereiteten ſie vor, Vico, Leſſing, Herder, Humboldt,
Hegel führten ſie aus. Unter dem mächtigen Antrieb, den ſie
in dem chriſtlichen Gedanken einer gemeinſamen Erziehung aller
Nationen durch die Vorſehung, eines ſich ſo verwirklichenden Reiches
[113]Philoſophie d. Geſchichte u. Sociologie beanſpruchen ſie zu erkennen.
Gottes empfangen hat, ſteht ſie noch heute. Der Urſprung der
anderen lag in den Erſchütterungen der europäiſchen Geſellſchaft
ſeit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts; eine neue Organi-
ſation der Geſellſchaft ſollte unter der Leitung des im 18. Jahr-
hundert mächtig herangewachſenen wiſſenſchaftlichen Geiſtes ſich
vollziehen; von dieſem Bedürfniß aus ſollte der Zuſammenhang
des ganzen Syſtems der wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, von der
Mathematik aufwärts, feſtgeſtellt und als ihr letztes Glied die
neue erlöſende Wiſſenſchaft der Geſellſchaft begründet werden;
Condorcet und Saint-Simon waren die Vorläufer, Comte der
Begründer dieſer umfaſſenden Wiſſenſchaft der Geſellſchaft, Stuart
Mill ihr Logiker, in Herbert Spencers ausführlicher Darſtellung
beginnt ſie die Phantaſien, welche ihre ungeſtüme Jugend bewegt
haben, abzuthun 1).
Gewiß, ein armſeliger Glaube wäre es, die Weiſe, in der
es der Kunſt des Geſchichtſchreibers (wie wir ſahen) gegeben iſt,
das Allgemeine des Zuſammenhangs menſchlicher Dinge im Be-
ſonderen zu ſchauen, ſei die einzige und ausſchließliche Form. in
welcher der Zuſammenhang dieſer unermeßlichen geſchichtlich-geſell-
Dilthey, Einleitung. 8
[114]Erſtes einleitendes Buch.
ſchaftlichen Welt für uns da iſt. — Immer wird in dieſer künſtle-
riſchen Darſtellung eine große Aufgabe der Geſchicht-
ſchreibung beſtehen, welche durch die Generaliſationswuth einiger
neueren engliſchen und franzöſiſchen Forſcher nicht entwerthet werden
kann. Denn wir wollen Wirklichkeit gewahr werden, und der
Verlauf der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung wird zeigen, daß
ſie, wie ſie iſt, in ihrer durch kein Medium veränderten That-
ſächlichkeit, nur in dieſer Welt des Geiſtes für uns beſteht. Und
zwar liegt für unſer Anſchauen in allem Menſchlichen ein Intereſſe
nicht des Vorſtellens allein, ſondern des Gemüths, der Mitempfin-
dung, des Enthuſiasmus, in welchem Goethe mit Recht die ſchönſte
Frucht geſchichtlicher Betrachtung ſah. Hingebung macht das Innere
des wahren congenialen Hiſtorikers zu einem Univerſum, welches die
ganze geſchichtliche Welt abſpiegelt. In dieſem Univerſum ſittlicher
Kräfte hat das Einmalige und Singulare eine ganz andere Bedeu-
tung als in der äußeren Natur. Seine Erfaſſung iſt nicht Mittel,
ſondern Selbſtzweck: denn das Bedürfniß, auf dem ſie beruht,
iſt unvertilgbar und mit dem Höchſten in unſerem Weſen gegeben.
Daher haftet auch der Blick des Geſchichtſchreibers mit einer natür-
lichen Vorliebe an dem Außerordentlichen. Ohne es zu wollen,
ja oft ohne es zu wiſſen vollzieht auch Er beſtändig eine Abſtrak-
tion. Denn das Auge deſſelben verliert für die Theile des That-
beſtandes, welche in allen geſchichtlichen Erſcheinungen wieder-
kehren, die friſche Empfänglichkeit, wie die Wirkung eines Ein-
druckes, der eine beſtimmte Stelle der Netzhaut anhaltend trifft,
ſich abſtumpft. Es bedurfte der philanthropiſchen Beweggründe
des 18. Jahrhunderts, um das Alltägliche, allen Gemeinſame in
einem Zeitalter, die „Sitten“, wie ſich Voltaire ausdrückt, ſowie die
Veränderungen, welche in Bezug auf dieſes ſtattfinden, neben dem
Außerordentlichen, den Handlungen der Könige und den Schick-
ſalen der Staaten, wieder recht ſichtbar zu machen. Und der
Untergrund des zu allen Zeiten Gleichen in der menſchlichen Natur
und dem Weltleben tritt überhaupt nicht in die künſtleriſche Ge-
ſchichtsdarſtellung. Auch ſie alſo beruht auf einer Abſtraktion.
Aber dieſelbe iſt unwillkürlich, und da ſie aus den ſtärkſten Be-
[115]Anſchauung dieſes Zuſammenh. i. d. künſtleriſchen Geſchichtſchreibung.
weggründen der Menſchennatur entſpringt, ſo werden wir ihrer
gewöhnlich gar nicht inne. Indem wir ein Vergangenes miterleben,
durch die Kunſt geſchichtlicher Vergegenwärtigung, werden wir be-
lehrt, wie durch das Schauſpiel des Lebens ſelber; ja unſer Weſen
erweitert ſich, und pſychiſche Kräfte, die mächtiger ſind als unſre
eigenen, ſteigern unſer Daſein.
Daher ſind die ſociologiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen
Theorien falſch, welche in der Darſtellung des Singularen einen
bloßen Rohſtoff für ihre Abſtraktionen erblicken. Dieſer Aberglaube,
welcher die Arbeiten der Geſchichtſchreiber einem geheimnißvollen
Proceß unterwirft, um den bei ihnen vorgefundenen Stoff des
Singularen alchymiſtiſch in das lautere Gold der Abſtraktion zu
verwandeln und die Geſchichte zu zwingen ihr letztes Geheimniß
zu verrathen, iſt genau ſo abenteuerlich, als je der Traum eines
alchymiſtiſchen Naturphiloſophen war, welcher das große Wort
der Natur ihr zu entlocken gedachte. Es giebt ſo wenig ein ſolches
letztes und einfaches Wort der Geſchichte, das ihren wahren Sinn
ausſpräche, als die Natur ein ſolches zu verrathen hat. Und
ganz ſo irrig als dieſer Aberglaube iſt das Verfahren, welches
gewöhnlich mit ihm verbunden iſt. Dieſes Verfahren will die von
den Geſchichtſchreibern ſchon formirten Anſchauungen vereinigen.
Aber der Denker, welcher die geſchichtliche Welt zum Objekt hat,
muß in direkter Verbindung mit dem unmittelbaren Rohmaterial
der Geſchichte und all ihrer Methoden mächtig ſein. Er muß ſich
demſelben Geſetz harter Arbeit an dem Rohſtoff unterwerfen, unter
dem der Geſchichtſchreiber ſteht. Den Stoff, der durch das Auge
und die Arbeit des Geſchichtſchreibers ſchon zu einem künſtleriſchen
Ganzen verbunden iſt, ſei es mit pſychologiſchen ſei es metaphy-
ſiſchen Sätzen in Zuſammenhang bringen: dieſe Operation wird
immer mit Unfruchtbarkeit behaftet bleiben. Spricht man von einer
Philoſophie der Geſchichte, ſo kann ſie nur hiſtoriſche Forſchung
in philoſophiſcher Abſicht und mit philoſophiſchen Hilfsmitteln ſein.
Aber dies iſt nun die andere Seite der Sache. Das Band
zwiſchen dem Singularen und Allgemeinen, das in der
genialen Anſchauung des Geſchichtſchreibers liegt, wird durch die
8*
[116]Erſtes einleitendes Buch.
Analyſis zerriſſen, welche einen einzelnen Beſtandtheil dieſes
Ganzen der theoretiſchen Betrachtung unterwirft; jede Theorie, welche
ſo in den Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft, die wir erörtert
haben, entſteht, iſt ein weiterer Schritt in der Loslöſung eines all-
gemeinen erklärenden Zuſammenhangs von dem Gewebe der That-
ſachen; und dieſen Vorgang hält nichts auf: der Geſammtzu-
ſammenhang, welchen die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit
ausmacht, muß Gegenſtand einer theoretiſchen Betrachtung werden,
welche auf das Erklärbare in dieſem Zuſammenhang gerichtet iſt.
Aber iſt nun die Philoſophie der Geſchichte oder die Socio-
logie dieſe theoretiſche Betrachtung? Der Zuſammenhang dieſer
ganzen Darlegung enthält die Prämiſſen, aus welchen dieſe Frage
verneint werden muß.
XV.
Ihre Aufgabe iſt unlösbar.
Beſtimmung der Aufgabe der Geſchichtswiſſenſchaft im
Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften.
Es beſteht ein unlösbarer Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe,
welche dieſe beiden Wiſſenſchaften ſich geſtellt haben, und den Hilfs-
mitteln, welche ihnen zur Löſung derſelben zur Verfügung ſtehen.
Unter Philoſophie der Geſchichte verſtehe ich eine
Theorie, welche den Zuſammenhang der geſchichtlichen Wirklichkeit
durch einen entſprechenden Zuſammenhang zu einer Einheit ver-
bundener Sätze zu erkennen unternimmt. Dieſes Merkmal der
Einheit des Gedankens iſt von einer Theorie unabtrennbar, welche
eben in der Erkenntniß vom Zuſammenhang des Ganzen ihre
unterſcheidende Aufgabe hat. Daher hat die Philoſophie der Ge-
ſchichte bald in einem Plan des geſchichtlichen Verlaufs dieſe Ein-
heit gefunden, bald in einem Grundgedanken (einer Idee), bald in
einer Formel oder einer Verbindung von Formeln, welche das
Geſetz der Entwicklung ausdrücken. Die Sociologie (ich ſpreche
[117]Relat. Erkenntniß d. Zuſammenh. d. d. fortſchr. Geſchichtswiſſenſchaft.
hier nur von der franzöſiſchen Schule derſelben) ſteigert noch
dieſen Anſpruch der Erkenntniß, indem ſie vermöge der Erfaſſung
dieſes Zuſammenhangs eine wiſſenſchaftliche Leitung der Geſellſchaft
herbeizuführen hofft.
Nun ging uns aus der Vertiefung in den Zuſammenhang der
Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes die folgende Einſicht hervor. In
dieſen Wiſſenſchaften hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine
Zerlegung des Geſammtproblems der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht; in denſelben ſind dieſe
Einzelprobleme einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Behandlung unter-
worfen worden; der in ihnen durch dieſe beharrliche Arbeit ge-
ſchaffene Kern von wirklicher Erkenntniß iſt in langſamem,
aber beſtändigem Wachsthum begriffen. — Wol iſt nothwendig,
daß dieſe Wiſſenſchaften ſich des Verhältniſſes ihrer Wahrheiten
zu der Wirklichkeit, von welcher ſie doch nur Theilinhalte darſtellen,
folgerecht der Beziehungen, in welchen ſie zu den aus derſelben
Wirklichkeit durch Abſtraktion ausgeſonderten anderen Wiſſenſchaften
ſtehen, bewußt werden; gerade dieß iſt das Bedürfniß, daß aus
der Natur der Aufgabe, welche dieſe Wirklichkeit dem menſchlichen
Wiſſen und Erkennen ſtellt, die Kunſtgriffe, vermöge deren das-
ſelbe ſich in ſie eingräbt, ſie zerſpaltet, zerſetzt, verſtanden werden;
was das Erkennen mit ſeinen Werkzeugen bewältigen kann, was
als unzerſetzbare Thatſache widerſteht und zurückbleibt, das muß
ſich hier zeigen: kurz einer Erkenntnißtheorie der Geiſteswiſſen-
ſchaften, oder tiefer: der Selbſtbeſinnung bedarf es, welche den
Begriffen und Sätzen derſelben ihr Verhältniß zur Wirklichkeit, ihre
Evidenz, ihr Verhältniß zu einander ſichert. Sie vollendet erſt
die echt wiſſenſchaftliche Richtung dieſer poſitiven Arbeiten auf
klar begränzte und in ſich ſichere Wahrheiten. Sie legt erſt die
Grundlagen für das Zuſammenwirken der Einzelwiſſenſchaften in
der Richtung auf die Erkenntniß des Ganzen. — Aber wie
ſolchergeſtalt dieſe Einzelwiſſenſchaften, bewußter in ſich geworden
durch eine ſolche Erkenntnißtheorie, ihres Werthes und ihrer
Grenzen ſicher, ihre Beziehungen in ihre Rechnung aufnehmend,
nach allen Seiten voranſchreiten: ſo ſind ſie die einzigen
[118]Erſtes einleitendes Buch.
Hilfsmittel der Erklärung der Geſchichte, und es hat keinen
vorſtellbaren Sinn, außerhalb ihrer eine Löſung des Problems vom
Zuſammenhang der Geſchichte ſich vorzuſtellen. Denn dieſen Zu-
ſammenhang erkennen heißt ihn, ein unermeßlich Zuſammengeſetztes,
in ſeine Beſtandtheile auflöſen, an dem Einfacheren Gleichförmig-
keiten aufſuchen, vermöge ihrer dann dem Verwickelteren ſich
nähern. Daher findet die Anwendung der bisher dargeſtellten
Einzelwiſſenſchaften zur Erklärung des Zuſammenhangs der Ge-
ſchichte in der fortſchreitenden Geſchichtswiſſenſchaft ſelber in
immer höherem Grade ſtatt. Das Verſtändniß jedes Theils von
Geſchichte fordert die Anwendung der vereinten Hilfsmittel ver-
ſchiedener Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, von der Anthropologie
aufwärts. Wenn Ranke einmal ausſpricht, er möchte ſein Selbſt aus-
löſchen, um die Dinge zu ſehen, wie ſie geweſen ſind, ſo drückt dies
das tiefe Verlangen des wahren Geſchichtſchreibers nach der objektiven
Wirklichkeit ſehr ſchön und kräftig aus. Aber dies Verlangen muß
ſich mit der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß der pſychiſchen Einheiten,
aus denen dieſe Wirklichkeit beſteht, der dauernden Geſtaltungen, die
in der Wechſelwirkung derſelben ſich entwickeln und Träger des ge-
ſchichtlichen Fortſchritts ſind, ausrüſten: ſonſt wird es dieſe Wirklich-
keit nicht erobern, die nun einmal in bloßem Blicken, Gewahren nicht
ergriffen wird, ſondern nur durch Analyſis, Zerlegung. Giebt
es etwas, was als Wahrheitskern hinter der Hoffnung einer Phi-
loſophie der Geſchichte verborgen iſt, dann iſt es dieſes; geſchicht-
liche Forſchung auf dem Grunde einer möglichſt umfaſſenden
Beherrſchung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes. Wie Phyſik
und Chemie die Hilfsmittel des Studiums des organiſchen Lebens
ſind, ſo Anthropologie, Rechtswiſſenſchaft, Staatswiſſenſchaften die
Hilfsmittel des Studiums des Verlaufs der Geſchichte.
Dieſer klare Zuſammenhang kann methodiſch ſo ausgedrückt
werden: die höchſt zuſammengeſetzte Wirklichkeit der Geſchichte kann
nur vermittelſt der Wiſſenſchaften erkannt werden, welche die Gleich-
förmigkeiten der einfacheren Thatſachen erforſchen, in die wir dieſe
Wirklichkeit zerlegen können. Und ſo beantworten wir die oben
geſtellte Frage zunächſt dahin: die Erkenntniß des Ganzen der
[119]Relat. Erkenntniß d. Zuſammenh. d. d. fortſchr. Geſchichtswiſſenſchaft.
geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, welcher wir uns als
dem allgemeinſten und letzten Problem der Geiſteswiſſenſchaften
entgegen getrieben fanden, verwirklicht ſich ſucceſſive in einem auf
erkenntniß-theoretiſcher Selbſtbeſinnung beruhenden Zuſammen-
hang von Wahrheiten, in welchem auf die Theorie des Menſchen
die Einzeltheorien der geſellſchaftlichen Wirklichkeit ſich aufbauen,
dieſe aber in einer wahren fortſchreitenden Geſchichtswiſſenſchaft
angewandt werden, um immer Mehreres von der thatſächlichen,
in der Wechſelwirkung der Individuen verbundenen geſchichtlichen
Wirklichkeit zu erklären. In dieſem Zuſammenhang von Wahr-
heiten wird die Beziehung zwiſchen Thatſache, Geſetz und Regel
vermittelſt der Selbſtbeſinnung erkannt. In ihm ergiebt ſich
auch, wie weit wir noch von jeder abſehbaren Möglichkeit einer
allgemeinen Theorie des geſchichtlichen Verlaufs entfernt ſind, in
welchem beſcheidenen Sinn überhaupt von einer ſolchen die Rede
ſein kann. Univerſalgeſchichte, ſofern ſie nicht etwas Uebermenſch-
liches iſt, würde den Abſchluß dieſes Ganzen der Geiſteswiſſen-
ſchaften bilden 1).
Ein ſolches Verfahren vermag freilich nicht den geſchichtlichen
Verlauf auf die Einheit einer Formel oder eines Prin-
zips zurückzuführen, ſo wenig als die Phyſiologie das Leben.
Die Wiſſenſchaft kann ſich der Auffindung einfacher Erklärungs-
prinzipien durch die Analyſis und die Handhabung der Mehr-
heit von Erklärungsgründen nur nähern. Die Philoſophie der
Geſchichte müßte ſonach ihre Anſprüche aufgeben, wollte ſie des
Verfahrens, an welches ſchlechterdings alle wirkliche Erkenntniß
des geſchichtlichen Verlaufs gebunden iſt, ſich bedienen. So wie
ſie iſt, quält ſie ſich an der Quadratur des Cirkels ab.
Daher denn auch für den Logiker ihr Kunſtgriff durchſichtig genug
iſt. — Ich kann, wenn ich mich an die Erſcheinung eines Zuſammen-
hanges von Wirklichkeit halte, die meiner Anſchauung ſich dar-
bietenden Züge in einer ſie zuſammenhaltenden Abſtraktion ver-
knüpfen, in welcher, als in einer Art von Allgemeinvorſtellung,
[120]Erſtes einleitendes Buch.
das Bildungsgeſetz dieſes Zuſammenhangs enthalten iſt. Irgend
eine wenn auch noch ſo ſchwankende und verworrene Allgemein-
vorſtellung der geſchichtlichen Wirklichkeit entſteht in Jedem, der
ſich mit ihr beſchäftigt hat und nun den Zuſammenhang dieſer
Wirklichkeit in einem geiſtigen Bilde vereinigt. Solche Abſtrak-
tionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analyſis voran.
Eine Weſenheit dieſer Art war die geheimnißvolle vollkommene
Kreisbewegung, welche die alte Aſtronomie zu Grunde legte, ſowie die
Lebenskraft, in welcher die Biologie vergangener Tage die Urſache
der Haupteigenſchaften des organiſchen Lebens ausdrückte. Und
jede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgeſtellt
haben, das Geſetz der Geſchichte auszudrücken, gehört dieſem natür-
lichen Denken an, das überall der Analyſis vorausgeht und eben —
Metaphyſik iſt. Dieſe anſpruchsvollen Allgemeinbegriffe der Phi-
loſophie der Geſchichte ſind nichts als die notiones universales,
welche Spinoza ſo meiſterhaft in ihrem natürlichen Urſprung und
ihrer verhängnißvollen Wirkung auf das wiſſenſchaftliche Denken
geſchildert hat 1). — Natürlich heben dieſe Abſtraktionen, welche
den Verlauf der Geſchichte ausdrücken, aus dieſem, der mit dem
Bewußtſein unermeßlichen Reichthums die Seele bewegt, ſtets nur
Eine Seite heraus, und ſo ſondert jede Philoſophie eine etwas
andere Abſtraktion aus dieſem Gewaltigen, Wirklichen aus 2).
Wollte man aus des Ariſtoteles Stufenfolge von Naturkräften
bis zum Menſchen ein Prinzip der Philoſophie der Geſchichte ab-
leiten, ſo würde es von dem Comte’s in Rückſicht ſeines eigentlichen
Gehalts ſich etwa ſo unterſcheiden, wie der Blick auf dieſelbe Stadt
von verſchiedenen Höhen aus, ebenſo dieſes von der Humanität
Herders 3), dem Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur
[121]Allgemeinvorſtellungen als Gegenſtand der Geſchichtsphiloſophie.
bei Schleiermacher, oder Hegels Fortſchritt im Bewußtſein der
Freiheit. — Und wie zu weite Definitionen als Sätze wahr
ſind und nur als Definitionen falſch, ſo pflegt auch das was
in dem faltigen Gewand dieſer Formeln ſich birgt nicht unrichtig
zu ſein, nur ein ärmlicher und unzureichender Ausdruck der
machtvollen Wirklichkeit, deren Gehalt auszudrücken es beanſprucht.
Da nun Philoſophie der Geſchichte in ihrer Formel die ganze
Weſenheit des Weltlaufs auszudrücken beanſprucht, ſo will ſie in der-
ſelben zugleich mit dem Cauſalzuſammenhang auch den Sinn des
geſchichtlichen Verlaufs d. h. ſeinen Werth und ſein Ziel aus-
ſprechen, ſofern ſie einen ſolchen neben dem Cauſalzuſammenhang
anerkennt. Die Enden unſeres Bewußtſeins, Wiſſen von Wirk-
lichkeit und Bewußtſein von Werth und Regel, ſind in ihrer
Allgemeinvorſtellung in eins gebunden: ſei es nun daß nach ihr in
dem metaphyſiſchen Weltgrunde dieſe Einheit angelegt iſt, als eine
Verwirklichung des Weltzweckes vermöge des Syſtems der wirken-
den Urſachen, oder daß die Zwecke welche der Menſch ſich ſetzt, die
Werthe die er den Thatſachen der Wirklichkeit giebt, mit Spinoza
und den Naturaliſten als eine ephemere Form inneren Lebens in
gewiſſen Erzeugniſſen der Natur angeſehen werden, welche nicht
in deren blinde Macht zurückreichen. Sei alſo Geſchichtsphiloſophie
teleologiſch oder naturaliſtiſch: ihr weiteres Merkmal iſt, daß in
ihrer Formel des Weltlaufs auch der Sinn, Zweck, Werth, welchen
ſie in der Welt verwirklicht ſieht, vertreten iſt. Negativ ausge-
drückt, ſie begnügt ſich nicht mit der Erforſchung des zugänglichen
Cauſalzuſammenhangs, indem ſie das Gefühl vom Werthe des
Weltlaufs, wie es in unſerem Bewußtſein als Thatſache auftritt,
walten läßt, ohne es weder zu verſtümmeln noch vorwitzig in die
Forſchung zu miſchen. Das thut der wahre Einzelforſcher. Sie
geht auch nicht von den Werthen und Regeln zurück zu dem Punkte
im Selbſtbewußtſein, an welchem dieſe mit dem Vorſtellen und
Denken verknüpft ſind. Das thut der kritiſche Denker. Sonſt
würde ſie erkennen, daß Werth und Regel nur in der Beziehung
auf unſer Syſtem der Energien da ſind und daß ſie ohne Be-
ziehung auf ein ſolches Syſtem keinen vorſtellbaren Sinn mehr
[122]Erſtes einleitendes Buch.
haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an ſich, ſondern
immer nur in ſeiner Beziehung zu einem Syſtem von Energien
Werth haben. Hieraus ergiebt ſich weiter: naturgemäß finden
wir, was im Syſtem unſerer Energien als Werth empfunden, als
Regel dem Willen vorgeſtellt wird, im geſchichtlichen Weltlauf als
den werth- und ſinnvollen Gehalt deſſelben wieder; jede Formel,
in der wir den Sinn der Geſchichte ausdrücken, iſt nur ein Reflex
unſeres eigenen belebten Inneren; ſelbſt die Macht, welche der Be-
griff von Fortſchritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines
Zieles, als in der Selbſterfahrung unſeres ringenden Willens,
unſerer Lebensarbeit und des frohen Bewußtſeins von Energie in
ihr: welche Selbſterfahrung ſich in dem Bilde eines allge-
meinen Fortſchreitens auch dann projiciren würde, wenn in der
Wirklichkeit des geſchichtlichen Weltlaufs ein ſolcher Fortſchritt ſich
keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf dieſem That-
beſtand das unvertilgbare Gefühl von dem Werth und Sinn
des geſchichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftſteller wie Herder
iſt mit ſeiner Allgemeinvorſtellung der Humanität niemals über
das verworrene Bewußtſein dieſes Reichthums des Menſchendaſeins,
dieſer Fülle ſeiner freudigen Entfaltungen hinaus gegangen. Hieraus
aber würde Philoſophie der Geſchichte, noch weiter in der
Selbſtbeſinnung fortſchreitend, haben folgern müſſen: aus einer un-
ermeßlichen Mannichfaltigkeit einzelner Werthe baut ſich der Sinn
der geſchichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derſelben Mannichfaltig-
keit von Wechſelwirkungen ſein Cauſalzuſammenhang. Der Sinn
der Geſchichte iſt alſo ein außerordentlich Zuſammengeſetztes. So
hätte auch hier wieder dieſelbe Aufgabe ſich ergeben, Selbſtbeſinnung,
welche im Gemüthsleben den Urſprung von Werth und Regel und
ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforſcht, und allmälige,
langſame Analyſis, welche dieſe Seite des verwickelten geſchichtlichen
Ganzen zerlegt. Denn was dem Menſchen werthvoll ſei und
welche Regeln das Thun der Geſellſchaft leiten ſollen, das kann
nur mit Hilfe der geſchichtlichen Forſchung mit irgend einer Aus-
ſicht auf allgemeingültige Faſſung unterſucht werden. Und ſo
ſtehen wir wieder vor demſelben Grundverhältniß: die Philoſophie
[123]Ihre Unfähigkeit den Werth des geſchichtlichen Verlaufs zu beſtimmen.
der Geſchichte, anſtatt ſich der Methoden der geſchichtlichen Ana-
lyſis und der Selbſtbeſinnung zu bedienen (welche ihrer Natur
nach ebenfalls analytiſch iſt), verbleibt in Allgemeinvorſtellungen,
welche entweder den Totaleindruck des geſchichtlichen Weltlaufs
in einer Abbreviatur wie eine Weſenheit hinſtellen, oder dieſes zu-
ſammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphyſiſchen Prin-
zip aus entwerfen.
Mit ſo einfacher Deutlichkeit als von keinem anderen Beſtandtheil
der Metaphyſik kann nun von dieſer Philoſophie der Geſchichte ge-
zeigt werden, daß in dem religiöſen Erlebniß ihre Wurzeln liegen,
und daß ſie, von dieſem Zuſammenhang losgelöſt, vertrocknet und
verweſt. Der Gedanke eines einheitlichen Plans der Menſchenge-
ſchichte, einer Erziehungsidee Gottes in ihr iſt von der Theologie
geſchaffen worden. Ihr waren in Beginn und Ende aller Ge-
ſchichte feſte Punkte für eine ſolche Conſtruktion gegeben: ſo ent-
ſtand eine wirklich auflösbare Aufgabe, zwiſchen Sündenfall und
letztem Gericht die verbindenden Fäden durch den geſchichtlichen
Weltlauf zu ziehen. — In der mächtigen Schrift de civitate dei
hat Auguſtinus aus der metaphyſiſchen Welt den Geſchichtsver-
lauf auf dieſer Erde entſpringen laſſen und ihn dann wieder in
dieſe metaphyſiſche Welt aufgelöſt. Denn nach ihm hebt ſchon in
den Regionen der Geiſterwelt der Kampf zwiſchen dem himmliſchen
und dem irdiſchen Staate an; Dämonen treten den Engeln gegen-
über; Kain als der civis hujus seculi dem Abel als dem pere-
grinus in seculo; die Weltmonarchie Babylon, und Rom, welches es
in der Weltherrſchaft ablöſt, das zweite Babylon treten dem Gottes-
ſtaat gegenüber, der im jüdiſchen Volke ſich entwickelt, im Erſcheinen
Chriſti den Mittelpunkt ſeiner Geſchichte hat, und ſeitdem als eine
Art von metaphyſiſcher Weſenheit, ein myſtiſcher Körper, auf dieſer
Erde ſich entwickelt. Bis dann das Ringen der Dämonen und
der ſie anbetenden irdiſchen civitas mit dem Gottesſtaate auf
dieſer Erde im Weltgericht endet und Alles in die metaphyſiſche
Welt wiederum zurückkehrt. — Dieſe Philoſophie der Geſchichte bildet
den Mittelpunkt der mittelalterlichen Metaphyſik des Geiſtes. Sie
empfing durch die Theorie von den geiſtigen Subſtanzen, welche
[124]Erſtes einleitendes Buch.
die allgemeine Metaphyſik des Mittelalters entwickelt hat, eine
Grundlage von ſtrengerer metaphyſiſcher Haltung; in der Aus-
geſtaltung der Papſtkirche und ihrem Kampf mit dem Kaiſerthum
erhielt ſie eine gewaltige Actualität und einleuchtende Gegenwärtig-
keit; in der kanoniſtiſchen Theorie von der rechtlichen Natur dieſes
myſtiſchen Körpers gelangte ſie zu den einſchneidendſten Folgerungen
für die Auffaſſung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die
harten Realitäten, mit denen ſie operirt, geſtatten, ſo lange ſie in
Geltung bleiben, keinem der Zweifel Eingang, die ſonſt jeden Verſuch
den Sinn der Geſchichte in einem formelhaften Zuſammenhang aus-
zudrücken belaſten. Niemand kann fragen, warum das mühſame Auf-
wärtsklimmen der Menſchheit nothwendig war, da der Sündenfall
vor ſeinen Augen liegt. Niemand kann fragen, warum der Segen der
Geſchichte nur einer Minderheit zu Gute komme, da der Rath-
ſchluß Gottes und der böſe Wille die Antwort in der einen oder
anderen Wendung in ſich ſchließen. Auch kann der Zuſammen-
hang dieſer Geſchichte, vermöge deren der Weltlauf einen einheit-
lichen Sinn hat und die Menſchheit eine reale Einheit iſt, von
Niemandem in Frage geſtellt werden: da nach der maſſiven Vor-
ſtellung des Traditionalismus (verſtärkt durch die Auffaſſung der
Zeugung als eines Actes der böſen Luſt) das verderbte Blut
Adams jedes Element dieſes Ganzen durchſtrömt und mit ſeiner
dunkelen Farbe tingirt, und da andrerſeits in dem myſtiſchen
Körper der Kirche von oben her eine eben ſolche reale Leitung der
Gnade ſtattfindet. — Die Literatur, welche in den Grundlinien, die
Auguſtin gezogen, verharrt, erſtreckt ſich bis auf BoſſuetsDis-
cours sur l’histoire universelle, und indem der Biſchof von
Meaux eine ſtrengere Vorſtellung von Cauſalzuſammenhang ſowie
einen Begriff von nationalem Geſammtgeiſt einfügt, bildet er
das Zwiſchenglied zwiſchen dieſer theologiſchen Philoſophie der
Geſchichte und den Verſuchen des 18. Jahrhunderts. Turgot’s
Plan einer Univerſalgeſchichte entfaltete ſich an dem Gedanken, die
von Boſſuet behandelte Aufgabe rational zu löſen: er hat die
Philoſophie der Geſchichte ſeculariſirt. Vico’sprincipj di scienza
nuova laſſen die äußeren Umriſſe der theologiſchen Philoſophie
[125]Sie ſubſtituirt nur d. Realitäten d. Theologie abſtrakte Weſenheiten.
der Geſchichte ſtehen: innerhalb dieſes ungeheuren Gebäudes hat
ſeine poſitive Arbeit, wirkliche hiſtoriſche Forſchung in philo-
ſophiſcher Abſicht, ſich in der alten Völkergeſchichte angeſiedelt und
das Problem der Entwicklungsgeſchichte der Völker, der allen
Völkern gemeinſamen Epochen dieſer Entwicklungsgeſchichte verfolgt.
Der Gedanke eines einheitlichen Planes in dem geſchichtlichen
Weltlauf wandelt ſich, indem er im 18. Jahrhundert von den
feſten Prämiſſen des theologiſchen Syſtems losgelöſt feſtgehalten
wird: aus ſeiner maſſiven Realität wird ein metaphyſiſches
Schattenſpiel. Aus dem Dunkel eines unbekannten Anfangs treten
nunmehr die räthſelhaft verwickelten Vorgänge des geſchichtlichen
Weltlaufs hervor, um ſich in daſſelbe Dunkel nach vorwärts zu
verlieren. Wozu dies mühſame Emporklimmen der Menſchheit?
Wozu das Weltelend? Wozu die Beſchränkung des Fortſchreitens
auf eine Minderzahl? Vom Standpunkt des Auguſtin Alles
wohl zu begreifen, auf dem Standpunkt des 18. Jahrhunderts
Räthſel, für deren Auflöſung jeder klare Anhaltspunkt fehlt. Da-
her iſt jeder Verſuch des 18. Jahrhunderts, den Plan und Sinn
in der Menſchengeſchichte aufzuzeigen, nur Transformation des
alten Syſtems: Leſſings Erziehung des Menſchengeſchlechtes, Hegels
Selbſtentwicklung Gottes, Comte’s Umwandlung der hierarchiſchen
Organiſation ſind nichts Anderes. Da der myſtiſche Körper,
welcher im Mittelalter den Zuſammenhang der Weltgeſchichte in
ſich ſchloß, ſich in der Denkart des 18. Jahrhunderts in Indi-
viduen auflöſt: muß ein Erſatz gefunden werden in einer Vor-
ſtellung, welche dieſe Einheit der Menſchheit aufrecht erhält. Zwei
Wendungen treten ein, welche beide zu dieſem Zweck die Meta-
phyſik zu Hilfe rufen und beide jede wirklich wiſſenſchaftliche
Behandlung des Problems ausſchließen.
Die Eine derſelben ſubſtituirt metaphyſiſche Weſen-
heiten, wie die allgemeine Vernunft, der Weltgeiſt ſolche
ſind, und betrachtet die Geſchichte als Entwicklung von dieſen. Gewiß
macht ſich auch hier wieder geltend, daß ſolche Formeln eine Wahr-
heit bergen. Die Verbindung des Individuums mit der Menſchheit
iſt Realität. Iſt doch eben dies das tiefſte pſychologiſche Problem,
[126]Erſtes einleitendes Buch.
das Geſchichte uns aufgiebt, wie das Mittel des Fortſchreitens in ihr
in letzter Inſtanz die aufopfernde Hingebung des Individuums iſt,
an Perſonen die es liebt, an den Zweckzuſammenhang eines Syſtems
der Cultur, welchem ſein innerer Beruf eingeordnet iſt, an das
Geſammtleben der Verbände, als deren Glied es ſich fühlt, ja an
eine ihm unbekannte Zukunft, der ſeine Arbeit dient: Sittlichkeit
alſo; denn dieſe hat eben kein anderes Merkmal als Selbſtauf-
opferung. Aber die Formeln vom Zuſammenhang des Einzelnen
mit dem geſchichtlichen Ganzen, wahr in dem was ſie vom per-
ſönlichen Gefühle dieſes Zuſammenhangs ausſagen, treten in
Widerſpruch mit jedem geſunden Empfinden, indem ſie alle Werthe
des Lebens in eine metaphyſiſche Einheit, welche ſich in der Ge-
ſchichte entfaltet, verſenken. Was ein Menſch in ſeiner einſamen
Seele, mit dem Schickſal ringend, in der Tiefe ſeines Gewiſſens
durchlebt, das iſt für ihn da, nicht für den Weltproceß und nicht
für irgend einen Organismus der menſchlichen Geſellſchaft. Aber
dieſer Metaphyſik iſt die ergreifende Wirklichkeit des Lebens nur
in einem Schattenriß ſichtbar.
Auch ändert es hieran nichts, wenn, ſozuſagen in einer
weiteren Verflüchtigung, dieſer allgemeinen Vernunft die Geſell-
ſchaft als eine Einheit ſubſtituirt wird. Das Band, das ſie zur
Einheit macht, aus dem Erlebniß in eine Formel umgewandelt,
iſt ein metaphyſiſches. Es war daher nicht eine willkürliche
Wendung im Geiſte Comte’s, die aus den Begebenheiten ſeines
Lebens oder gar aus dem Verfall ſeiner Intelligenz hervorge-
gangen wäre, ſondern ein Schickſal, das in dem urſprünglichen
Widerſpruch zwiſchen ſeiner Formel des einheitlichen Zuſammen-
hangs in der Geſchichte ſowie der in ihr gegründeten Tendenz auf
Organiſation der Geſellſchaft vermittelſt einer geiſtigen Macht und
ſeiner poſitiven Methode gelegen war, wenn er von ſeiner philo-
sophie positive und ihrer Methode zu einer Art von Religion als
Grundlage der künftigen Geſellſchaft fortſchritt. Der Zwieſpalt
ſeiner Anhänger, der hierüber entſtand, verdeutlicht nur dieſen
Widerſpruch eines Syſtems, welches aus den Geſetzen des Natur-
[127]Sie ſubſtituirt nur d. Realitäten d. Theologie abſtrakte Weſenheiten.
zuſammenhangs den Imperativ für die Geſellſchaft abzuleiten
unternahm.
Der deutſche Individualismus war gezwungen eine
andere Wendung des Gedankens zu verſuchen: auch ſie führte ihn
auf Metaphyſik. Die unendliche Entwicklung des Individuums, in
ihrem Verhältniß zur Entwicklung des Menſchengeſchlechts, wurde
ihm das Hilfsmittel einer Löſung des geſchichts-philoſophiſchen
Problems. Aber die Metaphyſik kämpft hier ſchon mit dem kritiſchen
Bewußtſein der Grenzen geſchichtlichen Erkennens, und dieſer Kampf
zieht ſich durch die ganze Gedankenarbeit dieſer Richtung.
Kant ſelber fand in dem Plan der Vorſehung den Zu-
ſammenhang der Geſchichte. Denn „das Mittel deſſen ſich die
Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande
zu bringen, iſt der Antagonismus derſelben in der Geſellſchaft“
— die „ungeſellige Geſelligkeit“ 1) des Menſchen. Seine Hypotheſe
ſchränkt ſich auf die Unterſuchung ein, wie in der Geſchichte das
Problem der Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden
bürgerlichen Geſellſchaft aufgelöſt wird. „Befremdend bleibt es
aber immer hierbei: daß die älteren Generationen nur ſcheinen
um der ſpäteren willen ihr mühſeliges Geſchäft zu treiben, um
nämlich dieſen eine Stufe zu bereiten, von der dieſe das Bau-
werk, welches die Natur zur Abſicht hat, höher bringen könnten;
und daß doch nur die ſpäteſten das Glück haben ſollen, in dem
Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren
(freilich ohne ihre Abſicht) gearbeitet hatten, ohne doch ſelbſt an
dem Glück, das ſie vorbereiteten, Antheil nehmen zu können.
Allein ſo räthſelhaft dieſes auch iſt, ſo nothwendig iſt es doch zu-
gleich, wenn man einmal annimmt: eine Thiergattung ſoll Ver-
nunft haben, und als Claſſe vernünftiger Weſen, die insgeſammt
ſterben, deren Gattung aber unſterblich iſt, dennoch zu einer
Vollſtändigkeit der Entwicklung dieſer Anlagen gelangen“ 2).
Leſſing hatte dieſe Schwierigkeit durch den Gedanken der Seelen-
wanderung gelöſt. „Wie? Wenn es nun gar ſo gut als ausgemacht
[128]Erſtes einleitendes Buch.
wäre, daß das große langſame Rad, welches das Geſchlecht ſeiner
Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere ſchnellere Räder in
Bewegung geſetzt würde, deren jedes ſein Einzelnes eben dahin
liefert? Nicht Anders! Eben die Bahn, auf welcher das Ge-
ſchlecht zu ſeiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne
Menſch erſt durchlaufen haben“ 1).
Herder verhält ſich realiſtiſcher, kritiſcher als beide. Ob
er gleich ſein Werk als Ideen zu einer Philoſophie der Geſchichte
bezeichnete, ſo hat er doch den Ausdruck, deſſen ſich ſchon
Voltaire bedient, in anderem Verſtande genommen und eine
Formel über den Sinn der Geſchichte nicht aufgeſtellt. Seine
große und bleibende Leiſtung entſprang aus einer Combination der
poſitiven Wiſſenſchaften in philoſophiſchem d. h. zuſammenfaſſen-
dem Geiſte. Mit dem Griff des Genie’s verband er die Natur-
kunde jener Zeit mit dem Gedanken einer Univerſalgeſchichte, wie
er vor dem Geiſte eines Turgot ſtand, von Voltaire aufgefaßt, in
Deutſchland aber von Schlözer in ſeiner merkwürdigen „Vorſtellung
der Univerſalhiſtorie“ aufgenommen worden war. Vermöge dieſer
Verbindung erwuchſen aus den ſchon im Alterthum werthgehaltenen
Beobachtungen über den Zuſammenhang der Naturbedingungen mit
dem geſchichtlichen Leben nun jene leitenden Ideen, die Ritters allge-
meiner Geographie zu Grunde liegen. Er verknüpfte weiter mit Be-
trachtungen über die aufſteigende Reihe der Organiſationen bis zum
Menſchen, die er mit Goethe theilte und die auf die Naturphiloſophie
gewirkt haben, einen Schluß der Analogie auf höhere Stufen des
geiſtigen Reiches und von dieſen auf Unſterblichkeit: an dieſem Schluß
hat ſchon Kant getadelt, daß er höchſtens auf die Exiſtenz andrer
höherer Weſen deuten könne. Von dieſem Punkte ab jedoch iſt ſeine
Arbeit weſentlich die des Univerſalhiſtorikers. Im Zuſammenwirken
der beiden Faktoren der Naturbedingungen und des Menſchen-
[129]Oder einen unbeweisbaren Zuſammenhang.
weſens will er die Menſchengeſchichte in ſtrengem Cauſalzuſammen-
hang entwickeln. Iſt er doch ein Schüler von Leibnitz und durch
Spinoza nur noch härter gegen die äußeren Endzwecke geſtimmt 1).
Die Zweckmäßigkeit, die in der Weltgeſchichte wie im Naturreich
waltet, vollzieht ſich nach ihm nur in der Form des Cauſalzuſammen-
hangs. Dieſer weiſen Zurückhaltung entſpricht nun, daß er zwar
das Problem Leſſings anerkannte — aber es als transſcendent
zurück ließ. „Wenn Jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch,
ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpräche er für mich un-
verſtändlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe
ſind, außer, inſofern ſie in einzelnen Weſen exiſtiren — als wenn
ich von der Thierheit, der Steinheit im Allgemeinen ſpräche.“ Er
verwirft das ausdrücklich als mittelalterliche Metaphyſik, und er
ſteht alſo mit Leſſing auf dem geſunden Boden des Realismus, der
nur Individuen kennt, ſonach als Sinn des Weltlaufs auch nur Ent-
wicklung der Individuen. Aber in Bezug auf jede Vorſtellung von
der Art dieſer Entwicklung der Individuen bemerkt er, mit deutlichem
Wink auf Leſſing: „Auf welchen Wegen dies geſchehen werde —
welche Philoſophie der Erde wäre es, die hierüber Gewißheit gäbe?“
Ich entwickle nicht wie nahe Lotze’s Auffaſſung der Philo-
ſophie der Geſchichte ſich mit der von Herder berührt, ſowol in
Bezug auf die Verknüpfung von cauſaler mit teleologiſcher Be-
trachtung als in Bezug auf den Realismus, der nur Indivi-
duen und was ihrer Entwicklung dient anerkennt. An dieſem
Punkte hat Lotze doch über Herder hinausgehen zu müſſen ge-
glaubt. Er thut das indem er ſozuſagen die Methode, in
welcher Kant den Glauben an Gott und die Unſterblichkeit
begründete, auf den planvollen Zuſammenhang der Geſchichte
anwendet und ſo als Bedingung deſſelben einen Antheil
der Abgeſchiednen an dem Fortſchritt der Geſchichte aufzu-
zeigen ſucht. „Keine Erziehung der Menſchheit iſt denkbar, ohne
Dilthey, Einleitung. 9
[130]Erſtes einleitendes Buch.
daß ihre Endergebniſſe einſt Gemeingut derer werden, die in dieſer
irdiſchen Laufbahn auf verſchiedenen Punkten zurückgeblieben ſind;
keine Entwicklung einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zuletzt
allen offenbar wird, was ſie zuvor ohne ihr Wiſſen als Träger
dieſer Entwicklung erlitten 1). Gefühl gegen Gefühl (denn in ein
ſolches verſchwimmt nun hier ſchließlich die Betrachtung des
Plans der Geſchichte, die einſt in Auguſtinus mit ſo harten Reali-
täten begann, und ſcheint ſich ſo ſelber in einen feinen Nebel auf-
zulöſen): dieſe elegiſche Vorſtellung von einem beſchaulichen Antheil
der Abgeſchiedenen an dem, was wir hier durchkämpfen, welche
an die Engelsköpfe erinnert, die auf alten Bildern aus dem
Himmelsgewölk den Märtyrern zuſehn, wie ſie ſich noch plagen
müſſen, erſcheint uns in den Stunden nüchterner Kritik als zu viel,
in träumenden aber als zu wenig, da das Endergebniß der Ent-
wicklung der Menſchheit nur im Erlebniß beſeſſen werden kann,
nicht in müßiger Betrachtung.
XVI.
Ihre Methoden ſind falſch.
Iſt ſonach die Aufgabe, welche dieſe Wiſſenſchaften ſich ſtellten,
an ſich unlösbar, ſo ſind ferner die Methoden derſelben wohl dazu
verwerthbar, durch Generaliſationen zu blenden, aber nicht dazu,
eine bleibende Erweiterung der Erkenntniß herbeizuführen.
Die Methode der deutſchen Philoſophie der Geſchichte
entſprang einer Bewegung, welche im Gegenſatz gegen das vom
18. Jahrhundert geſchaffene natürliche Syſtem der Geiſteswiſſen-
ſchaften ſich in die Thatſächlichkeit des Geſchichtlichen verſenkte.
Die Träger dieſer Bewegung waren Winckelmann, Herder, die
Schlegel, W. v. Humboldt. Sie bedienten ſich eines Verfahrens,
welches ich als das der genialen Anſchauung bezeichne. Es war
dies Verfahren keine beſondere Methode, ſondern der Proceß der
[131]Die Methoden der Philoſophie der Geſchichte ſind falſch.
fruchtbaren Gährung ſelber, in der die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes
in einander arbeiteten: eine werdende Welt. Dieſe geniale Anſchau-
ung iſt durch die metaphyſiſche Schule auf ein Princip zurückgeführt
worden. Wohl empfing durch dieſe Concentration der Gehalt der
genialen Anſchauung auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Energie der
Wirkung; aber dieſe Concentration kam nur zu Stande, indem nun
die notiones universales ihr graues Netz über die geſchichtliche Welt
ausbreiteten. Der „Geiſt“ Hegels, welcher in der Geſchichte zum
Bewußtſein ſeiner Freiheit kommt oder die „Vernunft“ Schleier-
machers, welche die Natur durchdringt und geſtaltet, dies iſt eine
abſtrakte Weſenheit, welche in einer farbloſen Abſtraktion den
geſchichtlichen Weltlauf zuſammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und
ohne Zeit, den Müttern vergleichbar, zu denen Fauſt hinabſteigt.
Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind dann
die univerſalgeſchichtlichen Epochen Hegels, und zwar iſt die Ab-
ſtraktion, die ſie gewinnt, durch das metaphyſiſche Prinzip geleitet;
denn die Weltgeſchichte iſt ihm „eine Reihe von Beſtimmungen
der Freiheit, welche aus dem Begriff der Freiheit hervorgehen“.
Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind die
Grundgeſtalten des Handelns der Vernunft, welche Schleiermacher ent-
wirft, in denen dieſes Handeln „als ein Mannichfaltiges, abgeſehen
von den Beſtimmungen durch Raum und Zeit, geſondert durch Be-
griffsbeſtimmungen“ erkannt wird. Hegel, der von der Geſchichte
ausging, ordnet dieſe Allgemeinvorſtellungen in einer Zeitreihe,
Schleiermacher, der von dem Erlebniß in der gegenwärtigen Geſell-
ſchaft ausgeht, breitet ſie nebeneinander aus, wie ein anderes
Naturreich.
Die Methoden, deren ſich die Sociologie bedient hat, treten
freilich mit dem Anſpruch auf, daß durch ſie die metaphyſiſche
Epoche abgethan, die der poſitiven Philoſophie eröffnet ſei. Doch
hat der Begründer dieſer Philoſophie, Comte, nur eine naturaliſtiſche
Metaphyſik der Geſchichte geſchaffen, welche als ſolche den Thatſachen
des geſchichtlichen Verlaufs viel weniger angemeſſen war als die
von Hegel oder Schleiermacher. Daher ſind auch ſeine Allgemeinbe-
griffe viel unfruchtbarer. Brach Stuart Mill mit den gröberen Irr-
9*
[132]Erſtes einleitendes Buch.
thümern Comte’s, ſo wirken doch die feineren in ihm fort. Aus der
Unterordnung der geſchichtlichen Welt unter das Syſtem der Natur-
erkenntniß war im Geiſte der franzöſiſchen Philoſophie des
18. Jahrhunderts die Sociologie Comte’s entſtanden; die Unter-
ordnung der Methode des Studiums geiſtiger Thatſachen unter
die Methoden der Naturwiſſenſchaft hat wenigſtens Stuart Mill
feſtgehalten und vertheidigt.
Die Auffaſſung Comte’s betrachtet das Studium des menſch-
lichen Geiſtes als abhängig von der Wiſſenſchaft der Biologie,
das was von Gleichförmigkeiten in der Folge geiſtiger Zuſtände
wahrgenommen werden kann, als den Effekt der Gleichförmigkeiten
in den Zuſtänden des Körpers, und ſo leugnet ſie, daß Geſetz-
mäßigkeit in pſychiſchen Zuſtänden für ſich ſtudirt werden könne.
Dieſem logiſchen Verhältniß der Abhängigkeit unter den Wiſſen-
ſchaften entſpricht dann nach ihm die hiſtoriſche Ordnung in der
Abfolge, durch welche den Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ihr
hiſtoriſcher Ort beſtimmt iſt. Da die Sociologie die Wahrheiten
aller Naturwiſſenſchaften zu ihrer Vorausſetzung hat, gelangt ſie
erſt nach ihnen allen in das Stadium der Reife d. h. zur Feſt-
ſtellung der Sätze, welche die gefundenen Einzelwahrheiten zu einem
wiſſenſchaftlichen Ganzen verknüpfen. Die Chemie trat in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Lavoiſier in dieſes
Stadium; die Phyſiologie erſt im Beginn unſres Jahrhunderts
mit der Gewebelehre von Bichat: ſo ſchien es Comte, daß die
Conſtituirung der geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften als der höchſten
Claſſe wiſſenſchaftlicher Arbeiten ihm ſelber zufalle 1). — Allerdings
erkennt er an (trotz ſeiner Neigung zu einförmiger Reglementirung
der Wiſſenſchaft), daß zwiſchen der Sociologie und den ihr vorauf-
gehenden Wiſſenſchaften, insbeſondere der Biologie, welche auch
unſere geringe Kenntniß pſychiſcher Zuſtände in ſich faßt, ein anderes
Verhältniß beſtehe, als dasjenige, das zwiſchen irgend einer der
früheren Wiſſenſchaften und den ſie bedingenden Wahrheiten ſich
findet; das Verhältniß der Deduktion und Induktion iſt an dieſem
[133]Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch.
höchſten Punkte der Wiſſenſchaften umgekehrt; die Generaliſation
aus dem in der Geſchichte gegebenen Stoff iſt der Schwerpunkt
des Verfahrens der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und die Deduktion
aus den Ergebniſſen der Biologie dient nur zur Verificirung
der ſo gefundenen Geſetze. — Dieſer Einordnung der geiſtigen Er-
ſcheinungen unter den Zuſammenhang der Naturerkenntniß liegen
zwei Annahmen zu Grunde, von denen die eine unbeweisbar, die
andere augenſcheinlich falſch iſt. Die Annahme der ausſchließlichen
Bedingtheit pſychiſcher Zuſtände durch phyſiologiſche iſt ein vor-
eiliger Schluß aus Thatbeſtänden, welche nach dem Urtheil der
unbefangenen phyſiologiſchen Forſcher ſelber durchaus keine Ent-
ſcheidung geſtatten 1). Die Behauptung, innere Wahrnehmung ſei
in ſich unmöglich und unfruchtbar, „ein Unternehmen, das unſere
Nachkommen einmal zu ihrer Beluſtigung auf die Bühne gebracht
ſehen werden“, iſt aus einer Entſtellung des Wahrnehmungsvor-
gangs in irriger Weiſe gefolgert, und wird ausführlich widerlegt
werden.
In dieſem Zuſammenhang der Hierarchie der Wiſſenſchaften
entwickelt Comte „die nothwendige Richtung des Geſammtzuſammen-
hangs der menſchheitlichen Entwicklung“ 2), welche ihm alsdann
als Prinzip für die Leitung der Geſellſchaft dient, aus der
Anſchauung des geſchichtlichen Weltlaufs und verificirt ſie durch
die Biologie. — In der biologiſchen Verification berühren wir
augenſcheinlich den Lebensknoten ſeiner Sociologie. Welche iſt
alſo die biologiſche Grundlage, deren Herſtellung erſt die Schöpf-
ung der Sociologie ermöglichte? Comte erklärt: die Methode,
deren die Sociologie ſich bedient, mußte erſt auf dem Gebiet
der Naturforſchung ausgebildet werden. Das Mittel (milieu),
in dem der Menſch ſich befindet, mußte erſt in den Wiſſenſchaften
der anorganiſchen Natur erkannt werden. Sei das, wir ver-
langen aber einen Zuſammenhang, der in den Mittelpunkt der
Sociologie ſelber hineinreicht. Es iſt ſchwer, ein Lächeln zurück-
[134]Erſtes einleitendes Buch.
zuhalten: er beſteht darin, daß die Conſtanz der äußeren bio-
logiſchen Organiſation die Conſtanz einer gewiſſen pſychiſchen
Grundſtruktur darthut, dann aber — doch wir geben ſeine Worte —
nous avons reconnu, que le sens général de l’évolution
humaine consiste surtout à diminuer de plus en plus l’iné-
vitable prépondérance, nécessairement toujours fondamentale,
mais d’abord excessive, de la vie affective sur la vie in-
tellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la région
postérieure du cerveau sur la région frontale1). Derbe
naturaliſtiſche Metaphyſik — das iſt die wirkliche Grundlage
ſeiner Sociologie. — Andrerſeits iſt der „allgemeine Sinn der
menſchheitlichen Entwicklung“, wie er ihn der Anſchauung des
geſchichtlichen Weltlaufs abgewinnt, wieder nichts als eine notio
universalis, eine verworrene und unbeſtimmte Allgemeinvor-
ſtellung, welche aus dem bloßen Ueberblick über den geſchichtlichen
Zuſammenhang abſtrahirt iſt. Eine unwiſſenſchaftliche Abſtraktion,
unter deren weitem Mantel die wachſende Herrſchaft des Menſchen
über die Natur, der wachſende Einfluß der höheren Fähigkeiten
über die niederen, der Intelligenz über die Affekte, unſrer ſocialen
über unſere egoiſtiſchen Neigungen ſich zuſammenfinden 2). Dieſe
abſtrakten Bilder der Geſchichtsphiloſophen ſtellen den geſchicht-
lichen Weltlauf nur in immer anderen Verkürzungen dar.
Geht man zur Ausführung über, vermittelſt deren der Schüler
de Maiſtre’s ſein Papſtthum der naturwiſſenſchaftlichen Intelligenz
begründet, ſo bildet dieſe eine merkwürdige Beſtätigung unſerer
Sätze. Das Geſetz, das Comte wirklich gefunden hat, welches die
Beziehungen der logiſchen Abhängigkeit von Wahrheiten unter-
einander zu ihrer geſchichtlichen Abfolge ausdrückt (wenn es auch
noch unvollkommen bei ihm formulirt iſt) gehört einer Einzel-
wiſſenſchaft des Geiſtes an, und es wurde von ihm vermöge einer
anhaltenden und tiefeindringenden Beſchäftigung mit dieſem Kreiſe
der geſellſchaftlichen Wirklichkeit gefunden. Die Generaliſation
von den drei Epochen iſt in ihren wahren Grundzügen von
[135]Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch.
Turgot feſtgeſtellt worden, und die Ausführung Comte’s mißlang,
da ihm das Detail der Geſchichte der Theologie und Meta-
phyſik nicht bekannt war. So vermag ſeine Sociologie die
Stellung nicht zu erſchüttern, welche das poſitive Studium des
geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſtets behauptet hat: als die
Eine Hälfte des Kosmos der Wiſſenſchaften, ruhend auf ihren
eigenthümlichen und unabhängigen Erkenntnißbedingungen, an-
wachſend aus eigenen Erkenntnißmitteln in erſter Linie, dabei
mitbeſtimmt durch den Fortſchritt der Wiſſenſchaften vom Erd-
ganzen und von den Bedingungen und Formen des Lebens auf ihm.
Brachte ſo Comte ſeine Sociologie in eine blendende, aber
falſche Beziehung zu den Naturwiſſenſchaften, ſo hat er andrer-
ſeits das wahre und fruchtbare Verhältniß jeder geſchichtlichen
Betrachtung zu den Einzelwiſſenſchaften des Menſchen und der
Geſellſchaft nicht erkannt und nicht benutzt. Im Widerſpruch mit
ſeinem Prinzip der poſitiven Philoſophie, hat er ſeine ungeſtümen
Generaliſationen außer Zuſammenhang mit der methodiſchen Ver-
werthung der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes abgeleitet, aus-
genommen ſeine Theorie über den Zuſammenhang der Entwick-
lung der Intelligenz.
Als eine Abſchwächung dieſes Prinzips der Unterordnung
der geſchichtlichen Erſcheinungen unter die Naturwiſſenſchaften, wie
es in Comte vorliegt, muß die Art von Unterordnung betrachtet
werden, welche Stuart Mill in ſeinem berühmten Capitel über
die Logik der Geiſteswiſſenſchaften vertritt. Kehrt er dem Meta-
phyſiſchen in Comte den Rücken und hätte demnach wohl eine
geſundere Richtung in der Betrachtung der Geſchichte vorbereiten
können, ſo wirkt doch in ſeiner Methode die Unterordnung der
Geiſteswiſſenſchaften unter die der Natur in verhängnißvoller
Weiſe nach. Er unterſcheidet ſich von Comte, wie ſich das auf
Pſychologie gegründete natürliche Syſtem der geſellſchaftlichen
Funktionen und Lebensſphären, welches die Engländer im 18. Jahr-
hundert aufgeſtellt hatten, von dem auf die Naturwiſſenſchaften
gegründeten unterſcheidet, welches die franzöſiſchen Materialiſten des
18. Jahrhunderts vertheidigt hatten. Er erkennt die Selbſtändig-
[136]Erſtes einleitendes Buch.
keit der Erklärungsgründe der Geiſteswiſſenſchaften vollſtändig an.
Aber er ordnet ihre Methoden zu ſehr dem Schema unter, welches
er aus dem Studium der Naturwiſſenſchaften entwickelt hat. „Wenn“,
ſo ſagt er in dieſer Beziehung, „einige Gegenſtände Reſul-
tate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden ein-
ſtimmig beiſtimmten, wenn man in Beziehung auf andere weniger
glücklich war und die ſcharfſinnigſten Geiſter ſich von der früheſten
Zeit an mit denſelben beſchäftigten, ohne daß es ihnen gelungen
wäre, ein anſehnliches, gegen Zweifel oder Einwürfe geſichertes
Syſtem von Wahrheiten zu begründen, ſo dürfen wir dieſen Fleck
vom Antlitz der Wiſſenſchaft dadurch zu entfernen hoffen, daß wir
die bei den erſteren Unterſuchungen ſo glücklich befolgten Methoden
verallgemeinern und ſie den letzteren anpaſſen 1).“ So anfechtbar
dieſer Schluß iſt, ſo unfruchtbar iſt die „Anpaſſung“ der Me-
thoden der Geiſteswiſſenſchaften geweſen, welche durch ihn be-
gründet wird. Bei Mill beſonders vernimmt man das einförmige
und ermüdende Geklapper der Worte Induktion und Deduktion,
welches jetzt aus allen uns umgebenden Ländern zu uns herübertönt.
Die ganze Geſchichte der Geiſteswiſſenſchaften iſt ein Gegenbeweis
gegen den Gedanken einer ſolchen „Anpaſſung“. Dieſe Wiſſen-
ſchaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die
der Natur. Ihr Objekt ſetzt ſich aus gegebenen, nicht erſchloſſenen
Einheiten, welche uns von innen verſtändlich ſind, zuſammen;
wir wiſſen, verſtehen hier zuerſt, um allmälig zu erkennen. Fort-
ſchreitende Analyſis eines von uns in unmittelbarem Wiſſen und
in Verſtändniß von vorn herein beſeſſenen Ganzen: das iſt daher
der Charakter der Geſchichte dieſer Wiſſenſchaften. Die Theorie der
Staaten oder der Dichtung, wie ſie die Griechen zu Alexanders
Zeit beſaßen, verhält ſich zu unſerer Staatswiſſenſchaft oder Aeſthetik
ganz anders als naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungen jener Epoche
zu den unſeren. Und es iſt eine eigene Art von Erfahrung die
hier ſtattfindet: das Objekt baut ſich ſelber erſt vor den Augen
der fortſchreitenden Wiſſenſchaft nach und nach auf; Individuen
[137]Die Methode der Sociologie Stuart Mill’s iſt falſch.
und Thaten ſind die Elemente dieſer Erfahrung, Verſenkung aller
Gemüthskräfte in den Gegenſtand iſt ihre Natur. Dieſe Andeutungen
zeigen hinlänglich, daß, im Gegenſatz gegen die gewiſſermaßen von
außen an die Geiſteswiſſenſchaften herantretenden Methoden eines
Mill und Buckle, die Aufgabe gelöſt werden muß: durch eine Er-
kenntnißtheorie die Geiſteswiſſenſchaften zu begründen, ihre ſelb-
ſtändige Geſtaltung zu rechtfertigen und zu ſtützen ſowie die Unter-
ordnung ihrer Prinzipien wie ihrer Methoden unter die der Natur-
wiſſenſchaften definitiv zu beſeitigen.
XVII.
Sie erkennen nicht die Stellung der Geſchichtswiſſenſchaft
zu den Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft.
Mit dieſen Irrthümern über Aufgabe und Methode ſteht die
falſche Stellung dieſer Träume von Wiſſenſchaften zu den wirklich
exiſtenten Einzelwiſſenſchaften im nächſten Zuſammenhang. Die-
ſelben erwarten von ihren tumultuariſchen Beſtrebungen, was ſtets
nur das Werk der anhaltenden Arbeit vieler Generationen ſein kann.
Daher gleichen alle dieſe iſolirten Entwürfe Backſteinbauten, welche
durch Tünche die Blöcke, Säulen und Verzierungen in Granit
nachahmen, die nur in der geduldigen und langſamen Bearbeitung
eines ſpröden Stoffes entſtehen.
In den unzähligen Abſtufungen der Verſchiedenheit von in-
dividuellen Einheiten, in dem unermeßlich vertheilten und veränder-
lichen Spiel von Urſachen, Wirkungen, Wechſelwirkungen zwiſchen
ihnen, als der Wirklichkeit der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Welt, faßt
die Wiſſenſchaft, will ſie dieſe Wirklichkeit auch nur auffaſſen, das
Gleichartige der Thatſachen, das Gleichförmige der Beziehungen
einerſeits in dem Nacheinander der Thatbeſtände und Verände-
rungen, andrerſeits in dem Nebeneinander derſelben zuſammen.
Die Eine Seite des Problems vom allgemeinen Zuſammen-
hang in dieſer Wirklichkeit bildet alſo das höchſt complexe Ganze
[138]Erſtes einleitendes Buch.
des Fortgangs der Geſellſchaft von ſeinem Lebensſtande (status
societatis) in einem beſtimmten Durchſchnitt zu dem in einem
beſtimmten anderen, ſchließlich von ihrem erſten für uns auffaß-
baren Lebensſtande zu dem, welcher die Geſellſchaft der Gegenwart
ausmacht (ein status deſſen Auffaſſung den früheren Begriff
von Statiſtik bildete). Dieſe Seite des Problems hat, als die
Theorie des geſchichtlichen Fortſchritts, von Anfang das
Centrum der Philoſophie der Geſchichte gebildet: Comte bezeichnet
ſie als Dynamik der Geſellſchaft. — Nie hat nun die Philoſophie der
Geſchichte vermocht, ein allgemeines Geſetz dieſes Fortſchritts von
hinlänglicher Beſtimmtheit aus der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit direkt abzuleiten. Eine ſolche Theorie müßte entweder
die Beziehung zwiſchen Formeln enthalten, deren jede einzeln den
Inbegriff eines beſtimmten status societatis ausdrückte und deren
Vergleichung ſonach das Geſetz des Geſammtfortſchritts ergeben
würde; oder eine ſolche Theorie müßte in einer Formel den Inbe-
griff aller Cauſalbeziehungen ausdrücken, welche die Veränderungen
innerhalb des Totalzuſammenhangs der Geſellſchaft hervorbringen.
Es braucht nicht entwickelt zu werden, daß die Ableitung einer
Formel der einen wie der anderen Art aus der Geſammtanſchau-
ung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit die menſchliche
Anſchauungskraft gänzlich überſteigt.
Soll der Zuſammenhang des geſchichtlich - geſellſchaftlichen
Lebens, nach der Seite der Abfolge der in ihm enthaltenen Zu-
ſtände angeſehen, der Methode der Erfahrung unterworfen werden,
dann muß das Ganze deſſelben in Einzelzuſammenhänge auf-
gelöſt werden, welche überſichtlicher und einfacher ſind. Das-
ſelbe Verfahren muß angewandt werden, vermöge deſſen die
Naturwiſſenſchaften ihr umfaſſendes Problem des Zuſammenhangs
der äußeren Natur zerlegt und in der Lehre von Gleichge-
wicht und Bewegung der Körper, von Schall, Licht, Wärme,
Magnetismus und Elektricität, ſowie vom chemiſchen Verhalten
der Körper einzelne Syſteme von Naturgeſetzen conſtituirt haben,
vermittelſt deren ſie ſich alsdann der Auflöſung ihres allgemeinen
Problems nähern. — Nun exiſtiren aber Einzelwiſſenſchaften, welche
[139]Das Problem des geſchichtlichen Fortſchritts.
dies Verfahren angewandt haben. Der einzig mögliche Weg
einer Erforſchung des geſchichtlichen Zuſammenhangs: Zerlegung
deſſelben in Einzelzuſammenhänge, iſt in den Einzeltheorien der
Syſteme der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
längſt eingeſchlagen worden. Das Studium des Individuums
als der Lebenseinheit in der Zuſammenſetzung der Geſellſchaft
iſt die Bedingung für die Erforſchung der Thatbeſtände, die aus
der Wechſelwirkung dieſer Lebenseinheiten in der Geſellſchaft durch
Abſtraktion ausgelöſt werden können; nur auf dieſer Grundlage
der Ergebniſſe der Anthropologie, vermittelſt der theoretiſchen
Wiſſenſchaften der Geſellſchaft in ihren drei Hauptclaſſen, der
Ethnologie, der Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur ſowie
derer von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft kann das Pro-
blem des Zuſammenhangs unter den auf einander folgenden Zu-
ſtänden der Geſellſchaft allmälig einer Löſung näher geführt
werden. — Auch ſind thatſächlich auf dieſem Weg alle exakten und
fruchtbaren Geſetze gefunden worden, zu denen die Geiſteswiſſen-
ſchaften bisher gelangt ſind, wie das Grimm’ſche Geſetz in der
Sprachwiſſenſchaft, das Thünen’ſche in der politiſchen Oekonomie,
die Verallgemeinerungen über Struktur, Entwicklungsgeſchichte und
Störungen des Staatslebens ſeit Ariſtoteles, die Sätze welche
Winckelmann, Heyne, die Schlegel über die Entwicklungsgeſchichte
der Künſte gewonnen haben, das Comte’ſche Geſetz der Beziehung
zwiſchen der logiſchen Abhängigkeit der Wiſſenſchaften von einander
und ihrer geſchichtlichen Abfolge.
Die andere Seite dieſes Problems von dem allgemeinen
Zuſammenhang in der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, das
Studium der Beziehungen zwiſchen den gleichzeitigen
Thatſachen und Veränderungen, fordert ebenfalls Zer-
legung des complexen Thatbeſtandes eines ſolchen status socie-
tatis. Die Beziehungen von Abhängigkeit und Verwandtſchaft,
wie ſie zwiſchen den Erſcheinungen eines Zeitalters ſtattfinden und
in der Störung ſich kundgeben, die bei Abänderungen in Einem
Beſtandtheil des geſellſchaftlichen Geſammtzuſtandes in anderen
auftritt, können mit dem Verhältniß, welches zwiſchen den Beſtand-
[140]Erſtes einleitendes Buch.
theilen, zwiſchen den Funktionen eines Organismus ſtattfindet, ver-
glichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters
oder einer Epoche zu Grunde und jede kulturgeſchichtliche Schilderung
geht von ihnen aus. Hegel erfaßte ſie höchſt energiſch; es war
ſein Kunſtgriff, literariſche Erzeugniſſe eines Zeitalters zu benutzen,
um auf die Geiſtesverfaſſung deſſelben von ihnen aus ein Licht
zu werfen, wie denn hierauf ſeine irrige Theorie von dem für den
ganzen Geiſt eine Zeit repräſentativen Charakter philoſophiſcher
Syſteme gegründet war. Die franzöſiſchen und engliſchen Socio-
logen faſſen dieſe Beziehungen in dem Begriff des Conſenſus
zwiſchen gleichzeitigen geſellſchaftlichen Erſcheinungen zuſammen.
Aber ein genauer Ausdruck für die Verwandtſchaft zwiſchen den
verſchiedenartigen Beſtandtheilen, für die Abhängigkeit des einen
vom anderen ſetzt auch hier augenſcheinlich die Unterſcheidung der
einzelnen Glieder und Syſteme voraus, welche den status socie-
tatis bilden; ſchon eine Ueberſicht über den Charakter der Kultur
in einer Epoche muß zeigen, wie in der Verſchiedenheit der Glieder
und Syſteme der Geſellſchaft gleichartige Grundverhältniſſe ſich
als Verwandtſchaft äußern.
Dieſem Verhältniß, welches die Methodologie der Geiſtes-
wiſſenſchaften tiefer zu entwickeln haben wird, entſpricht der thatſäch-
liche Beſtand der allgemeinen Wahrheiten in der Philoſo-
phie der Geſchichte und der Sociologie. Vico, Turgot, Condorcet,
Herder waren in erſter Linie Univerſalhiſtoriker in philoſophiſcher
Abſicht. Der umfaſſende Blick, durch welchen ſie Wiſſenſchaften
miteinander combinirten, wie Vico Jurisprudenz und Philologie,
Herder Naturkunde und Geſchichte, Turgot politiſche Oekonomie,
Naturwiſſenſchaften und Geſchichte hat der modernen Geſchichts-
wiſſenſchaft erſt ihre Wege gebahnt. Der Name der Philoſophie
der Geſchichte, ja nicht ſelten daſſelbe Werk umfaßt aber mit dieſen
Arbeiten, welche fruchtbare Combinationen in der Richtung einer
wahren Univerſalgeſchichte vollzogen, zugleich Theorien ganz
anderer Art, welche der Gemeinſchaft mit jenen Arbeiten den
größten Theil ihres Anſehns verdanken. Aus dieſen Formeln,
welche den Sinn der Geſchichte auszuſprechen beanſpruchen, iſt
[141]Das Problem des Conſenſus gleichzeitiger Thatſachen.
keine fruchtbare Wahrheit gefloſſen. Alles metaphyſiſcher Nebel.
Bei keinem iſt er dichter als bei Comte, der den Katholicismus
de Maiſtre’s in das Schattenbild einer hierarchiſchen Leitung
der Geſellſchaft durch die Wiſſenſchaften wandelte1). Und wo irgend
aus dieſen Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da ſind es Sätze
über Funktion, Struktur und Entwicklungsgeſchichte der einzelnen
Völker, Religionen, Staaten, Wiſſenſchaften, Künſte oder über die
Beziehungen zwiſchen dieſen im Zuſammenhang der geſchichtlichen
Welt. Aus dieſen Sätzen über das Leben der Glieder und
Syſteme der Menſchheit ſetzt ſich jedes genauere Bild zuſammen,
durch welches irgend eine Philoſophie der Geſchichte ihrem ſchatten-
haften Grundgedanken etwas von Fleiſch und Blut giebt2).
XVIII.
Wachſende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzel-
wiſſenſchaften.
Inzwiſchen unterwerfen ſich die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes
immer neue Gruppen von Thatſachen, ſie erhalten durch vergleichende
Methode und pſychologiſche Grundlegung immer mehr den Charakter
allgemeiner Theorien, und wenn ſie ſich der Beziehungen zu ein-
ander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: ſo muß
wohl klar werden, daß in ihrem Zuſammenhang allmälig die-
jenigen unter den Problemen der Sociologie, der Philoſophie des
Geiſtes oder der Geſchichte einer Löſung ſich nähern, die einer
ſolchen überhaupt zugänglich ſind.
Wir ſahen, wie dieſe Einzelwiſſenſchaften aus dem Totalzu-
[142]Erſtes einleitendes Buch.
ſammenhang durch einen Vorgang von Analyſis und Abſtraktion
ausgeſondert worden ſind. Nur in der Beziehung auf die Wirk-
lichkeit, in der ihre abſtrakten Sätze enthalten ſind, liegt ihre
Wahrheit. Nur indem dieſe Beziehung in ihre Sätze mit au[f]ge-
nommen wird, gelten dieſelben von dieſer Wirklichkeit. In der Los-
löſung von dieſem Zuſammenhang entſprangen die verhängniß-
vollen Irrthümer, welche als abſtraktes Naturrecht, abſtrakte poli-
tiſche Oekonomie, als Syſtem der natürlichen Religion, kurz als
das natürliche Syſtem des 17. und 18. Jahrhunderts die Wiſſen-
ſchaften verdorben und die Geſellſchaft geſchädigt haben. Indem die
Einzelwiſſenſchaften von einem erkenntnißtheoretiſchen Bewußtſein
aus die Stellung ihrer Sätze zu der Wirklichkeit, aus der ſie ab-
ſtrahirt ſind, feſthalten, erhalten dieſe Sätze, wie abſtrakt ſie auch
ſeien, das Maß ihrer Geltung an der Wirklichkeit. — Wir ſahen
aber ferner, daß uns keine Erkenntniß des concreten Totalzuſammen-
hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit vergönnt iſt, als
welche durch Zergliederung deſſelben in Einzelzuſammenhänge, ſo-
nach vermittelſt dieſer Einzelwiſſenſchaften erreicht wird. In
letzter Inſtanz iſt unſre Erkenntniß dieſes Zuſammenhangs nur
ein ſich ganz Klar-, ganz Bewußtmachen des logiſchen Zuſammen-
hangs, in welchem die Einzelwiſſenſchaften ihn beſitzen oder ihn
zu erkennen geſtatten. Dagegen müſſen die iſolirten Einzelwiſſen-
ſchaften des Geiſtes der todten Abſtraktion verfallen; die iſolirte
Philoſophie des Geiſtes iſt ein Geſpenſt; die Sonderung der philo-
ſophiſchen Betrachtungsweiſe der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit von der poſitiven iſt die verderbliche Erbſchaft der Metaphyſik.
Die Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zeigt
einen Fortſchritt, welcher hiermit in Uebereinſtimmung iſt. Un-
befangene, von den Abſtraktionen vergangener Tage freie Analyſen
einzelner Geſtaltungen aus dem Gebiet der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft oder der Syſteme der Kultur, wie wir ſeit Toque-
ville’s glorreichen Arbeiten deren eine ganze Anzahl erhalten
haben, legen den inneren Zuſammenhang von geſchichtlichen Ge-
bilden bloß. Das Verfahren der Vergleichung hat in der Sprach-
wiſſenſchaft ſeine Probe beſtanden, hat ſich ſiegreich auf die Mytho-
[143]Wachſende Ausdehnung u. Vervollkommnung d. Geiſteswiſſenſchaft.
logie ausgedehnt, und es verſpricht, allmälig allen Einzelwiſſen-
ſchaften des Geiſtes den Charakter von wirklichen Theorien zu
geben. Der Zuſammenhang mit der Anthropologie wird von
keinem der poſitiven Forſcher mehr vernachläſſigt.
Die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur und der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft ſtehen aber mit der Anthropologie
hauptſächlich durch jene pſychiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen
in Verbindung, welche ich als ſolche zweiter Ordnung bezeichnet
habe. Die Analyſis dieſer Thatſachen, welche in der Wechſel-
wirkung der Individuen in der Geſellſchaft ſich bilden und keines-
wegs in die der Anthropologie völlig auflöslich ſind, bedingt in
einem erheblichen Grade die theoretiſche Strenge der Einzelwiſſen-
ſchaften, denen ſie zu Grunde liegen. Die Thatſachen von Bedürfniß,
Arbeit, Herrſchaft, Befriedigung ſind pſychophyſiſcher Natur; ſie
ſind Beſtandtheile der Grundlagen der politiſchen Oekonomie, der
Staats- und Rechtswiſſenſchaft, und ihre Zergliederung geſtattet,
ſozuſagen in die Mechanik der Geſellſchaft einzudringen. Man
könnte ſich eine allgemeine Betrachtungsweiſe denken, gewiſſermaßen
eine Pſychophyſik der Geſellſchaft, welche die Beziehungen zwiſchen
der Vertheilung der veränderlichen Geſammtmaſſe des pſychiſchen
Lebens auf der Erdoberfläche und der Vertheilung derjenigen Kräfte
zum Gegenſtande hätte, die in der Natur bereit liegen, in den
Dienſt dieſer Geſammtmaſſe gebracht ſind und durch deren Leiſtungen
dieſe ſchließlich ihre Bedürfniſſe befriedigt. Andere wichtige pſychiſche
Thatſachen liegen den Syſtemen der höheren geiſtigen Kultur zu
Grunde, ſo die Thatſache der Uebertragung und der in ihr ſich
vollziehenden Umbildung. In der Uebertragung verbleibt ein Zu-
ſtand in A während er auf B übergeht; hierauf gründen ſich die
quantitativen Beziehungen in jedem Syſtem einer geiſtigen Be-
wegung. Geht man davon aus, daß in der Wiſſenſchaft eine
vollſtändige Uebertragbarkeit der Begriffe und Sätze von dem
Denker der ſie aufgefunden auf den deſſen Faſſungskraft der Auf-
gabe ihres Verſtändniſſes angemeſſen iſt übergeht: ſo entſteht das
intereſſante Problem, die Urſachen der Störungen zu erforſchen,
[144]Erſtes einleitendes Buch.
welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des
Wiſſens verhindert haben.
Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem
Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden
Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel-
wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde
Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen-
hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die
innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und
ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu-
tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht-
lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern-
den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft
oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles
hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet.
Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der
Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie
quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte
ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg-
lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen
Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In-
tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in
einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden
wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen
eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in
ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen
Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe
einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an
Anſchaulichkeit gewinnen.
So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber-
gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung
der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung
zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an-
gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber-
leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.
[145]Nothwendigkeit der erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung.
XIX.
Die Nothwendigkeit einer erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung
für die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes.
Alle Fäden der bisherigen Erwägungen laufen in der folgen-
den Einſicht zuſammen. Das Erkennen der geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Wirklichkeit vollzieht ſich in den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes. Dieſe aber bedürfen ein Bewußtſein über das Verhält-
niß ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, deren Theilinhalte ſie
ſind, ſowie zu den anderen Wahrheiten, die gleich ihnen aus dieſer
Wirklichkeit abſtrahirt ſind, und nur ein ſolches Bewußtſein kann
ihren Begriffen die volle Klarheit, ihren Sätzen die volle Evidenz
gewähren.
Aus dieſen Prämiſſen ergiebt ſich die Aufgabe, eine er-
kenntnißtheoretiſche Grundlegung der Geiſteswiſſen-
ſchaften zu entwickeln, alsdann das in einer ſolchen geſchaffene
Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zuſammenhang der
Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, die Grenzen, innerhalb deren ein
Erkennen in ihnen möglich iſt, ſowie das Verhältniß ihrer Wahr-
heiten zu einander zu beſtimmen. Die Löſung dieſer Aufgabe
könnte als Kritik der hiſtoriſchen Vernunft d. h. des Vermögens
des Menſchen, ſich ſelber und die von ihm geſchaffene Geſellſchaft
und Geſchichte zu erkennen, bezeichnet werden.
Eine ſolche Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften muß ſich,
wenn ſie ihr Ziel erreichen will, in zwei Punkten von den bis-
herigen Arbeiten verwandter Art unterſcheiden. Sie verknüpft
Erkenntnißtheorie und Logik mit einander und bereitet
ſo die Löſung der Aufgabe vor, welche im Schulbetrieb als
Encyklopädie und Methodologie bezeichnet wird. Aber ſie ſchränkt
andrerſeits ihr Problem auf das Gebiet der Geiſtes-
wiſſenſchaften ein.
Die Logik als Methodenlehre zu geſtalten, iſt die gemein-
ſame Richtung aller hervorragenden logiſchen Arbeiten unſeres Jahr-
Dilthey, Einleitung. 10
[146]Erſtes einleitendes Buch.
hunderts. Aber das Problem der Methodenlehre empfängt durch
den Zuſammenhang, in welchem es in der neueren deutſchen Philo-
ſophie auftritt, eine beſondere Form. Dieſe Form der Aufgabe
iſt in dem ganzen Zuſammenhang unſerer Philoſophie objektiv ange-
legt und muß jede Methodenlehre, die unter uns auftritt, unter-
ſcheiden von den Arbeiten eines Stuart Mill, Whewell oder Jevons.
Die Analyſis der Bedingungen des Bewußtſeins hat die un-
mittelbare Gewißheit der Außenwelt, die objektive Wahrheit der
Wahrnehmung, alsdann der Sätze, welche die Eigenſchaften des
Räumlichen ausdrücken, ſowie der Begriffe von Subſtanz und Ur-
ſache, welche die Natur des Wirklichen ausſprechen, aufgelöſt,
und zwar wurde ſie theils getragen, theils beſtätigt durch die Er-
gebniſſe der Phyſik und Phyſiologie: ſo entſteht die Aufgabe, die
einzelnen Wiſſenſchaften mit dieſem kritiſchen Bewußtſein zu er-
füllen. Den Anforderungen an Evidenz, in welchen die poſitiven
Wiſſenſchaften der früheren Zeit zuſammentrafen mit der formalen
Logik jener Tage, wurde genuggethan, indem die im Bewußtſein
als unmittelbar gewiß auftretenden Thatſachen und Sätze unter
die Geſetze des diskurſiven Denkens geſtellt wurden. Nunmehr
aber, vom kritiſchen Standpunkte aus, ſind an die Geſtaltung
eines ſeiner Sicherheit klar bewußten Denkzuſammenhangs inner-
halb der einzelnen Wiſſenſchaften andere Anforderungen zu ſtellen.
Hieraus entſpringt für die Logik die Aufgabe, dieſe Anforderungen
zu entwickeln, wie ſie der kritiſche Standpunkt an die Geſtaltung
eines ſeiner Sicherheit klar bewußten Denkzuſammenhangs innerhalb
der einzelnen Wiſſenſchaften machen muß.
Eine Logik, welche dieſe Anforderungen erfüllt, bildet das
Mittelglied zwiſchen dem Standpunkt, welchen die kritiſche Philo-
ſophie errungen hat, und den fundamentalen Begriffen und Sätzen
der einzelnen Wiſſenſchaften. Denn die Regeln, welche dieſe Logik
entwirft, wollen die Sicherheit von Sätzen der Einzelwiſſenſchaften
durch einen Zuſammenhang gewährleiſten, welcher auf die Elemente
gegründet iſt, bis zu denen die Analyſis des Bewußtſeins die
Sicherheit des Wiſſens zurückführt. Es iſt auch hier die nicht
aufzuhaltende Bewegung in der Wiſſenſchaft unſeres Jahrhunderts,
[147]Sie ſoll Erkenntnißtheorie und Logik verknüpfen.
die Grenzen niederzureißen, welche ein eingeſchränkter Fachbetrieb
zwiſchen der Philoſophie und den Einzelwiſſenſchaften errichtet hat.
Den Anforderungen des kritiſchen Bewußtſeins vermag aber
die Logik nur zu entſprechen, indem ſie ihr Gebiet über die Ana-
lyſis des diskurſiven Denkens hinaus erweitert. Die formale Logik
ſchränkt ſich auf die Geſetze des diskurſiven Denkens ein, welche
aus dem Ueberzeugungsgefühl abſtrahirt werden konnten, das unſer
im Bewußtſein verlaufendes Urtheilen und Schließen begleitet.
Dieſe Logik dagegen, welche die Konſequenz des kritiſchen Stand-
punktes zieht, nimmt die von Kant als transcendentale Aeſthetik
und Analytik bezeichneten Unterſuchungen in ſich auf, d. h. den
Zuſammenhang der dem diskurſiven Denken zu Grunde liegenden
Vorgänge; ſie dringt alſo rückwärts in die Natur und den Er-
kenntnißwerth von Prozeſſen ein, deren Ergebniſſe unſere früheſte
Erinnerung ſchon vorfindet. Und zwar kann ſie dem ſo ent-
ſtehenden, den inneren und äußeren Wahrnehmungsvorgang ſowie
das diskurſive Denken umfaſſenden Zuſammenhang ein Prinzip
der Aequivalenz zu Grunde legen, welchem gemäß die Leiſtung,
durch welche der Wahrnehmungsvorgang über das ihm Gegebene
hinausgeht, dem diskurſiven Denken gleichwerthig iſt. In der
Richtung einer ſolchen Erweiterung der Logik liegt der von Helm-
holtz entworfene tiefe Begriff der unbewußten Schlüſſe1). Dieſe Er-
weiterung muß alsdann auf die Formeln zurückwirken, in welchen
die Beſtandtheile und Normen des diskurſiven Denkens dargeſtellt
werden. Das logiſche Ideal ſelber ändert ſich. Sigwart
hat von dieſem Standpunkt aus die Formeln der Logik umge-
bildet und ſo eine Methodenlehre unter kritiſchem Geſichtspunkt
begründet2). Nachdem einmal das kritiſche Bewußtſein da iſt,
kann es unmöglich eine Evidenz erſter und zweiter Klaſſe oder
Wiſſende erſter und zweiter Rangordnung geben; nur derjenige
Begriff iſt nunmehr vollkommen in logiſcher Rückſicht, welcher ein
10*
[148]Erſtes einleitendes Buch.
Bewußtſein ſeiner Provenienz in ſich enthält; nur derjenige Satz
beſitzt Sicherheit, deſſen Begründung in ein unanfechtbares Wiſſen
zurückreicht. Die logiſchen Anforderungen an den Begriff ſind
vom kritiſchen Standpunkt aus erſt dann erfüllt, wenn im Zu-
ſammenhang der Erkenntniß, in welchem er auftritt, ein Bewußt-
ſein des Erkenntnißvorganges ſelber, durch den er gebildet wird,
vorhanden, und ihm durch dieſes ſein Ort in dem Syſtem
der Zeichen, welche ſich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig
beſtimmt iſt. Den logiſchen Anforderungen an ein Urtheil iſt
erſt dann entſprochen, wenn das Bewußtſein ſeines logiſchen
Grundes in dem Zuſammenhang der Erkenntniß, in welchem es
auftritt, die erkenntnißtheoretiſche Klarheit über Gültigkeit und
Tragweite des ganzen Zuſammenhangs pſychiſcher Akte einſchließt,
welche dieſen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen
der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller
Erkenntnißtheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wiſſens um
die Thatſachen des Bewußtſeins und Verhältniß deſſelben zu dem
nach dem Satze vom Grunde fortſchreitenden Erkennen.
Dieſe Erweiterung des Geſichtskreiſes der Logik iſt in
Uebereinſtimmung mit der Richtung der poſitiven Wiſſenſchaften
ſelber. Indem das naturwiſſenſchaftliche Denken über die natür-
liche Beziehung unſerer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum
und Zeit hinausgeht, findet es ſich überall auf die genaue Be-
ſtimmung dieſer Empfindungen ſelber zurückgeführt, ſonach auf die
Beſtimmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß,
auf allgemeingültige Orts- und Größenbeſtimmungen ſowie Elimi-
nirung der Beobachtungsfehler, kurz auf Methoden, durch welche die
Bildung der Wahrnehmungsurtheile ſelber zu logiſcher Vollkommen-
heit geführt werden kann. In Bezug auf die Geiſteswiſſenſchaften
aber zeigte ſich uns, daß pſychiſche und pſychophyſiſche Thatſachen
die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, ſondern
ebenſo von den Syſtemen der Kultur ſowie von der äußeren Or-
ganiſation der Geſellſchaft bilden, und daß dieſelben der hiſtoriſchen
Anſchauung und Analyſis in jedem ihrer Stadien zu Grunde
liegen. Daher die erkenntnißtheoretiſche Unterſuchung über die Art,
[149]Und ihr Problem a. d. Grundlegung d. Geiſteswiſſenſchaften einſchränken.
wie ſie uns gegeben ſind, und die Evidenz, die ihnen zukommt, allein
wirkliche Methodenlehre der Geiſteswiſſenſchaften begründen kann.
So tritt zwiſchen die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung und
die Einzelwiſſenſchaften die Logik als Mittelglied; damit entſteht
derjenige innere Zuſammenhang der modernen Wiſſen-
ſchaft, welcher an die Stelle des alten metaphyſiſchen Zuſammen-
hangs unſerer Erkenntniß treten muß.
Die zweite Eigenthümlichkeit in Beſtimmung der Aufgabe
dieſer Einleitung liegt in der Einſchränkung derſelben auf
die Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften1). — Wären
die Bedingungen, unter denen das Erkennen der Natur ſteht, in
demſelben Sinn grundlegend für den Aufbau der Geiſteswiſſen-
ſchaften, wären alle Verfahrungsweiſen, vermittelſt deren unter
dieſen Bedingungen Naturerkennen erreicht wird, auf das Studium
des Geiſtes anwendbar, und zwar keine als ſie, wäre endlich
die Art von Abhängigkeit der Wahrheiten von einander ſowie
von Beziehung der Wiſſenſchaften aufeinander dieſelbe hier wie
dort: alsdann wäre die Sonderung der Grundlegung der Geiſtes-
wiſſenſchaften von der für die Wiſſenſchaften der Natur ohne
Nutzen. — In Wirklichkeit ſind gerade die am meiſten umſtrittenen
von den Bedingungen, unter denen naturwiſſenſchaftliches Erkennen
ſteht, nämlich räumliche Anordnung und die Bewegung in der
Außenwelt, auf die Evidenz der Geiſteswiſſenſchaften ohne Ein-
fluß, da2) die bloße Thatſache, daß ſolche Phänomene beſtehen
und Zeichen eines Realen ſind, für die Konſtruktion ihrer Sätze
ausreicht. Tritt man alſo auf dieſe engere Grundlage, ſo eröffnet
ſich die Möglichkeit, für den Zuſammenhang der Wahrheiten in
den Wiſſenſchaften vom Menſchen, der Geſellſchaft und Geſchichte
eine Sicherheit zu gewinnen, zu welcher die Naturwiſſenſchaften,
ſofern ſie mehr als Beſchreibung von Phänomenen ſein wollen,
niemals gelangen können. — In Wirklichkeit ſind ferner die Ver-
fahrungsweiſen der Geiſteswiſſenſchaften, als in denen ihr Objekt
[150]Erſtes einleitendes Buch.
verſtanden iſt, noch bevor es erkannt wird1), und zwar in der
Totalität des Gemüthes2), ſehr verſchieden von denen der Natur-
wiſſenſchaften3). Und man braucht nur die Stellung zu erwägen,
welche hier die Auffaſſung der Thatſache als ſolcher hat4), als-
dann ihr Hindurchgehen durch verſchiedene Grade von Bearbeitung
unter dem Einfluß der Analyſis5), um die ganz andere Struktur
des Zuſammenhangs in dieſen Wiſſenſchaften zu erkennen. —
Endlich ſtehen hier Thatſache, Geſetz, Werthgefühl und Regel in
einem inneren Zuſammenhang, welcher innerhalb der Naturwiſſen-
ſchaften ſo nicht ſtattfindet. Dieſer Zuſammenhang kann nur in der
Selbſtbeſinnung erkannt werden6), und ſo hat dieſelbe auch hier
ein beſonderes Problem der Geiſteswiſſenſchaften zu löſen, welches,
wie wir ſahen, auf dem metaphyſiſchen Standpunkte der Philoſophie
der Geſchichte ſeine Auflöſung nicht fand.
Daher eine ſolche abgeſonderte Behandlung die wahre Natur
der Geiſteswiſſenſchaften für ſich heraustreten läßt und ſo viel-
leicht dazu beiträgt, die Feſſeln zu brechen, in denen die ältere
und ſtärkere Schweſter dieſe jüngere gehalten hat, von der Zeit
ab in welcher Descartes, Spinoza und Hobbes ihre an Mathematik
und Naturwiſſenſchaften gereiften Methoden auf dieſe zurückgeblie-
benen Wiſſenſchaften übertrugen.
[[151]]
Zweites Buch.
Metaphyſik als Grundlage der Geiſteswiſſenſchaften.
Ihre Herrſchaft und ihr Verfall.
Um ſie kein Ort, noch wen’ger eine Zeit;
Von ihnen ſprechen iſt Verlegenheit.
Fauſt: Wohin der Weg?
Kein Weg. Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende.
Goethe.’
[[152]][[153]]
Erſter Abſchnitt.
Das mythiſche Vorſtellen und die Entſtehung der Wiſſenſchaft
in Europa.
Erſtes Kapitel.
Die aus dem Ergebniß des erſten Buchs entſpringende Aufgabe.
Das erſte einleitende Buch hat zunächſt das Objekt dieſes
Werkes in einem Ueberblick dargeſtellt: die geſchichtlich-geſellſchaft-
liche Wirklichkeit, in dem Zuſammenhang, in welchem ſie innerhalb
der natürlichen Gliederung des Menſchengeſchlechts aus Individual-
einheiten ſich aufbaut, ſowie die Wiſſenſchaften von dieſer Wirk-
lichkeit d. h. die Geiſteswiſſenſchaften, in der Sonderung und den
inneren Beziehungen, in welchen ſie aus dem Ringen des Erkennens
mit dieſer Wirklichkeit entſtanden ſind: damit der in dieſe Ein-
leitung Eintretende zuvörderſt das Objekt ſelber in ſeiner Realität
gewahr werde.
Dies war durch den leitenden wiſſenſchaftlichen Gedanken des
vorliegenden Werkes geboten. Denn in demſelben iſt jede von den
bisherigen Ergebniſſen des philoſophiſchen Nachdenkens abweichende
Erkenntniß ein Ausfluß des Einen Grundgedankens, die Philo-
ſophie ſei zunächſt eine Anleitung, die Realität, die Wirklichkeit in
reiner Erfahrung zu erfaſſen und in den Grenzen, welche die Kritik des
Erkennens vorſchreibt, zu zergliedern. Dem mit den Geiſteswiſſen-
ſchaften Beſchäftigten will daſſelbe ſonach gleichſam die Organe für
die Erfahrung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Welt ausbilden.
Denn dies iſt die gewaltige Seele der gegenwärtigen Wiſſenſchaft:
[154]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
ein unerſättliches Verlangen nach Realität, welches ſich, nachdem
es die Naturwiſſenſchaften umgeſtaltet hat, nunmehr der geſchicht-
lich-geſellſchaftlichen Welt bemächtigen will, um, wenn möglich,
das Ganze der Welt zu umfaſſen und die Mittel zu gewinnen, in
den Gang der menſchlichen Geſellſchaft einzugreifen.
Dieſe ganze, volle, unverſtümmelte Erfahrung iſt aber bisher
noch niemals dem Philoſophiren zu Grunde gelegt worden. Viel-
mehr iſt der Empirismus nicht minder abſtrakt, als die Spekulation.
Der Menſch, welchen einflußreiche empiriſtiſche Schulen aus
Empfindungen und Vorſtellungen, wie aus Atomen, zuſammen-
ſetzen, ſteht mit der inneren Erfahrung, aus deren Elementen doch
die Vorſtellung vom Menſchen gewonnen iſt, in Widerſpruch:
dieſe Maſchine hätte nicht für Einen Tag die Fähigkeit ſich in der
Welt zu erhalten. Der Zuſammenhang der Geſellſchaft, welcher
aus dieſer empiriſtiſchen Auffaſſung gefolgert wird, iſt nicht minder,
als der, den die ſpekulativen Schulen aufgeſtellt haben, eine von
abſtrakten Elementen aus entworfene Konſtruktion. Die wirkliche
Geſellſchaft iſt weder ein Mechanismus noch, wie andere ſie vor-
nehmer vorſtellen, ein Organismus. Nur zwei verſchiedene Seiten
deſſelben Standpunktes der Erfahrung ſind die den ſtrengen An-
forderungen der Wiſſenſchaft entſprechende Analyſis der Wirklich-
keit und das Anerkenntniß der über dieſe Analyſis hinausreichenden
Realität der Wirklichkeit. „Im Betrachten wie im Handeln“, be-
merkt Goethe, „iſt das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu
unterſcheiden; ohne dies läßt ſich im Leben wie in der Wiſſen-
ſchaft wenig leiſten.“
Im Gegenſatz gegen den herrſchenden Empirismus wie gegen
die Spekulation mußte alſo zunächſt die geſchichtlich-geſellſchaftliche
Wirklichkeit in ihrer vollen Realität ſichtbar gemacht werden; auf
dieſe Wirklichkeit beziehen ſich alle folgenden Unterſuchungen. Im
Gegenſatz gegen die Entwürfe einer den ganzen Zuſammenhang
dieſer Wirklichkeit umſpannenden Wiſſenſchaft mußte das Ineinander-
greifen der Leiſtungen der geſchichtlich gewordenen, fruchtbaren
Einzelwiſſenſchaften gezeigt werden; in ihnen vollzieht ſich der
große Prozeß einer zwar relativen, aber fortſchreitenden Erkennt-
[155]Aufgabe der folgenden Grundlegung.
niß des geſellſchaftlichen Lebens. Und da wir den Leſer mit den
Einzelwiſſenſchaften beſchäftigt oder in der mit ihnen verknüpften
Technik des Berufslebens thätig vorfinden, ſo mußte, im Gegenſatz
gegen dieſe Vereinzelung, die Nothwendigkeit einer grundlegenden
Wiſſenſchaft nachgewieſen werden, welche die Beziehungen der Einzel-
wiſſenſchaften zu dem fortſchreitenden Erkenntnißvorgang entwickelt;
in eine ſolche Grundlegung führen alle Geiſteswiſſenſchaften zurück.
Zu dieſer Grundlegung ſelber wenden wir uns nunmehr.
Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Be-
weis der Nothwendigkeit einer die Geiſteswiſſenſchaften begründen-
den allgemeinen Wiſſenſchaft. Dagegen muß ſie für die im erſten
Buch entwickelte Anſchauung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntniß ſtattfindet,
ſoweit dieſe Anſchauung mehr als eine Zuſammenordnung von
Thatſachen iſt, nun erſt die ſtrenge Begründung darlegen.
Wir finden nun in der Literatur der Geiſteswiſſenſchaften
zwei unterſchiedene Geſtalten einer ſolchen Grundlegung.
Während die Begründung der Geiſteswiſſenſchaften auf die Selbſt-
beſinnung, ſomit auf Erkenntnißtheorie und Pſychologie bisher in
einer geringen Anzahl von Arbeiten verſucht worden iſt, welche erſt
durch die kritiſche Philoſophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen
wurden, beſteht ſeit mehr als zweitauſend Jahren ihre Begründung
auf Metaphyſik. Denn ſeit einer ſo langen Zeit wurde die
Erkenntniß der geiſtigen Welt auf die Erkenntniß Gottes als
ihres Urhebers und auf die Wiſſenſchaft von dem allgemeinen
inneren Zuſammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der
Natur ſowie des Geiſtes zurückgeführt. Insbeſondere bis in das
15. Jahrhundert hat die Metaphyſik (den Zeitraum von der Be-
gründung der alexandriniſchen Wiſſenſchaft bis zum Aufbau der
chriſtlichen Metaphyſik ausgenommen) über die einzelnen Wiſſen-
ſchaften gleich einer Königin geherrſcht. Ordnet dieſelbe ſich doch,
ihrem Begriff nach nothwendig, alle einzelnen Wiſſenſchaften unter,
wenn ſie überhaupt anerkannt wird. Dieſe Anerkennung aber
war ſo lange ſelbſtverſtändlich, als der Geiſt den inneren und all-
gemeinen Zuſammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war.
[156]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Denn Metaphyſik iſt eben das natürliche Syſtem, welches aus
der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Geſetz des Erkennens
entſpringt. Metaphyſik iſt alſo überhaupt die Verfaſſung der
Wiſſenſchaft, unter deren Herrſchaft das Studium des Menſchen
und der Geſellſchaft ſich entwickelt haben und unter deren Einfluß
ſie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und
Grade, ſtehn.
An der Pforte der Geiſteswiſſenſchaften tritt uns daher die
Metaphyſik gegenüber, begleitet von dem Skepticismus, der von
ihr unzertrennlich iſt, gleichſam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Un-
haltbarkeit bildet den negativen Theil der Grundlegung der einzelnen
Geiſteswiſſenſchaften, welche wir im erſten Buch als nothwendig
erkannt haben. Und zwar verſuchen wir die abſtrakte Beweis-
führung des 18. Jahrhunderts durch die hiſtoriſche Erkenntniß
dieſes großen Phänomens zu ergänzen. Wol hat das 18. Jahr-
hundert die Metaphyſik widerlegt. Aber der deutſche Geiſt lebt,
unterſchieden von dem engliſchen und franzöſiſchen, in dem
hiſtoriſchen Bewußtſein der Kontinuität, deren Faden bei uns
im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht ſeine
hiſtoriſche Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment
des gegenwärtigen geſchichtlichen Bewußtſeins bildet. So hat die
Liebe zum großen Alterthum einerſeits die gebrochene Metaphyſik
bei uns in edlen Geiſtern auch im 19. Jahrhundert geſtützt;
aber eben durch dieſelbe gründliche Verſenkung in den Geiſt des
Vergangenen, in die Erforſchung der Geſchichte des Gedankens
haben wir nun andrerſeits die Mittel erworben, die Metaphyſik in
ihrem Urſprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geſchichtlich zu
erkennen. Denn die Menſchheit wird dieſe große geiſtige Thatſache,
wie jede andere, welche ſich überlebt hat, welche aber ihre Tradition
mit ſich fortſchleppt, nur völlig überwinden, indem ſie dieſelbe begreift.
Indem aber der Leſer dieſer Darſtellung folgt, wird er ge-
ſchichtlich für die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung vorbereitet.
Die Metaphyſik, als das natürliche Syſtem, war, wie die folgende
Darſtellung begründen wird, ein nothwendiges Stadium
in der geiſtigen Entwicklung der europäiſchen Völker. Daher
[157]Metaphyſik als Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften.
kann der Standpunkt der Metaphyſik von dem, welcher in die
Wiſſenſchaften eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite
geſchoben, ſondern er muß von ihm wo nicht durchlebt, doch
ganz durchgedacht und ſolchergeſtalt aufgelöſt werden. Seine
Folgen erſtrecken ſich durch den ganzen Zuſammenhang der
modernen Begriffe; die Litteratur der Religion und des Staats,
des Rechts wie der Geſchichte iſt zum größten Theil unter ſeiner
Herrſchaft entſtanden, und auch der übrigbleibende Theil befindet
ſich meiſt, ſelbſt gegen ſeinen Willen, unter ſeinem Einfluß. Nur
wer dieſen Standpunkt in ſeiner ganzen Kraft ſich klar gemacht
d. h. das Bedürfniß deſſelben, das in der unveränderlichen Natur
des Menſchen wurzelt, geſchichtlich verſtanden, ſeine lang währende
Macht in ihren Gründen erkannt und ſeine Folgen ſich entwickelt
hat, vermag ſeine eigene Denkart von dieſem metaphyſiſchen Boden
ganz loszulöſen und die Wirkungen der Metaphyſik in der ihm
vorliegenden Litteratur der Geiſteswiſſenſchaften zu erkennen ſowie
zu eliminiren. Hat doch die Menſchheit ſelber dieſen Gang ge-
nommen. Alsdann nur wer die einfache und harte Form der
prima philosophia an ihrer Geſchichte erkannt hat, wird die Un-
haltbarkeit der gegenwärtig herrſchenden Metaphyſik durchſchauen,
welche mit den Erfahrungswiſſenſchaften verbunden oder ihnen an-
gepaßt iſt: der Philoſophie der naturphiloſophiſchen Moniſten,
Schopenhauers und ſeiner Schüler ſowie Lotzes. Endlich nur wer die
Gründe der Sonderung von philoſophiſchen und empiriſchen Geiſtes-
wiſſenſchaften, welche in eben dieſer Metaphyſik gelegen ſind, erkannt,
ſowie die Folgen dieſer Sonderung in der Geſchichte der Metaphyſik
verfolgt hat, wird in dieſer Sonderung in rationale und empiriſche
Wiſſenſchaften das ſtehen gebliebene Gehäuſe des metaphyſiſchen
Geiſtes erkennen und es entſchloſſen wegräumen, um dem geſunden
Verſtändniß des Zuſammenhangs der Geiſteswiſſenſchaften freien
Boden zu ſchaffen.
[158]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Zweites Kapitel.
Der Begriff der Metaphyſik. Das Problem ihres Verhältniſſes
zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.
Die Betrachtung der geſchichtlichen Welt gab uns eine ſchwere
Frage auf. Die Wechſelwirkung der Individualeinheiten, ihrer
Freiheit, ja ihrer Willkür (dieſe Worte in dem Verſtande von
Namen für das Erlebniß, nicht für eine Theorie genommen), die
Verſchiedenheit der nationalen Charaktere und der Individualitäten,
endlich die aus dem Naturzuſammenhang, in welchem dies Alles
auftritt, ſtammenden Schickſale: dieſer ganze Pragmatismus der
Geſchichte bewirkt einen zuſammengeſetzten weltgeſchicht-
lichen Zweckzuſammenhang, vermittelſt der Gleichartigkeit
der Menſchennatur ſowie vermittelſt anderer Züge in ihr, welche
eine Mitarbeit des Einzelnen an einem über ihn ſelber Hinaus-
reichenden ermöglichen, in den großen Formen der auf freies
Ineinandergreifen der Kräfte gegründeten Syſteme ſowie der
äußeren Organiſation der Menſchheit: in Staat und Recht, wirth-
ſchaftlichem Leben, Sprache und Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft.
So entſtehen Einheit, Nothwendigkeit und Geſetz in der Geſchichte
unſeres Geſchlechts. Mag der pragmatiſche Geſchichtſchreiber im
Spiel der einzelnen Kräfte, in den Wirkungen der Natur und
des Geſchicks oder auch einer höheren Hand ſchwelgen, mag der
Metaphyſiker ſeine abſtrakten Formeln dieſen wirkenden Kräften
ſubſtituiren, als ob ſie gleich den Geſtirngeiſtern der eben-
falls durch metaphyſiſche Vorſtellungen genährten Aſtrologie dem
Menſchengeſchlecht ſeine Bahn vorſchrieben: beide reichen nicht ein-
mal an dieſe Frage ſelber heran. Das Geheimniß der Geſchichte
und der Menſchheit iſt tiefſinniger als die Einen und die Anderen.
Sein Schleier lüftet ſich, wo man den mit ſich ſelber beſchäftigten
Willen des Menſchen, gegen ſeine Abſicht, an einem über ihn
hinausreichenden Zweckzuſammenhang wirken oder wo man ſeine
eingeſchränkte Intelligenz an dieſem Zuſammenhang etwas voll-
bringen ſieht, deſſen dieſer bedarf, das aber von der einzelnen In-
telligenz weder beabſichtigt noch vorausgeſehen war. Der blinde Fauſt
[159]Die intellektuelle Entwicklung ein Zweckzuſammenhang.
in der letzten täuſchenden Arbeit ſeines Lebens iſt das Symbol
aller Helden der Geſchichte, ſo gut als Fauſt, der mit Auge und
Hand des Herrſchers Natur und Geſellſchaft geſtaltet.
Innerhalb dieſes lebendigen Zweckzuſammenhangs, welcher in
der Totalität der Menſchennatur gegründet iſt, hat ſich allmälig
die intellektuelle Entwicklung des Menſchengeſchlechts in der
Wiſſenſchaft abgeſondert. — Sie bildet einen vernünftigen Zuſammen-
hang, der über das Individuum hinausreicht. Die Zweckthätigkeit der
einzelnen Menſchen, die Schleiermacher als „Wiſſenwollen“, andere
als „Wiſſenstrieb“ bezeichnen (Namen für eine Thatſache des
Bewußtſeins, nicht aber Erklärung dieſer Thatſache), muß auf
die entſprechende Zweckthätigkeit anderer Menſchen rechnen, dieſelbe
aufnehmen und in ſie hinübergreifen. Und zwar ſind gerade Vor-
ſtellungen, Begriffe, Sätze einfach übertragbar. Darum findet in
dieſem Zuſammenhang oder Syſtem eine ſo ſtätige Fortentwicklung
ſtatt, als auf keinem anderen Felde menſchlichen Thuns. Obwohl
dieſer Zweckzuſammenhang der wiſſenſchaftlichen Arbeit nicht durch
einen Geſammtwillen geleitet wird, ſondern er vollzieht ſich in
der freien Thätigkeit der einzelnen Individuen. — Die allgemeine
Theorie dieſes Syſtems iſt Erkenntnißtheorie und Logik. Sie hat
das Verhältniß der Elemente in dieſem vernünftigen Zuſammen-
hang des im Menſchengeſchlecht ſich vollziehenden Erkenntnißpro-
zeſſes zu einander, ſofern es einer allgemeinen Faſſung fähig iſt,
zu ihrem Gegenſtande 1). Somit ſucht ſie in dem über das In-
dividuum hinausreichenden Zuſammenhang dieſes Erkenntnißvor-
gangs Nothwendigkeit, Gleichförmigkeit und Geſetz. Ihr Material
iſt die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß als Thatſache und
ihren Schlußpunkt bildet das zuſammengeſetzte Bildungsgeſetz in
dieſer Geſchichte der Erkenntniß. — Denn obgleich die Geſchichte
der Wiſſenſchaft theilweiſe durch ſehr mächtige, zum Theil höchſt
eigenwillige Individuen gemacht wird, obgleich die verſchiedenen
Anlagen der Nationen auf dieſe Geſchichte einwirken, das milieu
der Geſellſchaft, in welchem dieſer Erkenntnißvorgang ſich vollzieht,
überall ihn mitbeſtimmt: dennoch zeigt die Geſchichte des wiſſen-
[160]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
ſchaftlichen Geiſtes eine über ſolchen Pragmatismus hinausreichende
folgerichtige Einheit. Pascal betrachtet das Menſchengeſchlecht als
ein einziges Individuum, welches immerfort lernt. Goethe vergleicht
die Geſchichte der Wiſſenſchaften mit einer großen Fuge, in welcher
die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorſchein kommen.
In dieſem Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſen-
ſchaften tritt an einem beſtimmten Punkte, im 5. Jahrhundert
v. Chr. bei den europäiſchen Völkern die Metaphyſik hervor,
beherrſcht in zwei großen Zeiträumen den wiſſenſchaftlichen Geiſt
Europas und iſt alsdann ſeit mehreren Jahrhunderten in einen
allmäligen Auflöſungsprozeß eingetreten.
Der Ausdruck Metaphyſik wird in ſo verſchiedenem Verſtande
gebraucht, daß der Inbegriff von Thatſachen, welcher hier mit
dieſem Namen bezeichnet wird, zunächſt hiſtoriſch einigermaßen
abgegrenzt werden muß.
Es iſt bekannt, daß der Ausdruck urſprünglich nur die
Stellung der „erſten Philoſophie“ des Ariſtoteles hinter ſeinen
naturwiſſenſchaftlichen Schriften bezeichnete, daß derſelbe aber als-
dann, der Zeitrichtung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft deſſen,
was über die Natur hinausgeht, gedeutet wurde 1).
Was Ariſtoteles unter erſter Philoſophie verſtand, wird da-
rum der Beſtimmung dieſes Begriffs am zweckmäßigſten zu Grunde
gelegt, weil dieſe Wiſſenſchaft durch Ariſtoteles ihre ſelbſtändige
von den Einzelwiſſenſchaften klar unterſchiedene Geſtalt empfangen
hat, und weil der Begriff der Metaphyſik, wie derſelbe im Zu-
ſammenhang hiermit von Ariſtoteles geprägt wurde, in dem folge-
richtigen Verlauf des Erkenntnißvorgangs angelegt war. Das
was hiſtoriſch hier auftrat, kann zugleich als das was in dem
[161]Der Begriff der Metaphyſik durch Ariſtoteles beſtimmt.
Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſenſchaften bedingt war,
erwieſen werden. — Von der Erfahrung unterſcheidet ſich nach
Ariſtoteles die Wiſſenſchaft dadurch, daß ſie den Grund erkennt,
welcher in der wirkenden Urſache gelegen iſt. Von der Einzel-
wiſſenſchaft unterſcheidet ſich die Weisheit, in welcher der Wiſſens-
trieb ſeine in ihm ſelber gelegene Befriedigung findet (das Wort
Weisheit hier in ſeinem engſten, höchſten Verſtande genommen,
ſonach die erſte Weisheit), dadurch, daß ſie die erſten Gründe,
welche ganz allgemein die ganze Wirklichkeit begründen, erkennt.
Sie enthält alle Gründe für die beſonderen Erfahrungskreiſe und
ſie beherrſcht vermittelſt dieſer Gründe das geſammte Handeln.
Dieſe erſte vollkommene Weisheit iſt eben die erſte Philoſophie.
Während die Einzelwiſſenſchaften, z. B. die Mathematik, einzelne
Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenſtand haben, hat dieſe erſte
Philoſophie das ganze Seiende oder das Seiende als Seiendes
d. h. die gemeinſamen Beſtimmungen des Seienden zu ihrem
Gegenſtand. Und während jede Einzelwiſſenſchaft, entſprechend
dieſer Aufgabe, ein beſtimmtes Gebiet des Seienden zu erkennen,
in der Feſtſtellung der Gründe nur bis zu einem gewiſſen Punkte
zurückgeht welcher ſelber im Zuſammenhang der Erkenntniß rück-
wärts bedingt iſt, hat die erſte Philoſophie die nicht weiter im
Erkenntnißvorgang bedingten Gründe alles Seienden zu ihrem
Gegenſtand. 1)
Dieſe Begriffsbeſtimmung der erſten Philoſophie oder Meta-
phyſik, welche Ariſtoteles entwarf, wird von den am meiſten her-
vorragenden Metaphyſikern des Mittelalters feſtgehalten. 2) In
der neueren Philoſophie überwiegt immer mehr die am meiſten
abſtrakte unter den Formeln des Ariſtoteles, welche die Meta-
phyſik als Wiſſenſchaft der nicht weiter im Erkenntnißvorgang be-
Dilthey, Einleitung. 11
[162]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
dingten Gründe beſtimmt. So definirt Baumgarten die Metaphyſik
als die Wiſſenſchaft der erſten Erkenntnißgründe. Und auch Kant
beſtimmt ganz übereinſtimmend mit Ariſtoteles den Begriff der-
jenigen Wiſſenſchaft, welche er als die dogmatiſche Metaphyſik be-
zeichnet und deren Auflöſung zu vollbringen er unternahm. Er
knüpft in ſeiner Kritik der Vernunft genau an den Ariſtoteliſchen
Begriff von Gründen, welche ſelber nicht mehr bedingt ſind, an.
Jeder allgemeine Satz (ſagt Kant), inſofern er als Oberſatz in einem
Vernunftſchluß dienen kann, iſt ein Prinzip, nach welchem das-
jenige erkannt wird, was unter die Bedingung deſſelben ſubſumirt
wird. Dieſe allgemeinen Sätze als ſolche ſind nur comparative
Prinzipien. Die Vernunft unterwirft nun aber alle Verſtandes-
regeln ihrer Einheit; zu den bedingten Erkenntniſſen des Ver-
ſtandes ſucht ſie das Unbedingte. Hierbei wird ſie von ihrem
ſynthetiſchen Prinzip geleitet: iſt das Bedingte gegeben, ſo iſt auch
die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mit-
hin ſelber unbedingt iſt, gegeben. Dies Prinzip iſt nach Kant
das der dogmatiſchen Metaphyſik, und dieſelbe iſt ihm ein noth-
wendiges Stadium in der Entwicklung der menſchlichen Intelli-
genz. 1) — Alsdann ſtimmen mit der Begriffsbeſtimmung des
Ariſtoteles die meiſten philoſophiſchen Schriftſteller der letzten
Generation überein. 2) In dieſem Verſtande iſt der Materialis-
mus oder der naturwiſſenſchaftliche Monismus ſo gut Metaphyſik,
als die Ideenlehre Platos; denn auch in jenen handelt es ſich
um die allgemeinen nothwendigen Beſtimmungen des Seienden.
Aus der Ariſtoteliſchen Begriffsbeſtimmung der Metaphyſik
ergiebt ſich vermittelſt der ſicheren Einſichten der kritiſchen Philo-
ſophie ein Merkmal der Metaphyſik, welches ebenfalls einem Streit
nicht unterliegen kann. Kant hat dies Merkmal richtig heraus-
gehoben. Alle Metaphyſik überſchreitet die Erfahrung. Sie ergänzt
[163]Unhaltbarkeit abweichender Beſtimmungen des Begriffs Metaphyſik.
das in der Erfahrung Gegebene durch einen objek-
tiven und allgemeinen inneren Zuſammenhang,
welcher nur in der Bearbeitung der Erfahrung unter den Bedin-
gungen des Bewußtſeins entſteht. Herbart hat dieſen wahren
Charakter aller Metaphyſik, wie er ſich aus der Betrachtung ihrer
Geſchichte unter dem Geſichtspunkt eines kritiſchen Denkens ergiebt,
meiſterhaft dargelegt. Jede Atomenlehre, welche das Atom nicht
blos als einen methodiſchen Hilfsbegriff betrachtet, ergänzt die
Erfahrung durch Begriffe, welche in der Bearbeitung dieſer
Erfahrung unter den Bedingungen des Bewußtſeins entſprungen
ſind. Der naturwiſſenſchaftliche Monismus fügt eine in keiner
Erfahrung liegende, dieſe vielmehr ebenfalls ergänzende Beziehung
zwiſchen materiellen und pſychiſchen Vorgängen zu dem Erfahrenen
hinzu, welcher gemäß in den Beſtandtheilen der Materie entweder
überall pſychiſches Leben verbreitet iſt oder in den allgemeinen
Eigenſchaften dieſer Beſtandtheile die Gründe des Auftretens von
pſychiſchem Leben liegen.
Einige Schriftſteller gebrauchen den Ausdruck Metaphyſik in
einem von dieſem herrſchenden Sprachgebrauch abweichenden Sinne,
weil ſie einzelne Beziehungen verfolgen, in welche natur-
gemäß die ſo geſchichtlich aufgefaßte Thatſache der Metaphyſik tritt.
Kant’s Begriff von der dogmatiſchen Metaphyſik ſchien in
ſeinen elementaren Beſtimmungen nur den des Ariſtoteles auf-
zunehmen und weiterzudenken. Dies iſt darin gegründet: das
Erkennen, auf ſeinem natürlichen Standpunkte, bewegt ſich ſeinem
Weſen gemäß in der Richtung von den gefundenen bedingten
Wahrheiten auf ihren letzten, unbedingten Zuſammenhang; aus
dieſer Richtung des Erkennens entſprang die Metaphyſik des Ariſto-
teles als geſchichtliche Thatſache, ſowie der Begriff von rückwärts
nicht weiter bedingten Gründen, durch den ſozuſagen die Sprung-
feder im Zweckzuſammenhang des Denkens blosgelegt wird, welcher
dieſe metaphyſiſche Geiſtesrichtung in Bewegung ſetzt; und dieſelbe
Nothwendigkeit im Grunde der Bedingungen des Bewußtſeins er-
faßte auch der tiefe Blick Kant’s. Er, auf ſeinem kritiſchen Stand-
punkt, ſo ſahen wir weiter, durchſchaute auch die erkenntnißtheoretiſche
11*
[164]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Vorausſetzung, welche in dieſer dogmatiſchen Metaphyſik enthalten
war. — Aber hier beginnt ſeine Abweichung von Ariſtoteles. Seinem
erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt gemäß will er den Begriff der
Metaphyſik aus ihrem Urſprung im Erkennen entwerfen. Nun
denkt er aber unter der unbeweisbaren Vorausſetzung, allgemeine
und nothwendige Wahrheiten hätten eine Erkenntnißart a priori
zu ihrer Bedingung. Daher erhält für ihn Metaphyſik als die
Wiſſenſchaft, welche die höchſte uns mögliche Vernunfteinheit in
unſere Erkenntniß zu bringen ſtrebt, 1) folgerecht das Merkmal,
Syſtem der reinen Vernunft zu ſein d. h. „philoſophiſche Er-
kenntniß aus reiner Vernunft in ſyſtematiſchem Zuſammenhang.“ 2)
Und ſo iſt ihm Metaphyſik durch ihren Urſprung in der reinen Ver-
nunft beſtimmt, welcher allein philoſophiſches, apodiktiſches Wiſſen
ermöglicht. Von der dogmatiſchen unterſcheidet er ſein eigenes
Syſtem als kritiſche Metaphyſik; biegt er doch die Ausdrücke der
alten Schule auch ſonſt in das Erkenntnißtheoretiſche um. Seine
Faſſung des Begriffs Metaphyſik ging auf ſeine Schule über. 3)
Aber dieſe Abweichung von dem hiſtoriſchen Sprachgebrauch ver-
wickelt Kant in Widerſprüche, da ſelbſt die Metaphyſik des Ariſto-
teles eine ſolche reine Vernunftwiſſenſchaft nicht iſt, und ſie bringt
in ſeine Terminologie eine auch von ſeinen Verehrern bemerkte
Dunkelheit.
Ein anderer Sprachgebrauch hebt eine Beziehung an der
Metaphyſik hervor, welche für die allgemeine Vorſtellung der Ge-
bildeten am meiſten in den Vordergrund tritt, und dieſer Sprach-
gebrauch iſt daher im Leben ſehr verbreitet. Wol ſind auch die
moniſtiſchen Syſteme der Naturphiloſophie Metaphyſik. Aber der
Schwerpunkt der großen geſchichtlichen Maſſe von Metaphyſik liegt
den gewaltigen Speculationen näher, welche nicht nur die Er-
fahrung überſchreiten, ſondern ein von allem Sinnfälligen unter-
ſchiedenes Reich von geiſtigen Weſenheiten annehmen. Dieſe
Speculationen blicken alſo in ein hinter der Sinnenwelt
Verborgenes, Weſenhaftes: eine zweite Welt. Die Vor-
[165]Unhaltbarkeit abweichender Beſtimmungen des Begriffs Metaphyſik.
ſtellung findet ſich daher bei dem Namen Metaphyſik am ſtärkſten
zu der Gedankenwelt eines Plato oder Ariſtoteles, Thomas von
Aquino oder Leibniz hingezogen. Und dieſe Idee von Metaphyſik
wird durch den Namen ſelber unterſtützt, den auch Kant auf ein Objekt
bezog, welches trans physicam gelegen ſei 1). Auch hier wird eine
einzelne Beziehung der Metaphyſik einſeitig herausgehoben; in die Welt
des Glaubens reichen einige der tiefſten Wurzeln der bezeichneten
Klaſſe metaphyſiſcher Syſteme, und aus dieſen ſogen dieſelben einen
Theil ihrer Kraft, das Gemüth ganzer Zeitalter zu beherrſchen.
Endlich bezeichnen Schriftſteller jeden Zuſtand von Ueber-
zeugung über den allgemeinen objektiven Zuſammenhang der Wirk-
lichkeit oder enger über das die Wirklichkeit Ueberſchreitende als
Metaphyſik, und ſo ſprechen ſie von einer naturwüchſigen, einer
Volksmetaphyſik. Sie drücken richtig eine Verwandtſchaft aus,
welche zwiſchen dieſen Ueberzeugungen und der Metaphyſik als
Wiſſenſchaft beſteht, aber das Bewußtſein dieſer Verwandtſchaft
wird angemeſſener durch eine Anwendung der bezeichneten Aus-
drücke in einem übertragenen Sinn bezeichnet, als durch eine ſolche
Erweiterung des Wortſinns von Metaphyſik, welche die geſchichtliche
Einſchränkung deſſelben auf Wiſſenſchaft aufhebt.
Wir gebrauchen alſo den Ausdruck: Metaphyſik in dem
entwickelten von Ariſtoteles geprägten Verſtande. Während nun
Wiſſenſchaft überhaupt nur mit der Menſchheit ſelber wieder unter-
gehen kann, iſt innerhalb ihres Syſtems dieſe Metaphyſik eine
geſchichtlich begrenzte Erſcheinung. Andere Thatſachen des
geiſtigen Lebens gehen ihr innerhalb des Zweckzuſammenhangs
unſerer intellektuellen Entwicklung voraus, ſie iſt von anderen be-
gleitet und wird von ihnen in der Herrſchaft abgelöſt. Der ge-
ſchichtliche Verlauf zeigt als ſolche andere Thatſachen: die Religion,
den Mythos, die Theologie, die Einzelwiſſenſchaften der Natur
und der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, endlich die Selbſt-
beſinnung und die in ihr entſpringende Erkenntnißtheorie. So
empfängt das Problem, das uns beſchäftigt, auch die Geſtalt:
[166]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
welche ſind die Beziehungen der Metaphyſik zu dem Zweckzu-
ſammenhang der intellektuellen Entwicklung und den dieſen aus-
machenden, anderen großen Thatſachen des geiſtigen Lebens?
Comte hat verſucht, dieſe Beziehungen in einem einfachen
Geſetz auszudrücken, welchem gemäß in der intellektuellen Entwick-
lung des Menſchengeſchlechts ein Stadium der Theologie abgelöſt
worden ſei von einem der Metaphyſik, und dieſes von einem der
poſitiven Wiſſenſchaften. Metaphyſik iſt alſo auch für ihn und
ſeine weitverbreitete Schule ein vorübergehendes Phänomen in der
Geſchichte des fortſchreitenden wiſſenſchaftlichen Geiſtes, wie ſie
es für Kant und ſeine Schule in Deutſchland und für John Stuart
Mill in England iſt.
Auch Kant hat ſich geſchichtlich mit der Metaphyſik aus-
einandergeſetzt, und dieſer tiefſinnigſte Geiſt, den die neueren euro-
päiſchen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der
Geſchichte der Intelligenz ein nothwendiger, in der Natur des
menſchlichen Erkenntnißvermögens ſelber begründeter Zuſammenhang
beſtehe. Der menſchliche Geiſt durchlief drei Stadien; „das erſte
war das Stadium des Dogmatism“ (in den gewöhnlichen Sprach-
gebrauch übertragen: der Metaphyſik), „das zweite das des Skep-
ticism, das dritte das des Kriticism der reinen [Vernunft]; dieſe
Zeitordnung iſt in der Natur des menſchlichen Erkenntnißvermögens
gegründet.“ 1) Der Knoten in dieſem Drama des Erkenntnißvor-
gangs liegt nach Kant in der oben 2) entwickelten Natur der Ver-
nunft, aus ihr entſpringt eine natürliche und unvermeidliche Illuſion,
und ſo wird der menſchliche Geiſt in den dialektiſchen Widerſtreit
zwiſchen Dogmatism (Metaphyſik) und Skepticism verwickelt, die
Auflöſung dieſes Widerſtreits durch Erkenntnißtheorie iſt aber der
Kriticism. 3)
Sowohl dieſe Theorie von Kant als die von Comte enthalten
eine einſeitige Auffaſſung des Thatbeſtandes. Comte hat die hiſto-
riſchen Beziehungen der Metaphyſik zu demjenigen wichtigen Theil der
intellektuellen Bewegung, welchen Skepticismus, Selbſtbeſinnung
und Erkenntnißtheorie bilden, gar nicht unterſucht; er hat
[167]Problem ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.
die Beziehungen der Metaphyſik zu Religion, Mythos und
Theologie ohne die hier nothwendige Zerlegung des zuſammenge-
ſetzten Thatbeſtandes behandelt, und ſeine Theorie tritt daher
in Widerſpruch mit den Thatſachen der Geſchichte und der Ge-
ſellſchaft. Ja ſeine Auffaſſung der Metaphyſik ſelber entbehrt der
geſchichtlichen Einſicht in die wahren Grundlagen der Macht derſelben.
