Unterſuchungen
uͤber
Natur und Kunſt
im
kranken und geſunden Zuſtande des Menſchen.
bey Rudolph Graͤffer und Comp.
1791.
[[I]]
Sapientiam. Medicus enim Philoſophus Deo æqualis.’
(Hipp. de decenti Habitu.)
[[II]]
Vorrede.
Seit dem Hippokrates gruͤndeten alle groſſen
Aerzte ihr Verfahren auf das Verfahren der
Natur. Unſere Urvaͤter wurden uns darinn
zu unſterblichen Geſetzgebern. Sie folgten der
Natur in ihr geheimſtes Heiligthum, und ver-
ehrten in ihr ein ewig ſich ſelbſt gleiches, un-
verbeſſerliches Muſter, worauf ſie all ihr Wiſ-
ſen, und alle ihre Unternehmungen einſchraͤnk-
ten. Auf dieſem Weege erſchien der Arzt ſehr
oft in der Rolle des Zuſchauers; noch oͤfter in
)( 2jener
[IV]Vorrede.
jener des Nachahmers; nur ſelten trat er als
Alleinherrſcher auf.
Dadurch aber wurden dem Forſchungsgeiſte
gewiſſe Grenzen vorgeſchrieben, die dem Kitzel der
Selbſtthaͤtigkeit und der Eitelkeit zur Laſt wa-
ren. Auch iſt es unendlich viel leichter und
ſchmeichelhafter, ſich eine eigne Welt von Krank-
heiten und ihren Urſachen zu ſchaffen, als die
wirklichen, oft ſo verſteckten Erſcheinungen der
Natur zu beobachten, ſie von ihrer richtigen
Seite zu beurtheilen, und eine vernuͤnftige
Heilart darauf zu gruͤnden. Man ſuchte zu erſt
zu erklaͤren, und erſann eine Meinung nach der
andern. Die Lieblingshypotheſen der Jahrhun-
derte wurden in die Arzneywiſſenſchaft uͤber-
tragen, in der folglich, je nachdem die phyſi-
ſchen Kenntniße waren, mehr oder weniger Un-
ſinn herrſchte, bis hie und da ein Mann her-
vorkam, der die Natur wieder in ihre Rechte
einſetzte.
Dieſer
[V]Vorrede.
Dieſer Mann muſte mit durchdringendem
Scharfſinne und mit gleich groſſer Empfindungs-
und Einbildungskraft ausgeruͤſtet ſeyn, um von
den kleinſten Dingen eben ſo ſehr geruͤhrt zu
werden, als von den groſſen. Sein Geiſtes-
blick muſte ſchnell ſeyn, um keine Gelegenheit
entſchluͤpfen zu laſſen; ſeine Beurtheilungskraft
ſtreng, um von keinem Schein betrogen zu wer-
den; er muſte Geſchmack an der Natur haben,
das iſt, er muſte zum Beobachter nicht durch
Kunſt gebildet, ſondern von der Natur geboh-
ren ſeyn. — Aber wie wenige gelangen zu dem,
zu was ſie gebohren ſind!
Durchblaͤttern wir die Schriften der un-
verdroſſenſten Beobachter, ſo ſchwindelt uns
zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach-
tungen; und dennoch ſind ſolche, die ein voll-
kommener, ungekuͤnſtelter und unverfaͤlſchter
Abdruck der Natur waͤren, ſo ſelten! Wer
kann jede Thatſache als Urſache, als Wirkung,
als Folge, von allen Seiten, in allen Verhaͤlt-
niſſen ſo unterſuchen, daß nicht zuweilen die
behut-
[VI]Vorrede.
behutſamſte Erfahrung ein Trugſchluß ſeye? Setz-
ten uns Zeitalter, Hilfswiſſenſchaften und
Vorbegriffe, die gewoͤhnte Gedankenreihe, kal-
ter, aber ernſter Beobachtungstrieb, ſcharfer,
geuͤbter Beobachtungsgeiſt, Selbſtbeherrſchung,
Anhaltſamkeit und Langmuth im Pruͤfen, Drang
an Kenntnißen zu wachſen, Wahrheitsliebe und
Wahrheitsſinn; — die Abweſenheit mancher-
ley Hinderniße, als: Uebereilung, unruhige Be-
gierde etwas Beſtimmtes zu beobachten, Satt-
weisheit, Allgenuͤgſamkeit, Vorurtheil ꝛc. —
Setzten uns endlich Laune, Temperament, die
unentbehrliche Beguͤnſtigung von Seiten der
Organiſation, und die wiederholten Gelegen-
heiten in den Stand, richtig zu erfahren, und
das Erfahrne zu berichtigen? — — In der
That eben ſo viele Urſachen, warum man alle
Hoffnung aufgeben ſollte, je zu einer vollſtaͤndi-
gen Kenntniß des kranken und geſunden Zuſtan-
des des Menſchen zu gelangen.
Dazu koͤmmt noch, daß durch die man-
nigfaltigen Zerruͤttungen der menſchlichen Na-
tur
[VII]Vorrede.
tur, durch die Folgen der Weichlichkeit und
des zunehmenden Sittenverderbniſſes, durch
die Ausbreitung und unſichtbare Fortpflanzung
zerſtoͤbrender Gifte nicht allein die Erkenntniß
der Krankheiten, ſondern jede arzneywiſſenſchaft-
liche Erfahrung unendlich erſchwert wird. Die
Krankheiten erſcheinen, beſonders in groſſen
Staͤdten, nur ſelten mehr in ihrer einfachen
Geſtalt; die von ſo vielen Seiten gekraͤnkte
Natur wirkt ohne Ordnung, ohne Stetigkeit,
ohne gehoͤrigen Nachdruck, ſo, daß man nicht
weiß, ob ein Umſtand von guter oder ſchlim-
mer Bedeutung, ob er die Wirkung der Na-
tur oder der Kunſt ſeye.
Dadurch wird das Beduͤrfniß, aͤchte,
einfache Grundſaͤtze der praktiſchen Heilkunde
feſt zu ſetzen, alle Tage dringender. Wenn das
Verfahren der Aerzte mit jenem der Natur uͤber-
einſtimmt; wenn ſie die Regungen der Natur
richtig zu beurtheilen und zu benuͤtzen wiſſen;
wenn ſie die Quellen vom Urſprung, von der
Natur
[VIII]Vorrede.
Natur und der Erkenntniß der Krankheiten er-
forſchet haben: ſo hat ihre Kunſt den hoͤchſten
Grad der Vollkommenheit erreicht, und der
groſſe Wunſch eines Haller und Tiſſot, die
Rechte der Natur geltend zu machen, iſt erfuͤllet.
Auf dieſen Zweck hin beſtrebte ich mich,
den ganzen Umfang der praktiſchen Arzneywiſ-
ſenſchaft zu bearbeiten, und das Wichtigſte und
Weſentlichſte derſelben auf einfache, ſichere, aus
der Natur ſelbſt, welche ich jederzeit der Kunſt zur
Seite ſtelle, hergeleitete Grundſaͤtze zuruͤck zu fuͤh-
ren, und ſo dieſe ſchwere Kunſt ſowohl in Ruͤckſicht
der Erkenntniß als der Heilung der Krankheiten
gegen das Blendwerk ſcharfſinniger Hypotheſen,
und gegen die Gefahr und die Vorwuͤrfe des
Schwankenden und des Ungefaͤhrs zu beſchuͤtzen.
Ich hoffe dieſe Abſicht in acht beſondern
Adhandlungen zu erreichen. Dieſe werde ich
einander ſo unterordnen, daß immer die eine aus
der andern zu fließen ſcheine, und dadurch deſto
mehr an Klarheit und Zuverlaͤßigkeit gewinne.
Vor
[IX]Vorrede.
Vor allem iſt es billig und nothwendig, daß
ſowohl der Arzt als der Philoſoph richtige Begrif-
fe von einem belebten Mechanismus, und von der
Natur des Menſchen zu erhalten ſuchen. Dieſes
iſt der Gegenſtand des 1 Kapitels dieſes 1 Ban-
des. Schon Hippokrates behauptete, daß we-
der der Weltweiſe noch der Geſetzgeber etwas
Richtiges ohne Beyhilfe der Arzneywiſſenſchaft
von der Natur des Menſchen erkennen koͤnne;
ſo wie von der andern Seite immer diejenigen
die gr[oͤ]ſten Aerzte geworden ſind, welche zu-
gleich groſſe Philoſophen waren. Die ganze
Abhandlung kann als eine mediziniſche Pſycho-
logie angeſehen werden. Die erſten 28 Seiten
ſind um der angefuͤhrten Hypotheſen willen et-
was ſchwer. Wem indeſſen an den Hypothe-
ſen nichts gelegen iſt, dem iſt eine fluͤchtige
Ueberſicht zur Verſtaͤndniß des Folgenden hin-
reichend.
Im zweyten Kapitel werden die Heilan-
zeigen, welche man durchgaͤngig in allen Krank-
heiten
[X]Vorrede.
heiten ohne Ruͤckſicht auf ihre eigentliche Na-
tur befolgen muß, auseinander geſetzt.
Im dritten handle ich von dem Urſprung,
der Natur und der Erkenntniß der Krankheiten.
Meine Abſicht iſt nicht, die eigentlichen Zeichen
einer jeden Krankheit, ſondern weit weſentli-
chere und allgemeinere Quellen ihrer Erkennt-
niß anzugeben.
Im vierten ſuche ich den Unterſchied zwi-
ſchen Krankheit und Zufall feſt zu ſetzen.
Im fuͤnften handle ich zwar von den Krank-
heiten der verſchiedenen Alter und Geſchlechter;
aber nur inſofern mir dieſes noͤthig iſt, um ihre
ſtete Verbindung unter einander zu zeigen,
die Zufaͤlle der Entwicklung vollſtaͤndig anzuge-
ben, und ſie genau von den Krankheiten ſelbſt
zu trennen.
Das ſechſte entwickelt die Maßregeln und
die Faͤlle, wie und wo der Arzt die Natur nach-
ahmen ſoll.
Im
[XI]Vorrede.
Im ſiebenten handle ich umſtaͤndlich vom
Fieber und von den Entſcheidungen.
Das achte iſt eine Folge der vorhergehen-
den, und hat die Dauer der Krankheiten, je
nachdem ſie der Natur uͤberlaſſen, oder auf
verſchiedene Weiſe kuͤnſtlich behandelt werden,
zum Gegenſtande.
Was ich im zweyten, dritten, fuͤnften
und ſiebenten Kap. umſtaͤndlicher ſeyn muß, werde
ich in den uͤbrigen deſto kuͤrzer ſeyn koͤnnen.
Das ausgenommen, was ich mich alle
Tage zu vervollkommnen hoffe, werde ich durch-
gaͤngig das Verfahren, welches ich im zweyten
Kapitel beobachtet habe, beybehalten. Siſte-
matiſche Ordnung ohne Gewaltthaͤtigkeit, ein-
leuchtende Beyſpiele, im ſtrengſten Sinne prak-
tiſche Maßregeln ꝛc., ſollen immer mein Haupt-
augenmerk ſeyn, weil mir nicht ſo viel daran
gelegen iſt, Wahrheiten geſagt, als ſie meinen
juͤngern Leſern faßlich, nuͤtzlich und bleibend ge-
macht zu haben.
Um
[XII]Vorrede.
Um der zahlloſen Menge der Gegenſtaͤn-
de willen wird man mir vergeben, daß ich in
Nebenbeweiſen oft ſehr eingeſchraͤnkt bleibe,
auch bey Gegenſtaͤnden, die eine umſtaͤndlichere
Eroͤrterung verdient haͤtten. Ich glaubte beſ-
ſer zu thun, wenn ich meinen Hauptgegenſtand
nie zu weit von mir entfernte, und dem Leſer
ſelbſt uͤberließ, ſich zu meinen Beweggruͤnden
auch die ſeinigen hinzu zu denken.
Ich kenne die Groͤße meines Unterneh-
mens, und die Grenzen meiner Kenntniße.
Aber ich weiß auch, daß ein ſolches Werk nur
in den Jahren der Thaͤtigkeit, der Forſchungs-
ſucht, der Ehrbegierde und des Muthes unter-
nommen werden kann. Wenn das Muͤhſame
uͤberwaͤltigt iſt, ſo mag der gepruͤftere und ru-
hige Verſtand zur Reife bringen, was der
fruchtbarere und jugendliche Geiſt erzeuget hat.
[]
Erſtes Kapitel.
Von der Natur des Menſchen.
[]‘Cenſeo vero, quod de natura hominis manifeſtum quidpiam
cognoſcere non aliunde poßibile ſit, quam ex arte me-
dica; quod quidem facile erit penitus noſſe, ſi quis ip-
ſam Medicinam univerſam probe complexus iuerit.
Hipp. de Veter. Med. Cap. XI.’ ()
[[1]]
Erſtes Kapitel.
Von der Natur des Menſchen.
Erſter Abſchnitt.
§. 1
Erſcheinungen des menſchlichen Koͤrpers.
Sobald man das menſchliche Leben nur mit mittel-
maͤßiger Aufmerkſamkeit zu beobachten anfieng,
mußte man auch uͤber die Erſcheinungen deſſelben ſtau-
nen. Der Menſch wird durch eine Reihe von Wun-
der[n] erzeugt, gebildet, und gebohren. Sein ganzes
Leben iſt ein unablaͤßliches Geſchaͤft von Wirken und
Gegenwirken; er zerſtoͤrt ſich immer ſelbſt, und ſtellt
ſich wieder her; er nutzt ſich ab, und verſchoͤnert ſich
Galls I. Band. Awie-
[2] wieder; er verliert immer, und empfaͤngt immer; iſt
ein ewiges Streben, Arbeiten, Kaͤmpfen, Einſchraͤn-
ken, Aufloͤſen, Vermiſchen, Laͤutern, Scheiden, ein
unuͤberſehbares reges Geſilde von Leben und Kraft.
§. 2
Anſtalten zu deſſen Erhaltung.
Hunger und Durſt, das groſſe Geſchaͤft der
Verdauung und Einſaugung, die Abſoͤnderungen und
Ausleerungen, das Gefuͤhl der Saͤttigung, Drang
zur Ruhe und Bewegung, der ununterbrochene Um-
lauf der Saͤfte, das Athmen u. ſ. w. ſind eben ſo viele
unzertrennbare Anſtalten zu ſeiner Erhaltung.
§. 3.
Krankheitsurſachen.*)
Zu dieſem Endzwecke mußte er mit allem, was
ihn umgiebt, in Beziehung und Verhaͤltniß geſezt
werden. Seine Haut und ſein Fleiſch mußten weich,
nachgiebig und verwundbar, ſeine Knochen hart, ſteif
und zerbrechlich ſeyn; die Luft mit ihren Miſchungen,
Eigenſchaften und Abwechslungen, Nahrung, Him-
melsſtrich, Jahrszeit, Alter, Geſchlecht, Ruhe und
Bewegung, Licht, Finſterniß, Geſtirne u. ſ. w. muß-
ten auf ihn wirken.
Der
[3]
Der Menſch ſollte an Faͤhigkeiten die uͤbrigen
Erdengeſchoͤpfe uͤbertreffen; ſein Bau mußte alſo der
vollkommenſte, und die moͤglichen Veraͤnderungen deſſel-
ben die zahlreicheſten ſeyn. Seine Geſundheit und ſein
Wohlbehagen waren auf die gleichmaͤßige Einwirkung
der feſten und fluͤſſigen Theile gegruͤndet; je vielfacher
dieſe ſind, je mehr ihre Feſtigkeit und Miſchung ver-
aͤndert werden koͤnnen; deſto vielfacher kann auch ihre
gegenſeitige Wirkung von der einzigen gleichmaͤſſigen
abweichen, und deſto mehr Verletzungen und Zerruͤt-
tungen der Geſundheit ſind moͤglich gemacht worden.
Weil er lachen konnte, ſo ſollte er auch weinen; und
weil er das Verfloſſene und die Zukunft durchſchauen
ſollte, ſo ſollte er auch zum Wahnſinn herab ſinken
koͤnnen.
Ueberdenken wir noch das Heer der Krankheits-
urſachen, welche vom geſellſchaftlichen Leben entſprin-
gen: die unendliche Verſchiedenheit ſeiner Lebensart,
Gewerbe, Ueppigkeit, ſtrenge Vorurtheile, Mangel,
Ueberfluß, Traͤgheit, unmaͤßige Anſtrengung des Koͤr-
pers und des Geiſtes, Auswanderung, Erziehung,
Anſteckung, Afteraͤrzte u. ſ. w.: ſo ſollte man an der
Moͤglichkeit verzweifeln, daß man jemals geſund ſeyn
koͤnnte.
§. 4.
Anſtalten gegen die Krankheitsurſachen.
Indeſſen iſt doch immer der kranke Theil des
Menſchengeſchlechtes verhaͤltnißmaͤſſig unendlich klein;
man hat alltaͤgliche Beyſpiele von ſehr alten Leuten,
A 2wel-
[4] welche nie eine betraͤchtliche Unpaͤßlichkeit erlitten ha-
ben; ſolche ungluͤckliche Weſen, deren kranken Tage die
geſunden uͤbertreffen, ſind aͤuſſerſt ſelten; man kennt
ganze Voͤlker, welche nur von ſehr wenigen Krankhei-
ten und von dieſen nur ſelten heimgeſucht werden: denn
der Menſch war zu hoͤheren Dingen geboren, als daß
er ſein Leben in immerwaͤhrender Sorge fuͤr ſeine Ge-
ſundheit hinſeufzen ſollte.
Sein Schoͤpfer mußte alſo dafuͤr geſorgt haben,
daß alle Gefahren ſo lange beſeitigt oder entkraͤftet
wuͤrden, bis der Menſch wieder hinkehren ſollte, wo
er herkam. Und in der That beweiſen dieſes unzaͤhli-
ge Erſcheinungen: Iſt irgend eine Verrichtung der thie-
riſchen Haushaltung in Gefahr, es ſey aus Uebermaß
der Geſundheit, oder daß ſonſt eine feindliche Urſache
einen zu maͤchtigen Einfluß habe; ſo empoͤren ſich die
Triebfedern des Lebens; es entſteht ein Fieber, hef-
tige Fieberbewegungen, Ausleerungen, Blutfluͤſſe,
Schweiſe, Erbrechen, Bauchfluͤſſe, haͤufiger Harn,
Hautausſchlaͤge, Verwerfungen, Schmerz, Kitzel,
Zuckungen, Angſt, Geſchrey, angeſtrengtes Athmen,
Roͤcheln, Stoͤhnen, ausgelaſſene Verdrehungen des
Koͤrpers, Jauchzen, Springen, Geſchlechtsbegierde,
Leidenſchaften u. ſ. w., lauter abſichtliche Anſtalten der
menſchlichen Natur, die wir ſo oft unter dem Namen
der Krankheiten verkennen, da ſie uns unterdeſſen
allermeiſt zur Wohlthat werden. 〟Alle Natur, ſagt
Cicero, bringt die Selbſterhaltung mit ſich, und hat
ſich dieſes zum aͤuſſerſten Ziel und Zwecke geſetzt, ſich
in dem beſtmoͤglichſten Zuſtande ihrer Art zu bewahren.〟
§. 5.
[5]
§. 5.
Erforſchung der Grundurſachen dieſer Anſtalten.
Es waͤre genug geweſen, wenn man ſich um die
Natur und die Graͤnzen dieſer guͤtigen Vorkehrungen
bekuͤmmert haͤtte; allein die Forſcher der Grundurſa-
chen wagten auch da wieder einen zu kuͤhnen Schwung,
deſſen Erfolg beſtaͤttigt hat, daß der Menſch umſonſt
nach Dingen ſtrebe, fuͤr welche er keine Sinne hat,
und die folglich ſchlechterdings nicht in das Gebiet ſei-
ner Erkenntniß gehoͤren.
Man hatte im Menſchen weſentliche Eigenſchaf-
ten entdeckt, die ihm vor dem uͤbrigen Thierreiche einen
unſtreitigen Vorzug geben. Der Menſch erhoͤhet und
vervielfaͤltiget ſeine Sinnlichkeit durch ſeine Vernunft;
er unterſcheidet das Zukuͤnftige und Gegenwaͤrtige vom
Vergangenen; er erkennet mit inniger Luſt die Schoͤn-
heiten und die Geſetze der Natur und der Kunſt; er
ſehnt ſich nach Wahrheit, und findet in ihr Genug-
thuung; er erforſchet und ergruͤndet die Urſachen und
den Zuſammenhang der Dinge; er wird durch die Er-
fahrung und die Geſchichte belehrt und kluͤger; nimmt
Antheil an Geſpraͤchen und Witz; freuet ſich uͤber
eigene und fremde Vollkommenheiten; er zweifelt und
wird uͤberfuͤhrt; ſeine Faͤhigkeiten und die Begierde
ſeines Willens zu einer immer hoͤhern Vollkommenheit
ſind unbeſchraͤnkt; er erkennet Recht und Unrecht;
Verſtand und Religion verheißen ihm Unſterblichkeit;
er ſieht und verehrt uͤberall den Urheber alles deſſen,
was ober und unter ihm iſt.
Der
[6]
Der Koͤrperwelt hingegen hatte man lange alle
Bewegung und Thaͤtigkeit abgeſprochen; man uͤberſah
die Erſcheinungen, welche die Erden, die Gewaͤchſe,
die unvernuͤnftigen Thiere und die Welten mit dem
Menſchen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall
ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit
der uͤbrigen Schoͤpfung unterſuchte: ſo iſt es kein
Wunder, daß man als die Grundurſache aller Er-
ſcheinungen eine Sache angab, welche ihn ſo ſehr uͤber
die Koͤrper- und Thierwelt erhob. Dieſes war die
menſchliche Seele. Man ſchrieb ihr die Klugheit und
Willkuͤhr einer Baumeiſterin zu, und beehrte ſie mit
dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer
koͤrperlichen Huͤlle.
§. 6.
Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe.
Kaum beruͤhrte der Same des Mannes den Keim
des kuͤnftigen Menſchen; ſo ordnete die Seele die La-
ge der Theile und ihre Miſchung: ſie ſah die Geburt
und alle dabey obwaltenden Umſtaͤnde vor; daher ſenk-
te ſie gegen das Ende der Schwangerſchaft den Kopf
auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinſchaft-
licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun
reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bruſthoͤhle;
fieng das Geſchaͤft des Athmens an, und wieß den
Saͤften einen andern Lauf an, weil die Gemeinſchaft
mit der Mutter nun aufgehoben iſt; jezt hieß ſie es,
ſich nach der Milch in den Bruͤſten ſehnen; dieſer praͤgte
ſie die Kraft ein, den zaͤhen Stoff, den ſie bisher
von
[7] von den Saͤften abgeſchieden, und in den Darmkanal
abgeſezt hatte, auszufuͤhren. Sobald der Magen und
die Gedaͤrme eine ſtaͤrkere Nahrung verarbeiten konn-
ten, ſo verlaͤngerte ſie nach und nach die Zaͤhne; weil ſie
aber bey dieſem Unternehmen nicht jeden gefaͤhrlichen
Umſtand vermeiden konnte, ſo reinigte ſie den Koͤr-
per theils durch einen Bauchfluß, theils ſchuͤtzte ſie
ihn dadurch und durch das reichliche Geifern eines
ſcharfen Speichels gegen die von Schmerz und Krampf
zu beſorgenden waͤſſerichten Ergieſſungen in die Hirn-
hoͤhlen; wenn das jezt noch unvermeidliche Misverhaͤlt-
niß der Theile und derſelben Schwaͤche den verwege-
nen Gaͤngler zu Boden wirft, ſo hatte ſie ihm den Hin-
tern mit derbem Fleiſche gefuͤttert, oder ſtreckte ihm eil-
fertigſt die Haͤnde aus, und bewahrte ſo die edleren
Theile; ſie ſchloß das Auge, dem ſich etwas naͤherte,
und ſchlemmte den eingefallenen Splitter mit Thraͤ-
nen aus; dem zu lebhaften Lichte ſetzte ſie Schranken,
indem ſie den Augenſtern verengerte; reizte ein
fremder Koͤrper die Luftroͤhre oder die innere Naſen-
haut, ſo erregte ſie ein heftiges Nieſſen oder einen
Huſten, und warf ihn durch den Luftſtoß heraus; dem
Schwelger kehrte ſie den Magen um, und befreiete
ihn dadurch von der unausſtehlichen Bangigkeit und
den Folgen der Unverdaulichkeit; die unterdruͤckte
ſchaͤdliche Ausduͤnſtungsmaterie fuͤhrte ſie durch haͤufi-
gen Harn oder waͤſſerichte Stuͤhle weg; die Wirkung
des Feuers, der Aezmittel und anderer Schaͤrfen ent-
kraͤftete ſie, indem ſie dieſelben augenblicklich mit
Lymphe verduͤnnte, das Oberhaͤutel aufhob, und ſo
den
[8] den Reiz von den Nerven entfernte; erregte eine ver-
ſchluͤckte Nadel den ſchmerzhafteſten Krampf, der alle
Hilfe von oben und unten gewaltthaͤtig abwendete,
der den verletzten Darm heftig entzuͤndete, und unter
ſchrecklichen Martern das Leben durch den Brand zer-
ſtoͤrte; ſo hatte zwar die Seele die beſte Abſicht; al-
lein ſie konnte, wie alle erſchaffenen Dinge, nicht uͤber-
all und allzeit gute Wirkungen hervorbringen. — In
der Waſſerſcheue ſtemmte ſie ſich, ſo lange ſie konnte,
gegen den heftigen Trieb zu beißen; ſie warnte die
Umſtehenden, ließ die Gliedmaſſen bereitwillig in Feſ-
ſeln legen, bis ſie endlich vom unſeeligen Drang uͤber-
waͤltigt die koͤrperlichen Bewegungen nimmer einhalten
konnte.*) So prieß und entſchuldigte man ſie in al-
lem, was im geſunden und kranken Zuſtande des Men-
ſchen bis zum Tode vorgieng.
Dieſer Meinung war vorzuͤglich Stahl, der
unter ſeinen Schuͤlern einen groſſen Anhang bekam.
Die Bewegungen der thieriſchen Werkzeuge, als: den
Umlauf der allgemeinen Saͤfte ſowohl durch die Schlag-
als Blutadern in Verbindung mit der Bewegung des
Herzens und der Athemwerkzeuge, als auch durch das
Syſtem der Lymphengefaͤße; alle Abſonderungen und
Ausfuͤhrungen, welche theils in den ſchlauchfoͤrmigen
Abſonderungswerkzeugen, in dem Magen, in den Ge-
daͤrmen u. ſ. w. theils in den Druͤſen und druͤſenarti-
gen Eingeweiden geſchehen, betrachtete er als Thaͤ-
tigkeiten der Seelenkraft, welche, mittelſt der den
Ner-
[9] Nerven beygebrachten und bis zur Seele fortgepflanz-
ten Reize, erregt werden; eben ſo, wie die willkuͤhr-
lichen Bewegungen, obwohl ohne Bewußtſeyn.*) —
Hier bediente ſich noch die Seele der Werkzeuge des
Koͤrpers als Mittel zu ihrem Endzwecke.
§. 7.
Aber, ſo wie alle Meinungen groſſer Maͤnner
von nachahmungsſuͤchtigen oder geringfuͤgigen Gei-
ſtern bis zur [widerſinnigſten] Ausſchweifung verkruͤppelt
werden, ſo leugneten auch einige vorgebliche Anhaͤn-
ger nicht nur die wechſelſeitige Einwirkung der Orga-
ne, ſondern ſogar alles Daſeyn eines kuͤnſtlichen, ab-
ſichtlichen Baues, und die Seele mußte ſelbſt un-
mittelbar alle Bewegungen ſeyn.**)Lippert behaup-
tete gerade zu, daß weder die Anordnung, noch die
Geſtalt, noch die Einrichtung der Theile mechaniſch
waͤren; der Mechanismus waͤre ſogar ganz unnuͤtz,
und im ganzen Koͤrper traͤfe man keine Spur davon
an; die Abſonderungen und Ausleerungen gaͤben keine
Beweiſe gegen ihn ab; die Muskeln bewegten weder
die durch ſie verbundenen Knochen, noch koͤnnten ſie
dieſelben jemals bewegen; im §. 16. ſpricht er im
entſcheidentſten Tone, es ſeye die Ausdehnung der
Glieder vermittelſt der Muskeln ſchlechterdings un-
moͤglich.
Hei-
[10]
Heiſter ſchrieb das naͤmliche Jahr eine ſehr ge-
lehrte Streitſchrift dagegen.*) Indeſſen faßte die
Stahliſche Sekte ſo tiefe Wurzeln, daß ſie ein Tiſſot
aus dem Gehirne eines Sauvages nicht ausrotten konn-
te.**) In der Einleitung zu einem kleinen Werke
***) ſagt der Verfaſſer: “Da die Lebensbewegungen
ſich nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde vielfaͤltig
veraͤndern, ſo kann man dieſe Veraͤnderung keineswegs
maſchinenmaͤßig betrachten, weil wir wiſſen, daß
eine Maſchine ſogleich verdorben wird, wenn ſich
in ihrer Bewegung eine ungewoͤhnliche Veraͤnderung
aͤußert. Mit einem Wort: Die Lebensbewegun-
gen ſind ausgeſuchte Handlungen, und da dieſe
nach Erfoderung des Koͤrpers veranſtaltet werden,
ſo muß man ein verſtaͤndiges Weſen als die wirken-
de Urſache derſelben zum Grunde ſetzen, weil alle
Maſchinen nothwendiger Weiſe, keine aber elekti-
viſch wirkt. Und dieſes Weſen nennt man die Na-
tur. Sie bedient ſich vorzuͤglich der Ab- und
Ausſoͤnderungen, den Koͤrper geſund zu erhalten,
und wenn er krank iſt, geſund zu machen.„ Im
Texte ſagt er: “So iſt es uns bekannt, daß die
Vollziehung der Ab- und Ausſonderungen groͤſten-
theils von der Einbildungskraft abhangen.„ Er ge-
ſteht
[11] ſteht aber, daß ſeine Natur, ſein verſtaͤndiges We-
ſen “manchmal furchtſam, zweifelhaft und unſchluͤ-
ßig verfahre, z. B. wo ein anſteckendes und zum
kalten Brand eilendes Weſen vorhanden iſt.„ u. d. gl.
Dergleichen Geſinnungen muͤſſen einigen neuern
Schriftſtellern, welche ein Geſchaͤft daraus machen,
ſo manche unerklaͤrbare Faͤhigkeit unſerer Seele theils
zu erlaͤutern, theils zu erdichten, ungemein willkom-
men ſeyn. Dieſe Leute ſind ſo von ihrer Seele be-
zaubert, daß ſie derſelben Kraft und Thaͤtigkeit in al-
len Ecken zu ſehen glauben. Eckartshauſen ſagt: “Da
der Schoͤpfer in den Koͤrperbau der Thiere tauſend
Mittel zu ihrer Erhaltung legte; wie viel vollkomm-
nere wird er nicht in die feinere Organiſation des
Menſchen und in ſeine Seele gelegt haben„! — Bis
daher vortrefflich — — “Einen Beweis der Thaͤtig-
keit der Seele, faͤhrt er fort, haben wir an Men-
ſchen und Geſchoͤpfen, die eines Sinnes verluſtigt
werden. Die Seele ſucht alſogleich durch einen
andern Sinn den Verluſt zu erſetzen, und wendet
alle ihre Kraft zur Verfeinerung anderer Organe
an.„
Aus Vorliebe zur Geiſterwelt verwechſeln ſie
bald das Vermoͤgen, verworrene, dunkle Begriffe
unter gewiſſen Umſtaͤnden zu entwicklen und aufzuklaͤ-
ren, mit der unmittelbaren Vorherſehungskraft; bald
den geheimen Gang der Gewohnheit, das Geſchaͤft
der Ideenvergeſellſchaftung, Wirkungen ſchwacher,
entfernter, unfuͤhlbarer Urſachen, mit dem unabhaͤn-
gigen Ahndungsvermoͤgen. Die Leichtglaubigkeit
belegt
[12] belegt alles mit Thatſachen, welche bey ſtrenger Pruͤ-
fung allermeiſt verſchwinden. “Es giebt Menſchen,
ſagt der naͤmliche Schriftſteller, die die Stunde
ihres Todes vorherſagen; Dieſes koͤmmt von einer
Faͤhigkeit ihrer Seele her, welche die Kenntniß
des Maaßes ihrer koͤrperlichen Kraft hat. — —
So giebt es auch Menſchen, die durch das Gefuͤhl
des innern Sinnes geleitet, die Kraft ihrer Ma-
ſchine fuͤhlen, und durch das Selbſtgefuͤhl ihr Auf-
hoͤren eben ſo natuͤrlich beſtimmen koͤnnen”*)
§. 8.
Darſtellung der Halleriſchen Hypotheſe.
Ehe ich alles dieſes beantworte, muß ich die
Stahliſche Hypotheſe auf einige Zeit verlaſſen, um
die Halleriſche vorzunehmen.
Haller betrachtet die Bewegungen der thieriſchen
Werkzeuge blos als die Folge einer den Muskeln uͤber-
haupt weſentlichen, und ihren [Muskelfibern] insbeſon-
dere eingepflanzten Reizbarkeit; dieſe Reizbarkeit
aber als ein 1) von der Nervenkraft und dem Ner-
vengefuͤhl ganz unterſchiedenes, 2) von der Seele weit
entferntes und durchaus unabhaͤngiges Vermoͤgen, ſich
auf jeden empfangenen Reiz zuſammen zu ziehen, und
nach dem Reiz wieder in den Zuſtand der Ausdehnung
herzuſtellen. Die Hauptſaͤze, auf welche es in Hal-
lers Syſtem ankoͤmmt, ſind folgende:
1) Alle
[13]
1) Alle Theile des menſchlichen Koͤrpers, nur
allein ausgenommen die Knochen, haben ſo wie meh-
rere natuͤrliche, außerthieriſche Koͤrper, ein gewißes
Beſtreben, ſich zu verkuͤrzen, jedoch ohne Wechſel
von Anſpannung und Erſchlaffung. Dieſe vornehmlich
in den Flechſen und Haͤuten auch nach dem Tode,
noch ſichtbare Kraft, iſt die todte Zuſammenziehlich-
keit.
2) Von dieſer todten Zuſammenziehlichkeit iſt
unterſchieden die lebendige, oder die Reizbarkeit; wel-
che bloß den [Muskelfibern] eigenthuͤmlich, von me-
chaniſchen und phyſiſchen Reizen erregt wird, mit ei-
nem Wechſel von Anſpannung und Erſchlaffung ver-
bunden iſt, und bald nach dem Tode aufhoͤrt.
3) Dieſe Reizbarkeit iſt ganz etwas anders,
als das Nervengefuͤhl; alſo auch keine Seelenwirkung;
1) weil ſie ihren Sitz in den Muskelfiebern, nicht in
den Nerven hat; 2) weil die Nerven, ſo wie das
Gehirnmark ſelbſt, keine Reizbarkeit haben; 3) weil
viele Theile, wie das Gehirn und das Nervenmark,
viel Gefuͤhl, und keine oder wenig Reizbarkeit, an-
dere, wie das Herz, viel Reizbarkeit und wenig Ge-
fuͤhl beſitzen; 4) dieſe Reizbarkeit auch in unbeſeelten
Thieren gefunden wird; 5) in todten, ausgeſchnit-
tenen und alſo von der Gemeinſchaft der Seele und
des Gehirns ganz abgeſonderten Theilen uͤbrig bleibt;
4) weil viele Dinge, welche das Nervengefuͤhl bele-
ben, die Reizbarkeit vermindern, und umgekehrt an-
dere welche das Nervengefuͤhl vermindern, die Reiz-
barkeit beleben.
4) So
[14]
4) So iſt alſo die Reizbarkeit, dieſe von dem
Nervengefuͤhl und von der Nervenkraft ganz unterſchie-
dene, ſo wie von dem Einfluße der Seele ganz unab-
haͤngige, ausſchlußweiſe den Muskelfiebern inwohnen-
de, lebendige Kraft, die wirkende Urſache aller Be-
wegungen der thieriſchen Werkzeuge. Der Reiz wel-
cher ſie in dem lebendigen Koͤrper erweckt, iſt theils
die Waͤrme; theils die [ſalzigen] Beſtandtheile der in
den thieriſchen Werkzeugen befindlichen Saͤfte; in
dem Herzen und in den Adern das Blut und Serum;
in dem Magen und in den Gedaͤrmen die Nahrungs-
materie u. ſ. w. Der Erfolg des Reizes iſt das Zu-
ſammenziehen (der Gefaͤße und der ſchlauchfoͤrmigen
Eingeweide) und die Fortbewegung der Materien,
welche den Reiz erregt haben.
5) Man kann ſich ohnehin keinen Begriff davon
machen, wie dieſe Bewegungen Wirkungen der Seele
ſeyn ſollten; da ſich die Seele hierbey weder eines Ge-
genſtandes und Zweckes, noch der Werkzeuge ihrer
Thaͤtigkeit ſelbſt, bewuſt iſt, folglich noch viel weni-
ger einige Willkuͤhr dabey ſtatt findet.*)
Haller ſuchte die Triebfedern der Reizbarkeit
in dem die feſten Theile bindenden Leime. Gaubius
haͤlt zur Bewirkung der Reizbarkeit die bloße Struk-
tur der Zaſern, oder Verſetzung der Elemente nicht
hinreichend. Weikard**) rechnet die Reizbarkeit un-
ter die voruͤbergehenden Eigenſchaften der Koͤrper,
welche durch eine gewiße Verbindung, Verhaͤltniß
und
[15] und Bewegung der Theile entſtehen. Nebſt dem lei-
tet er ſie vom Phlogiſton her; ſo wie andere von ge-
wiſſen Luftarten, der elektriſchen Materie, dem mag-
netiſchen Strome u. ſ. w.
§. 9.
Plattners Gruͤnde gegen die Halleriſche und
fuͤr das Weſentliche der Stahliſchen Hy-
potheſe.
Die Widerlegung dieſes Syſtems und die Ver-
theidigung der weſentlichen Saͤtze des Stahliſchen
gruͤndet Plattner auf folgende Paragraphen:
§. 275. Daß in einem thieriſchen Koͤrper die
geringſte lebende Bewegung, ohne Theilnehmung der
Seelenkraft, bewirkt werden ſollte: das iſt ganz ent-
gegen dem Grundbegriffe der thieriſchen Natur.
§. 276. Daß die thieriſchen Werkzeuge, und
namentlich die in ihrer Struktur befindlichen Mus-
kelfibern, ſo wie alle gedenklichen Muskelfiebern, Ner-
ven haben muͤſſen: das iſt eine unwiderſprechliche von
Hallern ſelbſt nicht geleugnete Wahrheit.
§. 277. Haben die Muskelfiebern der thieri-
ſchen Werkzeuge Nerven, und dieſe Nerven Ner-
vengeiſt in ſich: ſo iſt in dem lebendigen Koͤrper kein
Reiz dieſer Muskelfiebern moͤglich, welcher nicht die
Nerven treffe, und den Nervengeiſt nicht in Bewe-
gung ſetze. Da alſo der Nervengeiſt, als das thie-
riſche Seelenorgan entweder unmittelbar, oder auch
vielleicht nur mittelbar durch das geiſtige mit der
Seele verbunden iſt: ſo muß jeder Nervenreiz in der
Seele
[16] Seele eine Veraͤnderung, einen Eindruck, ein Ge-
fuͤhl hervorbringen, und dem empfangenen Eindruck
gemaͤß, abwaͤrts durch die Nerven, eine Thaͤtigkeit
erregen.
§. 278. Daß in der Seele leidentliche und
thaͤtige Veraͤnderungen ohne Bewußtſeyn entſtehen
koͤnnen, das bedarf keines Beweiſes.
§. 279. Was Stahl von Abſicht und Will-
kuͤhr der Seele bey den Bewegungen der thieriſchen
Werkzeuge ſagt §. 273. Nro 5., das gehoͤrt nicht
zu dem Weſentlichen ſeines Syſtems; auf keinen Fall
zu den Behauptungen des Verfaſſers der Anthropologie.
§. 280. Demnach iſt das Zuſammenziehen der
gereizten Muskelfiebern nicht die unmittelbare und al-
leinige Folge des ihnen fuͤr ſich beygebrachten Reizes:
ſondern die Erſcheinung einer durch das Nervengefuͤhl
erregten Thaͤtigkeit der Seelenkraft.
§. 281. Die Wirklichkeit unbeſeelter Thiere iſt
noch nicht bewieſen. Thiere ohne Nerven, ohne
Seelenorgan und ohne Seele, waͤren keine Thiere,
ſondern Pflanzen in thieriſcher Geſtalt.
§. 282. Das Zuſammenziehen der Muskel-
fiebern, welches in todten, ausgeſchnittenen, und
alſo von der Gemeinſchaft der Seele und des Gehirns
ganz abgeſonderten Theilen, eine kurze Zeit wahrge-
nommen wird, beweißt nur ſo viel: daß die einfache
Subſtanzen des in den Nerven der Muskelfiebern ent-
haltenen Nervengeiſtes, auch fuͤr ſich ſelbſt, und
unabhaͤngig von dem Antriebe der Seele, in Thaͤ-
tigkeit geſetzt werden koͤnnen: nicht aber, daß auch in
dem
[17] dem lebendigen Koͤrper die Wirkſamkeit dieſer Mus-
kelfiebern ohne Theilnehmung der Seele beſtehe, wel-
ches uͤberdem unmoͤglich iſt, nach den obigen Grund-
ſaͤtzen §. 277.
§. 283. Wer mit Hallern behaupten will, daß
der Grund der in den Muskelfiebern ſich durch Zu-
ſammenziehen offenbarenden Reizbarkeit, nicht in dem
Nervengeiſte ſey; dem liegt ob, dieſes Zuſammenzie-
hen darzuſtellen in Muskelfiebern, welche keine Ner-
ven erhalten. Fuͤr ſich beſtehende, von allem Ner-
venweſen unterſchiedene Muskelfiebern ſind vielleicht
gar nicht in dem menſchlichen Koͤrper vorhanden.
Bis dieſe Foderung befriedigt iſt, bleibt es [einleuch-
tend], daß die in den Erſcheinungen der Reizbarkeit
ſich aͤußernde zuſammenziehende Kraft, zunaͤchſt von
dem Nervengeiſt herruͤhre; in dem lebendigen Koͤrper
abhaͤngig, in dem todten aber unabhaͤngig von dem
Antriebe der Seele.
§. 284. Wer in unterbundenen, oder ſonſt von
der Gemeinſchaft des Gehirns abgeſonderten Theilen
Wirkſamkeit des Nervengeiſtes fuͤr unmoͤglich haͤlt,
der wird getaͤuſcht durch die oben widerlegte Hypothe-
ſe von dem Abfluß des Nervengeiſtes aus dem Ge-
hirn.
§. 285. Wenn Haller dem Gehirn und den
Nerven die Reizbarkeit abſpricht, ſo ſchraͤnkt er den
Begriff dieſer Kraft etwas allzuwillkuͤhrlich ein, auf
ſichtbare Zuſammenziehlichkeit; beweißt aber keines-
wegs, daß der Grund dieſer ſichtbaren Zuſammen-
ziehlichkeit, welche allerdings nicht moͤglich iſt ohne
Gall[ ]I. Band. Beine
[18] eine gewiſſe Feſtigkeit der Struktur, nicht enthalten
ſey in der Reizbarkeit der einfachen Subſtanzen des
Nervengeiſtes, der die Nerven der Muskelfiebern
durchdringt.
§. 286. Reizbarkeit, d. h. das Vermoͤgen ſich
auf einen empfangenen Reiz oder Eindruck in Thaͤ-
tigkeit zu ſetzen, iſt eine allgemeine Eigenſchaft der
Subſtanzen der materiellen Welt; wie viel mehr der-
jenigen, aus welcher der Nervengeiſt beſteht.
§. 287. Wenn in einigen Theilen des menſch-
lichen Koͤrpers, z. B. in dem Herzen viel ſichtbare
Zuſammenziehlichkeit iſt, ohne lebhaftes Gefuͤhl, ſo
beweißt das nicht, daß der Reiz und die Kraft der
Zuſammenziehung unterſchieden ſey, von dem Reiz
und der Kraft des Gefuͤhls. Das ſchwaͤchere Ge-
fuͤhl des Herzens iſt von Stahl ſehr gut erklaͤrt wor-
den, aus der Einfoͤrmigkeit und ſteten Fortwirkung
ſeiner Reize, und aus einer durch den Einfluß der
Gewohnheit entſtandenen Abwendung der Aufmerk-
ſamkeit der Seele. Denn Gefuͤhl iſt auch bey dem
ſtaͤrkſten Reize nicht moͤglich, ohne eine gewiſſe Rich-
tung der Seele auf den Reiz, welcher das Gefuͤhl
erregt.
§. 288. Alle fleiſchichte Theile beſitzen die Hal-
leriſche Reizbarkeit nach Verhaͤltniß der Menge ihrer
Nerven, obgleich, da das Gefuͤhl auch in ſolchen
Theilen, welche viel Nerven haben, allmaͤhlig ſtumpf
werden kann, nicht im gleichem Verhaͤltniß mit dem
Grade des Gefuͤhls.
§. 289.
[19]
§. 289. Daß die Nerven ſelbſt fuͤr ſich allein,
ohne in Muskelfiebern verwebt zu ſeyn, die Halleriſche
Reizbarkeit, d. h. ſichtbare Zuſammenziehlichkeit nicht
aͤußern, das beweißt nicht, daß ſie nicht, vermoͤge
des ſie durchdringenden Nervengeiſtes der Grund da-
von ſind, ſondern nur, daß zu dem fuͤhlbaren Zuſam-
menziehen eine gewiſſe, den Muskelfiebern eigenthuͤm-
liche Feſtigkeit der Strucktur erfordert werde.
§. 290. Wenn einige Dinge, welche das Ner-
vengefuͤhl beleben, die Zuſammenziehlichkeit der Mus-
kelfiebern in den thieriſchen Werkzeugen vermindern,
wie z. B. geiſtige, kauſtiſche Materien: ſo geſchieht
dieſes, indem ſie die zum Zuſammenziehen erfoderliche
Biegſamkeit der Muskelfiebern durch eine ſtiptiſche
Kraft aufheben. Daher haben ſie dieſe Wirkung
nur da, wo ſie die Muskelfieber bloß und unmittel-
bar beruͤhren.
§. 291. Wenn einige Dinge, welche das Ner-
vengefuͤhl aufheben, die Halleriſche Reizbarkeit uͤbrig
laſſen: ſo iſt dieſe uͤbriggebliebene Zuſammenziehlich-
keit ganz ſo zu erklaͤren, wie in den todten Theilen.
§. 10.
Plattners Zuſaͤtze zur Stahliſchen Hypotheſe.
Uibrigens ſchreibt Plattner allen einfachen Sub-
ſtanzen dieſer materiellen Welt Kraft und Thaͤtigkeit
zu; folglich auch allen einfachen Subſtanzen des menſch-
lichen Koͤrpers §. 292. Der Nervengeiſt aber beſteht
aus den aller wirkſamſten, ſelbſtthaͤtigen Subſtanzen
der materiellen Welt. §. 137.
B 2Dieſer
[20]
Dieſer Nervengeiſt, wenn er in den Nerven
der hoͤhern Sinnen und in den Werkzeugen der Phan-
taſie enthalten iſt, macht das geiſtige Seelenorgan
aus. §. 210.
Er iſt wahrſcheinlich von weit edlerer Beſchaf-
fenheit §. 219, als derjenige Theil, welcher enthal-
ten iſt in den Nerven der niedern Sinne, und in den
Werkzeugen der Phantaſie, wie fern ſie ſich auf die
niedern Sinne bezieht; dieſer macht das thieriſche
Seelenorgan aus. §. 213.
Den Thieren iſt nur das thieriſche Seelenorgan
eigen; es ſtellt der Seele den Zuſtand des ihr zur
Erhaltung des geiſtigen Seelenorgans nur in dem ge-
genwaͤrtigen Leben noͤthigen thieriſchen Koͤrpers vor;
in den Thieren ſchlechtweg den Zuſtand des thieriſchen
Koͤrpers.
Der Menſch hat beyde Seelenorganen, und ſie
ſind vermittelſt dem Zuſammenhang aller Nerven und
Gehirnnerven mit einander in Verbindung §. 213.
Weil aber in den Verhaͤltnißen des gegenwaͤr-
tigen Lebens beyde Seelenorganen, und beyder Ein-
wirkungen in die Seele innigſt und genau miteinander
zuſammenhaͤngen; ſo ſind, ſo lange dieſe Verhaͤltniße
beſtehen, beyde davon abhangenden Triebe, Erkennt-
niß der Welt, und thieriſcher Trieb nach koͤrperlichem
Wohlſeyn, innigſt miteinander Verbunden zu einem.
Dieſen aus der Vermiſchung des geiſtigen und
thieriſchen Triebes zuſammengeſetzten, kann man den
menſchlichen Grundtrieb nennen. Sein Ziel iſt geiſti-
ge Wirkſamkeit vermiſcht mit thieriſchem Wohlſeyn;
und
[21] und er iſt anzuſehen als der Grundtrieb der eigentlichen
menſchlichen Natur. §. 650.
§. 11.
Pruͤfung der Plattneriſchen Hypotheſe.
Was an allem dieſem wirkliches iſt, wird die
Folge zeigen. Einſtweilen erlaube man mir einige
Anmerkungen:
1. Die Seele wird aller Eindruͤcke durch die
beyden Seelenorganen gewahr. — Die Seelenorga-
nen werden durch einen Reiz vermoͤg ihrer ſelbſtthaͤ-
tigen Wirkſamkeit in Bewegung geſetzt. — Nun fraͤgt
ſichs: Haͤngt dieſe erſte, urſpruͤngliche Thaͤtigkeit der
Seelenorgane, dieſe erſtern Bewegungen in der Ma-
ſchine auch von der Seele ab? Koͤmmt es am Ende
nicht allemal auf Eins hinaus, naͤmlich: daß das we-
ſentliche erſte Erforderniß, damit die Sinne, die See-
lenorganen, und die Seele in Bewegung geſetzt wer-
den koͤnnen, Reizbarkeit ſey?
2. Wenn das Zuſammenziehen der gereizten
Muskelfiebern nach §. 280. nicht die unmittelbare und
alleinige Folge des ihnen fuͤr ſich beygebrachten Reizes
iſt; ſondern die Erſcheinung einer durch das Nervenge-
fuͤhl erregten Thaͤtigkeit der Seelenkraft; wie kann
man §. 282 zugeben: daß dieſe Zuſammenziehlichkeit
auch noch in todten Koͤrpern ſtatt habe?
3. Allein die Anhaͤnger der Stahliſchen Hypo-
theſe erklaͤren die Wirkungen oder Aeußerungen der
Reizbarkeit in den nach dem Tode fortdaurenden Be-
wegungen willkuͤhrlicher Muskeln bei Menſchen, Voͤ-
geln
[22] geln und Amphibien, aus Fertigkeiten und Angewoͤh-
nungen der Muskeln §. 165. 238. — Fertigkeiten und
Angewoͤhnungen finde ich nur dort, wo nach oft wie-
derholten Bewegungen die naͤmlichen Bewegungen bey
einer ſchwachen Veranlaſſung wieder geſchehen. Aber
die nach dem Tode ſich aͤußernden Bewegungen ſind
bey weitem keine ſolche, wie ſie es im Leben waren;
in einzelnen Gliedmaßen, die nur einer ſehr einfachen
Bewegung faͤhig ſind, z. B. in dem Fuße einer Spinne
haben ſie zwar noch einige Aehnlichkeit, ſonſt aber iſt
kein Einſtimmung mehr; es ſind krampfhafte, zucken-
de, bebende, unordentliche, gewaltſame Bewegungen
ohne Zweck und ohne Zuſammenhang. Wie ſoll ich
mir eine Fertigkeit oder Angewoͤhnung gedenklich ma-
chen, wenn Nichts mehr uͤbrig bleibt, was den gewoͤhn-
ten Reiz empfaͤngt und erwiedert? Endlich geſteht
man in der Note zu §. 283, daß eine fuͤr ſich beſtehen-
de Reizbarkeit und Beweglichkeit des Nervengeiſtes,
und der ſowohl willkuͤhrlichen als unwillkuͤhrlichen
Muskeln ſtatt habe; und daß es ſchlechterdings noͤ-
thig ſeye, daß man alles das, mittelſt einer ſpekula-
tiven Abſoͤnderung, als etwas von der Mitwirkung
der Seele getrenntes denken lerne; Ja! es ſeye unwi-
derſprechlich, daß alles das in den Bewegungen todter
Theile von der Mitwirkung der Seele wirklich getrennt
ſeye. Aber, daß auch waͤhrend dem Leben, das
heißt, waͤhrend der fortdauernden ſtetigen Gemein-
ſchaft der Seele mit dem Koͤrper, etwas der Art
ohne Theilnehmung der Seele erfolgen koͤnne; das
werde Plattnern ſo lange ungedenklich bleiben, bis man
darge-
[23] dargethan hat, daß die Nerven der thieriſchen Werk-
zeuge des menſchlichen Koͤrpers mit der Seele keine
Verhaͤltniſſe haben. — Ich gebe zu, daß ſchwaͤchere
Reize ſchwaͤchere Wirkungen hervorbringen, und deß-
wegen die Seele nur Reize von einem gewiſſen Gra-
de merklich empfinde; aber daß deßwegen die Seele
jeden noch ſo unbedeutenden Vorgang im Koͤrper em-
pfinden muͤſſe, weil ſie im Faulfieber betaͤubt liegt,
und in der Hirnentzuͤndung raſet, das kann ich ſo
lange nicht zugeben, bis man mir erwieſen hat, daß
ich mittelſt der ununterbrochenen Gemeinſchaft mit der
Luft das Geſumſe einer Muͤcke hoͤren muͤſſe, weil ich
den Knall einer Kanone hoͤre. Uibrigens ſind, leident-
lich mitleiden, und theilnehmend mitwirken, gar ſehr
verſchiedene Dinge; und obſchon ich auch Empfindun-
gen ohne Bewußtſeyn zugebe; ſo bleibt es doch eben
darum unerweißlich, daß jeder Reiz empfunden werde;
und ein Bewußtſeyn ſeines innern Zuſtandes ohne
Empfindung, wie wird man da zu Werke gehen muͤſ-
ſen, um ſeinen Gegner davon zu uͤberzeugen?
4) Wenn Stahls Hypotheſe, daß die thieri-
ſchen Bewegungen in der ungebornen Leibesfrucht will-
kuͤhrliche Bewegungen waren, und durch den Einfluß
der Gewohnheit allmaͤhlig der Aufmerkſamkeit und
Willkuͤhr der Seele entzogen werden, eine zwar un-
erweißliche, aber dennoch merkwuͤrdige Hypotheſe
bleibt §. 315; und, wenn es hoͤchſt wahrſcheinlich iſt,
daß die Seele nicht verbreitet ſey durch den ganzen
Koͤrper, ſondern ihren Sitz in dem Gehirn habe, da,
wo der Zuſammenfluß aller Nerven iſt §. 236: So
iſt
[24] iſt es auch merkwuͤrdig, daß man ehemals auf die Ge-
ſtirne Engel ſetzte, um ſie auf ihrer Bahne zu leiten;
daß ihnen Philo und Avizenna eine verſtaͤndige Seele,
und der H. Thomas eine nur empfindende Seele zu-
ſchrieben. — Was hat aber dann in jenen Menſchen-
kindern, welche ohne Kopf, und in jenen, welche ohne
Gehirn und ohne Ruͤckmark zur Welt kamen, wie
im Jahr 1768. in Wien eines noch einige Stunden
gelebt hat, den Theilen ihren Bau, ihre Ordnung und
ihre Miſchung gegeben? Wie kann man den §. 217,
275, 276, 277, u. ſ. w. zufolge behaupten, daß ſol-
che Kinder als Leibesfruͤchte, ohne Gehirn, und folg-
lich ohne Seele, mittelſt des Ruͤckmarks leben konn-
ten? — Wenn aber auch dieſes fehlte, was mag wohl
dann die Urſache des Lebens geweſen ſeyn? Es ge-
ſchahen alſo Bewegungen, Nahrung, Abſoͤnderungen u.
ſ. w. ohne Seele neun Monate lang und einige Stun-
den — Wer beweiſet mir, daß dieſes bey vollſtaͤndige-
rer Organiſation nicht mehrere Jahre geſchehen koͤnne?
Wenn dann die Geſchaͤfte der Seele zufolge des §. 240
bey dennoch fortdaurendem Leben zerruͤttet ſeyn koͤnnen,
ſo iſts ja offenbar, daß das Leben, und die thieriſchen
Verrichtungen nicht von der Seele abhaͤngen. Es iſt
auch noch keine Stelle im Gehirn bekannt, wo alle
Nerven zuſammenflieſſen, und die folglich ein ſchickli-
cher Aufenthalt fuͤr die Seele waͤre. — Mit was fuͤr
Recht man ein Weſen ohne Ausdehnung in einen Raum
einſchraͤnke, haben ſchon Viele ſo ziemlich befriedigend
dargethan.
5)
[25]
5) In dem §. 219 macht man die Subſtanz
des geiſtigen Seelenorgans des Menſchen zum aller-
feinſten, unveraͤnderlichſten und unzerſtoͤrbarſten Prin-
zip in dieſer ganzen materiellen Welt. Im §. 157
iſt die Seele ein einfaches, geiſtiges, ſelbſtſtaͤndiges,
und bey allem Wechſel von Veraͤnderungen und Zu-
ſtaͤnden beharrliches Weſen. Im §. 245 macht man
zum Sitz der Seele denjenigen Theil des Seelenor-
gans, welcher der Seele weſentlich noͤthig iſt, um
uͤberhaupt theils leidentlicher, theils ſelbſtthaͤtiger Ver-
aͤnderungen faͤhig zu ſeyn; und das waͤre jener aͤtheriſche
Koͤrper, welcher nach Leibnitz die Seele vom Anfang
der Schoͤpfung umkleidet, und in alle Ewigkeit von ihr
unzertrennlich bleibt; und dieſes iſt abermal nichts an-
ders, als der innere Theil des ſogenannten geiſtigen
Seelenorgans. — Einfach, ſelbſtſtaͤndig, geiſtig,
und weſentlich unzertrennlich mit einem materiellen
Prinzip verbunden, wodurch erſt Thaͤtigkeit bewirkt
werden kann; — Seinen Sitz in dem Gehirn haben,
und weſentlich mit dem Seelenorgan, welches in der
Huͤlle der Nerven den ganzen Koͤrper durchdringt §.
246 verbunden ſeyn; — Alles dieſes iſt ſchlechterdings
unvereinbar. Es waͤre dienlicher geweſen, mit Tie-
demann und vielen andern die Ausdehnung der Seele
anzunehmen.*)
6) Was iſt denn in jenen Faͤllen §. 784, wo
angehaͤufter Unrath und Schleim, Schaͤrfe, fremde
Koͤrper, Verſtopfungen, Verhaͤrtungen, widernatuͤr-
liche Lagen und Bildungen nicht lebhafte Nervengefuͤl-
le
[26] le erregen, und alſo die Seele die Zerruͤttung nicht
fuͤhlt, wo ſie keine Unordnung im Koͤrper gewahr
wird, und dennoch ſo viele Ausbruͤche von Krankhei-
ten, ſo viele Entdeckungen ihrer Urſachen ſo ploͤzlich
und unerwartet geſchehen? Was iſt hier das dem ver-
ſteckten Reize entgegenwirkende Weſen? Die Seele
nicht, weil man ihre voͤllige Unwiſſenheit geſteht. Zu-
dem widerſpricht dieſer Paragraph dem 275, wo man
behauptet, daß nicht die geringſte lebendige Bewegung,
ohne Theilnehmung der Seelenkraft, bewirkt werden
koͤnne.
7) Dieſe Hypotheſe iſt um ſo ſonderbarer, weil
es ihre Vertheidiger fuͤr mehr als wahrſcheinlich hal-
ten, daß durch die ganze materielle Natur eine hoͤchſt
wirkſame Kraft, oder Subſtanz verbreitet ſey, welche
alles durchdringt, und in ſich enthaͤlt die Quelle aller
thieriſchen Empfindung und Bewegung, und den ge-
meinſchaftlichen Stoff des Lebens aller organiſirten
Geſchoͤpfe §. 139. Dieſer allgemeine Lebensgeiſt der
materiellen Natur befindet ſich mehr oder weniger haͤu-
fig, und mehr oder weniger entwickelt in allen Spei-
ſen und Getraͤnken, und folglich auch in dem Blut
und Serum, woraus ſich der Nervengeiſt erzeugt,
und in der Luft, die uns umgiebt §. 140. Wenn
dieſer Nervengeiſt zum Leben hinreicht, ſo muß er auch
zu den Bedingnißen, ohne welche kein Leben beſteht,
als: Bewegung, Nahrung, Ab- und Ausſonderung
u. ſ. w. hinreichend ſeyn. Aber, ſagen Sie, dieſe Le-
bendigkeit der Materie iſt bloß ein Schein von der Le-
bendigkeit, d. h. von der ſelbſtſtaͤndigen Kraft ihrer
ein-
[27] einfachen Theile. Weil ſie alſo nicht das Werk des
Zuſammengeſetzten, ſondern des Einfachen iſt: ſo fol-
ge daraus keineswegs, daß in dem Zuſammengeſetzten
etwas Empfindung- und Seelenartiges ſey; ſondern
vielmehr, daß alles Zuſammengeſetzte gegruͤndet ſeye
im einfachen, lebendigen und gewiſſermaſſen empfinden-
den ſeelenartigen Weſen §. 163. — Mir waͤre es viel
natuͤrlicher vorgekommen, daß durch Beyhilfe der Or-
ganiſation, und der wechſelſeitigen Ein- und Gegen-
wirkung, dieſes lebendige, ſeelenartige Weſen gewin-
nen ſollte, wie man §. 297 ſelbſt ausdruͤcklich behaup-
tet, und eben dadurch den Schein von Ruhe und
Traͤgheit in der Materie erklaͤrt; alſo weiß ich nicht,
wie ich es machen ſoll, um den Zuſammenhang und
die Folgerungen dieſer Saͤtze einzuſehen.
8) Das doppelte Seelenorgan, der Nerven-
ſaft, der Sitz der Seele, die weſentliche Verbindung
der Seele mit dem Seelenorgan u. ſ. w. ſind ſo vor-
ausgeſetzte und willkuͤhrlich angenommene Dinge, daß
dieſe Hypotheſe, bey aller Uebereinſtimmung mit
den Alten, welche der Verfaſſer in den Noten zu §.
246 und 271 anfuͤhrt, nichts mehr und nichts we-
niger, als eine ſehr ſchwankende Hypotheſe heißen kann.
Auch die Griechen dachten ſchon, es muͤßte etwas ſehr
feines, fluͤchtiges, aͤtheriſches ſeyn, was uns denken
macht, und nannten es unſer Wir; jenes Weſen aber,
welches in den Fingern fuͤhlt, in der Naſe riecht,
welches empfindet, oder welches wir mit andern Thie-
ren gemein haben, ſchien ihnen groͤber und thieriſcher,
und ſie haben es Pſyche genannt. Dafuͤr ſagte aber
auch
[28] auch ſchon Cicero, daß es keine ſo thoͤrichte Meinung
gegeben habe, die nicht ihre Anhaͤnger gehabt haͤtte.
Zweyter Abſchnitt.
Vergleich des Menſchen mit den Thieren.
§. 12.
Ich trete meinem Hauptgegenſtande etwas naͤher, und
ſuche die Wahrheit nimmer in der Phantaſie, ſondern
in den Dingen ſelbſt. Ein Vergleich des Menſchen
mit dem unvernuͤnftigen Thiere, ſowohl im geſunden
als kranken Zuſtande wird uns weit richtiger zu einem
aͤchten Begriffe von der menſchlichen Natur fuͤhren.
Diejenigen Vortheile ausgenommen, welche der Menſch
in Hinſicht ſeiner Seelenfaͤhigkeiten voraus hat, ſo be-
ruht ſeine ganze Verfaſſung auf keinen andern Geſe-
zen, als jene der Thiere; „denn der Menſch iſt ja
wie alles andere, ein Zoͤgling der Luft, und im gan-
zen Kreiſe ſeines Daſeyns aller Erdorganiſationen
Bruder.*)
§. 13.
In Ruͤckſicht der Geſchlechts Verrichtungen.
Um das 14—16. Jahr faͤngt der Juͤngling an,
muthig, herzhaft, verwegen und unternehmend zu
wer-
[29] werden; der maͤnnliche Hund, der ſich bisher ſchuͤch-
tern mit eingezogenem Schwanze ſeines Gleichen naͤ-
herte, ſtellt ſich um den 10—12 Monat ſeines Alters,
wo er Mannskraft zu fuͤhlen anfaͤngt, dreiſt unter ſie
hin, ruͤmpft die Lippen, bleckt die Zaͤhne und die
Haare ſtraͤuben ſich auf dem ſteifen Nacken. — Der
Juͤngling wird von den Reizen des Maͤdchens geruͤhrt,
und nur ſie kann ſeinen Hang zur Schwermuth und
Einſamkeit verſcheuchen; der Hund unterſcheidet jezt
die Spur der Huͤndin, und zeichnet ſie mit Liebkoſun-
gen aus. Die Huͤndin wird um die Zeit ihrer Reife und
annaͤhernden Fruchtbarkeit gegen die uͤbrigen ihres Ge-
ſchlechts biſſig; das Maͤdchen, ſo bisher am Gluͤck ihrer
Geſpielinnen herzlichen Theil nahm, faͤngt an unduldſam
zu werden, und leidet, wenn fremde Reize beſungen
werden. Der Mann iſt uͤberall, wo Maͤnner nicht Wei-
ber ſind, der angreifende Theil, und dem Weibe iſt von
der Natur und von der Geſellſchaft die Pflicht auferlegt,
durch die erſten Verweigerungen die Triebe des Mannes zu
erhoͤhen; iſt der Begattungstrieb bey der Huͤndin rege,
ſo achtet der Hund kein Murren und kein Beißen, ver-
folgt ſie bis zur Ermuͤdung, kaͤmpft wie ein Mann mit
haſtigem Muthe gegen den Nebenbuhler, dem die luͤ-
ſterne Huͤndin ſelten ganz gleichguͤltig begegnet, obſchon
ſie allerdings einen beguͤnſtigenden Unterſchied macht.
Erſt dann, wenn jene ſchmierige, blutige Feuchtigkeit
die Scheide nimmer benetzet, lohnt ſie die Beharrlich-
keit ihres Freyers — Auch dem Menſchen ſollte die-
ſer Zeitpunkt heilig ſeyn, denn auch das Weib ſehnt
ſich da am meiſten nach der Umarmung, die jezt am
leich-
[30] leichteſten den großen Endzweck erreicht — Das Stoͤh-
men, Keuchen, Stemmen, die zuckenden Bewegungen
der Augen und der Muskeln, beſonders um die Ge-
ſchlechtstheile bey dem Hunde; und das von Schmerz
und Luſt gemiſchte Winſeln der Huͤndin — Bald ſenkt
der Hund den Kopf, ſieht truͤb drein, blinzelt, iſt
gleichguͤltiger, wuͤnſcht einige Zeit Ruhe — Hingegen
iſt jezt die Huͤndin mehr als jemals vergnuͤgt, ihre
Munterkeit artet aus in ausgelaſſene Wendungen des
Koͤrpers; ihre winzelnde, abgeſtoſſene, erhitzte Stim-
me druͤckt die unruhigſte Begierde aus; ſie verſchwen-
det Liebkoſungen, und vergißt nichts, was ihren Gat-
ten zu aͤhnlichen Auftritten anlocken koͤnnte. — —
Aber nach einigen Tagen wird ſie traurig, ver-
liert alle Luſt zu Schaͤckereyen, und nicht ſelten erbricht
ſie ſich zu wiederholten Malen; viele unſerer Weiber
werden bald nach der Empfaͤngniß ſchwermuͤthig, ſie
klagen uͤber Mattigkeit des Koͤpers, und uͤber ver-
mehrte Empfindlichkeit; die uͤbrigen Unpaͤßlichkeiten
ſind bekannt. Die Huͤndin laͤſt ſich nimmer gerne auf
die hintern Fuͤße ſtellen, weil ihr Bauch flacher und
geſpannter geworden iſt, was eben ſo bey dem Men-
ſchen geſchieht. — Indeßen wachſen die Jungen in
eben dem Verhaͤltniſſe, wie die Leibesfrucht im Wei-
be; die Zizen laufen an; die Bruͤſte des Weibes
ſchwellen auf, werden hart, und die Warzen faͤrben
ſich dunkler, und treten hervor. Gegen das Ende
der Tragzeit ſenkt ſich der Bauch bey der Huͤndin, die
Lendenweichen werden leer, ſo wie beim Weibe um
das Ende der Schwangerſchaft der Leib herabfaͤllt,
und
[31] und die Magengegend freyer wird. — Iſt die Stun-
de der Geburt da, ſo wird das Thier aͤngſtig, fuͤhlt
einen unwiderſtehlichen Drang, ſich einen bequemen
Ort zu ſuchen, der den noch unbekannten Jungen
Schutz und Sicherheit gebe. — Auch bey unſern Wei-
bern habe ich zuweilen geſehen, daß dieſer ſchmerz-
hafte Zeitpunkt zuerſt die Liebe zur Frucht recht leb-
haft erweckt habe, vielleicht, um theils die Geburts-
ſchmerzen zu erleichtern, theils ſie deſto ſicherer zur
Vorſorge fuͤr den kuͤnftigen Saͤugling zu beſtimmen.
Bald wird der Bauch unter gewaltſamen Stoͤhnen
der Huͤndin in eine harte, runde, hoͤckerichte Ku-
gel zuſammengeengt, und die in der Scheide fuͤhlbare
Waſſerblaſe zeigt ſo wie beym Weibe, daß alles Be-
ſtreben auf den Ausgang dieſer Theile gerichtet ſey;
ſobald das Junge die Scheide gewaltſam erweitert,
ſo preßet der Schmerz der Huͤndin ein klaͤgliches, fei-
nes Winſeln, und unſeren Muͤttern, beſonders den
Erſtgebaͤhrenden, nicht ſelten ein durchdringendes Ge-
ſchrey aus; das Junge erſcheint mit dem Kopfe, und
tritt ſo wie das Kind zwiſchen dem After und der
Harnblaſe in die Welt. Nun hat die Natur die Huͤn-
din gelehrt, ihr Junges von den Haͤuten zu befreyen,
die Nabelſchnur abzubeißen, die Nachgeburt mit Luſt
aufzuzehren, und das winſelnde, nach Luft ſchnappen
de Junge von dem klebrichten Schmutze mittelſt des fleiſ-
ſigen Leckens zu reinigen — alles was Vernunft und
Erfahrung den Menſchen auf eine andere Art mit glei-
chem Erfolge thun heißen; und das Kind faͤngt an
zu athmen, und kuͤndigt ſein Daſeyn mit einem ſchwa-
chen
[32] chen, aͤchzenden Geſchreye an. Alſobald geht der Harn
von Menſch und Thier, und dieſes kriecht zu den Zi-
zen, ſaugt mit bewunderungswuͤrdiger Fertigkeit, und
ſchluͤckt eben ſo geſchickt, wie das Kind, die erſte
Milch, welche in kurzer Zeit beyde von dem zaͤhen,
angeſammelten Unrathe befreyet. — Nun lieben und
vertheidigen das Weib des Menſchen und das Weib-
lein des Thieres ihre Jungen aufs lebhafteſte. Un-
terdeſſen reinigen ſie ſich beyde durch einen zuerſt bluti-
gen, dann mißfaͤrbigen Ausfluß aus der Mutterſcheide.
§. 13.
In Ruͤckſicht der Entwicklung und der Krank-
heiten.
Die jezt gewoͤhnlichſten Zufaͤlle ſind Verhaͤr-
tungen in den Zizen, die ſich zuweilen zertheilen, zu-
weilen in ſchmerzhafte, uͤbelbeſchaffene, langwierige
Geſchwuͤre uͤbergehen, zuweilen auch lebenslaͤnglich
als harte Knoten zuruͤckbleiben. Ich habe ſogar ei-
nigemale gerade ſolche Fieber bei ihnen geſehen, und
ſie erheiſchten die naͤmlichen Maßregeln, wie die Kind-
bettfieber der Weiber: außerordentliche Hitze, ſchnel-
les, kurzes Athmen, oͤfterer Puls, heftiger Durſt,
ſchmerzhafter geſpannter Bauch, Verderbniß oder Zu-
ruͤckhaltung der Milch und der Reinigung, Irreſeyn
im Kopf, oder unordentliche Verrichtung der Sinne,
Zuckungen u. ſ. w. Waͤhrend und noch einige Zeit
nach dem Saͤugungsgeſchaͤft leeret die Huͤndin taͤglich
einen haͤufigen, mit ſchmierigem Weſen uͤbertuͤnchten
aͤuſſerſt ſtinkenden Unrath und haͤufigen Harn aus. —
Und
[33] Und gluͤcklich das Weib, der die Natur, oder an ih-
rer Stelle der Arzt beyzeit dieſen Dienſt leiſtet! — Die
erſten Wochen liegt der junge Hund keine Minute, oh-
ne daß irgend ein Glied oder Muſkel zucke; man weis,
wie ſehr Kinder die erſten Monate den Zuckungen
ergeben ſind, und wie oft ſie im Schlafe auffahren.
So wie das Auge des Hundes nach und nach den Reiz
des Lichtes ertraͤgt, und ſich auch von Tage zu Tage
der Gehoͤrgang oͤffnet; eben ſo faͤngt auch das Kind
erſt nach etlichen Wochen die Gegenſtaͤnde zu beachten
an, und es aͤuſſert erſt nach ungefaͤhr einem Jahre Wi-
derwillen gegen bittere, eckelhafte Arzneyen. — Nach
einigen Monaten wird der kleine Hund gefraͤßig; es
haͤufet ſich Unrath in den Gedaͤrmen, wozu ſich bald
Wuͤrmer geſellen. Jezt ſchuͤttelt er oͤfters den Kopf,
nieſſet, trieft aus den Augen, Ohren und der Naſe
eine ſtinkende, klebrichte Feuchtigkeit; die Gegend
um die Ohrenknorpel, innerhalb und außerhalb ums
Ohr ſchwellen an, vorzuͤglich aber die Enden der Ohrlap-
pen, welche ſchmerzhaft werden, und ſehr haͤufig bil-
den ſich an allen dieſen Theilen breite, graue, harte,
bald trockne, bald feuchte Schoͤrfe; die Halsdruͤſen
ſind geſchwollen; der Bauch aufgetrieben, geſpannt,
die Ribben und Lenden mager, die Haare ſtraubicht
und unrein; die Freßgierde iſt ſehr unordentlich; die
Ausleerungen bald zwanghaft, bald ſchleimicht, ſchmie-
rig, glaͤnzend, gebrochen, zaͤh, braun, weiß, mit
Blut untermiſcht; das arme Thier wird geplagt von
gaͤhlingen Bauchſchmerzen, wird traurig, ſucht Win-
kel, kruͤmmt endlich den ausgezeerten, knotigen Ruͤ-
Gall I. Band. C
[34] cken in die Hoͤhe, wankt ungeſtaltet einher; haͤngt den
Kopf und die Ohren; die Augen ſind truͤb, ſchmuzig,
triefend; es wird von Kraͤmpfen und Zuckungen be-
fallen, dreht ſich im Kreiſe, lauft uͤberall an, oder
macht ſonſt hoͤchſt unruhige, vor Schmerz verzweifelte
Geberden, und ſtirbt kraftlos unter Zuckungen. O-
der wird mit Fleiſchſpeiſen, Fleiſchbruͤhen, mit gelin-
den ſchleimzerſchneidenden und ſchleimabfuͤhrenden Ar-
zeneyen oder ſolchen Brechmitteln weit gluͤcklicher ge-
heilt, als mittelſt der ſogenannten wurmtreibenden
Mitteln, welche nicht ſelten eben ſo, wie Milch- und
Mehlſpeiſen den Tod befoͤrdern. Bey der Oeffnung
habe ich leicht entzuͤndete Gedaͤrme, in deren Haͤute
eingeborte 4 bis 5 Zoll lange, harte, an beyden En-
den zugeſpitzte Wuͤrmer, Madenwuͤrmer, Bandwuͤr-
mer u. d. gl.; in den Hirnhoͤhlen ergoſſenes Waſſer;
im Gekroͤſe verhaͤrtete, theils hohle, theils mit einer
kalkichten oder kaͤſigten Materie angefuͤllte, theils ver-
eiterte Druͤſen gefunden; lauter Erſcheinungen, die
man alle Tage bey Kindern in der naͤmlichen Krank-
heit beobachten kann. — Zu Ende des fuͤnften Monates
wechſelt der Hund ſo, wie der Menſch zu Ende des ſieben-
ten Jahres die Zaͤhne, und gleichwiewaͤhrend dem Zahnen
das Kind mit den Fingern im Mund ſtoͤrt, ſo nagt er
an Holz, Knochen und den Pfoten. — Kurz vor der Zeit
der Mannbarkeit aͤuſſert ſich bey ihm, ſo wie beym
Juͤngling, das ſtaͤrkſte Wachsthum; im Alter wird er
zahnlos, triefaugicht; aus den Zeugungstheilen troͤ-
pfelt eine gelbe, dicke Feuchtigkeit; die ganze Ober-
flaͤche des Koͤrpers wird mit einen ſchuppichten, ro-
then
[35] then Ausſchlage beſetzt. — In Krankheiten, die er mit
dem Menſchen gemein hat, hat er auch die gleichen
Zufaͤlle gemein, z. B. in der Waſſerſcheu; ſeine Wun-
den erregen eben ſolche Wundfieber, eben ſolche Ei-
terungen, eben ſolche Narben u. ſ. w. Wolſtein fuͤhrt
folgende Zeichen des Wundfiebers bey Thieren an:
die Wunde iſt trocken, entzuͤndet; die aͤngraͤnzenden
Theile ſind geſpannt, geſchwollen, ſchmerzhaft, oder
vom Brande ergriffen. Das Thier iſt traurig, ſein
Geiſt iſt niedergeſchlagen, es ſteht mit geſenktem Kopfe,
haͤngenden Ohren und gebogenem Halſe an ſeiner Krip-
pe; es ſieht beſtaͤndig an einen Ort. Die Augen ſind
nach der Staͤrke oder Schwaͤche des Fiebers bald feu-
rig, bald entfaͤrbt, trocken, mit Waſſer uͤberſchwemmt,
und von den Augenlidern mehr als im natuͤrlichen Zu-
ſtande bedeckt. Die Ohren ſind bald kalt, bald warm,
Die Haare ſind entfaͤrbet, ſteif, geborſten; im Schauer
ſtehen ihre Spitzen gerade, in der Hitze ſenken ſie ſich
und nach mehr oder weniger Zeit findet man ſie mit
Schweiß benetzet; das Maul, die Zunge, der Gau-
men ſind heiß; die Zunge meiſtens kothig und mehr
oder weniger trocken, der Gaumen angelaufen, der
Speichel ſchleimig, dick, zaͤhe, oft laͤßt er ſich in
lange Faͤden ziehen. Der Odem iſt kurz und geſchwind,
ſo lange die Hitze dauert; bey dem Pferde, dem Ochſen
und der Kuh bewegen ſich in dieſem Zuſtande die Flan-
ken oder Weichen ſo ſchnell, als wenn man ſie gejagt
haͤtte; ſie reißen die Naſenloͤcher auf, und ziehen ſie
vermoͤge der geſchwinden Bewegung nie ſo enge zuſam-
men, als ſie ſie im natuͤrlichen Stande verengern.
C 2
[36] Der Puls iſt meiſtens geſchwind, voll und hart.
Die Dauung ſteht ſtille, der Koth wird zuruͤckgehal-
ten; die Lebensverrichtungen nehmen zu, und die na-
tuͤrlichen ab.*) Man vergleiche damit, was Boerhave
und van Swieten T. 1. §. 158 von den Zufaͤllen der
Wunden und dem Wundfieber bey Menſchen ſagen.
Da aber bey jeder Thiergattung eine andere
Einrichtung der feſten, und eine andere Miſchung der
fluͤßigen Theile, andere Beduͤrfniſſe, andere Kunſt-
triebe und Neigungen, und folglich eine verſchiedene
Organiſation noͤrhig waren, ſo entſtunden eine andere
Anlage, ein anderer Zuſtand der Geſundheit und an-
dere Zerruͤttungen derſelben. Den Ochſen bildete der
Urheber aller Naturen ſo, daß er vom Graſe, und
deſſen Saamen fett und ſtark wird, und ſich zur voll-
ſtaͤndigen Verdauung des Wiederkaͤuens bedienen mu-
ſte; der Wolf wird vom Fleiſch genaͤhrt, und es iſt
dafuͤr geſorgt worden, daß die uͤblen Folgen ſeiner
Gefraͤßigkeit durch das leichte Ausbrechen des Uiber-
fluſſes verhuͤtet wuͤrden. Eine Gattung unſerer Haus-
thiere wird von einer verheerenden Seuche hingeriſſen,
da indeſſen eine andere Gattung und der Menſch ver-
ſchont bleiben, und umgekehrt. Aber ſo verſchieden
auch unter manchen Umſtaͤnden die Krankheiten und
die Zufaͤlle ſeyn moͤgen, ſo treffen ſie doch bei einer-
ley auffallenden Veranlaßungen, und bey nicht allzu-
ſehr
[37] ſehr abſtehender Organiſation wieder zuſammen. Un-
geſunde Witterung, faules Waſſer, ſchlechte Weiden
und ſchlechte Wartung u. d. gl. erzeugen beym Vieh,
wie eine aͤhnliche Urſache beim Menſchen faulichte,
mit ſchlimmen Entzuͤndungen verknuͤpfte Krankheiten
u. d. gl. Bey einem Hunde ſah ich eine beynahe toͤdt-
liche Ruhr entſtehen, weil er bey ſeinem Herrn die
Nacht durch unter der Decke lag, der nach einer
ſtarken Mahlzeit von Kaͤſe viele hoͤchſt ſtinkende
Winde ließ. Im Fruͤhjahr werden ſowohl bey unſern
Hausthieren, als beym Wilde, z. B. den Gemſen
die den Winter hindurch angehaͤuften rohen Saͤfte
abgeſchieden, die ſteinartigen Verhaͤrtungen aufgeloͤſet,
und unter der Geſtalt eines wohlthaͤtigen Bauchflußes
ausgeleert; wie dieſes beym Menſchen geſchieht, wer-
den wir im zweyten Bande ſehen.
§. 14.
In Ruͤckſicht der Verabſcheuenden und annaͤh-
renden Begierden.
Die Selbſterhaltung iſt zwar jedem lebendigen
Geſchoͤpfe zur dringendſten Angelegenheit gemacht wor-
den. Es giebt aber Lagen, wo Thier und Menſch
dieſes Geſetz zu vergeſſen ſcheinen. Krankheit, Klein-
muth und Verzweiflung erhoͤhen beym Menſchen ſo
ſehr die gegenwaͤrtigen Leiden, und werfen eine ſo
dichte Finſterniß uͤber die Zukunft, daß er jene fuͤr
unertraͤglich, und ein noch zukuͤnftiges Gluͤck fuͤr un-
moͤglich haͤlt. Wird er noch uͤber dieß, durch die zu
raſche oder zu gewaltſame Empfindſamkeit, gegen die
Be-
[38] Beweggruͤnde der Vernunft und der Religion betaͤubt:
ſo wuͤnſcht er nichts mehr, als Zernichtung, und er
ergreift in der That die Mittel ſeiner Zerſtoͤrung. —
Vom Lama, einem Kamele, wird erzaͤhlt, daß, wenn
es zu ſehr uͤbertrieben wird, es ſich niederlege, und
ſo lange den Kopf gegen die Erde ſchlage, bis es ſeinen
Geiſt aufgiebt.*) Auch der Thunfiſch, Scomber Thynnus,
zerſchlaͤgt ſich, wenn er gefangen iſt, den Kopf an den
Felſen. Ich glaube zwar nicht, daß der Beweggrund
dieſer Handlungen der naͤmliche ſeyn koͤnne, wie beym
Menſchen; indeſſen iſt es doch gewiß, daß ſchon mancher
Hund vor Traurigkeit uͤber den Verluſt ſeines Herrn
ehe vor Hunger und Kaͤlte zu Grunde gegangen iſt,
als daß er einen andern Herrn oder Nahrung ange-
nommen haͤtte. Eben ſo hungern ſich verſchiedene wil-
de Thiere ehe zu tod, als daß ſie das Gefaͤngniß
ertragen oder Futter annehmen.
Der von Jaͤgern umringte Tiger laͤßt anfangs
aus Muthloſigkeit alle Pfeile auf ſich abdrucken;
wird aber das Maaß des Leidens zu groß, ſo ergrimmt
er, und ſchwingt ſich wuͤthend auf einen der Jaͤger;
ſo flieht die Mutter mit dem Kinde auf dem Arme
vor dem Loͤwen, und wenn ihr der Saͤugling entfaͤllt,
ſo eilt ſie, wie von einer hoͤhern Kraft geſtaͤrkt, auf
den Loͤwen zu, und ringt ihm unter Jammer und
Wuth ihr Kleinod aus den Klauen, daß ſelbſt der
Loͤwe ſtaunt, und großmuͤthig dem Weib gehorcht
Zimmermann erzaͤhlt von einer traͤchtigen Huͤndin, wel-
che
[39] che aus Schrecken vor einem Panther tode Jungen
zur Welt brachte.*) Wie ſehr die Saͤfte bey Menſch
und Vieh durch die Leidenſchaften verdorben werden,
bezeugen die gefaͤhrlichen daher entſtehenden Krankheiten
der Menſchen, und die mißlichen Biße erzuͤrnter Hunde.
Uiberraſchung, Furcht, Schrecken, hoͤchſte
Kleinmuth wirken in allen Faͤllen beym Thiere wie beym
Menſchen. Es giebt kein beſſer Mittel, ſeinen Feind
aus der Faßung zu bringen, als daß man entweder
gerade auf ihn zulaͤuft, oder ihm ſonſt auf eine uner-
wartete Art begegnet. Der grimmigſte Hund wird
in die Flucht gejagt, wenn man ihm auf allen Vieren
entgegen kriecht, und die Hottentoten wiſſen dadurch
den Loͤwen von ſeinem blutgierigen Vorhaben abzu-
bringen, daß ſie gerade auf ihn zugehen, weil er nur
aus dem Hinterhalt ſeine Beute anzufallen gewoͤhnt iſt.
So lange ſich im Schrecken nicht die Furcht und die
Kleinmuth unſerer bemeiſtern, ſo lange nehmen wir
jedesmal die weiſeſten Maßregeln. Eben ſo vertheidigt
ſich der Eſel in einem Winkel mit den Hinterfuͤßen,
der Ochſe mit dem Horn, und der fluͤchtige Haaſe
weiß mittelſt falſcher Spruͤnge dem Hunde zu entkom-
men. Aber wenn ſich Furcht und Kleinmuth zum
Schrecken geſellen, ſo iſt bey Menſch und Vieh alle
ſelbſtthaͤtige Rettung verloren. Man behandelte eine
ledige, ſchwangere Frauensperſon gerichtlich, weil ſie
einem ſchnell heranfahrenden Wagen nicht ausgewichen
war, da ſie es doch gemaͤchlich haͤtte thun koͤnnen.
Waͤre den Richtern das Betragen des Eichhoͤrnchens
beym
[40] beym Anblick der fuͤrchterlichen Klapperſchlange und
jenes der mohriſchen Pferde, welche ſich auf der Jagd,
ſo bald ſie einen Loͤwen erblicken, nimmer ruͤhren koͤn-
nen, bekannt geweſen, ſo haͤtten ſie eingeſehen, wie
bey ſo augenſcheinlicher, maͤchtiger Gefahr, und ei-
nem innern Gefuͤhl ſeiner eigenen Schwaͤche die Sin-
ne betaͤubt, und alles Beſtreben und alle Hoffnung
einer noch moͤglichen Rettung vernichtet werden. Auf
dem hieſigen Hetzamphitheater ſah ich einen Rehbock
ſich uͤber und uͤber dem Loͤwen in die Klauen werfen,
obſchon ſich der Loͤwe von einer andern Seite gerade
auf einen andern Bock zu ſchwingen im Anlaufe war.
Dieſe Erſcheinungen beſtaͤttigen den Ausſpruch
des weiſen Salomon: Es geht dem Menſchen, wie
dem Vieh., wie dieß ſtirbt, ſo ſtirbt er auch, und ha-
ben alle einerley Odem, und der Menſch hat nichts
mehr, denn das Vieh, denn es iſt alles eitel.*) Und
in eben dieſer eingeſchraͤnkten Ruͤckſicht mache ich die
Folgerung, daß eben daß, was dem unvernuͤnftigen
Thiere Leben, Nahrung, Wachsthum, Geſundheit,
Krankheit, Geneſung und den Tod giebt, dieſes alles
auch dem Menſchen gebe.
§. 15.
Nun fraͤgt man aber: Haben die Thiere auch
eine Seele? Hat jede Thiergattung eine eigene Seele?
oder beruht aller Unterſchied auf der Organiſation?
Um dieſe drey Fragen drehen ſich alle Meinungen der
Weltweiſen uͤber dieſen Gegenſtand, obſchon jeder die
ſeinige unter einer andern Geſtalt darzuſtellen bemuͤht
iſt.
[41] iſt. Ich laſſe mich in dieſe eitlen und undankbaren
Unterſuchungen nur in ſofern ein, als ſie mir Gelegen-
heit darbieten, die Natur des Menſchen mehr zu ent-
wickeln und in ein helleres Licht zu ſetzen.
Plattner, obſchon er ſich §. 281 kein Thier ohne
Seele gedenket, ſcheint den Thierſeelen nicht ſonderlich
gewogen zu ſeyn. Wo er §. 215 ſagt, daß die See-
le des Menſchen ohne das geiſtige Seelenorgan als
Thier wirken wuͤrde, macht er die Anmerkung, daß
ſie deswegen nicht Thier waͤre, ſondern nur als Thier
wirkte: Denn ihre geiſtige Natur, welche nicht in
ihren phyſiſchen Verhaͤltniſſen, ſondern in ihrem in-
nern Weſen gegruͤndet iſt, wuͤrde ihr dennoch bleiben,
wenn ſich dieſelbe auch nicht aͤußern koͤnnte. Da er
den Thieren kein geiſtiges Seelenorgan zulaͤßt, ſo haͤlt
er ihre Empfindungen und ihr Beſtreben nicht fuͤr
ſinnlich ſondern bloß fuͤr thieriſch §. 661.: Denn
es ſeye noch eine groſſe Frage, ob der Nervengeiſt,
die Nerven und Sinne der Thiere zu ſo deutlichen
Abbildungen der Außendinge geſchickt ſeyen, wie die
ſind, welche der Menſch durch ſeine Sinne empfaͤngt.
— Und er iſt ganz uͤberzeugt, daß die materielle Idee,
welche ein Thier z. B. von einem Geſichtsmaͤßigen
Gegenſtand empfaͤngt, gar nicht von einer Ruͤhrung
der Geſchmack- und Geruchnerven unterſchieden ſey.
Alle Sinnenvorſtellungen in dem Thiere ſeyen ohne
Unterſchied thieriſche Empfindungen. Ihre Seelen
ſeyen blos lebendige der Empfindung faͤhige Weſen.
Ich
[42]*) Ich weis nicht, darf ich daraus ſchließen, daß er
die Thierſeelen blos als ein Reſultat der Organiſation
anſieht, und ihr Daſeyn blos auf phyſiſche Verhaͤlt-
niſſe gruͤnde, wodurch die Wirkſamkeit der ſelbſtthaͤti-
gen, einfachen Theile beſtimmt wird; oder muß ich den
Unterſchied nur in dem Mangel des geiſtigen Seelenor-
gans aufſuchen. In jedem Falle nimmt er bey Er-
klaͤrung der natuͤrlichen und der Lebensverrichtungen
des Menſchen ohne Grunde zu deſſen Seele ſeine Zu-
flucht.
§. 16.
In Ruͤckſicht der thieriſchen Beſtrebungen und
der Vorherſehungen.
In dem Kapitel von den thieriſchen Beſtrebun-
gen, und den davon abhangenden Thaͤtigkeiten erklaͤrt
er nach ſeiner Hypotheſe, wie die Seele der Betaͤu-
bung, Ertoͤdtung, oder Zerruͤttung des thieriſchen
Seelenorgans entgegen wirkt durch den thieriſchen
Schmerz, durch Kraͤmpfe und Zuckungen, durch den
thieriſchen Schrecken, den thieriſchen Schauer, den
Eckel, die Fieberhize, die anhaltenden und nachlaſ-
ſenden Fieber, die ſchleichenden Fieber, die Wechſel-
ſieber, durch das Athmen, den Hunger, Durſt, das
Einſaugen der zuruͤckfuͤhrenden Gefaͤße, die Thaͤtigkeit
des Herzens und der Arterien, die Ausfuͤhrungen von
ſchadhaften Materien, die thieriſche Ausgelaſſenheit,
die
[43] die Geſchlechtsbegierde, den Kitzel, die thieriſche Ver-
zweiflung von Schmerz, Reiz, Angſt u, ſ. w. — Ich
will ſeinen Sinn durch einige Paragraphen erlaͤutern.
§. 1193. Die Thaͤtigkeit, mit welcher die Seele
entgegenwirkt dem Tode, ſcheint in ihr erregt zu wer-
den durch eine dunkle, wahre, oder taͤuſchende, nahe
oder entfernte Vorherſehung einer bevorſtehenden Tren-
nung des Seelenorgans von ihrer Gemeinſchaft mit
ihrem Einfluß. Daher jene verdoppelten Schlaͤge
der Werkzeuge des Umlaufs, und jene heftigen Zu-
ckungen, welche meiſt ohne wirkliche Todesgefahr er-
regt werden.
§. 1201. Die ſtets fortwaͤhrende lebendige
Thaͤtigkeit in den Werkzeugen des Kreislaufs wird
immerfort erregt durch den Reiz der in dem Umlauf
begriffenen Saͤfte. Dieſer Reiz wirkt mittelſt der Ner-
ven, welche er allzeit zunaͤchſt trifft, in das thieriſche
Seelenorgan, und durch dieſes in die Seele, mittelſt
bewuſtloſer Gefuͤhle; dieſe Gefuͤhle wirken in der
Seele bewußtloſe Thaͤtigkeiten. Und ſo entſtehen,
mittelſt der in den Werkzeugen des Umlaufes befind-
lichen Muskelfiebern ſichtbare Bewegungen oder Er-
ſcheinungen der Halleriſchen Reizbarkeit.
Nach §. 167. beruht der Hunger auf dem dunk-
len Gefuͤhl der Seele theils von dem Mangel und
von dem beginnenden Verderbniß der ernaͤhrenden
Saͤfte des Koͤrpers, theils von dem Mangel der Le-
benskraft.
Nach §. 768. entſteht der Durſt vom Mangel
der waͤſſerichten Theile in den Saͤften des Koͤrpers,
einer
[44] einer daher entſtehenden Unbeweglichkeit und ſalzigten
Schaͤrfe, wovon die Seele ebenfalls ein dunkles Ge-
fuͤhl hat u. ſ. w. Das Gefuͤhl der Erſaͤttigung iſt
ſowohl in Anſehung des Hungers als des Durſtes
ſeinem naͤchſten Gegenſtand nach nichts anders, als die
angenehme Empfindung der Vermehrung und Ver-
beſſerung der Saͤfte auf der einen, und der geſtaͤrk-
ten Nervenkraft auf der andern Seite, verbunden
mit der dunklen thieriſchen Vorherſehung des Einfluſ-
ſes dieſer Veraͤnderung in den Magen, und auf den
Zuſtand des Koͤrpers uͤberhaupt.
Nicht viel anderſt druͤckt ſich Reimarus*) aus.
Nachdem er von den Sinnen der Thiere und den da-
durch erhaltenen Empfindungen geredet hat, ſagt er:
“Dieſe aͤußern Empfindungen muͤſſen dann der Seele
ſolchen Eindruck und ſolche Vorſtellung beybringen,
welche ſie vermoͤg der natuͤrlichen Verbindung mit
ihrem Koͤrper, zur harmonirenden Bewegung gewiſ-
ſer dazu fertigen und faſt voͤllig bereiteten Muskeln
und Werkzeugen blindlings determinirt. Ich nenne
die willkuͤhrliche Bewegung darum blindlings deter-
minirt, weil ſich die Seele nicht bewußt iſt, woher
ihre Neigung komme, noch ſich wiſſentlich entſchließt,
in dieſen oder jenen Leibestheilen eine Bewegung zu
erregen.„
Aber Reimarus redet von den willkuͤhrlichen
Bewegungen des Koͤrpers, welche unſtreitig bald mehr
bald weniger von der Seele beſtimmt werden. Um
zu erklaͤren, wie leicht ſolche Bewegungen von der
Seele
[45] Seele erregt werden, ſetzt er einen vorbeſtimmten
Mechanismus voraus, welcher durch den ſinnlichen
Reiz und die blinde Willkuͤhr in den Gang gebracht
wird. „So, ſagt er, werden manche Inſekten durch
die widrige Empfindung von andern Thieren aufge-
bracht, daß ſie ihren Stachel hervorſchieben, und
damit ſtechen; oder durch den Geruch und das Ge-
ſicht gereizt, daß ſie ihren Ruͤſſel zur Speiſe auslaſ-
ſen, und damit ſaugen; oder durch Erkenntniß des
andern Geſchlechts entzuͤndet, daß ſie ihre Zeugungs-
glieder hervorſtrecken zur Parung; oder im Streite
mit andern getrieben, daß ſie ihre Wehr- und Fang-
werkzeuge zum Schutze oder zur Haſchung der Beute
anwenden.“ Dieſen vorbeſtimmten Mechanismus
wird kein Naturkenner leugnen.
§. 17.
In wiefern die Seele in allen dieſen Faͤllen mit-
telſt einer dunklen, wahren, taͤuſchenden, nahen oder
entfernten Vorherſehung wirkſam werde, iſt der Muͤ-
he werth, genauer zu unterſuchen; und, was an der
Sache iſt, nicht durch Metaphiſiſche Machtſpruͤche,
ſondern durch phyſiſche Thatſachen zu beſtimmen.
„Wenn die Thiere, ſagt der naͤmliche Reimarus,
durch eine innere Empfindung getrieben werden, etwas
zu thun, welches ihnen oder ihrer Brut kuͤnftig nuͤtzlich
ſeyn wird, ſo folgt nicht, daß ſie deßwegen eine Ein-
ſicht ins Zukuͤnftige haben. Wenn man ſagt, daß
das blinde innere Gefuͤhl des Hungers und der Brunſt
die Thiere zum Eſſen und zur Begattung treibe; ſchreibt
man
[46] man deßwegen dem Hunger und der Brunſt eine Ein-
ſicht in das Zukuͤnftige zu? naͤmlich eine Abſicht, daß
der Magen die Speiſen verdauen, und dadurch
Leben und Kraͤften erhalten ſoll, oder daß das
Geſchlecht durch die Begattung ſolle fortgepflanzt wer-
den? Nein, das Thier folgt ſeinen blinden Empfin-
dungen. Daß beyderley Empfindungen und Handlun-
gen dem Thier und ſeinem Geſchlecht kuͤnftig Nutzen
ſchaffen, iſt keine Einſicht, die man den Thieren zu-
ſchreibt, oder die in der blinden Empfindung ſteckte;
ſondern eine Einſicht des Schoͤpfers, der auch die
ſchlechteſten Triebfedern blinder Empfindungen, ohne
der Thiere Wiſſen, ſo eingerichtet hat, daß ſie in Zu-
kunft zur Erhaltung und zum Wohl jeder einzelnen
Thieren und ganzen Geſchlechter, bis in die ſpaͤte-
ſten Zeiten, dienen ſollen und muͤſſen.„ Eben ſo
wenig nennt er die innere Empfindung von Waffen,
die noch nicht zugegen ſind, eine Vorherſehung; ſon-
dern einen Trieb, der mit dem ſtaͤrkern Zufluß der
Saͤfte an dieſen Ort hin entſteht.
Alles, was der Schoͤpfer mit dieſen innern
Empfindungen verbunden hat, und verbinden mußte,
iſt dieſes: daß Er dadurch jedesmal den Menſchen
und das Thier auf dasjenige hinweiſet, was dem ge-
genwaͤrtigen Beduͤrfniß Genuͤge leiſten kann. Daher
iſt mit der Empfindung des Hungers und des Durſtes
nicht die Luſt zum Tanze und zur Liebe, ſondern die
Begierde zu Speiß und Trank, mit dem Beduͤrfniß
der Begattung nicht der Hang zum Selbſtmorde, ſon-
dern der Geſchlechtstrieb verbunden. Daher iſt es auch
zu
[47] zu einem Geſetz der Traͤume geworden, daß bey denje-
nigen Empfindungen, die aus koͤrperlichen Beduͤrfniſ-
ſen entſtehen, die Phantaſie die Gegenſtaͤnde hinzu-
denke, die geſchickt ſind, ihnen Befriedigung zu ge-
ben.*) Solche Empfindungen ſind nie mit den Vor-
ſtellungen der erregenden Gegenſtaͤnde vergeſellſchaftet.
Wir eſſen, wenn wir von Hunger traͤumen, ſchmack-
hafte Speiſen; und wenn die Mannskraft unſere Phan-
taſie in Bewegung bringt, ſo wirft ſie uns auch in
die Arme eines Maͤdchens.
Der Hamſter ſieht ſich auf den Winter mit
Frucht vor; das Murmelthier bereitet ſich ſein Winter-
lager; die Schlange kriecht in ihre Hoͤhle; und dieſe
alle, die Schnecke und der Regenwurm graben ſich
deſto tiefer unter die Erde, je ſtrenger die Kaͤlte des
folgenden Winters ſeyn wird; der Guguck zieht in
fremde Gegenden, noch ehe jene Witterung zu Ende
iſt, die er anderſtwo aufſucht; die Larve des maͤnnli-
chen Hirſchkaͤfers graͤbt ſich bey ihrer Verwandlung ei-
ne Grube, die ihre Laͤnge zweimal uͤbertrift, damit
das Horn, welches jetzt ſchon entwikelt in ihr liegt,
bequem ausgeſtreckt werden koͤnne; der Ameiſenloͤwe
lauert in ſeiner Sandgrube, ehe er weis, daß es Amei-
ſen giebt; die Spinne ſpannt ihr Netz aus, ehe ſie das
Daſeyn und die Natur der Fliegen kennt. — — Soll
man alles das Vorherſehungen heißen? — Und haͤt-
te man da nicht mehr Recht dazu, als bey den ſo
oft getaͤuſchten, verworrenen, erkuͤnſtelten und zufaͤlli-
gen Vorgefuͤhlen der Menſchen? — Dieſen Inſtinkt,
den
[48] den man, da er um der Zukunft willen nuͤtzlich iſt,
immer ein Vorgefuͤhl nennen mag, haͤlt man unter-
deſſen einſtimmig fuͤr nichts anders, als fuͤr einen ganz
unwillkuͤhrlichen Drang, auf eine beſtimmte Weiſe zu
handeln; das Thier findet darinn ſeine Behaglichkeit,
ohne weder von der Urſache noch von der Folge die
geringſte auch noch ſo dunkle Vorſtellung zu haben;
und dieſer Drang hat ſeinen Grund ſowohl in der Or-
ganiſation des Thieres, als in den Dingen außer ihm,
mit welchen es in Verbindung geſetzt worden iſt.
§. 18.
Erklaͤrung der Vorgefuͤhle, Vorherſehungen,
und der Erhoͤhung der Seelenkraͤfte in
Krankheiten.
Nach dieſen Vorausſetzungen iſt es nimmer ſo
ſchwer, uͤber die Vorgefuͤhle, Vorherſehungen, Ahn-
dungen der Menſchen und die Erhoͤhung der Seelen-
kraͤfte in Krankheiten ein richtiges Urtheil zu faͤllen,
wenn man ſie nur nicht unmittelbar von der Seelen-
kraft allein abhaͤngig macht, ſondern jedesmal eine
koͤrperliche Veraͤnderung als die erſte Veranlaſſung
vorausſezt.
Dieſe koͤrperliche Veraͤnderung, ſie moͤge von
innen oder von auſſen bewirkt werden, ſpielt manch-
mal ihre Rolle ſo im Hinterhalt, daß es geradezu un-
moͤglich iſt, aus ihren Wirkungen von ihrer Natur,
oder ihrem Zuſammenhang einige Vorſtellung zu erhal-
ten. Wie oft ſind wir ohne angeblichen Grund guter
und uͤbler Laune? Ein paar Winde, der Abgang ei-
nes
[49] nes Bischen veralteten Unraths, die in einiger Zeit
erfoglte Witterungsveraͤnderung, die Entdeckung eines
vergeſſenen Vorganges, der einen Eindruck hinterließ,
loͤſen nicht ſelten das Raͤthſel auf. Durch alles dieſes
werden wir in ein gewiſſes Gefuͤhl verſetzt, deſſen Ur-
ſache wir nicht einſehen, und daß auf keine Weiſe in
unſerer Willkuͤhr ſteht. Es koͤmmt darauf an, wel-
che Verrichtung, ob die Lebensverrichtungen, die na-
tuͤrlichen oder die thieriſchen verletzet ſind. „Wenn
die Lebensbewegung unterdruͤckt wird, ſagt Gorter,
ſo ſteht ſie gleichſam ſtill, und erregt die Empfindung
von Angſt. Dieſes beobachtet man vorzuͤglich im An-
fang fieberhafter Krankheiten, oder wenn irgend eine
Schaͤrfe die fuͤr die Lebensbewegungen beſtimmten Ner-
ven angreift, wo dann anſtatt des Schmerzens manch-
mahl die aͤußerte Angſt entſteht, welche ſobald wieder
verſchwindet, als dieſe die Nerven verlaͤßt, und
an den Auſſentheilen wider Schmerzen erregt. Es
iſt daher nicht zu verwundern, daß man bey der Angſt
furchtſamer iſt, als beym Schmerzen, indem die Angſt
die Verletzung der Lebensbewegung, von deren Zer-
ruͤttung der Tod folgt, anzeiget.„*)
Nehmen wir noch an, daß der Grad des Schmer-
zens nur ſelten mit der Gefahr in Verhaͤltniß ſteht, ſo
ſehen wir auch ein, warum in den meiſten Faͤllen kein
Verhaͤltniß der Kleinmuͤthigkeit mit dem Schmerzen
ſtatt hat. Bey Pulsadergeſchwuͤlſten, Verhaͤrtungen,
der Druͤſen u. ſ. w. empfindet man gar keinen Schmer-
zen;
Gall I. Band D
[50] zen; ein andermal iſt der Schmerz fuͤr die Gefahr zu
gering, als in der Krampfſucht, Schwindſucht, Kopf-
waſſerſucht u. ſ. w. und noch ein andermal iſt der
Schmerz fuͤr die Gefahr zu heftig, als bey Zahn-
ſchmerzen und dem Wurm am Finger.*)
In einigen Theilen, deren vollkommener, un-
gekraͤnkter Zuſtand nicht weſentlich zum Leben erfo-
dert wird, herrſcht eine ausnehmende Empfindlichkeit;
andere ſind nur der Empfindung eines Druckes, einer
Beklemmung, einer Angſt, Hitze, Kaͤlte u. ſ. w.
faͤhig; andere ſind nach Verſchiedenheit des Reizes bald
aͤuſſerſt empfindlich, bald ganz und gar unempfindlich;
und noch andere, deren vollkommener Zuſtand doch we-
ſentlich zum Leben, oder zu den Verrichtungen eines
Ingeweides z. B. des Gehirns, erfodert wird, geben
uns ihre Verletzungen durch kein merkbares Gefuͤhl zu
erkennen. Daher ſind wir im allgemeinen bey einer
uns unbeſtimmbaren Unbehaglichkeit weit niedergeſchla-
gener; wir ſezen uns weit mehr gegen allen Troſt und
alle Luſt, als manchmal in den grauſamſten Schmer-
zen. Bey gewiſſen Anfaͤllen von Hypochondrie fuͤhlen
wir weiter nichts, als einen an ſich ſehr unerheblichen
Schmerz im Unterleibe, der in Anſehung ſeiner Hef-
tigkeit mit dem aus dem Brennen oder Stechen entſte-
henden Schmerzen gar nicht zu vergleichen iſt; einiges
Schnuͤren um die falſchen Ribben, u. d. gl. und den-
noch macht uns dieſes ſo muͤrriſch, ſo feindſeelig, ſo
grauſam und ſo unzufrieden mit unſerm Schickſale.
Hr. Dopfer, von dem ſpaͤter die Rede ſeyn wird,
glaub-
[51] glaubte auf der hoͤchſten Stufe eines Nervenfaulſiebers
(in agmine morbi) er ſeye der Laͤnge nach in der Mitte
entzwey geſpalten, oder er empfand ſein ganzes Da-
ſeyn gedoppelt, ſo, daß er immer waͤhnte, ein ande-
rer Er laͤge neben ihm. — Ein anderer, der die Lun-
genentzuͤndung hatte, glaubte auf eben der Hoͤhe der
Krankheit, er ſeye quer uͤber die Magengegend abge-
ſchnitten, und der untere Theil ſeye todt. Tiedemann
fuͤhrt das Beyſpiel von Herrn Moſer an, welcher mit
der rechten Seite des Gehirns vernuͤnftig dachte, mit
der linken aber faſelte, und mit jener die Faſeleyen
dieſer genau beobachtete, und aufs deutlichſte von den
Ideen der rechten Seite unterſcheiden konnte.
In dergleichen Faͤllen muß offenbar noch ein
Reiz von ganz anderer Art mit im Spiele ſeyn, obſchon
wir ihn nicht im geringſten fuͤhlen. Wie unerklaͤrbar
wirkt jener Reiz, der bey Anſchoppungen des Milzes
oder anderer Baucheingeweide eine ſolche ungluͤckſeelige
Anlage bewirkt, wodurch der Menſch, bey dem We-
hen eines gewiſſen Windes, unwiderſtehlich des Lebens
muͤde, gewaltſam zum Selbſtmord hingeſchleppt wird!
Der maͤchtige Reiz der Gichtmaterie liegt einige Tage
vor dem Ausbruch der Gichtanfaͤlle noch unthaͤtig, oh-
ne die geringſte Ungemaͤchlichkeit im Koͤrper; eben ſo
erregt er kurz vor ſeinem Ausbruche auf eine uns un-
bekannte Weiſe eine außerordentliche Eßluſt; wie
grauſam tobt er dann, wenn er die Haͤute des Magens
oder der Gedaͤrme befaͤllt! Alle Krankheiten, welche
zu beſtimmten Zeiten ihre Anfaͤlle machen, dieſe moͤgen
ihren Grund in einer beſondern Stimmung der Nerven,
D 2oder
[52] oder in einer eigentlichen Krankheitsmaterie haben,
hinterlaſſen in den Zwiſchenzeiten keine Spur von ih-
rer Gegenwart. Das Denkvermoͤgen wird nicht ſel-
ten, obſchon durch offenbar koͤrperliche Krankheitsur-
ſachen, dennoch ohne alles ſchmerzhafte oder unange-
nehme Gefuͤhl ſonderbar verruͤckt. Wahnſinnige und
Raſende empfinden allermeiſt keinen Schmerz weder
in dem Gehirne, noch in andern Theilen; und dennoch hat
man bei ſolchen Leuten Geſchwuͤre und andere Zerruͤttun-
gen im Gehirne gefunden; ſo wie man hingegen auch
nach dem Tode dergleichen Verletzungen endeckt hat,
obſchon dieſe Leute weder irgend eine Empfindung
noch ſonſt die geringſte Unordnung in ihren Gedanken
gehabt haben.
In dem dreytaͤgigen Schwitzfieber zerfließt der
Menſch ganz in einem kalten Schweiſe. Der Puls
wird ſchnell, klein, ſchwach, und alle Kraft geht
verlohren; nur der Geiſt bleibt vollkommen heiter,
und bemerkt genau den Verfall der Maſchine und
deren nahe Aufloͤſung.*)Burſery erzaͤhlt den Fall eines
eintaͤgigen Fiebers, welches den kalten Brand zur Fol-
ge hatte. (Ephemera gangrænoſa) Ehe ſich der Brand-
ſtoff auf den Schenkel warf, und noch im Koͤrper
herumſchweifte, ſpuͤrte der Kranke eine ungewoͤhnliche
und unwillkuͤhrliche Gelaͤufigkeit der Ideen; er hatte
eine glaͤnzende Beredſamkeit, ein bewunderungswuͤrdiges
Gedaͤchtniß, Scharfſinn, und durchdringenden Ver-
ſtand. Nebſtbey waren alle natuͤrlichen Verrichtungen
im vollkommenſten Zuſtande, bis er endlich am Brand
ſtarb.
[53] ſtarb.*) Die erſchroͤcklichſten Zufaͤlle der Waſſer-
ſcheuen, die grauſamſten brennenden Schmerzen im
Kopfe, im Munde, Gaumen, Schlunde und in der
Stelle des Bißes, die unertraͤgliche Bangigkeit und
Furcht, der unwiderſtehliche Trieb die Umſtehenden
zu beißen und anzuſpeyen, die Schroͤckbilder bey wa-
chendem ſowohl als ſchlafendem Zuſtande, die aufs
Hoͤchſte uͤberſpannte Reizbarkeit der Sinnen benehmen
doch dem ungluͤcklichen Kranken weder das Bewuſtſeyn
ſeiner ſelbſt, noch das Vermoͤgen vernuͤnftig zu den-
ken, und zu reden, noch den guten Willen, Nieman-
den zu ſchaden. Mehrere dergleichen Beyſpiele werde
ich im 2ten Theile anfuͤhren.
In den gefaͤhrlichſten Krankheiten laͤßt ſich zu-
weilen der Kranke ſchlechterdings nicht bereden, daß
er krank ſeye: Man ſolle ihn nur aus dem Bette laſ-
ſen, ſo werde er uns bald von ſeiner Geſundheit uͤber-
zeugen. Woher hat der Kranke dieſes Gefuͤhl von Kraft
und Wohlbefinden? Tiedemann ſagt: weil ſich in ſei-
nem Gehirne die Ideen eben ſo leicht und eben ſo leb-
haft bewegen, als bey voͤlliger Geſundheit. Pechlin
erzaͤhlt das Beyſpiel eines Knaben von einer uͤblen Leibes-
beſchaffenheit, der von Wuͤrmern ſehr geplagt war,
und einen ſolchen Hunger hatte, daß ihn die uͤbermaͤſ-
ſigſte Menge von Speiſen nicht ſaͤttigen konnte; dem-
ohngeachtet hatte dieſer Knabe waͤhrend ſeiner langen
Krankheit ein außerordentliches Gedaͤchtniß und ein
mehr als mittelmaͤßiges Genie; aber er berlohr bei-
des, ſobald ſeine Geſundheit hergeſtellt worden. Ein
an-
[54] anders erzaͤhlt er von einem Menſchen, der vom Schar-
bock uͤber und uͤber gefault mit der aͤußerſten Freßbe-
gierde die außerordentlichſten Gemuͤthskraͤfte verband,
und der erhabenſten und ſchoͤnſten Ideen auf eine faſt
unglaubliche Weiſe faͤhig geweſen. Hier muͤſſen ſich
die Ideen im kranken Zuſtande leichter und lebhafter
bewegt haben, als im geſunden. Aus dieſen Gruͤn-
den iſt ein heiterer Gemuͤthszuſtand zuweilen ein ſehr
boͤſes Zeichen, weil die Kraͤfte der Seele zunehmen,
wie die Kraͤfte des Leibes abnehmen, wie man dieſes
nicht ſelten bei Kindern beobachtet, welche oft in ihren
letzten Krankheiten am liebenswertheſten ſind. Zim-
mermann ſagt: 〟Man bemerkt zuweilen, daß bei der
Annaͤherung der Todesſtunde die Einbildungskraft auf
eine beſondere Art ſich erhoͤhet, und daß eben dieſe
Erhoͤhung ein Zeichen des Todes iſt. Ja, es geſchieht
oft, daß die Kranken ſelbſt, wider die Hofnung ihrer
Aerzte aus dieſer innern Empfindung die Zeit des To-
des zu beſtimmen wiſſen. Man beobachtet in kranken
Kindern eine widernatuͤrliche Gefaͤlligkeit in allen Din-
gen, einen Verſtand, der ſonſt nur die Frucht des
Studirens und der Erfahrung iſt, einen Witz und ei-
ne Beredſamkeit, die weit uͤber ihr Alter ſich erheben,
und das iſt ein Vorbote des Todes. Bey Leuten von
einem mittleren Alter iſt dieſe Erhoͤhung der Seelen-
kraͤfte groͤſſer, als bey mehreren Jahren. Sie aͤuſ-
ſert ſich oft unter der ſchwerſten Laſt der Krankheit
durch eine Beredſamkeit, die lebhaft, ruͤhrend und
natuͤrlich, dem harmoniſchen Geſang der ſtebenden
Schwanen, und den letzten Wuͤnſchen eines Patrio-
ten
[55] ten gleicht. Ich habe eine Perſon gekannt, derer letz-
te Krankheit ein Wahnwitz geweſen, die aber einige
Stunden vor ihrem Tode vollkommen vernuͤnftig, ihr
Herz mit einem ſolchen Feuer, mit einer ſo ſehr ent-
zuͤckenden Beredſamkeit im Gebete zu Gott erhub,
daß vor der Groͤſſe ihrer Gedanken und der Staͤrke
ihres Ausdruckes der Erdball wie ein Sandkorn zu
verſchwinden ſchien. Am Ende dieſer Rede neigte ſie
ihr Haupt, und ſtarb.〟*) Bei Perfect pflegte ſich
ein aufgewecktes, ſcharfſinniges junges Frauenzimmer
beym Anfall eines Wahnſinns ſehr oft in gebundener
Rede auszudruͤcken, ob man gleich in ihren geſunden
Tagen ſonſt nie eine beſondere Faͤhigkeit von dieſer
Art bey ihr bemerkt hatte.**)Van Swieten erzaͤhlt
ein aͤhnliches Beyſpiel von einer armen ſonſt dummen
Frau.***)Abilgaardin Act. Havn. T. II. erwaͤh-
net eines Terſianſiebers, wo der Patient vom drit-
ten Anfalle an eine Fluth von richtig gereimten Ver-
ſen ausſtieß. Dieß dauerte ſo lange, als der Paro-
xismus waͤhrte. Es wurde mit Teufelsdreck und Am-
moni e ummi geholfen. Scheidemantel hat in ei-
nem alltaͤglichen Fieber eine erhoͤhete Einbildungskraft
mit einer in dem gleichen Verhaͤltniſſe zunehmenden
Schwatzhaftigkeit bemerkt.****) Ich hatte einen
Freund, der ſonſt im Latein nicht ſonderlich fertig
war, aber jedesmal im Rauſche mit bewunderungs-
wuͤr-
[56] wuͤrdiger, fließender Beredſamkeit, auch wo er vor
Taumel ganz ſeiner unbewuſt auf dem Boden hinge-
ſtreckt lag, ganze Stunden lang unter Hoͤrcheln und
Keuchen ſehr kraftvolle, ſittliche Reden hielt. Dieſer
Art Beyſpiele ſind nichts beſonders. Aber, daß man
in was immer fuͤr einer Art von Entzuͤckung fremde
Sprachen ſpreche, wie dieſes ganz neue Schriftſteller
annehmen,*) dieſes iſt mit ſamt allen daher abge-
leiteten Folgen nicht nur gegen alle wohlgepruͤfte Er-
fahrung, ſondern auch natuͤrlicher Weiſe ſchlechter-
dings unmoͤglich. Bey dem italiaͤniſchen Schulmeiſter,
wovon Kämpf aus dem Erasmus Rotterdam erzaͤhlt,
der kein Wort Deutſch verſtand, und dennoch ploͤtzlich
in dieſer Sprache zu peroriren anfieng, war ohne
Zweifel das rauhe, raſche, unharmoniſche Geſchrey,
dem Nationalvorurtheile zufolge der einzige Beweis,
daß der Schulmeiſter Deutſch ſpreche. Der Abgang
von Wuͤrmern benahm ihm ſeine Beredſamkeit wie-
der. Kämpf ſah ein geſchwaͤziges, fuͤnfzehnjaͤhriges
Judenmaͤdchen durch eine Anhaͤufung von Wurmſchleim
voͤllig ſprachlos werden. Sie fieberte, und war an-
fangs betaͤubt; hernach aber ward ſie nur allzu mun-
ter, und plauderte in einen Athem weg; es waren
aber, ſagt er, unverſtaͤndliche Worte, die einige fuͤr
arabiſch, andere fuͤr ſyriſch hielten. Endlich verlor
ſie die Stimme, ſie kehrte ſich aber nicht daran, ſon-
dern ſie bewegte die Lippen und Zunge mit der naͤm-
lichen Fertigkeit noch immer fort. Haͤufige durch
Kly-
[57] Klyſtire bewerkſtelligte Abgaͤnge eines zaͤhen Mora-
ſtes, loͤſeten ihr die Zunge, und machten ſie geſund.