Kant ſeinerſeits giebt eine Konſtruktion, nicht eine geſchichtliche
Darlegung, und dieſe Konſtruktion iſt von ſeinem erkenntnißtheo-
retiſchen Standpunkt, innerhalb deſſelben von ſeiner Ableitung alles
apodiktiſchen Wiſſens aus den Bedingungen des Bewußtſeins, ein-
ſeitig beſtimmt. Die nachfolgende Darlegung analyſirt nur den
geſchichtlichen Thatbeſtand; an ſpäterer Stelle kann ihm das Er-
gebniß aus der Analyſis des Bewußtſeins zur Beſtätigung dienen.
Drittes Kapitel.
Das religiöſe Leben als Unterlage der Metaphyſik. Der Zeit-
raum des mythiſchen Vorſtellens.
Niemand kann bezweifeln, daß der Entſtehung der Wiſſen-
ſchaften in Europa eine Zeit vorausgegangen iſt, in welcher die
intellektuelle Entwicklung ſich in der Sprache, Dichtung und im
mythiſchen Vorſtellen ſowie im Fortſchritt der Erfahrungen des
praktiſchen Lebens vollzog, dagegen eine Metaphyſik oder Wiſſen-
ſchaft noch nicht beſtand 1). — Wir treffen die europäiſche Menſch-
[168]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
heit, ungeſondert von den kleinaſiatiſchen Griechen, in intimer
Wechſelwirkung mit den umgebenden Kulturländern, ſechs Jahr-
hunderte v. Chr. im Uebergang zu dem Stadium der Wiſſenſchaft
vom Kosmos ſowie der Metaphyſik an. Dieſelben entſtanden alſo
in Europa in einer feſtſtellbaren, ja in ihrem Charakter der For-
ſchung zugänglichen Zeit, nachdem das mythiſche Vorſtellen eine
unabſehbare Zeit hindurch, welche ſich in gänzliches Dunkel ver-
liert, geherrſcht hatte. Dieſe lange und dunkle Epoche empfängt
nur in ihrem letzten Stadium ein direktes Licht durch erhaltene
dichteriſche Werke und durch Ueberlieferungen, welche eine theil-
weiſe Rekonſtruktion der verlorenen geſtatten. Was in ihr dieſen
Denkmälern vorausliegt, iſt einer vergleichenden Kulturgeſchichte allein
zugänglich. Und zwar kann dieſe wol für die indogermaniſchen
Völker an der Hand der Sprache Etappen ihrer äußeren Lage,
der ſteigenden äußeren Civiliſation, ja vielleicht der Entwicklung
der Vorſtellungen erſchließen; ſie kann an der Hand der ver-
gleichenden Mythologie die Metamorphoſen von indogermaniſchen
Grundmythen aufzeigen, Grundzüge der äußeren Organiſation und
des Rechtes errathen. Aber das Innere der Menſchen ſelber in jenem
Zeitraum, welchen man im Unterſchied von dem prähiſtoriſchen den
prälitterariſchen nennen könnte, d. h. einem Zeitraum, in welchem
dichteriſche Werke hinter uns zurückbleiben, entzieht ſich einer hiſto-
riſchen Wiederherſtellung. Wenn Lubbock zu erſchließen verſucht, daß
alle Völker ein Stadium des Atheismus d. h. der vollſtändigen Ab-
weſenheit jeder Art von religiöſer Vorſtellung durchlaufen haben, 1)
oder Herbert Spencer, daß aus Ideen von den Todten alle Reli-
gion erwachſen ſei 2): ſo ſind dies die Orgien eines die Grenzen
des Erkennens mißachtenden Empirismus. An den Grenzpunkten
der Geſchichte kann man eben auch nur dichten, wie an jedem
andern Grenzpunkt der Erfahrung. Wir ſchränken uns alſo zu-
nächſt auf den Zeitraum ein, innerhalb deſſen litterariſche Denkmale
das Innere des Menſchen erblicken laſſen.
[169]Unterſcheidung der Religion vom mythiſchen Vorſtellen.
Indem wir dieſe Grenzen des hiſtoriſchen Erkennens ein-
halten, iſt uns innerhalb ihrer zunächſt durch das Verhältniß von
Nebeneinanderbeſtehen und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen
des geiſtigen Lebens eine Unterſcheidung von Mythos und
Religion gegeben. Der Mangel derſelben iſt der erſte Grund der
Fehlerhaftigkeit des Comte’ſchen Geſetzes. Das religiöſe Erlebniß
ſteht zu dem Mythos und der Theologie, der Metaphyſik und der
Selbſtbeſinnung in einem viel verwickelteren Verhältniß, als Comte
angenommen hat. Hievon überzeugt uns die Betrachtung des gegen-
wärtigen geiſtigen Zuſtandes; mußte doch Comte an ſeinem eignen
Syſtem im 19. Jahrhundert die Erfahrung machen, daß daſſelbe
über die zweite Stufe der Metaphyſik in den Geiſteswiſſenſchaften
nicht hinauskam, ſchließlich aber durch eine Art von wiſſenſchaft-
lichem Atavismus auf die erſte, die theologiſche Stufe zurückſank.
Deutlicher noch ſpricht die Geſchichte gegen Comte. Der Zeitraum
der Alleinherrſchaft mythiſchen Vorſtellens ging bei den griechiſchen
Stämmen vorüber; aber das religiöſe Leben blieb und fuhr fort
wirkſam zu ſein. Die Wiſſenſchaft erwachte langſam; das my-
thiſche Vorſtellen beſtand neben ihr fort, und, wo das religiöſe
Leben den herrſchenden Mittelpunkt der Intereſſen bildete, bediente
es ſich mancher von der Wiſſenſchaft entwickelter Sätze. Ja jetzt
geſchah es, daß das religiöſe Leben in tief von ihm bewegten
Naturen, wie Xenophanes, Heraklit, Parmenides waren, an dem
metaphyſiſchen Denken eine neue Sprache fand. Es überlebte
aber auch dieſe Art ſeines Ausdrucks. Denn auch die Meta-
phyſik iſt vergänglich, und die Selbſtbeſinnung, welche die Me-
taphyſik auflöſt, findet in ihrer Tiefe abermals — das religiöſe
Erlebniß.
So zeigt das empiriſche Verhältniß von Zuſammenbeſtehen
und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen, die in der Geſchichte
der Intelligenz verwebt ſind: das religiöſe Leben iſt ein
Thatbeſtand, welcher gleicherweiſe mit dem mythiſchen
Vorſtellen wie mit der Metaphyſik und mit der Selbſt-
beſinnung verbunden iſt. Daſſelbe muß, wie eng auch die
Art ſeiner Verbindung mit dieſen letzteren Erſcheinungen ſein mag,
[170]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
von denſelben als ein Thatbeſtand viel umfaſſenderer Verbreitung
abgeſondert werden. Und zwar findet ſich nicht nur in dem-
ſelben Zeitalter, ſondern in demſelben Kopf, ohne Widerſpruch,
religiöſes Leben, mythiſches Vorſtellen und metaphyſiſches
Denken vereinigt; dies war bei vielen griechiſchen Denkern der
Fall; mit grandioſem Ernſt ringen ein Heraklit, Parmenides und
Plato, die Mythenſprache ihrer Gedankenwelt gemäß zu geſtalten.
Es findet ſich in demſelben Kopf mit der Metaphyſik auch Theo-
logie und religiöſes Erleben verbunden, dies war bei vielen mittel-
alterlichen Denkern der Fall. Nur kann nicht dieſelbe Thatſache
zugleich mythiſch vorgeſtellt und gedankenmäßig erklärt werden.
Dieſe Verhältniſſe ſondern noch deutlicher religiöſes Leben von
mythiſchem Vorſtellen.
Für den vorliegenden Zweck einer erfahrungsmäßigen Dar-
legung würde eine Beſtimmung des Begriffs von religiöſem
Leben uns leicht dem Verdacht einer Konſtruktion ausſetzen: es
genügt, den vorhandenen Thatbeſtand deſſelben zu
umſchreiben und zu bezeichnen. Das Vorhandenſein von
Erlebniß, von innerer Erfahrung überhaupt kann nicht geleugnet
werden. Denn dieſes unmittelbare Wiſſen iſt der Erfahrungsinhalt,
deſſen Analyſis alsdann Kenntniß und Wiſſenſchaft der geiſtigen
Welt iſt. Dieſe Wiſſenſchaft beſtünde nicht, wenn inneres Er-
lebniß, innere Erfahrung nicht vorhanden wären. Nun ſind Er-
fahrungen ſolcher Art die Freiheit des Menſchen, Gewiſſen und
Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende
Gegenſatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergäng-
lichen und Ewigen ſowie die Sehnſucht des Menſchen nach dem
letzteren. Und zwar ſind dieſe inneren Erfahrungen Beſtandtheile
des religiöſen Lebens. Daſſelbe umfaßt aber zugleich das Bewußt-
ſein einer unbedingten Abhängigkeit des Subjekts. Schleiermacher hat
den Urſprung dieſes Bewußtſeins im Erlebniß aufgezeigt. Neuerdings
hat Max Müller dieſer Theorie eine feſtere empiriſche Grundlage
zu geben verſucht. „Wenn es uns zu kühn klingt, zu ſagen, daß
der Menſch wirklich das Unſichtbare ſieht, ſo ſagen wir, daß er
den Druck des Unſichtbaren merkt, und dieſes Unſichtbare iſt eben
[171]Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens.
nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur-
menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt.“ 1) Und ſo führt die Be-
trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung
der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von
der Natur unabhängigen Lebens zurück.
Das Merkmal des religiöſen Lebens iſt, daß es
ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die
wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen
Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das
Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm
geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge-
tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der
Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs-
prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die
Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen
Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe
des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie
wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des
urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen
dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem
Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch
immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit
unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion — : mit zäher Kraft des
Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier
Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen,
ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen
widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm
liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit
unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand
werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?
Dieſe Einſicht, daß das religiöſe Leben der
dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick-
lung iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch-
[172]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
heit, wird ſpäter durch die pſychologiſche Zergliederung vervoll-
ſtändigt werden. Hiſtoriſch iſt dieſes Verhältniß für die be-
reits abgelaufene Entwicklung nur innerhalb eines begrenzten Zeit-
raums nachweisbar. Es kann nicht hiſtoriſch dargethan werden, daß
das religiöſe Leben, wie wir es ſolchergeſtalt als den Untergrund
des geſchichtlichen Lebens in Europa feſtſtellen können, zu jeder
Zeit einen Beſtandtheil der menſchlichen Natur gebildet habe.
Nur ſo viel ergiebt ſich aus dem bisher Entwickelten: wenn die
Thatſachen uns zwängen, an irgend einem Punkte der ſich rück-
wärts erſtreckenden Linie des geſchichtlichen Verlaufs einen reli-
gionsloſen Zuſtand (Religion in dem Sinne des urſprünglichen
religiöſen Erlebniſſes genommen, in welchem ſie das Bewußtſein
von gut und böſe und die Beziehung hiervon auf einen Zu-
ſammenhang, von dem der Menſch abhängig iſt, bereits ent-
hält) anzunehmen — was jedoch nicht der Fall iſt ‒, alsdann
würde dieſer Punkt zugleich ein Grenzpunkt des hiſtoriſchen
Verſtehens ſein. Wir könnten über eine ſolche Zeit wol hiſtoriſche
Notizen haben, aber dieſelbe läge jenſeit der Grenzen unſeres hiſto-
riſchen Verſtändniſſes. Denn wir verſtehen nur vermittelſt der
Uebertragung unſerer inneren Erfahrung auf eine an ſich todte
äußere Thatſächlichkeit. Wo nun unableitbare Beſtandtheile der
inneren Erfahrung, durch welche der Zuſammenhang dieſer Er-
fahrung in unſerem Bewußtſein erſt möglich iſt, in einem hiſto-
riſchen Zuſtande als abweſend aufgefaßt werden ſollen, da ſind
wir eben an der Grenze des hiſtoriſchen Auffaſſens ſelber an-
gelangt. Hiermit iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein ſolcher Zuſtand
beſtanden habe. Es wäre möglich, daß Beſtandtheile der inneren
Erfahrung, ob ſie gleich für uns nicht ableitbar ſind, dennoch nicht
primär wären, und die Erkenntnißtheorie hat eine ſolche Möglich-
keit zu prüfen. Aber das iſt ausgeſchloſſen, daß wir ihn verſtehen
und von ihm aus einen Zuſtand, in welchem dieſer unableitbare
Beſtandtheil alsdann auftritt, verſtändlich machen könnten; aus-
geſchloſſen alſo iſt das hiſtoriſche Verſtändniß eines religionsloſen
Zuſtandes und der Entſtehung des religiöſen Zuſtandes aus ihm.
Hervorragende neuere empiriſtiſche Schriften über die Anfänge der
[173]Das religiöſe Leben als beſtändige Unterlage der Kultur.
Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgenden
Widerſpruch. Sie finden unableitbare Thatſachen der inneren Er-
fahrung in dem primären Zuſtande der Menſchheit noch nicht
vorhanden, aber ſie wollen weder darauf verzichten, dieſen Zuſtand
hiſtoriſch zu verſtehen, noch darauf, den folgenden aus ihm ab-
zuleiten.
So weit alſo überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu
geſellſchaftlicher Erfahrung reicht, gab es keine Zeit, in welcher
nicht das Individuum, wie es ſich fand, ſich nur als fortbeſtehend,
rückwärts beſtimmt, ſonach unbedingt abhängig gefunden hätte,
alsdann den Horizont der Welt ſelber nach allen Seiten, ſinn-
lich geſehn, urſächlich aufgefaßt, als in die Unendlichkeit zer-
fließend 1). Es gab keine Zeit, in welcher nicht die freie
Spontaneität des Menſchen mit dem Anderen, deſſen Druck ihn
umgab, gerungen hätte, und auch die mythiſchen Vorſtellungen
haben in dem Willen ihre ſtarken Wurzeln. Keine Zeit beſtand,
in welcher der Menſch nicht im Gegenſatz zu ſeinem armen Leben
Bilder von etwas Reinerem und Vollkommnerem beſaß. Und
[174]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Alles, was der Menſch wirkend fand, zeigte dem Gemüth,
das Luſt und Wehe empfindet, hofft und fürchtet, dem Willen,
der liebt und haßt, ein doppeltes Angeſicht. Dies Alles iſt
Leben, nicht ſchließendes Erkennen. Sobald dieſe unableitbaren
Beſtandtheile meines eigenen Lebens, meiner inneren Erfahrung
ſich mit den hiſtoriſchen Thatſachen, und zwar den durch ſichere
Schlüſſe verbürgten Thatſachen, nicht mehr zu geſchichtlichem Ver-
ſtändniß zuſammenſchließen, bin ich an der Grenze des geſchicht-
lichen Verfahrens angelangt. An dieſem Punkte beginnt das Reich
des geſchichtlich Transſcendenten. Denn auch das geſchichtliche Ver-
fahren hat eine innere, im Bewußtſeinsvorgang ſelber liegende
und darum unverrückbare Grenze, ſo gut, als die naturwiſſenſchaft-
liche Erkenntniß eine ſolche hat. Da es in dem gegenwärtigen Be-
wußtſein vermittelſt der geſchichtlichen Fakten die Schatten der Ver-
gangenheit erſcheinen läßt, ſo vermag es nur aus dem Leben und
der Realität dieſes Bewußtſeins ihnen ihre Wirklichkeit mitzutheilen.
So weit konnte hier, vor der pſychologiſchen Analyſis, der
wichtige Satz feſtgeſtellt werden, welchem gemäß das religiöſe
Leben der beſtändige Untergrund der uns geſchichtlich bekannten
intellektuellen Entwicklung iſt. Wir finden nun das religiöſe
Leben mit dem mythiſchen Vorſtellen in dem Zeitraume
von der uns erhaltenen epiſchen Dichtung der Griechen ab bis zu
dem Auftreten der Wiſſenſchaft in einer beſtimmten Weiſe
verbunden. Aus dem, was über die Art dieſer Verbindung
noch feſtgeſtellt werden kann, entnehmen wir wenige und ganz
allgemeine Züge, welche für die Anſchauung des Zweckzuſammen-
hangs der intellektuellen Geſchichte nothwendig ſind.
Das mythiſche Vorſtellen geſtaltet einen realen und
lebendigen Zuſammenhang der den Menſchen jener Tage be-
ſonders bedeutſamen Phänomene. Hiermit leiſtet es etwas, was das
Wahrnehmen, Vorſtellen, Wirken, welche mit den Objekten in täg-
lichem Verkehr ſtehen, ſowie die Sprache nicht leiſten. Wol ver-
knüpfen Wahrnehmen und Vorſtellen überall die Eindrücke zu Dingen,
welchen Eigenſchaften, Zuſtände, Thätigkeiten zukommen; zwiſchen
[175]D. mythiſche Vorſtellen bringt einen realen Zuſammenh. d. Phän. hervor.
dieſen ſetzen ſie Verhältniſſe, insbeſondere das von Urſache und Wir-
kung. So nachdrücklich als möglich muß man ſich gegen Auffaſſungen
verwahren, welche dieſe aus dem täglichen Kleinverkehr mit den Ob-
jekten entſpringenden Züge unſerer Vorſtellungsweiſe in der Zeit
der Mythenbildung in eine allgemeine Lebendigkeit des Welt-
zuſammenhangs aufgelöſt vorſtellen. Wol iſt ferner das frühe Be-
wußtſein der ſo entſtehenden Beziehungen in der Sprache aus-
gedrückt worden. Das Wurzelverhältniß, die Sonderung der Wort-
arten, der Caſus, Tempora etc., die ſyntaktiſche Gliederung, die
Unterordnung von Thatſachen unter Namen von Allgemeinvor-
ſtellungen: dies Alles bildet Beziehungen ab, welche an der
Wirklichkeit aufgefaßt und unterſchieden worden ſind. Das ſpätere
philoſophiſche Denken knüpft in vielen Punkten an die Sprache
an; das mythiſche Vorſtellen iſt mit ihr in tiefen Bezügen ver-
webt. Dennoch iſt, was hier geleiſtet wird, gänzlich verſchieden
von der Herſtellung des realen und allgemeinen Zuſammen-
hangs zwiſchen den für die Menſchen jener Tage bedeutſamen
Phänomenen, welche im mythiſchen Vorſtellen vollbracht wird.
Die Funktion des mythiſchen Vorſtellens iſt daher in dieſer Zeit
der analog, welche die Metaphyſik für einen ſpäteren Zeitraum
hat. Nicht die Religion, nicht das in ihr geſetzte Bewußtſein
Gottes bezeichnet ein ſolches erſtes Stadium, daher auch nicht die
Vorſtellung des Supranaturalen: ſie bilden vielmehr die beſtändige
Bedingung des geiſtigen Lebens der Menſchheit. Comte’s Theorem
von dem erſten Stadium der geiſtigen Entwicklung, das er als
das theologiſche bezeichnet, iſt daher unhaltbar, weil es die Funktion
des mythiſchen Vorſtellens im Zuſammenhang der geiſtigen Ent-
wicklung nicht von der Stellung der Religion in dieſem Zu-
ſammenhang ſondert. Und die Annahme von dem beſtändig in
der Geſchichte abnehmenden und allmälig vor der Wiſſenſchaft
verſchwindenden Einfluß religiöſer Vorſtellungen auf die euro-
päiſche Geſellſchaft iſt von dem Verlauf der Geſchichte nicht be-
ſtätigt worden.
Und zwar zeigt das mythiſche Vorſtellen eine relative
Selbſtändigkeit dem religiöſen Leben gegenüber.
[176]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Zwar ruht der reale Zuſammenhang von Phänomenen, welchen es
geſtaltet, auf dem religiöſen Leben: dieſes iſt in ihm die alles
Sichtbare überſchreitende Lebensmacht. Aber dieſer Zuſammenhang
iſt nicht in der religiöſen Erfahrung allein gegründet. Er iſt eben-
ſo bedingt durch die Art, wie den Menſchen jener Tage die Wirk-
lichkeit gegeben iſt. Dieſe iſt für ſie als Leben da, bleibt ihnen
Leben, wird nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verſtandes.
Daher iſt ſie an allen Punkten Wille, Fakticität, Geſchichte, d. h.
lebendige urſprüngliche Realität. Da ſie für den ganzen leben-
digen Menſchen da iſt und noch keiner verſtandesmäßigen Ana-
lyſis und Abſtraktion, ſonach Verdünnung unterworfen wird:
ſo iſt ſie entſprechend ſelber Leben. Und wie ſolchergeſtalt der
Zuſammenhang, welchen das mythiſche Vorſtellen bildet, nicht allein
aus dem religiöſen Leben entſpringt, ſo kann auch der Inhalt
des letzteren nie ganz in der Vorſtellungsform der Mythen ſich
erſchöpfen. Leben geht nie in Vorſtellung auf. Das religiöſe
Erlebniß bleibt vielmehr das ewig Innere; in keinem Mythos und
keiner Vorſtellung eines Gottes findet es daher einen adäquaten
Ausdruck. Wie denn daſſelbe Verhältniß auf einer höheren Stufe
zwiſchen der Religion und der Metaphyſik ſtattfindet.
So hat die Mythenſprache für die vorwiſſenſchaftliche Zeit z. B.
der griechiſchen Stämme eine über den Ausdruck des
religiöſen Lebens hinausreichende Bedeutung. Die
Grundmythen der indogermaniſchen Völker, wie ſie die vergleichende
Mythologie feſtzuſtellen bemüht iſt, gleichen hierin den Wurzeln ihrer
Sprachen, daß ſie relativ ſelbſtändige Mittel des Ausdrucks ſind,
welche ſich in dem Wechſel der religiöſen Zuſtände als konſtante Dar-
ſtellungsmittel erhalten. Sie dauern in immer neuen Metamor-
phoſen (deren Geſetze aus denen der Phantaſie fließen), welchen Wechſel
auch die Vorſtellungen von den Göttern und das ihnen zu Grunde
liegende religiöſe Bewußtſein erfahren. Sie walten ſo ſelbſtändig
in der Phantaſie dieſer Völker, daß ſie in derſelben nicht erlöſchen,
auch wenn der Glaube erliſcht, der in ihnen ſich ausdrückte.
Sie dienen in relativer Selbſtändigkeit einem über das reli-
giöſe Bewußtſein hinausreichenden Bedürfniß, die Phänomene der
[177]Relative Selbſtändigkeit des Mythus gegenüber der Religion.
Natur ſowohl als der Geſellſchaft in Zuſammenhang zu bringen
und eine erſte Art von Erklärung derſelben zu geben. Hier tritt
uns die älteſte Form des allgemeinen Verhältniſſes entgegen, in
welchem der religiöſe Untergrund der intellektuellen Entwicklung
Europas zu der in ihr wirkſamen Richtung auf eine zuſammen-
hängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene ſteht. Die
Art der Erklärung iſt höchſt unvollkommen; der Zuſammenhang
der Phänomene wird als ein Willenszuſammenhang, ein In-
einandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren
und angeſchaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit
hindurch die intellektuelle Entwicklung dieſer jugendſtarken Stämme
in ſich zu faſſen: alsdann zerſprengte die Richtung auf Erklärung
die unvollkommene Hülle.
Viertes Kapitel.
Die Entſtehung der Wiſſenſchaft in Europa.
Der geſchichtliche Verlauf, in welchem dies geſchah, in welchem
aus mythiſchem Vorſtellen die wiſſenſchaftliche Erklärung des
Kosmos entſtand, iſt uns nach ſeinem urſächlichen Zuſammenhang
nur ſehr unvollkommen bekannt. Mindeſtens über drei Jahrhunderte
liegen zwiſchen den homeriſchen Gedichten, nach den Anſätzen der
namhafteſten Forſcher der alexandriniſchen Zeit, und der Ge-
burt des erſten, welcher nach der Ueberlieferung eine wiſſen-
ſchaftliche Erklärung der Welt verſuchte: des Thales. Ein Zeit-
genoſſe des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des ſiebenten
Jahrhunderts und in der erſten Zeit des ſechſten vor Chriſtus.
In dieſem langen und dunklen Zeitraum von den homeriſchen
Gedichten bis auf Thales ſchritt, ſoviel können wir urtheilen, die
Entwicklung des aufklärenden Geiſtes in zwei Rich-
tungen voran.
Die Erfahrung, welche in den Aufgaben des Lebens, ins-
beſondere der Induſtrie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen
immer zunehmenden, räumlichen Bezirk der Erde und
Dilthey, Einleitung. 12
[178]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
innerhalb deſſelben einen immer anwachſenden Kreis von
Thatſachen ihrer Herrſchaft, d. h. der Einwirkung, der Vor-
ausſage ſowie der Einſicht in die Nothwendigkeit des Zu-
ſammenhangs. Und ſie benutzte hierbei den Erwerb von Völkern
älterer Kultur, mit welchen die Griechen in Verbindung ſtanden.
Die Frage iſt transſcendent, ob es je eine Zeit gab, in welcher
nicht in irgend einem Umfange, irgend einer Geſtalt die Abſon-
derung eines Bezirks von Erfahrung von dem des mythiſchen
Vorſtellens ſtattfand. Aber der Fortſchritt iſt eine feſtſtellbare That-
ſache, welcher in dem weiteren Verlauf des mythiſchen Vorſtellens
ſichtbar iſt und einerſeits die Wiſſenſchaft vorbereitete, andrerſeits
die mythiſche Welt in ihrem Inneren umgeſtaltete: die lebendigen
Kräfte, welche der affektiv bewegte Menſch als die Hand des Un-
endlichen auf ihm empfand, fürchtete, liebte, wurden immer mehr
an den Horizont des ſich erweiternden Umkreiſes von natürlichem
Geſchehen gedrängt; von wo ſie ſich in das Dunkel verloren.
Schon in der homeriſchen Dichtung finden wir die mythiſche
Welt im Zurückweichen begriffen. Die göttlichen Gewalten bilden
eine Ordnung für ſich, einen göttlichen Familienzuſammenhang
mit ſtaatlichem Gefüge der Willensverhältniſſe; ihre eigentlichen
Sitze ſind von dem Bezirk der gewöhnlichen Arbeit eines da-
maligen Griechen in Ackerbau, Induſtrie und Handel getrennt;
ſie verweilen nur zeitweilig in dieſem Bezirk, vornemlich in vor-
übergehendem Beſuch in ihren Tempeln, und ihre Einwirkung auf
das dem Erfahren und dem Gedanken unterworfene Gebiet wird
zum ſupranaturalen Eingriff. Auch werden keine Vermählungen
zwiſchen den olympiſchen Göttern und den Menſchen mehr aus
der Zeit der troiſchen und nachtroiſchen Ereigniſſe in den homeriſchen
Dichtungen berichtet. Ja es findet ſich in dieſen Dichtungen ein
beſtimmtes Bewußtſein über die Abnahme des Verkehrs zwiſchen
Göttern und Menſchen. So breitete die fortſchreitende Aufklärung
den Umkreis, den die natürliche Erklärung beherrſcht, immer
weiter aus und machte die Geiſter immer mehr ſkeptiſch gegenüber
der Annahme von ſupranaturalen Eingriffen.
Und zwar ſteht dieſer Fortgang in Zuſammenhang mit einer
[179]Zwei Richtungen des über den Mythus hinausſchreitenden Geiſtes.
Veränderung des Lebensgefühls. Die Lebensordnung des heroiſchen
Königthums verfiel, die epiſche Dichtung, die ihr Ausdruck ge-
weſen war, erſtarrte. Das Lebensgefühl, welches den veränderten
politiſchen und ſocialen Ordnungen entſprach, verkündete ſich in
der Elegie und dem Jambus mit freier Macht: das bewegte Innere
der Perſon wurde zum Mittelpunkt des Intereſſes. In der
lyriſchen Dichtung ſind, wenigſtens aus der Zeit des Thales, ſo-
gar Spuren, welche das Vertrauen auf die Götter zurücktretend
hinter dieſem ſelbſtändigen Lebensgefühl zeigen 1). Und an die
Blüthe der Gefühlsdichtung ſchloß ſich die Sittenbetrachtung, in
welcher der Geiſt den Bezirk der ſittlichen Erfahrungen ſich
unterwarf.
Die andere Richtung, in welcher der erklärende Geiſt
voranſchritt, iſt noch in den Ueberreſten der Litteratur von Theo-
gonien ſichtbar. Die uns erhaltene Theogonie des Heſiod,
unter ihnen die wichtigſte, lag, mindeſtens in ihrem Kern, ſchon
den erſten Philoſophen vor. Die erklärende Richtung geſtaltete
in dieſen Theogonien aus dem Stoff des mythiſchen Vorſtellungs-
kreiſes einen inneren, durch Zeugungen voranſchreitenden Zu-
ſammenhang des Weltprozeſſes. Und zwar ſpielt ſich dieſer Welt-
prozeß weder als eine bloße Beziehung von Willensgewalten noch
als ein aus allgemeinen Naturvorſtellungen geknüpfter Zuſammen-
hang ab. Nacht, Himmel, Erde, Eros ſind Vorſtellungen,
welche zwiſchen Naturthatſache und perſönlicher Macht in dämmern-
dem Zwielicht ſtehen. Aus dem Perſönlichen wanden allgemeine
Vorſtellungen von einem natürlichen Zuſammenhang ſich los.
Dieſe beiden Richtungen des Geiſtes zerſtörten den
Zuſammenhang der Welt, welchen das mythiſche Denken
entworfen hatte. Das Andere, welches wir unſerem Selbſt als Natur
gegenüberſtellen, empfängt ſeinen lebendigen Zuſammenhang aus
dem Selbſtbewußtſein, in welchem es da iſt. Dieſer Zuſammen-
hang wird in voller Lebendigkeit von dem mythiſchen Denken
erfaßt, aber vor dem Gedanken hält ſeine Wahrheit nicht Stand;
12*
[180]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der
Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der
Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu-
ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der
Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be-
ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk-
lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und
Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge-
bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung
gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.
Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen-
den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden
wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in
Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden,
als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt
undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte
gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß
der Natur.
Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie,
durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, nun-
mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen
Erklärung des Kosmos hervortrat. Im ſechſten Jahr-
hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und
italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe-
matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das
Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen
beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo-
nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver-
faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch
die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in
ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um-
gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in
ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und
die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der
einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt
[181]Entſtehung der Wiſſenſchaft.
an die Verwirklichung derſelben durch eine beſondere Klaſſe von
Perſonen gebunden. Nun war aber erſt mit dem Anwachſen des
Reichthums die Bedingung dafür geſchaffen, daß einzelne Perſonen
ſich ganz und in geſchichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur
widmeten. Dieſen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten
ſich durch eine weltgeſchichtliche Fügung ſeltenſter Art zu derſelben
Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbeſondere während
der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts Egypten. Die Geo-
metrie, wie ſie ſich als eine praktiſche Kunſt und eine Summe einzelner
Sätze in Egypten entwickelt hatte, und die Tradition langer aſtro-
nomiſcher Beobachtung und Aufzeichnung, wie ſie auf den Stern-
warten des Oſtens beſtand, wurden nun von ihnen zu einer
Orientirung in dem Weltraume benutzt, deſſen Bild das mythiſche
Vorſtellen überliefert hatte.
Damit traten die Griechen in eine geiſtige Bewegung ein,
deren größerer, in den Orient zurückreichender Zuſammenhang
uns bis jetzt unzureichend bekannt iſt. Sie iſt aber durch den
Zweckzuſammenhang des Erkennens bedingt. Die Wirklichkeit
kann nur durch Ausſonderung einzelner Theilinhalte ſowie durch
die abgeſonderte Erkenntniß derſelben dem Gedanken unterworfen
werden; denn in ihrer komplexen Form iſt ſie für denſelben nicht
anfaßbar. Die erſte Wiſſenſchaft, welche durch dies Verfahren
entſtand, iſt die Mathematik geweſen. Raum und Zahl ſind
von der Wirklichkeit früh abgeſondert worden, und ſie ſind
einer rationalen Behandlung ganz zugänglich. Die Betrachtung
begrenzter Flächen und Körper wird leicht aus der Anſchauung
der wirklichen Dinge abſtrahirt; von ſolchen abgeſchloſſenen
Gebilden ging die geometriſche Unterſuchung aus; Geometrie
und Zahlenlehre waren gemäß der Natur ihres Gegenſtandes die
erſten Wiſſenſchaften, welche zu klaren Wahrheiten gelangten.
Dieſer Gang der Analyſis der Wirklichkeit war vor dem
Eintreten der Griechen in den Zuſammenhang des Erkennens ſchon
eingeſchlagen, nun kam ihm die Eigenthümlichkeit des griechiſchen
Geiſtes entgegen. Anſchauungskraft und Formſinn bildeten die
auszeichnenden Eigenthümlichkeiten dieſes Geiſtes; dies zeigt ſich
[182]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
höchſt auffallend in dem anſchaulich klaren und folgerichtigen
Bilde des Weltalls, das bereits die homeriſchen Epen enthalten.
So löſte nun die beginnende griechiſche Wiſſenſchaft, insbeſondere
in der pythagoreiſchen Schule, die Unterſuchung der räumlichen
und Zahlen-Verhältniſſe ganz los von den praktiſchen Aufgaben
und unterſuchte dieſelben ohne jede Rückſicht auf Anwendbarkeit.
Entſprechend ging die beginnende Aſtronomie von der Kon-
ſtruktion der Weltkugel aus und begann Linien auf ihr zu ziehen.
Mathematik, insbeſondere Geometrie ſowie deſkriptive Aſtronomie,
in einem ſpäteren Zeitraum hinzutretend Logik, als Theorien, welche
gewiſſermaßen in der Region reiner und angewandter Formen
anſchauend verweilen, bilden die vollkommenſten intellektuellen
Leiſtungen des griechiſchen Geiſtes.
Fünftes Kapitel.
Charakter der älteſten griechiſchen Wiſſenſchaft.
Hundert Jahre dieſer fortſchreitenden Entwicklung der grie-
chiſchen Wiſſenſchaft verfloſſen, bevor dieſe Phyſiker die Natur der
erſten Urſachen, aus denen ſie den Kosmos ableiteten, einer
ſtrengeren und allgemeineren Betrachtung unterwarfen. Und dies
war doch die Bedingung für die Entſtehung einer abgeſonderten
Wiſſenſchaft der Metaphyſik. Finden wir Thales im erſten Drittel
des ſechſten Jahrhunderts auf der Höhe ſeiner Thätigkeit, ſo
reichen Leben und Wirkſamkeit des Heraklit und Parmenides,
welche dieſen Fortſchritt machten, eine geraume Zeit in das fünfte
Jahrhundert hinein.
Dieſe hundert Jahre hindurch ſteht die fortſchreitende Orien-
tirung im Weltall durch die Hilfsmittel von Mathematik und
Aſtronomie im Vordergrund der Intereſſen; an ſie ſchließen ſich
Verſuche, einen Anfangszuſtand und Realgrund deſſelben feſt-
zuſtellen. Das umblickende Auge des Menſchen findet ſich, zumal
wo die See weite Ausſicht gewährt, auf einer im Kreis des
Horizontes ſich abſchließenden Ebene, über welcher die Halbkugel des
[183]Die älteſte griech. Wiſſenſchaft geht von der Orientirung im Weltraum aus.
Himmels ſich wölbt. Geographiſche Kunde beſtimmt die Aus-
dehnung dieſes Erdkreiſes und die Vertheilung von Waſſer und
Land auf demſelben. Schon gemäß einer Anſchauung der auf
der See heimiſchen Griechen homeriſcher Zeit wurde nun als die
Geburtsſtätte von Allem das Waſſer, das Meer angeſehen. — Hier
knüpfte Thales an. Der die Erdſcheibe umfließende Okeanos
Homers dehnte ſich in ſeiner Anſchauung aus: auf dem Waſſer
ſchwimmt dieſe Erdſcheibe, aus ihm iſt Alles hervorgetreten. Vor
Allem wurde das Werk der Orientirung in dieſem kosmiſchen
Raume von Thales gefördert, und hier lag der weſenhafte Kern deſſen,
was geſchah. Anaximander ſetzte dieſes Werk fort, entwarf eine
Erdtafel, führte den Gebrauch des Gnomon ein, welcher zu jener Zeit
das wichtigſte Hilfsmittel der Aſtronomie war. Von dem Zuſtande
einer allgemeinen Fluth, in deſſen Annahme er mit Thales überein-
ſtimmte, ging er auf ein zeitlich dieſem Zuſtande vorausgehendes Un-
endliches zurück; aus ihm hat ſich alles Beſtimmte und Begrenzte
ausgeſchieden, und, unvergänglich, umfaßt es dieſes Alles räum-
lich und lenkt es. Und zwar hat er nach gutem Zeugniß dieſes
Unendliche, Alllebendige, Unſterbliche als Prinzip 1) bezeichnet,
und ſo dieſen dem metaphyſiſchen Denken ſo wichtigen Ausdruck
(zunächſt wol im Sinne von Anfang und Urſache) eingeführt.
Dieſer Ausdruck bezeichnete, daß nunmehr das Erkennen ſeiner
Aufgabe ſich bewußt war, und daher ſich die Wiſſenſchaft abſonderte.
Die Phänomene der bewegten Atmoſphäre enthalten auch für
die weiteren kosmologiſchen Verſuche der joniſchen Phy-
ſiker die Mittel der Erklärung. Wie in dieſer feuchter Niederſchlag,
Wärme, bewegte Luft miteinander verbunden ſind, ſcheint für dieſe
primitiven Erklärungsverſuche bald aus der Luft Alles hervor-
zutreten, bald aus dem Feuer, bald aus dem Waſſer.
Auch die Wiſſenſchaft der unteritaliſchen Kolonien, welche
in dem Verbande der Pythagoreer gepflegt wurde, hatte
ihren Ausgangspunkt, ihr weſenhaftes Intereſſe und ihre Be-
[184]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortſchreitenden
Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der
Mathematik und der Aſtronomie. In dieſer Schule entwickelte
ſich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöſte Betrachtung
der Verhältniſſe von Zahlen, von Raumgebilden, ſonach reine
mathematiſche Wiſſenſchaft. Ja ihre Unterſuchungen hatten bereits
die Beziehungen zwiſchen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen-
ſtande, ſo entſtand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge-
biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war
aſtronomiſch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge-
ſtaltende, welches ihnen im ſchönſten griechiſchen Geiſte das Gött-
liche iſt; indem es das Grenzenloſe an ſich zieht, entſteht die
zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.
Alle dieſe Erklärungen des Weltganzen, ob ſie gleich als Er-
klärungen an der allmäligen Auflöſung des mythiſchen Vorſtellens
arbeiteten, waren noch mit einem ſehr erheblichen Beſtand-
theil von mythiſchem Glauben vermiſcht. Das Prinzip,
aus welchem dieſe erſten Forſcher ableiteten, hatte noch viele Eigen-
ſchaften des mythiſchen Zuſammenhangs. Es enthielt in ſich eine den
mythiſchen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um-
wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichſam die Fußſpuren der Götter in
ſeinem Wirken. So war es auch mit einem von dieſen Phyſikern
feſtgehaltenen mythiſchen Götterglauben in für uns kaum ſichtbaren
Wurzeln verſchlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das
Weltall von Gottheiten erfüllt ſei, darf nicht in einen modernen
Pantheismus umgedeutet werden. Der mythiſche Glaube des Anaxi-
mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht
ihres Sonderdaſeins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung
der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras ſo ſicher zu-
geſchrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von
ihm geſtiftete Verband hing am Apollokultus und an religiöſen
Riten mit konſervativer Feſtigkeit. Vorſtellungen des Vollkommnen
beſtimmen das kosmiſche Bild der unteritaliſchen Schulen. Und zwar
tritt hier der für den griechiſchen Geiſt ſo bezeichnende Gedanke
hervor, daß das Begrenzte das Göttliche ſei — wogegen man den
[185]Fortbeſtand mythiſcher Elemente. Der weltgeſchichtliche Fortſchritt.
Satz Spinoza’s halte: omnis determinatio est negatio. So iſt
dieſe alterthümliche Weltanſicht keineswegs, wie ſeit Schleiermacher
oft geſchieht, einfach auf eine primitive Form des Pantheismus
zurückzuführen.
So langſam, allmälig hat, auch nachdem eine erklärende
Wiſſenſchaft ſich losgerungen hatte, dieſe die Macht der mythiſchen
Erklärungsgründe, des mythiſchen Zuſammenhangs zerſetzt. In
ſo harter Arbeit hat ſich aus der erſten Gebundenheit des
geiſtigen Geſammtlebens, in welcher dem Menſchen die Wirklich-
keit gegeben iſt und immer gegeben bleibt, der Zweckzuſammenhang
des Erkennens in der Wiſſenſchaft zur Selbſtändigkeit herausgearbeitet.
So ſchwierig war dieſer Wiſſenſchaft der Erſatz der urſprünglichen
Vorſtellungen durch ſolche von einer größeren Angemeſſenheit an
ihren Gegenſtand. Denn der Zuſammenhang der Dinge iſt urſprüng-
lich von der Totalität der Gemüthskräfte hervorgebracht worden;
nur ſchrittweiſe hat dann das Erkennen das rein Gedankenmäßige
aus ihm herausgelöſt. Leben iſt das Erſte und immer Gegenwärtige,
die Abſtraktionen des Erkennens ſind das zweite und beziehen ſich
nur auf das Leben. So entſpringen wichtige Grundzüge des
alterthümlichen Denkens. Es beginnt nicht mit dem Relativen,
ſondern mit dem Abſoluten, und zwar faßt es daſſelbe mit den
Beſtimmungen auf, welche aus dem religiöſen Erlebniß ſtammen;
das Wirkliche iſt ihm ein Lebendiges; der Zuſammenhang der Er-
ſcheinungen iſt ihm ein Pſychiſches oder doch ein dem Pſychiſchen
Analoges.
Dennoch hat die menſchliche Intelligenz zu keiner Zeit einen
größeren Fortſchritt gemacht, als in dem Jahrhundert, das nun-
mehr abgelaufen war, als Heraklit und dann Parmenides auftraten.
Die Wiſſenſchaft war nun vorhanden. Die Phänomene wurden
in ihrer Regelmäßigkeit und ihrem Zuſammenhang überwiegend
aus natürlichen Urſachen abgeleitet. Das Korrelat der nun ein-
getretenen Selbſtändigkeit der griechiſchen Wiſſenſchaft iſt der Aus-
druck: Kosmos. Er wird von den Alten auf Pythagoras zurück-
geführt: „Pythagoras zuerſt nannte das Weltall Kosmos, wegen
[186]Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
der in ihm herrſchenden Ordnung.“ 1) Dieſes Wort iſt gleichſam
der Spiegel der in die gedankenmäßige Regelmäßigkeit und den
harmoniſchen Zuſammenhang der Verhältniſſe und Bewegungen des
Weltalls vertieften griechiſchen Intelligenz. In ihm ſpricht ſich
der äſthetiſche Charakter des griechiſchen Geiſtes ſo urſprünglich
und tief aus, als in den Körpern, welche Phidias und Praxiteles
bildeten. Nun wird nicht mehr in der Natur die Spur eines will-
kürlichen, eingreifenden Gottes verfolgt; die Götter walten in dem
ſchönen, regelmäßigen Formenzuſammenhang des Kosmos. In
demſelben Sinne werden von der durch den Gedanken zu regel-
mäßig wirkenden Formen geordneten Geſellſchaft auf die Ver-
hältniſſe des Weltalls die Ausdrücke Geſetz und vernünftige
Rede übertragen 2).
Aber die Art und Weiſe der Ableitung von Phä-
nomenen, wie ſie in dieſer Wiſſenſchaft vom Weltall beſtand,
konnte den fortſchreitenden Anforderungen des Er-
kennens nicht genügen. Wird irgend einem Beſtandtheil
des Naturganzen Leben, Fähigkeit, ſich in andere Beſtandtheile
umzuwandeln, ſich auszudehnen und zuſammenzuziehen, zu-
geſchrieben, alsdann iſt es gleichgültig, von welchem dieſer
Beſtandtheile die Erklärung ausgeht; denn Alles kann ſo aus
Allem abgeleitet werden. Und hatten nicht dieſe Phyſiker wech-
ſelnd, aber mit gleicher Leichtigkeit, von Waſſer, Feuer, Luft
aus die anderen Theile des Naturzuſammenhangs durch Um-
wandlung erklärt? In Heraklit entwickelt die Spekulation dieſe
Anſchauung einer inneren Wandlungsfähigkeit als der allgemeinen
Eigenſchaft jedes Zuſtandes im Weltall; in Parmenides ſtellt
ſie dieſem endloſen Wechſel die Anforderungen des Gedankens
gegenüber. So entſprang Metaphyſik im engeren Verſtande.
[187]D. allgemeinſt. Eigenſchaft. e. Prinzips werden Gegenſt. d. Nachdenkens.
Zweiter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium in der Entwicklung der alten Völker.
Erſtes Kapitel.
Verſchiedene metaphyſiſche Standpunkte werden erprobt und er-
weiſen ſich als zur Zeit nicht entwicklungsfähig.
In dem Zweckzuſammenhang der Erkenntniß wird eine neue
Stufe erreicht; der fortſchreitende Geiſt ſucht, in der Generation
des Heraklit und Parmenides, die allgemeine Beſchaffenheit des
Zuſammenhangs im Kosmos ſowie die eines Prinzips dieſes Zu-
ſammenhangs zu beſtimmen. Er entwickelt die Eigenſchaften eines
Prinzips, die es zur Erklärung von Naturphänomenen benutzbar
machen. Dies ſetzt voraus, daß er ſich nunmehr ſeine bisherigen
Verſuche, die Erſcheinungen des Kosmos abzuleiten, gegenſtänd-
lich macht.
Ein Jahrhundert hindurch hatte die neuentſtandene Wiſſen-
ſchaft vermittelſt der Anſchauungen von Umwandlung und Be-
wegung die Phänomene der Außenwelt zu verbinden und zu er-
klären geſucht. Sie hatte hierzu den Begriff des Prinzips
ausgebildet, d. h. eines Erſten, welches zeitlicher Anfangszuſtand
und erſte Urſache der Phänomene iſt, und von welchem dieſelben
abgeleitet werden können. Dieſer Begriff war der Ausdruck des
Willens der Erkenntniß ſelber. Viele Urſachen drängten nunmehr
zum Nachdenken über die allgemeinſten Eigenſchaften
eines ſolchen Prinzips, überhaupt aber des Weltzuſammen-
hangs: der Wechſel in den Prinzipien, die Unmöglichkeit eines
dieſer Prinzipien zu beweiſen, die Schwierigkeiten in der Anſchauung
von Umwandlung, welche dem bisherigen Verfahren zu Grunde
gelegen hatte, die nicht minder großen Schwierigkeiten in den
einzelnen Vorſtellungen, wie ſie eine ſolche Erklärung zu ihrer
Verwendung hatte. Wir nennen das Nachdenken, welches ſolcher-
geſtalt einzelne Erklärungen zur Vorausſetzung hat und die all-
[188]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
gemeinen Beſtimmungen eines jeden aufſtellbaren Weltzuſammen-
hangs ableitet, ein metaphyſiſches.
Dies metaphyſiſche Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den
Zuſammenhang der Wirklichkeit. Wol war dieſer Zuſammen-
hang in letzter Inſtanz im Bewußtſein begründet, er bildete mit
der geſchichtlichen Welt erſt das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat
das metaphyſiſche Denken der Griechen dieſen Zuſammenhang
an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt. Dies hatte zur
Folge, daß die metaphyſiſchen Begriffe an die räumliche Anſchauung
gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war ſchon
den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und
Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos
löſte Alles, bis in den höchſten Begriff, zu welchem der griechiſche
Geiſt gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen
und Erſcheinungen im Raume auf.
Vermögen wir nun das innere Geſetz auszudrücken, welches
in dieſem Stadium von Erkenntniß der Zergliederung des
Zuſammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? — Die
Welt zeigte zunächſt dem beginnenden wiſſenſchaftlichen Denken
eine Vielheit einzelner Dinge, in Thun und Leiden veränderlich
verbunden, im Raume beweglich, wachſend und abnehmend,
ja entſtehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte
einer der neu auftretenden Metaphyſiker, ſprachen irrthümlich
von Entſtehen und Vergehen. In der That beweiſt ſchon die
Sprache, daß dieſe Vorſtellungen die einfache Naturauffaſſung be-
herrſchten. Wolken ſcheinen ſich zu bilden und in der Luft zu
zergehen, ſo die einzelnen Dinge. Selbſt die Götter des griechiſchen
Mythos waren in der Zeit entſtanden. — Das abgelaufene Jahr-
hundert griechiſcher Wiſſenſchaft hatte nun durch die Vorſtellung
eines erſten bildungskräftigen Stoffes und ſeiner Umwandlungen,
in Unteritalien durch den Gegenſatz der begrenzenden, bildenden
Kraft und des Unbegrenzten, einen Zuſammenhang unter dieſen
Anſchauungen hergeſtellt. Wir können die intellektuelle Verfaſſung
eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu
zweifeln begann und ſich nun in dieſem Wirbel der Stoffumwand-
[189]Das Erkennen iſt auf die Subſtanz und das höchſte Gut gerichtet.
lungen ſah, ſchwer nachfühlen. Denn Religion und poſitive
Wiſſenſchaft geben einem heutigen Menſchen feſte Anhaltspunkte
für ſeine Weltvorſtellung. In dem Spiel der Phänomene beſaß
ein Grieche jener Zeit nunmehr keinen feſten Punkt. Weder die
mythiſche Religion konnte ihm einen ſolchen gewähren, noch beſtand
poſitive Wiſſenſchaft, welche ihm Haltpunkte darbieten konnte. —
Nun wird der Menſch jeder Zeit inne, daß ſeine Handlungen und
Zuſtände in ſeinem Ich gegründet ſind. Er kann ſich nicht vor-
ſtellen, daß dies Ich Zuſtand oder Thun von etwas ſei, das
hinter dem Ich liege. Das iſt ſein Lebensgefühl. Und das
Andere, das Außen, welches er ſeinem Willen gegenüber findet,
iſt ihm ebenſo in allen Veränderungen Zuſtand und Aeußerung
einer Unterlage, welche nicht ſelber wieder Zuſtand oder Thun
von etwas hinter ihr iſt. Gleichviel ob dieſe ſelbſtändige Unterlage
an dem einzelnen Ding gefunden wird oder an der Einen Spinoziſti-
ſchen Subſtanz oder an den Atomen: das Außen, das uns im
Selbſtbewußtſein gegeben iſt, hat unweigerlich dieſen Charakter.
Definiren wir Subſtanz als das, was Subjekt für alle
prädikativiſchen Beſtimmungen, Unterlage für alle Zuſtände und
Thätigkeiten iſt, ſo blickt der Menſch ſozuſagen durch den Wirbel
und das Farbenſpiel der Phänomene in das Subſtanziale, was
dahinter iſt; er kann nicht anders. Auch die Vorſtellung des
Wirkens, der Begriff der Kauſalität wird dieſem Subſtanzialen
untergeordnet. Und in ſich, in dem Wechſel ſeiner Antriebe,
Regungen, Zwecke muß er ebenfalls nach einem feſten Punkte
ſuchen, der ſein Handeln regele. So ſind in ihm und
in dem, was außer ihm ſeiner Perſon gegenübertritt, dies
die beiden feſten Punkte, welche die natürlichen Ziele ſeines
Nachdenkens bilden: die ſubſtanziale Unterlage des Außen und in
ſeinem Handeln der Zweck, der nicht Mittel iſt, das höchſte Gut
ſeines Willens.
Dieſer Thatbeſtand erklärt, warum für die Philoſophie der
Alten das wahrhafte Sein und das höchſte Gut die beiden
centralen Fragen bilden. Dieſe Fragen ſind nicht abgeleitet. Nicht
die ſubjektive Feſtigkeit der Ausſage, die Nothwendigkeit der Ge-
[190]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
danken iſt es, was das menſchliche Erkennen zuerſt ſucht. Dieſe
Feſtigkeit des Ausſagens iſt ſozuſagen die ſubjektive, logiſche Seite
der objektiven Feſtigkeit des Zweckes in uns ſelber, der Subſtanz
außer uns. Dies zeigt ſich geſchichtlich darin, daß erſt die Un-
ſicherheit und der Zweifel, welche die Denkgewißheit ſtören, die
Frage nach dem logiſchen Zuſammenhang von Grund und Folge,
nach dem Grunde, der in ſich feſt iſt, hervorgetrieben haben.
Und zwar ringt ſich in dem Vorgang, den wir nunmehr
darzuſtellen haben, das Erkennen der Weltſubſtanz auch jetzt noch
nicht los von dem Zuſammenhang, welcher vordem in der
Totalität der menſchlichen Gemüthskräfte das Erkennen
gleichſam gebunden hielt. Die Götter hatten in der Welt der joniſchen
Phyſiker ſowie der Pythagoreer noch Platz gefunden. Indem nun
der Zuſammenhang des Kosmos nach ſeinen allgemeinſten Eigen-
ſchaften beſtimmt wurde, fand ſich in demſelben für ſie im Grunde
keine Stelle mehr. Xenophanes, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras,
die leitenden Geiſter der neuen Zeit, entwickelten einen Welt-
zuſammenhang, welcher durch das klare Bewußtſein ſeines all-
gemeinen Charakters, ſeines alle Phänomene einſchließenden Um-
fangs gleichſam das ganze Terrain der Wirklichkeit occupirte. Das
war in der Welt des Anaximander oder Pythagoras noch nicht
der Fall geweſen. Auch war es für die ſo eintretende Ver-
änderung gleichgiltig, daß die Götter in dem perſönlichen Be-
dürfniß des einen oder anderen dieſer Männer noch fortbeſtanden,
wie dies z. B. augenſcheinlich bei Xenophanes der Fall war.
Aber was war nun die Folge dieſer Veränderung für die meta-
phyſiſche Conception der Weltordnung? Der ganze Inbegriff der
höheren Gefühle, das religiöſe Leben, das ſittliche Bewußtſein,
das Gefühl der Schönheit und des unendlichen Werthes der Welt
waren nun in dieſem Weltzuſammenhang ſelber gegenwärtig. Alle
Eigenſchaften, welche das religiöſe und ſittliche Leben den Göttern
zugeſchrieben hatte, fielen nun in dieſe kosmiſche Ordnung. Das
höchſte Gut ſelber, der Zweck, der kein Mittel mehr iſt, wurden auf
ihn zurückgeführt. So lag in dieſem die Erſcheinungen Zu-
ſammenhaltenden das Vollkommne, Gute, Schöne, dem Unzu-
[191]Xenophanes. Heraklit.
reichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife
gegenüber das Feſte und innen Selige.
Xenophanes beſtimmt das Eine Sein, das ihm dieſer Zuſammen-
hang iſt, theologiſch. Das Geſetz, das nach Heraklit im Fluß der
Erſcheinungen herrſcht, iſt nicht nur durch die Gegenſätze oder den
Weg aufwärts und abwärts beſtimmt, ſondern es hat einen tief
religiöſen Hintergrund. Der Beginn des Parmenideiſchen Lehr-
gedichts kündigt in alterthümlicher Erhabenheit eine mit dem reli-
giöſen Glauben zuſammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer
zeigen denſelben Charakter.
So entſpricht es dem Zuſammenhang der intellektuellen Ent-
wicklung ſowie dem Geiſte dieſer alterthümlichen Zeit, daß die
tiefere Beſinnung über das Prinzip des Kosmos aus dem reli-
giöſen Leben kam und dem entſprechend ſich als Anforderung
an den Gedanken der Gottheit geltend machte. — In der pytha-
goreiſchen Schule war die Trennung zwiſchen dem in der
Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphyſiſchen Weltordnung
vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in Be-
zug auf ſeinen Urſprung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was
Geſtalt iſt und geſtaltet, gegenüber, das Prinzip der Form; dieſes
wurde von den Pythagoreern mathematiſch gefaßt, in den Be-
ziehungen zwiſchen Zahl und Raumgröße dargeſtellt, in die reale
Welt der Töne ſowie in die harmoniſchen Verhältniſſe der kosmiſchen
Maſſen verfolgt. — Xenophanes erwies aus dem religiöſen Be-
wußtſein das Prinzip des Einen Seins. Die Vorſtellung vom Tode
der Götter iſt unfromm; was aber in der Zeit entſtanden iſt, das
iſt auch vergänglich; daher iſt der Gottheit ewiger und unver-
änderlicher Beſtand zuzuſchreiben. Ebenſo iſt mit dem Bewußtſein
von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von
Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit iſt alſo Eine. So iſt
in Xenophanes mit der Beſinnung über die Eigenſchaften des
Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik
gegen das mythiſche Vorſtellen verbunden, das eine Vielheit von
Göttern annimmt, die geboren werden und ſterben; er bereits
[192]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
durchſchaut das Anthropomorphiſtiſche im Götterglauben und deſſen
Unhaltbarkeit.
Die ſtrengere Entwicklung dieſes Prinzips des All-Einen
ſcheint dadurch gefördert worden zu ſein, daß Heraklit aus der
Naturanſchauung der joniſchen Phyſiker, abſchließend, als die Grund-
lage derſelben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab-
leitete. — Das Bewußtſein des Unterſchieds des ihm aufgehenden
metaphyſiſchen Bewußtſeins von aller bisherigen Forſchung er-
füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieſes
metaphyſiſche Bewußtſein bezieht ſich nach der tiefen Einſicht des
Heraklit gerade auf das, was den Menſchen beſtändig umgiebt,
was er beſtändig hört und ſieht: während der gewöhnliche Zu-
ſtand des Menſchen iſt, da und doch nicht dabei zu ſein, faßt
dieſe metaphyſiſche Beſonnenheit eben das überall Wiederkehrende
in wachem Bewußtſein auf und ſpricht es aus. Und ſo tritt ſie
wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch
zu der Empirie in Gegenſatz, welche ſich in einzelner Kunde und
Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn
nicht belehrt, zu der falſchen Kunſt, deren Typen ihm Pythagoras,
Xenophanes, Hekatäos unter ſeinen Zeitgenoſſen und Vorgängern
ſind. — Dieſem metaphyſiſchen Bewußtſein geht nun das Welt-
geſetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All
gleichmäßig wirkſam iſt. Das ſich abwandelnde All-Eine iſt nicht
nur als daſſelbe in den Gegenſätzen gegenwärtig, in jeder ein-
zelnen Erſcheinung ſelber iſt ſchon ihr Gegenſatz enthalten, in
unſrem Leben iſt der Tod, in unſrem Tod das Leben. — In dieſen
Gedanken, die alles Sein auflöſen, lag dann der Grund für die
Abwendung Heraklits von der poſitiven Wiſſenſchaft der Zeit.
Heraklit hat auch ſeine Phyſik dem Grundgedanken der Abwand-
lung unterworfen, und er hat ſelbſt die Sonne in ſeine Rhythmik
des Umſatzes hineingezogen: täglich ſollte ſie neu entſtehen.
Dieſer Gedanke, welchem gemäß Konſtanz nur in dem Geſetz
der Veränderungen beſteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An-
ſatzpunkt wahrer Einſichten; aber in der damaligen Lage der
Wiſſenſchaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatſachen
[193]Parmenides.
Gewalt anthun, und ſeine Schule, die Geſellſchaft der „Fließenden“,
verfiel naturgemäß dem Skepticismus. Denn beſteht nur der
Fluß der Dinge d. h. der Umſatz eines Zuſtandes der Materie
in den andern, fällt ſonach die Konſtanz nur in das Geſetz dieſes
Umſatzes: alsdann kann ein Prinzip, welches Träger dieſer Um-
ſatzbewegung wäre, nicht unterſchieden werden. Wenn alſo Hera-
klit auch nur ſymboliſch das Feuer als ein ſolches Prinzip be-
zeichnete, ſo verfiel ſein Syſtem damit dem inneren Widerſpruch.
Auch wurden ferner die regelmäßigen und konſtanten Kreisbe-
wegungen der Geſtirne einer Erklärung aus dem Prinzip der
Umwandlung unterworfen, und hierbei mußte ſich zeigen, daß die
ſtätige, unveränderliche Urſache, welche ſie fordern, mit der
Rhythmik der Umſätze in Widerſpruch ſteht. So gerieth Heraklit
mit den aſtronomiſchen Vorſtellungen ſeiner Zeit nothwendig in
Streit; ſo gelangte er zu ſeinen eigenen, paradoxen aſtronomiſchen
Behauptungen, die nur als ein Rückſchritt gedeutet werden können.
An dem Gegenſatz gegen die Formeln des Heraklit hat wahr-
ſcheinlich Parmenides den Gedanken des Xenophanes zu voller
metaphyſiſcher Klarheit entwickelt. Er arbeitet, wie Heraklit, ſich den
Gehalt der Weltvorſtellung tiefer bewußt zu machen. Auch er will
nicht mehr in erſter Linie ſich im Weltall orientiren oder den
thatſächlichen Zuſammenhang der Bewegungen ſeiner großen
Maſſen feſtſtellen. Wol war Parmenides der erſte, der die
große Entdeckung von der Kugelgeſtalt der Erde als Schriftſteller
vertrat, wenn er auch nicht als der Entdecker ſelber bezeichnet
werden kann; denn es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß er dieſe in
der Aſtronomie epochemachende Einſicht in ſeiner unteritaliſchen
Heimath ſchon bei den Pythagoreern vorfand. Aber der Anfang
ſeines Lehrgedichts zeigt, daß eine metaphyſiſche Beſinnung über
die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs auch
ihm als die große Aufgabe ſeines Lebens erſchien. Derſelbe
Anfang macht zugleich ſichtbar, daß dieſer Weltzuſammenhang
für ihn allen religiöſen Tiefſinn des mythiſchen Zeitalters in
ſich ſchloß, ganz wie dies auch bei Heraklit der Fall war.
Aller Glanz der mythiſchen Welt, der Sitz der Gottheiten und
Dilthey, Einleitung. 13
[194]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ihre ſtrahlenden Geſtalten ſind nun in dieſe metaphyſiſche Welt
zuſammengegangen. So iſt es auch ein göttlicher Mund, der an
dieſem Beginne ſeines Gedichts den ganzen Gegenſatz von Wahr-
heit und Irrthum in folgenden Sätzen zuſammenfaßt: das Seiende
iſt, das Nichtſeiende iſt nicht; der Irrthum iſt in der entgegen-
geſetzten Annahme begründet, daß das Nichtſeiende Exiſtenz habe,
daß das Sein nicht beſtehe.
Die Fragmente ſind nicht ausreichend, den genauen Sinn
feſtzuſtellen, welchen ſeine Erläuterung und Begründung dieſes
ſeines Hauptſatzes gehabt hat 1). Es iſt zweifellos, daß er dieſen
Satz dadurch begründete, daß das Sein nicht von dem Denken
getrennt zu werden vermag; das Nichtſeiende kann weder erkannt
noch ausgeſprochen werden. Dieſe Beweisführung enthält augen-
ſcheinlich in ſich, daß das Vorſtellen, in welchem die Wirklichkeit
gegenwärtig iſt, nicht mehr übrig bleibt, ſobald man die in ihm
gegebene Wirklichkeit aufhebt. Doch iſt ein ſolcher moderner Aus-
druck freilich in Gefahr, nicht den einfachen und ganzen Sinn
dieſes alterthümlichen Denkens aufzufaſſen. Etwas einfacher und
dem Sprachgebrauch des Parmenides näher ſagen wir: iſt das
Sein nicht da (eine abſtrakte Bezeichnung für das „iſt“, welches
die im Vorſtellen gegebene Gegenſtändlichkeit ausdrückt), alsdann
kann ja auch kein Denken vorhanden ſein. — Da alſo nichts
Anderes außer dem Sein exiſtirt, ſo iſt auch das Denken gar nicht
etwas von dem Sein Unterſchiedenes. Denn außer dem Sein iſt
überhaupt Nichts; es iſt gleichſam der Ort, in welchem auch die
Ausſage ſtattfindet. Denken und Sein ſind darum daſſelbe. Nicht-
ſeiendes iſt alſo ein Ungedanke, ein Nonſens in ſtrengſtem Ver-
ſtande 2).
[195]Parmenides.
Dieſe Sätze enthalten allerdings das Denkgeſetz des Wider-
ſpruchs in metaphyſiſcher Faſſung im Keime; aber ihre Tragweite
reicht hierüber hinaus. In ihnen iſt der Befund des Bewußt-
ſeinszuſammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt
untrennbar verbunden iſt und das Objekt den Charakter ſubſtan-
tialer Feſtigkeit beſitzt, in unentwickeltem Tiefſinn ausgeſprochen.
Und ſo ſind dieſe Sätze einerſeits die zureichende Grund-
lage für Wahrheiten, welche nun das griechiſche Denken zu-
nächſt den mathematiſchen hinzufügte und welche den Uebergang
von den letzteren zu einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Kos-
mos ermöglichten; ſie ſind andrerſeits in der Dunkelheit, in
welcher ſie dem Bewußtſein zuerſt aufgehen, der Ausgangs-
punkt für überſpannte Anforderungen des Denkens
an die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs.
Dieſe in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides im-
plicite enthaltenen Wahrheiten ſind einfach. Die erſte liegt
in der Auffaſſung der Eigenſchaft unſres Bewußtſeinszuſammen-
hangs, welche Ariſtoteles in ſeiner Formel vom Satze des
Widerſpruchs in eine genauer beſtimmte und dadurch halt-
bar gewordene Geſtalt brachte. Die andere liegt in dem phyſiſchen
Satze: es giebt kein Entſtehen und keinen Unter-
gang1); von dem wahrhaft Seienden iſt Entſtehen und Unter-
gang auszuſchließen; denn aus dem Nichtſeienden kann Sein
nicht entſtehen, da daſſelbe eben nicht iſt, das Seiende aber würde
nichts Anderes als ſich ſelber erzeugen. Auch dieſer Satz hat erſt
ſpäter, zunächſt durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer
eingeſchränkte, haltbare Geſtalt empfangen. Die beiden Sätze, von
der Unbeſtimmtheit und den Uebertreibungen befreit, die ihnen bei
2)
13*
[196]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Parmenides anhaften, traten zu den Wahrheiten der Mathematik und
ermöglichten ſo einen feſten Anſatz für die Erkenntniß der Natur.
Jedoch gelangte Parmenides von dieſen Wahrheiten, in Folge
der unvollkommenen, unbeſtimmten Art, in welcher er ſie auf-
faßte, zu Folgerungen, welche auch dieſe Weltanſicht unbenutzbar
für poſitive Forſchung machten und ihr darum ſchließlich
nur Anwendbarkeit für die Beweisführungen des Skepticismus
übrig ließen. Die moderne Naturwiſſenſchaft, indem ſie von der
Erhaltung des Stoffs und der Kraft ausgeht, verlegt die ganze
Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Prädikate in die Rela-
tionen. Parmenides überſpannt die Tragweite des als Grundſatz
des Naturerkennens gültigen ex nihilo nihil fit und konſtruirt ein
ewiges, kontinuirlich im Raume ſich erſtreckendes, jede Veränderung
und Bewegung ausſchließendes Sein, in welches ihm alle Voll-
kommenheit der göttlichen Weltordnung aufgeht. Er verneint von
ihm aus die wirkliche, veränderliche, mannigfaltige Welt, und ſo
wird ihm dann ſelbſt ihr Schein unerklärlich.
So hoben denn Parmenides, Zeno, Meliſſus die ganze
Welterklärung aus den Angeln, welche die ihnen vorausgegangene
phyſiſche Wiſſenſchaft geſchaffen hatte. Dieſe ältere Phyſik hatte
den Kosmos von einem bildenden Prinzip aus, welches eine un-
beſtimmte Veränderlichkeit in ſich hat, mit den Hilfsmitteln der
Vorſtellungen von Bewegung des Stoffes im Raume, qualitativer
Veränderung, Entſtehung des Vielen aus dem Einen erklärt.
Nun wurden alle konſtruktiven Prinzipien, mit
welchen dieſe Phyſik arbeitete, in Frage geſtellt. —
Was eine Größe hat, iſt theilbar; ſo gelange ich nie zu dem
Einfachen, aus welchem das Zuſammengeſetzte beſteht, wenn
ich nicht das Gebiet des Räumlichen verlaſſe. Verlaſſe ich aber
dieſes, ſo kann ich aus unräumlich Einfachem nie das Räum-
liche zuſammenſetzen. Entſprechend kann jeder Zwiſchenraum
zwiſchen zwei räumlichen Größen in’s Unendliche getheilt werden.
— Andrerſeits wird jede Raumgröße von einer anderen um-
faßt. — Der Weg, den ein bewegter Körper durchläuft, iſt in’s
Unendliche theilbar.
[197]Negative Wirkung ſeiner Schule. Leukipp, Empedocles, Anaxagoras.
In der That ſind die Schwierigkeiten, welche dieſe Denker
ſolchergeſtalt an dem Raume, der Bewegung, dem Vielen auf-
zeigten, innerhalb der Metaphyſik ſelber unüberwindlich; nur der
erkenntnißtheoretiſche Standpunkt, welcher auf den Urſprung
der Begriffe zurückgeht, kann dieſe Widerſprüche auflöſen. Er
erkennt, wie die Wirklichkeit in der Anſchauung gegeben iſt, und
wie die unendliche Freiheit des Willens dieſe Wirklichkeit beliebig
theilen und zuſammenſetzen, wie ſie vermittelſt der Abſtraktion
das reale Kontinuum und die Bewegung durch Punkte, durch
Zerlegung der Bahn der Bewegung in ſolche Punkte nachbilden
kann, ohne damit doch jemals die Realität der Anſchauungsthat-
ſache ſelber zu erreichen.
Jedem metaphyſiſchen Theorem folgt als ſein Schatten das
Bewußtſein des dunklen Reſtes von aus ihm nicht ableitbaren
Thatſachen. Heraklit’s Werden widerſprach ſeiner Konception von
dem Feuer als lebendigem Subſtrat, an welchem das Werden
haftet; dem Sein des Parmenides widerſprach die veränderliche
Welt. Der Fortgang der Metaphyſik iſt naturgemäß der zu
immer komplicirteren Annahmen, welche in demſelben Verhältniß
geeigneter ſind, die Thatſachen zu erklären, andrerſeits aber auch
eine wachſende Zahl von inneren Schwierigkeiten enthalten.
Zweites Kapitel.
Anaxagoras und die Entſtehung der monotheiſtiſchen Metaphyſik
in Europa.
Neben Zeno und Meliſſus, welche ſo von der neu gewonne-
nen Grundlage aus ihre vernichtende Dialektik gegen alle Hilfsmittel
der phyſiſchen Welterklärung richteten, treten Leukipp, Empe-
docles, Anaxagoras auf, welche auf dieſem Boden die
phyſiſche Welterklärung umgeſtalteten. In derſelben Generation
ſtehen jene ſkeptiſche und dieſe fortſchreitende Richtung neben einander.
[198]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Schon damals bewährte ſich, daß denen in der Wiſſenſchaft die nütz-
liche Wirkung gehört, welche nicht etwa die Wahrheit gegenüber dem
Irrthum beſitzen, ſondern welche, vom Glauben an die Erkenntniß
vorangetrieben, einen neuen Verſuch machen, ſich ihr anzunähern, auch
indem ſie Vorausſetzungen hierbei verwenden, welche für den Ver-
ſtand zur Zeit nicht widerſpruchsfrei ausgebildet werden können.
So wurden damals Bewegung und leerer Raum zur Erklärung be-
nutzt, obwohl ohne Zweifel keiner der Forſcher, welche von dieſen
Vorſtellungen Gebrauch machten, die Schwierigkeiten aus ihnen
zu entfernen im Stande war. Denn dies iſt der Zweckzuſammen-
hang der menſchlichen Wiſſenſchaft: an die Wirklichkeit tritt Ver-
ſuch auf Verſuch, ſich ihr anzunähern und ihren Thatbeſtand er-
klärbar zu machen; die vollkommenen überleben die unvollkommenen.
So entſtand nun damals der neue metaphyſiſche Grundbegriff
des Elements, der genauer ausgebildete des Atoms. Die
Folgerungen, welche aus den beiden dargelegten Prinzipien
für den Begriff des Seins in der eleatiſchen Schule gezogen
wurden, waren über das in dieſen Prinzipien Gelegene hinaus-
gegangen; übergewaltig waren zuerſt die negativen Konſequenzen
aufgetreten: die Weltanſicht des All-Einen Seienden vernichtete
den mannigfaltigen Kosmos. Daher ſchritt nun der Wille der
Erkenntniß über ſie hinweg; Leukipp, Empedocles, Demokrit ver-
ſuchten, das Prinzip des Seins der Aufgabe einer Erklärung
der veränderlichen, mannigfaltigen Welt anzupaſſen.
Ihr fundamentales Theorem ſetzte alſo in Parmenides ein.
Es giebt weder Entſtehen noch Vergehen, ſondern — ſo fahren ſie
fort — nur Verbindung und Trennung von Maſſen-
theilchen vermittelſt der Bewegung im Weltraum.
Dies Theorem tritt bei ihnen ganz gleichförmig auf. — Daß es
aus der eleatiſchen Schule hervorging, kann nachgewieſen werden 1).
Zwar können die hiſtoriſchen Bezüge, in welchen dieſe Männer
[199]Die Theoretiker der Maſſentheilchen.
augenſcheinlich unter einander ſtanden, nicht mehr feſtgeſtellt werden.
Auch kennen wir leider nicht die Art von Argumentation, vermöge
deren Leukipp, Empedocles, Anaxagoras, Demokrit ihre Theorie
der unveränderlichen Maſſentheilchen gegenüber dem Einen eleati-
ſchen Sein gerechtfertigt haben. Wie dem ſei, nun wurde im
Aufbau der europäiſchen Metaphyſik von dem Begriff des Seienden
aus Eine von den mehreren vorhandenen Möglichkeiten entwickelt
und zwar die nächſtliegende: Zerſchlagung der Wirklichkeit in
Elemente, welche einerſeits den Anforderungen des Denkens an
unveränderliche Anhaltspunkte ſeiner Rechnung genugthaten, andrer-
ſeits eine Erklärung von Veränderung, Vielheit und Bewegung nicht
ausſchloſſen. Damit vollzog ſich ein bedeutender Fortſchritt. An die
Stelle einer in unbeſtimmter Umwandlung wirkſamen Kraft oder
der Beziehung einer ſolchen auf einen grenzenloſen Stoff (Pytha-
goreer) traten ſich ſelbſt gleiche, unveränderliche Elemente. Aus
jener Kraft konnte Alles erklärt werden, dieſe Elemente ermög-
lichten eine klare, überſichtliche Rechnung in der Welterklärung.
Damit tritt in die Erklärung des Kosmos eine neue Art
von Begriffen. Solche waren das Atom des Leukipp, die
Samen der Dinge des Anaxagoras, die Elemente des Empedocles
ſowie die mathematiſchen Figuren, aus denen Plato die Körper-
welt konſtruirte. Die erſte Urſache als Erklärungsgrund (ἀϱχή)
war eine metaphyſiſche Kategorie, welche der ganzen Wirklichkeit
als in ihr gleichmäßig überall gegebener Theilinhalt untergelegt
werden konnte. Der Begriff des Elements oder Maſſentheilchens
(Atoms) iſt an der äußeren Natur entwickelt worden und hat,
vermöge ſeines Merkmals ſtarrer Unveränderlichkeit, nur für ſie
Geltung. Auch iſt er nicht ein Beſtandtheil der Naturwirk-
lichkeit d. h. ein in ihr enthaltener einfacher Begriff; ſolche
ſind Bewegung, Geſchwindigkeit, Kraft, Maſſe. Vielmehr iſt
er eine konſtruktive Schöpfung zur Erklärung von Naturer-
ſcheinungen, ganz wie der Begriff der platoniſchen Idee.
Indem der Begriff des Elements als metaphyſiſche Realität
auftrat und behandelt wurde, entſtanden Schwierigkeiten, welche
unter dieſen Bedingungen unüberwindlich waren. —
[200]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Eine ſolche Schwierigkeit lag in der ſchon Leukipp zugeſchriebenen
Annahme, neben dem Seienden komme auch Exiſtenz dem
Nichtſeienden zu d. h. dem leeren Raume. Und doch war ohne
dieſe Annahme Bewegung nicht möglich. Anaxagoras leugnet,
ja bekämpft den leeren Raum 1), aber er vermag dann freilich das
Ausweichen ſeiner Maſſentheilchen nicht zu erklären. — Eine
weitere Schwierigkeit lag in der Annahme der Untheilbarkeit von
kleinen Körpern, dergleichen die Atomiſten lehrten. Hiergegen
richtete, wie es ſcheint, Anaxagoras ſeine tiefſinnige Lehre von der
Relativität der Größe 2). — Endlich lag eine Schwierigkeit in der
Unerklärbarkeit der qualitativen Veränderung aus Atomen; ihr
gegenüber entwickelte Anaxagoras eine ſehr zuſammengeſetzte Theorie,
und an dieſem Punkte bemerkt man, welche Bedeutung für die
Fortentwicklung der Atomiſtik das Auftreten des Protagoras hatte.
Denn Protagoras ſteht zwiſchen Leukipp und Anaxagoras einerſeits
und der Vollendung des atomiſtiſchen Syſtems andrerſeits. Seine
Theorie der Sinneswahrnehmung ermöglichte erſt die wiſſenſchaft-
lich begründete Ablöſung der Vorſtellungen des Qualitativen von
den Atomen, und daß ſich Demokrit, vielleicht in einer beſonderen
Schrift, mit Protagoras auseinandergeſetzt habe, wird ausdrück-
lich überliefert 3). — Die Atomtheorie des Demokrit, von ſo viel
Schwierigkeiten umgeben, durch Protagoras mit der Skepſis ver-
bunden, erhielt durch Metrodor und Nauſiphanes eine noch ſkep-
tiſchere Haltung; ſo gelangte ſie durch Nauſiphanes zu Epikur 4);
ſie erhielt ſich, allen Schwierigkeiten trotzend, weil ſie, wie der
weitere Verlauf zeigen wird, ein berechtigter Beſtandtheil der Na-
turerklärung iſt.
War ſchon der Begriff von Maſſentheilchen ein konſtruktiver
[201]Der Charakter des Anaxagoras und ſeine Leiſtung.
metaphyſiſcher Begriff: ſo entſtand für dieſe Theoretiker der
Maſſentheilchen nun das konſtruktive Problem, ob aus ihnen allein
der Kosmos erklärt werden könne.
An dieſem Punkte der Entwicklung, es war in der ſchönſten
Zeit Athens, trat nun im Zuſammenhang mit der Lage der
Wiſſenſchaften diejenige Konſtruktion des Kosmos in erſtem groß
gedachten Wurf hervor, welche der europäiſchen Metaphyſik ihre
lang dauernde Macht über den Geiſt unſres Welttheils verſchafft
hat. Dies iſt die Lehre von einer vom Kosmos ſelber unterſchiedenen
Weltvernunft, welche als erſter Beweger die Urſache des regel-
mäßigen, ja zweckmäßigen Zuſammenhangs im Kosmos iſt.
Der Monotheismus d. h. der Gedanke des Einen Gottes,
welcher, von der Natur nicht nur im Begriff, ſondern als That-
ſächlichkeit gänzlich unterſchieden, als eine rein geiſtige Macht die
Welt regiert, entſtand in dem Abendlande im Zuſammenhang mit
den aſtronomiſchen Unterſuchungen; er iſt daſelbſt zwei Jahr-
tauſende lang durch ein Raiſonnement getragen worden, welches
in der Auffaſſung des Weltgebäudes ſeinen Rückhalt hatte. Mit
Ehrfurcht nähere ich mich dem Manne, welcher zuerſt dieſen ein-
fachen Zuſammenhang der regelmäßigen Bewegungen der Geſtirne
mit einem erſten Beweger erſann. Seine Perſon erſchien dem
Alterthum als repräſentativ für eine Richtung des Geiſtes auf
das Wiſſenswerthe, mit Vernachläſſigung deſſen, was Klugheit
für den eigenen Nutzen ſucht. „Anaxagoras ſoll einem, der ihn
befragte, weswegen doch Jemand das Sein dem Nichtſein vorziehe,
geantwortet haben: wegen der Betrachtung des Himmels ſowie der
über den ganzen Kosmos verbreiteten Ordnung“ 1). Dieſe Stelle
verdeutlicht den Zuſammenhang, in welchem die Alten den Geiſt
ſeiner aſtronomiſchen Forſchungen mit ſeiner monotheiſtiſchen Meta-
phyſik erblickten. Von da ergoß ſich über ſein ganzes Weſen der
Charakter von gefaßter Würde, ja Erhabenheit, den er nach der Auf-
faſſung guter Berichterſtatter ſeinem Freunde Pericles mittheilte 2).
[202]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die Trümmer ſeines Werkes über die Natur athmen dieſelbe
einfache Majeſtät. Man hält unwillkürlich den Anfang deſſelben
mit der großen Urkunde des Monotheismus der Iſraeliten, der
Schöpfungsgeſchichte, zuſammen. „Zuſammt waren alle Dinge,
unermeßlich an Menge und Kleinheit; denn auch das Kleine war
ein Unermeßliches. Und da Alles zuſammt war, war nichts
deutlich hervortretend, wegen der Kleinheit“ 1). Anaxagoras zer-
gliederte aber den Anfangszuſtand der Materie mit den Hilfs-
mitteln der unteritaliſchen Metaphyſik. Die älteſte Vorſtellung
von einer in ſelbſtthätiger Umwandlung begriffenen Materie, welche
Alles abzuleiten geſtattete und ſonach im Grunde Nichts, war in
dieſer unteritaliſchen Metaphyſik beſeitigt worden. Ihr folgend
und mit Empedocles und Demokrit hierin einig, legte Anaxagoras
ſeinem Denken den folgenden Satz zu Grunde: „Die Hellenen
ſprechen nicht mit Recht von Entſtehung und Untergang. Denn
kein Ding entſteht, noch geht es zu Grunde“ 2). Verbindung und
Trennung, ſonach Bewegung der Subſtanzen im Raume, trat an
die Stelle von Entſtehung und Untergang. Dieſe Maſſentheilchen,
welche Anaxagoras, Leukipp und Demokrit zu Grunde legten, ſind
die Baſis jeder Theorie über den Naturzuſammenhang geblieben,
welche einen feſten, der Rechnung zugänglichen Anſatz fordert. In
mehreren Punkten unterſchieden ſich nun die „Samen der Dinge“ 3),
auch kurzweg „Dinge“ des Anaxagoras (ſozuſagen die Dinge im
Kleinen) von den Atomen des Demokrit. Anaxagoras, nach der
Lage der Forſchung zu ſeiner Zeit, entwickelte den denkbar härteſten
Realismus. In ſeinen Maſſentheilchen iſt jede Abſtufung von
Qualität, welche die ſinnliche Wahrnehmung irgendwo darbietet,
gegeben. Und da ihm nun jede Vorſtellung des chemiſchen Pro-
zeſſes fehlte, mußte er zu zwei Hilfsſätzen greifen, deren Paradoxie
die Tradition nicht mehr aus dem Zuſammenhang verſtanden hat.
In jedem Naturobjekt ſind alle Samen der Dinge enthalten; aber
[203]Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.
unſere Sinne haben enge Grenzen der Empfindungsfähigkeit: hier-
aus erklärte er den täuſchenden Schein qualitativer Veränderungen 1).
Alsdann aber findet ſich ſchon bei Anaxagoras das Theorem von
der Relativität der Größe, das die ſophiſtiſche Epoche in negativem
Sinne ausgebeutet hat, und deſſen Tragweite ſpäter Hobbes ſelb-
ſtändig entwickelte. Es ſcheint, daß Anaxagoras im Zuſammen-
hang hiermit annahm, jeder für uns vorſtellbare kleinſte Theil ſei
wiederum als ein Syſtem zu betrachten, das eine Vielheit von
Theilen in ſich faſſe. Verſchiedene Experimente werden von ihm
überliefert, durch welche er phyſikaliſche Grundvorſtellungen zu
befeſtigen unternahm. Als Phyſiker in eminentem Sinne wurde
er von der Tradition bezeichnet.
Vermittelſt einer gewagten Induktion übertrug er nun die
Phyſik der Erde auf das Himmelsgewölbe.
Am hellen Tage fand bei Aegos Potamoi der Fall eines
ſehr großen Meteorſteines Statt. Anaxagoras ging davon aus,
daß derſelbe aus der Geſtirnwelt ſtamme, und er ſchloß ſo aus
dem Falle dieſes Meteorſteines auf die phyſiſche Gleichartigkeit des
ganzen Weltgebäudes 2). Da er den Umlauf des Mondes um die
Erde dieſer näher als den Umlauf der Sonne anſetzte und ent-
ſprechend die Sonnenfinſterniſſe aus dem Zwiſchentreten des
Mondes zwiſchen Erde und Sonne ableitete, ſo wird er auch aus
den Sonnenfinſterniſſen geſchloſſen haben, daß der Mond eine
große, dichte Maſſe ſein müſſe 3). Die Schlüſſe können nicht mehr
[204]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
auf einleuchtende Weiſe hergeſtellt werden, vermöge deren er
nun Stellungen, Größen und Urſachen des Leuchtens für die
einzelnen Geſtirne beſtimmte. Die Mondfinſterniſſe erklärte er
theils aus dem Erdſchatten, theils aus zwiſchen Erde und Mond
befindlichen, dunklen Körpern. — Die der Erde nächſte Bahn
unter den uns bekannten Geſtirnen beſchreibt der Mond, offenbar
da er in den Sonnenfinſterniſſen zwiſchen Erde und Sonne tritt.
Anaxagoras ſtellte eine Theorie der Mondphaſen auf und, wie
Plato als ſeine Aufſehen machende Behauptung hervorhob 1), leitete
er das Licht des Mondes (mindeſtens theilweiſe) aus der Be-
ſtrahlung deſſelben durch die Sonne ab; „indem die Sonne im
Kreiſe um ihn herumgeht, wirft ſie immer neues Licht auf
ihn (den Mond)“ 2). In Zuſammenhang hiermit hielt er den
Mond mit ſeinen Schluchten und Bergen für bewohnt; es erinnert
an den Meteorſtein, wenn er die Fabel, daß der nemeiſche Löwe
vom Himmel gefallen ſei, dahin interpretirte: derſelbe möge wol
aus dem Monde gefallen ſein. — Die Sonne dachte er als eine
glühende Steinmaſſe, in einer entfernteren Region des Himmels um-
laufend; indem er wol ihre Größe mit der des Mondes verglich,
erklärte er ſie für viel größer, als den Peloponnes, welchem er
den Mond gleich ſetzte. — Auch die Sterne waren ihm ſolche
glühende Maſſen, deren Wärme wir nur wegen der Entfernung
nicht empfinden.
Dieſe Erkenntniß der phyſiſchen Gleichartigkeit in der Be-
ſchaffenheit aller Körper diente ihm als Lehrſatz, um, auf Grund
der den Unterſatz bildenden Thatſache der Umdrehung der Geſtirne,
ſeinen großen metaphyſiſchen Schluß zu vollziehen. Denn in dem
Theorem von der phyſiſchen Gleichartigkeit aller Weltkörper war
auch die Einſicht enthalten, daß die Schwerkraft in ihnen allen
wirke. Hieraus ergab ſich die Nothwendigkeit der Annahme einer
3)
[205]Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.
ihr entgegenwirkenden Kraft von außerordentlicher Stärke, welche
den Kreisumſchwung dieſer ſchweren und mächtigen Körper her-
vorgebracht hat und erhält. An den Fall des genannten großen
Meteorſteins knüpfte Anaxagoras die Erklärung: die ganze Stern-
welt beſtehe aus Steinen: würde der gewaltige Umſchwung nach-
laſſen, dann müßte ſie abwärts ſtürzen 1). Die Ueberlieferung
vergleicht, ohne dem Anaxagoras dieſen Vergleich zuzuſchreiben,
dieſes dem Umſchwung der Geſtirne zu Grunde liegende Verhältniß
zwiſchen der Schwerkraft, welche die Weltkörper abwärts zieht,
und der den Umſchwung hervorbringenden Kraft, welche ihren
Fall hindert, mit dem, vermöge deſſen der Stein nicht aus der
Schleuder tritt, das Waſſer in einer Schale beim Umſchwung
derſelben, wenn dieſer ſchneller als die Bewegung des Waſſers
nach unten iſt, nicht ausgegoſſen wird 2).
Mit dieſem Schluß verknüpfte ſich nun an dem jetzt erreichten
Punkte ein zweiter, deſſen Glieder vielleicht noch auf überzeugende
Weiſe ergänzt werden können. Vermöge deſſelben beſtimmte er dieſe
Kraft, welche die Drehungen der Geſtirne im Weltraum hervorbringe,
als Eine beſtändig und zweckmäßig wirkende, welche von Außen, von
der Weltmaterie ganz getrennt, den Umlauf der Geſtirne hervorrufe
und erhalte. So tritt das Weltprinzip der Vernunft (des νοῦς),
getragen von einem aſtronomiſchen Raiſonnement, in die Geſchichte.
Die Drehung nämlich, welche Anaxagoras auf die der Schwer-
kraft entgegenwirkende Kraft zurückführt, wird von ihm mit der
Drehung (πεϱιχώϱησις) ausdrücklich in eins geſetzt, „in welcher
ſich Geſtirne, Sonne und Mond, Luft und Aether gegenwärtig um-
drehen“ 3). — Dieſe letztere iſt natürlich die ſcheinbare, in welcher
ſich der ganze Himmel mit allen ſeinen Geſtirnen täglich einmal
[206]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
von Oſt gegen Weſt um unſere Erde bewegt. Anaxagoras kannte
die Drehung der ganzen Himmelskugel um ihre Axe, wenn auch
dieſer Begriff der Axe noch nicht in ſeiner mathematiſchen Strenge
von ihm gedacht wurde. Verfolgte er nun die parallelen Kreiſe,
in welchen einige Geſtirne theilweiſe über dem Horizonte um-
laufen, andere ganz, bis zu den kleinſten Kreiſen der Bären oder
des dem Pole damals zunächſt ſtehenden Sterns β des kleinen
Bären: ſo mußte er eine, wenn auch noch ſo unvollkommene Vor-
ſtellung des nördlichen Endpunktes dieſer Axe ſich bilden 1). —
Hier erſcheint eine Kombination der Nachrichten unausweichlich,
durch welche man erſt den Zuſammenhang derſelben unter einander
und mit der damaligen Lage der Aſtronomie herzuſtellen vermag.
Dieſe Stelle, welche den nördlichen Endpunkt eines Stabes
bilden würde, um welchen wir die Drehung etwa ſtattfindend
dächten, iſt der kosmiſche Punkt, von welchem aus der
Nus (die Weltvernunft) die Drehungsbewegung in der
Materie begann, und von welchem aus ſie noch gegenwärtig
bewirkt wird. Der Nus fing mit dem Kleinen an; die Stelle, an
welcher das geſchah, war der Pol. Dieſer war ſonach die Stelle,
an welcher die Drehung begann; von ihr aus hat ſich dann die
Drehung immer weiter verbreitet und wird ſich verbreiten, und
von ihr aus wurde mit der Drehung zugleich die Scheidung der
Maſſentheilchen bewirkt. Die Wiederherſtellung der Grundanſicht
des Anaxagoras in ſolchem Sinne iſt nur die deutlichere Vor-
ſtellung des in folgenden Sätzen Enthaltenen: die von dem Nus
hervorgebrachte Drehung iſt identiſch mit der gegenwärtigen Drehung
[207]Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.
der Himmelskugel, der Nus aber hat dieſe Drehung von einer
kleinen Angriffsſtelle aus hervorgebracht, und von dieſer aus hat
die Drehung ſich immer weiter ausgebreitet. Denn dieſe Sätze
führen auf einen Anfangspunkt, an welchem der kleinſte Kreis
an der Himmelskugel beſchrieben wird.
Geht man nun von dieſer Grundvorſtellung aus, ſo über-
ſieht man, wie Anaxagoras ſeinen Monotheismus erſchloß. War
er von der Verbreitung der Wirkung der Schwerkraft in allen
Himmelskörpern ausgegangen und hatte eine entgegenwirkende
Kraft poſtulirt, ſo ſchloß er jetzt näher, auf Grund der gemein-
ſamen Drehung aller Stellen der Himmelskugel, (indem er für die
Eigenbewegungen von Sonne, Mond und Planeten einen beſon-
deren mechaniſchen Erklärungsgrund ſich vorbehielt) auf Eine
von der Materie dieſer Körper unabhängige, zweck-
mäßig, ſonach intelligent wirkende Kraft. „Das Andere
hat einen Theil von Allem mit ſich verbunden. Der Nus aber
iſt ein Unermeßliches und Selbſtherrliches und er iſt mit keinem
Dinge 1) gemiſcht, ſondern allein für ſich ruhet er auf ſich
ſelber“ 2). — Zuerſt: der Nus muß von der Materie geſondert
ſein; denn wäre er dem Anderen beigemiſcht, ſo würde das mit
ihm Zuſammengemiſchte ihn hindern, ſo daß er kein Ding ſo zu
beherrſchen vermöchte, wie er nun vermag, da er auf ſich ſelber
ruht 3). Und zwar wurde eine ſolche ſelbſtändige Kraft, welche
die gemeinſame Drehung hervorbringt, überhaupt am einfachſten
von der Weltkugel räumlich getrennt und von einer Angriffsſtelle
außerhalb derſelben die Drehung und Weltbildung bewirkend ge-
dacht; für Anaxagoras, welchem der Nus das „Leichteſte“ und
„Reinſte“ aller „Dinge“, ſonach ein verfeinertes Stoffliches oder
doch an der Grenze von Stofflichkeit noch befindlich geweſen
iſt, war dieſe Vorſtellung unvermeidlich. — Alsdann: die Er-
kenntniß der gemeinſamen Bewegungen an der ganzen Himmels-
kugel vervollſtändigte dieſen Schluß dahin, daß dieſe von außen
[208]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
wirkende Kraft Eine ſei. — Endlich: die Betrachtung der inneren
Zweckmäßigkeit des Weltgebäudes wie der einzelnen Organiſationen
der Erde ließ dieſen erſten Beweger als einen nach innerer Zweck-
mäßigkeit wirkenden Nus erkennen. Dieſe Zweckmäßigkeit des
Weltalls iſt aber nicht ſeine Angemeſſenheit für die Zwecke des
Menſchen, ſondern die immanente, deren Ausdruck die Schönheit,
deren Folgethatſache der einheitliche Zuſammenhang für einen Ver-
ſtand iſt, welche daher auf Einen ordnenden, aber ſozuſagen un-
perſönlichen Verſtand zurückweiſt 1).
So entſprang in der ſchönſten Epoche der griechiſchen Ge-
ſchichte aus der Wiſſenſchaft vom Kosmos, insbeſondere aus der
aſtronomiſchen Forſchung, der griechiſche Monotheismus d. h. der
Gedanke von dem bewußten Zweck als Leiter des einheitlichen und
zweckmäßigen Bewegungsinbegriffs im Kosmos und von der Ver-
nunft als dem ſelbſtändigen, zweckmäßig wirkenden Beweger. Der
Mann, der ihn entwarf, ward von der atheniſchen Bevölkerung
jener Tage mit einer Miſchung von Bewußtſein ſeiner fremdartigen
Erhabenheit und von Scherz der Nus genannt. Den Kreis von Ana-
xagoras, Pericles und Phidias umgab dieſe große Lehre mit einer
Fremdartigkeit, die von dem altgläubigen Volke ſtark empfunden
wurde und ihn unpopulär machte. In dem Zeus des Phidias
empfing dieſer Gedanke ſeinen künſtleriſchen Ausdruck.
Es iſt hier nicht der Ort, darzulegen, wie Anaxagoras
die Schwierigkeiten überwand, welche die Durchführung ſeines
großen Gedankens im Einzelnen darbot. — Den erſten Schritt
in ſeiner genaueren Konſtruktion der Weltentſtehung nöthigte
ihm eine eingebildete Schwierigkeit ab. Die Sache iſt ſehr
bezeichnend für das Vorherrſchen der Vorſtellungen von geo-
metriſcher Regelmäßigkeit im griechiſchen Geiſte. Die ſchiefe Stellung
des Pols und der parallelen Kreiſe der Geſtirne zum Horizont
beſtimmte ihn zu der Annahme, urſprünglich habe die Drehung
[209]Anaxagoras begründet den Monotheismus auf Aſtronomie.
der Geſtirne parallel dem Horizont von Oſt nach Weſt ſtatt-
gefunden, ſonach habe die Drehungsaxe der Weltkugel ſenkrecht zu
der oberen Fläche der Erde geſtanden (welcher er die Geſtalt einer
flachen Walze gab); der Endpunkt dieſer Axe trifft die über dem
Horizont ſo ſich erhebende Kuppel in der Mitte (im Zenith).
Indem ſich dann die Erdoberfläche gegen Süden neigte, erhielt
der Pol ſeine jetzige Stellung; und zwar geſchah es gleich nach
dem Auftreten des organiſchen Lebens auf der Erdoberfläche. Die
Berichterſtatter ſetzen dies in Beziehung zu dem Entſtehen ver-
ſchiedener Klimate und bewohnter im Gegenſatz zu unbewohnbaren
Erdſtrichen 1).
Die Vorſtellung des Anaxagoras, wie nun durch den Um-
ſchwung, welchen der Nus in der Weltmaterie hervorbrachte, die
Geſtirne und ihre Bahnen entſtanden, iſt ſehr unvollkommen.
Man ſieht auch hier, wie in der Atomiſtik: aus einzelnen Prämiſſen,
welche der modernen Wiſſenſchaft konform ſind, entſpringen noch
keine entſprechenden Ergebniſſe, da andere nothwendige Prämiſſen
fehlen und falſche aus dem Sinnenſchein abſtrahirte phyſikaliſche
Vorſtellungen dafür eingeſetzt werden. — Das im Anfangszuſtande
des Anaxagoras Gebundene wird durch die Umdrehung aus-
einandergeriſſen, und ſeiner Natur folgend, ſteigt nun das Warme,
Glänzende, Feuerartige, das Anaxagoras als Aether bezeichnet,
aufwärts; aus der Atmoſphäre ſetzt ſich niederwärts das Flüſſige
ab, aus dieſem das Feſte, welches nach einer weiteren Grund-
Dilthey, Einleitung. 14
[210]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
vorſtellung dem Ruhezuſtand zuſtrebt. Von dieſem Sinkenden
reißt der Umſchwung Theile ab, welche nun als Geſtirne rotiren.
Nun tritt aber erſt die Lebensfrage dieſer Kosmogonie hervor.
Anaxagoras hatte vor Allem die Aufgabe zu löſen, die ihm be-
kannten Bewegungen am Himmel zu erklären, welche ſich der täg-
lichen allgemeinen Drehung nicht unterordnen laſſen: ſo die
jährliche Bewegung der Sonne, die Mondbahn, die ſo unregel-
mäßigen ſcheinbaren Bewegungen der anderen ihm bekannten
Wandelſterne. Er erklärte dieſe Bewegungen mechaniſch, indem
er in dem Gegendruck der durch den Umſchwung dieſer Geſtirne zu-
ſammengepreßten Luft eine dritte kosmiſche Urſache einführte 1).
Hier war der Punkt, welcher dieſe groß gedachte Kosmogonie
des Anaxagoras ſchon im Zeitalter Platos nicht mehr möglich
erſcheinen ließ. Die genauere Kenntniß der ſcheinbaren Bahnen
der fünf mit bloßem Auge ſichtbaren Planeten, deren Zahl in
Platos Zeit ſchon beſtimmt iſt, ließ die Erklärung aus dem Gegen-
druck der Luft als ganz unzureichend erſcheinen. Und ſo erfuhr
die monotheiſtiſche Metaphyſik des Anaxagoras eine bemerkens-
werthe Umgeſtaltung.
Die eine Richtung ſchied von der Eigenbewegung der Planeten
die gemeinſame tägliche Bewegung des ganzen Himmels in der
Ebene des Aequators als eine ſcheinbare aus und führte dieſelbe
auf eine tägliche Bewegung der Erde zurück. In Folge hiervon
brauchte ſie nicht dieſe Eigenbewegungen der Planeten einer ge-
meinſamen Drehung einzuordnen. Die andere Richtung erſann
einen ungeheuren Mechanismus, vermittelſt deſſen innerhalb der
gemeinſamen Bewegung des Himmels die zuſammengeſetzte Be-
[211]Urſachen der Veränderung dieſer Theorie.
wegung der Wandelſterne hervorgebracht würde, und ſie gab dem
entſprechend die Annahme einer einzigen und einfachen Kraft für
die Erklärung dieſes Syſtems von Bewegungen auf. Das erſtere
thaten Pythagoreer zuerſt; in den Fragmenten des Philolaus
haben wir dieſe kosmiſche Anſicht vor uns. Das zweite that die
aſtronomiſche Schule, an welche ſich Ariſtoteles anſchloß, und
theils auf dieſe theils auf den neuen Verſuch des Hipparch und
Ptolemäus ſtützte ſich dann die das Mittelalter beherrſchende
Metaphyſik. So wurde alſo dieſe herrſchende europäiſche Metaphyſik
weiter in der Ausbildung ihrer Vorſtellung von der die Geſtirn-
welt bewegenden Kraft durch Zerlegung der verwickelteren Bahnen
der Planeten geleitet. Dieſe Zerlegung geſchah nach der Regel der
aſtronomiſchen Forſchung, die ſchon Plato formulirte: geht man
von den Bahnen aus, welche die Wandelſterne am Himmel be-
ſchreiben, ſo ſind die gleichmäßigen und regelmäßigen Bewegungen
zu ſuchen, welche die gegebenen Bahnen erklären, ohne den That-
ſachen Gewalt anzuthun 1). Die Formel der Aufgabe ſchließt die
richtige Faſſung von Problem und Methode, zugleich aber auch
jene willkürliche Vorausſetzung über die Bewegungen in ſich, welche
die alte Aſtronomie an die Zurückführung auf Kreisbewegungen
feſtnagelte. Indem dieſe Formel angewandt wurde, wandelte ſich
die anaxagoreiſche Lehre vom weltbewegenden Nus um in die
ariſtoteliſche von einer Geiſterwelt, in welcher unter dem erſten
die vollkommene Bewegung der Fixſternſphäre unmittelbar bewir-
kenden, unbewegten Beweger die Drehung der anderen zahlreichen
Sphären von eben ſo viel ewigen und unkörperlichen Weſen her-
vorgebracht wird.
14*
[212]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Drittes Kapitel.
Die mechaniſche Weltanſicht durch Leukipp und Demokrit begründet.
Die Urſachen ihrer vorläufigen Machtloſigkeit gegenüber der
monotheiſtiſchen Metaphyſik.
Vergeblich ſtellte ſich damals dieſer großen Lehre von der
das Weltall zweckmäßig bewegenden Vernunft die atomiſtiſche Welt-
anſicht in den Weg, welche Leukipp und Demokrit begründet haben,
und die durch Epikur und Lukrez zu Gaſſendi und den modernen
Theorien einer bloßen Mechanik von Maſſentheilchen hinüberreicht.
Unter den Gründen, welche dem Einfluß des Demokrit in ſeiner
Zeit entgegenſtanden, befand ſich gewiß in erſter Linie, daß von
ſeinen Prämiſſen aus damals eine genauere Erklärung der Bewe-
gungen der Weltkörper ganz unmöglich war.
Es iſt dargelegt worden, wie mit der allgemeinen Lage der
griechiſchen Wiſſenſchaft nach dem Auftreten der parmenideiſchen
Metaphyſik die Theorie der Maſſentheilchen entſtand; ſie war re-
präſentirt von Empedocles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit 1).
Auch kann noch feſtgeſtellt werden, wie die atomiſtiſche Theorie
der zwei letztgenannten Denker zunächſt in metaphyſiſchen Betrach-
tungen begründet war. Denn Leukipp und Demokrit beweiſen
ihre Theorie, unter der Vorausſetzung der Realität von Bewegung
und Theilung, aus dem eleatiſchen Begriff von dem Sein als einer
untheilbaren Einheit ſowie aus der mit ihm verbundenen Leugnung
von Entſtehen und Vergehen 2): ſo leiten ſie das Atom und den
leeren Raum ab.
Wir ſuchen die Bedeutung der atomiſtiſchen Theorie in ihrer
damals von Leukipp und Demokrit erfundenen Geſtalt uns
deutlich zu machen. Wir ſehen dabei ganz von ihrer eben
hervorgehobenen metaphyſiſchen Begründung ab und ſondern die
Betrachtung ihres allgemeinen wiſſenſchaftlichen Werthes von
der ihrer Benutzbarkeit in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft.
[213]Dauernde Bedeutung der Atomiſtik.
Dieſe atomiſtiſche Theorie, wie ſie nun Leukipp und Demokrit
begründen, iſt, nach der ſcientifiſchen Brauchbarkeit be-
meſſen, die bedeutendſte metaphyſiſche Theorie des
ganzen Alterthums. Sie iſt der einfache Ausdruck der Anforde-
rung des Erkennens an ſeinen Gegenſtand, für das Spiel der
Veränderungen, des Entſtehens und Vergehens ſtätige, ſtand-
haltende Subſtrate zu haben. Dies erreicht die atomiſtiſche Theorie,
indem ſie mit natürlichem Sinne den Vorgängen von Theilung
und Zuſammenſetzung der Einzeldinge, von ſcheinbarem Verſchwin-
den eines Dinges im Wechſel des Aggregatzuſtandes und dem Wieder-
ſichtbarwerden desſelben folgt; ſo gelangt ſie zu kleinen Dingen,
Subſtanzen, welche als ſtätig raumerfüllend untheilbare Ganze
ſind. Denn wenn die Zerreißung eines Dinges als darum möglich
vorgeſtellt wird, weil dies Ding aus diskreten Theilen beſteht, ſo
bilden die Grenze dieſer Zerlegung Theile, welche darum nicht
mehr trennbar ſind, weil ſie nicht mehr aus diskreten Theilen
zuſammengeſetzt ſind. Die atomiſtiſche Theorie kann alsdann
die untrennbaren Einheiten als unveränderlich beſtimmen, gleich-
ſam als die wahren parmenideiſchen Subſtanzen; denn Ver-
änderung iſt ihr nur durch Verſchiebung von Theilen erklärbar.
Sie kann endlich, was der wahre Sinn aller ächten Atomiſtik
iſt, das anſchauliche Bild von Bewegungen im Raume,
Entfernungen, Ausdehnungen, Maſſen auf dieſe Welt des
Kleinen, welche ſich der Sichtbarkeit entzieht, über-
tragen. Zu den Beſtandtheilen dieſes anſchaulichen Bildes
gehört auch der leere Raum; denn bevor wir von der At-
moſphäre zureichende Begriffe ausbilden, glauben wir die Dinge
in ihn ausweichen zu ſehen, und auch nach Berichtigung dieſer
Vorſtellung können wir Bewegung nur vermittelſt dieſes Hilfs-
begriffs eines Leeren denken, in welches die Objekte ausweichen.
Dieſe einfache Anſchaulichkeit vollendet ſich durch zwei weitere
Theoreme: jede Wirkung, die im Kosmos ſtattfindet, wird auf
Berührung, Druck und Stoß zurückgeführt; dem entſprechend wird
jede Veränderung auf die Bewegung der ſich gleichbleibenden
Atome im Raume reducirt, und ſonach werden alle Eindrücke von
[214]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Qualitäten außer Dichtigkeit, Härte und Schwere der Sinnes-
empfindung zugewieſen und den Objekten abgeſprochen 1). Eine
ſolche Betrachtungsweiſe mußte dem mit den ſinnlichen Objekten
beſchäftigten Verſtande zuſagen, wenn ſie auch zunächſt nur den
Werth einer Metaphyſik hatte, ſo lange ihre Anwendbarkeit auf
die Probleme der Naturwiſſenſchaft noch eine ſo geringe war.
Daher iſt ſie, nachdem ſie einmal da war, dem griechiſchen Denken
nicht wieder verloren gegangen.
Aber dieſe atomiſtiſche Theorie konnte andrerſeits zu der Zeit
des Leukipp und Demokrit nicht zur Herrſchaft gelangen, da die
Bedingungen für ihre Verwerthung zur Erklärung
der Phänomene fehlten. Die Bewegungen der Maſſen im
Weltraum bildeten das Hauptproblem der Naturwiſſenſchaft jener
Tage, und ſeit dem Auftreten des Anaxagoras war immer mehr
die Unterſuchung der Planeten in den Vordergrund getreten.
Trotzdem lehnt ſich Demokrit in entſcheidenden Punkten der
aſtronomiſchen Konſtruktion noch an Anaxagoras an, deſſen Theorie
ſich doch als nicht ausreichend erweiſen mußte. Ja Demokrit
beſaß überhaupt in ſeinen Vorausſetzungen keine Mittel aſtrono-
miſcher Erklärung.
Nimmt man an 2), er habe den Fall der Atome im leeren
Raume von oben nach unten in Folge ihrer Schwere und
[215]Geringe Benutzbarkeit in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft.
das proportionale Verhältniß der Geſchwindigkeit dieſer ihrer
Fallbewegung zu ihrer Maſſe als Vorausſetzungen für die Er-
klärung des Kosmos betrachtet, demnach eine. zuſammenhängende
mechaniſche Anſicht entworfen: dann erſcheinen die von ihm be-
nutzten Erklärungsgründe als ganz unzureichend; das Mißver-
hältniß dieſer Theorie zu der Erklärung des gedankenmäßig ge-
ordneten Kosmos konnte in dieſem Falle doch kaum etwas Anderes
als Lächeln in der mathematiſchen Schule Platos hervorrufen.
Schon die Bahn eines geworfenen Körpers konnte zeigen, wie
vorübergehend die Wirkung der einzelnen Anſtöße von einander
treffenden Atomen gegenüber der beſtändig abwärts ziehenden
Schwere ſei.
Jedoch iſt dieſe Auffaſſung der Nachrichten über Demokrit
kaum haltbar. Demokrit blieb dabei ſtehen, die ewige Bewegung
der Atome im leeren Raume ſei durch ihre Beziehung zu dieſem
bedingt. Den erſten Bewegungszuſtand dachte er als eine kreiſende
Bewegung aller Atome, als δῖνος. In dieſem Dinos ſtoßen die
Atome aneinander, verbinden ſich und aus ihrer Anhäufung
bildet ſich ein Kosmos, der dann ſchließlich durch einen aus
mächtigeren Maſſen beſtehenden zertrümmert wird. Wo nun eine
einzelne Atomverbindung entſteht, exiſtirt innerhalb derſelben ein
beſtimmtes quantitatives Verhältniß der Atommaſſe zu dem in
der Verbindung enthaltenen leeren Raume; hierdurch iſt die Ver-
ſchiedenheit des Gewichts bei gleicher Größe bedingt, das Auf-
ſteigen der einen Atomverbindungen, das Fallen der anderen von
oben nach unten, und zwar mit entſprechend verſchiedener Ge-
ſchwindigkeit. Die Unbeſtimmtheit und Fehlerhaftigkeit dieſer Grund-
vorſtellungen mußte eine ſolche Bewegung der Atome als ganz
werthlos für die Welterklärung erſcheinen laſſen.
Nicht anders verhält es ſich auf dem biologiſchen Gebiet,
auf welchem ein originaler Fortſchritt Demokrit’s in Bezug auf
Naturerkenntniß noch aus den Quellen erkennbar iſt: iſt hier doch
Demokrit augenſcheinlich der einzige namhafte Vorgänger des Ari-
ſtoteles. Soviel der hier noch ſo ungeſichtete Zuſtand der Frag-
mente und Nachrichten erkennen läßt, beſtand das Verdienſt Demo-
[216]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
krit’s in der Ausbildung ſorgfältiger beſchreibender Wiſſenſchaft, ja
er verſchmäht hier ſogar nicht, den Thatbeſtand durch Vorſtellung
eines Verhältniſſes von Zweckmäßigkeit zwiſchen den Organen des
thieriſchen Körpers und den Aufgaben ſeines Lebens verſtändlich
zu machen.
Hieraus verſtehen wir, was ſich nun ereignete. Die mono-
theiſtiſche Metaphyſik Europas hat nicht nur die pantheiſtiſchen
Elemente der alten Zeit, die in Diogenes von Apollonia fort-
wirkten, ſondern auch die mechaniſche Welterklärung als unge-
nügende Konſtruktionen zur Seite geſchoben. Jedoch hat ſie nicht
vermocht, dieſelben zu vernichten. Die mechaniſche Weltanſicht
ſprach eine dem Verſtande entſprechende Möglichkeit aus und
blieb aufrecht, mit ſtarkem Bewußtſein ihrer im Rechnen mit den
ſinnlichen Thatſachen wurzelnden Kraft; der Tag ihres Sieges
brach freilich erſt an, als die experimentellen Methoden ſich ihrer
bemächtigten. Die pantheiſtiſche Weltanſicht entſprach
einer Gemüthslage, welche bald in der ſtoiſchen Schule ihre
Erneuerung bewirkte. Aber ſtärker als dieſe beiden metaphyſiſchen
Grundanſichten war der ſkeptiſche Geiſt. Er hatte in der
eleatiſchen Schule Widerſprüche in den Grundvorſtellungen der
Phyſik des Kosmos entwickelt, welche von keiner Metapyſik auf-
gelöſt werden konnten. Er hatte aus der Schule Heraklit’s
vermittelſt des Widerſpruchs im Werden einen Tummelplatz
des Skepticismus gemacht. Dieſer ſkeptiſche Geiſt war mit
jedem neuen metaphyſiſchen Verſuche gewachſen und über-
fluthete nun die ganze griechiſche Wiſſenſchaft. Er wurde be-
günſtigt durch die Veränderungen in dem ſozialen und politiſchen
Leben von Athen, das ſeit Anaxagoras die griechiſche Wiſſenſchaft
centraliſirte. Er wurde gefördert durch eine Umänderung der
wiſſenſchaftlichen Intereſſen, welche die Beſchäftigung mit geiſtigen
Thatſachen, mit Sprache, Redekunſt, Staat in den Vordergrund
rückte. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos trat unter dieſen Umſtänden
der Anfang einer Erkenntnißtheorie gegenüber.
Blicken wir voraus. Welches wird unter dieſen Umſtänden
das Schickſal der monotheiſtiſchen Weltanſicht ſein?
[217]Sieg der monotheiſtiſchen Metaphyſik.
Die monotheiſtiſche Metaphyſik iſt auch von der ſkeptiſchen Be-
wegung nicht geſtört worden; ſie war unabhängig von den ein-
zelnen metaphyſiſchen Poſitionen in der Anſchauung des gedanken-
mäßigen Zuſammenhangs des Kosmos begründet; zudem war ſie
getragen von einer inneren Entwicklung des religiöſen Lebens; ſo
wird ſie auf der neuen von den Sophiſten und Socrates ge-
ſchaffenen Grundlage durch Plato und Ariſtoteles vollendet werden.
Es entſteht der höchſte Ausdruck, den der griechiſche Geiſt für den
Zuſammenhang der Welt gefunden hat, welcher in der Anſchauung
als ſchön, vor dem Erkennen als gedankenmäßig ſich darſtellt.
Das wird geſchehen, indem ſich der monotheiſtiſche Grundge-
danke mit einer neuen Beſtimmung über das Weſenhafte ver-
bindet, in welchem der Zuſammenhang des Kosmos gefunden
werden kann. Sucht man das wahrhaft Seiende, ſo bietet ſich
ein doppelter Weg. Die veränderliche Welt kann einerſeits in
konſtante Beſtandtheile zerlegt werden, deren Relationen ſich ändern,
andrerſeits kann die Konſtanz in der Gleichförmigkeit geſucht
werden, welche das Denken in dem Wechſel ſelber auffaßt. Und
zwar wird zunächſt dieſe Gleichförmigkeit in den Inhalten ge-
funden, wie ſie in der Wirklichkeit wiederkehren. Lange Zeiten
werden vergehen, in welchen die menſchliche Intelligenz vorwiegend
auf dieſer Stufe des Erkennens verharrt. Dann erſt, in Folge einer
tiefer greifenden Zerlegung der Erſcheinungen, findet ſie die Regel
der Veränderungen in dem Geſetz, und damit iſt die Möglichkeit
gegeben, für dieſes Geſetz in den konſtanten Beſtandtheilen Angriffs-
punkte zu finden.
Aber was auch geſchieht, jeder Geſtalt des europäiſchen Denkens
folgt das ſkeptiſche Bewußtſein der Schwierigkeiten und Wider-
ſprüche in den grundlegenden Vorausſetzungen. Immer wieder
beginnt die Metaphyſik, unermüdlich, an einem tiefer gelegenen
Punkte der Abſtraktion von Neuem die Arbeit des Aufbaus.
Werden nicht auch da jedesmal die Schwierigkeiten und Wider-
ſprüche, welche die Metaphyſik begleiten, nur in einer noch ver-
wickelteren Weiſe wiederkehren?
[218]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Viertes Kapitel.
Zeitalter der Sophiſten und des Socrates.
Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.
Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus
fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche
die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit
dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber.
Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche
Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein
geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten
das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten
einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die
Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit
innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat.
Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen-
land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben,
die Sophiſten, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch
einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen.
Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu-
gehen.
Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be-
griffe ſprach Protagoras, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs-
klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus,
welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz
einer Erkenntnißtheorie.
Der Menſch iſt „das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie
ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind“; ſo lautete es in dem
berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem
jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro-
togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden,
in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen
werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen
Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene
[219]Protagoras.
Thatſache untergeordnet wurde. Sie enthalten daher nicht unſeren
heutigen, kritiſchen Standpunkt. Vielmehr ſind ſie nur die Formel
für ſeine geniale Wahrnehmungslehre, die ſich augenſcheinlich unter
dem Eindruck der mediciniſchen Betrachtungen ſeiner Zeit entwickelt
hatte, und ſie beſchränken ſich im Zuſammenhang derſelben auf
die prädikativen Beſtimmungen über die Außenwelt, dagegen ſtellen
ſie nicht die Realität einer ſolchen in Frage. — Wir erläutern
das näher. Der Oberſatz des Schluſſes, welcher zu ſeiner Formel
führte, war: Wiſſen iſt äußeres Wahrnehmen. Wir können nicht
mehr feſtſtellen, ob dieſer Oberſatz die von ihm nicht aus-
drücklich zum Bewußtſein gebrachte Vorausſetzung ſeines Stand-
punktes war oder ob derſelbe von ihm in bewußter Klarheit
hingeſtellt wurde. Der Unterſatz zeigte an dem Vorgang der
Wahrnehmung, daß dieſe von ihrem Gegenſtand nicht getrennt
werden könne, der Gegenſtand nicht von ihr d. h. das wahr-
genommene Objekt nicht von dem wahrnehmenden Subjekt, für
welches es da iſt. So iſt Protagoras der Begründer der
Theorie des Relativismus, welche nachher von den Skeptikern fort-
gebildet worden iſt 1). — Aber dieſer ſein Relativismus behauptete
zwar von den Qualitäten der Dinge, daß ſie nur in der Relation
beſtünden, dagegen nicht von der Dinglichkeit ſelber. Süß,
wenn man das Subjekt wegdenkt, welches die Süßigkeit ſchmeckt,
iſt nichts mehr; es beſteht nur in der Relation auf die Em-
pfindung. Daß ihm aber mit dieſer Empfindung des Süßen
nicht das Objekt ſelber verſchwand, zeigt ſeine nähere Theorie der
Wahrnehmung. Berührt ein Objekt das Sinnesorgan und ver-
hält ſich ſo jenes thätig, dieſes leidend: ſo entſteht einerſeits in
dieſem Sinnesorgan Sehen, Hören, die beſtimmte ſinnliche Em-
pfindung, andrerſeits erſcheint nunmehr das Objekt als farbig,
tönend, kurz in verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten. Dieſe Er-
klärung des Vorgangs ermöglichte dem Relativismus des Prota-
goras erſt eine Theorie der Wahrnehmung, und man ſieht wol,
[220]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
er konnte nicht die Realität der Bewegung außerhalb des Subjektes,
durch welche die Wahrnehmung ihm entſtand, zugleich wieder da-
durch aufheben, daß er alle Dinglichkeit ſelber in Frage ſtellte 1). —
Er entwickelte alsdann die verſchiedenen Zuſtände des empfinden-
den Subjekts und zeigte ſo die Bedingtheit der Qualitäten des
erſcheinenden Objekts durch dieſe Zuſtände. So ging aus
ſeiner Wahrnehmungslehre die Paradoxie hervor, die Wahr-
nehmungen ſeien in Widerſpruch miteinander, jedoch alle gleich
wahr 2).
Dieſer Relativismus hat in Verbindung mit dem Skepti-
cismus der Eleaten und Herakliteer Plato beſtimmt, die Erkenntniß
jenſeit der veränderlichen Phänomene aufzuſuchen; er konnte von
Ariſtoteles muthig weggedrängt, doch nicht widerlegt werden; er
behielt ſeine Anhänger und erſcheint nach Ariſtoteles in der für
die griechiſche Metaphyſik des Kosmos undurchdringlichen Rüſtung
der ſkeptiſchen Schule.
Viel geringer waren die Schriften von Sophiſten, welche aus
der negativen Richtung der eleatiſchen Schule ſkeptiſche Konſequenzen
zogen. Eine ſolche war die nihiliſtiſche Brandſchrift des Gorgias
„über das Nichtſeiende oder die Natur“. Sie bezeichnet den
äußerſten Punkt, zu welchem eine gehaltloſe Skepſis fortging.
Aber es iſt wichtig feſtzuſtellen, daß die Vorausſetzungen der Me-
taphyſik der Alten auch an dieſem Punkte nicht überſchritten
wurden. Wir haben keine Andeutung, daß Gorgias die Phänome-
nalität der Außenwelt behauptet hätte. Dies hat kein Grieche
[221]Gorgias. Socrates.
gethan; denn dies hätte in ſich geſchloſſen, daß er von dem objek-
tiven Standpunkt auf den des Selbſtbewußtſeins über-
getreten wäre. Vielmehr ſetzt der Streitſatz des Gorgias eben
voraus, daß ein anderes Sein als das der Außenwelt
nicht beſtehe. Er hebt — ächt griechiſch — das Sein auf, indem
er zeigt, daß die Außenwelt durch die Begriffe, welche in ihr ent-
halten ſind, nicht gedacht werden kann. Und zwar thut er dies ver-
mittelſt einer Vorausſetzung über das Sein, welche ihn in der objek-
tiven Wiſſenſchaft vom Kosmos ganz befangen zeigt. Er zerſtört
nämlich die Möglichkeit, daß das Sein als anfangslos und Eines
gedacht würde, welche die Eleaten übrig gelaſſen hatten, durch
Folgerungen aus der Räumlichkeit des Seienden. So erſcheint dieſe
Räumlichkeit des Seins als die Vorausſetzung ſeines Denkens 1).
Dem entſpricht, daß er allem Seienden zumuthet, entweder be-
wegt oder ruhend zu ſein, Bewegung aber dann in dem Sinne
faßt, daß ſie Theilung einſchließt. Der Gedanke liegt gar nicht
in ſeinem Geſichtskreis, daß nach der Zerſtörung der Begriffe,
durch welche die Außenwelt gedacht werden kann, das Subjekt, in
welchem wahrgenommen und gedacht wird, als Realität zurückbleibe.
So ſieht man den Skepticismus in dieſem Kopfe an die Schranken
des griechiſchen Geiſtes anſtoßen: er durchbricht ſie nicht.
Denn bevor die Selbſtbeſinnung in dem Subjekt ſelber eine
keinem Zweifel unterworfene Realität aufdeckte, ward Realität nur
in der Vertiefung in den Naturzuſammenhang aufgeſucht. Wo daher
Realität im Alterthum geleugnet wurde, war dieſe Leugnung
entweder mit dem tragiſchen Bewußtſein der Trennung des Er-
kennens von ſeinem Objekte verbunden oder mit dem frivolen
Bewußtſein, welches mit dem Schein ſpielte und ſich in ihm
ſonnte 2).
[222]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
In der mächtigen intellektuellen Organiſation des Socrates1)
vollzog ſich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche
im Zweckzuſammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht
wurde. Er fand in der Sophiſtik das prüfende, zweifelnde Sub-
jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphyſik nicht Stand
hielt. In der ungeheuren Erſchütterung aller Vorſtellungen ſuchte
er einen Halt; durch dieſes Poſitive in ſeiner großen wahrheits-
durſtigen Natur ſchied er ſich von den Sophiſten. Er zuerſt
wandte beharrlich die Methode an, von dem vorhandenen
Wiſſen und Glauben der Zeit auf den Rechtsgrund
jedes Satzes zurückzugehen2). Er ſetzte alſo an die Stelle
eines aus genialen Aufſtellungen ableitenden Verfahrens eine
Methode, welche jede Aufſtellung auf ihre logiſche Begründung
zurückführte. — Und zwar, wie in dieſem griechiſchen Volke auch
das wiſſenſchaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein-
fachſte, nächſtliegende Form von Unterſuchung des Rechtsgrundes
für die umherſchwirrenden Meinungen die Frage nach dieſem Rechts-
grunde ſein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte
2)
[223]Socrates geht auf den Erkenntnißgrund zurück.
geſagt hatte: das ſokratiſche Geſpräch1). In ihm wurde
das analytiſche, auf den letzten Erkenntnißgrund des wiſſenſchaft-
lichen Beſtandes, ſchließlich der wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung
überhaupt zurückgehende Verfahren in der Geſchichte der Intelli-
genz entbunden. Und daher ward dies Geſpräch, nachdem der
unermüdliche Frager durch ſeine Richter zum Schweigen gebracht
worden, zur Kunſtform der Philoſophie ſeiner Schule. — Indem
er ſo die vorhandene Wiſſenſchaft, die vorhandenen Ueberzeu-
gungen auf ihren Rechtsgrund prüfte, wies er nach, daß eine
Wiſſenſchaft noch nicht vorhanden ſei und zwar auf
keinem Gebiet 2). Von der ganzen Wiſſenſchaft des Kosmos hielt
vor ſeiner Methode nur die Zurückführung des zweckmäßigen Zu-
ſammenhangs im Kosmos auf eine weltbildende Vernunft Stand.
Er fand aber auch kein deutliches Bewußtſein der wiſſenſchaft-
lichen Nothwendigkeit auf dem Gebiet des ſittlichen, des geſell-
ſchaftlichen Lebens. Er ſah das Handeln des Staatsmanns, das
Verfahren des Dichters ohne Klarheit über ſeinen Rechtsgrund und
daher unvermögend, ſich vor dem Gedanken zu rechtfertigen. Aber
er entdeckte zugleich, daß gerecht und ungerecht, gut und
böſe, ſchön und häßlich einen unwandelbaren, dem Streit
der Meinungen enthobenen Sinn haben.
Hier auf dem Gebiete des Handelns gelangte die Macht der
Selbſtbeſinnung, welche mit ihm in die Geſchichte trat, zu poſitiven
Ergebniſſen. Der Erkenntnißgrund der Sätze und Begriffe auf dieſem
Gebiet liegt zunächſt im ſittlichen Bewußtſein. Indem Socrates von
den Allgemeinvorſtellungen, die galten, den Sätzen, die herrſchend
waren, ausging, prüfte er dieſelben an einzelnen Fällen und dem
Verhalten des ſittlichen Bewußtſeins zu denſelben und ſo, durch ent-
gegenſtehende Inſtanzen hindurch ſchreitend, entwarf er ſittliche
Begriffe. Sein Verfahren beſtimmte ſich daher hier näher dahin,
das ſittliche Bewußtſein zu befragen, um an ihm als dem Er-
kenntnißgrunde aus den Allgemeinvorſtellungen Begriffe zu ent-
[224]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
wickeln und zu rechtfertigen, welche das klare Maß für das
handelnde Leben ſein konnten 1).
Hat nun Socrates die Grenzen überſchritten, welche wir als
die des griechiſchen Menſchen überhaupt bezeichnet haben? Auch
der Selbſtbeſinnung des Socrates geht nicht auf, daß die Außen-
welt Phänomen des Selbſtbewußtſeins, daß uns aber in dieſem ſelber
ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben ſei, deren Erkenntniß uns allererſt
eine unanfechtbare Realität aufdeckt. Wol iſt dieſe Selbſtbeſin-
nung der tiefſte Punkt, den der griechiſche Menſch in dem Rückgang
auf die wahre Poſitivität erreichte, wie das frivole Nichts des Gorgias
die äußerſte Grenze bezeichnet, zu welcher ſein ſkeptiſches Verhalten
gelangte. Sie iſt aber nur der Rückgang in den Erkenntnißgrund des
Wiſſens; daher entſpringt aus ihr Logik als Wiſſenſchaftslehre, wie
ſie Plato als Möglichkeit ſah und Ariſtoteles ausführte. Im Zu-
ſammenhang hiermit ſteht dann die Aufſuchung des Erkenntnißgrun-
des für ſittliche Sätze im Bewußtſein: und aus ihr entſpringt die
platoniſch-ariſtoteliſche Ethik. Daher iſt dieſe Selbſtbeſinnung logiſch
und ethiſch; ſie entwirft Regeln für die Beziehung des Denkens zum
äußeren Sein in der Erkenntniß der Außenwelt, für die Be-
ziehung des Willens zu ihm im Handeln; aber noch iſt in ihr
keine Ahnung, daß im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf-
gehe, ja die einzige, deren wir unmittelbar inne werden, noch weniger
davon, daß alle Realität nur in unſerem Erlebniß gegeben ſei.
Denn dieſe Realität wird für die metaphyſiſche Beſinnung erſt
vorhanden ſein, wo der Wille in ihren Horizont tritt.
[225]Fortſchritt der Methode der Metaphyſik in Plato.
Fünftes Kapitel.
Plato.
Vermittelſt der neuen Methode des Socrates geſtaltete Plato
die Wiſſenſchaft vom Kosmos, von ſeinem gedankenmäßigen Zu-
ſammenhang und ſeiner vernünftigen einheitlichen Urſache fort.
So entſtand die dem wiſſenſchaftlichen Ergebniß des Socrates
entſprechende Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft. Nur dieſen
Fortſchritt in dem Erkenntnißzuſammenhang heben wir aus ſeinen
Schriften heraus, dem Zauber derſelben hier widerſtehend, der
gerade aus der Verſchmelzung ſolcher Sätze mit den Empfindungen
eines von der Schönheit der griechiſchen Welt geſättigten Genius
entſpringt.
Fortſchritt der metaphyſiſchen Methode.
Der Fortſchritt iſt in der ſokratiſchen Schule vollzogen;
Wiſſenſchaft, damals ſagte man: Philoſophie, iſt nun nicht mehr
Ableitung von Erſcheinungen aus einem Prinzip, ſondern ein
Gedankenzuſammenhang, in welchem der Satz durch ſeinen Er-
kenntnißgrund gewährleiſtet iſt. Dieſem logiſchen Be-
mußtſein Platos erſcheinen alle Denker vor Socrates wie Märchen-
erzähler. „Jeder, ſcheint es, hat uns ſein Geſchichtchen erzählt, wie
Kindern. Der Eine: dreierlei wäre das Seiende, bisweilen
Einiges davon unter einander im Streit, dann wieder Alles ſich
befreundet, da es dann Hochzeiten giebt und Zeugungen und Auf-
erziehen des Erzeugten. Ein anderer nimmt der Dinge zwei an,
feucht und trocken oder warm und kalt, macht ihnen ein gemein-
ſames Bett und verheirathet ſie. Unſer eleatiſches Volk aber vom
Xenophanes und noch früher her trägt ſeine Geſchichte ſo vor,
als ob das, was wir Alles nennen, nur Eines wäre“ 1). Im
Dilthey, Einleitung. 15
[226]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Gegenſatz hierzu iſt dem Schüler des Socrates das Merkmal
wirklicher Erkenntniß der Zuſammenhang des Satzes mit dem
Erkenntnißgrund und die durch ihn bedingte Denknoth-
wendigkeit1). Dieſer Erkenntnißzuſammenhang nach Grund
und Folge gelangt daher nun als das die Wiſſenſchaft Kon-
ſtituirende zum Bewußtſein. Und zwar richtet der organiſa-
toriſche Geiſt Platos nicht wie Socrates an die, welche er auf
dem Markte findet, ſondern an die Märchenerzähler der vergangenen
Tage insgemein, „als ob ſie ſelbſt zugegen wären“, die ſokratiſche
Frage nach dem Zuſammenhang der von ihnen behaupteten Sätze
mit dem in dem Bewußtſein Feſtſtehenden 2). Er fragt kraft der
ſokratiſchen Methode: der Dialog iſt daher ſeine Kunſtform, die
Dialektik ſeine Methode; Socrates iſt der Führer des Geſprächs,
den ſeine Feinde tödteten, um ſeine Fragen verſtummen zu machen,
und den nun Plato an dieſen Feinden rächt.
Ja indem dieſer organiſatoriſche Geiſt die Mathematik der
Zeit in ſeiner Schule zuſammenfaßt und dieſe Schule zu einem
Mittelpunkt der mathematiſchen Gedankenarbeit macht, indem er die
mathematiſche Naturwiſſenſchaft, insbeſondere die Aſtronomie in Be-
zug auf ihren theoretiſchen Werth und ihre Evidenz prüft: bringt
der Begriff einer Rechenſchaft über unſer Wiſſen die erſte Einſicht
in die zuſammenhängende Organiſation der Wiſſenſchaften
vom Kosmos hervor. Die Philoſophie empfängt nun die Auf-
gabe, von den Vorausſetzungen, welche in jenen Wiſſenſchaften noch
ohne Rechenſchaft über ihre Giltigkeit eingeführt werden, zu den
erſten Erkenntnißgründen zurückzugehen, welche dieſe Rechenſchaft
enthalten 3). Und ſo entſteht in Plato ein klares Bewußtſein über
das Problem, deſſen Löſung nach der formalen Seite die griechiſche
[227]Dieſer Fortſchritt beſteht i. d. methodiſchen Schluß auf Bedingungen.
Wiſſenſchaftslehre, nach der realen die griechiſche Metaphyſik geweſen
iſt. Dieſe beiden grundlegenden philoſophiſchen Wiſſenſchaften ſind
in dem Geiſte Platos noch ungetrennt, und ſie ſind auch für
Ariſtoteles nur zwei Seiten deſſelben Erkenntnißzuſammenhangs.
Plato bezeichnet dieſen Erkenntnißzuſammenhang als Dialektik.
So tritt dieſe Rechenſchaft über das Wiſſen in die bisherige
Forſchung ein, welche auf die erſten Urſachen gerichtet war.
Das Erkennen ſucht die thatſächlichen Bedingungen,
unter deren Annahme das Sein wie das Wiſſen, der Kosmos
wie das ſittliche Wollen gedacht werden können. Dieſe Be-
dingungen liegen für Plato in den Ideen und ihren Be-
ziehungen zu einander; die Ideen ſtehen nicht unter der Rela-
tivität der ſinnlichen Wahrnehmung und werden nicht von
den Schwierigkeiten einer Erkenntniß der veränderlichen Welt
berührt; ſie treten vielmehr neben die Erkenntniß der ruhen-
den, ſich immer gleichen und typiſchen räumlichen Gebilde
und ihrer Beziehungen ſowie der Zahlen und ihrer Ver-
hältniſſe. Gleich ihnen werden ſie in der Veränderlichkeit der
Welt nirgend als einzelne äußere Objekte geſehen, ſind aber in ihrem
typiſchen Beſtande die für den Verſtand darſtellbaren, einer ſtreng
wiſſenſchaftlichen Behandlung zugänglichen Bedingungen, welche
Daſein und gleicherweiſe Erkenntniß der Welt möglich machen 1).
Die revolutionäre Erſchütterung der europäiſchen Wiſſen-
ſchaft hat ſo zu einer höheren Stufe des methodiſchen
15*
[228]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Denkens geführt; wir bezeichnen das Verhältniß dieſer Stufe
zu den älteren Verſuchen, welche wir nunmehr hinter uns laſſen.
Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fortſchritten
lagen, wie die Entwicklung ſeit Thales zeigt, in der Erweiterung
der Erfahrung und der Anpaſſung von Erklärungen an deren
Thatbeſtand. Das Verfahren des Denkens, welches die Geſchichte
der Wiſſenſchaften hierbei gewahren läßt, iſt ein Einſetzen von
Vorausſetzungen (Subſtitution), alsdann eine verſuchsweiſe Be-
nutzung derſelben; unvollkommene Erklärungen gehen beſtändig
in großer Zahl zu Grunde, wie wir denn dieſe Grauſamkeit des
Zweckzuſammenhangs gegenüber der mühſamen Arbeit der Indi-
viduen beſtändig um uns ausgeübt ſehen und ſelber von ihr be-
droht ſind; lebensfähige dagegen paſſen ſich den Anforderungen an
Erkenntniß der Wirklichkeit ſchrittweiſe an und bilden ſich ſo fort.
So haben ſich die Atomtheorie und die Lehre von den ſubſtan-
tialen Formen allmälig entwickelt. Und als Grundlage dieſer
Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird,
wenn auch noch in beſcheidenem Umfang, die Mathematik bereits
benutzt. — Nun beſtehen die Erklärungen der Wiſſenſchaft bis zu
der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodiſchen
Schlußverfahren auf Urſachen, auf einen urſächlichen kosmiſchen
Zuſammenhang. Von Plato ab iſt Erklärung der methodiſche
Rückgang auf die Bedingungen, unter welchen eine Wiſſen-
ſchaft vom Kosmos möglich iſt. Dieſe Methode geht von der Korre-
ſpondenz des Erkenntnißzuſammenhangs mit dem realen Zuſammen-
hang im Kosmos aus. Daher ſie, auf der Baſis der natürlichen An-
ſicht, dieſe Bedingungen zugleich in irgend einer Weiſe als Urſachen
(ſonach als Vorausſetzungen, Prinzipien) betrachtet. — Wird dieſe
Form des wiſſenſchaftlichen Verfahrens für ſich dargeſtellt, ſo ſondert
ſich die Logik von dem metaphyſiſchen Syſtem ſelber, wenn auch beide
vermittelſt der Vorausſetzung der Korreſpondenz mit einander in
innerer Verbindung bleiben. Dieſen Schritt ſollte erſt Ariſtoteles
thun, und damit verſchaffte er dieſer auf dem Boden der natürlichen
Weltanſicht errichteten Metaphyſik erſt volle Klarheit über ihr Ver-
fahren. Seine Logik iſt demgemäß nur die Darſtellung der Form
der eben dargelegten vollkommneren Methode der Metaphyſik.
[229]Die Ideen als denknothwendige Bedingungen.
Die Lehre von den ſubſtantialen Formen des Kos-
mos tritt in die monotheiſtiſche Metaphyſik ein.
Und welches ſind nun die Prinzipien, welche dieſe Rechen-
ſchaft über unſer Wiſſen auffindet und deren Entwicklung das
letzte Ziel der platoniſchen Wiſſenſchaft iſt?
Die Metaphyſik Europas thut nun auch in Rückſicht ihres
Inhaltes einen weiteren entſcheidenden Schritt. Die konſtanten
Bedingungen der veränderlichen Welt konnten in der damaligen
Lage der Wiſſenſchaft, in welcher Vorſtellungen, wie die von der
Urſprünglichkeit und Vollkommenheit kreisförmiger Bewegungen
am Himmel oder von dem Streben jedes durch Stoß bewegten
Körpers auf der Erde nach ſeinem Ruhezuſtand noch nicht durch
eine beharrliche, vom Verſuch unterſtützte Arbeit der Zerlegung
komplexer Zuſammenhänge in die einzelnen Verhältniſſe von
Abhängigkeit verbeſſert worden waren, keineswegs mit wirklichem
Nutzen für die Erkenntniß in Atomen und deren Eigen-
ſchaften aufgeſucht werden. Denn zwiſchen dieſen Atomen und dem
Formzuſammenhang des Kosmos fehlte jede Verbindung. In
dem Syſtem der Formen ſelber und in demſelben ent-
ſprechenden pſychiſchen Urſachen mußte der europäiſche Geiſt
den metaphyſiſchen Zuſammenhang der Welt ſehen, welcher ihren
letzten Erklärungsgrund enthalte.
Wer empfände nicht in dem beſtrickenden Glanz der ſchönſten
Werke Platos, daß die Ideen nicht nur als Bedingungen für das
Gegebene in ſeiner reichen dichteriſchen, ethiſch gewaltigen Seele
Beſtand hatten. Seine Ausgangspunkte ſind die ſittliche Perſon,
der Enthuſiasmus, die Liebe, die ſchöne, gedankenmäßige, in Maßen
geordnete Welt, ſein Ideal iſt das wahrhaft Seiende, welches
alle Vollkommenheit in ſich ſchließt, die ſeine erhabene Geiſtes-
richtung forderte. Er ſchaute die Ideen in dieſem Thatbeſtand,
dachte ſie nicht nur als die Bedingungen deſſelben. An dieſer
Stelle muß aber jede Erörterung ausgeſchloſſen bleiben, welche den
Urſprung dieſer großen Lehre zum Gegenſtande hat. Wir haben
[230]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
es mit dem Zuſammenhang ſeiner Gedanken zu thun, ſofern dieſer
in der Beweisführung auftritt und in dieſer ſyſtematiſchen Form
den weiteren Fortgang der europäiſchen Metaphyſik beſtimmte.
Das Seiende, welches dem Werden und Vergehen entnommen
iſt, findet die von Plato ausgehende Richtung des meta-
phyſiſchen Geiſtes in dem Hintergrund der in Raum und Zeit
auftretenden Erſcheinungen, den unſere Allgemeinvorſtellungen
ausdrücken oder zu dem ſie doch emporleiten. Die Metaphyſik
ſetzt damit nur fort, was die Sprache begonnen hat. Dieſe bereits
hat in den Namen für Allgemeinvorſtellungen, insbeſondere für
die Gattungen und Arten, Weſenheiten aus den einzelnen Er-
ſcheinungen herausgehoben. Die Anwendung der Worte führt
unvermeidlich mit ſich, daß dies immer Wiederkehrende, welches
das Vorſtellen als einen Typus an die Dinge heranbringt, wie
eine Macht über ſie empfunden wird, welche die Dinge ein Geſetz
zu verwirklichen zwingt. Die Allgemeinvorſtellung, welche in dem
Sprachzeichen einen abgeſchloſſenen Ausdruck empfängt, enthält
ſchon ein Wiſſen von dem ſich Gleichbleibenden im
Kommen und Gehn der Eindrücke, ſoweit dieſes ohne Ana-
lyſis der Erſcheinungen, ſonach aus der bloßen Anſchauung
derſelben hergeſtellt werden kann. Jedoch vollzieht ſich in der
Sprache dieſer Vorgang ohne Bewußtſein des Werthes ſeiner Er-
zeugniſſe für die Erkenntniß des Zuſammenhangs der Erſcheinungen.
Indem nun das Bewußtſein hiervon aufgeht, ſonach dieſe
Allgemeinvorſtellungen in ihrer Beziehung zu den Thatſachen,
welche durch ſie vorgeſtellt werden, ſowie zu den anderen neben-,
über- oder untergeordneten Allgemeinvorſtellungen beſtimmt, be-
richtigt und definirt werden, entſteht der Begriff und der
Zuſammenhang der Begriffe. Und indem die Philoſophie den
Inhalt und den Zuſammenhang der Welt in dem Syſtem dieſer
Begriffe feſtzuſtellen unternimmt, entſteht diejenige Form der Me-
taphyſik, welche als Begriffsphiloſophie bezeichnet werden kann;
dieſelbe hat ſo lange das europäiſche Denken beherrſcht, bis ſozu-
ſagen von der tiefer liegenden Gleichförmigkeit des Weltzuſammen-
hangs der Vorhang weggezogen worden iſt.
[231]D. Lehre v. d. ſubſtantial. Formen e. nothw. Stadium d. Metaphyſik.
Dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen drückte
aus, was das unbewaffnete Auge der Erkenntniß erblickt. Das,
was das Spiel der Kräfte im Kosmos ſtets neu hervorbringt,
bildet einen erkennbaren, immer gleichen Inhalt der Welt.
Das, was im Wechſel der Orte, Bedingungen und Zeiten ſtets
wiederkehrt, nein vielmehr immer da iſt und niemals ſchwindet,
bildet einen Zuſammenhang der Ideen, dem Unvergänglichkeit
zukommt. Während der einzelne Menſch an einer einzelnen
Stelle in Raum und Zeit auftritt und verſchwindet: verharrt
doch, was in dem Begriff des Menſchen ausgedrückt iſt. Auch
denken wir an nichts anderes zunächſt, wenn wir den Gehalt
der Welt uns vorzuſtellen bemüht ſind. Wir denken an die
Gattungen und Arten, Eigenſchaften und Thätigkeiten, welche die
Buchſtaben der Schrift dieſer Welt bilden. Dieſe ſind, in ihren
Beziehungen zu einander aufgefaßt, für das natürliche Vorſtellen
der unveränderliche Beſtand der Welt, welchen dies Vorſtellen
fertig vorfindet, an dem es gar nichts zu ändern vermag
und der ihm daher als objektiver zeitloſer Beſtand gegenüberſteht.
Wie ſie dann zu Begriffen in der Wiſſenſchaft geprägt worden ſind,
enthielten ſie ſo lange unſere Erkenntniß des Weltinhaltes, als
wir nicht die Erſcheinungen aufzulöſen und durch Zergliederung
auf Zuſammenwirken von Geſetzen zurückzuführen vermochten.
Während dieſer ganzen Zeit war die Metaphyſik der ſubſtantialen
Formen das letzte Wort der europäiſchen Erkenntniß. Und auch
nachher fand das metaphyſiſche Denken in der Beziehung des
Naturmechanismus zu dieſem ideellen und in Zuſammenhang
hiermit teleologiſch aufgefaßten Gehalt des Weltlaufs ein neues
Problem.
Jedoch konnte auf dem Standpunkt des natürlichen Syſtems
unſerer Vorſtellungen, welchen die Metaphyſik einnimmt, das
Verhältniß dieſer Ideen, wie ſie den konſtanten Inhalt des
Weltlaufs bilden, zu dieſem ſelber, zu der Wirklichkeit, nicht
auf angemeſſene Weiſe beſtimmt werden. Einerſeits hat erſt die
Erkenntnißtheorie, indem ſie das, was im Denken als Erklärungs-
grund gegeben iſt, nach ſeinem Urſprung und ſeiner durch den-
[232]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſelben bedingten Geltung von dem ſondert, was in der Wahr-
nehmung als Wirklichkeit gegeben iſt, das Verhältniß des Dinges
zur Idee richtig auszudrücken vermocht. Daher ſehen wir jede
metaphyſiſche Theorie dieſes Verhältniſſes an ihren Widerſprüchen
zu Grunde gehen; jede ſcheiterte an der Unmöglichkeit, das Ver-
hältniß der Ideen zu den Dingen inhaltlich in Begriffen auszu-
drücken. Andrerſeits hat erſt die poſitive Wiſſenſchaft, welche das
Allgemeine in dem Geſetz des Veränderlichen aufſuchte, die wahr-
haft wiſſenſchaftliche Grundlage geſchaffen, durch welche für dieſe
Typen der Wirklichkeit die Grenzen ihrer Geltung und die Unter-
lage ihres Beſtandes feſtgeſtellt wurden.
Dies war im Allgemeinen die geſchichtliche Stellung der
Metaphyſik der ſubſtantialen Formen, deren Schöpfer Plato ge-
weſen iſt, innerhalb des Zuſammenhangs der intellektuellen Ent-
wicklung.
Innerhalb dieſer Metaphyſik der ſubſtantialen Formen ent-
wickelte nun aber Plato nur eine der Möglichkeiten, das
Verhältniß dieſer Ideen zu der Wirklichkeit und den Einzel-
dingen auszudrücken, alſo ein reales Sein der Ideen mit dem
realen Sein der Einzeldinge in einen inneren objektiven Zu-
ſammenhang zu bringen. Platos Idee iſt der Gegenſtand des
begrifflichen Denkens; wie dieſes an den Dingen die Idee heraus-
hebt als urbildlich, nur in dem Gedanken auffaßbar, vollkommen,
ſo beſteht dieſelbe, abgeſondert von den Einzeldingen, welche zwar
Theil an ihr haben, aber hinter ihr zurückbleiben: eine ſelb-
ſtändige Weſenheit. Das Reich dieſer ungewordenen, unvergäng-
lichen, unſichtbaren Ideen erſcheint wie durch goldene Fäden mit
dem mythiſchen Glauben im griechiſchen Geiſte verbunden. Wir
bereiten die Darlegung der Beweisführung für die Ideenlehre vor,
indem wir einige einfache Beſtandtheile ihres Zuſammenhangs
herausheben, auf welche die offen daliegenden Schriften überall
zurückführen.
Die Kritik der ſinnlichen Wahrnehmung ſowie der in ihr
gegebenen Wirklichkeit hatte zu unwiderleglichen Ergebniſſen ge-
führt; ſo fand ſich Plato auf das Denken und eine in dieſem
[233]Die Ideenlehre Platos als eine einzelne Geſtalt dieſer Lehre.
gegebene Wahrheit verwieſen. In dieſem Zuſammenhang ſondert
er nun das Objekt des Denkens von dem der Wahrnehmung.
Denn er erkennt die Subjektivität der Sinneseindrücke vollſtändig
an, dringt jedoch nicht zu der Einſicht vor, daß die Thatſache des
Seins ſelber in dieſen Eindrücken, in der Erfahrung mitenthalten
iſt, und ſo erfaßt er nicht in dieſer durch Erfahrung gegebenen
Wirklichkeit zugleich das Objekt des Denkens, betrachtet nicht das
Denken in ſeiner natürlichen Beziehung zum Wahrnehmen; viel-
mehr iſt das Denken ihm Erfaſſen einer beſonderen
Realität, eben des Seins. Hierdurch vermied er zwar den
inneren Widerſpruch, in welchen der Objektivismus des Ariſto-
teles ſpäter durch Annahme eines allgemeinen Realen in dem
Einzelnen gerieth, verfiel aber freilich in Schwierigkeiten anderer
Natur. — Alsdann nahm in Plato mit den Jahren die Richtung
auf die Ausbildung einer ſtrengen Wiſſenſchaft von den Be-
ziehungen dieſer Ideen zu. Dem Griechen jener Zeit ſtand der
Vorgang noch nahe genug, in welchem die Mathematik ſich von
den praktiſchen Aufgaben als Wiſſenſchaft losgelöſt und ihre Sätze
miteinander in Verbindung gebracht hatte; Plato wollte in ſeiner
Schule neben, ja über der Mathematik nun auch die Wiſſen-
ſchaft von den Beziehungen der Begriffe konſtituiren. —
Wie erheblich aber auch dieſe theoretiſchen Beweggründe der Ideen-
lehre waren, dieſelbe hatte für Plato einen weiter zurückliegenden
Halt in anderen Beweggründen, welche über das Erkennen hinaus-
reichen. Auch nachdem der mythiſche Zuſammenhang dem wiſſen-
ſchaftlichen Denken Platz gemacht hatte, finden wir etwas, was aus
der Totalität des Seelenlebens ſtammt, als den unauflöslichen
Hintergrund in allen gedankenmäßigen Erfindungen: in dem Welt-
geſetz Heraklit’s wie in dem ewigen Sein der Eleaten; es bildet den
Hintergrund in den Zahlen der Pythagoreer wie in der Liebe und
dem Haſſe des Empedocles und in der Vernunft des Anaxagoras,
ja ſelbſt in dem durch die Welt verbreiteten Seeliſchen des De-
mokrit. Das Erlebte, Erfahrene wurde nun durch Socrates und
Plato noch in weiterem Umfang zu philoſophiſcher Beſinnung
gebracht. Die methodiſche Selbſtbeſinnung ließ die großen ethiſchen
[234]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Thatſachen hervortreten, welche vordem eben ſo da, aber gewiſſer-
maßen unter dem Horizont der philoſophiſchen Beſinnung ge-
blieben waren. Man kann die Frage aufwerfen, ob nicht die
Ideenlehre in der erſten Konception, wie ſie der Phädrus zeigt,
noch auf ſittliche Ideen beſchränkt war. Gleichviel welche Be-
antwortung dieſe Frage finde: das Typiſche, Urbildliche in den
Ideen beweiſt, welchen Antheil die erhabene Stimmung des pla-
toniſchen Geiſtes, das Sittliche und Aeſthetiſche an der Ausbil-
dung ſeiner Ideenwelt hatte.
Dies alſo war es, was der jugendliche Plato aus den Be-
griffsbeſtimmungen ſeines Lehrers mit dem Blick des Genius
herauslas. Das wahre, ewige Sein kann in dem Syſtem der
Begriffe, welche das im Wechſel Beharrende erfaſſen, dargeſtellt
werden. Dieſe in Begriffen darſtellbaren Beſtandtheile, die Ideen,
und ihre Beziehungen zueinander bilden die denknothwendigen
Bedingungen des Gegebenen. Plato bezeichnet in dieſem Zu-
ſammenhang die Ideenlehre geradezu als „ſichere Hypotheſis“ 1).
Die Wiſſenſchaft dieſer Ideen, ſeine Wiſſenſchaft, iſt daher, wie
man richtig geſagt hat, ontologiſch, nicht genetiſch.
Das aber, was der Begriff an der Wirklichkeit nicht erfaßt,
was ſonach nicht aus der Idee begreiflich gemacht werden kann —
iſt die Materie. Eine geſtaltloſe, unbegrenzte Weſenheit, Urſache
und Erklärungsgrund (ſofern ſie überhaupt etwas erklärt) für den
Wechſel und die Unvollkommenheit der Phänomene, der dunkle Reſt,
welchen die Wiſſenſchaft des Plato von der Wirklichkeit als ge-
dankenlos, ſchließlich unfaßbar zurückläßt, ein Wort für einen Un-
begriff d. h. für das x, deſſen nähere Erwägung dieſe ganze
Formenlehre ſpäter vernichten ſollte.
Die Begründung dieſer Metaphyſik der ſubſtan-
tialen Formen. Ihr monotheiſtiſcher Abſchluß.
Und welches ſind nun die Glieder der Beweisführung,
vermittelſt deren Plato die Ideen, welche er in dem ethiſch mächtigen
Menſchengeiſte, in dem ſchönheiterfüllten, gedankenmäßigen Kosmos
[235]D. Exiſtenz v. d. Ding. geſond. Ideen a. Thatſ. d. Wiſſens bewieſen.
ſchaute, als die Bedingungen des Gegebenen nachwies? vermittelſt
deren er ihre Beſtimmungen ableitete und die Wiſſenſchaft ihrer
Beziehungen entwarf?
Es entſprach dem Zuſammenhang der großen Bewegung, die
er zum Stehen brachte, daß die Anforderung, die Möglichkeit
des Wiſſens aufzuweiſen, ihm im Vordergrund ſtand.
Dieſe Möglichkeit ſah er rings von den Sophiſten beſtritten;
durch eine Erweiterung der philoſophiſchen Beſinnung war ſie
eben von Socrates vertheidigt worden; ihr war das intellektuelle
Intereſſe zugewandt.
Die Beweisführung Platos aus dem Wiſſen iſt indirekt.
Sie ſchließt die Möglichkeit aus, daß das Wiſſen aus der
äußeren Wahrnehmung entſpringe und folgert ſo, daß daſſelbe einem
von der Wahrnehmung unterſchiedenen, ſelbſtändigen Denkvermögen
angehöre. Sie korreſpondirt der anderen Beweisführung, daß das
höchſte Gut nicht in der Luſt beſtehe, die Gerechtigkeit nicht aus
dem Kampf der Intereſſen ſinnlicher Weſen entſpringe, ſonach das
Handeln des Einzelnen wie des Staates in einem von unſerem
ſinnlichen Weſen unabhängigen Beweggrund angelegt ſein müſſe.
Beiden Beweisführungen liegt als Oberſatz eine Disjunktion zu
Grunde, deren Unvollſtändigkeit Platos Begründung unzureichend
macht. Zuſammen ſondern ſie ein höheres Vermögen der Ver-
nunſt von der Sinnlichkeit. Von dieſem aus erſchließt dann
Plato die Exiſtenz der Ideen als ſelbſtändiger Weſenheiten auf
folgende Weiſe.
Unabhängig von der äußeren ſinnlichen Erfahrung trägt nach
Plato der Menſch die ideale Welt in ſich. Die Selbſtbeſinnung
des Socrates iſt in Platos mächtiger Perſönlichkeit erweitert, ge-
ſteigert. In der künſtleriſchen Darſtellung, welche Plato in ſeinen
Schriften von Socrates giebt, der höchſten Schöpfung des dich-
teriſchen Vermögens der Athener, iſt dieſe Selbſtbeſinnung gleichſam
Perſon geworden. Plato zeigt alsdann analytiſch die Inhaltlichkeit
der Menſchennatur in dem Dichter, in dem religiöſen Vorgang,
in dem Enthuſiasmus. Er entnimmt endlich einen ſtrengen Be-
weis für das Vorhandenſein eines Wiſſensinhaltes
[236]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
im Menſchen, welcher unabhängig von der Erfahrung
in ihm ſei, aus der Wiſſenſchaft ſeiner Zeit und ſeiner Schule,
der Mathematik, und auch in dieſem Punkte iſt er der Vorgänger
Kant’s. Draſtiſch zeigt der Dialog Meno, wie mathematiſche
Wahrheit nicht erworben, ſondern in ihr nur eine vorhandene
innere Anſchauung entwickelt wird 1). Die Bedingung dieſes
Thatbeſtandes iſt für Plato die transſcendente Berührung
der Seele mit den Ideen, und dieſe Lehre Platos tritt als
Verſuch der Erklärung für den von der äußeren Wahrnehmung
unabhängigen Inhalt unſeres geiſtigen Lebens, hier zunächſt
unſerer Intelligenz, neben die Theorie von Kant.
Der Thatbeſtand, um welchen es ſich handelt, wird von Kant
auf eine Form des Geiſtes, der Intelligenz wie des Willens zu-
rückgeführt. Dies iſt im Grunde gar nicht vorſtellbar. Aus einer
bloßen Form des Denkens kann eine inhaltliche Beſtimmung
unmöglich entſtehen; die Urſache, das Gute ſind aber augenſchein-
lich ſolche inhaltliche Beſtimmungen. Und wäre die Verhältniß-
vorſtellung der Kauſalität oder der Subſtanz in einer Form
unſerer Intelligenz gegründet, wie etwa die von Gleichheit oder
Verſchiedenheit iſt, ſo müßte ſie ebenſo eindeutig beſtimmt und der
Intelligenz durchſichtig als dieſe ſein Daher enthält Platos Lehre
zunächſt eine auch Kant gegenüber haltbare Wahrheit.
Hier aber tritt andrerſeits die Grenze des griechiſchen Geiſtes her-
vor. Die wahre Natur der inneren Erfahrung war noch nicht in ſeinem
Geſichtskreis. Für den griechiſchen Geiſt iſt alles Erkennen
eine Art von Erblicken; für ihn beziehen ſich theoretiſches wie
praktiſches Verhalten auf ein der Anſchauung gegenüberſtehendes
Sein und haben daſſelbe zur Vorausſetzung; ihm iſt ſonach das
Erkennen ſo gut als das Handeln Berührung der Intelligenz mit
etwas außer ihr, und zwar das Erkennen eine Aufnahme dieſes
ihm Gegenüberſtehenden.
Und hierbei iſt es gleich, ob die Stellung des Subjekts eine
ſkeptiſche oder dogmatiſche iſt: der griechiſche Geiſt faßt Erkennen
[237]Vorausſetzung dieſes Beweiſes in der Auffaſſung des Wiſſens.
und Handeln als Arten der Beziehung dieſes Subjektes zu einem
Sein. Der Skepticismus behauptet nur die Unfähigkeit des auf-
faſſenden Vermögens, das Objekt zu erfaſſen, wie es iſt; er lehrt daher
nur die theoretiſche wie praktiſche Zurückziehung des Subjekts auf
ſich ſelber, die Enthaltung, ſeine Einſamkeit inmitten des Seienden.
Dagegen geht das dogmatiſche Verhalten der griechiſchen Denker
von dem ſicheren Gefühl der Verwandtſchaft mit dem Naturganzen
aus; ſo iſt es ſchließlich in der griechiſchen Naturreligion be-
gründet; ſo drückt es ſich in dem Satze aus, der den älteren dog-
matiſchen Theorien der Wahrnehmung wie des Denkens zu Grunde
liegt: Gleiches wird durch Gleiches erkannt. Aus dieſer griechiſchen
Denkweiſe entſpringt Platos Schluß: der Inhalt, welchen die Seele
in ſich findet, jedoch nicht in der Erfahrung während ihres dies-
ſeitigen Lebens erworben hat, muß vor demſelben erworben ſein;
unſer Wiſſen iſt Erinnerung, die Ideen, welche wir in uns finden,
haben wir geſchaut. Selbſt unſere ſittlichen Ideen ſind nach Plato
vermöge einer ſolchen Anſchauung für uns da. Geht man von
der frühen Entſtehung des Phädrus aus, ſo liegt hier die fundamen-
tale Begründung der Lehre von der Transſcendenz der Ideen 1).
Alle anderen einigermaßen ſtrengen Schlüſſe Platos aus dem
Wiſſen auf die Ideenlehre als ſeine Bedingung beruhen auf den-
ſelben Grundlagen. Das Wiſſen iſt nicht aus Wahrnehmen
und Vorſtellen ableitbar, ſondern von ihm geſondert und ihm
gegenüber ſelbſtändig; dem ſo geſonderten Wiſſen muß auch
ein für ſich beſtehender Gegenſtand entſprechen. — So
ſchließt Plato: dem unveränderlichen Wiſſen muß nach ſeinem
Unterſchied von der veränderlichen Wahrnehmung ein unveränder-
[238]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
licher Gegenſtand zukommen; bleibt doch der Begriff in der
Seele, während das Ding untergeht, ſonach muß ihm ein
bleibender Gegenſtand entſprechen. — Oder er folgert mit Zu-
hilfenahme der eleatiſchen Sätze: ein Nichtſeiendes iſt nicht erkenn-
bar, und da die Vorſtellung ſich auf das bezieht, was Sein und
Nichtſein in ſich vereinigt, ſo iſt die Vorſtellung nur theilweiſe
Erkenntniß; da nun im Begriff ein wahres Wiſſen gegeben iſt, ſo
muß derſelbe ein von dem Objekt der Vorſtellung unterſchiedenes
Objekt haben. — Derſelbe Zuſammenhang von Wiſſen und Sein
wird dann auch von dem Begriff des Seins aus entwickelt:
das Ding ſtellt das, was in ſeinem Begriff enthalten iſt, nicht
rein dar, ſondern ſeine Prädikate ſind relativ und wechſelnd; alſo
hat es keine volle Wirklichkeit, ſondern dieſe kommt nur dem
zu, was der Begriff ausdrückt; dieſer aber kann aus keiner Wahr-
nehmung der Dinge abſtrahirt werden.
So ſteht innerhalb des Umkreiſes der Selbſtbeſinnung,
welche mit der ſokratiſchen Schule in die Metaphyſik eintrat und
ihren Horizont erweiterte, gerade die Beſinnung über das Wiſſen
im Vordergrund, indem vom Wiſſen aus auf ſeine Bedingung,
die Ideen geſchloſſen wird. Jedoch verbindet ſich mit dieſem
Schluß der aus dem Sittlichen. Denn die ganze Inhalt-
lichkeit der Menſchennatur, wie dieſer Geiſt von gewaltiger Realität
ſie in ſich erfuhr, iſt ihm, als aus der Sinnlichkeit nicht ableitbar,
ein Beweis für ihren Zuſammenhang mit einer höheren Welt.
Demgemäß hat der zweite Beſtandtheil des für Platos
Syſtem grundlegenden disjunktiven Schluſſes auf die Selbſtändig-
keit der Vernunft zu ſeinem Oberſatz die Disjunktion: das Ziel
des Handelns für den Einzelnen iſt entweder aus der Luſt ab-
zuleiten oder aus einem von ihrer Vergänglichkeit abgeſonderten,
ſelbſtändigen Grunde des Sittlichen; das Ziel des
Staatswillens iſt entweder durch die einander bekämpfenden ſelbſt-
ſüchtigen, auf Luſt gerichteten Intereſſen entſtanden oder in
einem von ihnen unabhängigen Weſenhaften gegründet. Platos
Polemik gegen die Sophiſtik ſchließt das erſte Glied der Dis-
junktion aus, und dieſe Ausſchließung bildet den Unterſatz ſeines
[239]Der Beweis aus dem ſittlichen Bewußtſein hat dieſelbe Vorausſetzung.
Schluſſes. Seine Erörterungen hierüber entwickeln wahrhaft tief-
ſinnig den Gehalt unſeres ſittlichen Bewußtſeins; ſo wird ein
neuer Kreis der wichtigſten Erfahrungen (vorbereitet von der ſo-
kratiſchen Schule) über den Horizont der philoſophiſchen Beſinnung
erhoben und bleibt fortan im Bewußtſein der Menſchheit. — Aber
wie in Socrates, ſtoßen wir an dieſer Stelle auch in Plato
wieder an die der griechiſchen Geiſtesart eigenthümlichen Schranken.
Auch wo dieſem gleichſam dem Kosmos eingeordneten Bewußt-
ſein die Selbſtbeſinnung aufgeht, findet dieſelbe nicht in unmittel-
barem Innewerden die Realität der Realitäten gegeben, das
willenerfüllte Ich, in welchem die ganze Welt erſt da iſt, nein:
Anſchauung, welche ja nur in der Hingabe an das Angeſchaute
exiſtirt, bildende Kraft, welche das Geſchaute an dem Stoffe der
Wirklichkeit geſtaltet, das iſt das Schema, unter welchem dieſe
Selbſtbeſinnung das Geiſtige und ſeinen Inhalt erblickt. Und wo
der ſkeptiſche Geiſt auf dieſes Verhältniß zum Objekt verzichtet,
bleibt ihm nur „Enthaltung“. Daher begreift Plato den ſelb-
ſtändigen Grund des Sittlichen nur als ein Anſchauen der
Urbilder des Schönen und Guten. So ordnet ſich der
Schluß aus dem ſittlichen Bewußtſein auf Grund der angegebenen
Disjunktion zuletzt der Folgerung aus dem Wiſſen unter. Dieſer
Schluß hat zunächſt das Daſein des von der Luſt unabhängigen
weſenhaften Sittlichen abgeleitet, und von dieſem Ergebniß aus
erweiſt er alsdann, daß die Thatſache des Sittlichen die Urbilder
des Schönen und Guten zu ihrer Bedingung hat, auf welche
ſchauend wir handeln 1).
[240]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
In einem grandioſen Gleichniß iſt dieſer Zuſammenhang von
Plato dargeſtellt worden. Die Idee des Guten iſt die Königin
der geiſtigen Welt, wie die Sonne die der ſichtbaren. Der Geſichts-
ſinn für ſich ermöglicht nicht das Wirkliche zu ſehen, ſondern das
Licht, das von der Sonne ausſtrömt, muß daſſelbe offenbaren; daher
ſind der Geſichtsſinn und das Wahrnehmbare durch das Band
des Lichtes zum Sehen miteinander verbunden; dieſelbe Sonne
gewährt dem Sichtbaren auch ſeine Entſtehung und ſein Wachs-
thum. So iſt die Idee des Guten das geheimnißvolle, aber reale
Band des Kosmos. In dieſem Gleichniß iſt der Zuſammenhang
ausgedrückt, in welchem die Metaphyſik den letzten Grund des
Erkennens mit der letzten Urſache der Wirklichkeit verknüpft.
Und hier nehmen wir den Faden der Geſchichte des meta-
phyſiſchen Schlußverfahrens aus aſtronomiſchen Thatſachen
wieder auf. Dieſes Schlußverfahren vermittelt in Platos Syſtem
eine Vorſtellung vom Wirken der Ideenwelt, welche freilich nur
den Werth eines Mythus hat. Mathematik und Aſtronomie ſind
noch für Plato die einzigen Wiſſenſchaften des Kosmos, und auch
er ſchließt in erſter Linie aus der gedankenmäßigen An-
ordnung der Geſtirnwelt, deren Ausdruck ihre Schönheit
iſt, auf die vernünftige Urſache derſelben. „Zu ſagen
aber, daß Vernunft Alles anordnete, ziemt dem, der die Welt
und Sonne, Mond und Sterne und den ganzen Umſchwung
anſchaut“ 1). Seinen näheren Schlüſſen legt er folgende Theorie zu
Grunde. Jede durch Stoß mitgetheilte Bewegung geht in Ruhe-
zuſtand über. Dies wurde damals irrthümlich aus der Erfahrung
von den Bewegungen geſtoßener Körper abſtrahirt; man ſah jeden
Körper auf der Erde nach einem einzelnen Anſtoß in den Ruhe-
ſtand zurückkehren und hatte noch von Reibung und Luftwider-
ſtand keine Vorſtellung. So wird allein der Seele die Fähigkeit
zugeſchrieben, von innen und daher dauernd zu bewegen, die Be-
wegung bloßer Körper wird als mitgetheilt betrachtet und jede mit-
[241]Die Transſcendenz Platos und die des Chriſtenthums.
getheilte Bewegung als vorübergehend. Das ſind Vorausſetzungen,
welche ſchon der Phädrus entwickelt, und dieſer Pſychismus ſtimmt
mit dem mythiſchen Vorſtellen überein. Hieraus ergiebt ſich dann
der Schluß von den regelmäßigen und konſtanten Bewegungen
der Geſtirne auf konſtant wirkende pſychiſche Weſenheiten als Ur-
ſachen dieſer Bewegungen. Solche intelligente Urſachen müſſen
andrerſeits aus den harmoniſchen mathematiſchen Verhältniſſen
der Sphärendrehungen gefolgert werden, in welche ſich die Bahnen
der Wandelſterne zerlegen laſſen. Denn die Verhältniſſe der Dre-
hungen nach Umfang, Richtung und Geſchwindigkeit, die ſich da-
mals der mechaniſchen Betrachtung gänzlich entzogen, werden als
Verhältniſſe pſychiſcher Weſenheiten zu einander aufgefaßt und
begreiflich gemacht. Und hierüber hinaus liegt überhaupt auf dem
ganzen Kosmos der Wiederſchein der Ideen.
Die Transſcendenz dieſer platoniſchen Ideenordnung hat ſich
ſpäter mit der Transſcendenz der unſichtbaren Welt des Chriſten-
thums verſchmolzen. In ihrem innerſten Charakter ſind beide
durchaus verſchieden. Wol hat Plato die irdiſche Welt als ein
ihm Fremdes empfunden; aber nur inſofern ſie nicht der reine
Ausdruck weſenhafter Formen iſt. Er flüchtet in das Reich dieſer
vollkommenen Formen, und ſo bleibt der höchſte Aufſchwung ſeiner
Seele an den Kosmos gebunden. Die Beziehungen dieſer transſcen-
denten Weſenheiten zu einander ſind ihm nur gedankenmäßige, ja
ſie werden, wie die Beziehungen geometriſcher Gebilde, durch Ver-
gleichung, Feſtſtellung von Verſchiedenheit ſowie von theilweiſer
Gemeinſchaft erkannt. Und indem er den wirklichen Kosmos von
ihnen aus unter Vermittlung der Idee des Guten zu erklären
unternimmt, iſt es, in allem mythiſchen Glanze, der ſeine Dar-
ſtellung umgiebt, ein von den äußeren kosmiſchen Bewegungs-
zuſammenhängen entnommenes Schema, unter welchem er das
Wirken der Gottheit ſelber vorſtellt: ein Weltbildner, welcher eine
Materie formt.
Dilthey, Einleitung. 16
[242]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Sechſtes Kapitel.
Ariſtoteles und die Aufſtellung einer abgeſonderten metaphyſiſchen
Wiſſenſchaft.
Ariſtoteles hat die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
vollendet. In dieſer ſuchte die Wiſſenſchaft das im Wechſel und der
Veränderung Gleichförmige, fand aber zunächſt dies Standhaltende
und darum der Erkenntniß Zugängliche in dem, was die All-
gemeinvorſtellung, der Begriff umfaßt. Dieſe Metaphyſik entſprach
einer Naturforſchung, welche in der Zerlegung vorzüglich auf
der Intelligenz entſprechende, gedankenmäßige Naturformen zurück-
ging; hiermit war die Erklärung ſolcher Naturformen aus pſychiſchen
Urſachen verbunden, welche von Gedanken geleitet gedacht wurden;
ein Beſtandtheil des mythiſchen Vorſtellens dauerte in dieſer
Annahme pſychiſcher Urſachen für den Naturlauf fort. Und zwar
wurde in Ariſtoteles dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
zum Mittel, die Wirklichkeit dem Erkennen zu unterwerfen, während
Plato in den wirklichen Objekten nur die gigantiſchen Schatten
ſah, welche die Ideen werfen. Platos Anſchauung einer unver-
änderlichen Ideenordnung ſetzt ſich bei Ariſtoteles um in die An-
ſchauung einer ungewordenen ewigen wirklichen Welt,
in welcher die Formen in unwandelbarer Gleichheit
mit ſich ſelber, auch inmitten des Wandels von Anlage,
Entfaltung und Untergang auf dieſer Erde, ſich erhalten.
So bezeichnet Ariſtoteles eine wichtige Stelle in der geſchichtlichen
Verkettung der Gedanken, welche die Entwicklung des europäiſchen
Denkens bildet.
Die wiſſenſchaftlichen Bedingungen.
Ariſtoteles denkt unter der Vorausſetzung, daß der
geiſtige Vorgang ſich des Seienden außer uns bemäch-
tige1); dieſer Standpunkt kann als Dogmatismus oder als Objek-
tivismus bezeichnet werden. Und zwar wird von Ariſtoteles die
[243]Vorausſ. d. Ariſt., daß d. geiſt. Vorgang ſich d. Seienden bemächtige.
Vorſtellung von der Erkenntniß des Gleichartigen durch Gleichartiges,
welche die Form dieſer Vorausſetzung für den unter dem Einfluß
ſeiner Naturreligion und Mythologie ſtehenden griechiſchen Geiſt
iſt, in einem abſchließenden Theorem entwickelt; daſſelbe hat auch
eine einflußreiche Schule der neueren Metaphyſik geleitet.
Von welcher Bedeutung der Satz, daß Gleichartiges nur durch
Gleichartiges erkannt werde, für das Nachdenken der älteren
griechiſchen Philoſophen war, hat Ariſtoteles ſelber hervorgehoben 1).
Nach Heraklit wird das Bewegte durch das Bewegte erkannt.
Von Empedocles erwähnt Ariſtoteles bei dieſer Gelegenheit folgende
Verſe:
Ebenſo ging Parmenides davon aus, daß Verwandtes das
Verwandte empfinde 2); Philolaus entwickelt, die Zahl füge die
Dinge harmoniſch der Seele. Und denſelben Satz, daß Gleiches
durch Gleiches erkannt werde, findet ſchließlich Ariſtoteles bei ſeinem
Lehrer Plato wieder 3).
Dieſe Entwicklung ſchließt Ariſtoteles durch das folgende
Theorem ab. Der Nus, die göttliche Vernunft, iſt das Prinzip,
der Zweck, durch welchen das Vernunftmäßige an den Dingen
wenigſtens mittelbar in jedem Punkte bedingt iſt, und ſo kann
durch die der göttlichen verwandte menſchliche Vernunft der
Kosmos, ſofern er vernünftig iſt, erkannt werden 4). Metaphyſik,
Vernunftwiſſenſchaft iſt vermöge dieſes Entſprechens möglich.
16*
[244]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Führte nun Plato den Vorgang, in welchem wir den ideellen
Gehalt des Kosmos gleichſam von ihm ableſen, vorzugsweiſe auf
den angeborenen Beſitz dieſes Gehaltes zurück und ließ gegen
dieſen urſprünglichen Beſitz den anderen Faktor des Vorgangs,
die Erfahrung, zurücktreten, ja grenzte ihren Antheil nirgend klar
ab: ſo erhalten hingegen bei Ariſtoteles äußere Wahrnehmung
und Erfahrung eine hervorragende und äußerlich feſte Stellung.
Das Theorem des Entſprechens erſtreckt ſich bei ihm auch auf
das Verhältniß der Wahrnehmung zu dem Wahrnehmbaren.
Sonach mußte er die nun entſtehende Schwierigkeit aufzulöſen
ſuchen, daß die menſchliche Vernunft den Grund des Wiſſens von
der Vernunftmäßigkeit des Kosmos in ſich trägt, jedoch dies
Wiſſen ſelber erſt durch die Erfahrung erwirbt. Er beſteht darauf,
daß wir nicht ein Wiſſen von den Ideen beſitzen können, ohne
ein Bewußtſein dieſes Wiſſens zu haben 1), und verſucht die ſo
auftretende Frage im Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik durch den
Begriff der Entwicklung zu löſen. In dem menſchlichen Denken
iſt vor dem Erkenntnißvorgang die Möglichkeit (Dynamis) des
unmittelbaren Wiſſens von den höchſten Prinzipien und ſie gelangt
in dem Erkenntnißvorgang ſelber zur Wirklichkeit 2). Die Aus-
führung dieſer erkenntniß-theoretiſchen Grundanſchauung, ſo tiefe
Blicke ſie enthält, vermag den von Plato im Dunkel gelaſſenen
Punkt, die Stellung der in der menſchlichen Vernunft (dem Nus)
gegebenen Bedingung der Erkenntniß zu der anderen in der Erfahrung
liegenden nicht zu erhellen. Der einzelne Sinn entſpricht den
Gegenſtänden einer einzelnen Gattung; das Wahrnehmungsfähige
iſt (gemäß dem obigen allgemeinen Löſungsverfahren) der Möglich-
keit nach ſo beſchaffen, wie es der Wahrnehmungsgegenſtand der
Wirklichkeit nach iſt 3); innerhalb ſeiner Objektsſphäre gewahrt
daher das geſunde Sinnesorgan das Wahre. Ja Ariſtoteles legt
[245]Was der geiſtige Vorgang am Kosmos auffaßt.
dar, daß wir alle überhaupt möglichen Sinne beſitzen 1), ſonach
die geſammte Realität auch durch unſere Sinne aufgefaßt wird,
und dieſe Ueberzeugung kann als der Schlußſtein ſeines objektiven
Realismus betrachtet werden. Wie das Sinnesorgan zum Wahr-
nehmbaren, ſo verhält ſich alsdann die Vernunft, der Nus, zum
Denkbaren. Dem entſprechend erfaßt auch die Vernunft die Prin-
zipien durch eine unmittelbare Anſchauung, welche jeden Irrthum
ausſchließt 2); ein ſolches Prinzip iſt das Denkgeſetz vom Wider-
ſpruch. Aber weder der Umfang der im Nus angelegten Prinzi-
pien der Erkenntniß noch die Stellung des von den Wahrnehmungen
zurückſchreitenden, induktiven Vorgangs zu den urſprünglichen im Nus
angelegten Begriffen und Axiomen gelangt ſchließlich zur Klarheit.
Dieſer objektive Standpunkt des Ariſtoteles repräſentirt die
natürliche Stellung der Intelligenz des Menſchen zum Kosmos.
Und zwar war es nun zweitens durch das Stadium, in welchem
zu der Zeit des Ariſtoteles die Wiſſenſchaft ſich befand, be-
dingt, was die Intelligenz an dem Kosmos damals erkannte.
Zwar hatte die Wiſſenſchaft des Kosmos von den Objekten die
Betrachtung der allgemeinen Beziehungen losgelöſt, welche zwiſchen
Zahlen, Raumgebilden herrſchen 3); dagegen beſtand noch kein von
den Objekten abſtrahirendes, abgeſondertes und in ſich zuſammen-
hängendes Studium anderer Eigenſchaften derſelben, wie etwa der
Bewegung, der Schwere oder des Lichtes. Die Schulen des Anaxa-
goras, Leukipp und Demokrit neigten ſich einer theilweiſe oder
ganz mechaniſchen Betrachtungsweiſe zu, doch haben auch ſie nur
höchſt unbeſtimmte, unzuſammenhängende und theilweiſe irrige
Vorſtellungen von Bewegung, Druck, Schwere etc. für ihre Er-
klärung des Kosmos angewandt, und wir erkannten hierin den
Grund, aus dem die mechaniſche Betrachtungsweiſe im Kampf mit
derjenigen unterlag, welche die Formen mit pſychiſchen Weſen-
[246]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
heiten in Beziehung ſetzte 1). Begegnen wir doch zuerſt bei Archi-
medes einigen angemeſſenen und beſtimmten Vorſtellungen über
Mechanik. Unter ſolchen Umſtänden überwog immer noch in der
griechiſchen Naturwiſſenſchaft die Betrachtung der Bewegungen der
Geſtirne, welche ſich in Folge der großen Entfernung derſelben
dem menſchlichen Geiſte von ſelber losgelöſt von den anderen
Eigenſchaften dieſer Körper darboten, alsdann die vergleichende
Betrachtung der intereſſanteren Objekte auf der Erde, und unter
dieſen zogen naturgemäß die organiſchen Körper beſonders die Auf-
merkſamkeit auf ſich.
Dieſem Stadium der poſitiven Wiſſenſchaften entſprach am
beſten eine Metaphyſik, welche die Formen der Wirklichkeit, wie
ſie ſich in Allgemeinvorſtellungen ausdrücken, und die Beziehungen
zwiſchen dieſen Formen in Begriffen darſtellte ſowie als meta-
phyſiſche Weſenheiten der Erklärung der Wirklichkeit zu
Grunde legte. Dagegen war die Atomiſtik dieſem Stadium weniger
angemeſſen. War ſie doch in jener Zeit ebenfalls nur ein meta-
phyſiſches Theorem, nicht eine Handhabe für Experiment und
Rechnung. Ihre Maſſentheilchen waren begrifflich feſtgeſtellte Sub-
jekte des Naturzuſammenhangs, und zwar erwieſen ſich dieſelben
als unfruchtbar für die Erklärung des Kosmos. Denn die Zwiſchen-
glieder zwiſchen ihnen und den Naturformen fehlten: angemeſſene
und beſtimmte Vorſtellungen über Bewegung, Schwere, Druck etc.
ſowie zuſammenhängende Entwicklung ſolcher Vorſtellungen in
abſtrakten Wiſſenſchaften.
Der Herrſchergeiſt des Ariſtoteles, durch welchen er ſich zwei
Jahrtauſende unterwarf, lag nun darin, wie er dieſe dargelegten
wiſſenſchaftlichen Bedingungen verknüpfte, wie er demnach die
natürliche Stellung der Intelligenz zum Kosmos in ein
Syſtem brachte, das jeder Anforderung genügte, die innerhalb
dieſes Stadiums der Wiſſenſchaften gemacht werden konnte.
Er war aller poſitiven Wiſſenſchaften ſeiner Zeit mächtig (von der
Mathematik wiſſen wir es am wenigſten); in den meiſten derſelben
[247]Die hierdurch bedingte Bedeutung der ariſtoteliſchen Metaphyſik.
war er bahnbrechend. In Folge hiervon verkürzte er ihre
Vorausſetzungen an keinem Punkte, ſo daß es erforderlich geweſen
wäre, über ſeine metaphyſiſche Grundlegung hinauszugehen; der
Wahrnehmung wahrte er ihr Recht; er erkannte im Werden, der
Bewegung, der Veränderung und dem Vielen Wirklichkeit, die
nicht durch unfruchtbares Raiſonnement geleugnet, ſondern erklärt
werden muß; ihm hatte das Einzelding, das Einzelweſen die
vollſte Realität, die uns gegeben iſt. So kommt es, daß ſeine
einzelnen Gedankenwendungen der Diskuſſion in den folgenden
Jahrhunderten unterlagen, daß aber die Grundlagen ſeines Syſtems
feſtſtanden, ſo lange das bezeichnete Stadium der Wiſſenſchaften fort-
dauerte. Während dieſer ganzen Zeit hat man ſeine Metaphyſik zwar
erweitert, aber ihre vorhandenen Vorausſetzungen aufrecht erhalten.
Die Sonderung der Logik von der Metaphyſik und
ihre Beziehung auf dieſelbe.
Unter dieſen Vorausſetzungen entſtand als abgeſonderte Wiſſen-
ſchaft Metaphyſik, die Königin der Wiſſenſchaften. Die Leiſtung
des Ariſtoteles, welche dies zunächſt ermöglichte, war die abge-
ſonderte Behandlung der Logik. Ariſtoteles hat den denknoth-
wendigen Zuſammenhang, welchen die Erkenntniß bildet, einer
theoretiſchen Betrachtung unterworfen. Er ſtellte eine erſte Theorie
der Formen und Geſetze der wiſſenſchaftlichen Beweisführung auf.
Wir knüpfen an die Darlegung über die beiden Klaſſen der
unmittelbaren Wahrheiten: Wahrnehmungen und Prinzipien
an. Zwiſchen beiden bewegt ſich alle andere Erkenntniß, als ver-
mitteltes Wiſſen. Denn jeder wiſſenſchaftliche Schluß führt
vermittelſt ſeiner Prämiſſen ſchließlich auf ein unmittelbar Gewiſſes,
und ein ſolches iſt entweder die Wahrnehmung als das für uns
Erſte oder die unmittelbare Vernunftanſchauung als das an ſich
Erſte. Mit dem Hinweis auf die letztere als den tiefſten Grund
des vermittelnden Denkens oder des Raiſonnements ſchließt die
ariſtoteliſche Analytik 1).
[248]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die weltgeſchichtliche Bedeutung der ariſtoteliſchen
Logik liegt nun darin, daß in ihr die Formen dieſes vermittelnden
Denkens zuerſt in folgerechter Vollſtändigkeit abgelöſt betrachtet
wurden, und zwar mit einem logiſchen Verſtande erſten Ranges. So
entſtand die Schlußlehre 1). Für jene Zeit bot dieſe Logik zunächſt
einen Schlüſſel zur Auflöſung der Streitſätze der Sophiſten und
beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die
Periode der Sophiſten, des Socrates, Antiſthenes, ſowie der Megariker
erfüllt hatte. Alsdann enthielt dieſelbe die Hilfsmittel für die formale
Durchbildung der Einzelwiſſenſchaften. Wie die Mathematik dem
Ariſtoteles das bedeutendſte Beiſpiel logiſcher Entwicklungen in
jener Zeit darbieten mußte, ſo hat ſein logiſches Geſetzbuch auch
wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wiſſen-
ſchaft die einfach ſtrenge, muſtergiltige Form zu geben, welche
das Elementarwerk des Euklid zeigt, und dieſe Form iſt dann
das Vorbild mathematiſcher Entwicklungen für alle Folgezeit ge-
worden 2).
Die Grenzen der ariſtoteliſchen Logik waren durch die
zu enge Beziehung derſelben zu der Metaphyſik bedingt. In
Bezug auf das Einfache iſt Wahrheit ein Erfaſſen in Ge-
danken, eine Art von Berührung (ϑιγγάνειν), wie dieſelbe die
letzte Vorausſetzung dieſes griechiſchen Objektivismus bildet; in
Bezug auf das Zuſammengeſetzte iſt Wahrheit diejenige Zuſammen-
fügung im Denken, welche der im Seienden entſprechend iſt, Irr-
thum aber iſt die andere, welche ihr widerſpricht 3). Sonach haben
wir das Verhältniß der Korreſpondenz auch auf das Gebiet
des vermittelnden Denkens auszudehnen; die Formen dieſes
Denkens und die Beziehungen im Seienden entſprechen einander.
1)
[249]Die Sonderung d. Logik v. d. Metaphyſik u. ihre Beziehung auf dieſelbe.
So iſt der Begriff der Ausdruck des Weſens; ſo verknüpft das
wahre bejahende Urtheil, was in den Dingen verknüpft iſt, und
das entſprechende verneinende trennt, was in ihnen getrennt
iſt; ſo entſpricht der Mittelbegriff in dem vollkommenen Zuſammen-
hang des ſyllogiſtiſchen Schluſſes der Urſache in dem Zuſammen-
hang der Wirklichkeit. Und wie man endlich die Stellung der
Arten der Ausſage über das Seiende (γένη τῶν κατηγοϱιῶν), der
Kategorierr, zu dem Denkzuſammenhang bei Ariſtoteles auffaſſe:
dieſe Kategorien entſprechen ebenfalls Formen des Seins 1).
Und zwar behält dieſe Faſſung des Verhältniſſes, wie wir ſie
bei Ariſtoteles finden, ſo lange ihre Berechtigung und ihre Macht,
als die logiſchen Formen, welche das diskurſive Denken bietet,
nicht aufgelöſt und die Beziehungen zwiſchen dem Denken und
ſeinem Gegenſtand nicht hinter das fertige Objekt zurückverfolgt
werden. Auch in dieſem Punkte erweiſt ſich Ariſtoteles als ein
Metaphyſiker, welcher bei den Formen der Wirklichkeit ſtehen
bleibt. Seine Zergliederung der Wiſſenſchaft verbleibt innerhalb
der Zerlegung von Formen in Formen und zeigt ſo dieſelbe
Grenze wie die aſtronomiſche Zergliederung des Weltgebäudes durch
die Alten. Was die Rede, das diskurſive Denken als Zuſammenhang
darbietet, wird in eine Beziehung von Formen zu einander aufgelöſt,
und dieſe werden zu den Formen der Wirklichkeit in das Ver-
hältniß des Abbildens geſetzt. Schleiermacher mit ſeiner Theorie
der Korreſpondenz, Trendelenburg, Ueberweg haben, welches auch
im Einzelnen die Verſchiedenheiten von Ariſtoteles ſind, dieſen ob-
jektiviſtiſchen Standpunkt feſtgehalten.
Der Begriff des Entſprechens, der Korreſpondenz
zwiſchen Wahrnehmung und Denken einerſeits, Wirklichkeit und Sein
andrerſeits, auf welchen hiernach die ganze Grundlegung dieſes
natürlichen Syſtems zurückgeht, iſt vollſtändig dunkel. Wie
ein Gedachtes einem draußen wirklich Exiſtirenden entſprechen könne,
davon kann ſich Niemand eine Vorſtellung machen. Was Aehn-
[250]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
lichkeit in mathematiſchem Verſtande ſei, kann definirt werden;
hier wird aber eine Aehnlichkeit behauptet, die ganz unbeſtimmt
iſt. Ja man kann ſagen, beſtänden nicht die Phänomene von
Abſpiegelung in der Natur ſowie von Nachbildung in der Kunſt
des Menſchen: eine ſolche Vorſtellung hätte kaum entſtehen können.
Der nähere Zuſammenhang des logiſchen Denkens, wie ihn
die Lehre des Ariſtoteles von Schluß und Beweis entwickelt, iſt
ein Gegenbild des von ihm angenommenen metaphyſiſchen Zu-
ſammenhangs. Dies ergiebt ſich aus der angegebenen Vorſtellung
von Entſprechen. Sigwart ſagt zutreffend: „Indem Ariſtoteles
ein objektives Begriffsſyſtem vorausſetzt, das ſich in der realen
Welt verwirklicht, ſo daß der Begriff überall als das das Weſen
der Dinge Konſtituirende und als die Urſache ihrer einzelnen Be-
ſtimmungen erſcheint, ſtellen ſich ihm alle Urtheile, die ein wahres
Wiſſen enthalten, als Ausdruck der nothwendigen Begriffsverhält-
niſſe dar, und der Syllogismus iſt dazu da, die ganze Macht und
Tragweite jedes einzelnen Begriffs der Erkenntniß zu offenbaren, in-
dem er die einzelnen Urtheile verknüpft und durch die begriffliche
Einheit von einander abhängig macht; und der ſprachliche Ausdruck
dieſer Begriffsverhältniſſe ergiebt ſich daraus, daß ſie immer zu-
gleich als das Weſen des einzelnen Seienden erſcheinen, dieſes alſo in
ſeiner begrifflichen Beſtimmtheit das eigentliche Subjekt des Urtheilens
iſt, das Verhältniß der Begriffe alſo in dem allgemeinen oder
partikularen, bejahenden oder verneinenden Urtheil zu Tage tritt 1).“
Hieraus ergeben ſich die Stellung des kategoriſchen Urtheils, die
Bedeutung der erſten Figur und die Zurückführung der anderen
Figuren auf dieſelbe, die Stellung des Mittelbegriffs, welcher der
Urſache entſprechen ſoll: kurz die Haupteigenthümlichkeiten der
ariſtoteliſchen Analytik.
Sonach ſtand die Syllogiſtik des Ariſtoteles ſo lange feſt,
als die Vorausſetzung eines objektiven, im Kosmos realiſirten
Begriffsſyſtems feſtgehalten wurde. Seitdem die Logik dieſe Vor-
ausſetzung aufgab, bedurfte ſie einer neuen Grundlegung. Und
[251]Aufſtellung einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft der Metaphyſik.
wenn ſie trotzdem die logiſche Formenlehre des Ariſtoteles feſtzu-
halten bemüht war, ſuchte ſie den Schatten von etwas zu ſchützen,
deſſen Weſen dahin war 1).
Aufſtellung einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft der
Metaphyſik.
So hat Ariſtoteles zuerſt den logiſchen Zuſammenhang in
dem Denkenden für ſich betrachtet, abgeſondert von dem realen
Zuſammenhang in der Wirklichkeit, aber in Beziehung auf ihn;
dem entſprechend hat er klarer den Begriff des Grundes von dem
der Urſache 2) geſchieden: er hat von der Logik die Metaphyſik
abgetrennt. Dieſe Sonderung war ein wichtiger Fortſchritt inner-
halb des natürlichen Syſtems, ſonach in den Schranken des
Objektivismus, verglichen mit der früheren Einheit von Meta-
phyſik und Logik. Auch wird die Bedeutung dieſer Sonderung
für das Stadium, welches wir darſtellen, dadurch nicht gemindert,
daß dieſe Selbſtändigkeit der Metaphyſik auf dem kritiſchen Stand-
punkt in Frage geſtellt werden wird, weil der reale Zuſammen-
hang ja nur in dem Bewußtſein, für und durch daſſelbe vorhanden
und jeder Beſtandtheil dieſes Zuſammenhangs, welchen die Meta-
phyſik analyſirt, wie die Subſtanz, das Quantum, die Zeit nur
Thatſache des Bewußtſeins iſt.
Und wie Ariſtoteles ſeine erſte Philoſophie von der Logik
ſchied, ſo trennte er dieſelbe andrerſeits von der Mathe-
matik und Phyſik. Die Einzelwiſſenſchaften, wie die Mathe-
matik, haben beſondere Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenſtande,
die erſte Philoſophie aber die gemeinſamen Beſtimmungen des
Seienden. Die Einzelwiſſenſchaften gehen in der Feſtſtellung der
Gründe nur bis zu einem gewiſſen Punkte zurück, die Metaphyſik
[252]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
aber bis zu den im Erkenntnißvorgang nicht weiter bedingten
Gründen. Sie iſt die Wiſſenſchaft der allgemeinen und unver-
änderlichen Prinzipien1). Und zwar geht Ariſtoteles von dem
im Kosmos Gegebenen rückwärts zu den Prinzipien. Wenn auch
die Rückverweiſungen auf die phyſiſchen Schriften nichts beweiſen,
ſo wird dieſer Zuſammenhang doch daraus deutlich, daß die
Metaphyſik die Aufzeigung der erſten Urſachen von der Phyſik
empfängt und ſelber zunächſt nur durch eine hiſtoriſch-kritiſche
Muſterung die Vollſtändigkeit der in der Phyſik gefundenen
Prinzipien beſtätigt 2). — In erſter Linie folgert dieſer Zuſammen-
hang aus der Anerkennung und Betrachtung der Bewegung.
„Uns aber ſtehe der Grundſatz feſt, daß das von Natur
Exiſtirende, alles oder doch einiges in Bewegung iſt; und zwar
iſt dies durch Schluß aus der Erfahrung klar 3).“ Die eleatiſche
Leugnung der Bewegung iſt dem entſprechend für Ariſtoteles,
welcher in der Aufgabe der Erklärung der Natur lebt, nur die
unfruchtbare Negation aller Wiſſenſchaft des Kosmos. Von den
ſtätigen und vollkommenen Bewegungen der Geſtirne, von dem
Spiele der Veränderungen unter dem Monde geht die Erkennt-
niß zu den erſten Urſachen zurück, welche zugleich die erſten
Erklärungsgründe enthalten. So wird der reale Zuſammenhang
des Kosmos, welcher Gegenſtand der ſtrengen Wiſſenſchaft iſt,
durch eine Analyſe erkannt, die von ihm, als dem uns gegebenen
Zuſammengeſetzten, auf die Prinzipien zurückſchließt, als auf die
wahren Subjekte des Naturzuſammenhangs 4).
Auf der ſelbſtändigen metaphyſiſchen Wiſſenſchaft beruhte, ſo
lange eine erkenntnißtheoretiſche Grundlegung nicht beſtand, zur
einen Hälfte die Möglichkeit, die poſitiven Wiſſenſchaften einer
formalen Vollendung entgegenzuführen, wie ſie zur anderen in
[253]Der metaphyſiſche Zuſammenhang der Welt.
der logiſchen Selbſtbeſinnung begründet war. So iſt die Meta-
phyſik die nothwendige Grundlage der Wiſſenſchaften des Kosmos
geworden und ſie zuerſt hat ihnen verſtandesmäßig präparirte
Grundbegriffe geliehen. In dem Inneren dieſer Metaphyſik be-
reitete ſich alsdann der kritiſche Standpunkt vor; denn erſt die
verſtandesmäßige Zergliederung der allgemeinen Beſtandtheile des
Wirklichen ermöglichte, in ihnen Bewußtſeinsthatſachen aufzufaſſen.
In ihrem Schooße hat ſich auch vorbereitet, was die Erkenntniß-
theorie vielleicht über Kant hinausführen kann. Denn wenn die
Unmöglichkeit ſich herausſtellen ſollte, dieſen Beſtandtheilen der
Wirklichkeit eine logiſch klare Form zu geben, dann öffnete ſich
unſerer geſchichtlichen und pſychologiſchen Betrachtung der Blick in
einen Urſprung derſelben, welcher nicht in dem abſtrakten Verſtande
liegen könnte.
Der metaphyſiſche Zuſammenhang der Welt.
Dieſe metaphyſiſche Analyſis vollbringt als erſte große
Leiſtung die Auffindung und gedankenmäßige Darſtellung der
allgemeinen Beſtandtheile der Wirklichkeit, wie dieſelben der Unter-
ſuchung des Ariſtoteles ſich ergaben. Solche Elemente oder
Prinzipien, welche im realen Zuſammenhang des Kosmos überall
wiedergefunden werden, bieten ſich dem gewöhnlichen Vorſtellen
ſchon in der Realität, dem Ding und ſeinen Eigenſchaften, dem
Wirken und Leiden dar. Ariſtoteles hat dieſe allgemeinen Be-
ſtandtheile, welche in den Kosmos verwebt ſind, zuerſt iſolirt und
wie einfache Körper darzuſtellen verſucht. Wir ſind hier nicht
genöthigt, das ſehr dunkle und ſchwierige Verhältniß zu unter-
ſuchen, in welchem die von ihm aufgefundenen Kategorien zu
ſeinen metaphyſiſchen Prinzipien ſtehen; uns genügt der klare
Thatbeſtand ſeiner Ergebniſſe.
Das tragiſche Schickſal dieſer großen und immer fortgehenden
Arbeit der Metaphyſik, welche unabläſſig darauf gerichtet iſt, die
allgemeinen Beſtandtheile der Wirklichkeit ſo zu entwickeln, daß
eine reale und objektive Erkenntniß des Weltzuſammenhangs mög-
lich ſei, beginnt, ſich nunmehr Akt auf Akt vor uns zu enthüllen!
[254]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Bewegung und Ruhe, Ding
und Eigenſchaft, Urſache und Wirkung, Form und Materie: dies
ſind alles allgemeine Beſtandtheile, welche wir an jedem Punkte
der Außenwelt antreffen und die alſo in unſerem Bewußtſein
von äußerer Wirklichkeit überhaupt enthalten ſind. Un-
abhängig von dem Unterſchied philoſophiſcher Standpunkte ergiebt
ſich nun hieraus die Frage: wird die Klarheit über dieſe
Elemente, iſolirt von der Unterſuchung des Bewußt-
ſeins und der in ihm gegebenen allgemeinen Bedingungen aller
Wirklichkeit, erreicht werden können? Der Verlauf der Geſchichte
der Metaphyſik ſelber mag allmählich auf dieſe Frage antworten.
Zunächſt ſtellen ſich einer ſolchen Erwägung die einfachen Begriffe
von Sein und Subſtanz dar.
1. Die metaphyſiſche Analyſis des Ariſtoteles findet überall
Subſtanzen mit ihren Zuſtänden, die in Beziehungen zu einander
ſtehen 1); hier ſind wir im Mittelpunkt der metaphyſiſchen Schriften
des Ariſtoteles.
„Eine Wiſſenſchaft exiſtirt, welche das Seiende als Seien-
des (τὸ ὂν ᾗ ὄν) und deſſen grundweſentliche Eigenſchaften unter-
ſucht. Sie iſt nicht mit irgend einer der Fachwiſſenſchaften iden-
tiſch; denn keine von dieſen anderen Wiſſenſchaften ſtellt im allge-
meinen Unterſuchungen über das Seiende als Seiendes an, ſondern
indem ſie einen Theil deſſelben abſchneiden, unterſuchen ſie deſſen
beſondere Beſchaffenheit 2).“ Die Mathematik hat das Seiende als
Zahl, Linie oder Fläche, die Phyſik als Bewegung, Element zum
Gegenſtande; die erſte Philoſophie betrachtet es, wie es überall
daſſelbe iſt: das Seiende als ſolches.
Nun wird dieſer Begriff des Seienden (des Gegenſtandes
der Metaphyſik) in mehrfacher Bedeutung gebraucht; die Sub-
ſtanz (οὐσία) wird ſo gut mit dieſem Namen bezeichnet wie die
Qualität einer ſolchen. Immer aber ſteht der Begriff des Seienden
[255]Die Analyſis des Subſtanzbegriffs bei Ariſtoteles.
zu dem der Subſtanz in Beziehung 1). Denn was außer der
Subſtanz als ſeiend bezeichnet werden kann, iſt dies, weil es
einer ſolchen und zwar einer Einzelſubſtanz zukommt. Daher iſt
die erſte Bedeutung, in welcher von einem Seienden die Rede iſt,
die von Einzelſubſtanz: alles Uebrige wird darum als ſeiend be-
zeichnet, weil es die Quantität, Qualität oder Eigenſchaft etc. eines
ſolchen Seienden iſt 2).
Die Metaphyſik iſt ſonach in erſter Linie die Wiſſen-
ſchaft von den Subſtanzen, und es wird ſich zeigen, daß
der höchſte Punkt, welchen ſie erreicht, Erkenntniß der göttlichen
Subſtanz iſt. Nur in uneigentlichem Sinne darf man ſagen, daß
ſie das Seiende in ſeinen weiteren Bedeutungen zum
Gegenſtande habe, mag es als Qualitatives, Quantitatives oder
als andere prädikative Beſtimmung auftreten 3). Näher unter-
ſcheiden ſich die folgenden einfachen Beſtandtheile der Ausſage
und der ihr entſprechenden Wirklichkeit: die Subſtanz iſt ein
meßbares Quantum von eigenſchaftlicher Beſtimmtheit ſowie in Re-
lation ſtehend, und zwar in den Verhältniſſen von Ort und Zeit,
Thun und Leiden 4). So bildet die Subſtanz den Mittelpunkt
der Metaphyſik des Ariſtoteles, wie ſie ihn in der Metaphyſik
der Atomiker und Platos gebildet hatte. Erſt mit dem Auftreten
der beſonderen Erfahrungswiſſenſchaften tritt der Begriff der
Kauſalität in den Vordergrund, welcher mit dem Begriff des
Geſetzes in Beziehung ſteht. Kann nun die Metaphyſik des
Ariſtoteles dieſen ihren Grundbegriff der Subſtanz zu verſtandes-
mäßiger Klarheit bringen?
Eine Definition, welche in dem platoniſchen Sophiſtes
erwähnt wird 5), beſtimmt das Wahrhaft-Seiende (ὄντως ὄν)
[256]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
als das, was das Vermögen zu wirken und zu leiden
beſitzt, und nach anderen hat Leibniz dieſe Definition wieder auf-
genommen 2). Dieſelbe führt den Begriff der Subſtanz in den der
Kraft, der urſächlichen Beziehung zurück und löſt ihn in dieſen auf.
Eine ſolche Begriffsbeſtimmung konnte ſich in dem ſpäteren Stadium,
in dem Leibniz auftrat, nützlich erweiſen, um der Subſtanzvor-
ſtellung einen Begriff von größerer Verwerthbarkeit für die natur-
wiſſenſchaftliche Betrachtung zu ſubſtituiren. Aber ſie drückt nicht
das aus, was in dem Thatbeſtand des Dinges von uns vorge-
ſtellt iſt und was folgerecht die dem Erkennen dienende Unter-
ſcheidung der Subſtanz und des ihr Inhärirenden abgrenzen
will. Der realiſtiſche Geiſt des Ariſtoteles war bemüht, dies
direkt zu bezeichnen.
Ariſtoteles beſtimmt einerſeits, was wir in dem realen
Zuſammenhang der Wirklichkeit unter Subſtanz uns vorſtellen.
Sie iſt das, was nicht Accidens von einem Anderen iſt, von
dem vielmehr Anderes Accidens iſt; wo von der Einzel-
ſubſtanz und ihrem Subſtratum die Rede iſt, drückt dies Ariſtoteles
durch eine bildliche, räumliche Vorſtellung aus. Er ſtellt andrer-
ſeits feſt, was wir in dem Denkzuſammenhang unter Subſtanz
vorſtellen. In dieſem iſt die Subſtanz Subjekt; ſie bezeichnet
das, was im Urtheil Träger von prädikativen Beſtimmungen
iſt; daher werden alle anderen Formen der Ausſage (Kategorien)
von der Subſtanz prädicirt 3).
Verknüpft man dieſe letztere Beſtimmung mit den früheren:
ſo ſucht Ariſtoteles in der Metaphyſik das Subjekt oder die
Subjekte für alle Eigenſchaften und Veränderungen, die uns am
Kosmos entgegentreten. Dies iſt die Beſchaffenheit aller meta-
phyſiſchen Geiſtesrichtung: dieſelbe iſt nicht auf den Zuſammen-
hang gerichtet, in welchem Zuſtände und Veränderungen mit ein-
ander verbunden ſind, ſondern geht geradenweges auf das da-
hinterliegende Subjekt oder die dahinter liegenden Subjekte.
[257]Die Analyſis der Kauſalität bei Ariſtoteles.
Aber die Metaphyſik des Ariſtoteles arbeitet, indem ſie das
objektive Verhältniß der Subſtanz zum Accidens erkennen will, wie
es an dieſen Subjekten beſteht, mit Beziehungen, welche ſie nicht auf-
zuhellen vermag. Was heißt in ſich, in einem Anderen ſein? Die
Subſtanz im Gegenſatz zum Accidens wird noch von Spinoza durch
das Merkmal von in se esse ausgedrückt; das Accidens iſt in der
Subſtanz. Dieſe räumliche Vorſtellung iſt nur ein Bild. Was mit
dem Bilde gemeint ſei, iſt nicht, wie Gleichheit oder Verſchiedenheit,
dem Verſtande durchſichtig und kann an keiner äußeren Erfahrung
aufgezeigt werden. In Wirklichkeit iſt dieſes In-ſich-ſein in der
Erfahrung der Selbſtändigkeit, im Selbſtbewußtſein gegeben, und
wir verſtehen es, weil wir es erleben. Und kann wohl weiter,
ohne daß hinter die logiſche Form der Verknüpfung von Subjekt
und Prädikat zurückgegangen wird, das Verhältniß dieſes meta-
phyſiſchen zu dem logiſchen Ausdruck der in der Subſtanz gelegenen
Beziehung aufgehellt werden?
In dem vorliegenden Zuſammenhang hat der verſchiedene
Sinn kein Intereſſe, in welchem ſich Ariſtoteles dann im Einzelnen
des Ausdrucks Subſtanz bedient; derſelbe entſpringt daraus, daß
Ariſtoteles von den verſchiedenen Subjekten, auf welche ſeine Meta-
phyſik zurückgeht, ſpricht: von Materie als Grundlage (ὑποκείμε-
νον), von dem Weſen, das dem Begriff entſpricht (ἡ κατὰ τὸν
λόγον οὐσία), von dem Einzelding (τόδε τι). Insbeſondere an das
Einzelding als die erſte Subſtanz lehnen ſich Beſtimmungen 1), die
ſo unvollkommen durchgebildet ſind, daß wir von ihnen abſehen.
Unter den anderen Klaſſenbegriffen der Ausſage, den Kate-
gorien, haben Thun und Leiden für die Metaphyſik die größte
Bedeutung. Der Begriff der Kauſalität tritt in der neueren
Metaphyſik neben den der Subſtanz, ja das Streben beſteht, die
Subſtanz in die Kraft aufzulöſen. Es iſt bezeichnend für die
Metaphyſik der Alten, daß die Unterſuchung der in dieſem Begriff
gelegenen Probleme noch zurücktritt; die Subſtanzen, ihre Be-
wegungen im Raume, die Formen bilden den Geſichtskreis ihrer
Dilthey, Einleitung. 17
[258]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Phyſik und ſonach ihrer Metaphyſik; Thun und Leiden werden
in dieſem Zuſammenhang der anſchaulich klaren Vorſtellung der
Bewegung untergeordnet 1). Und zwar führt in dem Zuſammen-
hang der Welterklärung die Thatſache der Bewegung an den Sub-
ſtanzen zurück in die letzten erklärenden Begriffe des ariſtoteliſchen
Syſtems, welche in demſelben eine gründliche Kauſalvorſtellung
und die Erkenntniß der Geſetze der Bewegung, der Veränderung
erſetzen müſſen; hier wird uns ſpäter der die Zergliederung der
Wirklichkeit abſchließende, aber unhaltbare Begriff von Vermögen
(δύναμις) begegnen. — Im Einzelnen ſah dann Ariſtoteles wol
die Schwierigkeit, den Unterſchied von Thun und Leiden durchweg
feſtzuhalten; ſo iſt die Wahrnehmung ein Leiden, und dennoch
verwirklicht der Geſichtsſinn thätig im Sehen ſeine Natur 2). Auch
bemerkt er die andere Schwierigkeit, Einwirkung des Wirkenden
auf das Leidende vorſtellig zu machen, aber wie unzureichend iſt
doch die von ihm gefundene Löſung, daß auf dem Boden des
Gemeinſamen das Verſchiedene aufeinander wirke und das Thätige
ſich das Leidende ähnlich mache 3).
2. So ringt Ariſtoteles vergeblich, Begriffe wie Subſtanz und
Urſache wirklich faßbar zu machen; die Schwierigkeiten aber häufen
ſich, indem er nunmehr die platoniſche Lehre von den ſubſtan-
ialen Formen zur Aufklärung des Weltzuſammenhangs benutzt.
Wol widerlegt er die Lehre Platos von der getrennten Exiſtenz
der Ideen ſiegreich; aber wird er ein anderes objektives Verhältniß
der Ideen zu den Dingen zur Klarheit bringen können?
Ariſtoteles erkennt der Einzelſubſtanz allein Wirklichkeit in
ſtrengem Verſtande zu. Aber mit dieſer Einſicht, welche dem
Naturforſcher, dem geſunden Empiriker in ihm entſpricht, iſt das,
was er von der Ideenlehre beibehält, auf dem Standpunkt des
natürlichen Syſtems der Metaphyſik nicht verträglich. — Auch er
[259]Neuer Verſ., d. Verhältn. d. ſubſtantialen Formen z. d. Dingen z. beſtimmen.
findet nur da Wiſſen, wo durch den allgemeinen Begriff er-
kannt wird; nur ſo weit die Fackel der allgemeinen Begriffe in die
Einzelſubſtanz hineinleuchtet, vermag dieſe erhellt zu werden. Der
allgemeine Begriff macht die Weſensbeſtimmung oder Form
des Dings ſichtbar; dieſe bildet ſeine Subſtanz in einem
ſekundären Sinne, ſo nämlich, wie ſie für den Verſtand da
iſt (ἡ κατὰ τὸν λόγον οὐσία). Der Grund dieſer Sätze über das
Wiſſen liegt in der Vorausſetzung, welche die Wurzel aller meta-
phyſiſchen Abſtraktion iſt; das unmittelbare Wiſſen und Erfahren,
in welchem das Einzelne für uns da iſt, wird für geringer und
unvollkommener gehalten, als der allgemeine Begriff oder Satz.
Dieſer Vorausſetzung entſpricht die metaphyſiſche Annahme: das
Werthvolle an den Einzelſubſtanzen und das dieſelben mit der Gottheit
Verknüpfende ſei das Gedankenmäßige in ihnen. — In dem Wider-
ſpruch zwiſchen dieſen Vorausſetzungen und der geſunden
Einſicht des Ariſtoteles über die Einzelſubſtanz zeigt ſich von
neuem die Unmöglichkeit, auf dem Standpunkt der Metaphyſik
das Verhältniß des Einzeldinges zu dem, was die allgemeinen
Begriffe als den Inhalt der Welt ausdrücken, zu beſtimmen. Das
einzelne Ding hat nach Ariſtoteles allein volle Realität, aber es
giebt nur von der allgemeinen Weſensbeſtimmung, an welcher es
theilnimmt, ein Wiſſen; hieraus ergeben ſich zwei Schwierigkeiten.
Es widerſpricht dem Grundgedanken von der Erkennbarkeit des
Kosmos, daß das an ihm wahrhaft Reale unerkennbar bleibt. So-
dann wird nach den allgemeinen Vorausſetzungen der Ideenlehre,
dem Wiſſen von den allgemeinen Weſensbeſtimmungen entſprechend,
eine Realität der Formen angenommen, und dieſe Annahme führt
nun zu dem halben und unglücklichen Begriff einer Subſtanz,
welche doch nicht die Wirklichkeit der Einzelſubſtanz hat. Kann
dieſe Verwirrung, welche in dem doppelten Sinne von Sein, von
Subſtanz liegt, gelöſt werden, bevor die Erkenntnißtheorie die
einfache Wahrheit entwickelt, daß die Art, in welcher das Denken
das Allgemeine ſetzt, keine Vergleichbarkeit hat mit der Art, wie
die Wahrnehmung die Wirklichkeit des Einzelnen erfährt? bevor
17*
[260]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
demnach die falſche, metaphyſiſche Beziehung durch eine haltbare,
erkenntnißtheoretiſche erſetzt wird 1)?
Innerhalb der Einzelwiſſenſchaften hat dieſe Metaphyſik der
ſubſtantialen Formen noch auffälligere Konſequenzen. Die mit ihr
verbundene Wiſſenſchaft verzichtet auf die Erkenntniß des
Veränderlichen an ihrem Gegenſtande, denn ſie faßt nur
die bleibenden Formen auf. Sie giebt die Erkenntniß des Zu-
fälligen auf, denn ſie iſt allein auf die Weſensbeſtimmungen
gerichtet. Wenige Minuten nur fehlten Kepler, um welche ſeine
Berechnung des Mars von der Beobachtung abwich, aber ſie
ließen ihn nicht ruhen und wurden der Antrieb ſeiner großen
Entdeckung. Dieſe Metaphyſik dagegen ſchob den ganzen ihr uner-
klärbaren Reſt, wie ſie ihn an den veränderlichen Erſcheinungen
zurückließ, in die Materie. So erklärte Ariſtoteles ausdrücklich,
daß die individuellen Verſchiedenheiten innerhalb einer Art, wie
die Farbe der Augen, die Höhe der Stimme für die Erklärung
aus dem Zwecke gleichgiltig ſeien: ſie wurden den Einwirkungen
des Stoffes zugewieſen 2). Erſt als man die Abweichungen vom
Typus, die Zwiſchenglieder zwiſchen einem Typus und einem
anderen, die Veränderungen in die Rechnung aufnahm, durchbrach
die Wiſſenſchaft dieſe Schranken der ariſtoteliſchen Metaphyſik, und
die Erkenntniß durch das Geſetz des Veränderlichen ſowie durch
die Entwicklungsgeſchichte trat hervor.
3. Indem Ariſtoteles ſo die Realität der Ideen in die wirkliche
Welt verlegte, entſtand die Zerlegung dieſer Wirklichkeit in die
vier Prinzipien: Stoff, Form, Zweck und wirkende Urſache, und
es traten als die letzten und die Zergliederung der Wirklichkeit
abſchließenden Begriffe ſeines Syſtems die von Dynamis (Ver-
mögen) und Energie hervor.
Das Denken hebt am Kosmos als das Unveränderliche
[261]Verhältniß von Bewegung, Zweck und Materie.
die Form heraus, die Tochter der platoniſchen Idee. Dieſe
enthält das Weſen der Einzelſubſtanzen in ſich. Da die unver-
änderlichen Formen in dem Entſtehen und Vergehen enthalten ſind,
ihr Wechſel aber einen Träger fordert, ſondern wir an dem
Kosmos als ein zweites ihn konſtituirendes Prinzip die Materie
ab. In dem Naturlauf iſt dann die Form ſowohl der Zweck,
deſſen Realiſation derſelbe zuſtrebt, als die bewegende Ur-
ſache, welche von innen aus das Ding, gleichſam als ſeine Seele 1),
in Bewegung ſetzt oder von außen ſeine Bewegung bewirkt. So-
nach leitet dieſe Betrachtungsweiſe das, was im Naturlauf auf-
tritt, nicht aus ſeinen Bedingungen in dieſem ab, welche nach
Geſetzen zuſammenwirken, ſondern an die Stelle eines Zuſammen-
wirkens von Urſachen tritt der Begriff der Dynamis, des Ver-
mögens, und ihm entſpricht der Begriff der zweckmäßigen Wirk-
lichkeit oder Energie.
In dieſen Begriffen beſteht der Zuſammenhang der Wiſſen-
ſchaft des Ariſtoteles, ſie werden ſchon in den erſten Büchern der
Metaphyſik als die Mittel der Naturauffaſſung entwickelt und
führen durch das Bewegungsſyſtem des Kosmos bis zum unbe-
wegten Beweger. Denn dies iſt die Seele der ariſtoteliſchen
Naturauffaſſung: nicht die Sonderung von bewegender Urſache,
Zweck und Form — dieſelbe iſt nur analytiſches Hilfsmittel —, viel-
mehr die Ineinsſetzung des Zweckes, welcher Form iſt, mit der
bewegenden Urſache ſowie die Sonderung dieſes dreifach-einen
realen Faktors von dem realen, wenn auch im Kosmos nicht
iſolirt vorkommenden Faktor: der Materie. Und hier entſcheidet
ſich auch der Charakter ſeiner Naturwiſſenſchaft. Im neueren
Denken iſt das Studium der Bewegungen losgelöſt von der Auf-
faſſung des Zweckes; die Bewegung wird durch ihr allein eigene
Elemente beſtimmt; ſo iſt die Konſequenz der neueren Naturauf-
faſſung, daß ſie, wenn ſie von der metaphyſiſchen Verwerthung
der Ideen nicht laſſen will, dieſelbe von der mechaniſchen Betrach-
tungsweiſe ſcheidet, wie Leibniz gethan hat. Bei Ariſtoteles da-
gegen verbleibt der Begriff der Bewegung an die Formen des
[262]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Kosmos gebunden; er wird von ihnen nicht wirklich losgelöſt,
ſo wenig, wie die Analyſis des Denkens in der Logik des Ariſto-
teles hinter die Formen deſſelben zurückgeht. So entſpringt ſeine
Unterſcheidung der vollkommenen, in ſich zurückkehrenden Kreis-
bewegung von einer gradlinigen, welche in ihrem Endpunkt erliſcht.
Dieſer Auffaſſung iſt das Gedankenmäßige der Kreisbewegung ein
Urſprüngliches, ja in der Gottheit unmittelbar Bedingtes. Sie hat
den verhängnißvollen Gegenſatz der Naturformen unter dem Monde
von denen jenſeit deſſelben begründet, und ſo lange er die Ge-
müther beherrſchte, beſtand keine Möglichkeit einer Mechanik des
Himmels. Dies iſt das Bezeichnende gerade der erfolgreichen
Richtungen des griechiſchen Naturſtudiums: es bleibt an die An-
ſchauung mathematiſcher Schönheit und innerer Zweckmäßigkeit in den
kosmiſchen Formen gebunden. Zwar zerlegt es die zuſammengeſetzten
Formen der Bewegung in einfachere, aber in dieſen einfacheren
bleibt der zweckmäßige, äſthetiſche Charakter der Form erhalten.
So will Ariſtoteles zwar die Bewegung im Weltall (welcher
er in ächt griechiſchem Geiſte auch die qualitative Veränderung
einordnet) auf ihre Urſachen zurückführen; da aber alle bewegende
Kraft ihm zweckmäßige Aktion iſt, welche die Form realiſirt, ja
ihm in der Form die Urſache der Bewegung liegt: ſo iſt immer
nur die in der Form enthaltene Kraft, welche Entwicklung her-
vorbringt, Urſache einer ihr gleichartigen Form. Daher iſt dieſe
Erklärung in einen Zauberkreis gebannt, innerhalb deſſen die
Formen immer ſchon da ſind, um deren Erklärung es ſich
eigentlich handelt: ſie ſind die Kräfte, welche das Leben im
Weltall hervorbringen: ſie führen folgerichtig auf eine erſte, be-
wegende Kraft zurück.
Metaphyſik und Naturwiſſenſchaft.
Die Leiſtungen einer ſolchen Naturerklärung ſind durch dieſen
ihren Charakter beſtimmt. Wie die platoniſche Schule ein Mittel-
punkt für mathematiſche Forſchung war, ſo wurde es nun die
ariſtoteliſche für die beſchreibenden und vergleichenden
Wiſſenſchaften. Gerade weil die Bedeutung dieſer ariſtote-
liſchen Schule für den Fortſchritt der Wiſſenſchaften ſo unermeß-
[263]Die ariſtoteliſche Metaphyſik und die Naturwiſſenſchaft.
lich, der in ihr lebende Geiſt wiſſenſchaftlicher Betrachtung, em-
piriſcher Forſchung ſo hoch entwickelt geweſen iſt, hat die Frage
ein lebhaftes Intereſſe erregt, warum auch dieſe Schule ſich mit
unbeſtimmten, vereinzelten und theilweiſe irrigen Vorſtellungen von
Bewegung, Druck, Schwere etc. genügen ließ, warum ſie nicht
zu geſunderen mechaniſchen und phyſikaliſchen Vorſtellungen fort-
ging. Man fragt nach den Urſachen der Einſchränkung der erfolg-
reichen griechiſchen Einzelforſchung auf die formalen Wiſſenſchaften
der Mathemathik und der Logik ſowie auf die beſchreibenden und
vergleichenden Wiſſenſchaften innerhalb eines ſo langen Zeitraums.
Dieſe Frage ſteht augenſcheinlich mit der anderen in Zuſammen-
hang, wodurch die Herrſchaft der Metaphyſik der ſubſtantialen
Formen bedingt war. Der formale und deſkriptive Cha-
rakter der Wiſſenſchaften und die Metaphyſik der
Formen ſind korrelative geſchichtliche Thatſachen. Man
bewegt ſich nun im Zirkel, wenn man die Metaphyſik als die Ur-
ſache betrachtet, welche den Fortſchritt des wiſſenſchaftlichen Geiſtes
über dieſe ſeine damaligen Schranken hinaus gehemmt habe; denn
alsdann muß die Macht dieſer Metaphyſik erklärt werden. Dies
deutet darauf, daß beides, ſowol der Charakter der Wiſſenſchaften
in dieſem Stadium als die Herrſchaft der Metaphyſik, in gemein-
ſamen tiefer zurückliegenden Urſachen gegründet ſei.
Es fehlte den Alten nicht an Sinn für Thatſachen und Be-
obachtung; ja auch das Experiment ward von ihnen in größerem
Umfang, als man gewöhnlich annimmt, angewandt, wenn auch
die ſozialen Verhältniſſe hier hinderlich waren: der Gegenſatz einer
regierenden Bürgerſchaft, welche zugleich die Wiſſenſchaft pflegte, zu
dem Sklavenſtande, welchem die Arbeit mit der Hand zufiel, ver-
bunden damit die Mißachtung der körperlichen Arbeit. Das Genie
der Beobachtung in Ariſtoteles, die Ausbreitung deſſelben über
ein ungeheures Gebiet haben in immer zunehmendem Grade die
Bewunderung der poſitiven Forſcher in der neueren Zeit erregt.
Wenn Ariſtoteles nicht ſelten das, was Beobachtungen darbieten
und was durch Schluß, insbeſondere durch Analogie, aus ihnen
abgeleitet iſt, verwechſelt, ſo macht ſich hierin allerdings das Vor-
[264]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
herrſchen des Raiſonnements im griechiſchen Geiſte nachtheilig
geltend. Ferner findet ſich in den Schriften des Ariſtoteles eine
große Anzahl von Experimenten erwähnt, die theils von
Anderen vor ihm angeſtellt waren, theils von ihm ſelber gemacht
worden ſind. Aber hier fällt nun die Ungenauigkeit in der
Wiedergabe derſelben auf, der Mangel jeder Art von quantitativen
Beſtimmungen, beſonders aber die Unfruchtbarkeit des Experimen-
tirens bei Ariſtoteles und ſeinen Zeitgenoſſen für wirkliche Auf-
löſung theoretiſcher Fragen. Es beſtand nicht eine Abneigung gegen
das Experiment, wol aber eine Unfähigkeit, von demſelben den
richtigen Gebrauch zu machen. Auch kann dieſe nicht in dem
Mangel an Inſtrumenten, welche quantitative Beſtimmungen er-
möglichten, gelegen haben. Erſt wo die Fragen an die Natur
ſolche fordern, werden dieſelben erfunden, und ſelbſt der Mangel
einer von wiſſenſchaftlich Gebildeten betriebenen Induſtrie hätte das
Hervortreten ſolcher Erfindungen doch nur erſchweren können.
Zunächſt kann nun die Thatſache nicht beſtritten werden, daß
die kontemplative Verfaſſung des griechiſchen Geiſtes, welcher
den gedankenmäßigen und äſthetiſchen Charakter der Formen auffaßte,
das wiſſenſchaftliche Nachdenken in der Betrachtung feſthielt und
die Verifikation der Ideen an der Natur erſchwerte. Das Menſchen-
geſchlecht beginnt nicht mit vorausſetzungsloſen methodiſchen Unter-
ſuchungen der Natur, ſondern mit inhaltlich erfüllter Anſchauung,
religiöſer zuerſt, dann mit der kontemplativen Betrachtung des Kos-
mos, in welcher der Zweckzuſammenhang der Natur fortdauernd feſt-
gehalten wird. Orientirung, Auffaſſung der Formen und Zahlen-
verhältniſſe im Weltall iſt das Erſte; die Ordnung des Himmels
wird mit religiöſer Scheu und kontemplativer Seligkeit in ihrer
Vollkommenheit angeſchaut; die Geſchlechter der Organismen
laſſen eine aufſteigende, von pſychiſchem Leben erfüllte Zweckmäßig-
keit gewahren und ermöglichen vermittelſt ihrer eine deſkriptive
Wiſſenſchaft. So wendet ſich die Betrachtung, welche der ältere
Glaube direkt auf den Himmel gerichtet hatte, der Einzelforſchung
über die Naturkörper auf der Erde zu, wird aber auch hier länger
durch eine in der Naturreligion gegründete fromme Scheu von Zer-
[265]Die ariſtoteliſche Metaphyſik und die Naturwiſſenſchaft.
gliederung des Lebendigen zurückgehalten. Dieſer Zauberkreis der
Anſchauung eines idealen Zuſammenhangs ſchließt ſich in
ſich, ſcheint nirgend eine Lücke zu zeigen, und es iſt der Triumph
der Metaphyſik, ihm alle Thatſachen, welche die Erfahrung darbietet,
einzuordnen. — Dieſer geſchichtliche Thatbeſtand kann keinem Zweifel
unterliegen, und es kann ſich nur fragen, welche Tragweite er als
Erklärungsgrund habe. Es ſei jedoch geſtattet, einen zweiten Er-
klärungsgrund von mehr hypothetiſchem Charakter einzuführen.
Die abgeſonderte Betrachtung eines Kreiſes zuſammengehöriger Theil-
inhalte. wie ſie Mechanik, Optik, Akuſtik darbieten, ſetzt einen hohen
Grad von Abſtraktion in dem Forſcher voraus, welcher nur das
Ergebniß langer techniſcher Ausbildung der iſolirten
Wiſſenſchaft iſt. In der Mathematik war eine ſolche Abſtraktion
durch ſpäter zu erörternde pſychologiſche Verhältniſſe von Anfang an
vorbereitet. In der Aſtronomie wurde in Folge der Entfernung
der Geſtirne die Betrachtung ihrer Bewegungen von der ihrer
übrigen Eigenſchaften losgelöſt. Aber auf keinem anderen Gebiet
iſt vor der alexandriniſchen Schule eine Anzahl verwandter, zuſammen-
gehöriger Theilinhalte der Naturerſcheinungen einer beſtimmten und
ihnen angemeſſenen erklärenden Vorſtellung unterworfen worden.
Geniale Aperçus wie das der pythagoreiſchen Schule über die
Tonverhältniſſe hatten keine durchgreifenden Folgen. Die beſchrei-
bende und vergleichende Naturwiſſenſchaft bedurfte ſolcher Ab-
ſtraktion nicht, ſie hatte in der Vorſtellung des Zweckes einen
Leitfaden und führte vorläufig auf pſychiſche Urſachen zurück. So
erklärt ſich die Verbindung der glänzenden Leiſtungen der ariſto-
teliſchen Schule auf dieſem Gebiet mit dem gänzlichen Mangel
geſunder mechaniſcher und phyſikaliſcher Vorſtellungen in derſelben.
Die Gottheit als der letzte und höchſte Gegenſtand
der Metaphyſik.
Den Schlußpunkt der Metaphyſik des Ariſtoteles bildet ſeine
Theologie. In ihr vollzieht ſich erſt die vollſtändige Verknüpfung
des anaxagoreiſchen Monotheismus mit der Lehre von den
ſubſtantialen Formen.
[266]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Seit Anaxagoras iſt die herrſchende europäiſche Metaphyſik
Begründung der Lehre von einer letzten, intelligenten und der
Welt gegenüber ſelbſtändigen Urſache derſelben. Dieſe Lehre tritt
aber hier unter veränderte Bedingungen der metaphyſiſchen Be-
griffe und der allgemeinwiſſenſchaftlichen Lage. So erfährt ſie eine
Reihe von Umgeſtaltungen während des auf Anaxagoras folgenden
zweitauſendjährigen Lebens der Metaphyſik. Die Umgeſtaltungen
liegen in den Schriften von Plato, Ariſtoteles und den Philoſophen
des Mittelalters mit zureichender Klarheit vor und erfordern daher
keine eingehende Erörterung des Thatbeſtandes. Der Zuſammenhang
dieſer Geſchichte verlangt nur den Nachweis, daß die Metaphyſik
fortdauernd an aſtronomiſchen Schlüſſen einen poſitiven,
wiſſenſchaftlichen Rückhalt hatte, welcher ihr unerſchütterliche
Sicherheit gab. Dieſe Schlüſſe, unterſtützt durch ſolche aus der
Zweckmäßigkeit der Organismen, haben erheblich dazu beigetragen,
daß die Metaphyſik zweitauſend Jahre den Charakter einer Weltmacht
behielt: königliche Gewalt, nicht in dem engen Kreiſe von Gelehrten,
ſondern über die Gemüther aller Gebildeten, wodurch auch die
ungebildeten Maſſen ihr untergeordnet blieben. Das religiöſe
Erlebniß, welches für den Glauben an Gott die tiefſte und unzer-
ſtörbare Grundlage enthält, wird nur bei einer Minderheit der
Menſchen in der von dem Wirbel der egoiſtiſchen Intereſſen nicht
geſtörten Beſonnenheit eines gläubigen Herzens verſtanden. Die
Autorität der Kirche iſt im Mittelalter oft beſtritten worden.
Die äußeren Mittel des kirchlichen Gehorſams und des kirchlichen
Strafſyſtems haben beſtändige gährende Bewegungen und die
ſchließliche Zerſpaltung der Kirche nicht aufhalten können. Aber
unerſchüttert ſteht in dieſen zweitauſend Jahren die auf die Lage
der europäiſchen Wiſſenſchaft gegründete Metaphyſik der intelligen-
ten Welturſache.
Ariſtoteles hat auch an dieſem Punkte die Geſtalt der euro-
päiſchen Metaphyſik weſentlich durch die Art, wie er die wichtigſten
Thatſachen und Schlüſſe zuſammenfaßte, beſtimmt. Die Gottheit
iſt der Beweger, durch welchen ſchließlich alle Bewegungen inner-
halb des Kosmos (wenn auch auf vermittelte Weiſe) bedingt ſind;
[267]Bedeutung der Aſtronomie für die Lehre des Ariſtoteles von Gott.
und zwar ſind die Bewegungen der Geſtirne in ihrer Gedanken-
mäßigkeit ein Ausdruck der im Zwecke liegenden Bewegungskraft;
die Aſtronomie iſt die der Philoſophie nächſtverwandte mathematiſche
Wiſſenſchaft 1). Dieſe Gedanken ſchreiten in der von Anaxagoras
zuerſt betretenen Bahn fort, und ein Zug der Ideen wirkt von
ihnen weiter bis auf die von dem gedankenmäßigen, harmoniſchen
Charakter der Welt getragenen Forſchungen Kepler’s, nach welchen
in Abmeſſungen und Zahlen die Vollkommenheit Gottes ſich ab-
ſpiegelt.
Die Theologie des Ariſtoteles liegt in der Abhandlung
vor, welche als zwölftes Buch der Sammlung der metaphyſiſchen
Schriften eingefügt iſt. Sie enthält den Höhepunkt derſelben; denn
ſie erweiſt das Daſein der Einzelſubſtanz, welche immateriell und
veränderungslos iſt und von Anfang an als das eigentliche Objekt
der erſten Philoſophie von Ariſtoteles bezeichnet worden iſt 2).
Die Abhandlung ſteht einerſeits mit dem Schluß der Phyſik ſowie
der Schrift über das Himmelsgebäude, andrerſeits mit den Grund-
beſtimmungen der metaphyſiſchen Schriften in Beziehung.
Dieſe ariſtoteliſche Theologie beherrſcht das ganze Mittelalter.
Jedoch übernahm in der ſpäteren philoſophiſchen Entwicklung
die erſtgeſchaffene Intelligenz die Stelle des Bewegers des
Fixſternhimmels, und aus den göttlichen Subſtanzen, durch welche
Ariſtoteles die zuſammengeſetzen Bewegungen der anderen Welt-
körper hervorbringen läßt, wurde ein phantaſtiſches Reich von
Geſtirngeiſtern. Der Gegenſatz der Welt des Aethers und der
Kreisbewegung zu der Welt der vier andern Elemente und der
gradlinigen Bewegungen, ſonach des Bezirks des Ewigen zu dem
des Entſtehens und Vergehens wurde nun zum räumlichen
Rahmen eines aus der inneren Welt ſtammenden Gegenſatzes. So
entſtand jene Vorſtellung, welche Dantes unſterbliches Gedicht
verewigt hat.
Der Schluß des Ariſtoteles auf den unbewegten Beweger hat
zwei Seiten.
[268]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die erſte Seite dieſer Beweisführung zeigt beſonders deutlich,
wie innerhalb dieſer Metaphyſik für den Willen, welcher von
innen anfängt, keine Stelle iſt, ja daß diejenige Transſcendenz, deren
Weſen iſt, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für
ſie noch nicht da iſt. Ariſtoteles alſo lehrt Folgendes. — Die Be-
wegung iſt ewig, ein zeitlicher Anfang derſelben kann nicht ge-
dacht werden. Das Syſtem der Bewegungen im Kosmos kann nun
nicht ſo vorgeſtellt werden, daß jede Bewegung rückwärts eine weitere
Bewegungsurſache habe und dieſe Kette der Bewegungsurſachen
in das Unendliche verlaufe; denn ſo kämen wir nie zu einer
wahrhaft wirkenden, erſten Urſache, ohne welche doch ſchließlich
alle Wirkungen unerklärt bleiben würden. Sonach muß ein letzter
Haltpunkt angenommen werden. — Und zwar muß dieſe erſte
Urſache als unbewegt beſtimmt werden. Wenn ſie ſich ſelber
bewegt, ſo muß in ihr das, was bewegt wird, von dem, was be-
wegt und welchem ſonach Bewegtwerden nicht zukommt, unter-
ſchieden werden. Da die Bewegung kontinuirlich iſt, kann ſie nicht
auf einen veränderlichen Willen nach Art der Willen in den be-
ſeelten Weſen zurückgeführt werden, ſondern muß in Eine erſte
unbewegte Urſache zurückgehn. So gelangen wir zu dem unbe-
wegten Beweger als der reinen Aktivität oder dem actus purus
ſowie zu der metaphyſiſchen Konſtruktion der erſten Bewegung als
Kreisbewegung. 1)
Die andere Seite des Beweiſes benutzt die Betrachtung der
gedankenmäßigen Formen, welche ſich in den Bewegungen
des Kosmos verwirklichen. Bewegung erſcheint in dieſem Zuſammen-
hang als ein Beſtimmtwerden der Materie durch die Form. Da
die Bewegung in der Geſtirnwelt unwandelbar ſich ſelber gleich
und in ſich zurückkehrend iſt, ſo muß die Energie, welche ſie
hervorbringt, als unkörperliche Form oder reine Energie gedacht
werden. In dieſer fällt der letzte Zweck mit der bewegenden Kraft
der Welt zuſammen 2). „Dieſen oberſten Zweck zu erreichen iſt
[269]Der Schluß des Ariſtoteles auf die Gottheit.
für Alle das Beſte;“ derſelbe „bewegt wie etwas, das geliebt
wird 1).“ — Dieſer Seite der Beweisführung des Monotheismus
gehört die bei Cicero erhaltene erhabene Darſtellung an. Der Ge-
danke des Anaxagoras iſt hier von Ariſtoteles zu dem umfaſſenden
Beweis des Daſeins Gottes aus der Zweckmäßigkeit der Welt ent-
faltet, und das ganze Syſtem des Ariſtoteles kann ja ſchließlich
zu einem ſolchen Beweis zuſammengeordnet werden. „Man denke
ſich Menſchen von jeher unter der Erde wohnen in guten und
hellen Häuſern, welche mit Bildſäulen und Gemälden ausgeziert
und mit allen Dingen verſehen wären, an denen die Ueberfluß
haben, welche für glücklich gehalten werden. Aber ſie wären
niemals an die Oberfläche der Erde heraufgekommen, hätten nur
durch eine dunkle Sage vernommen, eine Gottheit exiſtire und
Macht der Götter. Thäte ſich nun dieſen Menſchen einmal die
Erde auf, vermöchten ſie dann aus ihren verborgenen Sitzen zu den
von uns bewohnten Orten emporzuſteigen und nun hinauszu-
treten; ſähen ſie dann plötzlich die Erde, die Meere und den
Himmel, nähmen die Wolkenmaſſen wahr und die Gewalt der
Winde; blickten zur Sonne auf, erkännten ihre Größe und Schön-
heit und auch ihre Wirkung, daß ſie es iſt, welche den Tag ſchafft,
indem ſie ihr Licht über den ganzen Himmel ergießt; erblickten
dann, nachdem Nacht die Erde beſchattete, den ganzen Himmel mit
Sternen beſetzt und geſchmückt und betrachteten das wechſelnde
Mondlicht in ſeinem Wachſen und Schwinden, aller dieſer Himmels-
körper Auf- und Untergang und ihre ewigen, unveränderlichen
Bahnen: dann würden ſie gewiß überzeugt ſein, daß Götter
exiſtiren, und dieſe gewaltigen Werke von Göttern ausgehen 2).“
Auch dieſe dichteriſche Darſtellung ſucht in der Schönheit und
Gedankenmäßigkeit der Bahnen der Himmelskörper eine Stütze für
den Monotheismus.
[270]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Aber der monotheiſtiſche Grundgedanke nimmt in Ariſtoteles,
wie in Plato, die Annahme von mehreren nicht aus Gott ſtammen-
den Urſachen in ſich auf.
Das aſtronomiſche Problem war viel komplizirter geworden,
die Bahnen der Planeten bildeten die Hauptfrage. Es ward ver-
ſucht, die ſcheinbaren Bahnen auf Drehungen von Sphären,
verſchieden nach Zeitdauer, Richtung und Umkreis, zurückzuführen,
und die Drehung ſolcher Sphären, an welchen die Geſtirne
befeſtigt ſind, legte nun auch Ariſtoteles zu Grunde. Somit lagen
die Vorausſetzungen dieſer aſtronomiſchen Theorie in dem In-
einandergreifen dieſer verſchiedenen Drehungen. Weder Ariſtoteles
noch ein anderer Denker des Jahrtauſends, das auf ihn folgte,
hat dieſe Vorausſetzungen in den Zuſammenhang einer mecha-
niſchen Vorſtellung gebracht. Und ſo faßt denn Ariſtoteles
das Verhältniß dieſer Bewegungen zu einander mythiſch als innere
Beziehung von pſychiſchen Kräften, von Geſtirngeiſtern
zu einander auf; jede dieſer pſychiſchen Kräfte verwirklicht gleich-
ſam eine beſtimmte Idee von Kreisbewegung; fünf und fünfzig
Sphären (dieſe Hypotheſe bevorzugt er als die wahrſcheinlichere) 1)
außer dem Fixſternhimmel greifen mit ihren Drehungen in einander.
Ungeworden, unvergänglich ſtehen demnach neben der höchſten
Vernunft dieſe fünf und fünfzig Geſtirngeiſter, welche die Drehung
der Sphären bewirken, alsdann die Formen der Wirklichkeit,
endlich die mit den menſchlichen Seelen verbundenen unſterblichen
Geiſter, die ebenfalls als Vernunft bezeichnet werden. Und die
Materie iſt ebenſo eine letzte, unabhängige Thatſache.
Die Gottheit ſteht nach Ariſtoteles zu dieſen Prinzipien in
einem pſychiſchen Verhältniß; ſie bilden einen in ihr den Abſchluß
findenden Zweckzuſammenhang. So herrſcht die Gottheit, wie der
Feldherr im Heere d. h. durch die Kraft, vermöge deren eine
Seele die andere beſtimmt. Hieraus allein erklärt ſich der ge-
dankenmäßige Zuſammenhang des Weltalls unter ihr als dem
Haupte, während ſie doch nicht die hervorbringende Urſache des-
[271]Der Zweckzuſammenhang der letzten Prinzipien geht in Gott zurück.
ſelben iſt. Der reine Geiſt, das Denken des Denkens, denkt nur
ſich ſelber in unwandelbarem, ſeligem Leben und bewegt, indem
er als höchſter Zweck anzieht, nicht indem er das im Zwecke An-
gelegte ſelber zu vollbringen thätig iſt: wie eine Seele alſo auf
andere geringere Seelen wirkt. So iſt das letzte Wort der grie-
chiſchen Metaphyſik das zwiſchen pſychiſchen Weſenheiten ſtatt-
findende Verhältniß als Erklärungsgrund des Kosmos, wie es
im Götterſtaate Homer’s ſchon angeſchaut worden war.
Siebentes Kapitel.
Die Metaphyſik der Griechen und die geſellſchaftlich-geſchichtliche
Wirklichkeit.
Das Verhältniß der Intelligenz zu der geſellſchaftlich-geſchicht-
lichen Wirklichkeit hat ſich uns ganz verſchieden von dem gezeigt,
welches zwiſchen ihr und der Natur beſteht. Nicht nur beein-
fluſſen die Intereſſen, die Kämpfe der Parteien, die ſozialen Ge-
fühle und Leidenſchaften hier die Theorie in einem viel höheren
Grade. Nicht nur iſt die aktuelle Wirkung der Theorie hier
von ihrem Verhältniß zu dieſen Intereſſen und Gemüthsbe-
wegungen innerhalb der Geſellſchaft beſtimmt. Auch wenn man
den Zuſammenhang, welchen die Entwicklung der Geiſteswiſſen-
ſchaften bildet, betrachtet, ſofern er nicht durch das Mittel der
Intereſſen und Leidenſchaften der Geſellſchaft, in welchem er
ſtattfindet, bedingt iſt, zeigt derſelbe ein anderes Verhältniß zu
ſeinem Gegenſtande, als es innerhalb der wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß der Natur obwaltet.
Dies iſt in dem erſten Buche erörtert worden. Die Geſchichte
der Geiſteswiſſenſchaften bildet in Folge dieſes Grundverhältniſſes
ein relativ ſelbſtändiges Ganze, das in Koordination mit dem Fort-
[272]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſchritt der Naturwiſſenſchaften ſich entwickelt hat; dieſe Entwicklung
ſteht unter eigenen Bedingungen, in Betreff deren auf das erſte
Buch zurückverwieſen wird. Und dieſelben beſtimmen nun zunächſt
das Verhältniß, in welchem die griechiſche Metaphyſik zu dem
Studium der geiſtigen Thatſachen ſteht.
Der Erfahrungskreis der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit
hat ſich in den Generationen ſelber erſt aufgebaut, welche über
ihn reflektirten. Die Natur ſtand der Schule von Milet ſo gut
als ein abgeſchloſſenes Ganze gegenüber, wie einem heutigen
Forſcher: es galt nur, die vorhandene zu erkennen. Dagegen ent-
ſtand erſt zu der Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft auftrat,
allmählich der umfaſſendere geſchichtlich-geſellſchaftliche Erfahrungs-
kreis, welcher der Gegenſtand der Geiſteswiſſenſchaften iſt. Die
Zuſtände der umliegenden, uralten Kulturſtaaten waren den grie-
chiſchen Stämmen zu wenig bekannt und zu fremdartig, als daß ſie
Gegenſtand einer wirklich fruchtbaren Forſchung hätten werden
können. Und zwar ſtoßen wir hier wieder an eine Grenze des
griechiſchen Geiſtes, welche in dem tiefſten Lebensgefühl des grie-
chiſchen Menſchen begründet iſt. Ein energiſches Intereſſe der
Auffaſſung zeigt der Grieche nur für den Griechen und in zweiter
Linie für den verwandten Italiker. Wol beweiſt der Sagenkreis, der
das Haupt des Solon als des großen Repräſentanten maßvoller
griechiſcher Lebens- und Staatskunſt umgiebt, den lebendigen An-
theil an den großen Kataſtrophen jener Kulturländer. Die Ge-
ſchichtſchreibung des Herodot macht die regſame Neubegier grie-
chiſcher Forſcher ſichtbar in Bezug auf fremde Länder und Völker.
Die Kyropädie erweiſt, wie die Leiſtungsfähigkeit monarchiſcher
Einrichtungen die Bürger dieſer freien, aber politiſch und militäriſch
unzureichend geſchützten Stadtſtaaten beſchäftigte. Aber der griechiſche
Forſcher zeigt kein Bedürfniß, vermittelſt der Sprachen fremder
Völker in ihre Literatur einzudringen, um ſich den Quellpunkten
ihres geiſtigen Lebens zu nähern. Er empfindet die centralen
Aeußerungen des Lebens dieſer Völker als ein Fremdes. Ihm
liegt ihre wirkliche Kultur an den Grenzen deſſen, was ſeine ge-
ſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit ausmacht. Andrerſeits bauten
[273]Schranken des griechiſchen Studiums der Geſellſchaft.
ſich die Kultur ſeines eigenen Volkes und deſſen politiſches
Leben, ſoweit ſie Gegenſtand geſchichtlichen Wiſſens ſind, in der
Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft anhebt, erſt allmählich
auf. Sonach war die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt, wie ſie
das Menſchengeſchlecht und deſſen Gliederung umfaßt, für den
griechiſchen Geiſt noch unter dem Horizonte.
Mit dieſer engen Begrenzung finden wir einen poſitiven Irrthum
verbunden, der aus derſelben entſprang. Die griechiſchen Theorien
empfingen ihre vollendete Geſtalt zu einer Zeit, in welcher gerade die
höchſtſtehenden Politien rein griechiſcher Abkunft ſchon ihren Höhe-
punkt überſchritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für
das Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen
er an eine Konſtitution noch knüpfen mochte, welche die geſpannte
einheitliche Kraft dieſer Staatsordnung in edlerer Richtung
nachbildete: für Ariſtoteles gab es kein Beiſpiel eines ächt grie-
chiſchen Staates mehr, der dem Schickſal des Sinkens entnommen
geweſen wäre. So entſteht an der Erfahrung ſelber die Vor-
ſtellung von einem Kreislauf der menſchlichen Dinge, der geſell-
ſchaftlichen wie der politiſchen Zuſtände, oder die noch mehr
düſtere von ihrem allmählichen Sinken. Und dieſe völlige Ab-
weſenheit jeder Vorſtellung von Fortſchreiten und Entwicklung
verbindet ſich mit der dargelegten Einſchränkung des unterſuchen-
den Geiſtes auf den griechiſchen Menſchen. Der griechiſche Er-
forſcher der geſellſchaftlichen und hiſtoriſchen Wirklichkeit hatte ſo
noch kein geſchichtliches Bewußtſein von einer inneren fort-
ſchreitenden Entwicklung, und er näherte ſich der Empfindung
ſeines realen Zuſammenhangs mit dem ganzen Menſchengeſchlecht
nur ſpät und allmählich durch die Vermittelung des macedoniſchen
Reiches und des römiſchen Imperium ſowie durch die Einwirkung
des Orients.
Dieſer Schranke des griechiſchen Geiſtes, welche ſich auf den
Umfang ſeines geſchichtlichen Geſichtskreiſes bezieht, entſpricht eine
andere, welche die Stellung der Perſon zu der Geſellſchaft betrifft.
Und auch dieſe Grenze iſt im innerſten Seelenleben des grie-
chiſchen Menſchen angelegt. Die Hingabe an das Gedankenmäßige
Dilthey, Einleitung. 18
[274]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
der Welt iſt mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimniſſe
des Seelenlebens, an Erfaſſung der freien Perſon im Gegenſatz
zu Allem, was Natur iſt, verbunden. Erſt in einer ſpäteren Zeit
wird der Wille, welcher ſich als Selbſtzweck von unendlichem
Werthe findet, wenn er zur metaphyſiſchen Beſinnung kommt, die
Stellung des Menſchen zu der Natur und zu der Geſellſchaft ab-
ändern. Aber für den damaligen griechiſchen Menſchen hat der
Einzelwille noch nicht um ſeiner ſelbſt willen den Anſpruch auf
eine Sphäre ſeiner Herrſchaft, welche ihm der Staat zu ſchützen
beſtimmt iſt und nicht rauben darf. Das Recht hat noch nicht
die Aufgabe, dem Individuum dieſe Sphäre ſeiner Freiheit zu
ſichern, innerhalb deren es ſchalte. Die Freiheit hat noch nicht
die Bedeutung ungehemmter Entfaltung und Bewegung des Willens
innerhalb dieſer Sphäre. Vielmehr iſt der Staat ein Herrſchafts-
verhältniß, und die Freiheit beſteht in dem Antheil an dieſer Herr-
ſchaft. Die griechiſche Seele bedarf noch nicht einer Sphäre ihres
Lebens, welche jenſeit aller geſellſchaftlichen Ordnung liegt. Skla-
verei, Tödtung verkrüppelter oder ſchwächlicher Neugeborener,
Oſtracismus bezeichnen dieſe unvollkommene Werthſchätzung des
Menſchen. Der unabläſſige Kampf um den Antheil an der
politiſchen Herrſchaft bezeichnet die Wirkung derſelben auf die
Geſellſchaft.
Innerhalb dieſer Grenzen durchlief die Anſchauung der Völker
des Mittelmeeres über die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit
dieſelben Stadien, welche in größerem Maßſtab, modificirt durch
die veränderten Umſtände, auch die Anſchauung der neueren Völker
durchmeſſen hat.
In dem erſten dieſer Stadien, während der Herrſchaft
des mythiſchen Vorſtellens, wird die Ordnung der
Geſellſchaft auf göttliche Stiftung zurückgeführt. Dieſe
Vorſtellung des Urſprungs der geſellſchaftlichen Ordnung theilen die
Griechen mit den umliegenden großen aſiatiſchen Staaten, wie
verſchieden auch die näheren Beſtimmungen der Vorſtellung bei den
Griechen von der bei den Orientalen ſind. Sie bleibt ſo lange
[275]Stadium d. Zurückführung d. geſellſchaftl. Ordnung auf göttl. Stiftung.
herrſchend, als die heroiſche Zeit dauert. Alle Macht war in
dieſer Zeit perſönlich. Der heroiſche König hatte kein phyſiſches
Machtmittel, den Gehorſam eines ewig widerſprechenden Adels zu
erzwingen; es gab keine geſchriebene Verfaſſung, die einen Rechts-
anſpruch begründet hätte. So ſind alle Vorſtellungen und Ge-
fühle jener Tage in das Element des Perſönlichen getaucht. Die
Poeſie war Heldengeſang; das Heroiſche der Gegenwart an ein
Höheres der Vergangenheit zu knüpfen und dieſes bis zu den
perſönlichen Gewalten der Götter zurückzuleiten, in den Bildern
des Götterſtaates die Motive des eigenen Lebens in mächtigerem
Pulsſchlag zu empfinden und zu genießen: war ein Grundzug der
ſozialen Gefühle und Vorſtellungen jener Tage.
Die Vorſtellung von dem Zuſammenhang der geſellſchaftlichen
Ordnung mit den perſönlichen Kräften einer höheren Welt iſt dann
ein lebendiger Beſtandtheil griechiſcher Ueberzeugungen geblieben 1).
Centralgriechenland, nördlich wie durch breite Querriegel des Ge-
birges vom Kontinent iſolirt, gliedert ſich durch die Veräſtelung
der Gebirge zu einer Anzahl von Kantonen, die von Bergen mit
hohen und engen Zugängen in ihrer Selbſtändigkeit geſchützt
ſind: zugleich öffnet es ſich dem Meere, das ſchützt und verbindet.
Ueber die milde See leiten Inſeln, den Pfeilern einer Brücke
gleich. In vielen dieſer Kantone erhielt ſich lange mit zäher Ge-
walt die Macht der mythiſchen Vorſtellungen. Denn die Wurzeln
des mythiſchen Glaubens lagen für dieſe abgeſchloſſenen Gemein-
ſchaften in den lokalen Kulten, wie aus dem ſpäten Bericht des
Pauſanias noch erſehen werden kann.
Dieſelben geographiſchen Bedingungen haben zugleich auf die
Entwicklung kleiner Politien hingewirkt, in denen mit regſamer
intellektueller Entwicklung verbunden politiſche Freiheit ſich ent-
faltete. Daher fand die politiſche Freiheit in den Schriften der
18*
[276]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen-
ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die
europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb.
Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer-
ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit
ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und
die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat.
Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den
großen Seeſtädten, deren politiſche, ſoziale und intellektuelle Ent-
wicklung ſehr raſch verlief. Hier entſtand das Bedürfniß, den
mythiſchen Glauben an die geſellſchaftliche Ordnung durch eine
metaphyſiſche Begründung zu erſetzen. Und zwar begann
eine ſolche erſte theoretiſche Betrachtung der Geſellſchaft, indem
die ſoziale Ordnung als ſolche mit dem metaphyſiſchen Zuſammen-
hang des Weltganzen in Beziehung geſetzt wurde. Heraklit iſt der
mächtigſte Repräſentant dieſer metaphyſiſchen Begründung der ge-
ſellſchaftlichen Ordnung; aber auch die Reſte der pythagoreiſchen
Ideen deuten auf eine ſolche, obwohl dieſelbe augenſcheinlich mit
mythiſchen Beſtandtheilen ſehr verſetzt war.
Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat
in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophiſten. Das
Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt
dieſer großen intellektuellen Umwälzung. Indeſſen wäre es irrig,
den Stand der Sophiſten (mit welchem Namen zunächſt ein
verändertes Unterrichtsſyſtem in Griechenland, nicht eine Ver-
änderung der Philoſophie bezeichnet wurde) für den Wechſel in
den politiſchen Vorſtellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich
zu machen. Die Theorien der Sophiſten folgen nur einer gänz-
lichen Veränderung der ſozialen Gefühle und ſind ihr Ausdruck.
Dieſe wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerſtörung der
alten Geſchlechterverfaſſung, in welcher das Individuum noch als
Beſtandtheil einer Gliederung der Geſellſchaft ſich gefühlt hatte und
von der es nach ſeinen weſentlichen Lebensbeziehungen umfaßt
worden war. Noch die Tragödie des Aeſchylus geſtaltete darum
[277]Das Naturrecht der Sophiſten.