*) — Sprachen ſind wandelbare Toͤne, deren Bedeu-
kung willkuͤhrlich iſt; keine in der Natur gegruͤndete
Wahrheiten; ſie koͤnnen alſo auf keinerley Weiſe von
irgend einer Geiſteserhoͤhung erkannt werden. Aber
eine Sprache, in der man keine Uebung hat, im
Rauſche oder ſonſt einer Veranlaſſung mit einer ge-
wiſſen Fertigkeit ſprechen, iſt eben ſo natuͤrlich, als
daß der Wohlredner aus aͤhnlichen Urſachen ein elen-
der Stammler wird. — In der gebundenen Rede
herrſchen gewiſſe Geſetze des Silbenmaßes, vermoͤg
welcher ſowohl in Ruͤckſicht der Zeit, als des Ein-
klanges ein harmoniſcher Gang beobachtet werden
muß. So haben ſogar das Geſchrey und der Geſang
der Thiere einen gewiſſen Fall, der auf einem allge-
meinen Tongeſetze beruht. Daher ſind Verſe und
Reime, die ohnehin ſelten ſo regelmaͤßig ausfallen
werden, keine unerklaͤrbare Erſcheinung.
In allen dieſen Faͤllen koͤmmt alles darauf an,
welche Theile, theils des Gehirns, theils des uͤbri-
gen Koͤrpers, wie ſie, und durch welche Art von
Reiz ſie veraͤndert werden. Diejenigen, die vom
Triebe zum Selbſtmord verfolgt werden,**) die
Wahnſinnigen, und die Raſenden in und auſſer hitzi-
gen Krankheiten beſitzen bey all der gewaltigen Zer-
ruͤt-
[58] ruͤttung ihrer Gemuͤths- und Geiſteseigenſchaften die
Gabe der Verſtellung in ſo hohem Grade, daß man
ihnen bey allem Anſchein von Ruh und Sanftmuth
dennoch nie trauen darf. Dieſes war der Fall in
dem 36ten Kranken bey Perfect, und mancher Arzt
und Krankenwaͤrter iſt dadurch zu ſeinem oder des
Kranken Nachtheil getaͤuſchet worden.
Ein aͤhnlicher Grund mag es auch ſeyn,
daß es einigen Krankheiten eigen iſt, den Muth
des Kranken bis auf den letzten Othemzug uner-
ſchuͤttert zu erhalten, da ihn hingegen andere beym
erſten Angriff ſo ſehr niederſchlagen, daß ihn nichts
mehr aufrichten kann. Wie gelaſſen ſind die ſo
ſelten heilbaren Waſſerſuͤchtigen! wie taͤuſchend
iſt die Hofnung der Lungenſuͤchtigen! Was fuͤr
ſchlimme Streiche verſetzt uns hingegen die Muth-
loſigkeit in gewiſſen Zeitraͤumen der Gall- und
Faulſieber, der Nervenſieber, wo doch die Gefahr
bey weitem nicht allemal ſo zuverlaͤßig iſt! Zu den
Anfaͤllen der hyſteriſchen Krankheit, ſo wenig ſie ge-
faͤhrlich iſt, geſellet ſich doch manchmal eine große
Furcht zu ſterben, und ſie glauben oft, wenn ſie die
Ohnmachten und Zuckungen mit Herzklopfen anwandeln,
daß ſie augenblicklich ſterben werden. Wer erklaͤrt
jene gewiſſenhafte Selbſtbeſchuldigung, welche das
Luſtſeuchengift zu hinterlaſſen ſcheint? Warum will
Heute der Hypochonder aus Verzagtheit und Lebens-
uͤberdruß nichts vom Arzte und nichts von Arzneyen
wiſſen, da er ihn Morgen aufs puͤnktlichſte fuͤr jeden
ſind
[59] Wind, fuͤr die unbedeutendſte Kleinigkeit dringend
um Hilfe anfleht?
Hieher gehoͤren einige vortrefliche Bemerkungen
von Klökhof.„ Sollte ein zu leichtes Faßen der Ideen,
ſagt er, eine ſchwelgeriſche Einbildungskraft, eine
fluͤchtige, oder auch figirte Aufmerkſamkeit heftige
und haͤufige Gemuͤthsbewegungen, ſchreckliche Vor-
ſtellungen und Gedanken, eine ausſchweifende Freu-
de, oder eine uͤbermaͤßige Bewunderung erzeugender
Vorſtellungen und Gedanken — Erſcheinungen, die,
wie wir geſehen haben, Folgen einer Schwaͤche, (und
erhoͤheten Reitzbarkeit) des Gehirnmarks ſind — ſoll-
ten dieſe nicht hinreichend genug ſeyn, die ungewoͤhn-
lichen Schwuͤnge des Geiſtes, die man bisweilen bey
Kranken und ſterbenden bewundert, zu erklaͤren?“ —
Hier fuͤhrt Klöckhof den Aretäus von Capadocien
an, der nach dem Cicero (de divinatione lib. I. cap.XXX.
dieſe widernatuͤrliche Geiſtesſchwuͤnge, freylich noch
mit manchem untermiſchten Vorurtheil geſchildert hat.
Er ſagt: Wenn bey einem hitzigen Fieber auf eine
toͤdtliche Kaͤlte eine uͤberaus groſſe Hitze folgt, ſo ent-
ſteht eine ungewoͤhnliche Geſetztheit des Geiſtes; alle
Empfindungen erreichen einen hohen Grad der Fein-
heit, der Verſtand wird uͤberaus ſcharf, und der
Menſch faͤngt an, zu weiſſagen. Zuerſt ſagen der-
gleichen Kranke ihren Tod voraus, und dann verkuͤn-
digen ſie zukuͤnftige Dinge. Manche wollen biswei-
len das, was ſie ſagen, nicht glauben, aber der rich-
tige Erfolg deſſelben ſetzt ſie in Erſtaunen. Einige
von ihnen fuͤhren ſogar Geſpraͤche mit Verſtorbenen.
Viel-
[60] Vielleicht ſehen ſie entweder ganz allein, vermoͤge der
auſſerordentlichen Feinheit ihrer Empfindung, dieſel-
ben gegenwaͤrtig: oder ihr ganz entfeſelter Geiſt ver-
mag die Maͤnner, mit denen er in jenen ſeligen Ge-
ſilden bald Umgang pflegen wird, zu erkennen, und
ſich ſchon im Voraus mit ihnen zu unterhalten. Die-
ſes vermochten ſie freylich nicht, als ihr Geiſt noch
mit dicken Saͤften und mitternaͤchtlichen Schatten um-
huͤllt war: aber nun, da durch die Krankheit jene
aufgeloͤſet und dieſe zerſtreut worden ſind, erhebet ſich
ihr Geiſt mit ungewoͤhnlicher Kraft, dringt durch
den dichten Schleier der Zukunft, und verkuͤndigt mit
Gewißheit, was den Augen der uͤbrigen Sterblichen
verborgen iſt. Allein, die, deren Saͤfte und Geiſtes-
kraͤfte, auf einen ſo hohen Grad verfeinert ſind, pfle-
gen nicht mehr lange zu leben, indem ihre Lebenskraft
ſchon in die Luft verflogen iſt.〟 — Dieſe durch Krank-
heit bewerkſtelligte Deſorganiſation iſt ein Beweis, daß
es zu allen Zeiten Schwaͤrmer in dieſem Fache gegeben
habe, und daß die Schwaͤrmereyen der heutigen Adep-
ten nichts anders ſind, als Ausfluͤſſe der ehemaligen
mangelhaften Kenntniß von den Eigenſchaften der Koͤr-
perwelt. 〟Wenigſtens, faͤhrt nun Kloeckhof fort, ſind
hier viele Urſachen vorhanden, welche die Faͤßerchen
des Gehirnmarkes ſchwaͤchen, und uͤberaus reitzbar ma-
chen. Dann ſind auch Veranlaſſungen zu den ange-
fuͤhrten Folgen vorhanden; und dieſe Veranlaſſungen
beſtehen in den erhabnen Betrachtungen, mit welchen
Sterbende immer beſchaͤftigt zu ſeyn pflegen. Es wird
aber unſere Meinung dadurch noch wahrſcheinlicher,
daß
[61] daß Kranke, bey denen ſich eine ſolche Erhebung des
Geiſtes findet, oft der Raſerey ſehr nahe ſind.
Denn diejenigen, welche in der Fieberhitze uͤber-
aus vernuͤnftig ſprechen, miſchen doch ungereimte
Gedanken ein, und wiſſen, wenn das Fieber vor-
bey iſt, nichts von allem dem, was ſie gethan ha-
ben, oder was vorgegangen iſt. Daher ſcheint die
ungemeine Fruchtbarkeit an Ideen und Gedanken,
nebſt der Lebhaftigkeit und Staͤrke des Ausdruckes,
wodurch ſich Sterbende oft ſehr auszeichnen und be-
wundern machen, von eben derſelben Urſache herzuruͤh-
ren, von welcher die an dieſe Geiſtesſchwuͤnge angraͤn-
zende Raſerey und Gedaͤchtnißſchwaͤche zu entſtehen
pflegen. Kranke, die, wenn ſich das Ende ihres Le-
bens nahet, noch mit vieler Beredſamkeit reden, und
durch den Flug ihrer Gedanken die Umſtehenden ins
Erſtaunen ſetzen, empfinden oft ſelbſt die Nothwen-
digkeit, dem raſchen Strom ihrer Ideen Einhalt zu
thun, um nicht in Raſerey zu fallen. Es giebt aber
ſehr viele koͤrperliche Zuſtaͤnde, welche zur Hervorbrin-
gung einer ſo groſſen Revolution in den Geiſteskraͤf-
ten beytragen koͤnnen.〟
〟Daß eine ſolche ungewoͤhnliche Erhebung des
Geiſtes keine Wirkung uͤbernatuͤrlicher Kraͤfte, — (und
eben ſo wenig einer von ihren Feſſeln befreyten See-
le,) — ſondern das natuͤrliche Werk einer beſondern Ver-
ſtimmung menſchlicher und alſo natuͤrlicher Kraͤfte iſt,
beweiſen die Bemerkungen: Daß Sterbende, welche
ſich durch die Lebhaftigkeit und Hoͤhe ihrer Ideen, und
durch das himmliſche Feuer ihrer heiligen Leidenſchaften
uͤber
[62] uͤber die Sphaͤre der menſchlichen Natur zu erheben
ſcheinen, dennoch oft noch mit alten Irrthuͤmmern be-
mackelt ſind; und daß diejenigen, um deren Sittlich-
keit es eben nicht allzu gut ſteht, bisweilen in ihren
letzten Augenblicken uͤberaus freudig ſind, und ſo zu
ſagen, entzuͤckungsvoll den Himmel ſchon offen ſehen,
und Rechtſchaffene hingegen bisweilen von der groͤßten
Bangigkeit gefoltert werden.〟
§. 19.
Aus dieſen Erfahrungen ziehe ich drey Folge-
rungsſaͤze. Erſtlich: Daß koͤrperliche Veraͤnderungen
in uns vorgehen koͤnnen, wodurch das Gefuͤhl von
Kraft oder Schwaͤche, von Dauerbarkeit oder Aufloͤ-
ſung erregt wird, ohne daß wir weder uns, noch einem
andern den Grund anzugeben im Stande ſind. Zwei-
tens: Daß dieſe Gefuͤhle jedesmahl von ſolchen koͤrper-
lichen Veraͤnderungen abhangen, und folglich nicht
anderſt, als, als mittelbare Vorherſehungen betrach-
tet werden muͤſſen. Drittens: Daß es bisher noch
kein Merkmal gebe, mittelſt deſſen man erkennen kann,
wann der Erfolg dieſem Gefuͤhl entſprochen, oder
wann er es vereitlen wird. — Zur Beſtaͤttigung fuͤhre
ich noch Folgendes an:
Junge oder im mittleren Alter begriffene Leu-
te, die einer erhoͤhten Einbildungskraft faͤhig ſind,
vorzuͤglich die Sanguiniſchen und Melancholiſchen geben
ſich in Krankheiten mit der Weiſſagung ihres Todes
ab. Ein an Lungengeſchwuͤren unter entſetzlichen Ban-
gigkeiten kaͤmpfendes vierzigjaͤhriges Frauenzimmer be-
ſtimm-
[63] ſtimmte mir den Tag ihres Todes acht Tage zum vor-
aus, obſchon ich ihr noch ſechs Wochen Friſt verſprach.
Zu Ende des achten Tages berſtete ihr ein Eiterbeutel,
an dem ſie erſtickte. Nach langem Forſchen geſtand
mir ihre Mutter, daß der Beichtvater auf ihr drin-
gendes Bitten, ihr die acht Tage vorgeſagt habe. Ob
nun dieſer Mann eine genauere Kenntniß von der Ge-
fahr hatte, als ich; ob die angſtvolle Erwartung das
Berſten des Eiterbeutels befoͤrdert habe; oder ob er
blos zufaͤllig geborſten ſey, iſt nun gleichguͤltig. Ein
Bischen Hang zum Wunderbaren haͤtte Stoff genug ge-
habt, dieſe Geſchichte als ein Beyſpiel einer Vorher-
ſehung aufzuſtellen. Die Frau, deren Krankengeſchich-
te im 2 Kap. erzaͤhlt wird, verharrte, vom erſten Tag
ihrer Krankheit bis den zwoͤlften, darauf, daß ſie den
eilften ſterben muͤſſe. — Sie kam dennoch davon.
Wie entſchuldigt man aber die Seele, wenn
ſie unmoͤgliche, ungereimte Dinge vorſieht? — Franz
Jeſtel, ein 36 jaͤhriger Mann, der ſchon einigemal
Blutſpeyen hatte, und uͤberhaupt zur Lungenſucht ge-
baut war, bekam im Jaͤnner 1791 nach lang anhal-
tendem naßkaltem Wetter allerley Unpaͤßlichkeiten, und
ſein gewoͤhnliches Blutſpeyen, weßwegen er ſich zur
Ader ließ, aber ſchlimmer wurde. Den ſechſten Tag
ſah ich ihn zum erſtenmal, und fand außer einem aus-
ſetzenden Pulſe und einer ſchmaͤchtigen Leibesbeſchaf-
fenheit eigentlich nichts bedenkliches, als daß er un-
gewoͤhnlich matt war. Den achten Tag auf die Nacht
verfiel er in eine ihm unbeſchreibliche Verlegenheit.
Er war ſich ganz gegenwaͤrtig, konnte ſich des Ver-
gan-
[64] gangenen erinnern; kannte, ſah, hoͤrte und fuͤhlte al-
les, was um ihn herum war; er ſprach vernuͤnftig
von der Zukunft, inſofern ſie ſeine Haußgeſchaͤften be-
traf; er legte ſich, kehrte ſich um, richtete ſich auf
alles nach meinem Begehren. Dennoch ſah er im
Geſichte verloren aus, als wenn er in das tiefeſte
Nachdenken, ohne ſeinen Gegenſtand erreichen zu koͤn-
nen, verſunken waͤre. Als ich ihn darum befragte,
antwortete er: Man hat mir etwas in den Kopf ge-
ſetzt, das mir ſchwer auf dem Herzen liegt; wenn mir
nur ein Menſch auf Gottes Erdboden das benehmen
koͤnnte, ſo waͤre ich geſund. Ich drang in ihn, ſich
zu erklaͤren. Allein es war ihm unmoͤglich, ſich der
Sache zu erinnern. Er ſann nach mit ſtarren Augen,
wiſchte die Stirne; machte mit den Haͤnden die Ge-
berden der aͤußerſten Verlegenheit; wollte reden,
ſtockte wieder, und brach endlich uͤber Klagen ſeines
jaͤmmerlichen Zuſtandes aus. Ich fragte ihn, ob ihm
bang, ſchwer waͤre? Nein. Ob ihm etwas weh thue?
Nein. Obs ihm kalt oder heiß ſeye? Nichts, gar
nichts, als daß er ſich der Sache, die ihn ſo kraͤnket,
nicht erinnern kann. Ob er fuͤrchte, daß er ſterben
muͤſſe? O nein; aber jezt, ſagt er eilends, wills kom-
men; er oͤffnete den Mund, um es zu ſagen und wu-
ſte es nicht. So etwas von Gleichheit und Ungleich-
heit; ſchwieg und machte wieder die vorigen Geber-
den. Sein Puls war doppelt ſchlagend, doch ſo,
daß er nicht ſo weich war, wie wenn er Schweiß ver-
kuͤndigt; vorzuͤglich war der Nachſchlag geſchnuͤrt,
ſetzte aus. Sie haben geſagt, ſagte ich, es liege ih-
nen
[65] nen auf dem Herzen? — Ja, bald iſts im Herzen, bald
im Kopf, und iſt immer einerley — Iſts Angſt? —
’s will kommen — Nicht wahr, Sie fuͤrchten, ſie werden
ſterben? — Jetzt hab ichs! Ich kann nie ſterben, und
ſagen ſie mir, ob dann kein Mittel iſt, daß es gleich
ſeyn koͤnnte? — Dazu iſt noch Zeit, ſie muͤſſen zuvor
wieder geſund werden — Aber warum ſoll ich denn
ewig leben? — Ehe ſie zum ewigen Leben kommen,
muͤſſen ſie ſterben — Ich will jetzt gleich ſterben —
Sagen ſie mir, haben ſie ihre Frau und Kinder lieb?
Sehen ſie wie ihre Frau um ſie weint? — O ja, ich
habe ſie recht lieb. — Wenn ſie alſo gleich geſund
ſeyn koͤnnten, oder gleich ſterben ſollten, was waͤre ih-
nen lieber? — Ich probirte’s Sterben. — Iſt denn ſo
was Gutes ums Sterben—Juſt nicht: Aber ewig, ewig
leben, fuͤnf-ſechshundert Jahr zu leben, und nach-
her noch immer einerley, das iſt erſchroͤcklich! — Seyen
ſie unbekuͤmmert; ſie ſind krank, und da hat man al-
lerley Einbildungen, wie im Traume — Ach nein,
ich bin nicht krank, mir iſt alles wohl, nur daß ich
nicht ſterben kann! — — Dieſer Zuſtand blieb bis
den andern Tag um Mittag der naͤmliche, wo uͤber
den ganzen Koͤrper ein außerordentlich haͤufiger katharr-
haliſcher blutrother Ausſchlag, mit laͤnglichten Schnit-
ten in der Mitte, ausbrach, und die Augen wie ein
Stuͤck Fleiſch ganz von Blut ſtrotzten, worauf er auf
einige Zeit zu ſich kam.*) Es iſt alſo ein Bischen
ſcharfe Feuchtigkeit, die den Menſchen zum Wahrſa-
ger
Gall I. Band. E
[66] ger und zum Narren macht! — Folglich ſind dergleichen
Vorherſehungen bei weitem nicht ſo gemein, als es
die Seelenliebhaber wuͤnſchen.
§. 20.
Faͤlle, in welchen Vorherſehung ſtatt hat.
Unter diejenigen Faͤlle, worinn manchmal Vor-
herſehungen ſtatt haben, zaͤhlt Plattner §. 786 fol-
gende: Von der Abnahm oder Vernichtung, oder auch
von der langen Dauer eines jezt entſtehenden Schmer-
zens; von kommender Mattigkeit, oder Munterkeit;
von Ohnmacht und Schwindel; von Blutfluͤſſen; von
beginnenden Ausleerungen des Magens, des Maſtdar-
mes, der Harnblaſe, der Zeugungstheile; von dem
bevorſtehenden Abgang der zeitigen oder unzeitigen Lei-
besfrucht; von dem Grade und der Dauer jetzt erreg-
ter Empfindungen des Hungers und Durſtes; von den
Gefuͤhlen der Erſaͤttigung und Behaglichkeit, welche
nach dem voͤlligen Genuße folgen werden; von dem
Abgange ſchadhafter Materien und fremder Koͤrper,
beſonders in Eiterungen; von allerley Arten der Er-
leichterung und von der Wiedergeneſung ſelbſt. Alle
dieſe Vorherſehungen gehen ſelten uͤber Minuten hoͤch-
ſtens Stunden hinaus.
§. 787. Minder gemein ſind Vorherſehungen von
Gichtanfaͤllen, von epileptiſchen Anfaͤllen von beſondern
noch nie erfahrnen bald guten, bald ſchlimmen Veraͤnde-
rungen in allerley ſonderbaren Nervenkrankheiten, vom
Schlagfluß, Nervenſchlage, Gliederlaͤhmung, und
ſelbſt von ploͤtzlichen Streichen des Todes. Dieſe Vor-
herſe-
[67] herſehungen reichen, zum theil mit der puͤnktlichen
[Beſtimmung] der Zeit, hinaus auf mehrere Tage. Aber
ſo wie Plattner dieſe §. 787. vorzuͤglich der Einbil-
dungskraft zuſchreibt, ſo halte ich jene §. 786. mehr
fuͤr die Folge eines empfundenen Dranges, einer an-
fangenden Verſchlimmerung oder Erleichterung des Um-
ſtandes, als fuͤr eigentliche Vorherſehungen. So ſtarb
die 31 Kranke bey Perfect*) an Erſtickung, wie ſie
ſichs immer gewunſchen hatte; allein ſie hatte ſchon
oͤftere Anfaͤlle erlitten, und empfand wahrſcheinlich
beim Eintritt der Erſtickung eine Betaͤubung oder Er-
leichterung der andern Zufaͤlle. Wie ſehr der ganze
Koͤrper zerruͤttet war, beweiſet die Leichenoͤffnung.
Ich weis auch von einigen, die am Schlagfluſſe ſtar-
ben, welche Todesart ſie ſich gewunſchen haben.
Wo aber hie und da eine deutliche Vorherſe-
hung mit Bewuſtſeyn des zukuͤnftigen Zuſtandes ſtatt
hat, da haben, wie Plattner richtig ſagt, hoͤchſt wahr-
ſcheinlich die Faͤlle mit vormaligen eine Aehnlichkeit,
daß heißt: die jezige Empfindungsreihe, deren Ende
die Seele jezt vorherſieht, iſt ſchon vorher einmal oder
mehrmal in der Seele rege geweſen; und dann laͤſt
ſich die Gabe der Vorherſehung aus den bekannten
pſychologiſchen Erfahrungsſaͤzen von der Ideenverbin-
dung, und aus der damit zuſammenhangenden Erwar-
tung der Aehnlichkeit des Endes bey der Aehnlichkeit
des Anfanges erklaͤren.
Den angefuͤhrten Faͤllen fuͤge ich noch das nach-
laſſende Schlaffieber der Greiſe bey (Febris remittens
E 2ſoporo-
[68]ſoporoſa ſenum). Die Kranken haben anfaͤnglich
gar keinen Zufall, der die groſſe Gefahr deutlich zu
erkennen gaͤbe; dennoch ſind ſie hoͤchſtens bey der
allererſten Ungemaͤchlichkeit zum Gebrauch der Arz-
neien geneigt. Sobald ſich das Uibel einigerma-
ßen deutlicher entwickelt hat, ſo fangen ſie an, alle
Hilfe fuͤr uͤberfluͤſſig zu erklaͤren, legen ſich ruhig auf
die Seite, und verſchlafen die meiſte Zeit. Indeſſen
machen ſie alle Anſtalten zu einem ſichern Tode, von
dem ſie ein ganz unwiderſtehliches Vorgefuͤhl haben.
Dieſes habe ich bey zwey dergleichen Kranken zu mei-
nem Leidweſen ruhig anſehen muͤſſen, und wuͤrde es
noch nicht erklaͤren koͤnnen, wenn mich nicht nachher
Le Roi und Burſery darauf aufmerkſam gemacht haͤt-
ten.*)
§. 21.
Von den Traͤumen, in wiefern ſie Krankheit,
Geneſung oder den Tod ankuͤnden.
Selbſt im Traume nimmt man dieſe Vorherſe-
hungskraft an; ja, man traut ihr ſogar mehr Wahr-
ſagungsgeiſt zu, als im wachenden Zuſtande. Tiede-
mann ſagt: “Mancher traͤumt, er werde noch zehn
oder mehrere Jahre leben, und er lebt noch zehn Jah-
re: Iſt auch dieſes natuͤrlich? ich ſehe nicht, warum
nicht. Wer ſeinen Koͤrper genau kennt, und ſich da-
bey nicht von der Begierde zum Leben taͤuſchen laͤßt,
kann ſich mit groſſer Wahrſcheinlichkeit eine gewiſſe
Zeit von Lebensjahren vorher feſtſetzen. Warum
ſollte dieſes auch nicht in Traͤumen geſchehen koͤnnen?
Wa-
[69] Warum ſollte nicht hier die Seele aus gewiſſen gehei-
men Gefuͤhlen von der Staͤrke und Schwaͤche ihrer
Werkzeuge ſich die Dauer des Lebens beſtimmter,
als ſelbſt im Wachen feſtſetzen koͤnnen? Wenn man
hiezu noch nimmt, daß ſolche Traͤume ſehr ſelten ſind,
daß ſie ſehr oft nicht eintreffen, und daß man die be-
truͤgenden nicht gerne erzaͤhlt, weil man nicht gerne
betrogen ſeyn will; daß man folglich gegen einen er-
fuͤllten mehr als hundert verſchwiegene nicht erfuͤllte
Traͤume ſetzen kann: ſo ſehe ich auch hierinn nichts
uͤbernatuͤrliches. — — Weil die von dem Geraͤuſche
der Sinne befreyte Seele diejenigen Diſpoſitionen vor-
her in ſich fuͤhlen kann, die zur Krankheit oder Ge-
ſundheit leiten; daher wird der Kranke geſund, dem
es traͤumte, daß er geſund werden wird, und dem es
traͤumte, daß er ſterben wird, der ſtirbt. Auch oh-
ne zu traͤumen koͤnnen wir oft lange vorher fuͤhlen,
ob wir krank werden, oder, wenn wir krank ſind,
ob wir werden geſund werden; wie viel mehr muß
nicht das im Traume geſchehen koͤnnen? Nicht nur,
daß wir krank oder geſund werden, ſondern auch
wann wir es werden ſollen, koͤnnen wir aus phyſi-
ſchen Urſachen vorher empfinden. — Diejenigen, die
gewiſſen Krankheiten oft unterworfen ſind, ſagen ge-
meiniglich vorher, wann ſie wiederkommen, und
wann ſie weggehen werden.„*) Die Einbildungs-
kraft, die aͤngſtliche oder frohe Erwartung, die
Macht des Glaubens tragen ohne Zweifel allermeiſt
das meiſte bey. “Ein Menſch traͤumt; du wirſt an
dem
[70] dem und dem Tage ſterben, und ſiehe, er ſtirbt,
weil er ſich einbildet, ſterben zu muͤſſen. Ein Kranker
traͤumt: Du ſollſt geſund werden, und er wird es,
weil er glaubte, es werden zu muͤſſen.„. In den Eph.
N. C. wird von einem Schuſterbuben erzaͤhlt, der
nach einem ſchlimmen Faulfieber taub nnd ſtumm
blieb. Nach zwey Jahren ſchlugen ihm ſeine Kame-
raden mehrere Loͤcher in den Kopf. Waͤhrend daß
die Wunden heilten, bekam er ein gewaltiges Sauſen
in den Ohren; nun traͤumte er, er habe das Gehoͤr
und die Sprache wieder bekommen — und dieſes ge-
ſchahe auch. — Das Ohrenſauſen hatte die Vorſtel-
lung vom Gehoͤr lebhaft rege gemacht; mit dieſer
hiengen die Vorſtellungen von der Sprache unmittel-
bar zuſammen; uͤbrigens iſt es in dieſem Falle offen-
bar, daß der Kranke im Kopfe und in den Sprach-
werkzeugen nach und nach eine gewiſſe Leichtigkeit muͤſ-
ſe empfunden haben, wodurch der Traum eben ſo
natuͤrlich veranlaßt worden iſt, als ein Kranker von
rothen Schlangen traͤumt, wenn ein Naſenbluten,
oder vom Baade, wenn ein ſtarker Schweiß im An-
zuge iſt. Galen erzaͤhlt von einem, der traͤumte, es
waͤre ihm ſein Fuß zu Stein geworden; und bald her-
nach wurde er am naͤmlichen Fuſſe gelaͤhmt. Ein an-
derer traͤumte, er ſtuͤnde in einer Ziſterne bis uͤber
den Hals im Blute; daraus urtheilte Galen, daß
dieſer Menſch einen Uiberfluß an Blut habe. “Einige,
ſagt er, glaubten kurz vor entſcheidenden Schweiſen,
daß ſie in warmem Waſſer ſchwaͤmmen. Eben ſo
ſind diejenigen, die von heſtigem Durſt, unerſaͤttli-
chen
[71] chem Hunger, und bruͤnſtiger Liebe traͤumen, des Trun-
kes, der Nahrung und des Liebesgenuſſes beduͤrftig.
Die kein Uibermaß von Saͤften, oder einen ſehr un-
gehinderten Umlauf derſelben haben, traͤumen von
Springen und Fliegen; denen es duͤnkt, als giengen
ſie im Koth herum, die haben ſtinkenden faulen Un-
rath im Leibe.„ Uiberhaupt halten Hyppokrates und
Galen jene Traͤume in Krankheiten fuͤr gute Anzeigen,
welche die gewohnten Verrichtungen, die ſonſt ange-
nehmſten Dinge, betreffen, z. B. wenn der Kranke
auf gruͤnen Fluren wandelt; weiß gekleidete Leute,
glaͤnzende Gegenſtaͤnde, Sonne, Mond u. d. gl. ſieht.
*) In dieſer Ruͤckſicht ſind allerdings Traͤume nicht
außeracht zu laſſen. Je mehr die innern Verrichtun-
gen in Feſeln liegen, deſto ſchwerere, muͤhſamere
Traͤume werden dadurch erregt; wir liegen in Un-
tiefen, unter Schutt begraben; werden uͤber Felſen
und Thaͤler hingeſchleudert; waden in tiefem Sande —
Und ſo, wie ſich die Bande loͤſen, ſo entfernen ſich
auch die Hinderniſſen im Traume. Wer darauf auf-
merkſam ſeyn will, kann ſich davon bey jedem ſchwer
Darniederliegenden, beſonders um die entſcheidenden
Zeiten uͤberzeugen. Daß Hipp. und Galenus in
Ruͤckſicht des Antheils der Seele alles von Wort zu
Wort geſagt haben, was unſere Pſychologen ſagen,
beweiſen die unten angefuͤhrten zwey Stellen. **) Ich
wer-
[72] werde in der Folge, beſonders in dem Kapitel von
den Entſcheidungen mehrere Thatbeweiſe anfuͤhren, um
den Nutzen dieſer Art Traͤume zu beſtaͤttigen. Schluͤß-
lich gebe ich hier den Rath, den mir einſtens einer
meiner weiſeſten Lehrer gab: Sich nie um die Erklaͤ-
rung einer Sache den Kopf zu brechen, bis man
von der Wahrheit und der Beſchaffenheit derſelben
genau unterrichtet iſt. Sehr merkwuͤrdige Beyſpiele,
wie ſolche Faͤlle zu pruͤfen ſind, wird man bey Tie-
demann und andern finden.
§. 22.
Vorboten einiger Krankheiten.
Den Aerzten ſind zwar mehrere dergleichen
Vorboten, oder Vorgefuͤhle bekannt. Dennoch
wuͤnſchten die Philoſophen, daß ſie aufmerkſamer da-
rauf ſeyn moͤchten. Helmont*) hat einige vortrefliche
Bemerkungen. “Ich habe bemerkt, ſagt er, daß
bey den Verruͤckten zuerſt das Gedaͤchtniß wanket, daß
darauf eine wieder Willen emporkommende, und un-
aufhoͤrliche Vorſtellung einer einzigen Sache erfolgt. —
Ich habe einige Verruͤckte genau gefragt, und erfah-
ren
**)
[73] ren, daß eine dunkle Vorſtellung, ein geheimer Reiz
zur Raſerey von den Hypochondrien emporſteige; daß
dieſe Idee ſie anfangs wieder ihren Willen beherrſchte,
bis ſie endlich die voͤllige Herrſchaft erlangt haͤtte.
Wenn ſie wieder zu ſich kamen, wuſten ſie von al-
lem vorgefallenen nichts. Sie beklagten ſich, daß ſie
zuerſt aller vernuͤnftigen Folge der Gedanken beraubt
wuͤrden; daß ſie darauf auf eine einzige Idee feſt ge-
heftet wuͤrden, außer der ſie nichts denken koͤnnten;
daß mit dieſer Idee Traurigkeit, unangenehme Em-
pfindung verbunden waͤre. — Sie daͤchten dieſe Idee
nicht anderſt, als ob ſie ſie im Spiegel allzeit ange-
ſchauet haͤtten. Ja ſie wuͤſten nicht, daß ſie alsdann
dieß daͤchten, ob ſie gleich ſo ſteif daran daͤchten, daß
ſie ganze Tage hindurch ohne alle Ermuͤdung ſtehen
blieben, wenn ſie beym Anfall der Raſerey gerade im
Stehen begriffen waͤren, ohne daß ſie wiſſen, daß ſie
ſtuͤnden. — Einige beklagen ſich, daß ſie bey Entſte-
hung des Paroxismus von einer Menge unwillkuͤhrli-
cher und widerlicher Gedanken befallen wuͤrden, wie
von einem von unten aufſteigenden Rauche; daß, wenn
ſie ſich bemuͤheten, dieſen Strom durch Raiſonnement
zu unterdruͤcken, er dennoch eben ſo heftig und eben
ſo unwillkuͤhrlich zuruͤckkehre.„ — Bey andern gieng
eine ſolche Schwaͤche des Gedaͤchtnißes voraus, daß ſie
alles auf der Stelle vergaßen, was ſie eben zu ver-
richten unternahmen. Foreſtus erzaͤhlt von einem jun-
gen Menſchen, der, wenn er den Nachttopf ergriff,
ihn in der Hand behielt, ohne ihn zu gebrauchen;
und wenn er ſich ſonſt entledigen wollte, ſo wuſte er
gleich
[74] gleich hernach von nichts mehr. Er verſtel darauf in
eine voͤllige Wuth, ſo, daß man ihn an Ketten legen
muſte.*) — Crech commantirte den Lucrez, und er
empfand dabey eine ſo toͤdende Langweiſe, daß er auf
das Manuſcript ſchrieb: NB. Ich werde mich erhenken
muͤſſen, wenn ich dieſen Comentarium geendet habe.„.
Er hat ſich wirklich ſelbſt getoͤdtet nach dem Beiſpiele
ſeines Schriftſtellers. Die Empfindungen im Kopfe,
beſonders im Vorderhaupt, die beſondere Art von
Kopfſchmerz verbunden mit gewißen unangenehmen Ge-
fuͤhlen von zu vielem Nachdenken, die anwandelnden
Uiblichkeiten, das Feuerſehen, worauf bei fortgeſetz-
ter Anſtrengung Gedankenloſigkeit und endlich auch
Verruͤckungen folgen, ſind allen ſtreng Studierenden be-
kannt; Zimmermann und We kard haben ſie beſchrie-
ben.**) Vor dem Ausbruch hitziger Krankheiten wird
man manchmal ihrer Ankunft gewahr, daß man aller-
hand Geſtalten mit der groͤſten Lebhaftigkeit ſieht, ſo-
bald man die Augen verſchließt. Ich habe geſehen,
daß ſich ein ganzes Jahr vor dem Anfalle einer ſchweren
Krankheit alle Tage beſonders gegen Nacht oder ge-
gen Tag außerordentliche Aengſten, als waͤre der
Tod unvermeidlich, geaͤußert haben; nach einigen
Minuten wurde das Gemuͤth wieder ruhig. Vor an-
wandelnden Ohnmachten wird es einem gewoͤhnlich
ums Herz oder im Kopfe ſonderbar leer und leicht, wo-
bey ein dunkler warmer Flor das Geſicht und ganze
Gehirn umzieht. Man hat mehrere Beyſpiele von
Leu-
[75] Leuten, welche jedesmal an einem ihnen eigenen Zei-
chen den Anfall der Fallſucht zum voraus empfinden.
z. B. daß ihnen in der Gegend des großen Zehen et-
was beweglich zu werden anfaͤngt, von da bis in den
Kopf zwiſchen Haut und Fleiſch aufwaͤrts ſteigt, wo-
rauf ſie das Bewußtſeyn verlieren und auf die gewoͤhn-
liche Art krampfhaft erſchuͤttert werden, wie Swieten
*) einen Fall erzaͤhlt. Ettmüller rechnet unter die Vor-
boten eines fallſuͤchtigen Anfalls, eine kriebelnde Em-
pfindung in irgend einem Theile, einen aufſteigenden
Schauer. Auch haben dieſe Kranken Vorſtellungen
von Farben, Geruͤchen und Geſchmackempfindungen,
die ſie mit keinem vorher empfundenen vergleichen
koͤnnen. Von der Annaͤherung eines Anfalls des Keuch-
huſtens giebt insgemein ebenfalls ein beſonderer Zu-
fall Nachricht, als Kopfweh, Schmerz in der Bruſt,
vorzuͤglich aber ein beſonders kitzelndes Gefuͤhl in der
Bruſt, in der Herzgrube, oder im Halſe, wobey die
Kinder vor Aengſten und Furcht manchmal zu zittern
und zu weinen anfangen. Vor dem Ausbruch der
Waſſerſcheu geht in den Kranken eine beſondere Ver-
aͤnderung vor, wodurch ſie der annahenden Wuth ge-
wahr werden. Sie verſinken in ein tiefe Traurigkeit
werden aͤußerſt kleinmuͤthig, und jeder Vorfall be-
wegt ſie zum Weinen, ſie lieben und ſuchen die Ein-
ſamkeit, reden ſehr wenig und dieſes mit weinerlicher
furchtſamer Stimme; ſie ſeufzen ſehr oft ohne deßwe-
gen ihre Beaͤngſtigung auf der Bruſt erleichtern zu
koͤnnen; zuweilen ſperren ſie ſich ſelbſt ein mit der
dringend-
[76] dringendſten Bitte, daß man ſie allein laſſen moͤge.
*) — Die Vorboten der verſchiedenen hitzigen
Krankheiten ſind jedem Arzte bekannt.**) Daß ſie aber
bald nur als bloße, blinde Zuſaͤlle erſcheinen, bald
mit einem mehr oder weniger deutlichen Gefuͤhle des
folgenden Uibels, wovon ſie als ein Theil angeſehen
werden muͤſſen, verbunden ſind, das beruht auf der
mehr oder weniger lebhaften Einbildungskraft und der
mehr oder weniger feinen Empfindlichkeit des Kranken.
§. 23.
Ahndungen.
Was nun noch die eigentlichen Ahndungen un-
ſerer Schwaͤrmer betrift, ſo kann ich nichts beſſers
daruͤber ſagen, als was Plattner §. 1123 geſagt hat.
“Außer Furcht und Hofnung ſoll es noch andere vor-
herſehende Empfindungen geben, welche in der Spra-
che des Aberglaubens Ahndungen genannt werden.
Merkwuͤrdig iſt es, ſo viel erſtens die hiſtoriſche Wahr-
ſcheinlichkeit derſelben betrifft, daß alle Erfahrungen
davon nur allein in dem Beſitze entweder des gemei-
nen Poͤbels, oder doch ſolcher Menſchen ſind, welche,
ſollten ihnen auch mancherley Kenntniße und Faͤhigkei-
ten nicht abgeſprochen werden koͤnnen, doch gewiß von
aller wahren philoſophiſchen Aufklaͤrung entfernt ſind;
weder deutliche und wohlgeordnete Begriffe, noch feſte
Grundſaͤtze beſitzen, und ihre Koͤpfe durch Schwaͤrme-
rey und Aberglauben verduͤſtert haben„ — Sie berufen
ſich
[77] ſich zwar auf einen ſechſten, noch unentwickelten, in kein
Werkzeug, wie das Aug und das Ohr eingeſchloſſenen
Sinn, welcher in Geheim Dinge ausſpaͤhen ſoll, die
mit den uͤbrigen Sinnen in keiner Verbindung ſtehen.
Wenn dieſen Sinn Wer hat, ſo ſind es finſtre, zu lau-
ter außerordentlichen Vorſtellungen geneigte, ſchwarz-
gallichte, oder hoͤchſt empfindſame Leute — die wahr-
lich ſo oft von ihren innern Gefuͤhlen betrogen wer-
den, daß ſie ſich in allen Faͤllen wenig auf einen ſech-
ſten Sinn verlaſſen koͤnnen, an dem ſie daher ein ſehr
unnuͤtzes Geſchenk erhalten haben.
Jeder Leſer entſcheide nun von ſelbſt, in wiefern
die Seele eine Faͤhigkeit habe, daß Maaß ihrer koͤr-
perlichen Kraͤfte zu beurtheilen. — Ob dieſe Faͤhigkeit
ein ſelbſtthaͤtiges Beſtreben, oder eine blos leidentliche
Abhaͤngigkeit von koͤrperlichen Veraͤnderungen genannt
zu werden verdiene? Oder in wiefern beyde einen An-
theil daran haben? Und ob endlich die Seele bey den
natürlichen und Lebensverrichtungen des Koͤrpers,
durch was immer fuͤr eine Art von Reiz und Vorher-
ſehung, zur Gegenwirkung beſtimmt werde?
Fortſetzung des Vergleiches des Menſchen mit
den Thieren.
§. 24.
Der Vergleich des Menſchen mit den Thieren
fuͤhrt uns noch auf manche wichtige Unterſuchung.
Samuel Reimarius laͤßt den Thieren 1) ein em-
pfindliches Leben, das durch einen organiſchen Leib,
vermittelſt eines mit der Art des Lebens harmoniren-
den
[78] den Mechanismus, unterhalten wird. 2) Eine Seele
welche von Außen durch die Sinne ein undeutliches
Bewuſtſeyn der gegenwaͤrtigen koͤrperlichen Dinge,
nach dem empfangenen Eindrucke, und bey dem Ge-
genwaͤrtigen durch ihre Einbildungskraft eine verwor-
rene Vorſtellung des Vergangenen bekoͤmmt. 3) Ei-
ne innere Empfindung von ihrer und ihres Koͤrpers
Natur und Kraͤfte; und 4) ein eingepflanztes Be-
muͤhen zu gewißen der Natur gemaͤßen Handlungen.
— Nach ihm haͤtten die Thiere aber einen Vorzug
vor den Menſchen, erſtlich in Ruͤckſicht ihrer angebor-
nen Kunſtwerkzeuge, die ſich der Menſch erſt ſelbſt er-
finden und verfertigen muß, indem er nichts als die
Haͤnde von Mutterleibe aus mitbringt. Zweytens in
Ruͤckſicht ihrer vollkommenern aͤußerlichen Sinne, und
ſinnlichen Einbildungskraft, wodurch ſie ſowohl vom
aͤußerlichen Guten und Boͤſen eine genaue Empfindung
bekommen, als zu den dienlichen Bewegungen gereitzt
werden. Der dritte Vorzug beſteht in der innern Em-
pfindung ihrer und ihres Koͤrpers Natur und Kraͤfte.
Der vierte in den eingepflanzten Bemuͤhungen zu be-
ſtimmten der Natur gemaͤßen Handlungen. Uiberhaupt
giebt er den Thieren einen vollkommnern Mechanismus.
— Wir wollen ſehen, was ſich in Beziehung auf dieſe
Vorzuͤge vom Menſchen behaupten laſſe.
§. 25.
[79]
§. 25.
In Ruͤckſicht der Vollkommenheit des Mecha-
nismus.
Alle Weſen auf ihrem Standort betrachtet, wo-
hin ſie der Schoͤpfer geſtellt hat, ſo iſt die Muſchel,
die an der Felſe klebt, nicht unvollkommener, als der
Adler, der ſich gen Himmel ſchwingt. Wollen wir
aber von Uns, als einem Maaßſtabe ausgehen, ſo
moͤgen manche Theile, deren ſich die Thiere bey ihren
Beduͤrfniſſen bedienen, vielfacher, zuſammengeſetzter,
einige Sinne, von denen vielleicht ihr ganzes Gluͤck
abhaͤngt, moͤgen ſchaͤrfer ſeyn: Kein Menſch z. B.
hat das Auge des Habichts, keiner die fuͤnftauſend
Muskeln der Weidenraupe; aber ihre Kunſt iſt aͤußerſt
eingeſchraͤnkt, da indeſſen des Menſchen Faͤhigkeiten
ſo zahlreich und ſo mannigfaltig ſind. Thatſachen ſol-
len auch hier entſcheiden.
Der Menſch theilt unter der Linie die Herrſchaft
mit dem Tiger und dem Loͤwen, und lebt unter dem
Nordpol neben dem Baͤrn und dem Rennthier. Bis
zu dem zwey und ſiebenzigſten, und vielleicht hoͤhern
Grad noͤrdlicher Breite lebt der Groͤnlaͤnder und Es-
kimo; unter dem Aequator der Neger, und auf der
andern Seite des Aequators wird das Ende von Ame-
rika, naͤmlich Feuerland, von den Pecherais und an-
dern Staͤmmen bewohnt. Die Giagas und Anziker
durchſtreifen Afrika, um von den Bewohnern dieſes
brennenden Bodens Beute zu holen. Unter dem Pole
lebt er in einer Kaͤlte, die ſelbſt den dort einheimi-
ſchen ſtark behaarten Thieren unertraͤglich iſt. Wenn die
Heher
[80] Heher und Sperlinge aus der Luft fallen, ſo lebt der
Menſch noch friſch und geſund. Die kanadiſchen Wil-
den, welche bis gegen die Hudſonsbay hinauf wohnen
und die Eskimos gehen den Winter hindurch bey ei-
ner Kaͤlte auf die Jagd, wobey die Seen auf zwoͤlf
Fuß dicht gefroren, und in den geheitzten Stuben
der Brantwein nicht fluͤſſig erhalten werden kann.
Bey den Hollaͤndern, welche im Jahr 1597. im
67ten Grad noͤrdlicher Breite auf Neuzemlja uͤber-
wintern muſten, blieb nichts als der weiſſe Fuchs.
Gegen den 68ten Grad noͤrdlicher Breite, ſagt Pal-
las, verliert ſich die Birke und Eſche, die in Nor-
den einheimiſche hohe Tanne, und Lerchenbaͤume
kriechen nur als Zwergbaͤume auf dem kaum im Som-
mer aufthauenden Boden fort. Der Groͤnlaͤnder heizet
nicht ein, und ſitzt in ſeinem Hauſe bis auf die Bein-
kleider nackend. — Blagden hielt eine kuͤnſtliche Hize
aus, bey der das Eyweis gerann, und das Wachs
ſchmolz. — Er hielt ſie ſogar noch, da ſie die Hize
des kochenden Waſſers um 48 Grad uͤbertraf, gegen
acht Minuten aus, da er dann eine Unbequemlichkeit
im Athmen fuͤhlte, und ſehr abgemattet wurde. Dü
Hamel und Tillet fanden einige Maͤdchen, welche
in einem Backofen, worinn Obſt und Fleiſch kochten,
uͤber zehn Minuten ganz bequem aushielten. Nach
einem Reaumariſchen Queckſilberthermometer, wel-
ches 85 Grade fuͤr den Siedepunkt des kochenden Waſ-
ſers angab, war die Hitze voͤllig 112 Grad, nach
Fahrenheitsthermometer 275 1/17. Bey Blagden hielt
eine Huͤndin 220 Grad aus; bey Tillet ſtarb ein Kern-
beiſſer
[81] beiſſer in einer Hitze von 169 11/17 Grad. Ein Kanin-
chen ertrug 164, aber ein Huhn konnte eine Hitze von
169 Grad nicht lange ohne Lebensgefahr aushalten.
Der Menſch alſo lebt und gedeiht gegen 200 Grad
unter Null bis 130 daruͤber, was noch von keinem
Thiere bekannt iſt. — Eben ſo beharrlich iſt er gegen
den verſchiedenſten Druck der Luft. Die Stadt Qui-
to und ein Theil dieſer Provinz haben beinahe die
Hoͤhe von 12000 Fuß uͤber der Meeresflaͤche, und
dennoch ſind ſie von vielen tauſenden bewohnt. Der
Unterſchied des Luftdruckes auf den Koͤrper des Men-
ſchen iſt in dieſer Hoͤhe gegen jenen an der Meeres-
flaͤche wie 21750 Pf. gegen 32235 Pf. Condamine
und Bouquer nebſt einigen Begleitern lebten ſogar
drey Wochen auf den Kordilleren in einer Hoͤhe, wo
das Barometer nur 15 Zoll 9 Linien ſtand, und ob-
gleich ſich einige nicht gut befanden, ſo traf dieß be-
ſonders die an das heiße Klima gewoͤhnten Indier,
fuͤr welche die zu ploͤzliche Abwechslung von Hize und
Kaͤlte, und zugleich die heftige Bewegung beym Hin-
aufſteigen unangenehme Folgen hatte; da ſich die an-
deren, welche zuruͤck ritten, wohl befanden. Dieſes
giebt fuͤr den Druck der Menſchenoberflaͤche, zu 15 Ku-
bikfuß gerechnet, nur 16920 Pf. und ſo iſt der Unter-
ſchied des Drucks zwiſchen dem dortigen Thal- und
Bergbewohner uͤber 15300 Pfund. Taucht nun die-
ſer Menſch in die Tiefe des Meeres ungefaͤhr 400
Fuß tief, ſo leidet er einen zehnfach groͤſſern Druck,
als der Strandbewohner und der Unterſchied belauft
ſich au[f] 300000 Pfund. — Welche Summen von
Gall I. Band. FFeuch-
[82] Feuchtigkeiten ſchluͤckt der Bewohner der St. Thomas-
inſel, der bengaliſchen Kuͤſten ein! Viele tauſend
bringen in Potoſi ihr ganzes Leben in Spaniens Mi-
nen zu, ohne je vor ihrem Tode wieder an das Tages-
licht zu kommen; und dennoch leben ſie froͤhlich viele
Jahre lang in dieſen mit giftigen Duͤnſten geſchwaͤn-
gerten Kerkern. Condamine fand auf dem Wege von
Loxa nach Jaen ein bewohntes Land, welches gewoͤhn-
lich zehn Monate lang vom Regen uͤberſchwemmt iſt.
— Die Hundszaͤhne des Menſchen, ſein einziger, haͤu-
tiger Magen, und ſeine nicht gar uͤbermaͤßig langen
Gedaͤrme ſind Beweiſe, daß ihn die Natur zur thie-
riſchen Nahrung beſtimmte. Der ehemalige Teutſche,
der koloſaliſche Patagone und der groͤßte Theil der frey-
en Tartarn leben von Fleiſch und ſind muthvoll und
ſtark. Ganze Voͤlker, z. B. die Bewohner des neu
entdekten rußiſchen Archipels eſſen nichts als Fiſche;
der Chineſer befindet ſich wohl bey ſeinem Reis und
Schweinefleiſch; Lybien ernaͤhrt Nationen mit getrock-
neten Heuſchrecken; der Groͤnlaͤnder und Alaſka Be-
wohner verdauet den thranichten Wallfiſch; ja, ſie mi-
ſchen friſche, faule, und halbausgebruͤtete Eyer, Kraͤh-
beeren, und Angelika in einen Sack von Seehundfell
zuſammen, gießen Thran dazu, und heben dieß als
eine Erfriſchung auf den Winter auf; die Jakuter eſ-
ſen Maͤuſe, Woͤlfe, Fuͤchſe, Pferde, Raubvoͤgel und
ungekochte Kraͤuter in Menge; die Kalifornier genieſ-
ſen bald aus Hirſchleder gemachte Schuhe, bald ge-
trocknetes Ochſenfell. — Auch eine und eben dieſelbe
Nation kann eine unbegreifliche Miſchung von Spei-
ſen
[83] ſen ertragen. Der Siamiſche Geſandte Occum Cham-
mann naͤhrte ſich aus Noth mit Kaͤfern und Heuſchre-
cken. Des daͤniſchen Admirals Monks auf Groͤnland
zuruͤckgebliebenen Leute, wie auch die auf einer der
aleutiſchen Inſeln geſtrandeten Rußen verzehrten be-
gierig die faulenden Ueberbleibſel eines toden Wallfi-
ſches, und der Commodore Byron ſchaͤzte ſich gluͤcklich
bey ſeiner erſten Reiſe um die Welt, als Gefangener
der Indianer ohnweit dem Magellanslande die Haut
eines ſtinkenden Seehundſchinken benagen zu duͤrfen.
Was hat nicht Hungersnoth bey uns verdaulich ge-
macht? Selbſt Gifte erſcheinen, wenn ſie nur nicht
ganz unbereitet oder in zu großem Maaße genommen
worden, unſerer Natur nicht toͤdlich. Die Wurzel
des an ſich giftigen Manioks ernaͤhrt viele tauſend A-
merikaner. Man erwaͤge die vielen, oft ſich ganz
entgegengeſetzten Speiſen und Getraͤnke, die wir taͤg-
lich zu uns nehmen. Wir miſchen oftmals Milch,
Brunnen- und Mineralwaſſer, Fleiſchbruͤhe, Eſſig,
Oel, Bier, verſchiedene Arten Wein, Brantwein
mit einer Summe von vielerley Fleiſch, Gemuͤſe,
Fruͤchten und Gewuͤrze zuſammen. — Weſſen Thie-
res Organiſation iſt fuͤr ſo auſſerordentlich verſchiede-
ne Dinge, fuͤr ſo entgegengeſetze Himmelsſtriche, u.
ſ. w. ſo unzerſtoͤrbar eingerichtet? Der Hund, das
nach dem Menſchen biegſamſte, und alſo auch nach
ihm am meiſten verbreitete Thier iſt im Norden dick
behaaret und wird unter dem Aequator kahl; der mu-
thigſte europaͤiſche Hund wird, wenn er nach den hei-
ſeſten Theilen von Afrika verfuͤhrt wird, ſtumm,
F 2oder
[84] oder vielmehr ſein Bellen verwandelt ſich in ein Ge-
muchſe, dabey bekoͤmmt er ſpizige, ſteife Ohren, wird
haͤßlich und verliert alle Haare nebſt ſeinem Muthe.*)
Und ſo ſind der Ochs, der Eſel, das [Pferd], das
Schaaf, die Ziege, das Schwein, die Kaze — naͤm-
lich die dem Menſchen zugeſellten nuͤtzlichſten und ver-
breitbarſten Thiere, ſtuffenweis unter verſchiedenen Him-
melsſtrichen und andern Veraͤnderungen unendlich wichti-
gern Ausartungen unterworfen, als der Menſch. Der
Ochs in Madagaskar traͤgt einen Hoͤcker von fuͤnfzig
Pfund ſchwer, der in weiten Gegenden allmaͤhlich
abnimmt. Das europaͤiſche Schaf bekoͤmmt am Vor-
gebirge der guten Hoffnung einen Schwanz von 19
Pfunden. In Island treibt es bis 5 Hoͤrner; im Ox-
fordiſchen in Engelland waͤchſt es bis zur Groͤße eines
Eſels, in der Tuͤrkey iſt es getygert. Der kleinſte
Hund kriecht gegen den groͤßten Bullenbeißer bis zu
1/12 ſeiner Maße zuſammen, und es gibt Ausartungen
an den Ochſen, die ſechs bis achtmal kleiner als andere
Racen eben dieſer Art ſind. Die zwey entgegengeſetz-
teſten Groͤßen des Menſchen aber, naͤmlich des Pata-
gonen und Eskimo ſind nicht voͤllig um zwey Fuß von
einander unterſchieden, ſo, daß der mittlere oder
gewoͤhnliche Menſch von den Patagonen ohngefaͤhr um
eben ſo viel uͤbertroffen wird, als er ſelbſt den Lap-
pen uͤbertrift. 〟Beym Menſchen nimmt man die
Hauptunterſcheidungszeichen eher von der Farbe ſeiner
Haut, als von der Abaͤnderung ſeiner Geſtalt, und
in
[85] in allen Klimaten behaͤlt er ſeinen aufrechten Gang,
und die Superioritaͤt ſeiner Form.〟*)
Dieſen erhabenen Vorzug des Menſchen glaubte
auch Büffon nur in der Seele, und deren Eigenſchaften
ſuchen zu duͤrfen. — „Allein, ſagt eben dieſer Zim-
mermann, wo hat der Groͤnlaͤnder, oder Eskimo und
Kanader große Talente oder Erfindungskraft noͤthig,
ſich gegen die Kaͤlte zu ſchuͤzen? Er, der mit offner
Bruſt, unbedeckten Gliedern ſich ſeinem Winter ausſetzt,
der rohes Seehundfleiſch ſo gut, als gekochtes ver-
dauet? Den Neger brennt die perpenticulare Sonne,
die bloßen Fußſohlen berſten ihm auf dem gluͤhenden
Sande, und er bleibt ſtark und geſund. Der Fuchs,
Biber, Murmelthier und Hamſter machen ſich durch
ihren Inſtinkt Hoͤhlen; was hat alſo der Menſch dar-
innen voraus? die Seele nuͤtzt freylich den vortrefli-
chen Bau unſers Koͤrpers; ſie erhebt den Menſchen
uͤber alle Kreatur, ſchaft ihm aller Orten Bequem-
lichkeit und leichtes Fortkommen, giebt ihm Pelz und
Sonnenſchirm, Stahl, Feureiſen und Waffen; aber
nie koͤnnte ſie ihn durch alle ihre Staͤrke dazu machen,
was er jetzt iſt, naͤmlich zum Bewohner aller Him-
melsſtriche, waͤre ſie nicht mit dem dauerhafteſten,
biegſamſten Koͤrper verbunden.“
Bedenken wir noch, wie die verſchiedenen Kraͤfte
der Geſchoͤpfe mit der ſtufenweiſen Vervollkommnung
ihrer Organiſation ſtufenweis veredelt werden; daß die
Kraͤften der Anziehung und Bildung im Kryſtall und
in den Metallen, ſchon in den Pflanzen zu Trieben der
Nah-
[86] Nahrung und Fortpflanzung erhoͤhet werden; daß bey
den Pflanzenthieren die Nahrungstheile geſoͤndert
und zugleich die lebendigen Muskelreize anfangen; daß
dieſe Muskelkraͤfte, jemehr ſie in das Gebiet der Ner-
ven tretten, deſto mehr zur Empfindung veredelt wer-
den; daß, jemehr und feinere Nerven ein Thier hat,
jemehr dieſe einander vielfach begegnen, kuͤnſtlich ver-
ſtaͤrken, und zu edlern Theilen und Sinnen verwandt
werden; je groͤſſer und feiner endlich der Sammelplatz
aller Empfindungen, das Gehirn, iſt; daß, ſage ich,
die Gattung dieſer Organiſation deſto verſtaͤndiger und
feiner werde; — daß gegentheils bey Thieren, wo
der Reiz die Empfindungen, die Muskelkraͤfte das
Nervengebaͤude uͤberwinden; und dieſes auf niedrige
Verrichtungen und Triebe verbraucht wird: nach un-
ſerm Maasſtabe die Gattung theils unfoͤrmlicher im
Bau, theils in ihrer Lebensart groͤber und unwillkuͤhr-
licher werde; — und fuͤhlt endlich jeder Menſch ſei-
nen Werth: wie er zu dem Edelſten, was er kennt
zur Vernunftfaͤhigkeit, Sprachfaͤhigkeit, zur aufrech-
ten Stellung, zur Humanitaͤt, zur Willkuͤhr in ſeiner
Lebensart, zur Faͤhigkeit [vervollkommnet] und verſchlim-
mert zu werden, zur Geſetzgebung und Religion u. ſ.
w. gebildet iſt:*) ſo kann Niemand mehr der Fol-
gerung widerſtehen, daß unter allen Erdorganiſatio-
nen des Menſchen ſeine die erhabenſte und vollkommenſte
ſey.
§. 26.
[87]
§. 26.
In Ruͤckſicht der innern Empfindung von ſei-
ner Natur und ſeinen Kraͤften.
Der dritte Vorzug, die innere Empfindung ih-
rer und ihres Koͤrpers Natur und Kraͤfte verdient eben-
falls eine naͤhere Berichtigung. Wenn er nur ſo ver-
ſtanden wird, daß die Thiere ein dunkles Bewuſtſeyn
ihres Daſeyns, und eine Behaglichkeit bey ihrer Be-
ſchaffenheit, ihren Neigungen, und ihrer angewieſe-
nen Lebensart empfinden, ſo ſind wir einig: denn nur
darauf kann ſich die Selbſtliebe, der Trieb der Selbſt-
erhaltung, der Grundtrieb aller uͤbrigen Handlungen
gruͤnden. 〟Ueberall liegen Vorbilde der menſchlichen
Handlungsweiſen, in denen das Thier geuͤbt wird; und
ſie, da wir ihre Nervengebaͤude, ihren uns aͤhnlichen
Bau, ihre uns aͤhnlichen Beduͤrfniſſe und Lebensart
vor uns ſehen, ſie dennoch als Maſchinen betrachten
zu wollen, iſt eine Suͤnde wider die Natur, wie ir-
gend Eine.〟*) Allein Reimarus ſcheint dieſe innere
Empfindung uͤber alle Wahrſcheinlichkeit ausdehnen zu
wollen. Zum Gegenſatz fuͤhrt er zuerſt die innere [Em-
pfindung] an, ſofern ſie auch der Menſch von dem Zu-
ſtande ſeines Koͤrpers hat.
“Wir Menſchen, ſagt er, haben auch einiges
inneres Gefuͤhl von dem Zuſtande unſers Koͤrpers:
z. B. Wenn der Magen leer iſt und Speiſe verlangt,
oder wenn er ſatt iſt, wenn der Auswurf der Natur
von Speiſe und Getraͤnke oder Winden uns draͤngen;
Wenn
[88] Wenn wir die Munterkeit unſerer Leibeskraͤfte, oder
eine Mattigkeit und Krankheit in den Gliedern, oder
eine Wallung im Gebluͤte ſpuͤren. Dahin gehoͤren auch
die Regungen der Natur, welche auf die Fortpflan-
zung gerichtet ſind, und welche auch die unſchuldigſten
oder wildeſten Menſchen, ohne aͤußerlichen Reiz, in
dem bluͤhenden Alter bey ſich empfinden muͤſſen, wenn
ſie gleich noch ſelbſt nicht wiſſen, was das ſey, oder
wohin es ziele. Aber man muß doch uͤberhaupt ge-
ſtehen, daß wir Menſchen eine weit genauere innere
Empfindung haben von unſerm innern Seelenzuſtande
und Beſchaffenheit, von ihren Kraͤften und deren Reg-
len, und von den Veraͤnderungen, die darinnen vor-
gehen, als wir uns durchs innere Gefuͤhl bewußt ſeyn
koͤnnen, was in unſerm Koͤrper ſey und vorgehe, denn
wir ſind uns alle Augenblicke durch innere Empfindun-
gen bewuſt, daß wir uns etwas in Gedanken vorſtel-
len, daß wir etwas, und was wir, und warum wir
es begehren. Die ganze Vernunft- und Sittenlehre
ſind bloß auf dieſe innere Erfahrung gebaut. Aber
wer kann bey ſich aus innerem Gefuͤhle merken, was
er fuͤr Theile und Gefaͤße im Leibe habe, was der
Magen und die Gedaͤrme zur Berdauung machen,
wie Leber und Milz beſchaffen ſeyen, wie es ſelbſt
im Gehirn ausſehe, ob alles im guten Stande ſey,
oder was mit ſeiner innern Natur und Verfaſſung des
Leibes uͤbereinſtimme? Die innere Empfindung dient
alſo dem Menſchen mehr, daß er ſich der Seele nach
kennen lerne, als nach dem Koͤrper ꝛc.„
Nach
[89]
Nach dergleichen Ausdruͤcken ſollte man erwar-
ten, daß er den Thieren eine umſtaͤndliche Kenntniß
ihrer Beſtandtheile, Werkzeuge und ihres Kraͤftenma-
ßes zuſchreiben werde. Indeſſen druͤcket er ſich den-
noch nirgendwo ſo beſtimmt aus. Es waͤre in der That
eine zu erhabne Meinung von dem ſonſt ſo weit unter
den Menſchen geſetzten Thiere, wenn man z. B. der
Waſſerſchnecke eine Kenntniß von den Eigenſchaften
der Luft, und von ihrer verhaͤltnißmaͤßigen Schwere
mit dem Waſſer, von dem Nutzen und Gebrauch ei-
nes Botes und von der Einrichtung und der wechſelſei-
tigen Einwirkung ihre eigenen Beſtandtheile zutrauen
wollte; Und doch muͤſte ſie alles dieſes wiſſen, wenn
ſie mittelſt einer, aus der Kenntniß ihrer Natur und
ihrer Kraͤfte, entſtandenen Empfindung dazu beſtimmt
werden ſollte, ſich dann in den Hintergrund ihres
Gehaͤuſes zuruͤckzuziehen, wo ſie zu Boden ſinken will;
und wo ſie die Luſt anwandelt, auf die Oberflaͤche em-
por zu ſchwimmen, heraus zu kriechen, vermittelſt ei-
nes dadurch bewirkten Luftleeren Raumes, ſich leich-
ter, als das Waſſer, zu machen, und endlich ihre
angeborne Wohnung als ein Schiffchen zu gebrauchen.
Eben ſo waͤre es, wenn man der Biene die Geſetze
der Linien, Winkeln und des Raumes, ſammt der
Kenntniß ihrer natuͤrlichen Kraͤfte und Werkzeuge, als
ein innerlich auf anſchauliche Weiſe empfundenes Erb-
theil zueignete.
Er verſteht alſo unter der innern Empfindung
“alle Empfindung der Thiere von ihrer eignen Natur,
welche nicht durch den aͤußern Eindruck in die Sinne
entſteht.
[90] entſteht. Dadurch fuͤhlen ſie nicht, wie in der aͤußer-
lichen Empfindung, andere Koͤrper und deren Wirk-
ſamkeit auf den ihrigen, ſondern erſtlich ihren eigenen
Koͤrper und deſſen Theile, Kraͤfte und Beſchaffenhei-
ten, hiernaͤchſt aber auch das Bemuͤhen oder die Re-
gungen ihrer Seele, ſo daß ſie ſich aus dieſem innern
Gefuͤhle ihrer Natur, jedoch nur auf eine ganz un-
deutliche Weiſe, wie es durch die bloße Empfindung
geſchehen kann, bewuſt ſind.„ Daraus erklaͤrt er
nun die Liebe und Vorſorge der Thiere fuͤr ihre kuͤnf-
tige Brut und Jungen, das bemuͤhen der Thiere, ſich
mit Waffen zu wehren, die noch nicht da ſind, die
Ausuͤbung ihrer Kunſttriebe ohne Unterricht und Er-
fahrung. Dieſe Empfindungen laͤßt er theils von der
Beſchaffenheit und den Naturkraͤften des Koͤrpers,
theils von den natuͤrlichen Bemuͤhungen der Seele ſelbſt
entſtehen. Was den Thieren an Vernunft und Wiſ-
ſenſchaft zum Selbſterkenntniß mangelt, das ſoll ih-
nen durch einen genauer determinirten und vorbereite-
ten Mechanismus ihres Koͤrpers, und den Einfluß
ſchaͤrferer aͤußerlicher Sinne in denſelben, eine genaue-
re innere Empfindung von ihrer Natur und ihrem Zu-
ſtande erſetzt werden.
Als einen Gewaͤhrsmann ſeiner Meinung fuͤhrt
er den Seneka an, welcher in dem 121 Briefe aus-
fuͤhrlich von den Kunſttrieben der Thiere handelt, und
ſie als eine angeborne Fertigkeit vorſtellt, die durch die
Empfindung ihrer eigenen Natur wirkſam werde. “Es
war, ſchreibt er, die Frage unter uns aufgeworfen, ob
die Thiere eine Empfindung von ihrer Beſchaffenheit haͤt-
ten?
[91] ten? daß ſie ein ſolche Empfindung haben, erhellet
vornehmlich daraus, daß ſie ihre Gliedmaßen ſo ge-
ſchikt und fertig bewegen, als ob ſie darinnen unter-
richtet waͤren. — Was die Kunſt dem Kuͤnſtler in der
Handhabung ſeiner Werkzeuge, dem Schiffer im Steu-
ern, dem Mahler in Auftragung der Farben, dem
Schauſpieler in den Geberden beybringt, das thut die
Natur bey den Thieren. Keines beweget ſeine Glied-
maßen kuͤmmerlich, keines ſtocket in dem Gebrauche
ſeiner Theile. Sie verrichten vielmehr alles, ſobald
ſie auf die Welt kommen; ſie treten mit dieſer Wiſſen-
ſchaft auf die Schaubuͤhne und werden unterrichtet ge-
boren. Ja, ſagte ein anderer: Vielleicht bewegen
ſie ihre Gliedmaßen deswegen ſo geſchickt, weil ſie
ſonſt Schmerz empfinden wuͤrden. Allein, das iſt falſch,
denn, was aus Furcht des Schmerzens und aus Noth
geſchieht, damit geht es langſam zu. Die Hurtigkeit
aber entſteht von einer Kraft, die ſich ſelbſt antreibt.
Die Furcht vor Schmerz thut ſo wenig dazu, daß die
Thiere ſich auch gegen alle Hinderniſſe des Schmerzens
bearbeiten, ihre natuͤrliche Bewegung zu verrichten.
Wenn eine Schildkroͤte auf den Ruͤcken gelegt wird,
ſo empfindet ſie keinen Schmerz, aber ſie iſt doch aus
Verlangen nach ihrer natuͤrlichen Stellung unruhig,
und waͤlzet ſich ſo lange von einer Seite zur andern,
bis ſie auf die Fuͤße zu ſtehen koͤmmt. Demnach ha-
ben alle Thiere eine Empfindung von dem, was ihrer
Beſchaffenheit gemaͤß iſt, und daher haben ſie eine
ſolche Fertigkeit in dem Gebrauch ihrer Gliedmaßen.
Es kann auch kein ſtaͤrkerer Beweis ſeyn, daß ſie ſchon
mit
[92] mit dieſer Wiſſenſchaft begabt ſind, ſobald ſie anfangen
zu leben, als dieſer, daß kein Thier unerfahren iſt, wel-
chen Gebrauch es von ſich ſelbſt machen ſolle. Ja,
ſagte der andere: das iſt ſehr undeutlich, dunkel und
kaum zu erklaͤren, wie ein junges Thier das verſtehen
koͤnne: ſo muͤßen alle Thiere mit einer Vernunftkunſt
geboren werden, wenn ſie das, was auch dem ge-
ſcheuteſten Roͤmer unbegreiflich iſt, zu erklaͤren wuͤſten,
Der Einwurf, erwiederte man, wuͤrde Grund haben,
wenn man ſagte, das die Thiere einen ausfuͤhrlich
deutlichen Begriff von ihrer weſentlichen Beſchaffen-
heit haͤtten. Denn dieſe laͤßt ſich aus der Natur ſelbſt
leichter empfinden, als erklaͤren. Es kennet naͤmlich
ein Thier ſeine Beſchaffenheit, aber worinnen ſie ei-
gentlich beſtehe, weiß es nicht, es fuͤhlet ſich als ein
lebendiges Thier, aber, was eigentlich ein lebendig
Thier ſey, davon hat es keinen Verſtand. Wir Men-
ſchen wiſſen doch, daß wir eine Seele haben, aber,
was ſie ſey, daß iſt uns unbekannt. Wie wir alſo
eine Empfindung von unſerer Seele haben, ob wir
gleich ihre Natur, und ihren Sitz nicht einſehen; ſo
haben auch alle Thiere eine Empfindung und eine (ob-
gleich rohe und dunkle) Vorſtellung von ihrer weſent-
lichen Beſchaffenheit. Denn ſie muͤſſen ja eine Em-
pfindung von dem haben, deſſen Regierung ſie will-
kuͤhrliche Folge leiſten; wie ein jeder von uns ſich be-
wußt iſt, daß etwas ſey, welches ſeine Triebe in Be-
wegung ſetzt, aber dieſe Triebfeder dennoch nicht kennt;
ſich ſeines Bemuͤhens bewuſt iſt, aber doch nicht weiß
worinnen es beſtehe, und woher es komme. — Aber
auch
[93] auch die zarteſten Thiere wiſſen, ſobald ſie aus Mut-
terleib oder auf die Welt geſetzt ſind, was ihnen nach-
theilig ſey, und fliehen das ſchaͤdliche; die, welche den
Raubvoͤgeln unterwuͤrfig ſind, ſcheuen ſich ſogar vor
den Schatten der voruͤberfliegenden. Frage nicht, wie
iſt das moͤglich? Die Frage iſt nicht, wie ſie das wiſ-
ſen koͤnnen, ſondern, ob ſie es wiſſen. — Warum
flieht die Henne nicht vor einem Pfauen, oder vor ei-
ner Gans, da ſie doch vor dem Habicht, der noch klei-
ner iſt, und den ſie noch nicht einmal kennet, flieht?
— Es iſt klar, daß ſie eine Erkenntniß von dem Schaͤd-
lichen haben, welches ſie nicht aus der Erfahrung ge-
lernt; denn ſie huͤten ſich ſchon davor, ehe ſie die
Erfahrung bekommen koͤnnen. — Was die Uibung
lehret, das entſteht langſam, und geſchieht auf man-
cherley Art; was aber die Natur ſelbſt gelehret, das
iſt bey allen gleich, und alſobald da — es geſchieht
ohne Nachdenken und Uiberlegung, wozu die Natur
treibt. Du ſiehſt ja, mit welcher Behendigkeit die
Bienen ihren Bau anzulegen wiſſen, und mit welcher
Eintracht ſie die verſchiedenen Arbeiten unter ſich thei-
len. Siehſt du nicht, daß die Weberey der Spinne
fuͤr uns Menſchen unnachahmlich ſey? was es fuͤr ein
Werk ſey, die Faͤden in die Ordnung zu bringen, daß
einige zur Feſtigkeit gerade in den Mittelpunkt gefuͤhrt
werden, andere in die Runde laufen, und immer wei-
ter auseinander gehen, damit andere kleinere Thiere,
denen nachgeſtellet wird, als in einem Netze darinnen
verwickelt und gefangen werden moͤgen? Die Kunſt
entſpringet mit der Geburt und wird nicht gelernet:
Daher
[94] Daher iſt auch kein Thier kluͤger, als das andere.
Man bemerket eine Gleichheit in dem Gewebe der
Spinnen, und in den Honigſcheiben ein gewiſſes Maaß
aller ekichten Zellen. Was die Kunſt beygebracht hat,
das iſt ungewiß und ungleich; was aber die Natur
mittheilet, daß iſt bey allen einerley. Die Natur leh-
ret nichts weiter, als die Selbſterhaltung, und die
dazu noͤthige Erkenntniß: und ſo fangen die Thiere ihr
Lernen zugleich mit dem Leben an. Es iſt auch nicht
zu verwundern, daß ihnen das angeboren ſey, ohne
welches ſie umſonſt wuͤrden geboren ſeyn.„
§. 27.
Wir koͤnnen es nie ohne Gefahr des Irrthums
und des Widerſpruches wagen, eine Sache ſinnlich dar-
zuſtellen, die nie in unſere Sinne gefallen iſt. — Da
bleibt nun gar nichts uͤbrig, als die Analogie, wo-
durch unſere Urtheile einigermaßen einer Aufnahme
wuͤrdig gemacht werden koͤnnen. Waͤre die innere Em-
pfindung der Thiere, von ihrer Natur, ihrer Be-
ſchaffenheit, ihrer Werkzeuge und ihrer Kraͤfte zur
Ausuͤbung ihrer Kunſtfertigkeiten ein unentbehrliches
oder doch mitwirkendes Bedingniß, ſo begreife ich nicht
wie ſie mit einer dunklen, verworrenen Empfindung
und Kenntniß zu ſo kunſtvollen Werken auslangen
koͤnnten. Man gebe dem Baumeiſter einen dunklen
Begriff von Steinen, Holz, Eiſen, Witterung, Men-
ſchen u. ſ. w. was wird da fuͤr ein Gebaͤude hergeſtellt
werden? Und iſt dieſe Empfindung nicht hinreichend,
ſo iſt ſie auch uͤberfluͤßig; die Natur aber hat nichts
Muͤſſiges
[95] Muͤſſiges gemacht. — So bald ich mir dieſe Kraͤfte,
dieſe Richtung in den Bildungstrieb und die Organi-
ſation ſelbſt hinein denke, ſo bedarf ich durchaus keiner
inneren, wirkſamen Empfindung. Das Anſchießen zu
den herrlichſten, nach den ſtrengſten Geſetzen der Meß-
kunſt gebildeten Kryſtallen, der praͤchtige Bau der
Befruchtungswerkzeuge der Blume bey den Pflanzen,
die Selbſterſtattung der Gewaͤchſe und mancher Thiere,
das Gewebe der Spinne, die Zellen der unter drey
Einzelnheiten vertheilten Organiſation der Bienen,
die Staͤrke der Ameiſe, das Einſpinnen der Raupe,
das Haͤuten der Schlange, das Mauſen der Voͤgel,
und das Haͤaͤren der Thiere und Menſchen ſind eben
ſo viele, aus dem Bau, den darinn vereinten und
dadurch bewirkten Kraͤften eines jeden einzelnen Ge-
ſchoͤpfes entſpringende Erſcheinungen, wobey nicht mehr
Empfindung, Kenntniß und Willkuͤhr der Werkzeuge,
Kraͤfte, Natur und Endzweckes ſtatt hat, als man
dem Maſtdarm des Menſchen zuſchreiben wird, weil
er einem nicht zu feſten Unrath eine regelmaͤßige, vier-
eckichte, an den Flaͤchen, wie Zirkelſchnitte eingebo-
gene, und an den Ecken gekerbte Geſtalt giebt. “Ein
kleines Kind, ſagt Tiedemann, weiß gewiß nicht was
Liebe iſt, und welche Gegenſtaͤnde es lieben muß, und
doch liebt es ſeine Mutter eben ſo inbruͤnſtig, als ob
es die beſte Abhandlung uͤber die Liebe geleſen haͤtte.„
In allen den von Reimarus und Seneka an-
gefuͤhrten Beyſpielen finde ich keins, wovon nicht et-
was aͤhnliches im Menſchen angetroffen werde, ohne
daß man deßwegen jemals mit einigem Recht eine ſol-
che
[96] che innere Empfindung von Werkzeugen und Kraͤften
zum Grund gelegt haͤtte. So wie die Ausuͤbung der
Bewegungskraͤfte, wenn ſie der Natur gemaͤß iſt, bey
jedem Thier mit Luſt verknuͤpft iſt; ſo iſt ſie es auch
beim Menſchen; das Kind zappelt und lacht, der Kna-
be huͤpft und ſchreiet, der Juͤngling tanzt und jauch-
zet, der Mann geht und ſpricht; jeder mit Empfin-
dung von Luſt; und von jeher hat man dieſe Empfin-
dung von Luſt und Behaglichkeit als ein Bedingniß
zur Geſundheit des Menſchen angeſehen. So wie das
Inſekt die Kraft ſeiner Fluͤgel fuͤhlt, ſo fuͤhlt das von
den Banden befreiete Kind die Kraͤfte ſeiner Haͤnde
und Fuͤße; jedes Thier merkt die innere Regung ſei-
ner Zeugungsglieder, wenn und wie es ſeiner Natur
am bequemſten iſt, daß es ſich mit dem andern Ge-
ſchlecht begatte; Wer hat es die erſten und ſo viele
andere Menſchen gelehrt? Der Bock, der Stier und
der Widder ſtoßen, ehe ſie Hoͤrner haben; das Kind
beißet, ehe es Zaͤhne hat, und ſtampft mit den Fuͤſ-
ſen, ehe es was vermag; der Knabe und das Maͤd-
ſchen ſind nicht gleichguͤltig gegen Theile, deren Nu-
tzen ihnen noch unbekannt iſt; ein Thier fuͤhlt, daß
es nicht wohl iſt; im kranken Zuſtande aber iſt ihm etwa
der Geruch von einem Kraute beſonders angenehm,
und der reizet das Thier, ſolches zu eſſen, und auf
ſolche Art geneſet es; Auch der Menſch fuͤhlt ſich
krank, und was er bey voͤlligem Wohlſeyn mit Luſt
genaß, vor dem eckelt ihm jetzt, er faſtet, oder be-
koͤmmt ebenfalls eine unwillkuͤhrliche Luſt zu einer Spei-
ſe, die er ißt, oder er nimmt Arzneien, die er jezt
weniger
[97] weniger verabſcheuet, und geneſet. Der Hund, der
Affe, das Pferd fuͤhlen, wie weit ſie den Sprung
wagen duͤrfen; eben ſo fuͤhlt der Seiltaͤnzer genau,
daß er jezt ein gewiſſes Ziel nicht erreichen, einen ge-
wiſſen Schwung nicht zu Stande bringen wird, ob-
ſchon er zu einer andern Zeit, auch durch das Vor-
gefuͤhl verſichert, beydes ſehr leicht ins Werk ſetzt.
So fuͤhlt man in einer Ferne von zehn und mehreren
Schritten, daß man einen beſtimmten Gegenſtand mit
dem rechten Fuße z. B. betreten werde, obſchon man
weder ſeinen Gang geflißentlich darnach einrichtet, noch
zuvor die Entfernung mit Aufmerkſamkeit uͤberſchaut
hat. — So wie ſich die auf den Ruͤcken gelegte
Schildkroͤte wieder auf den Bauch zu bringen bemuͤht,
ſo veraͤndert der Menſch und jedes Thier ſeine Stel-
lung, wenn ſie ihnen beſchwerlich zu werden anfaͤngt,
und jedes bedient ſich dazu ſeiner verliehenen Werkzeu-
ge. Der Henne ſchreibt Seneca zu viel Kenntniß
von ihrem Feinde zu; er muß nicht gewußt haben,
wie unſere Vogelſteller die Droſſeln und Krammets-
voͤgel mittelſt eines mit Schwungfedern beſteckten, und
aus einer Huͤtte uͤber ſie weggeſchoſſenen Pfeiles von
dem Baume auf die Erde hinabſtuͤrzen machen. Als
Student hatte ich mir einen Staaren ſo abgerichtet,
daß ich ihn auf freyem Felde ſeiner Willkuͤhr uͤberlaſ-
ſen konnte. Anfaͤnglich hatte er eine groſſe Furcht
vor Raben und Dohlen; ſo oft ein ſolcher ober ihm
wegflog, ſteckte er den Kopf entweder unter einen Erd-
ſchollen oder ins Gras, und reckte den Schwanz ge-
rade in die Hoͤhe; bald aber hatte er ſich an dieſen
Galls I. Baud. GUm-
[98] Umgang gewoͤhnt, und betrug ſich gleichguͤltig. Der
Hahn giebt nicht nur bey Anſichtwerdung des Habichts
durch das krelle ſonderbare Geſchrey den Huͤhnern das
Zeichen einer bevorſtehenden Gefahr; er wird nicht ſel-
ten durch einen Schatten, aus dem doch wohl kein
Habicht auf keine Weiſe kennbar ſeyn kann, durch je-
den etwas betraͤchtlichen und ſchnell oder ſehr hoch vor-
uͤberziehenden Vogel getaͤuſcht.
Es iſt dieſes Betragen wieder eine hoͤchſt guͤtige
bey der ganzen lebendigen Schoͤpfung angebrachte und zur
Erhaltung der Geſchoͤpfe unentbehrliche Anordnung,
in der keines, weder Menſch noch Thier, etwas vor
dem andern voraus hat, und die weder der Willkuͤhr,
noch der Kenntniß der Gefahr oder beſtmoͤglichen Si-
cherſtellung hat anvertraut werden koͤnnen. Die un-
begreifliche Schnelligkeit, welche hier noͤthig war, und
mit welcher das bedrohete Glied oder der ganze Koͤr-
per in die Verfaſſung gebracht wird, welche zur Ab-
wendung des Uebels die geſchickteſte iſt, ſcheint mir
Buͤrge genug zu ſeyn, daß weder Willkuͤhr noch Em-
pfindung der Kenntniß die Urſache der bewirkten An-
ſtalten ſind. Ich gehe nachdenkend einher; auf ein-
mal hoͤre ich ein geſchwindes ſtarkes Trotten hinter
mir; mein ganzer Leib faͤhrt zuſammen, der Kopf wirft
ſich herum, und ich ſehe nichts, als einen muthwilli-
gen Buben; indeſſen kann ich es nimmer verhuͤten,
daß all mein Koͤrper auf einen Seitenſprung zuſammen-
geraft iſt, daß er gegen die Seite zu uͤberhaͤngt, und
daß vorzuͤglich die Knie und Fuͤße, weil dieſe hier die
Hauptrolle zu ſpielen gehabt haͤtten, die Wirkungen
des
[99] des Schreckens empfinden. Wie gewaltſam und
krampfhaft zieht ſich der Unterleib, die Seite, auch
ein einzelner Muskel, den wir ſonſt nie ſo in unſerer
Gewalt haben, einwaͤrts zuruͤck, wenn man gaͤhlings
mit einer Degenſpitze dagegen faͤhrt! Das ſchamhaf-
te im Baade uͤberraſchte Maͤdgen, unter was fuͤr ei-
nem ſcharfen Geſchrey, wie eilig und verwirrt ſchurrt
es mit dem ganzen Koͤrper zuſammen! wie geſchickt
weißes den Buſen mit Huͤlfe der kreuzweis geſchlunge-
nen Armen, breitgefalteten Haͤnden, des vorgereckten
Halſes, niedergedruͤckten Angeſichts und der vorgezogenen
Schultern zu decken; wie genau ſchließet es den Schooß,
indem es den Bauch und die halbgekreuzten Schenkel
zuſammendruͤckt, mit den Armen und Ellenbogen, die
es laͤngſt der Seite und auf den vordern Theil der
Huͤften feſt aufſtuͤzet, von oben, und mit den Fuͤſſen
an die es den ſeitwaͤrts gekehrten Hintern andruͤckt,
von unten allen Zublick unmoͤglich macht? Und dieſes
ausgeſonnene, kuͤnſtliche Geſchaͤft geſchieht manchem
zum Verdruße in einem Augenblicke! Wenn uns ein
einſtuͤrzendes Gebaͤude zu erdruͤcken droht, ſo ſuchen
wir mit niedergebuͤcktem Koͤrper und mit von den Ar-
men und Haͤnden kreuzweis bedecktem Haupte zu ent-
fliehen; oder beugen den Koͤrper, ziehen die Schultern
aufwaͤrts, druͤcken ſie von hinten naͤher zuſammen,
kruͤmmen den Ruͤcken in die Hoͤhe, und ſtellen ſo der
Gefahr die ſtaͤrkeſte Woͤlbung entgegen, ohne das ge-
ringſte von unſerer hier in Ausuͤbung gebrachten Kunſt
zu empfinden. Nach eben den Geſezen faͤhrt die Ler-
che, wenn ſie den ihr nachjagenden Falken erblickt,
G 2ſenkrecht
[100] ſenkrecht in die Furchen hinab, und buͤckt den Koͤrper
mit aufwaͤrts gekehrtem Schwanze unter den Erdſchol-
len. Wenn wir einem boͤſen Hunde ausweichen, ſo
gehen wir mit eingezogenen Haͤnden, ziehen die der
Gefahr blosgeſtellte Seite einwaͤrts, und ſchleichen
uns nach der Seite mit mehr geſchleiftem als gehobe-
nem Gange hinweg. Wollen wir einer giftigen, ziſchen-
den Schlange entgehen, ſo ſtellen wir uns auf die
Zehen, heben den ganzen Koͤrper und die Arme ſchwe-
bend in die Hoͤhe, und tanzen ruͤckwaͤrts. Greift
man in einen Ameiſenhaufen, ſo kehren ſie, indem ſie
ſich mit uͤber den Ruͤcken geſchlungenen Fuͤßen anhal-
ten, den Bauch gegen die Hand, und beſpritzen ſie mit
ihrem ſcharfen ſauren Geiſt. —
So ſehen wir alſo jedesmal gerade diejenigen
Theile in groͤßter Bewegung, welche entweder zur
Rettung die noͤthigſten, oder der Gefahr am meiſten
blosgeſtellt ſind. Gerade nach den naͤmlichen Geſetzen
geſchehen alle Bewegungen bey Menſch und Vieh in
den annaͤhrenden Begierden: der durſtige Hund leckt
mit der Zunge, dem hungrigen Menſchen waͤſſert das
Maul; der Eber wetzt die Waffen zum Angrif, und
der Menſch ſtellt ſich feſt auf den Boden, und waͤgt
langſam die geballten zitternden Faͤuſte. Wer erken-
net hier nicht mit Dank die allguͤtigen Anſtalten, wel-
che in ein wechſelſeitiges Verhaͤltniß der Gefahr und
des bedroheten Geſchoͤpfes, zu ſeiner Erhaltung ver-
flochten ſind!
§. 28.
[101]
§. 28.
In Ruͤckſicht des eingepflanzten Bemuͤhens zu
gewiſſen der Natur gemaͤßen Handlungen.
Hieraus erklaͤrt ſich ſchon das meiſte, was das
eingepflanzte Bemuͤhen der Thiere zu gewiſſen der Na-
tur gemaͤßen Handlungen, als den 4ten Vorzug, be-
trift. Es iſt richtig, daß den Thieren, da ihre man-
gelhafte Vernunft nicht zureichend geweſen waͤre, ihre
Wege vorgezeichnet ſind. So ſelten ſie ſich irren koͤn-
nen, ſo ſelten koͤnnen ſie auch andere Anſtalten oder
eine andere Zeit waͤhlen. Alles, was ihnen noch ei-
nigermaßen uͤberlaſſen worden iſt, beſteht in der ſehr
eingeſchraͤnkten Faͤhigkeit, gewiſſe zufaͤllige Hinderniſ-
ſe zu heben, z. B. daß die Spinne die zerriſſenen
Stellen ihres Netzes ausbeſſert, und die Biene ein
Aas, ſo ſie nicht wegſchleppen kann, mit Wachs uͤber-
ruͤncht.
Ob dieſes eingepflanzte Bemuͤhen aber ein Vor-
zug heißen koͤnne, und in wiefern der Menſch nicht
anderſt von der Natur iſt behandelt worden, werden
folgende Betrachtungen zeigen:
Wenn es uns zukaͤme, uͤber den Plan der
Schoͤpfung zu vernuͤnfteln, ſo wuͤrde ich es fuͤr ſehr
wahrſcheinlich halten, daß jener der Erdorganiſationen
nach zwey Hauptgeſetzen ausgefuͤhrt worden ſey: ver-
moͤg dem erſten muſten alle moͤglichen Organiſationen,
und alle moͤglichen daraus entſpringenden Arten des
Daſeyns und des Lebens zur Wirklichkeit gebracht
werden. Das zweyte iſt nothwendig mit dem erſten
ver-
[102] verbunden, und hat die zur Erhaltung und Befriedi-
gung der Beduͤrfniſſe eines jedweden einzelnen Weſens,
und ganzer Gattungen, noͤthigen Anſtalten zum Ge-
genſtande. Je weniger alſo ein Geſchoͤpf von der ei-
nen Seite beguͤnſtigt worden iſt, deſto mehr muſte von
der andern fuͤr es geſorgt werden. Da den Pflanzen
noch alle Empfindung und alle Willkuͤhr abgehen ſoll-
te, ſo muſten ſich alle ihre Kraͤfte zu Trieben des
Wachsthums, der Vermehrung und Wiedererſtattung
zuſammen draͤngen; dieſe Triebe aber nehmen in dem
Verhaͤltniß ab, in welchem hoͤhere Kraͤften entſtehen
und zunehmen; der Polipe erſtattet ſich noch beynahe
wie die Pflanze; bald werden nur noch einzelne Glie-
der, und endlich dieſe nur unter ſehr guͤnſtigen Um-
ſtaͤnden erſtattet, bis in den edleren Thieren dieſes
Vermoͤgen meiſtens nur auf die eigenmaͤchtige Heilung
einiger Wunden eingeſchraͤnkt worden iſt.
Gerade dieſe Stufenfolge hat in den ſogenann-
ten Kunſttrieben ſtatt; dieſe ſind deſto werkthaͤtiger,
beſtimmter und auffallender, je weiter das Thier vom
Menſchen zuruͤck geſtellt iſt. Die bewunderungswuͤr-
digſten Kunſtfertigkeiten, wenn ich ſie ſo nennen darf,
ſind den Inſekten, den Gewuͤrmern, den unedlern
kaltbluͤtigen entweder ganz Gehirnloſen, oder nur mit
ſehr wenigem Gehirne begabten Thieren einverleibt wor-
den; wie aber das Thier zur Aufnahme einer groͤſſern
Gehirnmaße und eines feinern Nervenbaues hinaufor-
ganiſirt war, ſo ſchien es auch nach und nach mehr
ſich ſelbſt uͤberlaſſen worden zu ſeyn. Die Rattenar-
ten graben ſich noch unterirrdiſche Wohnungen, der
Biber
[103] Biber ſchlaͤgt noch ein Gebaͤude auf; aber der ſchlaue
Fuchs laͤßt ſich ſeinen Bau lieber vom Dachſe aushoͤh-
len, und die Natur hat ihm ſtatt der Minierkunſt das
große Recht gegeben, ſich das Werk ſeines Tagloͤh-
ners zu zueignen. Unſere, uns naͤher angereiheten
Hausthiere bedarfen dergleichen angebornen Kuͤnſte nur
noch in ſehr geringem Maße, und wo die organiſchen
Kraͤfte beim Menſchen zur Vernunftfaͤhigkeit erhoͤhet
wurden, da war auch das Beduͤrfniß einer ſklaviſchen
Fuͤhrung am meiſten eingeſchraͤnkt, und das Reich
der Willkuͤhr am weiteſten ausgedehnt.
§. 29.
In Ruͤckſicht der Biegſamkeit des Koͤrpers.
Darinn alſo erkenne ich vielmehr eine allweiſe
Stuffenfolge, als eine weſentliche Auszeichnung. Selbſt
in den verſchiedenen Menſchenſtaͤmmen wird dieſe Stuf-
fenfolge fortgefuͤhrt, und man ſieht uͤberall, wie ein-
zig und ſtreng ſich die Natur an das Maaß und die
Beſchaffenheit der Beduͤrfniſſe gebunden habe. Weil
der Menſch zum Bewohner aller Himmelsſtriche, zum
Herrn der Erde beſtimmt war, ſo gab ſie ihm, nebſt
ſeiner unbeſchraͤnkten Ausdauerbarkeit, auch noch eine
bewunderungswuͤrdige Biegſamkeit ſeines Koͤrpers, und
eine kaum glaubbare Gewandtheit ſeines Geiſtes. Sehr
viele mit Genauigkeit, Sorgfalt und Nuzung gluͤckli-
cher Gelegenheiten angeſtellte Vergleichungen der Ge-
hirne aus verſchiedenen Thierklaſſen fuͤhrten Sömme-
ring auf den wichtigen Hauptſaz: daß der Menſch beym
groͤßten Gehirn die kleinſten Nerven habe; oder, daß
man
[104] man nur in Ruͤckſicht der Vergleichung des Gehirns
mit ſeinen Nerven ſagen koͤnne: der Menſch habe das
groͤßte Gehirn. So wie aber die Verſtandeskraͤfte
abnehmen, und nach Mannigfaltigkeit der Umſtaͤnde
in verſchiedenen Menſchen abnehmen mußten, ſo nimmt
auch das Verhaͤltniß des Gehirns gegen die Nerven-
maaße ab. Er fuͤhrt den Pater Charlevoix an,
nach welchem die Negern von Guinea ſehr beſchraͤnkte
Geiſteskraͤfte haben; viele unter ihnen ſchienen voll-
kommen dumm, es gaͤbe, die nicht uͤber drey zaͤh-
len koͤnnten, von ſelbſt daͤchten ſie nichts, haͤtten kein
Gedaͤchtniß, und das Vergangene ſeye ihnen eben ſo
unbekannt als das Zukuͤnftige, ſie ſeyen ſehr verſchwie-
gen u. ſ. w. Paw ſagt: „Als die Europaͤer in Weſt-
indien im fuͤnfzehnten Jahrhunderte ankamen, ſo war
daſelbſt nicht ein Amerikaner, der ſchreiben oder leſen
konnte; und noch in unſern Tagen findet man nicht
einen denkenden Amerikaner. (Wir haben in Wien
an Herrn Angelo eine Ausnahme) — — — Der
Verſtand iſt nicht allen Voͤlkern unſeres feſten Landes
gleich verliehen worden: die unter der heißen Zone
verbrannten Neger, und die unter dem Polarzirkel ge-
frornen Lapplaͤnder haben keine philoſophiſche Abhand-
lungen geſchrieben, und werden auch keine niemals
ſchreiben; aber man hat auf der ganzen neuen Welt,
Trotz der großen Verſchiedenheit der Himmelsgegenden
keinen Menſchen von einer Faͤhigkeit gefunden, womit
er den andern uͤbertroffen haͤtte. — — Es ſind faſt
dreyhundert Jahre verfloſſen, daß Amerika entdeckt
worden iſt; man hat ſeit dieſer Zeit nicht unterlaſſen,
Ame-
[105] Amerikaner nach Europa zu bringen, man hat alle
Arten von Unterricht mit ihnen verſucht, und keiner
hat ſich in den Wiſſenſchaften, in den Kuͤnſten, und
in den Handwerken, einen Namen erworben„ u. ſ. w.
*) Dieſes wiederlegt den Home, welcher die Dumm-
heit der Neger blos dem Mangel an Uebung und Ge-
legenheit zur Ausbildung zuſchreibet.**) Indeſſen
nimmt Sömmering Anſtand zu entſcheiden, ob der
urſpruͤngliche Menſch zum Europaͤer veredelt worden,
oder zum Neger ausgeartet ſeye. „Denn, ſagt er:
man findet Eigenſchaften im Bau des Negern, die
ihn fuͤr ſein Klima zum vollkommenſten, vielleicht voll-
kommnern Geſchoͤpf, als den Europaͤer machen. Wie
viele Pflanzen verlieren nicht durch die Kultur das
meiſte ihrer weſentlichen Vollkommenheit? Die er-
zwungene ſcheinbare Pracht und Schoͤnheit der vergaͤng-
lichen Bluͤthe zerſtoͤrt, verdirbt, oder mindert oft die
wichtigere Hauptbeſtimmung der Blume, die Fortpflan-
zung, nebſt dem Wirkungsvermoͤgen des ganzen Krau-
tes!
„So auch beym Menſchen: Der Verſtand wird
oft zum Nachtheil des Koͤrpers, und umgekehrt, der
Koͤrper zum Nachtheil des Verſtandes kultivirt.“
Da nun aber der Neger groͤſſere Unbequemlich-
keit des Klima, des Lebens und der Arbeit u. ſ. w.
ertragen mußte, ſo hat ſich auch ſein Koͤrper darnach
bilden muͤſſen. „Die Knochenzuruͤſtung, ſagt Söm-
mering,
[106]mering, die zur Zermalmung der Nahrung dient, ſo
wie diejenige, die zur Sicherheit der Sinnorganen be-
ſtimmt ſcheinet, iſt ſo wohl im Zuſammenhang und
Ganzen, als auch im Einzelnen betrachtet, ſtaͤrker,
dicker, auch zum Theil zu dieſer Staͤrke vortheilhaf-
ter geformt, als bey der Claſſe von Menſchen, die
durch ausgebreitetere Erfahrungsbenutzung, Cultur
und Verſtand das zu erſetzen weiß, was ihr von thie-
riſcher Kraft abgehen moͤgte. Sollte man die Geſichts-
knochen des Mohren, wenigſtens ihre Maaße, als
eine Baſis annehmen, und auf ihnen, nach dem Ver-
haͤltniſſe europaͤiſcher Koͤpfe, die knoͤcherne Schale fuͤrs
Gehirn bilden, ſo wuͤrde zuverlaͤßig der Raum, der
dieſem Organ der Denkenskraft gewidmet iſt, groͤßer
als unter uns gewoͤhnlich, ausfallen muͤſſen.„ Allein
das flache Vorderhaupt des Mohren weicht zuruͤck,
und ſchließt ſich an ein beynahe eben ſo flaches Hinter-
haupt. — Von Vorne betrachtet ſcheint der Mohren-
kopf und ſo auch der Schaͤdel, in der Mitte und ober-
halb gleichſam ſeitwaͤrts zuſammengedruckt und geſchaͤrf-
ter, und die Gehirnhoͤhle auch in die Quere enger,
ſo wie die ganzen Seitenknochen kleiner, als bey Eu-
ropaͤern ſind. Daraus entſtund ein weit geringerer
Raum fuͤr das Gehirn; Sömmering maß verſchiede-
ne Mohren- und faſt alle ſeine Europaͤerſchaͤdel, um
die Groͤße der Gehirnhoͤhlen zu vergleichen, und fand
am Mohren 1) daß eine Schnur von der Wurzel der
Naſe an, mitten uͤbers Stirnbein, nach der Rich-
tung der Pfeilnath bis an die Mitte des hintern Ran-
des der ovalen Pforte fuͤrs Ruͤckenmark angelegt und
aus-
[107] ausgemeſſen, bey gleicher Geſichtslaͤnge, um viel kuͤr-
zer, folglich die obere Vertikalbogenlaͤnge der Gehirn-
hoͤhle kleiner iſt.
2) Daß der Horizontalumkreis der Gehirnhoͤhle
mittelſt einer Schnur, die uͤber die Augenbraunen und
den hoͤchſten Rand der Schuppenbeine herumlauft,
aufgenommen, merklich geringer iſt.
3) Daß weder der Durchmeſſer des Schaͤdels
vom Stirnbein bis ans Hinterhauptbein, wo er am
laͤngſten iſt, noch irgend einer der Querdurchmeſſer
des Kopfes, von einem Scheitel oder Schlafbein zum
andern, an die bey Europaͤern ganz gewoͤhnliche Groͤſ-
ſe reicht.
4. 5. 6. 7) Die hauptſaͤchlichſten Knochen, aus
denen die Gehirnhoͤhle zuſammengeſetzt iſt, haben,
einzeln betrachtet, einen kleinern Umfang; das Stirn-
Seiten- Hinterhaupts- und Keilbein ſind augenſchein-
lich kleiner, wenn auch die Felſenknochen und das
Siebbein groͤſſer ſcheinen ſollten.
8) Schien ihm die Subſtanz der Hirnſchaale
feſter, dichter, ſproͤder, haͤrter, und beynahe der von
gemeinen Thieren aͤhnlich.
9) Nur die Hoͤhe der Gehirnhoͤhle ſcheint ihm
etwas betraͤchtlicher zu ſeyn.
„Es erhellet alſo deutlich, ſagt er, daß der-
jenige Theil des Mohrenſchaͤdels, der die gehirnfaſſen-
de Hoͤhle bildet, im Vergleich mit dem, der dem Ge-
ſicht und zur Aufnahme der Werkzeuge der aͤuſſern
Sinnen beſtimmt ſcheinet, kleiner als bey irgend ei-
nem Europaͤer iſt.“
Hin-
[108]
Hingegen ſind alle Theile und Nerven, welche
zu den Sinnen gehoͤren, um ein betraͤchtliches groͤſſer.
Die zur Aufnahme der Augen beſtimmte trichterfoͤr-
mige Knochenhoͤhlen ſind geraͤumiger, beſonders ihr
aͤußerer Umfang iſt weiter, als bey uns, und es
ſcheint auch Sömmering, daß in ihnen ein groͤßerer
Augapfel laͤge. — Die Groͤſſe des Einganges der Na-
ſenhoͤhle iſt vorzuͤglich von Vornen auffallend; nie ſah
Sömmering bey Europaͤern unter gleichen Umſtaͤnden
eine ſo weite Pforte zum Geruchsorgan, auch nie in-
nerhalb eine ſo geraͤumige Hoͤle. Daher giebt es in
den antilliſchen Inſeln Schwarze, die durch den Ge-
ruch ſogar die Fußſtapfen eines Negers von eines
Franzoſen unterſcheiden. Ein gleiches ſagt man auch
von den Amerikanern, die ebenfalls einen Franzoſen,
Spanier, und Engellaͤnder durch die Naſe erkennen.
Daß die Natur dem Mohren ein empfindlicheres
Geruchorgan, als dem Europaͤer geben wollte, erhel-
let noch augenſcheinlicher aus der Einrichtung und Ver-
groͤſſerung der feinen, duͤnnen, gewundenen Knochen-
ſcheiben, die wahrſcheinlich den Umfang oder die O-
berflaͤche der Geruchhaut zu vermehren beſtimmet ſind;
von dieſen zarten Knochen bildet oder bedekt das mitt-
lere Paar, wo es in die Zellen des Naſenbeins uͤber
geht, eine anſehnliche blaſenfoͤrmige Erhebung, die
die Groͤſſe der Nervenhaut betraͤchtlich vermehren muß,
die man nur ſelten bei Europaͤern und allzeit kleiner
findet.
Auch
[109]
Auch die aͤußere Oefnung des Gehoͤrganges iſt
weit und geraͤumig, und wie es ſcheint, nach Ver-
haͤltniß groͤßer, als beim Europaͤer.
Das Gaumengewoͤlbe iſt bey Mohren uͤberhaupt
ausgedehnter, offenbar laͤnger, und ſeine untere Flaͤ-
che rauher, als bey uns gewoͤhnlich.*)
Was die Natur dem Rennthier, dem weißen
Fuchs und weißen Baͤren an den Haaren gab, das
erſetzte ſie dem Haarloſen Groͤnlaͤnder durch eine groſſe
Maße heißerer und dickerer Saͤfte. Dieſes bezeugen
ihre warmen Ausduͤnſtungen. Wenn ſie im Winter
beym Gottesdienſt verſammelt ſind, ſo duͤnſten und
blaſen ſie ſo viele Waͤrme aus, daß der ungeheuzte
Verſammlungsſaal auf einen ſolchen Grad erwaͤrmt
wird, wodurch der Europaͤer in Schweiß geraͤtht,
und mit Muͤhe Othem holt. Der Einwohner von
Jeniſey, Krasnajarſk und aͤhnlich liegenden Laͤndern,
hatte dieſe Einrichtung noch nicht noͤthig, da die aͤu-
ßerſte Kaͤlte dort nicht Monathe, ſondern nur Tage
hindurch anhaͤlt. Die Inſel St. Thomas unter der Li-
nie iſt außerordentlich neblicht, und die Einwohner
ſchicken ſich wegen ihrer rauhen Fiebern zu dieſer Art
von Witterung vortreflich. Man weis Beyſpiele,
das Leute, die lange in unterirrdiſchen Gefaͤngnißen
eingeſperrt waren, endlich in der Finſterniß ſchreiben
und leſen konnten.
Das wilde niederlaͤndiſche Maͤdchen, die noch auf-
recht gieng, und bey der ſich die weibliche Natur ſoweit
er-
[110] halten hatte, daß ſie ſich mit einer Strohſchuͤrze deck-
te, hatte eine braune, rauhe, dicke Haut, ein langes
und dickes Haar.
Das Maͤdchen, das zu Songi in Champagne
gefangen ward, hatte ein ſchwarzes Anſehen, ſtarke
Finger, lange Naͤgel, und beſonders waren die Dau-
men ſo ſtark und verlaͤngert, daß ſie ſich damit wie
ein Eichhoͤrnchen von Baum zu Baum ſchwang. Ihr
ſchneller Lauf war kein Gehen, ſondern ein fliegendes
Tripplen und Fortkleiten, wobey an den Fuͤßen faſt
gar keine Bewegung zu unterſcheiden war. Der Ton
ihrer Stimme war fein und ſchwach; ihr Geſchrey
durchdringend und erſchroͤcklich. Sie hatte ungewoͤhn-
liche Leichtigkeit und Staͤrke ſo, daß ſie einen groſſen
Hund, den man auf ſie los ließ, alſogleich toͤdete,
und war von ihrer vorigen Nahrung des blutigen und
rohen Fleiſches, der Fiſche, der Blaͤtter und Wur-
zeln ſo ſchwer zu entwoͤhnen, daß ſie nicht nur zu ent-
fliehen ſuchte, ſondern auch in eine toͤdtliche Krankheit
fiel, aus der ſie nur durch Saugen des warmen Blu-
tes, das ſie wie ein Balſam durchdrang, zuruͤckge-
bracht werden konnte. Ihre Zaͤhne und Naͤgel fielen
aus, da ſie ſich zu unſern Speiſen gewoͤhnen ſollte,
unertraͤgliche Schmerzen zogen ihr Magen und Einge-
weide, beſonders die Gurgel zuſammen, die lechzend
und ausgetrocknet war.
Selbſt der aufrechte Gang, das ausgezeichneſte
Eigenthum des Menſchen, kann in den thierartigen
umgetauſcht werden, wobey viele der uͤbrigen Glieder
ihre Geſtalt und Verhaͤltniß zu einander aͤndern muͤſ-
ſen,
[111] ſen, und wirklich aͤndern, wie das Beyſpiel einiger
verwilderten Menſchen zeigt. Der Irrlaͤndiſche Kna-
be, den Tulpius beſchrieben, hatte eine flache Stirn,
ein erhoͤhetes Hinterhaupt, eine weite bloͤkende Keh-
le, eine dicke an den Gaumen gewachſene Zunge, eine
ſtarke einwaͤrts gezogene Herzgrube; gerade wie es ſein
vierfuͤſſiger Gang geben muſte.
“Lauter Erweiſe, ſagt Herder, wie ſehr ſich
die biegſame menſchliche Natur, ſelbſt da ſie von Men-
ſchen gebohren, und eine Zeitlang unter ihnen erzogen
worden, in wenigen Jahren zu der niedrigen Thierart
gewoͤhnen konnte, unter die ſie ein ungluͤcklicher Zufall
ſetzte. — — — Wo er iſt, iſt er der Herr und
Diener der Natur, ihr liebſtes Kind, und vielleicht
haͤrteſte gehaltene Sklave. Vortheile und Nachtheile,
Krankheiten und Uibel, ſo wie neue Arten des Ge-
nuſſes, der Fuͤlle, des Seegens erwarten uͤberall ſein,
und nachdem die Wuͤrfel dieſer Umſtaͤnde und Beſchaf-
fenheiten fallen, nachdem wird er werden.„
§. 30.
In Ruͤckſicht der Vorſorge der Natur, der an-
gebohrnen Kunſtfertigkeiten, angebohrnen Ge-
muͤthsfaͤhigkeiten und der angebohrnen Voll-
kommenheit.
Da kein Geſchoͤpf fuͤr ſich allein beſtehen konn-
te, ſo iſt jedwedes in das ihm zutraͤgliche Element
und zu der noͤthigen Nahrung geſetzt worden, oder es
erhielt Sinne, dieſelbe aufzuſuchen und zu unterſchei-
den. Eben ſo hat die Natur die erſten Menſchen mit
denje-
[112] denjenigen Thieren zuſammengeſtellt, die ſowohl der
Bezaͤhmung faͤhig, als auch zur Befriedigung ſeiner
Beduͤrfniſſe die tauglichſten ſind. Fuͤr diejenigen Voͤl-
ker, welche Gegenden bewohnen ſollten, wo keines
unſrer nuͤtzlichſten Hausthiere fortkoͤmmt, hat die Vor-
ſicht dadurch geſorgt, daß ſie ihnen zu gewiſſen Zeiten
eine ungeheure Menge Fiſche oder Voͤgel zuwieß, wo-
von ſie ſich einen Vorrath auf das ganze Jahr ſamm-
len koͤnnen.*) In den kaͤlteſten Gegenden giebt es
kaum eine einzige Pflanze, die dem Menſchen zur Nah-
rung dienen koͤnnte. Die thieriſche Speiſe iſt fuͤr die
Bewohner der kalten Himmelsſtriche die geſuͤndeſte. In
einer gemaͤßigten Gegend iſt es die Vermiſchung von
thieriſchen und Pflanzenſpeiſen, weswegen auch dort
Thiere und Pflanzen in gleichem Uiberfluße ſind. Hin-
gegen leben die Landes Einwohner zwiſchen den Wen-
dekreiſen vornehmlich von Fruͤchten, Saamen, und
Wurzeln, als der geſuͤndeſten Nahrung fuͤr die Be-
wohner des heißen Himmelsſtriches, auch wachſen dort
die heißen Gewaͤchſe zu ihrer ganzen Vollkommenheit.
Auch ein Grund, warum alle Unterſuchungen uͤber den
Menſchen mangelhaft werden muͤſſen, welche entwe-
der auf ihn allein oder etwann nur auf Eines ſeiner
Alter eingeſchraͤnkt ſind.
Die naͤmliche Sorgfalt nahm den Menſchen in
ihren Schutz, wo er theils noch keines Unterrichts,
theils
[113] theils noch keiner eigenmaͤchtigen Leitung faͤhig war.
Er muſte, ſo lang er noch nichts durch ſich ſelbſt ver-
mag, ſo, wie die niedrigſte Thierklaſſe, alles, was
zu ſeiner Erhaltung und Erziehung gehoͤrte, von der
Natur erhalten haben. — Kaum hat das Kind der
Mutter Leib verlaſſen, ſo ſehen wir es die zu ſeiner
Erhaltung noͤthigen, von ihm abhaͤngigen Verrichtun-
gen mit bewunderungswuͤrdiger Fertigkeit ausuͤben.
Dieſe Fertigkeiten, wenn ſie ſchon nicht durch Uibung
erworben ſind, verdienen nichts deſtoweniger dieſen Na-
men, und werden durch den Ausdruck natuͤrliche, an-
geborne Kunſtfertigkeit hinlaͤnglich beſtimmt.
Eine der erſten dieſer koͤrperlichen, natuͤrlichen
Kunſtfertigkeiten iſt das Schreien und Weinen. Die-
ſes iſt keine bloße mechaniſche, ſondern groͤßtentheils
willkuͤhrliche Handlung, die aus einer bald ſchmerzhaf-
ten, bald ſonſt widrigen Empfindung entſpringt, und die
Bewegung des Zwergfells, der Lunge, der Bruſt und al-
ler Werkzeuge des Mundes, die von der Willkuͤhr ab-
haͤngen, erfordert. Den Ton, die Staͤrke, die Dauer u.
ſ. w. des Schreiens und Weinens weiß das Kind genau
nach der Art ſeines Beduͤrfniſſes zu beſtimmen. Jede
aufmerkſame Mutter, mancher Arzt unterſcheidet, ſo
wie Ich, jedesmal aus der verſchiedenen Beugung und
Staͤrke der Toͤne, ob das Kind um ſchmerzhafter Em-
pfindungen willen, aus Hunger und Durſt, oder aus
Bosheit und langer Weile ſchreie. Das Geſchrey
des Schmerzens z. B. geht uͤberhaupt aus einem fei-
nern, krellern Tone und iſt nach Maaße der
Kraͤften und der Schmerzen bald heftig, bald ſchwach
Gall I. Band Hunruhig,
[114] unruhig, und wechſelt mit der Dauer und Staͤrke der
ſchmerzhaften Empfindungen ſelbſt ab. Das Geſchrey
der Bosheit zeugt uͤberhaupt von mehr Kraft, und iſt,
nebſt dem, daß es von andern Bewegungen der Glie-
der begleitet wird, zwar heftig, aber wird aus einem
groͤbern Tone angeſtimmt. Es geht endlich in jenes der
langen Weile uͤber, welches aus noch groͤbern, eintoͤni-
gen, abgeſtoſſenen, faulen, hie und da ſchwaͤchern,
ausgeſetzten, bald aber wieder mit mehr Staͤrke an-
geſtimmten Toͤnen beſteht. Wenn das Kind um
Speiße und Trank, oder etwan in der Abſicht ſchreit,
daß es ſolle gewieget oder getragen werden u. d. gl.
ſo wird es ihm nie fehlen, in dem Gemuͤthe ſeiner
Mutter jenes Gefuͤhl zu erwecken, wodurch ſie zur Er-
fuͤllung ſeiner Wuͤnſche beſtimmt wird. — Zum Saͤu-
gen werden ſehr viele Muskeln, ſehr verwickelte und
abwechſelnde Bewegungen derſelben erfordert, und
dennoch ſaͤugt es gleich anfaͤnglich meiſterhaft; und
laͤßt man ihm die Haͤnde frey, ſo legt es ſie auf die Bruſt,
befoͤrdert den Ausfluß der Milch durch ſein abwech-
ſelndes Drucken und Grabbeln eben ſo geſchickt, als
es das ſaͤugende Kalb durch das Aufſtoſſen gegen
das Euter mit dem Maule, und der Hund durch das
wechſelſeitige Anſtemmen ſeiner Pfoten auf die Zizen
zu rhun im Stande ſind. Sobald dergleichen Kunſt-
griffe und Geſchicklichkeiten entbehrlich geworden ſind,
ſobald fangen wir an, ſie zu vergeſſen und zu verlernen,
und der ausgezehrte Vater muß es von ſeinem Kinde
abſehen, wie er am geſchickteſten die Bruͤſte ſeiner Am-
me ausſaugen koͤnne, um aufs Neue belebt zu werden.
— Die
[115] — Die Sprache des Kindes iſt zwar nur ein unmuͤn-
diges Lallen; allein ſie iſt doch mancher Bedeutungen
und Nachdruͤcke faͤhig. Unendlich beredter ſind ſeine
Geberden, wodurch wir in jedem Alter den innern
Zuſtand unſers Gemuͤtes auf eine bald mehr bald we-
niger willkuͤhrliche Weiſe zu aͤußern pflegen. Macht
ein Gegenſtand einen angenehmen Eindruck, ſo ent-
ſteht in ihm die Begierde, ſich demſelben zu naͤhern,
es beſtrebt ſich mit dem ganzen Leibe, ſtemmt ſich auf
das Hinterhaupt und den Hintern, ſtreckt beide Ar-
me aus, und macht mit den Fingern die Bewegung,
als wenn es etwas faſſen wollte. Sitzt es ſeiner Mut-
ter auf dem Arme, und ein Hund, eine Uhr u. d.
gl. machen ſeine Wuͤnſche rege, ſo dreht es ſich nach
allen Seiten, wo es nur immer den geliebten Gegen-
ſtand anſichtig werden kann, laͤchelt ihm mit ungedul-
digem Verlangen entgegen, giebt zaͤrtliche, anlocken-
de Toͤne von ſich, greift mit verwandten Haͤnden dar-
nach, und wird bey Annaͤherung deſſelben einigerma-
ßen beruhigt. So ſehr es manchmal vor Begierde
bebt, ſo greift es doch nur ſelten unbehutſam zu; es
gafft ihn an, ſchwebt zwiſchen Zuneigung und Miß-
trauen, bis es endlich durch das Beyſpiel ſeiner Mut-
ter ermuntert, den zaghaften Entſchluß faßet, ihn zu
beruͤhren. — Iſt es furchtſam, ſo wendet es den
ganzen Leib ab, und bleibt, je nachdem ſich die Furcht
dem Schrecken naͤhert, entweder aͤußerſt ſtill und ver-
birgt ſich, oder es bricht in ein lebhaftes Geſchrey
aus, und ſucht mit Haͤnd und Fuͤßen, ſich zu entfer-
nen. Steigt ſeine Furcht auf einen hoͤhern Grad, ſo
H 2ſtarrt
[116] ſtarrt es mit den Augen unbeweglich, und ſtoͤßet end-
lich bey wiederkehrendem Bewußtſeyn ein heftiges,
wildes Geſchrey aus. Iſt es unwillig und aufgebracht
ſo laͤuft ihm das ganze Geſicht roth auf, es wirft
ungeduldig den Kopf hin und her, verzerrt das Maul,
geifert und ſchreiet heftig, zappelt mit Haͤnd und Fuͤ-
ßen, ſtrampft, und ſchlaͤgt die Finger ein, zum Zei-
chen, wie es ſich einſt bey beſſern Kraͤften wird zu
helfen wiſſen. —
Die Seltenheit ſolcher Schauſpieler, welche auf
der Buͤhne durch Nachahmung der Natur, ſelbſt Na-
tur zu werden ſcheinen, beweiſet hinlaͤnglich, was es
fuͤr ein vielfaches, kunſtvolles, verwickeltes Geſchaͤft
um den aͤußerlichen Ausdruck einer innern Empfindung
ſey; dennoch beſitzet das Kind, in allen Neigungen,
die es zu ſeinen Beduͤrfniſſen einſtweilen erhalten hat,
eine meiſterhafte Geſchicklichkeit, ſich auszudruͤcken —
So wie ſich neue Neigungen entſpinnen, ſo iſt der Menſch
in dem Ausdruck derſelben vollkommen, und Erfah-
rung und Klugheit ſind oft noch nicht im Stande,
die Aeußerung weniger kennbar zu machen. Man
denke ſich den frohlockenden Knaben, daß mit ſeiner
Puppe beſchaͤftigte Maͤdchen, das vor Eiferſucht ra-
ſende Weib, den ſchwaͤrmeriſch verliebten Juͤngling,
den mit dem Feinde kaͤmpfenden Streiter, den in Gram
verſunkenen Hausvater, die buͤßende Suͤnderin, —
das Staunen, den Schrecken, die Furcht, die Ver-
zweiflung, die Hofnung und Freude u. ſ. w. welch
unbeſchreibliche Mannigfaltigkeit von Spannen, und
Erſchlaffen, von Ordnung und Verwirrung, von Kraft
und
[117] und Schwaͤche auf der Oberflaͤche eines einzigen Men-
ſchengeſichts! Und in allem dieſem herrſcht bey allen
Nationen, die Verſchiedenheiten des lebhaftern oder
mattern Ausdruckes ausgenommen, eine auffallende
Aehnlichkeit.
Selbſt von Seiten der Gemuͤthskraͤfte hat der
Menſch angeborne Faͤhigkeiten, deren Anwendung zwar
nach Umſtaͤnden verſchieden ausfallen kann, obſchon
ſie als Grundanlagen betrachtet unveraͤnderlich ſind.
So kann er ſich die Vergangenen Dinge wieder ſo
vorſtellen, daß er ſie von gegenwaͤrtigen unterſcheidet
und mit denſelben vergleichet. Vermoͤg ſeiner ange-
bornen Vernunftfaͤhigkeit vergleichet er in ſeiner Vor-
ſtellung die Dinge nach den Regeln der Einſtimmung
und des Wiederſpruches untereinander. Daher wiſſen
ſich die Kinder von ſelbſt, ohne Anweiſung, allge-
meine abgezogene Begriffe von ganzen Arten und Ge-
ſchlechten zu machen, die blos das Aehnliche verſchie-
dener einzelner Dinge oder Arten in ſich halten. Und
darinn iſt die Grundlage einer Vernunftkunſt gegruͤn-
det. Auch machen ſich die Kinder ſelbſt, vermoͤg eben
dem Nachdenken und der Einſicht in die Aehnlichkeit
der Wortbiegungen, Wortfuͤgungen und Redensarten,
eine natuͤrliche Sprachlehre, und lernen eine Sprache
nach undeutlicher Einſicht der Regeln recht verſtehen
und ſprechen. Dieſes erklaͤrt zum Theil die ſo oft
bewunderte Erſcheinung, daß zuweilen Kinder auf ganz
unerwartete, nie gehoͤrte, ſonderbare und dennoch
richtig zuſammengeſtellte Ausdruͤcke zu gerathen pfle-
gen. — Endlich war das Wohl aller lebenden Dinge
ihrem
[118] ihrem Schoͤpfer ſo angelegen, daß er es allen ſchlech-
terdings unmoͤglich machte, ein erkanntes Uebel zu
wollen, oder ein erkanntes Gut zu haſſen.
Der Menſch iſt alſo bey weitem nicht ſo ſeinem
Duͤnkel uͤberlaſſen worden; er iſt bey weitem nicht
ſo ſehr Schoͤpfer ſeiner Handlungen, als es ihn der
Stolz und die Eigenliebe uͤberredet haben. Der
Hauptplan iſt auch ihm vorgezeichnet. Und er ſteht
zwiſchen Schranken, die ihn nur deswegen nicht auf-
zuhalten ſcheinen, weil ſein Gott alles, was in ſeinen
Wirkungskreis gehoͤren ſollte, mit ſeinem Gluͤck und
ſeiner Behaglichkeit wunderbar zu vereinigen wuſte.
Man loͤſe ſich nun ſelbſt die Frage auf: Wer
von beyden, der Menſch oder das Thier vollkommner
oder unvollkommner gebohren werde? — Dennoch
ſagt Herder: „das Menſchliche Kind koͤmmt ſchwaͤ-
cher auf die Welt, als keines der Thiere. — — —
Ehe das Kind gehen lernt, lernt es ſehen, hoͤren,
greifen und die feinſte Mechanik und Meßkunſt dieſer
Sinne uͤben. Es uͤbt ſie ſo inſtinktmaͤßig als das
Thier; nur auf eine feinere Weiſe. Nicht durch an-
gebohrne Fertigkeiten und Kuͤnſte: denn alle Kunſt-
fertigkeiten der Thiere ſind Folgen groͤberer Reize;
und waͤren dieſe von Kindheit an herrſchend da: ſo
bliebe der Menſch ein Thier, ſo wuͤrde er, da er ſchon
alles kann, ehe ers lernte, nichts menſchliches lernen.„
— Allein das Verhaͤltniß der Schwaͤche zwiſchen dem
Menſchen und dem Thiere bey ihrer Geburt laͤßt ſich
auf keine Weiſe genau beſtimmen. Manche Thiere,
die uͤbrigens ihrer Art nach vollkommen und nerven-
[119] reich ſind, kommen mit ziemlicher Uebereinſtimmung
und Brauchbarkeit ihrer Theile zur Welt, wie zum
Beiſpiel das Fuͤlle und das Kalb. — Andere, die
in vielen Ruͤckſichten zu niedern Klaſſen gehoͤren, ha-
ben vielleicht eine mit der Dauer ihres Lebens ver-
haͤltnißmaͤßig eben ſo langſame Entwicklung, als der
Menſch, z. B. die Mauſe. Der Hund, ſo erhaben er
uͤber die Maus iſt, ſteht ihr doch vielleicht in dieſer
Ruͤckſicht nach. Mir ſcheint hier wieder, daß ſich
die Natur weder an die groͤſſere Vollkommenheit des
Thieres, noch an die verhaͤltnißmaͤſige Dauer ſeines
Lebens, ſondern gerade an die Art der Beduͤrfniſſe
gehalten habe; und auf dieſen großen Hauptendzweck
hin ſind alle Arten des Entſtehens, der Geburt und
der Lebensart in die Beſtimmung einer jedweden Thier-
gattung verwebt werden. Der Vogel, die Mauſe,
der Hund und der Menſch konnten ihren Jungen ein
Neſt, eine Hoͤhle, ein Bett, uͤberhaupt einen Schutz
verſchaffen; aber das fluͤchtige Reh, das muthige
Roß, u. ſ. w. muſten alſogleich ihr Junges davon fuͤh-
ren koͤnnen, wenn es nicht vor der Zeit unter ſo vie-
len Gefahren zu Grunde gehen ſollte. Andere, wie
z. B. das Enten- und Huͤhnergeſchlecht haben die Fer-
tigkeit bekommen, vom Eye weg zu ſchwimmen oder
durch die Felder zu laufen, und erſt ſpaͤt ſind ihnen die
Erfoderniſſe zum Fluge gegeben worden. Wie lang-
ſam kommen die Inſekten, die Froͤſche zu ihrer eigent-
lichen Beſtimmung! Ein ſehr uͤberzeugender Beweis,
wie ſehr ſich die Natur an das bloße Beduͤrfniß gehal-
ten habe, iſt der allermeiſt mangelhafte Gebrauch je-
ner
[120] ner Werkzeuge, welche zu mehreren Verrichtungen
beſtimmt ſind. — Das maͤnnliche Glied, da ſeine
wichtigſte Beſtimmung das Zeugungsgeſchaͤft ſeyn ſoll-
te, iſt eben deswegen, wie ſchon Hunter*) anmerkt
weit ſchlimmern und zahlreichern Zufaͤllen ſowohl bey
der veneriſchen Anſteckung als bey andern Uebeln der
Harnwege unterworfen, als die zur Fortſchaffung des
Harns allein beſtimmte weibliche Harnroͤhre. Die
vortrefflichen Ruder der Ganſe ſind nur ſchlechte Werk-
zeuge zum gehen; ſo wie uͤberhaupt die Landthiere
ſehr muͤhſame Schwimmer, und die Waſſerthiere eben
ſo muͤhſame Fußgaͤnger ſind. — Die Natur blieb ſich
alſo durchgaͤngig ſelbſt gleich, und ſie hat ſich, da
ſie den Menſchen bildete, keine andern Geſetze vorge-
ſchrieben, als da ſie die Kaͤsmade machte.
Das Kuͤzel, ſo Galen aus der Mutter Leibe
ſchnitt, ſtellte ſich auf die Fuͤſſe, nießete, und ſtieß
dadurch einen Theil des angeſammelten Rozes aus
der Naſe; da aber dieſes noch nicht hinreichte, ſo
kratzte es ſich die Seiten mit den hintern Fuͤßen, wo-
durch es ſich wieder zum Nieſſen reitzte, und noch ei-
ne Menge Roz ausſtieß. — Der Hund, dem ein Bein
im Rachen ſtecken bleibt, ſtrekt zuerſt den Hals ge-
rade nach unten zu aus, ſo, daß die Halswirbel auf-
waͤrts einen Bogen bilden, oͤffnet die Kehle ſehr weit,
und macht die ſchicklichſte Bewegung mit den Muskeln
des Halſes und des Schlundes, daß das Bein theils
herausgedruͤckt, theils vermoͤg ſeiner Schwere heraus-
fallen
[121] fallen koͤnnte. Steckt es aber feſter, ſo zieht er den
Kopf ruͤckwaͤrts in die Hoͤhe, und ſchuͤttelt ihn, da-
mit das Bein in den Magen falle. Endlich greift er
mit den Toppen ins Maul, bemuͤht ſich ſehr aͤngſtlich,
es mit den Klauen loszukrazen; dieſes reizt ihn zugleich
zum Huſten; er zerreißet ſich den Rachen, und wenn
er alles, was in ſeiner Macht war, umſonſt verſucht
hat, ſo eilt er traurig zu ſeinem Herrn, dem er ſeine
Noth bald zu verſtehen giebt, und laͤßt ſich das Bein
gelaſſen herausnehmen. — Der eingeſperrte Hahn
ſcharret den Moͤrtel von der Mauer und verſchluͤckt
ihn. — Der Affe, der Hund, der Hengſt und der
Bock wiſſen ſich vom Ueberfluß des Samens zu be-
freyen. Dieſes ſind nun freylich lauter inſtinktmaͤßig
geuͤbte Kunſtfertigkeiten, wovon ich auch beim Men-
ſchen ſchon Beyſpiele genug angefuͤhrt habe, und je-
der ſich ſelbſt eine Menge denken kann.
Aber man geht zu weit, wenn man darauf ei-
nen Unterſchied zwiſchen Menſch und Thier gruͤnden
will: daß naͤmlich das Thier urſpruͤnglich alles, was
es wiſſen ſollte, alſogleich vollkommen wiſſe, ſeine
Sinne inſtinktmaͤſſig durch angebohrne Kunſtfertigkei-
ten uͤbe; da hingegen dieſes der Menſch alles erſt
lernen muͤſſe, und nur durchs Lernen zum Menſchen
werde. Es iſt ſchwer, ſo einſeitige Ausdruͤcke genau
nach dem Sinne des Schriftſtellers zu verſtehen; al-
lein ſo viel weiß ich gewiß, daß auch in dieſer Ruͤck-
ſicht das Thier in keinem Falle mehr weiß, als der
Menſch, wenn nur nicht ſeine ganze Verfaſſung
ein vollſtaͤndigeres angebohrnes Wiſſen noͤthig mach-
te.
[122] te. So mußte freylich das junge Rebhuhn, da es
mit ſo gewandiger Schnelligkeit die bewachſenen Flu-
ren durchſtreifen ſollte, auch ſchon eine Fertigkeit im
Sehen haben; bey der jungen Spinne muſte das Ge-
fuͤhl auf den hoͤchſten Grad verfeinert ſeyn, ſobald ſie
ein Netz und Nahrung brauchte. — Aber ſo, wie
ich am Kinde gleich nach ſeiner Geburt keinen feſten
Blick entdecke, ſo wie es keine Zeichen der Aufmerk-
ſamkeit bey einer Muſik aͤuſſert, und uͤberhaupt die
wichtigſten Sinne noch ſtumpf ſind: eben ſo heftet der
junge Hund die erſten Tage, wenn ihm die Augen auf-
gehen, auf nichts einen feſten Blick; er guckt gleich-
ſam in den Wind; das Auge iſt noch matt, truͤb,
dick. Erſt nach einiger Zeit beobachte ich am Kind
und am Hunde, daß ſie der Gegenſtaͤnde auſſer ihnen
durch das Auge gewahr werden. Das Kind verfolgt
vorzuͤglich glaͤnzende Koͤrper, die Flamme des Lichts,
und greift ohne Maaß der Entfernung nach denſelben.
Der junge Hund uͤbt ſich mit ſeiner Mutter und ſei-
nen Kameraden*); er greift weit und hoch mit den
Fuͤßen aus, obſchon ihm ſein Gegner ganz nahe iſt;
wo er hin will, laͤuft er an, und ſcheint alles weiter
zu ſuchen. Zu was ſollte ihm aber auch ein ſcharfes
Geſicht nuͤtzen, wo es noch durch die Schwaͤche ſeiner
Glieder und die Langſamkeit ſeiner Bewegungen ent-
behrlich gemacht wird? Zu was ein feines Gehoͤr,
wo
[123] wo er noch nicht entlaufen und noch nichts verfolgen
kann? — Warum endlich ſtuͤrzt der junge Hund eben ſo
oft, wie der haſtige Knabe, vom Stuhle? Warum
iſt der alte Sperling ſchuͤchterner, gerade ſo wie das
gebrannte Kind mit dem Feuer behutſamer wird? wa-
rum raubt der alte Fuchs geſchickter, als ſein Sohn?
Warum lernt der Hund erſt durch Uebung den Schlamm
vom feſten Boden unterſcheiden? „Die Voͤgel, ſagt
Heinrich Home*), fuͤrchten ſich nicht vor vierfuͤſſi-
gen Thieren; nicht einmal vor einer Katze, bis ſie
aus der Erfahrung gelernt haben, daß eine Katze ihr
Feind iſt. Sie ſcheinen ſich auch von Natur nicht vor
dem Menſchen zu fuͤrchten, und werden deswegen nicht
eher ſcheu, als bis ſie beunruhigt oder geplagt werden.
In Viſia Grande, einer von den unbewohnten Philip-
piniſchen Inſeln, kann man die Voͤgel, wie Kaͤm-
pfer ſagt, mit der Hand haſchen. Die Habichte
ſind auf einigen Inſeln der Suͤdſee ebenfalls zahm.
Zu Port Egmont in den Falklandinſeln kann man die
Gaͤnſe, ohne ſcheu zu werden, mit einem Stocke todt
ſchlagen. Die Voͤgel, welche auf gewiſſen Felſen
wohnen, die in der Inſel Annabon uͤber die See haͤn-
gen, nehmen das Futter aus der Hand eines Men-
ſchen an. In dem gluͤcklichen Arabien zeigen die Fuͤch-
ſe und Affen keine Furcht vor dem Menſchen; und die
Einwohner der heißen Laͤnder wiſſen nichts vom Ja-
gen. In der unbewohnten Inſel Bering nahe bey
Kamſchatka ſind die Fuͤchſe ſo wenig ſcheu, daß ſie
dem
[124] dem Menſchen kaum aus dem Wege gehen.„ Wenn
dieſes auch nicht alles nach dem Buchſtaben wahr iſt,
ſo bleibt es doch die Hauptſache. Warum uͤberſieht
der Gelehrte in einem Augenblicke die Geſtalt, die
Verbindung, den Sinn von einer Menge Buchſtaben,
und zeichnet die ſo verſchiedenen Figuren mit bewun-
derungswuͤrdiger Fertigkeit aufs Papier, waͤhrend dem
doch ſeine Aufmerkſamkeit nur auf den Gegenſtand und
den Ausdruck gerichtet iſt? Und warum iſt dieſes ei-
nem Lapplaͤnder ganz unbegreiflich? — Weil das Be-
duͤrfniß des Lernens ſo wenig die thieriſche Natur,
als die angebohrnen Kunſtfertigkeiten die menſchliche
Natur ausſchließen, und weil Uebung, Gewohnheit
und Erfahrung auch auf das Wiſſen und die Lebens-
art der Thiere einen Einfluß haben, der freilich beym
Menſchen deſto allgemeiner ſeyn mußte, je uneinge-
ſchraͤnkter ſein Faͤhigkeiten und ſeine Lebensweiſe ſeyn
ſollten.
§. 31.
In Ruͤckſicht der ſinnlichen Empfindungen.
“An einen andern Orte ſagt Herder: Die kuͤnſt-
liche Bildung unſrer Ideen von Kindheit auf erweiſet
(die Immaterialitaͤt der Seele) und der langſame
Gang, auf welchem die Seele nicht nur ſpaͤt ihrer ſelbſt
bewuſt wird, ſondern auch mit Muͤhe ihre Sinnen
brauchen lernt. Mehr als ein Pſycholog hat die
Kunſtſtuͤcke bemerkt, mit der ein Kind von Farbe,
Geſtalt, Groͤße, Entfernung Begriffe erhaͤlt und durch
die es ſehen lernt. Der koͤrperliche Sinn lernt nichts:
denn
[125] denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs Auge,
wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber
die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen,
geiſtig empfinden.„ — Groͤße, Entfernung u. ſ. w.
ſind bloße beziehungsbegriffe, und ſie ſind gewiß in je-
dem Weſen auf eine andere Art wirklich. Der Meve,
die in einem Nachmittag 200 Stunden ſpazieren fliegt,
muß dieſe Strecke etwan ſo weit, wie der Schnecke
einige Schritte vorkommen. Beym Ausmeſſen der Groͤ-
ße macht jedesmal das Kind ſich ſelbſt zum Maaßſtab;
daher ſcheint ihm ſein vaͤterliches Haus, welches es
ſich waͤhrend einer mehrjaͤhrigen Entfernung immer
nach ſeinen erſten Begriffen vorſtellte, bey ſeiner An-
kunft ſo eng, ſo nieder: denn das ganze Verhaͤlt-
niß zwiſchen ihm und dem Hauſe iſt veraͤndert. Es iſt
folglich ſehr ſchwer zu beſtimmen, in wie fern wir je-
mals von einer Sache aͤchte Begriffe haben; beſon-
ders da wir nur in ſofern davon urtheilen koͤnnen,
als ſie in die 3-4-5 Sinne faͤllt. — Wahrſcheinlich ver-
haͤlt ſich da die Seele groͤſtentheils leidend; denn auch
daß die Seele durch die Sinne meſſen, vergleichen
und geiſtig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht
zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen
alſogleich vollkommen ſieht, hoͤrt, ſchmeckt, riecht,
und fuͤhlt, wie wir es bisher in ſo vielen Beyſpielen
geſehen haben. Denen der Staar operirt wird, ſcheint
es zwar, die Gegenſtaͤnde beruͤhrten das Aug unmit-
telbar; allein, man weiß, daß ſich alle unſere Gefuͤh-
le nach den herrſchenden richten, und dieſes ſo ſehr,
daß ſchwaͤchere Gefuͤhle bei obwaltenden ſtaͤrkern ent-
weder
[126] weder verdunkelt, oder gar nicht empfunden werden.
Hier war der Sinn des Gefuͤhles der herrſchende, und
die Verrichtung des Sehens kann in einem an den
Reitz des Lichts noch ungewoͤhnten Auge nur unvollkom-
men ſeyn. Selbſt da hat in der That zwiſchen den
Lichtſtrahlen und dem Sehnerven eine wahre Beruͤh-
rung ſtatt: Iſt es alſo wunder wenn dieſer ſchwaͤchere
Eindruck den herrſchenden Sinn des Gefuͤhls in Be-
wegung ſetzt? Wir doͤrfen nur einer Muſik lange
zugehoͤrt haben, ſo hoͤren wir noch lange Zeit hernach
den Schall und Einklang der Inſtrumente. Ein ſehr
lebhaftes Bild kann man oft mehrere Tage nicht vom
Geſichte weg bringen. Wer lange mit Karten geſpielt
hat, glaubt nachher uͤberall Karten zu ſehen, und
er bedarf einer reflektirten Aufmerkſamkeit, um ganz
der Taͤuſchung zu entgehen. Eben dieſes nebſt dem groſ-
ſen Geſetz der Ideenvergeſellſchaftung iſt auch die Ur-
ſache, warum wir noch am abgenommenen Arme zu fuͤh-
[l]en glauben; warum wir beym Anblick der Roſe ihren
Geruch, und beym Geruch des Roſenwaſſers das Bild
der Roſe ſelbſt gegenwaͤrtig haben. Endlich ſezt man
hier mit unrecht ein vollkommenes Auge voraus; denn
die Lichtmaterie iſt mit den Saͤften, den Gefaͤßen,
den Nerven des Auges nothwendig in ſo ein Verhaͤlt-
niß geſetzt worden, daß dieſe durch jene in ihrer Mi-
ſchung, Lage, Reizbarkeit u, ſ. w. unſtreitig verſchie-
deutlich veraͤndert werden koͤnnen. Daher ſehen wir
nichts in die Ferne, wenn wir lange geleſen oder ge-
ſchrieben haben, nichts in der Naͤhe, wenn wir lange
weit ausgeſehen haben; Licht und Finſterniß thun uns
weh,
[127] weh, wenn wir gaͤhling aus dem einen in das andere
uͤbergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen
ſo kuͤnſtlich iſt, waram halten wir ſo oft eine Fliege,
die eine Spanne vor unſerm Auge ſchwebt, fuͤr einen
groſſen hoch in den Luͤften ſchwebenden Vogel? Wa-
rum ſehen wir ſo viele Dinge, Feuer, ſchwarze Fle-
cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge ſind? —
Der koͤrperliche Sinn lehret nichts, aber daß ſich
deßwegen das Bild den erſten Tag aufs Auge mahle
wie es ſich den letzten des Lebens darauf mahlen wird,
iſt nicht glaubbar, und widerſpricht allen bekannten
Geſetzen der Phyſik und der Phyſiologie. Der Ab-
druck, die Strahlenbrechung koͤnnen in einem matten
truͤben, gebrochenen Auge, deſſen Saͤfte noch nicht
gehoͤrig abgeſchieden, gleichſam noch zuſammengefloſ-
ſen ſind, wie das Auge des Kindes und des jungen
Hundes beſchaffen iſt, unmoͤglich ſo deutlich, lebhaft
und zuſammenſtimmend ſeyn, als in einem gutausge-
zeichneten, durchſcheinenden, feuervollen und mit ge-
hoͤriger Reizbarkeit verſehenen Auge, wie z. B. das
Auge der Gazelle, des Falken und eines ſchon entwi-
ckelten Menſchen iſt. Ich will nichts von der gehoͤri-
gen Feſtigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und
des Gehirnes ſagen, bey deren Fehler die geuͤbteſte
Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß-
kunſt in eine Chimaͤre verwandelt ſieht.
§. 32.
[128]
§. 32.
In Ruͤckſicht der angebornen Anlagen.
Was man uͤbrigens immer von der Bildung
des Menſchen durch die Erziehung, und gegen die an-
gebohrne Vernunft ſagen mag, ſo bleibt es doch eine
ewige Wahrheit, daß kein Thier und kein Menſch je
etwas gelernt oder ſonſt ſich zugeeignet habe, wozu
er keine angebohrne Faͤhigkeit, keine natuͤrliche Anla-
ge hatte. Dieſe urſpruͤngliche Anlage iſt bey allen
Arten einer Gattung weſentlich einerley; aber ſie iſt
durch die Organiſation theils mehr oder weniger ge-
bunden, theils aber auch mit bloß zufaͤlligen Abwei-
chungen vereinigt. Daher giebt es unter einerley
Gattung Thiere ſo, wie unter den Menſchen, ſehr ver-
ſchiedene Stufen ihrer Faͤhigkeiten. Wie ſehr wei-
chen die Eigenſchaften der Hunde ab! und unter dem
naͤmlichen Wurfe einer Huͤndin ſind einige zu nichts,
andere zu den vortreflichſten Jagd-Spur- oder Fang-
hunden abzurichten. Aber man wird durch allen er-
ſinnlichen Fleiß aus dem Windſpiele keinen Pudel zie-
hen, ſo wenig als aus dem Fuchſe oder dem Orang-
outang einen Menſchen; oder einen Dichter, Arzt, Feld-
herrn, Handelsmann, wenn die angebohrnen Faͤhig-
keiten mangeln oder den dazu erforderlichen Eigenſchaf-
ten widerſprechen. So verſchieden hier die Natur ih-
re Geſchenke ausgetheilt hat, ſo hat ſie doch nie auf
die Erhaltung eines jeden einzelnen Mitgliedes Ver-
geſſen. Was der Windhund durch ſein ſcharfes Aug,
und ſeine ſchnellen Fuͤſſe erwirbt, daß erwirbt der Dachs-
hund
[129] hund durch Graben und ſein ſtarkes Gebiß; was der
Gelehrte durch Wachen und Nachſinnen erlangt, das
erlangt der Muͤſſiggaͤnger durch Tand und geſellſchaft-
liche Zudringlichkeit;„ der Weiſe ſah, daß die Weis-
heit die Thorheit uͤbertreffe, wie das Licht die Fin-
ſterniß: daß dem Weiſen ſeine Augen im Haupte ſte-
hen, aber die Narren in Finſterniß gehen, und merk-
te doch, daß es einem geht wie dem andern.„*) Der
Natur iſt der Elephant nicht lieber, als die Milbe,
und der Feuerlaͤnder liegt ihr ſo nahe am Herzen, als
der Europaͤer. — Wenn man die Vernunft und die
uͤbrigen Vorzuͤge des Menſchen deßwegen nicht ange-
bohren heißen will, weil ſie ſich erſt langſam, erſt
durch ſinnliche Bilder entſpinnen, ſo ſage ich, dem
Menſchen ſeye das Zeugungsgeſchaͤft und der Tod,
dem Stier das Stoßen und dem Hengſt das Schlagen
auch nicht angebohren, weil ſich alles dieſes erſt ſtu-
fenweis zu ſeiner Vollkommenheit entwickelt. Ideen
ſind uns freylich keine angebohren; aber das Vermoͤ-
gen, die Ideen, welche wir erhalten werden, zu
vergleichen — und dieſes iſt Vernunft, oder, wenn man
ſtrengere Ausdruͤcke verlangt, Vernunftfaͤhigkeit. Da-
rum, daß uns die Ideen nicht angebohren ſind, auch
die angebohrne Vernunft leugnen, koͤmmt juſt ſo her-
nus, als wenn wir ſagen wollten: Die Bruͤſte der
Mutter ſind dem Kinde nicht angebohren; alſo iſt ihm
auch das Saugen oder Saugvermoͤgen nicht angeboh-
ren. Keinen Gegenſtand zum Sehen, Hoͤren, Fuͤhlen
Schmecken,
Galls I. Bard. J
[130] Schmecken, Riechen; ſo iſt uns kein einziger Sinn an-
gebohren.
§. 33.
Außer den bisherigen Meinungen von den Kunſt-
fertigkeiten verdient unter den Alten vorzuͤglich noch
des Galenus ſeine gehoͤrt zu werden. “Alle koͤrper-
lichen Glieder, ſagt er, ſind der Seele nuͤtzlich, als
deren Werkzeuge der Koͤrper iſt. Daher ſind die Glied-
maßen der Thiere ſehr von einander unterſchieden,
weil die Seelen ſelbſt verſchiedener Arten ſind; und ei-
nes jeden Koͤrper iſt zu den Neigungen und Faͤhigkei-
ten der Seele eingerichtet. Der Loͤwe hat als ein
muthiges und freches Thier (jetzt beſchreibt man ihn
feig und nur im Hunger verwegen) ſtarke Zaͤhne und
Klauen, der Stier hat ſeine Hoͤrner, der Eber hat
ſeine Hauer von der Natur zu Waffen bekommen.
Hingegen haben Hirſche und Haſen, als furchtſame
Thiere, zwar einen zur Flucht geſchickten Leib, aber
ſie ſind wehr- und waffenlos. Kein furchtſames Thier
iſt von der Natur mit Waffen verſehen, noch irgend
ein freches und ſtreitbares Thier von denſelben entbloͤ-
ſet. Dem Menſchen aber hat ſie, weil er weiſe iſt,
und allein unter allen Thieren des Erdbodens etwas
Goͤttliches an ſich hat, ſtatt aller Wehre und Waffen
Haͤnde gegeben: Ein Werkzeug, das zu allen Kuͤn-
ſten noͤthig und im Krieg und Frieden dienlich iſt.
Daher brauchet er keinen Huf, kein Horn oder einen
Zahn, ſondern kann ſich mit der Hand Schuhe, Pan-
zer, Spieß, Pfeile, Haͤuſer und Mauren bereiten,
Kleider
[131] Kleider weben, Netze ſtricken, und auf ſolche Art
nicht allein uͤber die Landthiere, ſondern auch uͤber
die, ſo im Waſſer und in der Luft ſind, Herr wer-
den. Mit dieſen ſchreibt er im Frieden und in der
Geſellſchaft Geſetze, richtet den Goͤttern Altaͤre und
Bildſaͤulen auf, verfertigt Schiffe, Floͤten, Leyern,
Meſſer, Zangen und andere Werkzeuge der Kuͤnſte,
hinterlaͤſt ſeine Betrachtungen ſchriftlich, ſo wie er
ſich noch auf dieſe Weiſe mit dem Plato, Ariftoteles
und Hippokrates unterreden kann. So ſchicken ſich
denn die Haͤnde fuͤr den Menſchen, als ein weiſes
Thier am beſten. Denn er iſt darum nicht das weiſe-
ſte Thier, weil er Haͤnde hat, wie Anaxagoras ſag-
te; ſondern er hat deßwegen die Haͤnde, weil er der
weiſeſte iſt, wie Ariſtoteles mit voͤlligem Recht be-
hauptet. Denn die Haͤnde haben den Menſchen die
Kuͤnſte nicht gelehret: ſondern die Vernunft; die
Haͤnde ſind nur das Werkzeug der Kuͤnſte. Wie al-
ſo weder die Leyer den Tonkuͤnſtler, noch die Zange
den Schmidt belehret, ſondern beyde, vermoͤg ihrer
Vernunft Kuͤnſtler ſind, ob ſie dieſelben gleich ohne
Werkzeuge nicht ausuͤben koͤnnen; ſo hat auch eine
jede Seele vermoͤg ihres eigenen Weſens, gewiſſe Faͤ-
higkeiten, wiewohl ſie dasjenige, wozu ſie beſtimmt
iſt, ohne Werkzeuge nicht zur Wirklichkeit bringen
kann. Daß aber die koͤrperlichen Theile nicht dasje-
nige ſind, was der Seele einen Trieb giebt zur Furcht,
Tapferkeit oder Weisheit, das kann man offenbar ſe-
hen, wenn man die jungen Thiere betrachtet, als
welche ihre Handlungen ſchon ehe zu verrichten bemuͤ-
J 2het
[132] het ſind, ehe ihre koͤrperlichen Gliedmaßen die gehoͤri-
ge Vollkommenheit haben. Sehr oft habe ich ein
Stierkalb geſehen, das mit ſeinen Hoͤrnern ſtoffen
wollte, ehe ſie ihm noch gewachſen waren, und ein
Fuͤllen, das ſchon mit ſchwachem Hufe ausſchlagen woll-
te, einen jungen Friſchling, der ſich mit den Backen
wehren wollte, ungeachtet er noch keine Hauer hatte,
imgleichen einen neugebohrnen Hund, der mit Zaͤh-
nen beißen wollte, die erſt im Schuße waren. Denn
ein jedes Thier merkt ſeiner Seele Faͤhigkeiten, und
wozu ihm ſeine koͤrperlichen Gliedmaßen nuͤtzlich ſind,
ohne Lehrmeiſter, zum voraus. Warum wuͤrde ſonſt
ein Friſchling, mit ſeinen kleinen Zaͤhnen, die er ſchon
hat, nicht beißen, um ſich zu wehren, hingegen die
Hauer brauchen wollen, die er noch nicht hat? Wie
laͤſt ſich alſo ſagen, daß die Thiere den Gebrauch ih-
rer Gliedmaſſen ſelbſt lernen, da ſie denſelben ſchon
vor dem Daſeyn dieſer Gliedmaſſen zu kennen ſchei-
nen? Wenn man drey Eyer, eines vom Adler,
das zweyte von einer Ente, das dritte von einer
Schlange nimmt, und mit maͤßiger Waͤrme ausbruͤ-
tet, ſo wird man ſehen, daß die beyden erſten zu
fliegen ſuchen werden, ehe ſie noch koͤnnen; die Schlan-
ge aber ſich in einen Kreis zu wickeln, und ſo ſchwach
ſie auch noch iſt, zu kriechen bemuͤht ſeyn wird.
Wollte man ſie bis zu ihrer Vollkommenheit in einem
Hauſe auferziehen, und hernach unter den freyen Him-
mel fuͤhren, ſo wird der Adler in die Hoͤhe fliegen,
die Ente zu einer Pfuͤze flattern, die Schlange unter
die Erde kriechen. Nachmals wird der Adler, wie
ich
[133] ich denke, ohne Lehrmeiſter jagen, die Ente ſchwimmen,
die Schlange ſich in eine Hoͤhle verbergen. Denn die
Natur der Thiere darf von Niemand belehrt werden.
Daher ſcheinen mir auch die andern Thiere mehr von
Natur als durch Vernunft, einige kuͤnſtliche Dinge
zu machen: die Bienen ihre Honigſcheiben, die Amei-
ſen ihre unterirrdiſchen Gaͤnge und Vorrathskammern;
die Spinne ihr Gewebe, alle, wie ich ſchließe, ohne
Lehrmeiſter.„
§. 34.
In Ruͤckſicht der Organiſation, und der Ge-
wandtheit des Geiſtes.
Ich habe oben geſagt, daß alle moͤglichen
Arten des Daſeyns und des Lebens wirklich gemacht
werden muſten: Allein ich denke mir keine abgezogene,
ſondern eine, der Alles durchkreuzenden Verkettung
des Erdenalles, nicht wiederſprechende Moͤglichkeit.
“Die ganze Schoͤpfung ſollte durchgenoſſen, durchge-
fuͤhlt, durchgearbeitet werden; auf jedem neuen Punkt
alſo mußten Geſchoͤpfe ſeyn, ſie zu genießen, Orga-
gane, ſie zu empfinden, Kraͤfte, ſie dieſer Stelle ge-
maͤß zu beleben. Der Kaiman und der Kolibri, der
Kondor und die Pipa; was haben ſie mit einander
gemein? Und jedes iſt fuͤr ſein Element organiſirt;
jedes lebt und webt in ſeinem Elemente. Kein Punkt
der Schoͤpfung iſt ohne Genuß, ohne Organe, ohne
Bewohner; jedes Geſchoͤpf hat alſo ſeine eigne, eine
neue
[134] neue Welt.„.*) Jedes hat andere Sinne, andere
Beduͤrfniſſe, andere Kunſtfertigkeiten; jedes wird auf
einem andern Weege ſein Daſeyn durchgefuͤhrt; die
entgegengeſetzteſten Kraͤfte ſtreben uͤberall gegen ein-
ander. Und dieſe unzaͤhligen Mannigfaltigkeiten flie-
ßen vor dem Angeſicht des Weiſen in ein einſtimmi-
ges, herrliches Ganze zuſammen!
Wie verſchieden iſt die Weiſe, nach welcher
jedes Thier ſeiner Lebensbeute habhaft wird! Der
Hund faͤllt ſie mit offenem Muthe an; der Tiger um-
ſchleicht ſie mit feiger Hinterliſt; der Adler belauſcht
ſie von den Wolken herab; der Ameiſenloͤwe unter
dem Sande; und die Spinne verſtrickt ſie in ihr kle-
brichtes Netz, das ſie unter hellem Himmel aufge-
ſpannt hat. Eben ſo mannigfaltig iſt die Fortpflan-
zung der Thiere: In der Begattung der Floͤhe nimmt
das Weibchen die obere Stelle ein; bey unſern Stu-
benfliegen ſchiebt das Weibchen ſeinen Stachel zwi-
ſchen die Zeugungstheile des Maͤnnchens; der Froſch
befruchtet die Eyer, waͤhrend dem er ſie mit den
Pfoten dem Weibchen aus dem Leibe zieht; der Fiſch
beſtreicht ſein Weibchen in dem Augenblicke, wo es
den Rogen auslaͤſt; die maͤnnliche Libelle traͤgt ih-
re Zeugungstheile auf der Bruſt, und fliegt in der
Umarmung des Weibchens durch die Luͤfte; die Spin-
ne verbirgt ſie in den keulenfoͤrmigen Freßſpitzen, und
das Liebsgeſchaͤft droht ihr den Untergang; das Ku-
gelthier und die Plattlauſe enthalten zur naͤmlichen
Zeit mehrere Generationen; jede Schnecke iſt ein
Zwit-
[135] Zwitter, und ſie befruchten ſich ihrer Zweye wechſel-
ſeitig; die Kroͤte Pipa ſtreicht dem Weibchen den
Laich auf den Ruͤcken, waͤlzt ſich nachher ſelbſt noch
ruͤcklings druͤber her, druͤckt dadurch die Eyerchen in
beſondere Gruͤbchen in der Haut feſt, und befruchtet ſie
hierauf mit ihrem Samen. Dieſe Eyerchen verwach-
ſen nachher gleichſam mit der Haut der Mutter, bis
nach Verlauf von beynahe drey Monaten die darinn
befindlichen Jungen zum Ausbruche reif ſind, und nach
einer kurzen Verwandlung den Ruͤcken ihrer Mutter
verlaſſen koͤnnen.*) Der Wurm und der Polip ver-
mehren ſich aus ihren Truͤmmern. u. ſ. w.
Dieſe erſtaunliche Abwechslung herrſchet durch
die ganze Schoͤpfung. Ein und das naͤmliche Thier
z. B. mit zwanzig tauſend Pflanzenarten zuſammenge-
ſtellt, ſo ergeben ſich daraus zwanzigtauſend verſchiedene
gegenſeitige Verhaͤltniſſe. Wie vielfach aber durchkreu-
zen ſich alle Erden, Metalle, Thiere, Pflanzen u.
ſ. w. und wie unendlich zahlreiche Verhaͤltniſſe ſind
alſo wirklich gemacht worden!
Kehren wir aber von dieſer allgemeinen Ueber-
ſicht auf einzelne Gattungen zuruͤck, ſo finden wir,
daß ihre Eigenſchaften und Faͤhigkeiten im Vergleich
mit jenen des Menſchengeſchlechts noch immer ſehr
eingeſchraͤnkt ſind. Es ſcheint, die Natur habe im
Menſchen theils vereinigen, theils vollenden wollen,
was ſie in den uͤbrigen Geſchoͤpfen entweder nur ſtuͤck-
weiſe zerſtreuet, oder ganz vernachlaͤſſigt hat. Er
war
[136] war einmal zur Verbreitung uͤber die ganze Erde be-
ſtimmt; folglich mußte er unendlich vieler Veraͤnde-
rungen der Sitten und Lebensarten empfaͤnglich ge-
macht werden. Auf dieſe Art konnte der Menſch un-
ter allen Bedingniſſen auf die Natur, und die Natur
wieder unter allen Bedingniſſen auf den Menſchen zu-
ruͤckwirken. Ein Himmelsſtrich, eine Regierungsform,
eine Religion, einerley Nahrung und Lebensart haͤt-
ten nie alle die entgegengeſetzteſten Faͤhigkeiten, die
in ihn gelegt worden ſind, entwickeln koͤnnen. —
Werfen wir nur einen fluͤchtigen Blick auf ſeine Ge-
muͤths- und Geiſtesfaͤhigkeiten: Er erſetzet, zum Bey-
ſpiele, den eiſernen Nacken des Auerſtiers, die Mus-
kelkraft des Loͤwen, die Schnellkraft des Springthiers,
das ſcharfe Auge des Luchſes, und das feine Gefuͤhl
der Spinne dadurch, daß er der Kunſt, der Nach-
ahmung und des Unterrichtes, den er ſelbſt in den
Thieren findet, faͤhig iſt. Er iſt grauſam, mitleidig,
ſtolz, demuͤthig, offenherzig, liſtig, verſchlagen,
dumm, großmuͤthig, rachſichtig, verwegen, furcht-
ſam, frech, ſchuͤchtern, beharrlich, wankelmuͤthig,
verſchwenderiſch, geizig, keuſch, wolluͤſtig, traͤg, ar-
beitſam u. ſ. w. Es iſt kein Element, kein Geſchoͤpf,
deſſen er nicht Herr werden kann. Er toͤdet den fluͤch-
tigen Hirſch mit Pfeil und Kugel, lockt den Vogel
aus den Luͤften in ſeine Schlingen, faͤngt den Fiſch
im Garne, verfolgt die Gemſe uͤber die ſteilſten Klip-
pen; er wuͤhlt die Erde um, und taucht in die Tiefe
des Meeres, wenn er Wurzeln zur Nahrung und
Schaͤtze zur Verſchwendung braucht; will er in ferne
Ge-
[137] Gegenden ziehen, oder Welten entdecken, ſo bedarf
er keines unwiderſtehlichen Zugtriebes; denn er kennt
den Lauf der Geſtirne, und der Magnet weiſet ihm
die Pole der Erde. — Der Neger am Senegal, der
Lapplaͤnder und der Feuerlaͤnder kennen kaum den Na-
men der Kuͤnſte, und der Europaͤer macht redende
Maſchinen, durchſchift den Luftkreis und zeichnet den
Geſtirnen ihre Bahne vor; der kropfichte Walliſer
vergiſſet zu eſſen und ſich zu entleeren*), und die
Druiden entlehnten Gelder, um ſie jenſeits des Gra-
bes wieder zuruͤckzugeben; der Boniane verbindet ſich
das Maul, um kein lebendiges Thier zu ſchluͤcken,
und der Kanibale toͤdet den Menſchen mit der groͤßten
Gleichguͤltigkeit und zehrt ihn mit Luſt auf. Der Roͤ-
mer begraͤbt die unkeuſche Veſtalin lebendig**), und
der Muſelmann faͤllt vor dem verſchnittenen Derwi-
ſche, der ſeine Eſelin ſchaͤndet, voll Ehrfurcht auf
die Knie.***) Der Neuſeelaͤnder dringt ſeine Gattin
dem Fremdlinge auf, und der Tuͤrke entmannet ſei-
nen Unterthan, um das Heer ſeiner Beyſchlaͤferinnen
zu bewachen. — Dort verehrt der Menſch den Zwie-
bel und den Knoblauch, den Hund und die Geiſe ✷)
opfert
[138] opfert grauſamen Goͤtzen, die er ſich ſelbſt gemacht;
da ſinkt er in Staub vor einem nothwendigen Weſen
ohne Anfang und ohne Ende, ohne Zeit und ohne
Raum, vor einem allguͤtigen Gott — Der Gottloſe
aber wuͤnſcht es, und ſprachs in ſeinem Herzen: Es
iſt Kein Gott!
Und alles dieſes thun die Kinder eines einzigen
Stammvaters.*) Wer bewundert nicht die außeror-
dentliche Gewandtheit des menſchlichen Geiſtes!
So ſehr nun der Menſch in Ruͤckſicht der bey-
nahe grenzenloſen Biegſamkeit des Koͤrpers und des
Geiſtes, der Sprach- und Vernunftfaͤhigkeit, u. ſ. w.
uͤber alles Thier erhaben iſt: So hat er doch wieder
in andern Ruͤckſichten unendlich vieles mit ihm gemein.
Er naͤhert ſich ihm in ſeinen eigenen Abarten ſo ſehr;
und Es ſpielt in tauſend und tauſend Abaͤnderungen
der Geſtalten und der Faͤhigkeiten ſo lange um den
Menſchen herum, bis es ihm im menſchenaͤhnlichen [O-
rang-Outang] und im unfoͤrmlichen Elephanten auf
die Zehe tritt. — — —
Drit-
[139]
Dritter Abſchnitt.
Vergleich des Menſchen und der Thiere
mit den Pflanzen.
§. 35.
In Ruͤckſicht ihrer Erhaltung, ihres Wachs-
thums und ihrer Fortpflanzung.
Ich ſtelle nun noch den Menſchen mit den Ge-
waͤchſen zuſammen; denn unter je mehreren Geſichts-
punkten wir ihn betrachten, deſto deutlicher wird uns
der Begriff von ſeiner Natur werden.
Das Pflanzenreich faͤngt dort an, wo bey ei-
nem organiſirten Koͤrper zwar Reizbarkeit, Leben,
aber weder Empfindung von Innen, noch willkuͤhrli-
che Bewegung von Auſſen ſtatt hat. So viel war hin-
laͤnglich, daß ſie ihre Beſtimmung erfuͤllen konnten.
Es iſt reichlich fuͤr ihre Erhaltung und Ausbreitung
geſorgt worden. Sind ſie einzeln hilfloſer, als man-
che Thiere; koͤnnen ſie ſich von einem Orte des Ver-
derbens nicht zum Ueberfluß hinwenden, ſo haben
ſie dieſes mit vielen Pflanzenthieren gemein, und die
Natur hat uͤberall mehr die Gattung als die einzelnen
Mitglieder in ihren Schutz genommen. Wenn eine
Wieſe von der Hize ausdoͤrrt, oder unter dem Waſſer
erſtickt, ſo gehen zur nemlichen Zeit unzaͤhliche In-
ſekten
[140] ſekten, Gewuͤrmer, und Maͤuſe zu Grunde. Der
Untergang iſt allen Geſchoͤpfen beſtimmt; nur die Zeit
und die Weiſe deſſelben iſt verſchieden. Die Fliege
ſtirbt im Schlunde der Schwalbe, und die Schwalbe
in den Klauen des Habichts; der weiſe Menſch zu
Waſſer und zu Lande, an verheerenden Krankheiten,
vor Hunger und Durſt, unter den Waffen des Feindes,
unter dem Zahne des Tiegers; es ſtuͤrzen Provinzen mit
ihm ein, und das Feuer aus den Wolken verzehrt ihn.
Das Werden des Einen fodert den Tod des Andern. Al-
les wird vom Wirbel der Zerſtoͤrung hinabgezogen, und
an einem andern Orte unter einer andern Geſtalt
wieder herausgeworfen. Der Baum, der ſich ent-
wickelt, bluͤht, Fruͤchte traͤgt, Keime und Sproſſen
treibt, iſt in den Augen des Schoͤpfers ſo wichtig,
als der Menſch, der gebohren wird, waͤchſt, denkt,
ſich vermehrt und ſtirbt. Die Unternehmungen eines
jeden ſind umſchrieben, und keiner kann ſich eine
Kraft anmaßen, die nicht in ihn gelegt iſt. Das
Leben der Pflanzen haͤlt gegen unendlich viele Gefah-
ren aus; ſie ſtehen in dem Element ihre Nahrung;
Schutz, Anhalt, Wehr und Waffen geben ihnen die
mancherley Rinden, die Huͤllen der Bluͤthen, die
Stacheln, die erdfeſten Wurzeln, die Klammen und
Winden, und die weiſe Einrichtung, daß jedem Thie-
re nur wenige Gattungen zu ſeiner Nahrung angewie-
ſen ſind. — Ihre Vermehrung iſt nicht ihnen allein
uͤberlaſſen: Die ganze Natur, Winde, Fluͤſſe, Voͤ-
gel und Menſchen ſaͤen ihren Samen aus, und befoͤr-
dern ihr Gedeihen.
Die
[141]
Die Pflanzen haben dieſes mit allen Thieren ge-
mein, daß ihr allgemeiner Stoff Zellengewebe iſt. Die-
ſes bildet und ordnet ihre Gefaͤße. Vaſtel hat die Entwick-
lung einer thieriſchen Frucht mit jener einer Pflanzenfrucht
verglichen; ich will dieſen Vergleich hier anfuͤhren.
Das in jedem Samenkorn befindliche Samen-
pflaͤnzchen beſteht aus zwey Theilen, aus der Spitze,
oder dem Schnaͤbelchen, und dem Keime oder Sproͤß-
ling. Aus jenem entſteht die Wurzel, aus dieſem
der tragbare Theil der Pflanze.
Die Gefaͤße der Nabelſchnur dehnen ſich aus
und geben Aeſte, um den Mutterkuchen zu bilden: ſo
wie die holzigen Faſern der Spitze oder des Schnaͤbel-
chens am Samenpflaͤnzchen, um die Samenlappen zu
bilden. In Apfel- und Birnkern kann man durch
einen Querſchnitt einen Gang aus den Samenlappen zu
dem Schnaͤbelchen deutlich entdecken. Der Mutterku-
chen iſt eine Erweiterung oder Fortſetzung der Nabel-
ſchnur, wie die Samenlappen des Schnaͤbelchens.
Die Nabelſchnur verbindet ſich mit dem Mutterku-
chen und der Leibesfrucht; das Schnaͤbelchen mit den
Lappen und dem Sproͤßling. Es findet ſogar Ana-
logie zwiſchen der aͤuſſern Form der Lappen und je-
ner des Kuchen, und zwiſchen der Huͤlſe von jenen
und der Mutter ſtatt. Man merke noch, daß das
Schnaͤbelchen mit der Nabelſchnur, und der Punkt
des Lappenurſprungs am Sproͤßlinge mit dem Na-
bel der Leibesfrucht alle Aehnlichkeit habe. Die Lap-
pen ernaͤhren den Sproͤßling, ſo wie der Kuchen den
Foͤrtus. Der Kuchen ſaugt durch kleine Waͤrzchen ei-
nen milchichten Saft aus der Mutter, verwandelt ihn
[142] in Blut, vertritt die Stelle der Lungen, und im
ſchwammigen Gewebe der Lappen wird der Pflanzen-
ſaft zur Nahrung des Sproͤßlings ausgearbeitet, und
die Lappen ſind die Lungen des Sproͤßlings; es iſt
Kreislauf zwiſchen Kuchen und Frucht; der Pflanzen-
ſaft lauft von den Lappen zum Sproͤßling, von dieſem
zu jenen; man hat ſogar zweyerley Gattungen der
Gefaͤße im Schnaͤbelchen, der vegetabiliſchen Nabel-
ſchnur angenommen. Der Kuche loͤſet ſich endlich
ab, die Frucht tritt aus der Mutter heraus; das
Blut geht nun durch die Lungen, wird dort ausgear-
beitet, der Kuchen wird unnuͤtz; das Kind nimmt
Nahrungsmittel in den Magen, kleine Roͤhren ſau-
gen den fluͤſſigen Theil des Chylus aus dem Darmka-
nal, fuͤhren ihn zu Druͤſen, ins Blut, ins Herz,
durch die Lungen; auch bey den Pflanzen geht faſt al-
les auf die naͤmliche Art. Die Einſaugroͤhren der
Wurzel ſind die Milchgefaͤße der Pflanzen, die Blaͤt-
ter ihre Lungen; ſie ſaugen ein, duͤnſten aus, breiten
und reinigen ihren Saft. Bis hieher Vaſtel.
Die Fortpflanzung und Vermehrung, ein Ge-
ſchaͤft, das auf großen Naturkraͤften beruht, iſt eine
Eigenſchaft, worinn die Pflanzen, außer dem von
Vaſtel angefuͤhrten Vergleiche, beſonders mit den Pflan-
zenthieren ungemein viele Aehnlichkeit haben. Be-
kannte Arten ihrer Vermehrung ſind abgebrochene
Zweige, Blaͤtter, Augen, Wurzelfaſern, Loden,
u. ſ. w. Eben ſo wachſen abgebrochene Zweige ſowohl
von Steinthieren, als Pflanzenthieren, z. B. das
Schorfkorall fort, wenn man ſie nur im Element ih-
rer
[143] rer Nahrung laͤßt. Eben ſo die harten und zarten
Staudenthiere. So wie die Ver mehrungsſucht des
Armpolypen nur durch Quetſchen zerſtoͤrt werden kann,
eben ſo kann man auch nur durch Quetſchen den Fort-
pflanzungstrieb mancher Pflanzen z. B. der kriechen-
den Quecke (Triticum repens) zu Grunde richten. Ei-
nige Arten von Afterpolypen vermehren ſich durch ei-
genmaͤchtige Trennung; von Tembley’s Federbuſch-
polypen ſoͤndern ſich ganze Buͤſchel ihrer Abtheilungen
von ſelbſt ab, und fangen eine neue Familie an; ſo
vermehren ſich auch Pflanzen durch die Trennung der
Knoſpen oder Seitentheile z. B. die zwiebeltragende Lili[e]
(Lilium bulbiferum) die keimende oder kleine Natter-
wurzel (poligonum viviparum) beynahe alle Zwiebel-
gewaͤchſe vermehren ſich wie der Armpolype und der
Bandwurm. — Das von Elliot beſchriebene, ran-
kende Feigenthier, die Pfeiſſenkoralline und einige
Blaſenkorallinen vermehren ſich ſo wie unſere Schilfe
und Laubhoͤlzer durch Ausſproſſen aus einer fortranken-
den Wurzel u. ſ. w.
Die Art ihrer Befruchtung durch weibliche und
maͤnnliche Theile, daß bald beyde Geſchlechter in ei-
ner Blume vereinigt, wie bey der Tulpe, bald in ver-
ſchiedene Blumen zertheilt, wie bey dem Nußbaume,
bald auf verſchiedene Staͤmme verſezt ſind, wie beym
Hanfe u. ſ. w. ſind Jedermann bekannte Dinge.
〟Sobald die Natur das Geſchlecht geſichert
hat, laͤßt ſie allmaͤhlig das Individuum ſinken. Kaum
iſt die Zeit der Begattung voruͤber, ſo verlieret der
Hirſch ſein praͤchtiges Geweih, die Voͤgel ihren Ge-
ſang
[144] ſang und viel von ihrer Schoͤnheit, die Fiſche ihren
Wohlgeſchmack, und die Pflanzen ihre ſchoͤnſte Farbe.
Dem Schmetterlinge entfallen die Fluͤgel und der A-
them geht ihm aus. Ungeſchwaͤcht und allein kann
er ein halbes Jahr leben. So lange die junge Pflan-
ze keine Blume traͤgt, wiederſteht ſie der Kaͤlte des
Winters, und die zu fruͤh tragen, verderben zu erſt.
Die Maſer hat oft hundert Jahre erlebt: ſobald ſie
aber einmal die Bluͤthe entfaltet hat, ſo wird keine
Erfahrung, keine Kunſt hindern, daß nicht der praͤch-
tige Stamm im folgenden Jahr den Untergang leide.
Die Schirmpalme waͤchſt fuͤnf und dreißig Jahr zu
einer Hoͤhe von ſiebenzig Schuhen, hierauf in vier
Monaten noch dreißig Schuhe; nun bluͤht ſie, bringt
Fruͤchte, und ſtirbt in demſelben Jahr. Dieß iſt der
Gang der Natur bey Entwicklung der Weſen ausein-
ander; der Strom geht fort, indeß ſich eine Welle
in die andere verliert.〟 *)
Eben ſo geht es einzelnen Theilen. So bald
ſie uͤberfluͤſſig geworden ſind, ſo hoͤrt Wachsthum und
Nahrung bey Vieh und Menſch in denſelben auf, z.
B. in der großen Halsdruͤſe, der Nabelſchnur, Bo-
talls arterioͤſem Kanale; ja dieſe Theile werden nicht
nur am Ende nicht mehr genaͤhrt, ſondern ihre Be-
ſtandtheile werden abgenutzt und eingeſogen, ſo daß
ſie endlich einſchrumpfen, und an Groͤſſe und Gewicht
verlieren, wie wir dieſes taͤglich an den Kinnladen
und allen knorplichten Theilen u. ſ. w. alter Leute,
an
[145] an den Bruͤſten der Weiber ſehen koͤnnen; andere Thei-
le hingegen entſtehen oder entwickeln ſich nicht ehe, als
bis ſie nothwendig werden, wie die Zaͤhne, die Zeu-
gungstheile u. ſ. w. Ueberall treffen wir bey den
Pflanzen aͤhnliche Erſcheinungen an. Diejenigen laub-
artigen Bedeckungen, welche den Bluͤtſtengel anfaͤng-
lich einwickeln, und gegen die Wirkungen des Lichts
und der Luft ſchuͤtzen, troͤcknen aus, ſchnurren zuſam-
men und fallen ab, ſobald ſich der Bluͤtſtengel und
die Blumen entwickelt haben; wie z. B. bey dem in-
dianiſchen Rohr; die maͤnnliche Bluͤte beym Rußbaume,
die Staubfaͤden und die Blumenblaͤttchen beym Apfel-
baume loͤſen ſich von Zweig und Stiel und fallen ab,
ſo bald die weibliche Bluͤte befruchtet iſt. Der Theil
des Stammes, der uͤber das letzte Aug hervorragt,
trocknet ein, und wird nach und nach abgeſtoſſen. Die
Samenhuͤlſe der elaſtiſchen Balſamine zerſpringt nicht
ehe, und jene des Bilſenkrauts loͤſet nicht ehe ihre
Kappe ab, als bis der Same ſeine Reife erhalten hat,
und zur Ausſaat tauglich geworden iſt. Der Bohnen-
ſtock faͤngt erſt dann an, ſich zu winden, und die Re-
be treibt dann erſt die Zirrhen, wenn ſie nimmer
ſtark genug ſind, ſich ſelbſt aufrecht zu halten.
So wie zu ſaftvolle Gewaͤchſe, die zu ſehr in
Holz und Laub wuchern, keine oder nur ſehr ſparſame
Fruͤchte tragen, und die Vollſaftigkeit durch Umſchnei-
den der Rinde, oder durch Abnehmen der Pfahlwur-
zel gemindert werden muß: eben ſo ſind Frauen und
Maͤnner, und andere Thiere, welche ſehr ſtark ins
Fett wachſen, ſelten fruchtbar, und man muß ihnen
Gall I. Band Kdie-
[146] dieſe Neigung zum Anſetzen des Fettes durch koͤrperli-
che Bewegungen, ſtaͤrkende fluͤchtige Arzneyen, Sei-
fenartige Aufloͤſungen, rothe Korallentinktur, Alaun-
waſſer u. d. gl. benehmen, wenn man ſie fruchtbar
machen will. Magere, mit trocknem, derbem Fleiſche
beſetzte Thiere und Menſchen ſind zum Zeugungsge-
ſchaͤfte nach den Erfahrungen aller Zeiten die geſchick-
teſten, gerade ſo wie die Pflanzen unter ſonſt gleichen
Umſtaͤnden auf magerem Boden mehr Bluͤte und Sa-
men, als Holz und Laub anzuſezen pflegen.
Es iſt bekannt, daß man die innlaͤndiſchen Stut-
ten und Schaafe durch auslaͤndiſche, oder zum wenig-
ſtens von einen andern Samen abſtammende Hengſte
und Widder befruchten laſſen muͤße, wenn man einen
ſchoͤnen Schlag Pferde und gute Schafzucht lange er-
halten will. Die naͤmliche Vorſorge hat man zu
allen Zeiten an Pflanzengewaͤchſen beobachten muͤſſen.
Vor einigen Jahren war um Heidelberg die allgemeine
Klage, daß die Grundbirnen (Solanum eſculentum)
auszuarten anfiengen. Um in Britanien den Waizen
in ſeiner Staͤrke zu erhalten, und zu verhuͤten, daß
in Schottland und Irrland der Flachs nicht ausarte,
wird alljaͤhrlich eine große Menge von fremden Sa-
men eingefuͤhrt. Es ſeye nun, daß der Same durch
die allzugroſſe Aehnlichkeit ſeiner Beſtandtheile, oder
durch die zu lange Angewoͤhnung an einerley Boden,
Nahrung, Himmelsgegend, oder bloß weil er nicht
urſpruͤnglich einheimiſch iſt ſeine Thaͤtigkeit und Kraft
verliere, ſo haben doch ſehr groſſe Maͤnner auch bey
den Menſchenracen die Vermiſchung mit fremden Ge-
ſchlech-
[147] ſchlechtern fuͤr ein wichtiges Mittel zur Erhaltung ei-
ner kernhaften Generation angeſehen.
Die Gewaͤchſe werden durch Mangel an Nah-
rung entkraͤftet und ſterben ab; nur dann, wenn ih-
nen noch zur rechten Zeit Nachrung gereichet wird,
ſind ſie noch im Stande, dieſelbe aufzunehmen; und
dieſes thun ſie ſo gierig, daß eine ſolche erſchoͤpfte Pflan-
ze in einer Stunde mehr einſaugt, als ſie bey voller
Nahrung nicht in ſechs Stunden thun kann. Iſt ſie
aber auf einen zu hohen Grad entkraͤftet, ſo haben
die Gefaͤße, wie es in aͤhnlichen Faͤllen bey Thieren
geſchieht, alle Reizbarkeit und Wirkſamkeit verloren,
und jemehr man ſie mit Nahrung uͤberhaͤuft, deſto
ſicherer geht ſie zu Grunde. Eben dieſes Geſchieht,
wenn man ſie, ehe ihre Saͤfte und Roͤhren gehoͤrig
in Bewegung ſind, ehe ſie angewachſen iſt, haͤufig be-
gießet. Die Wurzel iſt nicht im Stande durch im-
merwaͤhrendes Anziehen der Feuchtigkeiten eine Art
von Leben um ſich herum zu erhalten; was ſie auf-
nimmt, wird nicht verdauet, nicht ausgeduͤnſtet u. ſ.
w. Und ſo geht Stamm und Wurzel in Faulniß,
gerade wie dieſes bey uͤberfuͤtterten zuvor allzuſehr ge-
ſchwaͤchten Thieren geſchieht.
Sie ſind aus Gliedern und Gelenken, welche
von den allgemeinen Bedeckungen uͤberzogen werden
zuſammengeſetzt. Die Gelenke werden erſt bey der
Reife oder dem Abſterben der Pflanzen recht ſichtbar.
Bey ſehr vielen Gattungen beſteht der ganze Stamm,
die Aeſte, das Laub ꝛc. aus Gliedern, welche auf einan-
der aufgeſetzt ſind. Bey allen durchgaͤngig iſt das
K 2Laub
[148] Laub und der Fruchtſtiel auf dieſe Art mit dem Zwei-
ge, das Mark der Frucht mit dem Fruchtſtiel verbun-
den, und dieſe wird durch Gefaͤße mit der Huͤlſe und
dem Keime in Gemeinſchaft geſetzt. Iſt der Keim
ausgebildet, das Mark reif, wird der Umlauf der
Saͤfte ſchwaͤcher, ſo trennt ſich Laub und Fruchtſtiel,
ohne zu zerreißen vom Zweige; der im Marke enthal-
tene Stein geht los, und in dieſen liegt jetzt der Kern
ohne alle Verbindung. Eben ſo ſind die Jungen und
Eyer der Thiere bey ihren erſten Urſprung, gleich den
auswachſenden Polypen, die ſich nachmals vom Mut-
terſtamm trennen, und ein unabhaͤngiges Leben anfan-
gen, Ausſproͤßlinge von Nerven und Gefaͤßen, u. ſ.
w. So haͤngt der Fiſchrogen mit den Ingeweiden des
Fiſches, und die Eyerchen unter ſich, jedes durch ei-
nen ſichtbaren aus mehreren Gefaͤßen zuſammengeſetzten
Faden zuſammen. Dieſes wird durch die naͤmlichen
Gruͤnde beſtaͤttigt, welche die Meinung von den vorgebil-
deten Keimen und derſelben Entwicklung widerlegen,
naͤmlich: durch die Fortpflanzung der erkuͤnſtelten und
ausgearteten Gattungen vermittelſt der Zweige und Au-
gen, durchdie Erkuͤnſtlung ſelbſt, die Baſtarde, die Na-
tionalbilder und Familienzuͤge, durch die Wiedererzeu-
gung verlorner Theile, die von mehrern beobachteten Ver-
ſetzungen der Eingeweide, die Mißgeburten, durch die An-
erbung der Krankheiten, Anlagen und Beſonderhei-
ten; u. ſ. w. Man darf nur die Natur der Pflan-
zen und Pflanzenthiere beobachten, ſo wird ſich jedem
dieſe Wahrheit von ſelbſt aufdringen. *)
§. 36.
[149]
§. 36.
In Ruͤckſicht des Erſtattungsvermoͤgens.
Die Lebenskraft organiſcher Koͤrper iſt ſo ge-
ſegnet, daß an die Stelle verlorner Theile neue der-
geſtalt angefuͤgt werden, daß daraus ein regelmaͤßi-
ges Gewebe, ein voriges Glied oder voriger Zweig
entſpringt. Heinrich Reimarus hat bey neuer zart-
anwachſender Haut uͤber die Hirnſchale die durchſchei-
nenden neu entſprungenen Aederchen mit Vergnuͤ-
gen beobachtet, wie ſie mit ihren Aeſten kleinen Baͤum-
chen glichen. In dem widernatuͤrlichen Gewebe, welches
nach Bruſtentzuͤndungen die aͤuſſere Oberflaͤche der Lun-
ge uͤberzieht, und dieſelbe nicht ſelten an das Bruſtfell
anheftet, hat Hunter die Gefaͤße durch Ausſpritzen
deutlich gezeiget. Selbſt die Aftergewaͤchſe in der Ge-
baͤrmutter, Auswuͤchſe, Warzen, und andere Verun-
ſtaltungen haben ihre netzfoͤrmig verflochtenen, mit
einander verbundenen Gefaͤſe, worinn ihnen Nah-
rung zugefuͤhrt, und wahrſcheinlich eine ihnen noͤthi-
ge Art von Verarbeitung und Abſoͤnderung der erhalte-
nen Saͤfte verrichtet wird. — Die Eydere erſezet den
abgeriſſenen Schwanz wieder, der Krebs erſtattet
die verlornen Scheeren, die Schnecke in ſehr warmen
Tagen ſogar den Kopf nach einigen Wochen; ſogar
an den edlern Thieren erſetzen ſich nicht nur die Haare,
die Oberhaut, die Zaͤhne, die Naͤgel an den Fin-
gern
*)
[150] gern und Zehen, wenn auch die vordern Gelenke ab-
genommen worden; man lieſt Beyſpiele, daß auch
neue Gelenke nach Beinbruͤchen des Vorderarms,
und nach Verrenkungen des Schenkelknochens gebil-
det worden ſind.*)
Das Erſtattungsvermoͤgen der edlern Thiere
wird alſo zu ſehr eingeſchraͤnkt, wenn man behauptet,
es ſeye kaum noch fuͤr die Heilung der Wunden zurei-
chend. Denn, wenn auch die Wiedererzeugung gan-
zer Knochen ſo allgemein nicht iſt, ſo iſt ſie doch auch
nicht ſo ſelten. Franz Chopart fuͤhrt aus Mer-
kreensobſ. chirurg. cap. 69. pag. 328. die Beobach-
tung an, wo der Oberarmknochen der rechten Seite
weggenommen wurde, und doch die Bewegung des
Arms unverletzt blieb. Er ſelbſt beſitzt einen Ober-
armknochen, der deswegen merkwuͤrdig iſt, weil der
abgeſtorbene Knochen, welcher von dem einen Anſaze
bis zu dem andern losgetrennt iſt, in dem neu erzeug-
ten Knochen eingeſchloſſen iſt: der tode Knochen bewegt
ſich frey darinnen, er kann aber doch nicht herausge-
zogen werden. — Ruyſch hat in ſeinem Theſaur.
anatom. X. eine verunſtaltete Ellenbogenroͤhre abzeich-
nen laſſen, in deren Hoͤhle eine ganz abgeſonderte
knoͤcherne Roͤhre ſteckt, die zwar allenthalben beweg-
lich iſt, jedoch nicht herausgenommen und wi [...]der hin-
eingebracht werden kann. Aus den Mem. de l’acad
de chirur. T. V. erzaͤlt Chopart den Fall, wo nach
herausgenommenem Schluͤſſelbein der Kranke alle dem
Arme
[151] Arme eignen Bewegungen ohne Beſchwerden machen
konnte, weil die Natur ſchon einen andern harten fe-
ſten Koͤrper hervorgebracht hatte. Die Leichenoͤffnung
erwies in der Folge, daß das wiedererzeugte Schluͤſ-
ſelbein von dem herausgenommenen weder in Anſehung
der Laͤnge nach auch der Dichtigkeit, ſondern blos
der Geſtalt nach verſchieden war. Der Koͤrper deſ-
ſelben ſchien naͤmlich nicht ſo rund, ſondern der ſenk-
rechten Richtung nach zuſammengedruͤckt zu ſeyn. Ich
bin uͤberzeugt, daß er mit der Zeit auch die vollkom-
mene Geſtalt wuͤrde erhalten haben. Von der groſ-
ſen Zehe trennte ſich bey mir nach einem gewaltſamen
Stoße an einen Eckſtein der ganze Nagel vollſtaͤndig
los. Nach einiger Zeit zeigte ſich in der Mitte der
Nagelplatte eine glaͤnzende, empfindliche, harte Er-
habenheit, welche immer hornartiger und dunkler
wurde, und ſich nach allen Seiten mehr ausbreitete. So
bald ſie den obern und die Seitenraͤnder erreicht hatte,
und mit ihnen verwachſen war, ſchuppte ſie ſich zu
wiederholten malen in breiten kleyenartigen Blaͤttchen
ab. Endlich bekam ſie eben die glatte, eben ſo harte,
und gefurchte Geſtalt, wie ein jeder andere Nagel, ſo
daß man jezt nicht den geringſten Unterſchied daran
entdecken kann. Elſe hatte einem jungen Reger den
groͤßten Theil der untern Kinnlade nebſt den Kronen-
und Knopffortſaͤtzen, ausgenommen die Spitzen der-
ſelben, herausgezogen, und an dem vordern Theil blieb
blos derjenige Bogen, der das Kinn ausmacht, zu-
ruͤck. Dem ohngeachtet konnte dieſer junge Menſch,
nach der Erzeugung des neuen Knochens, an welchen
ſich
[152] ſich die bewegenden Muskeln dieſer Kinnlade wieder
angeſchloſſen hatten, das Kauen ohne große Schwie-
rigkeit verrichten. Chopart fuͤhrt ſogar einen Fall
an, wo ſich ein Schulterblatt wieder erzeugt hat.*)
Raſpar Trendelenburg erzaͤhlt den Fall eines wie-
dererzeugten Schulterknochens, der aber ungeſtaltet
blieb, weil der andere durch den Krebs angefreſſene
Knochen zu lange nicht losgieng, und den Knochen-
ſaft verhinderte eine gerade Richtung anzunehmen.**)
Van Swieten erzaͤhlt einen aͤhnlichen Fall aus den
actis Edemburgenſibus.***) Ueberhaupt ſind derglei-
chen Beyſpiele bey weitem nicht ſo ſelten, wie ſie
ſeyn muͤßten, wenn dieſes Vermoͤgen mit den hoͤhern
Faͤhigkeiten geradezu in umgekehrtem Verhaͤltniß ſtuͤn-
de. — Man hat dieſen Erſtattungstrieb durch Kunſt-
griffe verſtaͤrken, und wo er zu thaͤtig iſt, unterdruͤcken
gelernt.
Alles dieſes leiſtet die Natur auch an den Ge-
waͤchſen. Wird eine Stelle des Stammes von der
Rinde entbloͤßet, ſo bildet ſich am Rande der uͤbrigen
Rinde ein Wulſt, der mit regelmaͤßigen Gefaͤßen
durchwachſen iſt, ſo wie die alte Rinde Nahrung zu-
fuͤhrte, und genaͤhrt wird. Dieſer Wulſt breitet ſich
von allen Seiten immer mehr nach dem Mittelpunkt
[153] der entbloͤßten Stelle aus, bis er uͤberall zuſammen-
laͤuft, wo dann die [Gefaͤße] zuſammenwachſen, in ſich
eingreifen, in gemeinſchaftliche Verbindung treten,
und ſo die Stelle, wie die Haut den Rumpf des ver-
ſtuͤmmelten Arms, uͤberziehen. Die Knoten, die
Gallen haben alle eine, theils nach dem beſondern
Reiz des Inſektenſtiches, theils nach der Gewaͤchsart
eigne, regelmaͤßige Geſtalt, worinn ſich Gefaͤße netz-
foͤrmig ausbreiten, welche ihnen Nahrung und Wachs-
thum verſchaffen.
§. 37.
In Ruͤckſicht der Reizbarkeit, der Einſaugung,
der ruͤckgaͤngigen Bewegung, und der Krank-
heiten.
Daß die Pflanzen reizbar ſind, und eine Art
von Gefuͤhl haben, zeigen ſehr verſchiedene Erſchei-
nungen: Das Fuͤhlkraut (Mimoſa ſenſitiva), die
Fliegenklappe (Dionœa Muſcicapa), die Staubfaͤden
des Weinſchaͤdlings (Berberis), das Entfalten und
Zuſammenlegen der Blaͤtter und Bluͤthen, das Nei-
gen der Aeſte, die [Ausduͤnſtung] der riechbaren Thei-
le zu gewiſſen Zeiten, ſo z. B. ſind die Bluͤthen der
Wunderblume (Mirabilis) bey heißer Witterung den
ganzen Tag uͤber geſchloſſen, und oͤffnen ſich erſt et-
wan um vier Uhr, wenn die Sonne bald untergehen
will. Bey uns haͤngt ihre Oeffnung groͤßtentheils von
der Witterung ab, indem ſie bey truͤber Witterung,
oder wenn die Sonne nicht recht ſtark ſcheinet, oft
ei-
[154] einen groſſen Theil des Tags uͤber offen ſind.*) Die
Nachtviole (Hesperis triſtis) und der traurige Storch-
ſchnabel (Geranium triſte) verbreiten nur nach Sonnen-
untergang ihren angenehmen Nelkengeruch; dieß ſind lau-
ter Beweiſe einer ſehr merklichen Empfaͤnglichkeit aͤuße-
rer Einwirkungen. Es iſt eine alltaͤgliche Erfahrung bey
den Gaͤrtnern, daß diejenigen Pflanzen, welche man,
wenn ſie ſehr erwaͤrmt ſind, mit friſchem Waſſer be-
gießet, in ihrem Wachsthum alſogleich aufgehalten
werden, verbutten. Die meiſten Gewaͤchſe ſehnen
ſich nach freyer Luft; ſie neigen ſich in Zimmern, in
Treibhaͤuſern und vor den Fenſtern immer nach der
lichteſten Gegend, und dringen durch Loͤcher und Ri-
tze durch; andere ſenken ſich nach dem Waſſer oder
der Erde, wie dieſes uͤberhaupt alle Wurzeln zu thun
pflegen. Stehen ſie in einer eingeſchloſſenen Waͤrme,
oder zwiſchen andern dichten Gewaͤchſen, ſo ſteigen ſie,
obſchon ſie von keiner Seite beruͤhrt werden, gerade
in die Hoͤhe; ihre Glieder und Zweige werden viel
laͤnger; der ganze Wuchs wird ſchlank und rankicht,
aber zugleich biegſamer, bleicher, grasartiger, und
ſie tragen nur matte oder keine Fruͤchten, da ſie ſich
in einem freyen Stande mit Wucher ausgebreitet, mit
dauerbarem Holze und vollkommenen Fruͤchten beſetzt
haͤtten. Werden ſie in dieſem zaͤrtlichen Zuſtande
gaͤhlings der freyen Luft und dem Sonnenlichte ausge-
ſetzt, ſo laſſen ſie die Blaͤtter ſinken, und ſterben
an einer Art von Eintroͤcknung und Faͤulung. Sehen
wir nicht die naͤmliche Wirkung von einerley Urſache
bey
[155] bey unſern eingekerkerten Stadtmaͤdchen, bey den
traurigen fahlgelben Geſichtern der Bergleute u. ſ. w.?
— Windende Gewaͤchſe bewegen ſich ſehr deutlich nach
Gegenſtaͤnden, an denen ſie ſich hinauf winden koͤn-
nen; ſie geben aber bey weitem nicht in allen Stuͤ-
cken der Willkuͤhr des Gaͤrtners nach, ſondern ſie um-
ſchlingen ihre Stuͤze nach einer ihnen angebohrnen
Richtung, wie z. B. die Bohnen von der Rechten zu
der Linken. Diejenigen, ſo ſich vermittelſt ausge-
ſchickter Faͤden, die man Zirrhen nennt, anzuklam-
mern pflegen, kraͤuſeln dieſelben nicht ehe, als bis ſie
einen Zweig, ein Reiſig damit ergriffen haben, und
an dieſe ſchließen ſie ihre Windungen ſo genau an,
als es immer die Ringelraupe mit ihren Eyern thun
kann. Die Ranken des Epheu laſſen nur dann eine
Wurzel ausgehen, wenn ſich eine ſchickliche Stelle
zu ihrer Einſenkung und Nahrung findet u. ſ. w.
Sind dieſes nicht auch Kunſttriebe? —
Daß die Pflanzen beſonders bey Tage die Stick-
luft einſaugen, und nach Verſchiedenheit des Lichtes
und des Schattens eine mehr oder weniger reine Luft
ausduͤnſten, ſo wie dieſes auch bey Thieren durch die
Haut und Lungen geſchieht, iſt aus ſo vielen Verſu-
chen der Neuern ſattſam bekannt.
Darwin hat gezeigt, daß das Aufſtoßen, das
leichte Wegbrechen einiger Maͤulervoll Speiſen oder
eines ſcharfen Waſſers, das Erbrechen beym Menſchen,
das Wiederkaͤuen des Rindviehes, welches auch bey
Menſchen iſt beobachtet worden, die Darmgicht, der
hyſteriſche Krampf im Halſe oder die ſogenannte hy-
ſteriſche
[156] ſteriſche Kugel, das hyſteriſche Wuͤrgen, die hyſteri-
ſche Krankheit ſelbſt, die Waſſerſcheue, der lympha-
tiſche Katarrh, Eckel, lymphatiſche Durchfaͤlle, lym-
phatiſche Speichelfluͤſſe, die Harnruhr, die Milchruhr,
das Murren der Daͤrme und gewiſſe Schweiße z. B.
die lymphatiſchen Schweiße, oder der Schweiß bey Eng-
bruͤſtigen, das Erroͤthen bey der Schaam, vielleicht
auch die Haͤmorrhoiden, das Blutbrechen, das Herz-
klopfen ruͤckgaͤngige Bewegungen ſind*) Daß auch
bey den Pflanzen ſolche Ruͤckgaͤnge ſtatt haben, hat
Perault an einem Aſte gezeigt, der ſich in zwey theil-
te, den er vom Baume abſchnitt, und den einen Zweig
umgekehrt ins Waſſer ſteckte; er bemerkte dann, daß
die an dem andern Zweige befindlichen Blaͤtter weit
laͤnger gruͤn blieben, als bey einem andern Zweige des
naͤmlichen Baumes, welchen man nicht ins Waſſer
ſteckte. Die Zweige von Weiden u. d. gl. wurzeln von
ſelbſt ſo in die Erde, daß ihre natuͤrliche Richtung
ganz verkehrt iſt, und dem ungeachtet wachſen ſie leb-
haft fort. Dieſes kann man alle Tage durch abge-
ſchnittene und umgekehrt in die Erde geſteckte Weidenaͤſte
beſtaͤttigen; ſogar die in die Hoͤhe gerichteten Wurzeln
treiben Blaͤtter und Zweige. Hales fand durch viele
Verſuche, daß der Saft in den Pflanzen waͤhrend den
waͤrmern Stunden des Tags aufſteige, und waͤhrend
den
[157] den kaͤltern der Nacht zum Theil wieder hinabſteige
Gegen den Winter, ſagen die Gaͤrtner, treten die Saͤfte.
zuruͤck, und die Baͤume und krautartigen Gewaͤchſe, an
denen dieſes gar nicht oder zu ſpaͤt geſchieht, wenn es
nicht eigentliche Wintergewaͤchſe ſind, ſtehen wegen des
Froſtes in groſſer Gefahr. Wir werden in der Folge
ſehen, was fuͤr einen Einfluß auf den Menſchen Tag und
Nacht und die verſchiedenen Stunden derſelben haben.
Selbſt in den Krankheiten der Pflanzen weicht
die Natur weſentlich nicht ſo ſehr von dem Verfahren
ab, welches ſie bey den Thieren beobachtet. Wir ha-
ben ſchon oben geſehen, wie ſie die Wunde der abge-
riſſenen Rinde heilt; allein macht man einer Pflanze
um die Zeit, wo ihre Saͤfte lebhaft in Bewegung
ſind, eine betraͤchtliche Verwundung, ſo verblutet ſie
ſich, wird matt, unfruchtbar oder dorret gar aus,
wie man dieſes bey Reben, bey den angebohrten und
nicht wieder vernagelten Birken beobachtet: Nicht an-
derſt wird die Raupe, der man ihr Geſpinſt zu oft
zerſtoͤrt, endlich zu ſehr entkraͤftet, unvermoͤgend ſich
einzuſpinnen, um die Begattung abzuwarten. Iſt
der Baum krank, ſo wird ſeine Rinde matt, raudig, rei-
ſet auf, ſo daß man ſie gegen den Stamm zu abziehen
kann. Iſt er innerlich hohl, zerriſſen, ſo entſtehen auf der
Rinde kleine weiße oder rothe Flecken, worauf Faͤulniß
folgt. Dieſe aͤußert ſich an jungen Baͤumen durch
Moſe und Schwaͤmme, welche die Rinde uͤberziehen.
Iſt der Baum ſchon von innerlicher Faͤulniß er-
griffen, ſo aͤußern ſich krebsartige Schaͤden am Stam-
me, Narben in den Aeſten, verfaulte und zum Theil
ver-
[158] verdeckte Knoten, und die Saͤfte laufen aus. Haͤu-
fige Beulen, hoͤlzerne Auswuͤchſe, Wuͤlſte und Her-
vorragungen in Form der Stricke, nach dem Lauf der
Holzfiebern, bedeuten eine Hoͤhlung oder innere Kluft.
Wenn die Blaͤtter bleich ſind, und fruͤhe abfallen,
ſo zeigt dieſes eine Ungeſundheit oder flache Lage der
Wurzeln an. u. ſ. w. Sieht man hier nicht uͤberall
Aehnlichkeiten mit den Gebrechen der Thiere? Be-
weiſe einer bald erſchoͤpften, ohnmaͤchtigen, bald un-
ordentlich ſich beſtrebenden, kaͤmpfenden, bald unter-
liegenden oder ganz unthaͤtigen Natur!
§. 38.
In Ruͤckſicht des Baues, der Verbreitſamkeit,
des Himmelsſtrichs und des Standorts.
Die meiſten haben ſich bisher den Mechanis-
mus der Pflanzen gar zu einfach vorgeſtellt. Die un-
endliche Verſchiedenheit in der Geſtalt und dem Ge-
ſchmacke der Fruͤchte, der Bau der Blaͤtter und des
herrlichſten Schauſpieles in der Natur, ihrer Bluͤthen,
die Wirkungen derſelben auf die Thiere, ihre unzaͤh-
ligen Arten von Ausduͤftungen u. ſ. w. ſind in meinen
Augen eben ſo viele unbegreifliche kunſtvolle Erſchei-
nungen, welche man vielleicht nur darum weniger be-
wundert, weil man hier nicht ſo wie bey den Zellen
der Bienen die Wirkung und die wirkende Urſache ge-
trennt antrifft. Man betrachte eine Zink- oder Wiſ-
muth kriſtalliſation, die ſich im Feuer, und die Kri-
ſtalliſation des gemeinen Kuchenſalzes, die ſich im
Waſſer bildet, und dann ſage man, wo mehr Kunſt
ſeye,
[159] ſeye, in dieſen Kriſtallen oder in den Zellen der Bie-
ne und dem Gewebe der Spinne? — Der Pflanzen
ihre Kunſttriebe und Kunſtfertigkeiten ſind ihrer Be-
ſtimmung gemaͤß allermeiſt auf ihr Erhaltung, ihre
Befruchtung, und ihre Fortpflanzung eingeſchraͤnkt;
und dieſen Zweck betreiben ſie ſo innig, ſo unaufhalt-
ſam, ſo unablaͤßlich, als ihn kaum ein anders Ge-
ſchoͤpf betreibt. — Uibrigens iſt es gewiß, daß nicht
ſowohl die Kunſt als die Thaͤtigkeit des Pflanzenreichs
undeutlicher in unſere Sinne faͤllt; der Pflanzen Leben
iſt ſtill, ruhig, und ſcheint uns traͤge; ihr Kreislauf
wird nicht durch Wallungen und Fieber ſichtbar; ihre
Reizbarkeit iſt ſchwach. — Was die Natur beym
Thiere, wenn es verwundet iſt, in vierzehen Tagen
ausrichtet, dazu bedarf ſie bey den Pflanzen nicht ſel-
ten mehrerer Jahre. Was iſt dieſes aber anders, als
Stufen, welche ſie hienieden beym Menſchen ange-
fangen, und in der ſcheinbarſten Unthaͤtigkeit des Son-
nenſtaͤubchens geendiget hat?
Auch bey den Pflanzen iſt in Ruͤckſicht der Ver-
breitſamkeit die naͤmliche Maaßregel fuͤr das Wohl
des Menſchengeſchlechts beobachtet worden, wie bey
den Thieren. Die Klaſſe der Graͤſer, die vornehm-
ſte Nahrung der Menſchen und der meiſten von
Pflanzengewaͤchſen lebenden Thiere, kommen in allen
Theilen der Welt vor andern fort. In kalten und
gemaͤßigten Zonen gedeihen fuͤr den Menſchen alle un-
ſere bekannten Getraidarten, als Roggen, Gerſte,
Weizen, Hirſe, die vom noͤrdlichen Afrika an, bis
an das ſuͤdliche Schweden gebauet werden. In den
hei-
[160] heiſen Erdſtrichen Reis, tuͤrkiſcher Weizen, der noch
bey uns recht gut fortkoͤmmt; der Sorghoſaamen,
(Holcus sorghum) das zweyfaͤrbige Honiggras, (Holcus
bicolor) und das Abyſiniſche Riſpengras (Poa abysſini-
ca) welches nach Bruce den Abyſſiniern zur Speiſe
dient. Der Dattelbaum, der Kokosbaum finden ſich
in allen Laͤndern von dem noͤrdlichen Afrika an bis zu
dem gemaͤßigten Himmelsſtrich ſuͤdlicher Breite, ſelbſt
die Inſeln nicht ausgenommen. Sie dienen den Men-
ſchen in allen Gegenden, wo es an Getraidarten
fehlt, zur Hauptnahrung, und ihre Blaͤtter, Rinde,
Holz werden bey ihnen zu mancherley haͤußlichem Ge-
brauche benutzet, z. B. zu Daͤchern, Stricken, Se-
geltuͤchern, Trinkbechern. — Von dem allerverbrei-
teſten ſchwarzen Nachtſchatten (Solanum nigrum) iſt
zwar der verhaͤltnißmaͤßige Nutzen noch nicht bekannt.
Wenn aber die Abſicht dieſer Allgemeinheit an unſern
Kartoffeln (Solanum eſculentum) noch nicht erfuͤllt iſt,
ſo wird ſie einſtens noch erfuͤllt werden, ſo wie wir es von
dem eben ſo allgemein verbreiteten Eiſen uͤberzeugt ſind.
Vom Einfluße des Himmelsſtrichs auf die Pflan-
zen habe ich oben ſchon einige Thatſachen mit einge-
ſchalten. Ich will hier die Uibereinſtimmung mit den
Thieren auch von dieſer Seite umſtaͤndlicher zeigen,
woraus wieder die Erhabenheit des Menſchen uͤber
alle Erdengeſchoͤpfe erhellen wird.
Pflanzen, die in feuchter, fetter Erde, im
Garten bey guter Wartung ſehr hoch wachſen, große
Blaͤtter machen, aber weniger Frucht tragen, blei-
ben in trocknen, ſteinigten, beſonders von rauhen
Winden
[161] Winden durchſtrichenen Gegenden klein, aber ſie wer-
den deſto fruchtbarer. Dieſes iſt den Gaͤrtnern wohl
bekannt, daher ſetzen ſie die Blumen, an denen ſie
einen reichlichen Flor erwarten, in ſehr kleine Geſchir-
re; aus dem naͤmlichen Erfahrungsſatz ſperren die Vo-
gelſteller ihre Lock- und Singvoͤgel in ſehr enge Kaͤfige
ein. — Mannigfaltigkeit des Erdſtriches und der
Luft, die kuͤnſtliche oder willkuͤhrliche Befruchtung
verſchiedener Arten und Gattungen machen Spielar-
ten an Pflanzen, wie an Menſchen und Thieren.
Gewaͤchſe, die in warmen Laͤndern zur Baumesgroͤſſe
wachſen, bleiben in kalten Laͤndern kleine Kruͤppel, und
umgekehrt. — In Gegenden, wo durchaus die Na-
tur am thaͤtigſten zu ſeyn ſcheint, wo es die groͤſten,
muthvollſten Thiere giebt, wie z. B. in Afrika die
Elephanten, Zebras, Rhinozeroten, Loͤwen, Tiger,
Krokodille, Flußpferde, da ſind auch die hoͤchſten
Baͤume, die ſaftreichſten und nuͤzlichſten Fruͤchte,
die wuͤrzhafteſten Pflanzſchulen. Eben ſo theilt Aſien
ſeinen Reichthum zwiſchen Thieren und Pflanzen u. ſ.
w. Die kleinſten Nationen ſind die Eskimos, Groͤn-
laͤnder, Lappen, Samojeden und Oſtiaken; bey ihnen
ſind wenig Thiere, und nur kleine Pflanzen; das dort-
hin gebrachte Rindvieh lebt kaum 5 Jahre; die Baͤu-
me bleiben Stauden, die Birken, Weiden, und Er-
len kriechen nur auf dem kalten Boden fort, und uͤber
klafterhohe Stauden ſieht man gar nicht. Der Fuchs
iſt viel kleiner, und der Hund wird ſtumm und ſo dumm,
daß man kaum einen Baͤren damit hetzen kann.
Gall I. Band. LDie
[162]
Die Gewaͤchſe gewoͤhnen ſich nur nach und nach,
wie Menſch und Vieh, an einen fremden Himmels-
ſtrich. Pflanzen, die in den ſuͤdlichen Welttheilen ge-
wachſen, nach Europa gebracht werden, reifen das er-
ſte Jahr ſpaͤter, weil ſie noch, wie Herder ſagt, die
Sonne ihres Klima erwarten; den folgenden Som-
mer allmaͤhlig geſchwinder, weil ſich ſchon ihre ganze
Beſchaffenheit nach den Eindruͤcken von Außen zu rich-
ten angefangen hat. In der kuͤnſtlichen Waͤrme der
Treibhaͤuſer halten ſie noch die Zeit ihres Vaterlandes
nach fuͤnfzig Jahren. Die Pflanzen vom Cap bluͤhen
im Winter, weil alsdann in ihrem Vaterlande Som-
mer iſt. Die Wunderblume bluͤht groͤſtentheils nur
Nachts, vermuthlich, weil dann in Amerika, ihrem
Vaterlande, Tageszeit iſt. Eben ſo hielt der ameri-
kaniſche Baͤr, den Linne beſchrieben, in Schweden
die amerikaniſche Tag und Nachtzeit. Er ſchlief von
Mitternacht bis zu Mittag, und ſpazierte von Mit-
tag bis zur Mitternacht; mit ſeinen uͤbrigen Inſtink-
ten hielt er ſich ebenfalls an das Zeitmaaß ſeines Va-
terlandes. — Wer ſieht nicht uͤberall die durchſchei-
nende Aehnlichkeit zu den Thieren und dem Men-
ſchen?
§. 39.
Folgerungen aus den angefuͤhrten Vergleichen.
Alſo haben auch die Pflanzen einen organiſchen
Koͤrper; ſie haben ein Leben und einen Kreislauf,
wodurch Nahrung, Wachsthum, Ab- und Ausſon-
derung und allerley Zubereitungen bewirkt werden; ſie
befruchten
[163] befruchten ſich und pflanzen ſich fort; in ihren Thei-
len herrſchet Einſtimmung unter ſich und mit dem
Ganzen; ſie werden durch Eindruͤcke von Außen
verſchieden veraͤndert; ſie ſind mancherley Verderbniſ-
ſen ausgeſetzt; und haben ſie den Zweck der Schoͤ-
pfung erfuͤllen geholfen, ſo ſterben ſie ab, und wer-
den, wie Vieh und Menſch, in ihre Elemente aufge-
loͤſet.
Hier aber giebt es keine Seele und kein See-
lenorgan, kein dunkles und kein klares Bewuſtſeyn,
kein Vorherſehungsvermoͤgen, keine innere Empfin-
dung ſeiner Natur und ſeiner Kraͤfte u. ſ. w. —
Was iſt denn nun die U rſache aller Erſcheinun-
gen bey der Pflanze, dem Thiere und dem Menſchen?
Was dreht ſo unaufhoͤrlich das Rad ſo vieler Kraͤfte
und Thaͤtigkeiten? — — Die Antwort liegt in der
Uiberſicht alles deſſen, was bis daher iſt geſagt wor-
den:
Was die Welten in ihren Kreiſen erhaͤlt, die
Meere zwiſchen ihre Ufer draͤngt, Sturm, Erdbeben
und Uiberſchwemmung hervorbringt, Gebirge in Feu-
erheerde verwandelt, den Wechſel der Jahrszeiten,
die Verſchiedenheit der Himmelsſtriche bewirkt, und
ſo das Ganze erhaͤllt: Das hat bei einem andern Baue
die Saͤfte in Roͤhren eingeſchloſſen, bewirkt die Ab-
ſonderungen und Ausleerungen, die Stufen des Al-
ters, die Verſchiedenheit der Geſchlechter, die Entſte-
hung der Krankheiten und den Tauſch des Lebens mit
dem Tode. Was die Fluͤſſe in Duͤnſte und ihre ur-
ſpruͤngliche Beſtandtheile aufloͤſet, und ein andermal
L 2wieder
[164] wieder die herrlichſten, ſternfoͤrmigen Schneekryſtallen
daraus bildet: Das zerſtoͤrt auch den Zuſammenhang
der Pflanzen und der Thiere, und bildet wieder Kei-
me fuͤr kuͤnftige Weeſen. Es war dem Schoͤpfer
nicht ſchwerer, eine Kraft zu ſtiften, nach welcher
Gefaͤße und Eingeweide, als nach welcher Schneeflo-
cken und Kryſtallen gebildet werden muſten. Die naͤm-
liche Kraft, welche den Samenſtaub der Tulpe zu den
Samenkoͤrnern in die Huͤlſe fuͤhrt, bewirkt auch die
Befruchtung des weiblichen Eyes durch den Samen
des Mannes. Was die Knoſpen am Zweige bildet,
und ihnen ein vom Stamme bald abhaͤngiges, bald
unabhaͤngiges Leben giebt: Das iſt auch das Geheim-
niß in der wunderbaren Geſchichte des Polips und des
Bandwurmes. Was die Theile in der Eichel geord-
net hat, und ſie zum ungeheuren Baum entwickelt:
Das ordnet ſie auch in dem Ey der Milbe und des
Menſchen, und foͤrdert beyde zu ihrer vorgeſchriebe-
nen Groͤße. Was den reifen Apfel vom Baume ab-
loͤſet, das hat auch die Stunde der Geburten beſtimmt.
— Die Quelle tritt aus, die Rebe thraͤnet, das
Maͤdchen blutet aus dem Schooße: Wer zeigt mir ver-
ſchiedene Geſetze? Der nahe Winter faͤllt das Laub
vom Zweige, und das herannahende Alter ſchwaͤcht
den Kreislauf im Menſchen. Wie die Schwalbe nach
Senegalen und die Schlange in die Hoͤhle gerufen
werden: So ſehnt ſich der Menſch in den Jahren der
Mannbarkeit nach dem Liebesgenuß, im Gallfieber
nach kaltem Waſſer und im Faulfieber nach Eßig.
Was den Hoͤcker uͤber den Bruch des Aſtes bildet, das
Propf-
[165] Propfreiß mit dem Stamm vereinigt: Das bildet die
Beinnarbe uͤber den Beinbruch, und heilet die Wunden
bey Vieh und Menſch. Der Inſektenſtich erzeugt den
Gallapfel: Und das Feuer und die Aezmittel heben die
Oberhaut in eine Blaſe auf. Der tode Zweig doͤrret
aus, faͤllt vom Stamme, und der gegenuͤberſtehende
nimmt an Staͤrke und Groͤße zu aus dem naͤmlichen
Grunde, warum der durch den Brand zerſtoͤrte Theil
vom geſunden abgeloͤſet, und der Verluſt eines Sinnes
durch die Staͤrke und Verfeinerung der uͤbrigen erſetzt
wird. —
Ein allgemeines Geſetz, eine einzige Kraft um-
faßet die ganze Natur. Dadurch findet jedes einzelne
Weſen eine eigne fuͤr ſein Daſeyn abgemeſſene Kraft
theils in ſich ſelbſt, theils in den Dingen, welche
mit ihm in wechſelſeitige Verbindung geſetzt ſind. So
vertoben die Winde, der Marmor verwittert, die
Eiche modert, der Stoͤr geht ein, und der Menſch
ſtirbt. “Es war nur eine Kraft, die die glaͤnzende
Sonne ſchuf, und mein Staubkorn an ihr erhaͤlt;
nur eine Kraft, die eine Milchſtraße von Sonnen ſich
vielleicht um den Sirius bewegen laͤßt, und die in
Geſetzen der Schwere auf meinen Erdkoͤrper wirkt.„*)
Vier-
[166]
Vierter Abſchnitt.
Von dem wechſelſeitigen Einfluß der See-
le und des Koͤrpers.
§. 40.
Anwendung der bisherigen Unterſuchungen auf
die verſchiedenen Verrichtungen der Men-
ſchen.
Nachdem wir nun den Menſchen in Verbindung mit
der uͤbrigen Natur betrachtet haben, ſo hoffe ich,
werden wir im Stande ſeyn, uͤber die wechſelſeitige
Einwirkung der Seele in den Koͤrper, und des Koͤr-
pers in die Seele ein richtiges Urtheil zu faͤllen, und
ſo einen angemeſſenen Begriff von ſeiner Natur zu
erhalten.
Vor allem muͤſſen wir die Erſcheinungen des le-
bendigen menſchlichen Koͤrpers gehoͤrig unterſcheiden.
Einige ſind zum Leben ſchlechterdings unentbehrlich,
und heißen Lebensverrichtungen, Lebenshand-
lungen; z. B. die Wirkung des Herzens, der Schlag-
adern, die Verrichtung des Gehirns, und im gebor-
nen Menſchen das Athmen. Andere heißen natürliche:
Daher gehoͤren die Verrichtungen des Magens, der
Gedaͤrme, der Eingeweide, des Unterleibs, zum Theil
auch das Athmen, ſofern die Luft einen Theil der
thieriſchen Nahrung ausmacht. Endlich die Seelen-
ver-
[167]verrichtungen, auch thieriſche Verrichtungen wel-
che naͤmlich der Seele ausſchließungsweiſe eigen ſind;
als: das Gedaͤchtniß, die Einbildungskraft, der Ver-
ſtand, der Wille, die Wirkungen der aͤußern und
innern Sinne, die Leidenſchaften, die Bewegung der
willkuͤhrlichen Muskeln.
Sie ſtehen alle in naher Verbindung unterein-
ander, ſo, daß die natuͤrlichen Verrichtungen nicht
leicht ohne die Lebensverrichtungen, und dieſe nicht leicht
ohne jene beſtehen koͤnnen. Hoͤren das Herz und das
Gehirn auf, zu wirken, ſo hat es mit der Dauung,
Ausarbeitung und Vertheilung der Speiſen ein Ende;
und Hirn und Herz verlieren allmaͤhlich ihre Wirkſam-
keit, wenn die Verrichtungen der Ingeweide, die
Ab- und Ausſonderungen u. ſ. w. geſtoͤrt oder gehemmt
ſind. So, wie die Seele von Seiten der natuͤrlichen
und der Lebensverrichtungen zufaͤlligen Veraͤnderungen
unterworfen iſt, ſo ſind es auch dieſe von Seiten der
Seelenhandlungen. Es giebt dennoch Faͤlle, wo nur
einzelne Verrichtungen in Unordnung gebracht zu ſeyn
ſcheinen; obſchon hoͤchſt wahrſcheinlich nur ſelten nicht
in dem feinſten Gewebe der Eingeweide groſſe Ver-
aͤnderungen ſtatt haben, z. B. bey einigen Arten von
Verruͤckten ſcheint nur die innere Organiſation des
Gehirns in Unordnung zu ſeyn, die ſich in den natuͤr-
lichen und Lebensverrichtungen ſonſt gar nicht aͤußert.
Der uͤbrige Koͤrper ſcheint manchmal nicht im gering-
ſten krank; er iſt nicht nur nicht matt, ſondern ge-
woͤhnlich weit ſtaͤrker und dauerhafter, als bey voͤlli-
ger Geſundheit. Raſende haben weit mehr Staͤrke;
ſie
[168] ſie ertragen Kaͤlte, Hunger, Hitze, Wachen, ſchlech-
te ſonſt nicht genießbare Speiſen bis zum Erſtaunen.
Da in dieſer Krankheit derjenige Theil angegriffen
wird, der den meiſten Nerven, oder in gewiſſem
Verſtand allen Nerven Unterſtuͤzung giebt; da dieſer
Theil ſogar manchmal ganz verdorben wird, ſo ſollte
man ſchließen, der ganze Koͤrper muͤſſe in eine voll-
kommene Entkraͤftung verſinken. In einem Ochſen,
der mehrmal die Stricke abriß, fand man ein ver-
trocknetes Gehirn. Dergleichen Beyſpiele ſind von
Menſchen gar nicht ſelten.
Wenn man nun die in den zwey vorgenomme-
nen Vergleichen angefuͤhrten Erſcheinungen muſtert,
ſo wird man, nur wenige bey den Thieren ausgenom-
men, finden, daß ſie alle die natuͤrlichen und Lebens-
verrichtungen betreffen. — Ich behaupte alſo gerade
zu, daß die Seele darauf weder einen allzeitigen,
noch weſentlichen Einfluß habe; daß ſie daher we-
fentlich nichts zum Kreislauf, zur Verdauung, Nah-
rung, zum Wachsthum, zu den Ab- und Ausſonde-
rungen, nichts zum Bau der feſten und nichts zur
Miſchung der fluͤßigen Theile, nichts zum Zeugungs-
geſchaͤft, zum Athemholen, zu den Verrichtungen
der Eingeweide, Einſaugung, Hunger, Durſt, nichts
weſentliches zur Herſtellung der Geſundheit beytra-
gen. Sondern 〟die beſte Verwahrung des Lebens und
der Geſundheit iſt in den vielfaͤltigen bewegenden Kraͤf-
ten des lebenden Koͤrpers zu ſuchen, die ſich vorzuͤg-
lich dann erſt, wenn ſie von ſchaͤdlichen Dingen an-
gegriffen werden, zu aͤußern pflegen. Darauf gruͤnden
ſich
[169] ſich die Kraͤfte (wodurch der Koͤrper ernaͤhrt, wieder-
hergeſtellt, die Nahrungsmittel veraͤndert und ver-
aͤhnlicht werden u. d. gl.) Davon entſtehen die eigen-
maͤchtigen, vielfaͤltig zwar unordentlichen, aber auch
hoͤchſt zutraͤglichen und zum heilſamen Zweck abzielen-
den Bewegungen, die weder von dem Befehl noch
Bewußtſeyn der Seele abhaͤngen, ſogar oͤfters wider
Willen erfolgen, und alſo derſelben nicht beygelegt
werden koͤnnen.〟*) “Die Natur, ſagt Hippokrates,
iſt der Arzt der Krankheiten: die findet von Selbſt
ohne Uiberlegung, wie es anzugreifen ſey. Zuweilen
thut das Auge mit Blinzlen, zuweilen die Zunge ihre
Dienſte. Die Natur thut das noͤthige, ohne daß ſie
unterwieſen waͤre, oder es gelernt haͤtte. Entſtehen
nicht allerdings Thraͤnen, Naſenfeuchtigkeiten, Nie-
ſen, Ohrenſchmalz, Speichel im Munde, Ein- und
Aushauchen, Gaͤhnen, Huſten, Schluchzen, auf eben
die Weiſe? Desgleichen die Abſoͤnderungen des Harns
und Stuhlgangs, die Winde von oben und unten,
die Nahrung und Ausduͤnſtung, die weibliche Krank-
heit, und im uͤbrigen Leibe der Schweiß, das Juken,
das Recken, u. ſ. w.„
Deutliches Bewuſtſeyn hat hier nach aller Ge-
ſtaͤndniß keines ſtatt: — Und der Beweiß eines heim-
lichen, dunklen, muͤſte auf die Kenntniß des Weeſens
der Seele, ihrer Beſchaffenheit, ihrer Eigenſchaften,
der
[170] der Art ihres Zuſammenhangs mit dem Koͤrper ge-
gruͤndet werden: Allein alles Beſtreben in dieſer Ruͤck-
ſicht war und bleibt ewig pur eitler Tand und Zeit-
verluſt fuͤr ſich und ſeine Leſer. — —
§. 41.
Es iſt nach dem Sprachgebrauche zwar wahr,
wenn die Seele vom Koͤrper geſchieden iſt, ſo iſt auch
das Triebwerk der natuͤrlichen und der Lebensverrich-
tungen zerſtoͤrt; alles Beſtreben der Natur iſt aus,
und die Kunſt vermag nichts mehr. Es bleibt nichts
uͤbrig, als Aufloͤſung, Trennung, Zerſtiebung der
koͤrperlichen Beſtandtheile nach den Geſetzen der Gaͤh-
rung und der Faͤulniß. Indeſſen iſt es aus den obi-
gen Unterſuchungen gewiß, daß das Daſeyn der See-
le mehr von der ungeſtoͤrten Anordnung und Uiberein-
ſtimmung der koͤrperlichen Beſtandtheile, als deren
ihre ungeſtoͤrte Verrichtung von dem Daſeyn der See-
le abhange. Die Gottesgelehrten waren daher im-
mer in Verlegenheit, den Zeitpunkt der eigentlichen
Beſeelung zu beſtimmen; und die Aerzte ſind noch
nicht ſo weit gekommen, daß ſie den Augenblick der
Entſeelung beſtimmen koͤnnten. So lange die Orga-
ne nicht zerſtoͤrt ſind, ſo lange noch einige Reizbarkeit
uͤbrig iſt: So lange iſt die Belebung der Scheinto-
den noch nicht unmoͤglich. Die Seele verlaͤſt ihre
Huͤlle nicht ehe, als bis ihr Daſeyn durch die innere
gaͤnzliche Zerruͤttung derſelben unnuͤtz gemacht worden
iſt. — — — Es waͤre alſo paſſender, wenn man
ſich ſo ausdruͤckte: Der Körper iſt hin, alſo iſt
die
[171]die Seele entwichen. Man muß freylich nicht al-
lemal eine ſichtbare Zerſtoͤrung verlangen. Daher
glaubte Reimarus, daß das Leben der Thiere erſt
mit der Empfindung anfange. “Das Athmen, ſagt
er, das Schlagen des Herzens, der Umlauf des Ge-
bluͤts, die Verdauung, die Abſoͤnderung der Saͤfte,
und uͤberhaupt alle Handlungen, welche man Lebens-
handlungen nennt, ſind nicht ſo anzuſehen, als ob in
ihnen an ſich das Leben beſtuͤnde, ſondern nur als ſol-
che, die das thieriſche Leben und die Seelenverrichtun-
gen unterſtuͤzen. Sie dienen dem Leben ſo, wie die
Knochen dem Leibe, ohne welche die Nerven, Mus-
keln, Fleiſch, Adern, Gefaͤße und Glieder keinen
Anhalt und Schutz haͤtten, noch ihr Amt verrichten
koͤnnten. Da geht aber erſt unſer Leib, da geht al-
ſo auch das Leben eigentlich an, wo die Empfindung
anfaͤngt, wo wir anfangen zu fuͤhlen, und uns we-
nigſtens dunkel und undeutlich bewuſt zu werden. Aber
wir wuͤrden nicht leben, noch durch unſere Werkzeuge
der Sinne etwas empfinden koͤnnen, wenn das me-
chaniſche Getriebe nicht den Grund dazu legte, und
ſtets in vollem Gang waͤre.„ — Folgende Erfah-
rungen beſtaͤttigen alles dieſes noch mehr.
— Unzer erzaͤhlt, daß ein zerſchnittener Ohr-
wurm mit dem Obertheile das untere Theil meiſtens
aufgefreſſen habe; Beverley, daß der abgehauene
Kopf einer Klapperſchlange, woran nur ein Daumen-
breit vom Nacken ſaß, nicht allein zu beißen ſuchte,
da ihm das Maul aufgebrochen war, ſondern auch
ſeine beweglichen Zaͤhne aufrichtete und Gift hervor-
ſpruͤtzte.
[172] ſpruͤtzte. Ich ſelbſt wurde von dem abgehauenen Kopf
eines Aales, den ich gutmuͤthig in die Hand nahm,
durch einen unverſehenen Biß ſo uͤberraſcht, daß ich ihn
kaum mit aller Gewalt vom Finger ſchleudern konnte.
Herr Lyonet riß eine Weſpe von einander, und noch
drey Tage hindurch biß das Vordertheil auf alles,
was man ihm aus Maul hielt, und das Hintertheil
ſtreckte noch ſeinen Stachel hervor, wenn man es be-
ruͤhrte. Ich ſahe dieſes ſehr oft, als ich mich noch
mit Inſektenſammlungen beluſtigte. Eine gekoͤpfte
Weſpe hatte ſich in meinen Pantoffel verkrochen, und
ſie gab mir, als ich ihn Nachts anzog, einen lebhaf-
ten Stich, obſchon die Enthauptung Fruͤhmorgens
vorgegangen war. Boyle berichtet, daß ein weib-
licher Papilion, dem der Kopf abgeriſſen wurde, nicht
allein die Paarung mit einem Maͤnnlein zugelaſſen,
ſondern auch nochmals Eyer gelegt habe. Eben dieſes
behauptet Gardiner von Froͤſchen, daß ſie noch,
obſchon ihnen der Kopf abgehauen wird, die Eyer
zu befruchten fortfahren. Ridley erwaͤhnt des Ver-
ſuches von einer Schildkroͤte, welche nach abgehaue-
nem Kopfe, noch ſechs Monate gelebt habe, und
herum gewandert ſey, ja, als man ihr Herz und Ein-
geweide, nur die Lunge ausgenommen, aus dem Lei-
be geriſſen, habe ſie noch ſechs Stunden gelebt, und
wenn man ſie auf den Ruͤckenſchild gelegt, ſich noch
durch Schwanken wieder herum zu werfen, und auf
die Beine zu helfen gewuſt. Jeder kann ſich mit ei-
niger Geſchicklichkeit beſonders an warmen Tagen von
dem Erfolg dieſer Verſuche an Raupen, Papilionen,
Weſpen
[173] Weſpen, Ottern, Eydexen, Schlangen, Aalen,
Schnecken, Schildkroͤten u. ſ. w. uͤberzeugen. Selbſt
die einfachen Theile des Menſchen und der Thiere,
wenn ſie aus dem lebendigen Leibe herausgeſchnitten
ſind, und das Thier ſchon voͤllig todt iſt, zeigen noch
fuͤr ſich ihre mechaniſche Bewegung des wechſelnden
Zuſammenziehens und Ausdehnens, als Herz, Mus-
keln, Fiebern u. ſ. w. und wenn ſie ſchon voͤllig zur
Ruhe gekommen ſind, ſo laſſen ſie ſich durch einen
neuen koͤrperlichen Reiz von Waͤrme, Luft, Waſſer
oder Stechen und Ritzen, Beſpritzen mit Salz, Elek-
trizitaͤt wieder in ihre ordentliche Bewegung ſetzen.
Da ſie nun dieſes außer dem thieriſchen Koͤrper, oh-
ne Seele, ohne Leben und Empfindung fuͤr ſich durch
bloſſe mechaniſche Kraft verrichten, ſo muͤſſen ſie es
um ſo viel mehr im lebendigen Koͤrper, wo es an
Reiz niemals fehlt, und wo die einſtimmige Mit-
und Gegenwirkung aller Theile behilflich iſt, ohne
jene vorgegebene Seelenthaͤtigkeit verrichten koͤnnen.
Warum verliert die Seele alle Wirkung und Will-
kuͤhr auf gelaͤhmte Theile? — Die menſchlichen
Mißgeburten, die ohne Kopf neun Monate in Mut-
terleibe, und noch einige Zeit nach der Geburt gele-
bet haben, obſchon ſie eine Abweichung ſind, zeigen
doch die deutlichſten Spuren gleichfoͤrmiger Einrichtung
und eben der weiſeſten Regeln, nach welchen die ein-
gepraͤgte an ſich blinde Kraft wirken muſte.
Wenn man gegen ſo viele wichtige Gruͤnde be-
haupten koͤnnte, daß alle Eigenſchaften, die man bis-
her einer beſondern Subſtanz, der Seele, zuſchrieb,
nichts
[174] nichts als Folgen der thaͤtigen, auf unendlich ver-
ſchiedene Weiſe zuſammengeſetzten, einſtimmig unterein-
ander wirkenden und gegenwirkenden Materie ſeyen;
daß jedes Werkzeug, jedes Eingeweide, je nachdem
ſeine Urſtoffe und ſeine Zuſammenſetzung verſchieden ſind,
ſeine eigene verſchiedene Kraft, ſeine eigene Empfin-
dung und ſein eignes Leben habe, welche nur inſofern
von dem Zuſammenhange aller Theile abhaͤngen, als
dieſer zur Unterſtuͤtzung des Kreislaufes, zur Befoͤr-
derung der Nahrung und der Abſoͤnderung u. ſ. w. noͤ-
thig iſt: — Wenn man endlich behaupten koͤnnte,
daß jede Art von Gefuͤhl und Empfindung, ſo, wie
das Denken, weſentlich nichts als verſchiedene Arten
von Bewuſtſeyn ſeyen; und folglich das Bewuſtſeyn,
jenes unbegreifliche Gefuͤhl des lebendigen Koͤrpers,
aus Eigenſchaften einfacher oder zuſammengeſetzter
Koͤrper erklaͤrt werden koͤnnte — was aber ewig allen
Weltweiſen der Stein des Anſtoſſes bleiben wird: —
ſo waͤre dadurch allen Streitigkeiten dieſer Art ein
Ende gemacht. —
Außer dem, was im zweyten Kapitel bei der
Reizbarkeit vorkommen wird, will ich denjenigen,
welche das Weeſen der Seele zu zergliedern, und
derſelben einen Sitz anzuweiſen wiſſen, folgendes
aus dem philoſophiſchen Arzte zur Beherzigung
anempfohlen haben: “Man ſtreitet auch dage-
gen, hießet es, daß juſt das Denken als die Weeſen-
heit der Seele betrachtet wird. Ihr verwundert euch,
ſagen die Philoſophen, uͤber das Vermoͤgen, zu den-
ken, und ihr heißet es Seele. Iſt das Empfinden, das
Ge-
[175] Gefuͤhl in dem kleinſten Inſekt nicht eben ſo wunder-
bar, als das Vermoͤgen zu denken im Gehirn eines
Newtons? Iſt die Empfindung nicht eben ſowohl ein
unvergleichliches Kunſtſtuͤck des Schoͤpfers? oder,
wuͤrde Helvet ſagen, iſt Denken etwas anders, als
Empfinden? Aus dem, daß alle empfindende Nerven
zum Gehirne laufen, folgt eben ſo wenig, daß dort
die denkende Seele wohne, als wenig man daraus er-
weiſen kann, daß ſie im Herzen wohne, weil aus
demſelben der Urſprung aller Bewegung der Saͤfte
koͤmmt. Der Magen iſt gebaut zur Dauung, das
Auge zum Sehen, das Ohr zum Hoͤren: gewiſſe Thei-
le dienen zur Zeugung unſeres Gleichens: das Herz iſt
beſtimmt zur Bewegung des Blutes, und das Gehirn
zum Denken: Gemuͤthskrankheiten fuͤhlt man in der
Herzgrube. Warum habt ihr, ſagen nun die Phi-
loſophen, euer dauendes, euer hoͤrendes, euer fuͤh-
lendes Weſen nicht auch zur Seele gemacht? Kann
euer denkendes Weſen dem Ohr, dem Magen, dem
Herze gebieten? Wenn eure Seele, ſagen ſie weiter,
das denkende Weſen iſt: ſo ſollte man glauben, daß
ſie in einem ſo eben abgehauenen Kopfe, der oft noch
nach ſeiner Trennung vom Koͤrper in die Hoͤhe ſpringt,
mit den Lefzen plappert, wie ich es ſelber geſehen ha-
be, und in welchem der Markbalke, der Urſprungs-
ort der Nervenfaſern, die Zirbeldruͤſe, oder was man
ſonſt zum Wohnſitze der Seele macht, noch lange un-
veraͤndert bleibt, ungemein lebhaft denken muͤſſe. —
Wenn euer Kopf vom Koͤrper getrennt iſt, ſo iſt ver-
muthlich euer Vermoͤgen zu Denken fort: Das Herz
hat
[176] hat aber noch Gefuͤhl [und] Reizbarkeit. Wenn die
Muskelbewegungen Wirkungen der wollenden Seele
ſind, ſo erklaͤre man, wie es geſchieht, daß wir bey
einem gaͤhlingen Schrecken, bey einem Kanonenſchuſ-
ſe, in die Hoͤhe ſpringen, alle Glieder bewegen, Din-
ge ergreifen oder von uns werfen, ohne daß es die
geringſte Wirkung unſeres Wollens war. Man hat
vom Schrecken gaͤhlinge Proben unglaublicher Staͤrke
geſehen. Eine ſchwache Weibsperſon wies einen ſtar-
ken Bettler ab. Der Spitzbub ergriff ſeinen Dolch.