ſo tief die Mythen einer vergangenen Zeit, weil ſie noch die dieſen
zu Grunde liegenden Verhältniſſe und Gefühle nachempfand. Nun
wurde eine individualiſtiſche Richtung in den Intereſſen, den Ge-
fühlen wie den Vorſtellungen herrſchend. Athen ward der Mittel-
punkt dieſer Veränderung der ſozialen Gefühle. Die ſo eintretende
Umwälzung wurde allerdings mächtig befördert durch die Centrali-
ſation der intellektuellen Bewegung in dieſer Stadt und den in
ihr um ſich greifenden ſkeptiſchen Geiſt. Anaxagoras ſchuf in Athen
eine herrſchende Macht intellektueller Aufklärung im fünften Jahr-
hundert; es darf angenommen werden, daß dann Zeno dort er-
ſchien und durch ſeine ſkeptiſche Geiſtesrichtung Einfluß gewann; das
Auftreten des Protagoras ſowie des Gorgias beförderte weiter den-
ſelben Geiſt ſkeptiſcher Aufklärung in der Stadt. Waren die Sophiſten
auch nicht die Urheber der Umwälzung, welche ſich im Leben und
Denken der griechiſchen Geſellſchaft jener Tage vollzog: dieſelbe
ward doch außerordentlich unterſtützt, als, dem Bedürfniß einer
Zeit entſprechend, in welcher die Rede zum mächtigſten Mittel
geworden war, Einfluß und Reichthum zu erringen, dieſer neue
Stand von Vertretern eines höheren Unterrichts die atheniſche
Jugend an ſich zog. Ein Ideal von perſönlicher Ausbildung ent-
ſtand, in deſſen Sinne ſpäter ein Cicero im Redner das Lebens-
ideal eines römiſchen Mannes ſah: der Humanismus hat in der
Folgezeit nicht nur die Kultur der Alten, ſondern auch dies ihr
Bildungsideal erneuert und dadurch die unſelige Vorherrſchaft
einer formalen Bildung unter uns herbeigeführt. In der Lehr-
thätigkeit der Sophiſten iſt von dieſem Allen die Wurzel; von ihr
ging der Geiſt der Rhetorenſchulen aus, die ſich über die alte Welt
verbreiteten. Vergeblich haben Plato und Ariſtoteles im Kampfe
gegen die Sophiſten, im Gegenſatz zu dem armſeligen Rhetor Iſo-
crates dieſe Krankheit des griechiſchen Lebens bekämpft; vergeblich,
weil die Sophiſten nur in dem Privatunterrichtsſyſtem der griechi-
ſchen Politien, in welchem die Schule der freien Konkurrenz anheim-
fiel, gerade das geboten haben, was den herrſchenden Neigungen
entſprach. Ein Privatunterrichtsſyſtem kann eben nie beſſer ſein als
der Durchſchnittsgeiſt einer Zeit. So floß denn nun in unzähligen
[278]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Kanälen der individualiſtiſche und ſkeptiſche Geiſt, wie er ſich ſeit
der Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelt hatte, abwärts dem
Niveau der Maſſen entgegen, um ſich dort zu vertheilen, ver-
mittelſt der Volksverſammlungen, der Theater, des neuen ſophi-
ſtiſchen Unterrichts, zunächſt in Athen und dann von dieſem
Centrum aus über ganz Griechenland.
Jedoch zeigt die erſte Generation der Sophiſten noch
keine entſchiedene und klare negative Stellung der beſtehenden geſell-
ſchaftlichen Ordnung gegenüber. In dem Relativismus des Pro-
tagoras lagen die Prämiſſen einer ſolchen negativen Haltung. Auch
war Protagoras nicht der Kopf, ihre Tragweite zu überſehen 1).
Aber hätte er die Konſequenzen dieſes Relativismus bereits wirk-
lich entwickelt, ſo wäre der Mythus, welchen Plato in ſeinem
Namen in dem nach ihm bezeichneten Dialog vortrug, unerklärlich.
Gorgias, ein Genie der Sprache, von einem weiſen Verhältniß
zum Leben, eine neutrale und in Bezug auf die ſittlichen und
geſellſchaftlichen Probleme von keinem ſtarken Affekt bewegte Vir-
tuoſennatur, ließ die ſittlichen Ideale des Lebens in ihrer mannig-
fachen Thatſächlichkeit beſtehen 2); ſie bildeten ihm die Voraus-
ſetzung ſeiner Technik, welche nur die Kraft und Kunſt, Glauben
hervorzurufen, zum Gegenſtand hatte.
Dennoch lag in der Bewegung, welche die Sophiſten der
erſten Generation hervorriefen, der Ausgangspunkt einer negativen
Philoſophie der Geſellſchaft. Die ungeheure Wandlung der
geiſtigen Intereſſen, wie ſie in dieſem Zeitalter ſtattfand und das
große Werk der Sophiſten iſt, an die in dieſer Rückſicht Socrates ſich
anſchloß, läßt nunmehr geiſtige Thatſachen, Sprache, Denken, Be-
redſamkeit, Staatsleben, Sittlichkeit als Gegenſtand von wiſſen-
ſchaftlicher Forſchung in den Vordergrund treten. An dieſen
geiſtigen Thatſachen und ihrer Betrachtung ging erſt im Gegen-
ſatz zu den materiellen Vorſtellungen von Seele ein Bild deſſen
auf, was im Geiſte vollbracht wird. Dieſelbe Wendung der intellek-
[279]Unterſcheidung der erſten und zweiten Generation der Sophiſten.
tuellen Entwicklung ſtellte andrerſeits jedes Phänomen unter den
Geſichtspunkt der Relativität. Und ſo mußte die kluge Mäßigung
der erſten Generation der Sophiſten gegenüber der geſellſchaftlichen
Ordnung Griechenlands und den religiöſen Grundlagen derſelben
ſchrittweiſe einer radikaleren Haltung Platz machen.
Zwiſchen der erſten und zweiten Generation der Sophiſten
ſteht Hippias. Auch in ſeiner Perſon ſpürt man, in einer
anderen Modifikation als in der des Protagoras oder Gorgias, die
Luft einer ganz veränderten Zeit. Virtuoſe Vielſeitigkeit, deren
intellektueller Ehrgeiz über die kleinen Politien hinausgewachſen
iſt, ſonnt ſich im Glanze einer Zeit, in welcher die Kunſt weltlich
und ein Ausdruck ſchönen Lebensbedürfniſſes, jedes wiſſenſchaftliche
Problem Gegenſtand radikaler Debatten geworden iſt und in
welcher Reichthum und Ruhm auf dem weiten Theater der
griechiſch redenden Völker in ganz neuem Maßſtab zu erwerben
waren. Ich habe dargelegt, daß der Gegenſatz zwiſchen dem gött-
lichen, ungeſchriebenen Geſetz und der menſchlichen Satzung, welcher
von Sophocles mit der eindringlichen Gewalt des Dichters aus-
geſprochen worden iſt, durch Archelaus und Hippias eine wiſſen-
ſchaftliche Formulirung erhalten hat 1). Das göttliche Weltgeſetz,
welches für die Metaphyſik eines Heraklit der hervorbringende
Grund aller geſellſchaftlichen Ordnung der einzelnen Staaten ge-
weſen war, wird von Hippias zu dieſen Einzelordnungen in
Gegenſatz geſtellt. Geſetz der Natur und Satzung des einzelnen
Staates ſind die Schlagworte der Zeit, und dieſer Gegenſatz wird
von nun an in den ganz verſchiedenen Erſcheinungen des geiſtigen
Lebens aufgeſucht.
Doch war ein weit radikaleres Verhältniß zu der geſellſchaft-
lichen Ordnung in dem Relativismus eines Protagoras angelegt,
und es wurde in der zweiten Generation der Sophiſten
entwickelt. Nun wird die geſellſchaftliche Ordnung aus dem Spiele
des Egoismus von Individuen abgeleitet, wie in der Schule
Leukipp’s die Ordnung des Kosmos aus dem Spiele der Atome.
[280]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Es entſteht eine metaphyſiſche Kosmogonie der ſittlichen und
geſellſchaftlichen Ordnung. Die ganze metaphyſiſche Maſchinerie
dieſes radikalen Naturrechts, wie ſie uns in Hobbes und Spinoza
wieder begegnet, findet ſich in dieſer Kosmogonie der Geſellſchaft
ſchon angewandt: der Kampf ſtarker, den Thieren vergleichbarer
Individuen unter einander in einem geſetzloſen Leben um Daſein
und Macht; der Vertrag, in welchem eine geſetzliche Ordnung
entſteht und Ordnung nunmehr zwar vor dem Schlimmſten der
Vergewaltigung ſchützt, jedoch zugleich den Weg zu dem höchſten
Glück ſchrankenloſer Herrſchaft verſperrt; die Entſtehung von
Sittlichkeit und Religion als einer Ergänzung der
Staatsgeſetze im Intereſſe der Vielen oder der Starken; end-
lich die Fortdauer des egoiſtiſchen Intereſſes in den
Individuen als des wahren Hebels der geſellſchaftlichen Be-
wegungen 1). Euripides iſt der dichteriſche Vertreter dieſer neuen
individualiſtiſchen Zeiten und er hat in ſeinen Schauſpielen ſolche
radikale Theoreme als Grundlage der Handlungen beſtimmter
Perſonen mit einer Energie hingeſtellt, welche ſein perſönliches
Intereſſe durchblicken läßt. Ariſtophanes hat in einer berühmten
Wechſelrede den Satz, daß es kein der Gewalt gegenüber ſelbſtändig
begründetes Recht gebe, als einen Streitſatz ſeiner Tage verſpottet.
Und wie auf dem Theater, ſo ließ ſich dies radikale Naturrecht
auch in den politiſchen Verſammlungen vernehmen; ſoviel wenigſtens
kann aus den Reden des Thucydides geſchloſſen werden, welches
auch der Grad ihrer Authenticität in jedem einzelnen Falle ſein
mag 2).
[281]Bedeutung und Grenzen des Naturrechts der Sophiſten.
Die Grenzen dieſes Naturrechts ſind bedingt durch
die dargelegten Schranken des griechiſchen Menſchen und der
griechiſchen Geſellſchaft. Nirgend handelt es ſich im griechiſchen
Naturrecht um die ſubjektiven Rechtsſphären der in der Geſell-
ſchaft zuſammenwirkenden Individuen; nirgend iſt das Ziel dieſes
Naturrechts die Freiheit in ſolchem Verſtande. Das Streben des
Individuums iſt nach dieſen radikalen Schriften nur auf den An-
theil der geſellſchaftlichen Atome an der Macht und dem Nutzen
der ſo entſtehenden Ordnung gerichtet. So ſtützten ſie hier die
Tyrannis dort den Gedanken einer demokratiſchen Gleichwerthig-
keit dieſer geſellſchaftlichen Atome in der Staatsordnung, und
hier wie dort iſt ihr letztes Wort die Sklaverei jedes höheren
und idealen Willens. Andrerſeits iſt dieſe naturrechtliche Meta-
phyſik in der gemäßigten Schule, die Hippias repräſentirt, nur
auf die Sonderung einer objektiven Ordnung der Natur von der
Satzung des einzelnen Staates gerichtet. An dieſe Schranken ſtößt
die cyniſche und ſtoiſche Staatslehre, aber durchbricht ſie nicht.
Sie verhält ſich auf dieſem Gebiet zu unſerer modernen Rechts-
anſchauung ganz ſo, wie ſich der ſophiſtiſche und ſkeptiſche Relati-
vismus zu der modernen Erkenntnißtheorie verhält.
So lagen in dieſer Bewegung die Keime zu den verſchie-
denen Richtungen derjenigen Theorie der Geſellſchaft, welche
als Naturrecht bezeichnet wird. Das Naturrecht iſt, nachdem
es nunmehr ausgebildet war, in verhältnißmäßig ſtetiger Suc-
ceſſion von den alten Völkern auf die neueren übergegangen. Es
iſt auch im Mittelalter in einer breiten Literatur gepflegt
worden. Aber ſeine Herrſchaft und ſeine praktiſche Wirkſamkeit
war auch bei den neueren Völkern durch das Eintreten des-
jenigen Stadiums der geſellſchaftlichen Entwicklung bedingt, in
welchem es bei den alten Völkern entſtanden war. Erſt mit
dem Niedergang der feudalen Ordnungen bei dieſer zweiten
Generation europäiſcher Völker erhebt ſich das Naturrecht derſelben
zu einer leitenden Stellung in der Geſchichte der Geſellſchaft. Es
vollbrachte nun ſein negatives Werk, als deſſen Beſchluß die Wir-
kung eines Rouſſeau auf die Revolution, eines Pufendorf, Kant und
[282]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Fichte auf die deutſche Reformarbeit angeſehen werden muß. Denn
ſeinen Ausgangspunkt bildet eben das Einzelindividuum, der abſtrakte
Menſch, durch Merkmale beſtimmt, welche zu allen Zeiten gleich-
mäßig ihm zukommen, in abſtrakten Beziehungen, welche aus
dieſen Merkmalen auf einem gleichſam abſtrakten Boden folgen.
Aus ſolchen Prämiſſen folgert das Naturrecht allgemeine Be-
ſtimmungen einer jeden geſellſchaftlichen Ordnung. Dieſe werden
ihm der Maßſtab für die Kritik der alten europäiſchen Geſellſchaft
und für die Neuordnung einer künftigen. So erhielt dieſe Be-
griffsdichtung in der Revolution und ihrem Verſuch eines Aufbaus
der Geſellſchaft auf die abſtrakten Menſchenatome eine furchtbare
Realität.
Das Naturrecht kann als eine Metaphyſik der Geſell-
ſchaft bezeichnet werden, wenn der Ausdruck Metaphyſik in
dieſem engeren Sinne geſtattet wird, in welchem er eine Wiſſen-
ſchaft ausdrücken würde, die den ganzen objektiven, inneren Zu-
ſammenhang der geſellſchaftlichen Thatſachen in einer Theorie dar-
ſtellt. Von Metaphyſik in vollem Verſtande unterſcheidet ſich das
Naturrecht eben dadurch, daß ſeine Abſicht nur auf die Konſtruk-
tion des inneren Zuſammenhangs der Geſellſchaft gerichtet iſt;
daher es gerade in ſeiner vollkommenſten Geſtalt nicht einen ob-
jektiven inneren Zuſammenhang aller Erſcheinungen dem Studium
der Geſellſchaft zu Grunde legt, ſondern dieſen Gegenſtand ſelb-
ſtändig behandelt. In dieſen Grenzen hat es die Eigenſchaften
einer Metaphyſik. Es analyſirt nicht die Wirklichkeit, ſondern
ſetzt ſie aus abſtrakten Theilinhalten von Individuen als aus
veris causis zuſammen und betrachtet den ſo entſtehenden Zu-
ſammenhang als die reale Urſache der geſellſchaftlichen Ordnung 1).
Hat ſich nun dieſer ſoziale Atomismus in der damaligen Lage
der Wiſſenſchaft fruchtbarer für die Specialerklärung der
geſellſchaftlichen Phänomene erwieſen, als der naturwiſſenſchaft-
liche für die Erſcheinungen des Kosmos? Die erhaltenen Trümmer
des damaligen Naturrechts erlauben kein ganz ausreichendes Ur-
[283]D. Naturr. e. Metaph. d. Geſellſch.; d. Einzelwiſſenſch. d. Geſellſch. fehlen.
theil. Doch können wir auch hier ein Verhältniß noch feſtſtellen,
welches dem an der Naturwiſſenſchaft derſelben Zeit beobachteten
analog iſt 1). Das Naturrecht ging von den pſychiſchen Ein-
heiten aus und beabſichtigte eine Erklärung der bürgerlichen
Geſellſchaft, wie eine einzelne πόλις ſie umſchließt; denn dieſer
konkrete politiſche Körper bildet den Gegenſtand der griechiſchen
politiſchen Wiſſenſchaft. Nun ſind die pſychologiſchen Grundvor-
ſtellungen von Intereſſe, Befriedigung, Nutzen, deren ſich das ſophi-
ſtiſche Naturrecht bedient, höchſt unvollkommen. Zwiſchen den
pſychologiſchen Grundvorſtellungen und der komplexen Thatſache
dieſes politiſchen Ganzen liegen alsdann Zwiſchenglieder, wie
Arbeitstheilung, Nationalreichthum, Stufen des wiſſenſchaftlichen
Lebens, Formen des Familienrechts und der Eigenthumsordnung,
religiöſer Glaube und ſeine ſelbſtändige Kraft etc., deren wiſſenſchaft-
liche Bearbeitung erſt das exakt wiſſenſchaftliche Studium des kom-
plexen politiſchen Ganzen bedingt. Dieſe Thatſachen können aber nur
durch abſtrakte Wiſſenſchaften bearbeitet werden, welche verwandte
Theilinhalte des pſychiſchen Lebens, wie ſie die Geſellſchaft enthält,
zuſammenordnen; dies iſt im erſten Buche gezeigt worden. Während
nun die entſprechenden abſtrakten Wiſſenſchaften innerhalb der Natur-
forſchung erſt in der alexandriniſchen Zeit in ſehr vereinzelten An-
ſätzen ſich zu bilden begannen, beſtanden die techniſchen Theorien der
Grammatik, Logik, Rhetorik, Poetik, Nationalökonomie, juriſtiſchen
Technik ſchon früh; das Bedürfniß der Geſellſchaft hatte ſie hervor-
gebracht, wie auch dies das erſte Buch gezeigt hat. Trotzdem
haben die Vorſtellungen der Griechen über Arbeitstheilung, über
die Faktoren des Nationalreichthums, über das Geld niemals eine
erheblich höhere Stufe erreicht als die über Druck, Bewegung und
Schwere, und die Griechen haben innerhalb dieſer Spekulationen,
ſo weit wir ſehen, niemals von exakten juriſtiſchen Begriffen Gebrauch
gemacht. Daher war ihre naturrechtliche Konſtruktion der Geſell-
ſchaft ganz ebenſo zu einer verhältnißmäßigen Unfruchtbarkeit ver-
urtheilt wie ihre atomiſtiſche Konſtruktion des Kosmos. Auch auf
[284]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
dieſem Gebiet fiel der ſokratiſchen Schule, der Metaphyſik der
ſubſtantialen Formen der Sieg für lange Jahrhunderte zu gegen-
über der Metaphyſik geſellſchaftlicher Atome.
Die ſokratiſche Schule war aus dem Bedürfniß ent-
ſprungen, inmitten der relativen Wahrheiten, welche die Sophiſtik
übrig ließ, einen feſten Punkt zu entdecken. Ein ſolcher kann
innerhalb des griechiſchen Vorſtellungsſchemas entweder in der
Richtung der Abbildung des objektiven Seins im Denken oder in
der Richtung der Beſtimmung des Seins durch das Handeln
geſucht werden. Er iſt gegeben als Subſtanz in der Wirklichkeit oder
als höchſtes Gut in der Welt des Willens und Handelns, ſei es
der Einzelnen oder der Gemeinſchaften. Socrates ließ die Mög-
lichkeit eines feſten Punktes für die Welterkenntniß fallen; er
fand dagegen einen ſolchen für das Handeln, nämlich in den
ſittlichen Begriffen. Dieſe Sonderung der theoretiſchen und
praktiſchen Philoſophie bezeichnet eine Grenze, welche aus der
des griechiſchen Geiſtes überhaupt folgt. Daß im Inneren, im
Innewerden der feſte Punkt für alle Erkenntniß, auch der objektiven
Welt, liege: dieſer Gedanke liegt ſelbſt außerhalb des Geſichtskreiſes
des Socrates. Erſt wann dieſe klare Einſicht vorhanden iſt, tritt
die ſittliche Welt, der feſte Punkt alles Handelns in ihr, in den
umfaſſenden Zuſammenhang der menſchlichen Wiſſenſchaft. Mit
ihr iſt erſt die falſche Sonderung der theoretiſchen und praktiſchen
Wiſſenſchaften überwunden, und die wahre Sonderung der Natur-
wiſſenſchaften von den Geiſteswiſſenſchaften kann begründet werden.
Indem Socrates in den ſittlichen Begriffen ein Unveränder-
liches entdeckt, empfängt auch die politiſche Wiſſenſchaft
ein klares Ziel. Das Ziel des Staates entſteht nun nicht aus
dem Spiele der denſelben bildenden Atome. Vielmehr iſt für
Socrates im Wiſſen unverrückbar feſt Ein Punkt gegeben, um
welchen die Individuen gravitiren: das Gute. Das Gute iſt nicht
relativ, ſondern unbedingt gewiß. Dies Ziel ordnet ſich alſo
als der die Gliederung des Staates beherrſchende Gedanke die
Einzelnen unter. Dieſe politiſche Auffaſſung des Socrates tritt
[285]Die Staatswiſſenſchaft der ſokratiſchen Schule.
in Gegenſatz zu der herrſchenden Demokratie und zu der Gleich-
berechtigung jedes geſellſchaftlichen Atoms in Bezug auf die Leitung
des Staates, welche dieſe Demokratie am ſchroffſten in der Zu-
theilung von Staatsämtern durch das Loos ausdrückte. Das
Wiſſen macht zum Herrſcher; es iſt die Vorbedingung des An-
theiles an der Staatsleitung.
Platos großer organiſatoriſcher Geiſt konſtruirt von dieſem
Gedanken aus den idealen Staat als ein Gegenbild des
äußeren Kosmos, den Staat als Kunſtwerk. Er fand die
atheniſche Geſellſchaft in ſoziale Atome aufgelöſt; ſo faßte er den
Gedanken, die Beziehung zwiſchen politiſchem Wiſſen und Können
und dem Antheil an der Staatsleitung nicht in das vorhandene
politiſche Gefüge einzuordnen, ſondern von dieſem abſtrakten Ver-
hältniß aus den Staat zu konſtruiren; bei den neueren Völkern
hat dann dieſer Gedanke auf die vorhandene Realität der Staats-
ordnungen fortbildend eingewirkt, und ſo erſcheint Plato als weis-
ſagender Genius in Bezug auf weſentliche Züge des modernen
Beamtenſtaates. Er fand alsdann, umgeben vom Ringen der
Politien um die Herrſchaft und vom Kampf der Intereſſen, die
höchſte Koncentration aller Einzelintereſſen und Einzelkräfte in dem
von ihm entworfenen einſichtigen, einheitlichen Staatswillen noth-
wendig; daher ſtattete er ſeinen idealen Staat mit den äußerſten
Mitteln aus, welche in dem Bereich des ohnehin mit dem Eigen-
thum wie mit der Freiheit in künſtleriſcher Machtvollkommenheit
ſchaltenden griechiſchen Staates lagen, um dieſe Unterordnung der
Einzelwillen, der Einzelintereſſen unter die leitende Vernunft her-
zuſtellen. So entſteht eine Gliederung, in welcher die Einſichtigen
regieren, die Starken ſie unterſtützen, die im Erwerb verſunkene
Maſſe gehorcht: ein Abbild der Pſyche. Die Tugenden der Theile
der Seele ſind die der Stände des Staates. Wie das Streben
nach dem Guten in der Beziehung der Pſyche zu der Ideenwelt
gegründet iſt, ſo geſtaltet daſſelbe auch im Zuſammenhang mit der
Ideenwelt das Ideal eines geſellſchaftlichen Kosmos, den Staat,
als eine zwar entſtandene, aber durch die Abmeſſung der Kräfte in
den Seelen unzerreißbar gefügte Einheit. Die politiſche Kunſt ge-
[286]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſtaltet nach den Ideen der Gerechtigkeit ſowie der anderen Tugen-
den aus dem Stoffe der Seelen den geſellſchaftlichen Kosmos,
wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entſteht
der Menſch im Großen: eine reale Einheit wie der Einzelmenſch.
Die innere Unhaltbarkeit dieſer Art von Metaphyſik der Ge-
ſellſchaft iſt augenſcheinlich. Die Analogie des Menſchen im
Großen verſchiebt nur das Problem, wie aus Einzelwillen ein
Geſammtwille d. h. ein Gefüge der Willen, welches einheitlich
wirkt, entſtehe. Plato hat ſeine Aufgabe weder für die Einzelſeele
noch für den Staat gelöſt. Vielmehr bilden ſeine Seelentheile
ſo wenig eine wirkliche pſychiſche Einheit, als ſeine drei Stände
eine einheitliche Geſellſchaft ausmachen können.
Da Plato nicht von den Intereſſen der Individuen ausging,
von der Realität der menſchlichen Natur, wie ſie einmal iſt 1),
entſtand ihm nicht das Gefüge der Intereſſengemeinſchaft, welches die
Unterlage des wirklichen Staates bildet; vielmehr hat er dieſes als
das Niedrige mißachtet und Arbeit, Gewerbe, Handel keiner Unter-
ſuchung unterzogen. Die hier zu Grunde liegende falſch vor-
nehme Richtung iſt derjenigen verwandt, welche die Griechen auf
dem Gebiet der Naturerkenntniß überall zeigen. So bleiben Ge-
danke und phyſiſche Gewalt, den Staat zuſammen zu halten, da-
gegen gehen die Intereſſen der Stände in ihm auseinander und
müſſen ihn zerreißen. Mit einer Art von Abſolutismus des Ge-
dankens werden die realen Intereſſen der Individuen als bloßes
widerſtrebendes Material für den politiſchen Künſtler behandelt,
anſtatt daß das Gefüge von Abhängigkeit und Gemeinſchaft,
welches als ein Staatswille ſich darſtellt, als die Wirkung der
Intereſſenvereinigung erkannt worden wäre. So wird hier ein
Staat in die Luft gebaut. Es entſteht eine koncentrirteſte, aber
zugleich dem Spiele der Intereſſen gegenüber ohnmächtige Einheit.
[287]Platos Staatsbegriff eine unhaltbare Abſtraktion.
Dieſer Menſch im Großen iſt ein Tropus; die in dieſem Tropus
behauptete reale Einheit des Staates iſt nicht nur unfaßbar — das
bleibt ſie immer und überall, da ſie eben Metaphyſik iſt —, es
wird auch nicht verſucht, den Tropus durch Begriffe aufzuklären.
So folgenſchwere inhaltliche Mängel verknüpfen ſich mit einem
allgemeineren Fehler methodiſcher Art. Der Staat ſoll verſtanden
werden, bevor die Intereſſen und Zweckzuſammenhänge analyſirt
ſind, welche ſeine Realität im Menſchen bilden, vermöge deren
er lebt und Kraft hat. Dieſer Fehler hat zur Folge, daß an
die Stelle des Zuſammenhangs von Thatſachen (Zweckzuſammen-
hängen, Intereſſen) das metaphyſiſche Fabelweſen des Menſchen
im Großen tritt1).
Ariſtoteles hat verſucht, eine Formel an die Stelle dieſes
Tropus zu ſetzen. Er will den Begriff der realen Einheit, welche
Staat iſt, entwerfen. Seine Staatslehre iſt gerade dadurch auch
hier ſo belehrend, daß ſie zeigt, wie dieſer fundamentale Begriff
der ſozialen Metaphyſik mit den anderen metaphyſiſchen Haupt-
begriffen die Eigenſchaft theilt, der vollſtändigen Auflöſung in
einfach klare Gedankenelemente zu widerſtehen.
Es iſt dargelegt, daß die Subjekte für Ausſagen über die
geſellſchaftliche Wirklichkeit in den Individuen gegeben ſind. Die
Subjekte der Ausſagen über die Natur ſind uns unzugänglich,
dagegen die des geſellſchaftlichen Lebens, des Thuns und Leidens
wie der Zuſtände in demſelben ſind in der inneren Erfahrung ent-
halten2). Ariſtoteles hat nun die vernünftigen Einzel-
weſen als Subſtanzen beſtimmt. Er hat andrerſeits im
Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik den Staat, welcher aus ſolchen
Einzelweſen beſteht, als eine Einheit angeſehen, die nicht eine
nachträgliche Zuſammenfügung derſelben iſt. Zwar hat er den
Begriff des Staates ſeiner Metaphyſik nicht eingeordnet, da dieſe
vor der praktiſchen Welt, ſonach gerade vor dem großen Problem
[288]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
des Willens endigt und in ſeinem Syſtem das Gebiet der prak-
tiſchen Vernunft von dem der theoretiſchen Wiſſenſchaft geſondert
iſt. Aber die Prämiſſen ſeiner Auffaſſung von der Einheit des
Staates ſind die folgenden. Der teleologiſche Zuſammen-
hang zeigt in dem Reiche der organiſchen Weſen eine Steigerung
der Funktionen; ſie entſpricht der Steigerung des Pſychiſchen.
Die Gattung des Menſchen iſt ſo die höchſte der ſubſtantialen
Formen in der Stufenreihe der organiſchen Weſen. Die Einzel-
weſen in dieſer menſchlichen Gattung ſind aber noch auf andere
Weiſe verbunden als dadurch, daß ſie eine ſubſtantiale Form
verwirklichen. Die einzelnen Menſchen befinden ſich in geſell-
ſchaftlichen Ganzen, innerhalb deren die Individuen ſich wie
Theile verhalten. Solche Ganze bilden ſchon Bienen und andere
herdenweiſe lebende Thiere, in einem viel engeren Verbande aber
der mit Sprache und Verſtand zu dieſem Zwecke von der Natur
begabte Menſch, welcher das Vermögen der Unterſcheidung von
Recht und Unrecht beſitzt. Dieſe Gemeinſchaft (Koinonie) iſt
als Familie untrennbar mit Menſchendaſein überhaupt gegeben,
und indem dieſe zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis ſich
ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Ge-
meinſchaftsſtreben das Endziel der Autarkie d. h. des völligen Selbſt-
genügens; die Polis iſt der Zweck der mehr elementaren Formen
von Gemeinſchaft, der in den weniger zuſammengeſetzten ſchon wirk-
ſam iſt. In dieſem Zuſammenhang tritt die Formel des Ari-
ſtoteles auf, daß der Staat ein Ganzes bilde, welches vor
den Familien und Individuen als ſeinen Theilen
ſei1). Dieſe Formel drückt aus, daß der Staat nicht ein Werk
menſchlicher Willkür ſei, ſondern ein in der Phyſis begründetes
Syſtem. In der Phyſis, in welcher der Zweck wirkt, iſt ein Zu-
ſammenhang von Beſtimmungen angelegt, welche nur durch die
einzelnen Individuen und in ihnen ſich verwirklichen, welche aber
dieſe Individuen der Zuſammenordnung (τάξις) in einer Politie
zuführen, da erſt in dieſer das Ziel der Eudämonie auf ſelbſt-
[289]Der ariſtoteliſche Begriff des Staates.
genugſame Weiſe erreicht wird. Solche Beſtimmungen ſind z. B.
die Ungleichheit der Individuen, der Gegenſatz der Herrſchenden
und Beherrſchten, die Proportion von Leiſtung und politiſcher
Macht. Sie beſitzen die Nothwendigkeit des Zweckes. Und zwar
beſteht das Syſtem (σύστημα), zu welchem die Menge (πλῆϑος)
durch den Zweck in der Politie geordnet iſt, aus ungleichartigen
Beſtandtheilen. Auch geht das Individuum in dieſem Zweck nicht
ganz auf. Das Zuſammenwirken von ungleichartigen Einzelnen
als von Theilen zu einem Ganzen kann mit dem der Theile inner-
halb eines Organismus verglichen werden. Der einzelne Menſch
verhält ſich zum Staatsganzen wie Fuß oder Hand zu einem
Körper.
So bereitet ſich in Ariſtoteles die Auffaſſung des Staates
als eines Organismus vor, welche eine ſo verhängniß-
volle Rolle in der Geſchichte der politiſchen Wiſſenſchaften geſpielt
hat. Der Begriff des Organismus iſt in ſeiner Art das letzte
Wort dieſer Metaphyſik des Staates. Und zwar iſt derſelbe,
wie jeder Begriff der Staatseinheit, welcher dieſe nicht ana-
lytiſch aus der Wirklichkeit des Staatslebens bis zu einem ge-
wiſſen Punkte aufklärt, ſondern als eine Formel zum Zwecke der
Ableitung auftritt, eine metaphyſiſche Begriffsdichtung. Was im
ſozialen Leben erfahren wird, kann die Analyſis in einem gewiſſen
Umfang zerlegen, aber nie vermag ſie, in einer Formel den Reich-
thum des Lebens auszudrücken1). Daher iſt die Realität des
Staates nicht in einer beſtimmten Zahl begrifflicher Elemente dar-
ſtellbar. Dies zeigt ſich ſchon hier, bei Ariſtoteles, in der Dun-
kelheit des von ihm gebildeten Gedankens des Staates als eines or-
ganiſchen Ganzen, und dieſe Dunkelheit als in der Sache ſelber
liegend iſt nie überwunden worden2).
Dennoch hat die Betrachtungsweiſe des Ariſtoteles, welche
den Staat als einen realen Zweckzuſammenhang dachte, ſich für
ein vergleichendes Studium des Staates höchſt fruchtbar
erwieſen. Sie hat auf dem Gebiet des Geiſtes eine nahezu ebenſo
Dilthey, Einleitung. 19
[290]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
eingreifende Arbeit für das Studium des Staates vollbracht, als
die Zweckbetrachtung des Ariſtoteles auf dem der Natur für die
biologiſchen Wiſſenſchaften geleiſtet hat. Ja auf dem politiſchen
Gebiet hatte dieſe Betrachtungsweiſe ein noch höheres Recht. Zwar
kann der Staat nicht als die Realiſirung eines einheitlichen Zweck-
gedankens aufgefaßt werden; ſelbſt der von Ariſtoteles ſo geſund
entwickelte Zweckbegriff der Eudämonie1) iſt nur eine abſtrakte
Formel. Aber in Wirklichkeit bilden doch Wille, Intereſſen und
Zwecke das Gefüge des Staates, und daher darf die von
Ariſtoteles in der Geſellſchaft angenommene Richtung auf Ver-
wirklichung der Eudämonie wenigſtens als eine unvollkommene
Abbreviatur des Thatbeſtandes angeſehen werden. Die Betrachtung
aus dem Zwecke, die Ariſtoteles anwendet, gelangt daher hier auf
den Boden der Thatſächlichkeit. So konnte ſie durch eine kom-
parative Analyſe der Staaten die Grundzüge ihrer Struktur feſt-
ſtellen und die Hauptformen des politiſchen Lebens beſtimmen.
Und ſie hat dieſe Leiſtung mit ſolcher Vollendung ausgeführt,
daß die ſo geſchaffenen Begriffe ihren Werth bis heute behauptet
haben. Dieſe Arbeit des Ariſtoteles und ſeiner Schule war die Vor-
bedingung erklärender Methoden auf dem Gebiet der Staatswiſſen-
ſchaften, wie ſie dieſelbe auf dem der Biologie geweſen iſt.
So hat auch hier die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
ſich in einem Stadium der Wiſſenſchaft fruchtbar erwieſen, in
welchem die Mittel einer Zerlegung in den Zuſammen-
hang der Vorgänge nach Geſetzen noch nicht vorhanden waren.
Alle Verbandsverhältniſſe, dies zeigte unſere eigene theoretiſche
Erörterung2), folgerecht auch der Staat, ſind, pſychologiſch angeſehen,
aus Verhältniſſen der Abhängigkeit und Gemeinſchaft zuſammenge-
ſetzt. Aus dieſem Syſtem der paſſiven und aktiven Willensbeſtim-
mungen entſpringt das pſychologiſche Verhältniß von Befehlen und
Gehorchen, von Obrigkeit und Unterthan, auf welchem die Willens-
einheit des Staates begründet iſt. Aber dieſes Syſtem von Abhängig-
[291]Die ihm entſprechende Aufgabe einer vergl. Zergliederung d. Staatsverf.
keiten und Gemeinſamkeiten iſt nur die Außenſeite der realen Be-
ziehungen der Intereſſen unter einander. Die inhaltlichen Faktoren
des Staatslebens liegen insbeſondere in den Zwecken und Intereſſen,
welche nicht durch das freie Ineinandergreifen der Handlungen der In-
dividuen zur Befriedigung gelangen. Hier gewahren wir die reale Seite
deſſen, was, nach den bloßen Willensverhältniſſen betrachtet, als Me-
chanik der Geſellſchaft und des Staatslebens ſich darſtellt und in der
Exiſtenz eines herrſchenden Staatswillens ſeinen Abſchluß findet.
Dieſen status der äußeren Willensverhältniſſe in einem Staate
können wir als Staatsform oder auch als Verfaſſung bezeichnen.
Dieſem Thatbeſtand entſpricht, daß die politiſche Wiſſenſchaft
in Ariſtoteles zunächſt durch Anwendung der vergleichenden
Methode die äußeren Formen oder die Verfaſſungen beſtimmt hat.
Das reale Leben des Staates iſt ſo außerordentlich komplex, daß
ſelbſt die moderne, wahrhaft analytiſche Wiſſenſchaft noch am
Anfang ſeiner wiſſenſchaftlichen Behandlung ſteht. Das Alterthum
beſaß aber die Bedingungen eines ſolchen wahrhaft analytiſchen
Verfahrens noch gar nicht. Ihm fehlten eine entwickelte Pſycho-
logie und die zwiſchen ihr und der Politik ſtehenden Einzelwiſſen-
ſchaften. Der Zuſammenſetzung der realen Zwecke im Leben des
Staates gegenüber war es ſo an einer fruchtbaren Analyſis ge-
hindert, welche erſt ſehr ſpät Wiſſenſchaften wie die politiſche
Oekonomie und Schriftſteller wie Niebuhr, Tocqueville zu voll-
bringen begonnen haben.
Sonach war die griechiſche Staatswiſſenſchaft auf
ihrem Höhepunkt in Ariſtoteles vorzugsweiſe Zergliederung der
Verfaſſungen. Durch dieſe Einſchränkung der Betrachtungsweiſe
iſt bedingt, daß dem Ariſtoteles der Staat ein anderer wird,
wenn die Staatsverfaſſung ſich ändert. Der Staat (πόλις) iſt
eine Gemeinſchaft (κοινωνία), das Weſen dieſer Gemeinſchaft (κοινωνία πολιτῶν)
wird durch die Verfaſſung (πολιτεία) bezeichnet; ſo-
nach ändert ſich mit der Verfaſſung der Staat. Die Perſonen bleiben
dabei dieſelben, wie ja dieſelben Perſonen den tragiſchen Chor
bilden und aus ihm in den Chor der Komödie eintreten. Ariſtoteles
gewahrt nicht hinter dem Wechſel der Staatsform die dauernde
19*
[292]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Intereſſengemeinſchaft des Volkes, welche das den politiſchen
Zuſammenhang Konſtituirende iſt, ſondern ihm iſt die Staats-
verfaſſung das Weſenhafte, welches den Staat ausmacht1). Dem
entſpricht, daß ſich ihm der Politiker zu den Staatsbürgern ver-
hält, wie der Künſtler zu ſeinem Stoffe. Die Maſſe bildet das
Material für den Aufbau des Staates2). So ſubſtituirt Ariſtoteles
einen falſchen Gegenſatz von Stoff und Form dem realen Zuſammen-
hang der Geſellſchaft, und dieſer Gegenſatz iſt auf dem Gebiet der
Staatswiſſenſchaft eben ſo verhängnißvoll für ihn geweſen, wie
auf dem der Naturwiſſenſchaften. In Wirklichkeit ſind im Staate
überall bildende Kraft, Zweckzuſammenhang, Intereſſenbezieh-
ungen, und überall Stoff: denn überall iſt Perſon. In den
Lebenszwecken des Volkes, welches ihn ausmacht, iſt auch das
Leben des Staates gegründet. Hier aber verſchwindet, wie in ge-
wiſſem Grade für den griechiſchen Menſchen überhaupt, das hiſto-
riſche Bewußtſein von Naturwachsthum ganz hinter dem Macht-
gefühl des politiſchen Menſchen, der den Staat wie ein bildender
Künſtler zu kneten beanſprucht. Und zugleich tritt das Bewußtſein
von Rechtskontinuität zurück; wie denn Ariſtoteles in obigem Zu-
ſammenhang die weitere Frage aufwirft, inwiefern nach Verände-
rung der Staatsverfaſſung die Verbindlichkeiten, welche der frühere
Staat eingegangen iſt, fortbeſtehen oder ebenfalls aufhören.
Und ſo beſtätigt ſich auf überraſchende Weiſe auch innerhalb
der Geiſteswiſſenſchaften das von uns aufgeſtellte Geſetz der
Entwicklung der europäiſchen Wiſſenſchaft. Dieſelbe ſucht zu-
nächſt die ſo ſehr zuſammengeſetzte Wirklichkeit direkt zu erkennen, be-
ſchreibt, vergleicht und geht auf vermuthete oder von der Metaphyſik
untergelegte Urſachen zurück. Allmälig erſt ſondert ſie einzelne
Kreiſe von Theilinhalten der Wirklichkeit ab und unterwirft ſie
einer beharrlichen und abſtrakten Kauſalunterſuchung. Die Phäno-
mene der Bewegung z. B. bilden einen ſolchen Kreis, die des wirth-
ſchaftlichen Lebens einen anderen. Der Gang der Erkenntniß ent-
wickelt nun in abſtrakten Wiſſenſchaften die Grundeigenſchaften der
[293]Dieſe Aufgabe entſpr. d. Stadium d. Metaphyſik d. ſubſtantialen Formen.
innerhalb der einzelnen Kreiſe zuſammengehörigen Theilinhalte und
erſetzt z. B. Zweckvorſtellungen, wie Ariſtoteles ſie als Erklärungs-
gründe benutzte, durch angemeſſene Begriffe. Metaphyſik in
ihrer herrſchenden Stellung innerhalb der Wiſſenſchaften iſt eine
dem erſteren Stadium der Betrachtung korrelative
Thatſache geweſen.
Die äußere Organiſation der Geſellſchaft in Staaten
hat am ſtärkſten die Blicke der Forſcher auf ſich gezogen, welche
die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtand
machten. Denn hier bot ſich das merkwürdige Phänomen einer
über die einzelnen Willen ſich erhebenden Willenseinheit. Dies
Phänomen mußte den Griechen noch weit erſtaunlicher als den
monarchiſchen Völkern des Oſtens erſcheinen. Denn letzteren ſtellte
ſich die Willenseinheit in ihren Königen auf eine perſönliche Weiſe
dar, dagegen war ſie in dieſen griechiſchen Politien gleichſam körper-
los. Dies Problem der Willenseinheit im Staate beſchäftigte die
als Sophiſten bezeichneten Schriftſteller. Mit einander ringende
Staaten bilden das Objekt der großen griechiſchen Hiſtoriker. Noch
war der Durchſchnittsmenſch, wie er in einer gegebenen Zeit lebt,
arbeitet, genießt und leidet, der Geſchichte ſo wenig ſichtbar als
die Menſchheit. Daſſelbe Problem beſchäftigte die ſokratiſche Schule
in erſter Linie und es ward Gegenſtand einer Theorie der Geſell-
ſchaft, welche dem metaphyſiſchen Standpunkt des europäiſchen
Denkens entſprach. In der nun geſchaffenen, vergleichenden Wiſſen-
ſchaft von Struktur und Formen der Staaten tritt die Korre-
ſpondenz zwiſchen einem ſehr glücklichen deſkriptiven Studium der
politiſchen Formen und der Metaphyſik hervor.
Dieſe vergleichende Wiſſenſchaft der Staaten geht, gemäß dem
Dargelegten, von der Betrachtung des Herrſchaftsverhält-
niſſes aus, wie es in der Verfaſſung ſeinen Ausdruck gewinnt.
Verfaſſung iſt für Ariſtoteles die Ordnung des Staates in Bezug
auf das Regiment der obrigkeitlichen Gewalten, insbeſondere der
über ihnen allen ſtehenden ſouveränen Gewalt1). Bürger iſt ihm
[294]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
dem entſprechend derjenige, welcher an den Funktionen der Staats-
verwaltung und Rechtspflege theilnimmt1). Und zwar legt Ari-
ſtoteles der Zergliederung der Verfaſſung in ihre Formbeſtandtheile
(die zu unterſcheiden iſt von der Erkenntniß aus den Faktoren
des Staates als einer Realität) ſowie der Aufſuchung der Haupt-
formen von Staatsverfaſſungen den in der ſokratiſchen Schule
entwickelten Begriff der Beziehung zwiſchen der politiſchen
Leiſtung und dem Antheil an der Herrſchaft ſowie den
Gütern zu Grunde. Ariſtoteles erweitert dieſen Begriff der
Leiſtung mit unbefangen realiſtiſchem, Thatſachen vergleichendem
Geiſte. — Die Leiſtung ſteht in Beziehung zu dem Zweck des
politiſchen Ganzen, um deſſen Leben und Wirken es ſich
handelt. Dieſer Zweck iſt in ſeinem Syſtem durch die aufſteigende
Reihe der die Arten der Lebeweſen unterſcheidenden Funktionen
beſtimmt und beſteht in der Eudämonie des Ganzen und
ſeiner Theile, der einzelnen Bürger. Der Staat iſt ſonach
einem lebenden, zweckmäßig wirkenden Weſen zu vergleichen.
Die Verſchiedenheit der Art von Eudämonie, welche das lebendige
politiſche Ganze gemäß ſeinen Lebensbedingungen ſucht,
beſtimmt die Verſchiedenheit in der Schätzung der Leiſtungen, und
dies wirkt auf den Anſatz der Proportion zwiſchen Leiſtungen
und Antheilen an der Herrſchaft ſowie an dem Nutzen. — Dieſe
Beziehungen konſtituiren die Struktur eines politiſchen
Ganzen. Das Bild dieſer Struktur eines lebendigen Weſens
vollendet ſich, indem Ariſtoteles rückwärts die Beziehungen zwiſchen
den Leiſtungen und den ſie begründenden Lebensverhältniſſen und
Lebensbedingungen verfolgt. So entſtehen die Grundlagen für
eine morphologiſche, vergleichende Betrachtung der Staaten ſowie
für die geniale Theorie von den Störungen der Proportion und
der Geneſis der Revolutionen.
Die vergleichende Staatswiſſenſchaft des Ariſtoteles hat ihre
Schranke darin, daß ſie für die Zergliederung nicht Kauſalbegriffe
aus ausgebildeten, weiter zurückliegenden Wiſſenſchaften benutzen
[295]Leiſtungen d. Ariſtoteles u. ſeiner Schule f. das Studium d. Geſellſchaft.
kann, ſondern in der Hauptſache auf unvollkommene Zweckvor-
ſtellungen angewieſen iſt. So ſchloß Ariſtoteles voreilig auf die
Naturnothwendigkeit der Sklaverei, weil er eine in der Phyſis an-
gelegte Ungleichheit der Menſchen annahm, ohne ihren Urſprung
in geſchichtlichen Verhältniſſen und die hierdurch gegebene Mög-
lichkeit einer Ueberwindung derſelben zu erwägen. So hat er die
Sonderung des natürlich Vollkommenen, dem Zweckzuſammenhang
Entſprechenden von den Abweichungen, wie dieſelbe in ſeiner
Phyſik ſo viel Unheil anrichtete, auch in die Politik hinein fort-
geführt; ſeine Sonderung der vollkommenen von den entarteten
Verfaſſungen muß als willkürliche Konſtruktion einer Wirklichkeit,
die nur Grade zeigt, verworfen werden. Aber am meiſten verhäng-
nißvoll wirkte die Einſeitigkeit, mit welcher er in der Verfaſſung
den Staat ſah. Der politiſche Formalismus des Ariſtoteles iſt für
die realiſtiſche Staatsbetrachtung in hohem Grade hindernd geweſen.
Ariſtoteles und die ariſtoteliſche Schule bilden aber weiter
den Mittelpunkt für eine unvergleichliche Thätigkeit von Samm-
lung, Geſchichtſchreibung und Theorie, welche über die Staats-
wiſſenſchaft hinausreicht. Neben den Theorien über Dichtung,
Beredſamkeit, wiſſenſchaftliches Denken und ſittliches Leben finden
wir Geſchichtſchreibung der Wiſſenſchaften, der Kunſtthätigkeit, der
religiöſen Vorſtellungen in der ariſtoteliſchen Schule. Ja Dikäarch
geht in ſeinem βίος Ἑλλάδος ſchon zu einer kulturgeſchichtlichen
Betrachtungsweiſe fort; er ſondert das fabelhafte goldene Zeitalter
eines mäßigen friedlichen Naturzuſtandes, das Auftreten des
Nomadenlebens und als eine weitere geſchichtliche Stufe die Seß-
haftigkeit, welche der Ackerbau hervorbringt; an die Naturbedin-
gungen Griechenlands knüpft er ein Bild des griechiſchen Lebens,
in welchem Sitten, Lebensgenuß, Feſte und Verfaſſungen in einer
inneren Verbindung geſehen werden. So ſtehen die Leiſtungen
der ariſtoteliſchen Schule für die Geiſteswiſſenſchaften in keiner
Weiſe hinter denen für die Naturwiſſenſchaften zurück.
Bezeichnen wir ſchließlich die Stellung des Studiums
der menſchlichen Geſellſchaft innerhalb des Zuſammen-
hangs der Wiſſenſchaft in dem durchlaufenen Zeitraum. Wie
[296]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
die einzelnen Theorien über die Syſteme der Kultur und über die
äußere Organiſation der Geſellſchaft aus der Aufgabe techniſcher
Anweiſungen für das Berufsleben hervorgegangen waren, ſo haben
ſie dieſen praktiſchen Charakter behalten, der auch der Politik die
Richtung auf die beſte Verfaſſung gab. Die theoretiſche Wiſſenſchaft
in ſtrengem Verſtande endigt im Ganzen für dieſe Philoſophen,
wo der Wille ſein Reich aufzubauen beginnt. Schon aus dieſer
Betrachtungsweiſe ergiebt ſich, daß dieſe Zeit das Problem noch
nicht ſah, wie Freiheit des Willens mit der Unterordnung
aller Erſcheinungen unter das Kauſalgeſetz verträglich ſei. Aber
dauernder als eine ſolche Einſchränkung der Metaphyſik, welche nur
vorübergehend ſein ſollte, wirkte in dieſer Richtung das allgemeine
und bleibende Verhältniß der ganzen Metaphyſik der
ſubſtantialen Formen zum Problem der Freiheit.
Dieſe Metaphyſik unterwarf dem Zuſammenhang des Erkennens
nur die allgemeinen Formen der Wirklichkeit, von dieſen wurde
aber die Freiheit des Individuums nicht berührt. Mit beneidens-
werther Sicherheit des in der inneren Erfahrung gegebenen Frei-
heitsbewußtſeins, ungeſtört noch von der Frage nach der Stellung
deſſelben zu dem Kauſalzuſammenhang, welche die Wiſſenſchaft auf-
ſtellt, ſpricht es Ariſtoteles aus, daß Handeln wie Unterlaſſen,
Tugend wie Laſter in unſerer Gewalt ſei1).
Achtes Kapitel.
Zerſetzung der Metaphyſik im Skepticismus.
Die alten Völker treten in das Stadium der Einzelwiſſenſchaften.
Die Stellung, welche Ariſtoteles der Erkenntniß zur Wirklich-
keit giebt, iſt die, welche die Metaphyſik ſelber ihr vorſchreibt.
Die erklärende Geſchichte der Metaphyſik hat daher nunmehr ihr
Hauptwerk gethan; nur Fortbildung der Metaphyſik liegt noch
vor ihr.
[297]Die griechiſche Wiſſenſchaft tritt in das Stadium d. Einzelwiſſenſchaften.
Inzwiſchen hatte ſeit dem Zeitalter der Sophiſten der Skepti-
cismus fortbeſtanden. Unmittelbar nach Ariſtoteles tritt Pyrrho
auf, der Begründer der ſkeptiſchen Schule. Die Debatten dieſer
Schule, insbeſondere aber der neueren, ſkeptiſch gerichteten Akademie
erfüllen das 3. und 2. Jahrhundert vor Chriſtus und erhalten
ihren Abſchluß in der Zuſammenfaſſung der Beweisführungen gegen
alle Wiſſenſchaften durch Sextus Empiricus. Sie zeigen, verglichen
mit dem Relativismus des Protagoras, einen Fortſchritt des ſkep-
tiſchen Gedankens, indem ſie auf Grund der nun geſchaffenen Logik
und Metaphyſik von den Unterſchieden der Wahrnehmung und des
Denkens, des Phänomens und des dem Phänomen objektiv zu Grunde
Liegenden, des Syllogismus und der Induktion etc. für die Durch-
führung des ſkeptiſchen Grundgedankens Gebrauch machen. Hier-
durch trat zwar noch deutlicher die Schranke heraus, welche durch
den griechiſchen Geiſt dem Skepticismus gezogen war; innerhalb
der Vorausſetzungen der alten Völker erwies ſich nun aber dieſer
Skepticismus als ganz unwiderleglich. Er blieb Sieger auf dem
weiten Kampfplatz der griechiſchen Metaphyſik.
Der Skepticismus.
Welche ſind die Grenzen in der Beweisführung der
ſkeptiſchen Schulen des Alterthums? Lieſt man, was übrig ge-
blieben iſt, ſo wird es nur verſtändlich, wenn wir von unſerem
höheren Standpunkt aus den Skeptikern zu Hilfe kommen, wenn
wir gleichſam heraufheben, was nach ihrem Standort unter ihrem
Horizont lag. So zeigt ſich, wie dieſelben ſolchergeſtalt nur beſtritten
und aufgelöſt haben, was ihr Geſichtskreis enthielt: die objek-
tive Welterkenntniß des Alterthums, daß jedoch dieſe ihre
Kritik Anderes gar nicht erblickte — und darum nicht traf. Das
Nicht-Wiſſen des Socrates war mit dem Affekt des Wahrheitsge-
fühls der Zukunft zugewandt. Pyrrho ſteht in ſich gekehrt an der
Grenze des Griechenthums. Er ſtellt ruhig feſt, daß alle Meta-
phyſik, alle poſitive Erkenntniß, welche der griechiſche Geiſt zu er-
blicken vermocht hatte, objektive Wahrheit nicht iſt. Die Zeit ſtand
bevor, in welcher von einem höheren Standort aus Anderes geſehen
[298]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
wurde, das die Skeptiker von Pyrrho bis Sextus Empiricus
nicht zu gewahren vermocht haben. Ihr Endurtheil über die ganze
Poſition des Metaphyſikers iſt in Geltung geblieben, ſie haben die
Metaphyſik zerſetzt: aber die Wahrheit iſt eben nicht Metaphyſik.
Alſo wir ergänzen durch unſere Einſicht, um die Skeptiker
von Grund aus zu verſtehen. Sie ſprechen von einem Wahr-
nehmungszuſtand, den der Menſch erleidet 1), und unterſcheiden
dieſen vom Erkennen 2). Aber keine Ahnung iſt in ihnen, daß das
Innewerden eines ſolchen Zuſtandes, welches ſie nicht beſtreiten,
eben ſelber ein Wiſſen und zwar das ſicherſte Wiſſen iſt, von
welchem jede Erkenntniß ihre Gewißheit zu Lehen tragen muß. Viel-
mehr ſuchen ſie gemäß dem metaphyſiſchen Standpunkt die Wahrheit
ausſchließlich in dem, was als objektive Grundlage dem in der
äußeren Wahrnehmung gegebenen Phänomen vom Denken unterge-
legt wird 3). Sie erkennen daher zwar das Sehen, das Denken als
einen zweifelloſen Thatbeſtand an; aber derſelbe ſchließt für ſie
nicht ein werthvolles Wiſſen, nämlich von den Thatſachen des Be-
wußtſeins, in ſich. In Folge davon entwickeln ſie nicht klar, daß
die Außenwelt nur Phänomen für das Bewußtſein ſei, und gelangen
ſonach nicht zu einer folgerichtigen Anſchauung der Außenwelt in
dieſem Sinne 4), ſondern ſie fragen nur, ob der im Bewußtſein
gegebene Sinneseindruck als ein Zeichen von der objektiven Grund-
lage ſolcher Phänomene benutzt werden kann. Und ſie leugnen das
mit Recht. Sie verneinen richtig jede Art von Erkenntniß dieſer
objektiven Unterlage der Phänomene: des Kant’ſchen Dinges an
ſich 5). Alſo nur darin irren ſie, daß ſie auf Grund hiervon die
Möglichkeit des Wiſſens beſtreiten.
[299]Die Schranken des antiken Skepticismus.
So erklärt Sextus Empiricus ausdrücklich: der Skeptiker hebt
das Erſcheinende nicht auf; er erkennt den paſſiven Zuſtand, in dem
er ſich in der Wahrnehmung findet, an und bezweifelt nur jede Be-
hauptung über das dieſem Zuſtand objektiv zu Grunde Liegende 1).
Bei Diogenes Laertius findet man damit übereinſtimmend die
Grenzen des Skepticismus angegeben, wie ſie von den Skeptikern
gegenüber den Entſtellungen der Metaphyſiker feſtgeſtellt wurden.
Zuſtände, die wir erleben, Phänomene (τὰ φαινόμενα), werden nicht
bezweifelt, wol aber jede Erkenntniß deſſen, was wahrhaft iſt,
deſſen nämlich, was in der Außenwelt ihnen zu Grunde liegt 2).
Dieſe ausdrücklichen Erklärungen zeigen, daß den Skeptikern
die richtige Verwerthung der von ihnen anerkannten Phänomene
des Bewußtſeins für das Problem des Wiſſens durchaus fehlt.
Daher leugnen ſie jedes Wiſſen von etwas wahrhaft Seiendem,
während ſie im Grunde nur eine Erkenntniß der Außenwelt wider-
legt haben. Am deutlichſten wird dieſe Grenze ihres Denkens
durch einen ſonderbaren Streit. Sagen die Skeptiker: Alles iſt
falſch, ſo erklären die Metaphyſiker: alſo auch dieſe Behauptung,
und ſonach hebt ſie ſich ſelber auf. Die gründlichſte Erwiderung
der Skeptiker hierauf iſt: der Skeptiker drückt mit ſolchen Worten
nur ſeinen eigenen Zuſtand aus, anſichtslos, ohne über das außer-
halb ſeiner den Phänomenen Unterliegende irgend etwas auszuſagen 3).
Da muß denn der Erkenntnißtheoretiker hinzutreten, um den Streit
zu ſchlichten, und muß erklären: eben in dieſem Zuſtand iſt ein
wahrhaftes Wiſſen gegeben, und in ihm liegt der Ausgangspunkt
aller Philoſophie.
Nachdem wir uns dieſe Schranken des Skepticismus klar ge-
macht haben, verweiſen wir nunmehr mit Entſchiedenheit jeden,
welcher eine Erkenntniß der objektiven Unterlage des in unſeren
Eindrücken Erſcheinenden für möglich hält, auf die definitive Be-
ſeitigung jedes Verſuchs ſolcher Art, wie ſie in den auf uns ge-
kommenen Ueberreſten der vortrefflichen ſkeptiſchen Schule enthalten
[300]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
iſt. Der Relativismus der modernen Philoſophen iſt von
dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er
ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht.
Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer
Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der
Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre
des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon
entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines
widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der
Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe.
Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die Unmöglich-
keit, den objektiven Zuſammenhang der Außenwelt zu erkennen,
durch die Kritik der Wahrnehmung ſowie durch die des
Denkens. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche
das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem
die empiriſtiſche Schule ſeit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um
in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich
aber die rationale Schule zu demſelben Zwecke das Denken zer-
gliederte: wobei ſich dann unwiderſprechlich herausſtellte, daß weder
hier noch dort eine Quelle metaphyſiſcher Erkenntniß des objektiven
Zuſammenhangs der Erſcheinungen zu entdecken ſei.
Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth
des in der ſinnlichen Wahrnehmung Gegebenen? Die
Erſcheinungsbilder ſind zunächſt bedingt durch die Sinnes-
organe. Die protagoreiſche Begründung des Relativismus durch
Beobachtungen über die Sinne iſt nunmehr vermittelſt eines vor-
geſchrittenen biologiſchen Studiums vertieft. — Die Sehwerkzeuge
der lebenden Weſen ſind ſehr verſchieden und zwingen uns,
auf eine Verſchiedenheit der durch ſie bedingten Geſichtsbilder zu
ſchließen. Hier wendet dieſe Schule die Methode an, ſubjektive
Sinneserſcheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter
denen ſie auftreten, als Analogien zu benutzen, um ſich über die
Abweichungen der Geſichtsbilder der Thiere von den normalen
menſchlichen Geſichtseindrücken eine Vorſtellung zu bilden. Daſſelbe
Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver-
[301]Er erweiſt die Unmöglichkeit einer metaphyſiſchen Erkenntniß.
folgt. Bei trockner Zunge in der Fieberhitze haben wir andere Ge-
ſchmacksempfindungen als in normalem Zuſtande, und ſo kann an-
genommen werden, daß auch die entſprechenden Verſchiedenheiten
in der thieriſchen Organiſation von einer Verſchiedenheit der Ge-
ſchmacksempfindungen begleitet ſind. Das Ergebniß wird in folgen-
dem ſchönen Bilde zuſammengefaßt: wie der Druck derſelben Hand
auf die Leier bald einen tiefen Ton bald einen hohen bewirkt, ſo
bringt das Spiel derſelben wirkenden Objekte in Folge der in dem
Bau lebender Weſen liegenden feinen und mannigfachen Abſtim-
mung der Empfindungen ganz verſchiedene Phänomene hervor.
— Dieſelbe Verſchiedenheit kann alsdann innerhalb der Men-
ſchenwelt feſtgeſtellt werden; die phantaſtiſchen Geſichtserſchei-
nungen ſowie die großen Differenzen in der Reaktion auf Ein-
drücke durch Luſt und Unluſt ſind hiefür Belege. — Nun ſind
aber weiter die Objekte uns in fünf Arten von Sinnes-
wahrnehmungen gegeben; ſo iſt derſelbe Apfel als glatt,
wohlriechend, ſüß, gelb für uns da. Wer kann nun ſagen, ob
er nur Eine Beſchaffenheit hat, nach der verſchiedenen Einrich-
tung der Sinnesorgane aber verſchieden erſcheint? Das obige
Bild von dem Drucke derſelben Hand auf die Leier kann dieſe
Möglichkeit veranſchaulichen. Und kann nicht eben ſo gut der
Apfel die fünf verſchiedenen, ja noch mehrere uns unbekannte
Eigenſchaften haben? Ein zugleich Blind- und Taubgeborener
nimmt an, daß nur drei Eigenſchaftsklaſſen der Objekte vorhanden
ſind. Dazu aber ſind wir nicht berechtigt, ſolchen Bedenken gegen-
über die Natur zu Hilfe zu rufen, welche unſere Sinnesorgane
ihren Gegenſtänden korreſpondirend mache. — Ja ſelbſt innerhalb
des einzelnen Sinnesorgans ſind die Eindrücke von dem
Wechſel ſeiner Zuſtände abhängig. Daſſelbe Waſſer ſcheint,
auf entzündete Stellen gegoſſen, ſiedend zu ſein, welches von dem
normalen Temperaturgefühl der Haut als lau empfunden wird. —
So nahe rückt die ſkeptiſche Lehre an die Theorie der Sinnes-
energien, wie Johannes Müller ſie begründet hat, heran 1).
[302]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die Einſicht in die Relativität der Sinnesbilder erweitert ſich,
indem wir gewahren, wie die wechſelnden äußeren Um-
ſtände, unter denen ein Objekt gegeben iſt, eine Verſchiedenheit
der Eindrücke bedingen. Dieſelbe objektive Urſache des Tons bringt
in dünner Luft einen anderen Eindruck als in dicker hervor;
ſchabt man das Horn der Ziege, das in dem Beſtand des Ganzen
ſchwarz erſcheint, ſo ändert ſich der Sinneseindruck in Weiß; ein
einzelnes Sandkorn erſcheint hart, ein Sandhaufen weich 1).
So gewinnt der Skeptiker die allgemeine Formel von
der Relativität jedes Wahrnehmungsbildes oder Sinnes-
eindrucks. Alle von ihm aufgeſtellten Tropen erweiſen ſich ſchließ-
lich als Specifikationen des Einen umfaſſenden Theorems von der
Relativität der Eindrücke 2). Dieſe Eindrücke ſind durch das Subjekt
ſowie durch die äußeren Bedingungen, unter denen das Objektive
auftritt, bedingt; und ſo kann man im Gegenſatz zu aller Meta-
phyſik, welche zum Weſenhaften hindurch zu dringen behauptet,
ausſprechen, daß die Wahrnehmungen nur Relationen des Ob-
jektiven ausdrücken können.
Und der Verſtand? das Denken? Die Widerlegung der
objektiven Naturerkenntniß durch die Skeptiker iſt an dieſem Punkte
weit unvollkommener als in der Unterſuchung über den Erkennt-
nißwerth der ſinnlichen Wahrnehmung. — Die Vernunftwiſſenſchaft
von Plato und Ariſtoteles war in Mißkredit gerathen. Carneades
geht davon aus, daß der Verſtand ſeinen Stoff aus der Wahr-
nehmung ſchöpfen muß. Bleiben wir daher zunächſt innerhalb
dieſer Vorausſetzung. Das Problem empfängt hier ſeine all-
gemeinſte Faſſung durch den Begriff des Kriteriums. Es iſt
klar, daß die Wahrnehmungen nicht ein Kriterium in ſich tragen,
welches die falſchen von den wahren ſchiede. Wir vermögen nicht
jene von dieſen nach einem inneren Kennzeichen, das ſie an ſich
haben, zu ſondern. Das Kriterium muß alſo im Denken, im
[303]Er erweiſt die Unmöglichkeit einer metaphyſiſchen Erkenntniß.
Verſtande geſucht werden. Das Denken iſt hier nun aber in der-
ſelben Lage wie Jemand, der das Portrait einer ihm unbekannten
Perſon vor ſich ſieht und aufgefordert wird, die Aehnlichkeit dieſes
Portraits aus demſelben allein zu beurtheilen; unſer Verſtand kann
aus den Bildern in den Sinnen auf das Unbekannte, das ihnen
zu Grunde liegt, nicht ſchließen. — Nehmen wir dagegen mit
Plato und Ariſtoteles an, das Denken habe einen eigenen Gehalt,
ſo können wir das Verhältniß deſſelben zu der Realität nicht feſt-
ſtellen. Der Verſtand im Innern des Menſchen enthält in ſich
kein Datum zur Feſtſtellung deſſen, was draußen iſt. Auch ver-
mag das Schlußverfahren nicht in ſolchen Schwierigkeiten zu Hilfe
zu kommen. Die Skeptiker erkennen ſchon vollſtändig: ſoll der
Oberſatz eines Syllogismus ſicher ſein, ohne aus anderen Syllo-
gismen nur abgeleitet zu ſein, ſo muß er durch eine vollſtändige
Induktion erwieſen werden, und in dieſem Falle iſt das im Schluß-
ſatz ſcheinbar Gewonnene ſchon in dem Oberſatz enthalten; ſonach
entſteht im Schluß nicht eine neue Wahrheit. Jedes Schluß-
verfahren ſetzt alſo eine Wahrheit letzter Inſtanz ſchon voraus,
welche aber für den Menſchen weder in der Wahrnehmung noch
im Verſtande vorhanden iſt.
Dieſe Beweiſe von der Unmöglichkeit einer Erkenntniß des
Objektiven ſind durchweg ſiegreich gegenüber jeder Meta-
phyſik, da dieſelbe einen objektiven Zuſammenhang der Welt
außer uns nachzuweiſen beanſprucht. Sie widerlegen nur nicht
Erkenntniß überhaupt. Ueberſehen ſie doch, daß in uns ſelber
eine Realität gegeben iſt, welche nicht abgewieſen werden kann.
Die Disjunktion: entweder äußere Wahrnehmung oder Denken,
hat eine Lücke. Dies verkannten die Skeptiker, und noch Kant hat
es nicht geſehn.
Der Skepticismus deckt aber auch die Schwierigkeiten
in den realen Begriffen auf, welche die Bänder jeder meta-
phyſiſchen Konſtruktion der Welt ſind, und zwar ſind dieſe
Schwierigkeiten theilweiſe unbeſieglich. — So ſieht er richtig, daß
der Begriff der Urſache nicht eine Realität, ſondern eine bloße
Relation ausdrückt; als ſolche Relation hat aber die Urſache keine
[304]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
reale Exiſtenz, ſondern wird nur zu dem Wirklichen hinzuge-
dacht 1). Er bemerkt, daß die Urſache weder als der Wirkung
vorausgehend noch als ihr gleichzeitig gedacht werden kann. Ja
ihm zeigt ſich, daß jeder Verſuch, das Verhältniß von Urſache
und Wirkung in ſeinen einzelnen Beſtandtheilen klar zu denken,
unausführbar iſt. Demgemäß erfuhr die Denkbarkeit des Verhält-
niſſes von Urſache und Wirkung von Seiten des Skepticismus
bereits Angriffe, welchen gegenüber es keine Vertheidigung giebt. —
Der Begriff Gottes als der Welturſache wird von Carneades
dem Zweifel unterworfen, in einer ſehr flachen Beſtreitung der
flachen im Menſchen den Naturzweck erblickenden Teleologie, als-
dann aber vermittelſt einer Aufdeckung der Antinomie zwiſchen
den Eigenſchaften eines perſönlichen Weſens und der Natur des
Vollkommenen und Unendlichen 2). — Ebenſo werden in den mathe-
matiſchen und phyſikaliſchen Grundbegriffen von Körper, Aus-
dehnung, Bewegung, Miſchung die bekannten Schwierigkeiten
für den zerlegenden Verſtand nachgewieſen.
Der Gegenſatz der ſkeptiſchen Schulen zu der praktiſchen
Philoſophie der Metaphyſiker koncentrirte ſich in der Beſtreitung
der fundamentalen Theorie vom höchſten Gute. Auch dieſe
Polemik zeigt den ſchwachen Punkt in ihrer Poſition ſehr deutlich.
Ihr ſcharfſinnigſtes Argument iſt dieſes. Ein Streben des Willens
nach dem Gutem als ſeinem Objekt ſetzt voraus, daß nicht in
dieſem Streben ſelber ſchon das Gute gelegen ſei, da wir ja aus
dem Zuſtande des Strebens heraustreten wollen, ſondern in ſeinem
Ziele. Nun kann dieſes Ziel nicht ein Thatbeſtand außer uns,
ſondern muß unſer eigener Zuſtand, unſere Gemüthsverfaſſung
ſein; auch ein körperlicher Zuſtand iſt nur in der Gemüthsver-
faſſung für uns als Gut vorhanden. Soweit iſt die Darlegung
vortrefflich. Aber nun tritt wieder die beſtändig wirkende Ver-
wechſelung des unmittelbaren Wiſſens mit abſtrakter Erkenntniß
[305]Fortg. d. Differenz. d. Wiſſenſch. u. Abſond. d. Einzelwiſſenſchaften.
ein. Wir können nicht erkennen, welche Gemüthsverfaſſung für
uns das Gute ſei, da wir nicht einmal wiſſen, ob und was
die Seele iſt, um deren Verfaſſung es ſich handelt. Ein grober
Trugſchluß des Skepticismus!
Die nachariſtoteliſche Metaphyſik und ihr
ſubjektiver Charakter.
Die Philoſophie war die organiſatoriſche Macht geweſen, welche
noch zuletzt in der ariſtoteliſchen Schule den ganzen Inbegriff der
wiſſenſchaftlichen Forſchungen geleitet hatte, wie in der platoniſchen
Schule die mathematiſche und aſtronomiſche. Die Geſchichte des
ſkeptiſchen Geiſtes, wie wir ihn geſchildert haben, zeigt aber, daß
auch die Vollendung der Metaphyſik in Ariſtoteles nicht vermocht
hatte, den negativen erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt, welcher in
den Sophiſten zunächſt einer unvollkommneren Metaphyſik gegen-
übergetreten war, zu überwinden. Andrerſeits war nunmehr eine
Aenderung dadurch vorbereitet, daß unter dem organiſatoriſchen Ein-
fluß der metaphyſiſchen Philoſophie Natur- und Geiſteswiſſen-
ſchaften herangewachſen waren. So vollzog ſich in dem
großen Differenzirungsproceß des europäiſchen Geiſtes eine
weitere Sonderung. Von der Metaphyſik, der Naturphiloſophie
und der praktiſchen Philoſophie löſten ſich nunmehr die Einzelwiſſen-
ſchaften bis zu einem gewiſſen Grade los. Jedoch geſchah dieſe
Abtrennung noch nicht ſo folgerichtig als in der neueren Zeit. Viele
der bedeutendſten poſitiven Forſcher blieben in einem Schulver-
band oder doch in innerer Beziehung zu einer der metaphyſiſchen
Schulen. Dieſem Gange der Entwicklung entſprach, daß zugleich
neue metaphyſiſche Sekten entſtanden, welche ſich in den Dienſt
der perſönlichen Befriedigung des Gemüths begaben.
So ſondern ſich eine Metaphyſik, welche die Leitung der
wiſſenſchaftlichen Bewegung aufgiebt, und Einzelwiſſenſchaften, die
ſich poſitiv, von Empirie und Vergleichung aus, entwickeln.
Stoiſche, epikureiſche, eklektiſche Metaphyſik waren Mächte der
Kultur, der großen gebildeten Geſellſchaft; die Einzelwiſſenſchaft
Dilthey, Einleitung. 20
[306]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
dagegen ſtützte ſich ausſchließlich auf Erfahrung und trat in den
Dienſt jener Civiliſation, welche der Herrſchaft über die Erde
zuſtrebt.
Die bezeichneten metaphyſiſchen Syſteme haben auf ein-
fachere Weiſe Ergebniſſe zuſammengefaßt und erlernbar gemacht; ſie
haben dieſelben möglichſt den Angriffen der Skeptiker durch geringere
Anforderungen an Strenge des Beweisverfahrens entzogen und dem
anwachſenden empiriſchen Geiſte angenähert. So liegt ihr Ziel in
einer Gemüthsverfaſſung, ihr Zuſammenhang in der allgemeinen
Kultur, ihre Darſtellungsform in der Vereinfachung. Der Ato-
mismus iſt durch die Epikureer nicht fruchtbarer für die Er-
klärung der komplexen Thatſachen der Natur geworden, als er in
dem Syſtem des Demokrit geweſen war. Denn die Annahme der
Epikureer, daß die Atome im leeren Raume von oben nach unten
kraft ihrer Schwere fallen, und zwar mit gleicher Geſchwindigkeit
und einer Abweichung von der ſenkrechten Linie, war ſo augenſchein-
lich ungeeignet zur Erklärung des Kosmos, daß nur der Leichtſinn
der Schule und ihre rückſtändigen aſtronomiſchen Anſichten dieſen
Theil des Syſtems erklärlich machen. Der Monotheismus
hat, wenn auch die Stoa ihn nun dem Empirismus nähert oder
pantheiſtiſch färbt, den Gegenſatz einer bewegenden, die Formen
in ſich faſſenden Kraft und des Stoffes nicht überwunden.
Die Geſchichte hat nur zu verzeichnen, daß von dem Auf-
treten des Leukipp ab der Gegenſatz einer mechaniſchen,
atomiſtiſchen Erklärung der Natur und einer theiſtiſchen,
teleologiſchen fortbeſtanden hat, ſo lange die alten Völker lebten.
Die atomiſtiſche Gedankenarbeit war keinen Tag unterbrochen. Ihr
iſt der Kosmos ein bloßes Aggregat; die Theile ſtehen in ihm
ein jeder für ſich, als gäbe es keine anderen. Der Anfangszuſtand
der Welt, von dem ſie ausgeht, iſt dem erſten Zuſtand der Ge-
ſellſchaft, den die naturrechtlichen Theoretiker erſannen, zu ver-
gleichen, nach welchem Individuen in die Welt geworfen ſind,
die nur an ſich denken und nun in der Enge derſelben aneinander-
prallen. Und zwar bildet ſich mit immer klarerer Einſeitigkeit dieſe
Richtung aus, welche das ganze Problem eliminirt: wie können
[307]Subjektiver Charakter der nachariſtoteliſchen Metaphyſik.
Einzeldinge unter gemeinſamen Geſetzen ſtehen und auf einander
wirken? So pflanzt ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht der Kampf
fort zwiſchen der Klarheit, welche nur das ſinnlich Vorſtellbare
anerkennt, und der Tiefe, welche das Unfaßbare und doch That-
ſächliche eines Zuſammenhangs ausdrücken möchte, der in keinem
einzelnen ſinnlichen Element wohnen kann. Goethe nennt das
einmal den Kampf des Unglaubens und des Glaubens und erklärt
dieſen Gegenſatz für den tiefſten in aller Geſchichte. Die mecha-
niſche Philoſophie ſowie andrerſeits die ſkeptiſche haben innerhalb
der alten Welt ſich der Zurückführung der beſonders an der
Geſtirnwelt angeſchauten Naturordnung auf eine intellektuelle Ur-
ſache entzogen. Der Skepticismus leugnete in Folge ſeiner un-
fruchtbaren, rein negativen Stellung zu den Phänomenen die Er-
kennbarkeit des Seienden überhaupt. Die Philoſophie der Atomiſten
erhielt wenigſtens dasjenige Problem rege, deſſen wiſſenſchaftliche
Behandlung bei den neueren Völkern dann die Metaphyſik der
intellektuellen Urſache in Frage geſtellt hat: das Problem einer
mechaniſchen Erklärung des Kosmos.
An Einem Punkte findet eine Veränderung ſtatt, welche ſich
von der Metaphyſik zu den großen Fragen der Einzelwiſſenſchaften
erſtreckt und für die weitere intellektuelle Entwicklung von außer-
ordentlich bedeutenden Folgen iſt. Die Bedingungen, unter denen
die national-griechiſche Staatswiſſenſchaft geſtanden
hatte, ſind nun vorüber. In der Zeit ihrer Herrſchaft galt es,
den Einzelſtaat zu einem Athleten zu bilden; die Freiheit, welche in
dieſen Staaten beſtand, war ein Antheil an der Herrſchaft geweſen,
und ein moderner Menſch würde den Zuſtand eines atheniſchen
Bürgers in der Zeit von Kleon in vieler Rückſicht als Sklaverei
empfunden haben. Wol hatte ſich ſchon mitten in der Zeit nationaler
Entwicklung hiergegen ein Widerſpruch geregt. Die politiſchen
Schriften des immer noch nicht genug gewürdigten Antiſthenes ſowie
des Diogenes, von denen der eine nicht Vollbürger, der andere ein
Verbannter war, haben die innere Freiheit des Weiſen gegenüber
dem Drucke des Staates, ja ein Gefühl von Fremdheit des
inneren Lebens gegenüber dem ganzen Lärme des äußeren politiſchen
20*
[308]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Apparats geltend gemacht. Wie die national-griechiſche Entwicklung
zu Ende gegangen iſt, wie die Züge Alexander’s den Oſten er-
ſchließen und alsdann ſpäter das römiſche Imperium ſeine welt-
geſchichtliche Miſſion einer Vereinigung aller kultivirten Nationen
unter Einem Rechte und Einem Haupte zu vollbringen ſich anſchickt:
verändert ſich allmälig das Lebensgefühl des Menſchen, der den
Griechen und Italiker mit dem dunkel gefärbten Bewohner der
öſtlichen Länder tagtäglich vergleicht und das gemeinſam Menſchliche
fühlt; das Band, das den Orientalen, der in Griechenland lebt
und lehrt, den Nationalgriechen, der unter einem macedoniſchen
Fürſten oder ſpäter unter römiſchen Optimaten ſteht, mit dem Staate
verbindet, iſt von gänzlich anderer Art als das, welches einen
Socrates mit dem Rechte ſeiner Heimathſtadt verbunden hatte. So
entſteht eine gänzlich veränderte politiſche Philoſophie.
Die Literatur über den Staat iſt in beſtändigem Wachsthum
begriffen. Cicero ſpricht mit Bewunderung von der großen Zahl
und der geiſtigen Bedeutung der politiſchen Werke aus der Schule
von Plato und Ariſtoteles; wir kennen die Titel der politiſchen
Schriften von Speuſipp aus Athen, von Xenocrates aus Chal-
cedo, von Heraclides aus dem pontiſchen Heraclea, dann die von
Theophraſt aus Ereſus (eine große Zahl), von Demetrius aus
Phalerum, von Dikäarch aus Meſſana. Neben die augenſcheinlich
geringe Zahl von politiſchen oder vielmehr gegen das politiſche
Leben gerichteten Schriften der Epikureer tritt eine reiche ſtoiſche
politiſche Literatur, Schriften des Zeno aus Citium, des Cleanthes
aus Aſſus, des Herill aus Karthago, Perſäus aus Citium, Chry-
ſipp aus Soli, Sphärus vom Bosporus, Diogenes aus Seleucia,
Panätius aus Rhodus. Man bemerkt, daß in der ſtoiſchen
Schule die Herkunft aus Barbarenländern bedeutend überwiegt.
Zeno wird als ein Phönicier bezeichnet; Perſäus ſoll zunächſt
Sklave Zenos geweſen ſein. Indem die Stoa die Barbarenvölker
zu ſich heranzieht, indem alsdann die Uebertragung der griechiſchen
Spekulationen über Staat und Recht auf die Römer ſtattfindet,
vollzieht ſich eine Verbindung der politiſchen Wiſſenſchaft, ins-
beſondere der ſtoiſchen, mit den Monarchien, die auf Alexander
[309]Die politiſche Wiſſenſchaft der metaphyſiſchen Schulen.
folgen, und ihren Lebensbedürfniſſen, alsdann mit dem römiſchen
Staatsleben. Die ſtoiſche Schule verknüpft nun eine verein-
fachte teleologiſche Metaphyſik mit dem Gedanken des
Rechtes der Natur, und in dieſer dem praktiſchen Bedürfniß
angepaßten Zuſammenfaſſung lag ein Hauptmoment ihrer Wirkung.
Durch die Römer vollzieht ſich dann die epochemachende Ver-
bindung der Spekulationen über das Naturrecht mit der
poſitiven Jurisprudenz.
Und in dieſer Literatur arbeitet ſich nun ein verändertes
geſellſchaftliches Gefühl des Menſchen der letzten Jahrhunderte
vor Chriſtus durch. Dies iſt ſchon in der Art bemerkbar, in welcher
der ſelbſtſüchtige Quietismus der Epikureer das Naturrecht der
älteren nationalen Zeit umformt. Der Staat iſt nach dieſer Schule
auf einen Sicherheitsvertrag gegründet, der von dem Intereſſe
diktirt wird; ſo iſt der Privatmenſch und deſſen Intereſſe der
Maßſtab ſeines Werthes. Das veränderte geſellſchaftliche Gefühl
findet aber einen würdigeren Ausdruck in der politiſchen Wiſſenſchaft
der ſtoiſchen Schule. Die monotheiſtiſche Metaphyſik entwickelt
hier Folgerungen, welche durch den nationalgriechiſchen Geiſt und
ſeine Inſtitutionen vorher gehemmt waren. Nun wird die Ge-
ſammtheit aller vernünftigen Weſen als Ein Staat betrachtet, in
welchem die Einzelſtaaten enthalten ſind, wie Häuſer in einer
Stadt. Dieſer Staat lebt unter Einem Geſetz, das als allgemeines
Naturgeſetz über allen einzelnen politiſchen Rechtsordnungen ſteht.
Die einzelnen Bürger dieſes Staates ſind mit gewiſſen Rechten aus-
geſtattet, die auf jenem allgemeinen Geſetz beruhen. Der Wirkungs-
bereich des Weiſen iſt dieſer Weltſtaat.
Die Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften.
Zugleich traten nun die alten Völker, wie erwähnt, in das
Stadium der Einzelwiſſenſchaften. Intellektuelle Veränderungen ſo
durchgreifender Art pflegen mit Abänderungen in der Stellung der
Perſonen, welche ihre Träger ſind, ſowie der Einrichtung der wiſſen-
ſchaftlichen Anſtalten verbunden zu ſein. Neben die Philoſophen-
[310]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſchulen traten nun die von Fürſten und Staaten gegründeten wiſſen-
ſchaftlichen Anſtalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen
einer großherzigen und weiſen Politik Mittelpunkt der neuen geiſtigen
Bewegung; die intellektuelle Herrſchaft ging damit von Athen
dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Obſervatorien
mit einem immer reicheren Apparat von Inſtrumenten, der
zoologiſchen und botaniſchen Gärten, der Anatomien und unge-
heuren Bibliotheken, um an der Spitze dieſer poſitiven Wiſſen-
ſchaften zu bleiben. Was nun geſchah, iſt nicht geringer, als
was die metaphyſiſche Bewegung bisher geſchaffen hatte. Wenn
das Eintreten der neueren europäiſchen Völker in das Stadium
der poſitiven Wiſſenſchaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab
Renaiſſance iſt, ſo werden in dieſer die poſitiven Forſchungen da
aufgenommen, wo die Einzelwiſſenſchaften der Alten den Faden
ihrer Arbeit hatten fallen laſſen müſſen, und niemand glaube, daß
die Epiſode des italieniſchen Platonismus oder die Erneuerung des
reinen Ariſtoteles in Italien und Deutſchland den Kern der euro-
päiſchen Renaiſſance, ſofern ſie intellektuelle Entwicklung iſt, ge-
bildet habe.
Jedoch bildete der Erwerb des metaphyſiſchen Sta-
diums der alten Völker die Grundlage für die Leiſtungen dieſer
folgenden Zeit, in welcher das Schwergewicht des intellektuellen
Fortſchritts in den Einzelwiſſenſchaften lag. — Die erſte Bedingung
dieſes Fortſchritts ſind die erworbenen Begriffe. So hatte die
griechiſche Metaphyſik die Begriffe von Subſtanz und Atom hervor-
gebracht, die von Urſache und Bedingung oder Grund unterſchieden
und den Begriff von Form auf den einzelnen Gebieten durchgeführt.
Sie hatte Grundverhältniſſe, wie die Beziehung zwiſchen Struktur,
Funktion und Zweck in einem Organismus oder zwiſchen Leiſtung
und Antheil an Herrſchaft und Gütern in einem politiſchen Ganzen
aufgezeigt. — Die zweite Bedingung lag in der Entwicklung von
grundlegenden, wenn auch an Evidenz ungleichen Sätzen.
Solche waren: es giebt keinen Uebergang aus dem Nichts zum Sein
oder aus dieſem zurück in das Nichts; es kann nicht daſſelbe in
derſelben Beziehung behauptet und verneint werden; räumliche Be-
[311]D. Erkennen d. alt. Völker tritt i. d. Stadium d. Einzelwiſſenſchaften.
wegung hat den leeren Raum zur Vorausſetzung. — Endlich lag
eine wichtige Bedingung in dem logiſchen Bewußtſein. Die
Arbeit an der Unterwerfung des Wirklichen unter die Erkenntniß
hatte die griechiſchen Geiſter während der ſophiſtiſchen Epoche in
eine revolutionäre Bewegung gebracht, in deren Strudel einmal die
ganze griechiſche Wiſſenſchaft unterzugehen drohte. Die wiſſenſchaft-
liche Geſetzgebung der ariſtoteliſchen Logik überwand dieſe Revolution
und ermöglichte erſt den ruhigen Fortſchritt der poſitiven Wiſſen-
ſchaften. In ihr lag die Vorausſetzung für den Aufbau der mathe-
matiſchen Wiſſenſchaften, wie ſie ein Euklid zeigt. Nur ihrer Hilfe
verdankte man es, daß zu derſelben Zeit, in welcher Metaphyſiker
und Phyſiker über die Möglichkeit eines Kriteriums der Wahrheit
ſtritten, das Elementarwerk des Euklid hervortreten konnte, welches
in der unangreifbaren Verkettung ſeiner Beweiſe den Widerſpruch
der ganzen Welt herauszufordern ſchien und das klaſſiſche Vorbild
von Evidenz geworden iſt.
Die Schranken dieſer Metaphyſik machten ſich folgerecht auch
in dieſem Stadium der Einzelwiſſenſchaften geltend; die neuen
Richtungen, welche die Einzelwiſſenſchaften theilweiſe einſchlugen,
wurden nicht gleichmäßig feſtgehalten. In der Mathematik wurde
das Werkzeug für exakte Wiſſenſchaft entwickelt, das den Arabern und
den germaniſch-romaniſchen Völkern die Aufſchließung der Natur
ermöglichen ſollte. Auch nahm die Anwendung von Inſtrumenten,
welche eine Meſſung ermöglichen, ſowie des Experiments, welches
Erſcheinungen nicht nur beobachtet, ſondern unter veränderten
Bedingungen willkürlich hervorruft, beſtändig zu. Einen hervor-
ragenden Fall von zuſammenhängender experimenteller Behand-
lung eines Problems bilden die Unterſuchungen des Ptolemäus
über die Brechung der Lichtſtrahlen bei ihrem Durchgang durch
Mittel ungleicher Dichtigkeit; hier werden die Strahlen von der
Luft in Waſſer und Glas, von Waſſer in Glas unter verſchiedenen
Einfallswinkeln geleitet. Die am meiſten fundamentalen Vor-
ſtellungen, zu denen nun die Wiſſenſchaften von der Natur ge-
langten, ſind in den ſtatiſchen Arbeiten des Archimedes enthalten.
Er entwickelte auf vorherrſchend mathematiſchem Wege, von dem
[312]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Satze aus, daß gleich ſchwere Körper, die in gleicher Entfernung
wirken, ſich im Gleichgewicht befinden, das allgemeine Hebel-
prinzip und legte den Grund zu der Hydroſtatik. Aber dem
Archimedes blieb die Dynamik ganz fremd, und er fand im Alter-
thum keine Nachfolger 1). Nicht minder charakteriſtiſch iſt die
gänzliche Abweſenheit von chemiſcher Wiſſenſchaft in dieſem Stadium
der Einzelwiſſenſchaften bei den alten Völkern. Die ariſtoteliſche
Lehre von den vier ſogenannten Elementen iſt abgeleitet aus
der mehr fundamentalen von vier Grundeigenſchaften, wenn auch
die vier Elemente ſelber eine Erbſchaft aus älterer Zeit waren.
Der Gegenſtand dieſer Theorie waren alſo nur prädikative Be-
ſtimmungen und ihre Kombinationen; ſie zerlegt nicht in Subjekt-
einheiten d. h. Subſtanzen. So wirkte ſie nicht direkt auf experi-
mentelle Arbeiten hin, welche die gegebenen Objekte aufzulöſen
verſucht hätten. Die Atomenlehre hatte nur eine ideelle Zer-
legung der Materie vollzogen, und ihre Vorſtellung von einander
qualitativ gleichen Einheiten mußte in Bezug auf die Entſtehung
chemiſcher Grundvorſtellungen zunächſt eher hindernd wirken. Aus
den Bedürfniſſen der mediciniſchen Kunſt erwuchs der Verſuch
des Asclepiades von Bithynien, die Vorſtellung von Korpuskeln
der Betrachtung des Organismus anzunähern 2), ſowie die An-
weiſung zur Herſtellung einiger chemiſcher Präparate, deren die
Aerzte ſich bedienten, wie ſie bei Dioscorides vorliegt. Im Gegen-
ſatz zu ſo vereinzelten Anfängen machten die Naturwiſſenſchaften,
welche von geometriſcher Konſtruktion oder von Zweckvorſtellungen
geleitet wurden, wie Aſtronomie, Geographie und Biologie regel-
mäßige Fortſchritte.
So entſtand ſchon den alten Völkern in dieſer Epoche der Einzel-
wiſſenſchaften ein Bild des Kosmos von einer unermeßlichen
Weite und doch zugleich von wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, welches
das Gerüſt für ihr Studium der Geiſteswiſſenſchaften bildete.
[313]D. Bild d. Kosmos, welch. Ergebn. d. Einzelwiſſenſch. d. alt. Völker iſt.
Eratoſthenes, Hipparch, Ptolemäus umfaſſen die kreiſenden Maſſen
der Geſtirne und die Erdkugel. Ein erſter Verſuch der Gradmeſſung
iſt bemüht, den Umfang der Erde annähernd zu beſtimmen;
Eratoſthenes begründet die Geographie als Wiſſenſchaft. Die
Ueberſicht über die Pflanzenbedeckung der Erde und die Thierwelt
auf ihr, wie ſie Ariſtoteles und Theophraſt erreicht hatten, wird
nun durch Fortſchritte in der Zergliederung des thieriſchen und
menſchlichen Körpers ergänzt, welche beſonders tief in die Erkenntniß
der Gefäße eindringen.
Die Kenntniß von der Vertheilung des Menſchengeſchlechts
auf der Erde ſowie den Verſchiedenheiten deſſelben war durch den
Eroberungszug Alexander’s und die Ausbreitung des römiſchen
Imperium nunmehr außerordentlich erweitert. In Folge hiervon
wird der Einfluß von Boden und Klima auf die geiſtigen und
ſittlichen Verſchiedenheiten der Menſchheit in den Kreis der Unter-
ſuchung gezogen. Das Material der Geiſteswiſſenſchaften wird
in den Grenzen des nun der Geſchichte anheimgefallenen griechiſchen
Lebens mit kritiſchem Bewußtſein unterſucht und geſammelt.
Einzelne Syſteme der Kultur, vor Allem die Sprache, werden
einer Zergliederung unterworfen. Die vergleichende Betrachtung
der Staaten iſt zum feſten Beſitz der Wiſſenſchaft geworden. Auf
ſie geſtützt, unternimmt Polybius, das große weltgeſchichtliche
Phänomen, welches den Horizont ſeiner Zeit erfüllt, Rom’s Auf-
ſteigen zur Weltherrſchaft, der Erklärung zu unterwerfen. In ſeinem
Werke liegt ein Verſuch vor, die politiſche Wiſſenſchaft,
wie wir ſie an Ariſtoteles in ihrer Stärke und ihren Grenzen
charakteriſirt haben, zur Grundlage einer erklärenden
Geſchichtswiſſenſchaft zu machen. Seine vergleichende Zer-
gliederung der Verfaſſungen (wie ſie in den Fragmenten des
6. Buches erhalten iſt) findet in der gemiſchten römiſchen Ver-
faſſung ein Gleichgewicht der Gewalten verwirklicht, vermöge deſſen
jede einzelne dieſer Gewalten unter der Kontrole der anderen
ſteht und ſo in ihren Ueberſchreitungen gehemmt wird. Hierzu
treten ihm als erklärende Gründe der römiſchen Machtentfaltung
eine glückliche Organiſation des Staates in Bezug auf materielle
[314]Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Mittel, durch die Rom erreicht, was z. B. Sparta trotz ſeiner
ebenfalls gemiſchten Verfaſſung nicht erreichen konnte, ſowie ein
auf Verehrung der Götter gegründeter Rechtsſinn. Die Welt-
beſchreibung des Plinius kann wenigſtens in Rückſicht ihres
Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Ab-
ſchluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den
Kosmos von den Bewegungen der Maſſen im Weltraum bis zu
der Verbreitung und dem geiſtigen Leben des Menſchengeſchlechts
auf der Erde zu umfaſſen. Und zwar verfolgt er beſonders gern
die Wirkung des Naturzuſammenhangs auf die menſchliche Kultur.
In der Morgendämmerung griechiſchen Geiſteslebens war der
Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten
eines Eratoſthenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren um-
faſſendem Geiſte wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius
empfinden, den Jugendträumen dieſer Völker im Alter die Erfüllung
geworden.
Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die
Einzelwiſſenſchaften zu einem Ganzen ſich verknüpft hätten, welches
wirklich die Stelle der Metaphyſik hätte ausfüllen können. Es gab
wol Skepticismus, aber es gab keine Erkenntnißtheorie, welche
doch erſt den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften neu zu
organiſiren vermag, wann die große Illuſion der metaphyſiſchen
Grundlegung der Wiſſenſchaften ſich aufgelöſt hat. Was der Geiſt
auf ſeinem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen
vermocht hatte, ſichere Begründung ſeiner Gedanken wie ſeines
Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in ſich ſelber.
[315]Das Chriſtenthum.
Dritter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium der neueren europäiſchen Völker.
Erſtes Kapitel.
Chriſtenthum, Erkenntnißtheorie und Metaphyſik.
Man denkt ſich wol den Menſchen der älteſten Zeiten unſeres
Geſchlechtes, wie er, von der Höhle beſchützt, von Nacht und Ge-
fahr umgeben, den Morgen erwartete; brach dann der Tag an,
und ſuchten ihn die erſten Strahlen der aufgehenden Sonne: wie
fühlte er das Herannahen einer erlöſenden Macht! So haben
die Bevölkerungen der alten Welt empfunden, als die Strahlen
des aufſteigenden Lichtes aus einer reinen Welt im Chriſtenthum
ſie trafen. Wenn ſie ſo fühlten, ſo war dies doch nicht allein
die Folge davon, daß der Chriſtenglaube die feſte Ueberzeugung
von einer ſeligen Unſterblichkeit mittheilte, ſowie daß er eine neue
Gemeinſchaft, ja eine neue bürgerliche Geſellſchaft inmitten der
Zerrüttung der antiken Staaten darbot 1). Das eine wie das
andere war ein wichtiger Beſtandtheil der Stärke der neuen
Religion. Jedoch war beides nur Folge einer tieferen Veränderung
im Seelenleben.
Dieſe Veränderung allein und auch ſie nur nach der Seite,
welche ſie der Entwicklung des Zweckzuſammenhangs der Erkennt-
niß zukehrt, kann in dieſem Zuſammenhang berührt werden.
Eine herbe Kritik des chriſtlichen Bewußtſeins zieht ſich durch
Spinozas Ethik; ihr liegt zu Grunde, daß für Spinoza ſelber
Vollkommenheit nur Macht iſt, Lebensfreude der Ausdruck dieſer
wachſenden Vollkommenheit, aller Schmerz dagegen nichts als
Ausdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht. Das tiefe
[316]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
chriſtliche Seelenleben hat die Verbindung der Vorſtellungen
von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht und Glück
des Lebens zerriſſen. Ja die Verbindung des Gottesbewußt-
ſeins mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls tritt
zurück hinter den Zuſammenhang dieſes erhabenſten menſchlichen
Gefühls, das ſich von keinem Raume einſchränken läßt, mit den
Erfahrungen des ärmſten unruhevoll in engem Kreiſe durch die
Natur ſeines Daſeins bewegten Menſchenherzens. Auf jener Ver-
bindung beruhte vordem die Anſchauung, welche die griechiſche
Wiſſenſchaft vom Kosmos hatte, und der künſtleriſche Aufbau eines
Gegenbildes dieſes Kosmos in der ſittlich-geſellſchaftlichen Welt,
wie ihn die Staatswiſſenſchaft der Alten entwarf. Nun ſoll die
Vollkommenheit der Gottheit ſelber mit Knechtsgeſtalt und Leiden
zuſammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: ſie ſind
im religiöſen Erlebniß eins. Das Vollkommene hat nicht nöthig,
im Glanz der Geſtirnwelt zu ſtrahlen und in Glück und Macht
ſich zu ſonnen. Gottes Reich iſt nicht von dieſer Welt. So hat
der Wille nun nicht mehr ſein Genüge in der Herſtellung eines
objektiven Thatbeſtandes, in dem ſichtbaren ſittlichen Kunſtwerk der
Politik oder des vollendeten Staatsmannes und Redners. Vielmehr
geht er hinter dieſes Alles als bloße Geſtalt der Welt, in ſich ſelber
zurück. Der Wille, welcher objektive Thatbeſtände in der Welt
geſtaltet, verbleibt in der Region des Weltbewußtſeins, der ſeine
Ziele angehören. Im Chriſtenthum erfährt der Wille ſeinen
eigenen meta phyſiſchen Charakter. Damit berühren wir die Gränze
unſerer hier dem Menſchlichen, Geſchichtlichen allein zugewandten
Betrachtungsweiſe.
Dieſe tiefe Veränderung im menſchlichen Seelenleben ſchließt
die Bedingungen in ſich, unter welchen die Schranken der
antiken Wiſſenſchaft durchbrochen werden konnten und
allmählich durchbrochen worden ſind.
Wiſſen war für den griechiſchen Geiſt Abbilden eines Objek-
tiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebniß zum Mittel-
punkt aller Intereſſen der neuen Gemeinden; dieſes iſt aber ein
einfaches Innewerden deſſen, was in der Perſon, im Selbſt-
[317]D. Selbſtgew. d. inneren Erfahr. durchbr. d. Schrank. d. antik. Wiſſenſch.
bewußtſein gegeben iſt; dieſes Innewerden iſt von einer Sicher-
heit erfüllt, welche jeden Zweifel ausſchließt; die Erfahrungen
des Willens und des Herzens verſchlingen mit ihrem ungeheuren
Intereſſe jeden anderen Gegenſtand des Wiſſens, ſie erweiſen ſich
in ihrer Selbſtgewißheit allmächtig gegenüber jedem Ergebniß
der Betrachtung des Kosmos ſowie gegenüber jedem Zweifel,
der aus Erwägungen über das Verhältniß der Intelligenz zu
den von ihr abzubildenden Gegenſtänden ſtammte. Hätte gleich
damals dieſer Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entſprechende
Wiſſenſchaft entwickelt: ſo hätte dieſe in einer auf die innere
Erfahrung zurückgehenden Grundlegung beſtehen müſſen.
Aber dieſer innere Zuſammenhang, welcher in Bezug auf
die Begründung der Wiſſenſchaft zwiſchen dem Chriſtenthum und
einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntniß
beſteht, hat im Mittelalter eine entſprechende Grundlegung der
Wiſſenſchaft nicht hervorgebracht. Dies war in der Uebermacht
der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Chriſtenthum
nun langſam ſich geltend zu machen begann. Alsdann wirkte
von innen in derſelben Richtung das Verhältniß der religiöſen
Erfahrung zu dem Vorſtellen. Findet doch auch das innigſte
religiöſe Seelenleben nur in einem Vorſtellungszuſammenhang
ſeinen Ausdruck. Schleiermacher ſagt einmal: „die Entwicklung
des Chriſtenthums im Abendlande hat eine große Maſſe des ob-
jektiven Bewußtſeins zum Rückhalt; genauer genommen können
wir aber dieſe Maſſe des objektiven Bewußtſeins nur als ein
Verſtändigungsmittel anſehen 1).“
Die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrungen des Willens
und des Herzens, alsdann der Inhalt dieſer Erfahrungen, ſonach
die Veränderung des tiefſten Seelenlebens: dies Alles enthielt nun
aber nicht nur die Anforderung einer auf die innere Erfahrung
zurückgehenden Grundlegung in ſich, ſondern es wirkte auch in
anderer Beziehung auf die fernere intellektuelle Entwicklung, und
zwar ſowol in Bezug auf die Naturerkenntniß als auf die Geiſtes-
wiſſenſchaften.
[318]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Einerſeits trat eine Abwendung von der bloßen Gedanken-
mäßigkeit des Kosmos ein. Nicht in dieſer in Allgemein-
begriffen darſtellbaren ebenmäßigen Schönheit lag dem Chriſten
der Zweck des Weltganzen; nicht in ihrer Betrachtung beſtand ihm
das, worin die menſchliche Vernunft ihre Verwandtſchaft mit der
göttlichen genießt: die Stellung des Menſchen zur Natur hat ſich
ihm umgeändert, und die Vorſtellung der Schöpfung aus Nichts,
der Gegenſatz von Geiſt und Fleiſch laſſen den Umfang dieſer
Veränderung ermeſſen. Andrerſeits bewirkte der veränderte Stand
des Seelenlebens eine ganz neue Stellung des metaphy-
ſiſchen Bewußtſeins zu der geiſtigen Welt. In dem
erhabenſten Gedanken, der über den Zuſammenhang dieſer geiſtigen
Welt je gedacht worden iſt, verknüpften ſich die einfach großen
Vorſtellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der
Menſchen und ihrer Independenz in ihrem höchſten Verhältniſſe
von allen natürlichen Bedingungen ihres Daſeins; derſelbe begann
jetzt ſeinen Siegeslauf. Ihn verwirklichte die geſellſchaftliche Ord-
nung der Chriſtengemeinde, die auf Aufopferung gegründet war
und in welcher ſich der einzelne Chriſt wie in einem ſchützenden
Boote auf der wilden See des Lebens wol behütet fühlte. Zwar
war das Bewußtſein der inneren Freiheit des Menſchen, die Auf-
hebung der Ungleichheiten und nationalen Schranken zwiſchen dieſen
Freien auch in dem weiteren Verlauf der antiken Philoſophie,
insbeſondere bei den Stoikern, vorhanden, aber dieſe innere Freiheit
war nur für den Weiſen erreichbar, hier dagegen war ſie jedem
durch den Glauben zugänglich. Dem Allen entſprachen die Vor-
ſtellungen von einem genealogiſchen Zuſammenhang in der Ge-
ſchichte des Menſchengeſchlechts und einem metaphyſiſchen Bande,
das die menſchliche Geſellſchaft zuſammenhält.
Das Alles lag in dem Erlebniß des Chriſtenthums. Die
erſten wiſſenſchaftlichen Darſtellungen deſſelben ent-
ſtanden in einer Epoche des Ringens zwiſchen den alten Religionen
und den chriſtlichen Gemeinden, in den erſten Jahrhunderten nach
Chriſtus. Offenbarung, Religion und der Kampf der Religionen:
das war in dieſen Jahrhunderten die große Angelegenheit der
[319]Andere im Chriſtenthum gelegene Keime einer veränderten Wiſſenſchaft.
Menſchheit. Die Philoſophie des helleniſtiſchen Judenthums, wie
ſie Philo ausgebildet hat, die Gnoſis, der Neuplatonismus als
die philoſophiſche Reſtauration des Götterglaubens und die Philo-
ſophie der Kirchenväter haben die Grundzüge einer Weltformel
gemeinſam, welcher noch Spinozas und Schopenhauer’s Syſtem
die einfache Geſchloſſenheit ihres Aufbaus verdanken. In dieſer
Formel verſchlingen ſich bereits Natur und Geſchichte. Aus
der Gottheit leitet dieſelbe die Entſtehung des Endlichen als
eines Unvollkommenen und der Veränderlichkeit Anheimgegebenen
ab und zeigt alsdann die Rückkehr dieſes Endlichen in Gott. So
iſt der Ausgangspunkt dieſer Metaphyſik die im religiöſen Er-
lebniß ergriffene Gottheit, ihr Problem iſt der Hervorgang des
Endlichen in ſeinem angegebenen Charakter; dieſer Hervorgang
erſcheint als ein lebendiger pſychiſcher Proceß, in welchem dann
auch die arme Gebrechlichkeit des Menſchenlebens entſpringt: bis
in einem gleichſam inverſen Verlauf die Rückkehr in die Gottheit
ſich vollzieht.
Die Philoſophie des Judenthums entwickelte ſich zuerſt, die
des Heidenthums folgte: über beide erhob ſich ſiegreich die Philo-
ſophie des Chriſtenthums. Denn ſie trug eine macht-
volle geſchichtliche Realität in ſich; eine Realität, die ſich
mit dem innerſten Kerne jeder Wirklichkeit, die geſchichtlich vorher
da war, im Seelenleben berührte und ſie in ihrem innern Rapport
zu ſich empfand. Vor dieſer verwehten die Ekſtaſen und Schau-
ungen wie Sommerfäden im Winde. Indem das Chriſtenthum
um den Sieg rang, ward in dem Kampfe der Religionen das
Dogma zu der abſchließenden Faſſung gebracht, daß Gott, im
Gegenſatz zu allen partialen Offenbarungen, welche Juden und
Heiden in Anſpruch nahmen, ganz und ohne Reſt in die Offen-
barung durch Chriſtus mit ſeinem Weſen eingegangen ſei. Sonach
wurden alle früheren Offenbarungen dieſer als Vorſtufen unter-
geordnet. Damit ward nun Gottes Weſen, im Gegenſatz gegen
ſeine Faſſung in dem in ſich geſchloſſenen Subſtanzbegriff des Alter-
thums, in geſchichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und ſo entſtand,
[320]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
das Wort im höchſten Verſtande genommen, nun erſt das ge-
ſchichtliche Bewußtſein.
Wir verſtehen, indem wir aus unſerem eigenen tiefen Leben
dem Staube des Vergangenen Leben und Athem wiedergeben. Es
bedarf gleichſam der Verſetzung unſeres Selbſt von einem Stand-
ort auf den andern, wenn wir den Fortgang der geſchichtlichen
Entwicklung von innen und in ſeinem centralen Zuſammenhang
verſtehen ſollen. Die allgemeine pſychologiſche Bedingung hier-
für iſt immer in der Phantaſie vorhanden; aber erſt wenn der
geſchichtliche Fortgang an den tiefſten Punkten, an welchen ein
Fortrücken ſtattfindet, von der Phantaſie nacherlebt wird, entſteht
ein gründliches Verſtändniß der geſchichtlichen Entwicklung. Als
in einem Paulus in den Kämpfen des Gewiſſens das jüdiſche
Geſetz, das heidniſche Weltbewußtſein und der Chriſtenglaube an-
einanderſtießen, als in ſeinem Erlebniß Geſetzesglaube und
Chriſtenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerſtem
Verſtehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Er-
fahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in dieſem Be-
wußtſein eine große geſchichtliche Vergangenheit und eine große
geſchichtliche Gegenwart zuſammen gegenwärtig, beide in ihrer
tiefſten, der religiöſen Grundlage erfaßt, ein innerer Uebergang
wurde erlebt, und ſo ging das volle Bewußtſein von einer ge-
ſchichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf. Denn nur
was in dem Reichthum des Gemüthes nacherlebt wird von den
Thatſächlichkeiten der Geſchichte, wird verſtanden. Und in dem
Maße, als das Erleben in die tiefe und centrale Grundlage der
Kultur hinabreicht, vermittelt es dies Verſtändniß; wenn wir
auch alle nur theilweiſe verſtehen, was vergangen iſt. Die höchſte
Lebendigkeit der Phantaſie, der größte vitale Reichthum des Inneren
reichen nicht aus, wo nicht das Seelenleben ſelber in dieſem Sinne
geſchichtlich iſt. So geht von hier zu dem Gedanken der Erziehung
des Menſchengeſchlechtes in Clemens, von dieſem zu dem Gottes-
ſtaat des Auguſtinus und von dieſem Buch zu jedem neueren Ver-
ſuch, den inneren Zuſammenhang der Menſchheitsgeſchichte zu er-
faſſen, Eine Linie. Das Ringen der Religionen unter einander in
[321]Das Chriſtenthum und das geſchichtliche Bewußtſein.
dem von geſchichtlicher Realität erfüllten chriſtlichen Seelenleben hat
das hiſtoriſche Bewußtſein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens
hervorgebracht. Denn das vollkommene ſittliche Leben war der
Chriſtengemeinde nicht in der Formel eines Sittengeſetzes oder
höchſten Gutes gedankenmäßig darſtellbar: als ein unergründlich
Lebendiges wurde es von ihr in dem Leben Chriſti und in dem
Ringen des eigenen Willens erfahren; ſo trat es nicht zu anderen
Sätzen in Beziehung, ſondern zu anderen Geſtalten des ſittlich-
religiöſen Lebens, die vor ihm beſtanden und unter denen es nun
erſchien. Und dies hiſtoriſche Bewußtſein fand ein feſtes äußeres
Gerüſt in dem genealogiſchen Zuſammenhang der Geſchichte der
Menſchheit, welcher innerhalb des Judenthums geſchaffen worden
war.
So waren für die intellektuelle Entwicklung der europäiſchen
Menſchheit ganz veränderte Bedingungen erwachſen. Die Züge des
Willens waren aus der Stille des Einzellebens in den Vorder-
grund der Weltgeſchichte getreten, welche ihn von dem ganzen
Naturzuſammenhang abſcheiden: Aufopferung des Selbſt, Aner-
kennen des Göttlichen im Schmerz und in der Niedrigkeit, auf-
richtige Verneinung deſſen, was er an ſich verwerfen muß. Die
Beziehung der Perſonen auf einander in dieſem ihren weſenhaften
Kern, der über ihren ganzen Werth entſcheidet, konſtituirte ein
Reich Gottes, innerhalb deſſen jeder Unterſchied der Völker, der
Kulte und der Bildung aufgehoben war, das ſonach von jeder Art
politiſchen Verbandes ſich loslöſte. Und ſollte die Metaphyſik,
welche das griechiſche Alterthum geſchaffen hatte, fortbeſtehen, ſo
mußte ſie zu dieſer neuen Welt des Willens und der Geſchichte
ein Verhältniß gewinnen. Auch lagen ſchon in der geiſtigen Bil-
dung der ſinkenden alten Völker wie in dem Schickſal des religiöſen
Vorgangs Bedingungen, welche über die Richtung entſchieden, in
der das geſchah 1).
Dilthey, Einleitung. 21
[322]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Zweites Kapitel.
Auguſtinus.
Die chriſtlichen Gemeinden waren die Träger der wirkſamſten
unter einer Mehrheit verwandter Bewegungen, welche dem geiſtigen
Leben der alternden Völker während der römiſchen Kaiſerzeit ſein
unterſcheidendes Gepräge gaben.
Ein veränderter Gemüthsſtand ſpiegelt ſich in der Literatur
der erſten Jahrhunderte nach Chriſtus. Wir ſahen denſelben vor-
bereitet in der römiſch-griechiſchen Geſellſchaft; immer mehr über-
wogen zuerſt bei den Griechen, dann bei den Römern die In-
tereſſen des Privatmenſchen, und ſo löſte ſich in der alexan-
driniſchen Literatur und ihren römiſchen Nachbildungen die Dar-
ſtellung des Seelenlebens von dem Zuſammenhang der ſittlichen und
politiſchen Ordnung der Geſellſchaft ab. Die Innerlichkeit des
Chriſtenthums fand im Seelenleben den Mittelpunkt der Auffaſſung
und Behandlung der ganzen Wirklichkeit, ja den Eingang in die ge-
heimnißvolle metaphyſiſche Welt. Pſychologiſche Gemälde zogen in
beſonderem Grade das Intereſſe der Leſer in den erſten Jahrhunder-
ten nach Chriſtus an ſich; Erörterungen der religiöſen Erlebniſſe
und Gemüthszuſtände nahmen einen breiten Raum ein; der
Roman, die Meditation, welche das Innere darſtellt, die Legende,
welche vielfach auf romanhafte Motive zurückgreift und das Be-
dürfniß der Phantaſie in chriſtlichen Kreiſen befriedigt, Predigt,
Epiſtel und Erörterung der Fragen, welche das Weſen des
Menſchen und ſein Geſchick betreffen, ſtanden im Vordergrund der
Literatur. — Auch ſtellte die Philoſophie immer ausſchließlicher die
erlangte Erkenntniß des Kosmos in den Dienſt der Geſtaltung
des Charakters und der Herſtellung eines in ſich verſöhnten Ge-
müthszuſtandes. Hatte der Werth der Naturwiſſenſchaften ſchon
für Epikur hauptſächlich in der Befreiung des Gemüthes von
falſchen Vorſtellungen gelegen, das Ziel der Philoſophie für die
Stoiker in der Bildung des Charakters: jetzt miſchten ſich in den
Jahrhunderten von dem Zeitalter Chriſti bis zum Untergang der
[323]Der Offenbarungsglaube der alternden Völker.
alten Kultur die Aufgaben der philoſophiſchen Wiſſenſchaft ganz mit
den Bedürfniſſen des religiös-ſittlichen Lebens. Unter dem gemein-
ſamen Dache des römiſchen Imperiums zuſammenwohnend, paßten
Griechen ihre Gedanken den Vorſtellungen und Symbolen der Orien-
talen über das Leben an, und Egypter, Juden etc. formten noch
kräftiger das griechiſche Bild der Welt um. In der ſo vielfach
unbefriedigten und bedrohten Geſellſchaft jener Tage ſiegte die
Richtung auf das Jenſeitige. „Aus unerforſchlichen Tiefen,“ ſagt
Jakob Burckhardt, „pflegt ſolchen neuen Richtungen ihre weſentliche
Kraft zu kommen, durch bloße Folgerungen aus vorhergegangenen
Zuſtänden ſind ſie nicht zu deduciren.“ — In das religiöſe Leben,
welchem in den inneren Erfahrungen des Willens Gott als Wille,
Perſon zu Perſon, gegeben iſt, finden wir überall den Offen-
barungsglauben verwoben. Die ſchwere Aufgabe einer Analyſis
des Inhaltes der monotheiſtiſchen Religion kann hier auch nicht
angerührt werden; aber das tiefſte Geheimniß dieſer Religion liegt
in der Beziehung der Erfahrung eigener Zuſtände zu dem Wirken
Gottes im Gemüth und Schickſal, hier hat das religiöſe Leben
ſein der allgemeingiltigen Erkenntniß, ja der Vorſtellbarkeit über-
haupt entzogenes Reich. In dieſen Zeiten drang nun, wie aus
unſichtbaren Tiefen, aus dem Untergrund des religiöſen Lebens
der Offenbarungsglaube in die Wiſſenſchaft der Metaphyſik, in der
er immer fremd bleibt und verwirrend wirken muß. So erſchien
in der Metaphyſik ein Satz, der ein ganz neues Prinzip derſelben
würde enthalten haben, läge er nicht überhaupt jenſeit der Grenzen
wiſſenſchaftlichen Denkens. Dieſer Satz behauptete, daß eine
unmittelbare Mittheilung von Gott an die Menſchenſeele ergehe,
daß ſie ſeine Offenbarung unmittelbar vernehme. So wies
Philo, im Zeitalter Chriſti, geſtützt auf die Beweisführung der
Skepſis 1), die Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
des Kosmos ab; zugleich machte er gegen die innere Erfahrung,
ähnlich wie ſpäter die Poſitiviſten, geltend: das Auge gewahre
zwar die Objekte außer ſich, doch nicht ſich ſelber, ſo könne auch
21 *
[324]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
die Vernunft nicht ſich ſelber begreifen 1); ſomit ergab ſich ihm
die Nothwendigkeit einer Erleuchtung durch göttliche Offenbarung.
In den Kreiſen des Heidenthums vertheidigte ein ſo glänzender
und wirkſamer Schriftſteller wie Plutarch Mittheilungen aus einer
Welt höherer Kräfte. Und Plotin fügte den Glauben an einen
ekſtatiſchen Zuſtand, in dem die Seele ſich eins mit der Gottheit
findet, dem Beſtand einer ſtrengeren Metaphyſik ein. Ein fremdes
Element überfluthete die Grenzen allgemeingiltiger Wiſſenſchaft:
denn Erfahrungen, die von jedem kontrolirt werden können, ſind
nur in den Wahrnehmungen über die Welt und den Thatſachen
des Bewußtſeins gegeben. — Nun entſtand auch die emanatiſtiſche
Metaphyſik, indem die Phantaſie, beflügelt von orientaliſchem
Fabelweſen, das Geheimniß der Nähe und Ferne Gottes zu be-
wältigen rang und es doch nur in der Bilderſchrift des Natur-
wiſſens auszudrücken im Stande war: ein unfruchtbares Zwitter-
gebilde aus der Ehe von Religion und Philoſophie, Dichten und
Denken, Orient und Occident: keine Geſtalt des Gedankens, mit
welcher eine Geſchichte der Metaphyſik ernſthaft zu rechnen hätte,
obgleich ihre Nachwirkungen durch das ganze Mittelalter hindurch
bis in die neuere Zeit reichen.
Inmitten dieſer geiſtigen Bewegungen war die alte Kirche
bemüht, den Gehalt der chriſtlichen Erfahrung zu vollem Bewußt-
ſein und zu erſchöpfender Darſtellung in Formeln zu bringen,
ſowie einen Beweis der Allgemeingiltigkeit des Chriſtenthums zu
geben, wie er das Korrelat für den Anſpruch deſſelben auf Welt-
herrſchaft war. Die Löſung der bezeichneten Aufgabe in den
Schriften der Väter und Deklarationen der Koncilien erfüllt die
Jahrhunderte vom Schluß des apoſtoliſchen Zeitalters bis zu Gregor
dem Großen und dem Ende des ſechſten Jahrhunderts. Dieſe
Zeit gehört noch der Kultur der alten Völker, welche zunächſt auch
nach dem Untergang des weſtrömiſchen Reiches allein wiſſenſchaft-
liche Schriftſteller hervorbrachten. Und zwar konnten die Väter in
einer doppelten Richtung die Löſung ihrer Aufgabe unternehmen. —
[325]Die Väter.
Sollte die Bedeutung der chriſtlichen Erfahrung und ihres In-
haltes feſtgeſtellt werden, ſo führte das in eine Analyſis der That-
ſachen des Bewußtſeins zurück. Denn im chriſtlichen Bewußtſeins-
ſtande war zuerſt eine Geiſtesverfaſſung gegeben, welche eine er-
kenntnißtheoretiſche Grundlegung mit dem poſitiven Ziele, die
Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte. Und
das Intereſſe einer wirkſamen Vertheidigung des Chriſtenthums
machte eine ſolche Grundlegung nothwendig. Wie tief die Ge-
dankenarbeit der Väter in dieſer Richtung reichte, werden wir an
dem größten derſelben feſtſtellen. — Doch überwog die andere
Richtung. Es iſt das tragiſche Schickſal des Chriſtenthums ge-
weſen, die heiligſten Erfahrungen des Menſchenherzens aus der
Stille des Einzellebens heraus und unter die Triebkräfte der welt-
geſchichtlichen Maſſenbewegungen einzuführen, hierdurch aber einen
Mechanismus des Sittlichen und eine hierarchiſche Heuchelei her-
vorzurufen; auf dem theoretiſchen Gebiet verfiel es einem nicht
minder ſchwer auf ſeiner weiteren Entwicklung laſtenden Geſchick.
Wenn es den Gehalt ſeiner Erfahrung zu klarem Bewußtſein
bringen wollte, mußte es ihn in den Vorſtellungszuſammenhang der
Außenwelt aufnehmen, welchem derſelbe nach den Beziehungen von
Raum, Zeit, Subſtanz und Kauſalität eingeordnet wurde. So war die
Entwicklung dieſes Gehaltes im Dogma zugleich ſeine Veräußer-
lichung. War doch auch in dem Offenbarungsglauben die Möglich-
keit gegeben, das Dogma als ein autoritatives Syſtem von dem Willen
Gottes ausgehend zu entwickeln, und ein ſolches Syſtem entſprach
dem römiſchen Geiſte, welcher ſeine Rechtsformeln bis in das Innere
der chriſtlichen Glaubenslehre hineinführte. Aus dem griechiſchen
Genius entſprang eine andere Art von Veräußerlichung; in den kos-
miſchen Begriffen des Logos, der Ausſtrahlung aus Gott, der Er-
langung eines Antheils an ihm und an ſeiner Unſterblichkeit entſtand
eine großartige, doch dem Mythus verwandte Symbolik als Sprache
des Chriſtenglaubens. So wirkte nur zu Vieles dahin, daß der Ge-
halt des Chriſtenthums in einem objektiven, von Gott aus ableitenden
Syſtem dargeſtellt wurde. Ein Gegenbild der antiken Metaphyſik
entſtand. Wir ſtellen den Zuſammenhang, welcher ſo ſich bildete
[326]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
und von der Tiefe der Selbſtbeſinnung in die transſcendente Welt
emporreicht, an demjenigen Schriftſteller dar, welcher die äußerſten
Grenzen des in dieſem Zeitraum Errungenen bezeichnet.
Wir beginnen ſonach mit der folgenden Frage. Wie weit iſt
in dieſer Zeit der Väter das Recht der neuen Selbſtgewißheit des
Glaubens und des Herzens gegenüber der antiken Philoſophie, insbe-
ſondere gegenüber dem Skepticismus als ihrem letzten Worte, wiſſen-
ſchaftlich geltend gemacht worden? Der tiefſte Denker dieſes neuen
Zeitraums der Metaphyſik, zugleich der mächtigſte Menſch unter
den Schriftſtellern der ganzen älteren chriſtlichen Welt iſt Au-
guſtinus geweſen, und es ſchien, als ob er zu einer der großen
Realität des Chriſtenthums entſprechenden Grundlegung der chriſt-
lichen Erkenntniß hindurchdringen werde. Was des Origenes
milder Geiſt, von anderen wiſſenſchaftlich geringeren griechiſchen
Vätern zu ſchweigen, verſucht hatte, erreichte die ſtürmiſche Seele
des Auguſtinus für lange Jahrhunderte: er verdrängte und über-
bot die antike Weltanſchauung durch ein umfaſſendes Lehrge-
bäude der chriſtlichen Wiſſenſchaft. Und wie weit gelangte nun
Auguſtinus?
Dieſem in das religiöſe Erleben vertieften Menſchen ſind
die Probleme des Kosmos ganz gleichgiltig geworden.
„Was willſt Du alſo erkennen?“ So redet die Vernunft im Selbſt-
geſpräch die Seele an. „Gott und die Seele will ich erkennen.“
„Und nichts weiter?“ „Gar nichts weiter.“ Selbſtbeſinnung
iſt daher der Mittelpunkt der erſten Schriften des Auguſtinus,
welche wie in einem ſtarken Strome von innen, darum innerlich
zuſammenhängend, ſeit dem Jahre 386 hervorbrachen.
Die Selbſtbeſinnung findet ſich aber des inneren Lebens
allein vollkommen ſicher. Wol iſt ihr auch die Welt gewiß, aber
als das, was dem Selbſt erſcheint, als ſein Phänomen. Aller
Zweifel der Akademie richtet ſich alſo nach Auguſtinus nur da-
gegen, daß das, was dem Selbſt erſcheint, ſo iſt, wie es erſcheint;
jedoch kann keinem Zweifel unterworfen werden, daß ihm etwas
erſcheine. Ich nenne nun, fährt er fort, dies Ganze, welches
[327]Ausgangspunkt des Auguſtinus in der Selbſtbeſinnung.
meinen Augen ſich darſtellt, Welt1). Der Ausdruck Welt be-
deutet ihm ſonach ein Phänomen des Bewußtſeins. Und
der Fortgang in der Erkenntniß der Phänomenalität der Welt,
welcher in Auguſtinus vorliegt, iſt dadurch bedingt, daß ihm die
geſammte Außenwelt nur Intereſſe hat, ſofern ſie für das Seelen-
leben etwas bedeutet.
Von dieſer Selbſtgewißheit des Ich aus iſt zunächſt die
Widerlegung der Akademie geſchrieben. In die Tiefen des
Inneren führen alsdann die Soliloquien, welche dort die Un-
ſterblichkeit der Seele und die Exiſtenz Gottes entdecken: eine
jener Meditationen, deren Form ſchon das mit ſich ſelber
beſchäftigte Seelenleben gewahren läßt. Dann ſucht der Dialog
über den freien Willen in demſelben Inneren die Entſcheidung
über eine der größten Streitfragen der Zeit. Und in der
Schrift über die wahre Religion wird der Glaubensinhalt
von der Selbſtgewißheit des Subjektes aus entwickelt, das
zweifelnd, denkend, lebend ſeiner inne wird. Ueberall iſt hier der
Ausgangspunkt derſelbe: er liegt in der Entdeckung der
Realität im eigenen Inneren. „Du, der Du Dich erkennen
willſt, weißt Du, daß Du biſt?“ „Ich weiß es.“ „Und woher?“
„Ich weiß es nicht.“ „Fühlſt Du Dich einfach oder vielfach?“
„Ich weiß es nicht.“ „Weißt Du, daß Du Dich bewegſt?“ „Ich
weiß es nicht.“ „Weißt Du, daß Du denkſt?“ „Ich weiß es.“
„Alſo iſt es wahr, daß Du denkſt?“ „Es iſt wahr.“ Und zwar
knüpft Auguſtinus, wie ſpäter Descartes, die Selbſtgewißheit an
den Zweifel ſelber. In demſelben werde ich inne, daß ich denke,
mich erinnere. Dieſes Innewerden umfaßt nicht nur das Denken,
ſondern die Totalität des Menſchen; als Leben bezeichnet er mit
einem tiefen, wahren Ausdruck den Gegenſtand der Selbſtgewiß-
heit. Auch das reifſte Werk des Auguſtinus, die Schrift „vom
Gottesſtaate,“ enthält denſelben Gedanken, in vollendetem Ausdruck.
Daß wir ſind, daß wir wiſſen, daß wir unſer Sein und Wiſſen
lieben, iſt uns gewiß. „Denn dies berühren wir nicht, wie die
[328]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
äußeren Objekte, durch irgend ein Sinnesorgan unſeres Körpers,
wie die Farben durch den Geſichtsſinn, die Töne durch das Gehör etc.,
ſondern unabhängig von täuſchenden Phantaſievorſtellungen oder
Einbildungen iſt es mir ganz gewiß, daß ich bin, davon weiß
und das im Gefühl der Liebe umfaſſe. Auch fürchte ich in Bezug
auf dieſe Wahrheiten die Gründe der akademiſchen Skeptiker nicht,
welche die Möglichkeit ausſprechen, daß ich mich täuſche. Denn
wenn ich mich täuſche, ſo bin. ich. Wer nicht iſt, kann ſich nicht
täuſchen 1).“
Die Selbſtbeſinnung, welche hier, nach verwandten An-
ſätzen der Neuplatoniker, in Auguſtinus auftritt, iſt von der des
Socrates und der Sokratiker durchaus verſchieden. Hier endlich
geht im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf, und dieſe
Erkenntniß verſchlingt alles Intereſſe an dem Studium des
Kosmos. Dieſe Selbſtbeſinnung iſt daher nicht Rückgang auf
den Erkenntnißgrund des Wiſſens allein, und aus ihr entſpringt
ſomit nicht nur Wiſſenſchaftslehre 2). In dieſer Beſinnung geht dem
Menſchen das Weſen ſeiner Selbſt auf, der Ueberzeugung von
der Realität der Welt wird wenigſtens ihre Stelle beſtimmt, vor
Allem wird in ihr das Weſen Gottes aufgefaßt, wie denn ſogar
das Geheimniß der Dreieinigkeit durch ſie halb entſchleiert zu werden
ſcheint. Die drei Fragen der alten Logik, Phyſik und Ethik: was iſt
der Grund der Gewißheit im Denken, was die Urſache der Welt
und worin beſteht das höchſte Gut 3)? führen auf Eine gemeinſame
Bedingung, unter welcher das Wiſſen, die Natur und das prak-
tiſche Leben ſtehen, auf die Idee Gottes 4); zwei von dieſen Fragen
entſtehen aber in der Selbſtbeſinnung und finden in ihr Beant-
wortung. Und zwar gelangt dieſe Selbſtbeſinnung erſt zu ihrem
vollen Ergebniß, wo der religiös-ſittliche Vorgang des Glaubens
alle Tiefen der Seele aufgeſchloſſen hat. Das berühmte crede ut
[329]Fortgang zur Metaphyſik der veritates aeternae.
intelligas beſagt zunächſt, daß die volle Erfahrung für die Analyſis
da ſein muß, ſoll dieſe erſchöpfend ſein. Das Unterſcheidende des
Inhaltes dieſer chriſtlichen Erfahrung liegt vor Allem in der
Demuth, welche in dem Ernſt des richtenden Gewiſſens begrün-
det iſt 1).
Die Selbſtbeſinnung des Auguſtinus, wie ſie in dieſen Grund-
zügen ſich von jedem früheren verwandten wiſſenſchaftlichen Ver-
ſuch unterſcheidet, unterwirft zunächſt das Wiſſen ſelber der Analyſis;
eine der drei Hauptfragen war die nach dem Grunde der Gewiß-
heit für das Denken. Und dennoch geht eine erkenntniß-
theoretiſche Grundlegung auch aus dieſer Selbſtbeſinnung
nicht hervor. Die chriſtliche Wiſſenſchaft, welche von dieſem
Ausgangspunkte aus entworfen wird, löſt ihre Aufgabe nicht in
angemeſſener Weiſe. Warum das nicht geſchah? In den Jahren,
in welchen der Gedanke einer ſolchen Grundlegung den Auguſtinus
beſchäftigte, verharrten ſeine Gedanken noch in der ihm von den
Neuplatonikern gegebenen Richtung; ſpäter, als auch das für ihn
abgethan war, wurden die objektiven Gewalten der katholiſchen Kirche
und des katholiſchen Dogma zu übermächtig in ſeinem Bewußtſein,
auch nahmen die Intereſſen der großen kirchlichen und dogma-
tiſchen Kämpfe Tag für Tag ihn in Anſpruch; als entſcheidend
wird ſich uns aber die in ſeiner Natur ſelber liegende Grenze
ergeben.
So entſpringt aus ſeiner Selbſtbeſinnung zunächſt ver-
mittelſt des platoniſirenden Begriffs der veritates
aeternae wieder Metaphyſik.
In jener Stelle des Gottesſtaates ſagt er weiterhin: „Ich, der
ſich täuſchte, würde doch exiſtiren, auch wenn ich mich täuſchte;
darum täuſche ich mich ohne Zweifel darin nicht, daß ich erkenne:
ich bin. Hieraus folgt aber, daß ich mich auch darin nicht täuſche:
ich weiß, daß ich weiß. Denn ganz ſo wie ich weiß, daß ich
bin, weiß ich auch, daß ich weiß 2).“ An dieſe Idee des Wiſſens
ſchließt ſich in dem Syſtem des Auguſtinus unmittelbar die Lehre
[330]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
von den an ſich gewiſſen Wahrheiten, ganz ähnlich wie ſpäter in
dem des Descartes. Und zwar iſt dieſer Fortgang von der
Selbſtgewißheit zu den an ſich gewiſſen Wahrheiten
in den erſten grundlegenden Schriften ausführlich dargeſtellt. —
Wir entwickeln zunächſt das erſte Glied des dort vorliegenden
Schlußverfahrens. Ich finde in meinem Zweifel ſelbſt einen
Maßſtab, vermittelſt deſſen ich Wahres von Falſchem unterſcheide.
Der deutlichſte Fall von Anwendung eines ſolches Maßſtabs iſt
das Denkgeſetz des Widerſpruchs. Und zwar iſt dies Geſetz ein
Glied aus einem Syſtem von Geſetzen der Wahrheit. Dieſes
Syſtem, welches als „Wahrheit“ bezeichnet werden kann, iſt un-
veränderlich. Ihm gehören die Zahlen und ihre Verhältniſſe an,
alsdann Gleichheit und Aehnlichkeit, vor Allem die Einheit; denn
die Einheit kann in keiner ſinnlichen Wahrnehmung gegeben ſein, ſie
findet ſich nicht an den Körpern, ſondern wird vielmehr von
unſerem Denken ihnen abgeſprochen, ſonach iſt ſie dem Denken
eigen. — Obwol dieſes erſte Glied des Schlußverfahrens von der
Erfahrung der Realität in uns ausgeht, zeigt es doch bereits
die Macht der vererbten insbeſondere neuplatoniſchen Gedanken-
maſſen über das ſtürmiſche und ungleiche Genie des Auguſtinus.
Denn es benutzt die pſychiſche Realität, die lebendige Erfahrung
nur als Ausgangspunkt, um die aprioriſchen Abſtrakta zu erreichen,
welche die metaphyſiſche Vernunftwiſſenſchaft entwickelt hatte. Die
verhängnißvolle Verkehrung des wahren Thatbeſtandes dauert
fort, nach welcher dies Abſtrakte das im Geiſte Erſte iſt, und
ſonach iſt nicht zu vermeiden, daß es auch in dem aufzuſtellenden
objektiven Zuſammenhang das Erſte ſein wird. — Von dieſem
erſten Gliede gelangen wir zu dem zweiten der Beweisführung.
Auguſtinus denkt weiter mit den Platonikern. Dieſes Syſtem der
Wahrheiten wird von der Vernunftthätigkeit aufgefaßt, welche ein Er-
blicken rein geiſtiger Art iſt. Die Seele erſchaut durch ſich, nicht
vermittelſt des Körpers und ſeiner Sinnesorgane, das Wahre. Es
beſteht eine „Verbindung des erſchauenden Geiſtes und des
Wahren, welches er erſchaut.“ Wir ſind wieder mitten in der
Metaphyſik Platos, die wir hinter uns gelaſſen zu haben glaubten.
[331]Fortgang zur Metaphyſik des Willens.
Alles Wiſſen iſt ein Abſpiegeln eines Objekts, das außerhalb des
Spiegels iſt. Und der Gegenſtand dieſes Wiſſens iſt die un-
wandelbare Ordnung der Wahrheiten, welche über das Kommen
und Gehen der Individuen, ihre Irrthümer und ihre Vergäng-
lichkeit hinausreicht: ſie iſt in Gott. Auguſtinus acceptirt auch
in ſeinen ſpäteren Schriften die intelligible Welt Platos mit der
Erweiterung der neuplatoniſchen Schule, daß Gott das metaphyſiſche
Subjekt iſt, in welchem dieſe Ideenwelt enthalten iſt 1). — Dieſe
ganze Beweisführung enthält nur in einer neuen Verſchiebung den
Schluß aus dem menſchlichen Denken auf ein göttliches als ſeine
Bedingung und ſie gewinnt nur den Begriff eines logiſchen
Weltzuſammenhangs, nicht den Gottes. An ſie lehnt ſich der
Schluß aus dem Charakter der Welt, ihrer zweckmäßigen Schön-
heit und zugleich ihrer Veränderlichkeit, auf Gott.
In der inneren Erfahrung des Auguſtinus ſind andrer-
ſeits Elemente gegenwärtig, welche über dieſen plato-
niſirenden Zuſammenhang zwiſchen dem Intellekt des
Menſchen, der Welt und Gott in den veritates aeternaehin-
ausreichen. Aber auch dieſe Elemente drängen Auguſtinus
aus der Selbſtbeſinnung in eine objektive Metaphyſik. Daher
bilden ſie neben dem eben dargelegten Beſtandtheil der neuen
theologiſchen Metaphyſik, welcher aus dem Alterthum, beſonders
dem Neuplatonismus ſtammt, einen zweiten Beſtandtheil derſelben,
welcher über das Denken des Alterthums hinausreicht. Der Fort-
gang von dem Prinzip der Selbſtgewißheit zu einer objektiven
Metaphyſik iſt in ihnen der folgende.
In der inneren Erfahrung bin ich mir direkt gegenwärtig; alles
Andere iſt dem Geiſte ein Abweſendes, ein ihm Fremdes. Da-
her fordert Auguſtinus, daß der Geiſt ſich nicht durch einen
Denkvorgang zu erkennen ſuche, welcher Phantaſiebilder äußerer
[332]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Objekte benutzt, wie die Elemente des Naturlaufs: vielmehr „ſoll
der Geiſt ſich nicht wie etwas ihm Fremdes ſuchen, ſondern
die Intention des Willens, mit der er unter den Außendingen
umherirrte, auf ſich ſelbſt richten.“ „Und er wolle ſich nicht er-
kennen wie etwas, von dem er nicht weiß, ſondern unterſcheide ſich
nur von dem, was er als das Andere kennt.“ Der Geiſt beſitzt und
weiß ſich ganz, und auch indem er ſich zu erkennen ſucht, weiß er ſich
ſchon ganz. Dies ſein Wiſſen von ihm ſelber entſpricht mehr den An-
forderungen an wiſſenſchaftliche Wahrheit als das von der äußeren
Natur. — Die in dieſen Sätzen enthaltene, tiefe erkenntnißtheoretiſche
Wahrheit wird nun von Auguſtinus zu folgendem Schluß benutzt.
Wir werden unſer ſelber inne, indem wir Denken, Erinnern, Wollen
als unſere Akte auffaſſen, und in dem Gewahrwerden derſelben
haben wir ein wahres Wiſſen über uns. Nun heißt, ein wahres
Wiſſen von etwas haben, deſſen Subſtanz erkennen. Sonach er-
kennen wir die Subſtanz der Seele 1). — Liegt in der Einführung
des Begriffs der Subſtanz eine unhaltbare und in dieſem Zu-
ſammenhang unnöthige Benutzung der Metaphyſik, ſo wird andrer-
ſeits von ihm der Nachweis, daß dieſes Seelenleben nicht als eine
Leiſtung der Materie betrachtet werden könne, nach richtiger Me-
thode geführt. Aus der Analyſis des Seelenlebens wird abge-
leitet, daß die Eigenſchaften deſſelben auf körperliche Elemente
nicht zurückgeführt werden dürfen 2). Nur daß auch hier ſofort
der dogmatiſche Begriff der Seelenſubſtanz ſich einſtellt. — Aus der
Verkettung dieſer Schlüſſe ergiebt ſich endlich: die Seele kann
nicht auf die materielle Naturordnung zurückgeführt werden, je-
doch muß ſie als veränderlich einen unveränderlichen Grund haben,
ſonach iſt Gott die Urſache der Seele wie der veränderlichen
Welt überhaupt, die Seele iſt von Gott geſchaffen; denn was
nicht ſeine Unveränderlichkeit theilt, kann nicht ein Theil der Sub-
ſtanz Gottes ſein 3).
[333]Gott als Wahrheit und Gott als höchſtes Gut.
Insbeſondere aber aus der Selbſtbeſinnung über die That-
ſachen des Willens hat Auguſtinus ſeine metaphyſiſche Ordnung
gefolgert. Hinter dieſe Erfahrungen des Willens iſt ihm das
theoretiſche Verhalten des Menſchen immer mehr zurückgetreten.
Indem er in dem Urtheil das Element der Zuſtimmung des
Willens heraushebt, ordnet er das Wiſſen ſelber dem Willen unter 1),
das Wiſſen iſt in dieſem Verſtande Glaube. Durch einen ſolchen
Glauben ſind wir zunächſt der Außenwelt gewiß, inſofern wir uns
praktiſch verhalten 2); dann finden wir uns in demſelben Zuſammen-
hang des praktiſchen Verhaltens, in der Richtung auf ein höchſtes
Gut, dasſelbe iſt als ein unſichtbares nur im Glauben, als ein
nichtgegenwärtiges in der Hoffnung für uns da 3). War in dem
oben entwickelten Zuſammenhang Gott als der Ort der veritates
aeternae gewiß, ſo iſt er es hier als das höchſte Gut4).
Daher ſind wir in dieſem Glauben derjenigen Realität der Welt
wie der Gottes ſicher.
So iſt die Selbſtbeſinnung des Auguſtinus nur der
Ausgangspunkt für eine neue Metaphyſik. Und in dem
Inneren dieſer Metaphyſik iſt ſchon der Kampf zwiſchen den
veritates aeternae, in welchen der Intellekt die Gedanken-
mäßigkeit der Welt beſitzt, und dem Willen Gottes, der dem
praktiſchen Verhalten des Menſchen gewiß iſt. Denn wo Wille
iſt, da iſt eine Reihe von Veränderungen, welche durch ein Ziel
beſtimmt iſt. Auguſtinus möchte das lebendige Verhältniß Gottes
zur Menſchheit, ſeinen Plan in der Geſchichte ergründen 5) und
doch zugleich die Unveränderlichkeit Gottes feſthalten: erfüllt von
dem antiken Gedanken, daß alle Veränderlichkeit Vergänglichkeit
einſchließt.
[334]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Geſchichtliche Lage und Art der perſönlichen Genialität be-
dingen ſo die Stellung des Auguſtinus zwiſchen Er-
kenntnißtheorie und Metaphyſik. Haben ſie dem Philo-
ſophen die Konſequenz verſagt, ſo haben ſie dafür den Schrift-
ſteller durch eine weltgeſchichtliche Wirkung entſchädigt. Denn in-
dem er die volle und ausſchließliche Realität der Thatſachen des
Bewußtſeins erkannte, dieſe Thatſachen aber nicht einer zuſammen-
hängenden Zergliederung unterwarf, ſondern denſelben in ſeiner
Imagination, im Weben der reichſten Seelenkräfte gleichſam unter-
lag: machte ihn dies zwar zu einem fragmentariſchen Philo-
ſophen, aber zugleich zu einem der größten Schriftſteller aller
Zeiten.
Die griechiſche Wiſſenſchaft hatte eine Erkenntniß des Kosmos
geſucht und im Skepticismus mit der Einſicht geendigt, daß jede
Erkenntniß von der objektiven Unterlage der Phänomene unmög-
lich ſei. Hieraus hatten die Skeptiker voreilig die Unmöglichkeit
alles Wiſſens erſchloſſen. Zwar leugneten ſie nicht die Wahrheit
der Zuſtände, welche wir in uns vorfinden; aber ſie vernach-
läſſigten dieſelbe als etwas für uns Werthloſes. Auguſtinus
zog aus der Veränderung der Richtung der Intereſſen, welche
das Chriſtenthum durchgeſetzt hatte, die erkenntnißtheoretiſche Kon-
ſequenz. Weder die Einfälle Tertullian’s noch der einer neu-
platoniſchen Zeitbildung hingegebene Synkretismus des Clemens
oder Origenes hatten das vermocht. Und in Folge hiervon bildet
Auguſtinus ein ſelbſtändiges Glied in dem ſo langſamen und
ſchweren geſchichtlichen Fortgang von der objektiven Metaphyſik zu
der Erkenntnißtheorie.
Aber er verdankt die Stellung, welche er ſo einnimmt, nicht
ſeinem zergliedernden Vermögen, ſondern der Genialität ſeines per-
ſönlichen Lebensgefühls. Und dieſer Thatbeſtand macht ſich in einer
doppelten Richtung geltend.
Auguſtinus iſt gänzlich frei von der Neigung der Metaphy-
ſiker, der Wirklichkeit die Nothwendigkeit des Gedankens zu ſub-
ſtituiren, der vollen pſychiſchen Thatſache den in ihr enthaltenen
Vorſtellungsbeſtandtheil. Er verbleibt in dem Gefühl und der
[335]Macht d. Darſtellung innerer Erfahr. u. Mangel ihrer Zergliederung.
Imagination des vollen Lebens. So bezeichnet er, was dem
Zweifel als unantaſtbar zurückbleibt, nicht ausſchließlich als
Denken, ſondern auch als Leben. Hierin drückt ſich ſeine Natur
im Unterſchied von der eines Descartes aus. Er möchte aus-
ſprechen, was in dem Lebensdrang, von welchem ſeine affektive
Natur bewegt iſt, enthalten ſei. Er zuerſt hatte das Bedürfniß
und die Kühnheit, ſeine Geſchichte, wie ſie aus dieſem Lebens-
drang entſprungen iſt und das innere Schickſal deſſelben abſpiegelt,
hinzuſtellen. Wie ein ungebundenes mächtiges Naturelement war
er durch die Welt gegangen, unaufgehalten von konventionellen Ein-
ſchränkungen, ein gewaltiger Menſch: er hatte immer gelebt, was
er gedacht hatte. Die Konfeſſionen haben dem Mittelalter ſein Bild
eingeprägt: ein glühendes Herz, das in Gott allein Ruhe findet.
Er rang andrerſeits, in einer allgemeinen pſychologiſchen Deſkrip-
tion den dunklen Trieb nach Glückſeligkeit in ſeinen weſenhaften
Zügen auszudrücken, er ging ihm nach durch die Dämmerung des
Bewußtſeins, in welcher er webt, in das Reich der Illuſionen,
die hieraus entſpringen, bis dieſer Drang ſich an die ſchöne Ge-
ſtaltenwelt Gottes verliert, doch immer von dem Bewußtſein be-
gleitet, daß der Wechſel der ſo entſtehenden Zuſtände nicht das
erreichte höchſte Gut iſt 1). Endlich kehren ſeine Schriften im
Einzelnen immer wieder zum Nachempfinden und Grübeln über
Seelenzuſtände zurück. Sie haben tiefſinnig dem Zuſammenhang
von pſychiſchen Thatſachen, welche bis dahin vorwiegend aus dem
Vorſtellungsleben erklärt worden waren, mit dem Willen, mit
dem ganzen Menſchen nachgeſpürt; man vergleiche ſeine feinſinnigen
Erörterungen über die Sinne 2), über das dunkle Leben des
Willens im Kinde 3), ſeine Beobachtungen und Spekulationen über
die durchgreifende Bedeutung des Rhythmus im geiſtigen Leben 4).
Dem entſprechend haben ſeine Schriften ferner Begriffe, welche bis
dahin in der Metaphyſik abſtrakt behandelt und in Vorſtellungs-
[336]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
elemente zerlegt worden waren, auf ihre Grundlagen in der
Totalität des Seelenlebens zurückgeführt; hierfür werden z. B.
ſeine Unterſuchungen über die Zeit immer muſterhaft bleiben 1).
Aber dieſer genialen Gewalt der Vergegenwärtigung war ſein
Vermögen der Zergliederung nicht gewachſen. Kann das Wun-
der nehmen? Dieſes naturmächtige Gemüth, dem nichts als Gott
genugthun konnte, war nicht zu gewöhnen, der Zerlegung der
Begriffe ein Leben zu widmen. Zwar vermochte Auguſtinus, wie
keiner der Jahrhunderte nach Paulus, die Gedankenmächte, die er
vorfand, in großem Sinne zu ſchätzen, und in Folge hiervon
begriff er, umgeben von den Trümmern der antiken Spekula-
tion, richtig die Wahrheit des griechiſchen Skepticismus gegenüber
der objektiven Weltanſicht. Er vermochte dann, den entſcheidenden
Punkt zu finden, in welchem die chriſtliche Erfahrung den antiken
Skepticismus aufhebt, und ſo konnte er einen dem kritiſchen ver-
wandten Standpunkt erfaſſen. Aber ihn durchzuführen vermochte
er nicht; er entbehrte der analytiſchen Kraft, ihm die Wiſſenſchaft
der äußeren Wirklichkeit unterzuordnen, die der inneren Wirk-
lichkeit von ihm aus aufzubauen ſowie die falſchen Begriffe
aufzulöfen, welche beanſpruchen, die geiſtigen und die Natur-
thatſachen in einem objektiven Ganzen zuſammenzuhalten. Was
ſo entſtand, war kein Syſtem. Man wird Auguſtinus in ſeiner
wahren Größe als Schriftſteller erſt erkennen, wenn man den
pſychologiſchen Zuſammenhang, welcher in ihm iſt, entwickelt und
auf den ſyſtematiſchen verzichtet, welcher nicht bei ihm zu finden iſt.
Und weiter als Auguſtinus hat kein mittelalterlicher Menſch
geſehen. So bildete ſich anſtatt einer erkenntnißtheoretiſch begrün-
deten Darſtellung der religiöſen Erfahrung und ihres Aus-
druckes in Vorſtellungen eine objektive Syſtematik. Es entſtand
in der Theologie eine zweite Klaſſe von Metaphyſik,
tiefer im Ausgangspunkt, aber gemäß ihrem Verhältniß zu den
praktiſchen Lebensaufgaben in unreiner Miſchung mit poſitiven, in
Autorität gegründeten Beſtandtheilen: eine in jeder Rückſicht un-
[337]Begründung der theologiſchen Metaphyſik.
kritiſche Metaphyſik des Willens. Bald ſtreitend bald in
äußerer Ausgleichung gehen nun Auguſtinus, der Repräſentant
der Metaphyſik des Willens, und Ariſtoteles, das Haupt der
Metaphyſiker des Kosmos, durch das Mittelalter. Und zwar lebt
Auguſtinus nicht nur mit Plato und Ariſtoteles vereint in der
Scholaſtik fort, ſondern ſofern er das in unmittelbarem Wiſſen
Gegebene nicht den an der Außenwelt früher gefundenen Begriffen
unterordnen will, findet er ſeine Nachfolger in den Myſtikern.
Schon die literariſchen Formen, in welchen die Myſtik ſich aus-
ſprach, zeigen dieſen Zuſammenhang mit Auguſtinus 1). Auch hat
die Myſtik in Bezug auf erkenntnißtheoretiſche Begründung ihres
Gegenſatzes zu der Metaphyſik keinen Schritt über Auguſtinus
hinaus gethan, ſie hat ſich nur reiner in dem Element der
inneren Erfahrung abgeſchloſſen. Daher erhielt ſie ſich nicht kraft
ihrer wiſſenſchaftlichen Grundlegung, ſondern ihr inneres Leben
hat ſie getragen. Die Independenz des perſönlichen Glaubens-
lebens wurde ſo von ihr durch Blüthe und Untergang der mittel-
alterlichen Metaphyſik hindurch gerettet, bis dieſe Independenz
in Kant und Schleiermacher eine wiſſenſchaftliche Begründung
erhielt.
Dilthey, Einleitung. 22
[338]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Drittes Kapitel.
Die neue Generation von Völkern und ihr metaphyſiſches
Stadium.
Mehr als ein Jahrtauſend liegt zwiſchen Auguſtinus und den
Zeiten von Copernicus, Luther, Galilei, Descartes, Hugo de Groot.
In den Mittelmeerſtaaten des Alterthums hatte ſich die bisher
dargelegte Metaphyſik entwickelt; eine Metaphyſik als Grundlegung
der Wiſſenſchaften iſt nun auch der neuen Generation von Völkern
überliefert worden, welche in die Erbſchaft der älteren eintrat.
Auguſtinus erlebte, daß die Germanen als Herren in der
Stadt Rom ſchalteten, ihnen fiel im Occident die Herrſchaft
zu, im Morgenlande erhoben ſich die Araber. Wie dieſe Völker
bis dahin vorwiegend in religiöſen Vorſtellungen den Gehalt
ihres intellektuellen Lebens beſeſſen hatten, war es naturgemäß,
daß die theologiſchen und metapyſiſchen Probleme ſie mächtig er-
griffen. Eine parallele Entwicklung vollzog ſich bei den
Völkern des Islam und in der Chriſtenheit; auffallende
Analogien dieſer Entwicklung treten in dem langen Zeitraum
theologiſcher Metaphyſik hervor. Doch machte ſich ſchon darin
ein tiefer Gegenſatz bemerkbar: die Araber nahmen neben der
Metaphyſik der Griechen deren mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche
Arbeiten auf; die Metaphyſik des Abendlandes erarbeitete eine
tiefere Auffaſſung der menſchlich-geſchichtlichen Welt, im Zuſammen-
hang mit der ſelbſtändigen Aktivität der germaniſch-romaniſchen
Völker im politiſchen Leben.
Die Gedankenarbeit der Araber begann in der theologiſchen
Bewegung und dieſe bildet die erſte Epoche ihres Geiſteslebens.
Die Mutaziliten, die arabiſchen Rationaliſten, haben die Probleme
behandelt, welche unabhängig von jedem Studium der Außenwelt
da entſpringen, wo die Erfahrungen des ſittlich-religiöſen Lebens
einen klar abgegrenzten Ausdruck in beſtimmten Vorſtellungen
ſuchen. So oft innerhalb eines monotheiſtiſchen Glaubens ein
ſolcher Ausdruck hingeſtellt wird, treten die im religiöſen Vor-
[339]Die Völker des Islam.
ſtellen unabänderlich gelegenen Antinomien zwiſchen dem freien
Willen und der Prädeſtination, der Einheit Gottes und ſeinen
Eigenſchaften hervor. So erhoben ſich hier im Orient dieſelben
Fragen, welche vorher und gleichzeitig das chriſtliche Abendland
bewegt haben. Und zwar lag hier wie dort der Antrieb in dem
religiöſen Leben ſelber, und die Bekanntſchaft mit dem antiken
Denken gewährte nur dieſer Bewegung Nahrung. Der Verſuch
der „lauteren Brüder“, jenes merkwürdigen Geheimbundes im
Dienſte der freien Forſchung, Ariſtoteles, Neuplatonismus und
Islam zur Einheit eines encyklopädiſchen Zuſammenhangs zu
verknüpfen, bildet ein weiteres Stadium dieſer Gedankenentwicklung.
Auch dieſer Verſuch mißlang. „Sie ermüden — äußerte ſich
der Scheich Sagaſtani —, aber befriedigen nicht; ſie ſchweifen
herum, aber gelangen nicht an; ſie ſingen, aber ſie erheitern
nicht; ſie weben, aber in dünnen Fäden; ſie kämmen, aber machen
kraus; ſie wähnen was nicht iſt und nicht ſein kann“ 1). Jenſeit
der Theologie ſetzte die geiſtig regſame, ſcharfſinnig beobachtende,
aber der Tiefe und der ſittlichen Selbſtändigkeit entbehrende Na-
tion, unterſtützt von der Begabung der unterworfenen Völker,
die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Arbeit der Griechen fort.
Und die Metaphyſik der Araber, eine Erneuerung des Ariſtoteles
mit neuplatoniſchen Interpolationen, ließ gegen den einen, noth-
wendigen und gedankenmäßig allgemeinen Zuſammenhang das
Element des Willens zurücktreten, ja gelangte in einigen ihrer be-
deutendſten Vertreter, wie Ibn Badja und Ibn Roſchd, von ſolchen
Vorausſetzungen zur Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit.
Die Ergebniſſe der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen
Forſchung der Araber gingen auf das Abendland über; wogegen
der Sieg der orthodoxen Schule der Aſchariten über die Philo-
ſophen, welcher ſich ſchon im zwölften Jahrhundert entſchied,
zuſammen mit dem todten Despotismus der politiſchen Verfaſſung,
alles innere Leben im Islam ſelber verſiechen machte.
22*
[340]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
In dem Entwicklungsgang der romaniſch-germaniſchen
Völker, wie ſie den Zuſammenhang der europäiſchen Chriſten-
heit bildeten, hat ſich die Metaphyſik weit langſamer ausgelebt,
ſie war der lange Jugendtraum dieſer Nationen. Denn dieſelben
befanden ſich, als ſie in die Erbſchaft der Metaphyſik ein-
traten, noch in ihrem Heldenzeitalter. Sie ſtanden unter der
Leitung der Kirche und der Theologie. Die Vorſtellungen von
pſychiſchen Kräften, welche das Weltall durchwalten, waren für
ſie, wie einſt für die Griechen, der natürliche Ausdruck ihres der
mythiſchen Epoche des Vorſtellens kaum entwachſenen Geiſtes.
Innerhalb der ihnen überlieferten Theologie bildeten ſie ſich aus
den Reſten ihres mythiſchen Fühlens und Denkens und verwandten
Beſtandtheilen, die ſie bei den Alten fanden, eine reiche und
phantaſtiſche Welt, die von Heiligen, Wundergeſchichten, böſem
Zauber, Geiſtern aller Art erfüllt war. Schwer lebten ſie ſich in die
vorhandene Metaphyſik ein, wie ſie in Ariſtoteles ihren Abſchluß
gefunden hatte. Mit der Zeit erweiterte ſich ihre Kenntniß des
Ariſtoteles; allmälig wuchſen ihnen die Kräfte abſtrakten Denkens.
So entſtand ein Ganzes, welches mit königlicher Gewalt über die
Gemüther herrſchte. Zu keiner Zeit war die Macht der Metaphyſik
ſo groß als in dieſen Jahrhunderten, in denen ſie mit der Theo-
logie und der Kirche verbunden war. Und in dieſer Entwicklung
erlitt die ariſtoteliſche Metaphyſik eine weſentliche Umgeſtaltung.
Elemente traten in der neuen Metaphyſik hervor, die ihre Herr-
ſchaft unter den modernen Völkern lange behauptet haben und in
vielen Punkten ſowie innerhalb weiter Strecken der europäiſchen
Bevölkerung noch heute behaupten. Denn die geſchichtliche Lage
dieſer neuen Völker gab ihnen neben vielen Nachtheilen auch
große Vortheile gegenüber den Alten. Die europäiſche Menſchheit
hat nunmehr eine Vergangenheit hinter ſich, die abgeſchloſſen iſt.
Ganze Völker und Staaten haben ausgelebt auf dem Boden, wo
eine neue Welt ſich eingerichtet hat. Sie haben in derſelben
römiſchen Sprache, die noch herrſcht, geſprochen, und in die Literatur
dieſer Sprache iſt auch das Wichtigſte der griechiſchen Entwicklung
gerettet. Andrerſeits aber fanden ſich dieſe jungen germaniſch-
[341]Fortſchritt der Metaphyſik bei den romaniſch-germaniſchen Völkern.
romaniſchen Völker im Kampfe mit dem vom Islam mächtig er-
regten Morgenlande. Der politiſche und militäriſche Gegenſatz
wurde zugleich als ein ſolcher der beiden großen Weltreligionen
empfunden, die um die Herrſchaft rangen, und ſetzte ſich bis in
das Gebiet der Metaphyſik fort. Die Metaphyſiker der Chriſten-
heit fanden ſich ſcharfſinnigen Syſtemen gegenüber, welche aus
dem Islam hervorgegangen und dem Chriſtenthum innerlich
feindſelig waren. Dies Alles gab der Metaphyſik der neueren
europäiſchen Völker ein Uebergewicht über die der Alten in zwei
Punkten.
Die veränderte Lage ermöglichte den Metaphyſikern einerſeits,
zu einer Abſtraktion fortzugehen, welche den Griechen in ihrem
natürlichen nationalen Wachsthum nicht möglich war. Sie ge-
langten zu Abſtraktionen äußerſten Grades. Denn die
Metaphyſik ſo gut als die Religionswahrheiten, Rechtsſätze und
politiſchen Theorien der Vergangenheit wurden nunmehr einer
Reflexion unterworfen, welche trotz der bitterſten Mängel in der
Erkenntniß und Auffaſſung des Geſchichtlichen doch die Reſte
dieſer Vergangenheit als Stoff vor ſich hatte. Und zwar war
die metaphyſiſche Reflexion in Bezug auf die Frage, welche Be-
weiſe vor dem Verſtande ſich zu behaupten vermöchten und welche
Begriffe in verſtandesmäßige Elemente aufgelöſt werden könnten,
zunächſt von der kirchlichen Autorität nicht gebunden. Wie ver-
hängnißvoll auch für die nur in der Unabhängigkeit gedeihende
Philoſophie der Einfluß kirchlicher Vorſtellungen und kirchlicher
Macht auf die Gemüther der mittelalterlichen Menſchen war:
dieſe Frage, was an den gegebenen Inhalten überlieferter Meta-
phyſik und geltenden Glaubens dem Verſtande entſprechend und
zugänglich ſei, war noch von der Kirche freigelaſſen.
Andrerſeits ermöglichte die veränderte Lage den Metaphyſikern,
ihr Syſtem, welches aus der wiſſenſchaftlichen Erforſchung der
Natur hervorgegangen war, auf die geſchichtliche Welt aus-
zudehnen. Dieſe breitete ſich nun als eine umfangreiche Realität
vor ihren Blicken aus. Sie ſtand vermittelſt der chriſtlichen
Wiſſenſchaft mit den tiefſten Prinzipien der metaphyſiſchen Welt
[342]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
in einer inneren Verbindung und bildete vermöge der Beziehung
zu dieſen Prinzipien ein in ſich zuſammenhängendes Ganges. Zu-
gleich ſonderte der chriſtliche Dualismus von Geiſt und Fleiſch
ſchärfer von der ganzen Natur dieſes Reich des Geiſtes, als einen
in dem Transſcendenten begründeten Zuſammenhang. Die mittel-
alterliche Metaphyſik hat ſo eine Erweiterung erfahren, durch
welche erſt die geiſtigen Thatſachen und die geſchichtlich-geſell-
ſchaftliche Wirklichkeit als ein der Natur und Naturerkenntniß
ebenbürtiges Glied ihr eingeordnet wurden.
Zum zweiten Male begann ſo die Gedankenarbeit der
Metaphyſik. Der Wille zu erkennen fuhr fort, die Subjekte, deren
Thun und Eigenſchaften in Natur, Selbſterfahrung und Ge-
ſchichte ſich offenbaren, mit dem Gedanken durchdringen zu wollen,
und das Leben, welches dieſem Willen der Erkenntniß vorlag,
reichte nun in Tiefen, welche der metaphyſiſchen Beſinnung des Alter-
thums nicht erreichbar geweſen waren. Es liegt außerhalb des
Kreiſes unſerer Erörterung zu betrachten, wie die metaphyſiſche
Gedankenarbeit Trinität, Gottmenſchheit in klare und beweisbare
Beſtandtheile aufzulöſen den Verſuch machte und die Unlöslichkeit
des chriſtlichen Dogma für den Verſtand ſchließlich erkennen mußte.
Aber der menſchliche Geiſt erfuhr ferner zum zweiten Male, daß
überhaupt ein natürliches metaphyſiſches Syſtem unmöglich ſei.
Die Metaphyſik ſchmolz vor der Verſtandeskritik zuſammen wie
Schnee bei ſteigender Sonnenwärme. Und ſo endigte das zweite
metaphyſiſche Stadium in dieſer Rückſicht wie das erſte, ſo viel
inhaltvoller auch der Rückſtand war, den es zurückließ.
Dieſer Vorgang geſtattet, wieder tiefer in das Weſen der
Metaphyſik ſowie in die Unmöglichkeit ihres dauernden Be-
ſtandes zu blicken; denn was die großen inhaltlichen Thatſachen
des Geiſtes in ihrem Weſen enthalten, ſagt uns nur die Geſchichte.
Die mittelalterliche Metaphyſik ſchloß eine Erweiterung der Welt-
anſchauung in ſich, welche in gewiſſen Grenzen noch heute fort-
beſteht. Sie enthielt ein tieferes Seelenleben, als das des Alter-
thums geweſen war. Und je angeſtrengter ſie ſich bemühte, was nun
innerhalb des Horizontes der metaphyſiſchen Beſinnung ſich befand,
[343]Das negative Ergebniß dieſes metaphyſiſchen Stadiums.
verſtandesmäßig zu begreifen, deſto deutlicher wurde die Unmög-
lichkeit hiervon. Viel wird der unvollkommenen intellektuellen
Ausbildung der Schriftſteller zugeſchrieben werden müſſen, welche
dieſe Metaphyſik geſchaffen haben. Die Aufgabe, die großen Rea-
litäten des Chriſtenthums und die Vorſtellungen, in welchen dieſe
ausgedrückt waren, mit der griechiſchen, insbeſondere ariſtoteliſchen
Metaphyſik zu vereinigen, iſt von ihnen äußerlich gefaßt worden,
weil ihnen die tieferen wiſſenſchaftlichen Beweggründe der griechi-
ſchen Metaphyſik unzugänglich waren. Wie dieſe Beweggründe
aus der Arbeit der wirklichen Wiſſenſchaft hervorgegangen waren,
ſo konnten ſie und die von ihnen aus entſtandenen Begriffe und
Sätze nur von ſolchen verſtanden werden, welche an derſelben
Arbeit die Hand hatten. Die Begriffe der ſubſtantialen Form,
der Ewigkeit der Welt, des unbewegten Bewegers waren unter
den Anforderungen des Erkennens, welches den Kosmos erklären
wollte, entſtanden, gerade ſo wie der Begriff des Atoms oder
der des leeren Raumes. Andere Begriffe waren bedingt durch die
poſitive, naturwiſſenſchaftliche Forſchung. Daher die Begriffe der
Alten bei den Scholaſtikern den aus ihrem Boden geriſſenen
Pflanzen in einem Herbarium gleichen, deren Standort und Lebens-
bedingungen unbekannt ſind. Dieſe Begriffe wurden nun mit ganz
unverträglichen verbunden, ohne ſonderlichen Widerſtand zu leiſten.
So findet man Schöpfung aus Nichts, lebendige That und Per-
ſönlichkeit Gottes verbunden mit den Begriffen, welche von der
Unveränderlichkeit der erſten Subſtanz oder von dem ariſtoteliſchen
Begriff der Bewegung ausgehen. Aber wie ſehr auch dieſer Mangel
an wirklich wiſſenſchaftlichem Geiſt die Löſung der bezeichneten Auf-
gabe, das Leben des Chriſtenthums mit der Wiſſenſchaft vom Kosmos
zu Einem Syſtem zu vereinigen, erſchweren mußte: dennoch erklärt
derſelbe nicht den gänzlichen Zuſammenbruch dieſer Metaphyſik als
Wiſſenſchaft, welcher das Ende des metaphyſiſchen Stadiums der
neueren Völker und den Eintritt in das der wirklichen Wiſſenſchaften
bezeichnet; vielmehr tritt die innere Unmöglichkeit der Aufgabe ſelber
hervor. Indem dieſe Metaphyſik in erſter Linie von dem In-
tereſſe an den Erfahrungen des Willens und des Herzens aus-
[344]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
geht, macht ſich tiefer als vordem geltend, daß, was wir im
Leben beſitzen, nicht von dem Verſtande in einen Zuſammenhang
ganz durchſichtiger Begriffe aufgelöſt werden kann. Indem die
Bedingungen der Natur mit denen der geſchichtlichen Welt in
Einem objektiven Zuſammenhang verknüpft werden ſollen, tritt
der tiefe Widerſpruch zwiſchen der Nothwendigkeit, die
dem Gedankenmäßigen eigen iſt, und der Freiheit, welche die
Erfahrung des Willens iſt, in den Mittelpunkt der Metaphyſik:
er zerreißt ihr Gewebe.
Doch vollzog dieſe zweite Epoche der Metaphyſik zugleich
einen bleibenden poſitiven Fortſchritt in der euro-
päiſchen intellektuellen Entwicklung, welcher dem modernen Men-
ſchen und der freien Verbindung von Erkenntnißtheorie, Einzel-
wiſſenſchaft und religiöſem Glauben erhalten bleibt. Zu dem
ſchon Erwähnten tritt Folgendes hinzu. Im Alterthum hatte ſich
die Wiſſenſchaft als ein unabhängiger Zweckzuſammenhang ab-
geſondert und war zur Selbſtändigkeit gelangt. In den großen In-
ſtituten von Alexandria, in den anderen wiſſenſchaftlichen Sammel-
punkten des ſpäteren Alterthums hatte ſie auch eine äußere Or-
ganiſation erhalten, durch welche die Kontinuität poſitiver Leiſtungen
ermöglicht wurde. So trat die Wiſſenſchaft als ein die Völker
umſpannender Zuſammenhang dem wechſelnden und zerſtückelten
Staatsleben gegenüber. Die Macht und Souveränetät des chriſt-
lichen Bewußtſeins verkörperte ſich nun während des Mittelalters
in dem ſelbſtändigen Aufbau der katholiſchen Kirche, auf welche
viele politiſche Ergebniſſe des römiſchen Imperiums übertragen
wurden. Wenn ihr die individuelle Freiheit des chriſtlichen
Bewußtſeins zur Zeit geopfert wurde, ſo bereiteten doch die
großen korporativen Ordnungen des Glaubens und Wiſſens
eine Zukunft vor, in der bei innerer Freiheit des Seelenlebens
die Differenzirung und äußere Gliederung der einzelnen Zweckzu-
ſammenhänge durchgeführt werden kann: eine Zukunft, die auch
wir heute nur in unſicheren Umriſſen erblicken. Alsdann unter-
hielten das religiöſe Leben und die Schulen der Myſtik das Be-
wußtſein, daß das meta-phyſiſche Weſen des Menſchen in der
[345]Der poſitive Fortſchritt.
inneren Erfahrung, als Leben, auf eine individuelle, einen allge-
meingültigen wiſſenſchaftlichen Ausdruck ausſchließende Weiſe ge-
geben iſt. Die Metaphyſik fügte dem Begriffszuſammenhang, der
an der Außenwelt entwickelt war, den hinzu, welcher aus dem
religiöſen Leben ſtammte: Schöpfung aus Nichts, innere Lebendig-
keit und gleichſam Geſchichtlichkeit Gottes, Schickſal des Willens.
Und als an dem inneren Widerſpruch, der ſo entſprang, die
Metaphyſik des Mittelalters zu Grunde ging, da war und ver-
blieb das perſönliche, keiner allgemeingültigen wiſſenſchaftlichen
Begründung fähige Bewußtſein unſerer meta-phyſiſchen Natur das
Herz der europäiſchen Geſellſchaft; ſein Schlag ward empfunden
in den Myſtikern, in der Reformation, in jenem gewaltigen
Puritanismus, der in Kant oder Fichte ſo gut lebt als in Milton
oder Carlyle und welcher einen Theil der Zukunft in ſich ſchließt.
Viertes Kapitel.
Erſter Zeitraum des mittelalterlichen Denkens.
Den Ausgangspunkt der Gedankenarbeit des Mittelalters
bildeten die Probleme der drei monotheiſtiſchen Religionen. Wir
beginnen mit dem Einfachſten. Judenthum, Chriſtenthum wie
Islam haben ihren Mittelpunkt in einem Willensverhältniß des
Menſchen zu Gott. Daher ſchließen ſie eine Reihe von Elementen
in ſich, welche der inneren Erfahrung angehören. Da aber unſer
Vorſtellen an die Bilder der äußeren Erfahrung gebunden iſt,
ſo kann, was dem Erlebniß angehört, nur in dem Zuſammen-
hang unſeres Bildes der Außenwelt vorgeſtellt werden. Den
einfachſten Beweis hierfür liefert das Mißlingen jedes Verſuchs,
Gott ohne ein Bild des räumlichen Außereinander von dem
eigenen Selbſt zu ſondern, ihn in Beziehung zu dieſem Selbſt
ohne ein Element des räumlichen Verhaltens und Einwirkens zu
denken, oder etwa die Vorſtellung der Schöpfung ohne Bilder eines
[346]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
wenn auch noch ſo beſchleunigten Hervortretens und zeitlichen
Geſtaltens zu vollziehen. Daher ſtellt ſich das religiöſe Erleben
in den monotheiſtiſchen Religionen eben ſo in einer Vorſtellungs-
welt dar, welche nur Gewand und Hülle, gleichſam Verſinn-
lichung der inneren Erfahrungen iſt, wie dies in den
indogermaniſchen Religionen der Fall geweſen iſt, aus deren my-
thiſchem Vorſtellen der Welt wir die griechiſche Metaphyſik her-
vorwachſen ſahen 1). Und das Denken ſtrebt nothwendiger Weiſe,
dieſe die religiöſe Erfahrung verſinnlichenden Vorſtellungen aufzu-
klären, zu zergliedern und widerſpruchslos zu ver-
binden.
Hierbei trifft das dogmatiſche Denken überall auf Vorſtellungs-
beſtandtheile, welche dem Bilde der Außenwelt angehören. Und da
Chriſtenthum, Heidenthum und Islam die Bearbeitung dieſer
Elemente durch die erklärende Wiſſenſchaft des Kosmos vor ſich
hatten, miſchten ſich Begriffe aus dieſer erklärenden Wiſſenſchaft
in ihre Theologie ein. Daher hat ſich die Entwicklung der Formeln,
welche die religiöſe Erfahrung in einer Verknüpfung von Vor-
ſtellungen abgrenzen und gegen andere Formeln innerhalb der-
ſelben Religion wie gegen andere Religionen rechtfertigen ſollten,
nicht folgerecht aus der im Chriſtenthum gegebenen Selbſtgewiß-
heit innerer Erfahrung vollzogen 2). Vielmehr mündete der ge-
waltige und friſche Fluß dieſer inneren Erfahrungen in den breiten,
trüben, Elemente verſchiedenſter Art mit ſich führenden Strom
der abendländiſchen Metaphyſik. Ein Synkretismus in der Me-
taphyſik, wie er der Niederſchlag der langen Entwicklung grie-
chiſch-römiſchen Denkens war, ſchien dem religiöſen Vorſtellen die
Mittel darzubieten, ſich in einem Syſtem zu formiren und als
ſolches zu behaupten. So entſtand die chriſtliche und ähnlich
bildete ſich die jüdiſche und muhamedaniſche Theologie.
Und zwar ſtand die Aufgabe der Theologie nur eine einge-
ſchränkte Zeit hindurch bei den neueren Völkern in dem Mittel-
[347]Bearbeitung des Glaubensinhaltes in der Theologie.
punkt alles ſyſtematiſchen Denkens. Im chriſtlichen Abendlande
währte dieſe Zeit länger als bei den Völkern des Islam; von
Alcuin und dem achten Jahrhundert reichte ſie hier bis zum Ende
des zwölften Jahrhunderts.
Während dieſer vier Jahrhunderte machten ſich die möglichen
Stellungen des Glaubensinhaltes zum Verſtande gel-
tend, wie ſie bis heute fortdauern. Die in der Hierarchie herrſchende
Partei betrachtete den Glaubensinhalt als eine der Vernunft un-
erreichbare und unſerer verderbten Natur in der Offenbarung autori-
tativ gegenübertretende Thatſächlichkeit. Gemäß der dargelegten
Beziehung zwiſchen dem Offenbarungsglauben und der inneren Er-
fahrung verband ſich dieſer Standpunkt mit dem zweiten, welcher
die im Chriſtenthum angelegte Erkenntniß entwickelte, daß die
inneren religiöſen Erfahrungen in einem verſtandesmäßigen Zu-
ſammenhang nicht dargeſtellt werden können 1). Doch trat dieſe
zweite Stellung zum Glaubensinhalt auch mehr losgelöſt vom
Autoritätsprinzip auf, insbeſondere in den myſtiſchen Schulen.
Eine dritte Partei hatte ihren wichtigſten Repräſentanten während
dieſes Zeitraums in Anſelm. Die Vorausſetzungen derſelben
lagen ebenfalls in Auguſtinus. Sie vereinigte in ſchwer zu
faſſendem Tiefſinn die beiden Seiten des mittelalterlichen Denkens:
in jedem, auch dem tiefſten Geheimniß des Glaubens iſt ein Ver-
nunftzuſammenhang, und er könnte der göttlichen Vernunft nach-
gedacht werden, wenn die Gedanken der Menſchen den Gottes zu
erreichen die Kraft hätten; aber dieſer Zuſammenhang wird allein
unter der Vorausſetzung des Glaubens erblickt 2). Die letzte unter
[348]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
dieſen Parteien betrachtete den menſchlichen Verſtand als Maß-
ſtab des Glaubensinhaltes, und die Unterſchiede in ihr waren
vorzugsweiſe durch den Grad von Selbſtvertrauen bedingt, mit
welchem dieſer Verſtand auftrat. So kann ſie als Rationalismus
bezeichnet werden. Sie empfing ihre Macht nicht allein aus dem
Trieb des Erkennens, welcher zumal im zwölften Jahrhundert zur
Leidenſchaft anwuchs; auch der Zwieſpalt der Autoritäten über die
Glaubensgeheimniſſe konnte von Abälard in ſeiner Schrift „Ja und
Nein“ kühn und geſchickt zu Gunſten der Entſcheidung von Glaubens-
fragen durch den Verſtand verwerthet werden, und der Streit einer
Mehrheit monotheiſtiſcher Religionen machte die ſchließliche Geltung
derſelben von dem Richterſpruch des Denkens abhängig, die Ge-
ſpräche zwiſchen den Repräſentanten der verſchiedenen Religionen, wie
der Kuſari und der Abälard’ſche Dialog zwiſchen einem Philoſophen,
einem Juden und einem Chriſten, laſſen die Macht dieſes thatſäch-
lichen Verhältniſſes erkennen. So konnte der Vervollſtändigung
des Materials für die Kenntniß der ariſtoteliſchen Logik eine dialek-
tiſche Bewegung folgen, deren negative Ergebniſſe viele Zeitgenoſſen
erſchreckten 1). Der Glaubensinhalt wurde ſchon als eine Anticipation
der Vernunfterkenntniß angeſehen 2), und die Frage trat auf: wenn
die Lehrſätze des Chriſtenthums einer rationalen Behandlung zu-
gänglich ſind, warum bedurfte es der Offenbarung?
[349]Dialektik als Werkzeug der Theologie.
Die Erfaſſung des Glaubensinhaltes durch die Vernunft, nach
welcher ſo in dieſen Jahrhunderten gerungen wird, hat in der
Dialektik (Logik) ihr Werkzeug. — Es iſt überzeugend nachge-
wieſen worden, wie der Zuſtand dieſes Werkzeugs durch die elende
urſprüngliche Ueberlieferung des logiſchen Materials und die lang-
ſame Erweiterung der Kenntniß echter ariſtoteliſcher Logik bedingt
geweſen iſt 1). Aber die Dialektik dieſer Jahrhunderte erſcheint in
einem günſtigeren Lichte, wenn die andere Seite ihrer damaligen
Geſchichte, ihre Beziehung zu den Aufgaben der Theologie, auf-
gefaßt und die Abhängigkeit ihrer wichtigſten Züge von dieſer
Aufgabe erkannt wird. Wie die Logik des Ariſtoteles von der
Lage und Aufgabe der Metaphyſik des Kosmos bedingt iſt,
ſo die Dialektik des Mittelalters durch die der Theologie, als deren
Wiſſenſchaftslehre. — Dieſem Verhältniß entſprechend war die mittel-
alterliche Logik mit ſehr lebhaften Erörterungen über die Beziehung
der Formen des Denkens zu der in Gott angelegten Gedanken-
mäßigkeit der Wirklichkeit verbunden. Die Sätze der platoniſch-
ariſtoteliſchen Metaphyſik über dieſen Punkt, wie ſie von den
Neuplatonikern fortgebildet worden waren, bildeten die Grundlage
der Theologie der meiſten Kirchenväter, insbeſondere des Auguſtinus.
Zugleich befand ſich in dem überlieferten logiſchen Material eine
dürftige Mittheilung, welche wie durch einen engen Spalt in die
ſonſt der Kenntniß damals entzogenen Kämpfe des Alterthums
einen Blick geſtattete 2). In der Mannichfaltigkeit der Richtungen,
die eine Löſung des nun leidenſchaftlich beſprochenen Problems
verſucht haben, ſondern ſich drei Klaſſen, wenn man die uns allein
angehende metaphyſiſche Bedeutung des Problems ins Auge faßt.
Die allgemeine Bedingung dieſer Parteibildung lag darin, daß das
metaphyſiſche Stadium der Wiſſenſchaft einen gedankenmäßigen
Zuſammenhang der Erſcheinungen nur als Syſtem von Formen,
[350]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
die ſich in Allgemeinbegriffen darſtellen, beſeſſen hat. Die Einen
nahmen nun einen realen Vorgang logiſcher Specifikation in der
Subſtanz der Dinge an, mochten ſie dieſe nach der Formel einer
Emanation, wie Scotus Erigena, oder nach der einer Schöpfung
vorſtellen. So treten nach Wilhelm von Champeaux zu dem in ſich
gleichen Stoff zuerſt Formen der oberſten Gattungen, innerhalb
jeder derſelben ſolche, welche die Gattung zu Arten gliedern, abwärts
bis Individuen entſtehen 1). Die Anderen verwarfen einen ſolchen
realen Proceß logiſcher Specifikation und begnügten ſich mit der
Annahme einer realen Beziehung zwiſchen dem göttlichen Verſtande,
in welchem die Formen wohnen, der Wirklichkeit, der ſie durch
ihn eingebildet ſind, und dem menſchlichen Verſtande, durch den
ſie an den Dingen herausgehoben werden können 2). Der Nomina-
lismus bildete den gemeinſamen Charakter einer dritten Klaſſe von
Dialektikern. — Das Schickſal dieſer drei Richtungen war weſentlich
bedingt durch ihr Verhältniß zur Aufgabe der Theologie. Die
erſte mußte, wie ihr Abälard’s Scharfſinn nachwies, folgerecht auf
die weſenhafte Einheit derſelben Subſtanz und damit auf den Pan-
theismus führen 3). Die letzte derſelben, die nominaliſtiſche Theorie,
erwies ſich als ganz unfähig, der Theologie als Grundlage zu
dienen, bis ſie in einem ſpäteren Stadium zu der inneren Er-
fahrung in Beziehung geſetzt wurde. Das war der Grund, aus
welchem ſie in dieſem erſten Zeitraum des mittelalterlichen Denkens
ſich nicht behaupten konnte. Sprach doch der Nominalismus des
Roſcellinus nicht nur der Beziehung des Einzeldings zur Gattung,
ſondern auch der des Theils zum Ganzen jede objektive Geltung
ab. Nun beruhte aber auf dieſem letzteren Verhältniß der ganze
Zuſammenhang des göttlichen Heilsplanes, wie er die Grundlage
[351]Parteiung über den metaphyſiſchen Werth der Begriffe.
der Kirche ausmachte. Das Sündigen in Adam, das Erlöſtwer-
den in Chriſtus, die Verbindung des Einzelnen mit der Kirche
waren ohne dieſen Zuſammenhang von Theilen in einem Ganzen
nicht denkbar. Ebenſo ſchien die Dreieinigkeitslehre eine reale Be-
ziehung des Einzelnen zu dem übergeordneten Begriff vorauszu-
ſetzen. So gelangte die mittlere Anſicht, wie ſie zunächſt Abälard
mit Glück vertreten hatte, zum Siege: ſie entſprach der Aufgabe
der mittelalterlichen Metaphyſik am beſten; bis dann der Nomina-
lismus in der Theorie der inneren Erfahrung und des in ihr
gegebenen Willens ein tieferes Recht gewann.
Wurde ſo in dieſem Ringen des Verſtandes mit dem Glaubens-
inhalt während der bezeichneten vier Jahrhunderte zunächſt eine
dialektiſche Grundlegung angeſtrebt, ſo war das doch nur Vor-
bereitung für die Theologie. Und zwar lag die nächſte Auf-
gabe in der Fortentwicklung der Beweisführung für die Exiſtenz
einer transſcendenten Welt; indeß bilden in der Geſchichte
der Begründung der transſcendenten Welt auf Vernunftbeweis die
Leiſtungen dieſer Jahrhunderte einen Beſtandtheil, den iſolirt zu
betrachten kein Intereſſe für uns beſteht. Ferner ſuchte ſich der
Verſtand in der transſcendenten Welt zu orientiren und den Zu-
ſammenhang des Glaubensinhaltes gedankenmäßig zu
entwickeln. Hierbei entſchied ſich in dieſem Zeitraum ein Schick-
ſal des mit dieſer Aufgabe beſchäftigten Verſtandes, welches tiefer
in die Lebensbedingungen des metaphyſiſchen Denkens blicken
läßt. An den wichtigſten Punkten ergaben ſich anſtatt der Dar-
ſtellung in einer dem Verſtande genügenden Formel Widerſprüche
auf Widerſprüche, und dies Verhältniß trat nicht nur innerhalb
der ſpecifiſchen Dogmen der einzelnen monotheiſtiſchen Religionen
hervor, auch in den Sätzen, welche dieſen gemeinſam ſind und
ſonach zur Metaphyſik in einem näheren Verhältniß ſtehen, ward
es ſichtbar.
Ein Widerſpruch ſtellt ſich in zwei Sätzen dar, deren einer
den anderen ausſchließt; er beſteht alſo in einem Verhältniß der
Prädikate deſſelben Subjektes, vermöge deſſen ſie ſich in ihrer Be-
ziehung auf daſſelbe gegenſeitig ausſchließen oder aufheben. Ein
[352]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſolcher Widerſpruch zweier Sätze iſt eine Antinomie, wenn die
beiden Sätze unvermeidlich ſind, und Antinomien ſind daher Sätze,
welche von demſelben Subjekt mit gleicher Nothwendigkeit Wider-
ſprechendes ausſagen. Das Alterthum hatte zunächſt die Antino-
mien entwickelt, welche in unſerer Auffaſſung der Außenwelt ent-
halten ſind; dieſelben haben ihre Wurzel im Verhältniß des Er-
kennens zu den äußeren Wahrnehmungen. Die zweite Hälfte
aller Antinomien entſpringt, indem die inneren Erfahrungen dem
äußeren Vorſtellungszuſammenhang eingeordnet werden und das
Erkennen ſie ſeinem Geſetz zu unterwerfen thätig iſt. Innerhalb
dieſer Klaſſe traten geſchichtlich zuerſt die Antinomien des religiöſen
Vorſtellens, der Theologie und der die religiöſe Erfahrung in
ſich aufnehmenden Metaphyſik hervor; der Kampfplatz derſelben
waren Theologie ſowie Metaphyſik des Mittelalters, und ſie
wirkten eben ſo zerſetzend in der altproteſtantiſchen Dogmatik.
Von dieſen Antinomien gelangten zunächſt in der Zeit der Kirchen-
väter und dem früheren Mittelalter diejenigen zu klaſſiſcher Aus-
bildung, welche die Wiſſenſchaft vom Kosmos noch nicht vor-
ausſetzten, ſondern aus dem Verhältniß der religiöſen Erfahrung
zum Vorſtellen und zur logiſchen Reflexion hervorgingen.
Da das religiöſe Leben genöthigt iſt, ſich in einem Vor-
ſtellungszuſammenhang auszudrücken und dieſem Vorſtellungsin-
begriff als ſolchem die Antinomien anhaften, ſo treten dieſelben
in parallelen Formen neben einander in der Theologie des
Chriſtenthums, des Judenthums wie des Islam auf. Und zwar
gehört das Bewußtſein dieſer Antinomien keineswegs erſt der
Zeit der Auflöſung der Dogmen an; vielmehr ringt das religiöſe
Vorſtellen und Denken von Anfang an mit denſelben, ſie bilden
ein mächtiges Agens in der Dogmenbildung ſelber und verewigen
die Parteien und den Streit innerhalb der einzelnen Religionen.
Aber die Religion iſt nicht Wiſſenſchaft, ja was wichtiger zu
ſagen iſt, ſie iſt auch nicht Vorſtellen. Die Antinomien der religiöſen
Vorſtellung löſen die religiöſe Erfahrung nicht auf. So wenig
die Antinomien in unſerer Raumvorſtellung uns beſtimmen können,
auf unſer räumliches Sehen zu verzichten, ſo wenig vermögen die
[353]Erſte Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.
dem religiöſen Vorſtellen anhaftenden Widerſprüche, das religiöſe
Leben in uns zu vermindern oder in ſeiner Bedeutung für unſer
Geſammtleben herabzuſetzen. Der Maler wird nicht von den Anti-
nomien der Raumvorſtellung geſtört, denn ſie verwirren ihm nicht
ſeine Raumbilder. Genau ſo hindern die religiöſen Antinomien
nicht die freie Bewegung des religiöſen Lebens ſelber. Aber ſie
machen allerdings die konſequente Durchbildung des religiöſen
Vorſtellens, ſeine Zergliederung und die Verknüpfung der ſo ent-
ſtehenden Begriffe zur Einheit eines Syſtems, wie noch Schleier-
macher ſie verſuchte, unmöglich.
Die Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des
allmächtigen und allwiſſenden Gottes und der Vor-
ſtellung der Freiheit des Menſchen.
Die erſte und am meiſten fundamentale Antinomie des religiöſen
Bewußtſeins iſt darin gegründet, daß das Subjekt ſich in jedem
gegebenen Moment nach rückwärts ſchlechthin bedingt und
abhängig findet, zugleich aber ſich frei weiß. Dieſes Doppel-
verhältniß iſt, wie das die Deſkription des religiöſen Lebens zeigt,
gleichſam die Springfeder der beſtändigen Arbeit des religiöſen
Geiſtes, in welcher die Gottesidee erſt volle Ausbildung gewinnt.
So erſcheint innerhalb des religiöſen Vorſtellungslebens eine
Antinomie, welche keine Formel zu bewältigen vermocht hat.
Gott iſt einmal Subjekt der Prädikate Güte, Allmacht, Allwiſſen-
heit, andrerſeits erſcheinen alle dieſe Prädikate in ihm durch die
Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menſchen eingeſchränkt,
und ihre Einſchränkung iſt ihre Aufhebung. Vielleicht hat keine
Frage das Nachdenken einer größeren Zahl von Menſchen unſerer
Erde beſchäftigt und keine in gewaltigeren Naturen gearbeitet
als dieſe, welche die Vorſtellungswelt des Islam erſchüttert und
Paulus, Auguſtinus, Luther, Calvin, Cromwell bewegt hat. Wenn
wir über das weite Trümmerfeld der Sekten und Schriften
ſchreiten, welche dies Problem hervorrief, empfinden wir ſtärker als
ſonſt, wie ganz abgethan hinter uns die Dogmatik liegt. Denn
keine dieſer Streitfragen oder Diſtinktionen bewegt heute noch die
Dilthey, Einleitung. 23
[354]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Herzen der Menſchen. Ihre Zeit iſt vergangen. Und das
Schweigen des Todes ruht heute auf dem weiten Raum dieſer
Ruinen.
Das chriſtliche Abendland, um Allzubekanntes nur zu
berühren, rang von den Vätern ab vergeblich mit den Antinomien
zwiſchen der Unveränderlichkeit Gottes und der Rückwirkung der
menſchlichen Handlungen auf den göttlichen Willen, zwiſchen dem
Vorherwiſſen der Handlungen in Gott und der Freiheit des
Menſchen, ſie zu thun und zu laſſen, zwiſchen der Allmacht und
dem menſchlichen Willen 1). Lange war im Abendlande das Ge-
tümmel des pelagianiſchen Streites verhallt und die Willensfrei-
heit, die Verantwortlichkeit des Menſchen, damit ſeine Selbſtän-
digkeit, waren der Tendenz der katholiſchen Kirche, alles Gute in der
Menſchenwelt von Gott durch die Organe der Kirche herabfließend
vorzuſtellen, bis auf einen ungenügenden Reſt zum Opfer gefallen,
als in den Ländern des Islam derſelbe Streit ausbrach.
Die Rationaliſten des Islam, die Mutaziliten 2), gingen von den
inneren Problemen der Religion aus, wenn ſie auch alsdann für
deren Löſung die griechiſche Wiſſenſchaft zu Hilfe nahmen, ja viel-
leicht von der Theologie und den Sekten der Chriſten mit beeinflußt
waren 3). Durch den Koran zieht ſich der Widerſpruch zwiſchen
[355]Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.
einer ſtarren Prädeſtinationslehre, nach welcher Gott ſelber eine An-
zahl der Menſchen als unfähig, ſeine Wahrheit zu vernehmen, für die
Hölle erſchaffen hat, und dem praktiſchen Glauben an die Willens-
freiheit, auf dem die Verantwortlichkeit des Menſchen beruht. Nun
machen die Mutaziliten zunächſt die eine Seite der Antinomie,
die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrung von der Freiheit,
geltend. Der menſchliche Wille wird nach ihnen als ein ſelbſtthätiges
Prinzip erlebt, welches den Körper wie ein Werkzeug zu Bewegungen
in Thätigkeit ſetzt, und ſeine Freiheit ſchließt ein, daß ihm ein Urtheil
über gut und böſe beiwohne 1). Von hier aus entwickeln ſie Sätze,
welche ſich ausſchließend gegenüber der Lehre von Allmacht und
Allwiſſenheit Gottes für ein konſequentes Vorſtellen verhalten. Das
Böſe kann nicht auf Gott als Urſache deſſelben zurückgeführt werden;
denn das Böſe iſt ein weſentliches Attribut des böſen Weſens (im
Gegenſatz zu der Anſicht, nach welcher dieſes Attribut innerhalb
des ganzen Zuſammenhanges der Weltordnung ſchwindet); wäre nun
Gott die Urſache des Böſen, ſo würde dadurch ſeine Güte aufge-
hoben 2). Die Freiheit kann nicht verneint werden; denn mit ihr
wird die Verantwortlichkeit und folgerecht die Uebung der Ge-
rechtigkeit Gottes in Bezug auf Lohn und Strafe verneint. Während
ſo die Mutaziliten die Freiheit auf Koſten der Allmacht Gottes
ſchützen, haben andrerſeits diejenigen Sekten, welche den ſtärkeren
Antrieb im Islam konſequent entwickelten, die Prädeſtination
auf Koſten der Freiheit vertheidigt. Die Djabarija leugneten
einfach, daß die Handlungen des Menſchen ihm angehören, und
führten ſie auf Gott zurück. Nur darin ſonderten ſie ſich, daß
die einen dem Menſchen das Vermögen zu Handlungen voll-
ſtändig und ganz abſprachen, die andern aber dieſem anerſchaffe-
nen Vermögen gar keinen Einfluß zuſchrieben 3). Unter den Frei-
denkern hat Amr al Gahiz die Nothwendigkeit der Handlungen
behauptet, und er unterſchied den Entſchluß nur dadurch von
23 *
[356]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
inſtinktiven Handlungen, daß wir bei jenem bewußt denken 1).
Zwiſchen den Schwierigkeiten, welche ſo gleicherweiſe entſtehen,
wenn mit der Freiheit oder mit der Prädeſtination Ernſt gemacht
wird, ſchlüpft al Aſchari mit einer Halbheit durch. Einerſeits iſt
noch ein Unterſchied zwiſchen unwillkürlichen Bewegungen und will-
kürlichen Handlungen in der inneren Erfahrung mit Sicherheit
gegeben; andrerſeits iſt dieſelbe Handlung, von Gott aus angeſehen,
ein Hervorbringen, Bewirken durch Gott, vom Menſchen aus be-
trachtet, ein „Aneignen“ deſſen, was Gott bewirkt 2). Dafür iſt
dann al Aſchari Grundlage der ſpäteren orthodoxen Scholaſtik des
Islam geworden, welche in dürren und doch halben Formeln
erſtarrte.
Die Antinomie, welche in dieſem Ringen der
theologiſchen Sekten zum Vorſchein kommt, hat ſpäter
Ibn Roſchd in abſchließender Verſtandesklarheit folgendermaßen
ausgeſprochen. Die Beweiſe ſind in dieſer Frage, einer der
ſchwierigſten der Religion, einander entgegengeſetzt, und „des-
wegen haben ſich die Moslimen in zwei Parteien getrennt; die
eine Partei glaubt, daß das Verdienſt des Menſchen Urſache
des Laſters und der Tugend ſei und dieſe für ihn Belohnung
und Beſtrafung zur Folge haben. Dies ſind die Mutazila.
Die andere Partei glaubt das Gegentheil, nämlich daß der
Menſch zu ſeinen Handlungen gezwungen und gedrängt ſei.“ Der
„Widerſpruch der aus dem Verſtande hergenommenen Beweiſe in
dieſer Frage“ läßt ſich in folgenden beiden Gliedern darſtellen,
deren jedes zugleich nothwendig und unmöglich iſt. Theſis:
„Wenn wir annehmen, daß der Menſch ſeine Handlungen hervor-
bringt und ſchafft, ſo iſt es nothwendig, daß es Handlungen giebt,
welche nicht nach dem Willen Gottes und ſeiner freien Entſchließung
geſchehen, und dann gäbe es einen Schöpfer außer Gott. Nun
aber ſind alle Moslimen darin einverſtanden, daß es keinen Schöpfer
außer Gott giebt“ (und die Einzigkeit Gottes iſt von Ibn Roſchd
[357]Formeln dieſer Antinomie.
an einer anderen Stelle metaphyſiſch aus der Einheitlichkeit in der
Welt bewieſen 1). Antitheſis: „Wenn wir aber annehmen,
daß der Menſch ſeine Handlungen nicht erwirbt, ſo iſt nothwendig,
daß er zu ihnen gezwungen iſt: denn es giebt kein Mittleres
zwiſchen Zwang und Erwerb; und wenn der Menſch zu ſeinen
Handlungen gezwungen iſt, ſo gehört die Verantwortlichkeit in
die Kategorie des unmöglich zu Leiſtenden 2).“ Unter den chriſt-
lichen Theologen des erſten Zeitraumes mittelalterlichen Denkens
hat Anſelm unſere Antinomie in den folgenden zwei Widerſprüchen
dargeſtellt. Erſter Widerſpruch: „Vorauswiſſen Gottes und
freier Wille ſcheinen ſich zu widerſprechen. Denn dasjenige was
Gott vorausſieht, muß nothwendig in Zukunft eintreten, was aber
durch den freien Willen geſchieht, erfolgt mit keiner Nothwendig-
keit.“ Zweiter Widerſpruch: „Was Gott vorausbeſtimmt,
muß in der Zukunft eintreten. Wenn ſonach Gott das Gute und
Böſe was geſchieht, vorausbeſtimmt, ſo geſchieht nichts durch den
freien Willen;“ ſo heben ſich freier Wille und Vorausbeſtimmung
gegenſeitig auf 3).
Welche Diſtinktionen die theologiſche Metaphyſik auch in
Morgen- und Abendland gegen dieſe Antinomie aufgeboten hat:
innerhalb des Vorſtellungsſchemas und ſeiner Zerlegung und
Zuſammenſetzung durch den Verſtand giebt es kein Entrinnen.
Jedes freie Subjekt tritt als eine nicht bedingte Macht neben die
Macht Gottes. Wann alſo der Gedanke eines allmächtigen Willens
im Bewußtſein aufgeht, dann erlöſchen vor ihm, wie Sterne vor der
aufgehenden Sonne, alle Einzelwillen. In jedem Augenblick und
an jedem Punkte bedingt die Allmacht Gottes das Daſein und
den Beſtand des einzelnen Willens, und wo ſie zurückträte, da
[358]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſänke auch der Wille ganz oder in ſeinem entſprechenden Beſtand
oder Theil in ſich zuſammen. Dies tritt beſonders deutlich in
der Formel der chriſtlichen Scholaſtik hervor, nach welcher die
Erhaltung eine bloße Fortſetzung der Schöpfung iſt 1). Da Gott
in der Schöpfung allein Alles wirkt, ſo iſt er folgerichtig auch für
den menſchlichen Willen in jedem Moment und gleichſam an jedem
Punkte deſſelben die wirkende, im Erhalten hervorbringende Urſache.
Dieſe Region des in die Widerſprüche des Vorſtellens
verwickelten Verſtandes, ſeiner Ausflüchte und Diſtinktionen,
wird verlaſſen, wenn im Reiche der Myſtik, der Sufis,
der Viktoriner und ihrer Nachfolger die gedankenklare Unter-
ſcheidung der einander gegenüberſtehenden Willen Gottes und des
Menſchen untergeht in dem Abgrunde der Gottheit. Aber auch
die Myſtik und die ſich an ſie anſchließende pantheiſtiſche Speku-
lation finden in der dunklen Tiefe eines lebendigen, den menſch-
lichen Willen einſchließenden göttlichen Weltgrundes das uralte
Problem ungelöſt wieder vor. Denn wenn dieſer Weltgrund in
ſeiner freien quellenden Einheit den menſchlichen Willen mitum-
ſchließt, dann iſt zwar die Freiheit als ein Akt in Gott gerettet,
aber um ſo ſicherer fällt die Schuld des Böſen in die Gott-
heit 2), um ſo unbegreiflicher wird das Gefühl der Selbſtändigkeit
des Individuums.
[359]Erſte Ausrede des theologiſchen Verſtandes.
Daher denn ſchließlich nur eine Auflöſung von erkenntniß-
theoretiſchem Standpunkt aus möglich bleibt. Was nicht in
einen objektiven Zuſammenhang hineingedacht werden kann, das
kann vielleicht, als von verſchiedener pſychiſcher Provenienz, in
ſeiner unaufhebbaren Verſchiedenheit anerkannt und in eine zwar
äußerliche, aber geſetzmäßige Beziehung zu einander gebracht werden.
So iſt die Antinomie der antiken Metaphyſik des Kosmos zwiſchen
dem Stätigen der Anſchauung und dem Diskreten der Ver-
ſtandeserkenntniß, der Veränderung am Wirklichen und der Zu-
ſammenſetzung von unveränderlichen Theilinhalten im Verſtande,
innerhalb dieſes natürlichen metaphyſiſchen Syſtems unüberwind-
lich geweſen; aber die erkenntnißtheoretiſche Einſicht und die zwar
äußerliche, doch geſetzmäßige Beziehung dieſer pſychiſchen Elemente,
die von verſchiedener Provenienz ſind und daher nicht auf einander
zurückgeführt werden können, müſſen uns genügen.
Was für Schutt und Trümmer wären nun zu durchwandern,
wollte ich die einzelnen Ausreden des theologiſchen Verſtandes
gegenüber dieſer Antinomie darlegen. Die Methode iſt überall
dieſelbe. Das Wirken Gottes wird ſo nahe und ſo vielſeitig als
möglich an die Punkte der Welt gleichſam räumlich herangebracht, an
welchen der freie Wille auftritt: es umſpinnt und umgiebt ſie
ganz. Ferner werden an dieſen Punkten durch Begriffsbeſtimmungen
das urſächliche Wirken Gottes in den Handlungen der Menſchen und
die freie Wahl einander inhaltlich ſo ſehr als es irgend geſchehen
kann angenähert. Aber wie eng im Weltzuſammenhang das Wirken
Gottes die Freiheit umwindet: an jedem Punkte, an dem ſie zu-
ſammenwirkend gedacht werden, verbleibt ein Widerſpruch. Und
wie ſehr dieſe alchemiſtiſche Kunſt beſtrebt iſt, die Eigenſchaften
der Freiheit denen der Nothwendigkeit anzunähern und dieſe ſchließ-
lich in jene zu wandeln: ſie bleiben ſpröde außer einander.
Die erſte dieſer beiden Methoden, die Härte des Widerſpruchs
wenigſtens herabzumindern, iſt im engen Anſchluß an ſeine ara-
2)
[360]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
biſchen Vorgänger von Ibn Roſchd ſo zuſammengefaßt worden.
Gott hat die Willenskraft geſchaffen, welche entgegengeſetzte Dinge
zu erwerben vermögend iſt, aber auch einen Zuſammenhang von
Urſachen, durch deren Vermittlung allein der Wille an die äußeren
Dinge herandringen kann, welche er erreichen will, und zugleich
iſt dieſer Wille auch innerlich an den Kauſalzuſammenhang ge-
bunden, weil das Setzen des Ziels durch das objektive Verhältniß
der Auffaſſung zu den Gegenſtänden bedingt iſt 1). Derſelben Me-
thode bedienen ſich neben den arabiſchen die jüdiſchen Philoſophen;
ſie theilen den formalen Scharfſinn und die ſinnliche Flachheit
dieſer Darlegung, werden aber durchgreifender als die Denker des
Islam von dem Freiheitsbewußtſein geleitet 2). So geht der Kuſari
des berühmten jüdiſchen Dichters Jehuda Halevi von dem in
Gott gegründeten Syſtem der Urſachen aus; Veränderungen werden
in dieſem Syſtem entweder direkt oder durch Mittelurſachen von
Gott aus bewirkt, in dieſer Verkettung treten die Wahlhandlungen
des Menſchen auf, und wo ſie erſcheinen, iſt der Uebergang aus
dieſer nothwendigen Verkettung zur Freiheit. „Die Wahl hat
Gründe, die in einer Verkettung bis zur erſten Urſache zurück-
führen, aber dieſe Verkettung iſt ohne Zwang, weil die Seele
ſich zwiſchen einem Entſchluß und deſſen Gegentheil befindet und
thun kann, was ſie will 3).“ Und die chriſtlichen Theologen des
[361]Zweite Ausrede des theologiſchen Verſtandes.
Mittelalters haben das Verdienſt, in der Kooperation des Wirkens
Gottes mit der menſchlichen Freiheit bei jedem Willensakte einen
Mechanismus hergeſtellt zu haben, in welchem ein a und ein
non a freundnachbarlich nebeneinander als Springfedern wirken.
Die andere Methode, die Schärfe der Antinomie zu mildern,
beſteht darin, durch Begriffsbeſtimmungen die Vorſtellung von der
Abhängigkeit innerhalb des in Gott gegründeten urſächlichen Syſtems
der von der Freiheit anzunähern. Bald wird verſucht die Kau-
ſalität Gottes in Bezug auf die Handlungen der Menſchen abzu-
ſchwächen, bald die Freiheit des Menſchen zu verdünnen und zu
verflüchtigen; ſolche Begriffsbeſtimmungen gehen von der Lehre der
Aſcharija bis zu den proteſtantiſchen Dogmatikern. So ſieht man
Anſelm den menſchlichen Willen verflüchtigen bis auf den arm-
ſeligen Reſt einer Fähigkeit, die ihm von Gott gegebene Richtung
feſtzuhalten 1), und in dieſem Reſt iſt doch eine Grenze des gött-
lichen Willens und die abſolute Macht eines Geſchöpfes enthalten.
So führt Thomas die Realität in der menſchlichen Handlung auf
Gott als Urſache zurück, wogegen er den Defekt in ihr, auf
Grund deſſen ſie böſe iſt, dem Geſchöpf zuſchreibt 2); als ob der
Impuls zum Böſen nicht etwas Poſitives wäre! Und da die
Dinge mit Gott gemäß ihrer Natur zuſammenwirken, die Natur
des menſchlichen Willens aber Freiheit ſei, findet er Gottes Willen
mit der Freiheit des Menſchen in Einklang 3). Anderer Schutt
der Arbeit an dieſen Widerſprüchen wird ſichtbar, wenn Gottes
Vorausſicht von Anſelm als ein ewiges und unwandelbares Wiſſen
auch des Wandelbaren beſtimmt wird, und ſo der Verſtand die
[362]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Form ſeines eigenen Vorſtellens in der Zeit zu durchbrechen
ſtrebt 1); oder wenn Andere Gottes Vorſehung nur auf das All-
gemeine bezogen denken wollen und der Verſtand ſo den Glaubens-
inhalt vernichtet, indem er ihn zu retten bemüht iſt.
Der Ausgang des Ringens mit dieſer Klaſſe von Antinomien
im Mittelalter war verſchieden bei den Theologen des Islam und
denen des Chriſtenthums. Während ſich der Islam dem Unter-
gang aller individuellen Freiheit in der göttlichen Macht zuneigt,
dem Gott des Despotismus und der flachen Wüſte, erhebt ſich in
der Chriſtenheit immer mächtiger das Bewußtſein der perſön-
lichen Freiheit des Individuums. Es hat ſeinen Sitz in der
Franciscanerſchule, Duns Scotus hat die erſte gründliche Theorie
des Willens in ſeinem Verhältniß zum Verſtande geſchaffen 2),
und in Occam tritt der erkenntnißtheoretiſche Gegenſatz zwiſchen
unmittelbarem Wiſſen und dem an der Hand des Satzes vom
Grunde fortſchreitenden Erkennen auf, die Bedingung für das
Verſtändniß der Freiheit. Non potest probari (libertas volun-
tatis) per aliquam rationem. Potest tamen evidenter cog-
nosci per experientiam, per hoc, quod homo experitur, quod,
quantumcunque ratio dictet aliquid, potest tamen voluntas
hoc velle vel nolle3).
Die Antinomien in der Vorſtellung Gottes nach
ſeinen Eigenſchaften.
Eine zweite Klaſſe von Antinomien entſpringt, indem die re-
ligiöſen Erfahrungen, wie ſie der Gottesidee zu Grunde liegen,
in Einem Vorſtellungszuſammenhang ausgedrückt werden. Die
Idee Gottes muß in die Ordnung der Vorſtellungen eintreten, in
welcher auch unſer Selbſt und die Welt ihren Platz haben, und
doch kann den Anforderungen, welche an dieſe Idee das religiöſe
[363]Zweite Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.
Leben ſtellt, kein Syſtem im Vorſtellen entworfener Formeln ent-
ſprechen. Zwiſchen der Idee Gottes, wie ſie in der religiöſen
Erfahrung gegeben iſt, und den Bedingungen des Vor-
ſtellens beſteht eine innere Heterogeneität, und dieſe bringt
die Antinomie in der Vorſtellung des höchſten Weſens hervor.
Der Nachweis dieſes Thatbeſtandes liegt zunächſt in der Dar-
legung der fruchtloſen Verſtandesarbeit, welche ſeit dem Mittelalter
vollbracht worden iſt, und wird ſpäter durch pſychologiſche Be-
trachtung ergänzt werden können.
Das geſammte Mittelalter ringt auch mit dieſer zweiten Klaſſe
von Antinomien, und eine vergleichende Betrachtung kann dieſelben
durch die theologiſche Metaphyſik des Judenthums, des Chriſten-
thums und des Islam hindurch verfolgen. — Und zwar findet
eine Antinomie ſtatt zwiſchen der Idee Gottes und ihrer Dar-
ſtellung in den Formeln des Vorſtellens durch Eigen-
ſchaften. Die Theſis wird durch die Ausſagen über Eigen-
ſchaften Gottes gebildet, dieſe Ausſagen ſind innerhalb des Vor-
ſtellens nothwendig, und werden ſie aufgehoben, ſo wird die
Vorſtellung Gottes ſelber mit ihnen aufgehoben. Die Antitheſis
beſteht in den Sätzen: da in Gott Subjekt und Prädikat nicht
geſondert ſind, Eigenſchaften Gottes aber Prädikate deſſelben ſein
würden, ſo müſſen Gott Eigenſchaften abgeſprochen werden; da
Gott einfach iſt, die Verſchiedenheit der Eigenſchaften aber in
ihm ein Mehrfaches ſetzen würde, ſo können auch aus dieſem
Grunde von Gott Eigenſchaften nicht ausgeſagt werden; und
da Gott Vollkommenheit iſt, jede Eigenſchaft aber ein Begrenztes
ausdrücken würde, ſo ergiebt ſich noch einmal die Unangemeſſen-
heit der Annahme von Eigenſchaften Gottes 1). — Eine Reihe
[364]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
anderer Antinomien entſteht durch die Beziehungen, welche
inhaltlich zwiſchen den einzelnen Beſtandtheilen der Vor-
ſtellung Gottes auftreten. Unſer Vorſtellen Gottes in ſeiner Be-
ziehung zur Welt und uns ſelber iſt an die Bedingungen räum-
licher und zeitlicher Beziehungen gebunden, unter welchen die Welt
und wir ſelber ſtehen, aber die Idee Gottes ſchließt räumliche
und zeitliche Beſtimmungen aus. Unſer religiöſes Leben beſitzt
Gott als einen Willen, wir können jedoch einen Willen nur als
Perſon und dieſe nur als von anderen Perſonen eingeſchränkt
vorſtellen. Endlich iſt die unbedingte Kauſalität Gottes d. h. ſeine
Allmacht, welche auch die Urſache der Uebel in der Welt iſt, mit
dem ſittlichen Ideal in ihm d. h. ſeiner Güte in Widerſpruch,
und ſo entſpringt das unauflösbare Problem der Theodicee 1).
Auch dieſe ganze Klaſſe von Antinomien iſt, wie die früher
behandelten, mit dem religiöſen Vorſtellen zugleich gegeben und
wird ſchon bei der Arbeit, es in Formeln auszudrücken, em-
pfunden ſowie aufzulöſen verſucht. Auguſtinus hat mit der ihm
eigenen Energie des Ausdruckes dies Antinomiſche der Gottes-
vorſtellung ausgeſprochen: „groß ohne quantitative Beſtimmung,
allgegenwärtig ohne einen Ort einzunehmen, Kauſalität der Ver-
änderungen ohne Veränderung in ſich etc. 2).“ Das Bewußtſein
dieſer Widerſprüche tritt im Islam bei den Mutaziliten in großer
Klarheit auf und hat ſie zur Leugnung der Eigenſchaften Gottes
geführt 3). Ja von einem Mitglied dieſer Schule, welches freilich
in der Aufhebung von Eigenſchaften in Gott weiter ging als die
anderen, wurde Gott das Wiſſen abgeſprochen; denn entweder
[365]Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.
hätte daſſelbe Gott zum Gegenſtande, wodurch dann in Gott eine
Trennung von Wiſſendem und Gewußtem, ſonach die Aufhebung
ſeiner vollen vom Islam ſo ſtreng gefaßten Einheit geſetzt würde,
oder es hätte einen Gegenſtand außer ihm, und dann wäre Gott
in Rückſicht dieſer ſeiner Eigenſchaft von der Exiſtenz dieſes Gegen-
ſtandes außer ihm bedingt 1). Dann ſtellten die Mutaziliten die
Oertlichkeit Gottes, wie ſie dem Vorſtellen unvermeidlich iſt, ja
überhaupt die dem Vorſtellen anhaftenden ſinnlichen Züge in
Frage 2). Und die arabiſchen Philoſophen ſchloſſen: jede Vor-
ſtellung vollzieht ſich in der Unterſcheidung eines Subjektes, das
erkannt werden ſoll, von Prädikaten, durch welche erkannt werden
ſoll; aber ein Unterſchied eines Trägers von Eigenſchaften und
dieſer Eigenſchaften ſelber, einer Subſtanz und der Attribute, wie
er damit eintreten würde, hebt die Einfachheit Gottes auf 3), ſo-
nach iſt das Weſen Gottes unerkennbar. Mit den Sekten des
Islam finden wir dann die chriſtlichen Theologen des frühen
Mittelalters auch in Bezug auf dieſe Antinomie in einer merk-
würdigen Uebereinſtimmung. Scotus Erigena und Abälard zeigen
die Unmöglichkeit jeder angemeſſenen Ausſage über Gott; da eine
ſolche aus Begriffen beſtehen würde, dieſe aber nur zur Bezeich-
nung der relativen und endlichen Dinge gefunden ſind; da ſie
unter Kategorien ſtehen würde, aber ſelbſt die Kategorie der Sub-
ſtanz Accidenzen von ſich ausſchließt, alſo Gott begrenzt; da ſie
aus Begriffen zuſammenſetzen würde, Gott aber einfach iſt; da ſie
[366]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
endlich im Zeitwort eine Bewegung einſchließen würde, Gott aber
jenſeit des Gegenſatzes von Bewegung und Ruhe iſt 1).
Mit dieſer Kritik der Eigenſchaften Gottes verband ſich früh
Nachdenken über den Urſprung unſerer Begriffe von ihnen, und
dieſes führte ebenfalls zu negativen Ergebniſſen. Einſicht in den Ur-
ſprung der Beſtimmungen über Gott mußte eine Entſcheidung
letzter Inſtanz darüber gewähren, welcher Erkenntnißwerth dieſen Be-
ſtimmungen zukomme. Die Theologie der Araber unterſchied relative
und negative Attribute Gottes, die jüdiſche ſonderte mit einer nicht
erheblichen Abweichung zuweilen auch ſolche der Thätigkeit 2), und
die chriſtliche Theologie ſtellte, einer ſchon im zweiten Jahrhundert
und von da an oft bei den Neuplatonikern auftretenden Unter-
ſcheidung folgend 3), die „drei Wege“ neben einander, auf welchen
man zu den Eigenſchaften Gottes gelangt: viam eminentiae,
causalitatis und remotionis oder, wie dieſer dann häufiger ge-
nannt wurde, negationis4). Die letztere Unterſcheidung kann ſich
gegenüber der Zweitheilung der Methoden, zu der Idee Gottes auf-
zuſteigen, nicht behaupten; hat doch die Entſchränkung nur ihre
andere Seite an der Verneinung, ſonach kann die via eminen-
tiae von der via negationis nicht getrennt werden. Führt man,
ſie berichtigend, die Eigenſchaften Gottes auf ſolche zurück, in
welchen die Verneinung das Endliche an dem religiöſen Ideal
aufhebt, und ſolche, in denen Gott durch ſein ſchaffendes Welt-
wirken vorſtellig gemacht wird: alsdann leitet auch dieſe Unter-
ſuchung des Urſprungs der Vorſtellungen von Eigenſchaften Gottes
[367]Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.
auf die Erkenntniß ihrer Unangemeſſenheit. Denn wo iſt dann
die Grenze im Vorgang der Aufhebung? und wo iſt dann das
Recht, von dem, was wir an der Welt gewahren, auf die Be-
ſchaffenheit ihrer Urſache zu ſchließen, da dieſe Urſache der Welt
ganz heterogen ſein kann?
So endigt die Arbeit des Mittelalters, das Weſen Gottes durch
ſeine Eigenſchaften beſtimmen zu wollen, mit der gründlichen Einſicht
in die Unangemeſſenheit dieſer Vorſtellung über Gott an das reli-
giöſe Ideal. Jede Ausflucht iſt auch hier vergeblich. Die
Aufgabe iſt unlösbar, den Gehalt des Ideals in uns feſtzuhalten
und doch menſchliche, endliche Form und Mannigfaltigkeit aufzu-
heben. Spinozas hartes Wort in Bezug auf jeden ſolchen Verſuch,
Intellekt und Wille Gottes ſeien dem unſrigen nicht ähnlicher, als
das Geſtirn des Hundes dem bellenden Thiere, entwickelt nur
Sätze der Theologie des Judenthums. So erklärt Abraham ben
David: „Der Wille Gottes iſt von dem unſrigen ſpezifiſch ver-
ſchieden; denn unſer Wille gründet ſich auf ein Begehren, und
dieſes beſteht in dem Wunſche, etwas zu beſitzen was man nicht
hat. Gott aber bedarf nichts, ſondern alle Dinge bedürfen ſeiner,
und ſein Wille iſt dem Zwecke nach gerade das Entgegengeſetzte
von dem, was wir uns unter unſerem Willen vorſtellen 1).“
Und Maimuni geht bis zu der Frage: „Findet denn zwiſchen
unſerem und Gottes Wiſſen eine andere Gleichheit als die des
Namens ſtatt 2)?“ Wenn in Bezug auf eine weitere Schwierig-
keit Kirchenväter und Scholaſtiker erklären, die Eigenſchaften
in Gott ſeien untereinander identiſch 3), ſo iſt dieſe Identität des
Unterſchiedenen ein hölzernes Eiſen. Wenn Thomas ſagt, daß
das Mehrfache der Eigenſchaften, durch welche wir Gott erkennen,
in der Abſpiegelung Gottes in der Welt ſowie in der Auf-
faſſung vermittelſt unſeres Intellektes gegründet ſei, und nun
[368]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
im Zuſammenhang ſeiner theologiſchen Metaphyſik die mannig-
faltige Vollkommenheit der Kreaturen in dem einfachen Weſen
Gottes enthalten gedacht werden ſoll: dann wird anerkannt, daß
jeder Ausdruck nur inadäquat ſei, ja der Ergänzung durch die
anderen bedürfe, und doch wird nicht auf Erkenntniß Gottes
verzichtet1). Hebt Thomas tiefblickend hervor, daß der Inhalt
der Ausſage nicht abhängig von der Art ſei, wie wir ausſagen,
ſonach durch die Unterſcheidung im Satze kein Unterſchied in Gott
geſetzt werde 2): ſo ergiebt ſich hieraus um ſo klarer die Un-
möglichkeit, den durch Unterſcheidung aufgefaßten Inhalt einfach
vorzuſtellen. So führt keine Diſtinktion der mittelalterlichen theo-
logiſchen Metaphyſik über die nur ſymboliſche Bedeutung der
Gottesvorſtellung hinaus: damit iſt aber eine dem Gegenſtande
entſprechende Erkenntniß der Eigenſchaften Gottes aufgegeben, und
alle endlichen relativen Beſtimmungen behalten nur den Sinn
einer Bilderſchrift für das Ueber-Endliche und über alle Re-
lationen Hinausreichende 3).
[369]Die Araber.
Fünftes Kapitel.
Die Theologie wird mit der Naturerkenntniß und der
ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos verknüpft.
Die Theologie war von ihrem Urſprung ab mit Be-
ſtandtheilen der antiken Wiſſenſchaft vom Kosmos verwoben. Sie
benutzte dieſe Beſtandtheile für die Auflöſung ihrer Probleme,
gleichviel ob ſie aus der platoniſchen, ariſtoteliſchen oder ſtoiſchen
Philoſophie ſtammten, wie man in die Kirchen jener Tage Mar-
mortrümmer fügte, wo man ſie fand. Formel, Vertheidigung,
Verſuch des Beweiſes und der dialektiſchen Behandlung lagen
innerhalb ihres Umkreiſes. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Frei-
denker im Morgen- wie im Abendlande 1).
Aber in der Kontinuität der Wiſſenſchaft erhielt und ent-
wickelte ſich die von den Griechen geſchaffene Erkenntniß des
Kosmos als die andere von jener Theologie ganz unter-
ſchiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Dieſe Wiſſenſchaft vom
Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie
ſtreitend, ergänzend zuſammen: ſo entſtand erſt die metaphyſiſche
Weltanſicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern
die Veränderung an, in welcher das Naturwiſſen ſich langſam
durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abend-
landes im Mittelalter am meiſten durchgreifend geweſen iſt. Wir
gehen ſonach von den Arabern aus.
Der Gegenſatz des metaphyſiſchen Denkens der Araber wie
der Juden zu dem der klaſſiſchen Völker iſt ihnen ſelber zum Be-
wußtſein gekommen. Die Ueberſicht der metaphyſiſchen und theo-
logiſchen Anſichten des Menſchengeſchlechtes, wie ſie Schahraſtani
verſucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern ange-
wandte Unterſcheidung, nach welcher die Griechen (nebſt den Per-
ſern) vornehmlich der Beſtimmung der äußeren Natur der Dinge
Dilthey, Einleitung. 24
[370]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
und der Beſchäftigung mit den körperlichen Objekten ſich widmeten,
wogegen die Araber und Juden ſich den geiſtigen Dingen und der
inneren Eigenthümlichkeit der Objekte zuwenden 1). Und der
Kuſari bemerkt dem entſprechend, daß die Griechen das, was
nicht von der ſichtbaren Welt aus gefunden werden kann, ver-
werfen, wogegen die Propheten in dem, „was ſie mit dem gei-
ſtigen Auge geſehen haben“, den Ausgangspunkt eines ſicheren
Wiſſens beſaßen und nichtgriechiſche Philoſophen dieſe inneren
Anſchauungen in den Kreis der Spekulation aufgenommen haben 2).
Gleichviel wie es ſich mit der urſprünglichen oder der ſtätigen
Richtung dieſer verſchiedenen Völker verhalte, ſolche Stellen be-
zeichnen richtig den Gegenſatz zwiſchen der griechiſchen Wiſſenſchaft
vom Kosmos und der herrſchenden Richtung einer theologiſchen
Metaphyſik bei den Arabern und Juden, wie ſie bis zum Auf-
treten der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung und dann der ariſtote-
liſchen Metaphyſik bei den Arabern dauerte, bei den Juden aber
das ganze Mittelalter hindurch nicht unterbrochen wurde. Noch
klarer iſt die Einſeitigkeit der kosmiſchen Wiſſenſchaft der Griechen
im chriſtlichen Abendlande allmälig erkannt worden.
So hatte zunächſt innerhalb des eben durchlaufenen Zeitraums
die Theologie (gewiſſermaßen eine Metaphyſik der religiöſen Er-
fahrung) das vorherrſchende Intereſſe der Araber, Juden und
abendländiſchen Völker in Anſpruch genommen. Wol war ſie
vielfach auf die von den Griechen ausgebildeten Begriffe angewieſen,
und die Mutazila ſo gut als Auguſtinus oder Scotus Erigena
bedienten ſich dieſer in einem weiten Umfang; auch wurde dieſe
theologiſche Vorſtellungswelt disciplinirt durch die antike Logik und
Kategorienlehre. Jedoch geſtaltete ſich der ganze Gedankenkreis
während dieſes Zeitraums um den Mittelpunkt der religiöſen
Erfahrungen und Vorſtellungen; dieſes centrale Intereſſe zog die
Bruchſtücke griechiſchen Wiſſens an ſich und ordnete dieſelben ſich
unter. Eine Aenderung in dem intellektuellen Leben des Mittel-
[371]Die Erneuerung der Naturwiſſenſchaften geht von den Arabern aus.
alters trat erſt ein, als zunächſt die Araber in dem Natur-
wiſſen der Griechen und in ihrer kosmiſchen Speku-
lation ein zweites Centrum intellektueller Arbeit entdeckten
und um dieſes ſich ein Kreis von Naturerkenntniß zu bilden begann.
Im Orient waren Ariſtoteles und einige wichtige mathe-
matiſche, aſtronomiſche und mediciniſche Schriften der Griechen
niemals verloren gegangen. Nach dem Untergange der griechiſchen
Philoſophie waren die Schulen der chriſtlichen Syrer Hauptſitze
der Kenntniß von griechiſcher Sprache, Metaphyſik und Natur-
erkenntniß geworden; ſyriſche Uebertragungen griechiſcher Schriften
vermittelten die Kenntniß derſelben und wurden vielfach Ueberſetzungen
in das Arabiſche zu Grunde gelegt 1). Und zwar war der ſyriſche
Ariſtoteles, wie er zu den Arabern kam, ſchon von dem urſprüng-
lichen gar ſehr verſchieden; freilich kann das nähere Verhältniß
zwiſchen dem ſyriſchen Ariſtoteles und den Theorien der arabiſchen
Philoſophen, wie ſie zuerſt bei al Kindi und al Farabi auf-
traten, nach dem gegenwärtigen Stand unſerer Kenntniß noch
nicht zureichend feſtgeſtellt werden 2). Mit der Verlegung der
Reſidenz der Kalifen nach Bagdad, welches in der Mitte zwiſchen
den beiden Sitzen des Naturwiſſens, Indien und den Schulen
griechiſcher Wiſſenſchaft, lag, wurden die Araber Träger dieſer
Tradition und ihrer Fortbildung. Nicht viel über hundert Jahre
waren damals vergangen, ſeitdem dieſe arabiſchen Beduinen die
Grenzen ihres Landes überſchritten und Paläſtinas und Syriens
ſich bemächtigt hatten, und die Geſchichte hat kein zweites Beiſpiel
eines ſo wunderbar raſchen Uebergangs aus einem verhältnißmäßig
niedrigen geiſtigen Zuſtande in den einer raffinirten Civiliſation.
Die Kunſt ſyriſcher Aerzte, welcher dieſe zur Herrſchaft über Aſien
aufſteigenden Beduinen bedurften führte Hippocrates und Galen
ein, und Naturwiſſen wie Theologie wieſen auf Ariſtoteles;
Kultus und Verwaltung machten mathematiſche und aſtronomiſche
Kenntniß nothwendig: eine edle wiſſenſchaftliche Neubegier bemäch-
[372]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
tigte ſich der Nation. Aus Konſtantinopel kam unter al Mamun
(813—833) eine große Anzahl von griechiſchen Manuſkripten als
Geſchenk des Kaiſers; eine von den Kalifen angeordnete geregelte
Thätigkeit der Uebertragung erfüllte das neunte Jahrhundert und
reichte in das zehnte hinein; Ueberſetzungen von Schriften des
Ariſtoteles, Hippocrates, Galen, Dioscorides, Euklid, Apollonius
Pergäus, Archimedes, Ptolemäus ſetzten die Araber in die Lage,
die naturwiſſenſchaftliche Arbeit da wieder aufzunehmen, wo die
Griechen ſie hatten fallen laſſen.
Die ſo entſtandene naturwiſſenſchaftliche Bewegung innerhalb
des Islam hat die poſitiven Wiſſenſchaften fortgebildet, welche in
Alexandrien beſtanden hatten, und die Differenzirung der Wiſſen-
ſchaft aufrecht erhalten, wie ſie damals vollzogen war. Die Be-
deutung der Araber für die Entwicklung dieſes poſitiven Natur-
wiſſens kann zwar noch nicht mit zureichender Sicherheit feſt-
geſtellt werden 1), doch iſt die Wichtigkeit der Vermittlung keinem
Zweifel unterworfen, die ihnen nach ihrer geographiſchen Lage und
ihrer Verbreitung über ein ſo weites Reich zufiel. So verdankt
das Abendland ihrer Vermittlerrolle das indiſche Poſitionsſyſtem der
Ziffern und die Erweiterung der griechiſchen Algebra 2).
Und in einer zwiefachen Richtung haben ſie ohne Zweifel durch
ſelbſtändige Fortſchritte die Entſtehung der modernen Na-
turwiſſenſchaft vorbereitet.
Die Araber haben die alchemiſtiſche Kunſt mit anderer
Wiſſenſchaft aus Alexandrien empfangen. Wir kennen leider den Zu-
ſtand nicht ausreichend, in welchem dieſelbe auf ſie überging. Dieſe
Kunſt, die auf Metallveredlung gerichtet war, verſelbſtändigte das
chemiſche Experiment, welches vorher in dem Dienſte bald der
Medicin bald der Technik geſtanden hatte. Sie entzündete ſo einen
[373]Selbſtändige Fortſchritte der Araber in den Naturwiſſenſchaften.
mächtigen Eifer für die reale Zerlegung der Naturobjekte,
nachdem ſo lange die ideellen Zerlegungen der metaphyſiſchen
Methoden die Menſchheit getäuſcht hatten. Sie nährte dieſe Leiden-
ſchaft durch die geheimnißvolle auf die Theorie der Metallver-
wandlung gegründete Hoffnung, das Präparat darzuſtellen, welches
unedle Metalle in Silber und endlich in Gold überzuführen er-
mögliche. So entwickelte ſie den Keim einer theoretiſchen Anſicht,
welche nicht wie die ariſtoteliſche von den vier Elementen auf An-
ſchauung und Spekulation, ſondern auf wirkliche Zerſpaltung ge-
gründet war, in der Lehre von dem Mercurius und dem Sulphur.
Unter dieſen Namen verſtand man nicht einfach Queckſilber und
Schwefel, ſondern Subſtanzen, deren Verhalten gegenüber dem
Experiment, insbeſondere der Einwirkung des Feuers, ſie der einen
oder der andern dieſer beiden Klaſſen einordnete. Auf dieſem
Wege entſtand erſt das wahre Problem, in den durch chemiſche
Zerlegung dargeſtellten Stoffen die Komponenten der Materie zu
entdecken. Und wie unvollkommen auch die Ergebniſſe dieſer erſten
alchemiſtiſchen Epoche in theoretiſcher Hinſicht waren, ſo bereiteten
ſie doch quantitative Unterſuchungen und eine angemeſſene Vor-
ſtellung über die Konſtitution der Materie vor. Zugleich hat dieſe
alchemiſtiſche Kunſt eine große Anzahl von Präparaten zuerſt
hergeſtellt und auf neue chemiſche Manipulationen geführt 1).
Die andere Richtung, in welcher die Araber durch ſelb-
ſtändigen Fortſchritt die Entſtehung der modernen Naturerkennt-
niß vorbereitet haben, beſtand in der Entwicklung und Be-
nutzung der Mathematik als eines Werkzeugs zur Darſtellung
quantitativer Beſtimmungen über die Natur. Erfinderiſcher
Gebrauch meſſender Inſtrumente, unermüdliche Verbeſſerung der
Hilfsmittel der griechiſchen Gradmeſſung, unterſtützt durch Er-
weiterung der Kenntniß der Erde, dann das Zuſammenwirken
reich ausgeſtatteter Sternwarten für die Verbeſſerung und Ver-
vollſtändigung des aſtronomiſchen Materials und das Zuſammen-
[374]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
wirken vieler Forſcher und freigebig zugetheilter Mittel nach großem
Plane haben ein Netz quantitativer Beſtimmungen auf der alexan-
driniſchen Grundlage hergeſtellt, welches einer ſchöpferiſchen natur-
wiſſenſchaftlichen Epoche unſchätzbare Dienſte leiſten ſollte. So iſt
in die alphonſiniſchen Tafeln, welche die gemeinſame Arbeit mau-
riſcher, jüdiſcher und chriſtlicher Aſtronomen im Dienſte des Königs
Alphons von Kaſtilien (auch das ganz in der Art der Kalifen)
hergeſtellt hat, der Ertrag der arabiſchen Aſtronomie überge-
gangen, und dieſe Tafeln waren dann die Grundlage der aſtro-
nomiſchen Studien 1).
So trat in die neue Generation von Völkern, welche
unter einander in lebendigem Austauſch insbeſondere durch die
Vermittelung der Juden ſtanden, Kenntniß des naturwiſſenſchaft-
lichen Vermächtniſſes der Griechen und ſelbſtändige Vermehrung
dieſes Erbes. Der inneren religiöſen Erfahrung und der Theologie
ſtellte ſich Naturerkenntniß als ein zweiter unabhängiger Mittel-
punkt intellektueller Arbeit und Befriedigung gegenüber. In dem
Reiche des Islam ging dies Licht auf, verbreitete ſich über Spanien,
und ſchon früh, wie die Geſtalt eines Gerbert zeigt, fielen ſeine
Strahlen auch in das chriſtliche Abendland.
Doch war dieſe Naturerkenntniß der Araber ſo wenig
als die der Alexandriner im Stande, den vorhandenen
deſkriptiven und teleologiſchen Zuſammenhang des
Wiſſens vom Kosmos durch einen, wenn auch noch ſo un-
vollkommenen Verſuch der Kauſalerklärung zu erſetzen. —
Der vorherrſchende Betrieb der formalen und der deſkriptiven
Wiſſenſchaften und die Macht einer Metaphyſik der pſychiſchen
[375]Auch ſie gelangen noch nicht zu Kauſalerklärung der Natur.
Kräfte und ſubſtantialen Formen ſind von uns als korrelate
geſchichtliche Thatſachen erkannt worden 1). Die formalen Wiſſen-
ſchaften der Mathematik und Logik, deſkriptive Aſtronomie und
die Erdkunde, welche in die Grenzen der deſkriptiven Wiſſen-
ſchaft eingeſchloſſen iſt: dies waren die Erkenntniſſe, welche bei
den Arabern einen hohen Grad von Ausbildung erlangten und
den Mittelpunkt der höheren intellektuellen Intereſſen bildeten.
Der nächſte äußere Zuſammenhang dieſer Wiſſenſchaften beſtand
in dem Geſammtbilde des Kosmos, welches ſchon Eratoſthenes,
Hipparch und Ptolemäus angeſtrebt hatten. Daher iſt die ency-
klopädiſche Richtung der alexandriniſchen Wiſſenſchaft in dem
Wiſſen des Mittelalters naturgemäß in noch höherem Grade
ſichtbar. Sie zeigt ſich in der Encyklopädie der lauteren Brüder
wie in den abendländiſchen Arbeiten eines Beda, Iſidor, ja eines
Albertus Magnus, in Verbindung mit metaphyſiſcher und theo-
logiſcher Begründung. — Dagegen waren auch in der arabiſchen
Naturerkenntniß Wiſſenſchaften wie Mechanik, Optik, Akuſtik, welche
einen Kreis zuſammengehöriger Theilinhalte der Naturerfahrung
abgeſondert behandeln und daher eine Ableitung der zuſammen-
geſetzten Gleichförmigkeiten des Naturganzen ermöglichen, noch nicht
ſo weit entwickelt, um den Verſuch einer Kauſalerklärung der
Naturerſcheinungen aus Naturgeſetzen zu geſtatten. Ja die Aus-
ſicht auf kauſale Naturerklärung, welche die Atome Demokrit’s
einſt innerhalb eines engen Umkreiſes bekannter Naturthatſachen,
bei Anwendung einer willkürlichen Methode 2), darzubieten ſchienen,
mußte mit der wachſenden Erkenntniß der Verwicklung des Natur-
gewebes zunächſt mehr zurücktreten; wir finden daher bei den
Arabern ein Extrem von atomiſtiſcher Naturanſchauung im Dienſte
der orthodoxen Mutakalimun. Die Grundwiſſenſchaft jeder er-
klärenden Naturerkenntniß, die Mechanik, machte bei den Arabern
keine Fortſchritte. Die Ideen über die Bewegung, den Druck
[376]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
und die Schwere etc. waren ſo wenig als bei den Alexandrinern
ausreichend, die metaphyſiſchen Fiktionen der pſychiſchen Weſen-
heiten und ſubſtantialen Formen zu erſetzen. Die Fortſchritte in
der Optik über Ptolemäus hinaus, wie ſie das uns erhaltene
Werk des al Hazen zeigt, hatten zunächſt keine Wirkung auf das
Ganze der Naturanſicht. Die Leiſtungen der Chemie geſtatteten
noch nicht, die Materie in ihre wirklichen Beſtandtheile aufzulöſen
und deren Verhalten feſtzuſtellen, und ſo iſt wol bei Ibn Roſchd
eine Neigung bemerkbar, die ariſtoteliſche Lehre von der Materie
der des Anaxagoras anzunähern, aber dieſelbe kann noch nicht durch
eine auf wirkliches Naturwiſſen begründete erſetzt werden. In der
arabiſch-mauriſchen Aſtronomie treten Bedenken in Bezug auf
die komplicirte epicykliſche Hypotheſe des Ptolemäus hervor 1),
doch hat noch kein Verſuch Erfolg, ſie durch eine angemeſſenere zu
erſetzen. Endlich waren die organiſchen Formen, welche im
Kommen und Gehen der Individuen auf der Erde unwandelbar
ſich zu erhalten ſcheinen, weder durch die Paläontologie in ihrem
vorübergehenden Charakter erkannt noch einer Kauſalbetrachtung
unterworfen worden, ſondern immer noch waren ſie nur durch
eine teleologiſche Betrachtung dem Verſtändniß zugänglich.
So machte die Lage der Naturwiſſenſchaften in der ganzen Zeit
von ihrem Auftreten bei den Arabern bis zu dem Erlöſchen der
wiſſenſchaftlichen Kultur dieſes Volkes die metaphyſiſchen Vor-
ſtellungen von pſychiſchen Urſachen und deren Aeußerungen in den
Formen des Naturganzen noch nicht für die Erklärung der Natur
entbehrlich.
Und zwar entſprach die beſondere Geſtalt, welche dieſe teleo-
logiſche Metaphyſik der pſychiſchen Urſachen in dem Syſtem und
der Schule des Ariſtoteles erhalten hatte, andauernd der Lage
der Naturerkenntniß. — Die Araber haben bei den ſyriſchen Chriſten
die peripatetiſche Schule in Blüthe vorgefunden. Es iſt nutzlos zu
[377]Dem entſpricht die Herrſchaft der ariſtoteliſchen Metaphyſik.
fragen, ob dieſer äußere Umſtand über das Studium des
Ariſtoteles bei ihnen entſchied 1), in der Stufe ihres Naturwiſſens
lagen die poſitiven Urſachen, welche ihnen das Syſtem des
Ariſtoteles als die angemeſſenſte Form der Wiſſenſchaft vom Kosmos
erſcheinen ließen. Wol war die poſitive Naturwiſſenſchaft der
Alexandriner und Araber nicht überall in Uebereinſtimmung mit
dem Syſtem des Ariſtoteles. Wol floß ferner bei den Arabern die
Ueberlieferung der mathematiſchen Naturwiſſenſchaft keineswegs
überall mit der Entwicklung ihrer peripatetiſchen Schule zuſammen;
Thurot hat die Fortdauer der relativen Sonderung der poſitiven
Naturwiſſenſchaft von der Metaphyſik, wie ſie das Ergebniß der
Entwicklung der antiken Wiſſenſchaft geweſen iſt, an einem her-
vorragenden Falle nachgewieſen; das hydroſtatiſche Theorem,
welches von ſeinem Entdecker den Namen Prinzip des Archimedes
führt, iſt ſowol in der weiteren griechiſchen als in der arabiſchen
Geſchichte der Wiſſenſchaft den Mathematikern bekannt und bleibt
in ihrer Tradition erhalten, dagegen iſt es den Metaphyſikern
nicht bekannt 2). Doch taſtete auch die poſitive Wiſſenſchaft noch
nicht die Metaphyſik des Ariſtoteles in ihrem Kern an, vielmehr
beſtand zwiſchen den großen Zügen des Naturwiſſens und denen
der ariſtoteliſchen Metaphyſik Uebereinſtimmung. Noch hatte das
Fernrohr nicht Veränderungen auf den andern Himmelskörpern
gezeigt, noch beſtand kein Anfang einer allgemeinen Phyſik des
Weltgebäudes, und ſo erhielt ſich die ariſtoteliſche Lehre von einer
doppelten Welt: der vollkommenen und unwandelbaren Ordnung
der Geſtirne und dem Wechſel des Entſtehens und Vergehens
unter dem Monde. Daher wurde die Gedankenmäßigkeit des
Kosmos nicht durch eine pantheiſtiſch vorgeſtellte Weltvernunft
ausgedrückt, vielmehr blieb die Welt der Geſtirne der Sitz einer
bewußten Intelligenz, welche von hier ausſtrahlte und in einer
niederen Welt ſich kundthat. Ja die theologiſche Metaphyſik, für
[378]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
welche dieſer Gegenſatz im Kosmos Symbol eines in der inneren
Erfahrung gegebenen Gegenſatzes war, gab dieſem Schema eine
gewaltigere Macht, als es in der alten Welt beſitzen konnte. Und
der Zuſammenhang, welcher von der Geſtirnwelt zu der ver-
änderlichen Erde, ihrer Pflanzendecke und ihren Bewohnern reicht,
nahm in ſich als ihm völlig entſprechend die deſkriptive Wiſſen-
ſchaft des Kosmos auf.
So ging neben der Aneignung des Naturwiſſens der Griechen
die Uebertragung des Ariſtoteles her. Dieſelbe begann unter al
Mamun, und während des neunten und zehnten Jahrhunderts
wurden die Ueberſetzungen des Ariſtoteles beſtändig vervollſtändigt.
Auf dieſer Grundlage, in Wechſelwirkung mit dem lebendigen
Naturſtudium, erhielt die arabiſche Philoſophie in Ibn Sina und
Ibn Roſchd ihre vollendete Geſtalt: als eine ſelbſtändige Fortſetzung
der peripatetiſchen Schule.
Während die Araber ſo vom neunten Jahrhundert ab Natur-
erkenntniß wie ariſtoteliſche Wiſſenſchaft neben der Theologie
pflegten, hat im chriſtlichen Abendlande, wo ſich Alles in
breiteren Maſſen entwickelte, die Theologie lange beinahe aus-
ſchließlich geherrſcht. Encyklopädien überlieferten todte Notizen
über die Natur. Gerbert bringt im zehnten Jahrhundert aus Spanien
etwas von dem Licht des arabiſchen Naturwiſſens, dann kehrt Con-
ſtantinus Africanus von ſeinen Orientreiſen mit mediciniſchen Schrif-
ten zurück, Adelard von Bath gewinnt ebenfalls von den Arabern
naturwiſſenſchaftliche Kenntniß; aldann folgen einander dichter
Uebertragungen von Ariſtoteles, ſeinen Kommentatoren und arabi-
ſchen Phyſikern 1). Aber nur ſpärlich lichtet ſich die Finſterniß,
die über dem Naturwiſſen liegt. Das intellektuelle Leben des
Abendlandes pulſirte bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts
in der Theologie und der ihr verbundenen metaphyſiſchen Betrach-
tung der menſchlichen Geſchichte und Geſellſchaft. Auch änderte es
hieran nichts, daß man die Logik des Ariſtoteles als ein mächtiges
[379]Uebertragung der Naturwiſſenſchaft auf das Abendland.
Hilfsmittel theologiſcher Dialektik benützte und in Abälard eine
kühne Subjektivität die Rechte des Verſtandes ſcharfſinniger geltend
machte, als je vorher geſchehen. Wol zerſetzte das negative
Treiben der theologiſchen Dialektiker jener Tage den Beſtand der
überlieferten Dogmatik; wie in den entſprechenden Erſcheinungen
des Islam, entwickelte ſich aus den Antinomien der religiöſen
Vorſtellung unwiderſtehlich der Zweifel bis zur Verzweiflung des
Verſtandes, und vergebens ſuchten Bernhard von Clairvaux und
die Viktoriner in der Myſtik den Frieden des Geiſtes. Aber erſt
dann hörte die theologiſche Metaphyſik auf, Mittelpunkt des ganzen
europäiſchen Denkens zu ſein, als nun das Naturwiſſen und die
Naturphiloſophie der Alten und der Araber über den Horizont
der abendländiſchen Chriſtenheit traten und allmälig ganz ſichtbar
wurden. Dies iſt die größte Veränderung, welche im Verlauf der
intellektuellen Entwicklung Europas während des Mittelalters ſtatt-
gefunden hat.
Dieſe Veränderung im Abendlande wurde durch die
wiederholten Verbote der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen
Schriften des Ariſtoteles nicht aufgehalten. Schon im erſten Drittel
des dreizehnten Jahrhunderts iſt ſo ziemlich der ganze Körper der
ariſtoteliſchen Schriften übertragen. Die Syſteme des Ibn Sina
und Ibn Roſchd werden bekannt und bedrohen den chriſtlichen
Glauben. Die abendländiſche Metaphyſik des Mittelalters entſteht
zum Schutze dieſes Glaubens aus der Verknüpfung der Theologie
des Chriſtenthums und der von ihr ausgehenden metaphyſiſchen
Philoſophie der Geſchichte mit dem arabiſchen Ariſtoteles und
der mit ſeinem Studium verbundenen Naturerkenntniß. Die Uni-
verſität Paris wird, als Sitz dieſer Metaphyſik, zum Mittel-
punkt der geiſtigen Bewegung Europas. Ein Jahrhundert hin-
durch von der Mitte des dreizehnten ab, während Albert der
Große und ſein Schüler vom Kölner Dominikanerkloſter, Thomas
von Aquino, Duns Scotus und der kühnſte, gewaltigſte der
Scholaſtiker, der papſtfeindliche Wilhelm von Occam, lehren, ſind
die Augen von ganz Europa auf dieſe neue Vernunftwiſſenſchaft
und ihr Schickſal gerichtet. — Zugleich iſt nun das Material
[380]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
für eine ſelbſtändige Fortarbeit der abendländiſchen Chriſten in
den Naturwiſſenſchaften gegeben. Langſam, breit und tief ent-
wickelte ſich dieſe Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter
welchen die Wiſſenſchaften in den Klöſtern und an von der
Kirche geleiteten Anſtalten ſich befanden, unterſtützten die Ueber-
macht des theologiſch-metaphyſiſchen Intereſſes, und die Beſchäf-
tigung des Hofes Friedrich’s des Zweiten mit den [Naturwiſſen-
ſchaften], wie ſie durch das Vorbild der Kalifen hervorgerufen
war, fand keine Nachfolge. Die politiſche Verfaſſung Europas
gab den Problemen der Geſchichte und des Staates ſowie den
Schriften hierüber ein Gewicht, welches ſie in den Despotenreichen
des Islam nicht beſaßen. Der Gang der öffentlichen Ange-
legenheiten im Abendlande war ſchon damals von Ideen mächtig
beeinflußt, und dieſe zogen das öffentliche Intereſſe beſonders
auf ſich. Die ſelbſtändige, ja geniale Fortarbeit des chriſtlichen
Abendlandes in dem Einzelwiſſen lag daher zunächſt während
des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiete
der Geiſteswiſſenſchaften. So wurde die Erweiterung des Natur-
wiſſens in erſter Linie benützt, eine von Metaphyſik getragene
encyklopädiſche Einheit des Wiſſens herzuſtellen. Dieſer Richtung
des Geiſtes entſprachen die Schrift über die Natur der Dinge
des Thomas von Cantiprato, der Naturſpiegel des Vincenz von
Beauvais, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg,
das Weltbild von Pierre d’Ailly, und die Geſammtthätigkeit des
Albertus Magnus war von ihr beſtimmt. Es kann noch nicht
genügend beurtheilt werden, was von den Einzelergebniſſen, welche
uns zuerſt bei Albertus begegnen, einem ſelbſtändigen Natur-
ſtudium entſprungen war; jedoch kann Förderung der beſchrei-
benden Naturwiſſenſchaft in eigener Beobachtung und Unterſuchung
ihm nicht abgeſprochen werden. Alsdann trat in Roger Ba-
con das Bewußtſein von der Bedeutung der Mathematik als des
„Alphabets der Philoſophie“ und der experimentalen Wiſſenſchaft
als der „Herrin der ſpekulativen Wiſſenſchaften“ hervor. Er ahnte
die Macht einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntniß der wirken-
den Urſachen im Gegenſatz zu ſyllogiſtiſcher Scheinwiſſenſchaft,
[381]Richtung a. d. Herſtellung e. Deſkription d. Kosmos i. Abendlande.
und ſeine mächtige Einbildungskraft eilte den Ergebniſſen ſeiner
Arbeit voraus in ſeltſamen Anticipationen künftiger Entdeckungen.
Andrerſeits traten im Abendlande allmälig die theils herüber-
gebrachten theils ſelbſtändig gemachten Erfindungen auf, welche
das Zeitalter der Entdeckungen vorbereiteten 1).
Sechſtes Kapitel.
Zweiter Zeitraum des mittelalterlichen Denkens.
Von der Uebertragung des arabiſchen Naturwiſſens und der
ariſtoteliſchen Philoſophie hebt das neue Stadium des mittelalter-
lichen Denkens an und dauert bis zum Ausgang des Mittelalters.
Der frühere Zeitraum hatte eine Dialektik als Grundlage der Theo-
logie geſchaffen, den von den Vätern, insbeſondere von Auguſtinus
entworfenen Beweis für das Daſein einer transſcendenten Ord-
nung immaterieller Weſenheiten fortgebildet und die Aufgabe, einen
verſtandesmäßigen Zuſammenhang des Glaubensinhaltes zu ge-
winnen, in einer Theologie gelöſt, welche jedoch das dem Denken
Erfaßbare noch nicht methodiſch von dem Unerfaßlichen ſchied.
Schon dieſe Aufgaben ſelber empfingen nun unter den neuen Be-
dingungen eine reifere Faſſung. Die Vergleichung von Chriſten-
thum, Islam und Judenthum verbreitete ihre Helle über das Ge-
biet der Theologie; die Vergleichung der Vernunftwiſſenſchaft des
Ariſtoteles mit der Theologie der Religionen erleuchtete die Grenzen
des Beweisbaren und des religiöſen Geheimniſſes; die Verbindung
des Naturwiſſens mit der Theologie erweiterte den Horizont der
Vernunftwiſſenſchaft. Wie wurden nun unter den neuen Be-
dingungen die Aufgaben, welche wir im vorigen Zeitraum ſon-
derten, gefaßt und zu löſen verſucht?
[382]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
1. Abſchluß der Metaphyſik der ſubſtantialen
Formen.
Indem jetzt mit der Theologie der monotheiſtiſchen Religionen
die Wiſſenſchaft vom Kosmos verknüpft wurde, entſprangen zwar
weitere unlösbare Schwierigkeiten, welche die Zerſetzung der mittel-
alterlichen Metaphyſik herbeigeführt haben, jedoch ſo lange ſie ver-
deckt werden konnten und das Gute des Willens mit dem Ver-
nünftigen des Denkens, das Chriſtliche mit der griechiſchen Ver-
nunftwiſſenſchaft in eins geſetzt wurden, ergab ſich hieraus die
Geltung einer glänzenden Formel, welche die bisherige Meta-
phyſik zu ſyſtematiſcher Einheit abſchloß.
Zunächſt ſubſtituirte man den analytiſchen Ergebniſſen des
Plato und Ariſtoteles, welche letzte Vorausſetzungen des Kosmos
enthalten, den konſtruktiven philoniſch-neuplatoniſchen Gedanken.
Nach demſelben haben die Ideen in Gott ihren Ort, und von
dieſer intelligiblen Welt ſtrahlen die das All durchwirkenden Kräfte
aus. Dieſen Gedanken hatte Auguſtinus, wie es andere Kirchen-
väter gethan, in die Philoſophie des Chriſtenthums aufgenommen 1)
und mit der Schöpfungslehre in Verbindung geſetzt. Die Dinge
ſind nach ihm von der Gottheit als Ausdruck der in ihr be-
ſtehenden intelligiblen Welt unveränderlicher Ideen geſchaffen; ſo
empfängt die Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft nun eine ein-
fachere und mehr ſyſtematiſche Faſſung ihres Zuſammenhangs:
die intelligible Welt in Gott iſt der Schöpfung einge-
[383]Die abſchließende metaphyſiſche Formel.
bildet, und die dieſem objektiven Zuſammenhang entſprechen-
den Prinzipien ſind in den von Gott geſchaffenen Einzel-
geiſt hineingelegt1).
So bildete ſich auf der Höhe dieſer Entwicklung folgende
Theorie, die Thomas von Aquino feinſinnig entwickelt hat.
Plato nahm nach ihm irrthümlich an, das Objekt der Erkennt-
niß müſſe in ſich ſo exiſtiren, wie in unſerem Wiſſen, ſo-
nach immateriell und unbeweglich. In Wirklichkeit vermag die
Abſtraktion das, was in dem Objekt ungeſondert iſt, zu ſondern
und einen Beſtandtheil in ihm, abſehend von den anderen, für
ſich zu betrachten. Der Beſtandtheil, welchen unſer Denken im
Allgemeinbegriff am Gegenſtande heraushebt, iſt ſonach real,
aber er iſt nur ein Theil der Realität deſſelben. Daher iſt
eine den Allgemeinbegriffen entſprechende Realität nur in den
Einzeldingen gegeben; „die Univerſalia ſind nicht für ſich be-
ſtehende Dinge, ſondern haben ihr Sein allein in dem Ein-
zelnen“. Jedoch wird andrerſeits in den Univerſalien etwas
Weſenhaftes ausgeſondert von dem menſchlichen Intellekt, denn
ſie ſind in dem göttlichen Intellekt enthalten und von ihm
den Objekten eingebildet. So kann Thomas ſich einer den Streit
über die Univerſalien ſcheinbar beendenden Formel bedienen. Die
Univerſalien ſind vor den einzelnen Dingen, in ihnen und
nach ihnen. Sie ſind vor denſelben im göttlichen, vorbildlichen
Verſtande; ſie ſind in den Dingen als Theilinhalte derſelben, welche
ihre allgemeine Weſenheit ausmachen; und ſie ſind nach den-
ſelben als Begriffe, welche durch den abſtrahirenden Verſtand her-
vorgebracht ſind. Dieſe Formel kann alsdann leicht im Sinne der
modernen Wiſſenſchaft erweitert werden, und eine ſolche Erweiterung
hat ſtattgefunden; ſie iſt ſchon im Mittelalter vorbereitet: in Gott
ſind nicht nur die allgemeinen Begriffe, ſondern die allgemeinen
Wahrheiten, die Geſetze der Veränderungen des Weltlaufs 2).
[384]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft empfing in dieſen Sätzen
die vollkommenſte Form, welche ihr während des Mittelalters
gegeben worden iſt. Dieſe Vernunftwiſſenſchaft will das Ge-
dankenmäßige des Weltalls deutlich und begreiflich machen; ihr
Problem iſt die Natur dieſer Gedankenmäßigkeit, der Urſprung
derſelben in der Welt und der des Wiſſens von ihr im Bewußt-
ſein. Die Löſung des Problems wird auch in dieſer Formel
in ein Transſcendentes hineingeſchoben; denn ſie enthält eine
Relation zwiſchen drei Gliedern, in deren jedem daſſelbe x, die
unaufgelöſte, allgemeine Form der Einzeldinge, wiederkehrt. Die
Intelligenz, der Weltzuſammenhang und Gott ſind dieſe Glieder.
Und zwar iſt Gott nicht nur bewegende und Zweckurſache der
Welt, ſondern auch vorbildliche Urſache derſelben. Oder wie Scotus
Gott als die letzte Bedingung eines inneren und nothwendigen
Weltzuſammenhangs aufzeigt: der Weltzuſammenhang enthält eine
Verkettung der Urſachen, eine Ordnung der Zwecke, eine Stufen-
reihe der Vollkommenheit; alle drei Reihen führen auf einen An-
fangspunkt, der nicht durch ein weiter zurückliegendes Glied der-
ſelben Reihe bedingt iſt, und zwar in derſelben Weſenheit: denn,
ebenſo wie ſpäter Spinoza folgert, das necesse esse ex se kann
nur Einer Weſenheit zukommen. So iſt Gott in dieſem metaphy-
ſiſchen Zuſammenhang die nothwendige Urſache 1).
Die Zahl der Wahrheiten, welche dieſe Vernunftwiſſenſchaft
feſtſtellen zu können glaubte, verringerte ſich ihr beſtändig während
ihrer Arbeit; bis in dem Zeitalter Occam’s die Formel ſelber,
nach welcher in Gott die Welt in Allgemeinbegriffen angelegt iſt,
aufgelöſt wurde und die Erfahrung des Singularen ihr Recht
geltend machte, nicht nur in Rückſicht auf die Außenwelt, ſondern
ſowol bei Roger Bacon als bei Occam auch in Bezug auf die
innere.
[385]Ration. Theol. a. erſter Beſtandth. d. Begründ. d. transſcendent. Welt.
2. Die verſtandesmäßige Begründung der trans-
ſcendenten Welt.
Da im Gottesbewußtſein der Mittelpunkt der mittelalterlichen
Metaphyſik lag und man von Gott aus die Welt und den Menſchen
erblickte, hat dieſe Vernunftwiſſenſchaft während des zweiten Zeit-
raums der abendländiſchen Philoſophie, ihrem Streben gemäß, Alles
der Denknothwendigkeit zu unterwerfen, das Daſein Gottes zu-
nächſt feſtzuſtellen verſucht, Gottes Eigenſchaften entwickelt und
von ihm aus ſich über die geſchaffenen geiſtigen Weſen verbreitet.