Das Weibsbild pakte in außerordentlichem Schrecken
den Kerl am Leibe, und trug ihn ſchwebend zur Thuͤr
hinaus. Wir ſehen einen Menſchen von der Hoͤhe
ſtuͤrzen; wir fuͤhlen den Fall gleichſam in allen Glie-
dern, und ſpringen herbey oder greifen nach ihm, oh-
ne uͤberlegt zu haben, daß wir helfen wollen. Kann
man dieſes Wirkungen einer wollenden Seele heiſ-
ſen„?*) — — Iſenflamm erzaͤhlt den Fall, wo
das Herz durch das Bruſtbein mit dem Sucher (Son-
de) beruͤhrt wurde; der Sucher wurde merklich zu-
ruͤckgeſtoſſen, und der Kranke empfand eine ſonderba-
re Empfindung, die durch den ganzen Koͤrper drang,
und wobey er augenblicklich, ohne was davon zu wiſ-
ſen, vom Stule aufſprang, und ſich alſogleich wieder
niederſetzte.**)
§. 42.
Uebrigens hat man allzeit zugegeben, daß un-
ter gewiſſen Umſtaͤnden die Seele einige Herrſchaft
uͤber
[177] uͤber einige der angefuͤhrten Verrichtungen haben koͤn-
nen, und wirklich zuweilen haben; ſo z. B. ſteht es
bey uns, langſamer, geſchwinder, tiefer, abgebro-
chen oder in langen Zuͤgen zu athmen; wir koͤnnen die
Entleerung des Stuhls, des Harns, des Samens
u. ſ. w. einige Zeit zuruͤckhalten oder beſchleunigen;
ſo koͤnnen wir auch mittelbar den Kreislauf der Saͤf-
te, die Abſoͤnderungen, die Eßluſt, die Verdauung
u. ſ. w. durch Ruhe, Bewegung, Anſtrengung, Auf-
heiterung u. d. gl. in Unordnung bringen.
Eben dergleichen Erſcheinungen bemerkt man
auf Veranlaſſungen, deren Wirkung wahrſcheinlich
durch die Einwirkung der Seele erklaͤrt werden muß:
wir gaͤhnen, wenn wir andere gaͤhnen ſehen; wenn
wir Hunger haben, ſo waͤſſert uns der Mund vor einer
angenehmen Speiſe; eckelhafte Begebenheiten reizen uns
zum Erbrechen, oder es bemaͤchtigt ſich unſrer ein erſchuͤt-
ternder, vorzuͤglich die Kehle, den Schlund und die
Halsmuskeln einnehmender krampfhafter Schauer;
beym Anblick der Venusreize, wenn ſonſt noch Lenden-
kraft durch unſere Adern ſtroͤmt, durchfaͤhrt die Werk-
zeuge der Zeugung ein warmer Kizel, wie ein elektri-
ſcher Funke; der weibliche Schoos ſchwillt an und klopft
bey Anſichtwerdung des ſtaatlichen Priaps. Dennoch
iſt auch hier uͤberall die Seele ſo ſehr an die Orga-
niſation gebunden, daß ihre Begierden groͤßtentheils
wider ihr Wiſſen und Zuthun von gewißen Sinnen
vorzuͤglich oder am meiſten rege gemacht werden. So
z. B. ſcheint bey den Voͤgeln das Geſicht, bey den
Saͤugthieren der Geruch, und beym Menſchen das
Galls I. Band. MGe-
[178] Gefuͤhl das vornehmſte Erweckungsmittel des Begat-
tungstriebes zu ſeyn; obſchon es, und zwar beym Men-
ſchen auffallend gewiß iſt, daß vorhergehende oder zur
gleichen Zeit eintrettende Vorſtellungen, Gewohnheit,
Neuheit, willkuͤhrliche Ab- und Zuneigung, Einbil-
dungskraft, Grundſaͤtze u. d. gl., uͤber alle ſinnliche
Eindruͤcke, ſo lange wir geſund ſind, eine große Herr-
ſchaft haben. Hingegen werden auch die Wirkungen
der ſinnlichen Eindruͤcke durch Erziehung, Alter, Ge-
ſchlecht, durch den gegenwaͤrtigen Geſundheitsſtand,
durch Uebung u. d. gl. unendlich veraͤndert.
Die bloßen Vorſtellungen veranlaſſen nicht ſel-
ten eben ſo ſtarke, ja ſtaͤrkere Wirkungen, als der ſinn-
liche Eindruck. Wenn wir uns wegen Entdeckung ei-
ner eignen oder fremden Unvollkommenheit ſchaͤmen, ſo
kehrt ſich die Bewegung des Blutes in den Blutadern
um; wir erroͤthen mit einer empfindlichen Waͤrme
uͤber das Geſicht, die Bruſt, zuweilen uͤber den gan-
zen Koͤrper. Haben wir’s in der Vorſtellung, z. B.
beim Briefſchreiben, mit einem Feinde zu thun, ſo
ſtellen ſich uns haͤufige Bilder in gedraͤngter Eile dar;
alle willkuͤhrlichen Muskeln werden geſpannt; wir
drohen, ballen die Faͤuſte, ſchlagen auf den Tiſch,
und druͤcken die Fuͤſſe feſt gegen den Boden an, oder
ſpringen wuͤthend vom Stuhle auf, ſtampfen, ergreif-
fen ihn, wir beiſſen die Zaͤhne feſt uͤbereinander, wer-
fen die untere Lippe uͤber die obere empor, runzeln
die Stirne; der ganze Leib, vorzuͤglich der Kopf gluͤht,
iſt hochroth, glaͤnzt, die Augen ſtehen ſtarr unter den
uͤbergeworfenen Augenbraunen und funkeln vor Feuer,
die
[179] die Ausduͤnftung iſt heftig vermehrt, der Athem ſchnau-
bend u. ſ. w. Endlich freuen wir uns uͤber die ſo gut
ausgefuͤhrte Rache, und fangen wieder mit verdop-
peltem Eifer zu ſchreiben an.
Andere Erſcheinungen ſowohl in Menſchen als
Thieren zeigen, daß der Mechanismus zuweilen zwar
einer thaͤtigen Urſache bedarf, um in Bewegung geſetzt
zu werden, aber dann ohne fernere Mitwirkung der
Seele regelmaͤßig zu wirken fortfahre. Hat man z. B.
einmal angefangen, nach einem beſtimmten Orte zu
gehen, ſo gelangt man dahin, obſchon man waͤhrend
der ganzen Zeit ſein vorhaben nie wieder erneuert.
Man ſingt Lieder, ohne an die Beugung der Toͤne zu
denken; man ſpinnt und ſtrickt, und erſinnt mittler-
weile Raͤnke, den Liebhaber zu beguͤnſtigen oder zu
prellen. Es haben dieſes einige als einen vortreflichen
Beweis von dem Daſeyn einer ſelbſtthaͤtigen, wunder-
baren, Gott aͤhnlichen Kraft, wie Marherr ſich
ausdruͤckt, angeſehen. Was Gott aͤhnlich oder Gott
nicht aͤhnlich ſey, das weiß ich nicht; aber das weiß
ich, daß dieſe Eigenſchaft bey denjenigen Thieren de-
ſto uneingeſchraͤnkter iſt, je eingeſchraͤnkter und un-
edler die Eigenſchaften der Seele ſonſt zu ſeyn pflegen.
Die vorigen Beyſpiele von Verſtuͤmmelungen der Thie-
re beweiſen dieſes offenbar. Abraham Kaau Bo-
erhave erzaͤhlet, daß er einem ſchnell zu ſeinem Fut-
ter eilenden Hahne, mitten im Laufe den Kopf abge-
hauen; und dennoch ſeye der Rumpf noch 23 rhein-
laͤndiſche Fuß gerades Weges weiter fortgelaufen,
und wuͤrde vielleicht noch weiter gekommen ſeyn, wenn
M 2er
[180] er ſich nicht von ungefaͤhr woran geſtoßen; da er denn
gefallen, und noch lange Fluͤgel und Fuͤſſe bewegt
hat. Weder Thier noch Menſch koͤnnen ſich im ſchnel-
len Laufe gaͤhlings anhalten, und nichts macht muͤder,
als wenn man einen Menſchen oder ein Thier oͤfters
ohne Vorerinnerung, ohne daß ſich der Mechanismus
der Glieder darnach einrichten kann, gaͤhlings von ei-
nem ſchon vorgefaßten Wege abfuͤhret. Der Wind-
hund uͤberſetzt den Haſen, und der toͤdtlich verwunde-
te Haſe eilt noch einige Springe im ſchnellſten Laufe
fort, bis er endlich uͤber und uͤber ſtuͤrzet. —
Bey derley Erſcheinungen muß man nie auf die
Staͤrke der Gewohnheit und des feſten Vorſatzes ver-
geſſen. Ich nehme mir vor, um eine gewiſſe Stun-
de, an die ich doch ſonſt nicht gewoͤhnt bin, aufzu-
wachen, und dieſes geſchieht; wie geht es aber zu,
daß die Wirkung des Eindruckes ſich erſt ſo lange und
gerade um die beſtimmte Zeit nach dem geſchehenen
Eindruck aͤuſſert? So geſchieht mir auch nicht ſelten,
daß ich mich zu meinem Verdruße in einem ganz andern
Hauſe ſehe, als in welches ich im Begriffe war zu
gehen, und dieſes vorzuͤglich dann, wo ich einige Zeit
zuvor in dieſem Hauſe zu thun hatte. — Zehnmal
bin ich einen Weg ohne neuen Vorſatz und ohne mich
aufzuhalten fortgegangen. — Jetzt faͤllt mir ein, ich
haͤtte noch was anders thun ſollen; augenblicklich ſtehe
ich ſtock ſtill — bis mich ein neuer Entſchluß wieder
in Bewegung bringt.
Die Erklaͤrung von dergleichen Faͤllen moͤgte
allermeiſt einſeitig werden, wenn man zu eingeſchraͤnk-
te
[181] te Begriffe von einem belebten Mechanismus, und
beſonders die oben aus dem philoſophiſchen Arzte an-
gefuͤhrte Stelle nicht vor Augen hat. Mehr ſcheinen
ſie mir nicht zu beweiſen, als daß dergleichen Bewe-
gungen nicht allzeit bloß mechaniſch ſind, ſondern daß
auch die Vorſtellung und die Gemuͤthsbewegungen der
Seele einen uns unerklaͤrbaren Einfluß in die mecha-
niſchen Triebe haben. Sie entſchuldigen aber keines-
wegs den Wahn, daß die Seele allein alle Bewegun-
gen im Koͤrper, und ſelbſt die Lebensverrichtungen
betreibe. Dieſe gehen vielmehr ihren Gang, ohne
unſer Empfinden, Merken, Denken, Wiſſen oder
Wollen, ja nur gar zu oft wieder unſern Willen un-
ablaͤßlich fort, im tiefſten Schlafe, in der ſchwerſten
Ohnmacht, wenn wir vom Schlage oder von der
Starrſucht gaͤnzlich auſſer uns geſezt, wenn wir ein-
faͤltig, kindiſch, oder raſend ſind.
Das Vermoͤgen, lebhafte Bilder zu haben,
haͤngt allein von der Organiſation ab; aber die Aus-
uͤbung dieſes Vermoͤgens haͤngt in einigen Faͤllen bloß
von der Organiſation, in andern aber auch zum Theil
von dem Willen ab. In hitzigen Krankheiten, in
hypochondriſchen Zufaͤllen u. ſ. w. entſtehen die lebhaf-
ten Phantaſien einzig und allein von der Bewegung
der Organe; aber in dem Enthuſiasmus der Dichter
in den Entzuͤckungen der Wahrſager, und den Ekſta-
ſen der Quacker entſtehen ſie von der willkuͤhrlichen
[Anſtrengung] der Organe durch die Seele. Eben ſo
iſt die Fertigkeit, gewiſſe Bilder vor andern lebhaft
zu machen, gleichfalls eine Folge der Organiſation,
und
[182] und theils auch der Bemuͤhung der Seele: der er-
ſtern in den Faͤllen, wo durch Krankheit, durch
heftige Eindruͤcke auf die Sinne, und durch andere
Urſachen gewiſſe Bilder der Seele ſo tief eingepraͤgt
ſind, daß ſie bey allen Gelegenheiten leicht wieder
erneuert werden koͤnnen; der letztern aber da, wo
durch lange Beſchaͤftigung gewiſſe Bilder von den uͤbri-
gen an Lebhaftigkeit einen Vorzug gewonnen haben.
In allen Faͤllen, wo die Organiſation allein die Bil-
der hervorbringt, haben wir auf ihre Lebhaftigkeit gar
keine oder nur eine geringe Gewalt; gar keine in
heftigen hitzigen Krankheiten und Verruͤckungen; ſehr
geringe in dem erſten Entſtehen der hitzigen Krankhei-
ten, in denjenigen Bildern, die durch ſtarke Senſation
der Seele tief eingedruͤckt ſind.
Weil die Erſcheinungen von der wechſelſeitigen
Einwirkung der Seele und des Koͤrpers dem Welt-
weiſen und dem Arzte gleich wichtig ſind; aber auch
jeden zu ſo manchem vorgreiflichen Trugſchluß verlei-
ten, ſo will ich die beyderſeitige Herrſchaft und Ab-
haͤngigkeit, ſo wie ſie einſtweilen eingeſehen werden,
noch vollſtaͤndiger darſtellen. Tiedemann hat in ſei-
nen Unterſuchungen uͤber den Menſchen ſehr viel Gu-
tes daruͤber geſagt.
Vom
[183]
Vom Einfluß des Koͤrpers auf die Seele ins-
beſondere.
§. 43.
In der Kindheit iſt der Koͤrper ſchwach, das
Gehirn, die Knochen, die Nerven ſind weich; alle
Theile ſind noch unausgebildet und roh; die Seele iſt
in dieſem Alter zur Vernunft und zum Verſtande un-
faͤhig, ihr Denken iſt Phantaſtren, ihr Schließen iſt
Radotiren, und ihre ganze Beſchaͤfftigung traͤumen.
Nach und nach bildet ſich der Koͤrper aus; das Ge-
hirn entwickelt ſich; die Nerven bekommen Feſtigkeit
und Staͤrke; die Seele folgt dieſer Ausbildung Schritt
vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle-
gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan-
taſie, und Grundſaͤze an die Stelle der wilden Einfaͤl-
le. Nach dem hoͤchſten Punkt ſeiner Staͤrke nimmt
der Koͤrper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu
hart, oder verwandelt ſich in eine waͤſſerichte Mate-
rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus-
keln ſteif; die Seele verliert eine Faͤhigkeit nach der
andern; das Gedaͤchtniß nimmt ab; Affekten und Lei-
denſchaften verſchwinden; der Verſtand wird dunkel,
und geht endlich in Albernheit uͤber. *)
Eine
[184]
Eine gewiſſe Gabe Belladona, ein wenig zu
viel Wein, ein verdorbener Magen, in dem Unter-
leibe zuruͤckgehaltene oder unordentlich bewegte Aus-
wuͤrfe, machen aus dem verſtaͤndigſten Mann den
ausſchweifendſten Thoren, aus dem Weltweiſen einen
Zoͤgling des Tollhauſes, und aus dem ſanften einen
Wuͤtterich. — Haben wir unſern Koͤrper durch ſtarke
Arbeiten ermuͤdet, ſo ſinkt auch die Seele in Unthaͤtig-
keit, und der ſchaͤrfſte Witz wird ſtumpf. Haben wir
ihn durch lange Zeit nicht mit Nahrung geſtaͤrkt: ſo
ſehen wir Erſcheinungen, oder werden aus Hunger
raſend; haben wir unſer Blut durch Wachen, oder
zu ſtarke Bewegung uͤberhitzt, ſo nimmt uns ein fie-
berhafter Wahnwitz allen Verſtand. — Ohne Orga-
niſation, ohne Sinneswerkzeuge hoͤrt die Seele nicht,
ſieht nicht, riecht nicht, u. ſ. w. Ein wenig zu viel
Blut abgezapft nimmt alles Bewuſtſeyn; ein paar
Tropfen ausgetrettene Feuchtigkeit im Gehirne, eini-
ge Gran Mohnſaft machen eine unuͤberwindliche Schlaf-
ſucht
*)
[185] ſucht und Dummheit. Die Anreizung koͤrperlicher
Wolluſt, eine etwas ſtarke ſinnliche Empfindung, ei-
ne koͤrperliche Gewohnheit, oder ein koͤrperliches Be-
duͤrfniß uͤberwaͤltigen uns unwiderſtehlich, zerſtoͤren
unſere Grundſaͤtze, und vernichten unſere Entſchluͤſſe.*)
„Ein etwas ſchnellerer oder langſamerer Umlauf der
Saͤfte, ſagt Tiſſot**), ein etwas dikeres oder duͤnne-
res Blut, einige Loth Speiſe oder Getraͤnke weniger;
ja ſogar eine Quantitaͤt Speiſe von einer andern Spei-
ſe; eine Taſſe Kaffe, ſtatt eines Glaͤschen Weins;
ein etwas kuͤrzerer oder laͤngerer, ruhiger oder unru-
higer Schlaf; ein Stuhlgang, der ein wenig ſtaͤrker
oder geringer abgeht; eine etwas ſtaͤrkere oder gerin-
gere Ausduͤnſtung koͤnnen unſere Art und Weiſe, die
Gegenſtaͤnde zu ſehen und zu beurtheilen, ganz und
gar veraͤndern. Die in unſerer Maſchine vorgehenden
Veraͤnderungen laſſen uns von einer Stunde zur andern
auf ganz verſchiedene Art empfinden und denken, und
ſchaffen in uns nach ihrem Belieben neue Grundſaͤtze
von Laſtern und von Tugenden.„ Der Koͤrperbau des
Vaters erzeugt nicht ſelten einerley ſittliches Betragen
und einerley Denkart im Sohne. Wenn man em-
pfinden, und mit gehoͤriger Deutlichkeit und Staͤrke
empfinden ſoll: ſo muß das Gehirn ſeine gehoͤrige Be-
ſchaffenheit haben; die jedesmahlige Beſchaffenheit der
empfindenden Nerven hat in die Deutlichkeit, die
Staͤr-
[186] Staͤrke, die Schwaͤche der Empfindung Einfluß. Die
Empfindungen richten ſich nach der jedesmaligen Be-
ſchaffenheit der Organe. Die Staͤrke der Wirkung
des Gegenſtandes, verbunden mit der Beſchaffenheit
des Mediums, welches dieſe Wirkung durchlaufen
muß, verſtaͤrkt oder ſchwaͤcht, verdunkelt oder klaͤrt
die Empfindung auf.
Erſcheinungen hangen oft blos von der Orga-
niſation ab, z. B. von einem Fehler im Sehnerve u.
ſ. w. Verruͤckung haͤngt von verdorbener Organiſa-
tion des Gehirns oder mit ihm uͤbereinſtimmender Thei-
le ab; zum wenigſten iſt die erſte Quelle immer in der
Organiſation zu ſuchen, obſchon ſie auch durch andere
Gemuͤthsaffekten durch Verderbung der Organiſation
erzeugt werden kann. Leichtigkeit des Gehirns, Zu-
fluß von zu vielem Blute nach dem Gehirn, Reitz der
Nerven durch Wuͤrmer oder ſonſt ſcharfe Theile,
Schaͤrfe und Vereiterungen des Gehirns, fremde Koͤr-
per im Gehirn, Unordnungen des Unterleibes u. ſ. w.
ſind die gewoͤhnlichen Urſachen. Die Einfaͤltigen, die
in der Manie ſcharfſinnig denken, die Ungeuͤbten, die
in der Raſerey Verſe machen, verrichten dieß einzig
und allein dadurch, daß die inneren Organe in hefti-
gerer Bewegung ſind, als bey geſundem Zuſtande.
In den gewoͤhnlichen Verrichtungen iſt die Seele bloß
Zuſchauerin des Organenſpiels; ſie hat alle einzelne
Ideen, und die Folge einzelner Ideen, nicht weil ſie
ſie haben will, ſondern weil die Bewegung der Orga-
ne ſie ſie zu haben zwingt. Ob es Verruͤckungen giebt,
in welchen die Seele einige Herrſchaft uͤber die Orga-
niſa-
[187] niſation ausuͤbt, das kann nur dann entſchieden wer-
den, wenn theils mehrere und beſſere Beobachtungen
gemacht, theils durch die eigne Nachricht der Ver-
ruͤckten entſchieden ſeyn wird, ob ſie dabey nach Plan
handeln, oder blos dem Strom der ſich aufdringen-
den Ideen folgen, wie es die oben von Van Helmont
angefuͤhrten Beobachtungen unterdeſſen zu beweiſen
ſcheinen. Auch in der Waſſerſcheue iſt die Seele ſchlech-
terdings untergeordnet; die Kranken muͤſſen gegen alles
Beſtreben des Willens und der beſſern Einſicht ſpeien,
beißen, alle Fluͤßigkeiten und glaͤnzende Dinge unter
den heftigſten Zuckungen verabſcheuen.
§. 44.
Umgekehrt giebt es einen Zuſtand, wo der Kran-
ke ſeinem innern Gefuͤhle nach ganz nach Plan und
Willkuͤhr handelt, obſchon er ſchlechterdings nicht an-
derſt handeln kann. Mein Freund Dopfer ſtund als
Student im Rufe der Heiligkeit; deßwegen wurde er
zu einem Maͤdchen gerufen, die auf einem Miſthaufen
unter mancherley Zuckungen die ſeltſamſten Geberden
machte. Im Vertrauen auf ſeinen frommen Lebens-
wandel gebot er ihr aufzuſtehen, und ſie ſtund auf.
Dieſer Erfolg beſtaͤttigte ſeinen Glauben an die Mit-
wirkung einer hoͤhern Kraft. — Er gebot ihr daher
verſchiedene Dinge, die ſie alle aufs ſchleunigſte ver-
richtete. — Nachdem er in ſpaͤtern Jahren dieſen
Wahn abgelegt hatte, ſah er in einem Bauernorte
ein Haͤfners-Maͤdchen mit bewunderungswuͤrdiger Be-
hendigkeit uͤber die in die Sonne zum austrocknen hin-
geleg-
[188] gelegten Toͤpfe weghuͤpfen, daß es ihm faſt unbegreif-
lich ſchien, wie geſchickt ſie die Fuͤſſe in die kleinen
Zwiſchenraͤume ſetzte. Das Volk beluſtigte ſich an die-
ſem Schauſpiele, und ſie gehorchte ebenfalls jedem,
der ſie ſo oder anderſt ſpringen hieß. Man ſagte ihm
zwar, das Maͤdchen habe oͤfters ſolche Anfaͤlle. —
Indeſſen hielt er die ganze Erſcheinung fuͤr ein Spiel
der Uibung und der Bosheit. In ſeinem zwey und
zwanzigſten Jahr wurde er mit einem Nervenfaulfie-
ber befallen. Die fuͤnf Tage, waͤhrend welchen alle
Zufaͤlle am heftigſten waren, hatte er ſeinem melan-
choliſchen Temperamente zu Folge unablaͤßlich mit den
theils erhabenſten, theils ſonderbarſten Vorſtellungen
zu thun. Er duͤnkte ſich Gott Vater, und ſprach im zu-
ſriedenſten, gebietendſten Tone — ſprengte die tuͤrkiſche
Flotte aus den Tiefen des Meeres in die Luft u. d. gl.
Weil er aber immer zu entlaufen ſuchte, und durch-
aus keiner Baͤndigung faͤhig war, ſo gab man ihm
einen herkuliſchen Seſſeltraͤger zum Waͤrter; dieſer wu-
ſte ihm ſo viel Kraft entgegen zu ſtellen, daß er von
deſſen Uibergewicht uͤberzeugt von Haß entbrannte,
und Rache ſuchte. Er ergriff ein Meſſer vom Tiſche,
und als ihm der Waͤrter Arzneyen reichte, ſtach er auf
ihn; Allein dieſer war auf ſeiner Hut, und rang ihm
unbeſchaͤdigt das Meſſer aus der Hand. — Sehr oft
fieng er ganz graͤßlich an zu ſchreyen, ſperrte die Au-
gen und das Maul weit auf, ſo, daß wir alle glaub-
ten, Tollheit und Bosheit haͤtten gleichviel Antheil
daran. Er that dieſes ſeinem Gefuͤhle nach mit ſo
uneingeſchraͤnkter Freyheit, daß er ſich ſelbſt wieder
zu
[189] zu andern Augenblicken die bitterſten Vorwuͤrfe mach-
te, und alles blos fuͤr die Wirkung ſeines boshaften
Willens hielt, was ihn aͤuſſerſt betruͤbte. Er fuͤhlte
ſo ſehr die Gewalt, daß er ſelbſt fuͤr ſeine Lunge be-
ſorget war. — Nach dem Bruche der Krankheit er-
innerte er ſich genau an alle Umſtaͤnde, wuſte uns
das Geſchrey nachzumachen, erkannte das Meſſer,
und wies die Stellen, wo ich jedesmal die Recepten
und ſeine Krankengeſchichte ſchrieb, was ihm wegen
dem Geraͤuſche der Feder unausſtehlich war. Jezt
ſah er aber deutlich ein, wie unwillkuͤhrlich er gehan-
delt habe. Dieſe Erfahrung erklaͤrte ihm nun auch
die Geſchichten der zwey Maͤdchen. Er machte naͤm-
lich den richtigen Schluß; daß es einen ſolchen kran-
ken Seelenzuſtand gebe, in welchem der Kranke,
bey aller unuͤberwindlichen Nothwendigkeit, ſo oder
anderſt zu handeln, dennoch ganz willkuͤhrlich zu han-
deln glaubt. — Vielleicht liegt eine uͤberſpannte Reitz-
barkeit jener koͤrperlichen Theile zum Grunde, welche
zunaͤchſt auf die Beſtimmung des Willens wirken. Ei-
ne lebhafte Einbildungskraft, welche dieſen Leuten
gewoͤhnlich eigen iſt; ein unumſchraͤnkter Glaube an
die Macht eines andern u. d. gl. muͤſſen nothwendig
die Beweglichkeit des Willens erhoͤhen. Dieſe Beo-
bachtung koͤnnte etwas zur Rechtfertigung und Ent-
ſchuldigung manches Selbſtbetruges, wodurch nicht
ſelten unwiſſende mit betaͤubt werden, beytragen,
weswegen ich ſie um ſo lieber hier angefuͤhrt habe.
Die gewoͤhnlichen Stufen des Irreſeyns beſtaͤt-
tigen dieſe Beobachtungen. In der erſten Stufe iſt
man
[190] man blos unruhig; man iſt wider ſeinen Willen mit
mancherley Gedanken beſchaͤftigt, deren man ſich, ſo
ſehr man auch dagegen ſtrebt, nicht entſchlagen kann.
Verfaͤllt man in dieſem Zeitpunkt in einen Schlum-
mer, ſo hat man [lebhafte] Traͤume, worinn ganze Hand-
lungen vorgehen. Man erwacht aber gewoͤhnlich bald
wieder, und hat Muͤhe, den wachenden Zuſtand vom
ſchlafenden zu unterſcheiden. In einer etwas hoͤhern
Stufe duͤnkt man ſich mitten unter ſeinen Geſchaͤften,
unter Geſellſchaften u. d. gl. zu ſeyn, und man bedarf
ſchon einer, nicht von unſerm Willen abhaͤngigen, ſon-
dern blos durch Zufall veranlaßten und mit Anſtren-
gung fortgeſetzten Reflexion, um dieſe Bilder fuͤr wah-
re Phantaſie zu halten. Aufmerkſame Leute koͤnnen
jetzt noch, gleichſam als beſtuͤnden ſie aus zwey ver-
ſchiedenen denkenden Weſen, den Gang der irrenden
Phantaſie beobachten. Es iſt dieſes das naͤmliche,
jetzt nur wirkſamere und kennbarere Ding, was ei-
nige ihren Genius zu nennen pflegten, und ſeinen Sitz
im Hinterhaupte zu haben ſcheint; was ganz unwill-
kuͤhrlich in uns denket, und in unbegreiflicher Schnel-
ligkeit dem reflektirenden Vermoͤgen der Seele die Ge-
danken vorhaͤllt; was uns Gluͤck und Ungluͤck vorſtellt;
aufmuntert und abmahnet, und den Verliebten, den
Furchtſamen, den Gewiſſenhaften, den Lottoſpieler
ſo mannigfaltig hintergeht; was die Mutter der Dicht-
kunſt und der Schwaͤrmerey iſt; was zuverlaͤßig etwas
ganz anders ſeyn muß, als die reflektirende Seelen-
kraft, und folglich aller Unterſuchung der Weltweiſen
wuͤrdig waͤre, weil auf deſſen ſchnellerem oder lang-
ſa-
[191] ſamerm, ordentlicherm oder verwirrterm Gange, groͤßern
oder geringern Fruchtbarkeit, das ſchnellere oder lang-
ſamere, gluͤcklichere oder ungluͤcklichere Denken groͤß-
tentheils beruht. — Von dieſem Ding erkennt der Ir-
rende noch das unzuſammenhaͤngende und drollichte Ge-
mengſel: Aber auf einer hoͤhern Stufe geht das
Reflexionsvermoͤgen vollends verloren. — Das Ir-
reſeyn iſt jezt unſer Ich, und der Unterſchied zwiſchen
Wahrheit und Taͤuſchung kann ſchlechterdings nimmer
eingeſehen werden, weil das Unwillkuͤhrliche dieſes
Zuſtandes auf keine Weiſe mehr erkannt werden kann.
§. 45.
Vom Einfluß der Seele auf den Koͤrper ins-
beſondere.
Hingegen iſt es auch wahr, daß der iedesmali-
ge Zuſtand der Seele, je nachdem ſie ſchon mit an-
dern ſinnlichen oder intellectuellen Ideen beſchaͤftigt,
oder in eine Art von Entzuͤckung hingeriſſen iſt, die
jedesmaligen Empfindungen verſtaͤrke, oder ſchwaͤche,
verdunkle, erſticke, verfaͤlſche oder aufhelle. Ein
ſehr ſchwacher Eindruck bringt oft heftige, und ein
ſehr ſtarker Eindruck ſehr ſchwache Bewegungen des
Willens hervor. Heftige Schmerzen, Schlaͤge, und
die groͤſten Martern, die bis zur Zerſtoͤrung der ſinn-
lichen Werkzeuge heftig ſind, bringen in einem ei-
genſinnigen Kinde und in einem gefangenen Irrokeeſe
entgegengeſetzte Bewegungen des Willens, Singen,
Hohnſprechen, Trotz hervor. — Die Bewegungen
des Herzens und des Blutes werden von angenehmen
Em-
[192] Empfindungen, Erinnerungen, Sehnſucht, Leiden-
ſchaften gar verſchiedentlich beſchleunigt, verzoͤgert,
oder ſonſt auf eine Art geſtoͤrt, wovon nicht ſelten
ſchwere Krankheiten oder der unmittelbare Tod die
Folge iſt. Eben dieſe Dinge wirken auf die Bewe-
gung des Magens, der Eingeweide: Manche Vorſtel-
lungen bringen auch im Zwergfell, und zwar jede ih-
re eigene Empfindung hervor; eine laͤcherliche Idee
kizelt; eine Idee von Unanſtaͤndigkeit, Beleidigung
ſticht, oder erregt ſonſt gegen den Ruͤckgrad zu ein
laͤſtiges, beunruhigendes Zuſammenſchnuͤren: Der aͤu-
ßerſt gepreßte, marternde Zuſtand der Bruſt um die
Gegend des Zwergfells bis an den Schlund bey der
Eiferfucht wird wohl beynahe Jedem bekannt ſeyn.
Die Leidenſchaften ſind eine ziemlich allgemei-
ne Urſache von Krankheiten, und ich kenne keine, die
nicht z. B. mehr oder weniger auf die Bruſt wirkt,
ſo, daß wir bald ſeufzen, bald ſtark, ſchwach und
bald beaͤngſtigt oder freyer athmen muͤſſen. —
“Jeder Schmerz, ſagt Gardiner, hat, wenn er ploͤtz-
lich und unerwartet entſteht, gefaͤhrliche Folgen, und
wirkt heftiger, als wenn er bey gleichen Graden ſei-
ner intenſiven Groͤße, langſam und allmaͤhlig erregt
wird. Im letzten Falle werden wir gleichſam zum
Widerſtand aufgefodert und vorbereitet.„*)Iſen-
flamm behauptet, daß die nach dem Willen der See-
le angeſtrengten Muskeln nicht ſo abreiſſen, wie die-
jenigen, in welchen wirklich keine Einwirkung der See-
le
[193] le ſtatt hat. Einem Toden riß er die Muskeln leicht
quer ab. Ein Arbeiter ließ ſich an einem Finger 600
Schuhe hoch ziehen. Einem andern ſchnellte eine zwar
ſchnellere aber viel geringere Kraft unvermuthet an
zwey Handmuskeln die Fiebern quer ab. Ein Fiſcher
verfehlte das Land im Sprunge; ſtatt des Wadenmus-
kels ſprang bey der heftigen Anſtrengung die Archilles-
flechſe ab. Eben dieſes widerfuhr einem Taͤnzer.*)
Die Heiterkeit und Zufriedenheit des Gemuͤthes
haben vielen Einfluß auf die Geſundheit und Munter-
keit des Koͤrpers, ja auf ein langes Leben: So, wie
das Verderben des Gemuͤthes der Geſundheit und dem
Leben gefaͤhrlich wird, geringe Wiederwaͤrtigkeiten
vergroͤßert, und durch Verzweiflung endlich die Ent-
ſchließung des Selbſtmordes zuziehen kann. — Das
Irreſeyn der Kranken iſt ohne Zweifel das Reſultat
ſowohl verdorbener Sinneswerkzeuge, als der Wirk-
ſamkeit der Seele ſelbſt. Solche Leute gehen meiſtens
von einer Idee aus, die ſie entweder zuvor lange be-
ſchaͤftigt, oder ſehr geruͤhrt hatte. Auf ſie beziehen
ſie alles, und alles muß mit ihr in eine Verbindung
gebracht werden. Dadurch entſteht in der Seele des
Kranken ein eigne Welt: Er verbindet nicht nach
dem Eindruck der Senſationen, ſondern alles nach der
herrſchenden Idee, worunter ſich die Senſationen dun-
kel vermiſchen. Die Frau, deren Geſchichte im zweyten
Kapitel bey den leidenſchaftlichen Krankheiten vorkoͤmmt,
hatte zuvor wechſelweiſe, heftige entgegengeſetzte Ge-
muͤths-
Gall I. Band. N
[194] muͤthserſchuͤtterungen; ſie war ſchon lange ihrem Man-
ne aͤußerſt abgeneigt, und entdeckte in jedem unſanften
Betragen die hoͤchſten Beleidigungen. Indeſſen war
ſie bey einer ausgezeichneten Empfindſamkeit auf ro-
mantiſche Weiſe einem andern zugethan: Bey der
geringſten Bewegung, die ſie um ihr Bette bemerkte,
obſchon der verhaßte Mann nicht einmal im Hauſe
war, ſchrie ſie mit voller Wuth auf: Biſt ſchon wie-
der da, du Teufel du! und fluchte ihm unter gewalt-
ſamen Ausdruͤcken. Kaum hatte dieſes einige Au-
genblicke gedauert, ſo wandt ſie ſich gegen das Ge-
maͤhlde ihres Guͤnſtlings, lachte hell auf, ſprach aͤu-
ßerſt freundlich und zuthaͤtig, murmelte endlich ſtille
und geheimnißvoll etwas daher. — Da geſchah bey
dem ſo gedraͤngten Ideengang in einer Minute, was
ſonſt etwan in einigen Stunden oder Tagen zu geſche-
hen pflegte; aber doch genau nach dem vorigen See-
lenzuſtande.
Eine andere Frau, welche in ſehr unzufriede-
ner Ehe lebte, wurde wahnſinnig. Sie hatte oͤftere
Anfaͤlle von Raſerey, zerriß alle Kleidungsſtuͤcke, und
ſuchte alles, was ihr unter die Haͤnde kam, zu zer-
ſtoͤren. Nachdem ſie wiedergeneſen war, konnte ſie
ſich deutlich erinnern, daß ſie immer glaubte, ſie uͤbe
ihre Wuth an ihrem Manne aus. Auch machte der
Anfall jedesmal mit der lebhaften Erſcheinung deſſel-
ben den Anfang. Ein hieher ſehr merkwuͤrdiges, aber
fuͤr eine andere Abſicht noch merkwuͤrdigeres Beyſpiel
werde ich zu Ende des zweyten Theils Herrn Dopfer
ſelbſt erzaͤhlen laſſen. Offenbar that hier die Seele
jedes-
[195] jedesmal das ihrige bey der geringſten Veranlaſſung
von Außen, oder auch in den innern Gehirnwerkzeu-
gen. Sehr auffallend beweiſet dieſes die Hundswuth.
Dieſe bedauernswuͤrdigen Elenden, da ſie beym Anblick
einer Fluͤſſigkeit ſo unerhoͤrte Leiden auszuſtehen ha-
ben, und bey der unſeeligen Geiſtesgegenwart die Ur-
ſache und all das Grauenvolle ihres Zuſtandes erken-
nen, verſetzen endlich ihre Einbildungskraft in eine ſo
reizbare Lage, daß jeder auch geringſte glaͤnzende Koͤr-
per, ſo gar jeder ſich ihnen naͤhrende Menſch die un-
ausſtehliche Vorſtellung von Waſſer aufs lebhafteſte
rege macht. Sie glauben den Hund, von dem ſie ge-
biſſen worden ſind, zu ſehen, wie er auf ſie losgeht,
ſie anfaͤllt und verwundet; was nur immer einigen
Glanz hat, wird von ihrer Vorſtellungsart in einen
Hund verwandelt; ſie ſpringen ſchreckvoll zuruͤck, lau-
fen davon, und bitten die Umſtehenden dringend um
Beyſtand und Rettung. Bey der ruhigſten Stille
hoͤren ſie das Geheul des Hundes, und ſie fuͤhlen ihren
Untergang ſo lebhaft, daß ſie bey der geringſten Be-
wegung glauben, das Haus ſtuͤrze uͤber ſie ein.*)
Alle koͤrperlichen Hinderniſſen wirken im kran-
ken Zuſtande gerade ſo, wie etwan im Traume. Sie
erregen Vorſtellungen und Gefuͤhle, die wir bey aͤhn-
lichen Hinderniſſen im geſunden und wachenden Zu-
ſtande zu haben pflegen. Beynahe alle Kranken, die
man gewaltthaͤtig im Bette zuruͤckhaͤlt, die man bin-
det und guͤrtet, martern ſich mit den angſtvolleſten
N 2Vor-
[196] Vorſtellungen von Moͤrdern, Raͤubern Gefaͤngniſſen ꝛc.
Nach langem fruchtloſem und ermattendem Beſtreben,
ihre Freyheit zu erhalten, nehmen ſie ihre Zuflucht zur
Verſtellung, werden ſanftmuͤthig, flehen ihre beſten
Freunde ſehnlichſt um Befreyung. — Dieſer gewalt-
ſame Seelenzuſtand, nebſt den ſchreckvollen Vorſtel-
lungen, und das heftige Beſtreben des Koͤrpers muͤſ-
ſen nothwendig vieles zur Verſchlimmerung der Krank-
heit beytragen; man ſollte alſo nur in ganz unver-
meidlichen Faͤllen zu dieſem Verfahren ſchreiten
Die Aerzte begnuͤgen ſich in dieſen Faͤllen mit
den allgemeinen Ausdruͤcken: Der Kranke ſprach irre,
raſete u. ſ w. Aber ich lobe die Philoſophen, wel-
che ſich uͤber die Seltenheit ſolcher genau aufgezeichne-
ten Geſchichten beſchweren. Den Nutzen fuͤr die See-
lenkenntniß ſollte doch ein Arzt einſehen — und daß
eine genauere, puͤnktliche Beobachtung auf die Art und
den Gang des Irreſeyns auch in Ruͤckſicht der Heil-
art gar nicht gleichguͤltig ſeye, werde ich in der Fol-
ge, oͤfters zu zeigen, Gelegenheit haben.
Sonderbar, und vielleicht mehr aus den Ge-
ſetzen der Gewohnheit und der Fertigkeiten, als aus
einer thaͤtigen Einwirkung der Seele erklaͤrbar, ſind
jene Geiſtesverirrungen, wobey der Menſch nur uͤber
diejenigen Dinge, die er vorzuͤglich betrieben hat,
richtig zu urtheilen im Stande iſt.
Ein Arzt, der ſich vorzuͤglich auf die Scheide-
kunſt verlegte, wurde wahnſinnig, und er bethete un-
aufhoͤrlich. So oft man ihm von einem Gegenſtand
aus der Scheidekunſt ſprach, gab er die vernuͤnftig-
ſten
[197] ſten Belehrungen. Eine Goldſtickerin war ebenfalls
wahnſinnig: ſprach man ihr aber von einer Weſte, ſo
wuſte ſie genau die erforderliche Menge Goldes und
das Maaß des Zeuges zu beſtimmen. “Herr L. lag an
einem Rieſelfieber darnieder und hatte die Hirnwuth;
er war anhaltend verwirrt und hatte oͤftere Zuckun-
gen und Kraͤmpfe. Da er ſich ganz der Dichtkunſt
widmete, und wirklich ſelbſt ein guter Dichter war,
ſo kam er jedesmal zu ſich, wenn einer von den Umſte-
henden den Klopſtock nannte, und blieb ſo lange voll-
kommen bey Sinnen, als man ihm von den Werken
dieſes erhabnen Dichters ſprach. Sobald man davon
aufhoͤrte, war er wieder himmelweit verwirret; man
durfte aber nur wieder den naͤmlichen Gegenſtand be-
ruͤhren, um ihn jedesmal zu ſich zu bringen.*)
Von entgegengeſetzter Art ſind die Verruͤckun-
gen, wo der Kranke von allen Dingen richtig urthei-
let, und nur in jenen Begriffen irrig iſt, die ihn zu
ſehr beſchaͤftigt haben. Vielleicht ſind in dieſem Fal-
le gerade nur die bey dieſen Vorſtellungen in Thaͤtig-
keit geſetzten Theile des Gehirns in einem zu reizba-
ren, oder zu ſehr erſchlafften Zuſtande. — Und im
andern Falle iſt die allgemeine Zerruͤttung nicht maͤch-
tig genug, um die ſchon ſo ſehr gelaͤufige und beſtimm-
te Bewegung gewiſſer Theile zu hindern. Die meiſten
Weltweiſen finden zwar die Meinung laͤcherlich, daß
die verſchiedenen Seelenfaͤhigkeiten und Vorſtellungen
i[n] verſchiedenen Stellen des Gehirns ihren Sitz haben.
Wenn
[198] Wenn dieſes aber laͤcherlich iſt, ſo iſt es auch laͤcherlich,
daß die verſchiedenen Sinne an verſchiedenen Stellen
des Koͤrpers angebracht ſind; daß wir in jedem Thei-
le auf eine andere Art empfinden; daß der Schoͤpfer
das Denkwerkzeug, eben ſo wenig, als die Werkzeu-
ge der Empfindungen, auf einen einzigen Punkt zu-
ſammengedraͤngt hat: denn Sehen und Hoͤren ſind eben
ſo gut Seelenfaͤhigkeiten, als es die verſchiedenen Vor-
ſtellungsarten ſind. — Warum will man nur dieſen ver-
ſchiedene Werkzeuge oder Stellen ſtreitig machen. Iſt
es laͤcherlich, daß der Geiſt durch Abwechslung der
Vorſtellungen ausruhen kann? Daß ſowohl die aͤu-
ßern als innern Werkzeuge zum Theile in vollkomme-
ner Ruhe, und zum Theile in die groͤſte Thaͤtigkeit
verſezt ſeyn koͤnnen, wie es in den Traͤumen, im Ir-
reſeyn, und bey Nachtwandlern der Fall iſt? Daß
bey einzelnen Verletzungen des Gehirns, auch einzel-
ne Faͤhigkeiten und einzelne Vorſtellungen zerruͤttet;
hingegen bey Hebung einzelner Hinderniſſe, einzelne
Faͤhigkeiten und Vorſtellungen wieder erſtattet werden?
Wenn alles dieſes laͤcherlich iſt, ſo iſt es auch laͤcher-
lich, daß uͤberhaupt eine im Verhaͤltniß der Nerven
und des Koͤrpers groͤßere Gehirnmaße den Wirkungs-
kreis des Denkens erweitere, ſo wie die Verrichtun-
gen der Lungen durch eine weitere Bruſthoͤle beguͤn-
ſtigt werden; ſo iſt es ferner laͤcherlich, daß verſchiede-
ne Menſchen, die zu den verſchiedenen Beduͤrfniſſen
des menſchlichen Lebens erforderlichen verſchiedene[n]
Anlagen nicht durch Uebung und Erziehung erhalten,
ſondern urſpruͤnglich von Mutterleibe aus mitbringen,
wie
[199] wie z. B. der Redner, der Dichter, der Tonkuͤnſtler,
der Mechaniker, der Feldherr, der Spoͤttler, der
Selbſtdenker und der Nachahmer ꝛc. ohne urſpruͤngliche
Anlage bey allem Fleiße nur elende Stuͤmper bleiben;
und daß die verſchiedene Form des Gehirns, bey ge-
hoͤriger Behutſamkeit, ſchon dieſe verſchiedenen Faͤhig-
keiten eben ſo ſicher verraͤtht, als man von einer groſ-
ſen mit hervorſtehenden Nervenwarzen beſetzten Zunge
auf eine gute Eßluſt, und von weitaufgeſperrten Naſen-
loͤchern auf einen ſcharfen Geruch ſchließet.
Hieraus iſt auch zum Theil erklaͤrbar, warum
die Seelenkraͤfte nicht in gleichem Verhaͤltniß mit dem
Koͤrper verfallen. So uͤberwand der alte Entall den
jungen Dares; Plato ſtudirte bis in ſein 81tes Jahr
immerfort; Sophokles ſchrieb noch im hoͤchſten Alter
Trauerſpiele; Kato fuͤhlte in ſeinem 80ten Jahr noch
keinen Lebensuͤberdruß; Iſokrates ſchrieb in ſeinem
94ten Jahre ſein Panathenaicum; Ximenes uͤber-
nahm im 80ten Jahre die Regentſchaft von Spanien;
Fleury ſaß im 90ten am Staatsruder von Frankreich;
der große Orangzeb commandirte noch nach ſeinem
hundertſten Jahr im Lager; und den Helden Loudon
verließ ſeine richtige Durchſchauungskraft auch im ho-
hen Alter nicht. “Sie wirkte bey Belgrad noch
eben ſo entſchieden, wie dreyſig Jahre fruͤher bey
Dommſtaͤdtl.„ *) Unſtreitig muß man in aͤhnlichen
Faͤllen vieles der Ausbildung der Seelenkraͤfte zu-
ſchreiben.
§. 46.
[200]
§. 46.
Eben diejenigen, vielleicht nicht einmal allzeit
ſchwaͤchern Veraͤnderungen des Koͤrpers, welche aus
den wirklichen Eindruͤcken der Gegenſtaͤnde auf die
Sinne entſtehen, werden auch durch die bloße Ein-
bildung dieſer Gegenſtaͤnde erregt. Ein Mann ver-
langte von ſeinem Arzte gewiſſe Pillen, um ſich von
ſeinen Magenſchmerzen zu befreyen. Andere und zu
dieſer Abſicht bequemere Mittel wollte er durchaus
nicht nehmen. Der Arzt ſtellte ſich alſo, als ob er
ihm willfahren wollte. Er machte aus friſchem Bro-
de Pillen, uͤberguͤldete ſie, und gab ſie ihm. Den
andern Tag kam der Kranke geſund wieder, und ruͤhm-
te die Pillen außerordentlich, ſie haͤtten ihm Oeff-
nung und auch Erbrechen verurſacht. — Swieten
erzaͤhlt von einem, welcher einigemal eine eckelhafte
Laxanz eingenommen hatte. Dieſer bekam bey Er-
blickung des Geſchirres, woraus er ſie getrunken hat-
te, einen Schauder mit Eckel und wirklichem Abwei-
chen. In meinen zehnten Jahre muſte ich einmal eine
mir hoͤchſt widrige Arzney nehmen; alle Jahre kam
ich auf 14 Tage an dieſen Ort, und noch nach dem
8ten Jahre konnte ich nie auf den dritten Ort gehen,
ohne Maul und Naſe von der verwuͤnſchten Arzney
voll zu haben. Der Geruch eines bloßen Holzdekokts
macht mir augenblicklich Kneipen im Leibe — denke
ich mir aber dabey: es iſt nichts als Holz, ſo kann
ich den Dampf ohne alle Folge lange Zeit einziehen.
— Eine Frau, welche lange am viertaͤgigen Fieber
gele-
[201] gelegen hatte, faßte den Entſchluß, ihr Fieber einem
groſſen, an einer Landſtraße liegenden Steine zu uͤber-
machen. Sie ſchrieb an den Stein einen hoͤflichen
Brief, ſchickte einen Boten damit ab, der nach Ver-
meldung ihres Grußes den Stein um die Ueberneh-
mung des Fiebers erſuchen ſollte. Der Bote laß dem
Stein den Brief vor, und knuͤpfte ein zierliches Band
um den Stein. Und das Fieber blieb aus. — Eine
Magd einer vornehmen am Fieber krank liegenden
Frau verſprach fuͤr einen Groſchen ihr Fieber anzu-
nehmen, und bekam es wirklich, die Frau aber wur-
de geſund. So geneſen auch die Kranken von Recep-
ten, vom Vertrauen, welches ſo oft die Pralereyen
der Afteraͤrzte zu Wunderwerken macht. Daher ge-
hoͤren Worte, zauberiſche Karaktere, Segenſpruͤche,
Beſchwoͤrungen, Wunderwerke, Geluͤbde. — Ein
junges geſundes Frauenzimmer hatte ſich in den Kopf
geſetzt, daß ſie nach ihren erſten Wochen ſterben wuͤr-
de, weil ihrer Mutter eben dieſes widerfahren war.
Sie bekam kurz darauf, da ſie ſich doch ſonſt ganz
wohl befand, epileptiſche Zufaͤlle, und ſtarb, ohne
daß man eine andere Urſache davon, als blos die
Einbildung finden konnte. — Eine andere Frauens-
perſon wollte einer Bettlerinn kein Allmoſen geben:
Ihr ſollt in ſechs Monaten ſterben, ſagte die Bettle-
rin, und ſie ſtarb wirklich aus Furcht zu ſterben. —
Derjenige, welcher ſeine Beine fuͤr ſtrohern hielt,
wurde durch Schrecken, um ſich von verſtellten Raͤu-
bern zu retten, hergeſtellt. — Ein anderer, deſſen
Naſe ſeiner Meinung nach einem Elephanrenruͤßel glich,
wurde
[202] wurde dadurch hergeſtellt, daß man ihm eine kleine
Wunde am Kopf machte, und dabey verſicherte, man
habe den Ruͤſſel abgeſchnitten. — Ein junger Rechts-
gelehrter in Paris, der darum ſein Waſſer nicht laſ-
ſen wollte, weil er die ganze Stadt zu uͤberſchwem-
men befuͤrchtete, wurde damit geheilt, daß man ihm
eilends berichtete, es waͤre in der Stadt ein ſolcher
Brand entſtanden, der durch keine menſchliche Hilfe
geloͤſcht werden koͤnnte. Aus Patriotismus oͤffnete er
ſeine Quelle, und genaß.
Geiſterſehen u. d. gl. haͤngt ebenfalls oft von
verdorbener Einbildungskraft ab. — Die Geſchichte
der Nachtwandler laͤßt ſich nicht, zum wenigſten nicht
in allen Faͤllen aus dem bloßen Mechanismus erklaͤ-
ren.
Man weis, was die Anhaͤnger der Hypothe-
ſen aus dergleichen Beobachtungen fuͤr Folgerungen
gezogen haben. — Ich ſtelle ſie hier als bloße Er-
ſcheinungen dar, und folgere nichts anders, als daß
man dasjenige thaͤtige Weſen, was ſich ſeiner in uns
bewuſt iſt, was in uns hoͤrt, fuͤhlt, ſieht und denkt
u. ſ. w. naͤmlich die Seele, nicht von der Natur des
Menſchen ausſchließen koͤnne. “Der Arzt, ſagt
Kloekhof, der bey uͤbernommener Heilung der Gei-
ſteskrankheiten auf einen gluͤcklichen Erfolg ſeiner Be-
muͤhungen rechnen will, muß die Kraͤfte und gleich-
ſam die geheimſten Triebfedern der beyden Naturen,
deren innige Vereinigung den Menſchen darſtellt, ſo-
viel, als das eingeſchraͤnkte Maaß des menſchlichen
Geiſtes verſtattet, kennen, und dieſer Kenntniß ge-
maͤß
[203] maͤß, gehoͤrig zu lenken wiſſen. Denn der Arzt, der
ſeine Beſtrebungen auf den Geiſt allein richtet, weiß
die gegebenen Vorſchriften nicht zu rechter Zeit anzu-
wenden, und ſieht auch nicht ein, wieviel das ſchwa-
che Gehirn auszuhalten vermag. Und derjenige, wel-
cher auf den Koͤrper allein Ruͤckſicht nimmt, weiß
den Geiſt nicht ſo vorzubereiten, daß die auf den
Koͤrper gerichtete Kur alsdann gluͤcklich von ſtatten
gehen kann.„*)
Was iſt nun alſo die Natur des Menſchen?
— Und was iſt der Grund ihrer Thaͤtigkeit?
Nicht die Seele; nicht der Bau der feſten,
oder die Miſchung der fluͤſſigen Theile, weder ihre
wechſelſeitige Einwirkung; nicht die Entwicklung; nicht
die Kraft der Elemente, des elektriſchen oder des
magnetiſchen Stroms, der Licht und Feuermaterie,
u. ſ. w. nicht Verwandtſchaft, Einſaugung, Ausduͤn-
ſtung, Verdickung, Verduͤnnung, Faͤulniß, Gaͤh-
rung, Haargefaͤße, Reizbarkeit; nicht belebter Or-
ganismus oder ſonſt ein einziges Etwas; nicht einmal
der Inbegriff ſeiner weſentlichen Leibes und Gemuͤths-
kraͤfte:
Son-
[204]
Sondern alles dieſes haͤngt unzertrennbar zu-
ſammen; unter alles dieſes ſind alle jene Kraͤfte aus-
getheilt, innigſt untereinander verwebt, wodurch der
Menſch Bildung und Leben erhaͤlt, wodurch er geboh-
ren wird, waͤchſt, empfindet, handelt und denkt, er-
kranket und geneſet, abnimmt und ſtirbt. — Und al-
les dieſes zuſammen iſt die Natur des Menſchen.
[]
Zweytes Kapitel.
Vom
Heilvermoͤgen der Natur und der
Kunſt.
[]‘Medicinæ leges Naturæ legibus debent eſſe eonſentaneæ [E]t
felix Medicatio. cui adjutrix Natura ſuccurrit; Irrita
vero, quæ repugnante Natura tentatur.
Fernelius.’ ()
[[205]]
Zweytes Kapitel.
Vom
Heilvermoͤgen der Natur und der
Kunſt.
§. 1.
In dieſem Kapitel halte ich mich unmittelbar an
den Menſchen, in wiefern er der Gegenſtand des Arz-
tes iſt. Das Heilvermoͤgen der menſchlichen Na-
tur und der Kunſt; die unentbehrlichſten Erfor-
derniſſe zur Wirkſamkeit der Natur; und eini-
ge der wichtigſten Hilfsmitteln der Natur und
der Kunſt erforſchen, durch Beyſpiele erlaͤutern, und
dem Geiſte der Leſer tief einpraͤgen: — Dieſes iſts,
was ich zu unternehmen wage, und einigermaſſen aus-
zufuͤhren wuͤnſche.
Die Erkenntniß dieſer Dinge verdient die Auf-
merkſamkeit des Weltweiſen und des Arztes; auf ihr
beruht der ganze Umfang der Heilkunde; ohne ſie
kann der groͤßte Arzt keinen Menſchen geſund erhal-
ten, und keinen Kranken heilen. Wer die Kraͤfte
der Natur kennt, und zu brauchen weiß, der iſt in
der Kunſt vollkommen. Dem dieſe aber unbekannt
ſind; der nicht mit ihren Hilfsmitteln und Abſichten,
mit
[206] mit dem Zuſtande ihres Unvermoͤgens vertraut iſt
der kann die Natur weder nachahmen, leiten, unter-
ſtuͤtzen, noch ungeſtoͤrt wirken laſſen. Er wird bey
jedem Schritte zu fruchtloſen, unzulaͤnglichen, vorei-
ligen, gewaltſamen, ungluͤcklichen und jederzeit un-
vernuͤnftigen Heilarten verfuͤhrt; er kann keine ande-
re, als irrige Begriffe von dem Urſprung und der
Natur der Krankheiten, von ihren Zufaͤllen, ihrer
Gefahr und von der Wirkung der Heilmittel haben.
Der Gegenſtand iſt weit ausgreifend und ſehr
ſchwer. Deßwegen hoffe ich zwar aufmerkſame, aber
nachſichtige Leſer.
Erſter Abſchnitt.
Vom Heilvermoͤgen der Natur.
Eigenmaͤchtige Kuren der Natur, und Eroͤrte-
rung derſelben.
§. 2.
Die Schriftſteller haben unzaͤhlige Beyſpiele
von eigenmaͤchtigen Kuren der Natur, allermeiſt un-
ter dem Titel ſonderbarer Begebenheiten aufgezeichnet.
Alle Arten von Ausſchlaͤgen der Haut, von Geſchwuͤren,
Kraͤtze, Ausſatz, juckende Blaͤtterchen auf den Reihen,
der chroniſche Frieſel erleichterten oder hoben die hypo-
chondriſchen Beſchwerden, und wurden wechſelſeitig
von
[209] von einem freywilligen Bauchfluß gehoben. Kaͤmpf
hat Saͤuffer geſehen, welche eine Art Ausſatzes etli-
chemal von der Waſſerſucht, Schwindſucht, und an-
dere, welche dergleichen Ausſchlaͤge von der anfangen-
den Melancholie befreyeten. Ein aͤhnliches Beyſpiel
erzaͤhlt Van Swieten. Sie kam aber wieder, ſo-
bald die Geſchwuͤre auszutrocknen anfiengen. Bauch-
fluͤſſe heilten oft die wichtigſten Krankheiten, welche
von Anſchoppungen der Baucheingeweide entſtunden,
als Kopf- und Bruſtſchmerzen, Schwindel, allerley
Vorboten des Schlages, die verdruͤßlichen Zufaͤlle
der goldnen Ader und der Verdauung. Schmid ſah
nach der Auslerung eines wie Dinte ſchwarzen Har-
nes eine heftige Hypochondrie jedesmal ſehr erleich-
tert. Die hyſteriſchen Anfaͤlle der Frauensperſonen
wurden nicht ſelten durch den Abgang eines ſolchen
Urins gehoben. Sennert erzaͤhlt Beyſpiele, wo ein
ſchwarzer Harn von der hypochondriſchen Kraͤze und
andern hypochondriſchen Zufaͤllen befreyte. Valerius
bemerkte einen ſchwarzen Harn, der ſich jaͤhrlich drey
bis viermal mit einer ſtarken Geſchwulſt der Milz und
blauen Farbe des Koͤrpers zeigte, die aber nach haͤu-
figem Abgang des Urins wieder verſchwanden. Bey
einem eingeſperrten Bruch warf die Natur allzeit durch
ein Erbrechen dasjenige heraus, was vor zwey, drey
Tagen gegeſſen war, und das letzte blieb zuruͤck. Pli-
nius erzaͤhlt von Vetuſio Saturnino, daß er alle
Jahre zu einer beſtimmten Zeit ein Blutbrechen be-
kam, und uͤber neunzig Jahr alt wurde. Schenk
und Ettmüller fuͤhren mehrere dergleichen Beyſpie-
Gall I. Band. Ole
[210] le an. Die ſchrecklichſten und gefaͤhrlichſten Zufaͤlle
des Goldaderflußes hebt die Natur manchmal weit
vollſtaͤndiger durch die Entleerung einiger Tropfen Bluts,
als der Arzt durch das Abzapfen mehrerer Pfunde.
Die meiſten geheilten Verſtandesverruͤckungen ſind
durch einen willkuͤhrlichen Bauchfluß, einen Ausſchlag,
ein aufgefahrnes Geſchwuͤr, ein hitziges Fieber u. d.
gl. geheilt worden. Die Gefahr der ſtockenden Kind-
betterreinigung wird durch haͤufige Stuͤhle, einen or-
dentlichen Bauchfluß, durch Schweiſe, Blutfluͤſſe aus
dem After abgewendet. Blutharnen hob hitzige Fie-
ber, Schmerzen der rechten Ribbenweichen, Seiten-
ſtiche. Ein Rothlaufen hob ſehr oft alle erdenklichen,
innerlichen Beſchwerden, Gliederreißen, langwierige
Kolicken, Engbruͤſtigkeit, Kopfſchmerzen, allerley
Fehler der Verdauung, Halsbraͤune, Ruhren, die
fallende Sucht. Lanziſi ſagt, er habe viele gekannt,
die von oft wiederkehrendem Herzklopfen, welches von
ſcharfer im Unterleibe erzeugter Feuchtigkeit entſtand,
durch den Abgang eines ſcharfen, ſchneidenden Harns
gaͤnzlich befrey et worden ſind.*) Durch ein am Hin-
tern entſtandenes Geſchwuͤr, oder ein heftiges Poda-
gra, oder die Gelbſucht ſah er ebenfalls ein toͤdliches
Herzklopfen vergehen. Tiſſot ſah mehrmal Skrofeln,
Hals- und Backendruͤſengeſchwuͤlſte durch einen Spei-
chelfluß heilen. Die uͤblen Folgen des Arſeniks hat
ein Rieſelfieber weggeſchaft. Die hartnaͤckigſten ve-
neriſchen Zufaͤlle heilet oder zerſtoͤrt manchmal ein
Faul-
[211] Faulſieber. Waſſerſuchten wurden manchmal durch
einen waͤſſerichten Ausfluß aus dem Nabel, den Fuß-
knoͤcheln, durch waͤßerichte Stuͤhle, Speichelfluͤße, haͤu-
fige Schweiſe gehoben. Hofmann ſah heftige Zuckun-
gen, die von Wuͤrmern verurſacht wurden, durch
ein Fieber; hypochrondriſche Zufaͤlle durch alle Arten
von Wechſelfiebern; Waſſerſucht mit Herzklopfen und
Zittern, ja ſelbſt die Bruſtwaſſerſucht durch einen haͤu-
figen Ausfluß einer waͤßerichten Feuchtigkeit aus der
Gebaͤrmutter vergehen.*) Sogar Schlagfluͤße hat
die Natur durch haͤufiges Geifern, durch Auswurf,
Blutfluͤſſe aus der Naſe, und durch haͤufige Bauch-
fluͤſſe geheilt. Bey Mead wurde eine Bauchwaſſer-
ſucht durch den Wahnſinn, und ein hektiſches Fieber
ebenfalls durch einen frommen Wahnſinn, wodurch
die Kraͤften zunahmen, und einer wirkſamern Heilart
Platz gemacht wurde, gehoben. Die viertaͤgigen
Wechſelſieber, welche ehemals aller Kunſt der Aerzte
widerſtanden, wurden ſehr oft durch Kraͤze, Pocken, Frie-
ſel, Goldaderfluß, Speichelfluß, kleine Geſchwuͤre
der Lippen, durch Ruhren, Bauchfluͤſſe, Gallen-
krankheit (cholera) geheilt. Deswegen ſagte Hel-
mont vom Quartanfieber: Doctrinam academiarum,
harumque promiſſa riſui jam dudum expoſuit tanquam
vanas ſine viribus nugas, atque luridas fabellas. Nam
omnes academiarum poteſtates connexæ tantumdem
non poſſunt, quantum Natura absque illis, ſua ſpon-
te poteſt, atque facit.
O 2§. 3
[212]
§. 3.
Das Wunderbare dieſer Beobachtungen faͤllt
weg, ſobald man aͤchte Begriffe hat von dem, was
Kranheit, und was Zufall iſt. Da es von der aͤuſ-
ſerſten Wichtigkeit iſt, daß man dieſen Unterſchied
jederzeit zu machen wiſſe, ſo werde ich ihm in der
Folge eine beſondere Abhandlung widmen, und die
ungeheure Zahl der Krankheiten, wie man ſie bey ei-
nigen wichtigen Schriftſtellern findet, allermeiſt auf
bloſſe Zufaͤlle herabſetzen. Folgende Bemerkungen
werden einſtweilen den Leſer in Stand ſetzen, uͤber
alle dergleichen oben angefuͤhrte Erfahrungen ein rich-
tiges Urtheil zu faͤllen, und ihre Vortreflichkeit fuͤr
denkende Koͤpfe kennen zu lernen, obſchon ſie bey der
gewoͤhnlichen Art, wie ſie angefuͤhrt werden, aller-
meiſt unbenuͤtzt verloren gehen.
Denjenigen Zuſtand des lebenden menſchlichen
Koͤrpers, wodurch er unfaͤhig wird, die dem Men-
ſchen eignen Geſchaͤfte, den Vorſchriften der Geſund-
heit gemaͤß, auszuuͤben, heißet man Krankheit.*)
Dieſer Begrif, wenn er gehoͤrig erlaͤutert und ohne
praktiſche Anwendung gebraucht wird, iſt zwar rich-
tig. Allein Er macht uns unendlich viele Erſcheinun-
gen fuͤr Krankheiten anſehen, die auf keine Weiſe da-
fuͤr angeſehen werden duͤrfen. Durch die im 1ten Kapi-
tel §. 3. errzaͤhlten Urſachen werden im Menſchen ge-
wiſſe der Geſundheit widrige Beſchaffenheiten erzeugt.
Den Zuſtand aber, wo eine ſolche Beſchaffenheit ſtatt
hat
[213] hat, ſehe ich fuͤr die eigentliche Krankheit an. Es beruhe
nun dieſer Zuſtand auf einer im Koͤrper angeſammel-
ten fremdartigen Materie, oder auf der Stoͤrung des
Gleichgewichtes und der widernatuͤrlichen Wirkung
und Gegenwirkung der Beſtandtheile des Menſchen;
ſo wird er fruͤher oder ſpaͤter, mehr oder weniger
merklich werden, je nachdem er mehr oder weniger,
fruͤher oder ſpaͤter wirkſam wird. Die Lebenskraͤfte
werden gereizt oder unterdruͤckt, die Verrichtungen
des Koͤrpers und der Seele geſtoͤrt, verſtaͤrkt, ge-
ſchwaͤcht, und die Aeuſſerungen von allem dem erſchei-
nen unter der vielfachen Geſtalt der im 1ten Kapit. §.
4. genannten Zufaͤlle. Dieſe Zufaͤlle pflegt man alſo
gewoͤhnlich die Krankheit zu nennen, da ſie doch ei-
gentlich nichts anders, als wohlthaͤtige Anſtalten, die
Hilfsmittel ſind, wodurch die krankhafte Beſchaffen-
heit umgeaͤndert und gehoben werden ſoll. So z. B.
iſt die Wunde die Krankheit; der Schmerz aber, die
dadurch erregte Entzuͤndung und Eyterung ſind die Zu-
faͤlle, wodurch der Splitter herausgeſchaft, und die
Wunde geheilt wird. Der in den Eingeweiden ſto-
ckende, zaͤhe, faule, ſcharfe, leimichte Unrath iſt die
krankhafte Beſchaffenheit, und das von der gereizten
Lebenskraft erzeugte Fieber, der Schauder, die Hitze,
die Schweiſe, der truͤbe Harn, der Bauchfluß, die
Ausſchlaͤge u. d. gl. ſind Beweiſe der wirkſamen Na-
tur, ſind die Zufaͤlle, wodurch der Stoff verarbeitet,
ausgeleert, und die Krankheit gehoben wird. *)
Die-
[214]
Dieſer Begriff gilt in allen jenen Uebeln, wel-
che die Natur ſelbſt geheilt hat. Die Zufaͤlle koͤn-
nen bey einerley und dem naͤmlichen Uebel nach Ver-
ſchiedenheit der Jahrszeit, der Witterung, der Lei-
besbeſchaffenheit, des Alters, des Geſchlechtes u. ſ.
w. verſchieden ſeyn; daher die naͤmliche Krankheit auf
ſo verſchiedene Weiſe geheilt zu werden pflegt. —
Aber ſo lange man keine Mittel hat, die krankhafte
Beſchaffenheit unmittelbar in den geſunden Zuſtand
umzuaͤndern; ſo lange hat ſowohl die Natur als der
Arzt alles von den Zufaͤllen zu erwarten. 〟Die Zu-
faͤlle haben alſo einen großen Werth. Sie ſind die
Leiter, die Fuͤhrer — ſie ſind die Dollmetſcher des
Arztes. Dies iſt ihr kleinſter Werth. Ohne ſie
wuͤrde jede Urſache, die die thieriſche Geſundheit ſtoͤhr-
te, im Koͤrper zu Gift werden muͤſſen. Die Zufaͤlle
allein ſind es, die die Natur dem Leben gegeben hat,
die Krankheiten der Thiere, die ſich ſelbſt uͤberlaſſen
ſind, zu heilen. Sie ſind in den meiſten Faͤllen die
erſtern, die beſten Gehuͤlfen des Arztes. Durch ſie
werden die Urſachen der Krankheiten abgerieben, ver-
aͤndert, zerruͤttet, zerſtoͤhrt, und aus dem Koͤrper
geſchaft. Durch die Zufaͤlle werden die Kriſen berei-
tet, geleitet, gefuͤhrt. Sie werfen die fremden Koͤr-
per aus; ſie reinigen das Blut und die Saͤfte; ſie
heilen Menſchen und Thieren ihre Wunden, ihre Seu-
chen und Krankheiten und Peſten.〟*)
§. 4.
[215]
§. 4.
Hat man ſich nun mit dieſen Betrachtungen §.
3. recht vertraut gemacht, ſo wird man alle eigen-
maͤchtige Kuren der Natur aufs deutlichſte einſehen;
und ich darf jezt mit der Hererzaͤhlung aͤhnlicher Bey-
ſpiele §. 2. fortfahren. Bey Strack wurde der zwey-
te Kranke durch die Ruhr von einem bald einfachen,
bald doppelt viertaͤgigen Fieber geheilet. Die dritte
Kranke, ein vierzigjaͤhriges Weib, war hypochondriſch,
wurde melancholiſch, und endlich wahnſinnig; in die-
ſem Zuſtande verwarf ſie alle Heilmittel. Allein es
befaͤllt ſie das viertaͤgige Fieber, wodurch die ſchwar-
ze Galle los geſchuͤttelt, Bauchgrimmen und ſchwar-
ze, fluͤſſige Stuͤhle, wie geſchmolzenes Pech, mit
Schmerz und Zwang erregt wurden; und das Weib
genaß. Nachdem dieſe Ausleerung einige Zeit ange-
halten hatte, bekam ſie ein doppeltes Qartanfieber,
waͤhrend welchen wieder eine groſſe Menge ſchwarzen
Unrathes ausgeleeret wurde. Als die Stuͤhle anfien-
gen, gefaͤrbt zu werden, wurde das Fieber ein einfa-
ches, welches ſo lange anhielt, bis alle noch uͤbrige
ſchwarzgallichte Materie ausgeleeret war, worauf ſie
ihre vollſtaͤndige Geſundheit erhielt.*) Die Ruhr
heilte zwey Bruͤder, den einen von der Tobſucht, den
andern vom Wahnſinn. Bey Perfect**) wurde der
ſiebenzehnte Kranke durch eine Kraͤze, der drey und
zwanzigſte durch einen Speichelfluß und die Blattern,
der drey und vierzigſte durch den Goldaderfluß, der
acht
[216] acht und fuͤnfzigſte durch die Wiedereroͤffnung eines
zugeheilten Geſchwuͤres vom Wahnſinn, und der ein
und fuͤnfzigſte durch ein Wechſelfieber von der Melan-
cholie geheilet. Ueberhaupt iſt den Milzſuͤchtigen nichts
heilſamer, als ein ruhrartiger Durchfall. Clerc*)
erzaͤhlt von einem Frauenzimmer, bey welchem gegen
einen verborgenen Krebs in der Bruſt alle bekannten
Heilmittel umſonſt gebraucht wurden. Es zeigte ſich
aber endlich an dem einen Fuße eine Geſchwulſt,
welche nachher eiterte. Das Geſchwuͤr wurde groͤſ-
ſer, die Eyterung reichlicher, und nach und nach ver-
ſchwand der Krebs. Weil man das Geſchwuͤr zu
fruͤhe heilte, ſo erſchien der Krebs wieder. Man oͤf-
nete die alte Stelle wieder, und der Krebs verſchwand
vollſtaͤndig auf die neue haͤufige Eiterung.
§. 5.
Noch lehrreicher ſind die Unterſuchungen, wel-
che das gewoͤhnliche Betragen der Natur in den ge-
woͤhnlichen Gebrechen des Menſchen zum Gegenſtan-
de haben. Wenn wohlgemaͤſtete Koͤrper ſehr ſtarke
und haͤufige Nahrungsmittel zu ſich nehmen, und die
Verdauung und Verzehrung derſelben wird nicht durch
Bewegung oder Arbeit unterſtuͤzt, ſo wird die Natur
genoͤthigt, hie und da ein leichtes Fieber zu erregen,
oder das gewoͤhnliche Daufieber beynahe immerfort
zu unterhalten, um ſich des Ueberfluſſes theils durch
die vermehrten Ausleerungen, als Harn, Schweiß u.
d.
[217] d. gl., theils durch den vermehrten Kreislauf zu ent-
ledigen. Bey Leuten, welche ſich von einer thaͤtigen,
arbeitſamen Lebensart gaͤhlings zur Ruhe begeben,
ereignen ſich oͤfters blutige Stuͤhle; Galenus ſagt,*)
er habe aus dieſer Urſache vielmal einen ſchleimichten
Harn, ſchleimichte, gekochte, eiterfoͤrmige, aber nie
wie der unaͤchte Hippokrates ſagte, wahrhaft eite-
rigte Stuͤhle geſehen, und dieſe Auslerungen kehrten
bald zu beſtimmten, bald zu unbeſtimmten Zeitverlaͤu-
fen zuruͤck. Die viel eſſen, oder einige Zeit muͤſſig
gehen, ſeyen eben ſolchen Ausleerungen unterworfen,
welche ſich aber an keine gewiſſe Zeit binden, ſondern,
je nachdem das Beduͤrfniß iſt, Tage, Wochen, Mo-
nate, ja Jahre lang anhalten. Nam ipſa, quan-
tum ſatis ſit, Natura expurgat.Sanctorius glaub-
te, daß jeder Menſch alle Monate an Gewicht etwas
zunaͤhme, dieſes aber wieder zu Ende des Monats
durch einen truͤben Harn verloͤre. So viel iſt gewiß,
daß dieſe Erſcheinung bey ſtarken, wohlbeſchaffenen
Leuten jedesmal ſtatt hat, wo ſie einen betraͤchtlichen
Fehler in ihrer Lebensart begangen haben. Sie iſt
manchmal mit leichten Ungemaͤchlichkeiten, voruͤberge-
hender Hitze oder Schauder, Kopfweh, einiger Abge-
ſchlagenheit des Koͤrpers und des Gemuͤthes verbun-
den; alles dieſes aber verſchwindet nach einem ſolchen
Harn und etwas mehr als gewoͤhnlicher Geneigtheit
zum Schwitzen.
Ge-
[218]
Geſundſcheinende Perſonen werden manchmal mit
periodiſchen Gaͤhrungen in den Verdauungswegen,
mit ſieberhaften Kraͤmpfen und ſchmerzhaften Zufaͤl-
len, mit Unordnungen im ganzen Koͤrper, ohne alle
aͤußere Veranlaſſung befallen. Kämpf ſah unter die-
ſen Umſtaͤnden, oder nicht lange hernach allerley wie-
dernatuͤrlichen Unrath durch den Stuhlgang und Urin
weggehen und hielt daher dieſen unvermutheten Aufruhr
fuͤr eine Bemuͤhung der Natur, ſich einer fremden
Laſt zu entledigen.
Die Vollbluͤtigkeit vermindert die Natur durch
Naſenbluthen, den Zeitfluß, den Goldaderfluß, Blut-
brechen. Wird ihr dieſer Weg zu ſchwer, ſo bedient
ſie ſich wirkſamerer Anordnungen, und erregt ein Blut-
ſieber. Dadurch bringt ſie entweder wieder Blut-
fluͤſſe zu Stande; oder ſie loͤſet einen großen Theil des
Blutes in einen Dunſt auf, fuͤhrt ihn durch verſchie-
dene Weege aus dem Koͤrper unter dem Namen der
Entſcheidungen und unter der Geſtalt des Schweißes,
eines truͤben, haͤufigen Harnes, haͤufiger Stuͤhle. Iſt der
Widerſtand noch groͤßer, ſo entſtehen zuerſt krampfhaf-
re, rheumatiſche und endlich entzuͤndunsartige Schmer-
zen; kann dadurch der entzuͤndliche Reitz nicht gehoͤ-
rig zerſtoͤhrt, die Entzuͤndungsmaterie abgeſchieden und
in Geſtalt eines Schweiſes, eines truͤben Harns, ge-
kochten, eiterfoͤrmigen Auswurfes oder ſolcher Stuͤhle
nicht ausgefuͤhrt werden: ſo werden die leidenden Theile
zerſtoͤhrt, theils ſelbſt zu Eyter geſchmolzen, theils dienen
ſie der durch die Fieberhitze gebildeten Eiterungsmate-
ri[e] zum Ablager, wodurch die angraͤnzenden Theile
ge-
[219] geſchuͤtzt, das Geſchwuͤr zur Heilung vorbereitet, die
zerſtoͤhrten Gefaͤße gegen die Verblutungen bewahrt
werden. Dieſe Eiterſammlungen ſind freylich nicht
ſelten in ſolchen Eingeweiden, deren gehemmte oder
ganz zerſtoͤhrte Verrichtungen dem Leben hoͤchſt nachthei-
lig werden muͤſſen. Allein die Natur laͤßt nichts un-
verſucht, auch dieſes Uebel abzuwenden. Aus allen
Theilen kann der Eyter von dem Zellengewebe und viel-
leicht noch durch andere Wege aufgenommen, und auf
unedlere verſetzt, oder durch die gewoͤhnlichen Aus-
fuͤhrungswege ausgeleert werden. Es entſtehen daher
eiterigte Ablager an den Ohren, den Fuͤßen, unter
den Achſeln, in den Leiſten, am Halſe u. ſ. w. Ei-
terigte Ausleerungen durch den Auswurf, den Harn
die Stuͤhle, aus dem Nabel, den Ohren, den Naſen-
loͤchern, den Lenden, den Bruͤſten; uͤbelriechende
Schweiſe, Erbrechen u. ſ. w. Beyſpiele davon findet
man bey Hippokrates, Galenus, Aretaͤus, Aegine-
ta, Aetius, Caͤlius Aurelianus, Tulpius, Lom-
mius, Vater, Lange, Zakutus Luſitanus, Ma-
ternus de Ciliano und beynahe bey jedem beobach-
tenden Arzte. Bey Lentin bahnte ſich bey einem Be-
dienten der Eiter einen Weg durch die rechte Seite,
nachdem er ſchon lange einen anhaltenden Schmerz auf
der linken Seite hatte; und der Kranke wurde am Le-
ben erhalten.*) Sind aber die Bewegungen gar zu
ſtuͤrmiſch, wirken die Kraͤfte zu gewaltſam, oder
ertraͤgt die Leibesbeſchaffenheit keinen Widerſtand, ſo
ent-
[220] entſteht der Brand, und die Natur ſoͤndert, wenn
ihr keine unuͤberwindliche Hinderniſſe im Wege ſind,
den toden Theil von dem lebenden ab.
Iſt der Koͤrper mit Schleimſtoff oder andern
waͤſſerichten Feuchtigkeiten uͤberhaͤuft, ſo erregt die
Natur mancherley katharrhaliſche und rheumatiſche
Zufaͤlle, wodurch der Ueberfluß ausgeleert wird.
Planchon ſah bey einer ſchon betagten Perſon, wel-
che einen ſtarken Anfall vom Schlagfluß ausgeſtanden
hatte, oͤfters einen gaͤhlingen und haͤufigen Ausfluß
einer ſcharfen Feuchtigkeit, ſo wie bey einem recht
verdruͤßlichen Schnuppen oder Schleimhuſten; dieſer
waͤhrte vier bis fuͤnf Stunden und hoͤrte endlich unter
dem Gebrauche mildernder Mittel auf. Es ereignete
ſich dieſes, ohne daß die Ausduͤnſtung durch irgend
eine Urſache geſchwaͤcht oder unterdruͤckt worden waͤ-
re.*) Aus eben dem Grunde erregt ein Ueberfluß
von ſcharfen, gallichten Feuchtigkeiten oͤfters, manch-
mal alle Monate, manchmal nur im Fruͤh- und
Spaͤtjahr bald einen Durchfall, bald einen haͤufigen,
allgemeinen Schweiß, welcher im Sommer oft meh-
rere Naͤchte, und ſogar auch hie und da im Winter
eintritt, wo die Ausduͤnſtungsmaterie zuruͤckgehalten
worden iſt, oder wenn man ſich zu ſehr mit Speiſen
uͤberladen hat. Bald entſteht, beſonders bey kaͤlterer
Witterung ein reichlicher Harnabgang; bey einigen
brechen von freyen Stuͤcken kleine Geſchwuͤre an den
Gliedmaſſen beſonders den aͤußern Theilen der Schen-
keln
[221] keln und der Hinterbacken, eine kleyenartige Flechte,
vorzuͤglich bey alten Perſonen hervor. Die Kraͤtze, die
rothlaufartigen und andere Ausſchlaͤge, der Erbgrind,
der Anſprung (cruſta lactea), die Anſchoppungen der
Druͤſen u. ſ. w. ſind lauter Anſtalten, wodurch die Saͤfte
gereinigt werden. Bey Weibern von ſchleimichter Lei-
besbeſchaffenheit entſteht der weiße Fluß; die rozige,
ſchleimige Goldader ſowohl bey Weibern als Maͤn-
nern, welche ſchlappe Faſern, und ſchleimichte An-
haͤufungen im Unterleibe haben. Bey naſkalter Wit-
terung werden dieſe Umſtaͤnde noch von katharrhali-
ſchen Zufaͤllen begleitet. Wirkliches Erbrechen bey
beweglicher Unreinigkeit, wie z. B. in ſaͤugenden Kin-
dern; oder wo der zaͤhe Stoff noch feſter anklebt,
Mangel an Eßluſt, oͤftere Schauder und fliegende
Hize, Eckel, krampfhafte Anwandlungen u. d. gl. ſind
eben ſo viele Hilfsmittel einer thaͤtigen Natur, den
Stoff zu verarbeiten, loszuſchuͤtteln, und unter der
Geſtalt eines ſauren, muffigen Schweiſes, flockigten
Harns, ſchleimichter Stuͤhle u. ſ. w. auszuleeren.
Eben dieſes beobachtet man in dem ſchleichenden Nerven-
fieber, nur unordentlicher, und nur theilweis, weil die
Lebenskraͤften zu ſehr unterdruͤckt ſind. Die brandi-
gen Abſaͤtze, die ſich ſowohl hier, als in den boͤsar-
tigen peſtilentialiſchen Fiebern einfinden, ſind nicht
ſelten die Wirkungen einer ſiegreichen Natur. Die
ſcharfe, giftige, freſſende Feuchtigkeit kann nicht hinlaͤng-
lich mit der Materie der Stuͤhle, des Harns oder der
Schweiſe verbunden werden; folglich muß ſie uͤberbaupt in
das Zellengewebe, in den Nervenfiebern insbeſondere in
jenes der Hinterbacken oder des Heiligbeins, in den boͤsar-
[222] tigen peſtilentialiſchen Fiebern aber vorzuͤglich in jenes
der Achſel- und Leiſtengegend abgeſetzt werden. Zu-
weilen geſchieht dieſes in Geſtalt kritiſcher Petechien.
Ueberhaupt wirkt die Natur in dieſen Faͤllen gar nicht
anderſt, als wie in den eigentlichen mit Ausſchlag be-
gleiteten Fiebern, zum Beyſpiel dem Blatter-Maſer-
oder Scharlachfieber u. d. gl. Die weißen Mund-
ſchwaͤmme, welche auf der hoͤchſten Stufe der boͤſar-
tigen Faulfieber erſcheinen, die Karfunkeln, Blut-
ſchwaͤren u. d. gl. obſchon ſie ſelten, oder nie allein
hinreichend ſind, ſind dennoch Beweiſe und Wirkungen
einer kaͤmpfenden Natur. Hat ſie ſich dadurch eines
Theils ihrer Laſt entledigt, und ſie erlangt etwas mehr
Herrſchaft uͤber den Krankheitsſtoff, ſo zertheilt ſie
manchmal jene Ablager, z. B. die Ohrendruͤſenge-
ſchwulſt wieder, wenn ſie ſich ſelbſt uͤberlaſſen werden,
und leeret ihre Materie durch einen Bauchfluß, oder
einen reichlichen truͤben Harn aus, worauf die Kran-
ken vollſtaͤndig geneſen, wie dieſes Haſenöhrl*) in
der Petechienepidemie von 1757—58—59. oͤfters ge-
ſehen hat.
Was die Natur in jeder Krankheit und ihren
Zeitpunkten Gutes leiſtet, wird in den folgenden Thei-
len umſtaͤndlich gezeigt werden. Unterdeſſen iſt es ge-
wiß, daß beynahe alle Krankheiten, ſelbſt die Peſt
nicht ausgenommen, von dieſer Seite angeſehen wer-
den muͤſſen. 〟Denn, ſagt Sydenham, was iſt die-
ſe
[223] ſe anders, als ein Zuſammenfluß von Zufaͤllen, de-
ren ſich die Natur bedient, die mit der Luft eingeſo-
genen giftigen Theile durch die Ausfuͤhrungswege in
Geſtalt eitrigter Geſchwuͤlſte oder anderer Hautaus-
ſchlaͤge aus dem Koͤrper zu ſchaffen?〟
Die Folge alſo von allem, was in hitzigen
Krankheiten vorgeht, iſt die Verarbeitung und Weg-
ſchaffung des Krankheitsſtofes, oder die Umſtim-
mung der krankhaften Beſchaffenheit in die Geſund-
heit. Das Froͤſteln, der Froſt, der Schauder, die
Abgeſchlagenheit, die Muͤdigkeit, der Kopfſchmerz,
der Eckel, der Durſt, das Fieber und ſeine Anfaͤlle
u. ſ. w. ſind lauter Zufaͤlle oder Beſtrebungen, durch
deren Wirkung der kranke Menſch ſeine Geſundheit
wieder erhalten ſoll.
§. 6.
Wenn dieſe Bemerkungen richtig ſind, was ich
in der Folge auf’s uͤberzeugendſte darthun werde; ſo
ſtehen die Zufaͤlle einer Krankheit mit derſelben Hei-
lung in einer natuͤrlichen und unentbehrlichen Verbin-
dung. Und uͤberall, wo die Natur einmal Zufaͤlle
erregt hat, und die Hinderniſſe nicht gar zu ſchwer
ſind, wird ſie auch die Heilung der Krankheit zu
Stande bringen. Daher giebt es kein ſo ſchweres Ue-
bel, welches nicht hie und da von der Natur allein
geheilt worden waͤre. Die Blattern, Maſern, Schar-
lach, Nothlaufen, Frieſel, ſelbſt die urſpruͤnglichen
Petechien, wenn dieſe Ausſchlaͤge kein fremdes ſchlim-
mes Fieber begleitet, werden, und zwar auf dem Lan-
de
[224] de am gluͤcklichſten, ohne alles Zuthun der Kunſt
geheilt. Sogar die zuſammenflieſſenden boͤsartigſten
Blattern, wenn ſie ſich aus Noth ſelbſt uͤberlaſſen
werden, gewinnen noch manchmal einen gluͤcklichen
Ausgang. Im Spaͤtjahr 1790 bey einer Blat-
ternſeuche, in der ſehr viele Kinder an Verwerfun-
gen nach den edlern Theilen ſtarben, lagen in einem
Hauſe 5 Kinder. Die ſchlimmſten Blattern hatte
ein vierjaͤhriges Maͤdchen eines Tagloͤhners. Dieſer
hielt ſein Kind ohnehin fuͤr verloren, und ließ es
von Fruͤhe bis Abend ohne alle Obſorge liegen. Al-
les, was man ihm gab, war friſches Waſſer. Die-
ſes kam davon; da indeſſen die vier andern, die flei-
ſig mit Arzneyen gefuͤttert wurden, das Leben einbuͤſ-
ten. Deßwegen ſagt Sanctorius, daß mehr Land-
leute von der Peſt geheilt werden, weil dieſe weniger
Arzneyen gebrauchen, als die Staͤtter. Die Beyſpie-
le, daß aller Hilfe beraubte Peſtkranken wieder gene-
ſen ſind, ſind gar nicht ſelten. In der Petechien-
epidemie, die Sims beſchrieben hat, ſtarben viele
von denen, welche die Aerzte mit hizigen, herzſtaͤr-
kenden, faͤulnißwidrigen Mitteln behandelten; da
hingegen alle die, ſo ſich der Natur uͤberließen, auf-
ſer einer vielmehr nuͤtzlichen als ſchaͤdlichen Schlafſucht,
ohne ſchwere Zufaͤlle davon kamen.*) Eben ſo gieng
es in den von Sydenham beſchriebenen und 1673—
74 und 75 herſchenden Fiebern. Kinder und junge
Leute wurden manchmal betaͤubt. Anfaͤnglich wand
Sy-
[225]Sydenham alles gegen dieſe Betaͤubung an, wie-
derholte Aderlaͤſſe am Arm, Hals und Fuß, Zugpfla-
ſter, ſchweißtreibende Mittel; allein alles umſonſt;
endlich entſchloß er ſich den Gang der Natur zu beo-
bachten, und ließ es bey einer Aderlaß, einem Zug-
pflaſter und Klyſtiren bewenden. So verſchwand nach
und nach die Betaͤubung. Sydenham folgert da-
raus, daß man ſich oft zu ſehr eile, und der Natur
oͤfters mehr Zeit laſſen ſollte.*)Pujati erzaͤhlt
den Fall von einem ſehr toͤdtlichen epidemiſchen Pete-
chienfieber bey einem Bauern, der ebenfalls nichts als
Brunnenwaſſer brauchte, und obſchon er ſehr mager,
bleich, und der Aderſchlag ſehr ſchwach war, dennoch
den ſechzehnten Tag durch einen haͤufigen Schweiß
vom Fieber befreyet wurde.**) Die epidemiſchen
Petechien von 1758 heilten am beſten bey einer ein-
fachen Heilart, und der Freyherr Störck ſagt aus-
druͤcklich, daß, wo die Weinmolken nicht zureichten,
auch alle andern Arzneyen unzureichend waren.***) Bey-
nahe alle Epidemien werden durch eine wirkſame Heil-
art in einer Zeit, wo ihre Natur noch nicht offenbar
iſt, gefaͤhrlicher, als ſie ſind, wenn ſie ganz der
Natur uͤberlaſſen werden.
§. 7.
Um die Heilkraͤfte der Natur noch vollſtaͤndi-
ger kennen zu lernen, will ich ihr Verfahren in ei-
nigen
Gall I. Band P
[226] nigen chirurgiſchen Krankheiten anzeigen, ohne mich
weitlaͤuftig in die Unterſuchungen eines Arnemann,
Murray, u. a. uͤber die Heilung der Wunden und
die Wiedererſtattung verlorner Theile, wovon ſchon
einiges im erſten Kapitel §. 36. geſagt worden iſt,
einzulaſſen. Wenn nicht große Gefaͤße oder Nerven
verletzt ſind, ſo heilet die Natur die Wunden dürch
Vereinigung, Eiterung, oder den Brand. Zu erſt
entſteht ein Schmerz, der die getrennten Faſern reizt,
in Bewegung bringt, verkuͤrzet, die blutenden Ge-
faͤße zuſammen zieht, ihre Richtung verdreht, und
ſo das Bluten ſtillt; darauf folgt Schwulſt, Ent-
zuͤndung, Hitze, Fieber. Die Geſchwulſt fuͤgt in ge-
wiſſem Betracht die entfernten, von einander gewi-
chenen Lippen der Wunde naͤher zuſammen; ein gewiſ-
ſer Grad von Entzuͤndung klebt alsdann die getrenn-
ten Faſern, vermittelſt eines leimartigen Saftes an-
einander, verbindet und befeſtigt ſie. — Koͤnnen die
Wunden nicht vereinigt werden, ſo ſind der Schmerz,
die Entzuͤndung, die Geſchwulſt zur Bildung des Ei-
ters vonnoͤthen. Dieſe Zufaͤlle verwandeln die Wun-
den in ein Geſchwuͤr, welches die getrennten Theile
durch einen langſamern Weeg vereinigt, als der erſte
iſt. Der Eiter iſt den Wunden Balſam; er iſt ih-
nen natuͤrlich und vertritt in ihnen die Stelle, die der
Speichel im Maule, und die Thraͤnen im Auge ver-
tretten. Zum Stillen des Blutens traͤgt die Luft und
die Neigung des Blutes zum Gerinnen vieles bey.
Sobald dieſer Saft von der Luft beruͤhrt wird, ſo
verliert er ſeine Fluͤſſigkeit, wird leimig, klebt ſich
an
[227] an die Lippen der Wunden, und heftet ſie gleichſam
zuſammen. Uibrigens iſt das ergoſſene Blut der wohl-
thaͤtigſte Koͤrper, der in den Hoͤlen der Wunden ent-
halten ſeyn kann.*)
Bey Brunning heilte die Natur eine Darm-
gicht, welche aller Hilfe widerſtand. Nachdem die
kranke Nonne ſchon ihren Unrath weggebrochen hat-
te, trat die ſchmerzhafte Stelle in die Hoͤhe, wurde
roth, und ſchwabberte nach drey Tagen. Aus der
Oeffnung floß eine Menge Eiter, viel ſchwarzes Blut,
und faule, gallichte Feuchtigkeit, worauf viel ſtin-
kender Unrath folgte. Dieſer Ausfluß dauerte vier
und zwanzig Stunden fort, dann kam ein groſſer
Klumpen verhaͤrteter Koth durch die Wunde herau[s]
Nun war der Darm ringsumher an das Bauchfell
angewachſen. In kurzer Zeit bekam die Kranke wie-
der den ordentlichen Stuhlgang; es gieng nichts mehr
durch die Wunde weg, und es heilte dieſelbe bald
nachher voͤllig zu. Die in der Haut entſtandene Nar-
be hat auch das Loch in den Gedaͤrmen gluͤcklich ver-
ſchloſſen. Ein aͤhnliches Beyſpiel erzaͤhlt er auch von
einem Geiſtlichen.*)Van Swieten erzaͤhlt von ei-
nem ſiebenzehnjaͤhrigen Maͤdchen, der das Schienbein
vom kalten Brand zerſtoͤhrt war, und die durchaus
den Fuß nicht wollte abneh men laſſen; ſie legte wei-
ter nichts, als ein reines Leinenzeug daruͤber. Der
Knochen trennte ſich von ſelbſt an der Kniebeugung
P 2los,
[228] los, und fiel ab.*) In den im 1ten Kapitel §. 36.
angefuͤhrten Beyſpielen von wiedererzeugten Knochen
that jedesmal die Natur allein das meiſte.
Wenn Wunden zugeheilt werden, und abge-
ſchaͤlte, aber nicht weit genug abgeloͤſte Knochen
verſchließen, oder aber, wenn aus was immer fuͤr
Urſachen, z. B. Quetſchung, Schlaͤge, ein Bein zer-
ſplittert und verdirbt, obſchon die weichen Theile ganz
geblieben ſind; ſo ſchafft die Natur den toden Kno-
chen durch eine von ſelbſt gemachte Wunde heraus.
Ein junger Menſch bekam einen heftigen Schlag an
die vordere Seite des linken Schienbeins. Die davon
entſtandene Quetſchung zertheilte ſich bald wieder
Allein innerhalb vier oder fuͤnf Monaten klagte er
uͤber einen ſtumpfen, in dem Innern des Knochens
wuͤthenden Schmerz. Dieſer Schmerz nahm taͤglich
zu, das Schienbein ſchwoll an, und die aͤußere Haut
entzuͤndete ſich, und gieng in Vereiterung uͤber. Nach
der Oeffnung des Abſceſſes zeigte ſich ein kleines hohl-
geſchwuͤr, welches, wie der Wundarzt beym Son-
diren bemerkte, bis in den Knochen hinein gieng. Es
glaubte daher dieſer erfahrne Mann, der Theil des
Knochens muͤſte ſich losſtoſſen, und ſodann herausge-
nommen werden. Er entbloͤßte alſo die angeſchwoll-
ne Schienbeinroͤhre durch einen Schnitt, bohrte ver-
mittelſt des Trepans den fiſtuloͤſen Theil des Knochen
durch, und nahm ſolchen mit Hilfe des Meiſels und
Hammers heraus. Auf dieſe Art bahnte er ſich durch
einen
[229] einen Knochen, der, ob er gleich angeſchwollen, den-
noch ſehr hart war, einen Weg, wodurch er ein Kno-
chenſtuͤck von achtzehn Linien lang, das in der Mark-
hoͤle abgeſondert lag, herausbrachte.*) Am angezeig-
ten Orte ſtehen mehrere ſolche Beyſpiele, und es iſt
dieſes in aͤhnlichen Faͤllen das alltaͤgliche Verfahren
der Natur.
Nachtheil von geſtoͤhrter Wirkſamkeit der Natur.
§. 8.
Da alſo das groͤſte Heilmittel in allen innerli-
chen und aͤußerlichen Krankheiten, in ſofern ſie keine
mechaniſche Hilfe oder keine eignen, ſpezifiſchen Arz-
neien erfodern, die Lebenskraft iſt, welche die Zufaͤl-
le rege macht, die jeder Krankheit gehoͤren**) und
zur Hebung derſelben die geſchickteſten ſind: ſo wird
man unfehlbar das Uibel verſchlimmern oder deſſen
Heilung hindern, wenn man die ordentlich wirkenden
Zufaͤlle entweder aus Mißverſtand oder gar zu aͤngſt-
licher Geſchaͤftigkeit vor der Zeit unterdruͤckt. Dieſe
Heilart, welche theils durch die Ungeduld der Kranken,
theils durch die Unwiſſenheit der Aerzte nur gar zu all-
gemein gemacht wird, zieht unendlich viele ungluͤckli-
che Folgen nach ſich.
Die zuruͤckgetriebenen Ausſchlaͤge, auf deren Er-
ſcheinung die Zufaͤlle erleichtert oder ganz gehoben wur-
den, und die folglich der Stoff der Krankheit ſind, erre-
gen jeder, ſeiner eignen Natur gemaͤß, eigne, ver-
ſchiedene
[230] ſchiedene, aber jedesmal ſehr mißliche Unfaͤlle. Die
zuruͤckgetretene Kraͤze, Scharlach, Frieſel, Blattern,
Rothlauf, Maſern, Verwerfungen u. d. gl. erzeugen
alle Arten Waſſerſuchten und waͤſſerichte Geſchwuͤlſte,
Magenſchmerzen, Engbruͤſtigkeit, Bangigkeit, Ir-
reſeyn, Hirnwuth, Raſerey, Melancholie, Dollheit,
Zuckungen, Schlagfluß, ſchlimme Entzuͤndungen der
Eingeweide, der Bruſt, des Unterleibes, Huſten,
Bauchfluͤſſe, Ruhr, rheumatiſche und gichtartige
Gliederſchmerzen, ſchlimme Braͤunen, angeſchwollne
Druͤſen, Geſchwuͤre, Verwerfungen nach den Druͤ-
ſen und den edlern Theilen, ſchleichende Fieber, Ge-
lenkſteifigkeiten, Krebs, Winddorn, fallende Sucht,
Verwachſungen der Eingeweide und Druͤſenverhaͤrtun-
gen, Schwindſuchten, Abzehrungen, Steckkatarrhe〟
Starrſucht, Harnruhr, Harnfluß, Zittern, Schlaf-
loſigkeit, Dummheit, Taubheit, Gelbſucht, Blut-
ſpeien, Blutbrechen, Blutharnen, Blutſchwaͤren,
Staar, Sprachloſigkeit, Achſel- und Leiſtendruͤſenbeulen,
heftigen, unuͤberwindlichen Reiz zur Geilheit u. ſ. w.
— Uiberhaupt alle jene Uibel, welche je die Zufaͤlle
§. 2—4 geheilt haben.
Stack erzaͤhlt von einem Knaben, der ſeit
ſeinem neunten Jahre Schmerzen in den Augen und
der Stirne unterworfen war, die mit einer Beſchwerd-
niß des Schlingens verknuͤpft waren, und vornehmlich
in den Monaten July und Auguſt beſchwerlich wurden.
Ein Naſenbluten, daß ſich gemeiniglich drey oder vier
Tage hintereinander des Abends einzuſtellen pflegte,
machte ihnen jedesmal ein Ende. Da in ſeinem
zwoͤlf-
[231] zwoͤlften Jahre das Naſenbluten oͤfters eintrat, und
ſtaͤrker zu werden ſchien, ſo befuͤrchtete ſeine Mutter
eine Abzehrung. Sie ſtopfte es daher ploͤtzlich da-
durch, daß ſie ihm einen groſſen eiſernen Schluͤſſel
in den Nacken legte, und die Haͤnde und Fuͤſſe in ein
Gefaͤß mit kaltem Waſſer ſteckte. Der Knab wur-
de aber die Nacht darauf unruhig, bekam viele Hitze,
fuhr oft auf, und phantaſirte gegen Morgen außeror-
dentlich heftig. Man behandelte nun das Uibel, wie
ein hitziges Entzuͤndungsfieber. Zu Ende des dritten
Tages machte die Natur die deutlichſten Anſtalten
zum Naſenbluten, und bewirkte es auch in der That,
indem nach einem heftigen Nieſen ein Klumpen geron-
nenes Blut aus der Naſe abgieng, worauf noch ein
Loth mehr nachtroͤpfelte. Indeſſen blieb doch der
Kranke noch uͤber drey Wochen in einem Zuſtande,
der ſich der Bloͤdſinnigkeit naͤherte, und war aͤußerſt
ſchwach.*)Vogel erzaͤhlt aus Tiſſot die Geſchichte
eines Knaben von vierzehn Jahren, dem aus Unvor-
ſichtigkeit bey dem dritten Fieberanfalle der Schweiß
angehalten worden war, und in Zuckungen des Mun-
des, Halſes und aller andern Theile verfiel; er hat-
te einen heftigen Todtenkrampf (Tetanus); viele Theile
wurden lahm; er verlohr die Sprache gaͤnzlich, und
blieb bey vierzehn Tage in dieſem Zuſtande, bis ein
anhaltendes hitziges Fieber ihn davon befreyete. Tiſ-
ſot ſah eine ſtarke Bauersfrau von 53 Jahren,
welche nach dem Aufhoͤren des Zeitfluſſes alle Morgen
haͤufigen Schweiſen unterworfen war, nach Unter-
druͤckung
[232] druͤckung dieſer Schweiſe in groſſe Entkraͤftung,
Engbruͤſtigkeit und Zuckungen der Muskeln der Kinn-
lade, des Halſes, des Ruͤckens und der Arme ver-
fallen. Ein vornehmer ſechzigjaͤhriger Mann bekam
gegen das Winterſolſtitium nach ſchweren Sorgen ſehr
ſtarkes Naſenbluten. Der Kranke zog ein unbekann-
tes Pulver in die Raſe, und das Bluten ſtand augen-
blicklich. Gleich darauf ward ihm der Kopf ſehr wuͤ-
ſte, und in den Augen bekam er ein Jucken, ſo, daß
er ſeinen nahen Tod befuͤrchtete. Indeſſen befand er
ſich bis in April ſo ziemlich wohl. Nun aber em-
pfand er eine Schwere und Hitze im Kopfe, und in
der ſechſten Nacht ward er ploͤtzlich ſprachlos, wobey
er im Anfange den Gebrauch ſeiner Sinne nicht ganz
verloren hatte, welches man daher muthmaſſete, weil
er ſich ſelbſt, als er den Reiz fuͤhlte, oder eine neue
Blutung vermuthete, ſtark und mehrmalen die Naſe
ſchneuzte, und dabey die Umſtehenden anſah. Man
verſuchte alle ableitende Mittel und Aderlaͤße an dem
Arme und Halſe ohne Nutzen; der Kranke warf
die Glieder hin und her, es entſtand ein heftiger
Schlagfluß, worinn er innerhalb fuͤnf Stunden
ſtarb. In dem Leichname fand man die Blutgefaͤße
der weichen Hirnhaut außerordentlich aufgetrieben.
In beyden vordern Gehirnkammern war ein halb
Pfund geronnenes Blut enthalten u. ſ. w. Das zer-
ſprungene Gefaͤß war ein Zweig von der innern Droſ-
ſelader.*) Selten, ſagt daher Lanziſi, habe er
Kran-
[233] Kranke an Blutfluͤſſen ſterben geſehen; aber ſehr oft
erfahren, daß von Unterdruͤckung derſelben eine ſchleu-
nige Krankheit, z. B. Zuckungen und ein ploͤtzlicher
Tod erfolgt ſeyen. Von einem unterdruͤckten Golda-
derfluß entſtunden leichte Anfaͤlle von Schlagfluß, trock-
ner Huſten, Vergeſſenheit und endlich ein ploͤtzlicher
Tod.*) Von unterdruͤcktem Podagra wurde ein
Geiſtlicher vergeſſen, bekam die fallende Sucht, und
ſtarb am Schlagfluß. Cyrilli erzaͤhlt von einem vier-
jaͤhrigen Maͤdchen, welches am linken Arm eine feuch-
te Kraͤze hatte; ſo lange dieſe Stelle feucht war,
befand ſie ſich vortreflich; aber ſie verfiel in eine gefaͤhr-
liche Beaͤngſtigung der Bruſt, ſobald dieſelbe austrock-
nete. Ich ſah von zuruͤckgetriebenem Kopfgrind Zu-
ckungen, welche ſich in einen heftigen Huſten verwandel-
ten; darauf folgten Lungenſucht und Abzehrung. Der
aͤuſſerliche und innerliche Gebrauch des Schierlings lockte
den Ausſchlag wieder hervor, und das kranke Maͤdchen
erhielt ſeine vollkommene Geſundheit wieder, obſchon
es von Jedermann fuͤr unheilbar aufgegeben war.
Perfect erzaͤhlt von einem melancholiſchen Juͤngling,
welcher durch acht Monate allemal um die Zeit des
Vollmondes einen reichlichen Speichelfluß bekam, wo-
bey er ſich jedesmal beſſer befand, aber eben ſo oft,
als dieſer aufhoͤrte, wieder ruͤckfaͤllig wurde. Endlich
wurde er durch die Unterhaltung deſſelben vollkommen
geheilt.**)Theden fuͤhrt die Geſchichte von einem
dreißigjaͤhrigen unverheuratheten Manne an, welcher
un-
[234] ungefaͤhr in ſeinem ſechzehnten Jahre einen Ausſchlag
am Kopf, oder den ſogenannten Erbgrind bekam.
Im Anfange brauchte er nichts dagegen, als daß er
den Kopf fleißig kaͤmmte, bisweilen abbuͤrſten ließ,
und dabey von Zeit zu Zeit laxirte. Da ihm aber
das Uebel luͤſtig wurde, ſo ließ er ſich die Haare voͤl-
lig abſcheeren, worauf er denn, da er noch andere
Hausmittel gebrauchte, bald hergeſtellt wurde. Aber
kurz darauf bekam er eine heftige Augenentzuͤndung,
welche ungeachtet aller gebrauchten zertheilenden Mit-
teln doch einige Monate anhielt. Endlich hoͤrte ſie
auf; der Kranke bekam aber einen Ausſchlag an der
Naſe, der eben ſo hartnaͤckig war. Die Blaͤtterchen
enthielten ein gelbes Waſſer, welches die in der Naͤ-
he liegenden Theile anfraß. Dieſes Uebel widerſtund
allen reinigenden Holztraͤnken, Pulvern, Pillen,
Spießglasmitteln und ſtarken Gaben Queckſilberzube-
reitungen, bis es ſich endlich durch wiederholtes
Schroͤpfen verlor; dabey wurde er oͤfters von Ver-
haltung des Harns geplagt, wozu noch die blinden
Haͤmorrhoiden kamen; endlich bekam er zwiſchen dem
Hodenſack und After ein fiſtuloͤſes Geſchwuͤr, woraus
der Urin floß. Nachdem er auch dieſes heilen ließ,
bekam er eine mit ſehr gefaͤhrlichen Zufaͤllen verknuͤpf-
te Verhaltung des Urins, welche durch nichts als den
Blaſenſchnitt zu heben war.*)
Selbſt, wo die Natur zu gewaltthaͤtig wirkt,
und die heftigſten Zufaͤlle, als Zuckungen, Wuth
und
[235] und Wahnſinn erregt werden, darf man es nur
mit der groͤßten Klugheit wagen, ſie in die gehoͤri-
gen Schranken zuruͤck zu fuͤhren. Auenbrugger er-
zaͤhlt von einem Raſenden, welcher nach innerhalb
ſechs Stunden eingenommenen acht und vierzig Gran
Mohnſaft, durch ſechs und dreißig Stunden betaͤubr
lag, und hernach dumm und ſinnlos blieb, bis er
nach zwey Monathen an einem abzehrenden Fieber
ſtarb.*) Wird bey Kindern der Stickkatharr durch
Mohnſaft oder die von ſcharfem Unflath der Gedaͤrme
entſtandene Unruhe und Schlafloſigkeit durch Mohnkoͤ-
pfe oder Mohnſaamen geſtillt, ſo ſterben ſie entweder
an Doͤrrſucht und Abzehrung, oder es iſt ein ſeltenes
Gluͤck, wenn nicht zum wenigſten auf ihr Lebtag eine
Neigung zu allerley Krankheiten, Bauch- und Kopf-
ſchmerzen u. d. gl. uͤbrig bleibt.
§. 9.
Da all dieſes Unheil nur dann entſteht, wenn
wohlthaͤtige Zufaͤlle unterdruͤckt werden, ſo wird noth-
wendig das Ungluͤck deſto groͤſſer ſeyn, je nothwendi-
ger die Zufaͤlle zur Veraͤnderung oder Wegſchaffung
des Krankheitsſtoffes geworden ſind. Es giebt waͤh-
rend dem Verlauf ſowohl der hitzigen als der lang-
wierigen Krankheiten, in denen man der Natur eini-
ges Recht laͤßt, einen Zeitpunkt, wo nichts wichtiger
iſt, als daß man die Abſicht, den Werth der Zufaͤl-
le genau kenne, um nicht Gefahr zu laufen, das heil-
ſamſte
[236] ſamſte Beſtreben der Natur zum unerſetzlichen Nach-
theil der Kranken zu vernichten. Dieſes iſt jener Zeit-
punkt, wo die Natur, nachdem nun der Krankheits-
ſtoff ſchon einigermaſſen zubereitet iſt, vollends allen ih-
ren Kraͤften aufbietet, denſelben von den geſunden
Theilen zu ſcheiden, und auszuleeren. Ich werde theils
noch in dieſem Kapitel, theils aber und vorzuͤglich in
jenem von den Entſcheidungen alles ſagen, was zur
vollſtaͤndigen Kenntniß dieſer Sache gehoͤrt. Laͤßt
man ſich durch die dem Scheine nach zu heftigen und
gefaͤhrlichen Bewegungen taͤuſchen, und man wider-
ſetzt ſich denſelben durch ein zu thaͤtiges Betragen,
ſo hindert man unfehlbar die Entſcheidungen, das iſt,
man haͤlt jene Auslerungen zuruͤck, welche die Krank-
heit gehoben, und den Kranken gegen Ruͤckfaͤlle und
Ueberbleibſel ſicher geſtellt haͤtten. Wenn daher, ſagt
Kämpf, allerley Unordnungen im Koͤrper, beſonders
in den Nerven, oder innerliche, oft unmerkliche,
auf die Schmelzung und Ausſoͤnderung der verborge-
nen Blutausartung abzielende Gaͤhrungen und Bewe-
gungen entſtehen, und man ſogleich nach Kina, Ei-
ſen und Mohnſaft, oder ſolchen Mitteln greift, wel-
che die Beſchwerden blos mildern, und den heiſamen
Aufruhr hemmen, und man dergeſtalt die wahre
Urſache jenſeits liegen laͤſt, ſo traͤgt man zuver-
laͤßig zur Aufnahme der ſchwarzen Gallenfabrike alles
moͤgliche bey. Ein alter Arzt pflegte dieſes Verfah-
ren die Koͤhlerarbeit zu nennen, wo aͤußerlich das
Feuer dem Scheine nach gedaͤmpft wird, welches aber
innerlich deſto nachdruͤcklicher um ſich greift, und das
noch
[237] noch gruͤne Holz in ſchwarze Kohlen verwandelt. Der-
gleichen Verwuͤſtungen, welche die mit Mohnſaft, Ei-
ſen und beſonders mit China ausgeruͤſteten Helden
ruͤhmlich angerichtet haben, kommen mir leider nur
allzuoft vor.„*) Er fuͤhrt in der Folge mehrere
Beiſpiele an; und ich koͤnnte zahlreiche Gewaͤhrsmaͤn-
ner fuͤr die Thatſachen anfuͤhren, daß von zu fruͤh
unterdruͤckten Bauchfluͤſſen, oder wohlthaͤtigen Ruhren
die traurigſten Folgen entſtanden ſind, als: Span-
nung der Weichen, Leibſchmerzen, Bangigkeiten,
Schluckſen, falſcher und wahrer Seitenſtich, Anſchop-
pungen der Eingeweide, Augenentzuͤndungen, kalter
Brand am Fuße, alle Arten von Fieber, Schwind-
ſucht, Gicht, Zuckungen, fallende Sucht, Abgehen
der Leibesfrucht, Gallenkrankheit, Darmgicht, Waſ-
ſerſucht, Windſucht, Zwang, Hypochondrie, Doll-
heit, Hirnwuth, Laͤhmung, Blindheit, Gelbſucht,
Nierenentzuͤndung, ſchlimme Leibesbeſchaffenheit, Aus-
ſatz, Erbgrind, Kraͤze, Geſchwuͤre der Gliedmaſſen
und des Unterleibes, Geſchwuͤre der Eingeweide,
toͤdtliche Verſtopfung und brandige Zerſtoͤhrung der-
ſelben. Andere und zahlreiche Beyſpiele von den Folgen
gehinderter Ausleerungen hat Friedrich Hoffmann.**)
§. 10.
Oft laͤßt ſich der Schaden auf verſchiedenen
Weegen wieder gut machen, wie man alle Tage in
der
[238] der Natur ſelbſt ſehen kann, und wie es Hippokra-
tes in Ruͤckſicht der geſtopften Ruhr aufgezeichnet
hat.„ Die geſtopfte Ruhr wird zu einem Geſchwuͤr
oder Geſchwulſt Gelegenheit geben, wenn ſie ſich nicht
in ein Fieber, oder in Schweiße, oder in einen di-
cken und ſehr weißen Urin, oder ein dreytaͤgiges Fie-
ber, oder in Blutadergeſchwuͤlſte verliert; oder ſich
die Schmerzen auf den Hoden, oder auf die Schen-
kel, oder auf die Huͤfte werfen.*) Aber manchmal
iſt die Natur ſo eigenſinnig, daß die ſchlimmen Fol-
gen ſchlechterdings nicht ehe aufhoͤren, als bis ihre
Abſichten puͤnktlich erreicht worden ſind. Gerade die
Art von Ausleerung, und gerade durch den naͤmlichen
Weeg, wie ſie’s veranſtalten wollte, ſo, daß Nichts
anders die Stelle davon vertretten kann, iſt es, was
man zu bewirken ſich beſtreben muß. Dieſes war in
einigen der oben erzaͤhlten Beyſpielen der Fall. Einige
Tropfen Blut aus der Goldader oder der Naſe fruch-
ten mehr, und heben ein Uebel, welches mehrere ab-
gezapfte Pfunde nicht heben konnten. Benedictus
erzaͤhlt das Beyſpiel eines jungen Menſchen, welcher
nach einer Unterdruͤckung des Naſenblutens und des
Blutſpuckens in eine Abzehrung fiel. Das Aderlaſſen
verſchafte ihm faſt gar keine Linderung; aber das Na-
ſenbluten, welches ſich wieder einfand, befreyete den
Kranken von der Gefahr. Bey einer heftigen Hals-
braͤune war das Aderlaſſen am Arm und am Fuſſe,
Schroͤpfen im Genicke und auf den Schultern, Kly-
ſtire u. ſ. w. vergeblich angewendet worden. Die
Oeff-
[239] Oeffnung der Froſchader erleichterte nur wenig; aber
durch ein haͤufiges Naſenbluten, wozu der Kranke
gewoͤhnt war, wurde die Krankheit gehoben.*) Der
Grund von allem dem iſt, weil die Natur in aͤhnli-
chen Faͤllen mehr durch die Eigenſchaft, als die Men-
ge der Ausleerungen heilet. Nun aber kann nur ſie
die fehlerhaften Theile zur gelegenen Zeit von den
uͤbrigen abſcheiden, und an die Muͤndungen der Aus-
fuͤhrungskanaͤle bringen. Die Kunſt kann nicht waͤh-
len, und leeret ohne Unterſchied das Geſunde mit dem
Verdorbenen aus.
Dieſe Thatſache ſollte ein Beweggrund mehr
ſeyn, ohne dringende Noth nie die Natur zu ſtoͤhren:
Denn es iſt hoͤchſt ungewiß, ob wir das, was wir
hindern, zur rechten Zeit, am rechten Orte, in ge-
hoͤrigem Maaße und in erforderlicher Eigenſchaft wie-
der erſtatten koͤnnen. Man huͤte ſich alſo, jenen Mut-
terblutfluß zum Beyſpiel, welchen einige blutreiche
Frauen gegen das kritiſche Alter bekommen, beſon-
ders, nachdem der Zeitfluß ſchon einige Zeit aufgehoͤrt
hatte, manchen weiſen Fluß, Ausfluͤße waͤſſerichter
Feuchtigkeiten, als naͤchtliche Schweiſe, welche alle
Jahr zu gewiſſen Zeiten wieder kommen, Schwitzen
an den Fuͤſſen, unter den Achſeln, um die Scham-
theile, hinter den Ohren, beſonders bey ſehr jungen
Kindern, periodiſche Bauchfluͤſſe, ſchleimichte Huſten,
wodurch die Bruſt erleichtert wird, flechtenartige oder
andere Ausſchlaͤge, welche alle Jahr, beſonders im
Fruͤhjahr und Herbſt eintreffen, die Ausſchlaͤge der
Kinder
[240] Kinder u. ſ. w. — man huͤte ſich, ſage ich, dergleichen
Zufaͤlle zu unterdruͤcken. Sie fordern die Klugheit ei-
nes weitausſehenden Arztes; und kann dieſer die Grund-
lage davon, den Stoff entweder gar nicht, oder nicht
ohne Schaden wegſchaffen, ſo laſſe er ſie, was und
wie ſie ſind.*)
Ich habe mich bey dieſem Gegenſtande mit Vor-
bedacht etwas lange aufgehalten, theils, weil jeder
Schaden, der von gehinderter Wirkſamkeit der Na-
tur entſpringt, einen Beweis fuͤr den Werth ihrer Be-
ſtrebungen abgiebt; theils weil ich es ſowohl fuͤr die
Sache ſelbſt, als zur Verſtaͤndniß meiner folgenden
Unterſuchungen fuͤr hoͤchſt wichtig hielt, meine Leſer
mit der wohlthaͤtigen Natur, und mit dem Unterſchie-
de von Krankheit und Zufall vollſtaͤndig bekannt zu
machen.
Fölgerungsſatz.
§. 11.