Dies hatte zur Folge, daß Einzelbeweiſe für das Daſein Gottes
an die Spitze der Metaphyſik traten und ſolche für den Beſtand
eines Geiſterreiches, welchem auch die Menſchen angehören, feſt-
geſtellt wurden. Die abſtrakte Metaphyſik der wolffiſchen Schule
hat auf der Baſis der Ontologie die rationale Theologie, Kosmo-
logie und Pſychologie als die drei Theile der metaphyſiſchen Wiſſen-
ſchaft gleichwerthig behandelt, und Kant hat entſprechend aus dem
einen Weſen der Vernunft die Ideen auf dieſen drei Gebieten
abzuleiten unternommen. Die geſchichtliche Betrachtung des Mittel-
alters zeigt, daß die rationale Theologie und Pſychologie, als
in eine transſcendente Welt des Glaubens mit ihren Schlüſſen
zurückgreifend, eine ganz andere Stelle im menſchlichen Denkzu-
ſammenhang einnehmen wie die Kosmologie, welche nur die Be-
griffe von der Wirklichkeit zu vollenden ſtrebt.
Wir betrachten zunächſt die Beweiſe für das Daſein Gottes,
die rationale Theologie.
Das Chriſtenthum hatte in dem monotheiſtiſchen Ergebniß
der antiken Wiſſenſchaft des Kosmos ſeine geſchichtliche Voraus-
ſetzung 1), und die Väter haben den Schluß auf Gott aus dem
Charakter der Welt, welcher zweckmäßige Schönheit und doch
zugleich Veränderlichkeit iſt, als bindend betrachtet. Während
der langen Jahrhunderte des Mittelalters iſt die Zurück-
führung der Welt auf Gott, beſonders der Schluß von der
Dilthey, Einleitung. 25
[386]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Drehung der Himmelskugel auf einen erſten Beweger derſelben
von keinem ernſthaften Forſcher verworfen worden, wenn
auch der Grad ſeiner Evidenz der Unterſuchung unterzogen
wurde; alle anderen Glaubenswahrheiten dagegen verfielen mehr
oder minder der Diskuſſion. — Seit dem Jahre 1240 war De-
zennien hindurch die kirchliche Autorität im Kampfe mit einer Partei
der pariſer Univerſität, welche extreme Folgerungen der averroi-
ſtiſchen Lehre ausbreitete. So wurde innerhalb der Univerſität die
Ewigkeit der Welt vertheidigt, da der „erſte Anfang“ als ein
Mirakel den nothwendigen Zuſammenhang der Wiſſenſchaft durch-
brach; die Schöpfung aus Nichts wurde angegriffen als mit den
Anforderungen der Wiſſenſchaft unverträglich; die Annahme eines
erſten elternloſen Menſchen wurde verworfen, und mit dem erſten
leugnete man auch die letzten Menſchen und ſonach das jüngſte
Gericht. Der Mittelpunkt dieſer ſkeptiſchen Bewegung lag in der
Beſtreitung der Fortdauer der Einzelſeele, da dieſelbe aus der
Lehre von den ſubſtantialen Formen nicht gefolgert werden kann.
Aus dieſen Vorausſetzungen folgte dann das kecke Wort: quod
sermones theologi sunt fundati in fabulis, und ihm entſprach
ein anderes: quod sapientes mundi sunt philosophi tantum.
Aber unter allen Sätzen, welche damals unter Studenten und
Lehrern der pariſer Univerſität umliefen und der kirchlichen Cenſur
unterworfen wurden, findet ſich keiner, welcher das Daſein Gottes
in Frage gezogen hätte. — Ein zweiter Herd des ſkeptiſchen Geiſtes
war während des dreizehnten Jahrhunderts 1) der Hof Friedrichs
des Zweiten im Süden. Der abergläubiſche Sinn des niederen
Volkes umgab die gedankenmächtige Geſtalt des großen Kaiſers
mit Erzählungen, in welchen als das Auffälligſte ſein Skepticismus
und ſeine Neigung zu experimenteller Beantwortung ſolcher Fragen
hervortritt, die man ſyllogiſtiſchen Erörterungen zu überlaſſen ge-
wohnt war. Wollte man doch wiſſen, er habe Menſchen den
[387]Der Schluß vom Kosmos auf Gott wird noch allgemein anerkannt.
Leib öffnen laſſen, zum Zwecke des Studiums der Verdauung;
er habe Kinder von dem Verkehr abgeſondert aufnähren laſſen
wollen, um die Frage nach der Urſprache zu löſen; ein ſolcher
Verſuch erinnert an den philoſophiſchen Roman des Ibn Tophail,
welcher im dreizehnten Jahrhundert verbreitet war und die natür-
liche Entwicklung eines Menſchen zum Gegenſtande hatte. Die
Schriftſtücke, die im Kampfe der Kurie gegen den Kaiſer ausge-
arbeitet wurden, und die öffentliche Meinung beſchuldigten ihn der
Leugnung der Unſterblichkeit, und fanden den letzten Beweggrund
ſeiner Schreckensherrſchaft im ſicilianiſchen Reiche in dieſer ma-
terialiſtiſchen Verwerfung jeder Vorſtellung eines jenſeitigen Lebens.
Zwar das furchtbare Wort von den drei Betrügern, den Be-
gründern der drei Religionen des Abendlandes, kann nicht auf
den Kaiſer zurückgeführt werden; aber der Gedanke, daß die philo-
ſophiſche Wahrheit in allen drei Religionen von Fabeln verhüllt
ſei, muß als ein Gemeingut der Aufgeklärten an dieſem bunten,
bald im Morgen- bald im Abendlande unter religiös gemiſchten
Bevölkerungen reſidirenden Hofe betrachtet werden. Und doch wird
uns unter allen Witzworten, welche damals von Friedrich um-
gingen, keines überliefert, welches den Schluß auf Gott als die
Welturſache angetaſtet hätte 1). — Unterſucht man die Aeußerungen
von Skepticismus aus anderen Kreiſen, ſo ſetzen widrige und rohe
Verhöhnungen Gottes wie die von Alberich von Romano be-
richtete, durchaus das Daſein Gottes voraus 2). Auch gingen die
Zweifel der Nominaliſten gegen jeden Punkt einer rationalen reli-
giöſen Wiſſenſchaft zwar bei Occam dazu fort, die Gründe für
das Daſein Gottes einer ſcharfen Kritik zu unterwerfen, ja dieſer
ſprach ſchon kühn die Möglichkeit aus, daß die Welt ſich
ſelbſt bewege; aber auch er erkannte doch die überwiegende Kraft
der Beweisführungen für das Daſein Gottes an 3).
25*
[388]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Der Grund dieſer Thatſache, daß der metaphyſiſche
Geiſt des Mittelalters an der Evidenz des Daſeins Gottes einen
unerſchütterlichen Stützpunkt hatte, während keine andere Glau-
benswahrheit von dem Zweifel unberührt blieb, kann nicht in der
Macht religiöſer Ueberzeugungen gefunden werden; denn dieſe
waren, wie wir eben ſahen, vielfach erſchüttert. Er lag nicht in
der Tradition des Zuſammenhangs der Weltgeſchichte, die an
Gott mit ihrem Beginn und Schluß gebunden war; denn ſo
wichtig dieſe für das Lebensgefühl und die Denkart des mittel-
alterlichen Menſchen geweſen iſt, ſo ward ſie doch von kühnen
Geiſtern wenigſtens dem Zweifel, wenn auch noch nicht der Unter-
ſuchung unterworfen. Am wenigſten können wir ihn in dem
ontologiſchen Argumente finden; denn die Kraft deſſelben wurde
von den hervorragendſten gläubigen Forſchern beſtritten. Er lag
in dem Schluß, welcher auf Grund des damaligen Standes des
Naturwiſſens von den regelmäßigen, harmoniſch ineinandergreifen-
den Bahnen der Geſtirne ſowie von der die Formen der Natur
durchwaltenden Zweckmäßigkeit auf Gott zurückging. Dieſer Schluß
tritt nicht als ein einzelnes Argument auf, ſondern bildet, wie bei
Ariſtoteles, den Zuſammenhang der ganzen Naturanſicht. Wol
haben die Scholaſtiker dieſes Zeitraums zuerſt eine geſchloſſene Zahl
von einander unabhängiger Einzelbeweiſe für das Daſein Gottes
aufgeſtellt, auch hat ſich wenigſtens die Unterſcheidung des kosmo-
logiſchen und des teleologiſchen (phyſiko-theologiſchen) Beweiſes
in der Schulmetaphyſik erhalten; doch nicht in dieſer zerſplitterten
ſchulmäßigen Faſſung lag die Macht der Gründe, die von der
Welt auf Gott ſchließen, über den mittelalterlichen Geiſt 1).
[389]Grund hiervon in der Lage der Naturwiſſenſchaften.
Die Phyſik der Erde war in den erſten Anfängen geblieben
und wurde nicht auf die Erklärung der Phänomene der Geſtirn-
welt angewandt, weder die Hilfsmittel der Rechnung noch die Kunſt
des Inſtruments ſchlugen eine Brücke von den Ereigniſſen auf der
Erde zu denen jenſeits im Weltraum, die Schwere wurde als eine
terreſtriſche Thatſache aufgefaßt, Veränderungen waren noch an
keinem Punkte als jenſeits der irdiſchen Atmoſphäre im Weltraum
vorhanden nachgewieſen, und dieſe Sonderung der Welt himm-
liſcher Körper von der unter dem Monde wurde zu einer vor-
ſtellungsmäßigen, räumlichen Vergegenwärtigung des großen Ge-
genſatzes benutzt, in welchem das Chriſtenthum allen irdiſchen
Wandel und alle irdiſche Unvollkommenheit dem gegenüber erblickt,
was nicht von dieſer Welt iſt. Die Bedeutung dieſer aſtrono-
miſchen Transſcendenz für den Geiſt des mittelalterlichen Menſchen
zeigt Dantes kosmiſches Gedicht, deſſen drei Theile nicht zufällig,
ein jeder in anderer Wendung, mit einem anderen Ausblick auf den
Sternenhimmel ſchließen, der letzte mit den berühmten Worten:
l’amor che muove il sole e l’altre stelle.
Der Schluß ſelber ging von der Gleichförmigkeit der Be-
wegungen am Himmel und ihrer Zweckmäßigkeit, vermittelſt deren
der ganze Haushalt der irdiſchen Welt bis zum Menſchen hinauf
geregelt wird, auf eine vollkommene und geiſtige Weſenheit.
Er beruhte bei den meiſten Scholaſtikern auf der aſtronomi-
ſchen Konſtruktion, die ſie in ihrem Ariſtoteles fanden, ſeltener
auf der, welche ſie aus Ptolemäus ſchöpften. Bald bediente
dieſer Schluß ſich des Hilfsſatzes, den Anaxagoras, Plato und
Ariſtoteles anwandten, daß jede Bewegung eines Körpers im
Raume eine Bewegungsurſache außerhalb deſſelben vorausſetze,
bald der Unterſcheidung der Bewegungen auf der Erde, welche
gradlinig ſind und in einem Ziele zur Ruhe kommen, von denen
1)
[390]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
am Himmel, die kreisförmig und kontinuirlich ſind und ſonach auf
ein intelligentes Prinzip von unendlicher Kraft zurückweiſen. Er
kann ſo gut bei Albertus Magnus als bei Thomas, bei Bona-
ventura als bei Duns Scotus gefunden werden 1). Während
ihm ſtrenge Evidenz zugeſchrieben wurde, iſt von den meiſten
Theologen Probabilität für die Annahme in Anſpruch genommen
worden, daß die Gottheit durch geſchaffene Geiſter übermenſchlicher
Art dieſe Bewegungen am Himmel bewirke, und die Zahl der
bewegenden Engel durch die der bewegten Sphären beſtimmt
werden könne. Die Engellehre wurde auf Grund der ariſtoteliſchen
Theorie mit der aſtronomiſchen Weltanſicht verknüpft, und es
waren daher auch hier ſchließlich pſychiſche Beziehungen,
welche ſtatt eines mechaniſchen Naturzuſammenhangs
den letzten Erklärungsgrund für die Bewegungen im Kosmos
darboten. Die herrſchende europäiſche Metaphyſik fuhr fort, einen
mythiſchen Willenszuſammenhang pſychiſcher Kräfte als letzten Er-
klärungsgrund des äußeren Weltzuſammenhangs feſtzuhalten.
Auf der Erde wurde an den organiſchen Weſen eine Zweck-
mäßigkeit nachgewieſen, welche auf Gott zurückleitete. Dieſen
Schluß ſtattete Albertus Magnus, welcher auch hierin dem Ariſto-
teles beſonders nahe ſtand, mit dem größten Beweismaterial aus.
„Durch die Weiſe und das Maß ſeines Seins, durch das ſpezi-
fiſche Weſen, das ihm in der Reihe der übrigen Geſchöpfe die be-
ſtimmte Stelle anweiſt, durch das Gewicht oder die Ordnung, in
welcher es nach ſeiner Verwerthung mit den anderen in Harmonie
iſt und auf die Verwirklichung des Weltzwecks Einfluß übt, be-
weiſt das Geſchaffene ſichtlich die Macht eines mächtigen, weiſen
und gütigen Urhebers“ 2).
[391]D. beſond. Form d. Schluſſes entſpr. d. Naturbegriffen jed. Zeitalters.
Der Beweis für das Daſein Gottes aus dem gedanken-
mäßigen Zuſammenhang der Vorgänge im Weltganzen hat uns
von Anaxagoras ab begleitet. Und zwar haben die Mittelglieder
gewechſelt, durch welche in ihm aus der Anſchauung der Welt auf
die Idee Gottes geſchloſſen wird. Denn ſie wurden in einem
jeden Zeitalter durch diejenigen Begriffe von dem Zuſammenhang
der Natur gebildet, welche der Stand der poſitiven Wiſſenſchaften
entwickelt hatte. Die Funktion dieſes Beweiſes in dem Körper
der Metaphyſik einer Epoche iſt alſo abhängig von der zu derſelben
Zeit entwickelten Naturanſicht. Dieſes Grundverhältniß hat Kant’s
ungeſchichtlicher Geiſt verkannt, wie er denn überhaupt den ver-
geblichen Verſuch machte, eine Metaphyſik an ſich aus den Syſtemen
zu ziehen, dabei aber in der Regel ſich begnügte, die wolffiſchen
Kompendien durch Machtſpruch für dieſe Metaphyſik an ſich zu
erklären. In Wirklichkeit hat jede Form des vom Kosmos auf
deſſen Bedingung zurückgehenden Beweiſes für eine vernünftige
Welturſache nur einen relativen Erkenntnißwerth, nämlich in ihrer
Relation zu den anderen Naturbegriffen eines Zeitalters; und
auch die vollſtändige Begründung, welche nur im Zuſammenhang
des Syſtems ſelber ſich vollzieht und welche den für ſich ganz
unzureichenden kosmologiſchen Schulbeweis mit dem phyſiko-theo-
logiſchen verbindet, hat keine hierüber hinausreichende Tragweite.
Sie kann nur zeigen, daß unter Vorausſetzung der Begriffe,
welche der Erklärung der Wirklichkeit in einer gegebenen Zeit zu
Grunde gelegt werden, der Rückgang auf eine erſte, zweckmäßig
wirkende Urſache nothwendig iſt. Der Begriff Gottes iſt in ihr
nur ein Glied in dem Syſtem der Bedingungen, welches den
Phänomenen zu ihrer Erklärung auf einer beſtimmten Stufe der
Erkenntniß zu Grunde gelegt wird, und die Unentbehrlichkeit dieſes
Gliedes iſt abhängig von der Beziehung der Annahme auf andere
ſchon vorhandene Annahmen. So bedurfte Newton neben der
Gravitation eines Anſtoßes, er bedurfte eines Grundes für die
Zweckmäßigkeit in den Abmeſſungen der Verhältniſſe der Planeten-
bahnen; hierbei war die Gravitation nur ein Ausdruck für einen
Theil der Bedingungen, und der Gott, deſſen er neben ihr zu be-
[392]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
dürfen erklärte, war ebenſo nur der Ausdruck für einen anderen
Theil dieſer Bedingungen, die unter Annahme von Materie, Raum,
Zeit, Urſache, Subſtanz zur Erklärung der Wirklichkeit ihm noth-
wendig erſchienen. Sonach iſt ein ſtrenger Beweis für das
Daſein Gottes von dem Kosmos aus ſo lange unmög-
lich, als nicht die objektive Gültigkeit eines abgeſchloſſenen
Syſtems von Naturbegriffen ihm zu Grunde gelegt werden
kann. — Wir heben einzelne Bedenken noch beſonders hervor. Ein
ſolcher Beweis ſtünde unter der Vorausſetzung der Anwendbarkeit
des Kauſalbegriffs auf den Weltzuſammenhang; wie ſchon mittel-
alterliche Philoſophen feſtſtellten, würde er nicht geſtatten, auf
einen Weltſchöpfer zu ſchließen, ſondern nur, nach Kant’s Aus-
druck, „auf einen Weltbaumeiſter, der durch die Tauglichkeit des
Stoffes, den er bearbeitet, immer ſehr eingeſchränkt wäre“; er würde
nicht über eine der erkannten gedankenmäßigen Einheit proportionale
Urſache hinausführen, und Schritt für Schritt haben ſich in der
neueren Zeit die Naturbegriffe über dieſe gedankenmäßige Einheit
ſo geändert, daß der Zwang des Schluſſes auf ein ſelbſtändiges,
von der Welt unterſchiedenes perſönliches Weſen aufhörte.
Von jedem ſolchen einzelnen Beweis verſchieden iſt das ihnen
allen zu Grunde liegende Bewußtſein von Gedankenmäßigkeit, welches
mit der Betrachtung der Bahnen und Abmeſſungen der Geſtirne, ſo-
wie der Formen der organiſchen Welt verknüpft iſt: dieſes drückt nur
aus, daß wir über uns hinaus in ein dem menſchlichen Gedanken
Analoges, ihm in der Welt Entſprechendes blicken. Es iſt die
eine Seite des unvertilgbaren Gottesbewußtſeins der Menſchheit,
und wie es die einzelnen Beweiſe hervorbringt, bleibt es beſtehen,
nachdem ſie aufgelöſt ſind, aber für ſich enthält es nicht die Ge-
wißheit eines von der Welt unterſchiedenen perſönlichen Weſens 1).
Es giebt neben dieſer Schlußart nur Eine andere, welche wir
als die pſychologiſche bezeichnen. Sie hat in der Analyſis der
inneren Erfahrung ihren Ausgangspunkt; hier findet ſie pſy-
[393]Die andere Schlußart iſt die aus der inneren Erfahrung.
chologiſche Beſtandtheile zu einer lebendigen und perſönlichen Ueber-
zeugung verbunden, welche unabhängig von aller Naturerkenntniß
den Frommen des Daſeins Gottes verſichern. So führt die freie
und der Aufopferung des eignen Selbſt fähige Moralität eines
Weſens, welches ſich doch nicht als ſeinen eigenen Schöpfer zu
betrachten vermag, daſſelbe über alle Naturbegriffe hinaus und
ſetzt als ihre Bedingung einen göttlichen Willen. Die Art, wie wir
die Vergänglichkeit in uns fühlen, alsdann den Irrthum
ſowie die Unvollkommenheit deſſen, was wir ſind, ſchließt,
pſychologiſch angeſehen, in ſich, daß ein Maßſtab für uns da iſt,
welcher über dies Alles hinausreicht; käme dieſem Maßſtab keine
Realität zu, dann wäre das Gefühl von Unvollkommenheit und
Schuld eine leere Sentimentalität, die die Wirklichkeit an unwirk-
lichen Gedankenbildern meſſen würde. Das lebendige Bewußt-
ſein der ſittlichen Werthe fordert, daß ſie nicht als Nebenerfolg
des Naturzuſammenhangs im Bewußtſein aufgefaßt werden, ſondern
als eine machtvolle Realität, auf welche die Geſtaltung der Welt
hingerichtet und welcher in der Weltordnung der Sieg geſichert iſt.
Hatte das antike Denken die in dem Beweis aus der einheitlichen
Gedankenmäßigkeit des Kosmos entwickelte Seite unſerer meta-
phyſiſchen Beſinnung zur Darſtellung gebracht, ſo richtete ſich das
chriſtliche vornehmlich auf dieſe andere Seite derſelben, die Tiefen
unſeres Selbſt durchmeſſend und die Erfahrungen des Willens
aufrichtig im Innern zu vernehmen bemüht. Wol hat das Chriſten-
thum in dem monotheiſtiſchen Ergebniß der antiken Wiſſenſchaft
des Kosmos ſeine geſchichtliche Vorausſetzung und in dem Bewußt-
ſein der Gedankenmäßigkeit des Weltganzen einen bleibenden Be-
ſtandtheil ſeines Gottesgedankens; aber die Gewißheit Gottes, der
für es mehr als eine intelligente Urſache iſt, liegt ihm in erſter
Linie in den Erfahrungen des Gemüths und des Willens, und die
ganze Literatur der Väter und des Mittelalters iſt von Schlüſſen
aus dieſen inneren Erfahrungen auf das Daſein Gottes durchzogen,
unter denen die drei oben angegebenen beſonders hervortreten 1).
[394]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Wie ſo Vieles im Mittelalter ſymboliſch iſt, war damals dieſer
Zuſammenhang der ſittlichen Ordnung in Gott an der Hierarchie
ſichtbar, in welcher Gnade und Gewalt von Gott abwärts floßen;
jedes Meßopfer ließ die Gegenwart Gottes im Dieſſeits gewahren.
Was ſo dem Frommen auf ſubjektive und perſönliche Weiſe
gewiß war und Kirchenväter wie mittelalterliche Schriftſteller in
unzähligen Formen frei und perſönlich ausgeſprochen haben,
das wollte die chriſtliche Metaphyſik auf einen für Alle
zwingenden Schluß bringen. Und zwar hat dieſe pſycholo-
giſche Begründung die am meiſten abſtrakte begriffliche Faſſung
in dem ontologiſchen Beweis erhalten. Anſelm ſetzte ſich die tief-
gedachte Aufgabe, eine Begründung Gottes zu finden, welche die
Exiſtenz und Beſchaffenheit der Welt nicht zur Vorausſetzung habe.
Er leitete aus dem Begriff Gottes durch logiſche Analyſis die
Einſicht in ſein Daſein ab. Die Unhaltbarkeit des ſo entſtehenden
ontologiſchen Beweiſes iſt von Gaunilo bis Thomas von Aquino
und von dieſem bis Kant überzeugend gezeigt worden; nicht in
dem abſtrakten Begriff Gottes, ſondern in dem lebendigen
Zuſammenhang des Gottesgedankens mit der Totalität des
pſychiſchen Lebens iſt eine von der Wiſſenſchaft des Kosmos un-
abhängige Gewißheit Gottes begründet. Dieſer lebendige und
natürliche Zuſammenhang iſt in dem früheren Beweis Anſelms
angemeſſener ausgedrückt; hier wird als Grundlage unſeres Be-
wußtſeins von verſchiedenen Graden des Guten und Vollkommenen
das eines höchſten Gutes, einer unbedingten Vollkommenheit auf-
gezeigt. So wird auf Gott als das höchſte Gut geſchloſſen, im
Unterſchied von dem Schluß auf ihn als intelligente Urſache 1).
1)
[395]Ration. Pſychologie zweiter Beſtandth. d. Begründ. d. transſc. Welt.
Dem moraliſchen Beweis hat bekanntlich Raymund von Sabunde
eine zwingende Form zu geben verſucht.
Doch waren alle Verſuche, dem Zuſammenhang der inneren,
beſonders ſittlichen Erfahrungen mit dem Gottesglauben die Form
eines metaphyſiſchen Beweisverfahrens zu geben, von einer ebenſo
vorübergehenden Bedeutung, als das Unternehmen, aus dem Kos-
mos einen perſönlichen Gott zu erſchließen. Denn die Elemente
der inneren Erfahrung, aus deren Analyſis dieſe Verſuche
folgerten, ſind einer allgemeingültigen Darſtellung nicht
fähig. Ihr Gegenſtand iſt eben praktiſche Religion, und dieſe iſt
perſönliches Leben. Ja dieſer praktiſche Glaube iſt ſo unabhängig
von ſeiner theoretiſchen Darſtellung, daß ein Menſch Gott gleichſam
zu leben vermag, deſſen intellektuelle Lage ihm das Schickſal, Gott
zu bezweifeln, auferlegt hat. Daher erkannte der praktiſche Glaube
erſt im Proteſtantismus, als die Metaphyſik des Mittelalters ſich
aufgelöſt hatte, die wahre Beſchaffenheit ſeiner Gewißheit.
Von der rationalen Theologie, dem Mittelpunkte des mittelalter-
lichen Denkens überhaupt, wenden wir uns zur rationalen
Pſychologie.
Sie empfing bereits von den Metaphyſikern aus der
Zeit des Kampfes zwiſchen Chriſtenthum, Judenthum
und griechiſch-römiſchem Götterglauben ihre dauernde
ſyſtematiſche Geſtalt. Es iſt dargelegt, wie die Erfahrungen
des Herzens, das Studium des Seelenlebens in den erſten Jahr-
hunderten nach Chriſtus in den Vordergrund traten. Schon das
Ueberwiegen des Privatlebens wirkte in dieſer Richtung. Als-
dann lenkte die Imperatorenherrſchaft alle Blicke der römiſchen
Geſellſchaft mit athemloſer Spannung auf Einen Mann, und man
1)
[396]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
bemerkt an Tacitus, welche Veränderung nunmehr das hiſtoriſche
Sehen erfuhr; ſeine Seelengemälde der Kaiſer ſind der Ausdruck
der veränderten Intereſſen der Geſellſchaft. Tiefere Beweggründe
traten hinzu; die Sehnſucht nach der Unſterblichkeit iſt der Grund-
zug des alternden Heidenthums. Die Grabinſchriften jener Zeit
zeigen, daß die Vorſtellung eines kraftloſen Traumlebens in der
Unterwelt nun gänzlich zurücktrat hinter die Erwartung eines
höheren Lebens. „Ihr hochgelobten Seelen der Frommen,“ heißt
es in einer ſolchen Grabinſchrift, „führet die ſchuldloſe Magnilla
durch die elyſiſchen Haine und Gefilde in eure Wohnungen.“
Das Märchen von Amor und Pſyche, die beliebt werdende Dar-
ſtellung der Pſyche unter dem Symbol des Schmetterlings ſind
Sinnbilder dieſer Sehnſucht. Myſteriendienſte wieſen die Wege,
auf welchen dies inbrünſtige Verlangen das Herz der Gottheit
ſuchte. Boëtius’ ſchönes Werk „über den Troſt der Philoſophie“
hat den letzten Ausblick in der Zuverſicht: wenn die Seele guten
Gewiſſens, aus dem irdiſchen Gefängniß erlöſt, nun frei dem
Himmel zuſtrebe, dann werde alles irdiſche Thun ihr als Nichts
erſcheinen, vor dem Genuß der Freuden des Himmels. Das
Herz der chriſtlichen Literatur der erſten Jahrhunderte iſt das
Gefühl von dem unendlichen Werthe der moraliſchen Perſon vor
Gott. Die Grundlegung der Lehre von einem Reiche ewiger
individueller Seelenſubſtanzen iſt nur der wiſſenſchaft-
liche Ausdruck dieſer Veränderung des Seelenlebens.
Nun erhebt ſich über den Horizont der metaphyſiſchen Beſinnung
die Geiſterwelt und ihr Reich. Der literariſche Ausdruck dieſer
Thatſache liegt in den Stylformen von Meditationen, Soliloquien,
Monologien, und der einſame Verkehr des Geiſtes mit ſich ſelber
iſt nun der tiefe Quellpunkt des wiſſenſchaftlichen Denkens.
Plotin, der reinſte und edelſte Vertheidiger des mit dem
Chriſtenthum im Todeskampfe ringenden Heidenthums, zeigt in
ſeinem Syſtem die Gemüthsverfaſſung der neuen, dem ächten
griechiſchen und römiſchen Leben ganz fremden Zeit. War doch
Ammonius, ſein Lehrer, in dem neuen Seelenleben der chriſtlichen
Gemeinden aufgewachſen. Wenn nun die unſichere Ueberlieferung
[397]Der einzige ſtrenge Beweis einer Seelenſubſtanz von Plotin entwickelt.
noch erkennen läßt, daß ſchon Ammonius die Immaterialität der
Seele zu erweiſen unternahm1), ſo finden wir bei Plotin dieſen
Beweis zu einer vollſtändigen Metaphyſik des Seelenlebens ent-
wickelt, welche ſich gegen die Theorien der Epikureer und Stoiker
wendet. Mit ihm berührt ſich an manchen Punkten Origenes
in ſeiner Schrift über die Prinzipien, er löſt für die im Kampfe
mit den Gnoſtikern begriffenen chriſtlichen Gemeinden dieſelbe Auf-
gabe, wie Plotin für die heidniſche Welt.
Plotin erweiſt durch eine lange Reihe von Gründen, daß die
Seele als ein immaterielles Weſen exiſtirt. — Wir heben zunächſt
das folgende Argument hervor: das Erkennen iſt außer Stande,
aus den Verhältniſſen körperlicher Elemente zu einander einen
geiſtigen Thatbeſtand abzuleiten, keine Zuſammenſetzung macht das
Hervortreten von Bewußtſein, das in den Komponenten nicht vor-
handen war, erklärlich; dem Vernunftloſen kann durch keine Kunſt
Vernunft abgewonnen werden2). Dieſe Beweisführung hat nur
die Tragweite, pſychiſches Leben als eine für unſer Erkennen von
dem materiellen Thatbeſtand ganz unterſchiedene, nie auf ihn zu-
rückzuführende Thatſache aufzuzeigen3). — Aber Plotin geht in
dieſem Zuſammenhang zu demjenigen Beweis fort, welcher in
der europäiſchen Metaphyſik die erſte Stelle behauptet hat. Er
war bei Plato und Ariſtoteles vorbereitet. Plato hatte mit
tiefem Blicke hervorgehoben: wenn wir im Stande ſind, das in
verſchiedenen Sinnen Gegebene zu vergleichen, Aehnlichkeit oder
Unähnlichkeit auszuſprechen, dann kann das nur in einem von
den Sinnesorganen Verſchiedenen, in der Seele ſelber geſchehen4).
Dann hatte Ariſtoteles erkannt, daß ein Urtheil: ſüß iſt
nicht weiß, unmöglich iſt, wenn dieſe Empfindungen an ver-
[398]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſchiedne Subjekte vertheilt werden und nicht vielmehr in demſelben
Subjekt zuſammen beſtehen1). Plotin unternimmt allgemein zu
beweiſen: wäre die Seele materiell, alsdann könnte weder Wahr-
nehmung noch Denken oder Wiſſen oder das Sittliche und
Schöne vorhanden ſein. Soll etwas, ſo ſchließt er hierbei, ein
anderes wahrnehmen, ſo muß es eine Einheit ſein; wenn die ein-
tretenden Bilder, vermöge der Mehrheit der Sinnesorgane, ein
Mannichfaches ſind, ja innerhalb des Empfindungskreiſes Eines
Sinnesorgans ein Mannichfaltiges in ſich ſchließen, ſo müſſen ſie
durch eine mit ſich ſelbſt identiſche Einheit zum Gegen-
ſtand verbunden werden; die Sinneseindrücke müſſen in einer
untheilbaren Einheit ſich begegnen. Er drückt es in einem zu-
treffenden Bilde ſo aus: die Wahrnehmungen müſſen von der
ganzen Peripherie des Sinneslebens her wie Radien eines Kreiſes
in dem untheilbaren Mittelpunkt des Seelenlebens zuſammentreffen.
Andern Falles würden innerlich viele Wahrnehmungen neben ein-
ander entſtehen; denn Theil A der materiellen und ausgedehnten
Seele würde ſeine Eindrücke für ſich haben, ebenſo B und C; dies
wäre alſo ſchließlich ſo, als ob ein Individuum A und neben ihm
ein Individuum B wahrnähme. Sind wir ferner im Stande,
zwei Eindrücke unter einander zu vergleichen, von einander
zu unterſcheiden, dann ſetzt dies voraus, daß ſie in einer Ein-
heit aneinandergehalten werden. In dieſem wie in an-
deren mehr untergeordneten Beweiſen iſt der große Satz von der
Unvergleichbarkeit der Leiſtung des Bewußtſeins mit dem, was
wir als Vorgang den Veränderungen in der Außenwelt zu Grunde
legen, von Plotin ganz vollſtändig durchgedacht worden. Dieſer Satz
hatte freilich irrthümlicher Weiſe für ihn eine poſitive metaphyſiſche
Beweiskraft; aber eine ſolche iſt demſelben auch in der ganzen
weiteren Entwicklung bis auf Leibniz, Wolff, Mendelsſohn, ja
Lotze hin beigelegt werden; während er in Wirklichkeit nur einen
negativen Werth, gegenüber jeder Art von materialiſtiſcher oder
ſogenannter moniſtiſcher Metaphyſik hat2).
[399]Auguſtinus fügt eine erkenntnißtheoretiſche Unterlage hinzu.
Dieſe Begründung der Lehre von ſeeliſchen Subſtanzen iſt
von Auguſtinus durch ſeinen erkenntnißtheoretiſchen
Geſichtspunkt vertieft und befeſtigt worden. Er erklärt: „ich
wage zu behaupten, daß ich in Bezug auf die Immaterialität der
Seele nicht nur glaube, ſondern ein ſtrenges Wiſſen habe“1). Sein
Wiſſen ſahen wir2) darin gegründet, daß die ganze Erkenntniß der
Außenwelt dem Skepticismus, der auf dieſe Erkenntniß ſich bezieht,
erliegen muß, dagegen die Selbſtgewißheit in der inneren Erfahrung
aufgeht. Innere Erfahrung wird von ihm als ein Wiſſen erkannt,
in dem uns bereits das ganze Seelenleben gegeben iſt, wann die
Abſicht auftritt, deſſen Weſen zu erkennen. Der ſpezifiſche Unter-
ſchied dieſer inneren Erfahrung von aller Erkenntniß des äußeren
Naturlaufs wird ausgeſprochen und die Inferiorität dieſer letzteren
für den Erkenntnißzuſammenhang wird durchſchaut. — Und zwar
zeigt der Inhalt der inneren Erfahrung auch dem Auguſtinus die
Unvergleichlichkeit des geiſtigen Lebens mit dem Naturlauf und
ſonach die Unmöglichkeit einer Zurückführung der geiſtigen auf
materielle Vorgänge. Das geiſtige Leben kann nicht als Qualität
an dem Subjekt Körper aufgefaßt werden, denn man kann nicht
die Leiſtungen des geiſtigen Lebens auf die eines materiellen
Ganzen zurückführen. Insbeſondere unterſcheidet den Geiſt, daß
er in jedem Punkte des Körpers ganz gegenwärtig iſt und die
Empfindungen der Sinne zum Gegenſtande des Bewußtſeins, der
Vergleichung und des Urtheils zu machen vermag3).
Die von den Neuplatonikern und dem an ſie ſich anſchließen-
den Auguſtinus begründete Metaphyſik der Seelenſubſtanzen iſt
2)
[400]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
dann von den mittelalterlichen Philoſophen ausge-
baut worden. Dieſelben ſchließen ſich an neuplatoniſch gefärbte
Quellen ſowie an Auguſtinus an und folgern aus der Beſchaffen-
heit geiſtiger Vorgänge, daß dieſe nicht aus der Materie abgeleitet
oder in irgend einem Sinne als materiell aufgefaßt werden
können1). Sie gehen in allen ſtrengeren Beweiſen für die Un-
ſterblichkeit von der Vergleichung der Leiſtungen des pſychiſchen
Lebens mit den Eigenſchaften eines Räumlichen und Körperlichen
aus, folgern ſo den Beſtand einer Seelenſubſtanz, und aus dieſem
erſchließen ſie die Unſterblichkeit. Wird die Beweisführung insbe-
ſondere durch die arabiſchen Peripatetiker ſeiner und mannig-
faltiger entwickelt, ſo wird doch zugleich ihr Ausgangspunkt auf eine
für die Beweiskraft nachtheilige Weiſe verſchoben. Man geht nicht
von den Thatſachen des Wahrnehmens und Vergleichens, ſondern
von denen einer abſtrakten Wiſſenſchaft und der in ihr gegebenen all-
gemeinen Begriffe aus. Dies kann an den wichtigſten der arabiſchen
Beweiſe feſtgeſtellt werden, welche in der ausgezeichneten Darſtellung
der Destructio destructionum bei Ibn Roſchd zuſammengeſtellt ſind.
Der Hauptgrund iſt hier: die abſtrakte Wiſſenſchaft iſt untheilbare
Einheit und kann ſonach nur einem Subjekt zukommen, das
ebenfalls untheilbare Einheit iſt2). Im Abendlande kehren
dieſelben Gründe wieder, es muß eine untheilbare Seelenſubſtanz
geben, das Untheilbare iſt aber unzerſtörbar3). Sie wurden dann
durch ſolche von einem anderen Charakter ergänzt4). Die ſittliche
[401]Das Mittelalter bildet ihn fort.
Ordnung fordert Strafen, dieſe treten aber im Dieſſeits nicht
regelmäßig ein; wir finden in uns ein natürliches Streben nach
Glückſeligkeit und dieſes muß zur Befriedigung gelangen; aus dem
teleologiſchen Zuſammenhang der Welt in Gott folgt, daß die
Schöpfung in ihr Prinzip zurückkehren muß, und wie ſie von
dem göttlichen Intellekt ausging, erreicht ſie in geiſtigen Weſen
ihren Abſchluß1).
Die Beweiskraft des Schluſſes auf den Beſtand immaterieller
Subſtanzen iſt während des Mittelalters unerſchüttert geblieben.
Denn die dogmatiſchen Naturbegriffe der mittelalterlichen Meta-
phyſiker boten ein Fundament für die Folgerung auf ein von der
Natur unterſchiedenes Geiſtige. Dagegen iſt der weitere Schluß auf
die individuelle Fortdauer der Einzelſeelen ſchon von mittelalter-
lichen Denkern als unhaltbar erkannt worden. Wie im Morgen-
lande Ibn Roſchd die individuelle Unſterblichkeit in Frage ſtellte,
ſo gingen auch im chriſtlichen Abendlande Amalrich von Bena und
David von Dinanto, wahrſcheinlich unter dem Einfluß arabiſcher
Lehren, zur Leugnung der perſönlichen Fortdauer fort. Und
zwar zogen ſie die Konſequenz der Vernunftwiſſenſchaft, wenn ſie
in dem Sein, das dem höchſten Begriff entſpricht, die Diffe-
renzen der Gattungen, Arten und Individuen gleichſam nur ein-
gezeichnet vorſtellten und ſo jedes Einzeldaſein ihnen nur die vor-
übergehende Modifikation derſelben Subſtanz war. Und Duns
Scotus bedient ſich zwar einer der oben dargelegten verwandten
Betrachtungsweiſe, um jede Art materialiſtiſcher Vorſtellung abzu-
wehren, aber er erkennt bereits nicht mehr an, daß die individuelle
Fortdauer aus ihr folge2).
Das Mittelalter hat, entſprechend ſeinem geringeren Intereſſe
für die wiſſenſchaftliche Durchbildung der Begriffe von der Wirk-
Dilthey, Einleitung. 26
[402]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
lichkeit, das Syſtem der kosmologiſchen Sätze nur höchſt un-
vollkommen entwickelt, und was es dem Erwerb des Alter-
thums zufügte, war ein aus dem Intereſſe an der transſcendenten
Welt ſtammendes Problem. Denn die Antinomien, welche die
Kritik der Eleaten, Sophiſten und Skeptiker in der Weltvor-
ſtellung aufgezeigt hatte, wie räumliche Endlichkeit und räumliche
Unendlichkeit, Stätigkeit der äußeren Wirklichkeit und Zerlegbarkeit
in diskrete Theile, wurden nun vergeſſen oder die Schärfe ihrer
Begriffe wurde abgeſtumpft. Dagegen trat diejenige hervor, welche
den Angelpunkt aller Kämpfe des ſpäteren Mittelalters um die
verſtandesmäßige Begründung der chriſtlichen Gottesidee bildet.
Dies iſt die Antinomie zwiſchen dem Theorem von der Ewigkeit
der Welt und dem von der Schöpfung d. h. dem Urſprung der
Welt in der Zeit aus dem bloßen Willen Gottes. Die Folge-
richtigkeit des Weltzuſammenhangs nach den der Außenwelt an-
gehörigen Verhältniſſen der Bewegungen zu einander, deren Re-
präſentanten Ariſtoteles und Ibn Roſchd, der Ariſtoteles der
Araber, waren, fand ſich in Widerſpruch mit der chriſtlichen
Glaubenswelt, und dies war der wichtigſte Theil des ſogenannten
Kampfes zwiſchen Glaube und Unglaube im Mittelalter.
3. Innerer Widerſpruch der mittelalterlichen
Metaphyſik, der aus der Verknüpfung der Theologie
mit der Wiſſenſchaft vom Kosmos entſpringt.
Charakter der ſo entſtehenden Syſteme.
Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa
entſprungen war, der andere im Morgenlande, iſt die mittelalter-
liche Metaphyſik hervorgegangen. Indem ſie in dieſem Stadium
ihre Aufgabe vollſtändiger umfaßte, machte ſich in ihr die An-
tinomie zwiſchen der inneren Erfahrung und dem Vorſtellen, dem
Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Dieſe Antinomie
erſcheint nun als Widerſpruch zwiſchen dem Zuſammenhang der
Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus feſt-
geſtellt wird, und der moraliſch-religiöſen Weltordnung, deren
[403]Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik.
Gewißheit von den inneren Erfahrungen des Willens aus in der
Menſchheit entſtanden iſt und unzerſtörbar aus ihnen immer neu
hervorwächſt. Die Antinomie war auf dem Standpunkt der natür-
lichen Weltanſicht, wie ihn Ariſtoteles begründet hatte und die
Scholaſtik einnahm, nach welchem die eine wie die andere Welt-
ordnung ein objektiver Zuſammenhang iſt, unauflösbar. Bald
bewirkte ſie die Ausbildung von Satz und Gegenſatz in den ver-
ſchiedenen Schulen, bald arbeitete ſie in den einzelnen Syſtemen
ſelber, dieſelben durch Widerſprüche zerſetzend. Sie geſellte ſich nun
zu den Widerſprüchen, an denen die Wiſſenſchaft vom Kosmos und
die Theologie bereits litten, und ſo trat der allgemeine durch An-
tinomien beſtimmte Charakter der mittelalterlichen
Metaphyſik immer klarer hervor. Er äußerte ſich in der Form
ihrer Darſtellung und löſte jedes Syſtem in Quäſtionen auf, in
denen Satz und Gegenſatz ſich an allen Stellen bekämpften. Und
der Hauptwiderſpruch kam an ganz verſchiedenen Punkten des
mittelalterlichen Syſtems wie ein geheimer Schaden im Blute zum
Vorſchein, in dem Streit zwiſchen dem Willen Gottes und ſeinem
Verſtande, zwiſchen der ewigen Welt und der Schöpfung aus
Nichts, zwiſchen den ewigen Wahrheiten und der Oekonomie des
Heils. Ja er erſtreckte ſich in ſeinen Wirkungen ſchließlich in die
Konſtruktion des großen geſellſchaftlichen Dualismus der mittel-
alterlichen Welt.
Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des göttlichen
Intellekts und der Vorſtellung des göttlichen
Willens.
Die Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft, wie ſie in Ariſto-
teles ihren Abſchluß gefunden, hatte die Gottheit als „Denken
des Denkens“ beſtimmt. In Ariſtoteles verkörperte ſich für das
Mittelalter die Theſis, nach welcher die Welt, wie ſie in der
äußeren Erfahrung gegeben iſt, einen dem Denken angemeſſenen
Zuſammenhang bildet, welcher als Gedankenmäßigkeit, Zuſammen-
ſtimmung, Zweckmäßigkeit erkannt und auf eine höchſte Intelligenz
zurückgeführt wird.
26*
[404]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Die Peripatetiker des Islam ſtanden, wie wir ſahen,
in Zuſammenhang mit der älteren peripatetiſchen Schule und
unter dem Eindruck der fortſchreitenden Naturerkenntniß. Sie zogen
aus der Art, wie vom Studium der Außenwelt aus der meta-
phyſiſche Zuſammenhang erſcheint, eine Folgerung, welche die Ver-
nunftwiſſenſchaft des Ariſtoteles einen Schritt weiter, Spinoza und
dem modernen intellektualiſtiſchen Pantheismus entgegen führte1).
Verbleibt man innerhalb des Studiums der äußeren Wirklich-
keit, ſo gilt das: ex nihilo nihil fit2). Von dieſer Voraus-
ſetzung aus hält Ibn Roſchd an der ariſtoteliſchen Ewigkeit der
Welt feſt. Der gedankenmäßige Zuſammenhang dieſer ewigen
Welt ſteht nun mit dem Verſtande Gottes und zugleich mit dem
menſchlichen Intellekt in Beziehung. Dies für die Vernunftwiſſen-
ſchaft grundlegende Verhältniß empfängt bei den arabiſchen Peripa-
tetikern, insbeſondere bei Ibn Roſchd eine geänderte Faſſung, indem
der letztere nach dem Vorgang des Ibn Badja die menſchlichen
Einzelintelligenzen nicht von einander trennt, ſondern als in dem
univerſellen Verſtande enthalten betrachtet. So entſteht die erſte
Formel deſſen, was dann als unendlicher Intellekt Gottes bei
Spinoza, als Weltvernunft in der deutſchen Spekulation erſcheint.
Dieſe Einheit des in der reinen Erkenntniß wirkſamen
Intellekts erſcheint unter einem beſtimmten Geſichtspunkt als
berechtigte Konſequenz der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft.
Abſtrahirt man von den Erfahrungen des Willens, ſo liegt
in dem iſolirt betrachteten Intellekt thatſächlich ein über das In-
dividuum hinausreichender Zuſammenhang, vermöge deſſen die
Prämiſſen des Denkens von Ariſtoteles in das Denken des Plato
[405]Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande.
und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-
gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un-
perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche
Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen
Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird
das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein
Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt
ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem
Willen.
Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis-
mus der arabiſchen Peripatetiker, wie er in Ibn Roſchd ſeinen
Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wiſſens das Band
des Weltzuſammenhangs, und ſelbſt die Vereinigung der Seele
mit Gott vollzieht ſich ihm in der Wiſſenſchaft. Ihm fehlt da-
her, in folgerichtigem Zuſammenhang mit dem Grundgedanken
der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft, für die geiſtige Welt
ein Prinzip der Individuation1); da in der Materie
ein ſolches nur für die ſinnlichen Einzelexiſtenzen gegeben iſt.
Ja Ibn Roſchd iſt ſich der Eigenſchaften des Denkens,
welche die Akte deſſelben in verſchiedenen Individuen innerlich
zu Einem Vernunftzuſammenhang verbinden, ſehr klar bewußt.
Er ſchließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu
ſeinem Gegenſtande hat, es müſſe ſelber ewig ſein2). In dem
über Entſtehung und Untergang der Individuen hinausgreifen-
den Zuſammenhang der Wiſſenſchaft iſt das Auftreten dieſes
oder jenes Denkers nur zufällig, der Verſtand ſelber iſt ewig3).
[406]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Der einheitliche Verſtand entſpricht der Selbigkeit der Vernunft-
wahrheit in den vielen Individuen1). Nur ſo iſt erklärbar,
daß der Intellekt das Allgemeine, und zwar nicht im Verhält-
niß einer durch die Materie ihm zufallenden endlichen Stellung
in der Körperwelt, zu erkennen vermag2). Daher iſt die menſch-
liche Wiſſenſchaft als in ſich zuſammenhängendes Ganze ein in
Gott gegründeter, nothwendiger und ewiger Beſtandtheil der
Weltordnung. Sie iſt unabhängig von dem Leben des einzelnen
Menſchen. Ex necessitate est, ut sit aliquis philosophus
in specie humana3). — Innerhalb dieſer panlogiſtiſchen Ver-
faſſung des Syſtems tritt von Neuem bei Ibn Roſchd die
pantheiſtiſche Konſequenz derjenigen Vernunftwiſſenſchaft hervor,
welche die Gedankenmäßigkeit der Welt in dem realen Zuſammen-
hang der Gattungen und Arten ſieht. Ibn Roſchd’s Lehre von
dem ewigen und univerſellen Verſtande entſprang näher aus der
ariſtoteliſchen Anſicht von den Prinzipien der Individuation. Das
Einzelweſen beſteht aus Stoff und Form; nun iſt Stoff den
Geiſtern oder Seelen nicht beizulegen, ihre Form oder Weſenheit
aber iſt identiſch; ſonach müſſen ſie ſelber identiſch ſein4). — Und
dem entſpricht die Verſchiebung des Ausgangspunktes der Beweiſe
für die Unſterblichkeit, die wir in ſeiner Darlegung derſelben her-
aushoben. In der Vereinigung mit dem von Gott ausſtrahlenden
„wirkenden Geiſte“ beſteht diejenige Unſterblichkeit des Menſchen-
[407]Emanatiſtiſche Form des Panlogismus.
geiſtes, welche Ibn Roſchd als in der Vernunftwiſſenſchaft begründet
anerkennt1).
Was trennt dieſe Theorie noch von Spinozas unendlichem
göttlichen Intellekt oder von dem Panlogismus der deutſchen
Identitätsphiloſophie? Innerhalb des naturwiſſenſchaftlichen Den-
kens iſt es die aſtronomiſche Konſtruktion der Welt, welche Gott
räumlich von der Welt ſondert und den Bezirk der vollkommenen,
unveränderlichen Bewegungen noch von dem der Veränderlich-
keit, des Entſtehens und Vergehens ſcheidet. So entſteht bei den
arabiſchen Peripatetikern die emanatiſtiſche Form des Pan-
logismus, welche der pantheiſtiſchen vorausgeht. Das Schema
entſpringt, nach welchem einerſeits ein Bewegungsſyſtem ſich ab-
wärts in der Welt abſtuft, andrerſeits ein Wiſſen. Von der
Wiſſenſchaft Gottes ſtrahlt das Wiſſen aus und, dem Lichte gleich,
das in die trübe Atmoſphäre hineinſcheint, zerſtreut es ſich und
ſchwächt ſich ab, indem es von einem Weltkreiſe der Bewegung
zum andern ſich fortpflanzt. So trennen ſich in der emanatiſti-
ſchen Vorſtellung des Ibn Roſchd Intelligenzen von einander, bis
zu dem ſeparaten Intellekt abwärts, der im menſchlichen Denken
ſich der Seele verbindet. Das iſt der ganz vergängliche Theil
der berühmten Theorie des Ibn Roſchd vom geſonderten einheit-
lichen Intellekt, welche ſo viele Federn im chriſtlichen Abendlande
in Bewegung ſetzte.
Zwiſchen dieſer Wiſſenſchaft von dem gedanken-
mäßigen Zuſammenhang des Kosmos und der Lehre von
einem wirklichen Willen in Gott beſteht ein unauflösbarer
Widerſpruch. Der unerbittliche Scharfſinn des Ibn Roſchd
hat ihn erkannt und ſchließt den freien Willen in Gott durch folgende
Beweisführung aus2). Die Welt iſt entweder möglich in dem
[408]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Sinne, daß aus der Wahl Gottes auch andere Eigenſchaften der
Dinge hätten hervorgehen können, oder in ihr iſt ein höchſter Zweck
vermöge der angemeſſenen Mittel und in einem Zuſammenhang,
der nicht anders gedacht werden kann, verwirklicht. Nur in dem
letzteren Falle exiſtirt für uns ein vernünftiger Zuſammenhang,
der auf ein erſtes Denken führt. „Wenn man nicht einſieht, daß
es zwiſchen den Anfängen und den Zielpunkten in den hervor-
gebrachten Dingen Mittelglieder giebt, auf welche die Exiſtenz der
Zielpunkte gebaut iſt, ſo giebt es keine Ordnung und Reihenfolge,
und wenn es dieſe nicht giebt, ſo exiſtirt kein Beweis, daß dieſe
Weſen ein wollendes, wiſſendes Agens haben. Denn die Ordnung
und Anreihung und das Gegründetſein der Urſachen auf die
Wirkungen beweiſt, daß ſie von einem Wiſſen und einer Weisheit
abſtammen.“ Den gedankenmäßigen Zuſammenhang bis zu ſeinem
erſten Prinzip erkennen, iſt ihm hiernach, Gott erkennen, und
die Dinge als zufällig betrachten, heißt ihm Gott leugnen.
Auch ergiebt ſich die Unmöglichkeit der Wahlfreiheit in Gott
daraus, daß ſie in ihm einen Mangel, einen leidenden Zuſtand,
eine Veränderung vorausſetzen würde. Daher bedeutet der Wille
in Gott, daß die Vorſtellung des vollkommenſten Zweckes einen
nothwendigen Zuſammenhang der Verurſachung in Gott in Be-
wegung ſetzt. Und dies nennt Ibn Roſchd die Güte Gottes!
Stellt Thomas von Aquino hier wie überall nur ein
künſtliches Gleichgewicht zwiſchen den Sätzen und Gegenſätzen
her, mit welchen die Scholaſtik ringt1), ſo hat dagegen Duns
[409]Duns Scotus und die Antinomie zwiſchen Intellekt und Wille in Gott.
Scotus1) dieſe Antinomie mit klarem Bewußtſein aufgefaßt, und
er ſuchte ſie nicht wie Ibn Roſchd wegzuſchaffen, indem er den
Willen bei Seite brachte, ſondern ſein Syſtem bezeichnet den Punkt
im mittelalterlichen Denken, an welchem mit derſelben energiſchen
Schärfe des Geiſtes der verſtandesmäßige Zuſammenhang in der
Welt und das dem Verſtande ſich entziehende Walten der Freiheit
anerkannt werden. Daher iſt ſein Syſtem von dieſem Wider-
ſpruch in der Mitte zerriſſen. Der Beſtandtheil der Weltauffaſſung,
welcher einen gedankenmäßigen nothwendigen Zuſammenhang er-
kennt und ihn auf eine denkende Urſache zurückführt, iſt gänzlich ge-
trennt von dem anderen, welcher eine unableitbare Thatſächlichkeit,
die eben ſo gut anders ſein, und einen freien Willen, der wollen
oder nicht wollen kann, feſtſtellt und Beides auf ein Prinzip
des Willens zurückführt. Hiervon war die Bedingung, daß er
eine erſte gründliche Analyſe der Willensfreiheit vornahm; die-
ſelbe zieht ſich durch ſeine ganze ſchriftſtelleriſche Thätigkeit hin-
durch. Er ſtellt ſich dem Ariſtoteles ſelbſtändig gegenüber, welcher
das Problem des Unterſchieds von Wille und Denken nicht zu-
reichend behandelt habe2), und thut den Schritt zu klarem Erfaſſen
der ſich ſelbſt beſtimmenden Spontaneität3). Dieſe iſt
eine unmittelbar gegebene Thatſächlichkeit 4). Dieſelbe kann nicht
geleugnet werden; denn die Zufälligkeit des Weltlaufs iſt
augenſcheinlich, wer ſie beſtreitet, müßte gemartert werden, bis
er zugeſteht, es ſei auch möglich, daß er nicht gemartert würde;
dieſe Zufälligkeit weiſt aber auf eine freie Urſache. Die Thatſache
des freien Willens kann andrerſeits nicht erklärt werden; denn
[410]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
daß ſie der Auflöſung in Vernunftzuſammenhang unzugänglich iſt,
macht eben ihren Charakter aus. Sonach ſind das Denken in
Gott und der Wille in ihm zwei letzte Erklärungsgründe,
deren keiner auf den anderen zurückgeführt zu werden vermag1).
Zwar iſt der Intellekt die Bedingung des Willens, aber dieſer
letztere kann das was der Intellekt vorſtellt, wollen oder nicht
wollen, ganz unabhängig von jenem. So iſt in dem Syſtem des
Duns Scotus Dualismus der Ausdruck der Antinomie, von
welcher es bewegt iſt. Er hat dieſe Antinomie ſo durchſchaut, daß
ſeine Begriffe nur in das Pſychologiſche und Erkenntnißtheoretiſche
umgedacht zu werden brauchen. Denn der Verſtand iſt nach ihm
eine natürliche und nach dem Geſetze der Nothwendigkeit wirkende
Kraft, in dem Willen, aber nur in ihm allein, wird der nothwendige
Naturzuſammenhang überſchritten, und zwar iſt der Wille eben
frei, ſofern hier das Aufſuchen einer ratio endet2). Schließlich hat
Duns Scotus die Annahme der vom Verſtande getrennten Frei-
heit in Gott bis zu dem Satze verfolgt, daß auch ſittliche Geſetze
ihm in dieſem Willkürakte Gottes allein begründet ſchienen.
So erkennt das Denken des Mittelalters die Unmöglichkeit,
ein inneres Verhältniß von Wille und Intellekt in dieſem höchſten
göttlichen Weſen (dem Abbilde des Gegenſatzes unſeres wiſſen-
ſchaftlichen Denkens des Kosmos und unſerer Willenserfahrungen
in ungeheurem Maßſtabe) zu entwerfen; denn es kann weder
Wille in Gott noch Verſtand in ihm leugnen, es vermag auch
nicht eins dem andern unterzuordnen und am wenigſten kann
es ſie koordinirt nebeneinander ſtellen, als letzte objektive und
einander heterogene Thatſachen, wie Duns Scotus gethan hatte.
Und wie in Ibn Roſchd die eine Seite dieſer antinomiſchen
Weltordnung einſeitig entwickelt worden war, ſo finden wir in
[411]Occam und die Theorie des Willens.
dem Fortgang der Metaphyſik des chriſtlichen Abendlandes ins-
beſondere durch Occam die andere in ihre letzten Konſequenzen
fortgeführt1). Jene mußte im weiteren Verlauf in dem Panlo-
gismus endigen, dieſe mußte die Metaphyſik zerſtören und
der inneren Erfahrung ſowie dem in ihr gegebenen Willen
Raum machen. Iene führt zu Spinoza und Hegel, dieſe zu den
Myſtikern und Reformatoren. Indem aber in der Metaphyſik
ſelber das Prinzip des Willens, ja der Willkür geltend gemacht
wird, zerſetzt der hierin liegende Widerſpruch zwiſchen der Form
und dem Inhalt die Metaphyſik, deren Weſen deduktive Folge-
richtigkeit iſt, und er erſcheint in Occam und ſeinen Schülern als
Frivolität und als Flucht in ein ſupranaturales asylum ignoran-
tiae, während zugleich ein tiefer Ernſt in der Behauptung des
großen Prinzips der Willensperſönlichkeit und ihrer freien Macht
gegenüber aller Autorität und aller leeren Abſtraktion in Occam
ſich geltend macht.
Indem Occam ſo die Antitheſis der Antinomie ebenſo ein-
ſeitig entwickelte, wie Ibn Roſchd die Theſis ausgebildet hatte,
empfing nunmehr der Nominalismus einen Lebens-
gehalt. Dieſer hatte in Roscellinus mit unfruchtbarer Negativität
die Begriffe, welche ein Allgemeines oder ein Ganzes ausſprechen,
verneint, während gerade auf den letzteren die ganze theologiſche
Dogmatik als Lehre von der Oekonomie des Heils beruhte. Jetzt
wirkte das Prinzip der Erfahrung, welches bisher nur eine
unfruchtbare Erinnerung des Alterthums und ein todtes Spiel
des Verſtandes geweſen war, poſitiv und aufbauend. Es hat in
Roger Bacon das Studium der Außenwelt, in Occam die ſelb-
ſtändige Betrachtung der inneren Erfahrung begründet. Occam
iſt die mächtigſte Denkerperſönlichkeit des Mittelalters ſeit Au-
guſtinus. Wie er die Independenz des Willens verkündete, ſo
hat er ſie auch kämpfend in ſeinem Leben dargeſtellt. Ihn be-
[412]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſeelt das moderne Prinzip der unabhängigen Willensmacht der
Perſon. Das Objekt des Wiſſens ſind die Einzeldinge; die allge-
meinen Begriffe Zeichen; das Band zwiſchen ihnen und dem gött-
lichen Intellekt, das alle Vernunftwiſſenſchaft zuſammengehalten
hatte, iſt zerriſſen; und die praktiſche Theologie ſelber wird zerſetzt
von dem Gegenſatz der ſcholaſtiſchen Verſtandeserörterung als ihrer
Form, und der Willenserfahrung als ihres Inhaltes.
Als Luther, ein eifriger Leſer Occam’s, die Independenz
der Erfahrungen des Willens ausſprach und den perſönlichen
Glauben von aller Metaphyſik auch in Bezug auf die Form ſon-
derte, da war die Metaphyſik des Mittelalters durch eine freiere
Geſtalt des Bewußtſeins abgelöſt. Aber ſo langſam arbeitet die
Wahrheit in der Geſchichte, daß die altproteſtantiſche Dogmatik
wie in einem Schattenſpiel die Begriffe der mittelalterlichen theo-
logiſchen Metaphyſik wieder erſcheinen ließ. Die Gedankenmäßigkeit
der äußeren Welt iſt die Grundvorausſetzung der Wiſſenſchaft, und
das Syſtem der Erſcheinungen nach dem Satze vom Grunde iſt
ihr Ideal; wo aber die Erfahrungen des Willens und des Ge-
müths beginnen, hat eine ſolche Erkenntniß keine Stelle mehr.
Antinomie zwiſchen der Ewigkeit der Welt und
ihrer Schöpfung in der Zeit.
Die Antinomie, welche die mittelalterliche Metaphyſik im Inner-
ſten zerreißt, ſetzt ſich in die Auffaſſung des Verhältniſſes Gottes zur
Welt fort. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos iſt die Welt ewig, der
Erfahrung des Willens Schöpfung aus Nichts in der Zeit. Die
arabiſchen Peripatetiker ſind die Repräſentanten der erſteren Lehre,
und wie die Leugnung der Unſterblichkeit hat die Ueberzeugung von
der Ewigkeit der Welt und der Unabhängigkeit der Materie dem
abendländiſchen Mittelalter die Geſtalt des Ibn Roſchd zu einem
Typus des metaphyſiſchen Unglaubens gemacht. Von Albertus ab
bekämpft die abendländiſche Metaphyſik dieſe Ueberzeugung mit
einleuchtenden Gründen. Sie verſucht ihrerſeits vergeblich, die
[413]Ewigkeit der Welt und Schöpfung aus Nichts.
Schöpfung der Welt aus Nichts in der Zeit vorſtellig zu machen
und in einer Wiſſenſchaft vom Kosmos ihr einen Platz zu be-
ſtimmen.
Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war innerhalb
der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft nothwendig1). Es giebt innerhalb
der kosmiſchen Anſchauung von dem Syſtem der Bewegungen
keinen Weg zu dem Gedanken eines bewegungsloſen Zuſtandes
oder gar zu dem einer Abweſenheit der Materie: dieſes Syſtem
muß als ewig gedacht werden. Der Satz: aus Nichts wird Nichts
fordert die Ewigkeit der Welt und ſchließt jede Schöpfungslehre
aus2).
Die chriſtliche Schöpfungslehre war der vorſtellungs-
mäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transſcendenz des
Willens gegenüber der Naturordnung, wie ſie in dem Vermögen,
ſein Selbſt aufzuopfern, ihre höchſte Erfahrung hat. Sie ver-
neinte den Naturprozeß als Welterklärung, mochte er emanatiſtiſch
oder naturaliſtiſch gedacht werden3), ſowie die Einſchränkung des
göttlichen Vermögens durch eine Materie. Aber ſie vermochte ihren
poſitiven Gehalt nur durch die für die Vorſtellung unvollziehbaren
Formeln: „ex nihilo“, „nicht aus dem Weſen Gottes“, „in der
Zeit“ auszudrücken4).
Aus dem Gegenſatz dieſer beiden Begriffe entſteht eine
Antinomie, ſofern das religiöſe Bewußtſein die Beziehung Gottes
[414]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
zur Welt irgendwie zu erkennen ſich auf dem unkritiſchen Stand-
punkt genöthigt findet. Denn unter den Bedingungen des Vor-
ſtellens und Erkennens muß die Welt entweder ewig oder in
der Zeit entſtanden und entweder aus der Materie geformt oder
aus Nichts geſchaffen gedacht werden. Und zwar kann jedes
dieſer beiden Glieder durch Aufhebung des anderen geſetzt werden.
Das Ringen des Mittelalters mit dieſer Anti-
nomie ſtellt ſich darin dar, daß Satz wie Gegenſatz durch ent-
ſcheidende Gründe vernichtet werden, aber die Verſuche einer
befriedigenden poſitiven Aufſtellung vergeblich ſind. Dieſer Streit
beſteht ſeit dem Anfang des achten Jahrhunderts zwiſchen den
arabiſchen Theologen und Philoſophen, aber insbeſondere die
Epoche von Ibn Roſchd, Albertus Magnus und Thomas von
Aquino iſt erfüllt von ihm. — Einerſeits wird die Exiſtenz der
Materie und die Ewigkeit der Welt von der chriſtlichen Phi-
loſophie widerlegt. Langſam war die Lehre von der Formung
der Materie ſeit Ibn Sina bei den arabiſchen Peripatetikern her-
angewachſen; in Ibn Roſchd empfing ſie ihre härteſte Form,
da nach ihm in der Materie die Formen keimartig liegen und
durch die Gottheit hervorgezogen werden (extrahuntur), und
wie dieſe Lehren in’s Abendland dringen, nimmt Albertus den
Kampf gegen ſie auf. Die Unmöglichkeit der Ewigkeit der Welt
wird von Albertus daraus erwieſen, daß von dem gegenwärtigen
Zeitmoment ab rückwärts nicht eine unendliche Zeit verfloſſen
ſein kann, da ſonſt dieſer Zeitmoment nicht eintreten konnte1).
[415]Das Ringen mit dieſer Antinomie.
Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus
gezeigt, daß ſie Gott einſchränken und ſonach ſeine Idee aufheben
würde. — Andrerſeits weiſen die Araber nach, daß in dem Zu-
ſammenhang der natürlichen Weltanſicht die Schöpfung nicht ge-
dacht werden kann. Denn, wie Ibn Roſchd richtig folgert, die
Entſtehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grundſatz der Wiſſen-
ſchaft: ex nihilo nihil fit auf. Eine Veränderung, für welche
von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus
einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden1).
Vertheidigen ſich Albertus und Thomas hiergegen durch die
Unterſcheidung des natürlichen Bewegungsſyſtems und der trans-
ſcendenten Urſache2): ſo ſind wir hier bei einem Uebergang aus
dem Ueberſinnlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher
ſich der Vorſtellbarkeit entzieht. Daher denn ſchon von Thomas
ab die Schöpfung dem Glauben überlaſſen und von der Metaphyſik
ausgeſchloſſen wurde.
Eine andere Antinomie iſt mit dieſer verknüpft, führt aber
bereits in die metaphyſiſche Behandlung der Geiſteswiſſenſchaften.
In Gottes Verſtande iſt die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten
und in der Form des Allgemeinen gegeben, in ſeinem Willen
als Geſchichte, und in dem Zuſammenhang derſelben iſt es gerade
die einzelne Perſon, auf welche der göttliche Wille ſich bezieht.
Dieſe Antinomien können in keiner Metaphyſik
aufgelöſt werden.
So entſteht der innerlich widerſpruchsvolle Charakter der
mittelalterlichen Metaphyſik. Der objektive und denknothwendige
1)
[416]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willen
in Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung
aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft
ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form
eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und
eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber-
ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre
Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen-
hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken.
Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel-
thatſachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken-
den Ideenzuſammenhangs in einem Willen Beſtand haben, der
lebendige Geſchichte iſt, deſſen Vorſehung auf das Einzelne ſich
richtet und deſſen Thaten Einzelrealität ſind? Mit formaler Ge-
ſchicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag
dieſer Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er
erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher
auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können1), und da-
mit iſt der denknothwendige metaphyſiſche Zuſammenhang ſo weit
aufgehoben, als dieſer freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu-
ſammenhang ausſchließt. — Und entſteht weiter die Aufgabe, Ver-
ſtand und Willen in Gott, dieſe ſich befehdenden Abſtraktionen,
in einen pſychologiſchen Zuſammenhang zu ſetzen, ſo finden wir
eine ſolche Vorſtellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete
Analogie des menſchlichen Bewußtſeins geleitet; romanhafte Spiegel-
bilder unſeres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in’s Große,
treten uns gegenüber. So gewiß die Perſönlichkeit Gottes in
unſerem Leben als Realität gegeben iſt, weil wir uns ſelbſt ge-
geben ſind, ſo gewiß können wir doch nur durch eine ſpielende
Uebertragung in die Gottheit uns verſetzen, wobei dann der Wider-
[417]Die Widerſprüche der mittelalterlichen Metaphyſik ſind unauflöslich.
ſpruch zwiſchen einem ſolchen von uns erſonnenen Weſen und
dem Schöpfer Himmels und der Erde hervortritt. Eitle Träume! —
Occam läßt für den rationalen Zuſammenhang keinen Schlupf-
winkel in Gott übrig.
Wie ſollte, nachdem die Allgemeinbegriffe als Schöpfungen
der Abſtraktion anerkannt ſind, ein Daſein derſelben in Gottes
Verſtande abgeſondert von dem Willen, als dem Erklärungsgrund
der einzelnen Dinge, gedacht werden können? Eine ſolche An-
nahme wiederholt nur den Irrthum von einem Syſtem der Ge-
ſetze und Ideen, welches, der Wirklichkeit vorausgehend, dieſer ſeine
Gebote auflege. Geſetze ſind nur abſtrakte Ausdrücke für eine
Regel der Veränderungen, Allgemeinbegriffe Ausdrücke für das im
Kommen und Gehen der Objekte Verharrende. Verlegt man
dagegen den Urſprung dieſes Syſtems von Ideen und Geſetzen in
die That Gottes, ſo entſteht der andere Widerſinn, daß der Wille
Wahrheiten ſchafft. Es giebt eben hier keine metaphyſiſche, ſondern
nur eine erkenntnißtheoretiſche Auflöſung. Die Provenienz deſſen,
was ich Ding, Wirklichkeit nenne, iſt eine andere als die Pro-
venienz deſſen, was ich als Begriffe und Geſetze, ſonach als Wahr-
heiten im Denken entwickle, zu dem Zwecke entwickle, dieſe Wirk-
lichkeit zu erklären. Indem ich von dieſer Verſchiedenheit des pſy-
chologiſchen Urſprungs ausgehe, kann ich zwar die Schwierig-
keiten nicht auflöſen, aber ihre Unauflösbarkeit erklären und die
Frageſtellung, in der ſie entſtanden, als eine unrichtige nachweiſen.
Wie ſollte der Streit, ob Gott die Welt, wie ſie iſt, ge-
ſchaffen, weil ſie ſo gut iſt, oder ob ſie gut iſt, weil er ſie ſo
ſchuf, geſchlichtet werden können? Jede Erörterung dieſer Fragen
ſetzt einen Gott, der will, aber in dem das Gute noch nicht iſt,
oder einen ſolchen, in dem die intelligible Welt des Guten iſt,
der aber noch nicht will. Weder jener noch dieſer iſt ein wirk-
licher Gott, und ſo iſt dieſe Metaphyſik nur ein Spiel der Ab-
ſtraktionen.
Dilthey, Einleitung. 27
[418]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Siebentes Kapitel.
Die mittelalterliche Metaphyſik der Geſchichte und Geſellſchaft.
Die Metaphyſik des Mittelalters erwies in ihrer klaſſiſchen
Zeit, daß die menſchlichen Seelen immaterielle unſterbliche Sub-
ſtanzen ſind. Als dann mit Duns Scotus die Beweisbarkeit der
Unſterblichkeit beſtritten zu werden begann, blieb die Erörterung
hierüber eine Streitfrage der Schulen und gewann auf die Ueber-
zeugungen keinen Einfluß; die Leugnung individueller Fortdauer
iſt nur in dem engen Kreiſe radikaler Aufklärung aufgetreten,
welcher vorwiegend unter arabiſchem Einfluß ſtand. So ſind im-
materielle Subſtanzen verſchiedener Art für den mittelalterlichen
Menſchen ein metaphyſiſches Reich; Engel, böſe Geiſter und
Menſchen. Sie bilden unter Gott als ihrem Haupte eine Hie-
rarchie der Geiſter, deren Rangordnung ſich in der vor der Mitte
des ſechſten Jahrhunderts unter dem Namen des Dionyſius Areo-
pagita aufgetauchten Schrift von der himmliſchen Hierarchie mit
Reinlichkeit beſchrieben und feſtgeſtellt fand. Dieſe Hierarchie er-
ſtreckt ſich von dem Throne Gottes bis zu der letzten Hütte und
bildet die ungeheure für den mittelalterlichen Geiſt greifbare Rea-
lität, welche allen metaphyſiſchen Spekulationen über die Geſchichte
und die Geſellſchaft zu Grunde lag.
Es beſtand kein Bedenken mehr, die metaphyſiſche Be-
weisführung auf dieſe geiſtige und geſellſchaftliche Welt
auszudehnen. Thomas von Aquino erwies vermittelſt der
von den Neuplatonikern zuerſt ausgeführten Gründe, umfaſſender
aus dem teleologiſchen Zuſammenhang der Welt in Gott, daß ein
Reich endlicher Geiſter beſteht und die Schöpfung in ihm zu ihrem
Prinzip zurückkehrt: wie ſie von dem göttlichen Intellekt ausging,
ſo muß ſie in geiſtigen Weſen ihren Abſchluß erreichen1). Ja
er leitet durch ein weiteres metaphyſiſches Schlußverfahren die
[419]Das metaphyſiſche Reich immaterieller Subſtanzen.
Gliederung der Geiſterwelt ab, nach welcher Gott getrennt iſt vom
Reiche der Engel, dieſes von dem der menſchlichen Seelen 1). Und
ſo hat die mittelalterliche Philoſophie eine vollſtändige Metaphyſik
der geiſtigen Subſtanzen geſchaffen, die lange in dem Denken der
europäiſchen Völker ihre Macht behauptet hat, auch nachdem ſeit
Duns Scotus die Angriffe gegen ſie beſtändig an Ausdehnung
und Gewicht zunahmen.
Wir nähern uns der erhabenen Konception des Mittelalters,
welche nun der Metaphyſik der Natur als der Schöpfung des
griechiſchen Geiſtes zur Seite trat. Sie beſteht in der auf die
Lehre von den geiſtigen Subſtanzen gegründeten Philoſophie der
Geſchichte und Geſellſchaft. Wie vielfach auch das mittelalter-
liche Denken von dem der alten Völker abhängig geweſen iſt: hier
iſt es ſchöpferiſch, und die am meiſten auffälligen Züge in der
politiſchen Thätigkeit des mittelalterlichen Menſchen ſind durch dieſes
Syſtem von Vorſtellungen mitbedingt; mag man nun den theo-
kratiſchen Charakter der mittelalterlichen Geſellſchaft betrachten oder
die Macht der Kaiſeridee in derſelben oder die der Einheit der
Chriſtenheit, wie ſie am gewaltigſten in den Kreuzzügen hervor-
tritt. So zeigt ſich von neuem, wie bedeutend die Funktion
geweſen iſt, welche die Metaphyſik innerhalb der europäiſchen
Geſellſchaft auszuüben hatte. Es wird zugleich ſichtbar, wie vor
ihr, während ſie voranſchritt, eine unlösbare Antinomie nach der
anderen ſich aufthat, da ſie doch keine wirklich gelöſt hinter ſich
zurückließ. Sie gleicht den ſagenhaften Helden, welche, je mehr ſie
ringen, um ſo feſter ſich in Banden verſtrickt finden.
Die geiſtigen Subſtanzen, welche das Reich Gottes bilden,
werden von dieſer Metaphyſik in ihrem Mittelpunkt, als Willen,
gefaßt und ſo beſteht nach ihr das menſchliche und geſchichtliche
Leben in dem Zuſammenwirken des Wollens dieſer ge-
ſchaffenen Subſtanzen mit der göttlichen Providenz,
welche in ihrer Willensmacht ſie alle ihrem Ziele entgegenführt.
27*
[420]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Dieſes Schema des Lebens iſt von der Betrachtungsweiſe der Alten
ganz verſchieden. Dieſelben hatten an dem Kosmos ihre Auf-
faſſung der Gottheit gebildet, und ſelbſt ihre teleologiſchen Syſteme
kannten nur eine Gedankenmäßigkeit des Weltzuſammenhangs. Hier
tritt Gott in die Geſchichte und lenkt die Herzen zur Verwirklichung
ſeines Zweckes. Daher wird hier der Begriff der Gedankenmäßig-
keit der Welt durch den der Verwirklichung eines Planes in ihr
erſetzt, für welchen jene ganze Gedankenmäßigkeit nur Mittel, nur
Apparat iſt. Ein Ziel der Entwicklung ſteht feſt und ſo empfängt
der Gedanke des Zweckes einen neuen Sinn.
Indem dieſer Plan Gottes mit der Freiheit des Menſchen
zuſammengedacht werden ſoll, tritt in den Mittelpunkt der chriſt-
lichen Metaphyſik der Geſchichte das Problem, welches durch die
Antinomie der Freiheit und eines objektiven den Menſchen
beſtimmenden Weltzuſammenhangs gebildet wird. Daſſelbe
entſpricht innerhalb der realen geſchichtlichen Welt dem, welches
wir während des Mittelalters in der Vorſtellung Gottes aus der
Antinomie zwiſchen dem denknothwendigen Zuſammenhang und
dem freien Willen hervortreten ſahen 1). Es hat von dem Gegen-
ſatz der griechiſchen und lateiniſchen Väter und dem pelagianiſchen
Streite ab mannichfache Formen angenommen. Aber ſo wenig
einſt das Verhältniß des Beſtandes der Ideen zu dem Daſein
der Einzeldinge hatte widerſpruchslos gedacht werden können, war
nun die innere Beziehung des ſchaffenden, erhaltenden und leiten-
den göttlichen Willens zu Freiheit, Schuld und Unglück menſchlicher
Willen der Aufklärung durch irgend eine begriffliche Zauberformel
fähig. Wie es dort unmöglich war, ein objektives und wider-
ſpruchsloſes Syſtem auf dem Begriff der Subſtanz aufzubauen,
ſo gelang es hier nicht, eine reale innere Beziehung zwiſchen den
Beſtandtheilen des Syſtems von Urſachen und Wirkungen, welche
für den Willen Raum gelaſſen hätte, dem Begriff der Kauſalität
abzugewinnen. Die Formel, zu welcher an dieſem Punkte das
metaphyſiſche Denken des Mittelalters gelangte, war die folgende.
[421]Die Antinomie in demſelben.
Alles Wirken eines endlichen Subjektes, ſei es ein Naturding
oder ein Wille, empfängt in jedem Augenblicke die Kraft zu ſeiner
Leiſtung von der erſten Urſache. Doch verhält ſich das Wirken
der endlichen Subſtanzen zu dem der erſten Urſache nicht einfach
wie das mittlere Glied einer Verkettung von Urſachen rückwärts
zur erſten Urſache oder Subſtanz. Die Wirkung, welche ein endliches
Geſchaffenes, ſonach auch der Wille, hervorbringt, iſt ganz bedingt
durch ſeine Beſchaffenheit und ebenſo ganz durch die der erſten Ur-
ſache. Das endliche Reale iſt in der teleologiſchen Ordnung gleich-
ſam ein Inſtrument in der Hand Gottes, und dieſer verwendet es
der Natur dieſes Realen gemäß, wenn auch in ſeinem Zweckzu-
ſammenhang. So gebraucht Gott den Willen des Menſchen ge-
mäß der Beſchaffenheit deſſelben, welche Freiheit einſchließt, und
in der Richtung ſeines letzten Ziels, welches die Aehnlichkeit mit
ihm ſelber, ſonach wiederum die Freiheit in ſich faßt 1). Aber
vergeblich verſuchen nun die Formeln, welche Thomas entwarf,
ſich hindurchzuwinden zwiſchen dem Deismus, welcher für Gott
etwa die Vollkommenheit der Leiſtung beanſprucht, welche dem
Erbauer einer Maſchine zukommt, ſodaß ſeine Welt nicht be-
ſtändiger Nachhilfe bedarf, und dem Pantheismus, nach welchem
aus der beſtändigen Erhaltung des geſammten Einzelweſens
auch die gänzliche Verurſachung aller von ihm ausgehenden
Wirkungen folgt. Widerſprüche quellen überall hervor, ſobald
man anſtatt erkenntnißtheoretiſch den Urſprung dieſer verſchiedenen
Beſtandtheile unſerer Vorſtellung vom Leben aufzuzeigen und ſo
die blos pſychologiſche Bedeutung dieſer Antinomie klarzulegen,
das Unvereinbare durch künſtliche Veranſtaltungen in Harmonie
bringen will. Kauſalzuſammenhang können wir nicht denken, wo
wir Freiheit denken. Eben ſo wenig können wir beide äußerlich
von einander abgrenzen. Und welche Art ſolcher äußerlichen Ab-
grenzung wir verſuchen mögen, dieſelbe vermag nicht die Schöpfung
der endlichen Weſen durch Gott in ſolcher Weiſe faßbar zu machen,
[422]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
daß Gott von der Urheberſchaft des Böſen freigeſprochen werden
könnte; ſie vermag nicht den Widerſpruch zwiſchen dem göttlichen
Vorherwiſſen und der Freiheit des Menſchen aufzulöſen.
Die veränderte Anſchauung des Reiches der Geiſter ſpiegelt
ſich in der von den chriſtlich gewordenen romaniſch-germaniſchen
Völkern geſchaffenen Dichtung des Mittelalters, in den ritterlichen
Epen ſo gut als in Dantes göttlicher Komödie. Nicht mehr in
ſich geſchloſſene Typen allein, welche gegeneinander in Wirkſamkeit
treten, erſcheinen in dieſer Dichtung, ſondern Geſchichte des Seelen-
lebens, insbeſondere des Willens, wie denn Auguſtinus ſagt:
immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt, alsdann Auf-
faſſung dieſer Geſchichte des Willens nach ihren Beziehungen zu
dem providentiellen Willen Gottes; in dieſer Auffaſſung iſt aber
ein ungelöſter Zwieſpalt zwiſchen der inneren freien Entwicklung
und dem dunklen Hintergrund von Kräften aller Art, die ihn
beeinfluſſen.
Das Reich der Einzelgeiſter verwirklicht nun einen
metaphyſiſchen Zweckzuſammenhang, welcher in der
Offenbarung ausgeſprochen iſt. Hierin ſtimmt das ganze
europäiſche Mittelalter überein, und nur die Frage, wie viel von
dieſem Inhalt aller Geſchichte in Begriffen erkannt werden kann,
wird ungleich entſchieden.
Die Metaphyſik des Verlaufs der Geſchichte und der Or-
ganiſation der Geſellſchaft hat während des Mittelalters ihre
letzten Gründe in dem Bewußtſein, daß der ideale Gehalt
dieſes Verlaufs und dieſer Organiſation in Gott angelegt, in
ſeiner Offenbarung verkündigt und nach ſeinem Plane in
der Geſchichte der Menſchheit verwirklicht iſt und ſich weiter ver-
wirklichen wird. Hiermit war gegenüber dem Alterthum ein Fort-
ſchritt von großer Bedeutung vollzogen. Das Zweckleben der
Menſchheit, wie es in den Syſtemen der Kultur ſich entfaltet und
durch die äußere Organiſation der Geſellſchaft wirkt, wurde als
ein einheitliches Syſtem erkannt und auf ein erklärendes Prinzip
zurückgeführt. So erlangte die Erkenntniß des inneren Zuſammen-
hangs in den Vorgängen der menſchlichen Geſellſchaft ein In-
[423]Der Eine Idealgehalt in ihm.
tereſſe, das von der Abſicht techniſcher Anweiſung für das Be-
rufsleben ganz unabhängig war 1). Dieſe Erkenntniß wurde jetzt
bald in der Zelle des Mönchs durch vertiefte Verſenkung in den
Gedanken von der Vorſehung Gottes geſucht, bald von den
Publiziſten der Kurie wie des kaiſerlichen Hofes im Dienſte der
Parteien verwerthet.
Aber war ſchon die Methode der ariſtoteliſchen Staats-
wiſſenſchaft darin ungenügend geweſen, daß ſie für die Zerglie-
derung nicht Kauſalbegriffe aus durchgebildeten weiter zurückliegenden
Wiſſenſchaften benutzen, ſonach die einzelnen Zweckzuſammen-
hänge, wie Wirthſchaftsleben, Recht, Religion etc. nicht durch
analytiſche Erkenntniß ſondern nur durch unvollkommene Vor-
ſtellungen von einer in der Phyſis angelegten Zweckmäßigkeit er-
klären konnte 2): das Mittelalter war noch viel weniger geneigt,
die Zuſammenhänge, wie ſie in den einzelnen Kulturſyſtemen ſich
darſtellen und ſchließlich der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
zu Grunde liegen, methodiſch zu zergliedern und die ſo gewonnenen
Theilinhalte der geſellſchaftlichen Wirklichkeit für die Erklärung zu
verwerthen. Zudem enthielt die geſellſchaftliche Wirklichkeit, wie
ſie ſich ihm darbot, die Inhaltlichkeit des geſchichtlichen
Lebens noch auf einer niederen Stufe von Diffe-
renzirung. Das Auge des Betrachters ſah damals in jedem
geiſtigen Inhalt den Zuſammenhang mit dem Geſetze Gottes oder
den Widerſtreit gegen daſſelbe. Religion, wiſſenſchaftliche Wahr-
heit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ ſelbſtändige
Zweckzuſammenhänge vom mittelalterlichen Denken aufgefaßt, ſon-
dern für dieſes war Ein Idealgehalt in ihnen, und erſt ſeine
Verwirklichung unter den Bedingungen der Natur und That des
Menſchen ſchien die Verſchiedenheit dieſer Lebensformen hervorzu-
bringen. So ſah man in Gott, ſofern er das Vernunftideal in
ſich enthält, den Quell des Naturrechtes, welches als eine bindende
Norm, und zwar die höchſte, folglich als wirkliches Recht aufgefaßt
[424]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
wurde 1). Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des geſchicht-
lichen Lebens nicht wie ſie in dieſem wirklich da iſt, als Recht,
Sittlichkeit, Kunſt etc. analyſirt und dargeſtellt, ſondern ſie wurde
in einförmiger und erhabener Unbeſtimmtheit in Gott aufgeſucht,
und alle nähere Erklärung wurde dem Syſtem von Bedingungen
anheimgegeben, unter welchen dieſer ideale Gehalt auf dem Schau-
platz der Erde ſich verwirklicht. So hat dieſe mittelalterliche Me-
taphyſik der Geſellſchaft das Problem der Geiſteswiſſenſchaften in
weltumſpannendem Geiſt geſtellt, aber anſtatt ſeiner methodiſchen
Auflöſung nur ein grandioſes theologiſches Schema der Gliederung
geſchichtlichen Lebens entworfen.
Daher beſitzt das Mittelalter kein anderes Studium der
allgemeinen Eigenſchaften des Rechts, der Sittlich-
keit etc. als dies metaphyſiſche. Und wie die Grundlegung
der Metaphyſik von dem Widerſpruch zwiſchen dem Willen
Gottes und dem nothwendigen Zuſammenhang des Kosmos in
ſeinem Verſtande, zwiſchen der Oekonomie des Heils und den
ewigen Wahrheiten innerlich zerriſſen wird, ſo ſetzt ſich derſelbe in
die Metaphyſik der Geſellſchaft fort. Die ſo entſtehende Antinomie
tritt zu der zwiſchen der menſchlichen Freiheit und der göttlichen
Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch ſie geſetzte
Inſtitution und Thatſächlichkeit ſind in bald verſchwiegenem bald
laut ausbrechendem Widerſtreit mit der Konſtruktion aus der Noth-
wendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende wird zeigen, daß
Wille und Plan Gottes der mächtigere Theil dieſer theologiſchen
Metaphyſik waren; wie ſie denn auch das letzte Wort behielten.
[425]Keine analytiſche Methode und keine Kauſalerkenntniß.
Von dem durch die Offenbarung vermittelten Bewußtſein des
Idealgehaltes von Weltlauf und Geſchichte geht nun das Licht
aus, welches dieſer mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft den
inneren Zuſammenhang der Weltgeſchichte erleuchtet.
Die Einheit der Weltgeſchichte liegt in dem Plane
Gottes. „Es iſt nicht zu glauben“, ſagt Auguſtinus, „daß Gott,
der nicht allein Himmel und Erde, nicht allein den Engel und
den Menſchen, ſondern auch das Innere des kleinen ſo leicht miß-
achteten Thieres, das Flügelchen des Vogels, die kleine Blüthe
des Graſes und das Blatt des Baumes ohne eine Angemeſſenheit
ihrer Theile und gleichſam eine friedliche Harmonie nicht hat laſſen
wollen, die Reiche der Menſchen, ihre Herrſchafts- und ihre Ab-
hängigkeitsverhältniſſe von der Geſetzgebung ſeiner Providenz hätte
ausſchließen wollen“ 1). Dieſer Zuſammenhang des Planes der
Vorſehung iſt in Anfang, Mitte und Ende durch die Offenbarung
feſtgeſtellt. Der Stammvater der Menſchen, in welchem alle fün-
digten, Chriſtus, in dem alle erlöſt wurden, und die Wiederkunft,
in der über alle gerichtet wird, ſind ſolche feſte Punkte, zwiſchen
denen nun die Deutung der Thatſachen der Geſchichte ihre Fäden
zieht. Dieſe Deutung iſt ausſchließlich teleologiſch. Die Glieder
des geſchichtlichen Verlaufs werden nicht als die einer Kauſal-
reihe, ſondern als die eines Planes betrachtet. Die Frage, welche
folgerecht an die einzelne geſchichtliche Thatſache geſtellt wird, iſt
nicht die nach ihrer urſächlichen Beziehung zu anderen Thatſachen
oder allgemeineren Verhältniſſen, ſondern die nach ihrer Zweck-
beziehung zu dieſem Plan. Daher bedienen ſich die mittelalter-
lichen Geſchichtſchreiber zwar des Pragmatismus zur Erklärung
der Handlungen der einzelnen Perſonen, aber die geſchichtlichen
Maſſenerſcheinungen treten ihnen niemals in einen kau-
ſalen Zuſammenhang. Dieſe Metaphyſik der Weltgeſchichte
ſucht in ihr als Erklärung ihres Zuſammenhanges einen Sinn,
wie wir einen ſolchen in dem Epos eines Dichters ſuchen.
[426]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Und zwar fand ſich das chriſtliche Nachdenken zunächſt zu
einer ſolchen teleologiſchen Deutung der Geſchichte durch die Ein-
wendungen der Gegner genöthigt. Daher entſtand dieſe Metaphyſik
der Geſchichte ſchon in der Epoche der Väter und des Ringens
zwiſchen Chriſtenthum, antikem Götterglauben und Judenthum
durch die Gewalt der Dinge und wurde vom Mittelalter nur fort-
gebildet. Warum, ſo fragten die Gegner des Chriſtenthums,
mußte das von Gott durch Moſes gegebene Geſetz verbeſſert werden,
da man doch nur verbeſſert, was ſchlecht gemacht worden iſt 1)?
Warum ſoll der Römer die religiöſen Ueberzeugungen, auf welchen
die Geſellſchaft beruht, und die gemeinſame Bildung, welche
die zur Humanität Erzogenen verbindet, verlaſſen 2)? Warum,
ſo fragten Celſus und Porphyrius in ihren Streitſchriften gegen
das Chriſtenthum gemeinſam, iſt es Gott erſt nach ſo langem
Verlauf der Geſchichte eingefallen, die Menſchen zu erlöſen 3)?
Und ſeitdem die Barbaren das römiſche Imperium zu bedrängen
begannen, ja die chriſtlichen Gothen Rom erobert und verwüſtet
hatten, entſtand die noch tiefer in die Deutung der weltlichen Ge-
ſchichte hineinführende Frage: iſt nicht das Chriſtenthum die Ur-
ſache aller neueſten Unglücksfälle des Imperiums, oder wie kann,
im Gegenſatz gegen die dahinzielenden Vorwürfe, dieſe ungeheure
politiſche Kriſis gedeutet werden 4)? Die erſten dieſer Fragen riefen
[427]Der einheitliche Zuſammenhang der Geſchichte.
eine Deutung der inneren Geſchichte der religiöſen und philoſo-
phiſchen Ideen hervor, welche in dem geſchichtlichen chriſtlichen
Bewußtſein ſchon angelegt war 1). Die letzte Frage zwang, das
römiſche Imperium in den Kreis dieſer metaphyſiſchen Betrach-
tung der Geſchichte zu ziehen, und zu ihrer Beantwortung traten
die erſten Entwürfe einer umfaſſenden Philoſophie der Geſchichte,
die Schrift des Auguſtinus über den Gottesſtaat und die Hiſtorien
ſeines Schülers Oroſius, hervor.
Ueber dieſen Räthſeln ſann der chriſtliche Geiſt, geſchichtlich
in ſeinem Weſen, zurückblickend auf nunmehr abgeſchloſſene Ge-
ſtalten des geiſtigen Lebens, die innerlich vergangen waren, und
zu univerſalhiſtoriſcher Betrachtung aufgeregt, da die Nacht der
Barbarenherrſchaft über das Imperium Romanum hereinzubrechen
ſchien. So entſtand die Löſung dieſer Räthſel durch den Ge-
danken einer inneren Entwicklung des Menſchenge-
ſchlechtes als einer Einheit in einer Stufenfolge, in
welcher jede frühere Stufe die nothwendige Bedingung der ſpä-
teren iſt. Die Stufen ſind nicht im Kauſalzuſammenhang als
Wirkungen bedingt, ſondern in dem Plane Gottes als Beſtand-
theile angelegt. Und der Gedanke des Fortgangs durch ſie ver-
bleibt in den Grenzen eines Schema, nach welchem der Fortſchritt
durch eine Anpaſſung der göttlichen Erziehung an die Zuſtände des
Menſchengeſchlechts bewirkt wird. — Tertullian betrachtet das
Menſchengeſchlecht in Rückſicht ſeiner religiöſen Erziehung als einen
einzelnen Menſchen, welcher in verſchiedenen Lebensaltern lernend und
voranſchreitend die nothwendigen Stufen ſeiner Entwicklung durch-
läuft. Der religiöſe Fortgang im Menſchengeſchlecht zeigt nach ihm
ein organiſches Wachsthum. Das Bild des Organismus, welches
als Leitfaden für das Verſtändniß des Verhältniſſes der Theile
zum Ganzen in der Geſellſchaft verwandt worden war, wird von
4)
[428]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ihm gebraucht, um die Art, wie hier das Frühere das Spätere
trägt und bedingt, aufzuklären 1). Dieſem Stufengang der Er-
ziehung hat Clemens vermittelſt ſeiner Lehre vom Logos auch
die griechiſche Philoſophie eingeordnet 2); jedoch hat eine ſo weit-
herzige Lehre keine Folgen für den nächſten Verlauf der Metaphyſik
der Geſchichte gehabt. Und Auguſtinus findet die Verände-
rungen, welche innerhalb der Offenbarungsreligion ſtattfinden, be-
dingt durch eine Entwicklung der Menſchheit, welche der Stufen-
folge der Lebensalter vergleichbar iſt 3). — So beherrſcht dieſe
und andere Kirchenväter dieſelbe Auffaſſung. Die Menſchheit iſt
eine Einheit, gleichſam Ein Individuum, welches eine Lebensent-
wicklung durchlaufen muß, dem aber, als einem Zögling, die Regel
dieſer Entwicklung vorherrſchend von dem planmäßig wirkenden
Erzieher kommt. Neben dieſer tieferen Gliederung der Geſchichte
der Menſchheit geht die mehr äußerliche Eintheilung her, welche
dieſelbe in den Schöpfungstagen entſprechende Weltalter zerlegt.
Dieſe Idee von dem inneren Zuſammenhang der Geſchichte
der Menſchheit, welche flüchtig und unfaßbar wie ſie war zwiſchen
den harten Thatſachen der Geſchichte ſchien zerfließen zu müſſen,
empfing feſten Umriß und Körperlichkeit durch den Zuſammen-
hang religiöſer und weltlicher Vorſtellungen, in
welchen ſie eintrat. In der Unabhängigkeit der religiöſen Er-
fahrung und des auf ſie begründeten religiöſen Gemeinlebens,
welches auch gegenüber der römiſchen Weltherrſchaft ſich aufrecht
erhielt und ſich im Gefühl ſeiner Unbeſiegbarkeit behauptete, war
die Trennung der religiöſen Sphäre der Geſellſchaft
[429]Kirche und Weltreich.
von der weltlichen begründet. Sie war zuerſt in der Entſchei-
dung Chriſti ausgeſprochen worden: gebet dem Kaiſer, was des
Kaiſers iſt, und Gott was Gottes iſt. Durch dieſe Trennung
wurden Geſetz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten
Philoſophie in der ſtoiſchen Schule geweſen waren, in eine
weltliche Ordnung der Geſellſchaft und einen religiöſen Zuſammen-
hang zerlegt. Dem entſprechend lehnte ſich nun die nähere Vor-
ſtellung von dem Zuſammenhang der Hiſtorie und der Geſell-
ſchaft an zwei geſchichtliche Vorſtellungskreiſe, deren
einer die Kirche, der andere das römiſche Weltreich, ſeine
Vorläufer und ſein Schickſal zum Gegenſtande hatte. Da dieſe
Geſellſchaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging,
konnte ſie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zuſammenhang
der Geſchichte deduciren, ſondern mußte aus den großen geſchicht-
lichen Bezeigungen dieſes Willens den Plan Gottes deuten. Die
ſpekulative Konſtruktion trat nur nachträglich zu dieſer religiöſen
Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Dieſe Deutung arbeitete
aber mit einem elenden Material. Der unwiſſenſchaftliche Charakter
des mittelalterlichen Geiſtes und die Herrſchaft des Aberglaubens
über denſelben kann nur aus ſeiner Stellung zu den geſchichtlichen
Thatſachen und zu der geſchichtlichen Tradition verſtanden werden.
Denn ihm ſtand eine abgekürzte und verfälſchte Ueberlieferung über
die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ur-
ſachen waren, die ihn zu einem ſo unkritiſchen Verhalten beſtimmt
haben. Und indem dieſe ſeine Lage gegenüber den hiſtoriſchen
Wiſſenſchaften mit dem Zuſtande ſeines naturwiſſenſchaftlichen
Denkens zuſammentraf, breiteten ſich von hier aus tiefe Schatten
und fabelhafte Weſen über die Erde aus.
Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft im Mittelalter ſich zuſammenſetzt,
war das wichtigſte die Anſchauung der Kirche. Dieſe beſtimmte
den theokratiſchen Charakter der mittelalterlichen geſellſchaftlichen
Auffaſſung. Die geiſtigen Subſtanzen aller Rangordnungen ſind
in der Kirche zu einem myſtiſchen Körper verbunden, der von der
Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunächſt ſtehen, hinabreicht
[430]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
bis zu dem Bettler an den Pforten der Kirchenthür und dem
leibeigenen Mann, der demüthig in dem letzten Winkel der Kirche
knieend das Opfer der Meſſe empfängt.
Der ſchöpferiſche Keim dieſer Anſchauung liegt in den Briefen
des Apoſtel Paulus. Paulus bezeichnet die einzelnen Chriſten als
Glieder des Leibes Chriſti; unter Chriſtus als dem Haupte ſind
die einzelnen Gemeindeglieder durch die Einheit des Geiſtes zu
einem Organismus verknüpft. Innerhalb dieſes Organismus
haben die einzelnen Gemeindeglieder verſchiedene, aber dem Leben
des Ganzen nothwendige Funktionen. Daher leiden mit jedem
Glied alle anderen Glieder mit. In dieſer pauliniſchen Anſchau-
ung des chriſtlichen Gemeindelebens iſt die Uebertragung des Be-
griffs eines Organismus ein Tropus, und nie hat Paulus
daran gedacht, den Zuſammenhang des religiös ſittlichen
Lebens der Gemeinde in die Naturgebundenheit des organiſchen
Lebens herabzumindern. Aber dieſer Tropus drückt hier den That-
beſtand einer Einheit aus, welche ganz anderer Natur iſt, als die
in einem politiſchen Ganzen. Denn das Pneuma iſt in der
Gemeinde eine reale Einheit, ein reales Band, wie die Pſyche
in einem menſchlichen Körper. Und daher empfängt in dieſer
Anwendung der Tropus des Organismus einen genaueren Sinn.
Indem nun aus den Gemeinden, auf welche die tiefſinnige
Anſchauung des Paulus ſich bezog, die rechtliche und politiſche
Organiſation der katholiſchen Kirche erwuchs, entſtand ein Begriff,
in welchem dieſer Staat Gottes vorgeſtellt wurde als zuſammen-
gehalten durch ein reales Band, dem gleichſam neben und zwiſchen
den Individuen eine Art von Exiſtenz zukam. Wir können die
Momente erkennen, welche dieſen Begriff geſtaltet haben. Der
Gedanke der Kirche als eines durch den einheitlichen Geiſt Gottes be-
ſeelten Körpers empfängt zunächſt eine Stütze in der Auffaſſung des
Abendmahls, welche in demſelben das Sakrament der Einverleibung
in die Kirche ſieht. Dieſe Auffaſſung, wie ſie bei Auguſtinus ab-
geſchloſſen vorliegt, iſt dadurch vermittelt, daß unter dem Körper
Chriſti die Kirche verſtanden wird; daher in dem Abendmahl die
Theilnahme an dieſem Körper Chriſti, der alleinſeligmachenden
[431]Das reale Band der kirchlichen Organiſation.
Kirche, die Inkorporation des Einzelnen in die Kirche ſtattfindet1).
Eine weitere Unterſtützung empfängt die Idee von dem realen
Bande, welches die Kirche zuſammenhält, durch die Vorſtellung
von einer Uebertragung thatſächlicher Art, vermöge deren in den
Weihen Kräfte der überſinnlichen Welt auf den Klerus von oben
übergehen, ja gleichſam in Stufen abwärts ſtrömen; ſo entſpringt
mit der Ordination die von den Laien unterſcheidende geiſtliche
Befähigung, vermöge deren der Kleriker ſeine Funktionen übt. Auf
dieſe Weiſe empfängt die Idee der Kirche als des corpus mysti-
cum Christi eine ſinnliche Vorſtellbarkeit. Da aber zugleich dieſe
Kirche zu einer civitas Dei, einem ſtaatähnlichen Ganzen wird,
welches Träger ausgedehnter Machtbefugniſſe iſt, wird der Begriff
der Einheit des kirchlichen Organismus nun auf dieſen politiſchen
Körper übertragen. Dies hat zur Folge, daß der von oben
wirkende Geiſt als Träger von Machtbefugniſſen erſcheint, welche
durch ſeinen Körper in der Kirche ausgeübt werden. Das dem
Kleriker durch die Weihen übertragene Amt enthält nach dieſer
Seite das Recht und die Pflicht, die Kirchengewalt in einem be-
ſtimmten materiellen Umfang und innerhalb eines beſtimmten
räumlichen Bezirks auf Grund des ſtändig ertheilten Auftrags
auszuüben. Die Machtbefugniſſe der Kirche innerhalb der Ge-
ſellſchaft ſind einerſeits, als Machtbefugniſſe, durch Rechtsſätze
darſtellbar und demgemäß in einer Rechtsordnung, dem kanoniſchen
Rechte, gegliedert, und andrerſeits haben ſie, als von Gott
ſtammend, die höchſte Geltung in der menſchlichen Geſellſchaft.
So entſtand die Anſchauung der aus Haupt und Gliedern be-
ſtehenden Geſammtheit der Kirche, in welcher, als ihrem Körper,
die aus der transſcendenten Welt auf ſie übertragene, eine gött-
liche Heilsordnung vollziehende Einheit wohnt: als Seele dieſes
Körpers verwirklicht ſie den höchſten Zweck mit den höchſten
Machtbefugniſſen; wie mit dieſem Zweck verglichen alle die In-
[432]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
tereſſen, welchen die politiſchen Ordnungen leben, nur Mittel ſind,
ſo ſind alle politiſchen Ordnungen ihr unterthan.
Dies iſt der Grundgedanke der theokratiſchen Geſellſchafts-
ordnung des Mittelalters. — Die Theologen, vor allen Au-
guſtinus, haben dieſen Grundgedanken theoretiſch dargeſtellt. Indem
ſie ſich an die durch die Stoiker geſchaffene Verknüpfung des
Naturrechts mit einer teleologiſchen Metaphyſik anſchloſſen1), fiel
ihnen weiter mit dem göttlichen Recht, deſſen Träger die Kirche
iſt, das natürliche zuſammen, und ſo ſtellten ſie das kirchliche
Recht als ein aus Gottes ewigem Heilsplan erfließendes, darum
an ſich und unveränderlich gültiges, den menſchlichen Satzungen
gegenüber2). Sie betrachteten die gegen die kirchlichen Geſetze ver-
ſtoßenden Anordnungen und Geſetze des Staats als unverbindlich3).
Sie ordneten im Zuſammenhang mit der ganzen eben dargelegten
chriſtlichen Teleologie den Staat dem myſtiſchen Körper Chriſti oder
der Kirche als Mittel, als dienendes Inſtrument unter4). — Aber
während die Theologen dieſe Theorie entwickelten, hat die monar-
chiſche Staatsgewalt des römiſchen Imperiums an den Grund-
lagen des überkommenen römiſchen Rechtes feſtgehalten; nur
allmälig drangen die chriſtlich-kirchlichen Ideen in das Rechts-
leben ein, und erſt die Kanoniſten haben ſie in den wiſſen-
[433]Die Kirche und die theokratiſche Geſellſchaftsordnung.
ſchaftlichen Zuſammenhang der poſitiven Jurisprudenz mit ſchöpferi-
ſcher Kraft eingeführt. Wir heben nur den Grundgedanken heraus.
Die Korporation der Kirche beruht auf unmittelbarer göttlicher
Einſetzung; ſie wird von dem himmliſchen König regiert; von
dieſem transſcendenten Willen aus durchſtrömt ſie der Geiſt Gottes;
und zwar iſt die Art wie er in der Kirche wirkt durch die gött-
liche Einſetzung feſtgeſtellt, daher in rechtlichen Formen beſtimmt,
an welche die Heilsmittheilung wie die in ihr begründete Macht-
befugniß der Kirche gebunden iſt; die Form dieſer Verfaſſung
iſt der rechtliche Ausdruck der Thatſache, daß in ihr der göttliche
Wille aus der transſcendenten Welt in die irdiſche, und innerhalb
dieſer von dem Stellvertreter Chriſti in Stufen abwärts geleitet
wird. Man gewahrt hier, daß dem Syſtem der Hierarchie
innerlich eine emanatiſtiſche Vorſtellungsweiſe ent-
ſpricht, wie denn die Darſtellung der himmliſchen und irdiſchen
Hierarchie durch den Areopagiten und die Wirkung dieſer Dar-
ſtellung im Mittelalter einen ſolchen Zuſammenhang beſtätigt; die
Idee Gottes iſt in einen lebendigen Fluß und Prozeß aufge-
löſt; von Gott aus erſtreckt ſich ein Willenszuſammenhang in den
Naturzuſammenhang.
Dieſe theokratiſche Geſellſchaftsordnung des Mittelalters ſetzt an
die Stelle der bisherigen politiſchen Prinzipien des Abendlandes
das der Autorität, die von Gott ſtammt. Die in ihr wirkende
Anſchauung hat die ganze Auffaſſung der Geſellſchaft im Mittel-
alter umgeſtaltet. In der Jurisprudenz entſtand nun ein Begriff
der Korporation, welchem gemäß die natürlichen Individuen, die
in ihr verbunden ſind, nur das wirkliche Rechtsſubjekt repräſentiren,
das als unleiblich und unſichtbar allein durch ſeine Glieder zu
handeln vermag; die wichtigen ſtaatsrechtlichen Begriffe der Reprä-
ſentation und des perſönlichen Amtes bildeten ſich aus. In der
politiſchen Wiſſenſchaft entſtand die theologiſche Begründung der
Begriffe vom Staat und, verbunden mit ihr, eine erſte Metaphyſik
der Geſellſchaft, welche in der allgemeinen Metaphyſik gegründet
war und die ganze damals bekannte Wirklichkeit der geſchichtlichen
und geſellſchaftlichen Phänomene umfaßte.
Dilthey, Einleitung. 28
[434]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Aber das gerade gab und erhielt dieſer theokratiſchen Geſell-
ſchaftslehre ihre Macht, wie ihr Grundgedanke ſich mit den mannig-
fachſten Elementen verband; vom Alterthum her mit den Begriffen
der griechiſchen Philoſophie und des römiſchen Rechts ſowie der
Thatſache des römiſchen Kaiſerthums; von dem Leben der ger-
maniſchen Völker her mit rechtlichen und politiſchen Ideen und
Inſtitutionen. Hier war ein weltlicher Vorſtellungskreis
begründet, welcher theils von dem theokratiſchen Syſtem unter-
worfen wurde und ſo mit ihm verſchmolz, theils demſelben ent-
gegenwirkte.
Als das römiſche Imperium noch aufrecht ſtand, wenn
auch von den anſtürmenden germaniſchen Barbaren bereits er-
ſchüttert, ſchrieb Auguſtinus ſein Werk über den Staat Gottes,
in welchem er den weltlichen Staat dem Gottes gegenüber ſtellte.
Nach dieſem Werke iſt das römiſche Weltreich eine Repräſentation
der civitas terrena in ihrem letzten und mächtigſten Stadium.
Die Römer haben von Gott die Weltherrſchaft empfangen, weil
ſie den höchſten irdiſchen Leidenſchaften, vor allem der Begierde
des Nachruhms, „durch welchen ſie auch nach dem Tode gleich-
ſam fortleben wollten“, alle niederen Leidenſchaften unterordneten;
ihre Aufopferung für den irdiſchen Staat iſt den Chriſten ein
Vorbild der Aufopferung, welche ſie dem himmliſchen ſchuldig
ſind1). Der Gedanke des römiſchen Weltreiches war nach den
ſtaatsphiloſophiſchen Erörterungen des Polybius in der geſchicht-
lichen Literatur der Kaiſerzeit ſelbſt durch die dürftigen Hand-
bücher eines Florus und Eutrop befeſtigt worden; Auguſtinus
beſtimmte nun in ſeiner Konſtruktion die Bedeutung, die dem
römiſchen Weltreich im Plan der Vorſehung zukomme, und zu-
gleich deren Grenze, wie er ſie vom Standpunkte des Chriſtenthums
aus einzuſehen glaubte. Als dann die Kirche die kaiſerliche Krone
dem großen Germanenkönig auf das Haupt ſetzte, trat der Gedanke
der römiſchen Weltmonarchie in ein näheres Verhältniß zu dem
Begriff einer von der Kirche umfaßten einheitlichen Chriſtenheit.
[435]Das Weltreich.
Wenige Jahre danach (829) haben zwei Koncilien zu Paris und
zu Worms auf Grund der Lehre von dem Einen Körper der
Chriſtenheit entwickelt, daß dieſer Körper einerſeits vom Prieſter-
thum, andererſeits vom Königthum regiert werde1). Eine That-
ſache und ein begrifflicher Zuſammenhang begegneten ſich ſo in
der Konſtruktion der Weltmonarchie. Und rückwärts verfolgte
man den Gedanken derſelben unter dem Einfluß der Stelle im
Buche Daniel über die vier Reiche in das Morgenland: fabel-
umgebene Bilder von den vier Weltmonarchien wurden das Schema
der politiſchen Geſchichte.
Dieſe geſchichtlichen und politiſchen Realitäten, vermiſcht mit
Fabeln von ſolchen, erhielten in dem theokratiſchen Syſtem ihren
Platz und eine mit deſſen tiefſten Prinzipien zuſammenhängende
Deutung. Schon die Stoiker hatten die Monarchie Gottes mit
dem römiſchen Univerſalſtaat in Beziehung gebracht; nun wird
aus dem einheitlichen Plane Gottes und der Einheit des Menſchen-
geſchlechtes als ſeines Gegenſtandes die Monarchie in Dantes
Verſtande d. h. der Weltſtaat gefolgert, entſprechend dem geiſt-
lichen Einheitsſtaate der Kirche. Dante hat dieſen Zuſammen-
hang am eindringlichſten dargeſtellt, in einer Mehrzahl von Ar-
gumenten, deren Nerv derſelbe iſt. Das Menſchengeſchlecht, ein
Theil des von Gott geleiteten Univerſums, hat einen einheitlichen
Zweck, welcher in dem Auswirken aller intellektuellen und prak-
tiſchen Kräfte der Menſchennatur beſteht. Nun wird eine Vielheit
zu Einem Zweck am ſicherſten durch eine einheitliche Kraft gelenkt,
wie die Vernunft alle Kräfte der Menſchennatur leitet, das Familien-
haupt ſein Haus, der Einzelfürſt ſeinen Staat und ſchließlich Gott
die Welt, in welcher das Menſchengeſchlecht enthalten iſt. So
28*
[436]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
allein wird der Friede unter den Menſchen verwirklicht und die
Aehnlichkeit mit dem Vollkommenſten, der Herrſchaft Gottes über
die Welt, hergeſtellt. So allein wird die äußere Bedingung für
die Herſtellung der Gerechtigkeit erfüllt, da ein Syſtem ſtreitender
Staaten keine höchſte Inſtanz zur Entſcheidung nach dem Rechte
beſäße. So allein wird endlich die innere Vorausſetzung, deren
die Gerechtigkeit bedarf, geſchaffen, da der Kaiſer allein, deſſen
Jurisdiktion nur an dem Ocean ſeine Schranken hat, keinen
Wunſch mehr haben kann und ſo keine Begierde in ihm die Ge-
rechtigkeit hemmt. Mit allem Aufwand des ſyllogiſtiſchen Hand-
werks jener Tage erſchließt der große Dichter, daß nur das
Kaiſerthum als Weltſtaat einen befriedigenden Zuſtand des
Menſchengeſchlechtes herbeiführen könne1). Wie alle Deduktionen
der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft, konnte auch dieſe
von entgegenſtehenden Intereſſen leicht bekämpft und durch andere
erſetzt werden. Die Vertheidiger des Rechtes der Einzelmonarchien
durften den Willen Gottes aus der Verſchiedenheit der Lebens-
bedingungen, der Sitten wie des Rechtes der Einzelvölker im Sinne
des Nationalitätsgedankens deuten2).
Die nähere Einordnung des Staates in den dargelegten theo-
kratiſchen Zuſammenhang iſt eine verſchiedene geweſen, je nach der
wechſelnden Werthung des Imperiums, des Staatslebens über-
haupt. Drei verſchiedene Arten, den Werth des weltlichen
Staates zu beſtimmen, können hier unterſchieden werden.
[437]Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates.
Auguſtinus betrachtete allein den „Staat, deſſen König
Chriſtus iſt,“ d. h. die Kirche, als Stiftung Gottes und als Aus-
druck der in ihm gegründeten ſittlichen Weltordnung, dagegen leitete
er Eigenthum und Herrſchaftsverhältniſſe aus dem Sündenfall ab.
Daher war ihm der weltliche Staat, wenn er nicht in den Dienſt
des himmliſchen tritt, eine Schöpfung der Selbſtſucht: civitas dia-
boli1). So begründete er die hierarchiſche Auffaſſung des Staats-
lebens, für welche der Staat ein an ſich werthloſes Inſtrument
im Dienſte der Kirche zum Schutze des wahren Glaubens und
zur Bekämpfung der Ungläubigen geweſen iſt. Gregor VII.
und Vertreter ſeiner päpſtlichen Politik haben denſelben Stand-
punkt feſtgehalten2), und in der extremen päpſtlichen Partei hatte
er während des ganzen Mittelalters ſeine Vertreter. Aber
bei den hervorragendſten politiſchen Metaphyſikern des Mittel-
alters beſteht im Zuſammenhang mit dem Studium des Ariſtoteles
eine andere Werthung des ſtaatlichen Lebens. Thomas von
Aquino und Dante bezeichnen den Höhepunkt dieſer politiſchen Me-
taphyſik; ſie ſind beide von dem Standpunkt des Auguſtinus weit
entfernt; ſo verſchieden ſie ſich auch ſelber in dieſer Frage ver-
halten, beide weiſen die Ableitung des ſtaatlichen Lebens aus
dem Sündenfall ab und finden daſſelbe vielmehr in der ſittlichen
Natur des Menſchen begründet.
Und zwar iſt Thomas von Aquino der Hauptver-
treter der zweiten Richtung in Bezug auf die Werthung des
Staatslebens. Er beſtimmte deſſen Aufgabe dahin, daß es
das Syſtem von Bedingungen verwirkliche, an welche der
[438]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
religiöſe Zweck des menſchlichen Daſeins gebunden iſt. Dieſe
Auffaſſung entſpricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffaſſung
des weltlichen Lebens, als eines Mittels und einer Grundlage
für die Verwirklichung des religiöſen, wie ſie in der Ethik
Albert’s des Großen und des Thomas von Aquino ihren klaſſi-
ſchen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menſchlichen
Geſellſchaft iſt nach der Schrift des Thomas über das Fürſtenre-
giment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genuſſe Gottes zu kommen.
Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menſchlichen Natur er-
reicht werden, ſondern nur durch die Gnade Gottes. Daher iſt die
Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der ſtaatlichen Gemein-
ſchaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenſeit
des vom Staate zu Leiſtenden liegt und von dem göttlichen Könige
ſelber ſowie durch Uebertragung von dem Prieſterthum ver-
wirklicht wird. Alſo iſt dieſer Hierarchie die weltliche Herr-
ſchaft untergeordnet1). Einen ſchon aus der Zeit der Kirchen-
väter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach an-
gewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältniß
des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältniſſes
des Leibes zur Seele2). Dieſe Werthbeſtimmung des ſtaatlichen
Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftſtellern die am meiſten
verbreitete, und Thomas, der weiſeſte aller Vermittler, hat auch
hier die ausgleichende Formel glücklich ausgeſprochen.
Ein dritter Standpunkt entſprang aus einer höheren Werth-
ſchätzung des Staatslebens. Er betrachtet das imperium und das
sacerdotium als zwei gleich unmittelbar von Gott ſtammende Ge-
walten, von denen jede eine ſelbſtändige Funktion in der ſittlichen
Welt ausübte. Er erkennt alſo dem Staate und der Kirche die
[439]Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates.
gleiche Souveränität zu. Dieſe Werthſchätzung des imperium
wird von den literariſchen Vertretern der kaiſerlichen Anſprüche ſeit
Heinrich IV. zu begründen verſucht1). Sie wird tiefſinnig von
Dante in ſeiner Schrift über die Monarchie entwickelt, aus Sätzen
des Ariſtoteles und Thomas, aber wie in gewaltigerer Sprache, ſo
auch in größerem Stil des Denkens, als Thomas ihn zeigt. Der
Zweck jedes Theiles der Schöpfung liegt in der ihm eigenthümlichen
Thätigkeit. Nun vermag nicht ein einzelner Menſch das im Ver-
nunftvermögen Enthaltene zu verwirklichen, ſondern das Menſchen-
geſchlecht allein kann das theoretiſche und in zweiter Linie das
praktiſche Vernunftvermögen ganz auswirken. Die Bedingung für
die Erreichung dieſes Zieles liegt in dem allgemeinen Frieden,
und dieſen ſichert die Monarchie; ſie hält die Gerechtigkeit aufrecht
und richtet das Wirken der Einzelnen auf das Eine Ziel2). So
tritt die Monarchie zu der theokratiſchen Ordnung der Geſellſchaft
in folgendes Verhältniß. Unter allem, was exiſtirt, ſteht der
Menſch allein in der Mitte zwiſchen der vergänglichen und einer
unvergänglichen Welt. Daher hat er, ſofern er vergänglich iſt,
ein anderes Endziel, als ſofern er unvergänglich iſt. Die uner-
ſchöpflich tiefe Providenz hat ihm in der Seligkeit dieſes Lebens,
welche in dem Auswirken der ihm eigenen Tugend beſteht, das
eine und in der Seligkeit des ewigen Lebens, die in dem Genuß
der Anſchauung Gottes beſteht, das andere Ziel gegeben. Wir
gelangen zum erſteren Ziele auf dem Wege philoſophiſcher Einſicht
vermittelſt unſerer intellektuellen und moraliſchen Tugenden, und
wir erreichen den anderen Endzweck auf dem Wege der Offen-
barung vermittelſt der theologiſchen Tugenden. Die Leitung des
Strebens nach dem erſteren Ziele ſteht dem Kaiſer zu und die
nach dem anderen dem Papſte. Das Kaiſerthum lenkt vermittelſt
der philoſophiſchen Einſicht das Menſchengeſchlecht zu ſeiner zeit-
lichen Glückſeligkeit, der Papſt führt es vermittelſt der Offen-
barungswahrheiten zum ewigen Leben3). — Dieſe ſelbſtändige Werth-
[440]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſchätzung des Staates, wie ſie uns in Dante entgegentritt, führte
in einem Kopfe wie Marſilius von Padua weiter dahin,
gemäß dem Bedürfniß, ſolchen Dualismus zu überwinden, das
sacerdotium als einen Beſtandtheil und eine Funktion des Staates
anzuſehen. Marſilius zieht die Konſequenzen des antiken Staats-
begriffs, er bekämpft im Grunde den Fortſchritt, welcher in dem
Ausſpruch Chriſti über das Recht des Kaiſers und das Recht
Gottes enthalten war1).
Dieſe Vertheilung der Werthgebung zwiſchen geiſtlicher und
weltlicher Macht hat ihren Ausdruck in den rechtsgeſchicht-
lichen Fabeln von der Uebertragung der göttlichen Macht, wie
ſie einen wichtigen Beſtandtheil der geſchichtlichen Metaphyſik des
Mittelalters ausmachen. Denn wo der Wille Gottes mit denen
der Menſchen zu der Verwirklichung eines von der Vorſehung
überwachten Planes zuſammenwirkt, entſteht der Begriff der In-
ſtitution, welche in einem beſonderen göttlichen Akte
begründet iſt und in der ein Theil der Aufgabe der Weltregierung
einer irdiſchen Perſon als dem Stellvertreter Gottes übertragen
wird. Die Hierarchie gründet ihre Befugniſſe auf die Vollmacht
des Statthalters Chriſti. Ebenſo wird das Königthum vorherr-
ſchend im Mittelalter als ein von Gott übertragenes Amt be-
trachtet. Und die Frage entſteht dann, ob die Staatsgewalt ihre
Vollmacht direkt von oben beſitze oder durch eine Uebertragung,
die von der geiſtlichen Gewalt ausgegangen iſt. Aus den bekannten
Erörterungen hierüber ragt Dantes Beweis des legitimen Ur-
ſprungs der römiſchen Weltmonarchie darum hervor, weil er
einer hiſtoriſchen Begründung der Legitimität ganz beſonders
nahe kommt. Dieſer Beweis findet die Legitimität in dem Willen
Gottes gegründet, ſucht aber dieſen Willen nicht in theokratiſchen
Einzelakten auf, ſondern, wie der Wille eines Menſchen von außen
[441]Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus.
nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge-
ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus 1).
Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zumaß, ebenſo gewährte
es einen Anhalt, die Natur des Staates zu beſtimmen. Von dem
myſtiſchen Leibe der Kirche wurde die Vorſtellung des Organis-
mus in einem neuen, über Ariſtoteles hinausgehenden Sinne auf
den Staat übertragen. Die wol älteſte uns noch zugängliche
Durchführung der Vergleichung zwiſchen den Gliedern des Körpers
und den Theilen des Staates unter der Vorausſetzung, daß die
Grundzüge der organiſchen Struktur wirklich im Staate wieder-
kehren, war in einer dem Plutarch untergeſchobenen Institutio
Trajani enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des
Johannes von Salisbury noch theilweiſe wiederzuerkennen ver-
mögen 2). Dieſe Harmonie des Weltganzen, nach welcher die
Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum ſich
in der ſeiner Theile, der Individuen, widerſpiegelt, bildet den
Hintergrund des mittelalterlichen organiſchen Staatsbegriffs. Und
ſchon die Schriftſteller jener Zeit verwenden geiſtvoll Beziehungen,
die wir am organiſchen Körper gewahren, zur Aufklärung des
politiſchen Organismus.
Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte
und geſellſchaftlicher Ordnung trat im Fortſchreiten des Mittelalters
immer mächtiger eine ganz entgegengeſetzte hervor, welche aus den
freien Stadtgemeinden des Alterthums ſtammte: die Ableitung
der politiſchen Willenseinheit und des Rechtes der Herr-
ſchaft aus den Einzelwillen der zu einer Organiſation ver-
bundenen Perſonen. Dieſe Theorie erklärte die Entſtehung von
[442]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Willenseinheit in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nicht
aus Uebertragung des göttlichen Herrſchaftsrechtes, ſondern durch
ein von den Einzelwillen ausgehendes pactum subjectionis, ſo-
nach durch eine Konſtruktion von unten, von den Elementen des
Staatslebens aus. Sie führte den Grundgedanken des griechiſchen
Naturrechtes fort. Aber wenn dieſes das Problem einer mechaniſchen
Erklärung der politiſchen Willenseinheiten aus der Anarchie der
geſellſchaftlichen Atome ganz allgemein vorgeſtellt hatte und wir
es ſo als eine Metaphyſik der Geſellſchaft bezeichnen konnten, ſo
verfolgte das Mittelalter das ſchon von den Römern eingeſchlagene
Verfahren, dieſe griechiſchen Spekulationen mit der poſitiven
Jurisprudenz in Beziehung zu ſetzen. Unter der Hand der Kano-
niſten und Legiſten war der Begriff der Korporation zu dem
herrſchenden auf dem Gebiet der äußeren Organiſation der Geſell-
ſchaft geworden und wurde auf Staat wie Kirche angewandt.
Die juriſtiſche Konſtruktion dieſes Begriffs ließ aus einem kon-
ſtituirenden Akte die einheitliche Rechtsſubjektivität der Korporation,
vermöge deren ſie Perſon iſt, entſpringen. So wurde die Kon-
ſtruktion der Willenseinheit in einem politiſchen Ganzen durch
einen ſolchen Akt Mittelpunkt jeder publiziſtiſchen Theorie, und
die Mitwirkung oder die ausſchließliche Wirkſamkeit der ver-
einigten Willen in dem Akte, durch welchen der Staat entſteht, gaben
dieſem den Charakter eines Vertrags. Grundvorſtellungen des
älteren deutſchen Rechtes, dann die Rechtsfabel von einem konſtitu-
irenden Akte, in welchem das römiſche Volk die Herrſchaft auf den
Imperator übertragen habe, weiter die Einwirkung der griechiſchen
Theorien, endlich das Selbſtregiment freier Kommunen in Italien,
dem wichtigſten Lande für die politiſche Theorie jener Zeit: dies
Alles ließ die naturrechtliche Strömung anwachſen. Von der
Wende des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ab formirte
ſich ſyſtematiſch die juriſtiſche Konſtruktion aus den Einzelwillen
und ihrem Vertrag. Geſellſchaftsvertrag, Souveränität des Volkes,
Einſchränkung des poſitiven Rechtes durch das Naturrecht traten
in das öffentliche Recht ein. Dieſe poſitiv-rechtliche Fortent-
wicklung des Naturrechts verſtärkte ſeine revolutionäre Kraft für
[443]Naturrechtliche Konſtruktion des Staats von den Einzelwillen aus.
eine künftige Zeit, zunächſt aber hatte ſie während des Mittelalters
die Anpaſſung deſſelben an die anderen geſellſchaftlichen Ideen
der Zeit zur Folge. Erſt in einem Marſilius von Padua löſt
dieſer radikale Standpunkt ſich von den anderen geſellſchaftlichen
Ideen des Mittelalters los und das bezeichnet die Morgendämmerung
der modernen politiſchen Ideen. Die volle Machtentfaltung des
Naturrechts begann dann bei den neueren Völkern mit dem
Niedergang der feudalen Ordnungen. Nun war der Punkt in
der Entwicklung der neueren Geſellſchaft erreicht, an welchem
mit der Souveränität der Individuen Ernſt gemacht werden
konnte, entſprechend dem Punkte in der Entwicklung der griechiſchen
Geſellſchaft, an dem das Naturrecht der Sophiſten ſich Geltung
verſchafft hatte 1).
So fand die theokratiſche Geſellſchaftslehre in der naturrecht-
lichen ihre Grenze, und dieſe letztere ihrerſeits entbehrte noch der
generellen Faſſung und der Hilfsmittel der Analyſis, welche ihr
eine zureichende Erklärung der Geſellſchaft ermöglicht hätten.
Wir überblicken und prüfen ſchließlich die Verbindung der
entwickelten Sätze in dieſer theokratiſchen Metaphyſik der Geſell-
ſchaft. — Dieſe Theorie war jeder früheren darin überlegen, daß
ſie von dem umfaſſenden Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens
der Menſchheit ausging und jeder Satz über die Befugniſſe einer
politiſchen Gewalt ſo gut als jede Behauptung über den Begriff
einer Tugend oder einer Pflicht durch dieſen Zuſammenhang be-
dingt war. — Aber die zuſammengeſetzten Thatſachen, welche ſich
der Geſchichtskunde und der politiſchen Beobachtung darbieten, ſind
von den mittelalterlichen Denkern nicht in einfachere Einzelzuſammen-
hänge zerlegt worden, vielmehr wurden ſie durch teleologiſche
Deutung zu einem Ganzen verbunden. Hieraus hätte nun nichts
als ein willkürliches Spiel entſtehen können, wenn nicht für dieſe
Chiffern der Geſchichte und der Geſellſchaft der Schlüſſel in der
[444]Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Offenbarung zur Hand geweſen wäre: ſie legte Anfang, Mitte
und Ende des Lebenslaufs der Menſchheit feſt und beſtimmte
deſſen Gehalt. Daher bildete den Grundzug dieſer Metaphyſik
der Geſellſchaft: jede Konſtruktion in Begriffen iſt nur der nach-
trägliche Verſuch, das, was Tradition und religiöſer Tiefſinn be-
ſitzen, in Begriffen darzuſtellen und zu beweiſen. — Und zwar
iſt die herrſchende mittelalterliche Geſellſchaftslehre ein theokratiſches
Syſtem, jedoch galt dieſes nicht ohne Widerſpruch. Das Leben der
Korporationen enthielt ein anderes Element, ein Recht der Ge-
ſammtheit, welches auf ein Vertragsverhältniß zurückzuweiſen ſchien.
Dieſer Beſtandtheil wurde von der theokratiſchen Geſellſchaftslehre
nicht erklärt, und wie die naturrechtliche Geſellſchaftslehre ſich ent-
wickelte, bezeichnete ſie für das theokratiſche Syſtem eine Schranke
ſeiner Brauchbarkeit und eine Lücke in ſeinen Prämiſſen. — Inner-
lich iſt dieſe theokratiſche Metaphyſik der Geſellſchaft von den
Antinomien zerriſſen, welche aus der metaphyſiſchen Prinzipien-
lehre in die Philoſophie der Geſellſchaft hineinreichen. Die tiefſte
dieſer Antinomien wirkt in der Geſellſchaftslehre als der Wider-
ſpruch zwiſchen der Auffaſſung Gottes als eines Intellekts, für
welchen nur das Ewige und Allgemeine iſt, und als eines Willens,
welcher Veränderungen zu einem Ziele hin durchläuft, in zeitlichen
Akten ſich kundthut und von den Thaten freier Willen zu Gegen-
wirkungen angeregt wird. Die ewigen Wahrheiten haben
als Prinzipien der geſellſchaftlichen Ordnung für
das Alterthum innerhalb der Menſchenwelt dieſelbe Bedeu-
tung wie die ſubſtantialen Formen innerhalb der Natur.
Als Ariſtoteles die platoniſchen Ideen in die Welt ſelber ver-
legte, ſtattete er dieſe Welt mit Ewigkeit ſowol in Rückſicht ihres
Beſtandes als ihrer Formen aus. In unveränderlicher Selbſt-
gleichheit entſteht innerhalb derſelben aus dem organiſchen Keime
das lebendige Weſen und der Keim ſelber rückwärts aus dem
Leben. Der Verlauf der Geſchichte erringt nach Ariſtoteles der
Seele und der von ihr verwirklichen Eudämonie keinen tieferen
Inhalt. Ein feſtes Gefüge von Begriffen, welches das ſich ſtets
gleiche Geſetz des Staatslebens enthält, wird von ſeiner deſkrip-
[445]Logiſcher Zuſammenhang dieſer Metaphyſik der Geſellſchaft.
tiven Wiſſenſchaft der Politik entwickelt und hat an den verän-
derlichen Lebensbedingungen der Geſellſchaft nur ſeinen wechſeln-
den Stoff. So tief Ariſtoteles das Verhältniß der Lebens-
bedingungen der Staaten zu den politiſchen Formen aufgefaßt
hat: die Entwicklung der Zweckzuſammenhänge des menſchlichen
Lebens bedarf nach ihm nicht einen immer neuen, dem veränderten
Gehalt entſprechenden Ausdruck in den politiſchen Verfaſſungen,
ſondern die Bedingungen der Geſellſchaft ermöglichen, gleichſam
als die Materie der Staatenbildung, hier eine geringere, dort
eine höhere Ausgeſtaltung der Einen Idealform. Dem Chriſten-
thum wird Gott geſchichtlich. Die vom Chriſtenthum getragene
mittelalterliche Geſellſchaftslehre benutzt zuerſt die Idee eines gött-
lichen Willens, welcher eine aufſteigende Reihe von Veränderungen
als Zweck enthält und in der Zeitreihe einzelner Willensakte, in
Wechſelwirkung mit anderen Willen, dieſen Zweck verwirklicht. Die
Gottheit tritt in die Zeit ein. So oft nun die mittelalterliche Meta-
phyſik das griechiſche Syſtem ewiger Wahrheiten mit dem Plane
Gottes vereinigen will, zeigt ſich die Unauflösbarkeit des Wider-
ſpruchs. Denn die lebendige perſönliche Erfahrung des Willens,
welcher Bedürfniß und Veränderung einſchließt, kann nicht in
Einklang gebracht werden mit der unveränderlichen Welt ewiger
Gedanken, in denen der Intellekt die nothwendige und allgemein-
gültige Wahrheit beſitzt 1). — Erkenntnißtheoretiſch widerſpricht die
ſpekulative Konſtruktion aus Begriffen der willkürlichen That-
ſächlichkeit, die den Entſcheidungen eines freien göttlichen Willens
eigen iſt. Daher löſte die Willenslehre Occam’s die objektive Me-
taphyſik des Mittelalters auf, und war der Nominalismus
in ſeinem erſten Stadium an ſeiner unfruchtbaren Negativität gegen-
[446]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
über den Aufgaben des mittelalterlichen Denkens zu Grunde
gegangen: in der mächtigen Realität des Willens fand er nun
auch hier innerhalb der Geſellſchaftslehre ſeine höhere Berechtigung.
Die geiſtesgewaltigen kirchenpolitiſchen Schriften Occam’s zer-
ſtörten in weitläufiger Darlegung von Gründen und Gegen-
gründen jeden Theil des rationalen Zuſammenhangs einer Philo-
ſophie der Geſchichte und der Geſellſchaft 1). Und mit Recht;
denn wirklich iſt die Demonſtration unfähig geweſen, die mittel-
alterliche Geſellſchaftslehre einigermaßen zu begründen. Die Folge-
richtigkeit des Schluſſes verſagt, wo aus dem theokratiſchen Prin-
zip der Dualismus von Staat und Kirche abgeleitet oder über
Streitfragen, wie das Verhältniß von Staat und Kirche, von
Weltmonarchie und Einzelſtaat durch Syllogismen entſchieden
werden ſoll.
Vierter Abſchnitt.
Die Auflöſung der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen zur
Wirklichkeit.
Erſtes Kapitel.
Die Bedingungen des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins.
Die zweite Generation der europäiſchen Völker erfuhr nun
eine Umwandlung, welche der ähnlich iſt, die in Griechenland
aus der Auflöſung der alten Geſchlechterverfaſſung hervorging.
Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Chriſtenheit
[447]Der moderne Menſch.
unter Papſt und Kaiſer, ſich löſten, entſtand die neuere euro-
päiſche Geſellſchaft und inmitten ihrer der moderne Menſch.
Dieſer iſt das Erzeugniß der allmäligen inneren Entwicklung,
welche in der Jugendzeit dieſer zweiten Generation der europäiſchen
Völker oder dem Mittelalter ſtattfand. Was wir in ihm ſuchen,
iſt unſer eigener Herzſchlag, verglichen mit dem, was wir in den
Seelen der Menſchen älterer Zeiten zu leſen vermögen und das
uns fremd iſt. Nichts iſt daher relativer, mag man auf die All-
mäligkeit ſehen, mit welcher es ſich geltend macht, oder auf die
Verſchiedenheit des perſönlichen Gefühls im Geſchichtsſchreiber, von
welchem aus ein ſolcher hiſtoriſcher Typus beſtimmt wird.
Dennoch ſieht der Geſchichtſchreiber Wirklichkeit, wenn er erſte Bei-
ſpiele des modernen Menſchen an beſtimmten Stellen auftreten
ſieht; mitten in einer kontinuirlichen Entwicklung faßt er das Er-
gebniß in anſchaulich darſtellbaren geſchichtlichen Erſcheinungen auf
und hält es feſt. Auch hindert ihn hieran nicht, daß der Punkt,
an welchem in der Entwicklungsbahn des einen Volkes ein ſolcher
Typus auftritt, der Zeit nach weit abliegt von dem Punkte, an
welchem dies bei einem anderen ſtattfindet. Es beirrt ihn nicht,
daß die beſonderen Züge dieſer Form bei dem einen Volke ſehr
abweichen von denen bei dem anderen. Ein ſolcher Typus iſt
augenſcheinlich Petrarca, der mit Recht als der erſte Repräſentant
des modernen Menſchen, wie er ſchon im vierzehnten Jahr-
hundert in klaren Zügen hervortritt, aufgefaßt wird. Es iſt nicht
leicht, denſelben Typus in dem modernen Menſchen des Nordens
wiederzufinden, in Luther und ſeiner Independenz des Gewiſſens,
in Erasmus und jener perſönlichen Freiheit des unterſuchenden
Geiſtes, welcher in einem grenzenloſen Meere von Tradition, nach
Aufklärung verlangend, vorwärts dringt. Dennoch iſt hier wie dort
etwas die ganze Weſenheit dieſer Menſchen Beſtimmendes, was
wir mit ihnen theilen und was ſie von Allem abſondert, das
früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde.
Aus dem Zuſammenhang deſſen, was den modernen Menſchen
ausmacht, heben wir einen Zug heraus, welchen wir im Ver-
lauf der intellektuellen Geſchichte langſam und mühſelig ſich ent-
[448]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
falten ſahen, und der nun für die Entſtehung wie das Recht
des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in
ſeinem Gegenſatz zu der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen
entſcheidend iſt. — Der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß
in Europa hat ſich in der Wiſſenſchaft von ſeiner Grundlage in
der Totalität der Menſchennatur abgelöſt, wie neben ihm die Kunſt
oder in anderer Art das Recht. Auf dieſer Differenzirung beruht
nicht nur die techniſche Vollendung der großen Zweckſyſteme der
menſchlichen Geſellſchaft, ſondern, als innerſter Kern des Vorgangs,
das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelſeele aus ihrer anfäng-
lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem
Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder
unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und
in genauer und ſicherer Abmeſſung auf die Wirkung zu benutzen.
Die urſprüngliche Bindung der Seelenkräfte löſt ſich durch die
Arbeit der Geſchichte. Denn erſt vermittelſt der Kunſt beſitzt
das Gefühl ſein mannichfaches, wechſelndes und reiches Leben; die
Werke der Künſtler ſtrahlen ihm wie in einem Wunderſpiegel in
Bildern, Wahrnehmungen, Vorſtellungen ſeine innere Welt erhöht
zurück. In der Arbeit der Wiſſenſchaft erkennt erſt der Intellekt
ſeine Mittel und deren Tragweite, ſeine Methode und deren
Macht und gebraucht nun mit der techniſchen Virtuoſität gleichſam
des logiſchen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.
Der mittelalterliche Menſch hatte die in der alten Welt
erreichte Differenzirung nur unvollkommen feſtgehalten. Wol hatte
er die chriſtliche Erfahrung tiefſinnig entfaltet. In dem katho-
liſchen Kirchenſyſtem hatte er die ſelbſtändige Macht des religiöſen
Lebens und des ihm verbundenen geſellſchaftlichen Bewußtſeins,
das alle Völker verknüpft, befeſtigt und vertheidigt, wenn auch
mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider
auch der Gewalt dieſes Kirchenſyſtems erwuchs der Zweckzu-
ſammenhang der Wiſſenſchaft in den Univerſitäten ebenfalls zu
einer größeren Organiſation, und inmitten des korporativen Lebens
des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbſtändig-
keitsſphäre. Aber die Herrſchaft der Religion, welche allen höheren
[449]Sein Unterſchied vom mittelalterlichen Menſchen.
Gefühlen und Ideen eine ſeltene Sicherheit und Tiefe im Mittel-
alter gab, hat doch alle ſelbſtändigen Zweckzuſammenhänge bis zu
einem gewiſſen Grade gebunden. Die Legirung des Chriſtenthums
mit der antiken Wiſſenſchaft hat die Lauterkeit der religiöſen Er-
fahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung
der Individuen hat die freie Beziehung der Thätigkeiten von Per-
ſonen auf einander in Gebieten, welche wie Wiſſenſchaft und
Religion in der Freiheit ihren Lebensathem haben, gehemmt. So
haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichthum
höheren Daſeins zu einem von der Kirche geleiteten Zuſammen-
hang verwebt, in dem das Chriſtenthum ſich an eine metaphyſiſche
Wiſſenſchaft verlor, Wiſſenſchaft und Kunſt innerlich und äußer-
lich gefeſſelt waren. Dieſer Zuſammenhang der Bildung hatte
in der äußeren Organiſation der Kirche ſeinen Körper. Ihm
gegenüber war Alles, was ſonſt im mittelalterlichen Menſchen
ſich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden
mußte. So ging durch ſeine Seele derſelbe Zwieſpalt, welcher
die Geſellſchaft jener Tage in die kaiſerliche und kirchliche Gewalt
auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der
Individuen in den urſprünglichen Beziehungen zum Boden, Be-
ſonderheit, perſönliches Verhältniß und perſönlicher Verband, unter
Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Un-
geſtüm in der germaniſchen Race und den durch ſie mit neuem
Blute erfüllten älteren Völkern: dies Alles hatte in dem Men-
ſchen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens
zur Folge. Aber in ſeiner Seele kämpfte hiergegen der Glaube
an ein transſcendentes Reich, welches durch die Kirche, den
Kleriker und das Sakrament in das Diesſeits herüberwirkt und
aus dem göttliche Kräfte beſtändig ausſtrahlen. Die Macht dieſes
objektiven Syſtems wurde geſteigert durch die Ordnung der
mittelalterlichen Geſellſchaft. In dieſer war das Individuum
ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die
feudale Ordnung nur die gewaltigſten waren. Die Zweckinhalte
der Geſellſchaft, welche am meiſten der Freiheit zu bedürfen
ſcheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragen
Dilthey, Einleitung. 29
[450]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
und gebunden. Dieſe Abhängigkeit des mittelalterlichen Menſchen
wurde vermehrt durch ſeine Stellung zu der geſammten hiſtori-
ſchen Ueberlieferung, welche ſein Denken wie in einem dichten
Walde von Traditionen feſthielt. Und nicht der geringſte unter
den Gründen, welche Selbſtthätigkeit der Individuen und un-
abhängige Entfaltung der einzelnen Lebenszwecke in der Geſell-
ſchaft hinderten, beſtand in einer Metaphyſik, welche nach der
Lage der Wiſſenſchaften in ihren Grundzügen ſiegreich ſich be-
hauptete und der von der Kirche vertheidigten transſcendenten Ord-
nung einen feſten Stützpunkt gewährte. So erſcheinen auch die
intellektuell gewaltigſten mittelalterlichen Denker nur als Re-
präſentanten dieſer Weltanſicht und Lebensordnung, vergleichbar
den großen feudalen und hierarchiſchen Häuptern der Geſellſchaft
jener Tage. Was in ihnen individuell war, ordnete ſich dieſem
Syſtem unter, und darin war gegründet, daß der Denker eine
Weltmacht war. Wie einſam und verdüſtert auch ein Dante ſeinen
Weg ging, ſeine ganze große Seele war dieſem objektiven Zu-
ſammenhang hingegeben, ſo gut als die eines Anſelmus, Albertus
oder Thomas. Hierdurch wurde er zu der „Stimme zehn
ſchweigender Jahrhunderte“.
Die weſenhafte Veränderung, die wir als Auftreten des
modernen Menſchen bezeichnen, iſt das Ergebniß eines zu-
ſammengeſetzten Bildungsprozeſſes, und ihre Erklärung würde eine
umfaſſende Unterſuchung erfordern. — Hier, wo es ſich um Ent-
ſtehung und Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins
handelt, iſt zunächſt das Wichtigſte, daß die vorher von den
Völkern der alten Welt vereinzelt erreichte Differenzirung und Ver-
ſelbſtändigung der Zweckzuſammenhänge der Geſellſchaft innerhalb
der neuen Generation der europäiſchen Völker verwirklicht wird.
Die geiſtige Bildung dieſer Völker ruht auf der Selbſtgewißheit
der religiöſen Erfahrung, der Selbſtändigkeit der Wiſſenſchaft,
der Befreiung der Phantaſie in der Kunſt; im Gegenſatz zu der
früheren religiöſen Gebundenheit. Eine ſolche neue Verfaſſung des
inneren Zuſammenhangs der Kultur iſt eine höhere Stufe in der
Entwicklung der neuen Generation europäiſcher Völker, da dieſe Na-
[451]Wie in ihm das moderne wiſſenſchaftliche Bewußtſein entſteht.
tionen in der Gebundenheit der Seelenkräfte naturgemäß begonnen
hatten. Sie iſt aber zugleich eine Wiederherſtellung des von den
Griechen Erarbeiteten und im Chriſtenthum Gewonnenen, und daher
ſind Humanismus und Reformation hervorragende Beſtandtheile des
Vorganges, in welchem unſer modernes Bewußtſein entſtand. —
Zu dieſer Differenzirung trat als eine andere Seite der geſchichtlichen
Bewegung, welche dem modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſein
das Leben gab, die Veränderung in der äußeren Organiſation der
Geſellſchaft, welche alle individuellen Kräfte löſte und das In-
dividuum verſelbſtändigte. Innerhalb der Städte vollzog ſich
zuerſt dieſe ſoziale und politiſche Umgeſtaltung. In den Zuſammen-
hang unſerer Darlegung fügt ſich harmoniſch das klaſſiſche Ge-
mälde ein, welches Jakob Burckhardt von dem erſten Auftreten des
modernen Menſchen in dem Italien der Renaiſſance entworfen
hat. „Im Mittelalter, ſagt er, lagen die beiden Seiten des Be-
wußtſeins — nach der Welt hin und nach dem Inneren des
Menſchen ſelbſt — wie unter einem gemeinſamen Schleier,
träumend oder halbwach. In Italien zuerſt verweht dieſer Schleier
in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Be-
handlung des Staats und der ſämmtlichen Dinge dieſer Welt
überhaupt; daneben aber erhebt ſich mit voller Macht das Sub-
jektive; der Menſch wird geiſtiges Individuum und erkennt
ſich als ſolches.“ Was hier als objektive Behandlung bezeichnet
wird, iſt zunächſt durch die relative Verſelbſtändigung der einzel-
nen Kreiſe der Exiſtenz bedingt; indem die Wiſſenſchaft die Unter-
ordnung unter das mittelalterliche Schema des religiöſen Vorſtellens
aufgiebt, zerreißt das Band zwiſchen den religiöſen Ideen als
Mitteln der Konſtruktion und der Wirklichkeit; man wird in un-
befangener Auffaſſung dieſer gewahr, und ſo entſteht objektive Be-
trachtung und poſitive Wiſſenſchaft, wo ehedem metaphy-
ſiſche Ableitung das Phänomen mit dem Tiefſten des geiſtigen
Geſammtlebens verbunden gehalten hatte. Andrerſeits bewirkte die
veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft eine Befreiung der individuellen Kräfte und des
individuellen Selbſtgefühls. So entſtand eine neue Stellung
29*
[452]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich
nahm mit dem Wachsthum des individuellen Selbſtgefühls und
der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannig-
faltigkeit der Weltanſicht zu. In metaphyſiſchem Denken
wie in poetiſchem Sinnen wurden alle Möglichkeiten der Weltbe-
trachtung durchgebildet. — Traf das volle Licht dieſer neuen Zeit
zuerſt Italien, ſo war doch ſchon das erſte Aufdämmern derſelben
im Norden ein mächtigeres Phänomen. In Occam finden wir
eine tiefere Grundlage des modernen Bewußtſeins, als in ſeinem
jüngeren Zeitgenoſſen Petrarca: die Selbſtgewißheit der inneren
Erfahrung. Gegenüber der Autorität, der Wortbeweisführung,
den die Erfahrung überſchreitenden Syllogismen wird hier im
Willen eine mächtige Realität, aufrichtige und wahrhaftige Weſen-
heit wahrgenommen.
So erweiſen ſich Veränderungen in dem ganzen status ho-
minis auch innerhalb der relativ ſelbſtändigen intellektuellen Ent-
wicklung als einwirkend, ja beſtimmend. Es iſt eine äußerliche
Betrachtung, wenn man die Umänderung des wiſſenſchaftlichen
Geiſtes ſeit dem vierzehnten Jahrhundert auf den Humanismus
zurückführt. Durch das ganze Mittelalter geht das Anwachſen
der Kenntniß von Büchern und Hilfsmitteln des Alterthums 1).
Trat nun inneres Wiederverſtändniß des Geiſtes der alten Schrift-
ſteller zuerſt im vierzehnten Jahrhundert in Italien, ſpäter bei den
anderen Völkern hervor, ſo war dies die Folge tiefer liegender
Urſachen. Es bildeten ſich bei den neueren Völkern, insbeſondere
in den Städten, ſoziale und politiſche Zuſtände, welche denen
in den alten Stadtſtaaten analog waren; dies hatte ein perſön-
liches Lebensgefühl, Stimmungen, Intereſſen, Vorſtellungen zur
Folge, welche durch ihre Verwandtſchaft mit denen der antiken
Völker ein Wiederverſtändniß der alten Welt möglich gemacht
haben. Denn der Menſch, welcher in ſich das Vergangene erneuern
[453]Der moderne Menſch und die Metaphyſik.
ſoll, muß durch eine innere Wahlverwandtſchaft hierzu vorbe-
reitet ſein.
Dieſe veränderte Verfaſſung der geiſtigen Bildung, wie ſie in
der zunehmenden Selbſtändigkeit der Religion, Wiſſenſchaft und
Kunſt und der wachſenden Freiheit des Individuums gegenüber
dem Verbandsleben der Menſchheit erſcheint, iſt der tiefſte, in
der pſychiſchen Verfaſſung des modernen Menſchen ſelber liegende
Grund dafür, daß jetzt die Metaphyſik ihre bisherige ge-
ſchichtliche Rolle ausgeſpielt hat. Die chriſtliche Religion,
wie Luther und Zwingli ſie auf die innere Erfahrung ſtellten, die
Kunſt, wie nun Lionardo ſie den geheimnißvollen Tiefſinn der
Wirklichkeit erfaſſen lehrte, die Wiſſenſchaft, wie ſie Galilei auf
die Analyſis der Erfahrung verwies, konſtituirten das moderne
Bewußtſein in der Freiheit ſeiner Lebensäußerungen.
Metaphyſik, als Theologie, war das reale Band geweſen,
welches im Mittelalter Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt, die ver-
ſchiedenen Seiten des geiſtigen Lebens, zuſammengehalten hatte:
nun wurde dies Band geſprengt. Das intellektuelle Leben der
neuen Völker war ſo weit herangewachſen und ihr Verſtand
durch die Scholaſtik ſo disciplinirt für die Forſchung um der
Forſchung willen, daß eingeſchränktere Aufgaben vermittelſt ſtrengerer
Methoden geſtellt und auch gelöſt zu werden begannen. Die Zeit
ſelbſtändiger Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften
war gekommen. Die Ergebniſſe der poſitiven Epoche der alten
Welt konnten aufgenommen werden. Wo ein Archimedes, Hipparch
und Galen den Faden poſitiven Forſchens fallen gelaſſen, konnte
er wieder angeknüpft werden. Alterthum und Mittelalter haben
in der Wiſſenſchaft die Antwort auf das Räthſel der Welt, in der
Wirklichkeit die Verkörperung der höchſten Ideen geſucht; ſo war
die Betrachtung der idealen Bedeutung der Erſcheinungen mit der
Zergliederung ihres urſächlichen Zuſammenhangs vermiſcht worden.
Indem jetzt die Wiſſenſchaft ſich von der Religion loslöſte, ohne
ſie erſetzen zu wollen, trat die kauſale Forſchung aus dieſer falſchen
Verknüpfung und näherte ſich den Bedürfniſſen des Lebens. Man
war des abſtrakten Schließens auf transſcendente Objekte, der
[454]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metaphyſiſchen Spinngewebe, welche vom Diesſeits zum Jenſeits
gezogen worden waren, ſatt, und doch dauerte das aufrichtige
Ringen nach der Wahrheit hinter den Erſcheinungen fort. So
wandte ſich nun der Romane den Erfahrungen der äußeren Natur
und des Weltlebens, der nordiſche Menſch zunächſt der lebendigen
religiöſen Erfahrung zu.
Und jetzt erſchien auch an dieſer Wende der intellektuellen
Entwicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klaſſe
von Perſonen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schrift-
ſteller oder auch dem Profeſſor an einer der von Städten oder
aufgeklärten Fürſten gegründeten oder neugeſtalteten Univerſitäten
Platz. In den Städten, in welchen dieſe Männer auftraten, be-
ſtand nicht der Unterſchied zwiſchen einer großen thätigen aber
ununterrichteten Sklavenmaſſe und einer kleinen Zahl freier Bürger,
welche jede Art von körperlicher Arbeit als ihrer unwürdig an-
ſahen. Während dies Verhältniß in den griechiſchen Städten den
Fortſchritt der Erfindungen in hohem Grade gehindert hatte, ent-
ſtanden im Zuſammenhang mit der Induſtrie in den modernen
Städten Erfindungen von großer Tragweite. Der weite Schau-
platz unſeres Erdtheils und die ungeheuren Mittel dieſer modernen
Welt brachten einen ununterbrochenen Zuſammenhang vieler Ar-
beiter hervor. Dieſen aber ſtand die Natur nicht als ein in ſich
göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menſchen griff durch
ſie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfaſſen. In
dieſer Bewegung entſtand der Charakter der modernen Wiſſen-
ſchaft: Studium der Wirklichkeit, wie ſie in der Erfahrung ge-
geben iſt, vermittelſt der Aufſuchung des kauſalen Zuſammenhangs,
ſonach durch Zerlegung der zuſammengeſetzten Wirklichkeit in ihre
Faktoren, beſonders durch das Experiment. Die Aufgabe, das
Konſtante in den Veränderungen der Natur feſtzuſtellen, wurde
durch die Aufſuchung von Naturgeſetzen gelöſt. Das Naturgeſetz
verzichtet darauf, das Weſen der Dinge auszudrücken, und indem
ſo Grenzen der poſitiven Wiſſenſchaft hervortraten, wurde das
Studium der Wirklichkeit ergänzt durch eine Erkenntniß-
theorie, welche das Feld der Wiſſenſchaften abmaß.
[455]Die Funktion der Metaphyſik in der Geſellſchaft ändert ſich.
So entſtanden, als die eigenthümlichen Erzeugniſſe der
modernen Wiſſenſchaft, Erforſchung der Kauſalgeſetze der Wirk-
lichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der geſellſchaftlich-geſchicht-
lichen Welt und Theorie der Erkenntniß. Dieſe beiden führen
ſeitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphyſik, und jetzt
iſt ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnißtheorie einen
Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften der Wirklichkeit herzuſtellen.
Und hat ſich nun in dieſer modernen Welt, an deren Ein-
gang wir ſtehen, Metaphyſik zu vertheidigen verſucht,
ſo ändert ſich doch allmälig ihr Charakter und ihre Lage. —
Die Stelle, die ſie im Zuſammenhang der Wiſſen-
ſchaften zu behaupten verſucht, iſt eine andere. Denn indem
die poſitiven Wiſſenſchaften die Wirklichkeit analyſiren und die
allgemeinſten Bedingungen derſelben in einem Syſtem von Ele-
menten und Geſetzen feſtzuſtellen ſtreben, indem ſie ſich der
Stellung dieſer Sätze zur Wirklichkeit wie zum Bewußtſein kritiſch
bewußt werden: verliert die Metaphyſik ihren Platz als Grund-
lage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwiſſenſchaften,
und ihr bleibt nur als mögliche Aufgabe, die Ergebniſſe der poſi-
tiven Wiſſenſchaften in einer allgemeinen Weltanſicht abzuſchließen.
Der Grad von Wahrſcheinlichkeit, der einem ſolchen Verſuche
erreichbar iſt, kann nur ein beſcheidener ſein. — Ebenſo ändert
ſich die Funktion ſolcher metaphyſiſchen Syſteme in der Ge-
ſellſchaft. Ueberall wo Metaphyſik fortbeſtand, wandelte ſie ſich
in ein bloßes Privatſyſtem ihres Urhebers und derjenigen Perſonen,
welche ſich vermöge einer gleichen Verfaſſung der Seele von dieſem
Privatſyſtem angezogen fanden. Dies war durch die veränderte
Lage bedingt. Dieſelbe hat die Macht einer einheitlichen mono-
theiſtiſchen Metaphyſik gebrochen. Die veränderten phyſikaliſchen
und aſtronomiſchen Grundbegriffe haben die Schlüſſe der mono-
theiſtiſchen Metaphyſik zerſtört. Eine freie Mannigfaltigkeit
von metaphyſiſchen Syſtemen, deren keines erweisbar iſt,
hat ſich nun gebildet. So blieb der Metaphyſik nur die Aufgabe,
Centren zu ſchaffen, in welchen die Ergebniſſe der poſitiven Wiſſen-
ſchaften ſich zu einem befriedigenden allgemeinen Zuſammenhang
[456]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
der Erſcheinungen in einer Faſſung von relativem Werthe ſammeln
konnten. Die poſitive Wiſſenſchaft bringt nach der Anſicht der Meta-
phyſiker nur die einzelnen Worte und die Regeln der Verknüpfung
derſelben hervor, welche dann erſt unter ihren Händen zum Gedicht
werden. Aber ein Gedicht hat keine allgemeingültige Wahrheit. Man
hat ungefähr in derſelben Zeit neben einander Schelling ſeine Offen-
barungsphiloſophie, Hegel ſeine Weltvernunft, Schopenhauer ſeinen
Weltwillen, die Materialiſten ihre Anarchie der Atome beweiſen
hören; alle mit gleich guten oder ſchlechten Gründen. Handelt es
ſich etwa darum, unter dieſen Syſtemen das wahre auszuſuchen?
Das wäre ein ſonderbarer Aberglaube; ſo vernehmlich als möglich
lehrt dieſe metaphyſiſche Anarchie die Relativität aller metaphy-
ſiſchen Syſteme. Ein jedes von ihnen repräſentirt ſo viel, als
es in ſich faßt. Es hat ſo viel Wahrheit als eingegrenzte That-
ſachen und Wahrheiten ſeinen grenzenloſen Verallgemeinerungen zu
Grunde liegen. Es iſt ein Organ, ſehen zu machen, die Individuen
durch den Gedanken zu vertiefen und zu dem unſichtbaren Zu-
ſammenhang in Beziehung zu erhalten. Dieſes und vieles Ver-
wandte bildet die neue Funktion der Metaphyſik in der
modernen Geſellſchaft. Daher ſind dieſe Syſteme der Aus-
druck bedeutender und in ihren Gedanken weit um ſich greifender
Perſonen. Die wahren Metaphyſiker haben gelebt, was ſie ſchrieben.
Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz ſind von neueren Geſchichts-
ſchreibern der Philoſophie immer mehr als centrale Individuali-
täten aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der
wiſſenſchaftlichen Gedanken ſich auf relative Weiſe abſpiegelt. Eben
dieſer ihr repräſentativer Charakter beweiſt die Relativität des
Wahrheitsgehaltes in ihren Syſtemen. Die Wahrheit iſt nicht etwas
Repräſentatives.
Aber ſelbſt dieſe Funktion der metaphyſiſchen Syſteme in der
modernen Geſellſchaft kann nur vorübergehend ſein. Denn dieſe
ſchimmernden Zauberſchlöſſer der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft
können, nachdem die Relativität ihres Wahrheitsgehaltes erkannt
iſt, das ernüchterte Auge nicht mehr täuſchen. Und gleichviel wie
lange noch ein Einfluß auf die Kreiſe der Gebildeten von meta-
[457]Beſtändige Abnahme der Bedeutung der Metaphyſik.
phyſiſchen Syſtemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein
ſolches Syſtem von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen
von demſelben Wahrheitsgehalt ſteht, als Grundlage für die
Wiſſenſchaften benutzt werde, iſt unwiederbringlich dahin.
Zweites Kapitel.
Die Naturwiſſenſchaften.
In dem dargelegten allgemeinen Zuſammenhang entſtand die
moderne Naturwiſſenſchaft. Der Geiſt der neueren Völker
war in den wiſſenſchaftlichen Korporationen des Mittelalters dis-
ciplinirt worden. Die Wiſſenſchaft, als Beruf, der ſich in großen
Körperſchaften vererbte, betrieben, ſteigerte ihre Anforderungen an
techniſche Vollendung und ſchränkte ſich auf dasjenige ein, was ſie
zu beherrſchen vermochte. Und zwar ſah ſie ſich hierbei durch
kräftige Impulſe gefördert, welche ſie in der Geſellſchaft vor-
fand. In demſelben Maße, in welchem ſie von der Unter-
ſuchung der letzten Gründe ſich loslöſte, empfing ſie von den fort-
ſchreitenden praktiſchen Zwecken der Geſellſchaft, dem Handel, der
Medizin, der Induſtrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geiſt in
dem arbeitſamen, die Handgriffe mit ſinnendem Nachdenken ver-
einigenden Bürgerthum ſchuf der experimentellen und meſſenden
Wiſſenſchaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von
dem Chriſtenthum her lebte in dieſen romaniſchen und germa-
niſchen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geiſt die Herr-
ſchaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt
hat. So löſt ſich eine ihrer eingeſchränkten Ziele ſichere poſitive
Wiſſenſchaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geiſtigen
Bildung, welche als Metaphyſik aus der Totalität der Gemüths-
kräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen ſcheidet
ſich von dem ſeeliſchen Geſammtleben ab. Immer mehrere von
den Vorausſetzungen, welche in dieſer Totalität gegeben ſind,
werden von dem Naturerkennen eliminirt. Seine Grundlagen
[458]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung
Gegebene immer genauer eingeſchränkt. Die Naturwiſſenſchaft des
ſechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantaſien von pſychi-
ſchen Verhältniſſen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes
begannen den erfolgreichen Kampf gegen dieſe überlebenden Vor-
ſtellungen aus der metaphyſiſchen Zeit. Und allmälig wurden
ſelbſt Subſtanz, Urſache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Löſung
der methodiſchen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung
gegebenen Erſcheinungen die Bedingungen zu ſuchen, unter welchen
ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen
vorausgeſagt werden kann.
Dieſe moderne Naturwiſſenſchaft hat allmälig die Meta-
phyſik der ſubſtantialen Formen zerſetzt.
Der denknothwendige Zuſammenhang, den die moderne Na-
turwiſſenſchaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit
ſucht, gemäß dem in der Metaphyſik entwickelten und von der-
ſelben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu ſeinem
Material die ebenfalls in der Metaphyſik aus dem Erlebniß der
vollen Menſchennatur abſtrahirten und wiſſenſchaftlich entwickelten
Begriffe der Subſtanz und der Kauſalität (wirkenden Urſache). Als
die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der
Entwicklung der Metaphyſik auftraten, fanden ſie dieſe beiden
Grundvorſtellungen vor, als welche das menſchliche Denken vom
Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entſprechend
ſehen wir die Naturforſchung bemüht, das anſchauliche Bild der
Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver-
kettung von Urſachen und Wirkungen aufzulöſen, die Regelmäßig-
keiten in ihnen zu erfaſſen, durch welche ſie für den Gedanken
beherrſchbar werden, und als Träger dieſes Vorgangs Subſtanzen
zu konſtruiren, welche nicht wie ſinnliche Objekte dem Entſtehen
und Vergehen unterworfen ſind. Soweit unterſcheidet ſich die
Gedankenarbeit der modernen Naturwiſſenſchaft gar nicht von der
Arbeit der Griechen, die erſten Gründe des gegebenen Weltalls
aufzuſuchen. Worin beſteht nun das die Erforſchung der Natur
bei den neueren Völkern am meiſten Unterſcheidende, worin der
[459]Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.
Kunſtgriff, vermittelſt deſſen ſie das alte Lehrgebäude vom Kos-
mos zerſtört haben?
Schon in der Alchemie macht ſich die Richtung auf die
wahren Faktoren der Natur geltend. Die ariſtoteliſche Elementen-
lehre hatte Eigenſchaften, welche ſich der einfachen Wahrnehmung
darbieten, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, zu Grunde ge-
legt. Das Stadium der Chemie, wie es Paracelſus repräſentirt,
bedient ſich der chemiſchen Analyſe, um hinter dieſe deſkriptive Be-
trachtungsweiſe zu den wirklichen Faktoren, aus denen die Materie
ſich zuſammenſetzt, zu dringen. Es unterſcheidet daher drei
Grundkörper (tres primas substantias), das was brennt: Sul-
phur, das was raucht und ſich ſublimirt: Mercurius, das was
als unverbrennliche Aſche zurückbleibt: Sal. Aus dieſen Grund-
körpern, welche zwar nicht iſolirt dargeſtellt, aber von der chemiſchen
Kunſt am Verbrennungsvorgang unterſchieden werden können,
leitet Paracelſus erſt die ariſtoteliſchen Elemente ab. So war
der Weg beſchritten, durch die thatſächliche Zerlegung der Materie
im Experiment ſich den chemiſchen Elementen zu nähern; eben der
Verbrennungsprozeß, von welchem Paracelſus ausging, ſollte
Lavoiſier den Eintritt in die quantitative Unterſuchungsweiſe ver-
mitteln. Jedoch lange Zeit bevor die Chemie zu einer ſicheren Grund-
legung gelangte, wurde die Mechanik durch Galilei exakte Wiſſen-
ſchaft. Lagrange hat in Bezug auf dieſe Leiſtung Galileis hervorge-
hoben, es habe, um die Jupitertrabanten, Venusphaſen und Sonnen-
flecken zu finden, nur des Teleſkops und des Fleißes bedurft, wo-
gegen nur ein außerordentlicher Geiſt die Geſetze der Natur in Er-
ſcheinungen, welche man ſtets vor Augen gehabt, aber bis dahin
nicht hatte erklären können, zu entwirren vermocht habe. Die
einfachen, begrifflich wie quantitativ beſtimmten Vorſtellungen,
welche er zu Grunde legte, ſetzten eine Zerlegung des Bewegungs-
vorgangs in abſtrakte Komponenten voraus, und ſie ermöglichten
gerade durch die Einfachheit der fundamentalen Beziehungen die
Unterordnung der Bewegungen unter die Mathematik. Das
ſcheinbar ſo ſelbſtverſtändliche Prinzip der Trägheit durchſchnitt
die ganze von uns dargelegte metaphyſiſche Theorie, nach welcher
[460]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
eine Bewegung nur durch das Fortwirken der ſie hervorbringenden
Urſache ſich forterhält, ſonach den gleichförmig fortdauernden Be-
wegungen eine gleichförmig wirkende Urſache zu Grunde gelegt
werden mußte. Auf dieſe Theorie, welche der Sinnenſchein von
geſtoßenen und in Ruhezuſtand zurückkehrenden Körpern empfahl,
war die Annahme von pſychiſchen Weſenheiten als Urſachen eines
weiten Kreiſes von Veränderungen in der Natur einerſeits be-
gründet worden, wie ſie andrerſeits aus der Gedankenmäßigkeit
der Bewegungen ihre mehr dauernde Kraft empfing. Nunmehr
zeigte das Prinzip Galileis den Grund der Fortdauer einer Be-
wegung in der Nothwendigkeit des Beharrens des Objektes ſelber
in ſeinem Bewegungszuſtande; dieſer Nothwendigkeit gemäß durch-
läuft das Objekt jedes folgende Differential ſeiner Bahn, weil es
das vorangehende durchlaufen hat. Die Grundlage der meta-
phyſiſchen Naturbetrachtung war vernichtet.
Die erſte Anwendung der Mechanik auf ein verwickeltes
Syſtem von Thatſachen, zugleich die glänzendſte und erhabenſte,
deren ſie fähig iſt, war die auf die großen Bewegungen der Maſſen
im Weltraum. So entſtand die Mechanik des Himmels. Sie wurde
ermöglicht durch die Fortſchritte der Mathematik in analytiſcher
Geometrie und Differentialrechnung. Nun wurde das verwickelte
Getriebe der im Weltraum kreiſenden Geſtirne durch die Theorie
von der Gravitation, als dem unſichtbaren Bande der Sternen-
welt, der mechaniſchen Betrachtungsweiſe untergeordnet. Damit
ſanken die Geſtirngeiſter der metaphyſiſchen Naturauffaſſung dahin
und wurden zu Märchen einer verklungenen Zeit.
Die unermeßliche Veränderung der menſchlichen Weltanſicht,
welche ſich ſo vollzog, begann, indem Copernicus, anknüpfend
an die Forſchungen der Griechen, welche daſſelbe verſucht, die
Sonne in die Mitte der Welt ſtellte. „Denn wer könnte wohl“,
ſo ſagt er, „in dem herrlichen Naturtempel dieſer Fackel einen anderen
Ort anweiſen wollen.“ Die drei Kepler’ſchen Geſetze entwarfen
deſkriptiv die Figuren und Zahlenverhältniſſe der heliocentriſchen
Planetenbewegungen, in welchen Kepler, den Spuren der pytha-
goreiſchen Schule nachgehend, die Harmonie des Himmels an-
[461]Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.
ſchaute. Newton ſuchte die Erklärung für die ſo ihrer Form nach
beſtimmten Bewegungen. Und zwar erklärte er ſie durch eine
Zerlegung in zwei Faktoren. Der eine Faktor liegt in einem
Anſtoß, welchen die Planeten in der Richtung einer Tangente an
ihre gegenwärtige Bahn erhalten haben, der andere in der Gravi-
tation; ſo kann die Krümmung ihrer Bahnen abgeleitet werden.
Auf ſolche Weiſe tritt an die Stelle der geiſtigen Weſen, deren
vorſtellende Kraft und innere geiſtige Beziehung zu einander der
Erklärungsgrund der verwickelten Formen der ſcheinbaren Bahnen
und ihrer mechaniſch zuſammenhangsloſen Räderwerke geweſen
waren, nachdem einmal durch den heliocentriſchen Standpunkt des
Copernicus das Problem eine einfachere, durch Kepler eine genau
präciſirte Faſſung erhalten hatte, der Mechanismus, dem Triebwerk
Einer ungeheuren Uhr vergleichbar. Und das Mittel war die
Zerlegung, die auf das Zuſammenwirken von Faktoren, welche
der Erklärung dienen, die Form zurückführte, während dieſe bis
dahin Gegenſtand einer äſthetiſchen und teleologiſch deſkriptiven
Betrachtung geweſen war.
Wir verfolgen nicht die Bedeutung der fortſchreitenden Chemie
und Phyſik für die gänzliche Veränderung der bisherigen Meta-
phyſik; insbeſondere in der Chemie ſchien nun das analytiſche
Verfahren experimentell die Auffindung der Subſtanzen be-
wirken zu wollen, die im Kosmos vereinigt ſind; aber die Formen
des organiſchen Lebens waren der zweite Hauptſtützpunkt für
die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen, und auch dieſen ſollte
ſie nun verlieren. Die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
widerſtand vermittelſt des Begriffs einer Lebensſeele, der anima
vegetativa, noch eine Zeit lang der Anforderung, die organiſchen
Formen und Leiſtungen als das am meiſten komplexe aller Phä-
nomene der Natur ebenfalls auf den phyſikaliſchen und chemiſchen
Mechanismus zurückzuführen. Dann wies die Biologie dieſer Lebens-
ſeele wenigſtens die Benutzung der chemiſchen und phyſikaliſchen
Kräfte zu: bis ſchließlich die Mehrzahl der Biologen, insbeſondere in
Deutſchland, den Begriff von Lebensſeele, Lebenskraft als für den
Fortſchritt der Forſchung unfruchtbar zurückſtellte und ganz zu
[462]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
eliminiren bemüht war. Auch hier war es wiederum die Zer-
legung der vordem als ein lebendiges, von Einem Pſychiſchen
aus entwickeltes Ganzes betrachteten forma naturae, was die alte
Metaphyſik ſtürzte. — So drang das analytiſche Verfahren,
nicht die bloße Zerlegung in Gedanken, ſondern die thatſäch-
lich eingreifende, den erſten Natururſachen entgegen und löſte
pſychiſche Weſenheiten ſowie ſubſtantiale Formen auf.
Hatte die monotheiſtiſche Lehre den Mittelpunkt der biſ-
herigen Metaphyſik gebildet und beſaß ſie innerhalb der ſtrengen
Wiſſenſchaft ihren Hauptſtützpunkt an dem Schluß aus den
Thatſachen der Aſtronomie, ſo wurde nun auch die Strin-
genz dieſes Schluſſes zerſetzt.
Noch Kepler war durch ſeine Entdeckungen nur dahin ge-
führt worden, die göttliche Kraft, welche die Bewegungen der Pla-
neten hervorbringt, in die Sonne als den Mittelpunkt aller ihrer
Bahnen zu verlegen und ſo bereits eine Centralkraft in der Sonne
anzunehmen. „Wir müſſen eins von beiden vorausſetzen: entweder,
daß die bewegenden Geiſter, je weiter ſie von der Sonne entfernt
ſind, um ſo ſchwächer werden, oder daß es Einen bewegenden
Geiſt in dem Mittelpunkte aller dieſer Bahnen, nämlich in der
Sonne, gebe, der jeden Himmelskörper in eine um ſo ſchnellere
Bewegung verſetzt, je näher ihm dieſer iſt, bei den entfernteren
aber wegen der Erſtreckung und Herabminderung der Kraft gleich-
ſam ermattet 1).“
Alsdann fiel auch noch für Newton nur Ein Erklärungs-
grund der Form der Planetenbewegungen in den Bereich der
Materie; er bedurfte neben ihm der Annahme, daß der Planet
durch einen Stoß in eine gewiſſe Richtung mit einer gewiſſen Ge-
ſchwindigkeit geworfen ſei. So war der erſte Beweger, wenn
auch zu einem untergeordneten Geſchäft, immer noch erforderlich.
Ja mehr, Newton erklärt, daß Planeten und Kometen zwar
nach den Geſetzen der Schwere in ihren Bahnen verharren, aber
die urſprüngliche und regelmäßige Lage derſelben nicht durch dieſe
[463]Auflöſung des Schluſſes aus den Thatſachen der Aſtronomie.
Geſetze erlangen konnten. „Dies vollkommene Gefüge der Sonne,
der Planeten und Kometen hat nur aus dem Rathſchluß und der
Herrſchaft eines einſichtigen und mächtigen Weſens hervorgehen
können 1).“ Seine geiſtige Subſtanz iſt Trägerin der Wechſel-
wirkung der Theile im Weltall. So dauerte eine Zeit hindurch,
wenn auch abgeſchwächt, die Macht des aſtronomiſchen Theils des
kosmologiſchen Beweiſes für das Daſein Gottes fort. Eine Anzahl
von bedeutenden Köpfen, welche ſonſt einen leidenſchaftlichen
Kampf gegen den Kirchenglauben führten, fand ſich auch von
dieſem ſo abgeſchwächten Argument überzeugt. Indem aber die
mechaniſche Theorie von Kant und Laplace dazu angewendet
wurde, die Entſtehung des Planetenſyſtems zu erklären, trat in der
neuen Hypotheſe der Mechanismus an die Stelle der Gottheit.
Die metaphyſiſche Beweisführung, welche uns durch
die ganze Geſchichte der Metaphyſik begleitet hat, iſt als ſolche von
jetzt an zerſtört. Zudem iſt die Unterſcheidung einer höheren un-
veränderlichen Welt von der des Wechſels unter dem Monde nun-
mehr durch die Entdeckungen über die Veränderungen auf den
Geſtirnen ſowie durch die Mechanik und Phyſik des Himmels
aufgehoben. Was zurückbleibt iſt die metaphyſiſche Stim-
mung, iſt jenes metaphyſiſche Grundgefühl des Menſchen, welches
dieſen durch die lange Zeit ſeiner Geſchichte begleitet hat, von
der Zeit ab, da die Hirtenvölker des Oſtens zu den Sternen
aufblickten, da die Prieſter auf den Sternwarten der Tempel des
Orients den Dienſt der Geſtirne und ihre Betrachtung verbanden.
Dieſes metaphyſiſche Grundgefühl iſt in dem menſchlichen Bewußt-
ſein mit dem pſychologiſchen Urſprunge des Gottesglaubens über-
all verwoben; es beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes,
welcher ein Symbol der Unendlichkeit iſt, auf dem reinen Lichte der
Geſtirne, das auf eine höhere Welt zu deuten ſcheint, vor Allem
aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache
Bahn, die ein Geſtirn am Himmel beſchreibt, zu unſerer geo-
[464]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metriſchen Raumanſchauung in eine geheimnißvolle aber lebendig
empfundene Beziehung ſetzt. Dies Alles iſt in Einer Stimmung
verbunden, die Seele findet ſich erweitert, ein gedankenmäßiger
göttlicher Zuſammenhang breitet ſich rings um ſie in das Un-
ermeßliche aus. Dies Gefühl iſt nicht fähig, in irgend eine De-
monſtration aufgelöſt zu werden. Die Metaphyſik verſtummt.
Aber von den Sternen her klingt, wenn die Stille der Nacht
kommt, auch zu uns noch jene Harmonie der Sphären, von welcher
die Pythagoreer ſagten, daß nur das Geräuſch der Welt ſie
übertäube; eine unauflösliche metaphyſiſche Stimmung, welche jeder
Beweisführung zu Grunde lag und ſie alle überleben wird.
Wenn nun ſolchergeſtalt die moderne Naturwiſſenſchaft die
ganze bisher dargeſtellte Metaphyſik der ſubſtantialen Formen und
der pſychiſchen Weſenheiten aufgelöſt hat bis in den innerſten Kern,
den die einheitliche geiſtige Welturſache ausmacht, ſo entſteht die
Frage: in was hat ſie dieſelbe aufgelöſt?
Was ſetzte nun die Zerlegung der zuſammgeſetzten Formen der
Natur an die Stelle dieſer formae substantiales, welche einſt der
Gegenſtand einer deſkriptiven Auffaſſung und Zurückführung auf
geiſtähnliche Weſenheiten geweſen waren? Man hat wol geſagt:
eine neue Metaphyſik. Und in der That ſo weit ein Standpunkt
reicht, wie ihn neuerdings Fechner als die Nachtanſicht geſchildert
hat, ein Standpunkt, für welchen Atome und Gravitation meta-
phyſiſche Entitäten ſind, wie ſie vorher die ſubſtantialen Formen
waren, iſt natürlich nur eine alte mit einer neuen Metaphyſik ver-
tauſcht worden, und man kann nicht einmal ſagen: eine ſchlechtere
mit einer beſſeren. Der Materialismus war eine ſolche neue
Metaphyſik, und eben darum iſt der gegenwärtige naturwiſſen-
ſchaftliche Monismus ſein Sohn und Erbe, weil auch ihm Atome,
Moleküle, Gravitation Entitäten ſind, Wirklichkeiten, ſo gut als
irgend ein Objekt, das geſehen und betaſtet werden kann. Aber
das Verhältniß der wahrhaft poſitiven Forſcher zu den Begriffen,
durch welche ſie die Natur erkennen, iſt ein anderes, als das der
metaphyſiſchen Moniſten. Newton ſelber ſah in der anziehenden
Kraft nur einen Hilfsbegriff für die Formel des Geſetzes, nicht
[465]Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
die Erkenntniß einer phyſiſchen Urſache 1). Solche Begriffe, wie
Kraft, Atom, Molekül ſind für die meiſten hervorragenden Natur-
forſcher ein Syſtem von Hilfskonſtruktionen, vermittelſt deren
wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem für die Vor-
ſtellung klaren und für das Leben benutzbaren Zuſammenhang
entwickeln. Und dies entſpricht dem Sachverhalt.
Ding und Urſache können nicht als Beſtandtheile der Wahr-
nehmungen in den Sinnen aufgezeigt werden. Sie ergeben ſich
auch nicht aus der formalen Anforderung eines denknothwendigen
Zuſammenhangs zwiſchen den Wahrnehmungselementen, noch
weniger aus den bloßen Beziehungen derſelben in Koexiſtenz und
Succeſſion. Für den Naturforſcher mangelt ihnen daher die Legi-
timität des Urſprungs. Sie bilden die inhaltlichen im Erlebniß
gegründeten Vorſtellungen, durch welche Zuſammenhang unter
unſeren Empfindungen beſteht, und zwar treten ſie in einer vor
der bewußten Erinnerung liegenden Entwicklung auf.
Aus ihnen ſahen wir im Verlauf dieſes geſchichtlichen Ueber-
blicks die abſtrakten Begriffe von Subſtanz und Kauſalität
hervorgehen. Nun beſtimmt die Unterſcheidung des Dings von
Wirken, Leiden und Zuſtand nebſt den aus ihr rechtmäßig
vom Erkennen abgeleiteten Unterſcheidungen, welche mit den Be-
griffen der Subſtanz und der Kauſalität gegeben ſind, die Form
des Urtheils. Alſo können wir dieſe Begriffe wol im Wort,
nicht im wirklichen Vorſtellen eliminiren, und die Naturforſchung
kann nur darauf gerichtet ſein, vermittelſt dieſer Vorſtellungen
und Begriffe, welche den einzigen uns möglichen, unſerem Bewußt-
ſein eigenen Zuſammenhang in ſich ſchließen, ein zureichendes und
Dilthey, Einleitung. 30
[466]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
in ſich geſchloſſenes Syſtem der Bedingungen für die Erklärung der
Natur zu konſtruiren.
Wir ziehen wieder nur einen Schluß aus der hiſtoriſchen
Ueberſicht, wenn wir zunächſt weiter behaupten: der Begriff der
Subſtanz und der von ihm ausgehende konſtruktive Begriff des
Atoms ſind aus den Anforderungen des Erkennens an das, was
in der Veränderlichkeit des Dinges als ein zu Grunde liegendes
Feſtes zu ſetzen ſei, entſtanden; ſie ſind geſchichtliche Erzeugniſſe des
mit den Gegenſtänden ringenden logiſchen Geiſtes; ſie ſind alſo
nicht Weſenheiten von einer höheren Dignität als das einzelne
Ding, ſondern Geſchöpfe der Logik, welche das Ding denkbar machen
ſollen und deren Erkenntnißwerth unter der Bedingung des Erlebens
und Anſchauens ſteht, in denen das Ding gegeben iſt. Dem
Schema dieſer Begriffe haben ſich die großen Entdeckungen ein-
geordnet, welche in den Grenzen unſerer chemiſchen Erfahrungen
die Unveränderlichkeit der Stoffe nach Maſſe und Eigenſchaften
mitten in dem Wechſel der chemiſchen Verbindungen und Tren-
nungen erweiſen. So entſteht die Möglichkeit, an welche alle
fruchtbare Naturforſchung gebunden iſt, die in der Anſchauung
gegebenen Thatbeſtände und Beziehungen rückwärts dem zu Grunde
zu legen, was der Anſchauung entzogen iſt, und ſolchergeſtalt
eine einheitliche Naturanſicht durchzuführen. Die klaren Vor-
ſtellungen von Maſſe, Gewicht, Bewegung, Geſchwindigkeit, Ab-
ſtand, welche an den größeren ſichtbaren Körpern gebildet ſind
und an dem Studium der Maſſen im Weltraum ſich bewährt
haben, werden auch da benutzt, wo die Sinne durch die Vor-
ſtellungskraft erſetzt werden müſſen. Daher iſt auch der Verſuch
des deutſchen Idealismus, dieſe Grundvorſtellung von der Kon-
ſtitution der Materie zu verdrängen, eine unfruchtbare Epiſode
geblieben, während die Atomiſtik in ihrer Entwicklung ſtätig, wenn
auch zuweilen durch ſehr barocke Vorſtellungen von den Maſſen-
theilchen, voranſchreitet. Dieſe barocken Vorſtellungen wollen zwar
unſeren idealen Anforderungen an die erſten Gründe des Kosmos
nicht entſprechen, ſind aber den ſichtbaren Erſcheinungen gleichartig,
und ermöglichen den nach der Lage der Wiſſenſchaft zur Zeit für
[467]Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
die Erklärung dieſer Erſcheinungen am meiſten geeigneten Begriffs-
zuſammenhang. Wogegen die Vorſtellungen der idealiſtiſchen
Naturphiloſophie zwar durch ihre Verwandtſchaft mit dem geiſtigen
Leben höchſt würdig erſchienen, den Ausgangspunkt der Erklärung
der Natur zu bilden, aber indem ſie eine den ſichtbaren Objekten
heterogene Innerlichkeit hinter dieſen dichteten, waren ſie andrer-
ſeits unfähig, dieſe ſichtbaren Objekte wirklich zu erklären, und
darum gänzlich unfruchtbar 1).
Dieſelbe Folgerung ergiebt ſich alsdann in Bezug auf den Er-
kenntnißwerth des Begriffes der Kraft und der ihm benachbarten
von Kauſalität und Geſetz. Während der Begriff der Subſtanz
im Alterthum ausgebildet wurde, hat der Begriff der Kraft ſeine
gegenwärtige Geſtaltung erſt im Zuſammenhang mit der neueren
Wiſſenſchaft empfangen. Wiederum blicken wir rückwärts; den
Urſprung dieſes Begriffs erfaßten wir noch im mythiſchen Vor-
ſtellen als Erlebniß. Die Natur dieſes Erlebniſſes wird ſpäter
Gegenſtand der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung ſein. Hier
ſei nur herausgehoben: wie wir in unſerem Erlebniß finden, kann
der Wille die Vorſtellungen lenken, die Glieder in Bewegung
ſetzen, und dieſe Fähigkeit wohnt ihm bei, wenn er auch nicht
immer von ihr Gebrauch macht; ja im Falle äußerer Hemmung
kann ſie zwar durch eine gleiche oder größere Kraft in Ruheſtand
gehalten werden, wird jedoch als vorhanden gefühlt. So faſſen
wir die Vorſtellung einer Wirkensfähigkeit (oder eines Vermögens),
welche dem einzelnen Akt von Wirken voraufgeht; aus einer Art
von Reſervoir wirkender Kraft entfließen die einzelnen Willensakte
und Handlungen. Die erſte wiſſenſchaftliche Entwicklung dieſer
Vorſtellung haben wir in der ariſtoteliſchen Begriffsreihe von
Dynamis, Energie und Entelechie vorgefunden. Jedoch war die
hervorbringende Kraft in dem Syſtem des Ariſtoteles noch nicht
von dem Grunde der zweckmäßigen Form ihrer Leiſtung geſondert,
und wir erkannten gerade hierin ein charakteriſtiſches Merkmal
und eine Grenze der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft. Erſt dieſe Son-
30*
[468]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
derung ermöglichte die mechaniſche Weltanſicht. Dieſelbe trennte
den abſtrakten Begriff von Quantität der Kraft (Energie, Arbeit)
von den konkreten Naturphänomenen ab. Jede Maſchine zeigt eine
meßbare Triebkraft, deren Quantum von der Form verſchieden
iſt, in welcher die Kraft auftritt, und ſie zeigt zugleich, wie durch
die Leiſtung Triebkraft verbraucht wird; vis agendo consumitur.
Das Ideal eines objektiven dem Gedanken faßbaren Zuſammen-
hangs der Bedingungen für das Gegebene iſt in dieſer Richtung
durch die Entdeckung des mechaniſchen Aequivalents der Wärme
und die Aufſtellung des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft
verwirklicht. Auch hier haben wir kein aprioriſches Geſetz vor
uns, vielmehr haben poſitive Entdeckungen die Naturwiſſenſchaft
dem angegebenen Ideal angenähert. Indem eine Naturkraft nach
der anderen in Bewegung aufgelöſt, dieſe aber dem umfaſſenden
Geſetz untergeordnet wird, daß jedes Wirken Effekt eines früheren
gleich großen, jeder Effekt Urſache eines weiteren gleich großen
Effektes ſei: ſchließt ſich der Zuſammenhang ab. So hat das
Geſetz von der Erhaltung der Kraft in Bezug auf die Benutzung
der Vorſtellung von Kraft dieſelbe Funktion als der Satz von
der Unveränderlichkeit der Maſſe im Weltall in Bezug auf den
Stoff. Zuſammen ſondern ſie, auf dem Wege der Erfahrung,
das Konſtante in den Veränderungen des Weltalls aus, welches
aufzufaſſen die metaphyſiſche Epoche vergebens bemüht war.
So viel iſt klar: man kann die mechaniſche Naturerklärung,
wie ſie nun das Ergebniß der bewundernswerthen Arbeit des
naturforſchenden Geiſtes in Europa ſeit dem Ausgang des Mittel-
alters iſt, nicht gröber mißverſtehen, als indem man ſie als eine
neue Art von Metaphyſik, etwa eine ſolche auf induktiver Grund-
lage, auffaßt. Freilich ſonderte ſich nur allmälig und langſam
von der Metaphyſik das Ideal von erklärender Erkenntniß des
Naturzuſammenhangs ab, und erſt die erkenntnißtheoretiſche For-
ſchung klärt den ganzen Gegenſatz auf, der zwiſchen dem
metaphyſiſchen Geiſt und der Arbeit der modernen
Naturwiſſenſchaft beſteht. Sie mag ihn vorläufig, vor der
Darlegung unſerer Erkenntnißtheorie, folgendermaßen beſtimmen.
[469]Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
1. Die äußere Wirklichkeit iſt in der Totalität unſeres
Selbſtbewußtſeins nicht als bloßes Phänomen gegeben, ſondern
als Wirklichkeit, indem ſie wirkt, dem Willen widerſteht und dem
Gefühl in Luſt und Wehe da iſt. In dem Willensanſtoß und
Willenswiderſtand werden wir innerhalb unſeres Vorſtellungszu-
ſammenhangs eines Selbſt inne, und geſondert von ihm eines
Anderen. Aber dies Andere iſt nur mit ſeinen prädikativen Be-
ſtimmungen für unſer Bewußtſein da, und die prädikativen Be-
ſtimmungen erhellen nur Relationen zu unſeren Sinnen und
unſerem Bewußtſein: das Subjekt oder die Subjekte ſelber ſind
nicht in unſeren Sinneseindrücken. So wiſſen wir vielleicht, daß
dies Subjekt da ſei, doch ſicher nicht, was es ſei.
2. Für dieſes Phänomen der äußeren Wirklichkeit ſucht nun
die mechaniſche Naturerklärung denknothwendige Be-
dingungen. Und zwar iſt die äußere Wirklichkeit jederzeit,
weil ſie uns als ein Wirkendes gegeben war, Gegenſtand der
Unterſuchung in Bezug auf ihre Subſtanz und die ihr unterliegende
Urſächlichkeit für den Menſchen geweſen. Auch verbleibt das Denken
durch das Urtheil als ſeine Funktion an die Unterſcheidung von
Subſtanz einerſeits und Thun, Leiden, Eigenſchaft, Kauſalität,
ſchließlich Geſetz andrerſeits gebunden. Die Unterſcheidung der
zwei Klaſſen von Begriffen, welche das Urtheil trennt und ver-
knüpft, kann nur mit dem Urtheilen, ſonach dem Denken ſelber
aufgehoben werden. Aber eben darum können für das Studium
der Außenwelt die unter dieſen Bedingungen entwickelten Begriffe
nur Zeichen ſein, welche, als Hilfsmittel des Zuſammenhangs
im Bewußtſein, zur Löſung der Aufgabe der Erkenntniß in das
Syſtem der Wahrnehmungen eingeſetzt werden. Denn das Er-
kennen vermag nicht an die Stelle von Erlebniß eine von ihm
unabhängige Realität zu ſetzen. Es vermag nur, das in Erleben
und Erfahren Gegebene auf einen Zuſammenhang von Bedingungen
zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die
konſtanten Beziehungen von Theilinhalten feſtſtellen, welche in
den mannichfachen Geſtalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt
man daher den Erfahrungsbezirk ſelber, ſo hat man es nur mit
[470]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die
Atome ſind unter dieſem Geſichtspunkte, wenn ſie Entitäten zu
ſein beanſpruchen, nicht beſſer als die ſubſtantialen Formen: ſie
ſind Geſchöpfe des wiſſenſchaftlichen Verſtandes.
3. Die Bedingungen, welche die mechaniſche Na-
turerklärung ſucht, erklären nur einen Theilinhalt der
äußeren Wirklichkeit. Dieſe intelligible Welt der Atome,
des Aethers, der Vibrationen iſt nur eine abſichtliche und höchſt
kunſtvolle Abſtraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge-
gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konſtruiren, welche
die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be-
ſtimmungen abzuleiten und ſonach künftige Eindrücke vorauszu-
ſagen geſtatten. Das Syſtem der Bewegungen von Elementen,
in welchem dieſe Aufgabe gelöſt wird, iſt nur ein Ausſchnitt der
Realität. Denn ſchon der Anſatz unveränderlicher qualitätsloſer
Subſtanzen iſt eine bloße Abſtraktion, ein Kunſtgriff der Wiſſen-
ſchaft. Er iſt dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung
aus der Außenwelt in das Bewußtſein hinübergeſchoben wird,
wodurch denn die Außenwelt von den läſtigen Veränderungen
der ſinnlichen Eigenſchaften befreit wird. Das Medium von Klar-
heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung,
Geſetz, Element ſchweben, iſt nur die Folge davon, daß die That-
beſtände durch Abſtraktion von Allem befreit ſind, was der Maß-
beſtimmung unzugänglich iſt. Und daher iſt dieſer mechaniſche
Naturzuſammenhang zunächſt ſicher ein nothwendiges und frucht-
bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältniſſen
den Zuſammenhang des geſammten Geſchehens in der Natur aus-
drückt, aber was ſie mehr ſei als dies, darüber kann kein Natur-
forſcher etwas ausſagen, will er nicht den Boden der ſtrengen
Wiſſenſchaft verlaſſen.
4. Der Zuſammenhang der Bedingungen, welchen
die mechaniſche Naturerklärung auſſtellt, kann vorläufig noch
nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf-
gezeigt werden. Der organiſche Körper bildet eine ſolche Grenze
der mechaniſchen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-
[471]Gegenſatz des metaph. Geiſtes u. der modernen Naturwiſſenſchaft.
kennen, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetze nicht an der
Grenze des organiſchen Körpers wirkſam zu ſein aufhören. Hat
ſich aber die Naturforſchung das umfaſſende Problem geſtellt, unter
Eliminirung der Lebenskraft aus dem mechaniſchen Naturzuſammen-
hang die Prozeſſe des Lebens, ſeine organiſche Form, ſeine Bil-
dungsgeſetze und ſeine Entwicklung, endlich die Art der Speziali-
ſirung des Organiſchen in Typen abzuleiten, ſo iſt dies Problem
heute noch ungelöſt.
5. Aus der Natur dieſes Verfahrens der Aufſuchung von
Bedingungen für die äußere Wirklichkeit ergiebt ſich eine weitere
Folge. Man kann ſich nicht verſichern, ob nicht noch
weitere Bedingungen in den Thatſachen verſteckt ſind,
deren Kenntniß eine ganz andere Konſtruktion erforderlich machen
würde. Ja wenn wir einen weiteren Kreis von Erfahrungen
beſäßen, ſo würden vielleicht dieſe von uns konſtruirten Ge-
dankendinge durch ſolche von einer weiter zurückliegenden, gleich-
ſam mehr primären Beſchaffenheit erſetzt werden. Hierauf leitet
ſogar poſitiv der noch unerklärte Reſt, welcher die Meta-
phyſiker beſtimmt hat, von dem Ganzen, von der Idee
auszugehen. Denn betrachtet man die Elemente als Urdata,
ſo muß die Betrachtung in einen Abgrund von Bedenken ſtürzen,
daß dieſe Elemente auf einander wirken, gemeinſames Verhalten
zeigen und vermittelſt deſſelben zum Aufbau zweckmäßig ſich be-
wegender Organismen zuſammenwirken. Die mechaniſche Natur-
erklärung kann die urſprüngliche Anordnung, aus welcher dieſer
gedankenmäßige Zuſammenhang hervorgeht, vorläufig nur als zu-
fällig anſehen. Der Zufall iſt aber die Aufhebung der Denk-
nothwendigkeit, welche zu finden der Wille der Erkenntniß ſich in
der Naturwiſſenſchaft in Bewegung ſetzt.
6. Die Naturwiſſenſchaft gelangt ſo nicht zu einem ein-
heitlichen Zuſammenhang der Bedingungen des Ge-
gebenen, welchen aufzuſuchen ſie doch ausgegangen war. Denn
die Geſetze der Natur, unter denen alle Stoffelemente gemeinſam
ſtehen, können nicht dadurch erklärt werden, daß ſie dem einzelnen
Stoffelement als ſein Verhalten zugeſchrieben werden. Die Ana-
[472]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
lyſis iſt zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Geſetz,
gelangt, und wie das Atom im naturwiſſenſchaftlichen Denken
als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem
Syſtem von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkennt-
nißzuſammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Maſſentheil-
chen im Syſtem der Relationen daſſelbe Verhalten als ein anderes
zeigt, iſt aus ſeinem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja
erſcheint von ihm aus als ſchwer faßbar. Und wie zwiſchen
unveränderlichen Einzelgrößen ein Kauſalzuſammenhang ſtattſinden
ſoll, iſt nun gar vollſtändig unvorſtellbar. Unſer Verſtand muß
die Welt wie eine Maſchine auseinandernehmen, um zu erkennen;
er zerlegt ſie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes iſt, kann
er aus dieſen Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine
Folgerung aus der geſchichtlichen Darlegung. Dieſer letzte Befund
der Analyſis der Natur in der modernen Naturwiſſenſchaft iſt
demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphyſik der Natur bei
den Griechen gelangen ſahen: den ſubſtantialen Formen und der
Materie. Das Naturgeſetz korreſpondirt der ſubſtantialen
Form, das Maſſentheilchen der Materie. Und zwar ſtellt
ſich in dieſen iſolirten Befunden ſchließlich nur der Unterſchied
von Eigenſchaften dar, welche für die Einheit des Bewußt-
ſeins in Gleichförmigkeiten ſich aufſchließen, und dem, was ihnen
als einzelne Poſitivität zu Grunde liegt, kurz die Natur des
Urtheils, ſonach des Denkens.
So iſt ſelbſt für die iſolirte Naturbetrachtung der Monismus
nur ein Arrangement, in welchem die Beziehung von Eigen-
ſchaften und Verhalten auf das, was ſich verhält, nothwendig iſt,
da ſie aus der Natur des Bewußtſeinsphänomens Wirklichkeit
richtig geſchöpft wird, aber die Herſtellung dieſer Beziehung bindet
nur an einander, was innerlich nicht zuſammengehört: die einzelne
Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zuſammen-
hang, der für unſer Bewußtſein ſtets auf eine Einheit zurückweiſt.
Ueberſchreitet jedoch der naturwiſſenſchaftliche Monismus die
Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Geiſtige in den Be-
reich ſeiner Erklärung, alsdann hebt die Naturforſchung ihre eigene
[473]Gegenſatz des metaph. Geiſtes u. der modernen Naturwiſſenſchaft.
Bedingung und Vorausſetzung auf; aus dem Willen der Erkennt-
niß ſchöpft ſie ihre Kraft, ihre Erklärungen aber können dieſen in
ſeiner vollen Realität nur verneinen.
Der Rückſtand der ſo der wiſſenſchaftlichen Erklärung zurück-
bleibt, iſt thatſächlich in dem Bewußtſein verbunden mit dem
ganzen Verhältniß zur Natur, welches in der Totalität unſeres
geiſtigen Lebens gegründet iſt und aus welchem ſich die moderne
wiſſenſchaftliche Naturbetrachtung differenzirt und verſelbſtändigt
hat. Wir haben nachgewieſen, daß in dem Geiſt von Plato oder
Ariſtoteles, von Auguſtinus oder Thomas von Aquino dieſe Diffe-
renzirung noch nicht beſtand; in ihre Betrachtung der Naturformen
war noch das Bewußtſein von Vollkommenheit, von gedanken-
mäßiger Schönheit des Weltalls untrennbar verwebt. Die Son-
derung der mechaniſchen Naturerklärung aus dieſem Zuſammen-
hang des Lebens, in welchem uns die Natur gegeben iſt, hat erſt
den Zweckgedanken aus der Naturwiſſenſchaft ausgeſtoßen. Er
bleibt jedoch in dem Zuſammenhang des Lebens, welchem die
Natur gegeben iſt, enthalten, und wenn man die Teleologie im
Sinne der Griechen als dies Bewußtſein von dem gedanken-
mäßigen, unſerem inneren Leben entſprechenden ſchönen Zuſammen-
hang erkennt, iſt dieſe Idee von Zweckmäßigkeit im Menſchen-
geſchlechte unzerſtörbar. In den Formen, Gattungen und Arten
der Natur bleibt ein Ausdruck dieſer immanenten Zweckmäßigkeit
enthalten und wird ſelbſt von dem Darwiniſten nur weiter zu-
rückgeſchoben. Auch ſteht dieſes Bewußtſein der Zweckmäßigkeit in
einem inneren Verhältniß zu der Erkenntniß der Gedankenmäßig-
keit der Natur, kraft welcher in ihr nach Geſetzen Typen hervor-
gebracht werden. Dieſe Gedankenmäßigkeit iſt aber ſtreng beweis-
bar. Denn gleichviel wovon unſere Eindrücke Zeichen ſind, der
Verlauf unſeres Naturwiſſens vermag, die Koexiſtenz und Succeſſion
dieſer Zeichen, welche in einem feſten Verhältniß zu dem im
Willen gegebenen Anderen ſtehen, in ein Syſtem aufzulöſen,
welches den Eigenſchaften unſeres Erkennens entſpricht.
Mit der Macht einer unwiderſtehlichen Naturerſcheinung hat
ſich zugleich mit der Durchführung der mechaniſchen Naturer-
[474]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
klärung das tiefe Bewußtſein des Lebens in der Natur, wie es
in der Totalität unſeres eigenen Lebens gegeben iſt, in der Poeſie
ausgeſprochen; nicht als eine Art von ſchönem Schein oder von
Form (wie Vertreter der formalen Aeſthetik annehmen würden),
ſondern als gewaltiges Lebensgefühl; zunächſt in der Naturempfin-
dung von Rouſſeau, deſſen Lieblingsneigungen naturwiſſenſchaftliche
waren, alsdann aber in Goethes Poeſie und Naturphiloſophie.
Dieſer bekämpfte mit leidenſchaftlichem Schmerz, vergebens, ohne
die Hilfsmittel klarer Auseinanderſetzung, die ſicheren Reſultate
der Newton’ſchen mechaniſchen Naturerklärung, indem er dieſe als
Naturphiloſophie betrachtete, nicht als das, was ſie war: Entwick-
lung eines in der Natur gegebenen Theilzuſammenhangs als ab-
ſtraktes Hilfsmittel der Erkenntniß und Benutzung der Natur.
Ja ſelbſt Schiller hat der wiſſenſchaftlichen Analyſis, welche zer-
legt und tödtet, die Syntheſis künſtleriſcher Betrachtung gegenüber-
geſtellt, als ein Verfahren von einem höheren Grad gleichſam
metaphyſiſcher Wahrheit, und hat dem entſprechend in ſeiner
Aeſthetik die Erfaſſung des ſelbſtändigen Lebens in der Natur
dem Künſtler zugeſchrieben. So iſt in dem Differenzirungsprozeß
des Seelenlebens und der Geſellſchaft das Heilige, Unverletzliche,
Allgewaltige, was als Natur unſerem Leben thatſächlich gegeben
iſt, von Dichtern und Künſtlern geliebt und dargeſtellt worden,
während es einer wiſſenſchaftlichen Behandlung nicht zugänglich
iſt. Und hier iſt weder der Dichter zu ſchmähen, der von dem
erfüllt iſt, was für die Wiſſenſchaft gar nicht da ſein kann, noch
der Forſcher, der von dem nichts weiß, was dem Dichter die
glücklichſte Wahrheit iſt. In der Differenzirung des Lebens der
Geſellſchaft hat ein Syſtem wie die Poeſie ſeine Funktion ſtets
modificirt. Die Dichtung hat ſeit der Herſtellung der mechaniſchen
Naturauffaſſung das in ſich verſchloſſene, keiner Erklärung zugäng-
liche große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechterhalten, wie
ſie überall ſchützt, was erlebt wird, aber nicht begriffen werden
kann, daß es nicht in den zerlegenden Operationen der abſtrakten
Wiſſenſchaft ſich verflüchtige. In dieſem Sinne iſt was Carlyle
und Emerſon geſchrieben haben eine geſtaltloſe Poeſie. Während
[475]Das Bewußtſein des Lebens in der Natur.
daher jene populären Darſtellungen der Natur, welche in die
harten klaren Vorſtellungen des das Sinnliche zerlegenden Ver-
ſtandes ein täuſchendes Spiel von innerer Lebendigkeit ſentimental
hineinverlegen, eine verwerfliche Zwitterbildung ſind; während
die deutſche Naturphiloſophie eine Verwirrung der Naturerkenntniß
durch Hineintragung des Geiſtes und eine Herabminderung des
Geiſtigen durch Verſenkung in die Natur war, behält die Dich-
tung ihre unſterbliche Aufgabe.
Drittes Kapitel.
Die Geiſteswiſſenſchaften.
Aus der Metaphyſik löſte ſich ein zweiter Zuſammenhang
von Wiſſenſchaften, der ebenfalls eine in unſerer Erfahrung ge-
gebene Wirklichkeit zum Gegenſtande hat und dieſelbe aus ihr allein
erklärt. Auch hier hat die Analyſis für immer die Begriffe zer-
ſtört, durch welche die metaphyſiſche Epoche die Thatſachen ge-
deutet hatte. So iſt die metaphyſiſche Konſtruktion der Geſellſchaft
und Geſchichte, welche das Mittelalter geſchaffen hatte, nicht nur
an den dargelegten Widerſprüchen und Lücken der Beweisführung
zu Grunde gegangen, ſondern indem ihre Allgemeinvorſtellungen
durch eine wirkliche Zerlegung in den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes erſetzt zu werden begannen.
[476]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Zwiſchen der Schöpfung Adam’s und dem Weltuntergang
hatte dieſe Metaphyſik die Fäden ihres Netzes von Allgemein-
vorſtellungen ausgeſpannt. In der humaniſtiſchen Epoche be-
gann Herſtellung eines ausreichenden geſchichtlichen Materials,
Kritik der Quellen, Arbeit nach philologiſcher Methode. So wurde
das wirkliche Leben der Griechen vermittelſt ihrer Dichter und Ge-
ſchichtſchreiber wieder ſichtbar. Ja wie wir emporſteigend immer
entfernter liegende Landſchaften und Städte gewahr werden, ſo hat
ſich der geſchichtliche Ueberblick den aufwärts ſchreitenden neueren
Völkern immer mehr erweitert, und der mythiſche Anfang des
Menſchengeſchlechts verſchwand nun vor einer Forſchung, welche
den geſchichtlichen Zügen in der älteſten Ueberlieferung nachging.
Hierzu trat die Erweiterung des räumlichen, geographiſchen Hori-
zontes der geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Schon den Abenteurern,
welche in die neuen Welttheile jenſeit des Oceans vorandrangen,
traten Völker von niederer Kulturſtufe und von abweichendem
Typus entgegen. Unter der Gewalt dieſer neuen Eindrücke hat
man gelegentlich einen ſchwarzen, einen rothen und einen weißen
Adam unterſchieden. Das hiſtoriſche Gerüſt der Metaphyſik der
Geſchichte brach zuſammen. Ueberall hat die hiſtoriſche Kritik
das Gewebe der Sagen, Mythen und Rechtsfabeln zerſtört, durch
welche die theokratiſche Geſellſchaftslehre die Inſtitutionen mit dem
Willen Gottes verknüpfte.
Blieb aber nicht eine metaphyſiſche Konſtruktion übrig,
welche die nunmehr von der Arbeit philologiſcher und hiſto-
riſcher Kritik reinlich feſtgeſtellten Thatſachen zu einem
ſinnvollen Ganzen verknüpfen würde? Die mittelalter-
liche Vorſtellung hatte die Einheit des Menſchengeſchlechtes durch
ein reales Band erklärt, wie ein ſolches als Seele die Theile
eines Organismus vereinige, und eine ſolche Vorſtellung wurde
nicht durch die hiſtoriſche Kritik zerſtört wie die von der Schenkung
Konſtantin’s. Sie hatte von ihrem theokratiſchen Gedanken aus
den Zuſammenhang der Geſchichte einer teleologiſchen Deutung
unterworfen, und auch dieſe wurde von den Ergebniſſen der Kritik
nicht direkt vernichtet. Aber nachdem einmal die feſten Prämiſſen
[477]Zerſtörung des hiſtoriſchen Gerüſts der Metaphyſik der Geſchichte.
dieſer teleologiſchen Deutung in der hiſtoriſchen Tradition von
Anfang, Mitte und Ende der Geſchichte ſowie in der poſitiv theo-
logiſchen Beſtimmung ihres Sinns ſich aufgelöſt hatten, trat nun
die gränzenloſe Vieldeutigkeit des geſchichtlichen Stoffes
hervor. Hierdurch wurde die Unbrauchbarkeit eines teleo-
logiſchen Prinzips der Geſchichtserkenntniß nachgewieſen.
Wie denn veraltete Dogmen zumeiſt weniger dem direkten Argument
erliegen als dem Gefühl der Nichtübereinſtimmung mit dem auf
anderen Gebieten des Wiſſens Erworbenen. Die Kauſalunterſuchung
und das Geſetz wurden von der Naturforſchung auf die Geiſtes-
wiſſenſchaften übertragen, ſo wurde der ganze Unterſchied des Er-
kenntnißwerthes von teleologiſchen Ausdeutungen und von wirk-
lichen Erklärungen beſſer als durch jedes Argument deutlich, als
man die Entdeckungen von Galilei und Newton mit den Be-
hauptungen von Boſſuet verglich. Und im Einzelnen hat die
Anwendung der Analyſis auf die zuſammengeſetzten geiſtigen
Erſcheinungen und die aus ihnen abſtrahirten Allgemeinvor-
ſtellungen ſchrittweiſe dieſe Allgemeinvorſtellungen und die aus
ihnen gewebte Metaphyſik der Geiſteswiſſenſchaften aufgelöſt.
Aber der Gang dieſer Auflöſung der metaphyſiſchen Vorſtel-
lungen und der Herſtellung eines ſelbſtändigen Zuſammenhangs
der auf unbefangene Erfahrung gegründeten Kauſalerkenntniß iſt
auf dem Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ein viel langſamerer
geweſen als auf dem der Naturwiſſenſchaften, und es muß dar-
gelegt werden, wodurch dies bedingt war. Das Verhältniß der
geiſtigen Thatſachen zur Natur legte den Verſuch einer Unterord-
nung insbeſondere der Pſychologie unter die mechaniſche Natur-
wiſſenſchaft nahe. Und das berechtigte Streben, Geſellſchaft und
Geſchichte als ein Ganzes aufzufaſſen, hat ſich nur langſam und
ſchwer von den aus dem Mittelalter ſtammenden metaphyſiſchen
Hilfsmitteln zur Löſung dieſer Aufgabe getrennt. Dies beides
erläutern die folgenden geſchichtlichen Thatſachen, aber ſie zeigen
zugleich, wie neben einander fortſchreitend das Studium des
Menſchen, das der Geſellſchaft und das der Geſchichte die Schemen
[478]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metaphyſiſcher Erkenntniſſe zerſtört und überall lebensvolles, wir-
kungskräftiges Wiſſen an ihre Stelle zu ſetzen begonnen haben.
Der Analyſis der menſchlichen Geſellſchaft iſt der Menſch
ſelber als lebendige Einheit gegeben 1), und die Zergliederung
dieſer Lebenseinheit bildet daher ihr fundamentales
Problem2). Die Betrachtungsweiſe der älteren Metaphyſik
wird zunächſt auf dieſem Gebiet dadurch beſeitigt, daß hinter
die teleologiſche Gruppirung allgemeiner Formen des geiſtigen
Lebens zurückgegangen wird auf erklärende Geſetze.
Die neuere Pſychologie ſtrebte alſo, die Gleichförmigkeiten
zu erkennen, nach welchen ein Vorgang im pſychiſchen Leben
von anderen bedingt iſt. Hierdurch erwies ſie die untergeordnete
Bedeutung der in der metaphyſiſchen Epoche ausgebildeten Pſy-
chologie, welche für die einzelnen Vorgänge Klaſſenbegriffe auf-
geſucht, und dieſen Vermögen oder Kräfte untergelegt hatte.
Es iſt höchſt intereſſant, in dem zweiten Drittel des ſiebzehnten
Jahrhunderts zwiſchen den unzähligen klaſſificirenden Werken dieſe
neue Pſychologie ſich erheben zu ſehen. Und zwar ſtand ſie
naturgemäß zunächſt unter dem Einfluß der herrſchenden Natur-
erklärung, innerhalb deren eine fruchtbare Methode zuerſt durchge-
führt worden war. Der Einführung der mechaniſchen Natur-
erklärung durch Galilei und Descartes folgte daher unmittelbar
die Ausdehnung dieſer Erklärungsweiſe auf den Men-
ſchen und den Staat durch Hobbes und danach durch Spinoza.
Spinozas Satz:mens conatur in suo esse perseverare
indefinita quadam duratione et hujus sui conatus est conscia3)
ſtammt aus den Prinzipien der mechaniſchen Schule; er ordnet
[479]Auffindung von Geſetzen des geiſtigen Lebens.
augenſcheinlich dem Naturbegriff der Trägheit das Lebendige des
um ſich greifenden Willens unter. Nach denſelben Prinzipien iſt
der weitere Aufbau einer Mechanik der pſychiſchen Totalzuſtände
(affectus) bei Spinoza durchgeführt. Er zieht Geſetze hinzu, denen
gemäß pſychiſche Totalzuſtände auf ihre Urſachen zurückbezogen,
nach Gleichartigkeit und Aehnlichkeit zurückgerufen und fremde
Gemüthszuſtände in der Sympathie auf das Eigenleben übertragen
werden. Wol war dieſe Theorie höchſt unvollkommen. Der
todte und ſtarre Begriff der Selbſterhaltung drückt den Lebensdrang
nicht zureichend aus; wenn wir die Theorie durch den Satz er-
gänzen, daß die Gefühle ein Innewerden der Zuſtände des Willens
ſind, ſo kann nur ein Theil der Gefühlszuſtände dieſer Voraus-
ſetzung untergeordnet werden; und die Sympathie wird nur durch
einen Trugſchluß aus der Selbſterhaltung abgeleitet 1) Aber die
außerordentliche Bedeutung von Spinozas Theorie lag darin, daß
ſie im Geiſte der großen Entdeckungen der Mechanik und Aſtronomie
die ſcheinbar regelloſen und von Willkür geleiteten Totalzuſtände
des pſychiſchen Lebens dem einfachen Geſetz der Selbſterhaltung
unterzuordnen den Verſuch machte. Dies geſchieht, indem die Lebens-
einheit, der Modus Menſch, welcher ſich zu erhalten ſtrebt, in das
Syſtem der Bedingungen gleichſam hineingezeichnet wird, welches
ſein Milieu bildet. Dadurch daß für die Selbſterhaltung För-
derungen von außen und Hemmungen in dieſem Zuſammenhang
abgeleitet und die ſo entſtehenden Affektionen unter Grundgeſetze
der Verkettung pſychiſcher Zuſtände geſtellt werden, entſteht ein
Schema des Kauſalſyſtems der pſychiſchen Zuſtände. Feſte Stellen
werden bezeichnet, an welchen in den ſo entworfenen mechaniſchen
Zuſammenhang die einzelnen pſychiſchen Erlebniſſe eingeſetzt werden.
Die Definitionen der Totalzuſtände ſind nur ſolche Beſtimmungen
der Stelle derſelben in der Konſtruktion des Mechanismus der
Selbſterhaltung, und ihnen fehlte nur die quantitative Be-
ſtimmung, um äußerlich den Anforderungen einer Erklärung zu
entſprechen.
[480]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
David Hume, welcher über zwei Generationen nach Spi-
noza deſſen Werk fortſetzte, verhält ſich zu Newton genau ſo wie
Spinoza zu Galilei und Descartes. Seine Aſſoziationstheorie iſt
ein Verſuch, nach dem Vorbild der Gravitationslehre Geſetze des
Aneinanderhaftens von Vorſtellungen zu entwerfen. „Die Aſtro-
nomen“, ſo erklärt er, „hatten ſich lange begnügt, aus den
ſichtbaren Erſcheinungen die wahren Bewegungen, die wahre Ord-
nung und Größe der Himmelskörper zu beweiſen, bis ſich endlich
ein Philoſoph erhob, welcher durch ein glückliches Nachdenken auch
die Geſetze und Kräfte beſtimmt zu haben ſcheint, durch welche der
Lauf der Planeten beherrſcht und geleitet wird. Das Gleiche iſt
auf anderen Gebieten der Natur vollbracht worden. Und man
hat keinen Grund, an einem gleichen Erfolg bei den Unterſuchungen
der Kräfte und der Einrichtung der Seele zu verzweifeln, wenn
dieſelben mit gleicher Fähigkeit und Vorſicht angeſtellt werden.
Es iſt wahrſcheinlich, daß die eine Kraft und der eine Vorgang
in der Seele von dem andern abhängt 1).“
So begann die erklärende Pſychologie in der Unterordnung
der geiſtigen Thatſachen unter den mechaniſchen Naturzuſammen-
hang, und dieſe Unterordnung wirkte bis in die Gegenwart. Zwei
Theoreme haben die Grundlage des Verſuchs gebildet, einen
Mechanismus des geiſtigen Lebens zu entwerfen. Die Vor-
ſtellungen, welche von den Eindrücken zurückbleiben, werden als
feſte Größen behandelt, die immer neue Verbindungen eingehen,
aber in ihnen dieſelben bleiben, und Geſetze ihres Verhaltens zu
einander werden aufgeſtellt, aus denen die pſychiſchen Thatſachen
von Wahrnehmung, Phantaſie etc. abzuleiten die Aufgabe iſt.
Hierdurch wird eine Art von pſychiſcher Atomiſtik ermöglicht.
Jedoch werden wir zeigen, daß die eine wie die andere dieſer
beiden Vorausſetzungen falſch iſt. So wenig als der neue Früh-
ling die alten Blätter auf den Bäumen nur wieder ſichtbar
macht, werden die Vorſtellungen des geſtrigen Tages am heutigen,
nur etwa dunkler, wiedererweckt; vielmehr baut ſich die erneuerte
[481]Hierdurch wird die metaphyſiſche Pſychologie beſeitigt.
Vorſtellung von einem beſtimmten inneren Geſichtspunkte aus auf,
wie die Wahrnehmung von einem äußeren. Und die Geſetze der
Reproduktion von Vorſtellungen bezeichnen zwar die Bedingungen,
unter welchen das pſychiſche Leben wirkt, doch iſt unmöglich, aus
dieſen den Hintergrund unſeres pſychiſchen Lebens bildenden Pro-
zeſſen einen Schlußvorgang oder einen Willensakt abzuleiten. Die
pſychiſche Mechanik opfert das, deſſen wir in innerer Wahr-
nehmung inne werden, einem mit den Analogien der äußeren
Natur ſpielenden Räſonnement auf. Und ſo hat die von der
Naturwiſſenſchaft geleitete erklärende Pſychologie, in deren Bahnen
ſich ſpäter auch Herbart bewegte, die klaſſificirende der älteren
metaphyſiſchen Schulen zerſtört und die wahre Aufgabe der Seelen-
lehre im Sinne der modernen Wiſſenſchaft gezeigt; wo ſie aber
ſelber von der Metaphyſik der Naturwiſſenſchaften beeinflußt wurde,
vermag ſie nicht, ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten. Auch
auf dieſem Gebiet vernichtet die Wiſſenſchaft die Metaphyſik, die
alte wie die neue.
Das nächſte Problem der Geiſteswiſſenſchaften bilden die
Syſteme der Kultur, welche in der Geſellſchaft unter einander ver-
woben ſind, ſowie die äußere Organiſation derſelben, ſonach Er-
klärung und Leitung der Geſellſchaft.
Die Wiſſenſchaften, welche dieſes Problem behandeln, begreifen
ganz verſchiedene Klaſſen von Ausſagen in ſich: Urtheile, welche
die Wirklichkeit ausſprechen, und Imperative ſowie Ideale, welche
die Geſellſchaft leiten wollen. Das Denken über die Geſellſchaft
hat ſeine tiefſte Aufgabe in der Verknüpfung der einen Klaſſe von
Ausſagen mit der anderen. Die metaphyſiſchen und theologiſchen
Prinzipien des Mittelalters hatten eine ſolche ermöglicht, vermittelſt
des Bandes, durch welches die Gottheit und das ihr einwohnende
Geſetz mit dem Organismus des Staates, dem myſtiſchen Körper
der Chriſtenheit verbunden war. Der zeitige Zuſtand der Ge-
ſellſchaft, die Summe der Traditionen, die in ihr angeſammelt
war, und das Gefühl von Autorität höherer Abkunft, das ſie
durchdrang, ſtanden in dieſer Metaphyſik mit dem Gedanken
Gottes in wohlgefügter Verbindung. Dieſer Verband wurde nun
Dilthey, Einleitung. 31
[482]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
ſchrittweiſe gelockert. Das geſchah auch hier, indem die Analyſis
hinter den äußeren teleologiſchen Zuſammenhang nach
Formbegriffen jetzt zurückging und einen Zuſammen-
hang nach Geſetzen aufſuchte. Es wurde ermöglicht durch
Anwendung der erklärenden Pſychologie und Ausbildung der ab-
ſtrakten Wiſſenſchaften, welche die Grundeigenſchaften der innerhalb
der einzelnen Lebenskreiſe (Recht, Religion, Kunſt etc.) zuſammen-
gehörigen Theilinhalte entwickeln. So wurden die Zweckvorſtel-
lungen des Ariſtoteles und der Scholaſtiker durch angemeſſene
Kauſalbegriffe, die allgemeinen Formen durch Geſetze, die trans-
ſcendente Begründung durch eine immanente und im Studium
der menſchlichen Natur gewonnene erſetzt. Damit war die Stellung
der älteren Metaphyſik zu den Thatſachen der Geſellſchaft und Ge-
ſchichte überwunden.
Indem wir erläutern, wie die moderne Wiſſenſchaft die
theologiſche und metaphyſiſche Auffaſſung der Geſellſchaft zerſetzt
hat, ſchränken wir uns auf die erſte Phaſe ein, die mit dem
achtzehnten Jahrhundert abgeſchloſſen hinter uns liegt. Zunächſt ent-
ſtand nämlich das natürliche Syſtem 1) der Erkenntniß der menſch-
lichen Geſellſchaft, ihrer Zweckzuſammenhänge wie ihrer äußeren
Organiſation, wie es das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert aus-
gebildet haben: eine nicht minder großartige, wenn auch weniger
haltbare Schöpfung als die Begründung der Naturwiſſenſchaft.
Denn dieſes natürliche Syſtem bedeutet, daß die Geſell-
ſchaft hinfort aus der menſchlichen Natur verſtanden werden wird,
aus der ſie entſprungen iſt. In dieſem Syſtem haben die Wiſſen-
ſchaften des Geiſtes zuerſt ihr eigenes Centrum gefunden — die
menſchliche Natur. Insbeſondere ging nun die Analyſis auf
die pſychologiſchen Wahrheiten zweiter Ordnung (wie wir ſie ge-
[483]Auflöſung der Metaphyſik der Geſellſchaft durch wirkliche Analyſis.
nannt haben) zurück. Sie entdeckte in dem Seelenleben des In-
dividuums auch die Triebfedern des praktiſchen Verhaltens und
überwand ſo den alten Gegenſatz zwiſchen theoretiſcher und prak-
tiſcher Philoſophie. Der Ausdruck dieſer wiſſenſchaftlichen Um-
wälzung in der ſyſtematiſchen Gliederung iſt, daß an die Stelle
des Gegenſatzes der theoretiſchen und praktiſchen Philoſophie der
einer Grundlegung für die Wiſſenſchaften der Natur und
einer ſolchen für die Wiſſenſchaften des Geiſtes tritt. In der
letzteren iſt das Studium der Erklärungsgründe für Urtheile über
Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Werth-
ausſagen und Imperative, wie ſie das Leben des Einzelnen und
der Geſellſchaft zu regeln beſtimmt ſind.
Die Methode, nach welcher das natürliche Syſtem Re-
ligion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war unvoll-
kommen. Sie war vorherrſchend von dem mathematiſchen
Verfahren beſtimmt, welches für die mechaniſche Naturerklärung
ſo außerordentliche Ergebniſſe gehabt hatte. Condorcet war der
Ueberzeugung, daß die Menſchenrechte durch ein eben ſo ſicheres
Verfahren entdeckt worden ſeien, als das der Mechanik iſt.
Sieyès glaubte die Politik als Wiſſenſchaft vollendet zu haben.
Die Grundlage des Verfahrens bildete ein abſtraktes Schema
der Menſchennatur, welches in wenigen und allgemeinen pſy-
chiſchen Theilinhalten den Erklärungsgrund für die Thatſachen
des geſchichtlichen Lebens der Menſchheit aufſtellte. So war
noch eine falſche metaphyſiſche Methode mit den Anſätzen einer
fruchtbaren Zergliederung vermiſcht. Aber ſo arm dieſes natür-
liche Syſtem uns heute erſcheinen mag, das metaphyſiſche
Stadium der Erkenntniß der Geſellſchaft wurde de-
finitiv durch dieſe dürftigen Sätze der natürlichen Theologie über
die Religion, der Theoretiker des moraliſchen Sinns über Sitt-
lichkeit, der phyſiokratiſchen Schule über das Wirthſchaftsleben etc.
überwunden. Denn dieſe Sätze entwickeln die Grundeigen-
ſchaften der innerhalb dieſer Syſteme der Geſellſchaft zuſammen-
gehörigen Theilinhalte, ſetzen dieſe Grundeigenſchaften mit der
menſchlichen Natur in Beziehung, und ſo eröffnen dieſelben in
31 *
[484]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
das innere Wirken der Faktoren des geſellſchaftlichen Lebens einen
erſten Einblick.
Das letzte und am meiſten verwickelte Problem der Geiſtes-
wiſſenſchaften bildet die Geſchichte. Die im natürlichen Syſtem
enthaltenen Analyſen wurden nun auf den geſchichtlichen Verlauf
angewandt. Indem derſelbe dem entſprechend in den verſchiedenen
relativ ſelbſtändigen Lebensſphären verfolgt wurde, ſchwand die
theologiſche Einſeitigkeit und der rohe Dualismus des Mittelalters.
Indem die Antriebe der geſchichtlichen Bewegung in der Menſch-
heit ſelber aufgeſucht wurden, endete die transſcendente Geſchichts-
auffaſſung. Eine freiere umfaſſendere Betrachtung trat hervor.
Aus der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſchichte löſte ſich durch
die Arbeit der Geiſteswiſſenſchaften im achtzehnten Jahrhundert
eine univerſalhiſtoriſche Anſicht, deren Kern der Ent-
wicklungsgedanke iſt.
Die Seele des achtzehnten Jahrhunderts iſt, untrennbar ver-
bunden, Aufklärung, Fortſchritt des Menſchengeſchlechts und Idee
von Humanität. In dieſen Begriffen iſt dieſelbe Realität, wie
ſie das achtzehnte Jahrhundert beſeelt, von verſchiedenen Seiten
angeſehen und ausgedrückt. — Die Macht des Bewußtſeins vom
Zuſammenhang des Menſchengeſchlechts, wie das Mittel-
alter es metaphyſiſch ausgeſprochen hatte, dauert fort. Im ſiebzehnten
Jahrhundert war das Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit des
Menſchengeſchlechtes noch vorwiegend religiös begründet und wurde
nur auf die wiſſenſchaftliche Gemeinſchaft ausgedehnt, dagegen galt
auf weltlichem Gebiet das homo homini lupus, wie dieſer Gegen-
ſatz durch Spinozas Syſtem ſo ſonderbar hindurchgeht; nun er-
wuchs, insbeſondere getragen von der Schule der Oekonomiſten
und dem gemeinſamen Intereſſe der Aufklärung und Toleranz, in
den verſchiedenen Ländern eine Solidarität auch der weltlichen
Intereſſen. So ſetzte ſich die metaphyſiſche Begründung des Zu-
ſammenhangs im Menſchengeſchlecht in die allmälig anwachſende
Erkenntniß der realen Verbindungen um, welche Individuum an
[485]Anwendung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft auf die Geſchichte.
Individuum ketten1). — Andrerſeits bildete ſich das geſchichtliche
Bewußtſein fort. Der Gedanke vom Fortſchritt des Men-
ſchengeſchlechtes beherrſchte das Jahrhundert. Auch er war
in dem geſchichtlichen Bewußtſein des Mittelalters angelegt, welches
einen inneren und centralen Fortgang in dem status hominis
erkannt hatte. Aber es bedurfte erheblicher Veränderungen in
den Vorſtellungen und Gefühlen, damit er ſich frei entfaltete.
Schon im ſiebzehnten Jahrhundert wurde die Vorſtellung von
einem hiſtoriſchen Zuſtand der Vollkommenheit am Anfang der
Menſchheitsgeſchichte verworfen. Damals wurde, zuſammenhängend
mit dem Fortſchritt zu einer ſelbſtändigen Literatur und Wiſſen-
ſchaft, im Gegenſatz gegen die Zeit der Renaiſſance, der Gedanke
lebhaft erörtert, daß die modernen Völker der alten Welt in
Bezug auf die Wiſſenſchaften und die Literatur überlegen ſeien.
Nun geſchah das Wichtigſte: dem mittelalterlichen Kirchenglauben
und in vermindertem Grade dem altproteſtantiſchen waren die
erhabenſten Gefühle des Menſchen, der Kreis ſeiner Vorſtellungen
von den höchſten Dingen, ſeine Lebensordnung etwas in ſich
Fertiges, Abgeſchloſſenes geweſen; indem dieſer Glaube zurücktrat,
war es als ob ein Vorhang weggezogen würde, der den Blick
auf die Zukunft des Menſchengeſchlechtes bis dahin gehindert hätte;
das gewaltige und fortreißende Gefühl einer unermeßlichen Ent-
wicklung des Menſchengeſchlechtes trat hervor. Wol beſaßen die
Alten ſchon ein klares Bewußtſein des geſchichtlichen Fortſchritts
der Menſchheit in Bezug auf Wiſſenſchaften und Künſte1). Bacon
iſt von demſelben erfüllt und hebt hervor, daß das Menſchenge-
[486]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
ſchlecht nunmehr in ein Alter von Reife und Erfahrung getreten
und daher die Wiſſenſchaft der Neueren der des Alterthums über-
legen ſei1). Pascal hatte dieſe Stelle Bacon’s vor Augen, als er
ſchrieb: „der Menſch unterrichtet ſich unaufhörlich in ſeinem Fort-
ſchreiten; denn er zieht nicht nur aus ſeiner eigenen Erfahrung
Vortheil, ſondern auch aus der ſeiner Vorgänger. Alle Menſchen
insgeſammt bilden in den Wiſſenſchaften einen einzigen fort-
ſchreitenden Zuſammenhang, derart, daß die ganze Abfolge der
Menſchen während des Verlaufs von ſoviel Jahrhunderten als
ein einziger Menſch angeſehen werden muß, der immer beſteht und
beſtändig lernt.“ Turgot und Condorcet erweiterten nun aber dieſe
Gedanken, indem ſie die Wiſſenſchaft als die leitende Macht in der
Geſchichte betrachteten und mit ihrem Fortgang den der Aufklärung
und des Gefühls von Gemeinſchaft in Zuſammenhang ſetzten.
Und in Deutſchland wurde endlich der Punkt erreicht, an welchem
die Auffaſſung der Geſellſchaft nach dem natürlichen Syſtem in ein
wahres geſchichtliches Bewußtſein überging. Herder fand in der
Verfaſſung des Einzelmenſchen dasjenige, was ſich ändert und
den geſchichtlichen Fortſchritt ausmacht; das Organ, durch welches
die Natur dieſes Fortſchritts in Deutſchland ſtudirt wurde, war
die Kunſt, insbeſondere die Poeſie; und das ſo entſtehende Schema
hat ſich im Geiſte Hegel’s zu einer univerſellen Betrachtung der
Kulturentwicklung erweitert.
So geht der Fortſchritt der Geiſteswiſſenſchaften
durch das natürliche Syſtem zur entwicklungsgeſchichtlichen
Anſicht. „Will man, ſagt Diderot, eine kurze Geſchichte faſt unſeres
ganzen Elends kennen? Hier iſt ſie; es gab einen natürlichen
Menſchen; in deſſen Inneres führte man einen künſtlichen Men-
ſchen ein. Hierauf entbrannte zwiſchen beiden ein Bürgerkrieg und
dieſer dauert bis zum Tode.“ Eine ſolche Entgegenſetzung des
Natürlichen und Geſchichtlichen zeigt die Schranken der konſtruk-
tiven Methode des natürlichen Syſtems in greller Beleuchtung.
Und wenn Voltaire ſchrieb: il faudra bouleverser la terre pour
[487]Dieſe zerſtört die metaphyſiſche Behandlung der Geſchichte.
la mettre sous l’empire de la philosophie, ſo entfaltet in ihm die
Einſeitigkeit des ungeſchichtlichen Verſtandes, in welcher das na-
türliche Syſtem der Wirklichkeit gegenübergeſtellt wurde, ihre zer-
ſtörenden Folgen. Aber daſſelbe natürliche Syſtem hat zuerſt das
große Objekt der geiſtigen Welt einer Analyſis unterworfen, die
auf die Faktoren gerichtet war. Es ging über die Klaſſenbegriffe
durch eine wahre Zerlegung hinaus, wie dies am deutlichſten die
Analyſis der Vorſtellung des Nationalreichthums in der politiſchen
Oekonomie zeigt. Und die Zerlegung hat den wiſſenſchaftlichen
Geiſt von ſelber über die Schranken des natürlichen Syſtems hin-
ausgeführt und das moderne geſchichtliche Bewußtſein vorbereitet.
Der metaphyſiſche Geiſt umſpinnt freilich die Thatſachen der
Geſchichte und der Geſellſchaft an unzähligen Punkten mit noch
weit feineren Fäden: dieſe ſtammen aus dem natürlichen Vor-
ſtellen und Denken. Denn im Studium der Geſellſchaft wieder-
holt ſich daſſelbe Verhältniß, welches wir in dem der Natur ge-
wahrt haben. Die Analyſis trifft einerſeits auf Individuen als
Subjekte, andrerſeits auf prädikative Beſtimmungen, welche als
ſolche allgemein ſein müſſen. Daher erſcheint, was in den letzteren
enthalten iſt, als eine Weſenheit zwiſchen und hinter den Individuen
und wird als ſolche in Begriffen wie Recht, Religion, Kunſt ſub-
ſtantiirt. Dieſe feineren und unvermeidlichen Täuſchungen des
natürlichen Denkens löſt erſt die Erkenntnißtheorie völlig auf. Sie
wird zeigen: das Verhältniß der Subjekte zu den allgemeinen
prädikativen Beſtimmungen iſt hier, wo wir in unſerem Selbſtbe-
wußtſein dieſer Subjekte und ihrer Selbſtändigkeit gewiß ſind, ja die
Kräfte kennen, die den prädikativen Beſtimmungen zu Grunde
liegen, verſchieden von dem Verhältniß, das in der Naturwiſſen-
ſchaft zwiſchen Elementen und Geſetzen beſteht; die Begriffe, die
hier aus prädikativen Beſtimmungen gebildet werden, ſind anderer
Beſchaffenheit als die der Naturwiſſenſchaften.
Es bleibt, wenn das graue Geſpinnſt abſtrakter, ſubſtantialer
Weſenheiten zerriſſen iſt, hinter ihm übrig — der Menſch, in
verſchiedenen Lagen einer zum anderen, innerhalb des Mittels der
Natur. Jede Schrift, jede Reihe von Handlungen iſt für uns in
[488]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
der Peripherie eines Menſchen gelegen, und wir ſuchen zum Cen-
trum zu dringen. Ich nehme an, dieſer Menſch ſei Schleiermacher
und ſeine Dialektik liege vor mir. Welche Gedanken dieſes Buch
auch im Einzelnen enthalte, ich finde in ihm den Satz von der
Gegenwart des Gottesgefühls in allen pſychiſchen Akten, und
an dieſem tiefſten Punkte berührt ſich die Dialektik mit den Reden
über Religion. So gehe ich von Werk zu Werk, ich kann das
Centrum zwar nicht erkennen, auf welches alle dieſe peripheriſchen
Aeußerungen hinweiſen, aber ich kann es verſtehen. — Nun finde
ich, daß Schleiermacher einer Gruppe angehört, in der Schelling,
Friedrich Schlegel, Novalis u. a. ſich befinden. Eine ſolche
Gruppe verhält ſich analog, wie eine Klaſſe von Organismen;
ändert ſich in einer ſolchen Klaſſe ein Organ, ſo ändern ſich auch
die korreſpondirenden, ſteigert ſich eines, ſo verkümmern andere.
Ich ſchreite von Gruppe zu Gruppe, zu immer weiteren Kreiſen. —
Das Seelenleben hat ſich in Kunſt, Religion u. ſ. w. differenzirt,
und nun entſteht die Aufgabe, die pſychologiſche Grundlage dieſes
Vorgangs zu finden und dann ſowol den Verlauf in der Seele
als den in der Geſellſchaft aufzufaſſen, in welchem dieſe Differen-
zirung ſich vollzieht. — Weiter kann ich in einem Durchſchnitt
durch die menſchliche Geſchichte die Geſellſchaft einer beſtimmten
Zeit allgemein oder bei einem einzelnen Volk ſtudiren. Ich kann
ſolche Durchſchnitte an einander halten und den Menſchen aus
der Zeit des Perikles mit dem aus der Zeit Leo des Zehnten ver-
gleichen. Hier nähere ich mich dem tiefſten Problem, dem was
am Menſchenweſen in der Geſchichte veränderlich iſt. — Ueberall
jedoch, in all dieſen Wendungen der Methode iſt es immer der
Menſch, welcher das Objekt der Unterſuchung bildet, bald als ein
Ganzes, bald in ſeinen Theilinhalten ſowie in ſeinen Beziehungen.
Indem dieſer Standpunkt durchgeführt werden wird, werden Geſell-
ſchaft und Geſchichte zu der Behandlung gelangen, welche auf
dieſem ſelbſtändigen Gebiet der mechaniſchen Erklärung innerhalb
des Studiums von Naturerſcheinungen entſpricht. Dann iſt die
Metaphyſik der Geſellſchaft und Geſchichte wirklich vergangen.
Finden nun vielleicht die Geiſteswiſſenſchaften, welche die
[489]Der Menſch bleibt als ausſchließliches Objekt der Geiſtesw. zurück.
Metaphyſik eines Geiſterreiches durch analytiſche Unterſuchung ver-
drängt haben, in dem Menſchen, dem Anfangs- und End-
punkte ihrer Analyſis, den Eingang in eine neue Meta-
phyſik? Oder iſt eine Metaphyſik der geiſtigen Thatſachen in
jeder Form unmöglich geworden?
Metaphyſik als Wiſſenſchaft, ja. Denn der Verlauf der
intellektuellen Entwicklung zeigte, daß die Begriffe Subſtanz und
Kauſalität ſich allmälig aus den lebendigen Erfahrungen unter den
Anforderungen einer Erkenntniß der Außenwelt entwickelt haben.
Daher können ſie dem, der in der Welt der inneren Erfahrung
heimiſch iſt, nicht mehr über dieſe ſagen, als was aus ihnen
ſelber geſchöpft iſt: was ſie mehr ſagen, iſt eine Hilfskonſtruktion
für die Erkenntniß der Außenwelt und darum auf das Pſychiſche
nicht anwendbar. Auch kann der Satz der metaphyſiſchen Pſycho-
logie, welcher den ſelbſtändigen ſubſtantialen und unzerſtörbaren
Beſtand der Seele behauptet, weder bewieſen noch widerlegt werden,
vielmehr hat der Beweis aus der Einheit des Bewußtſeins nur
eine negative Tragweite. Einheit des Bewußtſeins liegt jedem
Vergleichungsurtheil zu Grunde, da wir in ihm verſchiedene
Empfindungen, z. B. zwei Nüancen von Roth, zugleich und in der-
ſelben untheilbaren Einheit beſitzen müſſen: wie könnten wir des
Unterſchiedes ſonſt inne werden? Nun kann aus der Konſtruktion
der Welt, wie ſie die mechaniſche Naturwiſſenſchaft erſchließt,
dieſe Thatſache der Bewußtſeinseinheit nicht abgeleitet werden.
Dächte man ſich ſelbſt die Maſſentheilchen der Materie mit pſy-
chiſchem Leben ausgeſtattet, ſo könnte für das Ganze eines zu-
ſammengeſetzten Körpers aus dieſem Thatbeſtand ein einheitliches
Bewußtſein nicht hervorgehen. Sonach ergiebt ſich, daß die mecha-
niſche Naturwiſſenſchaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber
Selbſtändiges betrachten muß, aber es iſt nicht ausgeſchloſſen,
daß ein hinter dieſen für die Erſcheinungswelt gebildeten Hilfsbe-
griffen beſtehender Zuſammenhang der Natur den Urſprung der Ein-
heit der Seele in ſich enthalte: das ſind ganz transſcendente Fragen.
Aber das Meta-Phyſiſche unſeres Lebens als perſönliche Er-
fahrung d. h. als moraliſch-religiöſe Wahrheit bleibt übrig. Die
[490]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Metaphyſik — hier dürfen wir einen lang geſponnenen Faden zu
Ende führen —, welche das Leben des Menſchen in eine höhere
Ordnung zurückführte, hatte ihre Macht nicht, wie Kant in ſeiner
abſtrakten und ungeſchichtlichen Denkweiſe annahm, kraft der
Schlüſſe einer theoretiſchen Vernunft beſeſſen. Nie würde aus dieſen
die Idee der Seele oder der perſönlichen Gottheit hervorgegangen
ſein. Vielmehr waren dieſe Ideen in der inneren Erfahrung be-
gründet, mit ihr und der Beſinnung über ſie haben ſie ſich ent-
wickelt, und gerade der Denknothwendigkeit zum Trotz, welche nur
einen Gedankenzuſammenhang kennt, ſonach höchſtens zu einem
Panlogismus gelangen kann, haben ſie ſich erhalten. — Nun
entziehen ſich aber die Erfahrungen des Willens in der Perſon
einer allgemeingültigen Darſtellung, welche für jeden anderen In-
tellekt zwingend und verbindlich wäre. Dies iſt eine Thatſache,
welche die Geſchichte mit tauſend Zungen predigt. Sonach können
ſie auch nicht zu zwingenden metaphyſiſchen Schlüſſen verwandt
werden. Während die pſychologiſche Wiſſenſchaft vergleichend Ge-
meinſamkeiten des Seelenlebens an den pſychiſchen Einheiten feſt-
ſtellen kann, verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menſchlichen
Willens in der Burgfreiheit der Perſon. Hierin hat keine Me-
taphyſik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Pro-
teſt der hierin klaren religiöſen Erfahrung zu kämpfen gehabt, von
den erſten chriſtlichen Myſtikern ab, welche ſich der mittelalterlichen
Metaphyſik gegenüberſtellten und darum nicht ſchlechtere Chriſten
waren, bis auf Tauler und Luther. Nicht durch logiſche Folge-
richtigkeit gezwungen, nehmen wir einen höheren Zuſammenhang
an, in den unſer Leben und Sterben verwebt iſt; es wird ſich
uns demnächſt zeigen, wohin dieſe logiſche Folgerichtigkeit führt,
wenn ſie auf einen ſolchen Zuſammenhang ausgedehnt wird; viel-
mehr entſpringt aus der Tiefe der Selbſtbeſinnung, die das Er-
leben der Hingabe, der freien Verneinung unſerer Egoität vorfindet
und ſo unſere Freiheit vom Naturzuſammenhang erweiſt, das
Bewußtſein, daß dieſer Wille nicht bedingt ſein kann durch die
Naturordnung, deren Geſetze ſein Leben nicht entſpricht, ſondern
nur durch etwas, was dieſelbe hinter ſich zurückläßt. Dieſe Er-
[491]Jenſeits der Wiſſenſchaft das Meta-Phyſiſche des Lebens.
fahrungen aber ſind ſo perſönlich, ſo dem Willen eigen, daß der
Atheiſt dies Meta-Phyſiſche zu leben vermag, während die
Gottesvorſtellung in einem Ueberzeugten eine bloße werth-
loſe Hülſe ſein kann. Der Ausdruck dieſes Thatbeſtandes iſt
die Befreiung des religiöſen Glaubens aus ſeiner metaphyſiſchen
Gebundenheit durch die Reformation. In ihr erlangte das re-
ligiöſe Leben ſeine Selbſtſtändigkeit.
Und ſo bleibt neben dem Blick in den unermeßlichen Raum
der Geſtirne, welcher die Gedankenmäßigkeit des Kosmos zeigt,
der in die Tiefe des eigenen Herzens. Wie weit hier die Ana-
lyſis mit Sicherheit zu dringen vermöge, werden die folgenden
Bücher zeigen. Jedoch wie dem ſei, wo ein Menſch in ſeinem
Willen den Zuſammenhang von Wahrnehmung, Luſt, Antrieb
und Genuß durchbricht, wo er nicht ſich mehr will: da iſt das
Meta-Phyſiſche, welches ſich in der dargelegten Geſchichte der Me-
taphyſik nur in unzähligen Bildern ſpiegelte. Denn die metaphy-
ſiſche Wiſſenſchaft iſt ein hiſtoriſch begränztes Phänomen, das
meta-phyſiſche Bewußtſein der Perſon iſt ewig.
Viertes Kapitel.
Schlußbetrachtung
über die Unmöglichkeit der metaphyſiſchen Stellung des Erkennens.
Wir verſuchen an dieſem Schluß der Geſchichte der meta-
phyſiſchen Stellung des Geiſtes, der Geſchichte einer noch nicht
durch die erkenntnißtheoretiſche Stellung deſſelben gebrochenen meta-
phyſiſchen Wiſſenſchaft die in ihr allmälig hervorgetretenen That-
ſachen durch eine allgemeine Betrachtung zu vereinigen.
Der logiſche Weltzuſammenhang als Ideal der
Metaphyſik.
In der Einheit des menſchlichen Bewußtſeins iſt es gegründet,
daß die Erfahrungen, welche dieſes enthält, durch den Zuſammen-
[492]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
hang bedingt ſind, in dem ſie auftreten. Hieraus ergiebt ſich das
allgemeine Geſetz der Relativität, unter welchem unſere
Erfahrungen über die äußere Wirklichkeit ſtehen. Eine
Geſchmacksempfindung iſt augenſcheinlich durch diejenige bedingt,
welche ihr voraufging, das Bild eines räumlichen Objektes iſt
von der Stellung des Sehenden im Raum abhängig. Daher ent-
ſpringt die Aufgabe, dieſe relativen Data durch einen Zuſammen-
hang zu beſtimmen, der in ſich gegründet und feſt iſt. Für die
anhebende Wiſſenſchaft war dieſe Aufgabe gleichſam eingehüllt in
die von Orientirung in Raum und Zeit ſowie von Aufſuchung
einer erſten Urſache und verwoben mit den ethiſch-religiöſen An-
trieben. So befaßte der Ausdruck Prinzip (ἀϱχή) die erſte Ur-
ſache und den Erklärungsgrund der Erſcheinungen ungeſchieden in
ſich. Geht man von dem Gegebenen zu ſeinen Urſachen, ſo kann
ein ſolcher Rückgang ſeine Sicherheit nur aus der Denknothwendig-
keit des Schlußverfahrens empfangen, daher war mit der wiſſen-
ſchaftlichen Aufſuchung von Urſachen irgend ein Grad von logiſchem
Bewußtſein des Grundes immer verbunden. Erſt der Zweifel der
Sophiſten hatte ein logiſches Bewußtſein der Methode, Urſachen
oder Subſtanzen zu finden, zur Folge, und dieſe Methode wurde
nun als Rückgang von dem Gegebenen zu den denknothwendigen
Bedingungen deſſelben beſtimmt. Da ſonach die Erkenntniß von
Urſachen an den Schluß und die in ihm liegende Denknoth-
wendigkeit gebunden iſt, ſo ſetzt dieſe Erkenntniß voraus, daß im
Naturzuſammenhang eine logiſche Nothwendigkeit obwalte, ohne
welche das Erkennen keinen Angriffspunkt hätte. Demnach ent-
ſpricht dem unbefangenen Glauben an die Erkenntniß der Urſachen,
welcher aller Metaphyſik zu Grunde liegt, ein Theorem von
dem logiſchen Zuſammenhang in der Natur. Die Ent-
wicklung dieſes Theorems kann, ſo lange die logiſche Form zwar
in einzelne Formbeſtandtheile als ihre Komponenten aufgelöſt wird,
aber nicht durch eine wahrhaft analytiſche Unterſuchung hinter dieſe
zurückverfolgt wird, nur in der Darſtellung einer äußeren Be-
ziehung zwiſchen der Form des logiſchen Denkens und der des
Naturzuſammenhangs beſtehen.
[493]Der logiſche Weltzuſammenhang.
So wurde in der monotheiſtiſchen Metaphyſik der
Alten und des Mittelalters der Logismus in der Natur als ein
Gegebenes, und die menſchliche Logik als ein zweites Gegebenes be-
trachtet, das dritte Datum bildete die Korreſpondenz dieſer beiden.
Für dieſen Geſammtthatbeſtand war dann eine Bedingung in
einem ſie verknüpfenden Zuſammenhang aufzufinden. Dies leiſtete
die ſchon von Ariſtoteles in ihren Grundzügen entworfene An-
ſicht, nach welcher die göttliche Vernunft den Zuſammenhang zwiſchen
dem in ihr gegründeten Logismus der Natur und der ihr ent-
ſprungenen menſchlichen Logik hervorbringt.
Als die Lage des Naturwiſſens die zwingende Kraft der
theiſtiſchen Begründung immer mehr auflöſte, entſtand die ein-
fachere Formel Spinozas, welche die göttliche Vernunft als
Mittelglied eliminirte. Die Grundlage der Metaphyſik Spinozas
iſt die reine Selbſtgewißheit des logiſchen Geiſtes, welcher ſich mit
methodiſchem Bewußtſein die Wirklichkeit erkennend unterwirft, wie
ſie in Descartes das erſte Stadium einer neuen Stellung des
Subjektes zur Wirklichkeit bezeichnet. Inhaltlich angeſehen trat hier
die Konception des Descartes vom mechaniſchen Zuſammenhang
des Naturganzen in eine pantheiſtiſche Weltanſicht, und ſo wandelte
ſich eine allgemeine Beſeelung der Natur in die Identität der
räumlichen Bewegungen mit den pſychiſchen Vorgängen. Erkennt-
nißtheoretiſch betrachtet, wurde hier das Wiſſen aus der Identität
des mechaniſchen Naturzuſammenhangs mit der logiſchen Ge-
dankenverbindung erklärt. Daher enthält dieſe Identitätslehre
weiter die Erklärung der pſychiſchen Vorgänge nach einem me-
chaniſchen, ſonach logiſchen Zuſammenhang in ſich: die objektive
und univerſelle metaphyſiſche Bedeutung des Logismus.
In dieſer Rückſicht drückt die Attributenlehre die unmittel-
bare Identität des Kauſalzuſammenhangs in der Natur mit der
logiſchen Verknüpfung der Wahrheiten im menſchlichen Geiſte aus.
Das Mittelglied dieſer Verbindung, welches vordem ein von
der Welt unterſchiedener Gott gebildet hatte, iſt ausgeſtoßen:
ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio
[494]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
rerum1). In ſcharfer Anſpannung dieſer Identität wird ſogar
die Richtung der Abfolge in beiden Reihen als korreſpondirend
aufgefaßt: effectus cognitio a cognitione causae dependet et
eandem involvit2). Ein Zuſammenhang von Axiomen und De-
finitionen wird entworfen, aus welchem der Weltzuſammenhang
konſtruirt werden kann. Dies geſchieht durch auffällige Trug-
ſchlüſſe; denn eine Vielheit ſelbſtändiger Weſenheiten kann aus
den Vorausſetzungen Spinozas ebenſo gut gefolgert werden, als
die Einheit in der göttlichen Subſtanz. Sind doch die Einheit
des Weltzuſammenhangs und die Vielheit feſter ihm zu Grunde
gelegter Ding-Atome nur die beiden Seiten deſſelben mechaniſchen
d. h. logiſchen Weltzuſammenhangs. Spinoza mußte ſeinen Pan-
theismus alſo mitbringen, um ihn folgern zu können. Gleichviel,
in dieſem Zuſammenhange tritt die Konſequenz des metaphyſiſchen
Satzes vom Grunde in einer Vollſtändigkeit heraus, die bei den
Alten ſich noch nicht fand. Hatten dieſe den menſchlichen Willen
als ein imperium in imperio gelten laſſen, ſo hebt die Formel
des Panlogismus nun dieſe Souveränität des geiſtigen Lebens
auf. In rerum natura nullum datur contingens; sed omnia
ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo
modo existendum et operandum3).
Die Metaphyſik hat durch Leibniz in dem Satz von
Grunde eine Formel entworfen, welche den nothwendigen Zu-
ſammenhang in der Natur als das Prinzip des Denkens aus-
ſpricht. In der Aufſtellung dieſes Prinzips hat die Metaphyſik
ihren formalen Abſchluß erreicht. Denn der Satz iſt nicht ein
logiſches ſondern ein metaphyſiſches Prinzip d. h. er drückt nicht
ein bloßes Geſetz des Denkens, ſondern zugleich ein Geſetz des
Zuſammenhangs der Wirklichkeit und damit auch die Regel der
Beziehung zwiſchen Denken und Sein aus. Iſt doch ſeine letzte
und vollkommenſte Formel diejenige, welche in dem Briefwechſel mit
[495]Sein ſchematiſcher Abriß in Spinozas Syſtem.
Clarke vorkam, nicht lange vor dem Tode von Leibniz. ‚Ce principe
est celui du besoin d’une raison suffisante, pour qu’une chose
existe, qu’un événement arrive, qu’une vérité ait lieu1).‘
Dies Prinzip tritt bei Leibniz ſtets neben dem des Widerſpruchs
auf, und zwar begründet der Satz des Widerſpruchs die noth-
wendigen Wahrheiten, dagegen der des Grundes die Thatſachen
und thatſächlichen Wahrheiten. Eben hier aber zeigt ſich die
metaphyſiſche Bedeutung dieſes Satzes. Obwohl die thatſächlichen
Wahrheiten auf den Willen Gottes zurückgehen, ſo iſt dieſer Wille
ſelber doch nach Leibniz ſchließlich von dem Intellekt geleitet. Und
ſo tritt hinter dem Willen wiederum das Antlitz eines logiſchen
Weltgrundes hervor. Dies drückt Leibniz ganz deutlich ſo aus:
‚Il est vrai, dit on, qu’il n’y a rien sans une raison suffi-
sante pourquoi il est, et pourquoi il est ainsi plutôt q’autre-
ment. Mais on ajoute, que cette raison suffisante est souvent
la simple volonté de Dieu; comme lorsqu’on demande pour-
quoi la matière n’a pas été placée autrement dans l’espace,
les mêmes situations entre les corps demeurant gardées. Mais
c’est justement soutenir que Dieu veut quelque chose, sans
qu’il y ait aucune raison suffisante de sa volonté, contre l’axiome
ou la règle générale de tout ce qui arrive’2). Hiernach be-
[496]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
deutet der Satz des zureichenden Grundes die Behauptung von
einem lückenloſen, logiſchen Zuſammenhang, der jede Thatſache und
entſprechend jeden Satz in ſich faßt; er iſt die Formel für das von
Ariſtoteles in engerem Umfang aufgeſtellte Prinzip der Metaphy-
ſik 1), welches nunmehr nicht nur den Zuſammenhang des Kosmos
in Begriffen d. h. ewigen Formen, ſondern den Grund jeder Ver-
änderung und zwar auch in der geiſtigen Welt in ſich faßt.
Chriſtian Wolff hat dieſen Satz darauf zurückgeführt, daß
nicht aus Nichts ein Etwas entſtehen könne, ſonach auf das Prin-
zip des Erkennens, aus dem wir ſeit Parmenides die Metaphyſik
ihre Sätze ableiten ſahen. „Wenn ein Ding A etwas in ſich ent-
hält, daraus man verſtehen kann, warum B iſt, B mag entweder
etwas in A oder außer A ſein, ſo nennet man dasjenige, was in
A anzutreffen iſt, den Grund von B; A ſelbſt heißet die Urſache,
und von B ſaget man, es ſei in A gegründet. Nemlich der
Grund iſt dasjenige, wodurch man verſtehen kann, warum etwas
iſt, und die Urſache iſt ein Ding, welches den Grund von einem
anderen in ſich enthält.“ — „Wo etwas vorhanden iſt, woraus man
begreifen kann, warum es iſt, das hat einen zureichenden Grund.