Aus allem dem bisher geſagten wage ich es,
einen Folgerungsſatz abzuleiten, naͤmlich: Daß die
Natur viele und groſſe Krankheiten durch eigne
Kräfte zu heilen im Stande ſey, wenn ihr
nur die Hinderniße aus dem Weege geräumt
werden. Dieſen wichtigen Satz werden folgende Be-
trachtungen noch mehr aufklaͤren und beſtaͤttigen:
Es iſt jedem Arzte bekannt, daß eine und die
naͤmliche Krankheit durch die entgegengeſetzteſten Heil-
arten,
[241] arten, obſchon mit ſehr ungleichem Gluͤcke, endlich
aber dennoch vollſtaͤndig gehoben werde. In dieſer
Naturbegebenheit liegt der Grund, warum die Aerzte
uͤber die Anzeigen der ſogenannten groſſen, ſehr wirk-
ſamen Heilmittel, als: Aderlaͤſſe, Brech- und Pur-
giermittel, Blaſenpflaſter, Kampfer, Kina, u. ſ. w.
ſo wenig einſtimmig werden koͤnnen. Jeder ſah die
naͤmliche Krankheit unter gleichen Umſtaͤnden durch
ganz andre Mittel geheilt werden, als welche der an-
dere fuͤr die einzig ſichern und heilſamen anruͤhmt.
Am Ende hat die Beobachtung entweder von einem
oder von beyden keine andere Quelle, als die wirkſa-
men Naturkraͤfte, welche nicht nur die Krankheit,
ſondern auch die widrige Heilart beſieget haben, weil
keiner genug gethan hatte, um dieſelben ganz zu er-
druͤcken.
Im entzuͤndlichen Seitenſtiche haͤlt Dieſer ein
Blaſenpflaſter, wo nicht geradezu fuͤr toͤdlich, den-
noch fuͤr hoͤchſt nachtheilig; Jener tadelt das Aderlaſ-
ſen, und weis auſſer einem Zugpflaſter keine Rettung.
Dieſer leitet im Gallfieber den Tod von Blutauslee-
rungen her, und ſeinem Nachbar iſt im ſchwerſten Gall-
fieber zu allen Zeiten Blut abgezapfet worden, und er iſt
geneſen. Im naͤchſt folgenden Theile werde ich zeigen,
wie die der Krankheit gemaͤßeſte Heilart von den un-
aͤchten zu unterſcheiden iſt. In allem Falle bleibt die
erfolgte Herſtellung ein ſtrenger Beweiß von dem Heil-
vermoͤgen der Natur.
Wer hat den mineraliſchen Saͤuren je die Kraft,
einen Speichelfluß zu erregen, zugeſchrieben? Man ge-
Gall I. Band. Qbe
[242] be ſie in dem Eiterungsfieber faulichter, oder mit ei-
nem Faulfieber verbundener Blattern; nebſt dem,
daß ſie den Harn und die Stuͤhle haͤufiger machen,
die erſchoͤpfenden Durchfaͤlle unterdruͤcken, die Heftig-
keit des Fiebers maͤßigen, die Hitze und den Durſt
daͤmpfen, und die Bangigkeiten heben, bewirken ſie
auch ganz vortrefflich einen heilſamen Speichelfluß. —
Alle ſtaͤrkenden Mittel, Eiſen, Kina, Wein erregen
ebenfalls den Speichelfluß, nachdem erſchoͤpfte Koͤr-
per lange Zeit ohne allen Erfolg Queckſilber gebraucht
haben. — Kaltes Waſſer in dem Zeitpunkt der Ko-
chung gallichter und faulichter Krankheiten, haͤufig
getrunken, erleichtert die kritiſchen Ausleerungen, in-
dem es Erbrechen, gallichte Durchfaͤlle, haͤufigen
truͤben Harn, oder allgemeine, klebrichte Schweiße
erregt. Das naͤmliche leiſtet manchmal eine gute
Flaſche Wein, mehr oder weniger, koͤmmt blos auf
die Beſchaffenheit der Nebenumſtaͤnde an. — Wenn
von Ueberfuͤllung des Magens mit verdorbenen oder
gaͤhrenden Speiſen eine hoͤchſt ſchmerzhafte Krampf-
kolik entſteht, ſo wird alles, was den Krampf loͤſet,
eine kleine Aderlaͤſſe, Hoffmanniſche Tropfen, warme
mit Kamillenabſud bereitete Baͤhungen u. d. gl. ein er-
wuͤnſchtes und erleichterndes Erbrechen zuwege brin-
gen. — In den Ruͤckfaͤllen von vernachlaͤßigten Ab-
fuͤhrungen oder zu fruͤhzeitigen Fehlern in Ruͤckſicht
der Nahrung werden bittere Magenmittel den unver-
dauten Stoff entweder veraͤhnlichen helfen, oder den-
ſelben durch ein eigenmaͤchtig bewirktes Erbrechen oder
Abweichen aus dem Leibe fuͤhren. — Nachdem man
zuweilen
[243] zuweilen alles verſucht hat, einen Schweiß, einen
Stuhl zu erhalten, ſo geſchieht dieſes ſehr leicht, ſo
bald man nur einige Tropfen Blut abgezapft, oder
die Heilmittel zu einer angemeßnern Zeit dargereicht
hat. Zacutus Luſitanus drehete einem, der die
Hirnwuth hatte, einen in Form eines Sternes geſpal-
tenen Federkiel in der Naſe herum; es entſtund ein
Naſenbluten, und alſobald folgten Schweiß und
Bauchfluß. — Wie viele Krankheiten werden durch
die bloſſe Veraͤnderung der Nahrung, des Wohnor-
tes, der Jahrszeit, des Alters, des Gemuͤthszuſtan-
des vollſtaͤndig geheilt, da ſie bey den kraͤftigſten
Mitteln unter andern Umſtaͤnden unheilbar waren!
Die ungeſunden Bewohner der aſiatiſchen Inſel Ba-
tavia erhalten in kurzer Zeit ihre Geſundheit, wenn
ſie nach den unweit von ihrer Hauptſtadt entlegenen
Gebirgen reiſen. — Wer heilt in allen dieſen Faͤllen,
die Heilmittel, oder die Natur? Wenn bey einem
Blatternkranken die Natur gehindert iſt, den Blat-
terſtoff auf die Haut zu verwerfen, und die krampf-
hafte von zu maͤchtigem Reize entſtandene Schnuͤrung
wird durch eine Aderlaͤſſe, durch Mohnſaft, durch ein
laues Baad geloͤſet, worauf der Blatternausbruch
gluͤcklich von ſtatten geht; was hat hier der Arzt,
was hat die Natur gethan?
Was iſt die Urſache, warum das naͤmliche
Verfahren nach Verſchiedenheit der Umſtaͤnde verſchie-
dene und entgegengeſetzte Wirkungen hervor bringt?
— Hier wird eine Aderlaͤße das Fieber, den Blutfluß,
die Kopfſchmerzen, die Zuckungen ſtillen; dort wird
Q 2es
[244] ſie das Fieber heftiger, den Blutfluß haͤufiger, die
Schmerzen unertraͤglicher, und die Zuckungen in Zit-
tern, heftige Kraͤmpfe und Sehnenhuͤpfen ausarten
machen. Einmal ſtuͤrzet das Brechmittel in eine toͤd-
liche Schwaͤche, in den Brand; und ein andermal
werden eben dieſe Uebel augenblicklich dadurch geho-
ben. Der elektriſche Strom befoͤrdert oder verzoͤgert
den Umlauf der Saͤfte, je nachdem er ein Hinderniß
aus dem Weege geſchaffet, oder einen Reitz verur-
ſacht hat.
§. 12.
Bey den meiſten Krankheiten, von denen Je-
dermann uͤberzeugt iſt, daß ſie ihre eigne ſpezifiſche
Natur haben, iſt es bisher noch faſt immer allein
das Werk der Natur, die Eigenheiten zu zerſtoͤhren.
Wir haben kein eignes, ſpezifiſches Gegenmittel, zum
wenigſten bedoͤrfen wir deſſelben nicht, gegen den
Scharlach, die Maſern, den Frieſel, die Kraͤze, die
Blattern u. ſ. w. Wir beſtimmen unſer ganzes Ver-
fahren nach allgemeinen Heilanzeigen; das heißet, wo
wir ein Hinderniß entdecken, welches das Beſtreben
der Natur unterdruͤcken, irre fuͤhren oder unmaͤßig
machen koͤnnte, da ſind wir beſorgt, es nach Ver-
ſchiedenheit der Umſtaͤnde mittelſt verſchiedener Kunſt-
griffe, bald durch ein kuͤhlende, hizende, bald eine
ſtaͤrkende, erſchlappende Heilart zu entfernen, und
uͤberlaſſen das Uebrige der Natur. Vielleicht beruht
der Erfolg der ſogenannten ſpezifiſchen Mitteln groͤß-
tentheils darauf, daß ſie ein uns unbekanntes Hin-
derniß,
[245] derniß, auf eine uns unbekannte Weiſe, heben, und
dann die Natur das Uebrige uͤbernimmt. Dinge, die
zwar etwas Allgemeines mit einander gemein, aber
ſonſt ganz verſchiedene ſinnliche Eigenſchaften haben,
thun nicht ſelten die naͤmliche Wirkung. Man hatte
lange geglaubt, der Scharbock koͤnne nur vermittelſt
der ſcharfen Pflanzen, als Rettige, Meerrettige
(Kreen) Senf, Loͤffelkraut, Erdrauch u. ſ. w. geheilt
werden. Spaͤter entdeckte man eine vorzuͤgliche Wir-
kung im Sauerkraut; eine noch vorzuͤglichere in dem
Malztrank; und nun hat Macbride gezeigt, daß
durchaus alle Pflanzen, wenn ſie nur friſch ſind, den
Scharbock heilen.*) Alle haben dieſes gemein, daß
ſie die Saͤfte verduͤnnen, daß ſie dem Koͤrper eine groſ-
ſe Menge fixer Luft zufuͤhren u. ſ. w. — In alten
veneriſchen Zufaͤllen thut der Schierling oft beſſere
Dienſte, als das Queckſilber; man weis aber, daß
Schierling und Queckſilber in die Druͤſen wirken, mit
welchen das Luſtſeuchegift die naͤchſte Verwandſchaft
hat, und die es folglich vorzuͤglich anzugreifen pflegt.
In der Bleykolik ſcheint eine Kraͤuſelung und
Schnuͤrung der Schleimwerkzeuge, vornehmlich der klei-
nen Gedaͤrmdruͤſen, die Grundurſache des Uibels zu
ſeyn: Nun ſehe ich aber auch, daß alles, was auf
was immer fuͤr eine Art dieſe krampfhafte, trockne
Schnuͤrung zu heben im Stande iſt, die Bleykolik
mit mehr oder weniger Gluͤck zu heilen vermag. Eu-
ſtache, Tronchin, Piccard, Boisduval und Bü-
rette
[246]rette glauben, der einzige Weeg, dem Kranken nicht
nur Linderung, ſondern ſelbſt die Geſundheit wieder
zu verſchaffen, ſey, daß man ihn von Oben und Un-
ten ſtark ausleere: Zu dieſem Zwecke verordnen ſie
Klyſtieren, Purgier- und Brechmittel, und ſie ver-
ſichern, die Kraͤmpfe und Zuckungen wuͤrden durch
erweichende, oͤlichte, beruhigende Mittel nur noch
heftiger.*) Hingegen beſchuldigt de Haen mit den
meiſten andern die Brech und Purgiermittel dieſer
Zweckwidrigen Wirkung; weil er glaubt, der dadurch
ausgeleerte Schleim und gallichte Unrath ſeye nur
eine Folge der Kraͤmpfe, wodurch alſo der Darmka-
nal ſeiner Schluͤpfrigkeit beraubt, die Schnuͤrungen
und Verſtopfungen hartnaͤckiger gemacht werden. Eben
dieſes ließe ſich von der haͤufigen, gruͤnen Galle, wel-
che Piccard und Boisduval in der von verdorbenem
Apfelwein entſtandenen Kolik abgehen ſahen, behaup-
ten. Joh. Alex. von Brambilla haͤlt keine andere
Arzney gegen dieſes ſchmerzhafte Uebel angezeigt, als
ſolche, deren Wirkung erweichend und beruhigend iſt,
z. B. ſuͤſſes Mandeloͤl und Sydenhams fluͤſſiges Lau-
danum, was er durch die bewaͤhrte Vorbeugungskur
mir Speck, Butter, Milch, Mandelmilch u. d. gl.
beſtaͤttigt. Er laͤſt hoͤchſtens Abfuͤhrungen von Man-
na und Oelen zu.**)Chalmers lobt den blauen
Vitriol, wenn er mit andern Mitteln verbunden iſt.
Andere preiſen den Alaun. Odier ſah einen Mahler
durch
[247] durch den Gebrauch des Rizinusoͤl geneſen.*) Der
Brechweinſtein in reichlichem Getraͤnke aufgeloͤſet, ſoll
viele Kuren bewirkt haben. Viele getrauen ſich nichts,
als laue, erweichende Baͤder, und eben ſolche Ge-
traͤnke zu verordnen. Andere halten das Aderlaſſen
theils fuͤr unentbehrlich, theils fuͤr das beſte Befoͤr-
derungsmittel der Kur, obſchon wieder andere nicht
das geringſte Entzuͤndungsartige an der Bleykolick ent-
decken koͤnnen, und folglich alles Blutlaſſen fuͤr uͤber-
fluͤſſig, wo nicht fuͤr ſchaͤdlich halten. Stoll verord-
nete ungewoͤhnlich ſtarke Gaben Mohnſaft, und ver-
nachlaͤßigte mit Vorbedacht alle Zeichen einer gallich-
ten Unreinigkeit; wenn ihn nicht etwa die Jahrszeit
oder die Beſchaffenheit der herrſchenden Krankheit dar-
auf aufmerkſam machten. Einem jungen Mahler,
der dieſe Krankheit in hohem Grade hatte, wobey ſich
viele Zeichen von angehaͤufter Galle aͤußerten, als:
mit dickem, lockerm, gelbem Schleime beladene Zunge,
bitterer Mund, Eckel, Erbrechen, ſtarker Schwin-
del, gallichter Harn u. ſ. w. gab ich durch fuͤnf Ta-
ge jedesmal innerhalb vier und zwanzig Stunden fuͤnf-
zehn Gran Mohnſaft, und er genaß ohne allen Ueber-
bleibſel; hat auch ſeit zwey Jahren nicht das gering-
ſte mehr davon empfunden.
In der Kolick von herben Obſtſaͤuren, die mit
der Bleykolick wahrſcheinlich die Austrocknung und
Kraͤuſelung der Druͤſen gemein hat, empfiehlt der
Freyher v. Störk den Schierlingauszug, den auch
ich
[248] ich, nach den unten anzuzeigenden Maßregeln in ge-
hoͤriger Gabe dargereicht, vortreflich und ſchnell wir-
ken ſah. — Alle dieſe Mittel loͤſen den Krampf theils
unmittelbar, wie der Mohnſaft, die erweichenden
oͤlichten Dinge, theils mittelſt der Ableitung deſſel-
ben, wie der Alaun, der Vitriol, der Brechwein-
ſtein u. ſ. w.
Ob meine Nebengedanken von der Natur dieſer
Kolicken, von der Wirkungsart der meiſten ſpezifi-
ſchen Mitteln richtig ſind, oder nicht, iſt hier ziemlich
gleichguͤltig. Von allen dieſen verſchiedenen Heilar-
ten wiſſen uns die Aerzte gluͤckliche Kuren aufzuſtellen;
und dieſes iſt, freylich nicht zur ſonderlichen Ehre der
Aerzte, faſt in allen bekannten Krankheiten der Fall.
Es muß alſo wahr ſeyn, daß die Kunſt die Hinder-
niſſe, und die Natur die Krankheit hebe.
Sollten auch wirklich einige Arzneyen eine un-
mittelbare Kraft auf das Weſen der Krankheit haben,
wie man dieſes von der peruvianiſchen Rinde gegen
das Wechſelfieber, von dem Queckſilber gegen das
Blattern- und Luſtſeuchengift, u. ſ. w. behauptet:
ſo wird theils ihre Wirkung allzeit ſchaͤdlich, wenn ſie
gegen die Abſichten der Natur gebraucht werden, oder
ſie bleiben fruchtlos, wenn ſie nicht durch ihre Mit-
wirkung unterſtuͤzt eben dieſe Abſichten befoͤrdern hel-
fen. Daher der ſchlechte Erfolg der Arzneyen, die
zur Unzeit des Jahres, des Tages der Krankheit ge-
reicht werden; daher die ſchwere Heilung der Luſt-
ſeuche und der Gicht im Winter und in ſchlechtbeſchaf-
fenen Koͤrpern; wenn der Waſſerſuͤchtige neben einem
Sumpfe
[249] Sumpfe, und der, ſo am Faulfieber liegt, im Spi-
tale oder Kerker ſchwer zu heilen ſind, ſo geſchieht
dieſes um der Hinderniſſe willen, deren Beſeitigung
bey einerley Heilart die Wirkſamkeit der Natur unge-
mein unterſtuͤzt, welche dann in Gemeinſchaft mit der
Kunſt eine baldige Geneſung zu Stande bringt.
§. 13.
Ich wiederhole es alſo, daß die Mittel der
Kunſt nur ſelten die Krankheit unmittelbar angreifen,
und daß wir ſie in den meiſten Faͤllen beynahe alle
ſo, wie Hippokrates, Sydenham, und Boerhave
die Aderlaͤſſen anſahen, als bloße Paliativmittel anſehen
muͤſſen, womit wir ſchlechterdings mehr nicht ausrichten
koͤnnen, als den Heilkraͤften der Natur freye Haͤnde
verſchaffen, wo ſie ihnen gebunden ſind; ſie lei-
ten, wo ſie irre gehen; und wo ſie in Unmaͤßigkeit
ausarten oder erliegen, gehoͤrig einſchraͤnken und un-
terſtuͤtzen. Der Arzt kann nur den Kranken ſo vor-
bereiten, daß die Natur die ſeinem Uebel anpaſſende
Wirkung aͤuſſern, die erforderlichen Zufaͤlle in guter
Ordnung erregen, und ſo die dem geſunden Zuſtande
deſſelben angemeſſene Beſchaffenheit bewirken koͤnne.
Darin liegt die Aufloͤſung jenes groſſen Raͤth-
fels, warum Afteraͤrzte und alte Weiber nicht ſelten
mit einem einfachen Kraͤuterabſude, einem unwirkſa-
men Pflaſter Uebel heilen, an denen die nur zu ge-
ſchaͤftige Kunſt der beruͤhmteſten Maͤnner geſcheitert
hat. Iſt es alſo nicht ein billiger Wunſch, daß ſich
Aerzte, welche ſich nicht einer tiefen Kenntniß der
Krank-
[250] Krankheiten bewußt ſind, beſonders in langwierigen
Gebrechen aͤuſſerſt ſparſam zu einer gewaltſamen Heil-
art entſchlieſſen moͤgten? Es iſt gleich gefehlt, die
Natur, wenn ſie heimlich oder offenbar wirkſam iſt,
von ihrem Weege ableiten, oder ſie, ehe ſie etwas
bewirken kann, unnuͤtzer Weiſe anſpornen; und es
iſt oft das groͤßte Verdienſt, bey all ihren Unterneh-
mungen den muͤßigen Zuſchauer zu machen. Baillou
ſetzte daher ein ſo großes Vertrauen auf die Natur,
daß er von ihr in wenig Tagen mehr erwartete, als
der Arzt mit allen ſeinen Anordnungen ausrichten kann.
Denn, obſchon die heilſamen Hilfsmittel der Kunſt
hoch zu ſchaͤtzen ſind, ſo ſind doch die Hilfsmittel der
Natur nicht weniger ſchaͤtzbar. „Es werden dadurch,
ſagt Tulpius, zuweilen Kranke gerettet, welche ſich
auſſer den Grenzen der menſchlichen Hilfe befinden.
Die Natur laͤßt nichts unverſucht, ehe das edle Werk
des menſchlichen Koͤrpers zerſtoͤhrt wird. Iſt der Weeg
nach oben zu verſchloſſen, ſo bahnt ſie ſich einen Weeg
nach unten zu; findet ſie hier gleiche Hinderniſſe, ſo
ſucht ſie ſeitwaͤrts einen Ausweeg. Sie ſchlaͤgt zur
Rettung des Menſchen alle moͤglichen Weege ein.„
Wenn es nun uͤbrigens noch wahr iſt, daß die
Heilungen der Natur die angemeſſendſten, und bey
guͤnſtigen Umſtaͤnden und gehoͤriger Unterſtuͤtzung die
vollkommenſten ſind; ſo ſollte ſich jeder ausuͤbende Arzt
das groſſe Geſetz tief in die Seele graben: Ohne ſehr
wichtigen Beweggrund kein Uebel unmittelbar
anzugreifen; ſondern nur die Natur fähig zu
machen, daſſelbe einenmächtig zu heben.
Zwey-
[251]
Zweyter Abſchnitt.
Vom
Heilvermoͤgen der Kunſt.
§. 35.
Bis daher bin ich der Lobredner der Natur gewe-
ſen, und habe die Grenzen der Kunſt gezeigt, indem
ich ihr auſſer dem Vermoͤgen, die Hinderniſſe zu he-
ben, nichts eingeraͤumt habe. — Iſt aber darum die
Kunſt entbehrlich? Sind die Aerzte uͤberfluͤſſige Glie-
der der Geſellſchaft? — —
Es herrſchen Geſetze in der thieriſchen Haushal-
tung, vermoͤg welcher auf gewiſſe Veranlaſſungen Be-
wegungen erfolgen, oder unterdruͤckt werden, die kei-
neswegs zur Erhaltung derſelben beytragen. Die
Koͤrperwelt hat dieſes mit der ſittlichen gemein, daß
das Uebel eine unzertrennliche Folge derjenigen Ein-
richtung iſt, welche zum Leben, zum Wachsthum,
zur Geſundheit und Erhaltung noͤthig war. Nicht al-
le Zufaͤlle, das heißet, nicht alles, was eine krank-
hafte Beſchaffenheit veranlaſſet; nicht alles, worinn
die gekraͤnkten Lebenskraͤfte von ihrer natuͤrlichen Wir-
kung abweichen, kann als wohlthaͤtige Anſtalt betrach-
tet werden. Der Menſch ſollte ſterben — Es muß-
te
[252] te alſo die Kraft, ihn zu toͤdten, in ſeine Natur ge-
legt ſeyn. Aber, ſo wie es ſeiner Willkuͤhr uͤber-
laſſen wurde, ſeinen Untergang muthwilliger Weiſe zu
beſchleunigen; ſo iſt auch ſein Geiſt jener Kenntniſſe
faͤhig gemacht worden, wodurch er Unfaͤlle vorſehen,
verhuͤten und heilen kann. Er kann die unnuͤtzen Be-
wegungen der Natur unterdruͤcken, die irrigen zu recht
weiſen, die traͤgen beſchleunigen, die zu heftigen maͤſ-
ſigen, und die nachtheiligen abwenden, ſchwaͤchen
oder zernichten. Nicht ſelten erringt die Kunſt noch
den Sieg uͤber einen Feind, an dem die Natur erle-
gen war. Es iſt alſo hoͤchſt wichtig, das Unvermoͤgen
der Natur kennen zu lernen, auch ihr ihre Grenzen
zu beſtimmen, wodurch ſich von ſelbſt zeigen wird,
wie weit ſich das Gebiet der Kunſt erſtrecke.
§. 15.
Von den zwey und vierzig Kranken, deren Ge-
ſchichten Hippokrates in dem erſten und dritten Buche
von den Landſeuchen aufgezeichnet hat, ſind vier und
zwanzig geſtorben. Und von einigen wird ausdruͤcklich
gemeldet, daß Er oder andere Hilfsmittel der Kunſt
angewendet hatten. Allen Umſtaͤnden nach ſchraͤnkte
ſich Hippokrates allermeiſt auf die bloſſe Beobach-
tung der Natur ein; er war mehr Zuſchauer, als
Arzt. Daher nannte Asklepiades ſein Betragen ei-
ne Betrachtung über den Tod. Es war dieſes auch
das beſte Mittel, die kranke Natur in ihrem ganzen
Umfange kennen zu lernen. Und in dieſer Hinſicht ſind
die Werke der Alten, vorzuͤglich des Hippokrates
un-
[253] unſchaͤtzbare Denkmaͤler des menſchlichen Scharfſinnes.
Wo die Natur durch ein gewaltſames Verfahren der
Kunſt alle Augenblicke von ihrer Bahne abgefuͤhrt
wird, da iſt es nicht moͤglich, ihre Weege kennen zu
lernen; und ohne dieſe Kenntniß waͤre alles Beſtre-
ben der neuern Heilkunde ein blindes Wuͤrfelſpiel ge-
blieben. Aber bekannt mit dem Verlauf der Krank-
heiten, mit ihrer Gefahr und mit den Hilfsmitteln der
Natur, war es den Neuern nicht mehr ſo ſchwer, das
Heilgeſchaͤft auf einen ſo hohen Grad von Vollkom-
menheit zu bringen, daß man mit Vertrauen von der
Zukunft erwarten kann, ſie werde auch viele von den
uns noch unheilbaren Uebeln theils verhuͤten theils
uͤberwinden lernen.
Zu allen Zeiten waren die Fieber die allge-
meinſten Feinde des menſchlichen Geſchlechtes. Vom
Krebs bis zum Steinbock, ſagt Black, durch alle
Gegenden des Aequators, oder auf dem mittleren
heiſſen Striche der Erde ſind Wechſelfieber, aber vor
allen andern, nachlaſſende Fieber und Ruhren faſt
die einzigen Krankheiten. Sie reiben, (ſich ſelbſt
uͤberlaſſen) ganze Heere von Menſchen auf. Waͤhrend
der periodiſchen regnichten Jahrszeiten in den Wen-
dezirkeln, inſonderheit da, wo ſie mit Waͤldern und
Moraͤſten angefuͤllt ſind, und an neuen noch unbe-
baueten Pflanzoͤrtern verheeren dieſe Fieber oft wie
die Peſt in Aegypten; und zuweilen toͤdten ſie nach
einem oder zwey Anfaͤllen, wenn ſie nicht bald geho-
ben werden, den Arzt, den Richter, den Prieſter
ſchleunig nach einander bey ihren Beſuchen. Sie raf-
fen
[254] fen nicht allein eine groſſe Menge Menſchen, inſon-
derheit von den europaͤiſchen Koloniſten unmittelbar
weg, ſondern wenn ſie nicht gehoͤrig behandelt wer-
den, oder wenn Geneſende wegen unordentlicher Le-
bensart Ruͤckfaͤlle bekommen, ſo endigen ſie ſich oft in
toͤdtliche chroniſche Krankheiten, welche denen aͤhnlich
ſind, welche von Wechſelfiebern zu entſtehen pflegen,
als: Krankheiten des Magens, der Verdauungswerk-
zeuge, der Leber und des Darmkanals; gallichte Un-
reinigkeiten, Gelbſucht, Auszehrung, Waſſerſucht.*)
Ehedem, faͤhrt er fort, ſcheinen die Fieber in Lon-
don und in ganz England, und wahrſcheinlich auch
in ganz Europa viel haͤufiger und toͤdtlicher geweſen zu
ſeyn, als jezt; ihre eigentliche Beſchaffenheit und ihre
Heilung ſind den Aerzten jezt viel bekannter; und wir
beſitzen weit wirkſamere Hilfsmittel, und ſind geſchick-
ter in der Anwendung. In dieſem beſondern Falle
zeichnet ſich die neuere Arzneykunſt, und vorzuͤglich die
Arzneykunſt dieſes Jahrhunderts, ſehr aus, welches
wir ohne Stolz ruͤhmen koͤnnen. — — Wir haben
neuere richtige Liſten, in welchen bey einer einſichts-
vollen und geſchickten Behandlung von zweyhundert
Kranken an nachlaſſenden Fiebern nur ein einziger ge-
ſtorben iſt: und ſelbſt bey den Nerven- und Faulfiebern
waren die Geſtorbenen in einem geringen Verhaͤltniß
gegen die Lebengebliebenen; da hingegen bey einer an-
dern und unrichtigen Behandlung die Haͤlfte, und oft
der
[255] der groͤſte Theil der Kranken ſtarb. Die Beſtaͤtti-
gung dieſer Behauptungen kann man bey Lind, Mi-
liar, Robinſon, Clarke, Lettſom, Sims und
andern finden.
§. 16.
Es iſt ausgemacht, daß in vielen Faͤllen eine
verkehrte Heilart weit mehr ſchade, als die ſich ſelbſt
uͤberlaſſene Natur ſchaden kann. Die hitzigen Krank-
heiten haben ſich zwar von allen Zeiten her bis auf
den heutigen Tag aͤußerſt toͤdlich bewieſen. Allein ih-
re Toͤdtlichkeit hat durch das hitzige Verfahren, durch
die leidige Sucht, das Gift aus dem Leibe treiben
zu wollen, welches noch zu Sydenhams Zeiten das
herrſchende war, ungemein zugenommen. Dazumal
ſtarben unter zehen ſechſe, beym Hippokrates etwan
eben ſo viele oder vielmehr weniger. — Bald nach
Sydenham kaum mehr einer — und wie ſehr wird
der Werth der Kunſt erhoͤhet, wo von zweyhunderten
nur einer ſtarb!
Eben ſo verhielt es ſich mit den Pocken. Die
Sterblichkeit daran iſt aber jederzeit weit groͤſſer ge-
weſen, weil unter hundert kaum 3—5 davon ver-
ſchont bleiben, und unter denen, die davon befallen
werden, im Durchſchnitt der 7—12te ſtirbt. Die-
ſes Verhaͤltniß wird aber, auſſer ſehr ſchlimmen Epi-
demien, bey einer guten Heilart unendlich viel geringer.
Von den Eingeimpften ſtirbt unter fuͤnfhundert kaum
einer, weil nur aͤußerſt ſelten nicht ganz gutartige
Pocken
*)
[256] Pocken entſtehen. Statt dem falſchen Wahn, das
Pockengift durch ein hitziges Verhalten aus den innern
Theilen nach der Haut zu treiben, ſuchen wir jezt auf
alle Art, durch die freye kuͤhle Luft, durch kuͤhlende
Arzneyen u. ſ. w. das Blatternfieber zu vermindern.
Dadurch verhuͤten wir eine ſchlimme Ausartung der
Saͤfte, ein zu haͤufiges Erzeugniß von Eiterſtoff,
kommen den Folgen des Eiterungsfiebers und eben ſo
jenen des von der Einſaugung des Eiters entſtehenden
hektiſchen Fiebers zuvor; ohne von allen den ſonſt ge-
woͤhnlichen ungluͤcklichen Ueberbleibſeln zu reden, wo-
von wir allermeiſt nichts erfahren, als: verdorbene
Leibesbeſchaffenheit, zerrißne Geſichter, Auszehrungen,
Eiterverſammlungen, Geſchwuͤre, bloͤde Augen, Blind-
heit u. ſ. w.
Die Schwindſucht und Epilepſie waren ſonſt
zu Clausthal ſehr haͤufig. Die Beſchaͤftigung, Nah-
rungsmittel und oft wiederkommende Huſten gaben zu
den gewoͤhnlichſten Uranfaͤngen der Schwindſucht, den
Lungenknoten, Gelegenheit; Lentin aber hat ſie ſel-
ten gemacht, indem er gleich zu Anfang eines mit
Heiſerkeit! verbundenen brauſenden trocknen Huſtens
Blaſenpflaſter, und im fernern Verlauf Meerzwiebel-
hoͤnig und Ammoniakgummi verordnete. Die fallen-
de Sucht hatte ihren Urſprung groͤſtentheils von Wuͤr-
mern, oder von zuruͤckgetriebenem Ausſchlag am Kopf,
welche er ebenfalls gehoͤrig behandelte.*)
Jener Krampf, der von Verletzungen der Ner-
ven entſteht, und ſich oft nicht ehe, als einige Tage
nach
[257] nach der Verletzung, ja ſogar erſt dann einſtellet,
wenn der Schmerz von der Wunde ſchon gehoben iſt,
war noch vor einigen Jahren nur ſelten heilbar, was
er doch jezt bey unſern wirkſamern, und in angemeße-
nen Gaben dargereichten Arzneien in den meiſten Faͤl-
len iſt.
Nach Süßmilch ſind die Koliken, die Krank-
heiten der Kinder am Kopf und von unordentlicher
Bildung der Hirnſchale, die toͤdtlichen Zufaͤlle der Kind-
betterinnen und die Kraͤmpfe uͤberhaupt: — Nach
Franks Zuſaͤtzen die kalten Fieber, beſonders die mit
Schlafſucht und Schlagfluͤſſen begleiteten Fieber, die
Gall- und Faulfieber, die Pocken und Maſern,
die Frieſel- und Fleckfieber, ſeitdem man ſie theils beſ-
ſer zu behandeln gelernt hat, theils weniger der Na-
tur allein uͤberlaͤſt, obſchon ſie haͤufiger geworden ſind,
dennoch weniger gefaͤhrlich.
Ich zweifle, ob die Aerzte jemals mit den
Kennzeichen der verſchiedenen Lungenſuchten hinlaͤng-
lich vertraut waren. Denn die Berechnung, daß von
7—9 etwa einer geheilt werde, — durch die gewoͤhnliche
Heilart, mittelſt erſchlappender Getraͤnke und fleiſſi-
ger Aderlaͤſſen u. d. gl. geheilt werde, — ſcheint mir noch
immer uͤbertrieben zu ſeyn. Alle die, ſo ich bisher als
wahrhaft lungenſuͤchtige erkannt habe, ſind mir unter
dieſen Umſtaͤnden geſtorben. Fuͤnf, die es von andern
dafuͤr erklaͤrt und verlaſſen waren, habe ich geheilt.
Aber da war die Lungenſucht zweimal mit der Kraͤze,
und mit offenbaren Verſtopfungen der Baucheingeweide
verbunden; einmal war ſie die Folge eines zuruͤck-
Gall I. Band. Rgetrie-
[258] getriebenen Kopfgrindes; einmal war ſie vom Kin-
derſaͤugen, und einmal vom ſchnellen Wachſen entſtan-
den. In jedem Falle waͤren die Kranken ſowohl
durch die Natur als eine noch mehr ſchwaͤchende und
ausleerende Heilart geſtorben. Die Erfahrungen ei-
nes Salvadory verſprechen fuͤr diejenigen Faͤlle,
wo ſchwache Daukraͤfte und Schlappheit der Lungen
die Lungenſucht veranlaſſen, eine ſehr troſtvolle Aus-
ſicht.
§. 17.
Nichts kann der Kunſt zur groͤſſern Ehre gerei-
chen, als die alltaͤgliche Erfahrung der beſten Aerzte,
daß die Machtſpruͤche des Hippokrates, jene unver-
faͤlſchten Zeugniſſe von der Wirkſamkeit und den Gren-
zen der Natur, zu unſern Zeiten beynahe ihre ganze
Kraft verloren haben. Schwerlich wird ein Arzt im
Stande ſeyn, außer dem ganzen Verlauf einer Krank-
heit, und ohne offenbar toͤdtliche Zerſtoͤhrung, einen Um-
ſtand ausfindig zu machen, bey deſſen Erſcheinung
der Tod jedesmal unausbleiblich, oder das Uibel zum
wenigſten unheilbar geweſen waͤre.
Galen und Düret fanden die auf den Wahn-
witz erfolgenden Konyulſionen toͤdtlich, und Mead
ſagt, daß die fallende Sucht, welche auf den Wahn-
witz folgt, unheilbar ſey: Zimmermann hat in dem
Wahnwitz ſehr oft Zuckungen und Kraͤmpfe geſehen.
Er hat ſie aber auch dazumal nicht toͤdtlich gefunden,
ſondern vielmehr wahrgenommen, daß man von dem
Wahnwitz in Konvulſionen, und von dieſen wieder in
de
[259] den Wahnwitz verfallen, und dennoch ſich wieder er-
holen kann. Er hatte vier Jahre lang ein Weib un-
ter den Augen, das zugleich mit der wuͤtenden Geil-
heit und der fallenden Sucht befallen war. — Dem
Hippokrates waren Bewegungen der Hand gegen
die Stirne, vielfaͤltiges Ausgreifen in die Luft, Su-
chen und Zupfen an den Betttuchen und den Waͤnden
noch toͤdlich: Wir heilen unſere Kranken bey allen
dieſen Zufaͤllen. — Im hieſigen Krankenhauſe ſah ich
den Hr. Doktor Beutel, obſchon er in einem Faulfie-
ber ſchon das gelaͤhmte Schlingen hatte, wobey man
die Arzneyen, wie in einen holen Sack, fallen hoͤrt,
unter Stoll noch geneſen. — Die Zeichen der Verwer-
fungen nach den Gehirnhoͤlen oder dem Ruͤckgrad und
dem verlaͤngerten Gehirnmark ſind uns bey weitem nicht
mehr ſo ſchrecklich, wie ſie es noch vor wenigen Jah-
ren waren. Durch zur rechten Zeit angebrachte aͤu-
ßerliche Reize und kleine Blutlaͤßen zu einer oder zwey
Unzen wiſſen wir die Wiedereinſaugung der ſcharfen
Lymphe zu bewirken. — Kämpf hat uns gelehrt, den
noch von Boerhave fuͤr unheilbar erklaͤrten Glasſchleim
aufzuloͤſen. — Die Verſuche mit dem Lorberkirſchenwaſ-
ſer werden uns vielleicht noch die vom Durchſchwitzen
der gerinnbaren Lymphe entſtandenen Verwachſungen,
Engbruͤſtigkeiten und Unfruchtbarkeiten heilen lehren. —
Man hielt es immer fuͤr eine ſehr ſchlimme Vorher-
deutung, wenn im entzuͤndlichen Seitenſtiche vor dem
Ende des vierten Tags keine Entſcheidung durch ge-
kochten Auswurf zu Stande kam; aber Strack hat
R 2das
[122] das Gefahrvolle dieſes Umſtandes vereitelt.*) Eben
dieſer Seitenſtich war von Hippokrates fuͤr toͤdlich er-
klaͤrt, wenn er eine ſchwangere Frau befiel. Dieſes
geſchah bey der fuͤnf und vierzigjaͤhrigen Dame, wel-
che im neunten Monate ſchwanger war, aber uͤbrigens
eine verdorbne Leibesbeſchaſſenheit hatte, deren Ge-
ſchichte Morgagni erzaͤhlt.**) Er ſetzt aber hinzu:
“Wenn dergleichen Faͤlle bey den Alten ſo leicht toͤd-
lich waren, ſo geſchah es deßwegen, weil ſolche Kran-
ken die ſtrenge Heilart derſelben nicht aushalten konn-
ten.„ Sie pflegten ſolchen Weibern bis zur Ohn-
macht Ader zu laſſen. Bey maͤßigem und behutſamem
Blutlaſſen u. ſ. w. iſt es nicht nur ihm, es iſt auch
mir gelungen, und es gelingt jetzt allen Aerzten, die-
ſe Kranken zu retten, wovon ebenfalls Strak ein
hoͤchſt merkwuͤrdiges Beyſpiel anfuͤhrt.*) Ein einge-
ſperrter Bruch mit der [Schwangerſchaft], beſonders
wenn die Darmgicht hinzukoͤmmt, wird noch jezt von
ſehr vielen fuͤr toͤdtlich gehalten. Ich behandelte 1785
eine außerordentlich magere, lange, ſchwarzgallichte,
von Anſchoppungen einer zaͤhen gallichten Unreinigkeit
immerwaͤhrend gequaͤlte Frau Johanna Puff. Sie
hatte ſchon mehrere Tage keine Leibesoͤffnung, und
der Leiſtenbruch, der ſonſt, wenn ſie im Bette lag,
zuruͤckgieng, war nicht mehr zuruͤckzubringen. Sie
fieng an, unaufhoͤrlich zu brechen. Bald verbreitete
ſich die Entzuͤndung uͤber alle haͤutigen Eingeweide des
Unter-
[261] Unterleibs, ſo, daß die Zeichen, welche ſonſt bey
den einzelnen Entzuͤndungen vorkommen, hier alle-
ſammt zuſammen trafen. Es waren alſo der Magen,
die diken und duͤnnen Gedaͤrme, die Harnblaſe und
die Gebaͤrmutter aufs deutlichſte entzuͤndet. D[a]bey
war ſie im dritten Monate ſchwanger. Mehr aus
Fuͤrwitz, um den Verlauf der Krankheit zu beobach-
ten, und um mir keine Vorwuͤrfe einiger Nachlaͤßig-
keit zuzuziehen, als in der Hoffnung, zu helfen, ent-
ſchloß ich mich, allen meinen Kraͤften aufzubieten, und zu
verſuchen, was die Kunſt vermag. Von innern Arz-
neyen iſt keine Rede; denn es war nichts auszudenken,
wovon ſie nur ein Kaffeloͤffelchenvoll ertragen haͤtte.
Ich richtete daher mein ganzes Verfahren gegen die
allgemeine Entzuͤndung ein, doch ſo, daß ich mehr
den Brand zu verhuͤten, als die Entzuͤndung auf ein-
mal zu brechen, beſorgt war, weil die Entkraͤftung
ohnehin ſchon den hoͤchſten Grad erreicht hatte. Waͤh-
rend dem die Zufaͤlle am heftigſten tobten, gieng die
Leibesfrucht ab. Dieſe war vom Nabel an bis uͤber
den ganzen obern Koͤrper, Arme, Bruſt, Ruͤcken,
Kopf dunkelroth entzuͤndet; der untere Theil, der
Hintere, die untere Gegend des Bauches und die
Schenkel und Fuͤße hatten die natuͤrliche Farbe. Ich
gab ſie dem Herrn Profeſſor Barth welcher ſie in
ſeiner Sammlung aufbewahrte; der Weingeiſt ver-
aͤnderte die rothe Farbe in eine bleich braune. Auf
dieſen Abgang folgten einige zu einem Pfund ſchwe-
re Klumpen gerinnbarer mit Blut gemiſchten Lymphe.
Einige Tage ſpaͤter bekam ſie in einer Nacht uͤber
zwanzig
[262] zwanzig haͤufige Stuͤhle eines weisgelben, eiterfoͤr-
migen Schlammes, worauf die Geneſung ihren deut-
lichen Anfang nahm. Nach vier Jahren wurde die-
ſe Frau von einem Knaben gluͤcklich entbunden, der
aber bald uͤber und uͤber ſchwarzgruͤn und gelb wur-
de, zu einem Todengeribbe einſchnurrte und ſtarb.
Noch jezt behaupten die Aerzte, daß das Knirſchen
mit den Zaͤhnen nebſt Irreſeyn toͤdlich ſey. Die Frau,
z. B. welche an dem kalten Brunnen wohnte, bekam
den 6ten Tag Knirſchen mit den Zaͤhnen, und ſtarb
den 24ten.*) Indeſſen knirſchte Franz Je ſtl mit
den Zaͤhnen und ſprach irre; Klara Sied (wovon
unten) knirſchte fuͤrchterlich, ſprach irre und raſete;
beyde kamen davon. Zu Ende dieſes Kapitels und
im zweyten Theile, wo ich von der Unſicherheit der
Vorherkuͤndigungen reden werde, ſoll dieſer auch in
andern Ruͤckſichten wichtige Gegenſtand erlaͤutert wer-
den.
§. 18.
Nicht weniger nuͤtzlich erweiſet ſich die Kunſt,
wo es auf Ausrottung und Abwendung dieſer Art
Feinde des Menſchengeſchlechts ankoͤmmt. Von der
Peſt, ſagt Blak, daß ſie jetzt hauptſaͤchlich in Conſtan-
tinopel und Groſcairo in Aegypten eingeſchloſſen waͤre,
indem dieſe beyden Staͤdte die urſpruͤnglichen, oder
wenigſtens die vornehmſten Oerter ſind, wo ſie be-
ſtaͤndig unterhalten, und ausgebruͤtet wird; ferner in
ver-
[263] verſchiedene Seeſtaͤdte in Aſien und Africa, die am
Archipelagus und am mittellaͤndiſchen Meere liegen;
naͤmlich: Smyrna, Aleppo, Tripoli, Tunis, Algier
u. ſ. w. „In vielen Staͤdten wird das Peſtgift ge-
heget, und bis zur groͤßten Boͤsartigkeit angehaͤuft;
in einigen iſt dieſe Krankheit alle Jahre, oder alle
drey Jahre epidemiſch. Heutiges Tages ſchuͤttet ſie
ihr Gift allein auf die mahomedaniſchen Nationen aus,
deren Vorurtheile und Unwiſſenheit, die mit religioͤ-
ſen Ungereimtheiten von Praͤdeſtination durchwebt ſind,
ihrer Herrſchaft freyen Lauf und Thaͤtigkeit geben.
Durch einen ſolchen einfaͤltigen und enthuſiaſtiſchen
Glauben an den Inhalt des Alcorans, verbunden mit
groſſer Dummheit in den Wiſſenſchaften und in der
Weltweisheit, werden die Mahomedaner aufgemuntert,
wehrlos und unbeſonnen dieſem boshafteſten und ſchrek-
lichſten Feinde entgegen zu gehen.„*) Krankheiten
die gewiſſen Gegenden eigen waren, und Theils von
der Luft, den Winden, den Waͤſſern, theils von der
Nahrung und Lebensart abhaͤngen, hat man vielfaͤl-
tig ausgerottet, ſobald die Aerzte ihre Entſtehungs-
art eingeſehen haben. Hieher gehoͤren das Austrock-
nen ſchaͤdlicher Suͤmpfe, das Anpflanzen und Aushau-
en der Waldungen, das Ab- und Antragen der Ber-
ge, das Ableiten ſchaͤdlicher Quellen, und das Graben
geſunder Bruͤnnen, die guten Anſtalten gegen einreißen-
de Seuchen, ſchlechte Nahrung, ſchaͤdliche Kleidung,
ausſchweifende Sitten, ungeſunde Ehen u. ſ. w.**)
[264]
So viel mag einſtweilen im Allgemeinen genug
ſeyn, die Ehre der Kunſt zu vertheidigen. Ich gehe
nun zu beſondern Betrachtungen uͤber.
Faͤlle, wo die Beſtrebungen der Natur mangel-
haft oder nachtheilig ſind.
§. 19.
Oben haben wir freylich geſehen, daß bey guͤn-
ſtigen Umſtaͤnden die Natur faſt alle Krankheiten,
von der geringſten Unpaͤßlichkeit bis zur Peſt, aus eig-
ner Kraft zu heilen vermag. Und dieſes war noth-
wendig, damit der Arzt die Weege kennen lernte, auf
welchen er eine hilfreiche Mitwirkung an der Natur
finden wird. — Aber die Umſtaͤnde ſind oft ſo unguͤn-
ſtig, die Hinderniße ſo unuͤberwindlich, daß die Un-
thaͤtigkeit des Arztes hoͤchſt ſchaͤdlich und in der That
nur gar zu oft zu einer wahrhaften Betrachtung uͤber
den Tod werden muß. Ich will jetzt die Faͤlle her-
erzaͤhlen, wo die Natur muͤßig, traͤg, unvermoͤgend,
nachtheilig und uͤbermaͤßig iſt, oder es zum wenig-
ſten zu ſeyn ſcheint.
§. 20.
Muͤßig, zu traͤg oder ganz unvermoͤgend iſt
ſie uͤberhaupt in Krankheiten, wo nur die lymphati-
ſchen Theile angegriffen ſind; in allen Arten von Aus-
zehrungen und Schwindſuchten; in allen Krankheiten,
die von Schwaͤche der Faſern, von Verderbniß der
Saͤfte entſtehen; in allen Arten rachitiſcher, veneri-
ſcher, ſkrophuloͤſer, und gichtfluͤßiger Zufaͤlle; bey ei-
ner
[265] ner uͤbeln Beſchaffenheit des ganzen Koͤrpers; in Ver-
haͤrtungen, Waſſerſuchten, Blutfluͤßen von ſcharfer
aͤtzender Feuchtigkeit, zerfreſſenen Gefaͤßen, aufgeloͤ-
ſtem Blute, erſchlappten Faſern; bey kraͤnklichen,
verdorbenen Perſonen, im Scharbock mit und ohne
Fieber, mit oder ohne Ausſchlag; in dem hoͤchſten
Grad von Aufloͤſung bey Faulfiebern, ſchlimmen Blat-
tern; daher gehoͤrt auch das mehr oder weniger hart-
naͤckige Erbrechen, die veralteten Bauchfluͤſſe, Ruh-
ren, der Ausfluß des Magens- und des Gedaͤrmſaftes,
der Leberfluß, der Harnfluß, der weiße Fluß, wenn
ſie von Unthaͤtigkeit und Laͤhmung des Magens, der
Gedaͤrme, der Leber, der Nieren, der Gebaͤrmutter,
der Harnblaſe entſtehen; in allen Blutfluͤſſen, die ei-
ne Laͤhmung zum Grunde haben, z. B. nach zu ſchnel-
len oder zu gewaltſamen Geburten, beſonders wo ei-
ne groſſe Menge Gewaͤßer angehaͤufet war; im Fall
der verhaltenen Reinigung, in Blutanſchoppungen der
Gekroͤsgefaͤße von zuruͤckgehaltenem Goldaderfluß;
bey zuruͤckgetrettenen Ausſchlaͤgen; in innerlichen Ei-
terungen, in boͤsartigen Wechſelfiebern; in der Be-
taͤubung, der Hirnwuth, der Gallenkrankheit oder
dem Brechdurchfall; in den ſchmerzhaften Unverdau-
lichkeiten, auf welche ein immerwaͤhrend empfindlicher
und ſchwacher Magen zuruͤckbleibt, wenn das Uebel
allein der Natur uͤberlaſſen wird; bey der zuruͤckge-
trettenen Gicht, und uͤberhaupt in allen Faͤllen, wo
Verſetzungen aus den unedleren Theilen nach den ed-
lern ſtatt haben; in den verſchiedenen Arten von
Scheintod; in veralteten Uebeln der Eingeweide; in
den
[266] den Faͤllen, wo ſich Eiter oder Waſſer oder andere
zaͤhe, klebrichte Subſtanzen in der Bruſt, den Hirn-
und Bauchhoͤhlen oder im Zellengewebe angeſammelt
haben; bey betaͤubenden Giften, oder einem angehaͤuf-
ten, faulen Unrath im Magen oder den uͤbrigen Ein-
geweiden des Unterleibs, wovon oft die ſchrecklichſten
Ohnmachten, und gaͤnzliche Betaͤubung der Lebens-
kraͤfte entſtehen; wenn Geſchwuͤre austrocknen, Peſt-
beulen verſchwinden, nicht genug anſchwellen, oder
die Verwerfungen geradezu nach den edlern Theilen
geſchehen; in gewiſſen Arten der Fallſucht; in der Gicht
mehr oder weniger, je nachdem die Quelle hartnaͤcki-
ger oder an Erzeugung des Gichtſtoffes ergiebiger
iſt; außer den Anfaͤllen des Podagra; im Krebs; im
Bauch und Ruͤckenkrampf (Epi- und Opiſthotonus)
in der Hundswuth; im Schlagfluß; in der Hypochon-
drie, Hiſterie, in den Krankheiten des Verſtandes
und des Gemuͤthes; in allen Fiebern faulichter Be-
ſchaffenheit; in den Nervenfiebern, Schleimfiebern,
und uͤberhaupt groͤßtentheils in allen angebornen Krank-
heiten; in der brandigen Braͤune, den rothlaufarti-
gen Entzuͤndungen der innern Theile, der Peſt; in
zaͤhen, kleiſterartigen Verſtopfungen des Pfortaderſy-
ſtems; in der Doͤrrſucht ſowohl bey Kindern als Er-
wachſenen; in der Ruͤckendarre; den meiſten Arten
von Gelbſucht; in den rotzigen, ſchleimichten Anhaͤu-
fungen der Lungen, und den Durchfaͤllen bey ſehr al-
ten Perſonen u. ſ. w.
In allen dieſen Faͤllen muß das Heilgeſchaͤft
den Haͤnden der Natur entriſſen werden; denn, ob-
ſchon
[267] ſchon ſie manchmal gewiſſe Beſtrebungen aͤußert, ſo
richtet ſie doch nur ſelten etwas Erhebliches aus. So
zum Beyſpiel, macht ſie in der Luſtſeuche hie und da
kleine Ausfaͤlle; durch das habituelle, hektiſche Fieber,
welches vom veneriſchen Gift entſteht, und mit Ver-
luſt der Eßluſt, mager werden, ſchlafloſen Naͤchten
und blaſſem Ausſehen verknuͤpft iſt, bezwingt ſie
einige von den veneriſchen Ausſchlaͤgen oder Knoten
auf der Beinhaut, den Knochen, den Sehnen oder
andern Theilen. Allein, bald kehren die alten Zufaͤl-
le zuruͤck, und nie bringt die Natur eine vollkommene
Zerſtoͤhrung des Luſtſeuchengiftes zu Stande. — In
den Krankheiten des Unterleibes veranſtaltet ſie bald
krampfhafte Schauer, wodurch die Verſtopfungen der
kleinſten Gefaͤße losgeſchuͤttelt werden ſollten, bald
fieberhafte Hize; bald bewirkt ſie auf einige Zeit ein
wohlthaͤtiges Wechſelfieber, bald einen Bauchfluß;
bald entleert ſie zum Theil die Anſchoppungen der
Pfortader durch den Goldaderfluß oder durch Blut-
harnen, Blutbrechen ꝛc.; aber Sie kann den feſten
Theilen ihre gehoͤrige Reizbarkeit, ihre Schnellkraft,
und den fluͤßigen ihre gute Miſchung nicht wieder ge-
ben; folglich faͤngt das alte Uebel in wenig Tagen
wieder eben ſo viel zu wachſen an, als es zuvor ver-
mindert worden war.
Geben wir endlich zu, daß die Natur hie und da
in den angefuͤhrten Faͤllen vollkommen ſiege, ſo kan[n]
doch nicht gelaͤugnet werden, daß ſie tauſendfaͤltige,
muͤhſame Umwege mache, und erſt in Jahren erhalte,
was die Kunſt in wenig Tagen geleiſtet haͤtte. Man
uͤber-
[268] uͤberſehe die Krankengeſchichten des Hippokrates;
nicht ſelten ſchleppten ſie ſich uͤber hundert Tage hin-
aus; ihr Verlauf war ſchwankend, und abwechſelnd;
ihre Entſcheidungen geſchahen meiſtens nur theilweis
und unvollkommen; die Ruͤckfaͤlle waren haͤufig. Al-
les dieſes koͤnnen wir alle Tage beobachten, wo auch
nur unbedeutende Uebel, als geringe Rheumatismen,
Katharrhe, oder Unpaͤßlichkeiten von Unreinigkeit der
Gedaͤrme ſich ſelbſt uͤberlaſſen werden. In dem Ka-
tharr, der 1787. hier herrſchte, hatten die Leute bey
einer ſchlechten oder ganz vernachlaͤßigten Heilart durch-
gaͤngig vier und ſechs Wochen zu thun, nebſt dem,
daß bey manchen der Stoff zu allerley Bruſtkrankhei-
ten, langwierigen Rheumatismen ꝛc. zuruͤckblieb. Die
aber gut behandelt wurden, genaſen alle innerhalb
4 Tagen vollſtaͤndig. An einem einzigen ſchwarzgal-
lichten und geſchwaͤchten Manne hatte ich 8 Tage zu
thun. Schulzenkranz hat ein Maͤdchen hergeſtellt,
an welcher die Natur drey Jahre lang offenbar und
umſonſt bemuͤht war, den Zeitfluß in Gang zu brin-
gen.*) Der Speichelfluß bey dem Wahnſinnigen des
Perfekt hatte ſchon acht Monate gedauert, ohne daß
der Kranke geheilt war. Wie lange geht es zu, bis
in der Melancholie, dem Wahnſinne u. ſ. w. eine
Krampfadergeſchwulſt, eine Blutſchwaͤre, ein Gold-
aderfluß, ein Hautausſchlag, eine Ruhr, oder ande-
re wohlthaͤtige Ausleerungen, oder ein Wechſelfieber
entſtehen, wodurch der Krankheitsſtoff aufgeloͤſet, von
den
[269] den edlern Theilen weggeſchaffet und ausgeleeret wird!
Und dann hinterlaſſen dergleichen Zufaͤlle manchmal
noch hoͤchſt verdruͤßliche Folgen, zum Beyſpiele,
groſſe Entkraͤftung, Hohlgaͤnge und andere boͤſartige
Geſchwuͤre. Bezwingt die Natur hie und da ein boͤſ-
artiges Nervenfieber, ſo bleiben ebenfalls nur ſelten
nicht uͤble Folgen, als: Taubheit, periodiſche Vergeſ-
ſenheit ꝛc. zuruͤck. — Der Kopfgrind faͤngt oft vor
dem zweyten Jahre an, und bekleitet die Kranken
bis in die Jahre der Mannbarkeit, wenn er ganz ver-
nachlaͤßigt wird. Wer aber hier den Plan und das
Verfahren der Natur kennt, der wird ihn ohne alle
Gefahr in ſechs oder acht Wochen heilen koͤnnen.
Bey ſieben Kindern vom zweyten bis ins zehnte Jahr
in einem Hauſe, welche alle auf einmal offene Koͤpfe
hatten, verordnete ich die das Beſtreben der Natur
unterſtuͤtzenden Mittel. Man fragte noch anderſtwo
um Rath; meine Vorſchriften wurden als ein ver-
wegenes Unternehmen verworfen. Statt dieſer wur-
de nun alle acht Tage jedem Kinde eine Gabe Kinder-
meth (hydromel infantum) gegeben; nebſt dem der
Kopf von dem Ungeziefer gereinigt, und fleißig Cacao
Butter eingeſchmiert. Nach zwey Monaten war noch
kein Anſehen von Heilung; aber allen fuhren an den
Fingern rothe Beulen auf; bey dem einen Maͤdchen, wel-
ches gewoͤhnlich ein blaſſeres Ausſehen hatte, entſtun-
den an mehreren Stellen der Schenkeln, des Ruͤckens
und Hinterns breite, im Anfang hellrothe, bald naͤſ-
ſende Flecken, welche zu oberflaͤchlichen Geſchwuͤren
wurden. Man war nun uͤberzeugt, daß dieſes Ver-
fah-
[270] fahren nichts nuͤtze, und drang in mich, dem Uibel
einmal ein Ende zu machen. Ich ließ meine erſten
Arzneyen, die man vors Fenſter geſtellt hatte, ge-
brauchen, und innerhalb vierzehn Tagen waren alle ge-
ſund, ohne daß ſich jemals der geringſte Unfall geaͤuſ-
ſert haͤtte.*)
Ein junger Mann verfiel nach vielen ausge-
ſtandenen Unpaͤßlichkeiten endlich in ein abzehrendes
Fieber mit allen Arten von Nervenzufaͤllen. Alle
Mittel blieben fruchtlos; endlich brachte man ihm
in der Abſicht, die ausgetrockneten, eingeſchrumpften
Faſern zu erweichen, oͤlichte und ſchleimichte Dinge
in groſſer Menge durch alle Weege bey, und gab
keine anderen aufloͤſenden und abfuͤhrenden Mittel mehr,
als Manna mit Mandeloͤl. Es wurden ſechs volle
Monate erfodert, die trockne, ſproͤde, ſchuppichte
Haut wieder geſchmeidig zu machen. Erſt lange nach
der Geneſung entdeckte er, daß ſein dazumal gewoͤhn-
licher Tiſchwein mit Silberglaͤtte verfaͤlſchet war. Um
wie viel fruͤher wuͤrden ihn die bekannten paſſenden
Mittel geheilt haben! Wie unendlich oft dieſes der
Fall ſeye, und wie ſehr die Kunſt die Heilungen ſo-
wohl der Natur als des gewoͤhnlichen Verfahrens
der Aerzte beſchleunigen koͤnne, werde ich bey einer
ſpaͤtern Gelegenheit zeigen.
Vor-
[271]
Vorzuͤglich iſt die Natur unzulaͤnglich in zuſam-
mengeſetzten verwickelten, Krankheiten, obſchon ſie bey
jeder, wenn ſie allein geblieben waͤre, zugereicht haͤt-
te. Wenn Entzuͤndungen mit Gallſtoff verbunden
ſind, ſo fodert dieſe Verwicklung einen groſſen Ken-
ner, um die wichtigſten Heilanzeigen und die angemeſ-
ſendſten Zeiten der Heilmittel zu treffen. Die Be-
ſtrebungen der Natur ſind hier verwirrt; der entzuͤnd-
liche Reiz wird durch den Gallſtoff verſtaͤrkt, und die-
ſer durch jenen ſchaͤrfer gemacht; Die Maſchine wird
unter dieſem getheilten Kampfe zu ſehr zerruͤttet; die
Entſcheidungen hindern und ſtoͤhren eine die andere; ſie
werden uͤbermaͤßig oder unzulaͤnglich; und dann geben
ſie mit der hinterlaſſenen Schwaͤche zu haͤufigen Ruͤck-
faͤllen Anlaß, oder die vorige Geſundheit kann nicht
wieder ihr Feſtigkeit erhalten. So iſt es uͤberhaupt
bey jeder andern Verbindung. Wenn Nervenfieber,
Gall- oder Faulfieber zu Blattern, oder Gall- und
Faulfieber zu Nervenfiebern oder Entzuͤndungen ſtoſ-
ſen, u. d. gl.; ſo hat man unendlich viel weniger von
der Natur zu erwarten, als in einer jeden dieſer abgeſon-
derten Krankheiten. — Nicht ſelten geht dieſes ſo
weit, daß, ſo lange eine ſolche Verbindung ſtatt hat,
keine Zufaͤlle von einem der zwey vereinigten Uebeln entſte-
hen, bis das eine gehoben oder ſehr vermindert iſt.
Die Luſtſeuche z. B. wird allermeiſt von andern Krank-
heiten verdeckt ꝛc. Davon mehr in 3ten Kap.
§. 21.
[272]
§. 21.
Uebermaͤßig und nachtheilig wirkt die Natur
uͤberall, wo blos zufaͤllige, das iſt, nicht wohlthaͤti-
ge Fieber entſtehen, z. B. im Falle eines zerſtoͤhrenden
Giftes, Verletzung der nervichten Theile; wenn ein
Stein oder andere Koͤrper durch eine aͤußere Gewalt
in eine Hoͤle ſind getrieben worden, oder wenn ſelbſt
in den innern Theilen des Koͤrpers dergleichen harte,
rauhe, ſpizige, eckichte ſtein-kalch-knochenartige
Mißwaͤchſe erzeugt werden. Von der Art war jener
langwierige, mit einer weißen Materie gemiſchte Bauch-
fluß, den Bonnet bey einem ein und ein halbjaͤhrigen
Knaben beobachtete; er ſtarb an der Abzehrung. Die
Leber fuͤllte den ganzen Unterleib aus, und war ſkirr-
hoͤs, die Gallenblaſe und das Milz waren ebenfalls
ſehr groß. Eine Frau, bey welcher ein Bauchfluß
vierzehn Jahre anhielt, und die ſieben Monate vor
dem Tode in einer Minute dreyzehnmal zu Stuhle
gehen muſte, hatte Gallenſteine. Bey einem ſechsjaͤh-
rigen Knaben, der ein hektiſches Fieber, und immer-
waͤhrenden bald trocknen bald ſchleimichten Huſten
hatte, und endlich bis auf die Knochen abgezehrt
ſtarb, fand ich die Leber, den Magen, die Gedaͤrme,
das Zwerchfell vielfaͤltig untereinander verwachſen,
und ſowohl die Leber, als, aber vorzuͤglich das
Milz auf der ganzen Oberflaͤche dicht mit kleinen,
unregelmaͤßigen, ſteinartigen Verhaͤrtungen beſetzt.
In ſolchen Faͤllen muß nothwendig jede Bewegung
der Natur die Zufaͤlle verſchlimmern. Eben dieſes
geſchieht beym Blaſenſtein und allen Krankheiten
des
[273] des Unterleibs oder der Bruſt, welche von Gallen-
ſteinen, veralteten Verſtopfungen, Verhaͤrtungen,
Polipen, Kraͤuſelung der Nerven, unordentlicher Be-
wegung des Lebensſtoffes u. ſ. w. herkommen. In
jenen Blutfluͤſſen, welche von Aftergewaͤchſen, von
der gaͤnzlich oder theilweiſe abgeloͤſten Nachgeburt,
von zuruͤckgebliebenen fremden Koͤrpern unterhalten
werden, nebſt vielen andern Arten von Blutfluͤſſen,
Blutbrechen, Blutdurchfaͤllen, unmaͤßigen Ausleerun-
gen durch Brechen, erſchoͤpfende Durchfaͤlle, die Gal-
lenkrankheit von aͤhnlichen oder andern ſcharf wirken-
den Urſachen. In dem Sticken bey der feuchten,
krampfhaften, trocknen Engbruͤſtigkeit; im Krampf-
huſten; in der Engbruͤſtigkeit, die von beiſenden,
ſcharfen, zuſammenziehenden Dingen erregt wird;
im Schluchzen, in den Verzerrungen, Zuckungen,
oͤrtlichen und allgemeinen Kraͤmpfen, Krampfkolicken, in
zu heftigen Entzuͤndungen u. ſ. w.
In allen dieſen Faͤllen muß der Arzt die Be-
wegungen der Natur entweder ganz unterdruͤcken, oder
ihnen einen maͤßigern Grad, und eine andere Richtung
geben.
§. 22.
Die Unſicherheit des Verfahrens der Natur
faͤllt bey innern Eiterungen am meiſten ins Auge:
Sie hat mancherley Schwierigkeiten zu uͤberwinden;
muß nicht ſelten ihren gewohnten Geſetzen gerade ent-
gegen wirken, bis ſie hie und da einen Ausgang durchs
Zellengewebe, die Ribbenmuskeln, den Harn, die
Gall I. Band SStuͤhle
[274] Stuͤhle oder den Auswurf findet; die umliegenden
Theile ſind oft ſchlapper; von einem immerwaͤhrenden
Dunſt erweicht. — Wenn nun die Lebenskraft nicht
ſehr lebhaft iſt, ſo werden dieſe weit geneigter ſeyn,
den Eiterſtoff aufzunehmen, und zu beherbergen, als
die uͤbrigen Weege. Selbſt diejenigen Mittel; deren
ſich die Natur zu bedienen pflegt, um den Eiter her-
auszuſchaffen, als: Huſten, Nieſen, Erbrechen, er-
zeugen oft die ſchlimmſten Folgen, gaͤhlinge Erſtickun-
gen, neue Blutanhaͤufungen und Entzuͤndungen, Zer-
reiſſungen, Blutſtuͤrze. Bleibt der Eiter ſtocken,
ſo wird er ſcharf und duͤnn, graͤbt und verſickert ſich
in Hoͤlungen, hindert das Vernarben der Geſchwuͤre,
wird eingeſogen, verdirbt die ganze Leibesbeſchaffen-
heit, und erregt ein hektiſches Fieber. Ueberhaupt al-
le Ausleerungen durch uneigne Weege, wenn z. B.
der Zeitfluß durch die Lunge, die Bruſtwarzen ꝛc. aus-
geleert wird, ſind Folgen irriger Beſtrebungen der
Natur.
Ich verlaſſe nun dieſen Gegenſtand; nicht, weil
ich ihn erſchoͤpft zu haben glaube; ſondern weil in die-
ſem Theile noch vielfaͤltige Gelegenheit ſeyn wird,
das Vermoͤgen und Unvermoͤgen der Natur und der
Kunſt gegen einander abzuwaͤgen.
Zweifel uͤber die Beſtimmung des Unvermoͤgens
der Natur, und Kennzeichen deſſelben.
§. 23.
Bey dieſer Ueberſicht habe ich zwar, ſo gut
ſich’s thun ließ, die zweydeutigen Faͤlle von der Zahl
derjeni-
[275] derjenigen, wo die Natur auf eine oder die andere
Weiſe nichts zu Vermoͤgen ſcheint, ausgeſchloſſen. —
Allein, wer iſt uns Buͤrge, daß dieſes die Grenzen
der Natur ſind? — Wer kennt ſo jede geheime Trieb-
feder, jeden verborgenen Gang der Lebenskraͤfte, wo-
durch ſie die Erhaltung der thieriſchen Haushaltung
zu bewirken ſtreben? — Wer kann mit Zuverſicht
ſagen: Hier liegt die Natur in Ohnmacht; — Hier
wird ſie die Maſchine gewaltſam zerſtoͤhren?
Die Schriftſteller ſind noch immer bemuͤht,
eine groſſe Menge von Zeichen aufzuſtellen, wodurch
wir das Unvermoͤgen der Natur erkennen ſollen. Nebſt
den oben benannten Zufaͤllen, deren Gegenwart ſchon
allermeiſt den Verfall der Natur anzeigen, will ich
hier die gewoͤhnlichſten Erſcheinungen, welche in fieber-
haften Krankheiten einen uͤblen Ausgang drohen, an-
fuͤhren.
Daher gehoͤren: Ein dummer, eingenommener
ſchwerer Kopf, als wenn er mit Bley ausgefuͤllt waͤ-
re; heftige Kopfſchmerzen; Schwindel; Ohrenbrau-
ſen; Taubheit; Verruͤckung des Verſtandes; Verluſt
des Gedaͤchtniſſes, ſo daß man den vertrauteſten
Freund nicht mehr kennt; heftige oder ſtille Verwir-
rung des Hauptes; Irreſeyn, welches mit dem Fieber
in keinem Verhaͤltniß ſteht, beſonders wenn es noch hef-
tig bleibt oder zunimmt, wo der Puls und die Kraͤfte
ſchwaͤcher werden; raſendes Irreſeyn; Irreſeyn, wobey
der Kranke Dinge verabſcheut, die zu ſeiner Erhaltung
noͤthig ſind; Irreſeyn mit Springen der Sennen,
mit konvulſiviſchen Bewegungen in den Haͤnden, den
S 2Augen,
[276] Augen, den Muskeln des Geſichts, des Halſes, des
Kopfs, mit epileptiſchen Konvulſionen, mit Knirſchen
der Zaͤhne; Aufhoͤren des Irreſeyns mit Raſerey oh-
ne Grund; der halbe Schlag; Schlafloſigkeit; Schlaf-
ſucht mit wachenden und geſchloſſenen Augen; ver-
drehte, ſchmuzige, unempfindliche, ſehr empfindliche,
ſehr rothe, gelbe, gruͤne, ſpielende, halbverſchloſſe-
ne, ſtarre, ſehr hervorſtehende, zuruͤckgezogene, tief-
liegende, wider den Willen thraͤnende, unbewegli-
che, in die Hoͤhe gerichtete, ungleiche, glaͤſerne, ſehr
matte und lebloſe, wilde Augen; das Fliegen von
Staͤubchen vor denſelben, und das Sehen der Gegen-
ſtaͤnde, wie durch einen Nebel; oder wenn ſie glaͤn-
zen, ſehr verdunkelt ſind, wie wenn die Hornhaut
mit einer Haut uͤberzogen waͤre; Blindheit, beſonders
am Ende eines hizigen Fiebers; oͤfteres Nießen ohne
Urſache, hauptſaͤchlich in der Hirnwuth, in Bruſtent-
zuͤndungen; ein beſtaͤndig fauler Geruch in der Naſe,
den die umſtehenden nicht ſpuͤren; herunterhaͤngende,
blaue, kalte Lippen und Augenlieder; offenſtehender
oder hartnaͤckig geſchloßner Mund; Mundſchwaͤmme;
herunterhaͤngende Kinnlade; ſehr trockne, rauhe,
kalte, geborſtene, ſtarre, ſteife, unbewegliche, ge-
laͤhmte, geſchwollene, zitternde, ſehr rothe, ganz
ſchlappe, zuſammen geſchruͤmpfte, zuruͤckgezogene,
mit ſchwarzen Schwaͤmmchen beſetzte, bleyfaͤrbige,
laue oder ſchwarze Zunge; Trockenheit des Mundes
und der Zunge ohne Durſt, und bey ſonſt feuchter
Haut; hingegen eine feuchte Zunge mit ſehr ſtarkem
Darſt; Knirſchen mit den Zaͤhnen; beſtaͤndiges Kauen;
unrei-
[277] unreine mit einer ſchwarzen, ſchleimichten Kruſte
uͤberzogene Zunge, Zaͤhne und Lippen; zitternde Zun-
ge, wenn ſie ausgeſtreckt wird, oder Unvermoͤgen,
ſie auszuſtrecken; Ausſpucken der Speiſen, des Ge-
traͤnkes, oder der Arzneyen; Speichelfluß; Eckel;
Erbrechen einer blauen, ſchwarzen, ſtinkenden, fau-
len, blutigen, wie Gruͤnſpann gefaͤrbten Unreinigkeit
mit und ohne Schmerzen; ein mit Gefahr einer Er-
ſtickung und unter dem Trinken mit einem Geraͤuſche
verbundenes Schlingen; Hundskrampf; unwillkuͤhrli-
ches, krampfhaftes Laͤcheln (Riſus Sardonius); Et-
was ungewoͤhnliches in der Sprache; Stammeln;
langſames Antworten; Geſpraͤchigkeit; Haſtigkeit im
Sprechen; gaͤnzliche Sprachloſigkeit; beſtaͤndiges vor
ſich hin Murmlen; ein ploͤzlicher heftiger Appetit;
oder Begierde nach ſauren Speiſen und Getraͤnken,
oder ſonſt ungewoͤhnlichen Dingen; gaͤnzliche Unfaͤ-
higkeit zu Schluͤcken, ohne oͤrtliche Hinderniſſe; hef-
tige Schmerzen der Herzgegend; ein ſchwacher und
muͤhſamer, kleiner ſehr geſchwinder, ſehr kleiner und
langſamer, ſehr langſamer und groſſer, kleiner, ſehr
geſchwinder, ſehr langſamer, ungleicher, hoher, ſehr
tiefer, faſt nur mit den Bauchmuskeln verrichteter,
ſeltner, roͤchlender, ſtinkender, ſehr heißer, kalter, mit
einem beſondern Geraͤuſche verbundener Athem, als
wenn Schleim die Luftroͤhre und Lunge verſtopfte,
oder eine trockne Pergamenthaut hin und her bewegt
wuͤrde; tiefe oft wiederholte, unterbrochene Seufzer;
ein klaͤgliches mit Seufzen verbundenes Athmen waͤh-
rend dem Schlafe, wenn es nicht die Wirkung eines
Trau-
[278] Traumes iſt; das beſchwerliche Athemholen, wobey
der Athem ausbleibt, wo die Muskeln des Halſes,
der Bruſt, und die Naſenfluͤgel heftig bewegt werden;
das unterbrochene Athemholen; wenn der Kranke in
dem Laufe eines hitzigen Fiebers ſchnell beſchwerliches
Athemholen bekoͤmmt, wobey er ſo ſehr beklemmt wird,
daß er in dem Bette in die Hoͤhe fahren, und aufgerichtet
ſitzen muß; Schlucken; beſonders bey Entzuͤndung
des Unterleibs, in Bruͤchen, in der Ruhr, im Mi-
ſerere, nach Erſchoͤpfung der Kraͤfte, nach ſtarken
Blutfluͤſſen; ſchwarzgallichtes Erbrechen; aufgetriebe-
ne, ſehr empfindliche, geſpannte, ſchmerzhafte und
klopfende, ſehr heiße, kalte Hypochondrien; unwill-
kuͤhrlicher Abgang des Harns und des Stuhlgangs;
ganz ſchwarzer Abgang; unmaͤßige, ungeſtuͤmme,
ganz waͤſſerige, unzeitige, ſchmerzhafte, nichts er-
leichternde, ſchwarze, aashafte, blutige, lauchfaͤr-
bige Durchfaͤlle; ein ganz blaſſer, waͤſſerichter, blaß-
gruͤner, ſchwarzer, mit ſchwarzem, ruſtigem Boden-
ſatze, ſehr dunkelrother, ſtinkender und faulſchmecken-
der, vor der Entſcheidung gekochter, chokoladefaͤrbi-
ger, truͤber ſich nicht aufklaͤrender, gefaͤrbter und
doch geſchmackloſer, duͤnner gefaͤrbter, oder ungefaͤrbter
nicht dick werdender, und ein ſchaͤumender, ſeinen
Schaum nicht verlierender Harn; ein hypoſtatiſcher
Harn mit wieder zerfallendem Bodenſatz, oder mit
einer Wolke, die ſich anfangs auf den Boden des
Gefaͤßes ſenkt, allmaͤhlig aber bey den folgenden gelaſ-
ſenen Portionen immer hoͤher ſteigt; und endlich ganz
verſchwindet; unwiſſender Abgang des Harns und
Stuhl-
[279] Stuhlganges; Stuhlzwang; ſchmerzhaftes Harnen;
unzeitige, zu geringe, und zu ſtarke Blutfluͤſſe, durch
alle Ausgaͤnge des Koͤrpers; am Halſe Kopfe; hirs-
foͤrmig ſich aͤußernde, unzeitige, kalte, blos oͤrtliche
unmaͤßige, entkraͤftende, ſtinkende, leichenartige, kle-
brichte Schweiße, inſonderheit auf der Bruſt; hefti-
ge Schweiße im Anfang hitziger Krankheiten; warme,
allgemeine mit einer auſſerordentlichen Schwaͤche,
einem uͤblen Ausſehen, mit Angſt, oder andern ſchlim-
men Zeichen verbundne Schweiße; ein ſchwacher, klei-
ner, und zugleich geſchwinder, oder ſehr geſchwinder
und ſtarker, ſeine Geſchwindigkeit bis auf hundert drey-
ſig oder hundert vierzig in Erwachſenen treibender,
ſehr ungleicher, oft ausſetzender, zitternder, kaum
fuͤhlbarer, huͤpfender, oder aͤußerſt langſamer Puls;
ein zuvor entwickelter, ſtarker oder auch harter Puls,
der jezt klein, weich und ſchwach wird; der wurmfoͤr-
mige, ameiſenfoͤrmige, leere, oder weiche, ſchwache
und zugleich ausgedehnte Puls, beſonders wenn die
Phyſiognomie und die Lage des Kranken damit uͤber-
einſtimmen; ein Hang zu Ohnmachten; haͤufige Ohn-
machten ſelbſt, oder ohnmaͤchtig werden in aufrechter
Stellung, beſonders in boͤsartigen Nervenfiebern,
oder ohne vorhergegangenen groſſen Ausleerungen;
aͤußerlicher Froſt mit innerlicher Hitze und umgekehrt;
oͤftere Schauder; heftige, ziehende, reißende Schmer-
zen in allen Gliedern; groſſe Niedergeſchlagenheit, oder
ungewoͤhnliche H eiterkeit; groſſe Mattigkeit; Zer-
ſchlagenheit in allen Gliedern; heftige Schmerzen im
Ruͤcken, in den Lenden gleich im Anfang der Krank-
heit;
[280] heit; gaͤhlinges Zuruͤcktretten dieſer Schmerzen auf
edle Theile; Unempfindlichkeit des Koͤrpers und der
Seele bey den heftigſten Zufaͤllen; Zittern der Glie-
der und des ganzen Koͤrpers; Zuckungen; Starrſucht;
Laͤhmung uͤber das Kreuz; Fallſucht; blaue Farbe der
Naͤgel, der Lippen, der Augenlieder, der Naſe; eine
ruſtige Schwaͤrze der ganzen wie mit Schmutz bedeck-
ten Haut; allerley Ausſchlaͤge, Frieſel, Petechien und
andere; groſſe Angſt, Unruhe, Bangigkeit, Verzweif-
lung, Beſtuͤrzung; unmaͤßiges Umherwerfen des ganzen
Koͤrpers; Schamloſigkeit; ungeziemende Entbloͤßung
des Koͤrpers; Bemuͤhungen aus dem Bette zu laufen;
Huͤpfen und Kraͤmpfe in den Sehnen der Handwurzel,
des Daumes, oder auch in den ſtaͤrkſten Muskeln, be-
ſonders in jenen, welche den Kopf und Hals bewe-
gen; das Greifen mit den Haͤnden und Fingern auf
dem Deckbette, als wenn die Kranken etwas ſuchten;
Zittern der Glieder; epileptiſche Konvulſionen am En-
de hitziger und langwieriger Krankheiten; Liegen auf
dem Ruͤcken; eine ungewoͤhnte unordentliche Lage, auf
dem Bauche, mit ausgeſtreckten Haͤnden, Kopf, Hal-
ſe; herunter haͤngen der Fuͤſſe aus dem Bette; ſelt-
ſame Verwicklung der Haͤnde und Fuͤſſe; beſtaͤndiges
Herunterſchurren des Koͤrpers zu den Fuͤßen, heftige
Schmerzen an den Fuͤßen, Schenkeln; blaue Strie-
men, oder Flecke und Striemen an dieſen Theilen;
eine mißfaͤrbige, ſchwarze Farbe derſelben; kalte Glied-
maßen; gluͤhende Haͤnde bey kalten Armen, oder
gluͤhende Hitze in der flachen Hand, wobey der Ruͤ-
cken derſelben eiskalt iſt; Entbloͤßen der Haͤnde, Fuͤſ-
ſe,
[281] ſe, des Halſes, der Bruſt, obſchon ſie kalt ſind; Un-
vermoͤgen, ſich aufrecht zu erhalten, oder zu ſitzen;
oder Verlangen, immer aufrecht zu ſitzen, oder
gar herum zu gehen; Erleichterung ohne Grund bey
ſonſt ſchlimmen Zufaͤllen; eine uͤberſpannte Erhoͤ-
hung der Seelenkraͤfte; eine ploͤtzliche Gleichguͤltig-
keit und Gelaſſenheit der Seele; eingefallene Backen
und Schlaͤfe; eine ſehr verſtellte, von der natuͤrlichen
abweichende Geſichtsbildung; ein ungewohnter, bloͤ-
der und banger, ſtierer, ungleicher, fuͤrchterlicher,
trauriger, furchtſamer, zorniger Anblick; das Hippo-
kratiſche Geſicht, das heißet, eine ſpitzige verlaͤnger-
te Naſe, hohle Augen, eingefallene Schlaͤfe, kalte
vorgebogene Ohrenlaͤppchen und Ohren, eine harte,
geſpannte, ausgetrocknete Stirn, eine blaßgruͤne,
ſchwaͤrzliche oder bleyfaͤrbige Geſichtsfarbe, herabhan-
gende Unterlippe; — beſonders wenn dieſe Zeichen am
Ende einer hitzigen Krankheit, die mit bedenklichen
Zufaͤllen verbunden war, und welche die Kraͤfte des
Kranken erſchoͤpft hatten, bemerkt werden. Zu den
ſeltenern rechnet man das Abfaulen und Brandigwer-
den der Naſe, der Lippen, der Naͤgel und ganzer
Glieder, die Mundſperre, den Todenkrampf und die
Waſſerſcheue. Das Ende aller Wirkſamkeit macht ein
Athemholen, welches von Zeit zu Zeit immer ſeltner
wird, bis zum letzten Hauche, der ſich durch abſcheu-
liche, konvulſiviſche Bewegungen in den Muskeln des
Mundes zu erkennen giebt. ꝛc. ꝛc.
§. 24.
[282]
§. 24.
Je mehr nun von dieſen ſchlimmen Zeichen zu-
ſammen treffen, deſto groͤßer iſt die Gefahr. Aber
ſie ſind von ſehr ungleicher Staͤrke, je nachdem ſie bey
verſchiedenen Kranken, Krankheiten, und in verſchiede-
nen Stufen derſelben erſcheinen. So ſind die beſchrie-
benen waͤßerichten, ſchaͤumichten Stuhlgaͤnge, wenn
keine Unreinigkeit zugegen iſt, in entzuͤndlichen Fie-
bern am gefaͤhrlichſten; beſonders wenn ſie ploͤtzlich
und mit Ungeſtuͤmm eintreten; die Kraͤfte zuſehends
und taͤglich mehr abnehmen, der Puls nach jedem
Stuhlgang ſchneller wird, und ſich uͤberhaupt der
Kranke ſchlecht dabey befindet. — In Fleck- und
Frieſelfiebern, in Fiebern bey Kindern, bey großer
Anhaͤufung gallichter Unreinigkeiten in den erſten Wee-
gen iſt eine Art von Schlafſucht nichts ungewoͤhnli-
ches, aber an ſich nichts ſo bedeutendes.*) Der un-
willkuͤhrliche Abgang des Harns und der Stuͤhle,
das Zupfen und Rupfen an den Bettdecken, das Su-
chen und Fangen mit den Haͤnden in der Luft, die
Entbloͤßung des Koͤrpers, die Schaamloſigkeit, man-
che ungewoͤhnliche Lage im Bette ſind zuweilen Wir-
kungen einer leichten Verwirrung des Kopfes, zuwei-
len Gewohnheiten oder Beſonderheiten. Vogel hat
auch ſchmutzige tief liegende Augen ohne andere ſchlim-
me Zeichen geſehen. Halbverſchloſſene Augen mit her-
vorſcheinendem Weißen im Schlafe ſind zuweilen die
Folge von Bauchfluͤſſen, oder weil ſolche Leute auch
in
[283] in geſunden Tagen ſo ſchlafen. Eben ſo hat er mehr-
mal Schluchzen in Fiebern ohne Gefahr bemerkt; es
entſteht nicht ſelten von den haͤufigen Saͤuren, von
zu kalten Getraͤnken, von irgend einer Schaͤrfe, die
den Magenmund reizet, von der Empfindlichkeit der
innern Haut nach abgefallenen Schwaͤmchen; zuwei-
len geht es einem entſcheidenden Bauchfluße vorher;
er hat es auch nach einem ausgebrochenen Wurme
gleich verſchwinden geſehen. Das Aufhuͤpfen der
Flechſen bemerkt man auch in ſonſt gelinden Krankhei-
ten, und ſelbſt in geſunden Menſchen zuweilen bey unru-
higem Schlafe. Bey lebhaften Kindern habe ich oͤfters
im Schlafe das fuͤrchterlichſte Zahnknirſchen geſehen.
Verwirrung des Verſtandes, Hirnwuth, die grauſam-
ſten Beaͤngſtigungen, ungemeine Schwachheiten, ja
Ohnmachten und Zuckungen ruͤhren zuweilen von einer
ſcharfen Galle her. Bey Kindern ſind Zuckungen in
Fiebern nicht ungewoͤhnlich. Die Wuͤrmer verurſa-
chen die fuͤrchterlichſten Verdrehungen der Augen,
Knirſchen mit den Zaͤhnen, Blindheit mit ſehr erwei-
tertem und unbeweglichem Augenſtern. Bey hyſteri-
ſchen Perſonen ſieht man auch zuweilen in Fiebern
Zuckungen, die an ſich von keiner gefaͤhrlichen Be-
deutung ſind. In boͤsartigen, beſonders epidemiſchen
Krankheiten iſt der Puls ſehr oft im Anfang voll.
Bey alten Perſonen iſt der ausſetzende Puls nicht be-
denklich, wenn er auch keine der groͤbern Ausleerun-
gen, als Harn, Stuhl, Erbrechen anzeigt. Der amei-
ſenfoͤrmige Puls iſt, wenn er auf ſtarke Ausleerungen
nach Ohnmachten und hyſteriſchen Anfaͤllen folgt,
oder
[284] oder bey vielem Schleim in der Lunge, oder wenn er
in den wellenfoͤrmigen uͤbergeht, nicht ſehr bedeutend;
gallichte ſcharfe Materien, Wuͤrmer, Gemuͤthsunru-
he, Blutſtuͤrze ꝛc. koͤnnen den Puls ohne große Ge-
fahr ſonderbar veraͤndern; eben ſo wenig bedeuten die
aus aͤhnlichen Urſachen entſtandenen Schwachheiten,
Ohnmachten und Aengſten; kalte Gliedmaſſen, ja
Kaͤlte des ganzen Koͤrpers ſind in der kritiſchen Stoͤh-
rung nicht ſelten ohne alle Gefahr; denn die Kranken
werden wieder nach und nach warm. Die fuͤrchterlichſten
Zufaͤlle der maskirten Wechſelfieber koͤnnen oft leicht
durch die Rinde gehoben werden, da weit geringere
in andern Faͤllen ſehr bedenklich ſind; die konvulſivi-
ſchen Verdrehungen der Augaͤpfel ſind im Anfange
hitziger Fieber, z. B. in Blattern bey weitem nicht
ſo gefaͤhrlich, wie am Ende einer ſolchen Krankheit;
eben dieſes gilt von den epileptiſchen Konvulſionen; ſie
ſind auch in der Kindheit weniger gefaͤhrlich; uͤber-
haupt haben Konvulſionen bey zaͤrtlichen Weibern we-
niger zu bedeuten. Der Ausbruch der Blattern wird
oft durch ein hartnaͤckiges Brechen verkuͤndigt, wel-
ches keine Gefahr wie in andern Krankheiten anzeigt.
Ein faſt brauner, ſchwarzer Urin bey Weib ern, deren
Zeitfluß oder Kindbetterreinigung unterdruͤckt ſind;
bey Milzſuͤchtigen, bey Naſenbluten und der goldenen
Ader, in Fleckfiebern, nach unzeitigen Geburten iſt
von keiner ſo ſchlimmen Bedeutung, ja manchmal ſogar
kritiſch. Die monatliche Reinigung, wenn ſie in den
gewoͤhnlichen Krankheiten erſcheint, iſt bald guͤnſtig,
bald
[285] bald nachtheilig; aber in der Peſt hat ſie eine uner-
ſetzliche Entkraͤftung und den Tod zur Folge. ꝛc. ꝛc. ꝛc.
Ferner hat jede Epidemie ihre Eigenheiten, ſo,
daß in dieſer ein gutes Zeichen iſt, wobey in jener
der Tod nimmer verhuͤtet werden kann. — Gerade ſo
verhaͤlt es ſich mit den guͤnſtigen Zufaͤllen; wenn ſie
in einer Krankheit guͤnſtig ſind, ſo ſind ſie in der an-
dern gewiſſe Vorboten des Todes. — Man bedenke al-
ſo, wie weit der Arzt hinausſehen muß, wenn er, was
immer fuͤr einen Zuſtand, richtig beurtheilen will!
§. 25.
Obſchon alle dieſe Erſcheinungen §. 23. jedem
Arzte aufs genaueſte bekannt ſeyn muͤſſen; ſo haben ſie
dennoch, ohne der Ausnahmen §. 24 zu gedenken, im all-
gemeinen keinen andern Werth, als daß ſie uns das
Unvermoͤgen der Natur uͤberhaupt zu erkennen geben.
Wie erkennen wir aber, worinn eigentlich das Unver-
moͤgen beſtehe, um auf beſtimmte Heilanzeigen gefuͤhrt
werden zu koͤnnen? Die Natur muß unterſtuͤzt wer-
den: aber ſoll man ſtaͤrken oder ſchwaͤchen; reizen
oder ſtumpf machen; naͤhren oder Hunger leiden laſ-
ſen? Soll man das, was die Natur angefangen hat,
vermehren oder unterdruͤcken? — Wir pflegen aller-
meiſt die Bedeutungen der Erſcheinungen nach dem
gluͤcklichen, oder ungluͤcklichen Ausgang zu beurtheilen.
Wiſſen wir aber unfehlbar, warum der Ausgang gluͤck-
lich oder ungluͤcklich war? — Einmal haͤtte man die
naͤmlichen Zufaͤlle, worunter der Kranke ſtarb, be-
guͤnſtigen ſollen, und er waͤre geneſen; ein andermal
haͤtt
[286] haͤtte man diejenigen, unter welchen er genaß, unter-
druͤcken ſollen, und die Geneſung waͤre fruͤher und
vollſtaͤndiger geſchehen. — Folglich ſollte man das,
was vor dem Tode oder der Geneſung hergeht, nicht
als Anzeige zu einem beſtimmten Heilverfahren anſe-
hen. Auch thut dieſes kein guter Arzt. — Aber ich
glaube, wir ſind noch viel zu weit zuruͤck, als daß
wir die Grenzen der Natur beſtimmen koͤnnten. Wird
man einſtens alle eigenmaͤchtigen Kuren der Na-
tur, ihre Unternehmungen und Abſichten mit einem
aͤcht philoſophiſchen Geiſte unterſucht und verglichen
haben, ſo wird man gewiß noch tauſendfaͤltige Wohl-
that, tauſendfaͤltig heilſames Beſtreben entdeken, wo
man jezt noch uͤber Gefahr und Unheil klaget.
Bey der wahren Lungenſchwindſucht z. B. un-
terhaͤlt die Natur ein beſtaͤndiges Fieberchen, deſſen
Verſtaͤrkungen gegen Abend eintreten, und ſich gegen vier
Uhr in der Fruͤhe durch einen Schweiß, welcher auf ei-
nige Zeit zu erleichtern ſcheint, endigen. Unter die-
ſen Umſtaͤnden zehren die Kranken ab, und werden
nach vielen erlittenen Schmerzen und Beaͤngſtigungen
ein Opfer des Todes. Sehr oft, und zuweilen noch
einige Augenblicke vor ihrem Tode haben ſie eine heftige
Eßluſt, und einige ſind dabey zum Beyſchlaf geneigt.
Wenn das Uebel einmal ſeine hoͤchſte Stufe erreicht
hat, ſo entſtehen an verſchiedenen Orten bald mehr
bald weniger anhaltende Schmerzen vorzuͤglich in der
Lebergegend; die Kranken klagen hie und da uͤber ein
klopfendes Brennen auf dem Bruſtbein, woran man
aber allermeiſt keine Veraͤnderung bemerken kann, es
ſeye
[287] ſeye denn, daß die leidende Stelle etwas waͤrmer iſt.
Einige bekommen Stuhlzwang und Harnſtrenge; alle
aber haben eine trockne, brennende, beißende Hitze
in den Flaͤchen der Haͤnde und der Fußſohlen, Ge-
ſchwuͤre im Munde und im Halſe, Halsſchmerzen.
Die Fuͤße werden ſchmerzhaft beſonders uͤber den Ries,
und werden ſo wie die Haͤnde von einer waͤßerichten
teigichten Geſchwulſt verunſtaltet. Einige Tage vor
dem Ende dieſes Elendes verfaͤllt der Kranke in ei-
nen erſchoͤpfenden Bauchfluß, der mehr durch die Zahl
als Menge betraͤchtlich wird; manche werden noch
hie und da von krampfhaften Anfaͤllen des Huſtens
uͤberfallen. — Alle dieſe Umſtaͤnde folgen einer auf
den andern; begleiten den Kranken bis ins Grab,
und bey ihrer Erſcheinung erklaͤren wir ihn ohne An-
ſtand fuͤr verloren, was auch die Erfahrung aller Zei-
ten beſtaͤttigt hat.
Ich frage jezt meine Leſer: Sind alle dieſe Be-
wegungen unnuͤtz? Sind ſie gerade zu ſchaͤdlich? —
Oder ſind es vielmehr Winke einer ohnmaͤchtigen,
kraͤmpfenden Natur, welche von der Kunſt zu erfle-
hen ſcheint, was ſie nicht mehr zu leiſten vermag. —
Wir ſind vielleicht nirgendwo beſſer mit der
Natur bekannt, als in der Gicht, den Wechſel- und
Reinigungsfiebern, und in den Pocken. Sehen wir al-
ſo, wie ſie ſich hier verhaͤlt, wenn ſie in Ohnmacht
liegt.
Bey der herumziehenden Gicht, wo die Gicht-
materie aus den tiefen Orten ihres Aufenthalts wieder
eingeſogen werden muß, dauert der Gichtanfall ſehr
lange
[288] lange, und iſt die ganze Zeit uͤber mit einem ſchwa-
chen ſchleichenden Fieber verknuͤpft. Kurz vor den
Gichtanfaͤllen aͤußert ſich ebenfalls eine ſtarke Eßluſt,
und die Scherheit des Kranken ſteht mit der Heftig-
keit des Schmerzens in den Fuͤſſen in geradem Ver-
haͤltniſſe. Daß hier dieſes ſchleichende Fieberchen
Wohlthat iſt, weiß man gewiß; und anſtatt es zu
unterdruͤcken, muß es durch erweichende, reizende
Mittel von Auſſen, und innerlich durch ſcharfe Mit-
tel in ſtarken Gaben, als Quajakgummi zu dreißig
bis vierzig Gran mit einem Eydotter oder arabiſchem
Gummi aufgeloͤſet und auf einmal dargereichet, be-
foͤrdert werden. — Die gewoͤhnlichen Schleimfieber ſind
theils nur deßwegen ſchleichend und unordentlich, weil
die Lebenskraͤfte nicht hinlaͤnglich gereizt werden; theils
ſind ſie es nur ſo lange, als der zaͤhe Schleimſtoff
unbeweglich, und die Natur kraftlos iſt. — Bey ver-
ſtopften Eingeweiden aͤuſſern ſich ſo lange zu wieder-
holten Malen fieberhafte Zufaͤlle, als bey nicht gehoͤ-
rig entwickeltem Unrath und fortdauernder Unwirkſam-
keit der Natur keine vollſtaͤndigen Fiebererſchuͤtterun-
gen moͤglich ſind. Macht man aber eine groſſe Men-
ge der Anſchoppungen beweglich, und unterſtuͤzt die
Kraͤfte mit bittern, reizenden und ſtaͤrkenden Din-
gen, ſo werden bald die Anfaͤlle ausgebildet, deut-
lich, — und ſind dann ein vollgiltiger Beweis, daß
die Natur bey den erſten, zwar unangenehmen, frucht-
loſen und ermattenden Fieberbewegungen dennoch die
beſte Abſicht hatte. Hat man in einer etwas hefti-
gern Unreinigkeitskrankheit mit unzeitigen Ausleerun-
gen
[289] gen aller Art zu ſehr geſchwaͤcht, ſo behaͤlt er lange
Zeit ein ſiechendes Leben, und verfaͤllt endlich in ein
wahres hektiſches Fieber. So bald man aber die
Kraͤfte erweckt, ſo entſtehen einige kraftvolle Be-
wegungen, welche die zuruͤckgebliebenen Entſcheidun-
gen vollſtaͤndig zu Stande bringen, und der Kranke
geneſet. Alſo auch hier waren die laͤſtigen, erſchoͤ-
pfenden, fieberhaften Zufaͤlle nichts anders, als ohn-
maͤchtige Verſuche einer kraftloſen Natur. Ferner
hat man zahlreiche Beyſpiele, wo der Natur endlich
durch eine gute Mahlzeit aufgeholfen worden iſt. Es
ſeye nun, daß die Lebenskraft dadurch wirklich
geſtaͤrkt, oder durch den unverdauten Stoff zu hefti-
gern Bewegungen angereizt worden ſey, ſo iſt es doch
gewiß, daß manchmal die hartnaͤckigſten Wechſelfie-
ber auf dieſe Weiſe gehoben werden; der nun erfol-
gende naͤchſte Anfall uͤbertrift alle vorhergehenden bey
weitem an Heftigkeit. Eben dieſes ereignet ſich ſehr
oft nach den erſten Gaben der Fieberrinde. Entwe-
der bleiben die Anfaͤlle jezt aus, oder ſie nehmen ei-
nen regelmaͤßigen Gang an. — Sehr ſchwaͤchliche
Kinder werden oft nach der Anſteckung vom Blattern-
gift mehrere Wochen von einem ſchleichenden Fieber-
chen geplagt, bis endlich die Natur den Ausbruch zu
Stande bringt. Selbſt wenn die Impfſtiche gar zu
ſeicht gemacht werden, ſchleppen ſich manchmal ſol-
che Kinder bis auf den vierzehnten oder zwanzigſten
Tag hinaus, ehe die Blattern auf der Haut erſchei-
nen. — Das von Einſaugung des Blatterneiters ent-
ſtandene hektiſche Fieber pfleget ſich am gewoͤhnlichſten
Gall I. Band Tdurch
[290] durch den Harn oder Geſchwuͤre zu loͤſen. Schon
Stahl hat die harntreibenden Mittel in der Lungen-
ſchwindſucht empfohlen; ich gab ſie mit erfolgendem
haͤufigen, eitrichten Bodenſaz und auffallender Erleich-
terung, obſchon ich nie die Heilung bewirken konnte.
Der Nutzen der Eicheln, welche ebenfalls, nebſtdem,
daß ſie ſtaͤrken, vorzuͤglich auf die Harnwege wirken,
iſt in vielen Faͤllen auſſer Zweifel geſetzt. Wie die
Natur zuweilen den Eiter durch den Harn oder die
Stuͤhle ausleere, habe ich §. 5. gezeigt. In wie
genauer Verbindung die Fuͤße mit der Bruſthoͤhle ſte-
hen, und wie durch die brennende Hitze der Gliedmaſ-
ſen, durch die Smerzen an verſchiedenen Stellen der
Eiter gerade ſo, wie durch ein kuͤnſtliches oder natuͤr-
liches Geſchwuͤr angelockt werden koͤnne, werden wir
beſſer unten ſehen. Vielleicht hat die Natur die naͤm-
liche Abſicht bey den Mundſchwaͤmmen, welche faſt
immer bey innerlichen Eiterungen zugegen ſind. Daß
aber alle dieſe Weege erwuͤnſchter waͤren, als der ge-
woͤhnliche, naͤmlich durch den Auswurf, iſt, wird
Niemand leugnen, der bedenkt, daß die dazu noͤthi-
gen Erſchuͤtterungen durch den Huſten den oͤrtlichen
Reiz in der Lunge vermehren; daß im entgegengeſetzten
Falle der Eiter die Lunge verſchone, und folglich das
Geſchwuͤr zur Heilung faͤhig gemacht werden koͤnne.
Die Fieberverſtaͤrkungen, nebſtdem, daß ein Theil
der unverdauten rohen Materie dadurch fortgeſchaft
wird, koͤnnen ebenfalls ihre gute Abſicht haben. So
lange bey einem Geſchwuͤre die Raͤnder ſchwielig ſind,
und aus Kraftloſigkeit nicht geſchmolzen werden koͤn-
nen
[291] nen, ſo lange iſt keine Heilung moͤglich; werden ſie
hingegen mittelſt eines ſtaͤrkern Fiebers, eines gewiſ-
ſen Grades von Entzuͤndung, durch Erſtattung der
Kraͤfte geſchmolzen, ſo heilet man das Geſchwuͤr ſehr
leicht.
Was ſollen wir jezt von den Erſcheinungen in
der Lungenſucht denken? — Ich bins zufrieden, wenn
ich einſtweilen die Meynung, daß dergleichen Zufaͤlle
deßwegen nachtheilig ſind, weil nur aͤußerſt ſelten
nicht der Tod darauf folget, entkraͤftet habe. Und
ſo verhaͤlt es ſich durchgaͤngig bey Beurtheilung alles
deſſen, was in Krankheiten vorgeht, deren Natur
und Verlauf uns nicht aufs genaueſte bekannt ſind.
Darum wollten die Aerzte in der von Sims beſchrie-
benen Epidemie, und Sydenham ſelbſt eine Betaͤu-
bung heben, die nichts weniger als gefaͤhrlich war;
darum unterdruͤckt man Fieber, ſtillet Schmerzen
und Kraͤmpfe, iſt auf alle Art beſchaͤftigt, den traͤ-
gen Umlauf der Saͤfte zu beſchleunigen, einen tiefen
Schlaf zu verſcheuchen, laͤßt die innern Antriebe der
Kranken unbefriedigt, oder befolgt ſie blindlings; da-
rum wird man ſo oft von einer betruͤgeriſchen Ge-
lindigkeit der Zufaͤlle getaͤuſcht; erwartet und verhei-
ßet Geneſung, wo der Tod in der naͤhe iſt; da man
indeſſen wieder ein andermal voll Verzweiflung den
Kranken verlaͤßt, der uns Morgen, frey von allen Zu-
faͤllen, entgegen laͤchelt.
Was giebt es denn nun fuͤr ein Mittel, das
Gute und das Schlimme in einer Krankheit von ein-
ander zu unterſcheiden? — — Die Erfahrung,
T 2wird
[292] wird man ſagen. — Man hat recht. — Aber Erfah-
rung koͤmmt dem Menſchengeſchlecht theuer zu ſtehen.
Wer kann alles erfahren, oder was andere erfahren
haben, wiſſen? Erfahren iſt die groͤſte Kunſt, das
Meiſterſtuͤck des menſchlichen Verſtandes; man kann
fuͤnfzig Jahre lang unendlich viel geſehen, geheilet
und getoͤdet haben, ohne daß man ein einzigmal gut
beobachtet, und richtig erfahren haͤtte. Zu dem wird
auch jungen Aerzten die Aufſicht uͤber Leben und Tod
anvertraut.
Ich glaube, der einfachſte und zuverlaͤßigſte
Weeg waͤre, wenn wir die Triebfedern der Natur-
kraͤfte des Menſchen kennten; wenn wir mit den Be-
dingniſſen, mit den unentbehrlichen Erfoderniſſen ver-
traut waͤren, ohne welche die Lebenskraͤfte nichts,
mit welchen ſie aber alles vermoͤgen. — — —
Dann wird man ſagen koͤnnen: So lange die Grund-
ſtuͤtzen der Natur unerſchuͤttert ſind; ſo lang ihre
Triebfedern die gehoͤrige Schnellkraft haben: So lan-
ge wirkt ſie thaͤtig und heilſam; — Aber ſie leidet, und
alles zielet zum Untergang, ſo bald dieſe angegriffen
oder zerſtoͤhrt ſind.
Ich will es alſo verſuchen, dieſe Grundſtuͤtzen
in den vielfaͤltigen Naturerſcheinungen des Menſchen
aufzuſuchen. Um aber den Blick des Leſers auf einen
beſtimmten Gegenſtand feſt zu heften, will ich ſie als ab-
gezogne Erfahrungsſaͤtze voraus ſchicken, denen ich die
Thatbe[w]eiſe, als eben ſo viele Quellen ihrer Ent-
ſtehung, nachtragen werde.
Drit-
[293]
Dritter Abſchnitt.
Von den wichtigſten Erforderniſſen zur
Wirkſamkeit der Natur.
Erſter Erfahrungsſatz.
Das erſte Erforderniß zur Wirkſamkeit der Natur
iſt eine gute Leibesbeſchaffenheit.*)
§. 26.
Unter Wirkſamkeit der Natur verſtehe ich hier
jenes Beſtreben der Naturkraͤfte des Menſchen, wo-
durch die Krankheiten theils abgehalten, theils geheilt
werden. Je vollſtaͤndiger der Menſch den Krankheits-
urſachen durch innere Kraft widerſteht, je leichter er
ihren Einfluß uͤberwindet, deſto wirkſamer iſt ſeine
Natur.
In Cooks Reiſebeſchreibungen werden die Ge-
ſundheit und die Folgen derſelben durch folgende That-
ſachen dargethan: “So vielfaͤltig, heißet es, wir
die Neuſeelaͤnder beſuchten, ſo haben wir gleichwol
nie eine Perſon gefunden, die mit einer Krankheit be-
haftet
[294] haftet geweſen waͤre, oder ſonſt ein koͤrperlich Ge-
brechen an ſich gehabt haͤtte: Auch ſahen wir unter
der groſſen Menge derer, die wir nackt geſehen hat-
ten, nicht das geringſte von Ausſchlaͤgen der Haut,
noch ſonſt eine Art von Merkmal, dergleichen Ge-
ſchwuͤre oder Ausſchlaͤge hinter ſich zu laſſen pflegen.
Ein anderer Beweis ihrer Geſundheit iſt dieſer, daß
ihre Wunden ſo leicht heilen, wie ſich theils aus den
Narben der alten, theils aus dem guten Zuſtande
derer, die waͤhrend unſers Hierſeyns erſt friſch ge-
macht waren, abnehmen ließ. Als wir den Mann
wieder zu ſehen bekamen, der mit einem Musketten-
ſchuß durch die fleiſchichten Theile des Armes war
verwundet worden, ſchien ſeine Wunde ſo gut dige-
rirt, und ihrer vollkommenen Heilung ſo nahe zu ſeyn,
daß, wenn wir nicht gewuſt haͤtten, daß nichts darauf
gelegt worden war, wir uns gewiß ſogleich mit der
eifrigſten Wißbegierde nach den Wundkraͤutern und
nach der Wundarzneykunde wuͤrden erkundiget ha-
ben.„ — In Othahiti ſahen ſie einen Mann, deſ-
ſen Geſicht durch einen Zufall ganz auſſer aller natuͤr-
lichen Form gebracht worden war. Die Naſe ſammt
ihren Beinen war vollkommen flach, und eine Backe
und ein Auge waren dergeſtalt eingeſchlagen, daß man
eine Mannsfauſt hineinlegen konnte; dennoch war
kein Geſchwuͤr uͤbrig geblieben. Ihr Reiſgefaͤhrte
Tupia war ehemals mit einem Speer, deſſen Spitze
aus der Graͤte eines Stechrochens beſtanden hatte,
dergeſtalt durchbohrt worden, daß das Gewehr ihm
in den Ruͤcken eingedrungen, und vorne hart unter
der
[295] der Bruſt wieder herausgekommen war. Der Ver-
faſſer ſetzt aber ſehr richtig hinzu: Wenn man die
bey Verrenkung und Beinbruͤchen erfoderliche Wieder-
einrichtung der Glieder ausnimmt, ſo kann der ge-
ſchickteſte Wundarzt nur ſehr wenig zur Heilung der
Glieder beytragen. Das Blut ſelbſt iſt der beſte
Wundbalſam, und wenn die Saͤfte des Koͤrpers rein
ſind, und der Kranke maͤßig iſt, ſo braucht die Na-
tur zur Heilung der gefaͤhrlichſten Wunden weiter kei-
ne Beyhilfe, als daß der Schaden rein gehalten wer-
de. — Sie ſchlachteten eine Schildkroͤte, die den Tag
uͤber verzehrt werden ſollte; als ſie aufgeſchnitten
wurde, fand man, daß ihr ein hoͤlzerner Harpun durch
beide Schultern gegangen war, und noch darinn ſteck-
te: Dieſes Gewehr war ungefaͤhr eines guten Fin-
gersdick, fuͤnfzehn Zoll lang, und am Ende mit Wi-
derhacken verſehen. Das Fleiſch war uͤber den Har-
pun vollkommen zuſammen gewachſen. — Sie ſahen
in Neuſeeland eine groſſe Menge alter Leute; viele
von den Greiſen ſchienen ſehr alt zu ſeyn, indem ſie
bereits ihre Haare und Zaͤhne verlohren hatten; aber
des hohen Alters ungeachtet war dennoch keiner der-
ſelben kraftlos; und wenn ſie gleich nicht mehr ſo viel
Lebensſtaͤrke beſaßen, als junge Leute, ſo gaben ſie
dieſen doch an Heiterkeit und Munterkeit nicht das ge-
ringſte nach. Dieſes Volk iſt alſo gar keinen Krank-
heiten unterworfen, und bedarf keiner Aerzte.
Da hingegen die Othahitier durch Ruhe, Ue-
berfluß an Nahrung, und den zuͤgelloſen und fruͤh-
zeitigen Beyſchlaf einen Theil ihrer urſpruͤnglichen
Staͤrke
[296] Staͤrke verlieren, ſo ſind ſie auch einigen Unpaͤßlich-
keiten preis gegeben. Das Beduͤrfniß der Arzneykun-
de iſt aber noch ſo wenig dringend, daß die Aerzte
ſich mit bloßen Zeremonien den Krankheiten entgegen
ſtellen. Waͤhrend ihrem Aufenthalte auf dieſer In-
ſel ſahen die Hr. Reiſenden keine gefaͤhrlichen Krank-
heiten, und uͤberhaupt nur wenig Unpaͤßlichkeiten,
die hauptſaͤchlich nur in zufaͤlligen Ausſchlaͤgen, der
Kolik beſtanden. Indeſſen ſind die eingebohrnen doch
mit dem Rothlaufen, mit kraͤtzigen, ſchuppichten Aus-
ſchlaͤgen, die einem foͤrmlichen Ausſatze ſehr nahe
kommen, behaftet. Sie ſahen auch einige wenige
unter dieſen Leuten, welche an verſchiedenen Theilen
des Leibes Geſchwuͤre hatten, deren einige ſehr boͤs-
artig zu ſeyn ſchienen; allein diejenigen, ſo damit
behaftet waren, achteten ſolche, allem Anſehen nach
fuͤr Kleinigkeiten; denn ſie ließen dieſelben ganz bloß,
und verwahrten ſie nicht einmal gegen die Fliegen.
Der Verfaſſer glaubt, dieſes ließe ſich dadurch er-
klaͤren; daß die aus ihrer vegetabiliſchen Nahrung
entwickelte fixe Luft alle ihre Gefaͤße, beſonders d [...]
erſten Weege erweitere; daß ihre Verdauungsſaͤfte
durch das haͤufige Salzwaſſer zur Aufloͤſung einer haͤu-
figen Speißmaſſe geſchickter, die erweiterten Gefaͤße
aber durch den vielen und guten Nahrungsſaft wieder
geſtaͤrkt, und ſo die innern Theile in jenen Zuſtand
der Kochung und Schnellkraft gebracht werden, wo
ſie faͤhig ſind, alle etwannige Unreinigkeiten nach den
aͤußern Theilen zu werfen, wodurch die Rothlauf,
Ausſchlaͤge, Geſchwuͤre zwar entſtehen, die innern
Theile
[297] Theile aber in einem ſteten Zuſtande der kernichten
Geſundheit erhalten werden.
Eben dieſes berichtet Ruſh von den India-
nern.*) Sie ſind bey ihrer rauhen Lebensart wohl
gebildet, groß, haben regelmaͤßige Geſichtszuͤge und
feurige Augen, Zeichen einer dauerhaften Geſundheit
und eines ſtarken Koͤrpers. Daher haben ſie nie
den Scharbock, oder andere Krankheiten, die ihren
Grund in einer Verderbniß der Saͤfte haben, nie die
Peſt. Ruſh hat nur von zwey oder drey gehoͤrt, wel-
che vom Podagra befallen waren, und dieſe hatten
den Gebrauch des Rhums von den Europaͤern gelernt.
Wurmkrankheiten haben ſie keine, obſchon ſie faſt al-
le Wuͤrmer haben, welche aber nur bey ſchwaͤchlichen
Koͤrpern Krankheiten erzeugen. Auch das Zahnen
macht ihnen keine Unbequemlichkeit, wie man dieſes
gleichfalls bey uns an geſunden Kindern von geſunden
Eltern bemerkt. Die Fieber, Beweiſe von wirkſamer
Natur, das Alter, zufaͤllige Urſachen und der Krieg
ſind die einzigen Werkzeuge des Todes unter ihnen.
Sie entziehen ihren Kranken alle reitzende Nahrung;
geben ihnen viel kaltes Waſſer; machen ſie ſchwitzen;
geben hie und da Abfuͤhrungen und Brechmittel; ver-
anſtalten oͤrtliche Blutlaͤßen, und legen bey heftigen
Schmerzen ein faules brennendes Holz auf den Theil,
und laßen ein Loch in das Fleiſch brennen. Ruſh
vermuthet, daß ihre nachlaßenden Fieber keine andern
Mittel erfordern, als das kalte Baad und die friſche
Luft
[298] Luft. Ihre Wunden und Beinbruͤche heilet die Na-
tur allein. Geſchwuͤre, die ſich nur durch Queckſil-
ber, die Fieberrinde, und eine beſondere Handhabung
heilen laſſen, ſind den Indianern unbekannt. Dieſe
leichte Heilung ihrer Krankheiten erhalten die Zaube-
reyen, ſo wie bey den Othahitern die Zeremonien, in
ihrem Werthe. So ſchlecht aber auch ihre Heilkunde
beſchaffen iſt, ſo ſterben doch bey ihnen uͤberhaupt,
verhaͤltnißweiſe weniger, als bey geſitteten Voͤlkern.
Man findet viele alte Indianer, und das Alter ſcha-
det auch ſelten ihren Seelenkraͤften.
Ganz anderſt ſind ſolche Voͤlker daran, deren
Leibesbeſchaffenheit durch was immer fuͤr Veranlaſ-
ſungen zerruͤttet iſt. Ich uͤbergehe alles, was Hip-
pokrates im Buche von der Luft, dem Waſſer und
den Gegenden geſagt hat, obſchon jede Zeile, beſon-
ders die Geſchichte der Einwohner von Colchis und
Scythien meinen Satz beweiſet, weßwegen ich das
Leſen deſſelben meinen Leſern ſehr empfehle. — Unter
den Neuern ſagt Black: Im heiſſen Sommer, und
in den Herbſtjahrszeiten Europens, in den niedrigen
ſumpfichten Gegenden, wie zum Beiſpiel in Italien
und Ungarn, wo die Sommer heiß und lang ſind;
und in dem noͤrdlichen Moraſt Holland iſt das nach-
laſſende Fieber die epidemiſche Plage. Im Lager
liegende Armeen werden oft in dieſer Jahrszeit er-
ſchrecklich, ſowohl mit ihm, als mit der Ruhr befal-
len. In England und Irrland ſind dieſe Fieber auch
haͤufige und toͤdtliche epidemiſche Krankheiten; und
ſie ſchraͤnken ſich nicht bl[o]s auf die Sommerjahrszeit
ein
[299] ein. Selbſt in ſehr trocknen Laͤndern und Gegenden
auſſer den Wendezirkeln nach einem ungewoͤhnlich trock-
nen Sommer mit langer anhaltender Hitze ſehen wir
oft ſolche Fieber und Bauchfluͤſſe. Die Saͤfte werden
alsdann, ſagt Pringle, verdorben, und die feſten
Theile erſchlaffet. Und bey einer ſolchen Anlage im
Koͤrper koͤnnen Unregelmaͤßigkeit in der Diaͤt, naſſe
Kleider, und feuchte Luft einen ſolchen verborgenen
Krankheitsſtoff in Wirkſamkeit ſetzen. Auf jener klei-
nen ſuͤdlichen mittellaͤndiſchen Inſel, welche von Cleg-
horn beſchrieben iſt, wo der Boden felſicht, aber die
Sommerhitze auſſerordentlich heftig iſt, haben ſolche
Fieber mit großer Grauſamkeit gewuͤtet ꝛc. ꝛc.*)
So nehmen die Krankheiten eines Volkes zu
oder ab, je nachdem es zu einer beſſern oder ſchlech-
tern Leibesbeſchaffenheit uͤbergeht. Noch zu Syden-
hams Zeiten waren die meiſten Krankheiten Fieber,
die jezt zum Theil ſeltner geworden ſind, ſo wie Schwel-
gerey und Entkraͤftung zugenommen haben. Die noch
uͤbrig ſind, ſagt Ruſh, ſind mit neuen Krankheiten
ſo verwickelt, daß man nicht weiter entdecken kann,
in wie fern ſie von beſonderer Witterung und beſon-
dern Jahrszeiten abhaͤngen. Die Entzuͤndungen der
Lunge und des Bruſtfells, die Entzuͤndungsfieber ſtar-
ker Koͤrper verlieren ſich jezt in Fluͤſſe und Katharre,
die, ohne die Kraͤfte der Natur zu einem offenbaren
Kampfe herauszufodern, die Geſundheit allmaͤhlig un-
ter-
[300] tergraben, und eine unheilbare Auszehrung verurſa-
chen. — Man vermuthet mit Recht, daß ſich das
Podagra in wenig Jahren in die Hippochondrie, Mut-
terbeſchwerden und Gallenkrankheiten, welche ohnehin
alle Tage uͤberall allgemeiner werden, verlieren wird,
da auch ſchon in Deutſchland die regelmaͤßigen An-
faͤlle deſſelben ſeltner werden. — Wo Frank von der
Unempfindlichkeit unſerer Voreltern gegen verſchiedene
auf uns heftiger wirkende Urſachen der Krankheiten
redet, ſagt Er: „Unter Vorausſetzung einer beſondern
Lebensart unſerer Vaͤter, die ſich durch beſtaͤndigen
Wechſel ihrer Wohnungen wider den Einfluß jeder
veraͤnderten Atmoſphaͤre auf ihre weniger empfindlichen
Leiber haͤrteten, war eine feuchte ſumpfichte Gegend
das nicht, was ſie ihren verzaͤrtelten Enkeln iſt.*)
Die Hippochondrie, die Unverdaulichkeiten, Blaͤhun-
gen, vermehrte Reitzbarkeit, Kraͤmpfe, Blutſpeyen,
Schlagfluͤße, Auszehren ſchreibt er der groſſen Ver-
zaͤrtlung zu. Es ſterben jezt jaͤhrlich mehr Kinder,
ſagt er, als ehemals an den Pocken; da, wo vor-
malen von fuͤnfzehn eines ſtarb, jezt ſich ſelbſt uͤber-
laſſen das zwoͤlfte ſtirbt. Die Zuckungen und das Zah-
nen entziehen nach Londner Liſten jezt dreimal mehr
Kinder, als vor hundert Jahren; und auch in we-
niger groſſen Staͤdten als die engliſche Hauptſtadt.