Derowegen wo keiner vorhanden iſt, da iſt nichts, woraus man
begreifen kann, warum etwas iſt, nemlich warum es wirklich
werden kann, und alſo muß es aus Nichts entſtehen. Was dem-
nach nicht aus Nichts entſtehen kann, muß einen zureichenden Grund
haben, warum es iſt, als es muß an ſich möglich ſein und eine
Urſache haben, die es zur Wirklichkeit bringen kann, wenn wir von
Dingen reden, die nicht nothwendig ſind. Da nun unmöglich iſt,
daß aus Nichts etwas werden kann, ſo muß auch Alles, was iſt,
ſeinen zureichenden Grund haben warum es iſt“. So erkennen
wir nun rückwärts im Satze vom Grunde den Ausdruck des
Prinzips, welches das metaphyſiſche Erkennen von ſeinem Beginn
geleitet hat 2).
[497]Der Satz vom Grunde iſt kein Denkgeſetz.
Und blicken wir von Leibniz und Wolff vorwärts, ſo iſt die
im Satze vom Grunde enthaltene Vorausſetzung über den logiſchen
Weltzuſammenhang ſchließlich in dem Syſtem von Hegel mit
Verachtung jeder Furcht vor der Paradoxie als Realprinzip der
ganzen Wirklichkeit entwickelt worden. Es hat nicht an Per-
ſonen gefehlt, welche dieſe Vorausſetzung in Frage ſtellen, dagegen
eine Metaphyſik beibehalten wollen; ſo that dies Schopenhauer
in ſeiner Lehre vom Willen als dem Weltgrunde. Aber jede
Metaphyſik dieſer Art iſt von vorn herein durch einen inneren
Widerſpruch in ihrer Grundlage gerichtet. Das über unſere Er-
fahrung Hinausliegende kann nicht einmal durch Analogie ein-
leuchtend gemacht, geſchweige denn bewieſen werden, wenn dem
Mittel der Begründung und des Beweiſes, dem logiſchen Zu-
ſammenhang, die ontologiſche Gültigkeit und Tragweite genommen
wird.
Der Widerſpruch der Wirklichkeit gegen dies Ideal
und die Unhaltbarkeit der Metaphyſik.
Das „große Prinzip“ vom Grunde (ſo bezeichnet es
wiederholt Leibniz), die letzte Formel der metaphyſiſchen Erkennt-
niß, iſt nun aber kein Denkgeſetz, unter welchem unſer Intellekt
als unter ſeinem Fatum ſtünde. Indem die Metaphyſik ihre
Anforderung einer Erkenntniß von dem Subjekt des Welt-
laufs in dieſem Satz bis zu ihrer erſten Vorausſetzung ver-
folgt, erweiſt ſie ihre eigene Unmöglichkeit.
Der Satz vom Grunde, in dem Sinne von Leibniz, iſt nicht
ein Denkgeſetz, er kann nicht neben das Denkgeſetz des
Widerſpruchs geſtellt werden. Denn das Denkgeſetz des Wider-
ſpruchs iſt an jedem Punkte unſeres Wiſſens in Geltung; wo wir
etwas behaupten, muß es mit ihm in Einklang ſein, und finden
wir eine Behauptung mit ihm in Widerſtreit, ſo iſt ſie damit für
uns aufgehoben. Sonach ſteht alles Wiſſen und alle Gewißheit
unter der Controle dieſes Denkgeſetzes. Es handelt ſich für uns
nie darum, ob wir es anwenden wollen oder nicht, ſondern ſo
Dilthey, Einleitung. 32
[498]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
ſicher als wir etwas behaupten, unterwerfen wir ihm dieſe Be-
hauptung. Es kann geſchehen, daß wir an einem Punkte nicht
den Widerſpruch einer Behauptung mit dem Denkgeſetz des Wider-
ſpruchs bemerken; jedoch, ſobald auch der ganz Ungebildete auf
dieſen Widerſpruch aufmerkſam gemacht wird, entzieht er ſich nicht
der Konſequenz, daß von Behauptungen, welche ſolchergeſtalt in
Widerſpruch miteinander treten, nur Eine wahr ſein kann, Eine
falſch ſein muß. Der Satz vom Grunde dagegen, im Sinne von
Leibniz und Wolff gefaßt, hat augenſcheinlich nicht dieſelbe Stellung
in unſrem Denken, und es war daher nicht richtig, wenn Leibniz
beide Sätze als gleichwerthige Prinzipien nebeneinander ſtellte.
Dies hat ſich uns aus der ganzen Geſchichte des menſchlichen
Denkens ergeben. Der Menſch in der Epoche mythiſchen Vor-
ſtellens ſetzte ſich Willensmächte gegenüber, welche mit unbe-
rechenbarer Freiheit ſchalteten. Es wäre unnütz geweſen, wenn
ein Logiker zu dieſem im mythiſchen Vorſtellen befangenen Menſchen
getreten wäre und ihm deutlich gemacht hätte: der nothwendige
Zuſammenhang des Weltlaufs iſt da aufgehoben, wo deine Götter
walten. Eine ſolche Einſicht hätte jenem niemals die Ueberzeug-
ungen von ſeinen Göttern geſtört, vielmehr würde ſie nur das
über den logiſchen Zuſammenhang der Welt Hinausreichende ihm
klarer gemacht haben, was in ſolchem Glauben als gewaltige Kraft
mitenthalten war. Der Menſch in der Morgendämmerung der
Wiſſenſchaft ſuchte dann einen inneren Zuſammenhang im Kosmos,
aber der Glaube an die freie Macht der Götter inmitten deſſelben
verharrte in ihm. Der griechiſche Menſch in der Blüthezeit der
Metaphyſik betrachtete ſeinen Willen als frei. Was ihm hier in
lebendigem und unmittelbarem Wiſſen gegeben war, wurde ihm
nicht dadurch unſicher, daß das Bewußtſein der Denknothwendig-
keit in ihm ebenfalls vorhanden war; vielmehr erſchien ihm mit
dieſem logiſchen Bewußtſein das Feſthalten deſſen verträglich, was
er in unmittelbarem Wiſſen als Freiheit beſaß. Der mittelalter-
liche Menſch zeigt eine übertriebene Neigung zu logiſchen Betrach-
tungen, doch hat ihn dieſe nicht beſtimmt, die religiös-geſchichtliche
Welt, in der er lebte und die überall denknothwendigen Zuſammen-
[499]Der Satz vom Grunde iſt kein Denkgeſetz.
hang vermiſſen ließ, aufzugeben. — Und die Erfahrungen des
täglichen Lebens beſtätigen, was die Geſchichte zeigte. Der menſch-
liche Geiſt findet es nicht unerträglich, den logiſchen Zuſammen-
hang, vermittelſt deſſen er über das unmittelbar Gegebene hin-
ausgeht, da unterbrochen zu ſehen, wo er in lebendigem und un-
mittelbarem Wiſſen freie Geſtaltung und Willensmacht erfährt.
Wenn der Satz vom Grunde, in der Faſſung von Leibniz,
nicht die unbedingte Gültigkeit eines Denkgeſetzes hat: wie ver-
mögen wir ſeine Stelle im Zuſammenhang des intellektuellen Lebens
zu beſtimmen? Indem wir ſeinen Ort aufſuchen, wird der
Rechtsboden jeder wirklich folgerichtigen Metaphyſik
geprüft.
Unterſcheiden wir den logiſchen Grund vom Realgrunde, den
logiſchen Zuſammenhang vom realen, ſo kann die Thatſache des
logiſchen Zuſammenhangs in unſerem Denken, welches im Schließen
ſich darſtellt, durch den Satz ausgedrückt werden: mit dem Grund
iſt die Folge geſetzt und mit der Folge iſt der Grund aufgehoben.
Dieſe Nothwendigkeit der Verknüpfung findet ſich thatſächlich in
jedem Syllogismus. Nun kann gezeigt werden, daß wir die Natur
nur auffaſſen und vorſtellen können, indem wir dieſen Zu-
ſammenhang der Denknothwendigkeit in ihr auf-
ſuchen. Wir können die Außenwelt nicht einmal vorſtellen,
es ſei denn erkennen, ohne einen denknothwendigen Zuſammhang
ſchließend in ihr aufzuſuchen. Denn wir können die einzelnen Ein-
drücke, die einzelnen Bilder, die das Gegebene bilden, nicht für
ſich als objektive Wirklichkeit anerkennen. Sie ſind in dem that-
ſächlichen Zuſammenhang, in dem ſie im Bewußtſein kraft ſeiner
Einheit ſtehen, relativ, und können ſonach nur in dieſem Zu-
ſammenhang benutzt werden, um einen äußeren Thatbeſtand
oder eine Natururſache feſtzuſtellen. Jedes Raumbild iſt auf die
Stellung des Auges wie der faſſenden Hand bezogen, für welche
es da iſt. Jeder zeitliche Eindruck iſt auf das Maß der Eindrücke
in dem Auffaſſenden und den Zuſammenhang derſelben bezogen.
Die Qualitäten der Empfindung ſind durch die Beziehung bedingt,
in welcher die Reize der Außenwelt zu unſeren Sinnen ſtehen.
32*
[500]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Die Intenſitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu
beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, ſondern wir be-
zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsſtärke zu einer
anderen. So iſt die Herſtellung eines Zuſammenhangs nicht ein
Vorgang, welcher auf die Erfaſſung der Wirklichkeit folgt, ſondern
Niemand faßt ein Augenblicksbild iſolirt als Wirklichkeit, wir be-
ſitzen es in einem Zuſammenhang, vermittelſt deſſen wir, noch vor
aller wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung, Wirklichkeit feſtzuſtellen ſuchen.
Die wiſſenſchaftliche Beſchäftigung bringt Methode
in dieſes Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich
verſetzt ſie den Mittelpunkt für das Syſtem von Beſtimmungen, dem
die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Syſtem ſelber. Sie ent-
wickelt einen objektiven Raum, innerhalb deſſen die einzelne In-
telligenz ſich an einer beſtimmten Stelle findet, eine objektive Zeit,
in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein-
nimmt, ſowie einen objektiven Kauſalzuſammenhang und feſte
Elementeinheiten, zwiſchen denen er ſtattfindet. Die ganze Rich-
tung der Wiſſenſchaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks-
bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen iſt, vermittelſt
der vom Denken verfolgten Relationen, in denen dieſe Bilder
im Bewußtſein ſich befanden, objektive Realität und objektiven
Zuſammenhang zu ſetzen. Und jedes Urtheil über Exiſtenz und
Beſchaffenheit eines äußeren Gegenſtandes iſt ſchließlich durch den
Denkzuſammenhang bedingt, in welchem dieſe Exiſtenz oder Be-
ſchaffenheit als nothwendig geſetzt iſt. Das zufällige Zuſammen
von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den
Ausgangspunkt für die Konſtruktion einer allgemeingültigen Wirk-
lichkeit.
Sonach beherrſcht der Satz, jedes Gegebene ſtehe in einem
denknothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt ſei und
ſelber bedinge, zunächſt die Löſung der Aufgabe, allgemeingültige
und feſte Urtheile über die Außenwelt feſtzuſtellen. Die Re-
lativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt,
wird von der wiſſenſchaftlichen Analyſis in dem Bewußtſein
der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung
[501]Vorſtell. u. Erkenntn. d. Außenwelt vollziehen ſich nach Satz v. Grunde.
bedingen, zur Darſtellung gebracht. So ſteht ſchon jede Auf-
faſſung der Objekte der Außenwelt unter dem Satze des Grundes.
Dies iſt die eine Seite der Sache. Andrerſeits aber muß
die kritiſche Anwendung des Satzes vom Grunde auf eine
metaphyſiſche Erkenntniß verzichten und ſich mit der
Auffaſſung äußerer Verhältniſſe von Abhängigkeit innerhalb der
Außenwelt genügen laſſen. Denn die Beſtandtheile des
Gegebenen ſind vermöge ihrer verſchiedenen Herkunft
ungleichartig d. h. unvergleichbar. Sonach können ſie nicht
auf einander zurückgeführt werden. Eine Farbe kann mit einem
Tone oder mit dem Eindruck von Dichtigkeit nicht in einen direkten
inneren Zuſammenhang gebracht werden. Daher muß das Studium
der Außenwelt das innere Verhältniß des in der Natur Gegebenen
unaufgelöſt laſſen und ſich mit der Aufſtellung eines auf Raum,
Zeit und Bewegung gegründeten Zuſammenhangs begnügen, welcher
die Erfahrungen zu einem Syſtem verbindet. So ſteht zwar die
Auffaſſung und Erkenntniß der Außenwelt unter dem Geſetz: jedes
in ſinnlicher Wahrnehmung Gegebene findet ſich in einem denk-
nothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt iſt und ſelber
bedingt, und nur in dieſem dient es der Auffaſſung des Exiſtirenden.
Aber die Verwerthung dieſes Geſetzes iſt durch die Bedingungen des
Bewußtſeins auf die bloße Herſtellung eines äußeren Zuſammen-
hangs von Beziehungen eingeſchränkt worden, durch welche den
Thatſachen ihr Platz im Syſtem der Erfahrungen beſtimmt wird.
Eben das Bedürfniß der Wiſſenſchaft, einen ſolchen denknothwen-
digen Zuſammenhang herzuſtellen, hat dahin geführt, von dem
inneren weſenhaften Zuſammenhang der Welt abzuſehen. Dieſem
iſt ein Zuſammenhang mathematiſch-mechaniſcher Natur ſubſtituirt
worden, und hierdurch erſt wurden die Wiſſenſchaften der Außen-
welt poſitiv. So wurde aus dem inneren Bedürfniß dieſer Wiſſen-
ſchaften heraus die Metaphyſik als unfruchtbar zurückgeſchoben,
noch bevor die erkenntnißtheoretiſche Bewegung in Locke, Hume
und Kant ſich gegen ſie wandte.
Und nun iſt die Stellung des Erkenntnißgeſetzes
vom Grunde zu den Geiſteswiſſenſchaften eine andere,
[502]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
als die zu den Wiſſenſchaften der Außenwelt: auch dies macht
eine Unterordnung der ganzen Wirklichkeit unter einen metaphy-
ſiſchen Zuſammenhang unmöglich. Das, deſſen ich inne werde,
iſt als Zuſtand meiner ſelbſt nicht relativ, wie ein äußerer
Gegenſtand. Eine Wahrheit des äußeren Gegenſtandes als Ueber-
einſtimmung des Bildes mit einer Realität beſteht nicht, denn
dieſe Realität iſt in keinem Bewußtſein gegeben und entzieht ſich
alſo der Vergleichung. Wie das Objekt ausſieht, wenn Niemand
es in ſein Bewußtſein aufnimmt, kann man nicht wiſſen wollen.
Dagegen iſt das, was ich in mir erlebe, als Thatſache des Be-
wußtſeins darum für mich da, weil ich deſſelben inne werde:
Thatſache des Bewußtſeins iſt nichts Anderes als das, deſſen ich
inne werde. Unſer Hoffen und Trachten, unſer Wünſchen und
Wollen, dieſe innere Welt iſt als ſolche die Sache ſelber. Gleich-
viel welche Anſicht jemand hegen mag über die Beſtandtheile dieſer
pſychiſchen Thatſachen — und Kant’s ganze Theorie des inneren
Sinnes kann nur als ſolche Anſicht logiſch gerechtfertigt erſcheinen —:
daß ſolche Bewußtſeinsthatſachen beſtehen, wird dadurch nicht be-
rührt1). Daher iſt uns das, deſſen wir inne werden, als Zu-
ſtand unſerer ſelbſt nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegen-
ſtand. Erſt wenn wir dies unmittelbare Wiſſen uns zu deutlicher
Erkenntniß bringen oder anderen mittheilen wollen, entſteht die
Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahr-
nehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urtheile, welche wir aus-
ſagen, ſind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die
innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Ver-
knüpfen, Urtheilen und Schließen die Thatſachen unter den neuen
Bedingungen des Bewußtſeins als dieſelben erhält. Daher hat
der Satz vom Grunde, nach welchem jedes Gegebene in einem
[503]Andere Stellung des Geiſtigen.
denknothwendigen Zuſammenhang ſteht, in dem es bedingt iſt und
bedingt, zu dem Umkreis der geiſtigen Thatſachen nie dieſelbe
Stellung gehabt, welche er der Außenwelt gegenüber in Anſpruch
nehmen darf. Er iſt hier nicht das Geſetz, unter welchem jede
Vorſtellung von Wirklichkeit ſteht. Nur ſofern die Individuen
einen Raum in der Außenwelt einnehmen, an einem Zeitpunkt
auftreten und ſinnfällige Wirkungen in der Außenwelt hervor-
bringen, werden ſie in das Netz dieſes Zuſammenhangs mit ein-
gefügt. So ſetzt zwar die vollſtändige Vorſtellung der geiſtigen
Thatſachen ihre äußere Einordnung in den von der Naturwiſſen-
ſchaft geſchaffenen Zuſammenhang voraus, aber unabhängig von
dieſem Zuſammenhang ſind die geiſtigen Thatſachen als Wirklich-
keit da und haben die volle Realität derſelben.
So haben wir in dem Satze vom Grunde die logiſche Wurzel
aller folgerichtigen Metaphyſik d. h. der Vernunftwiſſenſchaft und
in dem Verhältniß des ſo entſtehenden logiſchen Ideals zur Wirk-
lichkeit den Urſprung der Schwierigkeiten dieſer Vernunftwiſſen-
ſchaft erkannt. Dieſes Verhältniß macht uns nunmehr einen großen
Theil der bisher dargelegten Phänomene der Metaphyſik
unter einem allgemeinſten Geſichtspunkt begreiflich.
Folgerichtig iſt nur die Metaphyſik, welche ihrer Form nach Ver-
nunftwiſſenſchaft iſt d. h. einen logiſchen Weltzuſammenhang auf-
zuzeigen ſucht. Vernunftwiſſenſchaft war daher gleichſam das
Rückgrat der europäiſchen Metaphyſik. Aber das Gefühl des
Lebens in dem wahrhaftigen, natürlich ſtarken Menſchen und der
ihm gegebene Gehalt der Welt ließen ſich nicht in dem logiſchen
Zuſammenhang einer allgemeingültigen Wiſſenſchaft erſchöpfen.
Die einzelnen Inhalte der Erfahrung, die in ihrer Herkunft von
einander getrennt ſind, ließen ſich nicht durch Denken einer in den
anderen überführen. Jeder Verſuch aber, einen anderen als einen
logiſchen Zuſammenhang in der Wirklichkeit aufzuzeigen, hob die
Form der Wiſſenſchaft zu Gunſten des Gehaltes auf.
Die ganze Phänomenologie der Metaphyſik hat gezeigt, daß
die metaphyſiſchen Begriffe und Sätze nicht aus der reinen Stellung
des Erkennens zur Wahrnehmung entſprangen, ſondern aus der
[504]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Arbeit deſſelben an einem durch die Totalität des Gemüthes ge-
ſchaffenen Zuſammenhang. In dieſer Totalität iſt zugleich mit
dem Ich ein Anderes, ein von ihm Unabhängiges gegeben: dem
Willen, welchem es widerſteht und der die Eindrücke nicht ändern
kann, dem Gefühl, das von ihm leidet: unmittelbar alſo, nicht
durch einen Schluß, ſondern als Leben. Dieſes Subjekt uns gegen-
über, dieſe wirkende Urſache möchte der Wille der Erkenntniß auf
dem natürlichen Standpunkte durchdringen und bewältigen. Er
iſt ſich zunächſt des Zuſammenhangs des Subjektes des Natur-
laufs mit dem Selbſtbewußtſein nicht bewußt. Selbſtändig ſteht
ihm dieſes in der äußeren Wahrnehmung gegenüber, und er ſtrebt,
es nun mit den ihm gegebenen Mitteln von Begriff, Urtheil,
Schluß, ſonach als denknothwendigen Zuſammenhang, zu begreifen.
Aber was in der Totalität unſeres Weſens gegeben iſt, kann nie
ganz in Gedanken aufgelöſt werden. Entweder wurde der Gehalt
der Metaphyſik unzureichend für die Anforderungen der lebensvollen
Menſchennatur, oder die Beweiſe erwieſen ſich als unzureichend,
indem ſie das, was der Verſtand an der Erfahrung feſtzuſtellen
vermag, zu überſchreiten ſtrebten. So wurde die Metaphyſik ein
Tummelplatz von Trugſchlüſſen.
Was in dem Gegebenen von ſelbſtändiger Provenienz iſt,
hat einen für die Erkenntniß unauflöslichen Kern, und Inhalte
der Erfahrung, die durch ihre Herkunft von einander getrennt ſind,
laſſen ſich nicht einer in den anderen überführen. Daher iſt die
Metaphyſik von falſchen Ableitungen und von Antinomien erfüllt ge-
weſen. So entſprangen zunächſt die Antinomien zwiſchen dem mit
endlichen Größen rechnenden Intellekt und der Anſchauung, welche
der Erkenntniß der äußeren Natur angehören. Ihr Kampfplatz war
ſchon die Metaphyſik des Alterthums. Das Stätige in Raum,
Zeit und Bewegung kann durch die Konſtruktion in Begriffen nicht
erreicht werden. Die Einheit der Welt und ihr Ausdruck in dem
gedankenmäßigen Zuſammenhang allgemeiner Formen und Geſetze
kann durch eine Analyſis, welche in Elemente zerlegt, und eine
Syntheſis, die aus dieſen Elementen zuſammenſetzt, nicht erklärlich
gemacht werden. Das Abgeſchloſſene des Anſchauungsbildes wird
[505]Allgemeinſter Geſichtspunkt für die Schwierigkeiten der Metaphyſik.
durch die Unbegrenztheit des über daſſelbe hinausſchreitenden
Willens der Erkenntniß überall wieder aufgehoben. Dazu treten
andere Antinomien, indem das Vorſtellen die in den Weltlauf
verflochtenen pſychiſchen Lebenseinheiten in ſeinen Zuſammenhang
aufnehmen und das Erkennen ſie ſeinem Syſtem unterwerfen will.
So entſtanden zunächſt die theologiſchen und metaphyſiſchen An-
tinomien des Mittelalters, und als die neuere Zeit das pſychiſche
Geſchehen ſelber in ſeinem Kauſalzuſammenhang zu erkennen unter-
nahm, traten die Widerſprüche zwiſchen dem rechnenden Denken
und der inneren Erfahrung innerhalb der metaphyſiſchen Behand-
lung der Pſychologie hinzu. Dieſe Antinomien können nicht auf-
gelöſt werden. Für die poſitive Wiſſenſchaft ſind ſie nicht da, und
für die Erkenntnißtheorie iſt ihr ſubjektiver Urſprung durchſichtig.
Daher ſtören ſie die Harmonie unſeres geiſtigen Lebens nicht. Aber
ſie haben die Metaphyſik zerrieben.
Will das metaphyſiſche Denken, ſolchen Widerſprüchen trotzend,
das Subjekt der Welt wirklich erkennen: ſo kann dies nichts
Anderes für es ſein als — Logismus. Jede Metaphyſik, welche
das Subjekt des Weltlaufs erkennen zu wollen beanſprucht, in
ihm aber etwas Anderes als Denknothwendigkeit ſucht, geräth in
einen augenſcheinlichen Widerſpruch zwiſchen ihrem Ziel und
ihren Hilfsmitteln. Das Denken kann einen anderen als
logiſchen Zuſammenhang in der Wirklichkeit nicht finden.
Denn da uns nur der Befund unſeres Selbſtbewußtſeins unmittel-
bar gegeben iſt und wir ſonach in das Innere der Natur nicht
direkt hineinblicken, ſo ſind wir, wenn wir unabhängig vom
Logismus über dieſes eine Vorſtellung bilden wollen, auf eine
Uebertragung unſeres eigenen Inneren auf die Natur angewieſen.
Dieſe kann aber nur ein poetiſches Spiel analogiſchen Vorſtellens
ſein, welches bald die Abgründe und dunkelen Gewalten unſeres
Seelenlebens, bald die ruhige Harmonie deſſelben, den hellen
freien Willen, die bildende Phantaſie in das Subjekt des Natur-
laufs hineinträgt. Die metaphyſiſchen Syſteme dieſer Richtung
haben ſonach, ernſtlich wiſſenſchaftlich genommen, nur den Werth
eines Proteſtes gegen den denknothwendigen Zuſammenhang. So
[506]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
bereiten ſie die Einſicht vor, daß in der Welt mehr und anderes
als dieſer enthalten iſt. Darin allein lag die vorübergehende
Bedeutung der Metaphyſik Schopenhauers und ihm verwandter
Schriftſteller. Sie iſt im Grunde eine Myſtik des neunzehnten
Jahrhunderts und ein lebens-, willenskräftiger Proteſt gegen alle
Metaphyſik als folgerichtige Wiſſenſchaft. Wann dagegen das Er-
kennen nach dem Satze vom Grunde ſich des Subjektes des Welt-
laufs zu bemächtigen entſchloſſen iſt, entdeckt es nur Denknoth-
wendigkeit als den Kern der Welt, daher beſteht für daſſelbe
weder der Gott der Religion noch die Erfahrung der Freiheit.
Die Bänder des metaphyſiſchen Weltzuſammen-
hangs können von dem Verſtande nicht eindeutig
beſtimmt werden.
Wir gehen weiter. Die Metaphyſik vermag die Verkettung
der inneren und äußeren Erfahrungen nur durch Vorſtellungen
über einen inneren inhaltlichen Zuſammenhang herzuſtellen. Und
wenn wir dieſe Vorſtellungen in’s Auge faſſen, ergiebt ſich die
Unmöglichkeit der Metaphyſik. Denn dieſe Vorſtellungen ſind einer
klaren eindeutigen Beſtimmung unzugänglich.
Der Differenzirungsproceß, in welchem die Wiſſenſchaft ſich
von den anderen Syſtemen der Kultur ſondert, zeigte ſich uns als
beſtändig fortſchreitend. Nicht mit einem Male löſte ſich aus der
Gebundenheit aller Gemüthskräfte der Zweckzuſammenhang der
Erkenntniß. Wie viel Aehnlichkeit hatte doch noch die Natur,
welche aus einem inneren Zuſtand in den anderen nach einer
inneren Lebendigkeit übergeht, oder das begrenzende Princip im
Mittelpunkt der Welt, das die Materie an ſich zieht und geſtaltet,
mit den göttlichen Kräften der heſiodeiſchen Theogonie. Und wie
lange blieb dann die Anſicht herrſchend, welche die gedankenmäßige
Ordnung des Weltalls auf ein Syſtem pſychiſcher Weſenheiten
zurückführte. Mühſam löſte ſich der Intellekt von dieſem inneren
Zuſammen los. Allmälich gewöhnte er ſich, mit immer weniger
Leben und Seele in der Natur hauszuhalten und auf immer
[507]Die Begriffe Subſtanz und Kauſalität nicht eindeutig beſtimmbar.
einfachere Formen der inneren Verbindung den Zuſammenhang
des Weltlaufs zurückzuführen. Zuletzt wurde auch die Zweck-
mäßigkeit als Form eines inneren inhaltlichen Zuſammenhangs
in Frage geſtellt. Als die beiden inneren Bänder, welche
den Weltlauf in all ſeinen Theilen zuſammenhalten, blieben Sub-
ſtanz und Kauſalität zurück.
Judem wir uns das Schickſal der Begriffe Subſtanz und
Kauſalität zurückrufen, ergiebt ſich: Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt
unmöglich.
Der denknothwendige Zuſammenhang ſetzt Subſtanz und Kau-
ſalität als feſte Größen in die Verkettung aufeinanderfolgender
und nebeneinander beſtehender Eindrücke ein. Nun erfährt die
Metaphyſik ein Wunderbares. Sie iſt in dieſer Zeit ihrer von
Erkenntnißtheorie noch nicht gebrochenen Zuverſicht überzeugt, zu
wiſſen, was unter Subſtanz und unter Kauſalität zu denken ſei.
In Wirklichkeit zeigt ihre Geſchichte beſtändigen Wechſel in der
Beſtimmung dieſer Begriffe und vergebliche Verſuche, ſie zu
widerſpruchsloſer Klarheit zu entwickeln.
Schon unſere Vorſtellung des Dinges kann nicht zur Klar-
heit gebracht werden. Wie kann die Einheit, welcher mannichfache
Eigenſchaften, Zuſtände, Wirken und Leiden inhäriren, von dieſen
letzteren abgegränzt werden? Das Beharrliche von den Ver-
änderungen? Oder wie vermag ich feſtzuſtellen, wann eine Ver-
wandlung deſſelben Dinges noch ſtattfindet und wann es vielmehr
aufhört zu ſein? Wie vermag ich das in ihm was bleibt von
dem abzuſondern was wechſelt? Wie kann endlich dieſe beharr-
liche Einheit als in einem räumlichen Außereinander irgendwo
ſitzend gedacht werden? Alles Räumliche iſt theilbar, enthält alſo
nirgend eine zuſammenhaltende untheilbare Einheit, und andrer-
ſeits ſchwinden mit dem Raume, wenn ich ihn hinwegdenke, alle
ſinnlichen Qualitäten des Dinges. Dennoch kann dieſe Einheit
nicht aus dem bloßen Zuſammengerathen verſchiedener Ein-
drücke (in Wahrnehmung und Aſſociation) erklärt werden; denn
eben im Gegenſatz hierzu drückt ſie ein inneres Zuſammenge-
hören aus.
[508]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Von dieſen Schwierigkeiten hervorgetrieben, tritt der Sub-
ſtanzbegriff auf. Wie wir geſchichtlich nachwieſen, iſt er aus
dem Bedürfniß entſtanden, das Feſte, welches wir in jedem
Dinge als beharrliche Einheit annahmen, gedankenmäßig zu er-
faſſen und zur Löſung der Aufgabe zu verwerthen, die wechſeln-
den Eindrücke auf ein Bleibendes, in dem ſie verbunden ſind, zu
beziehen. Aber da er nichts als die wiſſenſchaftliche Bearbeitung
der Dingvorſtellung iſt, ſo entfaltet er die in dieſer gelegenen
Schwierigkeiten nur deutlicher. Selbſt das metaphyſiſche Genie des
Ariſtoteles ſahen wir vergebens ringen, dieſe aufzulöſen. Auch
iſt es umſonſt, wenn nun die Subſtanz in das Atom verlegt
wird. Denn mit ihr werden auch ihre Widerſprüche in dieſes
untheilbare Räumliche, dieſes Ding im Kleinen verlegt, und die
Naturwiſſenſchaft muß ſich begnügen, ſofern ſie den Begriff von
etwas bildet, das in unſrem Naturlauf nicht weiter zerlegt werden
kann, dieſe Schwierigkeiten nur von ſich auszuſchließen: auf ihre
Löſung verzichtet ſie. So wandelt ſich der metaphyſiſche Begriff
des Atoms in einen bloßen Hilfsbegriff zur Beherrſchung der Er-
fahrungen. Eben ſo wenig werden die Schwierigkeiten gelöſt,
wenn die Subſtanz der Dinge in ihre Form verlegt wird.
Vergeblich ſahen wir die ganze Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
mit den Schwierigkeiten dieſes Begriffes ringen, und die Wiſſen-
ſchaft muß ſich auch hier ſchließlich, ihre Grenzen gegen das Un-
erforſchliche wahrend, damit begnügen, dieſen Begriff als ein bloßes
Symbol für einen Thatbeſtand zu behandeln, welcher ſich dem
Erkennen, wenn es den Zuſammenhang der Thatſachen aufſucht,
als objektive Einheit in denſelben darbietet, jedoch in ſeinem realen
Gehalt unauflöslich iſt.
Und im Kern des Subſtanzbegriffs ſelber, mag man ihn auf
Atome oder auf Naturformen beziehen, bleibt eine nicht zu be-
wältigende Schwierigkeit. Die Wiſſenſchaft von einem denknoth-
wendigen Zuſammenhang der Außenwelt drängt dahin, die Subſtanz
als eine feſte Größe zu behandeln und ſonach Wechſel, Werden und
Veränderung in die Relationen dieſer Elemente zu verlegen. Aber
ſobald dies Verfahren mehr als Hilfskonſtruktion der Bedingungen
[509]Die Begriffe Subſtanz und Kauſalität nicht eindeutig beſtimmbar.
für die Denkbarkeit des Naturzuſammenhangs ſein, ſobald eine Be-
ſtimmung über das metaphyſiſche Weſen des Subſtantialen da-
raus entnommen werden ſoll, tritt eine Art von Vexirſpiel ein.
Die innere Veränderung iſt nun in das pſychiſche Geſchehen hin-
übergeſchoben, hier blitzt jetzt die Farbe auf, erklingt der Ton.
Dann haben wir nur die Wahl, einem ſtarren Mechanismus der
Natur die innerliche Lebendigkeit pſychiſchen Geſchehens gegen-
überzuſetzen und ſo die metaphyſiſche Einheit des Weltzuſammen-
hangs, die wir ſuchten, aufzugeben oder die unveränderlichen Ele-
mente in ihrem wahren Werthe als bloße Hilfsbegriffe aufzufaſſen.
Es würde ermüden, wollten wir nun zeigen, wie der Begriff
der Kauſalität ähnlichen Schwierigkeiten unterliegt. Auch hier
kann bloße Aſſociation die Vorſtellung des inneren Bandes nicht
erklären, und doch kann der Verſtand nicht eine Formel entwerfen,
in welcher aus ſinnlich oder verſtandesmäßig klaren Elementen
ein Begriff zuſammengeſetzt würde, der den Inhalt der Kauſal-
vorſtellung darſtellte. Und ſo wird die Kauſalität ebenfalls aus
einem metaphyſiſchen Begriff zu einem bloßen Hilfsmittel für die
Beherrſchung der äußeren Erfahrungen. Denn die Naturwiſſen-
ſchaft kann nur dasjenige, was durch Elemente der äußeren Wahr-
nehmung und Operationen des Denkens mit denſelben belegt werden
kann, als Beſtandtheile ihres Erkenntnißzuſammenhangs anerkennen.
Können ſo Subſtanz und Kauſalität nicht als objektive
Formen des Naturlaufs aufgefaßt werden, ſo läge der mit ab-
ſtrakten verſtandesmäßig präparirten Elementen arbeitenden Wiſſen-
ſchaft am nächſten, in ihnen wenigſtens aprioriſche Formen
der Intelligenz feſtzuhalten. Die Erkenntnißtheorie Kant’s,
welche die Abſtraktionen der Metaphyſik in erkenntnißtheoretiſcher
Abſicht benutzte, glaubte hierbei ſtehen bleiben zu können. Alsdann
würden dieſe Begriffe wenigſtens einen feſten obzwar ſubjektiven
Zuſammenhang der Erſcheinungen ermöglichen.
Wären ſie ſolche Formen der Intelligenz ſelber, dann müßten
ſie als ſolche dieſer gänzlich durchſichtig ſein. Fälle ſolcher
Durchſichtigkeit ſind das Verhältniß des Ganzen zu den Theilen,
der Begriff von Gleichheit und Unterſchied; in ihnen beſteht über
[510]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem
Begriffe von Gleichheit nur daſſelbe als A denken. Die Begriffe
von Kauſalität und Subſtanz ſind augenſcheinlich nicht von ſolcher
Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in ſinnliche oder Ver-
ſtandeselemente auflösbaren Thatſächlichkeit. Sie können nicht wie
Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre
Analyſis doch zu endloſem Streit geführt. Oder wie kann etwa
eine bleibende Unterlage, an welcher Eigenſchaften und Thätigkeiten
wechſeln, ohne daß dieſes Thätige ſelber in ſich Veränderungen
erführe, vorgeſtellt, wie für den Verſtand faßbar gemacht werden?
Wären Subſtanz und Kauſalität ſolche Formen der Intelli-
genz a priori, ſonach mit der Intelligenz ſelber gegeben, alsdann
könnten keine Beſtandtheile dieſer Denkformen aufgegeben und mit
anderen vertauſcht werden. In Wirklichkeit nahm das mythiſche
Vorſtellen, wie wir ſahen, in den Urſachen eine freie Lebendig-
keit und ſeeliſche Kraft an, welche in unſerem Begriff einer Urſache
im Naturlauf nicht mehr anzutreffen iſt. Die Elemente, welche
urſprünglich in der Urſache vorgeſtellt wurden, haben eine beſtän-
dige Minderung erfahren, und andere ſind in einem Vorgang von
Anpaſſung der urſprünglichen Vorſtellung an die Außenwelt in
ihre Stelle eingetreten. Dieſe Begriffe haben eine Entwicklungs-
geſchichte.
Der Grund ſelber, aus welchem die Vorſtellungen von Sub-
ſtanz und Kauſalität ſich einer eindeutigen klaren Beſtimmung nicht
fähig erweiſen, kann innerhalb dieſer phänomenologiſchen Betrach-
tung der Metaphyſik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden,
die dann die Erkenntnißtheorie zu erweiſen hat. In der Tota-
lität unſerer Gemüthskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbſt-
bewußtſein, welches das Wirken eines Anderen erfährt, liegt der
lebendige Urſprung dieſer beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende
Uebertragung aus dem Selbſtbewußtſein auf die an ſich lebloſe
Außenwelt, durch welche dieſe letztere in mythiſchem Vorſtellen Leben
empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere
kann im Selbſtbewußtſein ſo urſprünglich wie das Selbſt als
lebendige wirkſame Realität gegeben ſein. Was aber in der Tota-
[511]Subſtanz und Kauſalität ſind nicht Verſtandesformen.
lität der Gemüthskräfte gegeben iſt, das kann nie von der Intel-
ligenz ganz aufgeklärt werden. Der Differenzirungsprozeß der
Erkenntniß in der fortſchreitenden Wiſſenſchaft kann daher als
Vorgang der Abſtraktion von immer mehr Elementen dieſes Le-
bendigen abſehen: jedoch der unlösliche Kern bleibt. So erklären
ſich alle Eigenſchaften, welche dieſe beiden Begriffe von Sub-
ſtanz und Kauſalität im Verlauf der Metaphyſik gezeigt haben,
und es kann eingeſehen werden, daß auch künftig jeder Kunſt-
griff des Verſtandes dieſen Eigenſchaften gegenüber machtlos ſein
wird. Daher wird ächte Naturwiſſenſchaft dieſe Begriffe als bloße
Zeichen für ein x, welches ihre Rechnung bedarf, behandeln. Die
Ergänzung dieſes Verfahrens liegt dann in der Analyſis des Be-
wußtſeins, welche den urſprünglichen Werth dieſer Zeichen und
die Gründe, aus welchen ſie in der naturwiſſenſchaftlichen Rech-
nung erforderlich ſind, aufzeigt.
Ganz anders ſtehen zu dieſen Begriffen die Geiſteswiſſen-
ſchaften. Sie behalten von den Begriffen Subſtanz und Kauſali-
tät nur das rechtmäßiger Weiſe, was im Selbſtbewußtſein und
der inneren Erfahrung gegeben war, und ſie geben Alles auf, was
in ihnen aus der Anpaſſung an die Außenwelt ſtammte. Sie
dürfen daher von dieſen Begriffen keinen direkten Gebrauch zur
Bezeichnung ihrer Gegenſtände machen. Ein ſolcher hat ihnen
oft geſchadet und nie an irgend einem Punkte genützt. Denn nie
haben dieſe abſtrakten Begriffe dem Erforſcher der menſchlichen
Natur über dieſe mehr ſagen können, als in dem Selbſtbewußt-
ſein gegeben war, aus welchem ſie hervorgegangen ſind. Selbſt
wenn der Begriff von Subſtanz auf die Seele anwendbar wäre,
vermöchte er nicht einmal die Unſterblichkeit in einer religiöſen
Ordnung der Vorſtellungen zu begründen. Führt man die Ent-
ſtehung der Seele auf Gott zurück, ſo kann was entſtanden iſt
auch untergehen, oder was ſich in einem Vorgang von Emana-
tion ausgeſondert hat in die Einheit zurücktreten. Schließt man
aber die Annahme einer Schöpfung oder Ausſtrahlung von Seelen-
ſubſtanzen aus Gott aus, ſo fordert die ſeeliſche Subſtanz eine
atheiſtiſche Weltordnung: die Seelen ſind dann, gleichviel ob
allein ohne Gott oder unabhängig neben Gott, ungewordene Götter.
[512]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Eine inhaltliche Vorſtellung des Weltzuſammen-
hangs kann nicht erwieſen werden.
Indem die Metaphyſik ihre Aufgabe weiter verfolgt, ent-
ſpringen aus den Bedingungen derſelben neue Schwierigkeiten,
welche eine Löſung der Aufgabe unmöglich machen. Ein be-
ſtimmter innerer objektiver Zuſammenhang der Wirk-
lichkeit, unter Ausſchluß der möglichen übrigen, iſt nicht
erweisbar. An einem weiteren Punkte ſtellen wir daher feſt:
Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich.
Denn entweder wird dieſer Zuſammenhang aus aprioriſchen
Wahrheiten abgeleitet, oder er wird an dem Gegebenen aufgezeigt. —
Eine Ableitung a priori iſt unmöglich. Kant hat die letzte
Konſequenz der Metaphyſik in der Richtung fortſchreitender Ab-
ſtraktion gezogen, indem er ein Syſtem aprioriſcher Begriffe und
Wahrheiten, wie es ſchon dem Geiſte des Ariſtoteles und dem
von Descartes vorſchwebte, wirklich entwickelte. Er hat aber un-
widerleglich bewieſen, daß auch unter dieſer Bedingung „der Ge-
brauch unſerer Vernunft nur auf Gegenſtände möglicher Erfahrung
reicht“. Doch ſteht vielleicht die Sache der Metaphyſik nicht ein-
mal ſo günſtig als Kant annahm. Sind Kauſalität und Subſtanz
gar nicht eindeutig beſtimmbare Begriffe, ſondern der Ausdruck
unauflöslicher Thatſachen des Bewußtſeins, dann entziehen dieſelben
ſich gänzlich der Benutzung für die denknothwendige Ableitung
eines Weltzuſammenhangs. — Oder die Metaphyſik geht von
dem Gegebenen zu ſeinen Bedingungen rückwärts, dann
beſteht, wenn man von den willkürlichen Einfällen der deutſchen
Naturphiloſophie abſieht, in Bezug auf den Naturlauf darüber
Einſtimmigkeit, daß die Analyſis deſſelben auf Maſſentheilchen,
welche nach Geſetzen auf einander wirken, als auf letzte der Natur-
wiſſenſchaft nothwendige Bedingungen zurückführt. Nun erkannten
wir, daß zwiſchen dem Beſtand dieſer Atome und den Thatſachen
ihrer Wechſelwirkung, des Naturgeſetzes und der Naturformen für
uns keine Art von Verbindung vorhanden iſt. Wir ſahen, daß
[513]Unerweisbarkeit einer inhaltlichen Vorſtellung d. Weltzuſammenhangs.
keine Aehnlichkeit zwiſchen ſolchen Atomen und den pſychiſchen
Einheiten, welche als unvergleichbare Individuen in den Weltlauf
eintreten, in ihm lebendig innere Veränderungen erfahren und
wieder aus ihm verſchwinden, ſtattfindet. Sonach enthalten die
letzten Begriffe, zu denen die Wiſſenſchaften des Wirklichen gelangen,
nicht die Einheit des Weltlaufs. — Sind doch auch weder Atome
noch Geſetze reale Subjekte des Naturvorgangs. Denn die Sub-
jekte, welche die Geſellſchaft bilden, ſind uns gegeben, dagegen
das Subjekt der Natur oder die Mehrheit von Subjekten der-
ſelben nicht, ſondern wir beſitzen nur das Bild des Naturlaufs
und die Erkenntniß ſeines äußeren Zuſammenhangs. Nun iſt
aber dieſer Naturlauf ſelber ſammt ſeinem Zuſammenhang nur
Phänomen für unſer Bewußtſein. Die Subjekte, die wir ihm als
Maſſentheilchen unterlegen, gehören alſo ebenfalls der Phänomena-
lität an. Sie ſind nur Hilfsbegriffe für die Vorſtellung des
Zuſammenhangs in einem Syſtem der prädikativen Beſtimmungen,
welche die Natur ausmachen: der Eigenſchaften, Beziehungen,
Veränderungen, Bewegungen. Sie ſind daher nur ein Theil des
Syſtems prädikativer Beſtimmungen, deren reales Subjekt unbe-
kannt bleibt.
Eine Metaphyſik, welche zu verzichten weiß und nur die
letzten Begriffe, zu welchen die Erfahrungswiſſen-
ſchaften gelangen, zu einem vorſtellbaren Ganzen ver-
knüpfen will, kann weder die Relativität des Erfahrungskreiſes,
den dieſe Begriffe darſtellen, noch die des Standorts und der Ver-
faſſung der Intelligenz, welche die Erfahrungen zu einem Ganzen
vereinigt, jemals überwinden. Indem wir dies erweiſen, zeigt ſich
von zwei neuen Seiten: Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich.
Die Metaphyſik überwindet nicht die Relativität des
Erfahrungskreiſes, aus dem ihre Begriffe gewonnen ſind.
In den letzten Begriffen der Wiſſenſchaften werden für die be-
ſtimmte Zahl gegebener phänomenaler Thatbeſtände, welche das
Syſtem unſerer Erfahrung bilden, Bedingungen ihrer Denkbarkeit
aufgeſtellt. Nun hat die Vorſtellung von dieſen Bedingungen ſich
mit der Zunahme unſerer Erfahrungen geändert. So war ein
Dilthey, Einleitung. 33
[514]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Zuſammenhang der Veränderungen nach Geſetzen, der heute die
Erfahrungen zu einem Syſtem verbindet, dem Alterthum nicht
bekannt. Daher hat eine ſolche Vorſtellung von Bedingungen
immer nur eine relative Wahrheit, d. h. ſie bezeichnet nicht eine
Realität, ſondern entia rationis, Gedankendinge, welche die Herr-
ſchaft des Gedankens und des Eingreifens über einen gegebenen
eingeſchränkten Zuſammenhang von Phänomenen ermöglichen. Stellt
man ſich eine plötzliche Erweiterung menſchlicher Erfahrung vor,
dann würden die entia rationis, welche die Bedingungen dieſer
Erfahrungen ausdrücken ſollen, ſich ihrer Erweiterung anpaſſen
müſſen; wer kann ſagen, wie weit dann die Veränderung greifen
würde? Und ſucht man nun für dieſe letzten Begriffe einen ver-
einigenden Zuſammenhang, ſo kann der Erkenntnißwerth der ſo ent-
ſtehenden Hypotheſe nicht ein größerer ſein, als der ihrer Grund-
lage iſt. Die metaphyſiſche Welt, die hinter den Hilfsbegriffen
der Naturwiſſenſchaft ſich aufthut, iſt alſo gleichſam in der zweiten
Potenz — ein ens rationis. Wird das nicht durch die ganze Ge-
ſchichte der neueren Metaphyſik beſtätigt? Die Subſtanz Spinozas,
die Atome der Moniſten, die Monaden von Leibniz, die Realen
von Herbart verwirren die Naturwiſſenſchaften, indem ſie aus dem
inneren pſychiſchen Leben Elemente in den Naturlauf tragen, und
ſie mindern das geiſtige Leben herab, indem ſie einen Naturzu-
ſammenhang in dem Willen ſuchen. Sie vermögen nicht, die
durch die Geſchichte der Metaphyſik hindurchgehende Dualität der
mechaniſch-atomiſtiſchen und der von dem Ganzen ausgehenden
Weltanſicht aufzuheben.
Die Metaphyſik überwindet ebenſo wenig die einge-
ſchränkte Subjektivität des Seelenlebens, welches jeder
metaphyſiſchen Verknüpfung der letzten wiſſenſchaftlichen Begriffe
zu Grunde liegt. Dieſe Behauptung enthält zwei Sätze in ſich.
Eine einheitliche Vorſtellung vom Subjekte des Weltlaufs kommt
nur durch die Vermittlung deſſen, was das Seelenleben hinein-
giebt, zu Stande. Dieſes Seelenleben iſt aber in beſtändiger Ent-
wicklung, unberechenbar in ſeinen weiteren Entfaltungen, an jedem
Punkte geſchichtlich relativ und eingeſchränkt und daher unfähig,
[515]Metaphyſiſcher Abſchluß der Erfahrungswiſſenſchaft unmöglich.
die letzten Begriffe der Einzelwiſſenſchaften in einer objektiven und
endgültigen Weiſe zu verknüpfen.
Denn was bedeutet die Vorſtellbarkeit oder Denkbarkeit
jener letzten Thatbeſtände, zu welchen die Einzelwiſſenſchaften vor-
dringen, wie die Metaphyſik ſie herzuſtellen ſtrebt? Wenn die Meta-
phyſik dieſe Thatbeſtände in einer faßbaren Vorſtellung vereinigen
will, ſo ſteht ihr zu dieſem Zweck zunächſt nur der Satz des
Widerſpruchs zur Verfügung. Wo aber zwiſchen zwei Beding-
ungen des Syſtems der Erfahrungen ein Widerſpruch beſteht, da
bedarf es eines poſitiven Prinzips, um zwiſchen den wider-
ſprechenden Sätzen zu entſcheiden. Wenn ein Metaphyſiker be-
hauptet, nur auf Grund dieſes Satzes des Widerſpruchs die
letzten Thatſachen, zu denen Wiſſenſchaft gelangt, zur Denkbarkeit
zu verknüpfen, dann laſſen ſich ſtets poſitive Gedanken nachweiſen,
welche insgeheim ſeine Entſcheidungen leiten. Denkbarkeit muß
alſo hier mehr bedeuten als Widerſpruchsloſigkeit. Auch ſtellen
in der That die metaphyſiſchen Syſteme ihren Zuſammenhang
durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her.
Denkbarkeit iſt hier nur ein abſtrakter Ausdruck für Vorſtell-
barkeit, dieſe aber enthält nichts anderes, als daß das Denken,
wenn es den feſten Boden der Wirklichkeit und der Analyſis
verläßt, trotzdem von Reſiduen des in ihr Enthal-
tenen geleitet wird. Innerhalb dieſes Umkreiſes der Vor-
ſtellbarkeit erſcheint dann vielfach das Entgegengeſetzte als gleich
möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet:
Die Monaden ſeien ohne Fenſter, Lotze bemerkt hierzu mit Recht:
„Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen
bildlichen Ausdruck im Gegentheil gelehrt hätte, die Monaden
hätten Fenſter, durch die ihre inneren Zuſtände mit einander
in Gemeinſchaft träten, und dieſe Behauptung würde ungefähr
gleichviel Grund und vielleicht beſſeren Grund gehabt haben,
als die, welche er vorzog.“ 1) Die einen Metaphyſiker halten
ihre Maſſentheilchen, jedes für ſich, für fähig einzuwirken oder
33*
[516]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Einwirkung zu erleiden, die anderen glauben, daß Wechſelwirkung
unter gemeinſamen Geſetzen nur in einem alle Einzelweſen ver-
bindenden Bewußtſein denkbar ſei. Ueberall hat hier die Meta-
phyſik, als die Königin über ein Schattenreich, nur mit Schatten
ehemaliger Wahrheiten zu thun, von denen die einen ihr verwehren
etwas zu denken, die anderen es ihr aber gebieten. Dieſe Schatten
von Weſenheiten, welche insgeheim die Vorſtellung leiten und die
Vorſtellbarkeit ermöglichen, ſind entweder Bilder aus der in den
Sinnen gegebenen Materie oder Vorſtellungen aus dem in der
inneren Erfahrung gegebenen pſychiſchen Leben. Die erſteren ſind
in ihrem phänomenalen Charakter von der modernen Wiſſenſchaft
anerkannt, und daher iſt die materialiſtiſche Metapyſik, als ſolche,
in Abnahme gerathen. Wo es ſich wirklich um das Subjekt der
Natur handelt und nicht bloß um prädikative Beſtimmungen, wie
Bewegung und ſinnliche Qualitäten ſie darbieten, da entſcheiden
zumeiſt insgeheim oder bewußt die Vorſtellungen des pſychi-
ſchen Lebens über das, was als metaphyſiſcher Zuſammenhang
denkbar ſei oder nicht. Gleichviel, mag Hegel die Weltvernunft
zu dem Subjekt der Natur machen oder Schopenhauer einen blinden
Willen oder Leibniz vorſtellende Monaden oder Lotze ein alle
Wechſelwirkung vermittelndes umfaſſendes Bewußtſein, oder mögen
die neueſten Moniſten pſychiſches Leben in jedem Atom aufblitzen
laſſen: Bilder des eigenen Selbſt, Bilder des pſychiſchen Lebens
ſind es, welche den Metaphyſiker geleitet haben, als er über Denk-
barkeit entſchied und deren insgeheim wirkende Gewalt ihm die
Welt umwandelte in eine ungeheure phantaſtiſche Spiegelung
ſeines eigenen Selbſt. Denn das iſt das Ende: der metaphyſiſche
Geiſt gewahrt ſich ſelber in phantaſtiſcher Vergrößerung, gleichſam
in einem zweiten Geſicht.
So trifft die Metaphyſik am Endpunkte ihrer Bahn
mit der Erkenntnißtheorie zuſammen, welche das auffaſſende
Subjekt ſelber zu ihrem Gegenſtand hat. Die Verwandlung der Welt
in das auffaſſende Subjekt durch dieſe modernen Syſteme iſt gleich-
ſam die Euthanaſie der Metaphyſik. Novalis erzählt ein Märchen
von einem Jüngling, den die Sehnſucht nach den Geheimniſſen
[517]Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.
der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele
Länder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares
Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur,
er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt
in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt
des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge-
wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der
That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach-
dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald
des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes
ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer
Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe.
Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer
perſönliche Gehalt des Seelenlebens iſt nun in einer beſtändigen
geſchichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeſchränkt, und
kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er-
möglichen. Das iſt die tiefſte Einſicht, zu welcher unſere Phäno-
menologie der Metaphyſik gelangte, im Gegenſatz gegen die Kon-
ſtruktionen der Epochen der Menſchheit. Jedes metaphyſiſche
Syſtem iſt nur für die Lage repräſentativ, in welcher eine Seele
das Welträthſel erblickt hat. Es hat die Gewalt, dieſe Lage und
Zeit, den Zuſtand der Seele, die Art, wie die Menſchen die Natur
und ſich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das
gründlicher und allſeitiger als dichteriſche Werke, in welchen das
Gemüthsleben nach ſeinem Geſetz mit Perſonen und Dingen
ſchaltet. Jedoch mit der geſchichtlichen Lage des Seelenlebens ändert
ſich der geiſtige Gehalt, welcher einem metaphyſiſchen Syſtem Ein-
heit und Leben giebt. Wir können dieſe Aenderung weder nach
ihren Gränzen beſtimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.
Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an
eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe der erſten Urſachen gebunden;
die chriſtliche Weltanſicht entwickelte ſich, und es war nun gleich-
ſam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art,
die erſte Urſache der Welt vorzuſtellen erblickte. Für einen mittel-
alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und menſch-
[518]Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
lichen Dinge in ihren Grundzügen abgeſchloſſen, und eine Vor-
ſtellung davon, daß die auf Erfahrung gegründete Wiſſenſchaft
beſtimmt ſei, die Welt umzugeſtalten, beſaß kein Menſch während
des elften Jahrhunderts in Europa; dann aber geſchah, was Nie-
mand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswiſſenſchaft
entſtand. So müſſen auch wir uns ſagen, daß wir nicht wiſſen,
was hinter den Wänden ſich befindet, die uns heute umgeben.
Das Seelenleben ſelber verändert ſich in der Geſchichte der Menſch-
heit, nicht nur dieſe oder jene Vorſtellung. Und dieſes Bewußt-
ſein der Schranken unſerer Erkenntniß, wie es aus dem geſchicht-
lichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, iſt ein
anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im
Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts das metaphyſiſche Bewußt-
ſein ohne Geſchichte war.
Der Skepticismus, welcher die Metaphyſik als ihr Schatten
begleitete, hatte den Nachweis erbracht, daß wir in unſere Eindrücke
gleichſam eingeſchloſſen ſind, ſonach die Urſache derſelben nicht
erkennen und über die reale Beſchaffenheit der Außenwelt nichts
ausſagen können. Alle Sinnesempfindungen ſind relativ und ge-
ſtatten keinen Schluß auf das, was ſie hervorbringt. Selbſt der
Begriff der Urſache iſt eine von uns in die Dinge getragene Re-
lation, für deren Anwendung auf die Außenwelt ein Rechtsgrund
nicht vorliegt. Dazu hat die Geſchichte der Metaphyſik gezeigt,
daß unter einer Beziehung zwiſchen dem Denken und den Ob-
jekten nichts Klares gedacht werden kann, mag dieſelbe als Iden-
tität oder Parallelismus, als Entſprechen oder Korreſpondenz be-
zeichnet werden. Denn eine Vorſtellung kann einem Ding, ſofern
dieſes als von ihr unabhängige Realität aufgefaßt wird, nie gleich
ſein. Sie iſt nicht das in die Seele geſchobene Ding und kann
nicht mit einem Gegenſtand zur Deckung gebracht werden. Schwächt
man den Begriff der Gleichheit zu dem der Aehnlichkeit ab, ſo
kann auch dieſer Begriff in ſeinem genauen Verſtande hier nicht
[519]Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.
angewandt werden: die Vorſtellung von Uebereinſtimmung ent-
weicht ſo in das Unbeſtimmte. Der Rechtsnachfolger des Step-
tikers iſt der Erkenntnißtheoretiker. Hier ſind wir an der Grenze
angelangt, an welcher das nächſte Buch anheben wird: vor dem
erkenntnißtheoretiſchen Standpunkte der Menſchheit. Denn das
moderne wiſſenſchaftliche Bewußtſein iſt einerſeits bedingt durch
die Thatſache der relativ ſelbſtändigen Einzelwiſſenſchaften, anderer-
ſeits durch die erkenntnißtheoretiſche Stellung des Menſchen zu
ſeinen Objekten. Der Poſitivismus hat vorwiegend auf die erſtere
Seite deſſelben ſeine philoſophiſche Grundlegung aufgebaut, die
Tranſcendentalphiloſophie auf die andere. An dem Punkte der
intellektuellen Geſchichte, an welchem die metaphyſiſche Stellung
des Menſchen endigt, wird das folgende Buch anſetzen und die
Geſchichte des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in ſeiner
Beziehung zu den Geiſteswiſſenſchaften darlegen, wie es durch die
erkenntnißtheoretiſche Stellung zu den Objekten bedingt iſt. Dieſe
hiſtoriſche Darſtellung wird noch zu zeigen haben, wie die Rück-
ſtände der metaphyſiſchen Epoche nur langſam überwunden und ſo
die Konſequenzen der erkenntnißtheoretiſchen Stellung nur ſehr all-
mälig gezogen wurden. Sie wird ſichtbar machen, wie innerhalb
der erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung ſelber die Abſtraktionen,
welche die dargelegte Geſchichte der Metaphyſik hinterlaſſen hat,
nur ſpät und bis heute noch ſehr unvollſtändig weggeräumt worden
ſind. So ſoll ſie zu dem pſychologiſchen Standpunkte hinführen,
welcher nicht von der Abſtraktion einer iſolirten Intelligenz, ſondern
von dem Ganzen der Thatſachen des Bewußtſeins aus das Pro-
blein der Erkenntniß aufzulöſen unternimmt. Denn in Kant voll-
zog ſich nur die Selbſtzerſetzung der Abſtraktionen, welche die von
uns geſchilderte Geſchichte der Metaphyſik geſchaffen hat; nun
gilt es, die Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr
zu werden und, von ihr ausgehend, feſtzuſtellen, was Natur und
Geſchichte dieſem inneren Leben ſind.
[]
Appendix A
Pierer’ſche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
[][][][][][]
‚Toutes ces misères — prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand
seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée
de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés,
et de n’être pas dans l’estime d’une âme‘ (5) [Oeuvres Paris 1866 I,
248, 249).
Vgl.: Die ſieben Welträthſel. 1881.
nur ſchlußkräftig, wenn der atomiſtiſchen Mechanik ſozuſagen metaphyſiſche
Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geſchichte
kann auch die Formulirung bei dem Claſſiker der rationalen Pſychologie,
Mendelsſohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) I, 277:
1) „Alles was der menſchliche Körper vom Marmorblock Verſchiedenes hat,
läßt ſich auf Bewegung zurückführen. Nun iſt die Bewegung nichts Anderes,
als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen,
daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, ſie mögen noch
ſo zuſammengeſetzt ſein, kein Wahrnehmen dieſer Ortsveränderungen zu er-
halten ſei.“ 2) „Alle Materie beſteht aus mehreren Theilen. Wenn die ein-
zelnen Vorſtellungen ſo in den Theilen der Seele iſolirt wären wie die
Gegenſtände in der Natur, ſo wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir
würden die Eindrücke verſchiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorſtellungen
nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältniſſe wahrnehmen, keine Beziehungen
erkennen können. Hieraus iſt klar, daß nicht nur zum Denken, ſondern
zum Empfinden Vieles in Einem zuſammenkommen muß. Da aber die
Materie niemals ein einziges Subjekt wird u. ſ. w.“ Kant entwickelt
dieſen „Achilles aller dialektiſchen Schlüſſe der reinen Seelenlehre“ als
zweiten Paralogismus der transſcendentalen Pſychologie. Bei Lotze wurden
dieſe „Thaten des beziehenden Wiſſens“ als „nicht zu überwältigender
Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbſtändigkeit eines Seelen-
weſens ſicher beruhen kann“, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphyſik 476) ent-
wickelt und bilden die Grundlage dieſes Theils ſeines metaphyſiſchen Syſtems.
Aph. 3.
der Geiſteswiſſenſchaften kann auf folgende Encyklopädien verwieſen werden:
Mohl, Encyklopädie der Staatswiſſenſchaften, Tübingen 1859. Zweite um-
gearbeitete Aufl. 1872 (dritte 1881 Titelaufl.). Vergl. dazu Ueberſicht und
Beurtheilung anderer Encyklopädien in ſeiner Geſchichte und Literatur der
Staatswiſſenſchaften Bd. I, 111—164. Warnkönig, juriſtiſche Encyklopädie
oder organiſche Darſtellung der Rechtswiſſenſchaft. 1853. Schleiermacher,
inneren Zuſammenhang, in welchem ſie methodiſch zu einander ſtehen,
und in welchem folgerecht ihre Auflöſung herbeigeführt werden kann, findet
man entworfen in: Auguste Comte, Cours de philosophie positive 1830—
1842, vom vierten bis ſechſten Bande. Seine ſpäteren Werke, welche einen
veränderten Standpunkt enthalten, können einem ſolchen Zweck nicht dienen.
umgearbeitete Ausg. 1830. Böckh, Encyklopädie und Methodologie der philo-
logiſchen Wiſſenſchaften, herausgegeben von Bratuſchek. 1877.
Herbert Spencer. Dem erſten Angriff auf Comte in Spencer, Essays,
first series, 1858 folgte die genauere Darlegung in: the classification of the
sciences, 1864 (vergl. die Vertheidigung Comte’s in Littré, Auguste Comte
et la philosophie positive). Die ausgeführte Darſtellung der Gliederung
der Geiſteswiſſenſchaften giebt nunmehr ſein Syſtem der ſynthetiſchen Phi-
loſophie, von welchem die Prinzipien der Pſychologie zuerſt 1855 erſchienen,
die der Sociologie ſeit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: De-
scriptive Sociology), der abſchließende Theil, die Prinzipien der Ethik (von
welchem er ſelber erklärt, daß er ihn „für denjenigen halte, für welchen
alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden ſollen“) in einem erſten
Bande 1879 die „Thatſachen der Ethik“ behandelt. Neben dieſem Verſuch
einer Conſtitution der Theorie der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit
iſt noch der von John Stuart Mill bemerkenswerth; er iſt enthalten im
ſechſten Buch der Logik, das von der Logik der Geiſteswiſſenſchaften oder
der moraliſchen Wiſſenſchaften handelt, und in der Schrift: Mill, Auguste
Comte and Positivism. 1865.
der Geſellſchaft und die Aufgabe der Geſellſchaftswiſſenſchaften, in denen
eine Ergänzung der Staatswiſſenſchaften geſucht wurde. Den Anſtoß gaben
L. Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich,
zweite Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitſchr. für Staatsw. 1851.
Fortgeführt in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften
Bd. I, 1855 S. 67 ff.: Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchafts-
wiſſenſchaften. Wir heben zwei Verſuche der Gliederung als beſonders
bemerkenswerth hervor: Stein, Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852, und
Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers, 1875 ff.
Spencer u. a. ihn faſſen, muß ganz unterſchieden werden von dem Begriff,
den Geſellſchaft und Geſellſchaftswiſſenſchaft bei den deutſchen Staatsrechts-
und Staat unterſcheiden, ausgehend von dem Bedürfniß, die äußere Organi-
ſation des Zuſammenlebens zu bezeichnen, welche die Vorausſetzung und
Grundlage des Staats bildet.
erſcheinungen. Coblenz. 1826. Ich habe einen Verſuch gemacht, die Ein-
bildungskraft des Dichters durch eine Verknüpfung der hiſtoriſchen mit den
pſychologiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen aufzuklären: über die Ein-
bildungskraft der Dichter, Zeitſchrift für Völkerpſychologie und Sprachwiſſen-
ſchaft. Bd. X, 1878. S. 42—104.
das Deutſche Genoſſenſchaftsrecht (Berlin 1868).
iſt noch erhalten in dem Fragment des Heraklit: τϱέφονται γὰϱ πάντες
οἱ ἀνϑϱώπινοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ ϑείου κϱατέει γὰϱ τοσοῦτον
ὁκόσον ἐϑέλει καὶ ἐξαϱκέει πᾶσι καὶ πεϱιγίνεται (Stob. flor. III, 84), ſo-
wie in den verwandten Stellen des Aeſchylos und Pindar. Die Stelle des
letzteren: κατὰ φύσιν νόμος ὁ πάντων βασιλεύς etc. (fr. XI, 48) iſt für die
gleichende Sammlung finde ich Clemens Strom. VI, 624. Die Relation
über das Geſpräch zwiſchen Hippias und Sokrates (Xenoph. Memorabil. 4, 4)
iſt zweifellos echt, aber entſtellt und verworren, da die Anſicht des
Hippias ſicher bei dem Beginn des Geſprächs in ihm ausgebildet war, wie
ja auch der Eingang uns beweiſt, ſonach die Geſprächführung dem entſpre-
chend anders vorgeſtellt werden muß.
Demoſthenes, in welcher der νόμος in erſter Linie als ein εὕϱημα καὶ
δῶϱον ϑεῶν, in zweiter als πόλεως συνϑήκη κοινή aufgefaßt und in
ſeiner Verbindlichkeit erklärt wird, iſt durch Marcian in die Pandekten ge-
langt (l. 2 Dig. de leg. 1, 3).
negativen Schule der Theoretiker der Gewalt und der Intereſſen ſich ent-
wickelt hat, deren Hauptvertreter im Alterthum Thraſymachos war und
von der uns Plato eine ſyſtematiſche Darſtellung hinterlaſſen hat.
Abſtraktion ausgeht, findet ſich in Uebereinſtimmung mit der aus beſonnener
Empirie, wie ſie ihm eigen war, geſchöpften Begriffsbeſtimmung Mohls:
„Der Staat iſt ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen Ein-
richtungen, welche, geleitet durch einen Geſammtwillen, ſowie auf-
rechterhalten und durchgeführt durch eine Geſammtkraft, die Aufgabe
haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines beſtimmten und räumlich
abgeſchloſſenen Volkes, und zwar vom Einzelnen bis zur Geſellſchaft, zu
fördern, ſoweit von den Betreffenden nicht dieſelben mit eigenen Kräften
befriedigt werden können und ſie Gegenſtand eines gemeinſamen Bedürfniſſes
ſind.“ Aus dieſer Definition folgt, daß die Staatswiſſenſchaft den Theil-
inhalt der Wirklichkeit, welchen ſie zum Gegenſtand hat, nur in der Bezieh-
ung auf dieſe Wirklichkeit auffaſſen kann.
und Literatur der Staatswiſſenſchaften I, 1855 S. 67 ff. bemerke ich, daß
der erſte (und fruchtbarſte) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben)
hinter 1850 zurückgeht und in Steins Socialismus Frankreichs 2. Aufl.
1848 S. 14 ff. ſich findet.
ſellſchaftswiſſenſchaft 1859) die Gemeinde aus ſeiner Geſellſchaftslehre ausge-
ſchieden hatte. Vgl. darüber Enchklopädie der Staatswiſſenſchaften. Aufl. 2.
1872, S. 51 f.
in der Sociologie Comte’s abgeleitet werden: der Begriff der Geſellſchaft,
im Unterſchied von dem des Staates, als einer von den Grenzen der Staaten
nicht eingeſchränkten Gemeinſchaft; vgl. ſeine Schrift: Réorganisation de la
société européenne, ou de la nécessité et des moyens de rassembler les
peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant à chacun
sa nationalité (in Gemeinſchaft mit Auguſtin Thierry verfaßt) 1814; dann
der Gedanke einer nach der Zerſetzung der Geſellſchaft nunmehr nothwendigen
Organiſation derſelben, vermittelſt einer leitenden geiſtigen Macht, welche als
Philoſophie der poſitiven Wiſſenſchaften die Verkettung der Wahrheiten in
dieſen Wiſſenſchaften aufzufinden und aus ihr die Socialwiſſenſchaften abzu-
leiten habe; vgl. Nouvelle Encyclopédie 1810, ſowie das Memoire über
dieſelbe etc.; endlich iſt der Plan, nach welchem er ſeit 1797 zuerſt die mathe-
matiſch-phyſikaliſchen Wiſſenſchaften in der polytechniſchen Schule ſtudirte,
dann die biologiſchen in der mediciniſchen Schule von ſeinem Mitarbeiter
und Schüler Comte dann wirklich in wiſſenſchaftlichem Geiſte durchgeführt
worden. Comte verband mit dieſer Grundlage Turgot’s ſeit 1750 ent-
wickelte Theorie von den drei Stadien der Intelligenz und de Maiſtre’s
Theorie von der Nothwendigkeit einer im Gegenſatz zu der zerſetzenden Tendenz
des Proteſtantismus die Geſellſchaft zuſammenhaltenden geiſtlichen Gewalt.
Abhandlung über Schloſſer, Preußiſche Jahrbücher April 1862.
tellectus emendatione.
templati sunt, sub nomine hominis intelligunt animal erectae staturae;
qui vero aliud assueti sunt contemplari, aliam hominum communem
imaginem formabunt etc.
fünfzehnte anknüpft, ſowie den von Joh. Müller mitgetheilten Entwurf des
letzten Bandes gegen den Schluß.
ſicht über den Zuſammenhang der Seelenwanderungslehre mit Leſſings Syſtem
verweiſe ich auf meine Unterſuchungen in: Leſſing, preuß. Jahrbücher 1867,
nebſt den Erörterungen von Conſt. Rößler ebendaſelbſt, und meiner Ent-
gegnung.
geſchichte keinen Vortheil gebracht, ſondern ihre Liebhaber vielmehr ſtatt
der Unterſuchung mit ſcheinbarem Wahne befriedigt; wie viel mehr die
tauſendzweckige, in einander greifende Menſchengeſchichte.“
wicklung der Sociologie anerkannt: philosophie positive 4, 225.
S. 56 u. a. a. O., wozu vgl. Wundts Phyſiol. Pſychologie. Sechſter Ab-
ſchnitt des zweiten Bandes. Aufl. 2. 1880.
hier das „Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Baſis ihres In-
ander, wie es als ein begrifflich Mannichfaltiges conſtruirt wird“ (§ 75 ff),
erſt ſeinen Inhalt durch die Beziehung auf die Syſteme, welche das
Leben der Geſellſchaft bilden, und die Ergebniſſe der Einzelwiſſenſchaften
über ſie empfängt.
Methodenlehre folgte.
daß Ariſtoteles dieſe Wiſſenſchaft als πϱώτη φιλοσοφία bezeichnete, daß der
Ausdruck μετὰ τὰ φυσικά für dieſen Theil der Schriften des Ariſtoteles im
Zeitalter des Auguſtus zuerſt auftritt (wahrſcheinlich auf Andronikus zurück-
zuführen) und zunächſt den Schrifteninbegriff bedeutet, welcher auf den natur-
wiſſenſchaftlichen in der Sammlung und in dem von Ariſtoteles hinreichend
angedeuteten ſyſtematiſchen Zuſammenhang folgte, alsdann aber, der Zeitrich-
tung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft des Transſcendenten gedeutet wurde.
vermittelſt der Verbindung von insbeſondere Metaph. I, 1. 2. III, 1 ff.
VI, 1 abgeleitet. In Betreff des Verhältniſſes der Begriffe von σοφία,
πϱώτη σοφία, ὅλως σοφός zu πϱώτη φιλοσοφία verweiſe ich auf Schweg-
lers Commentar zur Metaphyſik S. 14 und den Index von Bonitz s. v.
σοφία.
weg, Logik (dritte Aufl.) S. 9 ff. Schelling, der in ſeinen letzten Arbeiten
ebenfalls auf Ariſtoteles zurückgeht, Philoſophie der Offenbarung, W. W.
II, 3, 38. Lotze, Metaphyſik S. 6 ff.
der Intelligenz zu entwickeln, da Vico’s scienza nuova (1725) ſich auf die
Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus;
das mythiſche Vorſtellen bezeichnet ihm dann die erſte Stufe des auf die
Urſachen gerichteten Forſchens. „La pauvreté des langues et la nécessité
des métaphores, qui résultoient de cette pauvreté, firent qu’on employa
les allégories et les fables pour expliquer les phénomènes physiques.
Elles sont les premiers pas de la philosophie. [Oeuvres 2, 272 (Paris 1808)
aus den Papieren Turgot’s, die auf ſeine Reden über die Geſchichte von 1750
ſich bezogen.] Les hommes, frappés des phénomènes sensibles, supposèrent
que tous les effets indépendans de leur action êtoient produits par des
êtres semblables à eux, mais invisibles et plus puissans [2, p. 63].
vergl. 170.
Schleiermacher auf unanfechtbare Weiſe feſtgelegt. Dies bildet ſein un-
vergängliches Verdienſt; er hat die intellektualiſtiſche Begründung der
Religion auf Raiſonnement des Verſtandes, welches an der Hand der
Begriffe Urſache, Verſtand und Zweck geht, als ſecundär aufgezeigt; er
hat gezeigt, wie das Selbſtbewußtſein Thatſachen enthält, welche den
Anſatzpunkt alles religiöſen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) „Wir
finden uns ſelbſt immer nur im Fortbeſtehen, unſer Daſein iſt immer ſchon
im Verlauf begriffen; mithin kann auch unſer Selbſtbewußtſein, ſofern wir
von allem anderen abgeſehen uns nur als endliches Sein ſetzen, dieſes nur in
ſeinem Fortbeſtehen repräſentiren. In dieſem aber auch ſo vollſtändig —
weil nämlich das ſchlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein ſo allgemeiner Be-
ſtandtheil unſeres Selbſtbewußtſeins iſt — daß wir ſagen können, in welcher
Art des Geſammtſeins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten geſtellt
ſein, wir würden in jeder vollſtändigen Beſinnung uns immer nur ſo finden,
und daß wir dieſes auch immer auf das geſammte endliche Sein über-
tragen.“ Sein Fehler lag darin, daß dieſer tiefe Blick ihn nicht beſtimmte,
nunmehr mit der intellektualiſtiſchen Metaphyſik zu brechen und der Phi-
loſophie eine ſeinem Ausgangspunkt entſprechende, pſychologiſche Grundlage
zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitſtrömung
der Naturphiloſophie.
I, 6. — Auf Theophraſt zurückgehend, vgl. Diels doxographi 133, 476;
Zeller I 4 203.
Diels 327.
die Erörterung ſeiner hervorragenden Stellung in der Geſchichte der Meta-
phyſik leider nur vermittelſt einer Art von ſubjektiver Reproduktion ſtatt-
finden, die ſonſt nicht geſtattet ſein würde.
αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (bei Mullach fr. phil. graec. I. 118, v. 40).
Wenn Zeller (I4, 512) ἔστιν lieſt und überſetzt: „denn daſſelbe kann gedacht
werden und ſein“, ſo wäre νοεῖσϑαι zu erwarten, das „Können“ entſpricht
die Naturwiſſenſchaft ſo wichtig wurde, Parmenides v. 77 (bei Mullach fr.
phil. graec. I, 121) τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπιστος ὄλεϑϱος.
und v. 69 τοὔνεκεν οὔτε γενέσϑαι οὔτ̕ ὄλλυσϑαι ἀνῆκε δίκη.
ſpruchs wird ſichergeſtellt durch v. 94 τωὐτὸν δ̕ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν
ἐστι νόημα und die ſich anſchließende Begründung.
geſchöpft: Λεύκιππος δὲ ὁ Ἐλεάτης ἢ Μιλήσιος … κοινωνήσας Παϱμενίδῃ
τῆς φιλοσοφίας οὐ τὴν αὐτὴν ἐβάδισε Παϱμενίδῃ καὶ Ξενοφάνει πεϱὶ
τῶν ὄντων ὁδόν
einleuchtenden Nachweis Zeller’s, Anaxagoras habe in ſeiner Schrift ſich
auf Leukipp polemiſch bezogen (I4, 920 f).
VII, 389.
p. 270 A.
πάντων χϱημάτων.
täuſchungen, über das Nachricht auf uns gekommen iſt, von ihm in
dieſem Zuſammenhang zum Beweis verwandt wurde. Setzt man dem
Weiß tropfenweiſe eine dunkelfarbige Flüſſigkeit zu, ſo vermag unſere
Sinnesempfindung die ſchrittweiſen Veränderungen der Färbung nicht zu
unterſcheiden, obgleich in der Wirklichkeit dieſe Veränderungen ſtattfinden.
Seine Paradoxie vom ſchwarzen Schnee gehört demſelben Zuſammenhang
an. — Andere Experimente des Anaxagoras Ariſt. Phys. IV, 6.
Laert. II, 11 f.
Zu dem Folgenden ſei bemerkt, daß gemäß dem Zweck der Darlegung
davon abgeſehen iſt, ob Anaxagoras alle dieſe Theorien zuerſt aufge-
ſtellt hat.
phaſen zuerſt genau beſtimmt, und: er habe den Mond für einen erdartigen
Körper erklärt ſowie Berge und Thäler auf ihm angenommen.
a. O. nach Jacobis handſchriftlichen Aufzeichnungen über das mathematiſche
Wiſſen der Griechen, welche Aufzeichnungen Humboldt erwähnt, die aber
verloren ſind oder irgendwo verborgen ruhen. Plut. de facie in orbe Lunae
c. 6. p. 923 c. Ideler, Meteorologia Graec. 1832 p. 6.
Diogenes über Anaxagoras der Pol erwähnt wird: Diog. II, 9. War doch
der Theil des Himmels, an welchem dieſe Stelle ſich befindet, ſeit den
Zeiten Homer’s beſonders wichtig: „die Bärin, die ſonſt der Himmelswagen
genannt wird, welche ſich an derſelben Stelle umdreht … und allein niemals
in Okeanos’ Bad ſich hinabtaucht.“ Aratus bemerkt (phaen. 37 sq.), daß
die Griechen bei ihrer Schifffahrt den großen Bären brauchen, weil er
heller iſt und leichter bei dem Einbruch der Nacht geſehen werden kann.
Die Phönicier halten ſich an den kleinen Bären, der zwar dunkler, aber
den Schiffern nützlicher iſt, weil er einen kleineren Kreis beſchreibt.
γὰϱ τὸ αἴτιον τοῦ καλῶς καὶ ὀϱϑῶς τὸν νοῦν λέγει. Anaxagoras ſelbſt
(Mullach I, 249 fr. 6): καὶ ὁκοῖα ἔμελλε ἔσεσϑαι καὶ ὁκοῖα ἦν καὶ ἅσσα
νῦν ἔστι καὶ ὁκοῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νόος.
Tiog. II, 9. Daß die Erde nach Anaxagoras ſich gegen Süden geneigt
habe, nicht umgekehrt Himmelsaxe und Pol eine Neigung ausführten,
muß nach dem Wortlaut der parallelen Stellen und den Angaben über die
entſprechende Theorie der Atomiſten angenommen werden. Humboldt,
Kosmos 3, 451 ſcheint die Stelle auf die Schiefe der Ekliptik zu beziehen.
„Das griechiſche Alterthum“, ſagt er, „iſt viel mit der Schiefe der Ekliptik
beſchäftigt geweſen … nach Plutarch plac. II, 8 glaubte Anaxagoras:
„daß die Welt, nachdem ſie entſtanden und lebende Weſen aus ihrem Schooße
hervorgebracht, ſich von ſelbſt gegen die Mittagsſeite geneigt habe“ …
„Die Entſtehung der Schiefe der Ekliptik dachte man ſich wie eine kosmiſche
Begebenheit.“ Dies Mißverſtändniß iſt wol durch die Beziehung dieſer
Neigung der Erdfläche auf die Entſtehung der Klimate entſtanden.
angenommen werden, daß er auch die anderen von ihm wahrgenommenen
unregelmäßigen Bewegungen am Himmel auf dieſelbe Urſache zurückführte,
welche er in Bezug auf Sonne und Mond annahm. Planeten als ihren
Ort wechſelnde Geſtirne unterſchieden er und ſeine Zeitgenoſſen, Ariſt.
meteorol. I, 6 p. 342 b 27, und aus ihrem Zuſammentreten erklärte er die
Kometen. Aber noch Demokrit kannte ihre Zahl und ihre Bewegungen
nicht genauer, Seneca nat. quaest. 7, 3. Vgl. Schaubach Anax. fr.
p. 166 f.
τίνων ὑποτεϑεισῶν ὁμαλῶν καὶ τεταγμένων κινήσεων διασωϑῇ τὰ
πεϱὶ τὰς κινήσεις τῶν πλανωμένων φαινόμενα.
gründung der Atomiſtik zu Hilfe.
(z. B. Lange, Geſchichte des Materialismus I2, 38 ff.). Ich kann nur andeuten,
warum ſeine Gründe mich nicht überzeugen. Die Stellen Ariſt. de caelo
IV, 2 p. 308 b 35, Theophraſt de sensibus 61. 71 (Diels 516 ff.) erweiſen
nur die im Text angegebenen Sätze über Atomverbindungen. Aber man
iſt nicht berechtigt, Gewicht und ſenkrechten Fall von dieſen zuſammenge-
ſetzten Körpern auf das Verhalten der im δῖνος kreiſenden Atome zu
übertragen. Vermeidet man dies, ſo ſind ſolche Stellen in Einklang mit
denen, welche den ſenkrechten Fall der Atome als Anfangszuſtand aus-
ſchließen und als ſolchen den δῖνος ſtatuiren: Ariſt. de caelo III, 2
p. 300 b 8. Metaph. I, 4 p. 985 b 19. Theophraſt bei Simplic. in
phys. f. 7 r 6 ff. (Diels 483 f.) Diogenes Laert. IX, 44. 45. Plutarch
plac. I, 23 mit Parallelſt. (Tiels 319) Epicur. ep. 2 bei Diogen. Laert.
X, 90. Cicero de fato 20, 46.
Math. VII, 60: φησὶ … τῶν πϱός τι εἶναι τὴν ἀλήϑειαν.
klit und die Erklärung der Wahrnehmung durch ein Zuſammentreffen der
Bewegungen, ſonach eine Berührung, erſcheint ſchon dadurch geſichert, daß
Protagoras ſeinem Theorem nur durch ein Eingehen in den Wahrnehmungs-
vorgang Anſchaulichkeit geben konnte, die Möglichkeit aber ausgeſchloſſen iſt,
daß er eine ſolche gegeben, Plato ihm aber eine ganz andere untergeſchoben
hätte. Sie wird beſtätigt durch die Darſtellung des Sextus Empir. hypot.
I, 216 f. adv. Math. VII, 60 ff., welche nicht auf Plato als ausſchließliche
Quelle zurückgeführt werden kann (Zeller I4, 984). Von dieſer Differenz
abgeſehen verweiſe ich auch auf die Darſtellung bei Laas, Idealismus und
Poſitivismus I, 1879.
tuellen Entwicklung gelangt zu der Antitheſe: „wir haben oben gezeigt, wie
abſtrakt genommen, der Standpunkt der Sophiſten hätte weiter ent-
wickelt werden können, aber wenn wir die treibenden Kräfte hätten nach-
weiſen ſollen, welche vielleicht ohne Dazwiſchenkunft der ſokratiſchen Reaktion
ſolches geleiſtet hätten, ſo würden wir in Verlegenheit gerathen.“ Geſch.
zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen,
löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten
und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei
Zeller II3 85 ff.), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates
zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato-
niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen
Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die
Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier
gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine
der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann.
der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato
ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver-
fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν
ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων
ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές.
Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15).
Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die
Perſonen fehlten, welche die Konſequenz gezogen hätten!
Apol. p. 21 b f., vgl. Xenoph. Mem. IV, 5 § 12.
holfene, aber wahrhafte Charakteriſtik des Verfahrens von Socrates IV, 6,
nach welcher er ſittliche und politiſche Fragen durch Zurückführung auf
Begriffe, welche an dem Erkenntnißgrund des ſittlichen Bewußtſeins erwieſen
wurden, zur Entſcheidung brachte. Hierbei iſt die beſondere Natur dieſer
Werthbegriffe, welche Sätze in ſich ſchließen, zu erwägen. Vgl. weiter Ari-
ſtoteles (Stellen b. Bonitz ind. Arist. p. 741); wenn dieſer Metaph. XIII, 4
p. 1078 b 27, dem Socrates Induktion und Begriffsbeſtimmung (nicht nur die
letztere) zuſchreibt, ſo muß berückſichtigt werden, daß derſelbe ein analytiſches
Verfahren als Beſtandtheil der logiſchen Operation nicht kennt und darum
das ganze Verfahren des Socrates der Induktion unterordnen muß.
Theätet 180 f. und den entſprechenden Uebergang zu der Aufgabe, von den
Behauptungen der älteren Schulen auf die Erkenntnißgründe
derſelben zurückzugehen.
Wiſſenſchaften, dieſes Problem der Wiſſenſchaftslehre; alsdann wird Politie
VII, 523—534 eine Ueberſicht dieſer poſitiven Wiſſenſchaften gegeben, und aus
ihr das Problem der Dialektik abgeleitet: „die dialektiſche Methode allein
geht, die Vorausſetzungen (ὑποϑέσεις) aufhebend, gerade zum Anfang ſelbſt,
damit dieſer feſt werde“ (533 c.).
immer Seienden“ bezeichnet und dem entſprechend neben die Entwicklung
der Ideen geſtellt. Die rein theoretiſche Gedankenarbeit Platos iſt von der
Mathematik als der damals ſchon konſtituirten Wiſſenſchaft geleitet. Iſt
ihm zunächſt die Zahl das ſinnliche Schema des rein Begrifflichen, ſo
drängte die Konſequenz ſeines Syſtems zu einer Unterordnung der mathe-
matiſchen Größen und der Ideen unter einen gemeinſamen Begriff, welcher
dann der allgemeinſte Ausdruck der Bedingungen für die Denkbarkeit der Welt
wäre. Dieſen fand er ſpäter in einem abſtrakteren Begriff von Zahl: dem
entſprechend unterſchied er zwiſchen Zahlen im engeren Verſtande, welche
aus gleichartigen Einheiten beſtehen, ſo daß jede dieſer Zahlen von der
anderen nur der Größe nach verſchieden iſt, und den Idealzahlen, deren
jede von der anderen der Art nach unterſchieden iſt.
führung Platos kann allerdings der Natur der Sache nach nicht genau
feſtgeſtellt werden. Schleiermacher, Geſchichte der Philoſ. S. 101 hat die-
ſelbe daher dahin umgedeutet: „Plato nannte dieſes zeitloſe, vom urſprüng-
lichen Schauen abgeleitete Einwohnen eine μνήμη“. Die Vorausſetzung der
Ideenlehre bleibt aber auch in der Region der Zeitloſigkeit Beziehung
eines überall und immer ſich ſelber gleichen Wiſſens auf ein ſein reales
Objekt bildendes zeitloſes und überall ſich ſelber gleiches Sein. Im Uebrigen
vgl. Zeller, II, 1 3, S. 555 ff.
lehre ſolchergeſtalt die Vorſtellung der Berührung mit dem Gegenſtande
(den unſinnlichen Ideen) in dem [anſchaulichen] Denken vorausſetzt. Und
mit dieſem inneren Zuſammenhang ihrer Begründung iſt in Ueberein-
ſtimmung, daß der Phädrus aus ganz anderen, nämlich literarhiſtoriſchen
Gründen, welche von Schleiermacher, Spengel und Uſener entwickelt worden
ſind, als eine frühe Schrift Platos anerkannt werden muß, gerade dieſen
Zuſammenhang der Ideenlehre aber in einem erſten Wurfe enthält, und zwar
ausgehend von der Zurückführung des ſittlichen Bewußtſeins auf eine ſolche
Berührung.
an verſchiedenen Stellen.
τὸ ὅμοιον. Er beruft ſich hierfür auf den Timäus und auf eine Schrift
πεϱὶ φιλοσοφίας, in welcher über Platos Lehre auf Grund der mündlichen
Vorträge deſſelben berichtet wurde. Vgl. zur ganzen Stelle Trendelenburg
zu Ariſt. de anima 1877 Ausg. 2, S. 181 ff.
Schwierigkeiten in Bezug auf die Stellung des göttlichen νοῦς zu den ſub-
ſtantialen Formen und zu den Geſtirngeiſtern.
de anima II, 5 p. 418 a 3.
logiſchen Hauptſchrift Analyt. post. II, 19 p. 100 b.
caelo Schol. p. 491 b 3.
33 p. 183 b 34 p. 184 b 1.
daß Euklid eine beſondere Schrift über die Trugſchlüſſe verfaßte, was ſeine
eingehende Beſchäftigung mit der logiſchen Theorie beweiſt.
ἀϱχὴ τῆς ἀϱχῆς εἴη ἄν, ἡ δὲ πᾶσα ὁμοίως ἔχει πϱὸς τὸ ἅπαν πϱᾶγμα.
ταχῶς τὸ εἶναι σημαίνει.
folgerecht den rechten Sinn der ariſtoteliſchen Logik zuerſt in ausführlicher
Gründlichkeit dargelegt zu haben iſt ein großes Verdienſt von Prantl.
Sigwart hat dann von hier aus die Grenzen des Werthes der ariſtote-
liſchen Syllogiſtik kritiſch gezeigt.
17 die Eintheilung: „Allem, was ἀϱχή iſt, iſt alſo dies gemeinſam, das
Erſte zu ſein, woraus etwas iſt oder wird oder erkannt wird.“
pien in der Phyſik (beſ. Buch I und II) zu vergleichen.
τὰ συγκεχυμένα μᾶλλον ὕστεϱον δ̛ἐκ τούτων γίνεται γνώϱιμα τὰ
στοιχεῖα.
Geſch. der Logik I, 190.
p. 1069 a 18.
noch ἔχειν und κεῖσϑαι, vgl. die Ueberſicht in Prantl’s Geſchichte der
Logik I, 207.
Leibn. opp. I, 156. Erdm.
gen. et corr. I, 7 p. 324 a 24 Metaph. VII, 4 p. 1029 b 22. In letzterer
Stelle wird κίνησις als Kategorie an die Stelle von ποιεῖν und πάσχειν
eingeſetzt.
ſpringt die unſelige, nicht aufzulöſende Frage, ob die Subſtanz in der Form
oder dem Stoff oder dem Einzelding zu ſuchen ſei. Vgl. Ariſt. Metaph. VII,
3 p. 1028 b 33 und die zutreffende Ausführung bei Zeller a. a. O. 309 ff.
344 ff.
der Phyſik durchgeführt, welches ſo in die Metaphyſik überführt.
zu de caelo Schol. p. 487 a 6 die Beweisführung, welche auf das Vollkommenſte
zurückgeht.
weis aus den bekannten Stellen, auch daraus erſchloſſen werden, daß die
ſophiſtiſche Aufklärung die Religion als eine Erfindung der Staatskunſt
auffaſſen konnte (Critias bei Sextus Empiricus adv. Math. IX, 54, Plato
Geſetze X, 889 e).
wo Konſequenzen von ihm ſelber gezogen werden, dies durch die Art, wie
ſie aus dem Gegner durch Folgern herausgelockt werden, angedeutet iſt, da-
gegen wo die Sätze, wie von Thraſymachus und Glauco im erſten und
zweiten Buch der Politie geſchieht, dem Socrates entgegengebracht werden,
ein Bericht über die fremde Theorie vorliegt. Was die Darlegung der Theorie
durch Glauco betrifft, ſo hätte Plato ſie nicht einem Jüngling in den
Mund gelegt, wäre ſie eine ſelbſtändige Fortbildung.
atheniſchen Geſandten bei Thucydides V, 85 ff. aus dem Jahre 416.
kehr in Politie 369 ff. beſtätigt dies nur. Denn ſie zeigt, daß Plato die
Tragweite der einzelnen Intereſſen für das Gemeinleben erwog, jedoch die
Einheit des Willens in ſeinem Staate nicht auf ſie gründen zu können
glaubte.
S. 137 ff.
εὖ ζῆν oder auch der ζωῆς τελείας καὶ αὐτάϱκους.
II, 149 ff.
ἐν τῷ βίῳ φαινομένων διαγινώσκομεν· πεϱὶ δ̕ὧν οἱ δογματικοὶ διαβε-
βαιοῦνται τῷ λόγῳ, φάμενοι κατειλῆφϑαι, πεϱὶ τούτων ἐπέχομεν ὡς
ἀδήλων, μόνα δὲ τὰ πάϑη γινώσκομεν. Diogenes IX, 103.
dieſem Abſatz zuſammengefaßt.
5, 7: omnes omnino res, quae sensus hominum movent, τῶν πϱός τι
esse dicunt.
wollen. Cicero, N. D. III, 17, 44. Haec Carneades aiebat, non ut deos
tolleret, sed ut Stoicos nihil de diis explicare convinceret.
sur le principe d’Archimède par M. Ch. Thurot (revue archéol. 1868—69).
Philoſ. III, 425 ff.
ſtantin’s des Großen die erſten Jahrhunderte nach Chriſti Geburt am tief-
ſten dargeſtellt hat, ebdſ. S. 140 ff.
de civ. Dei XI c. 25 vgl. VIII c. 6—8.
der Idee, wie er nun in das Mittelalter überging: sunt ideae principales
formae quaedam vel rationes [wobei er ausdrücklich bemerkt, daß dieſer
Begriff die urſprüngliche Ideenlehre überſchreite] rerum stabiles atque in-
commutabiles, quae ipsae formatae non sunt, ac per hoc aeternae ac
semper eodem modo sese habentes, quae in divina intelligentia continentur.
trinitate. Vgl. de Genesi ad litt. VII c. 21.
libero arbitrio II c. 3 ff.
dementiam detestatur … creditque sensibus in rei cuiusque evidentia, qui-
bus per corpus animus utitur, quoniam miserabilius fallitur, qui nunquam
putat eis esse credendum.
Dei XIX c. 3 und 4.
iſt die innere ſchriftſtelleriſche Form; Auguſtinus wechſelt zwiſchen Mono-
log, Gebet und Anſprache, und die hinreißende Gewalt ſeiner Schriften
beruht mit auf dieſer lebendigen Beziehung bald zu ſich ſelber, bald zu
der Gemüthserfahrung Anderer, bald zu Gott. Hand in Hand damit geht
ſein Mangel an Kompoſitionstalent für größere Werke.
ſellſchaft Bd. XIII S. 26.
überflüſſig ſind) findet man in dem bekannten Worte des Bernhard von
Clairvaux: „quid enim magis contra rationem, quam ratione rationem
conari transcendere? Et quid magis contra fidem, quam credere nolle,
quicquid non possis ratione attingere? “ — Zur zweiten Partei vgl. z. B.
Hugo von St. Viktor de sacram. I pars 10 c. 2.
praescientiae Dei cum libero arbitrio, qu. III c. 6. Die Löſung der ſchein-
baren Widerſprüche liegt bei Anſelm in der Vorausſetzung, daß auch das
unerreichbare Glaubensgeheimniß in Gott Vernunftzuſammenhang iſt. Wie
Anſelm hierdurch ſich von den Myſtikern ſondert, berührt er ſich andrerſeits
hierin mit Scotus Erigena und Abälard. Vgl. Eadmer Vita S. Anselmi I c. 9.
iſt der Schluß des Prologs entſcheidend. Im Uebrigen vgl. die aus Johann
von Salisbury, Richard von St. Viktor, Abälard u. a. entnommene Schil-
derung der rationaliſtiſchen Fraktionen bei Reuter, Geſchichte der Auf-
klärung I, 168 ff.
aus der bekannten Formel des Scotus Erigena de divisione I c. 66 p. 511 B
(Floß) abgeleitet werden. Doch iſt weder der Rationalismus des Scotus
Erigena noch der Abälard’s unbeſchränkt. Die Theorie, welche ſich bei beiden
findet und welche die Beziehung der Begriffe und Urtheile des Verſtandes
auf die endliche Wirklichkeit einſchränkt, die zu bezeichnen ſie beſtimmt ſeien,
(wie denn der Satz in dem unentbehrlichen Verbum die Zeitlichkeit als
Schranke einſchließe), iſt ein Verſuch, die wirkliche Transſcendenz Gottes
gegen die Rationaliſten zu vertheidigen. Vgl. Abälard theologia christ.
l. III, p. 1246 B. 1247 B (Migne) nebſt der Parallelſtelle der introductio
und Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. 463 B. c. 73 p. 518 B.
dieſes geſchichtlichen Nachweiſes.
Porphyrius in der Geſchichte der Logik I, 626 ff., über Boethius 679 ff., über
die Streitfrage II, 1 ff. 35 ff.
IV c. 4 p. 748; Wilhelm von Champeaux nach dem Bericht in der Schrift
de generibus (ouvrages inédits d’Abélard p. Cousin) p. 513 f. und in
Abälard’s epist. I c. 2 p. 119.
Abälard II p. 98. Dazu trat die logiſche Unhaltbarkeit dieſes Realismus,
welche de generibus p. 514 ff. entwickelt iſt.
der Unveränderlichkeit Gottes die Freiheit des Menſchen aufhob, Scotus
Erigena ſie mit der Nothwendigkeit in eins ſetzte, hat Anſelm dies Problem
in den zwei Schriften de libero arbitrio und de concordia praescientiae
et praedestinationis cum libero arbitrio am tiefſten behandelt.
trennende Schaar, eine Sekte. Der Name wurde auf die bedeutendſte unter
den Sekten des Islam übertragen. Vgl. Steiner, die Mutaziliten S. 24 ff.
Nach dem Inhalte des Streites angeſehen, wurden die Vertheidiger der
menſchlichen Willensfreiheit Kadarija genannt. Vgl. ebdſ. 26 ff. und Munk
Mélanges de philosophie juive et arabe p. 310. Bericht über ſie in
Schahraſtanis Religionsparteien und Philoſophenſchulen, überſetzt von Haar-
brücker I, 12 ff. 40 ff. 84 ff. II, 386 ff. 393 ff.
Anſicht auf und die hiſtoriſchen Verhältniſſe machen ſie wahrſcheinlich.
Munk Mélanges p. 312.
der Mutazila kommen hier nicht in Betracht.
ſchwer faßbaren Stelle S. 70.
logie des Averroes, überſetzt von Müller S. 45; ich citire unter dieſem Titel
und der Seitenzahl die beiden in der Uebertragung vereinten Abhand-
lungen: Harmonie der Religion und Philoſophie, und ſpekulative Dogmatik.
p. 507 A. 519 C (Migne). — Dazu Sätze und Gegenſätze in Abälard, sic
et non c. 26—38. Opp. p. 1386 C ff. (Migne).
zur Schöpfung gerechnet; der oben entwickelte Satz iſt bei Thomas überzeugend
in der summa theol. p. I qu. 103. 104 de gubernatione rerum etc., beſonders
quaest. 104 art. 1 dargelegt: conservatio rerum a Deo non est per aliquam
novam actionem, sed per continuationem actionis, qua dat esse; quae
quidem actio est sine motu et tempore, sicut etiam conservatio luminis
in aere est per continuatum influxum a sole.
Bewußtſein das Böſe als relativ, die ganze Wirklichkeit als gut betrachtet
werden muß. Worte dürfen hier nicht täuſchen. So lehren Scotus Eri-
gena (Abweichendes iſt ſicher Akkommodation), die bedeutendſten der Sufis
ſowie der Myſtiker des chriſtlichen Mittelalters und ſehr ſchön Jakob
Böhme: „In ſolcher hohen Betrachtung findet man, daß dieſes Alles von
und aus Gott ſelber herkomme, und daß es ſeines eigenen Weſens ſei,
das er ſelber iſt, und er ſelber aus ſich alſo geſchaffen habe; und gehöret
Beſchreibung der drei Prinzipien Vorr. § 14.
lichen wird nur von dem hartnäckigen Heuchler geleugnet, der ſpricht, woran
er nicht glaubt. Aus ſeiner Vorbereitung auf das, was er hofft oder
fürchtet, kannſt du erſehen, daß (er glaubt daß) die Sache möglich, alſo die
Vorbereitung von Nutzen iſt.“ Maimonides, More Nebochim Th. III, 102
(überſ. von Scheyer): „Es iſt ein Grundſatz der Geſetze unſeres Lehrers
Moſes und aller, die ihm anhängen, daß der Menſch vollkommene Freiheit
habe d. h. daß er vermöge ſeiner Natur mit freier Wahl und Selbſtbe-
ſtimmung Alles thue, was er zu thun vermag, ohne daß hierzu etwas
Neues in ihm hervorgebracht wird. Auf gleiche Weiſe bewegen ſich alle
Gattungen der unvernünftigen Thiere nach ihrer Willkür. So wollte es
die Gottheit … Daß dieſem Grundſatz von Männern unſerer Nation und
unſres Glaubens je widerſprochen wurde, iſt nie gehört worden.“
cordia etc. quaest. III c. 2 ff. Opp. t. I p. 522 ff.
secundae deficientis reducitur in causam primam non deficientem, quan-
tum ad id, quod habet entitatis et perfectionis, non autem quantum ad
id, quod habet de defectu … quicquid est entitatis et actionis in actione
mala, reducitur in Deum sicut in causam; sed quod est ibi defectus,
non causatur a Deo, sed ex causa secunda deficiente; womit altpro-
teſtantiſche Dogmatiker übereinſtimmen.
42, 1 ff.
die Antitheſis ging beſonders aus der neuplatoniſchen Schule vermittelſt des
Areopagiten Dionyſius auf Scotus Erigena und andere ältere mittelalter-
liche Schriftſteller über, vgl. Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. p. 463 B
c. 73 ff. p. 518 A. Abälard theolog. christ. lib. III p. 1241 B ff. Anſelm
Monolog. c. 17 p. 166 A. — Die Antinomie wird aus dem älteren
Material ſehr klar formulirt von Thomas, summa theol. p. I quaest.
13 art. 12.
mus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum,
sine indigentia creatorem, sine situ praesidentem, sine habitu omnia
continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine
ulla sui mutatione mutabilia facientem …
tung der Einheit ſo viel, daß ſie durch die Beſtreitung der Eigenſchaften zur
gänzlichen Leermachung gelangen.“
I, 69 f.
hierüber in der „Abhandlung über die Gegend“ in ſeiner ſpekulativen Dog-
matik, Philoſophie und Theologie S. 62 ff. und Schahraſtani I 43.
Darlegung Maimunis bei Kaufmann, Geſchichte der Attributenlehre S. 431 ff.,
nach dieſer kann nur Gottes Exiſtenz erkannt werden, aber nicht ſeine
Eſſenz, da ſich der Begriff jedes Gegenſtandes aus Gattung und artbilden-
dem Unterſchied zuſammenſetzt, dieſe aber für Gott nicht exiſtiren; ebenſo
ſind Accidenzen von Gott ausgeſchloſſen.
I, 245); wogegen Jehuda Halevi eine Dreitheilung anwendet, die freilich
ſehr unvollkommen iſt, vgl. Kaufmann Attributenlehre S. 141 ff., ebenſo
Kuſari (überſ. von Caſſel) S. 80 ff.; der arab. ähnlich die Zweitheilung in
Emunah Ramah von Abraham ben David (überſ. von Weil) S. 65 ff.
gandi Deum ex creaturis: scilicet via eminentiae, quantum ad primum;
via causalitatis, quantum ad secundum; via remotionis, quantum ad
tertium.
quidem dicitur magnus, bonus, sapiens, beatus, verus: sed eadem magni-
tudo ejus est, quae sapientia etc.
am deutlichſten hervor in der summa theol. p. I quaest. 3 und quaest. 13,
ſowie in der Schrift contra gentiles I c. 31—36; vgl. beſonders in der
erſteren Schrift quaest. 13 art. 12.
sunt nisi quaedam praedicabilia mentalia, vocalia vel scripta, nata sig-
nificare et supponere pro Deo, quae possunt naturali ratione investigari
et concludi de Deo.
Averroè 3 S. 103 f.
mathématiques I, 236.
bezeichneten Syſtems Wöpcke Mém. sur la propagation des chiffres in-
diens. Journal asiatique 1863 I, 27; über die Möglichkeiten, die Her-
kunft der Algebra zu beſtimmen, Hankel, Z. Geſch. d. Mathematik S. 259 ff.
Cantor, Geſch. d. Mathematik I, 620 ff.
Chemiker bei Kopp, Geſchichte der Chemie I, 51 ff.
Hankel, Z. Geſchichte der Mathematik S. 222—293; über ihre Leiſtungen in
der mathemat. Geographie Reinaud Géographie d’Aboulféda, t. I intro-
duction; über ihre Leiſtungen in der Aſtronomie Sédillot Matériaux p.
s. à l’histoire comparée des sciences mathématiques chez les Grecs
et les Orientaux, wozu in Bezug auf die von Sédillot behauptete Anti-
cipation der tychoniſchen Entdeckung der Variation des Mondlaufs durch
Abul Wefa die Einwendungen Biot’s zu berückſichtigen ſind.
Plato S. 225 ff.
mäus; der von den Lateinern als Alpetragius bezeichnete Aſtronom be-
kämpft dann die Epicyklentheorie des Ptolemäus (Delambre Histoire de
l’astronomie du moyen âge p. 171 ff.), und ebenſo Ibn Roſchd.
historiques sur le principe d’Archimède).
sophie de Saint Thomas I, 40 ff.
des sciencesmathématiques t. II.
esse mundum intelligibilem dixit, si non vocabulum, quod ecclesiasticae
consuetudini in re illa non usitatum est, sed ipsam rem velimus atten-
dere. mundum quippe ille intelligibilem nuncupavit ipsam rationem
sempiternam atque incommutabilem, qua fecit Deus mundum. quam qui
esse negat, sequitur ut dicat, irrationabiliter Deum fecisse quod fecit,
aut cum faceret, vel antequam faceret, nescisse quid faceret, si apud eum
ratio faciendi non erat. si vero erat, sicut erat, ipsam videtur Plato
vocasse intelligibilem mundum. Vgl. weiter die S. 331 citirte Stelle.
Dazu vgl. Leibniz’ Monadologie § 43. 44: die „ewigen Wahrheiten oder
die Ideen, von denen ſie abhängen“, müſſen in einem Reellen, Exiſtiren-
den ihre Grundlage haben.
führlich Prantl, Geſchichte der Logik II, 305 f. 347 ff. III, 94 ff. — Ueber die
ſpruchs, vgl. S. 331.
von der destructio credulitatis Friderici et sapientum suorum, qui credi-
derunt, quod non esset alia vita, nisi praesens, ut liberius carnalitatibus
suis et miseriis vacare possent. ideo fuerunt epycurei …
der erwähnten Chronik p. 166 heißt es von Friedrich dem Zweiten: de fide
Dei nihil habebat, aber dieſe fides Dei iſt augenſcheinlich im Sinne des
Gottesglaubens eines Chriſten zu verſtehen.
2 de Deo, an Deus sit (quaest. 1 behandelt nur den Begriff der chriſtlichen
Wiſſenſchaft); im dritten Artikel derſelben werden fünf Einzelbeweiſe geſondert:
aus der Bewegung, aus der Verkettung der Urſachen und Wirkungen, aus
Angliam (Monum. Francisc. Lond. 1858) p. 50: cum ex duobus parie-
tibus construatur aedificium Ordinis, scilicet moribus bonis et scientia,
parietem scientiae fecerunt fratres ultra coelos et coelestia sublimem, in
tantum, ut quaererent an Deus sit.
entſteht, ſich verändert und vergeht, zu dem Nothwendigen (der ſpätere Be-
weis a contingentia mundi), aus dem Verhältniß der Grade in den Dingen
zu einem Abſoluten, aus der Zweckmäßigkeit. Hiermit vgl. Duns Scotus
in sent. I dist. 2 quaest. 2.
c. 7. 8. lib. II tract. 2 c. 35—40. Thomas contra gentil. III c. 23 sq.
Bonaventura in lib. II sententiarum, beſonders dist. 14. p. 1 (die Vor-
ausſetzungen des Schluſſes am deutlichſten art. 3 quaest. 2: an motus coeli
sit a propria forma vel ab intelligentia). Duns Scotus qu. subt. in met.
Arist. lib. XII q. 16—21.
p. 28a.
unterſchiedenen Gott, daß ein regressus in infinitum unmöglich ſei, iſt von
Occam aufgelöſt worden.
gehoben werden. Thomas verweiſt ausdrücklich dieſe Begründung nur darum
esse in intellectu für das Weſen, quo majus cogitari non potest, das esse
summa theol. p. I quaest. 2 art. 1. Der Fortgang vom Streben nach dem
höchſten Gut zu der Befriedigung in Gott wird in der Regel im Mittel-
alter nach Auguſtinus (vgl. S. 333) dargeſtellt; an ihn ſchließen ſich die
Myſtiker, unter denen ſchon Hugo von St. Viktor den Beweis aus
der Welt von der Begründung aus dem religiöſen Erlebniß
unterſcheidet.
u. 3. — In dem früheren Beweis Anſelms iſt beſonders der Satz im
monologium c. 1 beachtenswerth: quaecunque justa dicuntur ad invicem,
sive pariter sive magis vel minus, non possunt intelligi justa nisi per
justitiam, quae non est aliud et aliud in diversis. An dies frühere Be-
weisverfahren Anſelm’s ſchließt ſich der vierte Beweisgrund des Thomas
summa theol. p. I quaest. 2 art. 3.
Peripatetiker (p. 458) und die Stoiker (p. 458 f.) gerichtet und ein vortrefflicher
Nachweis der Unmöglichkeit einer Ableitung pſychiſcher Thatſachen, wenn
dieſelben nicht ſchon in den Erklärungsgründen vorausgeſetzt ſind.
darlegung war im erſten Buche de libero arbitrio.
Stelle, an welche ich den Schmerz verlege, ihn empfindend und eine Mitthei-
lung dieſes Zuſtandes ſtattfindend, dann würden wir den Schmerz aller in
Mitleidenſchaft gezogenen Stellen, alſo ein Vielfaches, fühlen. Geringer die
Beweisführung aus dem Denken, der Tugend etc. — Ueber den nur nega-
tiven Werth des Schluſſes vgl. S. 11 ff. 487 f.
135 H ff. 145 c ff. (Ven. 1562). Das Hauptargument in der ihm von
Ibn Sina gegebenen Geſtalt findet ſich in den Gegenbemerkungen
des Ibn Roſchd zu der ratio prima für die immaterielle Seelenſubſtanz be-
ſonders angegeben. Weitere Beweiſe ſchließen aus der Undenkbarkeit deſſen,
was aus der Annahme folgen würde, ein Körperorgan z. B. das Gehirn
denke; alsdann wäre z. B. ein Wiſſen von unſrem Wiſſen unmöglich. — Eine
ſehr korrumpirte Zuſammenſtellung der bei den Arabern gewöhnlichen Be-
weiſe findet ſich in dem Brief des Ibn Sab’in an den Kaiſer Friedrich den
Zweiten, der auch Fragen des Kaiſers über Unſterblichkeit beantwortet.
in lib. II sententiarum dist. 19 art. 1 quaest. 1.
histoire d. l. phil. scol. II, 1 p. 73 ff., vgl. oben S. 386 f. — Die wichtige
Beſtreitung der Beweisbarkeit perſönlicher Fortdauer, wie ſie
Duns Scotus in die chriſtliche Scholaſtik einführte, vgl. bei Duns Scotus
reportata Paris. l. IV dist. 43 und die entſprechende Darſtellung in sent.
gangspunkt für die Lehre vom einheitlichen Intellekt: Alexander von Aphro-
diſias, Themiſtius, die pſeudoariſtoteliſche Theologie entwickelten ſie, und
die arabiſchen Peripatetiker benutzten die Theorien vom leidenden und
thätigen Verſtande bei Alexander und Themiſtius.
Thomas von Aquino erkannt: der Satz hat keine Geltung für die trans-
ſcendente Urſache, contra gentil. II c. 10. 16. 17. 37.
1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex
materia.
der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor-
ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in
quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles
nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati
et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis.
sunt eaedem aliquo modo et multae aliquo modo: ac si diceres sunt
eaedem ex parte formae, et multae ex parte subjecti earum ... anima
autem prae caeteris assimilatur lumini, et sicut lumen dividitur ad divi-
sionem corporum illuminatorum, deinde fit unum in ablatione corporum,
sic est res in animabus cum corporibus.
Die Argumente ſind im Text frei wiedergegeben, da ſie in ihrer genauen
Faſſung die Spezialitäten der averroiſtiſchen Metaphyſik vorausſetzen. —
Vgl. übrigens Leibniz, Considérations sur la doctrine d’un esprit uni-
versel, welche ſchon Averroes zu Spinoza in Beziehung ſetzen.
bei Munk, Le guide des égarés, traité de théologie et de philosophie
t. I p. 434 Note 4. — Die Verſchiebung der Beweiſe, nach welcher Ibn
Roſchd hauptſächlich von der Thatſache der abſtrakten Wiſſenſchaft ausgeht,
iſt angedeutet und belegt S. 400.
unter dem Banne des Intellektualismus; vergl. contra gentil. I c. 82 f.
p. 112 a. Er verlegt aber die Antinomie in den Willen Gottes ſelber, indem
er die Nothwendigkeit, mit welcher dieſer ſeinen eigenen Inhalt als Zweck
will, von der Freiheit unterſcheidet, mit welcher er deſſen Mittel in der
zufälligen Welt will, da er doch auch ohne dieſe Mittel ſeine Vollkommen-
heit beſitzen könnte; vergl. summa theol. p. I qu. 19 art. 3. Und zwar
enthält nach ihm ein ſolcher Wille keine Unvollkommenheit, weil er ſein
Objekt ſtets in ſich ſelber hat; vergl. ebdſ. art. 2. So will Gott ewig
was er will, nämlich ſeine eigene Vollkommenheit, ſonach auf nothwendige
Weiſe; ebdſ. art. 3. Hiernach iſt augenſcheinlich Gottes Wille nach Thomas
in ſeinem Kern nothwendig, wie ſein Wiſſen.
dist. 8 quaest. 5; dist. 39 beſonders quaest. 5; II dist. 25. 29. 43.
quaest. 1.
igitur voluntas divina magis determinatur ad unum contradictoriorum, quam
ad alterum, respondeo: indisciplinati est, quaerere omnium causas et
demonstrationem .. principii enim demonstrationis non est demonstratio:
immediatum autem principium est, voluntatem velle hoc.
naturam humanam in hoc individuo esse et esse possibile et contingens:
ita non est ratio, quare hoc voluit nunc et non tunc esse, sed tantum
quia voluit hoc esse, ideo bonum fuit illud esse. Vgl. hierzu und zur ganzen
Lehre vom Willen Duns Scotus quaestiones quodlibetales, quaest. 16.
Die Mutakalimun ſubſtituirten dem Kauſalzuſammenhang der Natur un-
mittelbare Einzelakte Gottes und führten ſo den Weltlauf als zufällig
auf den göttlichen Willen zurück.
aus dem großen Kommentar deſſelben zur Metaphyſik des Ariſtoteles
(Buch XII) in Uebertragung, welche über dieſe Theſis ſich zureichend aus-
ſpricht.
Deus res in esse producit non naturali necessitate, sed quasi per intel-
lectum et voluntatem agens.
in der Stelle war möglicherweiſe das Nichtſeiende in platoniſchem Sinne
zu verſtehen; ſchon Hermas mandatum 1 (Pastor, herausgeg. v. Gebh. u.
Harn. p. 70): ὁ ποιήσας ἐκ τοῦ μὴ ὄντος εἰς τὸ εἶναι τὰ πάντα. — Die
Begründung der Antitheſis, nämlich der Schöpfungslehre z. B. Thomas
contra gentil. II c. 16 p. 145 a.
p. 55 a ff. Vgl. Kant 2, 338 ff. (Roſenkr.). Eine gute Darſtellung im Kuſari,
wo der erſte Lehrſatz der Medabberim (das heißt der philoſophirenden arabiſchen
Theologen) ſo gefaßt iſt: „Zuerſt muß man die Erſchaffenheit der Welt
feſtſtellen und dies durch Widerlegung des Glaubens an die Nichter-
ſchaffenheit beſtätigen. Wäre die Zeit ohne Anfang, ſo wäre die Zahl der
in dieſer Zeit bis jetzt beſtandenen Individuen unendlich; was unendlich
iſt, tritt aber nicht in die Wirklichkeit, und wie ſind jene Individuen in
die Wirklichkeit getreten, da ſie ja der Zahl nach unendlich ſind?“ ....
„was in die Wirklichkeit tritt, muß endlich ſein, was aber unendlich iſt,
kann nicht in die Wirklichkeit treten.“ Alſo hat die Welt einen Anfang.
Kuſari überſ. von Caſſel 2 S. 402. Ebenſo beſtimmt ſchon bei Saadja
c. 37 p. 177 a und summa theol. I qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non
consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis par-
ticularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et
secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed
tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum
principio.
Nebochim I c. 74, 2 (Munk I, 422).
durch voluntas, daß eine ratio für den Zuſammenhang, aus welchem
der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. II dist.
1 qu. 2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott
(ebdſ. I dist. 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf.
vo p. 199b ab entwickelt.
371 a, 375 a.
II, 1 quaest. 90 ff. (wo ſeine Rechtsphiloſophie beginnt): 1) lex = quaedam
rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis
habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2) lex aeterna = (da Gott als
Monarch die Welt regiert) ratio gubernationis rerum in Deo sicut in
principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1); dieſe lex aeterna iſt
bindende Norm oberſter Art und Urſprung jeder anderen binden-
den Norm; 3) lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali
creatura; durch eine Participation des Menſchen an dem ewigen Geſetz ent-
ſteht aus der lex aeterna in Gott die lex naturalis, welche die überall
gleiche Norm der menſchlichen Handlungen bildet (quaest. 91 art. 2).
In Auguſtinus de civ. Dei kehrt dieſer leitende Gedanke immer wieder
z. B. IV c. 33; V c. 21.
epist. 136.
epist. 102 (sex quaestiones contra paganos expositae, quaest. 2: de
tempore christianae religionis).
gerichtet, vgl. lib. I u. lib. II, c. 2. Ebenſo beziehen ſich auf ihn die
ſieben Bücher historiarum adversum paganos von Oroſius. Vgl. I prol.:
er entſpreche der Vorſchrift des Auguſtin, die Vorſtellung einer Zerrüttung
der Welt und der menſchlichen Geſellſchaft in Folge des Chriſtenthums zu
bekämpfen; daher ſchleppt er alle Unglücksfälle [zuſammen]. praeceperas
ergo, ut ex omnibus, qui haberi ad praesens possunt, historiarum
atque annalium fastis, quaecumque aut bellis gravia aut corrupta morbis
aut fame tristia aut terrarum motibus terribilia aut inundationibus
aquarum insolita aut eruptionibus ignium metuenda aut ictibus ful-
per transacta retro saecula repperissem, ordinato breviter voluminis
textu explicarem. Das war ein unheilvolles Vorbild für die Geſchicht-
ſchreibung des Mittelalters.
ἐπαιδαγώγει γὰϱ καὶ αὐτὴ τὸ Ἑλληνικόν, ὡς ὁ νόμος τοὺς Ἑβϱαίους
εἰς Χϱιστόν.
Anm. 1) geſtellten Probíems: quoties nostrae variantur aetates! adoles-
centiae pueritia non reditura cedit; juventus adolescentiae non mansura
succedit; finiens juventutem senectus morte finitur. haec omnia mutantur,
nec mutatur divinae providentiae ratio, qua fit ut ista mutentur .. aliud
magister adolescenti, quam puero solebat, impos.
civ. Dei XXI c. 19 ff.
scripturis divinis habemus, humanum jus in legibus regum; ep. 93 c. 12.
Vgl. Iſidor Etymol. V c. 2: omnes autem leges aut divinae sunt aut
humanae. divinae natura, humanae moribus constant; ideoque hae
discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent. — Für den Begriff der
lex naturalis, welche als Geſetzgebung Gottes das ſittliche wie das rechtliche
Gebiet umfaßt, iſt zwiſchen Auguſtinus und Thomas von Aquino beſonders
wichtig Abälard in ſeinem dialogus inter philosophum, Judaeum et
Christianum.
des Naturrechts bei Thomas von Aquino und ſeine Unterſcheidung von
lex aeterna und lex naturalis vgl. S. 424.
beſonders c. 14: das Ziel der terrena civitas iſt die pax terrena, das der
coelestis civitas dagegen iſt die pax aeterna, und der Zweck des Menſchen
liegt in der letzteren.
(Monum. Germ. Legum I p. 333 rescr. c. 2. 3): 2. Quod universalis sancta
Dei ecclesia unum corpus ejusque caput Christus sit. Dies wird durch
die S. 430 berührten Stellen des Paulus erwieſen. 3. Quod ejusdem
ecclesiae corpus in duabus principaliter dividatur eximiis personis.
principaliter itaque totius sanctae Dei ecclesiae corpus in duas eximias
personas, in sacerdotalem videlicet et regalem, sicut a sanctis patribus
traditum accepimus, divisum esse novimus.
der Entwicklung dieſer Sätze. — Auch hier findet man bei Occam eine
ſcharfſinnige Abwägung von Gründen und Gegengründen, welche die logiſche
Folgerichtigkeit der metaphyſiſchen Konſtruktion nicht mehr anerkennt,
Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1—9.
liſchen Politik lib. VII lect. 3 hervor, daß ein mäßiger Umfang des Staates
für die Ordnung in ihm erforderlich ſei; vgl. Johannes Pariſienſis de po-
testate regia et papali c. 3 (in Goldaſt monarchia II p. 111) und die am
meiſten allſeitige Behandlung des Problems durch Occam dialogus p. III
tract. 2 l. 1 c. 1 ff.; Occam verwirft jede metaphyſiſche Auflöſung des
Problems und geſtattet nur eine nach der hiſtoriſchen Lage c. 5.
c. 15—23. — Die Vergleichung des Staates mit einem wilden Thiere, wie
ſie Plato und Hobbes gebrauchen, wird auch von Auguſtinus, anknüpfend
an die Apokalypſe angewandt, de civ. Dei 20 c. 9.
a. 1081 p. 457: quis nesciat, reges et duces ab iis habuisse principium,
qui, deum ignorantes, superbia rapinis perfidia homicidiis, postremo
universis paene sceleribus, mundi principe diabolo videlicet agitante, super
pares, scilicet homines, dominari caeca cupidine et intolerabili prae-
sumptione affectaverunt?
summa theol. II, 1 qu. 93 beſ. art. 3 und 6.
(Migne) und in der orat. 17 des Gregor von Nazianz c. 8 p. 976 B
(Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftſtellern, und auch bei
Thomas, summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur
spirituali, sicut corpus animae.
Aufgabe des Staates nach Ariſtoteles’ Politik; dann c. 5. 6: Einfügung des
sacerdotium nach chriſtlicher Beſtimmung in den Staat; daſſelbe wird als
eine pars eivitatis bezeichnet.
Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani-
matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine
rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor-
mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra-
dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man
direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.
rechts, der mittelalterlichen, haben wir eine erſte gründliche Dar-
ſtellung und Belegſtellen in Gierkes Genoſſenſchaftsrecht erhalten, III 627 ff.,
und in deſſen Althuſius S. 77 ff. S. 92 ff. S. 123 ff.
sapientia est, in qua sunt immensi quidam atque infiniti thesauri rerum
intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles
rationes rerum etiam visibilium et mutabilium; de trinitate IV c. 1: quia
igitur unum verbum dei est, per quod facta sunt omnia, quod est in-
commutabilis veritas, ibi principaliter et incommutabiliter sunt omnia
simul. Auflöſung ſucht Auguſtinus vergebens in dem Satz de trinitate II
c. 5: ordo temporum in aeterna Dei sapientia sine tempore est.
in ſein pſychologiſches Verhältniß ſetzte, das was dem Willen werthvoll iſt
von dem klar ſonderte, was dem Verſtande wahr iſt, und ſo jede Meta-
phyſik der ſittlichen Welt aufhob, trat freilich zunächſt in überſpannter
Faſſung auf z. B. in sent. II quaest. 19: ea est boni et mali moralis
natura ut, cum a liberrima Dei voluntate sancita sit et definita, ab eadem
facile possit emoveri et refigi: adeo ut mutata ea voluntate, quod
sanctum et justum est possit evadere injustum. Hierdurch
war dann der extreme Supranaturalismus Occam’s bedingt.
für einen einzelnen Zweig der wiſſenſchaftlichen Literatur den Beweis dieſes
wichtigen Satzes erſchöpfend geführt.
von Newton’s mathematiſchen Prinzipien.
vel propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo
promiscue usurpo; has vires non physice, sed mathematice tantum con-
siderando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me spe-
ciem vel modum actionis causamve aut rationem physicam alicubi de-
finire vel centris (quae sunt puncta mathematica) vires vere et physice
tribuere, si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero.
Leipzig 1864.
gründung in prop. 4: nulla res nisi a causa externa potest destrui, ein
Satz der nur von Einfachen gelten kann, ſonach nicht ohne Weiteres auf
die mens übertragbar iſt und nur durch Uebertragung von dem Logiſchen
auf das Metaphyſiſche gemäß Spinozas falſcher Grundvorausſetzung be-
wieſen iſt.
Theologie, natürliche Religion etc. ſich ankündigenden Theorien, deren gemein-
ſames Merkmal die Ableitung der geſellſchaftlichen Erſcheinungen aus dem
Kauſalzuſammenhang im Menſchen war, gleichviel ob der Menſch nach
pſychologiſcher Methode ſtudirt oder biologiſch aus dem Naturzuſammen-
hang erklärt wurde.
er: „Le véritable intérêt d’une nation n’est jamais séparé de l’intérêt
général du genre humain, la nature n’a pu vouloir fonder le bonheur
d’un peuple sur le malheur de ses voisins, ni opposer l’une à l’autre
deux vertus qu’elle inspire également; l’amour de la patrie et celui de
l’humanité.“ (Condorcet, Discours de réception à l’académie française
1782 Oeuvres VII, 113.)
γενέσϑαι τούτους αἴτιοι γεγόνασιν. So Pſeudo-Ariſtoteles Metaph. II (α),
1 p. 993b 18, vgl. das ganze Kapitel.
Faſſungen finden ſich Théodicée § 44 und Monadologie § 31 ff.
lich die Annahme, daß in dem bloßen Willen Gottes die Urſache eines
Thatbeſtandes in der Welt gefunden werde. „On m’objecte qu’en n’ad-
mettant point cette simple volonté, ce seroit ôter à Dieu le pouvoir de
choisir et tomber dans la fatalité. Mais c’est tout le contraire: on
soutient en Dieu le pouvoir de choisir, puisqu’on le fonde sur la raison
du choix conforme à sa sagesse. Et ce n’est pas cette fatalité (qui
n’est autre chose que l’ordre le plus sage de la Providence), mais une
fatalité ou nécessité brute, qu’il faut éviter, ou il n’y a ni sagesse, ni
choix“ (§ 8). Berief ſich Clarke ihm gegenüber darauf, daß der Wille ſelber
ja als zureichender Grund angeſehen werden könne, ſo antwortet Leibniz
peremptoriſch: „une simple volonté sans aucun motif (a mere will), est
une fiction non-seulement contraire à la perfection de Dieu, mais encore
chimérique, contradictoire, incompatible avec la définition de la volonté
iſt klar, Leibniz kommt ſo zu einer Exekutivgewalt, welche den Gedanken
ausführt, nicht zu einem wirklichen Willen.
liches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anſchauung. Sie hat alſo
ſubjektive Realität in Anſehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirk-
lich die Vorſtellung von der Zeit und meinen Beſtimmungen in ihr“. In
dieſen Sätzen wird das, was ich oben zunächſt behaupte, anerkannt, nur in
Verbindung mit einer Theorie über die Komponenten der inneren Wahr-
nehmung.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Einleitung in die Geisteswissenschaften. Einleitung in die Geisteswissenschaften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjc2.0