In Berlin, Breßlau hat man ein gleiches beobachtet,
weil naͤmlich die Schwaͤche erſchoͤpfter Eltern mehr und
mehr auf ihre Nachkommenſchaft fortgepflanzt wird.
Aus
[301] Aus dergleichen Erfahrungen macht er den Schluß:
daß das menſchliche Geſchlecht an ſeiner guten Be-
ſchaffenheit viel bisher verloren habe, und das allge-
meine Geſundheitswohl gegen jenes aͤlterer Zeiten in
gewiſſer Abnahme ſey, indem die Dauer unſers Le-
bens vorzuͤglich auf der urſpruͤnglichen guten Beſchaf-
fenheit unſers Koͤrpers ruhe.
Es iſt alſo gewiß, daß der betraͤchtlichſte Un-
terſchied zwiſchen den Krankheiten geſitteter und roher
Voͤlker, alter und neuer Zeiten, aus der beſſern oder
ſchlechtern Leibesbeſchaffenheit entſpringe. Und dieſes
iſt auch die Quelle jener unzaͤhlbaren Widerſpruͤche,
die man bey den Schriftſtellern in Hinſicht des Ver-
laufes, der Dauer, der Zufaͤlle, und der Heilanzeigen
zu verſchiedenen Zeiten und bey verſchiedenen Voͤlkern
antrift.
Dieſe Betrachtungen, beſonders wenn ſie wei-
ter ausgedehnt wuͤrden, koͤnnten vorzuͤglich dazu die-
nen, den Antheil der Wirkſamkeit oder des Unvermoͤ-
gens der Natur bey jeder Krankheit zu beſtimmen.
Wenn wir zum Beyſpiele ſehen, daß die erſten Fol-
gen, einer vom hoͤchſten Grade der Vollkommenheit
abweichenden Leibesbeſchaffenheit, allerlei Auswuͤrfe auf
der Oberflaͤche des Koͤrpers, und gewiſſe Gattungen
Fieber ſind, ſo doͤrfen wir in dieſen Ausſchlaͤgen und
Fiebern noch das meiſte von der Thaͤtigkeit der Na-
tur erwarten, und umgekehrt. Auch laͤßt ſich dadurch
die Stuffenfolge der Krankheiten einem jeden Volke
eben ſo ſicher weiſſagen, als man den Gang ſeiner
Sitten und ſeiner Lebensart zum voraus beſtimmen koͤnn-
te.
[302] te. Ausſchlaͤge, zum Beyſpiel, hitzige Fieber und
Wechſelfieber werden die erſten Krankheiten der Neu-
ſeelaͤnder ſeyn; ſo wie ein hoͤherer Grad von Verfei-
nerung, oder vielmehr von Verderbniß der Sitten
und der Lebensart, unſere jetzigen Fieber, durch Er-
zeugung neuer Uebel, Nervenfieber, Hippochondrie,
Mutterbeſchwerden, Abzehrung, u. ſ. w., gegen wel-
che die erſchoͤpfte Natur nur wenig oder nichts ver-
mag, ausrotten wird. — Ein fruchtbares Feld fuͤr
denkende Aerzte!
§. 27.
Da mir viel daran gelegen iſt, daß die Wahr-
heit meines aufgeſtellten Erfahrungſatzes in ihrem gan-
zen Umfange eingeſehen werde, ſo entlehne ich aus
Grants Beobachtungen uͤber die chroniſchen Krank-
heiten einen Vergle [...]ch, den er zwiſchen einem geſun-
den, ſtarken und ſchwaͤchlichen Menſchen angeſtellt hat,
und der zugleich die vorzuͤglichſten Kennzeichen einer
guten Leibesbeſchaffenheit enthaͤlt: — Ein ſtarker, ge-
ſunder, abgehaͤrterter Menſch iſt mager, hat ein gera-
des und nicht fettes Geſicht, ſtarke Glieder und keinen
hervorragenden Bauch; ſeine Haut liegt nur ganz lo-
cker an dem Fleiſche an, und iſt rauch und haaricht;
die Haut auf dem Kopf iſt ſo beweglich, daß er
die Naſe, Stirne und Ohren ziemlich bewegen kann.
Er hat ſtarke hervorragende Backenbeine, und alle
ſeine Muskeln ſind hart, hervorragend und ungleich;
die zuruͤckfuͤhrenden Adern ſind groß und voller Win-
dungen; die Knochen kurz, feſt und hart, und die
Ge-
[303] Gelenke klein: allein die aͤußern Glieder ſind im Ver-
haͤltniß zu ſeiner ganzen Groͤße und Geſtalt ſehr dick.
Wenn man den Koͤrper eines ſolchen Kranken
nach dem Tode oͤffnet, ſo findet man, daß der Ma-
gen und die Gedaͤrme klein, mit dicken Haͤuten ver-
ſehen und fleiſchicht ſind. Die Leber, die große Ma-
gendruͤſe und die Nieren ſind klein und glatt, aber
doch dicht und feſt; das Netz iſt duͤnn, kurz und
ſchmal; die Muskeln des Unterleibes ſind dick, her-
vorragend, kurz und nach innen zu ſo eingebogen,
daß der Unterleib dem aͤuſſerlichen Anſehen nach ganz
glatt, und die Bruſt groß, vorragend, und rund iſt.
Die Lungen ſind groß, und wenn ſie mit Luft
angefuͤllt werden, ſehr elaſtiſch. Von einer eben ſo
betraͤchtlichen Groͤße ſind auch das Herz und die groſ-
ſen Blutgefaͤße. Der Hals iſt kurz, dick und mus-
kulloͤs; die Hirnſchale groß, rund, feſt, hart, und,
die Stellen ausgenommen, wo ſich Muskeln in ſolche
hineinſenken, ſehr duͤnne; an dieſen Stellen aber iſt
ſie ſo dick, daß ſie Knoten und laͤnglichte Erhaben-
heiten bildet. Das Gehirn iſt ſehr groß, und die
Nerven ſind dicke; die Zaͤhne ſind kurz, weis, glatt
und ſtehen dicht an einander, und das Zahnfleiſch iſt
feſt und geſund.
Daher haben hart und rauh erzogene Perſonen,
obgleich ihr Geſicht, Gehoͤr, Geruch und Geſchmack
ziemlich ſcharf ſind, doch nur ein ſtumpfes Gefuͤhl,
und ihr Nervenſyſtem wird nicht leicht bewegt: denn
ſie ertragen Schmerz, Kaͤlte, Hunger und ſchwere
Ar-
[304] Arbeit mit wunderbarer Standhaftigkeit, und erholen
ſich bald wieder von einer groſſen Ermuͤdung.
Die Koͤrper ſolcher Perſonen ſind leicht; ihre
Bewegungen geſchehen geſchwind, und ihr Athem iſt
gut, nicht uͤbel riechend, obſchon ſie ſich nach der
Mahlzeit den Mund und die Zaͤhne nicht ausſpuͤhlen;
auch ihr Koͤrper hat keinen uͤblen Geruch, ob ſie gleich
nur ſelten weiße Waͤſche anziehen. Die Krankheiten,
denen die Koͤrper von dieſer Art unterworfen zu ſeyn
pflegen, ſind gar nicht zahlreich, aber heftig, kurz
und gefaͤhrlich. Unterdeſſen erfolgt doch bey denſel-
ben, wenn die Krankheit einen gluͤcklichen Ausgang
nimmt, eine vollkommene Kriſis, und die Geneſung
iſt in dieſem Falle ganz vollſtaͤndig. Sie ſind gemei-
niglich zu Verſtopfungen geneigt, und thun zuweilen
ſtarke Mahlzeiten, obſchon ſie ſich nie uͤber Blaͤhungen
oder Unverdaulichkeit beklagen.
Ihre Munterkeit iſt maͤßig, aber ſie ſind ſich
hierinn immer gleich. Sie ſind keinen Nervenkrank-
heiten unterworfen. Und in der That ſind ihre Ner-
ven ſtark, ihre Begierden ſehr eingeſchraͤnkt, und ih-
re Beduͤrfniſſe ganz und gar nicht zahlreich. Daher
ſind ſie oft unempfindlich, unwiſſend und doch vergnuͤgt;
ihre Gemuͤthskraͤfte ſind mehr gruͤndlich, als ſchnell.
Sie haben aber eine gute natuͤrliche Einſicht und ein
gutes Gedaͤchtniß. Dieſe Feſtigkeit ihres Nervenſy-
ſtems haben ſie diejenigen Unerſchrockenheit, Beſtaͤn-
digkeit und Geduld zuzuſchreiben, mit welcher ſie oh-
ne Verdruß alle Abwechslungen von Hitze, Kaͤlte,
Naͤße, Trockenheit, Ruhe, Ermuͤdung, Uberfluß,
Man-
[305] Mangel, Gluͤck und Ungluͤck ertragen. Alle ihre Lei-
denſchaften ſind nur ganz ſchwach, gleichfoͤrmig und
dauerhaft.
Betrachten wir nun den Einfluß eines uͤppigen
Lebens: Dieſes macht, daß der Menſch dick, fett
ſchwer und aufgedunſen, und ſeine Haut weich, glatt,
ſchoͤn und ausgeſpannt wird; ſeine Muskeln werden
weich, glatt und mit Fett angefuͤllt. Die Blutge-
faͤße werden durch die Ausdehnung des Zellengewebes
zuſammengedruͤckt, und die Knochen werden lang,
groß, ſchwammicht und weich. Die Gelenke ſind
groß und die Knochenbaͤnder dick; allein die Glieder
ſind, wenn ſie auch gleich groß ſind, doch immer in
Verhaͤltniß mit der Groͤße und Dicke des Koͤrpers
ziemlich klein.
Der Magen und die Gedaͤrme eines ſolchen
Menſchen erlangen eine betraͤchtliche Groͤße, ihre
Haͤute ſind duͤnn, aber mit Fette angefuͤllt. Auch
die Leber erlangt eine außerordentliche Groͤße, und
wird weich und ſchwammicht. Die groſſe Magendruͤ-
ſe und die Nieren ſind groß, ſchlaff und mit Fett er-
fuͤllt. Das Netz iſt außerordentlich groß, weich,
lang, breit und dick, und erſtreckt ſich uͤber den gan-
zen Unterleib und bis hinunter in das Becken.
Die Bauchmuskeln ſind duͤnn, breit und faſt
noch einmal uͤber ihre natuͤrliche Laͤnge ausgedehnt,
weil ſie durch die zu einer widernatuͤrlichen Groͤße
ausgedehnten Eingeweide des Unterleibes nach außen
zu getrieben werden. Durch eben dieſe letzt gedachte
Urſache wird gleichſam das Zwergfell gewaltſam ſo
Gall I. Band. Uin
[306] in die Hoͤhe gedruͤckt, daß dadurch gleichfalls die Laͤn-
ge und das Herz betraͤchtlich zuſammengedruͤckt wer-
den muͤſſen. Dieß iſt auch die Urſache, warum die
Bruſthoͤhle gar nicht ſo groß iſt, als man aus dem
aͤußern Anſehen der Bruſt bey ſolchen Perſonen ur-
theilen ſollte, zumal, da noch ein betraͤchtlicher Theil
dieſer Hoͤhle mit Fettklumpen erfuͤllt iſt, durch welche
Urſache denn auch die Lunge, das Herz und die groſ-
ſen Blutgefaͤße ſehr zuſammen gedruͤckt werden.
Der Hals iſt bey ſolchen Perſonen groß, aber
weich und ſchlapp. Der Kopf ſcheint betraͤchtlich
groß zu ſeyn; allein es iſt doch in der That die Hoͤ-
lung des Hirnſchaͤdels ſelbſt ſehr klein; denn es ſind die
Bedeckungen des Hirnſchaͤdels dick, und die Knochen
ſelbſt weich, dick und ſchwammicht, ſo, daß das
Gehirn nur klein iſt. Dieſes letzte findet auch wahr-
ſcheinlich bey den Nerven ſtatt. Dabey ſind die Sin-
ne zwar ſelbſt nicht allzuſcharf; allein es ſind doch die
Empfindungen ſehr zaͤrtlich, und es geraͤtht das gan-
ze Nervenſyſtem durch leichte Urſachen gleich in Be-
wegung.
Der ganze Koͤrper iſt ſchwer, und das Athem-
holen nur kurz. Seine Zaͤhne ſind ſelten gut beſchaf-
fen; das Zahnfleiſch iſt bey ihm weich und ſchwam-
micht; die Zunge iſt oft unrein. Er iſt vielen meiſt
langſamen, weder ſehr ſchmerzhaften noch hoͤchſt ge-
faͤhrlichen Krankheiten unterworfen. Allein die Kri-
ſis iſt bey denſelben nur ſelten vollkommen, und er
wird, wenn er auch mit dem Leben davon koͤmmt,
doch nicht voͤllig wieder hergeſtellt.
Wenn
[307]
Wenn man ihn eine Zeitlang verſtopft, oder
doch zur Verſtopfung geneigt bleiben laͤßt, und ihm
nicht durch das eine oder andere Ausleerungswerkzeug
eine Ausleerung verſchaft, ſo faͤngt er an, ſich uͤber
Blaͤhungen und Unverdaulichkeiten, die Haͤmorrhoi-
den, arthritiſche Schmerzen, oder die Gicht zu be-
klagen. Zu andern Zeiten wird er von ſchwerem Athem-
holen, Engbruͤſtigkeit und ſchleimichten Verſtopfungen
der Druͤſen beſchwert, oder gar vom Schlagfluß ge-
ruͤhrt, auf den, wenn er nicht gleich den Tod des
Patien ten verurſacht, eine Laͤhmung zu folgen pflegt.
Die Beſchaffenheit ſeines Gemuͤthes iſt ſehr
ungleich, und oft iſt er niedergeſchlagen. Er wird
von einer großen Anzahl von Nervenuͤbeln beſchwert,
und hat ein ſo zaͤrtliches Gefuͤhl und ſo zahlreiche
Beduͤrfniſſe, daß auch ſein Verlangen unmaͤßig, und
er ſelbſt nie gaͤnzlich zufrieden iſt. — Was die ſchlim-
me Beſchaffenheit betrifft, ſo geht das hier Geſagte
zwar meiſtentheis jene an, welche zur Erzeugung der
Gicht Anlaß giebt. Wir werden bald dieſen Gegen-
ſtand in mehrern Ruͤckſichten betrachten. Unterdeſſen
fahre ich mit dem naͤmlichen Schriftſteller fort, auch
die Erſcheinungen bey einem gut und ſchlecht beſchaff-
nen Frauenzimmer zu unterſuchen.
Eine junge Frauensperſon, welche kurze Fuͤße,
kurze Beine, dicke Knie, lange, dicke und runde
Schenkel, große und hohe Huͤften, kurze Lenden,
einen runden Bauch, eine tiefe ausgerundete Bruſt-
hoͤle, große, runde Bruͤſte hat, die ſehr weit von
einander abſtehen, mit großen, rothen, hervorragen-
U 2den
[308] den Warzen, die von einander abgekehrt ſind, oder
auswaͤrts gehen; die hart erzogen worden iſt; deren
Koͤrper weder die Mode noch die Kleidung verdorben
hat; die einfach, aber hinreichend genaͤhrt worden iſt,
und alle Tage ſchwere Arbeit verrichten muß; unter-
ſetzt iſt; einen feſten, und in Verhaͤltniß zu ihrer
Natur ſchweren Koͤrper hat, ob ſie gleich ſolchen
nach dem Maaß der wirklichen Kraͤfte, die ſie beſi-
tzet, mit groſſer Leichtigkeit zu bewegen pflegt. So
eine Frauensperſon pflegt nicht fruͤhzeitig mannbar zu
werden. Wenn ſie es aber wird, und ihre Veraͤn-
derung bekoͤmmt, ſo haͤlt ſolche allemal ihre richtige
Zeit. Der Abgang des Blutes iſt dabey nicht ſtark,
er dauert nur einige wenige Tage, und iſt mit keinem
Schmerz oder Unbequemlichkeit, weder vor, noch in
der Zeit der monatlichen Reinigung verknuͤpft. Sie
iſt nicht geil; obgleich ihre Kraͤfte groß ſind, ſo iſt
doch ihr Verlangen nur maͤßig. Unterdeſſen empfaͤngt
ſie doch leicht; ſie leidet aber von der Schwanger-
ſchaft ſelbſt ſehr wenig, daß ſie auch in ſolcher noch
immer fortfaͤhrt, ihre taͤgliche Arbeit zu verrichten,
und es liegt die Frucht, die ſie bey ſich traͤgt, ſo
ſehr in dem Becken und auf den Huͤften, daß man
ihr die Schwangerſchaft ſchwerlich vor dem Ende des
ſechſten Monates anſehen kann u. ſ. w.
Man vergleiche nun aber mit ſo einem Weibe
ein junges vornehmes und nach der Mode lebendes
Frauenzimmer, das von zaͤrtlichen, ja vielleicht gar
ungeſunden Eltern gebohren iſt; das blos ein halbes
Jahr nur halb geſtillt, zaͤrtlich erzogen, und mit
Butter
[309] Butter, Thee und hitzigen Nahrungsmitteln erzogen
worden iſt; das immer uͤber Buͤchern oder an ihrem
Nachttiſche geſeſſen hat; in einem weichen Bette und
dieſes noch dazu in einem engen warmen Zimmer
ſchlaͤft; das nie ſeine Kraͤfte gehoͤrig ausuͤbt und an-
ſtrengt; nie Hunger, Kaͤlte, oder eine ermuͤdende
Arbeit ertragen muß; auf Schuhen mit hohen Abſaͤ-
tzen geht, und in einem Schnuͤrleib eingekerkert iſt. —
Die Glieder eines ſolchen Frauenzimmers ſind
lang und klein; ihr Wuchs iſt lang und ſchmaͤchtig;
der Hals iſt lang und duͤnn; die Bruͤſte klein, und
die Haut hat eine todenblaße Farbe u. ſ. w.
Sie wird bald mannbar; hat ihre monatliche
Reinigung oft, und allemal haͤufig und lang; derglei-
chen Perſonen haben einen ſehr zaͤrtlichen und empfind-
lichen Karakter, und ſind alle den Leidenſchaften ſehr
unterworfen, die ſchwache Nerven ſo heftig zu er-
ſchuͤttern pflegen. Obgleich ihre Kraͤfte nicht groß
ſind, ſo ſind es doch ihre Triebe. Sie empfaͤngt auch
ſehr leicht; allein, es erregen ihr auch gleich die er-
ſten Zufaͤlle der Empfaͤngniß ſehr viele Beſchwerden.
Die ganze Schwangerſchaft durch muß ſie nicht nur
wegen der Enge des Beckens, ſondern auch wegen
der Biegung, welche die Lendenwirbel nach vorne zu
machen, und wegen der Schwaͤche des Ruͤckens ſehr
viel leiden. — — Die Laſt liegt alle nach vorne zu,
und aufwaͤrts gegen den Magen. — Dazu koͤmmt
noch die unertraͤgliche Zuſammendruͤckung der Einge-
weide, Blutgefaͤße und Nerven, und macht, daß ei-
ne
[310] ne ſolche Schwangere leicht abortiret, und ſchwerlich
bis zur ſechs und dreißigſten Woche ausdauert.
Wenn endlich die Geburtswehen eintreten,
ſo hat eine Schwangere von dieſer Art die Beyhilfe
einer geſchickten Perſon noͤthig, nicht nur, um ſie
gluͤcklich zu entbinden, ſondern auch die Behandlung
von ihr und ihrem ſchwaͤchlichen Kinde viele Tage lang
anzuordnen, indem ſie am meiſten den uͤblen Zufaͤllen,
die nach der Entbindung zu entſtehen pflegen, und ſo-
gar Fiebern unterworfen ſind. Die Mutterpflicht,
ihre Kinder zu ſaͤugen, wird ihnen nur gar zu oft
durch den baldigen Zutritt einer Abzehrung oder Lun-
genſucht unmoͤglich gemacht.
Kämpf’s Frau hatte zwar von jeher eine dau-
erhafte Geſundheit genoſſen; da ſie aber eine allzu-
zaͤrtliche und ſorgfaͤltige Mutter war, ſo zog ſie ſich
eine Unpaͤßlichkeit ihres zweyten Saͤuglings ſo zu Her-
zen, daß er immer kraͤnker wurde, und endlich in
Zuckungen verfiel, die nicht anderſt, als durch die
Entwoͤhnung gehoben werden konnten. Dem dritten
waͤhlte Kämpf eine derbe und unempfindliche Bauern-
dirne, die er, ſo viel als thunlich war, ihre gewoͤhn-
liche, einfache, rauhe Landkoſt und Lebensart beybe-
halten ließ; denn er war uͤberzeugt, daß der Saͤug-
ling dem ungeachtet eine ſuͤße und leichtverdauliche
Milch genießen wuͤrde.
In dieſer Meynung ward er deſto mehr beſtaͤrkt,
als er bemerkte, daß ſie ſich alle Morgen in den
Garten ſchlich, und ſich dort eine Menge unreifer
Mirabellen gut ſchmecken ließ, ohne daß der Saͤug-
ling
[311] ling die mindeſte nachtheilige Veraͤnderung davon er-
litte.
Nicht lange hernach verſchluͤckte ſie eine Nadel,
die in der Zungenwurzel ſtecken blieb. Man ſuchte
ſie oͤfters, nicht ohne groſſe Schmerzen, aber immer
vergebens heraus zu ziehen; das Schlingen ward hoͤchſt
beſchwerlich; endlich ſchwuͤrte ſie nach vier Wochen
heraus. Aller dieſer Schrecken, Schmerz und Angſt,
hatten noch immer nicht den geringſten Einfluß auf
den Saͤugling; er nahm zu, war ruhig und munter.
Man ſieht ſogar alle Tage, daß der heftigſte Zorn
ſolcher Menſchen, deren Schwielen in den Haͤnden ſich
gleichſam auf die Nerven zu erſtrecken ſcheinen, ſel-
ten eine ſchaͤdliche Veraͤnderung bey ihrem Saͤuglinge
erregt.
Welch ein Vorzug, faͤhrt Kämpf fort, haben
alſo nicht ſolche unerſchuͤtterlichen Saͤugammen, de-
ren eigne Verdauungswerkzeuge den unverdaulichſten
Speiſen Trotz bieten, und einen milden, reinen, wohl
gemiſchten und dichten Nahrungsſaft daraus zuberei-
ten, der die beſte Anlage zu einem kernhaften Welt-
buͤrger abgiebt, gegen die empfindſamen, reitzbaren,
weichlichen Muͤtter, die durch den Anblick einer
Spinne, durch den Genuß eines Tellervoll Kohls,
und durch einen kleinen Haußzorn u. ſ. w. ihr ſaͤugen-
des Kind ungluͤcklich machen.
Ferner hat er wahrgenommen, daß diejenigen,
die rauh erzogen, und an harte Koſt gewoͤhnt waren,
und ſich auch waͤhrend ihrer Unpaͤßlichkeit daran ge-
halten hatten, weit ſeltner als die Weichlinge den
An-
[312] Anſchoppungen der Eingeweide ausgeſetzt geweſen,
daß ſie, wenn ſie damit befallen werden, viel weniger,
und manchmal kaum merkliche Beſchwerden, und am
ſeltenſten Nervenzufaͤlle davon erlitten; daß ihre Ver-
dauung, ihr aͤuſſers Anſehen beſſer, ihr Blut reiner,
und ihre Geneſung geſchwinder war. Und wie oft,
ſagt er, habe ich nicht bewundert, wie ein zu Stra-
patzen gewohnter Magen, der ſelbſt bey Krankheiten
nicht ſo leicht geſchwaͤcht wird, aus den unverdaulich-
ſten Speiſen, den mildeſten, reinſten Nahrungsſaft
zubereiten, und gleichſam aus Gift Honig ziehen kann.
Noch zu Sydenhams Zeiten wurden bey einer
von Natur geſunden Perſon wenigſtens etlich und
dreyſig Jahre zur Hervorbringung der Gicht erfodert,
ſo, daß ſeine Zeitgenoſſen ſelten vor vierzig, oder auch
noch mehrern Jahren ganz ausgebildete Anfaͤlle da-
von hatten. Seitdem aber die Urſachen der menſch-
lichen Schwaͤche ſo ſehr vervielfaͤltigt worden ſind,
ſo ſind Beyſpiele von der Gicht ſo gar bey Kindern,
beſonders in England, keine Seltenheit mehr, und
ihre Erzeugung bedarf bey weitem keiner ſo langen
Dauer. Grant erzaͤhlt von einem Knaben, dem Soh-
ne einer gichtigen Mutter und eines gichtiſchen Vaters,
der bereits in einem Alter von ſieben Jahren regel-
maͤßige Anfaͤlle der Gicht hatte. Ein junges, ſehr
ſchoͤnes Frauenzimmer, deren Mutter ſchon vor ihrer
Geburt damit befallen war, bekam ſchon im zwey und
zwanzigſten Jahre die Gicht, und hatte von dieſer
Zeit an, alle Jahre regelmaͤßige Anfaͤlle. Die Breß-
lauer Aerzte erzaͤhlen von einem Maͤdchen, welches
mit
[313] mit achtzehn Monaten den Goldaderfluß hatte. Ich
ſah in Straßburg ein zweyjaͤhriges Maͤdchen von ſehr
ſchwaͤchlichen, ungeſunden Eltern, welches ihn ſo haͤu-
fig hatte, daß es noch vor dem Ende des dritten Jah-
res an der Abzehrung ſtarb. Berdot erzaͤhlt dieſen
Fall von einem dreyjaͤhrigen, und Grim von einem
ſechsjaͤhrigen Knaben. Grant kannte einen Mann,
der bald, nachdem er das zwanzigſte Jahr erreicht
hatte, nach Londen kam. Er war damals ſehr ge-
ſund und ſtark, und ſein Magen war im Stande,
alles zu verdauen; ein Umſtand, der ihn auch anreiz-
te, alles, was ihm vorkam, zu eſſen und zu trin-
ken. Die Folge davon war, daß er ſchon nach zehn
Jahren dick, fett und aufgedunſen wurde. Es waͤhr-
te nicht lange, ſo bekam er die Haͤmorrhoiden, da-
rauf das Podagra, und zuletzt verlor er den Gebrauch
ſeiner Fuͤſſe und Haͤnde, noch eher, als er das acht
und vierzigſte Jahr erreicht hatte.
So viel wird genug ſeyn, um die Ausſpruͤche
der groͤſten Aerzte zu beſtaͤttigen: “Daß naͤmlich,
ſchwaͤchliche, ungeſunde, und ſchlecht beſchaffene Koͤr-
per viel leichter und oͤfters als geſunde und wohlbe-
ſchaffne erkranken; weil nicht ſelten die unbedeutend-
ſte Urſache in einem ſolchen Koͤrper groſſe Unordnun-
gen erregt, da indeſſen ſtarke wohlbeſchaffene nicht
das geringſte davon empfinden.*)„ Je beſſer die
Theile gebaut ſind, ſagt Schröder; je vollkomme-
ner ihre Schnellkraft, ihr Zuſammenhang, ihre Bieg-
ſamkeit
[314] ſamkeit, Haͤrte u. ſ. w. untereinander zuſammen ſtim-
men, deſto thaͤtiger wird die Natur den Koͤrper gegen
alle Krankheit beſchuͤtzen.*) Ein ſolcher Koͤrper, be-
haupten Galenus und Celſus, wird gegen Traurig-
keit, Zorn, Wachen, Sorgen, Platzregen, Hitze,
Peſt, kurz gegen alle Krankheitsurſachen aushalten:
Da hingegen uͤbelbeſchaffne Koͤrper dergleichen Veran-
laſſungen alſogleich unterliegen, und ſchon in ſich ſelbſt
den Zunder zu mancherley Krankheiten beherbergen.**)
Selbſt die Todesart haͤngt von der Leibesbeſchaffen-
heit ab; ſo ſterben ſtarke, junge Leute unter Zuckun-
gen; alte im Taumel, und Weiber weit oͤfter, als
Maͤnner, in Ohnmachten.
§. 28.
Man darf aber den Ausſpruch des Galenus
und Celſus nicht im ſtrengen Wortverſtande nehmen;
denn es giebt in der That Krankheiten, denen eine
gute, ſtarke Leibesbeſchaffenheit mehr, als eine ſchwaͤch-
liche und ungeſunde unterworfen iſt. Alle Krankhei-
ten, welche durch die ſtuͤrmiſche Heftigkeit ihrer Zu-
faͤlle, durch ihren ſchnellen Verlauf, und uͤberhaupt
durch allzu wirkſames Beſtreben der Lebenskraͤfte ge-
faͤhrlich werden, pflegen vorzuͤglich ſtarke, geſunde,
vollſaftige Leute, in der Bluͤthe der Jahre zu befal-
len. Anſteckende und epidemiſche Krankheiten greifen
nicht ſelten, ſo lange ſie heftig ſind, nur die ſtaͤrkſten
Leute an, und verſchonen Greiſe, Kinder, Weiber,
Schwaͤch-
[315] Schwaͤchlinge, bis ſie endlich auch dieſe, nachdem
ſie milder zu werden angefangen haben, obſchon mit
weniger Gefahr, angreifen. — Aber fallen dieſe Ui-
bel ſolche ſtarke Koͤrper an, weil ſie ihrer urſpruͤng-
lichen Natur nach heftiger ſind? — Oder erhalten ſie
erſt ihre Heftigkeit durch die maͤchtige Gegenwirkung
der Lebenskraͤfte? — Beydes iſt wahr. Das letzte
in den Krankheiten, welche einen widernatuͤrlichen
Reiz zum Grunde haben, z. B. in den reinen Ent-
zuͤndungen, den Gall- und Faulfiebern ꝛc. ꝛc.: Wa-
rum aber manche Volkskrankheiten anfaͤnglich die
Schwaͤchlinge verſchonen, und ihnen erſt, nachdem
ſie ihren gefaͤhrlichen Karakter abgelegt haben, zuſe-
tzen, dieſes iſt mir noch unerklaͤrbar, obſchon ich im
3ten Kapitel wichtige Beytraͤge zum Aufſchluß dieſes
Umſtandes liefern werde. — Hier mag es genug ſeyn,
zu bemerken, daß uͤberhaupt beyſtarken Leuten, vor-
zuͤglich Landleuten die heftigen hitzigen Krankheiten
weit gemeiner ſind, als bey Staͤdtern und Schwaͤch-
lingen; und daß alle hitzigen Krankheiten in ſtarken,
jungen, wohlgenaͤhrten Menſchen weit ſchneller verlau-
fen, ſie moͤgen einen gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Aus-
gang nehmen. Eine Krankheit, z. B. welche eine ſchwaͤch-
liche, ſchlappe, traͤge Perſon, ungefaͤhr in 28—40
Tagen toͤdet, wird ein geſundes, ſtarkes Weib in
12—20 Tagen, und einen vollſaftigen, ſtraffen,
jungen Mann in 3—7 Tagen toͤdten. Daher waren
ehemals, als das Menſchengeſchlecht bey uns noch we-
niger zerruͤttet war, die Entzuͤndungen und andere ſchnell
verlaufenden hitzigen Fieber durchgaͤngig allgemeiner.
Der
[316]
Der ſchnelle, heftige, gefaͤhrliche Verlauf der
Krankheiten bey ſtarken, wohlbeſchaffenen Leuten,
hat wahrſcheinlich die Aerzte bewogen, eine gar zu
bluͤhende Geſundheit fuͤr einen bedenklichen Zuſtand
anzuſehen, indem er nicht lange ſich ſelbſt gleich blei-
ben kann, und jede Veraͤnderung mit Gefahr ver-
knuͤpft iſt. Galenus hat daher Recht, daß er nicht
geradezu den ſtaͤrkſten, vierſchroͤdigſten Koͤrper fuͤr
den beſt beſchaffnen haͤlt; ſondern einen ſolchen, der
weder durchaus mit Haaren bewachſen, noch glatt,
weder weich, noch hart, weder ſchwarz noch weis iſt;
deſſen Blutgefaͤße noch gar zu groß noch zu klein,
deſſen Aderſchlaͤge weder zu heftig noch zu ſchwach waͤ-
ren, und deſſen Theile durchgaͤngig in einer [genauen]
Uebereinſtimmung untereinander ſtuͤnden. Man will
bemerkt haben, daß jene Mannsleute, die den Wei-
bern gleichen, und jene Weiber, die den Maͤnner
gleichen, gewoͤhnlich das hoͤchſte Alter zu erreichen
pflegen. Aus dieſer gluͤcklichen Miſchung entſpraͤnge
jene beneidenswerthe Anlage, wodurch die Natur den
Maͤngeln der zu ſtarken und zu ſchwachen Koͤrper ent-
geht. Uebrigens iſt es bekannt, wie ſehr der geſchmei-
digere Bau des ſchoͤnen Geſchlechts den ſchmerzhafteſten
und ſchwerſten Uebeln Widerſtand leiſte; daß uͤber-
haupt mehr Weiber als Maͤnner, ein ſehr hohes Al-
ter erreichen; daß Schwaͤchlinge ſich ſo ſehr an Kraͤnk-
lichkeiten gewoͤhnen koͤnnen, daß ſie nicht ſelten die
ſtaͤrkſten, geſuͤndeſten Menſchen uͤberleben.
§. 29.
[317]
§. 29.
In Ruͤckſicht der Heilart derjenigen Krankhei-
ten, welche gleichſam nur den ſtaͤrkſten, jungen,
geſuͤndeſten Leuten eigen ſind, oder aber dieſelben zu
einer beſtimmten Zeit vorzuͤglich zu befallen pflegen,
geben die bisherigen Bemerkungen die richtigſten An-
zeigen an die Hand. Ausnahmen will ich nicht leug-
nen; aber im Allgemeinen wird es nur aͤußerſt ſelten
gefehlt ſeyn, wenn man in allen, beſonders bey ih-
rer Entſtehung, alſogleich, je nachdem es die Natur der
Krankheit erfordert, bald durch Blutausleerungen,
bald durch Brech- und Purgiermittel, die Bewegun-
gen der Natur zu maͤſſigen, die Kraͤfte zu ſchwaͤchen,
und die Reizbarkeit zu mindern bemuͤht iſt. Ich neh-
me nicht einmal die Faͤlle aus, wo eine ſo geartete
Krankheit unter der Geſtalt eines Faul- oder Ner-
venfiebers, ja nicht einmal, wenn ſie unter der Ge-
ſtalt der Peſt erſcheint. Es iſt gewiß, daß manch-
mal Faulfieber herrſchen, bey welchen diejenigen Mit-
tel, die ſonſt in den aus Gallfiebern entſtandenen
Faulfiebern vortrefflich ſind, ſchlechterdings nachthei-
lig werden, und die alles anſcheinenden Widerſpru-
ches ungeachtet, Aderlaͤßen, gelinde ſaͤuerlichte Ge-
traͤnke und uͤberhaupt eine kuͤhlende Heilart erfodern.
Eben dieſes iſt vielfaͤltig in der Peſt beobachtet wor-
den, wie man aus des Herrn von Haen Abhand-
lung uͤber die Peſt erſehen kann. Im 3ten Kapitel
werden dieſe Dinge vollſtaͤndiger unterſucht, und mit
Thatſachen dargethan. Einſtweilen wird jeder Leſer
einſehen, daß man unzaͤhlige und auffallende Wider-
ſpruͤche
[318] ſpruͤche der Aerzte, die alleſammt ihre Entſtehung der
Erfahrung zu verdanken haben moͤgen, wuͤrde verei-
nigen koͤnnen, wenn man bey Beurtheilung derſelben
mehr auf die Natur der Krankheit, und auf die Beſchaf-
fenheit der Kranken, als auf die Geſtalt und die Zufaͤl-
le, unter welchen die Krankheit erſcheint, aufmerkſam
waͤre. Man wuͤrde ſeine Anzeigen nicht mehr nach
dem taͤuſchenden Schein der ſo wandelbaren Zufaͤlle
machen; nicht mehr Aderlaſſen, um des Schmerzens
an der Seite willen; nicht mehr faͤulnißwidrige Herz-
ſtaͤrkungen und Kampfer und ſpaniſche Fliegenpflaſter
um der Betaͤubung, der Kraftloſigkeit, oder der et-
wannigen Petechien willen gebrauchen; und folglich
bey einerley ſinnlichen Erſcheinungen, und einerley Heil-
art nimmer die entgegengeſetzteſten Folgen beobachten.
Die Erfahrung hat es ſattſam bewieſen, daß man
von den Zufaͤllen, beſonders der epidemiſchen Krank-
heiten, nur ſelten auf die wahre Natur des Uebels,
und auf das dabey obwaltende Verderbniß folgern koͤn-
ne. Es iſt alſo nothwendig, daß man von einem
ganz andern Standpunkte ausgehe. — Und dann wer-
den wir ohne Zweifel, in Ruͤckſicht der Heilanzeigen
auf keine entgegengeſetzte Weege, und noch weniger
auf Widerſpruͤche gerathen.
§. 30.
Die naͤmlichen Uebel, wenn ſie verſchieden be-
ſchaffne Leute befallen, nehmen ganz verſchiedene Ge-
ſtalten an. Eine umſtaͤndlichere Berichtigung dieſer
Sache wird uns theils vollſtaͤndig uͤberzeugen, daß
die
[319] die Wirkſamkeit der Natur mit der Leibesbeſchaffen-
heit in genauem Verhaͤltniß ſtehe; theils wird ſie
uns die mannigfaltigſten Erſcheinungen der Krankhei-
ten unter einem einzigen Geſichtspunkte darſtellen.
In Volkskrankheiten beobachtet man nicht ſelten,
daß das naͤmliche Uebel bey einigen ſehr hartnaͤckig
iſt, und immer weiter vorſchreitet, da es doch bey
allen uͤbrigen ſo leicht heilet. Dieſer Umſtand macht
einige Aerzte verwirrt, und ſie verwerfen das Einer-
leiſeyn der herrſchenden Krankheit. Aber bey genau-
er Unterſuchung findet ſich’s, daß der Grund dieſer
verſchiedenen Geſtalten in der Beſchaffenheit der Koͤr-
per liege. Im erſten Buch von den Landſeuchen beym
zweyten Wetterſtande ſagt Hippokrates: „Es fan-
den ſich auch bey vielen, vorzuͤglich aber bey Kindern
gleich im Anfange nebſt den Kraͤmpfen Fieber ein,
und wiederum ſchlugen dieſe Kraͤmpfe zu den Fiebern.
Meiſtens hielten dieſe Zufaͤlle lange an, allein ſie
waren ohne Folgen, ausgenommen bey denen, die ſich
auch bey einem jeden andern Ereigniſſe in Gefahr be-
funden haͤtten.„ Strack heilte mehrere Geſchwiſter
ſehr leicht von dem 1784. auf die groſſe Ueberſchwem-
mung folgenden Wechſelfieber, da doch die eine drey-
zehnjaͤhrige Schweſter bey der naͤmlichen Heilart lange
krank blieb, und ein nachlaſſendes Fieber daraus wur-
de. Endlich ſchwollen die Fuͤſſe an; der ganze Leib
wurde waſſerſuͤchtig, das Geſicht gedunſen und die Far-
be garſtig blaß. Der Harn gieng in geringer Menge
ab, und war laugenhaft. Was war die Urſache?
man entdeckte einen Gruͤndkopf, wovon leicht auf die
uͤbri-
[320] uͤbrige Leibesbeſchaffenheit zu ſchlieſen war. Dieſen
brachte er mit der Dreyfaltigkeitsblume (Jacea viola tri-
color) in haͤufigen Fluß. Kaum war der Kopf rein,
ſo wurde aus dem nachlaſſenden Fieber wieder ein or-
dentliches Wechſelfieber, welches ebenfalls bald auf-
hoͤrte; ein haͤufiger, duͤnner, heller Harn machte der
Waſſerſucht ein Ende.
Drey Schweſtern, Kinder einer aͤuſſerſt em-
pfindſamen Mutter und eines durch Sitzen und Kopf-
arbeiten geſchwaͤchten Vaters, erkrankten zu der naͤm-
lichen Zeit auf folgende Art: Die juͤngſte von acht-
zehn Monaten ſollte anfaͤnglich ohne Bruſt erzogen
werden; allein ſie fiel bald ſo von Fleiſch und Kraͤf-
ten, daß man ihr eine Amme geben muſte. Seitdem
nahm ſie ſehr zu, wurde mittelmaͤßig ſtark, be-
kam ein ziemlich feſtes Fleiſch, rothe Backen, und
die Zaͤhne ohne ſonderliche Beſchwerden. Den vier-
ten Hornung 1790. wurde ſie gaͤhling von einer groſ-
ſen Hitze befallen, der Puls ſchlug ſtark und oft; die
Wangen waren heiß, und wurden, wie die uͤbrigen
Gliedmaſſen, augenblicklich bald blaß und kalt, bald
roth und gluͤhend; die Haut war trocken, die Zunge
weis, der Athem brennend, geſchwind und ſchnau-
bend; der Harn gieng ſelten und wenig ab, aber brenn-
te; der Leib verſtopft; Abſcheu vor allen Eßwaaren
und groſſe Mattigkeit. Nach einigen Stunden tra-
ten Zukungen der Geſichtsmuskeln, der Haͤnde und
der Arme hinzu. Die Nacht war der Durſt heftig
und das Kind trank ſehr viel theils bloßes Waſſer,
theils andere verſuͤßte Getraͤnke. Ich hatte erweichen-
de
[321] de Umſchlaͤge, Klyſtire mit Manna, und eine Mixtur
von arabiſchem Gummi und Manna verordnet. Es
bekam einige ſchleimige, ſehr ſtinkende Stuͤhle, und
der Harn gieng haͤufiger. Gegen Morgen ſchwitzte
es ſtark uͤber dem ganzen Koͤrper, welcher von einem
frieſelartigen Ausſchlag beſaͤet wurde, der bey abneh-
mender Hitze zwar weniger ſichtbar, aber doch rauh
und deutlich anzufuͤhlen war. Den dritten Tag lie-
ßen alle Zufaͤlle, die Hitze, die Heftigkeit des Pulſes
und des Durſtes vollkommen nach; den vierten und
fuͤnften aß es, und erholte ſich geſchwind. —
Den 7ten des naͤmlichen Monates erkrankte die
zweyte Schweſter, ein dreyjaͤhriges, aͤuſſerſt fein ge-
bautes, und fuͤr ihr Alter ganz widernatuͤrlich voll-
kommen proportionirtes Maͤdchen, ſo daß es aus-
gewachſen zu ſeyn ſchien, und kein Mißverhaͤltniß
mehr, weder zwiſchen dem Kopf und den Fuͤſſen, noch
dem Bauche und der Bruſt u. ſ. w. zu bemerken war.
Schon einigemal litt es ſehr gefaͤhrlich an Druͤſenver-
haͤrtungen des Gekroͤſes theils mit, theils ohne Fieber;
erhielt nie ein feſtes, warmes Fleiſch, ſondern blieb
immer ſchlapp, haͤutig, blaß, und erreichte an koͤr-
perlichem Gehalt kaum ein geſundes Kind von zwey
Jahren. Die bey der jezigen Krankheit ſich aͤußernden
Zufaͤlle waren die naͤmlichen, wie bey der erſten Schwe-
ſter; nur waren ſie durchgaͤngig gelinder, das Ath-
men, jenen wichtigen Umſtand ausgenommen, wel-
ches viel ſchwerer, muͤhſamer und geſchwinder war.
In der Nacht wurde ich gerufen mit dem Bedeuten,
daß ich es ſchwerlich mehr beym Leben antreffen wuͤr-
Gall I. Band. Xde.
[322] de. Ich fand es von gewaltſamen Zuckungen der
Arme, der Fuͤße und des Halſes hingeſtreckt; bald
wurde er todenblaß; bald uͤberlief es, wie ein Blitz
eine feurige Roͤthe, wobey die Zuckungen in etwas
nachließen. Der Hals und die Augen wurden ſchreck-
lich verdreht; das Athmen war aͤuſſerſt muͤhſam. Ich
ließ warme in einen Kamillenabſud getauchte Tuͤcher
auf die Fuͤße, die Schenkel und den Bauch, und auf
die Fußſohlen ſtarke Senfteige legen; Klyſtire von
Manna in Kamillenwaſſer aufgeloͤſet geben. In ei-
ner halben Stunde waren die Zuckungen viel gelinder,
und in einer Stunde wurde die Haut merklich feucht
und warm, der Puls langſamer, voͤller und weicher
Nur noch ſelten uͤberlief es eine Blaͤße, wobei ſich
in einigen Theilen, vorzuͤglich den Fingern und um
den Mund leichte Zuckungen aͤuſſerten. Gegen Tag
hatte es den naͤmlichen Ausſchlag aber minder zahl-
reich; indeſſen waren die Stuͤhle deſto haͤufiger, roz-
zig, gebrochen, ſtinkend. Den 3ten Tag war die
Beſſerung ſtandhaft, und es war in einigen Tagen
vollkommen geneſen. —
Den 10ten in der Fruͤhe wurde die dritte, vier-
jaͤhrige Schweſter ergriffen, welche unter der ganzen
zahlreichen Familie den ſtaͤrkſten Bau hatte, ein feſtes
dickes, warmes Fleiſch, einen kurzen, dicken Hals,
einen dicken Kopf, ſtarke, kurze, runde Haͤnde und
Fuͤße, dunkelrothe Lippen, eine hochrothe Geſichts-
farbe, ſchwarze Augen, und ſchwarze dichte Haare.
Sie wurde von einer geſunden Landamme gefaͤugt,
und trotzte bisher allen jenen Kraͤnklichkeiten, wovon
die
[323] die uͤbrigen Geſchwiſter ſo oft befallen wurden. Die
Wangen waren uͤber und uͤber blauroth, die Lippen
hoch karmeſinroth, als wollte das Blut ausſpritzen.
Man bemerkte keine andern Zufaͤlle, als leichte Rupfer
um den Mund herum; aber in einer Stunde war die
ganze rechte Seite des Geſichts bis uͤber den Schlaf
mit einer brennenden, ſchmerzhaften, ſtarken Ge-
ſchwulſt uͤberzogen. Ausſchlag kam hier keiner zum
Vorſchein. Ich verordnete nichts, als ſaͤuerlichte Ge-
traͤnke mit Manna und wenigem Salpeter. Alſo hier
allein hatte die Natur Kraft genug, den Krankheits-
ſtoff ohne gefaͤhrlichen Kampf auf einen unſchaͤdlichen
Ort abzuſetzen. — Ich behandelte um die naͤmliche
Zeit mehrere Kinder bis zum 7—12. Jahre in den
naͤmlichen Umſtaͤnden, deren Zufaͤlle ich jedesmal mit
Ruͤckſicht auf die Leibesbeſchaffenheit genau vorſehen
konnte.
In gut beſchaffenen, ſtarken, blutreichen;
jungen Perſonen muß man in dem erſten Zeitpunkt der
Pocken, Maſern, des Frieſels u. ſ. w. blos manch-
mal die uͤbermaͤßigen Bewegungen einſchraͤnken, wenn
die wohlthaͤtige Wirkung der Natur nicht durch eine
offenbare Unreinigkeit in Unordnung gebracht wird.
In ſchwaͤchlichen, uͤbelſaftigen Perſonen hingegen
beobachtet man im naͤmlichen Zeitpunkte Zufaͤlle, die
deutlich von einer kraftloſen, hinfaͤlligen Natur erregt
werden. Es wird zwar auch ein Theil des Blattern-
ſtoffes, aber ohne die beſtimmten Zeiten zu beobach-
ten, nach der Haut verſetzet: Und unter welcher Ge-
ſtalt! Es erſcheinen brandige, ſchwarze, ſchwarzblaue,
X 2bley-
[324] bleyfarbige, mit Blutfluͤßen begleitete Blattern,
welche in der Mitte eingeſunken, und zum Theil mit
einem ſcharfen Waſſer angefuͤllt ſind, welches keiner
eiterartigen Kochung faͤhig iſt. Werden ſie im er-
ſten und zweyten Zeitpunkt nicht toͤdtlich, ſo machen
ſie in dem Zeitpunkt der Abtrocknung deſto allgemeiner
gefaͤhrliche Verwerfungen auf die Lungen, die Hirn-
hoͤhlen, das Ruͤckmarck u. ſ. w.
Iſt in ſehr ſtarken geſunden Leuten ein ſehr haͤu-
figer Blatternſtoff zugegen, ſo verſetzt er ſich nach dem
vollſtaͤndigen Ausruch zuerſt nach dem Kopf, dem Ge-
ſicht, dem Hals und dem Nacken; ſobald dieſe Ge-
ſchwulſt allmaͤhlig vergeht, ſo faͤngt ſie bey den Ar-
men und Haͤnden, und dann bey den Fuͤſſen und Bei-
nen an. Dadurch wird die Maſſe der Feuchtigkei-
ten auf einige Zeit von der zu groſſen Menge be-
freyet, und derjenige Theil, ſo mit den Saͤften ver-
miſcht herumlaͤuft, kann einſtweilen gekocht und aus-
geleeret werden. Ganz anderſt geſchieht dieſes bey
uͤbelbeſchaffenen Koͤrpern: Denn, ſagt Strack, die
Koͤrper derjenigen, welche den Scharbock, eine faule
Unreinigkeit und Wuͤrmer im Unterleibe haben, oder
an der Doͤrrſucht leiden, entbrennen bey jedem Fieber
heftiger, und ſind keiner guten Eiterung, wohl aber eines
ſchnellen Brandes faͤhig. — Dieſes iſt die Urſache, wa-
rum ſo beſchaffene Koͤrper zuſammenfließende Blattern,
und ein heftigers Fieber mit ſchlimmern Zufaͤllen be-
kommen, wobey der Ausbruch vor der Zeit und un-
ter mancherley Verunſtaltungen geſchieht, obſchon nicht
das
[325] das Blatterngift, ſondern blos der ungeſunde Koͤrper
zu beſchuldigen iſt. Er folgert daraus mit allem Rech-
te auf die Eitelkeit eines eigenen Gegenmittels gegen
die boͤsartigen Blattern, weil naͤmlich der Grund der
Boͤsartigkeit nicht im Blatternſtoffe, ſondern in der
Leibesbeſchaffenheit des Kranken lieget.*) — Von
den 738. Perſonen, welche Jenner einnimpfte, ſtar-
ben nur zwey. Der eine ein junger Mann von zwey
und zwanzig Jahren, der nach einem vor einigen Mo-
naten erlittenen, ausſetzenden Fieber waſſerſuͤchtig ge-
worden war, und gar keine Pockenzufaͤlle bekam. Der
andere ein Kind von drey Monaten, welches von Ge-
burt an den Zuckungen unterworfen geweſen iſt.**)
Aber auch da giebt es Ausnahmen. Syden-
ham beobachtete bey einer ſonſt gleichen Heilart die
zuſammfließenden Blattern am oͤfteſten bey ſtarken,
vollbluͤtigen, ausgewachſenen jungen Leuten, wie z.
B. bey dem Bedienten des Elliot. Zaͤrtliche, ſchwaͤch-
liche Kinder, da ſie nur eines geringen Fiebers faͤ-
hig ſind, bekommen allermeiſt gutartigere und weni-
ger Blattern. — Ich weiß, daß in unſerer letzten
Blatternepidemie veneriſche Kinder ſehr gut durchka-
men, da geſunde von den ſchlimmſten Blattern befal-
len wurden. Deßwegen nehmen wir keinen Anſtand,
geknuͤpfte und ſkrophuloͤſe Kinder zu impfen. Eine
Krankheit von entzuͤndlicher Natur kann ſolchen Koͤr-
pern bey kluger Aufſicht mehr zum Vortheil als Nach-
theil gereichen.
[326]
Die Wechſelfieber weichen ebenfalls von ih-
rem natuͤrlichen Gange ab, und arten, je nach-
dem das Verderbniß der Leibesbeſchaffenheit iſt, bald
in nachlaſſende, bald in anhaltende, bald in faulichte,
bald in Nervenfieber aus; ſo daß man in Verſuchung
geraͤtht, zu denken, alle dieſe Fieber ſeyen Zweige
eines einzigen Stammes, eines einzigen allgemeinen
Fiebers, welches blos nach Verſchiedenheit der gegen-
wirkenden Lebenskraͤfte verſchiedene Geſtalten anzuneh-
men pflegt. Wenn ein ordentliches Wechſelfieber,
ſagt ebenfalls Strack, beſonders aber ein alltaͤgliches
einen ſchlecht beſchaffenen Koͤrper befaͤllt, ſo erweckt
dieſes ein anhaltendes, aus weſſen Verbindung mit
dem Wechſelfieber ein nachlaſſendes entſteht. Denn
die Saͤfte derjenigen Koͤrper, welche der Scharbock
oder andere faule Unreinigkeiten verdorben haben,
werden durch die Hitze des Wechſelfiebers, da ſie oh-
nehin ſchon ſo ſehr zur Faulniß geneigt ſind, weit ge-
ſchwinder, als jene geſunder Leute, von der Faulniß
angegriffen, und erregen dann ein anhaltendes Fieber,
welches durch die Anfaͤlle des Wechſelfiebers ſeine
Verſtaͤrkungen, das iſt, den Gang eines nachlaſſenden
Fiebers erhaͤlt. Eben dieſes beobachtete Pringle an
den intermittirenden Fiebern der ſumpfichten Nieder-
lande. Knaben, welche Wuͤrmer, oder ſonſt faulen
Stoff im Unterleibe haben, ſind zu einem anhalten-
den Fieber geneigt, welches die Aerzte das Wurm-
ſieber benannt haben. Dieſer Unflath wird ebenfalls
durch die Erſchuͤtterungen des Wechſelfiebers in Be-
wegung gebracht, durch die Fieberhitze entzuͤndet, ver-
dorben, woraus dann eine verwickelte Krankheit ent-
[327] ſteht, naͤmliche ein nachlaſſendes Faulfieber, wobey
oͤfters Petechien zum Vorſchein kommen.
Nachdem Strack den regelmaͤßigen Gang des
Seitenſtiches in geſunden Menſchen beſchrieben hat,
macht er die ausdruͤckliche Erinnerung,*) daß es
ſich ganz anderſt mit demſelben verhalte, wenn er an ſich
ungeſunde Koͤrper uͤberfaͤllt, und beſtaͤttigt dieſes durch
die ſechs- ſieben- acht- und neun und vierzigſte Kran-
kengeſchichte. Gefaͤhrlicher wird aber die Entzuͤndung
des Ribbenfells, faͤhrt er fort, wenn bey derſelben
zugleich eine faule Unreinigkeit im Unterleibe vorhan-
den iſt; denn dadurch wird das Fieber, welches ſie
im Koͤrper erregt, ſelbſt faulichter Art, und dieſes
macht auch die Krankheit ſelbſt boͤſartig. Am ſchlimm-
ſten iſt es, wenn eine ſolche Verwicklung der Krank-
heit zugleich eine verdorbene Leibesbeſchaffenheit antrift;
dieſes beſtaͤttigt er durch die 62, 82, 83 und 84te Kran-
kengeſchichte. —
Die Mutter der obigen drey Schweſtern leb-
te immerwaͤhrend in Unthaͤtigkeit; ſchlief ſehr viel;
trank ſeit einem Jahre viele hitzige Getraͤnke,
Tockayerwein, Punſch, Geiſter, und alle Tage zwey-
mal einen ſtarken Kaffe mit fetter Sahne. Ihre Ge-
ſichtsfarbe war hochroth; ihr Temperament unbeſchreib-
lich empfindſam, ſehr wohlthaͤtig beſorglich und aufbrau-
ſend; ihr Koͤrperbau zwar groß, aber ſchwaͤchlich,
mit ſchmaler eingedruͤckter Bruſt und ſo weichen Kno-
chen, daß der Ruͤcken vom vielen Sitzen einen voll-
kommenen Bogen auswaͤrts bildete. Zu Endes des
Juny
[328] Juny 1789. bekam ſie ein, die erſten Tage meinem
Urtheile nach, nicht gefaͤhrliches Gallfieber. Aber bald
geſellte ſich eine große Angſt und Kleinmuͤthigkeit da-
zu, welches ich aber ihrem Karakter zuſchrieb. Sie be-
kam gelinde, ſaͤuerlichte Abfuͤhrungen. Den 5ten Tag
war die Zunge trocken, und bis daher alle Naͤchte
ſchlaflos. Ich verordnete eine Abkochung der Rinde
ꝛc. Als ſie ſich den ſechſten Tag beſſer befand,
griff ich wieder zu den aufloͤſenden, gelind abfuͤhren-
den Mitteln. Aber den ſiebenten Tag auf den Abend
kam ein heftiger Anfall mit Zuckungen, allgemeinem
Zittern des Leibes und der Gliedmaſſen, Sehnenhuͤp-
fen, Uebelhoͤrigkeit mit heftigen Kopf- und Ohren-
ſchmerzen, rothen Augen, immerwaͤhrendem Drang,
aufrecht zn ſitzen, Irreſeyn, unbeſchreibliche Bangig-
keit und Verzweiflung an der Moͤglichkeit einer Wie-
dergeneſung. Ich berathſchlagte mit noch zwey Arzten,
und es wurde wieder die Kina mit Kampfer ohne auf-
loͤſende und abfuͤhrende Mittel gegeben. Den achten
und neunten hatte ſich alles ſehr gebeſſert. Aber man
ließ ſich wieder von den taͤuſchenden Zufaͤllen eines
gallichten Faulfiebers taͤuſchen. Man ſetzte, kraft ei-
ner neuen Berathſchlagung, gegen all mein Beſtreben,
die Rinde aus, und fuhr wieder mit den Tamarin-
den fort; nebſtbey gab man ein Gerſtenwaſſer mit ei-
nigen Tropfen Schwefelgeiſt und Kampferpulver. Den
dreyzehnten Tag ſtarb ſie ſitzend ſehr langſam, ihren
Geberden nach mit Bewuſtſeyn, und unter ſchreck-
lichen Aengſten mit den Zufaͤllen einer Verwerfung
nach dem Herzbeutel. Ich fand den Herzbeutel ſtrot-
zend
[329] zend voll Waſſer; die Gefaͤße des Gehirns ſehr vom
Blut angefuͤllt; alle Eingeweide weich, ſchlapp, muͤrb,
nirgendwo geronnenes Blut.
Um die naͤmliche Zeit erkrankte Franz B ***
ein acht und vierzig jaͤhriger Mann auf die naͤmliche
Art, nur daß alle Zufaͤlle vom erſten Anfange an,
viel heftiger waren. Dieſer war von Kindheit auf
ungeſund; hatte ſeine Leibesbeſchaffenheit durch jugend-
liche Ausſchweifungen gewaltthaͤtig verdorben. Die
geringſte zufaͤllige Verwundung, mit einer Nadel z.
B. verurſachte ihm hartnaͤckige, ſchlimme Geſchwuͤ-
re. Schon viermal hatte er theils regelmaͤßige, theils
unregelmaͤßige Anfaͤlle eines viertaͤgigen Fiebers, wel-
ches zwar jedesmal ſorgfaͤltig, aber hoͤchſt unweiſlich
erſticket wurde. Nebſtbey war er gichtiſchen Schmer-
zen, und dem ganzen Heere der hypochondriſchen Be-
ſchwerden unterworfen; ſeit einigen Jahren hatten
ihn ſehr verdruͤßliche Gemuͤthsangelegenheiten ſtark
hergenommen. Schon der Anfall ſeiner Krank-
heit war mit einer ihm unbeſchreiblich groſſen Angſt
verbunden. Da noch an einem andern Orte die Re-
de davon ſeyn wird, ſo begnuͤge ich mich hier zu ſa-
gen, daß ich die Heilart mehr nach meinem Sinne ein-
richtete, als bey der vorigen Kranken. Er bekam
Wein, Kampfer und die Rinde; aber auch nebenher
immerfort das Tamarindenmark; fuͤnfmal aͤuſſerten
ſich an den richtigen Tagen, den 11, 17. u. ſ. w
Zeichen der Kochung — Jedesmal verſchwanden bey-
nahe alle gefaͤhrlichen Zufaͤlle; und fuͤnfmal war er
nach
[330] nach zwey Tagen ruͤckfaͤllig, und ſtarb den ſechs und
dreyßigſten Tag.
Eben ſo gieng es dem jungen Menſchen zu Me-
liboͤa, der ſich lange mit vielem Trinken und [Ausſchwei-
fungen] in der Liebe erhitzt hatte. Er frohr, und war
aͤngſtlich mit Uebelſeyn; er ſchlief nicht, und fuͤhlte
keinen Durſt. — Er ſtarb am vier und zwanzigſten
Tage an der Hirnwuth.
So gieng es auch dem Appollonius zu Polyſti-
lo, welcher lange vor ſeiner Krankheit kraͤnkelte, ver-
ſtopfte Eingeweide, einen beſtaͤndigen Schmerz um die
Leber hatte, und bisweilen gelbſuͤchtig, immer aber
aufgeblaͤht und von bleicher Farbe war. — — Die-
ſer ſtarb den vier und dreyßigſten Tag.*)
§. 31.
Die große Ausartung aller Uebel bey ſchlecht-
beſchaffenen ſchwaͤchlichen Leuten, beſtaͤttigen folgende
Bemerkungen noch mehr. — Von ſehr geſchwaͤchten
Giften werden geſunde, lebende Theile gar nicht an-
gegriffen, da indeſſen die verdorbenen Theile, obſchon
die Natur ſtark in ihnen wuchert, zu einer Kruſte
verwandelt werden. Dieſes iſt der Fall bey dem von
Macbride beſchriebenen Pflaſter gegen den Krebs,
und bey einer geheimgehaltenen Aufloͤſung einer gerin-
gen Menge Silber in einer groſſen Menge Koͤnigs-
waſſer; es zerſtoͤrt die ſogenannten Muttermaͤler, die
Warzen, wildes Fleiſch und andere Auswuͤchſe, ob-
ſchon
[331] ſchon es die Oberflaͤche der geſunden Theile nicht im
geringſten veraͤndert. Eben darum machen auch bey
milden und guten Saͤften die heftigſten Entzuͤndungen
oft keinen Brand, da indeſſen, wie Burſeri an-
merkt, das gelindeſte Fieber und eine ganz geringe
Entzuͤndung, wo die Saͤfte verdorben und ſo zu ſagen
vergiftet ſind, in Brand uͤbergeht.*)
„Auſſer dem, ſagt Hoffmann, daß ſchlappe,
gedunſene, ſchwammichte, fette Leute den Krankhei-
ten mehr ausgeſetzt ſind, als diejenigen, ſo etwas
mager und trocken ſind, und groͤßere Gefaͤße haben,
ſo ſind auch alle ihre Krankheiten gefaͤhrlicher. Bey
der geringſten Unpaͤßlichkeit werden ihre Ausleerungen
gehemmt oder vermindert; die Lungen werden mit
Schleim angehaͤuft; ihre fieberhaften Krankheiten ſind
unregelmaͤßiger, ſelten einer guten Entſcheidung faͤ-
hig, und uͤbergehen ſehr leicht in ſchlimme, faulich-
te Schleimfieber. Wenn ſie davon kommen, ſo bleibt
eine langwierige Schwaͤchlichkeit zuruͤck; ſie bekommen
waͤſſerichte Geſchwuͤlſte und andere waſſerſuͤchtige Zu-
faͤlle. Auch ohne fieberhafte Krankheiten verlieren
die feſten Theile nach und nach ihre Wirkſamkeit,
und wenn ſie Alters halber oder aus ſonſt einer Urſa-
che das Fett verlieren, ſo wird die ganze Leibesbe-
ſchaffenheit verdorben; ſie fallen bald von Kraͤften;
die Eßluſt verliert ſich; es entſtehen waͤſſerichte An-
ſchwellungen der Fuͤße, der Augenlider, (um die Na-
ſe) und alle Arten von Waſſerſuchten. In hitzigen
Fie-
[332] Fiebern werden ſie außerordentlich ſchnell mager, die
Saͤfte werden ſcharf, und erregen ungemein gerne
Entzuͤndungen der Eingeweide, welche ſchnell in Brand
uͤbergehen; es erfolgen boͤsartige Geſchwuͤre; vorzuͤg-
lich aber iſt die Leber in Gefahr.„
„Jeden hochanſehnlichen Bauch, ſagt Zimmer-
mann, fuͤllt ein hoͤchſt gefaͤhrlicher, und die meiſten
hitzigen Krankheiten toͤdlich machender Stoff„. Boer-
have hat bemerket, daß von allen Menſchen die fet-
ten am erſten ſterben, und keinen ſeyen hitzige Fieber
ſo gefaͤhrlich als dieſen, weil durch die Hitze des Fie-
bers das Fett ſchmilzt, ſcharf wird, die feſten Thei-
le reitzt, die fluͤſſigen ſtocken macht, alles entzuͤndet,
und alles zu Grunde richtet.
Der Eiter iſt bey uͤbelbeſchaffenen, waſſerſuͤch-
tigen duͤnn, blaß, jauchicht; in Alten, ſehr Schwaͤchli-
chen iſt er dick, klebricht, ſchleimicht; in [Trocknen]
dick. Dieſes iſt aber in keinem Falle jener milde Bal-
ſam, der den Reiz des Geſchwuͤres lindern, und die
Heilung deſſelben befoͤrdern koͤnnte; es entſtehen viel-
mehr boͤsartige, brandige Geſchwuͤre, die ſo lange
aller Heilung widerſtehen, als die Saͤfte nicht ver-
beſſert ſind. Wenn dieſe zu duͤnn, waͤſſericht, auf-
geloͤſet ſind, ſo dringen ſie in zu kleine Gefaͤße, ver-
urſachen Ergießungen in die Hoͤhlen des Koͤrpers, haͤu-
fige Schweiße, Hautwaſſerſucht, Geſchwuͤlſte, Ver-
ſtopfungen, Verhaͤrtungen, und endlich boͤſartige Ent-
zuͤndungen, welche ſehr leicht in heißen oder kalten
Brand uͤbergehen, und faſt immer den Tod nach ſich
ziehen, wie wir dieſes ſo oft in faulichten boͤsartigen
Krank-
[333] Krankheiten, in der Peſt, dem Scharbock und der
Luſtſeuche erfahren. Eben ſolche boͤsartige, brandige
Geſchwuͤre entſtehen bey dieſen Leuten auf die gering-
ſten Verletzungen; eine leichte Quetſchung, ein Split-
ter u. d. gl. ſind dazu hinlaͤnglich; da indeſſen bey wohl-
beſchaffenen Koͤrpern und guten Saͤften die Heilkraͤfte
der Natur in den groͤßten, verwickeltſten Verwundungen
bis zum Erſtaunen wirkſam ſind, wie folgendes Bey-
ſpiel zeiget. — Ein geſunder, ſtarker und blutreicher
Bauer, 28 Jahr alt, wurde von einem herunterfal-
lenden dicken und langen Block ſo beſchaͤdigt, daß
man ſein Ende faſt jeden Augenblick vermuthete. Der
rechte Schenkel war zweymal, etwan fuͤnf Zolle un-
ter ſeinem Halſe, und vier Zolle uͤber der Knie-
ſcheibe, zerbrochen. Ueber dem linken Auge war eine
Wunde, die von der Verbindung des linken Naſen-
beins mit dem Stirnbeine ſchief, etwan drey Linien,
herunterſtieg, woſelbſt ein ziemliches Stuͤck von Ran-
de der Augenhoͤhle verloren gegangen war. Sie ſtieg
dann gerade wieder hinauf, bis unter die Augenbrau-
nen, uͤber welche ſie noch uͤber zwey Linien weiter
gieng. An mehreren Orten war der Knochen entbloͤ-
ſet, und da die Lippen der Wunde einen halben Zoll
auseinander ſtunden, ſo ſchien das ganze Auge um ſo
weiter heruntergeruͤckt zu ſeyn, als das rechte. Die
Verbindung der Naſenbeine und mit der Stirne und mit
dem Oberkinnbackenbeine war getrennt, ſo, daß ſie,
ſowohl nach innen, als nach den Seiten, konnten be-
wegt werden; ja ſelbſt die Seitenknorpel waren in
der Mitte von den Naſenbeinen getrennt. Die Haut
der
[334] der Naſe war hin und wieder mit Blut unterlaufen
Am untern Rande der linken Augenhoͤle, da wo ſich
das Jochbein mit dem Kinnbackenbeine vereinigt, ſa-
he man einen Eindruck, in den man faſt den kleinen
Finger legen konnte. Das Jochbein war zwar noch
feſt, wenn man es aber zu bewegen verſuchte, ſo
entſtand ein heftiger Schmerz. Die Zahne konnten
nicht uͤber eine Linie weit voneinander gebracht wer-
den; brachte man aber ein Meſſer oder einen Spatel
zwiſchen dieſelben, ſo hob man leicht den obern Kinn-
backen Fingerbreit in die Hoͤhe, wo man deutlich
merkte, daß ſich in der Hoͤhe eines Zolles die Kno-
chen ineinander ſchoben oder einwaͤrts bogen. Die
Gaumenknochen waren zwar fuͤr ſich feſt und gleich;
aber auch mit ihnen konnte man, durch einen Druck
nach oben, die obern Kinnbackenknochen in die Hoͤhe
heben, ſo, daß dieſe Knochen bis an die Fledermaus-
fluͤgel (Alæ pterygoideæ) ſchienen geſpalten, oder viel-
mehr in ungleiche Stuͤcken zerbrochen zu ſeyn. Die
Oberlippe des Mundes war ſehr geſchwollen, und
durch die untere gieng eine Querwunde, ungefaͤhr
einen Zoll lang. Aus dem Munde nahm man meh-
rere Knochenſplitter und Holzſpaͤnchen. Ein wackeln-
der Backenzahn der linken Seite im untern Kinnba-
cken konnte erſt nach etlichen Tagen herausgenommen
werden. Das im Munde geſammelte Blut wurde
mit groſſer Muͤhe durch ein Roͤcheln ausgeworfen,
aus der Naſe floß es beſtaͤndig, doch langſam. Am
untern und linken Winkel des untern Kinnbackens,
und an ihrem Gelenke mit dem Schlafbeine, war der
Schmerz
[335] Schmerz heftig; es ſchien aber nichts gebrochen zu
ſeyn. Noch war eine leichte Quetſchung auf der
Mitte der Bruſt. — Die einfache Behandlung, (mit
dieſen Worten ſchließet Theden dieſen Fall), nebſt der
Jugend und guten Leibesbeſchaffenheit des Kranken,
brachte innerhalb drey Wochen die gluͤckliche Heilung
zu Stande.*)
§. 32.
Aber auch nur bey ſolchen Umſtaͤnden laͤßt ſich
die Boerhaviſche Genuͤgſamkeit mit Waſſer, Eſſig,
Wein, Gerſte, Salpeter, Hoͤnig, Rhabarber, Mohn-
ſaft, Feuer, einigen Salzen, Seifen, Queckſilber,
Eiſen, Lebensordnung, Bewegung und der Lanzette
entſchuldigen. Denn nur bey ſolchen Umſtaͤnden lie-
gen der Natur keine unuͤberſteigbare Hinderniſſe im
Weege. Als Hippokrates den ſiebenzehnten Tag zum
Nikoxenos zu Glünthos kam, war ſeine Zunge wie
verbrannt. Die Hitze von außen nicht heftig, die
Erſchlaffung des Koͤrpers entſetzlich; die Stimme ge-
brochen, kaum hoͤrbar, aber doch deutlich; die Schlaͤ-
fe eingefallen, die Augen hohl, die Fuͤße weich und
lauwarm, und die Milzgegend geſpannt. Das Kly-
ſtier kam nicht voͤllig zu ihm, ſondern trat zuruͤck.
Gegen die Nacht gieng ein wenig derber Unrath mit
etwas Blut von ihm, ich glaube, ſagt er, vom Kly-
ſtier. Der Urin war rein und helle. Er lag wegen
der Entkraͤftung auf dem Ruͤcken mit auseinander ge-
ſperrten
[336] ſperrten Beinen. Er war ganz ohne Schlaf. In-
nerhalb zwanzig Tagen legte ſich die Hitze. Gerſten-
waſſer war ihm nicht trinkbar, wohl aber genaß er
einen gleichen, geroͤſteten Trank von Aepfeln, Gra-
nataͤpfelſaft, auch duͤnne, kalte Suppen von geroͤ-
ſteten Linſen, kalt abgeſottenes Mehlwaſſer, und
einen duͤnnen Graupenſchleim. — Er kam durch. —
Dieſer Fall war ſchwer, und das Heilverfahren hoͤchſt
einfach.
Nicht ſelten widerſteht ein ſolcher Zuſtand ſogar
der verheerenden Heilart der Aerzte, weßwegen der Ver-
faſſe vom Mißbrauche des Aderlaſſens ſagt: “Iſt der
Kranke von einem ſtarken und lebhaften Tempera-
mente, ſo bleibt gluͤcklicher Weiſe, ungeachtet der
vielen Ausleerungen, manchmal das Fieber im naͤm-
lichen Zuſtande, und endigt ſich von ſelbſt durch eine
gluͤckliche Entſcheidung am ſiebenten, eilften, vier-
zehnten Tage.
§. 33.
Zufaͤlle und Zeichen der verdorbenen Leibes-
beſchaffenheit.
Wie ſehr aber die Natur von ihrer Wirkſam-
keit verlieren, oder vielmehr wie ohnmaͤchtig ſie wer-
den muͤſſe, wenn die Leibesbeſchaffenheit zerruͤttet iſt,
kann ich meinen Leſern auf keine Art [anſchaulicher]
darſtellen, als wenn ich ihnen die Zufaͤlle, welche
der ſchlechten Leibesbeſchaffenheit (Cachexia) eigen ſind,
nach ihrer Stufenfolge hererzaͤhle. Es wird unver-
kennbar bey jedem Schritte die Abnahme der Lebens-
kraͤfte
[337] kruͤfte in die Augen fallen, und folglich in allen Krank-
heiten deſto weniger von der Natur zu hoffen ſeyn,
mit je einer hoͤhern Stufe des Verderbniſſes ſie zu-
ſammen treffen.
In der erſten Stufe nimmt die Eßluſt ab;
kurz nach dem Eſſen fuͤhlt man eine Schwere und ein
Druͤcken im Magen, Blaͤhungen, oͤfteres, ſaures,
abgeſchmacktes, ſalziges, ſtinkendes Aufſtoßen. Bald
folgen Eckel und Erbrechen; die Kraͤfte ſchwinden,
der Puls iſt klein und matt, kriechend; der Kopf
thut wehe; der Kranke iſt immer ſchlaͤfrig, abge-
ſchlagen, muͤde, die Waͤrme vermindert ſich, nur
die faulichte und ſcharbockichte Schaͤrfe ausgenommen.
Die Abſoͤnderungen und Ausleerungen gehen uͤbel von
ſtatten; iſt die Bruſt oder der Unterleib verſtopft,
ſo iſt das Athmen beaͤngſtigt, der Kranke huſtet,
fuͤhlet einen Druck und mehr oder weniger tiefe Schmer-
zen; bisher merkt der Kranke noch ſehr wenig oder
nichts von dieſen Zufaͤllen. Aber in der zweyten Stu-
fe wird die Unordnung ſchon deutlicher; der Kranke
iſt ſchwach, eine ſchmachtende Hinfaͤlligkeit zeiget ſeine
Abnahme an; das Athemholen wird immer beſchwer-
licher, kuͤrzer, geſchwinder, muͤhſamer bey der ge-
ringſten Bewegung, beſonders beym Steigen. Die
Stimme wird unterbrochen, die Sprache matt, der
Geiſt unruhig, traurig, verdruͤßig, ſtumpf, die Lau-
ne muͤrriſch, die Geſichtsfarbe blaß, verunſtaltet,
das Geſicht hager, der Aderſchlag unregelmaͤßig,
faſt immer fieberhaft; die Eßluſt mangelt; die erſten
Weege ſind in Unordnung; der Kranke ſchwitzet leicht,
Gall I. Band Ywas
[338] was die allgemeine Schwaͤche, die ſchlechte Verdauung
und die waͤſſerichte Beſchaffenheit der fluͤſſigen Be-
ſtandtheile beweiſet; die Beine ſchwellen an; der Kran-
ke wird mager, aufgedunſen; und das Uebel faͤngt
an, ſich der Unheilbarkeit zu naͤhern; dieſe Unheil-
barkeit nimmt mit dem zunehmenden Verfalle der
Kraͤfte zu. Endlich kann er nimmer aufſtehen; er iſt
genoͤthigt, auf dem Ruͤcken zu liegen. Die Stimme
wird leiſe, ziſchend, die Sprache langſam, der Puls
ſehr ſchwach, geſchwind; die Augen werden matt und
die Gliedmaſſen kalt. Dazu geſellen ſich noch: Schwe-
re des Kopfes, immerwaͤhrende Schlaͤfrigkeit; der
Kranke kann nimmer liegen, ſondern muß aufrecht
ſitzen; der Eckel vermehrt ſich, die Eßluſt iſt verdor-
ben; der Kranke wird von beſtaͤndigen Aengſten, Ue-
belkeiten nach dem Eſſen, vom Erſticken, vielen Winden
und Blaͤhungen, einem brennenden Durſt gequaͤlt;
die Weichen ſchwellen an; und das gegen Abend ein-
tretende unordentliche Froͤſteln zeiget das ſchleichende
Fieber an. Der Harn wird von Tage zu Tage we-
niger, dicker, weißlicht oder roͤthlicht, mit ziegel-
mehlartigem Bodenſatze; zuweilen gehen gar nur we-
nige Tropfen ab. Jetzt nimmt das Uebel uͤber Hand;
es entſteht Herzklopfen; bey der geringſten Bewegung
iſt der Kranke in Gefahr zu erſticken; die Beſchwer-
lichkeit des Athmens haͤlt jezt an; die ganze Oberflaͤ-
che des Koͤrpers, beſonders der Haͤnde und Fuͤſſe iſt
ſehr angeſchwollen; es ergießen ſich die Fluͤſſigkeiten
in innere Hoͤlen, und dieſe Ergieſſungen werden alle
Tage betraͤchtlicher. Die Verdauung wird immer
mehr
[339] mehr in Unordnung gebracht; dem Kranken eckelt vor
allem, was noch einigermaſſen die ſchwindenden Kraͤf-
te erſetzen koͤnnte. Alle dieſe Zufaͤlle ſteigen auf
eine ſchreckliche Hoͤhe, bis der Anblick des Kranken
hoͤchſt widrig, traurig, ſchmerzhaft und verſtellt wird,
und endlich der erwuͤnſchte Tod dem allgemeinen Elen-
de der Maſchine ein Ende macht.
Je nachdem nun das Verderbniß verſchieden
iſt, ſo bemerken wir auch in den Zufaͤllen einige Ver-
ſchiedenheit, ſo daß die Natur nicht uͤberall und nicht
in allen Zeitpunkten wegen Mangel an Lebenskraft,
ſondern manchmal noch aus andern Urſachen, z. B.
wegen verſchiedener Schaͤrfe der Saͤfte u. ſ. w. un-
vermoͤgend zu ſeyn ſcheint. Im Anfange eines von
Ausartung der Saͤfte entſtandenen hektiſchen Fiebers
iſt der Aderſchlag gut, ja ſogar ſtaͤrker, als im ge-
ſunden Zuſtande, obſchon der Kranke anfaͤngt mager
zu werden. Bald aber verliert er die Kraͤfte; der
Schlaf wird unterbrochen; nach Tiſche wird die Haut
waͤrmer, trocken, ſproͤde. Das Fieber wird merk-
licher, obſchon es der Kranke noch nicht empfindet;
der Puls gehet geſchwinder, und wenn noch dazu ei-
ne Eiterung im Verborgnen liegt, ſo uͤberlaufen ihn
oͤfter unordentliche Schauer. Auf den Abend tritt
die Verſchlimmerung ein. — In der zweiten Periode
wird die Magerkeit ſchon ſichtbarer. Die Schwaͤche
nimmt von Tage zu Tage zu, die Haut wird heißer,
trockner; ſproͤder; die beißende Hitze an den Ballen
der Haͤnde und der Fußſohlen wird empfindlicher;
der Puls iſt hart, zuſammengeſchnuͤrt, ſchwach, ge-
Y 2ſchwind,
[340] ſchwind, klein. Auf dem Harn, beſonders im Schar-
bock, ſchwimmt zuweilen ein fettes, oͤlichtes, regen-
bogenfaͤrbiges Haͤutchen. Zuweilen hat er keinen Bo-
denſatz, oder dieſer iſt verſchieden, weiß, kleien-ziegel-
mehlartig, ohne alle Farbe; waͤſſericht, zitronenfaͤrbig
weißlicht, gruͤnlicht, hochgefaͤrbt. Die Eßluſt wird
unregelmaͤßig, laͤſt nach, verliert ſich ganz, und wird
manchmal unmaͤßig. Der Speichel ſchmeckt geſalzen.
Der Leib wird ofner, die Stuͤhle werden haͤufig, auſ-
ſerordentlich ſtinckend; endlich entſteht ein Bauchfluß.
Die Verſchlimmerungen gegen Adend werden merkli-
cher, und ſetzen den Kraͤften immer mehr zu. Der
Auswurf des Eiters wird haͤufiger, gelblicht, zerflieſend,
ſchmutzig, ſtinkend. Endlich wird in der dritten Perio-
de der Puls noch ſchwaͤcher, geſchwinder, und ungleich;
es entſtehen kleine, weiſe, gelbe Geſchwuͤre im Mun-
de, zerſchmelzende Schweiße und Durchfaͤlle; der
Harn wird hochgefaͤrbt und ſtinkender, die Trocken-
heit der Haut wird brennender. Die ſchmachtenden,
truͤben, manchmal aber auch hellglaͤnzenden Augen er-
tragen kaum mehr das Licht; die Augenknochen ra-
gen hervor, die Schlaͤfe werden hohl, die Naſe lang
und ſchmal; das Geſicht zieht ſich immer mehr in die
Laͤnge, wird bleich, trocken, gelblicht, bleyfaͤrbig,
die Haare fallen aus, die Naͤgel ſchrumpfen ein, und
werden blaulicht. Iſt in der Bruſt eine Eiterung,
ſo wird der Kranke vom Anfange an von einem ermat-
tenden Huſten gequaͤlt; der Auswurf wird jetzt ſchwer
und unvollſtaͤndig, matt, gehemmt, die Stimme verliert
ſich. Der Druck auf der Bruſt wird ſchwerer; der
ſchmelzen-
[341] ſchmelzende Durchfall nimmt zu; der Durſt wird
dringend; der Kranke bekoͤmmt oͤftere Uebelkeiten;
wird angſtvoll, vergeſſen, verwirrt, faͤngt an zu fa-
ſeln, — und faͤllt bald in den Todeskampf.
Es ſeye nun das Verderbniß der feſten und fluͤſ-
ſigen Theile von was immer fuͤr einer Art, ſkorbu-
tiſch, ſkrophuloͤs, veneriſch, rachitiſch, krebsartig
u. ſ. w. welches dann noch jedesmal ſeine beſondern
Zafaͤlle hat; ſo iſt es gewiß, daß der Umlauf der
Saͤfte traͤger oder geſchwinder, die Abſonderungen und
Ausleerungen unordentlicher, die Wirkung und Ge-
genwirkung aller Beſtandtheile geſtoͤhrt, und folglich
jene Kraft, wodurch Krankheiten abgehalten und ge-
heilet werden, durch eine unzertrennliche Folge ge-
ſchwaͤcht, oder zernichtet werden muͤſſe.
Zweyter Erfahrungsſatz.
Das zweyte Erforderniß zur Wirkſamkeit der Natur
ſind Verhältnißmäßige Kräfte.*)
§. 34.
Nur vermittelſt einer verhaͤltnißmaͤſigen Sum-
me von Kraͤften kann die Natur den Krankheitsurſa-
chen widerſtehen, oder, wo dieſe unuͤberwindlich ſind,
jene Veraͤnderungen hervorbringen, welche unter den
Namen der Verähnlichung, Zertheilung, oder Ent-
ſcheidung die Geſundheit wieder herſtellen. So
leichtfertig der groſſe Haufe uͤber dieſen Gegenſtand
wea-
[342] wegzugleiten pflegt, ſo aufmerkſam ſind große Aerzte
zu allen Zeiten darauf geweſen.
Hippokrates ſetzt alles Vertrauen auf einen
geſunden, kraftvollen Koͤrper; und mißraͤthet einem
ſolchen alle Maßregeln der Lebensordnung. Wer ge-
ſund und bey Kraͤften iſt, ſagt er, mache keinen Un-
terſchied, eſſe und trinke allemal das, was er findet.
Den Kranken aber und Schwaͤchlichen ſchreibt er Ge-
ſetze vor.
Galenus hat den Aerzten anempfohlen, zwey
Hauptdinge nie aus den Augen zu laſſen, naͤmlich:
Die Krankheit ſelbſt, und die Kraͤfte des Kranken.
Er hielt den Mangel an Kraͤften fuͤr das wichtigſte
Vorherkuͤndigungszeichen des uͤblen Ausganges eines
hitzigen Fiebers, beſonders wenn die Krankheit ſehr
heftig und boͤsartig war, und ſchnell verlief.
Friedrich Hoffmann ſagt: Wenn je eine Lehre
in der Heilkunde eine vollſtaͤndige Berichtigung ver-
dient, ſo iſt es gewiß jene von den Kraͤften und
Grundurſachen des menſchlichen Koͤrpers; denn alles
Vermoͤgen der Natur, wodurch die Verrichtungen
der Seele und des Koͤrpers erhalten, die Krankhei-
ten abgewendet und geheilet, ja ſelbſt der Tod zuruͤck-
gewieſen werden, gruͤndet ſich einzig auf die Kraͤfte
welche ihre Wirkſamkeit durch ein beſtimmtes, und je-
desmal dem Zwecke angemeſſenes Maaß von Bewe-
gungen aͤußern.*)
Van Swieten begreift unter den Kraͤften al-
les das, was in einem kranken Menſchen von der Ge-
ſund-
[343] ſundheit noch uͤbrig iſt. Daraus folgert er, daß zu
einer gluͤcklichen Heilung nichts mehr beytragen kbnne,
als ſtandhafte Kraͤfte des Kranken. Dieſe muͤſſe man
daher mit groͤſtem Fleiße zu erhalten, und diejenige
Heilanzeige, welche auf die Erhaltung der Lebenskraͤf-
te gerichtet iſt, verdiene billig die erſte Stelle.*)
Tiſſot gruͤndet ſeinen Begriff von der Natur
auf die harmoniſch vertheilten Kraͤfte des Koͤrpers zu-
ſammen genommen, oder in wie fern ſich die Lebens-
kraft in jedem Theile deſſelben ergießet; folglich ſagt
er, wenn die Kraͤfte zernichtet ſind, ſo vermag die
Natur nichts mehr; — Speiſe und Trank gedeyen
nicht, und die Arzneyen bleiben fruchtlos.
Störk giebt die Lehre, in jeder Krankheit vor-
zuͤglich die Leibesbeſchaffenheit, und dann die Kraͤfte
des Kranken zu unterſuchen**) In der Folge nimmt
er bey jeder von ihm behandelten Krankheit aufs ſorg-
faͤltigſte Ruͤckſicht auf dieſen Umſtand, und verzwei-
felt nie, ſo lange die Kraͤfte gut ſind; zeigt aber je-
desmal bey ihrem Verfall die inſtehende Gefahr an.
Das Anſehen dieſer Maͤnner, und die taͤgliche
Erfahrung, daß die Kunſt ohne Mitwirkung der Le-
benskraͤfte nichts vermag, werden mich rechtfertigen,
wenn ich dieſem Gegenſtande eine weitlaͤufigere Unter-
ſuchung widme, als, meines Wiſſens, bisher geſche-
hen iſt.
§. 35.
[344]
§. 35.
Eine ſchlechte, und ſchwaͤchliche Leibesbeſchaffen-
heit ſind manchmal ſo unzertrennbare Gefehrden, daß
man ſie nicht jederzeit abgeſondert behandeln kann. —
Hier will ich zu erſt darthun, daß uͤberhaupt ſchwaͤch-
liche Leute mehrern, und wo nicht immer heftigern,
doch ſchlimmern Krankheiten unterworfen ſind, als
ſtarke und abgehaͤrtete.
Der reiche, wolluͤſtig und muͤſſig lebende Eng-
laͤnder iſt weit mehr, als der Bauer, den katarrha-
liſchen und entzuͤndlichen Anſchoppungen der Lunge,
und folglich der Lungenſchwindſucht weit oͤfter ausge-
ſetzt. Hoffmann glaubt, die Urſache davon ſeye,
weil die ſchwache Natur in den ſchlappen, ſchwam-
michten Koͤrpern nicht vermoͤgend iſt, die Vollſaftig-
keit gut zu verarbeiten, und den rohen Ueberfluß auf
andern Weegen auszuleeren; es muͤſten daher alle
Unreinigkeiten den ſchlappen und weichen Lungen zu-
fließen. Eben dieſer Schwaͤchlichkeit ſchreibt er es
zu, daß ihre Kinder ſo haͤufig geknuͤpft ſind. Unter
diejenigen, welche den Krankheiten entgehen, zaͤhlt
er ſtarke, arbeitſame, von rauher und einfacher
Koſt lebende, den Poͤbel, die Landleute, diejenigen,
welche ohne Kummer und ohne Leidenſchaften ihr Le-
ben zubringen, Juͤnglinge, junge Maͤnner, und die
etwas weite Blutgefaͤße, ein feſtes Fleiſch haben,
aber mager ſind, von welchen geſchrieben ſteht, daß
ſie keiner Arzney und keines Arztes bedoͤrfen.*) Die-
jenigen
[345] jenigen hingegen, welche kleine Adern, ſchlappe, wei-
che Faſern, feine Nerven und Sehnen haben, ſind
ſchwaͤchliche, hinfaͤllige Menſchen, von denen Zimmer-
mann ſagt: “Gefuͤhlvoll fuͤr die ſanfteſten Eindruͤcke
zittern ihre Fibern, wenn ein Staͤubchen ſie beruͤhrt;
ein Muͤckenfluͤgel umgiebt ſie mit Finſterniß; ein Hauch
kann ſie erſchrecken, ſie raſen bey dem kleinſten Wi-
derſpruche. — Leute, bey denen das ganze Syſtem der
Nerven von der Geburt her ſchwach iſt, haben kleine
Knochen, zarte Glieder, ein weiches Fleiſch; ſie ſind
uͤberhaupt blaß, und haben nur eine fluͤchtige Roͤthe;
ſie werden bald ermuͤdet, ihr Puls iſt ſchwach, ihr
Gemuͤth iſt ſehr empfindlich und beweglich, und ſie ſind
allen Krankheiten um ſo mehr ausgeſetzt, je mehr ſie
dieſelben fuͤrchten. Ich kenne einen geiſtvollen, durch
die Groͤße ſeines Herzens ſo ſehr, als durch die Vor-
zuͤge ſeines Verſtandes verehrungswerthen ſchweizeri-
ſchen Edelmann, der wegen der angebohrnen Schwach-
heit ſeines Nervenſyſtems ſchon in ſeinem ſechſten Jah-
re ein voͤlliger Hypochondriſt geweſen. Bey verſchie-
denen Maͤdchen von ſechs bis neun Jahren habe ich
alle kleinern Zufaͤlle der Mutterkrankheit mit ihrem
ganzen Gefolge ſehr oft bemerkt; die Urſache dieſer
Zufaͤlle waren nicht Wuͤrmer, ſondern die eigentliche
Urſache, von welcher hier die Rede iſt. Es giebt auch
Leute von einem hohen Alter, die wegen dieſer ange-
bornen Schwachheit jeder phyſiſche oder moraliſche
Eindruck ploͤtzlich zu Boden wirft, und ploͤtzlich zu den
Sternen hebt, die ſich in einem Tage tod und un-
verwundbar glauben.„*)
“Jun-
[346]
Junge Leute von der ſchwaͤchlichen Klaſſe ſind
von Natur nicht allein den aus den Feuchtigkeiten
entſpringenden Krankheiten, den Wechſelfiebern, den
Fluͤſſen, den Katharren, den Unverdaulichkeiten, den
Winden, den Schaͤrfen, den Bauchfluͤſſen, den ab-
mattenden Schweißen, den Geſchwuͤlſten, den Er-
gießungen, den Verſchleimungen und Verſtopfungen,
ſondern auch den hartnaͤckigſten chroniſchen Krankheiten
und allen ihren fuͤrchterlichen Folgen, der Cachexie,
der Gelbſucht, den Waſſerſuchten, dem Scharbock
ausgeſetzt. Wenn ein Kind ſehr volle Haare hat,
die hart anzufaſſen ſind, ſich rollen, oder gekraͤuſelt
werden und mit dem fortſchreitenden Wachsthum eine
immer dunklere Farbe annehmen, ſo kann man ſicher
ſchließen, daß es ſtark ſeyn wird; hat es dazu ein
feſtes und compaktes Fleiſch, eine reine, lebhafte und
ſaftvolle Haut, glaͤnzende Augen, und in der Folge
mittelmaͤßig große, geſchloſſene, weiße und gut ge-
ordnete Zaͤhne, mit ſtarken Muskeln, einer breiten
bruſtvollen ſich ſtets gleichen Reſpiration, mit einer
maͤnnlichen ſonoriſchen Stimme, mit gut proportionir-
ten Gliedmaßen und Wuchſe; ſo kann man zum vor-
aus von ſeiner Geſundheit eine gute Vordeutung faſ-
ſen; man kann hoffen, daß es lange leben wird,
wenn es ſeine Vorzuͤge nicht mißbraucht. Wenn es
hingegen wenige Haare hat, wenn dieſe eben fein,
weichlich ſind, wenn ſie von der braunen Farbe in
die Kaſtanienfarbe, und von dem ſchoͤnen Weiß in das
Lichtweiße uͤbergehen, ſo kann man ſchließen, daß es
ſchwaͤchlich, zaͤrtlich und ungeſund ſeyn wird, zumal
wenn
[347] wenn es ein weichliches Fleiſch, ein ſchlaffe, kraft-
loſe oder bleiche Haut, matte Augen, unreine von
einander abſtehende, ungleiche Zaͤhne, ſchwaͤchliche
Gliedmaſſen, einen hagern Wuchs, eine gezwungene
Reſpiration, und eine ſchwache, weibliche Stimme
hat.*)
Stoll hat beobachtet, daß ſchwaͤchliche, koͤr-
perliche Beſchaffenheiten, und hauptſaͤchlich diejenigen,
welche durch Ausleerungen, zumal des Blutes ent-
kraͤftet worden ſind, dem Frieſel mehr unterworfen
ſeyen. Deßwegen hat er Frauensperſonen von der
ſchwaͤchern Art, und beſonders Wittween, die uͤber
die Bluͤte ihrer Jahre hinaus, und nicht mehr frucht-
bar waren, weit oͤfter als Mannsperſonen, mit dem-
ſelben befallen geſehen; und unter dieſen nur junge,
ſchlappe, ſchlecht genaͤhrte, und mit einer harten und
mehlichten Koſt ausgeſtopfte Subjecten. Die Erfah-
rung, ſetzt Vogel hinzu, hat allerdings beſtaͤttigt,
daß Koͤrper, die mit ſchlechten Saͤften uͤberladen,
von Leidenſchaften, vorher gegangenen Krankheiten,
und andern Urſachen geſchwaͤcht worden ſind, reitzbare,
empfindliche Perſonen mit einer zarten Haut, beſon-
ders weiblichen Geſchlechts, vorzuͤglich zu dieſer Krank-
heit neigen.**)
§. 36.
Wenn ſogar die Entwicklung mangelhaft wird,
wo die erforderlichen Lebenskraͤfte gekraͤnkt ſind; ſo
koͤnnen
[348] koͤnnen eine groͤßere Anlage zu Krankheiten, und ei-
ne geringere Heilkraft unmoͤglich mehr bezweifelt wer-
den. Wo Frank von der Armuth des Landmanns
ſpricht*), ſagt er: “Die Kinder ſolcher Elenden ſind
waͤſſerichte Geſchoͤpfe mit geſchwollenen Baͤuchen und
verſtopften Eingeweiden; ihre Sterblichkeit iſt daher
uͤberaus groß. Schon in ihrem zarteſten Alter muͤſ-
ſen ſie durch ſchwere Arbeiten eine kuͤmmerliche Nah-
rung verdienen helfen, und die Kraͤfte, ſo das
Wachsthum ihres Koͤrpers befoͤrdern ſollten, ver-
ſchwizen. Daher ſieht man auf den mehrſten Doͤr-
fern, beſonders in Weinlaͤndern, wo der meiſte Duͤn-
ger auf menſchlichen Ruͤcken muß auf hohe Berge
getragen, und die Erde in einer kriechenden Stellung
ſtets aufgekratzt werden, den groͤſten Theil der Ju-
gend verwachſen und uͤbel gebildet; denn Schoͤn-
heit vertraͤgt ſich nicht mit der aͤußerſten Armuth und
mit erſtickenden Arbeiten. Man ſehe die Zugthiere,
ſo vor ihrer Reife zu ſchweren Arbeiten angehalten
werden, ſo wird man das Ebenbild der vor ihrer Zei-
tigung zu allen Gattungen von Geſchaͤften gezwunge-
nen Jugend haben. Groͤße und Staͤrke gehen unter
der Laſt des Elendes verlohren, und die vollkommen-
ſte Race der Thiere artet darunter aus. — — Bey
allen Seuchen iſt der arme allezeit der erſte, welcher
angegriffen wird.„ Betrachten wir ferner alle die
Hinderniße, ſo wir der Entwicklung entgegen ſtellen;
die eingeſchraͤnkte koͤrperliche Erziehung, das fruͤhzei-
tige Anhalten zu Geiſtesarbeiten, wodurch Leib und
Seele
[349] Seele verkruͤppelt, und auf immer zu dauerhaften
wichtigen Geſchaͤften unfaͤhig gemacht werden; die
allzuſorgfaͤltige Lebensordnung; das Entziehen der
Fleiſchſpeiſen vor den Pocken; die angeerbten Krank-
heiten, Schwaͤchlichkeiten, und Krankheitsanlagen
u. ſ. w. die den Kindern ohnehin eignen Uebel, die
Maſern, Pocken, die Zahnarbeit, die verſtopften
Eingeweide, die Wuͤrmer, die mannigfaltigen Aus-
ſchlaͤge, den Schleim- und Krampfhuſten; fremde
Milch; den Mangel freyer Luft in Staͤdten u. ſ. w.
Betrachten wir alle dieſe Hinderniſſe der Entwicklung
und Abhaͤrtung, ſo koͤnnen wirs nimmermehr ſonder-
bar finden, daß bey unſern Kindern durchgaͤngig die
Sterblichkeit zugenommen hat, und in unſern Zeiten
weniger ſehr alte Leute, als ehemals, gefunden wer-
den.
Ich habe ſehr oft die Bemerkung von Kämpf
und Weikard beſtaͤttigt gefunden, das ſchwaͤchliche,
bis in ihr ſiebentes Jahr mit Pflanzenſpeiſen genaͤhrte
Kinder am allererſten rachitiſch werden. Daher ließ
ich vor drey Jahren einen Buben, deſſen Mutter
unbeſchreiblich leidenſchaftlich iſt, durch zehn Kindbetten,
zahlreiche Aderlaſſen waͤhrend jeder Schwangerſchaft,
haͤufigen Blutfluͤſſen, und faſt auf jede Entbindung er-
folgten ſchweren Krankheit außerordentlich geſchwaͤcht
und reitzbar gemacht worden war, gleich von der Ge-
burt an ſtuffenweis an kalte Baͤder gewoͤhnen, ohne
alles Fatſchen allermeiſt ganz frey ſich herumwaͤlzen
Die Umſtaͤnde erlaubten nicht, ihm eine Amme zu
geben; hingegen bekam er zum Fruͤhſtuͤck einen guten
ſtarken
[350] ſtarken Kaffee mit gewoͤhnlicher Kuͤhmilch u. ſ. w.
Sobald ſich die erſten Zaͤhne zeigten, gab ich ihm
geraͤucherte Wuͤrſte und Schinken, die er mit unbe-
greiflicher Begierde und in groſſer Menge aß. Er
kroch mit bloſſem Hintern ohne Schuhe und Struͤmpfe,
ohne Kappe in dem rauhen Winter 1787 auf einem
mit Steinen belegten Boden herum, ſpielte ſich mit
Schneeballen und Eißzapfen. Nun iſt er zwar nicht
ſehr groß; aber unterſetzt; ſeine Glieder ſind dick,
ſein Fleiſch derb, ſeine Haare kraus, ſeine Augen
lebhaft, die Geſichtsfarbe roth und der ganze Bube
iſt Kraft und Munterkeit. Hie und da gehen Spul-
wuͤrmer von ihm, aber ohne die geringſte Unpaͤßlich-
keit zu verurſachen. Er haͤlt die ſchnellſten, heftigſten
Bewegungen ganze halbe Tage ohne andere Ermuͤ-
dung aus, als daß er die Nacht darauf deſto tiefer
ſchlaͤft. Dieſes Beyſpiel halte ich deßwegen fuͤr merk-
wuͤrdig, weil von den zehn vorhergegangenen Ge-
ſchwiſtern, wo doch die Schwaͤchlichkeit der Mutter
noch nicht ſo groß war, neun vor dem 3ten Jahre am
Krampfhuſten geſtorben ſind, und ſelbſt die Mutter
alle Tage unablaͤßlich eine große Menge Schleim aus-
wirft.
Da dieſer Gegenſtand gar zu reichhaltig iſt,
und ſchwerlich ein Leſer die Wahrheit meine Behaup-
tung bezweiflen wird; ſo mag dieſes im Allgemeinen
genug ſeyn. Wir wollen jetzt ſehen, wie ſich die hi-
tzigen Krankheiten verhalten, wenn ſie ſchwaͤchliche
oder geſchwaͤchte Koͤrper befallen.
§. 37.
[351]
Von den Kraͤften in hitzigen Krankheiten.
§. 37.
Traurige Erfahrungen haben Tiſſot belehrt,
daß hitzige Krankheiten bey den Selbſtbefleckern allemal
ſehr gefaͤhrlich ſind; denn ſie haben bey denſelben nicht
ihren ordentlichen Gang; es ſchlagen ſich auſſerordent-
liche Zufaͤlle dazu, und die Paroxismen halten nicht
ihre ſonſt gewoͤhnlichen Perioden; die Natur verſagt
ihren Beyſtand. Die Kunſt ſoll hier alles thun. Da
aber dieſe niemals eine vollſtaͤndige Scheidung bewirkt,
ſo bleibt der Patient, wenn die Hauptkrankheit nach
vielen Muͤhſeeligkeiten uͤberſtanden iſt, noch immer
in einem ſchwaͤchlichen Zuſtande, und gelangt nicht zur
vollkommenen Wiedergeneſung, wofern er nicht fort-
faͤhrt, ſich in allen Stuͤcken auf alle nur erſinnliche
Weiſe in acht zu nehmen; unterlaͤſt er dieſe Sorgfalt
ſo verfaͤllt er in eine langwierige Krankheit. Ueber-
haupt weichen durch einen unmaͤßigen Beyſchlaf, wie
durch andere entkraͤftende Urſachen, die Krankheiten
aus ihrer natuͤrlichen Ordnung. Die Aerzte, ſagt
Zimmermann, welche ihre Kunſt in groſſen Staͤdten
ausuͤben, wiſſen am beſten, wie ſehr die Unzucht der
Veneriſchen ihre Krankheiten verſchlimmert, verwickelt
und unkennbar macht.„ Der Gang der Krankheiten in
ſolchen Geſchoͤpfen iſt unregelmaͤßig, ihre Zufaͤlle wider-
ſprechend; keine Hilfe in der Leibesbeſchaffenheit; unvoll-
kommne oder gar keine Entſcheidungen, Ermattungen
und tauſenderley Ueberbleibſel ſind die Folgen derſeben.
Wie bedenklich die Krankheiten der Gelehrten
ſind, beweiſen uns ſo manche traurige, zu fruͤhzeiti-
ge
[352] ge Todesfaͤlle; und dieſe werden allemal um ſo bedenk-
licher, wenn man zu Entleerungen, beſonders zu Blut-
entleerungen genoͤthigt iſt. Die Nachtwachen, und
das unwiderſtehliche Denkgeſchaͤft haben den ganzen
Koͤrper, vorzuͤglich aber die vornehmſten Eingeweide,
den Magen und das Gehirn ſo ſehr an Lebenskraft
verarmt, daß ſich ihre Krankheiten nur aͤuſſerſt ſelten
gut entſcheiden, allermeiſt in die Laͤnge ziehen, und
beym geringſten Vergehen, der geringſten unangezeig-
ten Ausleerung Verwerfungen nach den innern Thei-
len machen. Iſt der Krankheitsſtoff fluͤchtiger Na-
tur, und hat ſich der Arzt durch die hier ſo gewoͤhnli-
chen Zeichen von Wallung, Vollbluͤtigkeit oder ſonſt
beweglicher Unreinigkeit taͤuſchen laſſen, ſo iſt der Tod
nimmer zu verhuͤten. Viele von unſern beſten Koͤpfen
ſind entweder kurz vor, oder gleich nach ihren Pruͤfun-
gen in ſchwere Krankheiten verfallen, wodurch ſie auf
der Schwelle des Gluͤckes und der Hoffnung weggeraf-
fet wurden. Wenn nun diejenigen, welche einſtens
zu ſchweren Kopfarbeiten beſtimmt ſind, ſchon von dem
vierten Jahre an dazu angehalten werden, und die
koͤrperliche Vollkommenheit gegen unreifen Prunk ei-
ner begriffloſen Gelehrſamkeit aufgeopfert wird — —
Was kann man dann anders von ihnen erwarten, als
daß ſie mit zwanzig Jahren von allen hypochondri-
ſchen Beſchwerden und Nervenzuſtaͤnden gemartert ein
elendes Leben fuͤhren, elende Kinder zeugen, und vor
der Zeit veraltet dahin ſterben!
Jede erſchoͤpfende Urſache bringt aͤhnliche Wir-
kungen hervor. Silen bekam uͤber vieler Ermuͤdung,
haͤu-
[353] haͤufigem Trinken und unzeitigen Leibesuͤbungen ein hi-
tziges Fieber, welches mit den wichtigſten Zufaͤllen
durchwebt war, und den eilften Tag toͤdlich wurde.*)
§. 38.
Dasjenige boͤsartige Fieber, welches man das
ſchleichende Nervenfieber nennet (febris lenta nervoſa)
pflegt Leute zu befallen, welche ſchlappe Faſern, ſchwa-
che Nerven, duͤnnes, waͤſſerichtes Blut haben; die ent-
weder durch unmaͤßige Ausleerungen, Traurigkeit,
Wachen, anhaltendes Studiren, oder durch Muͤhſee-
ligkeit geſchwaͤcht worden ſind; oder die ſich lange Zeit
mit unreiner, ſchlechter Koſt angefuͤllt, oder lange in
einer ſchlechten, feuchtkalten Luft aufgehalten haben;
Hypochondriſche und Hyſteriſche; ſolche, die ſchon lan-
ge gekraͤnkelt haben. Eben dieſe Schwaͤche, welche
zuverlaͤßig dem Nervenfieber ſeinen eignen ſchlimmen
Karakter giebt, iſt auch die einzige Urſache ſeines ſo
oft ungluͤcklichen Ausganges, beſonders wenn es im-
Anfange verkennt, und mit Ausleerungen iſt behandelt
worden. — — Daß es keine eigene Krankheit ſey,
ſondern in der That blos durch die Leibesbeſchaffenheit
und den gegenwaͤrtigen Kraͤftenmangel des Kranken
alſo geartet werde — und folglich keine neue Krank-
heit ſeyn koͤnne, wie man groͤßtentheils behauptet,
beweiſen folgende Umſtaͤnde:
Nachdem eine naßkalte Witterung lange Zeit
angehalten hat, ſo werden die Leute von der eben an-
ge-
Gall I. Band Z
[334] gezeigten Beſchaffenheit davon befallen, waͤhrend dem
indeſſen ſtarke, [kraftvolle] Leute entweder von hitzigen
Gichtfluͤſſen (Rheumatismus) oder andern Fiebergat-
tungen heimgeſucht werden. Dieſer Fall ereignete
ſich ſehr haͤufig um die Zeit, da ich dieſes ſchreibe, in
dem gelinden, feuchten Spaͤtjahre und anfangenden
Winter 1790. Starke, abgehaͤrtete Leute wurden
vielfaͤltig von Rheumatismen, von Halsweh, Katharr,
auch von hitzigen rheumatiſch-gallichten Fiebern befal-
len, und ſie mußten nach Beſchaffenheit der Umſtaͤn-
de theils mit Ausleerungen, mit gelinden ſchweißtrei-
benden Mitteln, manche auch mit Blaſenpflaſtern ge-
heilt werden. Aber eine ſehr verſtaͤndige, dicke Frau,
Mutter von mehreren Kindern, von ſehr empfind-
ſamem Gemuͤthe und ſo feiner Haut, daß bey dem ge-
ringſten Drucke blaue Flecke hinterbleiben; an der
man mit harter Muͤhe einen Aderſchlag entdecken kann,
und die ſchon ſeit ungefaͤhr einem halben Jahre uͤber
groſſe Entkraͤftung, uͤber mangelhafte Verdauung und
Magenſchmerzen klagte — — bekam allerley unor-
dentliche, hoͤchſt unſtete, wandelbare und dem Schei-
ne nach ganz verſchiedene Zufaͤlle. Oft hatte ſie eine
unertraͤgliche Hitze, oft fror ſie, als laͤge ſie in einer
Eisgrube. — Ueber der Stirne empfand ſie manch-
mal einen heftigen Schmerzen, und die Muskeln der
Augenhoͤhle ſowohl als die aͤußerlichen des rechten
Auges zuckten. Der Puls gieng allermeiſt wie im
geſunden Zuſtande, hie und da aber ganz unbeſtimm-
bar veraͤnderlich. Dabey war ſie ſehr kleinmuͤthig,
und wurde zu ungewißen Zeiten von einer unbeſchreib-
lichen
[335] lichen Bangigkeit befallen. Meinen Grundſaͤtzen zu
Folge nahm ich auf die zaͤrtliche Leibesbeſchaffenheit
Ruͤckſicht, obſchon ich jetzt noch das Uebel fuͤr einen
wandelnden Rheumatismus hielt. Ich gab die gelind-
ſten aufloͤſenden Mittel, weil die Zunge immer feucht
und ſchleimig war; — allein es gieng ſchlimmer. Ich
verordnete gelinde ſchweißtreibende Dinge von Min-
ders Geiſt, hofmanniſche Tropfen u. d. gl., ſie
ſchwitzte; aber der Schweiß war kalt, und roch ſehr
ſauer. Nun zweifelte ich nimmer mehr an der Na-
tur eines zwar gelinden Nervenfiebers; verſetzte die
letztern Dinge mit der Rinde; ließ einen guten To-
kayerwein trinken; — den 7ten Tag bekam ſie in den
Hintetbacken außerordentlich brennende Schmerzen; ich
erwartete eine brandige Verwerfung um das heilige
Bein; es geſchah aber nicht; denn der Stoff war noch
zu gutartig; auf dem Handruͤcken zwiſchen dem Zeigefin-
ger und dem Daumen erſchien ein kohlſchwarzer, run-
der, einer Linſe großer Fleck — und als man die
Stellen unterſuchte, welche den 7ten Tag ſo ſehr
ſchmerzten, waren ſie vom heiligen Beine an bis uͤber
den rechten Hinterbacken und die Haͤlfte des aͤußern
Theils des Schenkels ganz mit unregelmaͤßigen eben
ſolchen Flecken und Striemen beſetzt. Sie wurden nach
einiger Zeit blaſſer, und verloren ſich nach drey Wo-
chen. Den eilften Tag war der Harn vollkommen
gekocht, und es giengen gekochte, breyartige, weiße,
und weißgraue Stuͤhle ab, worauf die Geneſung voll-
ſtaͤndig wurde.
Z 2Ei-
[356]
Einige Tage ſpaͤter wurde eine andere, ebenfalls
dicke Frau, welche von langwierigem Kummer und
haͤuslichen Kraͤnkungen ſehr hergenommen war, ge-
nau von den naͤmlichen Zufaͤllen befallen. Sie war
innerhalb zwey Tagen ſo kraftlos, daß ſie den [Kopf]
nimmer aufrecht halten konnte. Ich ergriff gleich bit-
tere ſtaͤrkende Mittel, und Wein. Nach vier Tagen
konnte ſie wieder das Bett verlaſſen.
Eben dieſes hat Herz beobachtet.*) In den
Monaten April, May, Juny ꝛc. 1787. herrſchten ſehr
viele einfache Tertianfieber. Es gab auch hie und da
gutartige Unreinigkeitskrankheiten. Schleimſtoff der
erſten Weege war der Zunder ſowohl der Wechſelfie-
ber als der nachlaſſenden Fieber mit alltaͤglichen Ver-
ſchlimmerungen. Juͤnglinge, und andere ſtarke Leute
wurden mit aufloͤſenden Mitteln, Erbrechen und Pur-
giren geheilt. Schwaͤchliche aber, beſonders Frauen-
zimmer, und jene, welche durch viele Sorgen, Wa-
chen, Gram oder andere anhaltende Gemuͤthsbewe-
gungen geſchwaͤcht waren, genaſen nicht ſo leicht. Die im
Anfange ordentlichen Wechſelfieber uͤbergiengen entweder
in Nervenfieber; oder aber ſie erſchienen nicht einmal in
der Geſtalt der nachlaſſenden oder Wechſelfieber; ſondern
hatten gleich unordentliche Anfaͤlle, und zeigten ſich
deutlich als Nervenfieber. Obſchon ſie durch Auslee-
rungen von den ſchleimichten Unreinigkeiten gereinigt
worden waren, ſo hatten ſie doch keine Erleichterung;
ſie blieben eben ſo matt, hatten eben die unſtete Hitze
und
[357] und den abwechſelnden Schauer, eben den Eckel und
Mangel an Eßluſt u. d. gl.
Die uͤbrigen Beweiſe, daß dieſe Krankheit nicht
neu iſt, werde ich im 3ten Kapitel vortragen. Aber,
daß man ſie jezt weit oͤfter in unſern Gegenden beob-
achtet, als ehemals, und daß ſie noch zu den Zeiten
des Fauſtrechts bey uns eine unbekannte Erſcheinung
war, kann nicht geleugnet werden, obſchon ſie ſchon
in den Tagen des Hippokrates bey den Griechen
das Loos der Verfeinerung und der Weichlichkeit ge-
weſen iſt.
Da man alſo keinen andern Grund davon an-
geben kann, als eine ſchwaͤchliche Leibesbeſchaffenheit-
und einen betraͤchtlichen Mangel an Lebenskraft, ſo
muß man es auch der naͤmlichen Urſache zuſchreiben,
daß die boͤsartigen und Nervenfieber ſo ſelten, weder
waͤhrend der Krankheit, noch waͤhrend der Geneſung
gute und vollſtaͤndige Entſcheidungen machen, oder
zum wenigſten nur aͤuſſerſt ſchwer dazu gebracht wer-
den koͤnnen; und dann, wenn dieſe auch den vierzehn-
ten Tag angefangen haben, bis auf den dreißigſten
oder vierzigſten fortdauern, weil ſie nicht anderſt als
theilweis geſchehen.
§. 39.
Haͤtte man bey den Krankheiten der Kindbette-
rinnen uͤberlegt, daß ihre Koͤrper durch die Schwan-
gerſchaft in eine uͤble cachochimiſche Beſchaffenheit
verſetzt, durch die Zufaͤlle der Schwangerſchaft, die
Beſorgniß der bevorſtehenden Gefahr, die Geburts-
arbeit
[358] arbeit, die gaͤhlinge Entleerung, beſonders, wenn man
alles dieſes mit Ausleerungen aller Art erleichtern woll-
te, durch den Blutverluſt und das Milchfieber geſchwaͤcht
worden ſind; ſo haͤtte man ſich die ſchlimme Natur ih-
rer Krankheiten und deren ſo ſonderbare Geſtalten er-
klaͤren koͤnnen, ohne Eigenheiten aufzuſuchen, die, au-
ßer dem, was etwa einer beſondern Gegend eigen iſt,
nur in der irrigen Vorſtellung ihr Daſeyn haben. Be-
denckt man noch, daß die jedesmalige Beſchaffenheit
der herrſchenden Krankheit und der Jahrszeit das An-
ſehen dieſer Krankheiten veraͤndere, und dieſes ſelbſt
durch die verſchiedenen Stufen des obwaltenden Ver-
derbniſſes und der Schwaͤche veraͤndert werden muͤſſe;
ſo ſieht man ein, warum die Aerzte uͤber die Natur
des Kindbetterfiebers nie einig geworden ſind. Gera-
de dieſer allgemeine Widerſpruch iſt der ſtaͤrkſte Be-
weis, daß die Kindbetterinnen keine eigene, unter al-
len Umſtaͤnden und zu allen Zeiten ſich gleiche Krank-
heit haben, und daß man ſich ewig umſonſt bemuͤhen
wird, eine durchgaͤngig paſſende Heilart dagegen aus-
findig zu machen. Alles, was man im Allgemeinen
ſagen kann, iſt, daß man jedesmal auf die cachochi-
miſche Beſchaffenheit und die Entkraͤftung Ruͤckſicht
nehmen muͤſſe; denn dieſe ſind der einzige Grund,
warum die naͤmlichen Uebel, welche andere bey der
naͤmlichen Epidemie oder Jahrszeit mit gewoͤhnlichen
Zufaͤllen befallen, bey den Kindbetterinnen ſo unge-
woͤhnliche, gefaͤhrliche Zufaͤlle erregen.
Es iſt daher nach der vielfaͤltigen Erfahrung
eines Lentin nichts beſſer, die Kindbetterinfieber zu
ver-
[359] verhuͤten, als etwan drey Wochen vor dem Ende der
Schwangerſchaft ſo wie den dritten Tag nach der Ent-
bindung gelinde Abfuͤhrungen zu machen. Unter die-
ſer Vorſorge und einer maͤßigen Lebensordnung habe
ich, ſo wie er, noch nie eine Woͤchnerin in dieſes Fie-
ber verfallen geſehen.*)
Haͤtte man der Natur nachgeſpuͤret, ſo haͤtte
man uͤber dieſe Krankheit weniger Meinungen ausge-
bruͤtet, und waͤre auf dem kuͤrzeſten Weege zur Wahr-
heit gekommen. Die Kindbetterinnen im erſten Buch
von den Landſeuchen, 4—5te Krankengeſchichte hat-
ten gallichten Durchfall, und die letzte auch gallichtes
Erbrechen. Die Schwangere 13te K. hatte mehrmal
den Durchfall, und ihre Krankheit wurde den 14ten Tag
durch einen gallichten Durchfall gehoben. Die Kind-
betterinnen im 3ten Buch 2te Ab. 10—11—12. K.
und die im 3ten Abſch. 2—14te K. hatten alle gallichten
Durchfall. — Die Schwangere im 1ten Buch 13te
K., die Kindbetterin 11te K., die im 3ten Buch 2ter
Abſch. 12te und 2te K. waren ſchlafſuͤchrig. Einige
andere z. B. die im 3ten Buch 3ter Abſch. 14te
K. 2ter Abſch. 11. K. hatten die Hirnwuth. — Alſo
von acht Kindbetterinnen ſieben mit gallichtem Durch-
falle; drey mit Schlafſucht, und einige mit Hirnwuth.
— Kann man buͤndigere Beweiſe fordern, daß al-
lermeiſt der Grundſtoff davon in Unreinigkeiten des
Unterleibes zu ſuchen ſeye?
Die alltaͤglichſten Krankheiten, wenn ſie er-
ſchoͤpfte Koͤrper angreifen, oder wenn waͤhrend ihrer
Dauer
[360] Dauer durch eine unſchickliche Behandlung die Natur
unfaͤhig gemacht wird, den Krankheitsſtoff zu verar-
beiten und wegzuſchaffen, machen Verwerfungen nach
den innern Theilen, Stockungen, Verhaͤrtungen, ent-
zuͤndliche Anſchoppungen, Brand, langwierige un-
heilbare Uebel und endlich ein hektiſches Fieber. Wa-
rum giebt man ſich ſo viele Muͤhe, dieſe Umſtaͤnde
in den Krankheiten der Kindbetterinnen zu erklaͤren,
da doch die Urſ [...]chen ihrer Entſtehung weit zahlreicher
ſind? Die Ausleerungen, welche hier natuͤrlicher Wei-
ſe gemacht werden ſollen, werden leicht zuruͤckgehal-
ten, ſobald ein krankhafter Reitz wirkſam zu werden
anfaͤngt; und dieſe nun zuruͤckgehaltenen Feuchtigkei-
ten ſind kein geſundes Blut, ſondern ſie ſind durch
die Stockung verdorben und durch die Beymiſchung
der Ueberbleibſel von der Nachgeburt verunreinigt.
Die Eingeweide ſind von dem Drucke und der Ausdeh-
nung ſehr erſchlappt; weßwegen ſie ſehr leicht zum Ab-
lager jener verdorbenen Unreinigkeiten werden, und
dann geben ſie ſo, wie dieſes bey andern cachochimi-
ſchen Leuten geſchieht, wenn ſie in hitzige Krankheiten
verfallen, zu den ſchlimmſten Wechſelfiebern, zum
Brand, zu allerley Hautkrankheiten, Schwaͤren, Kraͤtze,
Naͤgelgeſchwuͤren, zu langwierigen Schweißen, Bauch-
fluͤßen, dem weißen Fluß, dem Friſel, Rothlaufen,
gichtiſchen Zufaͤllen, Hinfaͤlligkeit, hektiſchen Fiebern,
zu hyſteriſchen Anfaͤllen u. d. g. Anlaß; und alle die-
ſe Uibel ſind deſto gefaͤhrlicher, je groͤßer das Verderb-
niß und die Entkraͤftung ſind, je fruͤher ſie nach der
Entbindung entſtehen, und je mehr ſie von Seiten der
Ne-
[361] Nebenumſtaͤnde, z. B. durch eine groſſe Anzahl Kran-
ken im Spitale, oder durch eine ohnehin faulichte
Epidemie beguͤnſtigt werden.
Aber, werden einige ſagen, was ſind denn jene
ſchmerzhaften Stockungen, welche ſich ſo wohl in den
fieberhaften Krankheiten der Kindbetterinnen, als gleich
nach der Entbindung bey den Blutfluͤſſen derſelben
ereignen, und das Beruͤhren nicht ertragen? Sind
dieſe nicht entzuͤndungsartig? und wie kann man da
eine Heilart billigen, wodurch die Kraͤfte mehr auf-
gerichtet, als niedergedruͤckt werden?
Erſtlich ſind Sechswoͤchnerinnen ſehr wenig zu
Entzuͤndungen geneigt; denn ſie haben jezt ſchlappe
Faſern, und ſind durch Blutfluͤſſe dazu unfaͤhig gemacht
worden. Daher ſah Stoll ſelten Entzuͤndungen bey
ihnen, und jedesmal auch bey den entzuͤndlichſten Con-
ſtitutionen nur in ſehr geringem Grade. Und uͤber-
haupt uͤberall, wo dieſer Zuſtand der Schwaͤche ſtatt
hat, ſind Entzuͤndungen aͤuſſerſt ſeltene Erſcheinungen.
So hat das Nervenfieber ebenfalls ſelten etwas ent-
zuͤndliches bey ſich; und wo dieſes auch hie und da
geſchieht, ſo ſoll man nur wenig, oder beſſer, gar
kein Blut weglaſſen; denn dieſe Art Entzuͤndungen ſind
mehr Stokungen vom traͤgen Umlaufe, oder aber
krampfhafte Anſchoppungen.
Zweytens ereignet ſich der naͤmliche Fall am
Ende wahrer und ſchlimmer Faulfieber, beſonders
wenn im Anfange Brechmittel vernachlaͤſſiger worden
ſind. Einige nehmen hier zwar mit Walter und Stoll
verborgene Entzuͤndungen an. Daß dieſes in gewißen
taͤu-
[362] taͤuſchenden Faulfiebern ſehr oft, und zuweilen auch
in wahren der Fall ſey, kann ich nicht laͤugnen.
Wenn ich aber bedenke, daß zu jeder Entzuͤndung ei-
ne zum wenigſten theilweis verſtaͤrkte Wirkſamkeit er-
fordert werde, ſo kann ich, bey dieſen Umſtaͤnden,
und in dieſem ſpaͤten Zeitpunkte, jene Blutanſchop-
pungen, die man bey dergleichen Verſtorbenen in den
duͤnnen Gedaͤrmen, dem Gekroͤſe, den Lungen, der Le-
ber, dem Gehirne u. ſ. w. antrift, mit Burſery und
Ludwig unmoͤglich fuͤr wahre Entzuͤndungen halten.
Sie ſind vielmehr Folgen von der Aufloͤſung der Saͤf-
te, und der Erſchlappung der Gefaͤße. Die Gedaͤr-
me bey ſolchen ſind ſchlapp; das Blut in ihnen iſt
fluͤßig, aufgeloͤſet, nicht, oder nur aͤuſſerſt ſelten ge-
ronnen. Sie entſtehen auf der hoͤchſten Stufe der
boͤsartigen Fieber, und kurz vor dem Tode; ſie ſind
von einem kleinen, ſchwachen Pulſe begleitet, und ſind
nur ſelten ſchmerzhaft, obſchon mir ſelbſt der heftigſte
Schmerz allein fuͤr die Entzuͤndung nichts beweiſet.
Blutlaͤßen ſchaden meiſtentheils augenſcheinlich, was
Burſery fuͤr eine bekannte Sache angiebt, weil da-
durch die Lebenskraͤfte noch mehr geſchwaͤcht, die Auf-
loͤſung befoͤrdert, und die Kraͤmpfe vermehrt werden,
wie er es oͤfters geſehen hat, und wie man es alle
Tage an Thieren, die an Entleerung ſterben, ſehen
kann. Hat nun manchmal noch eine krampfhafte Schnuͤ-
rung Antheil daran, wie Queſnay richtig glaubt,
ſo muß das Uebel nothwendig verſchlimmert werden.
In dieſem Falle iſt der Puls hart, geſpannt, zuſam-
mengezogen; er wird aber auf eine Klyſtir oder eini-
ge
[363] ge hoffmanniſche Tropfen wieder weich. Die Halleri-
ſchen Verſuche*) beweiſen zwar, daß kleine Blut-
laͤßen die Stockungen jedesmal in Bewegung bringen,
und daß ſie, wo ſie durch Reiben und andere ſtaͤrken-
de Dinge unterſtuͤzt werden, in der That gute Dien-
ſte leiſten koͤnnen. Allein ſie beweiſen auch, daß eben
die Stockungen in dem Grade hartnaͤckiger werden,
als man die Wirkſamkeit der Gefaͤße durch uͤbel ver-
ſtandene Auslerungen oder andere erſchlappende Din-
ge vermindert.
Drittens nimmt man durchgehnds an, daß ſelbſt
ſolche Stockungen, welche im Anfange wahrhaft ent-
zuͤndlich waren, nur mit reitzenden Mitteln, kleinen
Gaben Kampfer, fluͤchtigen Salben und Laugenſalzen,
ſpaniſchen Fliegen u. d. gl. gehoben werden koͤnnen,
ſobald die Gefaͤße durch zu ſchnelle und haͤufige Aus-
leerungen ihre Wirkſamkeit verloren haben. Nun aber
hat es jezt die Erfahrung beſtaͤttigt, daß die Blutfluͤſ-
ſe der friſchgebaͤhrenden am gluͤcklichſten durch die Roſ-
marin- oder Zimmettinktur, deren Einfuͤhrung wir
unſerm Plenk zu verdanken haben, gehemmet, die
Schmerzen des Unterleibes gehoben, und der Brand ver-
huͤtet werden. Will man dieſen Blutfluͤſſen im Wahn,
daß ſie vom Ueberfluße des Blutes entſtehen, durch
Aderlaſſen waͤhrend der Schwangerſchaft zuvorkommen,
oder ſie, wenn ſie wirklich ſchon zugegen ſind, durch
Blutausleerungen, Mandelmilchen und Limonaden ſtil-
len, ſo werden die Schmerzen im Innern der Einge-
wei-
[364] weide zuſehends vermehrt, der Blutfluß wird haͤufiger;
es entſtehen krampfhafte Bewegungen, Zuckungen,
Gaͤhnen, Zittern, Ohnmachten u. ſ. w. und der Tod.
Alles dieſes beweiſet, daß hier die Gefaͤße durch die
heftigen Geburtsſchmerzen, die gewaltſamen Kraͤm-
pfe, durch eine zu ſchnelle Geburt oder vorhergegan-
gene zu ſtarke Ausdehnung und den erlittenen Druck
gelaͤhmt ſind. — Und folglich iſt dieſer Zuſtand ein
wahrer Zuſtand der Schwaͤche, dem durch eine rei-
zende, ſtaͤrkende Heilart abgeholfen werden muß.
Das naͤmliche gilt von dem uͤberaus heftigen
Schmerz bey Woͤchnerinnen in einer von beiden Seiten
des Unterleibes, in der Gegend zwiſchen dem Nabel
und dem Dorn des Iliums. 〟Der Schmerz iſt in
einer tiefer liegenden harten hoͤchſt empfindlichen Ge-
ſchwulſt umſchrieben, der bey jeder Wendung des Koͤr-
pers heftiger wird, und die Woͤchnerinnen gar oft
zum Schreyen zwingt. Ein beſonderes Fieber iſt nicht
damit verbunden, wohl aber ein ſchleuniges Aufhoͤren
der weißen Lochien. — Erweichende Umſchlaͤge ver-
ſchlimmern das Uebel. — Die Kranken koͤnnen nicht
die geringſte Beruͤhrung der Stelle vertragen, und
glauben einen hoͤhern Grad des Schmerzens nicht aus-
halten zu koͤnnen: Chinaumſchlaͤge mit Kampfer und
Eſſig, und innerlich eine Salzmixtur aus Salmiack,
Salpeter und Kampfer ſchaffen ſehr geſchwinde Hilfe.
Es ergießet ſich naͤmlich bald darauf ein ſchleimichtes
faules Waſſer, das das ganze Zimmer mit dem Ge-
ruch faulen Wildprets erfuͤllt, wornach ſich der Ge-
ſchwulſt und Schmerz voͤllig verlieren. Staͤrkende, der
Faͤul-
[365] Faͤulniß widerſtehende Mittel aus der Rinde und der
Wohlverley ſtellen die Kranken voͤllig wieder her.〟*)
Bey hyſteriſchen Frauenzimmern werden manch-
mal die ſonſt gemeinen Wechſelfieber durch Ohnmach-
ten ſchrecklich, ſo, daß eine kleine Bewegung ſogleich
die Lebenskraͤfte erſchoͤpft, einen unendlich kleinen Puls,
kalte Schweiße, und ein todenblaſſes Anſehen verur-
ſacht, wo alles, was aͤußerlich oder innerlich die Le-
benskraͤfte erwecken kann, noͤthig iſt. — Eben ſo ſind
die Wechſelfieber allzeit ein bedenlicher Umſtand in
cachektiſchen Krankheiten aller Art, Waſſerſucht,
Schwindſucht, Scharbock, Kraͤtze, Venusſeuche, in
boͤsartigen Geſchwuͤren, Blutfluͤſſen und andern ſtarken
Ausleerungen; in allen krafeloſen, alten und ſaftleeren
Koͤrpern; in ſchwangern Perſonen, und ſchwaͤchlichen
Kindern?**) Das Weeſentliche hievon kann man
auch auf das Schlaffieber der Greiſe anwenden.
Was ich nun von einigen hitzigen Krankheiten
bewieſen habe, ließe ſich von allen beweiſen, in wie
fern ſie in ſchwaͤchlichen erſchoͤpften Koͤrpern anderſt,
als in ſtarken, kraftvollen erſcheinen.
§. 40.
Man kann ſich jetzt leicht die Gefahr und den
Verlauf einer Krankheit vorſtellen, wenn der Stoff der-
ſelben von der Art iſt, daß er den Gang der verſchie-
denen Verrichtungen hemmt, und eine ſehr betraͤchliche
Kraftloſigkeit hervorbringt.
Zu
[366]
Zu allen Zeiten ſind jene Krankheiten fuͤr die
gefahrvollſten gehalten worden, und die neuern Aerzte
haben ſogar den Begrif der Boͤßartigkeit (malignitas)
einzig auf ſolche eingeſchraͤnkt, welche gleich bey ihrem
Anfall von einer großen und gaͤhlingen, aus keiner offen-
baren Urſache, z. B. Vollbluͤtigkeit, erklaͤrbaren Entkraͤf-
tung begleitet werden. Obſchon ich nicht glaube, daß man
durch dieſe Einſchraͤnkung der Heilkunde einen weſent-
lichen Dienſt geleiſtet habe, wie wir ſpaͤter ſehen wer-
den; ſo kann doch bey ſolchen Umſtaͤnden die dringende
Gefahr nicht geleugnet werden. Es iſt ſehr ſchlimm,
ſagt Stoͤrk, wenn gleich im Anfange das Geſicht ſehr
eingefallen und veraͤndert, und der Kranke ſehr ſchwach
iſt*). Daher ſind die boͤsartigen oder jene verkapp-
ten Wechſelfieber ſo gefaͤhrlich, deren Anfaͤlle entweder
von Betaͤubung, Schlagfluß, Ohnmachten, Schlaf-
ſucht, Erſtarren, uͤbermaͤßigen Ausleerungen begleitet
ſind, oder blos unter der Geſtalt dieſer Zuſaͤlle erſchei-
nen, vorzuͤglich, wo ſich dieſes bey ohnehin ſchwaͤchli-
chen, erſchoͤpften oder alten Perſonen ereignet. Da-
her die lange Dauer ihrer Anfaͤlle, die mancherley
Beſchwerden ihrer Zwiſchenzeiten (apyrexia); ihr un-
ordentlicher, verwirrter Verlauf; daher ihre mangel-
haften Entſcheidungen durch die ſonſt gewoͤhnlichen Wee-
ge als: Schweiß, Harn, Stuͤhle, Speichelfluß; und
ihre Geneigtheit, wenn doch noch einige Wirkſamkeit
der Natur uͤbrig bleibt, Verwerfungen nach den Oh-
rendruͤſen, den Huͤften, Achſeln zu machen, ſo zwar,
daß
[367] daß bey jungen Leuten dieſe Verwerfungen nach den
Gliedmaſſen, bey alten aber nach dem Rumpf und den
innern Theilen geſchehen; daher endlich die traurigen
Ueberbleibſel, als: Betaͤubung, groſſe Schwachhei-
ten, Auszehrung, Taubheit, Vergeſſenheit, langwie-
rige Geſchwuͤre u. ſ. w.
Die naͤmlichen Zufaͤlle beobachtet man in La-
zareth-Spital- und Kerkerfiebern: Die Geſchicht-
ſchreiber davon haben aber auch kein Merkmaal ſtand-
hafter und allgemeiner gefunden, und ſie haben auf
keines ſo ſehr gedrungen, als eben auf jene gleich im
Anfange herrſchende, außerordentliche Entkraͤftung.
Es ſind nicht nur die Glieder ſehr abgeſchlagen, ſagt
Schroͤder, ſondern es verbreitet ſich uͤber alle Ver-
richtungen des Koͤrpers und uͤber alle Faͤhigkeiten der
Seele immer mehr und mehr eine ſchwere Kraftloſig-
keit, woraus bey vielen unordentliche Schauer, ſchwa-
cher Puls, Mangel an Lebenswaͤrme, Ohnmachten,
Betaͤubung, Stumpfheit der Sinne, Irreſeyn, und
krampfhafte Bewegungen entſtehen. Obſchon ſich an-
faͤnglich mehrere Kranke außer Bett aufhalten koͤnnen,
und in manchen der Aderſchlag nicht ſchwaͤcher iſt, als
im natuͤrlichen Zuſtande, weßwegen man in Erkennt-
niß der Krankheit leicht irre gefuͤhrt werden kann;
ſo entdeckt man doch, wenn man den ganzen Zuſtand
des Kranken genau unterſucht und alle Umſtaͤnde zu-
ſammen haͤlt, eine ungewoͤhnlich große, das Innerſte
des Koͤrpers gleichſam zermalmende Entkraͤftung, wel-
che den ſonſt wirkſamſten Arzneyen aufs hartnaͤckigſte
widerſteht. Pringle hat das Zittern der Haͤnde,
(Zei-
[368] (Zeichen einer großen Schwaͤche;) als das gewoͤhnlich-
ſte Zeichen des Lazarethfiebers beobachtet, und es nahm
ab und zu, ſo wie der Puls erhabner wurde, oder ſank.
Auch dieſe Krankheit endigt ſich nur dann zuweilen in
Schwuͤrungen der Ohrendruͤſen, (vielmehr der daruͤ-
ber liegenden lymphatiſchen Druͤſen) oder der Achſel-
druͤſen, nachdem ſie ſchon lange gewaͤhrt und folglich
die Kraͤfte ebenfalls ſchon ziemlich erſchoͤpft hat.
Leute, die durch Krankheiten oder andere Zufaͤlle (als
durch einen Speichelfluß) geſchwaͤcht worden, werden
nicht nur leichter angeſteckt, als die ſtarken und fri-
ſchen, ſondern laufen auch groͤßere Gefahr.*)
Wo Mertens von den Karfunkeln, (carbun-
culus, anthrax) redet, ſagt er: Wenn dem Kranken
die Kraͤfte gebrechen, ſo erhebt der Karfunkel ſich
nicht; aber, wo dieſe noch zugegen ſind, da entzuͤn-
den ſich die benachtbarten Theile; es bildet ſich um
den Schorf herum ein rother Kreis, welcher in Ei-
terung uͤbergeht; und dadurch wird der abgeſtorbene
Theil von den lebendigen losgetrennt, und bey fort-
ſchreitender Eiterung, welche endlich den Schorf bis
in den Grund untergraͤbt, abgeloͤſet und abgeworfen,
wornach nichts als ein gewoͤhnliches Geſchwuͤr uͤbrig
bleibt.**) So wird der Kranke gerettet, der im wi-
drigen Falle ohne alle Hoffnung verloren iſt.
§. 41.
Was wird nun geſchehen muͤſſen, wenn in hi-
tzigen Krankheiten die Lebenskraͤfte durch die Kunſt un-
ter
[369] ter ihr erforderliches Ziel herabgeſetzt werden? Ich
gebe zu, daß in den obigen angefuͤhrten Krankheiten
die boͤsartige Natur des Krankheitſtoffes ſelbſt vieles
zur Verſchlimmerung des Uebels beytrage, und folg-
lich nicht jede kuͤnſtliche Entkraͤftung gleich ſchreckliche
Zufaͤlle nach ſich ziehe. Aber da weder die Natur noch
die Kunſt ohne angemeſſenes Maaß von Lebenskraft
etwas Gutes ausrichten koͤnnen; ſo waͤre es Unſinn,
andere, als in aller Ruͤckſicht ſchlimme Folgen zu er-
warten, welche nothwendig deſto ſchlimmer ſeyn wer-
den, je mehr der Zuſtand der Entkraͤftung durch das
Verderbniß des Krankheitsſtoffes verwickelt wird.
In leichten Faͤllen, ſagt Stoͤrk, kann man
das ganze Heilgeſchaͤft der Natur allein uͤberlaſſen,
und ſie nur dann unterſtuͤtzen, wenn ſie entweder auf
Abwege gerathet, oder nicht hinlaͤngliche Kraͤfte be-
ſitzt. Wenn man ſolche gelinde Krankheiten, um ſie
auf einmal zu heben oder zu verkuͤrzen, mit heftig wir-
kenden Arzneyen angreift, ſo erfolgt allermeiſt das
Gegentheil: Denn die Natur wird geſtoͤhrt, die Krank-
heit verſchlimmert und in die Laͤnge gezogen, oder es
bekoͤmmt dem Kranken ſo ſchlecht, daß er nicht ſelten
das Leben einbuͤßet. Eben ſo iſt es ein hoͤchſt ſchaͤd-
liches Vorurtheil, die Kur einer jeden Krankheit mit
Aderlaͤßen, Schweiß-Purgier oder Brechmitteln an-
zufangen. Man unterſuche zu erſt die Natur, Urſa-
che, und die Zufaͤlle der Krankheit, dann ſuche man
ſie durch eine verhaͤltnißmaͤßige Heilart zu beſtreiten.“*)
So
Gall I. Band A a
[370] So z. B. ſind beym Seitenſtiche, in einem feuchten
Temperamente, wo der Schmerz maͤßig, die Erſti-
ckung nicht betraͤchtlich, der Aderſchlag nicht gar zu
hart, und das Fieber nicht jenen Grad, welcher zur
Kochung oder Zertheilung noͤthig iſt, uͤberſteigt, die
Aderlaͤßen nicht nur uͤberfluͤßig, ſondern ſie werden in
der That nachtheilig, indem ſie die Zertheilung und
Kochung, weil ſie das Fieber zu ſehr herabſetzen,
hindern, und zu langwierigen Uebeln Anlaß geben.*)
Dieſe Maaßregel haben alle Schriftſteller angegeben;
aber ich ſehe nur aͤußerſt ſelten, daß ſie von ausuͤben-
den Aerzten befolgt wird. Kaum klagt Jemand uͤber
einige Erhitzung, einen nur bey tiefem Einathmen oder
Huſten fuͤhlbaren Schmerz, ein bischen Fieber. —
Der Puls ſeye, wie er wolle — ſo ergreift man die
Lanzette, und iſt uͤber alle Maaßen geſchaͤftig, einer
Entzuͤndung zuvorzukommen, wenn man ſich noch nicht
von ihrer Gegenwart uͤberzeugen kann. Ich will durch
einige Beyſpiele den Unterſchied darthun, welchen man
bey einer angemeſſenen, und bey einer zu ſtrengen
Kurart beobachtet.
Der Verfaſſer vom Mißbrauche des Aderlaſſens
erzaͤhlt den Fall eines Kranken, dem ſchon dreymal
zur Ader gelaßen war; am dritten und vierten Tage
waren das Fieber und der Schmerz noch ziemlich be-
traͤchtlich; der Kranke hatte aber einen haͤufigen blu-
tigen Auswurf und eine feuchte Haut. Es ſollte ihm
aber nach dem Vorhaben des Wundarztes noch drey-
mal zur Ader gelaſſen werden. Indeſſen verordnete
er
[371] er Boratſchenſaft, einen Eibiſchabſud und warme Um-
ſchlaͤge. In der folgenden Nacht ereignete ſich ein
guter Schweiß, und am andern Morgen war der Sei-
tenſtich beynahe verſchwunden, und das Fieber ſehr
maͤßig. Jetzt gab er ein Loth Manna mit vier Loth
friſchem Mandeloͤl; nach zwey bis drey Tagen befand
ſich der Kranke faſt eben ſo ſtark, als er vor der
Krankheit war. — — Ein junger, ſtarker, lebhaf-
ter Menſch, der einen ſehr heftigen Seitenſtich hatte,
und dem ſchon viermal Blut abgezapft worden war,
wurde am ſechſten Tage unruhiger, aͤngſtlicher, der
Aderſchlag wurde geſchnuͤrter und der Schmerz hefti-
ger. An der Haut aber bemerkte man eine Erſchlap-
pung und Feuchtigkeit, da ſie bisher ſehr trocken und
duͤrre war. Dieſes zeigte die annaͤherende Entſchei-
dung an. In der Nacht zwiſchen dem ſechſten und
ſiebenten ſchwitzte der Kranke, worauf ſich alle Zu-
faͤlle verloren; zwey Tage nachher war er bis auf ei-
ne unbetraͤchtliche Schwachheit vollkommen hergeſtellt.
Kathrine Alt, eine ſtarke, dicke Frau,
welche ſehr dem Wein ergeben war, bekam im Hor-
nung 1788 gaͤhlings heftige Schmerzen im Unterlei-
be; dieſe Schmerzen hielten unausgeſetzt an; wurden
von Zeit zu Zeit heftiger, und ertrugen nicht die gering-
ſte Bedeckung. Das Fieber war heftig, der Puls
klein und geſchwind; der Abgang des Harns und des
Stuhles verſtopft; nebſt allen uͤbrigen Zeichen einer
heftigen Entzuͤndung der Gedaͤrme. Ich verordnete
eine reichliche Aderlaͤße; ließ die Bettdecke durch Rei-
fe in die Hoͤhe halten, und fuͤllte das ganze Bett mit
A a 2einem
[372] einen warmen Dampfe an. Sie trank nur ſehr we-
nig erweichende Getraͤnke, weil ſie alſobald zum Bre-
chen gereitzt wurde. Abends war der Schmerz,
ihrer Sage nach, noch eben ſo heftig, obſchon ſie jetzt
einige Beruͤhrung und Bedeckung ertrug; der Ader-
ſchlag war etwas mehr entwickelt; auch konnte ſie
mehr Getraͤnke ertragen. Ich ließ noch einmal zehn
Unzen Blut weg. — Den andern Tag war zwar der
Schmerz noch ſehr empfindlich, allein ſelbſt ihrem
Gefuͤhle nach maͤßiger. Der Aderſchlag langſamer;
die Haut nimmer ſo heiß — aber etwas ſchlapper,
und der Abgang des Harns war nimmer ſchmerzhaft
und haͤufiger mit einer gegen den Grund zu geſenkten
Wolke. Den dritten Tag war die Haut feucht, und
alles uͤbrige gab mir Hoffnung einer baldigen Entſchei-
dung, die ich in dieſem ſchweren Falle mit Ungeduld
erwartete. Auf die Nacht ward ich eilends gerufen.
Die Frau lag in entſetzlichen Aengſten da; athmete
ſchwer und ſehr unordentlich; der Puls ſetzte aus, und
war in aller Ruͤckſicht ungleich. — Sie hatte heftige
Schauer, phantaſirte u. d. gl. aber bey allem dem war
die Haut warm und feucht, und der Harn gieng ohne
Beſchwerden ab. Ich veraͤnderte gar nichts, und ver-
ſprach zum Erſtaunen der Umſtehenden die nahe Beſ-
ſerung. Noch in der Nacht verwandelte ſich das
heftige Kollern des Unterleibes in einen zahlreichen
Bauchfluß einer weißgelblichten, mit braun gemiſchten
breyartigen Materie. Dieſe Ausleerungen dauerten
einige Tage gemaͤßigt fort, und den ſechſten Tag ver-
richtete
[373] richtete die Kranke wieder ihre gewoͤhnlichen Hausge-
ſchaͤfte.
Jakob Mühlbauer, ein geſunder, ſtarker
Mann von 25 Jahren aß auf die Nacht viel Schwei-
nenfleiſch. Den andern Tag zu Ende des Hornung
1791 in der Fruͤhe um halb neun Uhr uͤberfiel ihn
in der Kirche ein heftiger Schauer. Er konnte ſei-
ne Wohnung nimmer erreichen, und blieb bey ſeinem
Schwager, der in der naͤhe wohnte. Er fieng alſo-
gleich an, ſich heftig zu erbrechen, wobey er eine gruͤ-
ne Galle in groſſer Menge ausbrach. Alles was er
nahm, brach er heraus. Dabey klagte er uͤber hefti-
ge Schmerzen im Kreuze und in der Herzgrube. Der
Puls war voll und weich; die Zunge unrein, weiß-
licht. Ich hielt mich an erweichende, verduͤnnende
Arzneyen, weil ich zweifelte, ob dieſe Zufaͤlle blos
Folge der Unverdaulichkeit, oder etwan mit unter
die Vorlaͤufer der jezt hie und da vorkommenden ka-
tharrhaliſchen Lungenentzuͤndung waͤren.
Den zweyten Tag in der Fruͤhe hatte er noch
heftigere Schmerzen ober der Magengegend gegen die
rechte Seite unter dem Bruſtbein, nebſt einem ſehr
laͤſtigen Druͤcken. Jetzt war die Zunge ganz weiß,
der Puls hart. Ich ließ acht Unzen Blut weg, wel-
ches nur in einer Schaale eine entzuͤndliche Haut hat-
te. Erleichterung. Gegen Abend ſchien mir der Schmerz
noch zu heftig, deßwegen ließ ich noch zehn Unzen
Blut ab. Mehr Erleichterung, mit voͤlligem Aufhoͤ-
ren des Erbrechens, und beſſerm Athmen; der Puls
noch ſtark, voll, aber minder hart. Die Nacht er-
traͤg-
[374] traͤglich mit merklicher Zunahme der Beſſerung. Nun
ſagte ich auf die Nacht die Verſchlimmerung vor, wel-
che aber nichts zu bedeuten haͤtte. Abends um fuͤnf
Uhr, alſo in der ſieben und fuͤnfzigſten Stunde wur-
de der Schmerz wieder aͤrger, und nahm ſo ſchnell
uͤberhand, daß er noch nie ſo unertraͤglich war. Der
Harn hatte etwas wolkichtes, das in der Mitte ſchweb-
te. Um acht Uhr war noch alles das naͤmliche. Die
Zunge weiß, und die Haut am ganzen Leibe trocken.
Um halb neun Uhr, alſo in der ein und ſechzigſten
Stunde, fieng die Haut an, weich und feucht zu wer-
den; der Schmerz und der Druck ließen nach; in der
Nacht ſchwitzte der Kranke uͤber und uͤber; ließ einen
ganz truͤben, leimichten Harn, der viel weißroͤthlich-
ten Bodenſatz machte; der Puls war jezt weich, die
Zunge weniger weiß, der Schmerz und der Druck nur
wenig noch merklich, der Kranke klagte uͤber große Mat-
tigkeit. Den vierten, fuͤnften, ſechſten Tag die Bruſt
frey, der Puls langſam, etwas ſchwach, maͤßiger
Huſten mit gekochtem Auswurf; den fuͤnften verließ
er das Bett; der Harn blieb noch mehrere Tage truͤb,
und die Geneſung war vollſtaͤndig.
§. 42.
So wirkt die Natur in geſunden Koͤrpern,
wenn die Kraͤfte geſchont worden ſind; ganz anderſt
aber in eben ſolchen Koͤrpern, wenn man dieſe zu ſehr
erſchoͤpfet hat.
Joſeph Lachenmayer, ein junger, ſtarker,
geſunder Bediente bekam 1788, den zwanzigſten Chriſt-
monat
[375] monat eine ſchmerzhafte geſchwollene Wange mit be-
ſchwerlichem Schlingen, Fieber und etwas lebhafterm
Pulſe. Man machte erweichende Umſchlaͤge; aber den
zweyten Tag war es ſchlimmer. Den dritten war
das Schlingen ſehr ſchmerzhaft und beſchwerlich; der
Puls widerſtund dem Drucke des Fingers ziemlich ſtark,
und ſchlug in einer Minute ſechs und ſiebenzigmal.
Man hatte den Kranken einem Wundarzt uͤbergeben,
und ich machte den Zuſchauer. Es wurden zehn Un-
zen Blut abgezapft. Abends war wenig Beſſerung
zu bemerken; man ließ alſogleich noch zehn Unzen; die
Nacht erfolgte ein Naſenbluten, welches aber nicht
anhielt. Den naͤchſten Tag durch war die Haut feucht,
warm; der Puls voll, weich, wallend; die Nacht
erfolgte ein allgemeiner, haͤufiger, warmer Schweiß,
mit auffallender Erleichterung, ſo daß der Kranke
das Bett verlaſſen konnte. Jezt beſtuͤrmte man ihn
mit Abfuͤhrungsmiteln. Er wurde wieder matter; be-
kam unordentliche Fieberanfaͤlle; der Hals fieng an,
von neuem zu ſchmerzen, und in einigen Tagen war
die Wange wieder mehr, als daß erſtemal angeſchwol-
len. Man fuͤhrte immer fort ab, und ließ noch zwei-
mal zu Ader. Die Schwulſt war nimmer zu vertrei-
ben, und bald aͤuſſerten ſich Zeichen der Eiterung.
Kaum aber merkte der Wundarzt Spuren von Eiter,
ſo machte er uͤber den aͤuſſern Rand der untern Kin-
lade einen Einſchnitt; es floß wenig blutiger Eiter
heraus. Solche unzeitige und uͤbel angebrachte Ein-
ſchnitte machte er noch zwey jeden zweiten, drit-
ten Tag; bis ſich endlich die Schwulſt uͤber den Schlaf
und
[376] und bis hinab aufs Schluͤſſelbein ausbreitete, und voll-
kommen hart wurde. Aus den Geſchwuͤren ſchwitzte
einige gelbroͤthlichte Feuchtigkeit und hie und da ein wenig
mißfaͤrbiger duͤnner Eiter. Aller Salben, Pflaſter und
Umſchlaͤge ungeachtet blieb dieſer Zuſtand fuͤnf Wochen
der naͤmliche. Endlich mußte das Zimmer ungeſund,
der Kranke von dem Luſtſeuchengift verdorben ſeyn —
und ſo wurde er bey dieſen Umſtaͤnden fuͤr unheilbar
erklaͤrt, und ins Krankenhaus verdammt. Da man
aber den Lebenswandel deſſelben kannte, und die Quel-
le dieſer Beſchuldigungen aus dem bisherigen Ver-
lauf der Krankheit nicht ſchwer zu entdecken war; ſo
trug man mir die Heilung auf. — Was werde ich
wohl gethan haben? — Ich erſetzte der Natur, was
man ihr entzogen hatte; verordnete Wein und Pillen
aus bittern Auszuͤgen mit peruvianiſcher Rinde; auf
die Verhaͤrtung wurde eine reitzende Salbe gelegt.
Schon den dritten Tag war die Eiterung merklich,
der Eiter gut; die Schwulſt fieng an, nachgiebig zu
werden; der Harn machte mehrere Tage einen haͤufi-
gen, weißroͤthlichten Bodenſatz; die Kraͤfte und die
Eßluſt nahmen zu; und innerhalb vierzehn Tagen war
das unheilbare Uebel im naͤmlichen Zimmer vollſtaͤndig
geheilet.
Ich koͤnnte kein anſchaulicheres Beyſpiel anfuͤh-
ren, um die Entſtehung der Lungenſchwindſuchten zu
erklaͤren, wo die Zertheilung oder Entſcheidung der
Lungenentzuͤndungen durch uͤbermaͤßige Blutausleerun-
gen gehindert worden ſind. So behandelte Kranke
ſterben zwar nicht am Brande, und nicht leicht an ro-
her
[377] her Erſtickung; allein, ſo gewiß bey oͤrtlichen Ent-
zuͤndungen der Eingeweide ein zu heftiges Fieber viel
gefaͤhrlichere Wirkungen hat, als in einem bloß allge-
meinen hitzigen Blutfieber: eben ſo gewiß ſind auch
im erſten Falle die Folgen von zu ſtarken Entleerun-
gen weit bedenklicher, als im letztern, wo hoͤchſtens
eine andere ebenfalls allgemeine Krankheit, oder lange
anhaltende Schwaͤchlichkeiten daraus entſtehen. So
blieb der Juͤngling bey Tiſſot ſehr lange kraͤnklich,
weil ihm die Ader ſprang, und eine groſſe Menge
Blut, bis er in Ohnmacht fiel, ausfloß, nachdem
man ihm wegen Vollbluͤtigkeit in einem dreytaͤgigen
Fieber zur Ader gelaſſen hatte. Auf dieſen Vorfall
blieb zwar alſogleich das Fieber aus, allein die lange
fortdaurende Schwaͤchlichkeit bewies nur gar zu deut-
lich, daß dieſes nur eine Folge der Entkraͤftung war.
Eben ſo ſah Tiſſot mehrere in Bleichſuchten, Waſſer-
ſuchten u. ſ. w. verfallen, welche man in Wechſelfie-
bern und nachtaſſenden Fiebern zu ſtrenge durch Blut-
laͤßen und Lebensordnung behandelt hatte. In dieſenall-
gemeinen Fiebern iſt es dennoch manchmal genug, wenn
ſo viel Kraft uͤbrig bleibt, als erfodert wird, den Um-
lauf der Saͤfte auch noch ſo ſchwach zu erhalten.
Aber bey oͤrtlichen Anhaͤufungen muͤſſen die Le-
benskraͤfte auch noch hinreichen, die Stockungen zu
zertheilen, wieder in Bewegung zu bringen; die durch
die Stockung und Fieberhitze verdorbenen Saͤfte theils
mit den uͤbrigen zu veraͤhnlichen, theils von denſelben
abzuſcheiden, und durch unſchaͤdliche Weege auszulee-
ren; oder aber, wenn dieſes unmoͤglich iſt, die ſchad-
haf-
[378] haften Theile in gutartigen Eiter zu verwandeln, und
das Geſchwuͤr mit einer dauerhaften Narbe zu verſehen.
Martin Budislawsky, ein junger, lebhafter,
geſunder Prediger bekam das Blutſpeyen. Man ließ
ihm 26mal zur Ader. Von der Zeit an hatte er bey
jeder geringſten Veranlaſſung einen Huſten, wobey er
jedesmal Blut, und oͤfters auch auſſer dem Huſten ei-
ne eiterfoͤrmige Materie auswarf. Er hatte immer
einige Beſchwerniß auf der Bruſt; war immer ſchwaͤch-
lich, verdruͤßig, kleinmuͤthig, und klagte uͤber einen
anhaltenden Schmerzen in der rechten Weiche unter
den falſchen Ribben. Man uͤberſchuͤttete ihn alltaͤg-
lich durch drey Jahre mit erweichenden Getraͤnken,
wobey er immer elender wurde. Im October 1790.
uͤberfiel ihn ein ſtarker Blutſturz mit heftigem, ſtar-
kem Pulſe. Man ließ ihm innerhalb den fuͤnf erſten
Tagen eilfmal zur Ader, jedesmal zehn Unzen. Da-
bey hatte er warme Umſchlaͤge auf der Bruſt; trank
haͤufig Mandelmilch und dicke Gerſtenſchleime, und
nahm oͤfters von einer Mixtur aus Salpeter, Waſſer,
Holderſulze, oder Holderbeerſaft. Als ich ihn den
fuͤnften Tag das erſtemal ſah, war ſein Puls noch
ſehr hart und geſpannt; unter dem Auswurf war we-
niges Blut. Beym Athmen klagte er uͤber keine Be-
ſchwerde, und empfand auch keine Beklemmung; aber
er war ſehr kleinmuͤthig, furchtſam, und hatte ſeit ei-
nigen Jahren her mancherley Verdruͤßlichkeiten ausge-
ſtanden. Der Wundarzt war gerade wieder da, um
nochmal, und dann, wie es ſchon vorbeſtimmt war,
noch einigemale zehn Unzen Blut abzuzapfen. Ich ſetz-
te
[379] te zu erſt die Mixtur bey Seite, weil in allen oͤrtli-
chen Entzuͤndungen alles, was nur im geringſten rei-
zet ſchaͤdlich iſt; ließ gar keine Mandelmilch mehr trin-
ken, weil ſie Unreinigkeit erzeugen, und ſelten ganz
mild ſind; um weniger zu naͤhren, gab ich den Gerſten-
ſchleim ſeltner und ſehr verduͤnnet. Da hier offen-
bar eine krampfhafte Reizbarkeit mit im Spiele war,
ſo rieth ich drey oder vier Hoffmanniſche Tropfen mit
Zucker, und alſogleich einen Wollblummenthee (Ver-
baſcum) darauf zu nehmen. Mit der Aderlaͤße bat
ich den Erfolg dieſer Abaͤnderung abzuwarten. Die
Nacht hatte der Kranke zwey Stunden geſchlafen,
was bisher nie geſchah. Der Puls war zum Erſtau-
nen weich, aber er ſchlug in einer Minute hundert
zwanzigmal. Dieſer Umſtand verrieth ganz unverkenn-
bar die große Entkraͤftung, in welche der Kranke ge-
ſtuͤrzet war. Was war alſo zu thun, um einer un-
heilbaren Stockung oder andern langwierigen Uebeln
zuvor zu kommen? Wie konnte man da eine Ent-
ſcheidung erhalten, ohne welche nach ſchon ſo lange
angehaltenem Fieber keine Hoffnung war? — — Ich
ließ mit allem, wie geſtern fortfahren; nur gab ich
auf die Nacht nebſt den Hoffmanniſchen Tropfen zehn
Gran Fieberrinde in Pillen. Den andern Tag be-
fand ſich der Kranke beßer; die Haut wurde wei-
cher, die Augen waͤßericht, der Puls etwas voͤller
und wellenfoͤrmig. Dieſe Nacht, und die Nacht des
achten Tages ſchwitzte er ſehr maͤßig, aber uͤber den
ganzen Koͤrper und mit Erleichterung. Der Entkraͤf-
tung zufolge erwartete ich keine andere, als theil-
weiſe,
[380] weiſe, unvollſtaͤndige Entſcheidungen. Der Harn hat-
te eine leichte, weiße, flockichte Wolke. Ich ver-
mehrte alle Tage die Gabe der Rinde zu einigen Gra-
nen, und ſo wie ſich die Eßluſt aͤuſſerte, erlaubte ich
ein-zwey-drey-bis viermal des Tages eine gute
Suppe. Den eilften und zwoͤlften in der Nacht hatte
er haͤufigere, und ebenfalls allgemeine Schweiße,
welche, obſchon ſie jedesmal hoͤchſtens eine Stunde an-
hielten, dennoch eine ungemeine Erleichterung verſchaff-
ten. Der Harn machte jetzt einen kleyenartigen, weiß-
roͤthlichten Bodenſatz. Die Kraͤfte und die Eßluſt
nahmen in gleichem Verhaͤltniße zu. Sehr oft wurde
auf einmal der Aderſchlag wellenfoͤrmig, worauf der
Kranke jedesmal einſchlief, und waͤhrend dem Schla-
fe ſchwitzte, worauf er allemal mit mehr Heiterkeit
erwachte. Erſt den ſiebenzehnten Tag bekam er ge-
kochte, breyartige, ſchmierige, glaͤnzende, aber haͤu-
fige Stuͤhle, worauf nebſt allgemeiner Beſſerung der
Schmerz in der Weiche ſelbſt zu weichen anfieng.
Vom vierzehnten Tag an trank er alle Tage etwas
weniges Wein. Da er jetzt vom Urſprung und der
Natur ſeines Schmerzens, den man bisher fuͤr eine
heimliche Entzuͤndung ausgab, uͤberzeugt war, ſo fieng
er den Gebrauch der Kaͤmpfiſchen Klyſtire an, wo-
rauf er eine große Menge Unrath ausleerte, und in
wenig Tagen beynahe ohne alle Schmerzen war. Er
machte eine Reiſe nach Boͤhmen, und kam in 4 Wo-
chen geſund zuruͤck.
Der ganze Verlauf dieſer Krankheit; die theil-
weiſen, unvollſtaͤndigen, ſpaͤt hinausgezogenen Entſchei-
dun-
[381] dungen, der noch den zwanzigſten Tag ziemlich ge-
ſchwinde Aderſchlag (denn er war nur auf 70—80 in
einer Minute herabgefallen); der Nutzen der Rinde
und des Weines u. ſ. w. ſind eben ſo viele unumſtoͤßli-
che Beweiſe, daß die zahlreichen Aderlaͤßen der er-
ſten Krankheit die vollſtaͤndige Heilung gehindert haben,
und daß ſie zuverlaͤßig auch dieſesmahl durch ein aͤhn-
liches Verfahren wuͤrde gehindert worden ſeyn, wo-
von man in der ganzen Krankheitsgeſchichte die deut-
lichſten Spuren antrift.
Galenus hatte alſo recht, daß er jener Blut-
ſpeyerin nicht aderließ, obſchon ſie ſonſt ſehr dazu ge-
neigt war, weil ſie keine Kraͤfte hatte, und ſie hatte
ſicher ihre Herſtellung dieſer Klugheit zu verdanken.
Wer kann nun einem Helmont ſeinen Beyfall
verſagen, wenn er uͤberall jener Heilart den Vorzug
giebt, welche ohne allen Verluſt der Kraͤfte bewerk-
ſtelligt werden kann. Quotiescumque ſine virium
amiſſione (Vires namque ſemper primatum obtinent
in indicationibus) ſanatio haberi poteſt, quo citius
id fit, majcti quoque jubilo naturæ arripitur.*)
Die Aerzte hatten ihn ſo ſehr erſchoͤpft, daß es kein
Wunder war, wenn ein ſo warmer Kopf gegen alle
Art Ausleerungen aufgebracht wurde: Qui antea ſa-
nus, alacer, integris viribus, levis in ſaltu et curſu,
jam redactus eram in maciem, tremebant genua, ge-
næ collapſæ, et vox mihi rauca.
Und Barker ſagt mit voͤlligem Rechte, daß
diejenigen, welche den Sydenham uͤbel verſtanden, und
die
[382] die kuͤhlende Heilart zu weit getrieben haben, mehr
Schaden dadurch anrichten, als jemals die hitzige
Heilart des Helmont anrichten konnte.*) Selbſt
Sydenham ſagt: “Wenn man die Aderlaͤßen, oder
andere Ausleerungen in Entzuͤndungen oder andern
Fiebern bis zur vollſtaͤndigen Beſſerung, das heißet,
bis kein Fieber mehr zugegen iſt, fortſetzet, ſo wird
endlich der Tod das einzige Mittel gegen die Krank-
heit.„ Er geſtehet, daß er in ſeinen juͤngern Jahren,
beſonders in rheumatiſchen Uebeln ein groſſer Liebhaber
vom Aderlaſſen war; er habe aber nachher erfahren,
daß zwey bis drey Blutlaͤſſen vollkommen hinlaͤnglich
waͤren, und daß man die Heilart beſſer mit einigen
Abfuͤhrungen, und bey jungen lebhaften Leuten mit ei-
ner kuͤhlenden Lebensart unterſtuͤtze. Daher berichte-
te er uns ausdruͤcklich, daß er nur ſo viel Blut weg-
laſſe, als er zur Maͤßigung der zu heftigen Bewegung
des Blutes fuͤr unentbehrlich findet.
Außer der Verſchwendung des Saamens, welche
doch bey weitem nicht ſo ſchnell entkraͤftet, iſt keine
Entkraͤftung ſo ſchwer wieder herzuſtellen, als jene,
welche die Folge haͤufiger Blutergießungen iſt. Die
Natur wird ſo kraftlos, daß ſie jeder Krankheitsur-
ſache unterliegt, die aufgenommene und angeſammel-
te Krankheitsmaterie nie ohne empfindliche Unordnung
der Maſchine wegſchaffen kann. Daher ſind ſolche
Leute nach der Bemerkung des Oolaus ſo ſehr zu
Fieberchen, oder vielmehr zu mancherley fieberhaften,
unwirkſamen Ahndungen der Naturkraͤfte geneigt, wie
wir
[383] wir oben ſchon geſehen haben. Galenus glaubte,
die Lebensgeiſter werden dadurch zerſtreuet, der gan-
ze Koͤrper erkaltet, und alle natuͤrlichen Verrichtun-
gen ins Stecken gebracht. Von Swieten bemerkt,
daß diejenigen Mannsleute, welche oͤftern Blutfluͤſſen
unterworfen ſind, zu der gewoͤhnlichen Zeit ſolcher
Entleerungen eben ſolche Zufaͤlle bekommen, welche
den Weibsleuten eigen ſind, ſo, daß ihr natuͤrliche
Staͤrke endlich in die Schwaͤchlichkeit des weiblichen
Geſchlechts ausartet.
Selbſt die Natur iſt ſehr ſparſam mit dieſer
Art von Ausleerung, ſo lange die Kraͤfte der Kran-
ken noch aufrecht ſind. Tiſſot beobachtete in ſei-
nen Gallfiebern nie weder einen kritiſchen Blutfluß,
noch Mutterfluß, nicht einmal bey ſolchen, die ſonſt
an Bluten gewohnt waren. Sapiens natura adeo in-
fenſam criſim non moliebatur, quamdiu Oeconomia
naturalis nondum obruta erat. Weßwegen nicht ein-
mal der Zeitfluß, wenn er in den Zeitpunkt der Schwaͤ-
che faͤllt, fuͤr ganz gleichguͤltig kann angeſehen wer-
den. Und wenn endlich aus Hinfaͤlligkeit der Kraͤfte
Blutfluͤſſe entſtunden, ſo waren ſie toͤdtlich. So blu-
tete die Kindbetterin bey Hippokrates den vierzehnten
Tag aus der Naſe, und ſie ſtarb.*) Auſſer demjenigen
hitzigen Blutfieber, welches Hippokrates im dritten
Wetterſtand beſchreibt, und wo haͤufiges Naſenbluten
theils allein, theils mit andern Ausleerungen entſchei-
dend war, iſt unter ſeinen zwey und vierzig angefuͤhr-
ten Krankengeſchichten keine, deren Heilung man ei-
nen
[384] nem Blutfluſſe allein zuſchreiben koͤnnte. Hievon ein
mehreres im Kapitel von den Entſcheidungen ꝛc.
§. 43.
Am groͤſten wird der Nachtheil der unmaͤßigen
Ausleerungen, beſonders der Blutausleerungen in je-
nen Krankheiten, welche aufgeloͤſte Saͤfte, oder eine
verdorbene Leibesbeſchaffenheit zum Grunde, oder zur
Folge haben. Da werden alle Zufaͤlle hoͤchſt unordent-
lich, ſo bald die Kraͤfte, welche ohnehin ſchon ge-
kraͤnkt ſind, noch mehr herabgeſetzt werden. Alle Zu-
faͤlle erſcheinen unter der Geſtalt der boͤsartigen, der
Nervenzufaͤlle. Der natuͤrliche Verlauf der Krank-
heit wird verwirrt; der Aderſchlag iſt bald groß,
voll, ſtark, hart, geſchwind, bald klein, zuſammen-
gezogen, ſchwach, weich, langſam; bald iſt die Haut
mit Schweiß uͤberronnen, bald trocken; oder der
Schweiß bricht nur an einzelnen Stellen aus; er iſt
bald heiß, bald kalt, bald waͤſſericht, geruchlos, bald
ſchmierig, ſtinkend; eben ſo gehen alle Ausleerungen
unordentlich; bald zeigt ſich der Anfang einer Ent-
ſcheidung, und geht bald wieder in den Zuſtand der
Rohigkeit zuruͤck; die Eßluſt, der Schlaf, die Sin-
ne ſind unſtet; die feſten Theile bald gelaͤhmt, bald
uͤberſpannt. Es entſtehen Kraͤmpfe, Zuckungen, Zit-
tern, Verwirrungen der innern Sinne u. ſ. w. Und
allen dieſen Erſcheinungen kann auf keine andere Art,
als durch die, freylich oft unmoͤgliche, oft zu ſpaͤte,
Erſtattung der Kraͤfte abgeholfen werden.
Einer,
[385]
Einer, der am Gallfieber lag, wurde durch
viele Ausleerungen ſo ſehr entkraͤftet, daß er in Be-
taͤubung verfiel, Erbrechen und anhaltenden Schluch-
zen, geſpannte Weichen (Hyppochondria) und kalte
Fuͤße bekam; der gegenwaͤrtige Arzt ſahe alles fuͤr
Zeichen des Brandes an. Kämpf aber gab ihm eine
Suppe von dem ſchwaͤrzeſten Brode mit Sauerampfer.
Dieſe begierig verſchluͤckte Koſt ſtillte das Erbrechen
und den Schluchzen, und verſoͤhnte den Magen mit
den Arzneyen, die ihn bald außer Gefahr ſetzten.
Als im Chriſtmonat des Jahrs 1778 die Gall-
fieber um Heidelberg herrſchend wurden, ſtarb nach
Gattenhofs Bericht keiner daran, als ein junger
Menſch, der ſich im Anfange eine ſtarke Aderlaͤſſe ma-
chen ließ, worauf er gleich von Kraͤften kam, ver-
wirrt wurde, und mit den Haͤnden um ſich ſchlug. —
Schwaͤchliche Leute erholten ſich erſt nach drey, vier
Wochen unter allerley unbedeutenden Beſchwerden;
ſtarke hingegen ſehr geſchwind und vollkommen.*)
Bey der gallichten Lungenentzuͤndung, welche
1753 in Lauſann herrſchte, ſtarben alle, denen zur
Ader gelaſſen wurde; einige, welche Tiſſot nach dem
Aderlaſſen noch vor dem Tode ſah, athmeten ſchwer,
und verfielen in Irreſeyn: der Athem war dabey ſehr
geſchwind und kurz; und das Phantaſiren lebhaft,
der Puls aͤußerſt ſchnell, geſchwind, klein, hart. Er
ließ keinem Blut weg, und ſie genaſen alle unter dem
Ge-
Gall I. Band. B b
[386] Gebrauche der Klyſtiere, Brechmittel, ſaͤuerlichter
harntreibender Getraͤnke und des oft eingeathmeten Eſ-
ſigdampfes.
In den Lazarethfiebern beobachtete Pringle, daß
das ſtarke Blutlaſſen ungemein ſchaͤdlich war; es
ſchwaͤchte den Puls und griff den Kopf an. Selbſt
maͤßiges Blutlaſſen hat oft geſchadet; ſogar Blutigel
hatten nachtheilige Folgen, wenn der Kranke mit ei-
nem geſunkenen Pulſe irre war. Viele, ſagt er, er-
holten ſich, ohne daß ihnen Blut gelaſſen wurde,
aber wenige, die viel Blut verlohren hatten.
Aus einer unzaͤhligen Menge von Beyſpielen
waͤhle ich nur noch eines, welches aber von mehreren
Seiten hoͤchſt lehrreich iſt:
Im Jahr 1785 im Monat July verfiel Carl
Mayerhofer, ein ſonſt ſtarker, geſunder vierzigjaͤh-
riger Mann, in ein gallichtes Faulfieber, nachdem er
einige Zeit ein ſehr feuchtes Zimmer unter der Erde
bewohnt hatte, und ſchon uͤber zwey Monate von ei-
nem unordentlichen Wechſelfieber ſtark hergenommen
war. Dieſes war der erſte Kranke, den ich eigen-
maͤchtig behandelte: Freylich fuͤr die damalige Lage eine
ſchwere Probe! Wir hatten den Kopf voll von verbor-
genen Entzuͤndungen, und der Scharfſinn und das
Unterſcheidungsvermoͤgen meines unſterblichen Lehrers
fehlten mir, und allen meinen Freunden, die ich mit
zu Rathe zog. Der Mann klagte uͤber Beaͤngſtigung,
Spannen und Schwere auf der Bruſt. — Eine heim-
liche Lungenentzuͤndung! Es wurde zur Ader gelaſſen;
und es erfolgte Erleichterung; aber nach einigen Stun-
den
[387] den war die Beaͤngſtigung weit ſchlimmer; das erſte-
mal thats gut — folglich wurde zum zweytenmale
Blut abgezapft! die mißfaͤrbige Haut, der locker[e]
beym Schuͤtteln zerfallende Kuchen waren keine Gruͤn-
de gegen die vorgefaßte Meynung. Nun aber ſanken
die Kraͤfte ſo ſehr, daß ſchon den andern Tag der
Mann enthloͤßet mit ausgeſperrten Beinen da lag;
der Mund hieng offen; die Augen waren halb zu und
unbeweglich, oder bewegten ſich auf lautes Zurufen
nur ſehr langſam. Alle Sinne waren ſtumpf. Die
Zunge gieng nimmer uͤber die Lippen hervor; alle
Ausleerungen giengen unwiſſend ins Bett; der Puls
war veraͤnderlich, im Ganzen aber ſehr klein. Die
Haut ſchmutzig, erdfaͤrbig, gelb, trocken, ſproͤde. Er
hatte oͤfters Sehnenhuͤpfen; und wenn es ihm hie und
da einfiel, ein Glied zu bewegen, ſo zitterte es da-
bey u. ſ. w. Jetzt beſuchte ich das Opfer meiner Un-
wiſſenheit alle Tage mehr denn zehnmal; bot allen
meinen Kraͤften und allen Kraͤften der Arzneyen auf.
Ueber alle Erwartung erhielt ich ihn in dieſem Zu-
ſtande drey Wochen. Nach dieſer Zeit entſtund eine
Geſchwulſt im Auge, welche nach einigen Tagen auf-
brach, und nebſt einer groſſen Menge unreinen We-
ſens alle Saͤfte des Augapfels ausrinnen ließ. — Von
dieſer Zeit fieng er an ſich zu erholen. — — Nach-
dem er ſchon zwey Monate mit einem Stock herum-
gieng, freye Luft und beſſere Nahrung ſuchte; wur-
den ihm die Stellen unter beyden Bruſtwarzen ſchmerz-
haft. Auf den Ribben ſchien ſich ein harter gewoͤlb-
ter Koͤrper gebildet zu haben, als wenn die Ribben
B b 2ſelbſt
[388] ſelbſt hervortraͤten. Dieſe Erhabenheit wurde nach
und nach roth, entzuͤndete ſich, eiterte, und es floß
aus beyden Geſchwuͤren eine groſſe Menge Eiter. Da-
bey erhielt er ſeine Kraͤfte wieder — und verdient
ſeitdem, wie vorher, ſein taͤgliches Brod mit einem
Auge, mir zur ewigen Warnung, und meinen jungen
Leſern zur dringenden Belehrung.
Von der Wiedergeneſung.
§. 44.
Aus dieſen Erfahrungen erhellet ſchon zum
Theil, in welchem Verhaͤltniß die Wiedergeneſung
mit den mehr oder weniger erhaltenen, oder wieder-
kommenden Kraͤften ſtehe. Da aber viel daran gele-
gen iſt, daß dieſer Zeitpunkt gut beurtheilt und folg-
lich gut behandelt werde, ſo iſt es der Muͤhe werth,
etwas genauer zu erforſchen, wovon deſſen gluͤcklicher
oder ungluͤcklicher Verlauf vorzuͤglich abhaͤnge.
Im Allgemeinen gilt die Bemerkung, daß,
je mehr die Kraͤfte durch die vorhergehende Krankheit
gelitten haben, deſto ſchwerer, langſamer, unvoll-
ſtaͤndiger die Wiedergeneſung von ſtatten gehe. Die
groͤßere oder geringere Entkraͤftung aber haͤngt bald
von der mitgebrachten Leibesbeſchaffenheit, bald von
der Natur und der Dauer der Krankheit, bald von
der Heilart, und bald von allen dieſen Umſtaͤnden zu-
ſammen ab. Peſt, peſtilenzialiſche Fieber, boͤsartige
Fieber, Nervenfieber, Faulfieber zerruͤtten die Lebens-
kraͤfte am maͤchtigſten; auch iſt nach allen dieſen Ue-
beln die Wiedergeneſung mit den groͤſten Schwierig-
kei-
[389] keiten verbunden. — Naͤchſt dieſen kommen die Gall-
und Schleimfieber, alle Ausſchlagskrankheiten, beſon-
ders wenn der kritiſche Ausſchlag nicht vollkommen zu
Stande gebracht wurde, z. B. wenn die Pocken nicht
gehoͤrig eiterten; oder aber, wo die Ausſchlaͤge eine
Folge einer zu hitzigen, reitzenden Heilart waren, wo-
rauf unausbleiblich eine deſto groͤßere Erſchlappung oder
Entkraͤftung folget. Daher die langſamen, ſich ſo
ſehr in die Laͤnge ſchleppenden Wiedergeneſungen nach
dem Frieſel, dem Scharlach, u. ſ. w.
Wechſelfieber, wenn ſie nicht zu lange anhal-
ten, und Entzuͤndungskrankheiten, wofern nicht das
Gehirn ſelbſt urſpruͤnglich dabey gelitten hat, erſchoͤ-
pfen ihrer Natur nach die Kraͤfte am wenigſten, ob-
ſchon gleich nach den Anfaͤllen und den Entſcheidungen
manchmal die Kranken ſehr matt ſind. Ihre Folgen
ſind daher von geringer Bedeutung, die Wiederge-
neſung geſchieht ohne viele Muͤhe, und bald befindet
ſich der Kranke, wo nicht beſſer, doch wieder ſo gut,
als vorher.
In allen Krankheiten aber kann durch das Zu-
ſammentreffen mehrer oder weniger ſchwaͤchenden
Urſachen der Grad der Entkraͤftung gleich ſtark, und
folglich die Wiedergeneſung gleich ſchwer gemacht wer-
den. So viel bleibt in jedem Falle gewiß, daß das
ganze Gluͤck derſelben auf der verhaͤltnißmaͤßigen Er-
haltung und Erſtattung der Kraͤfte beruht.
Haſenöhrl erzaͤhlt von einem acht und zwanzig
jaͤhrigen Soldaten, welcher nach einem entzuͤndlichen
Seitenſtiche den ſechſten Tag zu raſen anfieng. Die
Ra-
[390] Raſerey dauerte bis den neunten Tag, an welchem
ein Naſenbluten entſtund, welches bald aufhoͤrte,
bald wieder aufs Neue anfieng, und ſo lange anhielt,
daß der ganz entkraͤftete Kranke ſicher geſtorben waͤre,
wenn man es nicht geſtillt haͤtte. Der Kranke blieb
ſehr lange ſchwaͤchlich; er ſchwoll an den Beinen, im
Geſicht und am ganzen Leibe. Er genaß endlich
nach ſtaͤrkenden Mitteln.*)
Weikard hat einen jungen Menſchen, der die
Rechte ſtudierte, von einer ſchweren Frieſelkrankheit
geneſen geſehen. Er war beynahe die ganze Krank-
heit hindurch irre und oft wie raſend geweſen. Die
Krankheit hatte ihn nun voͤllig verlaſſen. Er war
noch ſchwach am Koͤrper, doch ſchienen ſeine Verſtan-
deskraͤfte wieder in Ordnung zu ſeyn. Er empfand
gegenwaͤrtige Dinge, und urtheilte ganz ordentlich;
allein das Vergangene war ihm aus dem Sinne ge-
kommen. Er wuſte nicht, in welcher Stadt, in wel-
cher Gaſſe er war. Seine Geſellſchafter erinnerten
ihn endlich an verfloſſene Dinge. Sie erzaͤhlten ihm
wie oft ſie zuſammen hatten Muſik gemacht. Er wu-
ſte kein Wort davon, daß er jemals die Muſik ver-
ſtanden habe. Man gab ihm ſeine Harfe; er ſetzte
die Finger an, und wollte ſich zu tode wundern,
daß er Lieder ſpielen konnte. Man redete ihn fran-
zoͤſiſch an, er antwortete ordentlich, und fragte mit
Erſtaunen, ob er es denn vormals gelernet haͤtte? Er
wuſte ſich nicht zu erinnern, daß er die Rechte ſtudiert
hatte, obwohl er in ſelbigen ſehr fleißig geweſen war.
Man
[391] Man fragte ihn einige Erklaͤrungen aus ſeinem Hei-
neccius; er antwortete ſo gut, als in ſeinen geſunden
Tagen, und konnte immer dieſe ihm unbewußte Ge-
ſchicklichkeit nicht faſſen. Endlich kam ihm ſein or-
dentliches Gedaͤchtniß wieder. — — —
“Ich hab einen Jungen gekannt, faͤhrt Weikard
fort, der nach langer Ruhr endlich genaß, auch wie-
der Kraͤfte zum Gehen hatte. Er war aber ohne
Vernunft, und juſt ſo, wie ein Vieh von der duͤmmern
Gattung. Er aß und trank, wenn es ihm vorkam;
er nahm auch andern Speiſe weg, ohne jemals et-
was ordentlich zu begehren. Er war ohne Scheu,
ohne Schaam, und gieng auf Waſſer oder jede ge-
faͤhrliche Gegenden ohne Ueberlegung zu. Er nennte
Niemand mit dem rechten Namen. Er ſprach beyna-
he nichts, als nur manchmal ein verſtelltes oder un-
gewoͤhnliches Wort. Er erwiſchte eines Tages haͤu-
figen ſtarken Wein, Kafee und Zuckerbrod, und ver-
zehrte alles. Er ſchlief, und rufte den andern Mor-
gen ſeine Schweſter mit Namen und verlangte eine
Suppe. So klug war er ſeit ſeiner Krankheit noch
nie geweſen. Man kochte ihm die Suppe, und fand
ihn wieder in ſeiner Unvernunft, als die Suppe fer-
rig war. Er war den folgenden Tag einige Stunden,
hierauf einen halben und endlich einen ganzen Tag
vernuͤnftig, ſo daß er wieder ſeine voͤllige Vernunft
bekam.*)
Sydenham hat oft bemerkt, daß, wenn Wech-
[ſ]elfieber lange gedauert, viele Anfaͤlle gemacht haben,
oder
[392] oder mit vielen Ausleerungen behandelt worden ſind,
die Kranken, ſobald als ſie ſich beſſer zu befinden
anfiengen, in Wahnwitz verfielen, welcher aber mit
zunehmenden Kraͤften wieder vergieng.*) Eben ſo
geht es den Frauen nach ſchweren Krankheiten waͤh-
rend den Kindbetten. Die zuruͤckbleibende Verſtan-
desſchwaͤche dauert manchmal ein Jahr, bis die ge-
laͤhmten Gefaͤße durch gute Nahrung, Bewegung,
Kampfer u. ſ. w. ihre gehoͤrige Schnellkraft wieder
erhalten haben.
Die Kindbetterinn bey Lentin hatte nach ei-
nem Unreinigkeitsfieber mit einer Verwerfung auf die
Bruſt ihr Gedaͤchtniß faſt voͤllig verlohren. So wie
aber die Kraͤfte zunahmen, nahm auch ihr Gedaͤcht-
niß wieder zu.**)
Die Laͤhmungen nach heftigen Kolicken, be-
ſonders Bleykolicken vergehen oft wieder in dem Maa-
ße, wie die Kraͤfte zunehmen.
Nach ſchweren Krankheiten, wodurch der Koͤr-
per ſehr erſchoͤpft worden iſt, verſchwinden die Zeichen
der Unreinigkeit, Eckel, Mangel an Eßluſt, unreine
Zunge nicht ehe, bis man zur ſtaͤrkenden Heilart ſchrei-
tet. Wo bey den Lauſanniſchen von Tiſſot beſchriebe-
nen Gallfiebern lange mit Abfuͤhrungen fortgefahren
wurde, da zog ſich die Krankheit in die Laͤnge, die
Entkraͤftung nahm zu, und da der Magen und die
Gedaͤrme zu ſehr gereizet wurden, ſo entſtunden nach
und nach alle Zufaͤlle von erhoͤhter Reitzbarkeit, wel-
che
[393] che bey einer fruͤhzeitigen, anpaſſenden Lebensordnung,
laͤndlicher Uebung, und dem Gebrauche bitterer, ſtaͤr-
kender Mittel nie erfolgten. — Das leichte, einem
ſchleichenden, hektiſchen Fieber gleichende Fieber-
chen, welches Tiſſot nach ſchweren Krankheiten, be-
ſonders bey jungen Leuten beobachtete, und bloß von
Schwaͤche der Verdauung und der Nahrungsweege
herkam, heilte er nicht mit fiebervertreibenden Mit-
teln; ſondern er half der Schwaͤche ab. Geſchah die-
ſes nicht, ſo nahm es einen uͤbeln Ausgang; es ent-
ſtund endlich das wahre hektiſche Fieber, welches durch
ſtaͤrkende Mittel, Kina, Eiſen, Wein, kalte Baͤder
u. d. gl. ſo leicht haͤtte verhuͤtet werden koͤnnen. Man
erinnere ſich hier an die obigen Beyſpiele S. 374—78.
§. 45.
Gerade ſo iſt es nur ſelten noͤthig, ja es waͤ-
re oft weit gefehlt, die Ueberbleibſel der urſpruͤngli-
chen Unreinigkeiten, oder jene, welche erſt durch die
Krankheit erzeugt worden ſind, unmittelbar durch Ab-
fuͤhrungsmittel wegzuſchaffen; ſondern man halte ſich
an die allgemeine Hauptheilanzeige; man erſtatte die
Kraͤfte; man gebe Herzſtaͤrkungen, beſonders von
der Art, wie ſie Hippokrates allen andern vorzog,
welche ohne zu reitzen, die Kraͤfte wahrhaft und
ſtandhaft erſetzen. Die peruvianiſche Rinde erfuͤllt am
kraͤftigſten dieſe Anzeige. Gegen jene Nachtſchweiße,
welche die Frieſel- und Wechſelfieber hinterlaſſen, ra-
thet Van Swieten die im rothen Weine aufgegoſſe-
ne Salbey oder ein Glas Malaga. Dieſe ſuͤße Herz-
ſtaͤr-
[394] ſtaͤrkung iſt nach Sydenhams[Beobachtung] die kraͤf-
tigſte Gegenwehr gegen jenen laͤſtigen Huſten, welcher
einige, beſonders ſchon bejahrte, Wiedergeneſende ſo
ſehr abzumatten pflegt. Der zu ſchlappe Magen be-
findet ſich wohl dabey, und der Huſten, welcher bloß
davon abhaͤngt, hoͤrt bald auf. Und dieſes iſt auch
das Verfahren, wodurch die noch noͤthigen Auslee-
rungen in Gang gebracht werden. Hatte man in den
Lauſanniſchen Gallfiebern die Kraͤfte und die Eßluſt
hergeſtellt, ſo bewirkte die Natur von ſelbſt die letz-
ten, gallichten Auslerungen, welche erſt die Entſchei-
dungen vollkommen, und vor Ruͤckfaͤllen ſicher mach-
ten. Eben dieſes beobachtete Gallarotti, und Hip-
pokrates beym Heropyt zu Polyſtilo, bey welchem
um den acht und achtzigſten Tag zwar alle Zufaͤlle ge-
ſchwaͤcht wurden, aber erſt dann aufhoͤrten, wo er
am hundertſten Tage einen ziemlich anhaltenden Durch-
fall eines haͤufigen gallichten Abganges bekam.*)
Der Zeitpunkt der Wiedergeneſung, ſagt Strack,
iſt als ein Zuſtand anzuſehen, der zwiſchen der Krank-
heit und der vollkommenen Geſundheit mitten inne
ſteht; waͤhrend welchem (weil jezt die Kraͤfte des
Koͤrpers mehr, als waͤhrend der Krankheit zunehmen)
die Natur die ſchadhafte Materie beſſer kocht, und die
gekochte nachdruͤcklicher fortſchaffet. Innerhalb dem
Zeitpunkt der Wiedergeneſung ereignen ſich die meiſten
kritiſchen Ausleerungen, und es aͤuſſern ſich die herr-
lichſten Erſcheinungen, welche ſowohl zur Kenntniß
als
[395] als Heilart vieler langwieriger Krankheiten den Weeg
bahnen. — — Nachdem das Fieber voruͤber iſt, herr-
ſchet eine allgemeine Ruhe in der thieriſchen Haushal-
tung; mittlerweile geneſet der Kranke, und koͤmmt
einigermaßen wieder zu ſeinen Leibes- und Gemuͤths-
kraͤften. Waͤhrend dieſer Zeit wird die entzuͤndliche
Kruſte, welche durch die Fieberhitze im Blute erzeugt
worden iſt, gekocht, und in verſchiedene Hoͤhlungen
des Koͤrpers, wodurch eigentlich der erſte urſpruͤngli-
che Krankheitsſtoff haͤtte ſollen ausgefuͤhrt werden,
abgeſchieden.*) In den Bemerkungen uͤber den Sei-
tenſtich fuͤhrt er mehrere Beobachtungen an, wo die
Entſcheidungen der Krankheit erſt in den Tagen der
Wiedergeneſung geſchahen. Nachdem in der achten
Beobachtung bey dem Hufſchmiede von der Mitte des
ſiebenten Tages an ein ſtarker, ſauerriechender Schweiß,
und zu Ende deſſelben ein truͤber Harn mit ziegelmeh-
lichtem Bodenſatze das Fieber entſchieden hatte, ſo ge-
ſchah erſt in der Folge, wie die Kraͤfte zunahmen,
und der Kranke wieder zu geneſen anfieng, die Ko-
chung der entzuͤndlichen Kruſte, und den dreyzehnten
Tag wurde dieſelbe durch einen Auswurf, der weißem,
halbgeſchmolzenem Wachs glich, ausgeleeret. Eben
ſo geſchah es in der 55, 56, 57ten Beobachtung.
Der Kranke in der 59ten Beobachtung trank nach
ſeiner Geneſung drey Wochen lang Selterwaſſer mit
Zucker verſuͤßet, und hierauf befand er ſich ganz wohl.
Erſt nach ſechs Wochen bekam er ein Abweichen mit
Zwang
[396] Zwang, wobey ſchleimichter Unrath weggieng. In
der 60. Beob. geſchah dieſes in drey und dreyßig Ta-
gen nach der Krankheit; in der 61ten am vierzehnten
Tage. Der Kranke von der 64ten Beob. bekam,
nachdem das Fieber durch den Schweiß und Harn ent-
ſchieden war, haͤufige, ſchleimichte Stuͤhle; dieſe wa-
ren die erſte Kriſis, durch welche die gekochte Speck-
haut ausgefuͤhrt wurde. Nun hoͤrte der Huſten auf
und der Kranke genaß auf den Gebrauch der Kina-
rinde. Als er dann wieder mehr zu Kraͤften gekom-
men war, zeigte ſich eine zweyte Kriſts der gekochten
Speckhaut. Er bekam naͤmlich an verſchiedenen Thei-
len des Koͤrpers Blutſchwaͤren; und als er endlich voͤl-
lig geſund war, folgte erſt gekochter Mundauswurf,
der freywillig und ohne Muͤhe abgieng. Dieſes war
die dritte und letzte Kriſis der gekochten Speckhaut. —
Bey einigen befoͤrderte Strack die Ausleerung durch
ein Laxiermittel, welches ebenfalls viel ſolchen ſchlei-
michten Unrath wegfuͤhrte.
Dieſes Verfahren der Natur wird nur gar zu
ſehr von den Aerzten uͤberſehen, da es doch durchgaͤn-
gig ſtatt hat. Es geſchah beynah in allen Kranken
des Hippokrates, welche davon kamen, z. B. in
dem, der in des Dealkes Garten lag, und nach oͤf-
tern theilweiſen Entſcheidungen vom ſieben und zwan-
zigſten Tage bis auf den vierzigſten eine Pauſe mach-
te, an welchem haͤufige, ſchleimichte, weiße Stuͤhl-
gaͤnge, allgemeiner Schweiß, und der vollkommene
Bruch der Krankheit erfolgten.*)Pythio ſchwitzte
den
[397] den zehnten Tag, der Auswurf war ein wenig gekocht,
und die Krankheit brach ſich. Am vierzigſten Tage
nachher bekam er eine Eiterbeule am Hintern, und
die Verwerfung der Krankheit erfolgte durch eine Harn-
ſtrenge.*) Beym Kleonaktid bedarf die Natur
mehrerer Zwiſchenraͤume, bis ſie endlich nach dem letz-
ten von zehn Tagen eine vollkommene [Entſcheidung]
durch einen mit rothem, einfoͤrmigem, lauterm Boden-
ſatz verſehenen Harn zuwege brachte.**) So geſchehen
in Krankheiten faulichter Art, in boͤßartigen Fiebern,
in [Nervenfieber] u. ſ. w. oft gar keine kritiſchen Aus-
leerungen, bis der Koͤrper durch freye Luft, Reiten
u. ſ. w. geſtaͤrkt iſt. Reichet die Natur nicht hin,
und man unterſtuͤtzet ſie nicht durch eine ſtaͤrkende Heil-
art, damit ſie alle uͤbergebliebenen Unreinigkeiten weg-
ſchaffen koͤnne, ſo erzeugen dieſelben ſchleichende, hekti-
ſche Fieber, oder andere theils langwierige, theils
unheilbare Zufaͤlle; es hinterbleiben oder entſtehen
fruͤher oder ſpaͤter die einer jeden Krankheit eigenen
Folgen, als Schwindel, Schwere des Kopfes, Schwer-
hoͤrigkeit, dunkles Geſicht, waͤſſerichte Geſchwuͤlſte
der Fuͤße oder des ganzen Koͤrpers, ſchnelles und ge-
fahrvolles Fettwerden, Mangel an Ruhe u. ſ. w.
Allen dieſen Folgen kann und muß durch eine zur ge-
hoͤrigen Zeit angebrachte ſtaͤrkende Heilart, welcher
man nach Erforderniß der Umſtaͤnde ein leichtes Ab-
fuͤhrungsmittel dazwiſchen ſezt, vorgebauet werden.
Von
[398]
Von den Ruͤckfaͤllen.
§. 46.
Auf den naͤmlichen Bemerkungen beruht das
Wichtigſte, was man von den Ruͤckfaͤllen der hitzi-
gen Krankheiten ſagen kann. Wenn nicht ein ver-
borgner, innerer, unheilbarer Fehler ſchuld iſt, ſo
erfolgen Ruͤckfaͤlle, entweder weil die Kraͤfte zu ſehr
erſchoͤpft ſind, oder weil die Entſcheidung unvoll-
kommen waren, oder gar nicht geſchahen, und fol-
glich Unreinigkeiten zuruͤckgeblieben ſind; oder weil der
Geneſende irgend einen wichtigen Fehler in der Le-
bensordnung begangen hat.
Man kann glauben, eine Herſtellung werde dau-
erhaft ſeyn, wenn damit ein ruhiger, tiefer Schlaf
verbunden iſt; wenn ſich die Eßluſt und die Kraͤfte
nach und nach, und verhaͤltnißmaͤßig mit der Heftig-
keit und der Dauer der Kranheit, die gegenwaͤrtig ge-
weſen, einfinden; und wenn ſich die Krankheit durch
eine Ausleerung oder durch eine heilſame Verſetzung
geendiget hat. — Entgegen geſetzte Umſtaͤnde laſſen,
einen Ruͤckfall befuͤrchten.*)
Diejenigen bekommen einen Ruͤckfall, die nach
der Verſchwindung des Fiebers nicht ſchlafen koͤnnen,
oder unruhig ſchlafen, bey welchen die Kraͤfte weg-
fallen, oder die uͤber Schmerzen in allen Gliedern
klagen, ſo wie auch diejenigen, bey welchen das Fie-
ber
[399] ber ohne Kennzeichen der Kochung, und an keinem
kritiſchen Tage verſchwunden iſt.*)
Daß aber uͤberhaupt der Mangel an Kraͤften
beſchuldigt werden muͤſſe, laͤßt ſich ſowohl in Ruͤck-
ſicht der vorhergehenden als nachfolgenden Erfahrun-
gen nicht in Zweifel ziehen.
Es hat von Seiten der Ruͤckfaͤlle das naͤmliche
Verhaͤltniß ſtatt, welches ich von Seiten der Wie-
dergeneſung angegeben habe. Wo dieſe am ſchwerſten
iſt, da ſind jene am haͤufigſten.
In dem Petechienfieber, welches in den Jahre[n]
1757—58—59 in Wien herrſchte, that nach Ha-
ſenöhrls Bericht die Rinde ſo vortreffliche Dienſte,
daß diejenigen, ſo dadurch geneſen waren, nachher
weit geſuͤnder waren, als zuvor, wie er an ſich ſelbſt
erfahren hat. Bey ſehr vielen geſchahen den dritten,
vierten Tag, nachdem ſie ſich wohl befanden, ohne
Veranlaſſung Ruͤckfaͤlle; ſie bekamen Fieber, und
Ohrendruͤſengeſchwuͤlſte oder andere Verwerfungen:
Hatte man dieſe einige Zeit offen erhalten, und die
Kraͤfte waren noch gut, ſo genaſen die Kranken; wo
aber die Kraͤfte durch die erſte Krankheit allzuſehr zu
Grunde gerichtet waren, da ſtarben ſie in dieſen
Ruͤckfaͤllen. Keiner aber wurde ruͤckfaͤllig, dem man
die peruvianiſche Rinde in groſſen Gaben gegeben hat-
te.
Wenn nach den Lauſanniſchen Gallfiebern von ver-
nachlaͤßigter Lebensordnung, von aufgeſchobenen Ab-
fuͤhrungen, Gemuͤthsbewegungen oder von Wetterver-
aͤnde-
[400] aͤnderungen Ruͤckfaͤlle entſtunden, ſo wurde bey noch
guten Kraͤften die rohe Materie manchmal wieder ver-
arbeitet, und die Krankheit ohne Ausleerung zerthei-
let; oder es entſtunden freywillige Ausleerungen durch
Erbrechen oder Bauchfluͤſſe. Wo die Natur nicht
ſelbſt zur Hervorbringung dieſer Wirkungen hinrichte,
thaten bittere Mittel die beſten Dienſte, ſo daß nicht
ſelten ein ebenfalls freywilliges Erbrechen darauf folg-
te. Nur bey alten Leuten waren die Folgen ſchwe-
rer; Tiſſot gedenkt eines Greiſen, welcher durch ei-
nen Zorn in einen ſchlagflußartigen Schlaf verfiel mit
erfolgender Laͤhmung der linken Seite, woran er meh-
rere Jahre zu thun hatte. Eben dieſe Folge beobach-
tete ich bey einer ſechzigjaͤhrigen Frau, welche, da
ſie noch nicht vollkommen von einen Schleimſchlag her-
geſtellt war, ſich heftig erzuͤrnte, und alſogleich an
dem Arme gelaͤhmt wurde, mit welchem ſie die Dienſt-
magd bey den Haaren geſchuͤttelt hatte. Die Laͤh-
mung verbreitete ſich in einigen Tagen uͤber die ganze
rechte Seite; es erfolgte eine Bauchwaſſerſucht, wel-
che alle ihre Zeitpunkte durchlief, bis ſie eines Tages
vor Grimm aus dem Bette fiel, und den naͤmlichen
Abend ſtarb. Bey den uͤbrigen beruhigte Tiſſot die
Gemuͤthsbewegungen mit dem Hoffmanniſchen Geiſt
in Meliſſenwaſſer. War ſehr naſſe Witterung die
Urſache der Ruͤckfaͤlle, ſo half der Wein der allge-
meinen Erſchlappung ab.
In der 13ten Beobachtung von Vogel blieb
nach einem geheilten, katharrhaliſchen Gallfieber Mat-
tigkeit, welche am dritten Tag nach der Entſcheidung
in
[401] in große Entkraͤftung uͤbergieng, der Harn hatte
noch eine ungewoͤhnliche Roͤthe; die Eßluſt fehlte,
und es geſchah nach aͤuſſerſt ſchlimmen Zufaͤllen zu En-
de des ſechſten Tages eine toͤdtliche Verwerfung.
Von den acht Kindbetterinnen, deren Kran-
kengeſchichten Hippokrates in dem erſten und dritten
Buche von den Landſeuchen erzaͤhlt, ſind ſieben geſtor-
ben. Die einzige Ehegattin des Epikrates kam da-
von. Aber ſie ſchwitzte am eilften Tage, und es gieng
der Urin ſtaͤrker gefaͤrbt, mit einem reichlichen Bo-
denſatze verſehen, ab. Sie befand ſich auch leident-
licher. Am vierzehnten fror ſie mit Erſtarren, und
bekam ein heftiges Fieber. — — Um den einund-
zwanzigſten Tag fuͤhlte ſie auf der linken Seite durch-
aus eine ſchmerzhafte Schwere. Sie huſtete wenig,
hergegen war ihr Urin dick, truͤbe, roͤthlich und ſetz-
te im Geſchirre nicht ab. Im uͤbrigen gieng es lei-
dentlicher; allein vom Fieber war ſie nicht frey. —
Gegen den ſieben und zwanzigſten Tag war ſie zwar
frey von Fieber und der Urin ſetzte ſich, die Seite that
ihr etwas wehe. Um den ein und dreyßigſten Tag
bekam ſie ein heftiges Fieber mit einem gallichten
Durchfalle. Am vierzigſten Tage brach ſie auch et-
was gallichtes aus. Am achtzigſten Tage endigte ſich
die Krankheit vollkommen, und das Fieber blieb weg.
— — Alſo mehrere unvollſtaͤndige Entſcheidungen;
eine Dauer von achtzig Tagen, und drey bis vier Ruͤck-
faͤlle!
Da Hippokrates die Natur ſo wenig unter-
ſtuͤtzte, ſo waren uͤberhaupt bey ihm die Ruͤckfaͤlle et-
Gall I. Band. C cwas
[402] was ſo gemeines, daß er es meiſtentheils angezeigt hat-
wenn keiner erfolgte. In den uͤbrigen vier und drey-
ßig Krankengeſchichten ſind bey fuͤnfzehn bald einer,
bald mehrere Ruͤckfaͤlle ausdruͤcklich angemerkt wor-
den.
Bey dem Kranken, deſſen Geſchichte ich S. 229
erzaͤhlt habe, ereigneten ſich fuͤnfmal Ruͤckfaͤlle; wie
ſehr ſeine Leibesbeſchaffenheit verdorben und ſeine Kraͤf-
te erſchoͤpft waren, kann man aus den angezeigten
Zufaͤllen ſchließen.
Obſchon Riveri nur von uͤberbleibenden Unrei-
nigkeiten Ruͤckfaͤlle beſorgte, und theils dieſen Unrei-
nigkeiten, theils einem ſchlechten Zuſtande der Einge-
weide das anhaltende, ſchleichende Fieberchen zu-
ſchrieb; ſo will er doch, daß man mit den Abfuͤh-
rungsmitteln nicht hartnaͤckig fortfahren ſolle; denn die
Natur werde durch die Arzneyen geſchwaͤcht, und ſo
dauere die Krankheit immer fort; wenn man ihr aber
Zeit laſſe, ſich zu erholen, ſo verkoche ſie den Krank-
heitsſtoff, leere ihn aus, und bewahre auf dieſe Art
am beſten gegen Ruͤckfaͤlle.*)
Uibrigens iſt es gewiß, daß die Ruͤckfaͤlle groͤ-
ſtentheils von unvollſtaͤndigen oder ganz mangelhaften
Entſcheidungen abhaͤngen. Der naͤmliche Umſtand al-
ſo, welcher den Entſcheidungen am hinderlichſten iſt,
muß auch die zahlreicheſten Ruͤckfaͤlle veranlaſſen. Das
erſte und wichtigſte Kennzeichen, ſagt Galenus,
daß in einer toͤdtlichen Krankheit der Tod ohne Ent-
ſcheidung erfolgen werde, iſt die Hinfaͤlligkeit der
Kraͤf-
[403] Kraͤfte.*) In Hinſicht der Heilanzeige giebt Plan-
chon den vortrefflichen Rath, ſich vorzuͤglich an ſtaͤr-
kende Mittel zu halten, ohne aber deßwegen gewiße
Nebenumſtaͤnde zu vernachlaͤßigen.〟 Die Herzſtaͤr-
kungen und ſtaͤrkenden Mittel, wenn ſie mit Klugheit
verordnet werden, beleben die Kraͤfte und ſchuͤtzen den
Kranken gegen Ruͤckfaͤlle. Sie taugen am beſten,
wenn die Eßluſt mangelt, die Verdauungskraͤfte matt
ſind, wenn der Magen nach genommenen Speiſen
ſchwer, angeſchwollen, und keine Unreinigkeit mehr
im Hinterhalte iſt.〟 — Dieſes leidet eine Einſchraͤn-
kung, wie wir oben geſehen haben. — 〟Man be-
darf ihrer ſogar in den Ruͤckfaͤllen ſelbſt, wenn die
Natur nicht Kraft genug hat, die Ueberbleibſel der
Krankheitsmaterie, welche die Ruͤckfaͤlle veranlaßte,
vollends zu unterjochen. Die Bewegungen der Na-
tur koͤnnen jetzt um ſo weniger eine Unterſtuͤtzung ent-
behren, da ſie gleichſam ihr letztes Beſtreben ſind,
und die Lebenskraͤfte durch die erſte Krankheit ſchon
zu viel gelitten haben. Ich habe Ruͤckfaͤlle eben ſo
viele Tage, als die urſpruͤngliche Krankheit anhalten,
und eben ſo wie dieſe durch einen Schweiß oder Bauch-
fluß ſich endigen geſehen.**)
Die Ruͤckfaͤlle, oder die Folgen anderer Krank-
heiten, ſo ſehr ſie uͤbrigens ihrer Natur nach mit
der urſpruͤnglichen Krankheit uͤbereinſtimmen, muͤſ-
ſen alſo mit weit mehr Schonung und Klugheit be-
C c 2handelt
[404] handelt werden, und ſie ſind jedesmal, ſo wenig ſie
auch den Anſchein haben, dennoch viel bedenklicher.
Daher ſagt Houlier, wenn die Hirnwuth eine Folge
von einem Fieber iſt, wie es allermeiſt der Fall iſt,
ſolle man ſelten Aderlaſſen, weil ohnehin ſchon Aus-
leerungen vorhergegangen und die Kraͤfte erſchoͤpft
ſind, bis endlich der Wahnſinn hinzukoͤmmt. Eben
ſo haͤlt Duretus die Waſſerſucht, wenn ſie auf ſehr
alte viertaͤgige Fieber folgt, fuͤr weit gefaͤhrlicher
und langwieriger. Ueberhaupt hat man von Ruͤck-
faͤllen alles dasjenige zu befuͤrchten, was ſich in hi-
tzigen Krankheiten bey einem groſſen Verfall der Le-
benskraͤfte zu ereignen pflegt.
§. 48.
Lebensordnung in hitzigen Krankheiten.
Von der Lebensordnung in hitzigen Krankhei-
ten kann ich hier noch wenig Beſtimmtes ſagen. Im
Allgemeinen gilt hier wieder die Regel, daß ſie jedes-
mal dem gegenwaͤrtigen ſowohl als dem abgezielten
Kraͤftenmaße gemaͤß muͤſſe eingerichtet werden. Nach-
dem es dieſes ertraͤgt oder erheiſchet, laͤßt man den
Kranken der Laͤnge nach liegen, ſitzen, tragen, ge-
hen, fahren, reiten, mehr oder weniger ſchlafen;
gar nicht, wenig, ſtill oder laut reden; u. ſ. w.
In Hinſicht der Nahrung kann Niemand ge-
wiſſenhafter ſeyn, als es Hippokrates war. Er
nahm uͤberall ſorgfaͤltig auf die verhaͤltnißmaͤßigen
Kraͤfte Ruͤckſicht. Je hitziger die Krankheit war,
deſto waͤſſerichter, duͤnner richtete er ſie ein. In der
hoͤchſten
[405] hoͤchſten Stufe der Krankheit, muſte ſie am ſchwaͤ-
cheſten ſeyn. Kurz vor, waͤhrend und gleich nach den
Verſchlimmerungen (Exacerbatio) oder wo die Glied-
maſſen kalt ſind, ſoll man keine Nahrung geben. Man
ſoll ſich nach der gewoͤhnlichen Eßluſt der Kranken
im geſunden Zuſtande richten. Alte Leute und Leute
im ſtehenden Alter koͤnnen das Faſten am beſten er-
tragen; weniger Juͤnglinge, am wenigſten die Kna-
ben, und ſolche, die im ſtarken Wachſen begriffen
ſind; ſo auch Greiſe, die durch das Alter erſchoͤpft
ſind. Zu wenig Nahrung ſeye ſchaͤdlicher, als zu
viel, daher ſeye ein zu ſparſames Leben nachtheilig.
Ueberhaupt muͤſſe man bedenken, wie lange beylaͤufig
eine Krankheit dauern werde; ob eine ſehr leichte
Nahrung hinreichend ſeye, den Kranken bis zur
hoͤchſten Stufe zu unterſtuͤtzen. In maͤßig hitzigen
Krankheiten ſchreite man erſt um die Zeit der Ent-
ſcheidung zu einer duͤnnen Nahrung; bis dahin aber
und hernach gebe man etwas nahrhafteres. Kuͤndi-
get ſich die Entſcheidung durch heftige Vorboten an,
ſo entziehe man alle Nahrung; geſchieht ſie aber nur
nach und nach, z. B. durch den Auswurf; iſt vorher
die Zunge feucht; ſo muß beſonders einige Tage vor
der Entſcheidung die Nahrung ergibiger ſeyn, weil
dadurch der Schmerz erleichtert und die Ausleerungen
z. B. im Seitenſtiche oder in Lungenentzuͤndungen der
Auswurf befoͤrdert werden. “Je reichlicher die Rei-
nigung erfolgt iſt, deſto mehr gebe man bis zum
Bruche der Krankheit hinzu, und vorzuͤglich zwey
Tage nach der eingetretrenen Kriſis. — — — Nach
der
[406] der Zeit bediene man ſich fruͤh Morgens der duͤnnen
Gruͤtzſuppe und gebe gegen Abend ſtatt derſelben was
zu eſſen. Ein ſolches Verhalten bekoͤmmt uͤberhaupt
meiſtens denen, die ſogleich die ganze Tiſane nehmen,
wohl. Denn die Schmerzen bey dem Seitenſtiche ver-
gehen ſogleich von ſelbſt, ſobald man etwas betraͤchtliches
auszuwerfen, und ſich zu reinigen anfaͤngt; ferner
ſind die reinigenden Ausleerungen viel vollſtaͤndiger,
und es entſtehen viel ſeltner Lungengeſchwüre,
als wenn man eine andere Diät beobachtet.
Es werden auch die Entſcheidungen viel ächter,
ſie gehen leichter vor ſich, und leiden keine Rück-
fälle.„*)
Einfache Getraͤnke, warmes Waſſer mit Eſſig
und Honig, oder was ſich ſonſt am beſten zur Krank-
heit ſchickt, gebe man, ſo viel der Kranke will, oh-
ne ſeinen Magen und ſeine Gedaͤrme mehr zum Scha-
den als Nutzen zu uͤberſchwemmen.
In dem Zeitraume der groͤßten Schwaͤche fand
Pringle in ſeinen Lazarethfiebern nichts wirkſamer,
als Wein, oder Panade mit Wein. Die Kranken er-
holten ſich von dem matteſten Zuſtande: und er haͤlt
keine Regel fuͤr wichtiger, als den matten Kranken
nicht lange ohne ihm etwas herzſtaͤrkendes oder nahrhaf-
tes zu geben, liegen zu laſſen. Er hatte Leute, die ſich
ſchon im hoffnungsvollſten Zuſtande befanden, unwi-
derruflich ſinken geſehen, wenn man ſie um die Zeit
der Kriſis eine ganze Nacht, ohne ihnen etwas zu
geben, zubringen ließ.
Die
[407]
Die Richtigkeit der Hippokratiſchen Lehren hat
eine mehr als zweytauſendjaͤhrige Erfahrung beſtaͤt-
tigt; der Grund davon liegt in den ſchon angefuͤhr-
ten Grundſaͤtzen; ſie ſollen aber in der Zukunft noch
deutlicher beſtimmt und anſchaulicher dargeſtellt wer-
den.
Von den Kraͤften in langwierigen Krankheiten.
§. 49.
In Ruͤckſicht der Natur und Entſtehung der
langwierigen Krankheiten hat Sydenham folgendes
vorgetragen: die langwierigen Krankheiten, wenn ſie
nicht erblich ſind, entſtehen gewoͤhnlicher Weiſe davon,
daß die Saͤfte des Koͤrpers nicht gehoͤrig durchgearbei-
tet ſind. Denn wenn die Lebenskraͤfte ſehr geſchwaͤcht,
und entweder durch das Alter, oder durch ſtarke und
anhaltende Fehler in dem Gebrauche der ſogenannten
ſechs nicht natuͤrlichen Dinge, vornehmlich aber durch
Unordnungen und Ausſchweifungen im Eſſen und Trin-
ken gleichſam abgenutzt worden ſind; oder wenn die
abſondernden Gefaͤße ſo geſchwaͤcht worden ſind, daß
ſie ſich nicht laͤnger im Stande befinden, die ihnen ei-
gentlich beſtimmte Verrichtung zu vollbringen, und das
Blut zu reinigen, und die uͤberfluͤſſigen Theile aus
demſelben abzufuͤhren; ſo pflegt ſich in allen dieſen
Faͤllen eine groͤßere Menge von Saͤften anzuhaͤufen,
als durch die Kraͤfte der Natur verdauet und durch-
gearbeitet werden kann. Dieſe Saͤfte aber erleiden
durch ihren langen Aufenthalt in den Gefaͤßen ver-
ſchie-
[408] ſchiedene Arten von Gaͤhrungen oder faulichte Ver-
aͤnderungen, und es entſteht endlich eine beſondere
Art von Miſchung, die nach der verſchiedenen Beſchaf-
fenheit ihrer Verderbniſſe auch verſchiedene Arten von
Krankheiten hervorzubringen pflegt.
Dieſe auf eine verſchiedene Art verdorbenen Saͤf-
te werfen ſich nach ihrer verſchiedenen Natur auf den-
jenigen beſondern Theil ihres Koͤrpers, der ſich am
beſten zu ihrer Aufnahme ſchickt, und bringen ſodann
nach und nach diejenigen zahlreichen Zufaͤlle hervor,
die gewoͤhnlicher Weiſe theis von der Natur der ver-
derbten Saͤfte, theils aber auch von den unregelmaͤßi-
gen Bewegungen entſtehen, welche in den leidenden
Theilen hervorgebracht werden. Beyde eben gemelde-
te Arten der Zufaͤlle aber bilden durch ihre Verbindung
diejenigen unordentlichen Bewegungen und den unre-
gelmaͤßigen Zuſtand der Natur, welchen man mit dem
Namen einer Krankheit zu belegen pflegt, und die mit
gewiſſen Zufaͤllen verknuͤpft iſt, welche dieſer beſon-
dern Art von Krankheit eigen ſind.
Dieſes nun aber iſt die Urſache, welche macht,
daß, wenn alle uͤbrigen Umſtaͤnde gleich ſind, doch
immer alte Leute dieſer Klaſſe von Krankheiten mehr
als junge Perſonen unterworfen zu ſeyn pflegen.*)
Er fuͤhrt noch den großen Nutzen des Reitens,
der ſtaͤrkenden hitzigen Pflanzen und den Schaden zu
vieler Abfuͤhrungen in beynahe allen langwierigen
Krankheiten als Beweiſe ſeiner Meinung an.
So
[409]
So wenig ich aber die hitzigen Krankheiten von
Mangel der Lebenskraͤfte ableitete, eben ſo wenig fin-
de ich dieſes in Ruͤckſicht der langwierigen zu meiner
Abſicht noͤthig. Es giebt ohne Zweifel noch viele,
vorzuͤglich von Außen wirkende Urſachen, wodurch die
langwierigen Uebel erzeugt werden. Auch behaupte
ich nicht, daß man bey ihrer Heilung die einzige Ab-
ſicht auf die Erweckung der Lebenskraͤfte haben muͤſ-
ſen; ſondern nur, daß dieſe die allgemeinſte und wich-
tigſte Anzeige ſeye.
Im Ganzen bleibt es allzeit wahr, daß in lang-
wierigen Krankheiten die Lebenskraͤfte ohne Nachdruck,
die Bemuͤhungen der Natur nur ſchwach ſind, und
der Kreislauf gehemmt iſt; die feſten Theile ſind ent-
weder erſchlappt oder zu ſehr geſpannt, ausgetrocknet;
die Fluͤſſigkeiten haben wenig Feuertheilchen. In ſtar-
ken Leuten werden nicht gar zu maͤchtige Krankheits-
urſachen durch Schweiß, Harn, Stuͤhle und andere
Ausleerungen fortgeſchaft; bey ſchwaͤchlichen hingegen
iſt die Wirkung und Gegenwirkung der koͤrperlichen
Beſtandtheile entweder unordentlich oder zu traͤge; es
haͤufet ſich nach und nach ein ſo ergiebiger Krankheits-
ſtoff an, daß die Miſchung der Saͤfte und die Be-
ſchaffenheit der feſten Theile auf eine Art veraͤndert
werden, welche nur durch lange Zeit und vielfaͤltige
Beſchwerden wieder in den natuͤrlichen Zuſtand zuruͤck-
gebracht werden kann. Die Kranken klagen bald
uͤber Hitze, bald uͤber Frieren; bald ſind ſie trocken,
bald wieder ſteht der Schweiß in Tropfen auf ih-
nen
[410] nen; Heute koͤmmt ein Ausſchlag hervor, der in ei-
nigen Tagen wieder verſchwindet; der Harn iſt bald
blaß, bald ſetzt er im Geſchirre ab u. ſ. w. Die Verſuche
der Natur ſind uͤberhaupt ſo unvollſtaͤndig und kraftlos,
daß ſowohl ihre Abſicht als ihr wirklicher Nutzen von
nicht ſehr ſcharfſinnigen Aerzten verkennet wird.
Nach dem ſchlafſuͤchtigen epidemiſchen Fieber
des Sydenham ereignete ſich bey jenen, welche durch
die Langwierigkeit der Krankheit und viele Ausleerun-
gen ſehr erſchoͤpft, oder ohnehin von ſchwacher Lei-
besbeſchaffenheit waren, daß ſie in der Nacht, ſobald
ſie zu Bette lagen, haͤufig ſchwitzten. Die Natur
leerte durch den Schweiß die Saͤfte aus, welche ſie
zu ſchwach war, in gleichmaͤſſige Nahrung zu ver-
wandlen, und ſo wurden einige ſogar ſchwindſuͤchtig.
Sydenham half ihnen mit Malagawein, den er Fruͤhe
und Abends zu fuͤnf bis ſechs Loͤffel voll trinken ließ.
§. 50.
Wie ſehr die Beſtrebungen der Natur durch ein
verhaͤltnißmaͤſſiges Kraͤftenmaaß unterſtuͤtzt, durch deſ-
ſen Mangel aber unordentlich und fruchtlos gemacht
werden, beweiſen noch folgende Bemerkungen:
Es wird jetzt durchgaͤngig angenommen, daß
ein Fieber, beſonders wenn es regelmaͤßige Anfaͤlle
macht; wenn nach jedem Anfalle die Beſchwerden
leichter und ertraͤglicher werden; wenn die Kraͤfte des
Kranken mehr zu als abnehmen; ſeine Eßluſt, ſein
Schlaf beſſer, ſeine Geſichtsfarbe munterer und leb-
haf-
[411] haſter wird; wenn die bisher ſchwer und ſchlecht von
ſtatten gegangenen Verrichtungen ſeines Koͤrpers leich-
ter und ordentlicher vor ſich gehen; wenn uͤberhaupt
ſein ganzes Befinden ſich beſſert, und die Krankheit,
womit er bisher behaftet, nach den wiederholten An-
faͤllen des Wechſelfiebers, taͤglich abnimmt, und er-
traͤglicher wird,*) daß ein ſolches Wechſelfieber, oder
auch ein mit nicht zu ſchweren Zufaͤllen begleitetes an-
altendes oder nachlaſſendes Fieber eine ſehr wohl-
thaͤtige Wirkung der erhaltenden Naturkraͤfte des
Menſchen ſeye. Wir koͤnnen zwar jetzt den großen
Wunſch eines Boerhaves erfuͤllen, das heißet, wir
koͤnnen durch die Kunſt ſolche heiſamen Bewegungen
hervorbringen; wir koͤnnen Fieber machen, und in
Gemeinſchaft mit der Natur Wunder wirken. — Aber
worauf gruͤndet ſich dieſe große herrliche Kunſt? dar-
auf, daß man die Eingeweide durch princkelnde, auf-
loͤſende, reitzende von oben und unten beygebrachte Arz-
neyen in Thaͤtigkeit verſetzt; daß man mitlerweilen
den beweglichen Unrath wegſchaffet, dadurch den ge-
hemmten Umlauf herſtellet, die Nerven von einem
laͤſtigen, betaͤubenden Druck befreyet; daß man end-
lich die anfangenden Regungen der Natur durch herz-
ſtaͤrkende bittere Dinge, ſelbſt im Nothfalle durch
Wein und kleine Gaben Kina unterſtuͤtzt. Anfaͤng-
lich aͤußert ſich das im Entſtehen begriffene Fieber
durch allerley Unannehmlichkeiten; durch voruͤberge-
hende Schauer und Hitze, Blaͤhungen, Mattigkei-
ten,
[412] ten, Uebelbefinden, Aengſtlichkeiten, unruhigen Schlaf,
unordentliche Eßluſt, krampfhafte Bewegungen, ver-
druͤßige Laune; in dem gleichen Maaße aber, wie der
erſte Unrath weggeſchafft und die Kraͤfte erweckt wer-
den, werden die Fieberbewegungen deutlicher und
heftiger; der Harn faͤngt an, gefaͤrbter zu werden,
und eine Wolke gegen den Grund des Gefaͤßes zu ſen-
ken. Indeſſen ſind dennoch die Anfaͤlle noch großen-
theils krampfhafter Natur und unordentlich, es fol-
gen ſich die Zeitpunkte noch nicht in gehoͤriger Ord-
nung; ſie ſtehen in keinem gehoͤrigen Verhaͤltniße un-
tereinander; einige fehlen vielleicht noch ganz; die er-
folgenden Ausleerungen ſind mangelhaft oder nicht ge-
kocht; der Kranke hat keine guten Zwiſchenzeiten,
fuͤhlet ſich abgeſchlagen, muͤrriſch; er duͤnkt ſich kraͤn-
ker zu werden. Hilft man jetzt aber den Kraͤften durch
bittere, angenehme, ſtaͤrkende Arzneyen, und leicht
verdauliche Nahrung, durch Bewegung, Reitz ꝛc.
auf; ſo werden die Anfaͤlle zwar ſtaͤrker, aber kuͤrzer,
regelmaͤßig, von nuͤtzlichen und erleichternden Auslee-
rungen durch Schweiße, Harn und Stuͤhle begleitet;
die Zwiſchenraͤume werden von aller Unpaͤßlichkeit be-
freyet, ausgenommen jene, welche die Arzneyen ver-
urſachen.
Gerade umgekehrt verhaͤlt es ſich bey demjeni-
gen ſoporoͤſen nachlaſſenden Fieber, welches die Grei-
ſe befaͤllt und gewoͤhnlich toͤdtlich iſt. Wenn es als
ein eintaͤgiges Fieber zur naͤmlichen Stunde erſcheint,
ſo iſt die erſtern vierzehn Tage der Anfall der glei-
chen Tage allemal ſchwerer, wie es Burſery beob-
achtet
[413] achtet hat. Aber nachher wird oͤfters der Anfall die
ungleichen Tage gefaͤhrlicher, und endlich werden die
Anfaͤlle unordentlich, unregelmaͤßig, die Nachlaſſun-
gen ſind nimmer deutlich, ſondern gewoͤhnlich unmerk-
lich. Und alles dieſes aus eben den Gruͤnden, wa-
rum im vorigen Falle das Wechſelfieber endlich regel-
maͤßig wird; naͤmlich, weil anfaͤnglich die Lebenskraͤf-
te noch nicht ſo ſehr, wie erſt nach einiger Dauer
der Krankheit zerruͤttet ſind.
Durch die gluͤckliche Miſchung und kluge Aus-
theilung einer aufloͤſenden, reizenden und ſtaͤrkenden
Heilart ſchaffen wir uns das groͤßte, und wirkſamſte
Hilfsmittel der Natur herbey und heilen Uebel, wel-
che immer einer unterdruͤckten, kraftloſen Natur oder
blos ausleerenden Heilart widerſtanden haͤtten.
Die Vernachlaͤßigung dieſer Maaßregeln iſt die Ur-
ſache, warum die aufloͤſenden Mittel in langwierigen Ue-
beln, die ſonſt ihrer Natur nach nicht unheilbar ſind, oft ſo
gefahrvolle, ſchlimme Wirkungen hervorbringen. Clerc,
der dieſe Folgen beobachtet hat, wirft daher die Frage auf:
Ob wir wohl, indem wir die Verſtopfungen aufzuloͤſen
ſuchen, dadurch nicht die ganze Leibesbeſchaffenheit
angreifen, verderben, und das ohnehin ſieche Leben
verkuͤrzen? — Wenn die Kranken nur immerzu auf-
geloͤſet und abgefuͤhret werden, ſo verfallen ſie in alle
Arten von Nerven zufaͤllen, in Waſſerſuchten und Ab-
zehrungen. Daher bemerkt Bagliv, daß die vielen,
verſchiedenen, anhaltenden Arzneyen die Verdauung
ſtoͤhren, und dadurch alle Tage ein neuer Zunder er-
zeugt werde. Er raͤtht deßwegen, alle Arzneyen bey
Seite
[414] Seite zu ſetzen, und ſich blos an eine angemeſſene
Lebensordnung zu halten, wodurch die Natur unter-
ſtuͤtzt, und die Verdauung kraͤftig beguͤnſtigt wird.
Selbſt Hippokrates hielt ſich in langwierigen
Krankheiten vorzuͤglich an die Lebensordnung, an
Baͤder, Reiben u. d. gl. und an ſehr wenige Mit-
tel. Das Kluͤgſte, was man in hartnaͤckigen unheil-
bar ſcheinenden Uebeln thun kann, ſagt Planchon,
iſt, daß man ſie der Natur uͤberlaſſe; denn obſchon
ſie in mancher Ruͤckſicht ganz traͤge zu ſeyn ſcheint,
ſo ermannt ſie ſich doch manchmal, und erhaͤlt ein
Geſchoͤpf, welches wir mit fruchtloſen Heilmitteln,
indem wir die Natur im Zaume gehalten hatten, wahr-
ſcheinlich wuͤrden zu Grunde gerichtet haben. Dieſes
that er bey einem Lungenſuͤchtigen, der ſchon weit in
der zweyten Stufe vorgeruͤckt war, mit gluͤcklichem
Erfolge. Der Kranke hatte ſchon uͤber zwey Jahre
ſeifenartige, aufloͤſende Mittel ohne andern Nutzen
gebraucht, als daß die Fortſchritte des Uebels aufge-
halten wurden. Er ließ ihn jezt blos eine angemeſ-
ſene Lebensordnung beobachten. Die Bruſt wurde
nicht ſchlimmer, und die Geſundheit wurde in ſo weit
hergeſtellet, daß ihn der Huſten nur noch in der Fruͤ-
he belaͤſtigte, wobey er eine leimichte, eiterfoͤrmige
Materie auswarf. Die Wetterveraͤnderungen verur-
ſachten ihm manchmal eine Engbruͤſtigkeit; uͤbrigens
aß er von allem, was ihm vorkam, ohne die gering-
ſte Ungelegenheit. Obſchon er an Fleiſch nicht zu-
nahm, ſo befand ſich doch der Kranke, als Plan-
chon dieſes ſchrieb, ſchon beynahe zwoͤlf Jahre in
dem
[451[415]] dem naͤmlichen Zuſtande. Er fuͤhrt noch das Beyſpiel
eines Waſſerſuͤchtigen an, der erſt, nachdem er alle
Arzneyen bey Seite geſetzt hatte, haͤufige Stuͤhle,
Schweiße und haͤufigen Harn bekam, wodurch er in
kurzer Zeit geſund wurde.
Ein Fuͤrſt lag lange an einem mit Kraftloſig-
keit und Mangel an Eßluſt verbundenen, gegen alle
Arzneyen widerſpenſtigen ſchleichenden Fieber darnie-
der. Er war an eine rauhe Koſt gewoͤhnt; Brunner
gab ihm Sauerkraut; der Genuß deſſelben und der-
gleichen Speiſen ſtellten die Eßluſt und die Kraͤfte
dergeſtalt wieder her, daß die Arzneyen die Geneſung
bewirken konnten.*)Kaͤmpf erlaubte mehreren Per-
ſonen, welche durch eine ſtrenge Kindbetterinn Diaͤt
nach einer uͤberſtandenen Krankheit ſich nicht erholen
konnten, und zuvor an ſtaͤrkere Nahrungsmittel ge-
wohnt waren, Salat, Poͤckelfleiſch Salzgurken und
Haͤringe, worauf ſich der waͤſſerichte Mund mit den
erweckten Verdauungskraͤften zuſehends wieder einſtell-
te, und dann thaten die Arzneyen die beſte Wirkung,
und konnten oft ganz entbehret werden.
Darinn liegt der Grund, warum mancher Kran-
ke, den die Aerzte mit aͤufloͤſenden, erweichenden, er-
ſchlappenden Getraͤnken und nebſt immerwaͤhrenden
Abfuͤhrungen mit einer zu ſparſamen Nahrung erſchoͤpft
haben, und der endlich, der Aerzte und der Arzneyen
uͤberdruͤßig, die wenigen hoffnungsloſen Tage ſeines
traurigen Lebens noch einigermaſſen zu genießen, ſich
entſchließet, ohne Unterſchied alles ißet und trinket,
was
[416] was ihm ſchmeckt und was er verdauet — in kurzer
Zeit zur Schande des Arztes, der ihn fuͤr unheilbar
erklaͤrte, ſeine Geſundheit in eben dem Maaße wieder
erhaͤlt, als er an Kraͤften zunimmt.
Darinn liegt auch der Grund, warum Pfuſcher,
Marktſchreyer, Juden, Bartſcheerer, Moͤnche und
alte Weiber nicht ſelten vermittelſt einer nahrhaften
Sulze, Suppe, u. d. gl. Kuren zu Stande bringen,
welche die Buͤchſen der Apotheker umſonſt erſchoͤpft
hatten. Van Swieten erzaͤhlt das Beyſpiel eines
vierzigjaͤhrigen Mannes, der in dem mittlern, innern
und untern Theile des rechten Armes mit dem Degen
verwundet wurde. Man hemmte den Blutfluß durch
zuſammenziehende Dinge und eine ſtarke Unterbindung.
Aber es kam ein anhaltendes, brennendes Fieber mit
immerwaͤhrender Schlafloſigkeit hiezu. Der kalte
Brand hatte in kurzer Zeit alles bis auf den Ellenbo-
gen zerſtoͤhrt, ja es war ſchon der inwendige Theil des
Armes bis zur Schulter hinauf brandig, und ſelbſt
das Armbein lag, vier Zolle von der Schulter, ent-
bloͤßet da, weil alles Fleiſch verfaulet war. Das
Fieber begleiteten Bangigkeiten, die Wangen waren
bleyfaͤrbig, der Puls ſchwach und wankend, die Wund-
aͤrzte getraueten ſich nicht mehr, den Arm abzunehmen.
Indeſſen koͤmmt ein altes Weib; reibet den Arm mit
einer Salbe, bindet ihn ein; giebt dem Kranken recht
nahrhafte Speiſen und den beſten Wein. Schon nach
vier und zwanzig Stunden fieng das Abgeſtorbene
von dem Lebenden ſich zu trennen an; das Weib ſetzte
ihre Heilart fort, und das Uebel beſſerte ſich alle Ta-
ge,
[417] ge, indem ſich die verdorbenen Theile immer mehr
lostrennten. Da aber vom Ellenbogen bis zu den
Fingerſpitzen alles zerſtoͤhrt war, und einen garſtigen
Geſtank von ſich gab, ſo wollten die Wundaͤrzte die-
ſes zerſtoͤhrte Zeug wegnehmen, weil es ohnehin kaum
noch mit den andern Theilen zuſammen hieng. Allein
das Weib ließ es nicht zu, und vertraute einzig auf
ihre Salbe. Nach ſechs Wochen fiel der ganze El-
lenbogen vom Schulterknochen ab. Nun bedeckte ſie
auch dieſen entbloͤßten Theil mit ihrer Salbe, und
zwar mit ſo gutem Erfolge, daß er nach einem Mona-
te vom geſunden abfiel, und die ganze Wunde inner-
halb vier Monaten vernarbet war. Swieten laͤßt
mit Recht die Ehre dieſer großen Kur nicht der Sal-
be; und beweißt dieſes durch ein anderes Beyſpiel,
wo in einem aͤhnlichen Falle der Verband ganz trocken
gemacht wurde, woraus er alſo folgert, daß alles
dieſes die durch den Wein und die gute Nahrung ge-
ſtaͤrkte Natur geleiſtet habe.
§. 51.
Was lernen wir aus allen dieſen Beyſpielen?
Etwan, daß man dergleichen Uebel der Natur uͤber-
laſſen ſolle? Ich glaube, Nein. Sondern wir ler-
nen das Beduͤrfniß der Natur kennen; wir ſehen den
Weeg, auf welchem ſie zu ihrem Ziel gelanget, und
den folglich auch wir betreten muͤſſen, wenn unſere
Bemuͤhungen gluͤcklich ſeyn ſollen. Dem zu Folge
werden wir jedesmal die Heilart, welche eine lang-
wierige Krankheit fodert, mit guter Nahrung und
Gall I. Band D dſtaͤrken-
[418] ſtaͤrkenden Arzneyen unterſtuͤtzen, und nicht nur den
uͤblen Wirkungen der Aufloͤſungen und Ausleerungen
entgehen, ſondern auch weit eher und vollſtaͤndiger
heilen, als je die Natur, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, geheilt
haͤtte.
Dieſes Bewandtniß hatte es bey Kämpf mit
einem alten, kraftloſen Manne, der von einem hart-
naͤckigen, faulen, ſchleimichten, ſchwaͤchenden Bauch-
fluße, von Ueblichkeit, nagender Empfindung im Ma-
gen, Koliken, Kraͤmpfen, Betaͤubung und andern
Beſchwerden, welche die Wuͤrmer erregen, geplagt
war. Er wollte auch wirklich die Spuren davon im
Abgang geſehen haben, und beſchrieb ſie, wie Stuͤcke
von Nudeln. Es waren aber ſo gebildete Stuͤcke
Schleim. Denn, als Kämpf ſeine bekannte Me-
thode mit dem Unterſchied einſchlug, daß er ſtaͤrkende
Mittel, die China und endlich das Eiſenwaſſer zu
Wilhelmsbad und Aufſchlaͤge aus Lohſtaub uͤber den
Bauch zugleich anwendete, ſo vermehrte ſich zwar der
Bauchfluß anſehnlich, aber es zeigten ſich nicht die
geringſten Spuren von Wuͤrmern dabey, wohl aber
ein garſtiger, vielfaͤrbiger, zaͤher Schlamm, deſſen haͤu-
figer Auswurf, ſtatt mehr zu ſchwaͤchen, Kraͤfte und
Geſundheit veranlaßte. Bey dem dreyßigjaͤhrigen
robuſten Dorfprediger waͤren die ſtaͤrkenden Mittel
uͤberfluͤſſig geweſen.*)
Wenn ich die Verſtopfungen der Hals- und
Gekroͤsdruͤſen bey Kindern mit ſeifenartigen Mitteln,
mit der Faͤrberroͤthe und dem Schierling behandle, ſo be-
wirke
[419] wirke ich in acht, hoͤchſtens vierzehn Tagen ſo viel,
daß ich anfaͤnglich in kurzer Zeit die vollſtaͤndige Hei-
lung erwartete; allein ich fand meine Hoffnung oͤfters
getaͤuſcht, indem ich dieſe entweder nie zu Stand
brachte, oder aber baldige Ruͤckfaͤlle erfahren muſte-
Seitdem ich aber die vorigen Arzneyen, nachdem ſie
die erſte gute Wirkung gethan haben, alſogleich mit
der Rinde, mit Eiſen, Eiſenvitriol u. d. gl. verſetze,
habe ich viele, dem Anſchein nach unmoͤgliche, ſchnel-
le und ſtandhafte Kuren bewirkt.
§. 52.
Um einzuſehen, warum die eigenmaͤchtigen Ku-
ren in langwierigen Krankheiten der Natur nur ſelten
gluͤcken koͤnnen, darf man nur die Zufaͤlle beherzigen,
welche ſich gewoͤhnlich dergleichen Krankheiten in einem
oder dem andern Zeitpunkte beygeſellen.
Es aͤußern ſich alle Zeichen eines ſchlechten Ma-
gens und einer verdorbenen Verdauung, Eckel, Dru-
cken, Sodbrennen, ſtinkendes, ſaures, ſcharfes Auf-
ſtoßen, unordentliche, bald unerſaͤttliche, bald ganz
mangelnde Eßluſt; Muͤdigkeit in allen Gliedern;
kleiner, geſchwinder, langſamer, krampfhafter, ſehr
abwechſelnder Aderſchlag; roher, waͤſſerichter, haͤu-
figer, ſparſamer, ſehr gefaͤrbter, truͤber, mit dickem,
ziegelmehlaͤhnlichem Bodenſatz verſehner, mit Zwang
abgehender oder ganz zuruͤckgehaltener Harn; amei-
ſenartiges Kribbeln nach der Laͤnge des Ruͤckgrades
und der Lenden; beſchwerliches kurzes, geſchwindes,
beym Steigen, und endlich ſelbſt beym geradeaus Lie-
D d 2gen
[420] gen muͤhſames Athmen; Verdruͤßigkeit, Traurigkeit,
Stumpfheit oder uͤberſpannte Reitzbarkeit der Sinne,
Magerwerden und teigartiges Anſchwellen der Fuͤße
und des ganzen Leibes; waͤſſerichte Ergießungen in die
Hoͤlen des Koͤrpers mit ihren Zufaͤllen; Uebelkeiten
Ohnmachten, Erbrechen, erſchoͤpfende Bauchfluͤße;
blaße Geſichtsfarbe. Kaͤlte in den Fuͤßen, Haͤnden
und dem ganzen Koͤrper; matte in der Fruͤhe und un-
ter den Augenliedern aufgedunſene Augen, Kopfſchmer-
zen, Schwindel, Neigung zum Schlaf und zur Ru-
he; Unruhe in den Fuͤßen, welche gegen Abend an-
laufen; Ermuͤdung auf die geringſte Bewegung; Herz-
klopfen, Bedruͤckung, Schwere des Kopfes, ſtumpfer,
ſchlaͤfriger Geiſt; immerwaͤhrende Bangigkeiten; bla-
ße Lippen, bleyfaͤrbiges, gruͤngelbes Geſicht; allge-
meine Hinfaͤlligkeit u. ſ. w.
Man bedenke die Zufaͤlle der Waſſerſuchten,
der Schwindſuchten, Abzehrungen, der Hyſterie,
Hypochondrie, der verſtopften Eingeweide, des Schar-
bocks, des allgemeinen Verderbniſſes des Koͤrpers
(cachexia) der Ohnmachten, des Scheintodes, der
Nervenſchwaͤche u. ſ. w. Und dann urtheile man, ob
die in ſo tiefe Ohnmacht verſenkte Natur ſo leicht die
Oberhand gewinnen koͤnne, daß man ſie, ohne Vor-
wurf einer ſtrafbaren Unthaͤtigkeit, ſich ſelbſt uͤberlaſſen
kann.
§. 53.
Dem ohngeachtet giebt es einige Faͤlle, wo die
Natur noch vortrefflich wirkſam iſt. So entſteht nicht
ſel-
[421] ſelten ein Wechſelfieber, ein krampfhafter ſehr erſchuͤt-
ternder und in veraltete Verſtopfungen maͤchtig wirkender
Anfall. Man erinnere ſich der eigenmaͤchtigen Kuren der
Natur, welche ich im Anfange dieſes Kapitels ange-
fuͤhrt habe. Die Natur vernachlaͤßiget nichts, um
den Fluͤſſen, den Schlagfluͤſſen, den einſeitigen Laͤh-
mungen, den Zuckungen von kalter zaͤher Materie
durch fieberhafte Bewegungen abzuhelfen. Sie heilt
Waſſerſuchten, Hypochondrie, Hyſterie, Melancholie
u. d. gl. durch Blutſpeyen, Erbrechen, Bauchfluͤſſe,
Ausſchlaͤge, haͤufigen Harnabgang, Goldaderfluß,
Speichelfluß u. ſ. w. Wie auch in langwierigen Krank-
heiten Entſcheidungen ſtatt haben, und jedesmal da-
rauf Ruͤckſicht genommen werden muͤſſe, werde ich an-
derſtwo darthun. In der Gicht veranſtaltet ſie regel-
maͤßige Fieberbewegungen, wodurch die erzeugte Gicht-
materie abgeſchieden, nach den aͤußerſten Theilen ab-
geſetzt, veraͤndert, theils durch einen oͤrtlichen Schweiß
gleich fortgeſchaft, theils wieder eingeſogen, vollkom-
men zur Ausleerung vorbereitet, und endlich ausgeleeret
wird. Aber je laͤnger dieſe Uebel angehalten haben,
je mehr ſie durch eine ſchwaͤchende Heilart behandelt
werden, je ſchwaͤchere, aͤltere Koͤrper ſie befallen,
deſto mehr wird die Ohnmacht der Natur offenbar.
Bey Perſonen von einer ſtarken Leibesbeſchaffenheit,
ſagt Sydenham, und ſolchen, welche die Gicht nur
ſelten bekommen, dauert der ganze Anfall nur vier-
zehn Tage. Allein bey alten Leuten, oder ſolchen,
bey denen dergleichen Anfall oͤfters wiederkoͤmmt, haͤlt
derſelbe wohl zwey Monate an; ja bey Patienten, die
durch
[422] durch das Alter oder die lange Dauer der Krankheit
ſehr geſchwaͤcht worden ſind, verliert ſich dieſelbe voͤl-
lig nicht ehe, als bis es ſchon weit im Sommer iſt,
der die Gicht hernach vertreibt. — — Es iſt in der
Gicht ein ſtarker aͤußerlicher Schmerz, das zwar un-
angenehme, aber doch hinlaͤngliche Heilmittel, von
dem die Natur Gebrauch macht; und je heftiger die-
ſer Schmerz iſt, deſto eher endigt ſich auch der Anfall,
und deſto laͤnger und vollkommener iſt die darauf fol-
gende Intermiſſion, und ſo wieder im Gegentheil.*)
Sind aber einmal die Kraͤfte durch das Alter, durch
die langwierigen Leiden, durch Aderlaſſen, Brech- und
Purgiermittel, welche ohne beſondere Anzeige nie ge-
braucht werden ſollen, durch unordentliche Lebensord-
nung u. ſ. w. geſchwaͤcht, ſo werden die Gichtanfaͤlle
weniger ſchmerzhaft. Es entſteht aber ein allgemeines
Uebelbefinden mit Bauchſchmerzen, mit einer von frey-
en Stuͤcken erfolgenden Muͤdigkeit und zuweilen auch
mit Neigung zum Durchfall. So lange dieſe Zufaͤl-
le ſtark ſind, lindern ſie die Schmerzen der Glie-
der, die wieder kommen, wenn jene verſchwinden;
und ſo werden die ganzen Anfaͤlle durch die Abwechs-
lung von Schmerz und ein gewiſſes allgemeines Uebel-
befinden ſehr verlaͤngert. Die Schmerzen ſind bey
weitem nicht mehr ſo heftig, und der Kranke ſtirbt
endlich mehr an dieſem allgemeinen Uebelbefinden, als
vor Schmerzen. Vorzuͤglich aber im hohem Alter
pflegt die Gicht die aͤußern Glieder zu verlaſſen, und
mehr den Rumpf und die Eingeweide zu befallen,
welche
[423] welche jezt ganz ſchwach und traͤg geworden ſind. Hier
kann nichts Hilfe ſchaffen, als die Entſtehung der
Gicht, durch bittere, herzſtaͤrkende Mittel, eiſenhal-
tige Mineralwaͤſſer, einen mit weißen Wein bereite-
ten Aufguß von der Fieberrinde und durch die hitzigen
Opiaten zu befoͤrdern zu ſuchen; alle dieſe Mittel aber
hat Grant bey ſtarken Perſonen nie noͤthig gefunden.
Eben ſo verhielt ſichs mit jenen Wechſelfiebern
welche Sydenham vom Jahr 1661. beſchrieben hat.
Wenn dieſe alte, cachektiſche, durch Aderlaſſen oder
andere Ausleerungen geſchwaͤchte Perſonen befielen,
ſo dauerten ſie zwey bis drey Monate.
§. 54.
Ferner iſt es eine bekannte Thatſache, daß den
erblichen Krankheiten auf keine Weiſe wirkſamer vor-
gebaut wird, als daß man ſolchen Leuten von Mut-
terleibe an eine ſtarke, abgehaͤrtete Leibesbeſchaffenheit
und ſo viel moͤglich koͤrperliche Kraft zu verſchaffen
ſucht. Dadurch erreicht man oft, daß der angeerb-
te Zunder in dem ſtarken Sohne erſtickt bleibt, ob-
ſchon er im ſchwaͤchern Enkel wieder aufglimmt, wo-
von Van Swieten Beyſpiele anfuͤhrt.*) Freylich
iſt dieſes nicht die einzige Urſache dieſer Erſcheinung.
Einer der buͤndigſten Beweiſe endlich, daß die
Wirkſamkeit der Natur in langwierigen Krankheiten
mit dem Kraͤftenmaße in gleichem Verhaͤltniße ſtehe,
und daß meine angegebene Heilanzeige die allgemeinſte
ſeyn
[424] ſeyn muͤſſe, iſt die ausgemachte, und oben zum Theil
bewieſene Thatſache, daß die ehemaligen hitzigen
Krankheiten, in welchen die Natur mehr aus Ueber-
maß als Mangel ſchaͤdlich wird, durch unſere Sitten
und Lebensart u. ſ. w. immer mehr und mehr in min-
der hitzige, in langwierige, in ſchleichende ausarten,
welche zwar die Menſchen nicht, wie der Sturm den
Eichbaum gewaltſam zerſtoͤhren, aber deſto heimtuͤckiſcher
und gewißer durch ein ſiechendes Leben langſam zum
Grabe fuͤhren. So koͤnnen wir annehmen, daß der
groͤßte Theil unſerer langwierigen Uebel nichts anders
ſind, als verſtuͤmmelte Uebergaͤnge aus den hitzigen;
nichts anders, als der Tauſch einer ohnmaͤchtigen, ge-
laͤhmten Lebenskraft gegen eine hoͤchſt thaͤtige und kraft-
volle. Daher giebt Barker den unſchaͤtzbaren Rath,
den langwierigen Rheumatismus eben ſo zu heilen,
wie die Natur den hitzigen heilet; und wenn ich hof-
fen darf, mit Aufmerkſamkeit geleſen worden zu ſeyn,
ſo hoffe ich auch, der Leſer werde durch das bisheri-
ge uͤberzeugt worden ſeyn, daß man dieſes in allen
langwierigen Krankheiten, welche eine aͤhnliche Ent-
ſtehung gemein haben, befolgen muͤße.
Folgerungsſatz.
§. 55.
Schwaͤchliche Leute alſo ſind mehrern und ſchlim-
mern Krankheiten unterworfen; die Entwicklung
ſelbſt wird bey zu fruͤher Verſchwendung der Kraͤfte
unvollſtaͤndig; die hitzigen Krankheiten arten bey
Schwaͤch-
[425] Schwaͤchlichen und Erſchoͤpften aus, werden in ihrem
Verlaufe unordentlich, machen nur theilweiſe, oder
gar keine Entſcheidungen, und ſind uͤberhaupt weit
gefaͤhrlicher; Krankheiten, welche die Kraͤfte bey ih-
rem Anfalle gleich niederſchlagen, ſind von jeher fuͤr
die ſchlimmſten gehalten worden. Eben ſo werden
die ſonſt gutartigſten Krankheiten, ſo bald der Arzt
die Kraͤfte zu tief herabſetzet, in ihrem Verlauf, und
in ihren Entſcheidungen geſtoͤhrt, und nehmen ſeltſa-
me, ſchreckbare Geſtalten an; ſie ziehen ſich in die
Laͤnge, hinterlaſſen langwierige, unheilbare Folgen;
da ſie ſich hingegen bey guten Kraͤften weit fruͤher und
vollſtaͤndig entſcheiden, und nicht ſelten eine beſſere
Geſundheit zur Folge haben. — Die Wiedergeneſung
leiſtet nur bey gehoͤrig geſchonten Kraͤften jene guten
Wirkungen, wovon die vollſtaͤndige Geneſung abhaͤngt,
und dieſe erreicht der Kranke um ſo viel geſchwinder,
je weniger der Arzt oder das Uebel die Lebenskraͤfte
angegriffen haben; die Ueberbleibſel und die Folgen
der Entkraͤftung werden in eben dem Verhaͤltniß ge-
heilet, in welchem die Kraͤfte erſtattet werden. —
Erhaltung und Erſtattung der Kraͤfte ſind die zuver-
laͤßigſte Gegenwehr gegen die Ruͤckfaͤlle, und dieſe
ſind nur um der mangelhaften Kraͤfte willen ſo be-
denklich. — Schwaͤchlichkeit iſt ebenfalls die ergiebig-
ſte Quelle der langwierigen Krankheiten; die Abſich-
ten und Beſtrebungen der Natur in denſelben werden
zweydeutig, unordentlich und fruchtlos; durch Unter-
ſtuͤtzung hingegen der Kraͤfte deutlich, ordentlich und
heilſam gemacht; ſelbſt, wo die Natur ſich ſelbſt uͤber-
laſ-
[426] laſſen iſt, kann ſie nur dann etwas bewirken, wenn
die Lebenskraͤfte auf irgend eine Weiſe erweckt wor-
den ſind. — Geſchieht dieſes nicht, ſo dauert das
Uebel immer fort, und richtet von Tage zu Tage groͤ-
ßere Zerruͤttungen an. — Die Erhaltung und Erſtat-
tung der Kraͤfte wurden zu allen Zeiten von den groͤ-
ßten Aerzten fuͤr die wichtigſte und erſte Heilanzeige ge-
halten. — — Wie koͤnnte man alſo noch der Fol-
gerung widerſtehen, daß die verhaͤltnißmaͤßigen
Kräfte eines der erſten und wichtigſten Erforder-
niſſe zur Wirkſamkeit der Natur ſind? —
Von der Schaͤtzung der Kraͤfte.
§. 56.
Aber nun entſtehen die großen, wichtigen Fra-
gen: Wie kann man zu einer richtigen Schaͤtzung der
Kraͤfte gelangen? Wann ſind ſie uͤbermaͤßig, — wann
mangelhaft, — und wann halten ſie mit der Krank-
heit das erfoderliche Gleichgewicht?
Die Eroͤrterung dieſer Fragen iſt bey weitem
nicht ſo leicht, als man anfaͤnglich glaubt; und den-
noch haͤngt alles, was aus den obigen Bemerkungen
fließet, davon ab. Ich bedaure daher um ſo viel mehr
daß ich noch nicht im Stande bin, mir und meinen
Leſern in dieſer wichtigen Sache Genuͤge zu leiſten.
Vielleicht muntert das, was ich ſagen werde, ſcharf-
ſinnigere oder erfahrnere Maͤnner auf. — Vielleicht auch
werde ich einſtens ergaͤnzen koͤnnen, was ich jetzt nur
ſtuͤckweiſe vortrage.
Ehe-
[427]
Ehemals glaubte ich, man koͤnnte die Stufen
der Entkraͤftung beſtimmen, wenn man annaͤhme, daß
die verſchiedenen Verrichtungen der verſchiedenen Werk-
zeuge zu ihrer Vollkommenheit einen verſchiedenen Grad
von Kraft erfordern — und alsdann die Entkraͤftung
aufs hoͤchſte geſtiegen waͤre, wenn diejenigen Verrich-
tungen, wozu die geringſte Kraft erfordert wird, aus
Kraftloſigkeit verletzt oder gar gehemmt ſind. So
hielt ich es mit Inſenflam*) fuͤr ein Zeichen der
groͤſten Entkraͤftung, wenn einem Kranken die Fluͤßig-
keiten wieder aus dem Munde laufen, und er ſchwere
Anſtalten macht, die Zunge vorzuzeigen. Zuverlaͤßig
iſt der Kranke, der die Muskeln der Backen, des
Mundes, der Zunge, des Schlundes nimmer in or-
dentliche und willkuͤhrliche Bewegung verſetzen kann,
viel ſchwaͤcher, als derjenige, welchem der Kopf, der
Rumpf, die Arme zu ſchwer geworden ſind, der nim-
mer auf der Seite liegen, oder ſich in keiner geraden
Richtung mehr erhalten kann. In manchen Faͤllen
iſt dieſer Maaßſtab richtig, und es waͤre zu wuͤnſchen,
daß die Aerzte jedesmal das aus Kraftloſigkeit ent-
ſtandene Unvermoͤgen genauer anzeigten, ſtatt der un-
beſtimmten, ſchwankenden Ausdruͤcke: Der Kranke
war ſehr, oder aͤußerſt ſchwach. — Aber wir koͤnnen
nicht uͤberall einen fuͤr die Heilkunde nuͤtzlichen Gebrauch
davon machen, und es kann uns bey dieſem Verfah-
ren ein Kranker in den Armen ſterben, denn wir noch
bey weitem nicht fuͤr ſehr entkraͤftet gehalten haͤtten.
§. 57.
[428]
§. 57.
Zeichen der Kraftloſigkeit-
Ich habe oben ſchon §. 23. die Zeichen angege-
ben, woraus man auf das Unvermoͤgen der Natur
ſchließen kann. Da ſie aber einen verſchiedenen Zu-
ſtand des Unvermoͤgens anzeigen, ſo will ich hier vor-
zuͤglich diejenigen zuſammen ſtellen, welche die eigent-
liche Kraftloſigkeit, den Verfall der Lebenskraͤfte zu
erkennen geben. Die wichtigſten von dieſen ſind:
Schwere des Kopfes, Schwindel, große Geneigt-
heit zu Ohnmachten, wirkliche Ohnmachten, welche
entweder ohne Veranlaſſung, oder auf die geringſte
Bewegung des Koͤrpers erfolgen; Mangel an Em-
pfindung ſowohl des gegenwaͤrtigen Zuſtandes als der
etwannigen Schmerzen; Stumpfheit aller Sinne;
Sorgloſigkeit, Gleichguͤltigkeit uͤber alles ſowohl,
was dem Kranken ſonſt angelegen war, als uͤber die
wirkliche Gefahr, ja ſogar uͤber die noͤthigen Beduͤrf-
niſſe; Vergeſſenheit; Verwirrung, ſtilles Faſeln; voll-
kommner Mangel des Bewuſtſeyns; Schlaͤfrigkeit;
anhaltendes, ruhiges Irreſeyn; Schlafloſigkeit; leb-
loſe, eingefallene, ſtarre, ſchmutzige, ſtaubigte, ganz
trockne oder triefende, glanzloſe, verdrehte, truͤbe,
matte, geſchloßne, halbgeſchloſſene, ungleich geoͤffne-
te, ſchmachtende Augen; verſtelltes, zuſammen gefal-
lenes, ſchmutziges, blaßes Geſicht mit offnem Mun-
de, hangenden, entbloͤßten oder ſchwarzen Lippen,
ausgedehnten ſchwarzen Naſenloͤchern, gerunzelter
Stirne; ganz trockne, oder mit braunem und ſchwar-
zem
[429] zem Schmutz uͤberzogene Zaͤhne, die die Lippen nicht
mehr bedecken koͤnnen; gebrochne, ſchwache, dumpfich-
te Stimme; vertrocknete, geſpaltene, unbewegliche,
ſchwarzbraune, ſproͤde, ſchrundige Zunge; Unvermoͤ-
gen zu ſchluͤcken; immerwaͤhrendes, tiefes Seufzen;
innere Bangigkeiten; muͤtzſamer, kleiner, langſamer,
ſeltner, oder kleiner und ſehr geſchwinder, kalter
Athem; bemerkt man ihn nicht einmal, ſo iſt er der
ſchlimmſte, und wird auch der kalte Athem genannt,
weil er oͤfters kurz vor dem Tode zu erſcheinen pflegt;
blaſſer, gefaͤrbter aber dennoch vollkommen geſchmack-
loſer Harn, wobey Boerhave den nahen Tod erwar-
tete; ſtinkende Ausleerungen aller Art; je unertraͤg-
licher der Geſtank iſt, deſto groͤßer iſt die Gefahr; und
dennoch laͤßt man ſich durch eben dieſen entſetzlichen
Geſtank zu fernern und geradezu moͤrderiſchen Auslee-
rungen verfuͤhren! matter, oft aͤußerſt geſchwinder,
kleiner, unregelmaͤßiger, ausſetzender, manchmal ei-
nige Zeit ganz ausbleibender, zitternder Puls; kalte,
klebrichte, ungleiche, ſchmelzende, theilweiſe Schwei-
ße; ein ungemein heftiger Schweiß am Ende hitziger
Fieber iſt oft ein Zeichen des Todes, weil er dann
ein Zeichen der aͤußerſten Schwachheit iſt, und meh-
rentheils in den kalten und letzten Schweiß uͤbergeht.
Daher iſt auch ein wirklich kritiſcher Schweiß, wenn
er allzu heftig iſt, gefaͤhrlich, weil er die noͤthige
Kraͤfte erſchoͤpft, und die Krankheit in die Laͤnge zieht.
Auch in auszehrenden Fiebern ſind heftige Schweiße
Zeichen einer großen Schwachheit. Trockenheit der
Haut; die Ausſchlaͤge kommen nicht hervor; bleiben
tief
[430] tief unter der Haut liegen, ſinken ein oder treten ganz zu-
ruͤck; die vorhandenen Geſchwuͤre, oder andere ge-
reizte Stellen troͤcknen ein, werden blaß: Blaſenpfla-
ſter und andere reizende Mittel greifen entweder nicht
an, oder erregen nur eine ſchwache Empfindung; Ge-
fuͤhlloſigkeit; brandige Flecken; Blutſtriemen; Blut-
fluͤſſe; Zittern einzelner Glieder oder des ganzen Koͤr-
pers, welches die aͤußerſte Entkraͤftung anzeigt, und
daher immer von der ſchlimmſten Bedeutung iſt; Un-
vermoͤgen, die Glieder zu bewegen; der Kranke liegt
auf den Ruͤcken mit ausgeſperrten Beinen, wegge-
worfenen Armen; ſchurrt zu den Fuͤßen herunter; die
Gliedmaſſen und die Haut, die Bruſt, der Kopf ſind
kalt; gewiße Arten von Zuckungen zeigen oft den
hoͤchſten Grad von Entkraͤftung an. Wenn in hitzi-
gen Fiebern die Kranken oͤfters nach der Naſe greifen,
und doch kein Blutfluß erfolgt, ſo zeigt dieſes die
Ohnmacht der Natur an; es muͤſte denn die Anſchop-
pung ſo groß ſeyn, daß alle Bewegungen gehemmt,
und folglich alle Entleerung gehindert wird; vorge-
gangene, fruchtloſe, theilweiſe Entſcheidungen, oͤftere
Ruͤckfaͤlle ohne offenbare Veranlaſſung; u. ſ. w.
Alle dieſe Zeichen haben ihren unleugbaren
Werth, und ſie ſind bald einzeln, bald nur in Ver-
bindung mit mehrern von groͤßerer oder geringerer Be-
deutung. Man muß aber immer dabey auf die be-
ſondern Umſtaͤnde des Kranken Ruͤckſicht nehmen. So
hat bey fetten Leuten ein kleiner, ſchwacher Puls
nichts zu bedeuten; bey einigen pflegt der Puls im
geſunden Tagen auszuſetzen, und dann iſt es eben ſo
ſchlimm,
[431] ſchlimm, wenn er bey dieſen regelmaͤßig, als wenn
er bey andern unregelmaͤßig und ausſetzend wird. In
Ruͤckſicht der Mattigkeit nehmen die Kranken auch ei-
nen großen Unterſchied wahr; einige klagen zwar uͤber
Mattigkeit der Glieder; dennoch bewegen ſie ſich ganz
frey; andere liegen niedergeſchlagen, traurig da,
verlangen Ruhe, und bewegen ſich mit vieler Beſchwer-
de; indeßen richten ſie ſich noch auf, und gehen noch
manchmal ohne Unterſtuͤtzung; andere liegen immer-
waͤhrend auf dem Ruͤcken, ſie koͤnnen weder den Kopf
noch die Glieder bewegen, das Maul nicht geſchloſ-
ſen halten, noch reden; ſie ſchurren zu den Fuͤſſen
herab, und legt man ſie auf die Seite, ſo faͤllt der
Koͤrper wieder durch ſeine eigne Schwere auf dem
Ruͤcken. Viele ſind gewohnt mit halbgeſchloßnen Au-
gen zu ſchlafen; oder ſie liegen gewoͤhnlich auf dem
Ruͤcken mit offenem Munde, weßwegen die Zunge,
die Lippen und der Hals, ohne das geringſte zu bedeu-
ten, ſehr trocken und mißfaͤrbig ſeyn koͤnnen. Die
Winde und andere Ausleerungen gallichter Leute ſtin-
ken immer mehr, als jene der ſchleimichten; bey Grei-
ſen verliert oft der Puls bis zum letzten Athem ſeine
Haͤrte nicht u. ſ. w. Von allen dieſen zufaͤlligen Un-
terſchieden werde ich im 3ten Kapitel umſtaͤndlich han-
deln. Nur dieſes muß ich noch anmerken, daß dieſe
Zeichen eben ſo wie die obigen vom allgemeinen Un-
vermoͤgen ſelten geſchickt ſind, den Arzt auf eine be-
ſtimmte Vorherkuͤndigung, oder auf eine beſtimmte
ſichere Heilart zu fuͤhren. Folgende Bemerkungen
wer-
[432] werden wahrſcheinlich einen weit beſtimmtern, prak-
tiſchern Nutzen haben.
§. 58.
Die Beſonderheiten, welche dem Alter, dem
Geſchlechte, dem Temperamente und der Gewohnheit
eigen ſind, ausgenommen, kann man annehmen,
daß einer jeden Gattung von Krankheit ein gewiſſes,
eignes Ziel von Kraftloſigkeit geſetzt ſeye, welches
gewoͤhnlich vor dem Tode hergeht, und wobey ent-
weder alles Beſtreben der Natur allein, oder auch
alle Bemuͤhungen der Kunſt fruchtlos bleiben. Wenn
man alſo von dieſem, der gegenwaͤrtigen Krankheit
eignen Verfall der Kraͤfte, als der in dieſem Falle
hoͤchſt moͤglichen Stufe der Entkraͤftung ausgienge —
und wieder bis zu jenem Grad, welcher zur erforder-
lichen Wirkſamkeit der Natur, zur Wirkung der Heil-
mittel, zur Zertheilung, Veraͤhnlichung, Kochung
und Ausleerung des Krankheitsſtoffes noͤthig iſt;
wodurch endlich die verhaͤltnißmaͤßige Geſundheit wie-
der vollkommen hergeſtellt wird, aufwaͤrts ſchritte;
ſo glaube ich, haͤtte man gewiſſe Standpunkte, um
das Uebermaaß, und den Mangel der Kraͤfte anzu-
geben. Je mehr der erforderliche Grad uͤberſtiegen
wuͤrde, deſto uͤbermaͤßiger waͤren ſie, und deſto mehr
Recht haͤtte der Arzt, ſie zu vermindern; je mehr ſie
hingegen unter denſelben herabgeſunken waͤren, deſto
mangelhafter waͤren ſie, und der Arzt wuͤrde deſto
mehr zur werkthaͤtigen Unterſtuͤtzung aufgefodert. Den
gehoͤrigen Standpunkt aber wuͤrde er auf keine Weiſe
zu
[433] zu verruͤcken ſuchen. Wenn ich, z. B., mit der Na-
tur der Entzuͤndungskrankheiten gut bekannt bin, ſo
kann ich bey dieſem oder jenem Kranken ungefaͤhr ſa-
gen, was fuͤr ein Grad von Fieber erforderlich ſeye,
um eine gluͤckliche Zertheilung und Entſcheidung zu
bewirken. Bey einem geſunden dreyßigjaͤhrigen Man-
ne von mittlerer Leibesſtaͤrke ſind ein maͤßiges Kopf-
weh, ein etwas lebhafteres Geſicht, glaͤnzende Augen,
etwas trockner Mund, feuchte, weißſchleimige Zunge,
maͤßiger Durſt, nur geringe Verminderung der natuͤr-
lichen Ausleerungen durch Stuhl und Harn, eine maͤſ-
ſig vermehrte Waͤrme der Haut mit ebenfalls maͤßi-
ger Troͤckne, ein Puls, der in einer Minute etwa
fuͤnf und ſiebenzigmal ſchlaͤgt, da er im geſunden Zu-
ſtande ſechzig bis fuͤnf und ſechzig Schlaͤge thut, der
nur um die Haͤlfte mehr dem Druck des Fingers wi-
derſteht, u. ſ. w. gerade das aͤchte Maaß der Be-
wegungen, wodurch der Stoff des entzuͤndlichen Fie-
bers weder zu ſtuͤrmiſch noch zu traͤge verarbeitet,
verkocht und ausgeleeret wird. — Es waͤre alſo Un-
ſinn, wenn man dieſen Grad erhoͤhen oder vermindern
wollte. Aber was druͤber und drunter iſt, ſoll der
Arzt mit Klugheit bald durch beruhigende und auslee-
rende Mittel, durch Lebensordnung, bald durch rei-
zende, naͤhrende u. ſ. w. auf die gehoͤrige Stufe zu-
ruͤckfuͤhren. — — Da wird nun freylich mehr erfo-
dert, als die bloße Namenskenntniß der Zufaͤlle und
der Heilmittel. Es wird erfordert, daß der Arzt den
Gang einer jeden Krankheit etwan ſo genau kenne,
als wir ihn bey der Gicht und den Blattern zu ken-
Gall I. Band E enen
[434] nen glauben; daß er wiße, was die Natur in jeder
Stufe der Krankheit unter allen Umſtaͤnden vermag
— Freylich wuͤrde der, der dieſes leiſtete, den wich-
ſten Maͤngeln der Heilkunde abhelfen.
§. 59.
Aber die Leibesbeſchaffenheit des Kranken, der
angegriffene Theil, und jede weſentlich verſchiedene
Krankheit haben ihre Eigenheiten. In Faulfiebern z.
B. iſt die Schwaͤche nicht eher auf ihrer hoͤchſten Stu-
fe, als bis der Kranke nimmer auf der Seite liegen
kann, zu den Fuͤßen herabſchurrt; bis die Sinne
ſtumpf ſind, das Getraͤnke aus dem Munde fließet, und
der Schlund gelaͤhmt zu ſeyn ſcheint. In der Lungen-
ſchwindſucht hingegen eſſen, trinken, ſprechen, ſte-
hen und gehen die Kranken manchmal noch einige Au-
genblicke vor dem Tode; die Stimme verliert ſich
nicht allemal; auſſer einer beſondern Vergeſſenheit und
einem ganz leichten Irreſeyn, welche kurz vor dem
Tode zuweilen anwandeln, bleiben die Verrichtungen
der Sinne und der Denkkraft zum Erſtaunen ſtand-
haft. — Aderlaſſen verurſachen manchen eine ſolche
Entkraͤftung, daß Ohnmachten und Zuckungen entſte-
hen; andern wiederfaͤhrt dieſes auf ſtarke Leibesoͤff-
nungen, auf Klyſtiren, auf Samenergießungen. Eben
ſo wird in den verſchiedenen Arten des Scharbockes
die Bloͤdigkeit endlich ſo groß, daß der Kranke bey
dem geringſten Anlaße, bey der unbetraͤchtlichſten Be-
wegung, ja zuweilen bey dem bloßen Aufrechtſitzen in
toͤdtliche Ohnmachten verſinkt. In allen dieſen Faͤllen
koͤmmt
[435] koͤmmt man der Gefahr vor, wenn man den Kranken
eiligſt in eine horizontale Lage bringt, was in andern
Krankheiten zwar etwas helfen, aber dennoch nichts
weſentliches leiſten wuͤrde. — Die Entzuͤndungskrank-
heiten machen gewoͤhnlich in ihrer erſten Periode die
Lebensbewegungen lebhafter. Die Entzuͤndung des
Gehirns aber, und ein davon entſtandenes Geſchwuͤr
machen ehe die Sinne ſtumpf, die Verrichtungen matt
und traͤg, Betaͤubung, ſchwachen und langſamen
Puls.*) Es giebt gewiſſe Gattungen Faul- und
Nervenfieber, welche von großer Entkraͤftung beglei-
tet werden, obſchon ſie kein Zeichen einer Verderbniß
aͤußern; andere, wo die Zeichen in hohem Grade zu-
gegen ſind, obſchon die Kraͤfte in aller Ruͤckſicht bey-
nahe ganz unverletzt ſind. Schröder ſah Kinder,
die lange an Wuͤrmern litten, Petechien bekamen,
und doch herumliefen. In dem Eiterungsfieber der
Blattern wo der Eiter oft ganz ſchwarzblau iſt, ſind
doch manchmal die Kraͤfte und der Aderſchlag noch
gut. In Faulfiebern iſt die Schwaͤche, welche von of-
fenbarer Unreinigkeit herkoͤmmt, leicht durch Brech-
und Purgiermittel zu heben; aber jene, welche in ei-
ner andern Art Faulfieber beobachtet wird, und eine
geheime Urſache zum Grunde hat, als verborgene,
brandige Zerruͤttungen der Theile, iſt unendlich ſchlimmer.
Je voͤller und haͤrter der Aderſchlag im Schlagfluße
wird, deſto naͤher iſt der Tod. So beobachtete Ba-
gliv in einer alten Frau Nachts um ein Uhr einen
E e 2ſtar-
[435] ſtarken, prellenden Puls; und ſie ſtarb um zehn Uhr
Allermeiſt verliert der Puls erſt einige Stunden vor
dem Tode die prellende Kraft, und wenn er ſchon hoͤchſt
unregelmaͤßig iſt, hat er doch noch eine beſondere
Staͤrke. Sehr oft wird er an der vom Schlagfluße
gelaͤhmten Seite ſtaͤrker als an der geſunden beobach-
tet. — In Faulfiebern iſt der langſame Puls ſehr oft
nichts weniger, als ein Zeichen der Schwaͤche; er iſt
vielmehr das ſicherſte Zeichen der Bemuͤhungen der
Natur zur Geneſung, und darf ja nicht durch reitzen-
de Mittel veraͤndert werden. 〟Ich bin uͤberzeugt, ſagt
Sydenham, daß unendlich viele Kinder, ja ſelbſt
Erwachſene deßwegen an den Blattern zu Grunde ge-
gangen ſind, weil die Aerzte nicht achtſam darauf
waren, daß gewiße Zuckungen nichts anders als die
Vorlaͤufer der Blattern, der Maſern u. ſ. w. ſind.
Durch die dagegen verordneten Ausleerungen hindern
ſie den Ausbruch, da ſie doch bey Erſcheinung des
Ausſchlages alſogleich von ſelbſt aufgehoͤrt haͤtten.〟
Eben ſo hat er manchmal vor dem Anfall der Wech-
ſelfteber Zuckungen oder Schlafſucht bemerkt, gegen wel-
che man auch nichts beſonders vornehmen ſoll. Man
kennt die ſonderbaren Masken der Wechſelfieber, wel-
che keine andere Heilart, als eine ſolche, die dem Wech-
ſelfieber anpaſſet, erfordern. Der zuverlaͤßigſte Be-
weis einer inſtehenden Entſcheidung iſt manchmal ein
außerordentlich tiefer Schlaf, wobey der Kranke ſo
entkraͤftet zu ſeyn ſcheint, daß man kaum mit aller
Aufmerkſamkeit das Athmen bemerken kann. Zu ei-
ner guten Entſcheidung der Gicht werden die heftigſten
Schmer-
[437] Schmerzen und ein ziemlich ſtarkes Fieber erfordert.
Oft hat man nicht eher eine Entſcheidung und folglich
das Ende einer Krankheit erhalten koͤnnen, als bis
gewiße Bewegungen bis zur Wuth und Raſerey ver-
ſtaͤrkt waren. Von allen dieſen Dingen werde ich im
Kapitel von den Entſcheidungen vollſtaͤndiger handeln.
— Bey Peſtkranken iſt es das wichtigſte Zeichen der
Hinfaͤlligkeit der Natur, wenn die Peſtbeulen, die Kar-
funkeln entweder nicht entſtehen, oder nicht eitern, oder
gar gaͤhlings wieder verſchwinden. — In der Eite-
rungsperiode der zuſammenfließenden Blattern zeigen
folgende Umſtaͤnde den hoͤchſten Verfall der Lebenskraͤf-
te an: die Blattern fallen zuſammen; der Eiter tritt
ins Blut zuruͤck; der Speichelfluß hoͤrt auf; die Haͤn-
de und Fuͤße ſchwellen nicht an; es erfolgt kein heil-
ſamer Bauchfluß; das Schlucken wird beſchwerlich,
die Stimme heiſcher; der Kranke ſchluͤckt endlich gar
nicht mehr; es erfolgt Irreſeyn, Betaͤubung, Schlum-
merſucht; die Geſchwulſt des Geſichtes faͤllt; die in-
neren Sinne ſind in Unordnung; der Kranke verliert
das menſchliche Anſehen; ſein gelbbraunes, bleyfaͤr-
bigtes, welkes, eingeſchrumpftes Geſicht ſieht aus, als
wenn es mit verbrannten Schorfen uͤberkleiſtert waͤre;
die Augendeckel ſind zuſammengepicht; endlich erfol-
gen Ohnmachten, Zuckungen, Zittern, ein klappen-
des Huͤſteln; die ganze Oberflaͤche der Haut ſchrumpft
ein, und die Gliedmaßen werden kalt.
Ueberhaupt erregt jeder reitzende Krankheitsſtoff
lebhaftere Bewegungen in gewiſſen Werkzeugen, wo-
durch die ſcharfen Theile gemildert, zertheilt und zer-
malmt,
[438] malmt, mit den uͤbrigen Saͤften entweder vereinigt,
oder aber von denſelben geſchieden werden; die dicken
klebrichten verlieren dadurch ihre Zaͤhigkeit; die ſchar-
fen, prikelnden nehmen eine milde Klebrigkeit an, und
verwickeln ſich in die ſchleimichten. Dieſes iſt die ei-
gentliche Kochung, welche z. B. in den Entzuͤndungs-
krankheiten vorgeht. Aber alles dieſes kann nicht ge-
ſchehen, wenn nicht der Kreislauf verſtaͤrkt, und die
natuͤrliche Waͤrme vermehrt ſind.
Aber nach einigen Tagen, fruͤher oder ſpaͤter, je
nachdem der Krankheitsſtoff haͤufig und ſcharf iſt, nachdem
die Kraͤfte des Kranken, ſeine Leibesbeſchaffenheit, die
Beſchaffenheit der herrſchenden Volkskrankheit und der
Jahrszeit geartet ſind, wird die Wirkung der feſten Theile
ſchwaͤcher, und der Umlauf der Saͤfte weniger ungeſtuͤmm
ſeyn; es aͤußern ſich jezt ſchon die Zeichen der zukuͤnf-
tigen Entſcheidung im Harne, am Pulſe, auf der
Haut und uͤberhaupt an der allgemeinen Ruhe und
Behaglichkeit des Kranken. Ehe aber die vollkom-
mene Ruhe durch die vollſtaͤndige Entſcheidung herge-
ſtellt wird, werden die Bewegungen des Pulsader-
und Nervenſyſtems noch einmal gewaltſam angeſtrengt;
es entſteht ein lebhaftes Fieber und mancherley zuwei-
len ſchreckbare Zufaͤlle, die den Unkuͤndigen nicht ſelten
irre fuͤhren. Jetzt folgen, je nachdem die Kraͤfte
mehr oder weniger geſchont worden ſind, haͤufigere,
ſtuͤrmiſchere ſinnliche Ausleerungen, welche allermeiſt
[zu Ende des 3ten Tages, oder den 4, 7, 11, 14, 17 Tag u. ſ. w.] ein-
treffen, und gewoͤhnlich durch jene Wege geſchehen,
wo der Widerſtand am ſchwaͤchſten iſt, und wenn die
Na-
[439] Natur vollkommen geſieget hat, durch die vom Mit-
telpunkt der Lebenskraft entfernteſten und zu den Aus-
wuͤrfen ohnehin beſtimmten Theile: durch den After,
die Harnwege, die Speicheldruͤſen, die Ausduͤnſtungs-
gefaͤße der Haut u. ſ. w.
Nach dieſen heftigen Bewegungen und Auslee-
rungen wird das Gleichgewicht unter den verſchiedenen
Kraͤften wieder hergeſtellt; anfaͤnglich waren die Le-
bensverrichtungen, und nachher die natuͤrlichen ver-
ſtaͤrkt; nun aber ſind ſie uͤber ihre gewoͤhnliche Thaͤ-
tigkeit herabgeſetzt, mittlerweilen gehen die Ausleerun-
gen in der gehoͤrigen Ordnung fort, und die Wieder-
geneſung nimmt ihren Anfang.
Bey guten Umſtaͤnden iſt dieſer Gang der Na-
tur beynahe in allen Krankheiten ziemlich beſtaͤndig
und einfoͤrmig. Die unreinen Entzuͤndungsfieber, die
Gall- und Faulfieber, die boͤßartigen Fieber, die
peſtilentialiſchen Fieber, Nervenfieber und die Peſt
ſelbſt haben ihre Entſcheidungen. Man mag ſagen,
was man will, ſo koͤmmt es blos auf eine genaue
Beobachtung der Zeitpunkte und der Ausleerungen an,
um ſich in allen davon zu uͤberzeugen. Aber es kann
keine Entſcheidung ohne vorhergehende, der Natur der
Krankheit eigne Bewegungen geſchehen; und auf jede
wird ebenfalls ein der Krankheit eigner Zuſtand von
Ruhe und Entkraͤftung folgen. Beyde ſind natuͤrliche
Zuſtaͤnde, die uns noch nicht genug bekannt ſind; und
doch laſſen wir uns, durch unſer Urtheil uͤber dieſelben,
beſtimmen, zu wirken, oder nicht zu wirken, und ſo
oder anderſt zu wirken.
Weil-
[440]
Weil nun die Entſcheidungen, beſonders deut-
lich aber bey den Entzuͤndungsfiebern und hitzigen Ner-
venfiebern mit dieſem Zeitpunkte der allgemeinen Ruhe
und Erſchlappung zuſammentreffen, ſo folgerten einige,
daß jene nur eine Wirkung der letztern ſeyen, und daß
man alſo, um Entſcheidungen zu bewirken, alſobald
durch haͤufige Aderlaͤßen und erſchlappende Dinge die-
ſen Zuſtand zu erhalten ſuchen muͤſſe.*) Man gruͤn-
dete auf dieſe irrige Vorſtellung den Gebrauch der
haͤufigen Aderlaͤßen; und da es gewiſſe Krankheiten
giebt, die durch fruͤhzeitige und ſtarke Ausleerungen
in ihrem Entſtehen erſtickt werden koͤnnen, ſo, daß
ſie ſich ohne alle Art von Kriſts gluͤcklich endigen;
und da man die uͤblen Folgen einer Heilart, welcher
man mehr aus Gewohnheit als Ueberzeugung anhaͤngt,
nicht auf derſelben Rechnung ſchreibt; da ferner ſtar-
ke, blutreiche Leute manchmal, beſonders in rheumati-
ſchen Entzuͤndungsfiebern, einen ungeheuren Blutver-
luſt ohne ſehr ſchaͤdliche Folgen ertragen koͤnnen; ſo
haben die Vertheidiger dieſer Meinung die Beſorgniſ-
ſe der Gegner fuͤr eine eitle Furcht gehalten, indem
es in Krankheiten genug waͤre, wenn die Kraͤfte zum
Leben, zum Umlauf der Saͤfte und zu den Abſoͤnde-
rungen hinreichten, da ſie hingegen im geſunden Zu-
ſtande zur Verdauung, zur Bewegung u. ſ. w. noth-
wendig einen weit groͤßern Aufwand brauchten.
Es iſt uͤberfluͤſſig, noch einmal dieſe Meynung
zu widerlegen; und es bleibt gewiß, daß alles, was
man von Verminderung oder Verſtaͤrkung der Kraͤfte
in
[441] in hitzigen Krankheiten ſagen kann, jedesmal mit
Ruͤckſicht auf die Natur der Krankheit und der Zeit-
punkte derſelben geſagt werden muͤſſe. So iſt in Ent-
zuͤndungskrankheiten der Zeitpunkt des Reizes ſehr oft
ſo beſchaffen, daß man die Kraͤfte ſchlechterdings
durch Blutausleerungen ſchwaͤchen muß, wenn man
nicht immer bedenklichere Folgen der heftigen Fieber-
bewegungen, eine ſchwerere Krankheit, und groͤßeres
Berderbniß der Saͤfte veranlaſſen will. In Faul-
Kerker-Spital- und Lazarethfiebern hingegen hat
manchmal der erſte Zeitpunkt ganz das Anſehen eines
Entzuͤndungsfiebers; allein dieſe Taͤuſchung dauert
hoͤchſtens ein bis zwey Tage, worauf alle Zeichen der
Faulniß eintreten, welche deſto ſchneller uͤberhand
nimmt, wenn man die erſten kraftvollern Bewegun-
gen durch Aderlaͤßen entkraͤftet hatte. So uͤbermaͤßig
die Kraͤfte zuweilen in den Zeitpunkt der kritiſchen
Stoͤhrung (Perturbatio critica) zu ſeyn ſcheinen, ſo
kann man ſie doch nur ſelten ohne große Gefahr ver-
mindern — und ſo ſehr ſie vor der Entſcheidung in
Faul- und Nervenfiebern geſunken zu ſeyn ſcheinen,
ſo wenig darf man ſie zu erheben ſuchen.
Es moͤgen alſo die Kraͤfte beſchaffen ſeyn wie
ſie wollen, wenn ſie nur zur Hebung der Hinderniſſe
in gegenwaͤrtiger Krankheit und in gegenwaͤrtigem Zeit-
punkt hinreichend ſind; wenn ſie zur rechten Zeit al-
les uͤberwinden, was die Kochung hindert; wenn ſie
die Entſcheidungen und die Wiedergeneſung zu Stande
bringen. — Die Mattigkeit ſeye noch ſo groß, das
Gemuͤth noch ſo ſehr niedergeſchlagen, die Denkkraft
ſeye
[442] ſeye noch ſo erſchoͤpft; die Sinne moͤgen gereizt oder
betaͤubt ſeyn: — — So ſoll ſie der Arzt auf keine
Weiſe zu veraͤndern ſuchen. Und dieſes war der
Grund, warum ich nicht unbedingt die Kräfte als
das Erforderniß zur Wirkſamkeit der Natur, ſondern
die verhältnißmäßigen Kräfte annahm.
§. 60.
Die verſchiedenen Kraͤfte des Menſchen wer-
den nach dem Unterſchiede der Krankheiten verſchie-
dentlich angegriffen. So, ſagt Schröder, ſind in hi-
tzigen Krankheiten die Lebenskräfte verſtaͤrkt, da die
Glieder abgeſchlagen, die Sinne ſtumpf, die Druck-
kraͤfte ſehr ſchwach ſind; ein andermal ſind die See-
lenkraͤfte heiter, die Eßluſt gut, die Daukraft wirk-
ſam; der Menſch hat noch Kraͤfte ſich aufzurichten,
da indeſſen der Puls kaum merklich, ein groſſer Hang
zu Ohnmachten vorhanden und die Gliedmaßen kalt
ſind. Bey guten Verſtandeskraͤften fuͤhlt man manch-
mal gar keinen Puls; der Athem ſelbſt iſt kalt; der
Magen und die Gedaͤrme ſind gelaͤhmt, ſo daß die
ſchaͤrfſten Dinge dieſelben nicht zu reitzen vermoͤgen.
Das Herz hat nicht ſelten noch große Kraft, da die
Haut blaß und kalt iſt, die Ausſchlaͤge oder andere
Ausleerungen gar nicht von ſtatten gehen.*) Auf
dieſen Unterſchied gruͤndet le Roy ſeine Eintheilung
der Fieber.〟 Wenn ich aufmerkſam uͤber alles dasje-
nige nachdenke, ſagt er, was ich von den hitzigen,
anhaltenden Fiebern geleſen oder bemerket habe, ſo
ſcheint
[443] ſcheint es mir, daß man alle dieſe Krankheiten auf
zwey allgemeine Klaſſen einſchraͤnken kann. Die Fie-
ber der erſten Klaſſe nenne ich Entzuͤndungsfieber; die
Fieber der zweyten Klaſſe aber boͤsartige Fieber. Die
Fieber dieſer beyden Klaſſen geben ſich durch folgende
Kennzeichen zu erkennen:〟
“In den Entzuͤndungsfiebern ſcheinen die Lebens-
kraͤfte mehr vermehrt, als geſchwaͤcht zu ſeyn. Der
Puls iſt gewoͤhnlich voll, ausgedehnt, bisweilen klein;
in beyden Faͤllen aber hat er Kraft. Dieſe Fieber
vertragen gut das Aderlaſſen. Die Hitze des ganzen
Koͤrpers, der Durſt, der Kopfſchmerz, das Irrere-
den, das beſchwerliche Athemholen, mit einem Wort
alle Zufaͤlle, die darinnen entſtehen koͤnnen, kommen
beynahe mit der Heftigkeit des Fiebers, mit dem
Grade der Schnelligkeit, der Haͤrte des Pulſes uͤber-
ein. Dieſe Fieber unterdruͤcken nicht ſchnell die Le-
benskraͤfte. Wenn der Puls darinn weich und klein
wird, ſo koͤmmt dieſes Symptom von einer voruͤber-
gehenden Urſache her, und dauert nicht lange. Soll-
te es aber dauern, ſo geſchieht es deßwegen, weil
das Leben wegen einem ſchweren, oder unheilbaren
Zufalle eines Eingeweides anfaͤngt zu verloͤſchen. Zu
dieſer Klaſſe zaͤhle ich das Seitenſtechen und die an-
dern Entzuͤndungskrankheiten, welche man ſymptoma-
tiſche nennt, und die Fieber mit Ausſchlaͤgen, und
endlich die anhaltenden, weſentlichen Fieber, bey wel-
chen man die angegebenen Kennzeichen findet.„
“Die boͤsartigen Fieber ſcheinen unmittelbar
den Grund des Lebens anzugreifen. Vom ihrem An-
fange
[444] fange an ſind die thieriſchen Kraͤfte eben ſo wohl als
die Lebenskraͤfte gewoͤhnlich unterdruͤckt. Der Puls
iſt insgemein weich und ſchwach, faſt jederzeit klein,
geſunken, oft ungleich. Die Zufaͤlle, die ſich darin-
nen entwickeln, kommen niemals mit dem Grade des
Fiebers uͤberein. Das Irrereden, die Schlafſucht,
das beſchwerliche Athemholen, das Auflaufen des Un-
terleibes, die Schmerzen, eine inflammatoriſche Ge-
ſchwulſt der Weichen, konvulſiviſche Bewegungen und
andere gefaͤhrliche Zufaͤlle ſtellen ſich gewoͤhnlich in
dieſen Gattungen von Fiebern ein, obgleich der Puls
klein, weich, ſchwach, geſunken bleibt. Das Ader-
laſſen, beſonders aber das wiederholte erſchoͤpft die
Kraͤfte des Kranken, ſchadet ſehr oft, anſtatt nuͤtz-
lich zu ſeyn.„*)
Die Gefahr muß nothwendig deſto groͤſſer ſeyn,
je allgemeiner die Entkraͤftung uͤber die verſchiedenen
Verrichtungen verbreitet iſt. Ob ſie aber jedesmal
mit der Verletzung derjenigen Verrichtungen, welche
zum Leben die unentbehrlichſten ſind, in geradem Ver-
haͤltniſſe ſtehen, kann, auſſer dem Falle einer vollkom-
menen Zerſtoͤhrung oder Hemmung derſelben, nicht
leicht behauptet werden. Der Umlauf der Saͤfte,
die natuͤrliche Waͤrme, des Athem koͤnnen ohne ſon-
derliche Gefahr auſſerordentlich ſchlecht beſchaffen ſeyn,
obſchon in den gewoͤhnlichſten hitzigen. Krankheiten die
ſchlimmſten Zeichen mit Recht von der Verletzung die-
ſer Verrichtungen hergenommen werden. Hingegen
ſind zuweilen Mangel an Durſt, verminderte oder ver-
ſtaͤrkte
[445] ſtaͤrkte Reitzbarkeit des Magens und der Gedaͤrme,
unwillkuͤhrlich mit Mangel an Bewuſtſeyn vor ſich ge-
hende Entleerungen, blaſſer Harn u. ſ. w. ſehr ſchlimme
Zeichen. Eben ſo ungewiß laͤßt ſich von der Verle-
tzung der thieriſchen Verrichtungen urtheilen. Manch-
mal iſt ein leichtes Irreſeyn, eine voruͤbergehende Ver-
geſſenheit u. ſ. w. ein toͤdtliches Zeichen, da der Menſch
ein andermal vier Wochen aller Sinne beraubt da lie-
get, und dennoch nicht behauptet werden kann, daß
er deßwegen in dringender Gefahr waͤre. Alles koͤmmt,
wie ſchon geſagt worden iſt, auf die Gattung der
Krankheit und auf die Zeitpunkte derſelben an.
Von der oͤrtlichen Schwaͤche.
§. 61.
Daß aber gewiſſe Werkzeuge vorzuͤglich ange-
griffen werden, koͤmmt entweder von einer Verwandt-
ſchaft des Krankheitsſtoffes mit denſelben; oder von
einer unmittelbaren und gewaltſamen Wirkung auf
einen beſtimmten Theil; oder aber von einer, einem
gewiſſen Theile, eignen Schwaͤche, welche, wie ſchon
Galenus und Celſus anmerkten, fuͤr jede krank-
hafte Veraͤnderung empfaͤnglich macht. Und dieſe
oͤrtliche Schwaͤche will ich in einigen praktiſchen Hin-
ſichten unterſuchen.
Es iſt gewiß, daß in jedem Menſchen ein groͤ-
ßeres oder geringeres Mißverhaͤltniß unter ſeinen Be-
ſtandtheilen, ſeinen Werkzeugen und Eingeweiden ſtatt
hat; daß die Lebenskraft eines geſunden Menſchen in
ſeinen verſchiedenen Theilen verſchieden, und folglich
gewiſſe
[446] gewiſſe Theile gegen andere verhaͤltnißmaͤßig ſchwaͤ-
cher ſind. Man kann annehmen, daß die Lebenskraft
in den dem Herze naͤchſten Theilen am ſtaͤrkſten iſt; dieſe
Theile gerathen bey irgend einem krankhaften Reitze
eher in Wirkung, wirken thaͤtiger und geſchwinder,
als dieſes alsdann geſchieht, wenn ſie weit vom Her-
zen entfernt ſind. “Diejenige Art des Brandes,
ſagt Hunter, welche von einer Schwaͤche entſteht,
koͤmmt oͤfter in den aͤußern Gliedmaßen, als in an-
dern Theilen vor, beſonders wenn die Perſon von
langer Statur iſt. Bey einer ſolchen Leibesbeſchaf-
fenheit ſterben oͤfters Patienten, welche eine halbſeiti-
ge Laͤhmung nach dem Schlagfluße erleiden, zuletzt
noch am Brande, welcher die Extremitaͤten der gelaͤhm-
ten Seite befaͤllt. In einigen dergleichen Faͤllen zer-
reiſſen die Schlagadern, und es entſteht ein Ausgie-
ßung des Blutes; man kann daher mit Grunde vor-
ausſetzen, daß die beſagten Gefaͤße im geſunden Zu-
ſtande verhaͤltnißmaͤßig ſchwach ſind. Ueberdieß bemerkt
man auch, daß eine ſolche Austrettung des Blutes
gemeiniglich in den aͤußern Gliedmaßen ihren Anfang
nimmt. — — Ueberhaupt entſtehen in den vom
Herzen entfernten Theilen leichter Krankheiten, ver-
breiten ſich geſchwinder, und ſind ſchwerer zu heilen.
— — Je geringer die natuͤrlichen Kraͤfte in irgend
einer beſondern Struktur der Theile ſind, deſto we-
niger ſind ſie vermoͤgend, einer Krankheit zu wider-
ſtehen. Es gehen daher in den Knochen, Flechſen,
Banden und dem Zellengewebe die krankhaften Wir-
kungen weit langſamer von ſtatten, als wie dieſes in
den
[447] den Muskeln oder in der Haut geſchieht. Dieſes
aber, faͤhrt Hunter fort, ſcheint in Krankheiten,
welche von einem ſpezifiſchen Gifte herruͤhren, eine
Ausnahme zu zu laſſen. So bringen der Krebs und
die Skrofeln in allen Theilen die naͤmliche ſpezifiſche
Wirkung hervor.„ Dieſes iſt auch die Urſache,
warum die Wunden der Fuͤße langſamer und ſchwe-
rer heilen, als jene der Beine und der Schenkel.
Dieſe oͤrtliche Schwaͤche iſt ebenfalls eine von den
vornehmſten Urſachen der Krankheiten der verſchiede-
nen Alter. Um aber nicht einſeitig zu werden, er-
ſpare ich dieſes zum Kapitel von den Krankheiten der
Alter und Geſchlechter.
§. 52.
Die geringere Kraft eines Theiles, den etwan-
nigen Krankheitsurſachen zu widerſtehen, macht zum
Theil dasjenige aus, was wir eine Anlage zu Krank-
heiten heißen. Bey einem iſt der Kopf, beym an-
dern die Bruſt, und bey einem andern der Unterleib
der ſchwaͤchſte Theil; weßwegen der erſte zu Krank-
heiten des Kopfes, der zweyte zu Krankheiten der
Bruſt und der dritte zu den Krankheiten des Unterlei-
bes geneigt ſeyn wird. Morgagni redet von einem
im Winter 1738 in Patavia herrſchenden Seitenſti-
che, welcher vorzuͤglich unter den Kloſterfrauen ſeine
Verheerungen anrichtete; wahrſcheinlich, weil ih-
re Lungen durch das Chorſingen geſchwaͤcht waren.
In einem ſtarben alle, die er angrif, und zwar eini-
ge ſchon den vierten Tag. Keine aber, ſagt Mor-
gagni
[448]gagni ſelbſt, wurde ohne beſondere Urſache oder An-
lage davon befallen. Eine z. B. hatte ſich ein altes
Geſchwuͤr zugeheilt, eine andere war auf die Bruſt
gefallen, und hatte viel Blut geſpyen; andere endlich
hatten aus andern Urſachen die Bruſt und die Lungen
geſchwaͤcht, oder waren ſchon ſehr alt.*) — Der
Seitenſtich iſt gewoͤhnlich auf der rechten Seite, in-
deſſen bekam bey Strack den 1ten May 1773., da
der Seitenſtich epidemiſch war, ein junger Schuſter,
welcher in geſunden Tagen den Puls am rechten Ar-
me ſtaͤrker hatte, denſelben auf der linken Seite.
Eben ſo ein Krummholzgeſelle. Zimmermann er-
zaͤhlt von einer ſonſt ziemlich feurigen und des Stan-
des der Enthaltung uͤberdruͤßigen Wittwee von 39 Jah-
ren, welche ſeit vielen Jahren heftige Gliederſchmer-
zen, und beſonders von dem rechten Schenkel bis an
den Fuß eine Empfindung von Kaͤlte hatte, die auch
durch ein heißes Baad nicht konnte gehoben werden, und
die nachher mit Blaſenpflaſtern geheilt wurde. Zim-
mermann zaͤhlte in vielen Wochen an der Pulsader
der Armſchiene der rechten Seite insgemein in einer
Minute fuͤnf und fuͤnfzig Schlaͤge, an der gleichen
Pulsader der linken Seite neunzig bis zwey und neun-
zig Schlaͤge; der Puls war auf der rechten Seite
ungemein ſchwach, auf der linken immer ſtark. Wenn
die Kranke Hitzen hatte, waren ſie auf der rechten
Seite immer weit geringer, als auf der linken. Auch
ſchwitzte ſie nur auf der linken Seite.*)Du Pui
laͤßt
[449] laͤßt Hartmann ſeine eigne Geſchichte erzaͤhlen, bey
dem ſich alle Gebrechen auf der rechten Seite aͤuſſer-
ten.*) Ich kenne mehrere, wo dieſes ebenfalls ſtatt
hat; ſo, daß ſie z. B. bey vernachlaͤßigten gallichten
Unreinigkeiten jedesmal die rechte Seite der Unterlip-
pe ganz mit Blattern und gelben Schorfen beſetzt be-
kommen. Gemeiner, ſcheint mir doch, ſeye der Fall,
daß die linke Seite die ſchwaͤchſte iſt. Bisher habe
ich bey weitem die meiſten veneriſchen Leiſtenbeulen auf
der linken Seite geſehen. Unter zwanzig Bucklichten
ſind es gewiß neunzehn auf der rechten Seite; eben
ſo gehen die meiſten Leute mit dem rechten Fuße we-
niger auswaͤrts, als mit dem Linken; Kinder ſtellen
ſogar ſehr oft den rechten Fuß ganz einwaͤrts; wenn
die Bruͤſte bey Frauenzimmern ungleich ſind, ſo iſt
allermeiſt die rechte die groͤßte. Man kann dieſes
nicht allein der Erziehung zuſchreiben. An meinem
Koͤrper mag was immer kraͤnkliches vorgehen, ſo em-
pfinde ich es zu erſt auf der linken Seite; Augen- und
Zahnſchmerzen, kleine Hitzblaͤtterchen, Gliederreißen,
Jucken u. d. gl. greifen immer zuerſt die linke Seite
an; und erſt nach [eini]ger Zeit durchlaufen ſie die naͤm-
lichen Perioden a [...] rechten Seite. Dieſe Art von
Anlage iſt oft g [...] Familien eigen, und wird auf
die Enkel und Ur[en]kel fortgepflanzet. Daher die An-
lage ganzer Familien zu Lungenſuchten, zu Schlagfluͤſ-
ſen u. ſ. w.
Ge-
Gall I. Band F f
[450]
Geben nun die Aerzte auf dieſen Umſtand nicht
acht, ſo werden ſie vielfaͤltig in Beurtheilung der
Krankheiten betrogen. Man haͤlt ein Uebel fuͤr eine
Lungenentzuͤndung, fuͤr eine Lungenſucht, fuͤr einen
Tripper u. d. gl., da doch das Uebel nur um der
oͤrlichen Schwaͤche willen an dieſem Theile erſcheint,
und ſeiner Natur nach das naͤmliche iſt, als wenn es
eine andere Stelle einnaͤhme. Ich bekam von unter-
druͤckter Ausduͤnſtung einen Neſſelausſchlag. Da ich
ihn aber nicht achtete, ſo zog ſich dieſe ſcharfe Ma-
terie nach und nach gegen den Gaumen, den Hals
und die Lunge als die Theile, welche in meiner ganzen
Familie die ſchwaͤcheſten ſind. Um der Engbruͤſtigkeit
und anderer Zufaͤlle willen verordnete man mir drey
Blutlaͤßen, obſchon das Blut jedesmal hellroth war,
und kaum in einen Kuchen gerann. Ich empfand da-
rauf eine außerordentliche Schwaͤche auf der Bruſt,
und wuͤrde wahrſcheinlich lungenſuͤchtig geworden ſeyn,
wenn ich nicht dieſes Verfahren gegen ſaͤuerlichte Ab-
fuͤhrungsmittel, gute Suppen und haͤufige Obſtſpeiſen
vertauſcht haͤtte.
Daraus laͤßt ſich auch erklaͤren, warum manch-
mal bey einerley herrſchenden Krankheitsbeſchaffenheit
dem Scheine nach ſo verſchiedene Krankheiten beob-
tet werden. Je nachdem naͤmlich verſchiedene Men-
ſchen einen ſchwaͤchern Theil haben, je nachdem wird
der Krankheitsſtoff oder der krankhafte Reitz verſchie-
dene Theile befallen, und einen Schnupfen, eine Hirn-
entzuͤndung, einen Seitenſtich, eine Ruhr, eine Ko-
lick u. d. gl. verurſachen; einerley Uebel in verſchiede-
nen
[451] nen Theilen, welches nichts deſtoweniger, nur mit Ruͤck-
ſicht auf den angegriffenen Theil, einerley Heilart er-
fordert. — Davon im naͤchſten Bande ausfuͤhrlicher.
Krankheiten, welche die ſchwaͤchern Theile be-
fallen, ſind zwar, weil die Wirkſamkeit der Lebens-
kraft in denſelben ſchwaͤcher iſt, nicht allemal die ge-
faͤhrlichſten; im Gegentheil iſt eben dieſe Schwaͤche
nicht ſelten das zuverlaͤßigſte Vorbeugungsmittel gegen
die verheerenden Folgen eines heftigen Reitzes: aber
allermeiſt werden ſie, ſo bald ſie ſich auf ſo einem Theile
feſtgeſetzt haben, deſto hartnaͤckiger ſeyn. Bey Mor-
gagni war eine zwey und vierzig jaͤhrige Jungfer alle
Winter einem ſtarken Huſten unterworfen. Nun be-
kam ſie Seitenſtechen, und klagte uͤber Schwere in
der Bruſt. Nach geendigter Krankheit zog ſich der
Schmerz von einer Seite in die andere, und ungeach-
tet der Aderlaͤßen blieb der Puls hart bis zum Tode.
Morgagni beſchuldiget mit Recht die Schwaͤche der
Lungen, daß das Uebel nicht hat koͤnnen uͤberwunden
werden. — Bey Tiſſot wurde ein Bauer gleich nach
einem Aderlaſſen bey gallichten Zufaͤllen von einem Hu-
ſten, von Bedruͤckung, Betaͤubung und Schwaͤche
befallen; nachdem mit vieler Muͤhe das Fieber geho-
ben war, machte die Schwaͤche des ganzen Koͤrpers
und vorzuͤglich jene der Lungen noch vieles zu thun;
lange war der Kranke in Gefahr, in eine ſchlimme
Abzehrung zu verfallen, wobey zwar keine Eiterung in
den Lungen, aber eine ſolche Schlappheit derſelben
ſtatt hat, daß ſich alle Saͤfte dahin werfen, eine Art
von Verderbniß annehmen, eine anhaltende Engbruͤ-
F f 2ſtig-
[452] ſtigkeit verurſachen, und unter der Geſtalt eines rohen,
rotzigen, halbeiterfoͤrmigen Auswurfes ausgeleert wer-
den. — Es iſt bekannt, daß die Tripper deſto hart-
naͤckiger werden, je oͤfter ſie ſchon ein und das naͤm-
liche Werkzeug in ſeiner urſpruͤnglichen Staͤrke beſtuͤrmt
haben.
§. 63.
Die bisherigen Bemerkungen waͤren hinreichend,
in jedem Menſchen den ſchwaͤchern Theil zu entde-
cken; eine Sache, welche ſowohl wegen der Vorher-
kuͤndigung als wegen Verhuͤtung großer Uebel von der
groͤſten Wichtigkeit iſt. Denn, wenn ich weiß, daß
mein Kranker, der jetzt an einem Rothlaufen darnie-
der liegt, ſehr ſchwache Lungen oder ſchwache Ge-
daͤrme hat, ſo hab ich alle Urſache, mich gegen eine
Verſetzung auf dieſe Theile mit allem Fleiße ſicher zu
ſtellen. Deßwegen will ich noch einige Hilfsmittel
angeben, wodurch die etwannige Schwaͤche eines be-
ſondern Theils auskundſchaftet werden kann.
Die Art, wie Zimmermann zu der Kenntniß
dieſes ſchwaͤchern Theiles bey einzelnen Menſchen ge-
langet, ruht auf der Bemerkung, daß jede Gemuͤths-
erſchuͤtterung am meiſten auf dieſen ſchwachen Theil
wirkt. “Ich ſehe, ſagt er, auf Gemuͤthserſchuͤtte-
rungen bey Leuten, die ſchwache Augen haben, die
Augen rund herum ploͤtzlich hochroth werden; ich ſe-
he bey Leuten, die ſehr ſchlechte Zaͤhne haben, die
heftigſten Zahnſchmerzen ploͤtzlich folgen; ich ſehe bey
Leuten, die eine ſchwache Bruſt haben, ein ploͤtzliches
Druͤcken,
[453] Druͤcken, und einen heftigen Huſten unmittelbar ſich
aͤußern; ich ſehe Leute, die einen ſchwachen Magen
haben, die unertraͤglichſten Reitzungen zum Brechen
auf jede Gemuͤthserſchuͤtterung ausſtehen, und andere
in die grauſamſten Magenkraͤmpfe verfallen; ich ſehe
Leute, die ſehr ſchwache Daͤrme haben, ploͤtzlich in
die grauſamſten Kolicken verfallen, oder unmittelbar
auf die Gemuͤthserſchuͤtterung den ganzen Tag zu Stuh-
le gehen; ich ſehe andere, die eine ſchwache Harn-
blaſe haben, heftige Kraͤmpfungen in derſelben leiden,
oder ohne Aufhoͤren harnen; ich ſehe Frauen, die den
weißen Fluß ſehr ſtark, und nicht nur unmittelbar
vor oder nach ihrer Reinigung, ſondern immerfort
haben, jede Gemuͤthserſchuͤtterung vorzuͤglich in den
Lenden fuͤhlen; ich ſehe bey andern, die vor vielen
Jahren das Gliederreiſſen hatten, auf jede Gemuͤths-
erſchuͤtterung ein ploͤtzliches, und wie ich oft bemerkt,
ſogar mit Geſchwulſt begleitetes Gliederreiſſen entſte-
hen; ich ſehe endlich auf jede Gemuͤthserſchuͤtterung
ein heftiges Zittern, ploͤtzliches Aufjucken, Schlukſen,
Schreyen, bey Leuten entſtehen, die den Konvulſionen
unterworfen ſind. Aus allen dieſen faſt taͤglich von
mir wiederholten Beobachtungen ziehe ich alſo den
Schluß, daß derjenige Theil in dem Menſchen der
ſchwaͤcheſte iſt, auf welchen die Folgen von jeder Ge-
muͤthserſchuͤtterung ſich vorzuͤglich aͤußern.*) Er be-
merkt noch, daß die meiſten gelegentlichen Urſachen
der Krankheiten auf dieſen ſchwaͤchern Theil vorzuͤg-
lich wirken, und daß eben dieſer ſchwaͤchere Theil
ſehr
[454] ſehr oft beſtimmt ſeye, die Maͤngel auszuſoͤhnen, wel-
che ſich andere Theile zugezogen haben, weil der Strom
unſerer fluͤßigen Theile ſich am meiſten dahin zieht,
wo er den geringſten Widerſtand leidet, und weil
dieſe daher ſehr leicht in dem ſchwachen Theile ſtocken.
Weßwegen Boerhave ſagt, daß bey Leuten, die zaͤrt-
liche und ſehr bewegliche Lungen haben, ſehr leicht
ein Stein in den Lungen entſteht, wenn ſie auf eine
ſtarke Erhitzung ſich erkaͤlten, und daß dieſe Leute zu-
letzt an einer heftigen Blutſtuͤrzung ſterben, von wel-
cher dieſer Stein die Urſache iſt.
War einmal ein gewiſſer Theil von was immer
fuͤr einem Uebel heftig angegriffen, ſo hat er hoͤchſt
wahrſcheinlich etwas von ſeiner urſpruͤnglichen Staͤr-
ke verloren, die er nur aͤuſſerſt ſchwer wieder erhal-
ten kann. Nach einer ſehr ſchmerzhaften Kolick bleibt
man auf immer dazu geneigt, weil, ſo zu reden,
die Stimmung dazu nicht mehr vertilgt werden kann.
Das erſte Blutſpeien hat vielleicht die gewaltſamſte
Urſache erfordert; aber das zweyte wird ſchon eine
weit ſchwaͤchere veranlaſſen koͤnnen. Nach einer Ent-
zuͤndung des Hodenſackes ſahe ich dieſen Theil gleich-
ſam als ein immerwaͤhrender Ableitungskanal jede
vorhandene Unreinigkeit in Geſtalt kleiner Geſchwuͤre
durch mehrere Jahre ausleeren. Aus der naͤmlichen
Urſache wird ein ehemals gebrochenes Glied jede Ver-
aͤnderung, welche unvermerkt im Koͤrper vorgeht, em-
pfinden, und ſelbſt bey jeder Krankheit mehr oder we-
niger ſchmerzhaft werden.
Ferner
[455]
Ferner haben gewiſſe Krankheiten und Krank-
heitsſtoffe, oder auch andere Umſtaͤnde auf gewiſſe
Theile einen ſchwaͤchenden Einfluß. So ſagt Gale-
nus, ſind in den Podagriſten die Fuͤſſe, in den
Gichtiſchen die Gelenke, in jenen, die viel Kopf-
ſchmerzen haben, der Kopf, die ein krankes Milz
haben, das Milz, und die triefende Augen haben,
die Augen der ſchwaͤcheſte Theil. In den Unreinig-
keitskrankheiten leiden vorzuͤglich der Magen und die
Gedaͤrme, daher ſich ſolche Kranken langſamer er-
holen, und den Ruͤckfaͤllen aus Vergehen im Eſſen
und Trinken mehr ausgeſetzt ſind, als jene, welche
an Entzuͤndungskrankheiten gelitten haben. Wo die
Nerven ſehr mit leiden, bleiben verſchiedene, oft
ſchreckbare, bald nichts bedeutende, bald hoͤchſt ge-
faͤhrliche Nervenzuſtaͤnde zuruͤck, und diejenigen Thei-
le, zu welchen die meiſten Nerven gehen, ſcheinen
auch am meiſten zu leiden; ſo bleibt in den Augen
nach dergleichen Nervenuͤbeln oͤfters ein unwillkuͤhrli-
ches Thraͤnen zuruͤck u. ſ. w. Nach der Hirnentzuͤn-
dung, der zufaͤlligen Hirnwuth, heftigen Kopfſchmer-
zen, dem Sonnenſtich, den hitzigen Fiebern der Kind-
betterinnen bleibt oft eine Fadheit und Stumpfheit
aller Sinne, Wahnſinn, oder andere Fehler der
Denkkraft zuruͤck, welche aber mit der Erſtattung der
Kraͤfte und Herſtellung des Gleichgewichtes wieder
vergehen. — Die Selbſtbefleckung, der fruͤhzeitige
oder uͤbermaͤßige Beyſchlaf ſchwaͤcht die Zeugungsthei-
le; daher bey jenem Venusritter, wovon Kämpf
redet, die Gichtmaterie ihren Ausfluß durch die Harn-
roͤhre
[456] roͤhre nahm.*) Anhaltendes und heftiges Reiten
ſchwaͤcht die Gefaͤße der Nieren, der Harnblaſe und
der damit in Verbindung ſtehenden Saamengefaͤße.
Daher entſtehen aus dieſer Urſache oͤfters Blutfluͤße
durch dieſe Theile, welche, obſchon ſie dem ganzen
Koͤrper durch ihre Menge nachtheilig werden, doch
nach der Bemerkung des Aretäus nur dann toͤdtlich
werden ſollen, wenn ſie zu fruͤhe und unbehutſamer
Weiſe geſtillt werden, und dieſe Theile in Brand
ſetzen. Indeſſen hat Van Swieten einige Male aus
dieſer Urſache ein ſo reichliches Blutharnen beobachtet,
daß das Leben wirklich dabey in Gefahr war.**) Eben
dieſer Urſache ſchreibt es auch Hippokrates zu, daß
die wohlhaͤbigen Scythen, welche immerwaͤhrend zu
Pferde ſaßen, in den Zeugungstheilen ſo ſehr ge-
ſchwaͤcht wurden, daß ſie als Unmaͤnner weibliche
Kleider anzogen, mit den Weibern aßen, wie die
Weiber ſprachen, und alle weiblichen Geſchaͤfte ver-
richteten. — Schwere Geburten hinterlaßen zuweilen
eine Unenthaltſamkeit des Harnes, weil die Scheide
und die Harnblaſe theils gewaltſam gedruͤckt, theils
uͤbermaͤßig ausgedehnt, und gewiſſermaſſen gelaͤhmt
werden. In den Krankheiten der Kindbetterinnen zie-
hen ſich die Verwerfungen am liebſten nach den Wei-
chen, Lenden und Huͤften, weil die Baͤnder, Mus-
keln und Nerven dieſer Theile durch die Geburtsar-
beiten am meiſten geſchwaͤcht werden. Das Unber-
halten des Harns begleitet ebenfalls manchmal eine
Ver-
[457] Verwerfung. Waren die Weiber waͤhrend der Schwan-
gerſchaft ſehr engbruͤſtig, ſo haben ſie die Auszehrung
und die Verwerfungen nach der Lunge zu befuͤrchten.
— Auf welche Theile die verſchiedenen Handwerker
wirken, kann man bey Ramazzini und Ackermann
nachſehen.
Endlich haben die verſchiedenen Entkraͤftungen
einzelner Theile oder des ganzen Koͤrpers ihre eignen
Zeichen. So leitet Bagliv das ſchwarzbraune Er-
brechen aus einer Entkraͤftung der Eingeweide her,
und ſagt, daß es oft den nahen Tod bedeute. Zim-
mermann hatte eine Dame von 66 Jahren in der
Kur, die, ehe er ſie beſuchte, zehn Wochen hinter-
einander alle fuͤnften oder ſechſten Tag eine unbegreif-
lich haͤufige, ſchwarzbraune, und unertraͤglich ſtin-
kende Materie, bey einer gaͤnzlichen Verſtopfung und
unter entſetzlichen Schmerzen des Unterleibes und des
Magens, ſechs, acht und zuletzt zwoͤlf Stunden hin-
tereinander wegbrach. Die Kranke wurde auf ſeinen
Rath vollkommen geſund, blieb es auch eine geraume
Zeit, und erlangte ihre Munterkeit und ihre Kraͤfte
wieder. Der Erfolg zeigte, daß allerdings eine gaͤnz-
liche Entkraͤftung der Eingeweide die naͤchſte Urſache
dieſes ſchrecklichen Uebels geweſen. Nachher war die
Dame aus handgreiflichen Urſachen mit einer hefti-
gen Gliederſucht befallen, und im ſiebenten Monate
dieſer Gliederſucht kam das naͤmliche Erbrechen wie-
der, und ſie ſtarb unter der Aufſicht eines andern
Arztes. — Iſt der ganze Koͤrper geſchwaͤcht worden,
wie dieſes in ſolchen Krankheiten zu geſchehen pflegt,
wel-
[458] welche die feſten und fluͤſſigen Theile angreifen, wie in
Gall- und Faulſiebern, ſo aͤußern ſich auch nicht ſel-
ten die Folgen uͤber dem ganzen Koͤrper durch ein
ſchnelles und gefahrvolles Fettwerden, oder eine all-
gemeine Hautwaſſerſucht, welche man vorzuͤglich bey
aͤltlichen Perſonen bemerkt. Aber alle die Dinge,
welche den Koͤrper ſtaͤrken, helfen dem einen wie dem
andern ab, und Tiſſot hat weder einen geſehen noch
von einem gehoͤrt, der Waſſerſuͤchtig geblieben waͤre.
Nur an den Fuͤßen war manchmal die Schwulſt hart-
naͤckig; deßwegen kam er der gelaͤhmten Wirkſamkeit
derſelben durch oͤrtliche ſtaͤrkende Mittel zu Hilfe. Er
ließ ſie mit in Weingeiſt und Eſſig getauchten Tuͤchern
fatſchen, welche er taͤglich etwas feſter zuſchnuͤren
ließ. Innerlich gab er inzwiſchen die Eiſentintur.
Die Zeichen eines ſchwachen Magens u. d. gl. ſind
bekannt.
§. 64.
Der Nutzen der bisherigen Bemerkungen uͤber
die oͤrtliche Schwaͤche iſt vielfaͤltig, und kann von kei-
nem denkenden Leſer verkennt werden. Vorzuͤglich ler-
nen wir, wie man ein gewißes Uebel von einem Thei-
le auf einen andern Theil hinleiten, und folglich die
edlern Theile gegen gefahrvolle Angriffe ſchuͤtzen kann.
Wenn bey einem Gichtanfall waͤhrend der Arbeit der
Natur ein Werkzeug ſehr erſchlaft oder gereizt wird,
ſo wird es wahrſcheinlich der Sitz der gichtiſchen Ma-
terie. Daher wirft ſich die Gichtmaterie ſo leicht auf
den Magen bey Perſonen, welche in den Zwiſchenzei-
ten
[459] ten die Gicht bloß durch Purgiermittel vertreiben wol-
len. Ein langer Gebrauch von urintreibenden Salzen
zieht ſie auf die Urinweege, und ein gewoͤhnlicher Ka-
thar pflegt oft zu der Entſtehung eines gichtiſchen
Huſtens Gelegenheit zu geben. Die Vorboten die-
ſer Verſetzungen nach innen zeigen alle eine Ent-
kraͤftung an; die aͤußern Gieder ſind kalt, der Puls
iſt eher ſchwaͤcher als ſtaͤrker, die uͤbrigen Ausleerun-
gen ſind geſchwaͤcht oder gehemmt; es entſteht an dem
bedroheten Theile ein heftiger Schmerz; hierauf folgt
eine Art von Froſt, und der Kopf ſelbſt wird dabey
angegriffen; allein es entſteht auf dieſe Zufaͤlle kein
mit ihnen in Verhaͤltniß ſtehendes Fieber; auch hel-
fen blos erweckende, herzſtaͤrkende und hitzige Arz-
neyen. — Auf dieſem Grunde ruhet groͤßtentheils der
Nutzen der Baͤhungen und Umſchlaͤge, der Baͤder,
der trocknen Schrepfkoͤpfe u. ſ. w. Je nachdem man
dadurch einen Theil in groͤſſere Thaͤtigkeit ſetzet, oder
erſchlappet, je nachdem wird man ihn von einer ſto-
ckenden Fluͤßigkeit befreyen, oder dieſelbe auf ihn hin-
leiten.
Von der Verſchiedenheit der Entkraͤftung.
§. 65.
Es bleibt mir noch eine wichtige Unterſuchung
uͤbrig, ohne welche alles, was man uͤber den Verfall
der Kraͤfte ſagen kann, fuͤr die ausuͤbende Heilkunde
ſchlechterdings unbrauchbar bleibt, weil es ohne Sie un-
moͤglich iſt, jemals irgend eine Entkraͤftung gut zu
beur-
[460] beurtheilen, und folglich je eine paſſende Heilart vor-
zunehmen. Bey weitem nicht uͤberall, wo Kraftlo-
ſigkeit ſtatt hat, ſind ſtaͤrkende Mittel angezeigt. Ein-
mal iſt der Menſch kraftlos, weil der ganze Koͤrper
oder gewiſſe Theile durch gewaltſame Anſtrengung zu
ihren Verrichtungen unfaͤhig gemacht worden ſind.
Einmal, weil die Lebenskraͤfte in ihrer Urquelle ange-
griffen, und in ihre Wirkſamkeit gehemmt ſind. Ein
andermal, weil dasjenige, was dem Menſchen Kraft
giebt, wirklich mehr oder weniger erſchoͤpft iſt. Es
iſt auffallend, daß zwiſchen Ermüdung der Kräfte,
Unterdrückung der Kräfte, und wahrer Erſchö-
pfung der Kräfte in aller Ruͤckſicht ein weſentli-
cher Unterſchied obwalte, obſchon alle drey Gat-
tungen von Entkraͤftung unter gewißen Umſtaͤnden gleich
gefaͤhrlich ſeyn koͤnnen. Schon Hippokrates beklag-
te ſich uͤber die Aerzte, daß ſie dieſen ſo wichtigen Ge-
genſtand ſo leichtſinniger Weiſe vernachlaͤßigten. „Ich
finde, ſagt er, die Aerzte nicht erfahren genug in
dieſen Faͤllen, daß ſie die Entkraͤftungen in den Krank-
heiten, wie es ſich gebuͤhret, kennten: welche naͤmlich
von einer Ausleerung der Gefaͤße, welche von irgend
einem andern Reitze, welche von Schmerzen und von
der Heftigkeit der Krankheit hervorgebracht werden,
und was unſere Natur und koͤrperliche Beſchaffenheit
fuͤr Krankheiten und mancherley Verfaſſungen bey ei-
nem jeden erzeugen; ungeachtet davon, daß man dieſe
Dinge weiß, Leben und Tod abhaͤngt. Denn es iſt
ſehr unrecht, wenn man einem, der von dem Schmerz
und von der Heftigkeit der Krankheit abgemattet iſt,
zu
[461] zu trinken, oder mehr duͤnne Gruͤtzſuppe, oder Spei-
ſen in dem Wahne reicht, daß er wegen der leeren Adern
erſchoͤpft ſey. Es iſt aber auch unſchicklich, den, der
uͤber die Ausleerung ſeiner Adern entkraͤftet iſt, zu
verkennen, und ihn mit der Diaͤt aufzureiben. Ein
ſolcher Irrthum bringt zwar immer einige Gefahr, je-
doch viel weniger, als der andere, aber dargegen,
iſt dieſer Fehler auch um ſo viel laͤcherlicher, als der
andere. Denn wenn ungefaͤhr ein anderer Arzt, oder
auch ſogar ein der Medizin Unkundiger dazu kaͤme,
was vorgegangen waͤre, erfuͤhre, und dem Kranken,
dem Verbote des andern entgegen, zu Eſſen und zu
Trinken gaͤbe: ſo wuͤrde er offenbar ſcheinen, geholfen
zu haben. Solche Dinge ſind es eben, welche die
praktiſchen Aerzte bey den Leuten herabwuͤrdigen.
Denn nun koͤmmt es ihnen ſo vor, als ob dieſer dar-
zugekommene Arzt oder gar Laye einen vom Tode auf-
erweckt haͤtte. Es ſollen demnach die Merkzeichen bald
angegeben werden, nach welchen ein jeder Umſtand
hiebey zu erkennen iſt.〟*) In den vorhandenen
Werken des Hippokrates kommen dieſe Merkzeichen
nirgendwo vor. Galenus ſelbſt, der ſich daruͤber be-
klagt, laͤßt ſich in gar keine Erlaͤuterung daruͤber ein.
Obſchon mehrere große Aerzte die Wichtigkeit der Sa-
che gefuͤhlt, und vortreffliche einzelne Bemerkungen vor-
getragen haben, ſo hat doch, meines Wiſſens, keiner
den Gegenſtand nach Wuͤrde behandelt.
Von
[462]
Von der Ermuͤdung der Kraͤfte.
§. 66.
Wenn ein Menſch unter gewaltſamen Anſtren-
gungen gearbeitet oder gerungen hat, ſo fuͤhlt er al-
ſogleich in den Muskeln und Gelenken einen ziehenden,
ſpannenden Schmerzen, als waͤre er ſtark gequetſchet
oder gepruͤgelt worden. Die Gliedmaßen, vorzuͤg-
lich die Knie oder das am meiſten angeſtrengte Glied,
zittern, ſind ſchwer und traͤg zur Bewegung, und will
er ſich darauf ſtemmen, ſo brechen ſie ihm. Er holt
langſame, tiefe Seufzer; die Bruſt und der Kopf haͤn-
gen vorwaͤrts; die Arme gerade am Koͤrper hinab,
oder er muß ſie in einander ſchlingen. Die Augen ſind
matt, das Geſicht blaß, und mit einem kuͤhlen Schwei-
ße oder Dunſte uͤberronnen. — Dieſes iſt der Zuſtand
der Ermuͤdung. Er befaͤllt nach aͤhnlichen Veranlaſ-
ſungen den geſuͤndeſten, ſtaͤrkeſten Mann, und wird
in kurzer Zeit durch Waſchen mit kaltem Waſſer,
Wein, Brandtwein, durch Ruhe, beſonders in einer
horizontalen Lage, und durch erquickende Speiſe und
Trank gehoben. — Die dabey beobachteten Erſchei-
nungen verrathen eine allgemeine Nachlaſſung der fe-
ſten, und einen gehinderten Umlauf der fluͤſſigen
Theile.
Die Ermuͤdung der Kraͤfte iſt uͤberhaupt eine
Folge von allen jenen Uebeln, wobey entweder der
ganze Koͤrper oder einzelne Theile, es ſeye mit oder
ohne Bewuſtſeyn heftig angeſtrengt, gereizt, gedruckt
oder erſchuͤttert werden. Dieſes geſchieht in allen
Krank-
[463] Krankheiten, welche von heftigen, beſonders anhal-
tenden Schmerzen und Kraͤmpfen begleitet ſind; als:
in allen Arten von Koliken; in hyſteriſchen, hypo-
chondriſchen, epileptiſchen Anfaͤllen; in Anfaͤllen des
Krampfhuſtens, und den verſchiedenen Arten und
Stufen der Engbruͤſtigkeit; in dem heftigen Fieber-
froſt einiger Wechſelfieber; in den mancherley Zufaͤl-
len der Nervenfieber; in der Gicht; im Gliederreißen;
in Entzuͤndungen ſehr empfindſamer Theile; in be-
ſchwerlichen mit Zwang und Schmerz verbundenen
Ausleerungen des Stuhls und des Harnes; in den An-
faͤllen der Waſſerſcheue; im Bauch- und Ruͤckenkrampf
u. ſ. w. Es geſchieht auch nach einer jeden die ge-
genwaͤrtigen Kraͤfte uͤberſteigenden willkuͤhrlich oder un-
willkuͤhrlich vorgenommenen Anſtrengung des Koͤrpers
und des Geiſtes; nach langem Wachen, beſonders
wegen Schmerzen und Unruhe; nach ſtrengem Nach-
denken; nach ſchweren, angſtvollen, ſchrecklichen Vor-
ſtellungen, Fantaſien, Traͤumen, Raſerey, u. ſ. w.
Es kann geſchehen nach einem anhaltenden oder ſtar-
ken Huſten; nach heftigem oder oͤfters wiederholtem
Nießen, nach einem anhaltenden und ſtarken Schluck-
ſen; nach vielem Sprechen, Lachen, Stehen, Auf-
rechtſitzen, beſonders wenn der Kranke ohnehin ſchon
ſehr entkraͤftet iſt.
§. 67.
Wenn ſich einer oder mehrere von dieſen Um-
ſtaͤnden bey einem Kranken ereignen, ſo kann ihn der
Arzt ſehr, ja aufs aͤußerſte entkraͤftet antreffen. For-
ſchet
[464] ſchet nun derſelben dieſen Urſachen nicht nach, oder
kennt er dieſe Wirkungen nicht, ſo kann er ſich keinen
andern als irrigen Begriff von dem Zuſtande des Kran-
ken machen. Dieſe Taͤuſchung iſt um ſo weniger ver-
meidlich, weil nicht ſelten der Zuſtand der Ermuͤdung,
ſowohl in Ruͤckſicht ſeiner Kennzeichen, als ſeiner un-
mittelbaren Folgen, mit dem Zuſtande der wahren Er-
ſchoͤpfung von der niedrigſten bis zur hoͤchſten Stufe
alles gemein hat. Der Kranke iſt kalt, eingefallen,
todtenblaß, athemlos; alle Geſichtszuͤge hangen; die
fleiſchichten und haͤutigen Theile ſind ſchlapp; die Na-
ſenfluͤgel bewegen ſich; die Augen ſind ſtarr, verdreht,
glaſern, truͤb, halbgeſchloſſen; der Puls ſetzt aus,
iſt aͤuſſerſt klein oder gar nicht zu fuͤhlen; das Herz
zittert oder hat gar keine merkliche Bewegung mehr;
der Athem iſt kalt, oder unmerklich, oder ſehr ſel-
ten; der kalte Schweiß zerrinnet in Tropfen; und ſo
ſind alle Vorrichtungen des Kranken in Unthaͤtigkeit
verſunken, daß man ſelbſt manchmal dieſen Zuſtand
nicht vom wahren Tode unterſcheiden kann.
Indeſſen erholen ſich die Kranken von dieſer
Entkraͤftung außerordentlich geſchwind. Nicht ſelten
verrichtet heute ein Weib munter und geſund ihre
Hausgeſchaͤften, da ſie geſtern durch gewaltſame Kraͤm-
pfe zum ſchrecklichſten Bild des Todes verunſtaltet
war. Kaum hat der Fallſuͤchtige nach den heftigſten
Erſchuͤtterungen ſein Bewußtſeyn wieder erhalten, ſo
ißt, trinkt, verdauet und geht er wieder ſo gut, als
vor dem Anfalle. — Nur wenn die wirkende Urſache
der Ermuͤdung gar zu lange anhaltet, oder uͤbermaͤ-
ßig
[465] ßig heftig ſind, ſo hinterlaſſen ſie manchmal eine große
Schwaͤche, die nahe an die Laͤhmung grenzet, und
wozu ſich die wahre Erſchoͤpfung geſellet, welche Ver-
bindung nothwendig den Umſtand erſchweret, und eine
ebenfalls zuſammengeſetzte Heilart fodert. Ein Beyſpiel
davon haben wir in den Nervenkrankheiten, im Bauch-
und Ruͤckenkrampf, wo innerlich ſtaͤrkende, beruhigende
Mittel, und aͤuſſerlich Nervenſalben und geiſtige Einrei-
bungen noͤthig ſind. — Sonſt ſind meiſtentheils Ruhe,
beſonders in ausgeſtreckter, oder eingebogener, oder
einer andern dem Kranken bequemen Lage, und hie
und da einige andere beruhigende oder herzſtaͤrkende
Mittel hinreichend, die vorigen Kraͤfte wieder herzu-
ſtellen. Selbſt nach den heftigſten Entzuͤndungskrank-
heiten, wenn man die Kraͤfte nicht kuͤnſtlicher Weiſe
zu ſehr entzogen hat, ſo ſehr ſie auch durch die kri-
tiſchen Bewegungen und Ausleerungen erſchuͤttert wor-
den ſind, geht dennoch die Erholung ungemein ge-
ſchwind von ſtatten. Daher ſagt Helmont: 〟denen
man nicht aderlaͤſt, die geneſen leicht, und erhalten
ſehr bald ihre vorige Geſundheit wieder. Wenn es
auch manchmal ohne Arzneymittel mit ihnen aufs
Aeuſſerſte koͤmmt, ſo erringt die Natur doch endlich
noch die Entſcheidung, und ſtellet ſie wieder her, weil
ihre Kraͤfte, zwar von der Krankheit hergenommen
(conquaſſatæ) aber nicht durch Blutentleerungen zu
Grunde gerichtet ſind. — — Obſchon eine Krank-
heit die Kraͤfte auch geradezu angreifet, ſo wird
ſie doch, da ſie dieſes nicht gaͤhlings, ſondern nach und
nach thut, dieſelben mehr erſchuͤttern und ermuͤden
Gall I. Band. G g
[466] (concuttere \& atterere) als wahrhaft erſchoͤpfen (ve-
re exhaurire).
§. 68.
Die auf die Ermuͤdung folgenden Zufaͤlle laſſen
ſchon zum voraus vermuthen, was fuͤr ſchlimme Fol-
gen dieſer Zuſtand in manchen Krankheiten verurſa-
chen koͤnne. Das Ungluͤck wird allemal dann am groͤß-
ten ſeyn, wo die Kraͤfte ohnehin ſchon entweder un-
terdruͤckt oder erſchoͤpft, und dennoch zur Bewirkung
eines guten Ausganges unentbehrlich ſind. So wur-
de bey Hoffmann ein fuͤnfzigjaͤhriger Mann von einem
1721. epidemiſchen Petechienfieber befallen. Bis zum
ſiebenten Tage gieng alles in guter Ordnung; die Kraͤf-
te waren nicht ſo ſehr niedergeſchlagen, der Geiſt ſich
immer gegenwaͤrtig; der Kranke hatte hie und da ge-
ſchlafen und der Harn machte einen Satz; der Puls
aber war ſchwach und geſchwind. Um den ſiebenten
Tag kamen die Petechien zum Vorſchein. Der Kran-
ke hatte bisher alle Tage ein bis zwey Stuͤhle; um
dieſes Beduͤrfnißes Willen ſtund er vom Bette auf,
und blieb wohlbedeckt etwas laͤnger auf dem Leibſtuhle
ſitzen. Er beklagte ſich uͤber Uebelkeit und Schwaͤche,
und wurde zu Bette gebracht; die Haͤnde und Fuͤße
waren kalt, und auf der Haut erſchien die ſogenannte
Gaͤnshaut. Von nun an gieng alles ſehr ſchlimm;
denn die Petechien waren kaum mehr ſichtbar und viel
dunkler. Darauf folgten eine große Entkraͤftung,
Ban-
[467] Bangigkeit, Irrereden; der Puls war ſehr klein und
zuſammengezogen. — Er ſtarb den neunten Tag.*)
Ein zwanzigjaͤhriger Juͤngling von fetter, ſchwam-
michter Leibesbeſchaffenheit bekam die Blattern. Der
Kranke klagte bis auf den neunten Tag uͤber nichts,
als uͤber eine heftige Hitze und groſſe Schmerzen der
Haͤnde, wo die Blattern ſehr haͤufig eiterten. Um
der Schmerzen und Bangigkeiten willen ſetzte er ſich
ungefaͤhr eine halbe Stunde aufrecht. Gaͤhlings aber
muſte er wegen groſſer Entkraͤftung ins Bett gelegt
werden. Das Geſicht, welches zuvor roth und an-
geſchwollen war, fiel ein; der Speichelfluß, der bis-
her haͤufig floß, verminderte ſich. Die folgende Nacht
war ſchlaflos; das Athmen ſchwer und beaͤngſtigt;
der Puls ſchwach und ungleich; es aͤußerte ſich oͤfters
ein Drang zum Harnen, wobey aber ſehr wenig ab-
gieng; er redete irre und ſtarb unverſehends an Zu-
[c]kungen.**)
In der naͤmlichen Streitſchrift ſteht eine Be-
obachtung von Coſchwitz, wo bey einer Kindbette-
rinn der rothe Frieſel, nachdem ſie ebenfalls eine hal-
be Stunde aufrecht geſeſſen, und mit dem Arzt geſpro-
chen hatte, auf der Herzgrube etwa einer Handbreit
erblaßte und zuruͤcktrat, da er indeſſen ſonſt am gan-
zen Koͤrper heraus blieb. Die Frau wurde irre,
fiel in Ohnmacht, hatte gebrochene Augen, und in
einer viertel Stunde war ſie verſchieden.
G g 2Fried-
[468]
Friedrich Hoffmann war ſchon in ſeiner Be-
ſchreibung der 1699 in Halle herrſchenden Petechien-
epidemie auf dieſen Umſtand aufmerkſam: “Ich habe,
ſagt er, nicht nur in dieſer Seuche, ſondern auch in
andern boͤsartigen Krankheiten oͤfters bemerkt, daß,
wenn die Kranken zu lange in einer aufrechten Stel-
lung bleiben, die Heftigkeit der Krankheit ſo erſtau-
nend zunahm, daß ſelbſt zuweilen der Tod in kurzer
Zeit darauf erfolget iſt. Die Kranken empfinden
von dieſer Stellung eine groſſe Entkraͤftung, Uebel-
keiten, Ohnmachten, Kaͤlte der Gliedmaſſen, Ban-
gigkeiten; die etwannigen Ausſchlaͤge verſchwinden,
und dieſes jederzeit mit der dringendſten Gefahr.„*)
Sydenham ſchreibt die meiſten Todesfaͤlle der
Kindbetterinnen dem Umſtande zu, daß ſie zu fruͤhe
das Bett verlaſſen: “Durch die Bewegung, ſagt er,
werden hyſteriſche Anfaͤlle erregt, welche den Kind-
betterfluß unterdruͤcken, worauf toͤdtliche Zufaͤlle fol-
gen.„ Aus der Urſache rathet er ſchwaͤchlichen Wei-
bern, bis zum zehnten Tag das Bett zu huͤten, be-
ſonders wenn ſie ſchon vor der Entbindung den Mut-
terzuſtaͤnden ergeben waren. Dagegen, ſetzt er hin-
zu, werden ſie durch die Ruhe geſchuͤtzt, und die an-
haltende Bettwaͤrme erſtattet die durch die Schmer-
zen der Geburt und die Ausleerungen, welche ſie be-
gleiten, abgematteten und erſchoͤpften Lebensgeiſter,
nebſt dem, daß dadurch die Natur unterſtuͤtzt wird,
die waͤhrend der Schwangerſchaft angehaͤuften Unrei-
nigkeiten zu verarbeiten und auszuleeren.**) Ich ſah
eine
[469] eine ſehr entkraͤftete Kindbetterin jedesmal auf hefti-
ges Huſten in ſchwere Ohnmachten mit anhaltendem
Gaͤhnen verfallen.
Wenn Kinder waͤhrend dem Ausbruchfieber der
Blattern ohne Verdacht der Zahnarbeit Zuckungen
hatten, ſo ließ er ſie einige Zeit im Bette, weil er
dieſe Zuckungen fuͤr ein Beſtreben der Natur hielt,
und folglich nicht entkraͤften wollte. Eben deßwegen
legte er diejenigen, ſo die zuſammenfließenden Blat-
tern hatten, den ſechſten Tag ins Bett, weil ſie jetzt,
theils wegen der Menge der Blattern, theils wegen
der Schwaͤche nicht mehr aufrecht bleiben konnten,
ſondern ſehr leicht in Ohnmacht fielen. — In den
anhaltenden Fiebern von 1673—74—75, muſten ſich
die Kranken, ſo bald die Krankheit gebrochen war,
einige Tage ununterbrochen im Bette halten. Von
denen, welche dieſes vernachlaͤßigten, bekamen eini-
ge herumziehende Gliederſchmerzen, einige die Gelb-
ſucht, und andere kraͤnkelten lange herum, oder be-
kamen auch Ruͤckfaͤlle.
Hoffmann hat oͤfters bemerkt, daß, wenn
Waſſerſuͤchtige, Schwindſuͤchtige, ausgemerkelte Hy-
pochondern lange Zeit auf dem Leibſtuhle ſaßen, ſie nicht
nur in die aͤußerſte Schwaͤche und Ohnmacht verfie-
len, ſondern ſelbſt zuweilen bald hernach ganz ruhig
ihren Geiſt aufgaben.
In allen Krankheiten alſo, und in allen ihren
Zeitpunkten, wo Kraftloſigkeit nachtheilig werden
kann, iſt alles, was die Kraͤfte ermuͤdet, ſorgfaͤltig
zu vermeiden.
Aus
[470]
Aus dieſen Bemerkungen wird es begreiflich,
warum erſchoͤpfte Maͤnner und Wiedergeneſende hie
und da gerade in einer Handlung den Tod finden,
welche die Natur zur Erquickung und Belebung be-
ſtimmt hat; warum die gewaltſame Selbſtbefleckung,
auch ohne daß deßwegen die Ergießungen oͤfter wie-
derholt werden, den Koͤrper mehr zerruͤtten, als der
Beyſchlaf; warum heftige Umarmungen, auch ohne
erfolgenden Verluſt des Saamens, nicht ſelten eine
eben ſo große Entkraͤftung verurſachen; warum ge-
wiße, widernatuͤrliche, muthwillige Stellungen die
Hinfaͤlligkeit ſo ſehr beſchleunigen, u. ſ. w.
§. 69.
Der Arzt kann ſich aber auch die Ermuͤdung
der Kraͤfte als ein vortreffliches Hilfsmittel zu Nutzen
machen: — In allen Fallen naͤmlich, wo die Na-
tur zu wirkſam iſt, und aus Uebermaaß der Lebens-
kraͤfte nachtheilig werden koͤnnte. So hat Sydenham
beobachtet, daß in der Hirnwuth das Fieber nicht ehe
aufhoͤrte, bis man die Kranken den Tag durch au-
ßer Bette hielt, obſchon man ſie im Bette noch ſo
leicht zugedeckt hatte. — Bey einem vollbluͤtigen Juͤng-
ling, der ſich ſchon durch ſchweißtreibende Mittel und
geiſtige Getraͤnke erhitzet hatte, und bey dem Jugend,
Vollſaftigkeit, vorhergegangene Erhitzung, haͤufiges
Erbrechen, groſſe Mattigkeit und ſtarke Schmerzen
zuſammenfließende Blattern vermuthen ließen, rieth
er alſogleich den Aufenthalt auſſer dem Bette, um
das Fieber zu vermindern. Weil die aufrechte oder
ſitzende
[471] ſitzende Stellung den Zufluß der Saͤfte nach den obern
Theilen ſchwaͤchet, und alſo theils als Ermuͤdung
theils als Erſchoͤpfung wirket, ſo nahm er uͤberall,
wo er Verminderung des Fiebers, Ableitung der Saͤf-
te von den obern Theilen, und Abkuͤhlung des Koͤrpers
zur Abſicht hatte, ſeine Zuflucht zu derſelben. Da-
her muſten ſeine Kranken in dem erſten Zeitpunkt der
Pocken, Maſern, des Scharlaches, der Hirnentzuͤndung,
der entzuͤndlichen Braͤune, des entzuͤndlichen Huſtens,
des Seitenſtiches, der Nieren- und Gedaͤrmentzuͤndung,
und vorzuͤglich derjenigen fieberhaften Krankheiten,
in welchen der Trieb der Saͤfte nach dem Kopfe hef-
tig war, wie in den Fiebern von 1673—74—75;—
im Naſenbluten und Blutharnen von Vollbluͤtigkeit
oder Aufwallung der Saͤfte, in gewiſſen Arten von
Schlafſucht u. ſ. w. mehr oder weniger auſſer Bette
bleiben, und erſt dann, wenn er von gehinderter Aus-
duͤnſtung oder von der Kraftloſigkeit etwas zu beſor-
gen hatte, ließ er ſie entweder entkleidet unter die
Decke, oder nur leicht angekleidet auf dieſelbe liegen.
Wie die Ermuͤdung zu behandeln ſeye, laͤßt ſich
aus dem Geſagten abnehmen. Nur muß man jeder-
zeit darauf ſehen, ob an dem gegenwaͤrtigen Zuſtande
der Kraftloſigkeit die Ermuͤdung oder die wahre Er-
ſchoͤpfung mehr Antheil habe; von was fuͤr Urſachen
z. B. ob von Schmerz oder nur vom Aufrechtſitzen,
und in welchem Zeitpunkt einer Krankheit, die Er-
muͤdung verurſacht worden ſeye. Nach Verſchieden-
heit dieſer Umſtaͤnde muß man ihr bald gar nicht,
bald durch Ruhe, durch eine anpaßende Lage, bald
durch
[472] durch Reiben, bald durch angenehme, herzſtaͤrkende
Dinge, bald auch durch Nahrung, durch Hebung der-
jenigen Urſachen, die den Schmerz veranlaſſet haben
z. B. durch Ausleerungen u. d. gl. abhelfen.
Von der Unterdruͤckung der Kraͤfte.
§. 70.
Die Unterdruͤckung der Kraͤfte koͤmmt ſo haͤu-
fig vor, und ihre wahre Erkenntniß iſt ſo wichtig,
daß beynahe jeder gute Schriftſteller, etwas davon
zu ſagen, fuͤr noͤthig gefunden hat. Zu erſt will ich,
was eigentlich darunter verſtanden wird, ſinnlich dar-
ſtellen.
Van Swieten erzaͤhlet aus Wepfer die Ge-
ſchichte eines Weibes, welche an katharrhaliſchen,
ſchleimichten Zufaͤllen im Kopfe litt, und zuweilen
nach und nach ſo die Sprache verlor, daß ſie auf
zehn und mehrere Stunden ganz ſtumm blieb. Sobald
ſie aber einen Huſten bekam, und einen duͤnnen, ro-
hen Speichel auswarf, konnte ſie auf der Stelle
wieder ſprechen. Druͤckte ſie ſich waͤhrend ihrer Stumm-
heit den Kopf um die Gegend der dreyeckichten Hirn-
nath (Sutura lambdoidea) ſo bekam ſie alſogleich
die Sprache, welche ſie aber beym Nachlaſſen des
Druckes wieder verlor. —*) Hier geſchah mit der
Kraft, welche die Toͤne bilden hilft, das, was in
andern Faͤllen mit derjenigen Kraft geſchieht, welche
den verſchiedenen Verrichtungen des Menſchen vor-
ſteht. Die Laͤhmung und das Einſchlafen eines Glie-
des
[473] des von dem Drucke oder der Unterbindung eines
Nerven, von gehindertem Umlaufe der Saͤfte, ſind
ebenfalls Beyſpiele einer ſinnlichen Unterdruͤckung der
Kraͤfte in einzelnen Theilen.
Mit dieſer Art von Unterdruͤckung der Kraͤfte
hat jene, welche von Ueberfuͤllung herkoͤmmt, die
naͤchſte Aehnlichkeit. Dieſe Ueberfuͤllung moͤge nun
in gutem oder verdorbenem Blute, oder in andern rei-
nen und unreinen Fluͤßigkeiten beſtehen, ſo iſt der
Arzt bey ihrer richtigen Beurtheilung ſehr gefaͤhrlichen
Taͤuſchungen unterworfen, wovon ich einige der wich-
tigſten hier anzeigen will.
§. 71.
Die wahre Vollbluͤtigkeit (Plethora vera, ad
molem) hat ihre Stufen, wovon gerade die hoͤchſte
ganz von allem Ueberfluße an Blut entfernt zu ſeyn
ſcheint. Begiebt ſich ein ſonſt ſehr thaͤtiger, geſun-
der Mann, der in den beſten Jahren iſt, zur Ruhe,
naͤhrt er ſich mit guten Speiſen u. ſ. w. ſo werden
alle ſeine Theile einigermaßen geſpannt und roth, be-
ſonders an hautloſen Stellen, als: in den Winkeln der
Augen, an den Lippen, dem Munde, dem Gaumen,
dem Zahnfleiſch; die ganze Oberflaͤche bekoͤmmt einen
roͤthlichten Glanz, ſo daß ſie durchſcheinend zu ſeyn
ſcheint. Weiche Koͤrper ſehen wohlgenaͤhrt roth, und
dick aus, der Bauch iſt glatt, voll, fett; in geſpann-
ten aber ſind die groͤßern Gefaͤße mehr ausgedehnt,
die Blutadern ſchlaffer, als die Schlagadern, aͤußer-
lich mehr ſichtbar, uͤbermaͤßig, ſtrozend voll, beſonders
in
[474] in der Waͤrme oder nach einer Erhitzung; die Mus-
keln ſind geſpannt, einigermaſſen ſteif, ſproͤde,
und in ihren Verrichtungen ſchwer und traͤge; die
Schlagadern ſind zwar voll, der Puls aber iſt klein
und hart. So ein vollbluͤtiger Menſch iſt ſchlaͤfrig,
beſonders nach der Mahlzeit, hat oͤftere Anwandlun-
gen von Schwindel, wird bey geringer Bewegung
ſchwerathmig und ermuͤdet ſehr leicht; er iſt zum Lie-
besgenuße ſehr aufgelegt, aber, auch auſſer der Bewe-
gung auf der Bruſt geſperrt, zu Blutfluͤſſen, Fie-
bern ꝛc. geneigt. Hier ſind alſo die Lebenskraͤfte ſchon
einigermaſſen gehemmt. Uberfaͤllt ihn in dieſem Zu-
ſtande ein Fieber, ſo bekoͤmmt er heftige Kopf- und
Kreuzſchmerzen, Abgeſchlagenheit des ganzen Koͤrpers,
große Entkaͤftung, Aufgedunſenheit des Geſichtes,
der Bruſt und des Halſes; innere Hitze, heftigen
Durſt, große Unruhe, Ohnmachten, Betaͤubung,
Zuckungen, Schlafloſigkeit, Blutfluͤße, heftige Schwei-
ße, Bangigkeit, beſchwerliches Klopfen der Schlag-
adern, und wird ſehr leicht irre. Huxham hat ſchon
bemerkt, daß ſolche ſtarke, vollbluͤtige Leute im An-
fange einer hitzigen Krankheit aͤußerſt kleinmuͤthig ſind,
und einen ganz unterdruͤckten Puls haben, obſchon
Blutausleerungen die erſte Anzeige ſind.
In dem von Haſenoͤhrl beſchriebenen epidemi-
ſchen Fieber mußte man ſtarken vollbluͤtigen Leuten
ein bis viermal zur Ader laſſen, obſchon die Entkraͤf-
tung durchgaͤngig im Anfange groß war. Das Blut
zeigte oft eine im hoͤchſten Grade entzuͤndliche Kruſte,
und die Kraͤfte wurden lebhafter. Selbſt Haſenoͤhrl,
den
[475] den das naͤhmliche Fieber ergriff, wurde dreymal zur
Ader gelaſſen, und er ſagt, er habe ſich dadurch kei-
neswegs entkraͤftet gefunden. — Der kleine und ſchwa-
che Puls iſt, wenn die uͤbrigen Anzeigen zugegen ſind,
keine Gegenanzeige gegen das Aderlaſſen; denn der
matte Aderſchlag iſt hier keine Folge des Mangels,
ſondern vielmehr der Unterdruͤckung der Kraͤfte. Der
Puls iſt beſonders manchmal außerordentlich klein,
ungleich, zitternd, ausſetzend, wenn der Kranke hef-
tige Schmerzen, vorzuͤglich in den haͤutigen Theilen
leidet. Da ſind Blutausleerungen gerade dann am noͤ-
thigſten, wo der Puls am kleinſten iſt. Das ſicher-
ſte Zeichen, daß Blutausleerungen angezeigt ſind, iſt,
wenn waͤhrend oder gleich nach der erſten Entleerung
der Puls voͤller und langſamer wird.
Die zweyte Stufe der Vollbluͤtigkeit wird ſchwe-
rer erkannt, und iſt weit gefaͤhrlicher. Sie entſteht
alsdann, wenn bey ohnehin vollbluͤtigen Leuten die ge-
wohnten Blutausleerungen unterlaſſen oder unterdruͤckt
werden. Dieſe werden manchmal von hitzigen Krank-
heiten befallen, ohne daß man das geringſte Zeichen
von einem Fieber wahrnehmen koͤnnte. Die Bewe-
gungen der Natur ſind durch die Anſchoppung der
Blutgefaͤße, beſonders wenn der Antrieb nach dem
Gehirn ſtark iſt, ſo zu ſagen, ganz zernichtet. Die
Kranken haben ſchlafſuͤchtige Zufaͤlle, die Schlafſucht,
Kraͤmpfe, Zuckungen, und fallen nicht ſelten in den
wahren Schlagfluß. So entſtund bey der ſechzigjaͤh-
rigen Dame des Lanziſi vom unterdruͤckten Golda-
derfluße der wahre Schlagfluß. Sie war zwey Tage
ohne
[476] ohne Fieber. Nach dieſer Zeit wurden die Goldader-
knoten geoͤffnet, und dieſe Entleerung beguͤnſtigte die
Wirkſamkeit der Natur ſo ſehr, daß ein Fieber ent-
ſtund, welches der Kranken ihre Geſundheit verſchaff-
te. Ein Beweis, daß man nicht voreilig behaup-
ten ſollte, daß jedes Fieber, ſo auf den Schlagfluß
folget, wenn er ſchon einige Zeit angehalten hat, toͤd-
lich ſey. — Bey den meiſten iſt die Geſichtsfarbe noch
lebhaft, hochroth, feurig, das Geſicht angeſchwollen,
zuweilen der ganze Koͤrper waſſerſuͤchtig; der Puls iſt
bey einigen voll und hart, bey andern zuſammenge-
ſchnuͤrt und hart, der Hals aufgeblaͤht, das Ath-
men etwas beſchwerlich und heiß; oͤfters iſt ein Fuß
oder Arm betaͤubt, und Bewegungen und Empfindun-
gen derſelben gehen verloren, die Augen ſind benebelt,
der Kopf ſchwer und ſchmerzhaft, die Entkraͤftung
allgemein. In dieſem Falle war der Juͤngling des
Galenus, der den andern Aerzten aͤuſſerſt entkraͤftet
ſchien. Er war im Geſicht roth; die Roͤthe nahm
zuerſt nur die rechte Seite der Naſe ein, nachher er-
ſtreckte ſie ſich uͤber die rechte Wange, wurde immer
ſtaͤrker, bis er endlich am Himmel der Bettſtatte eine
rothe Schlange ſah, worauf er, am fuͤnften Tage,
durch einen Blutverluſt aus der Naſe von vier und
einem halben Pfunde, Kraͤfte, aber zugleich ein leb-
haftes, hitziges Fieber bekam.
In einem etwas hoͤhern Grade erſcheinen die-
ſe Zufaͤlle unter einer andern Geſtalt, wie dieſes bey
dem Juͤngling des Sydenham der Fall war. Die-
ſer lag ſo kraftlos da, daß er den Geiſt aufzugeben
ſchien.
[477] ſchien. Der Aberſchlag war ſo klein, ſo zuſammen-
geengt, daß ihn Sydenham kaum fuͤhlte; die Blut-
adern ſchienen nicht gedunſen; das Geſicht ſah natuͤr-
lich aus; die Hitze war maͤßig; der Puls kaum et-
was geſchwinder, als im geſunden Zuſtande. Aber
das Temperament und die Lebensart des Kranken zeug-
ten von der Vollbluͤtigkeit. Dieſe Vollbluͤtigkeit wird
ebenfalls durch Blutausleerungen auf die erſte Stufe
zuruͤckgebracht, wo dann bald das Fieber deutlich
und heftig wird. Der Juͤngling bekam nach einer
Aderlaͤße ein ſo heftiges Fieber, wie Sydenham
noch keines geſehen hatte. Da hier das Blut in ſol-
chem Ueberfluſſe iſt, daß die Kraft des Herzens bey
weitem nicht zureichet, daſſelbe fortzuſtoſſen; ſo hat
man ſchlechterdings nichts von der Natur zu hoffen.
Die unterdruͤckten Blutausleerungen werden nicht zu
Stande kommen, bis man durch die erſten kuͤnſtlichen
Ausleerungen den Gefaͤßen und dem Herzen wieder
Wirkſamkeit verſchafft hat.
Hat nun aber dieſer Zuſtand der Unterdruͤckung
einige Zeit angehalten, oder iſt die Anſchoppung der
Gefaͤße des Gehirns und des Herzens gleich anfaͤng-
lich zu heftig, ſo tritt die dritte Stufe der Entkraͤf-
tung von Vollbluͤtigkeit ein. Man kann ſie am oͤfteſten
bey wohlgenaͤhrten, vollſaftigen, lebhaften Kin-
dern beobachten, welche mit großen Beſchwerden
Zaͤhne bekommen. Bey einem ſolchen neun Monate
alten Knaben, Joſeph Hamann, gluͤheten anfaͤnglich
die Wangen uͤber und uͤber, der Athem war heiß,
ſchnell, muͤhſam; der Puls ſtark und geſchwind; der
in-
[478] innere Mund heiß; der Geifer triefete haͤufig, und
ſchaͤumte. Man uͤberließ alles der Natur. Nach un-
gefaͤhr acht Stunden fieng er an, Kaͤlte und Blaͤße
gaͤhlings mit Hitze und Roͤthe zu wechſeln, und wur-
de unvermoͤgend den Kopf aufrecht zu halten. End-
lich blieb er blaß und kalt; athmete ſchwer, langſam,
kraftlos und roßelte ſo heftig, daß man das Schwap-
pern einer ergoſſenen Feuchtigkeit deutlich hoͤrte, und
auswaͤrts an den Rippen fuͤhlte; der Puls war unzaͤhlbar
geſchwind und ſo klein, daß man ihn kaum fuͤhlen konn-
te; die Augen waren verkehrt und gebrochen, der
Mund und der Athem kalt; der Geifer floß nicht
mehr; die Naſenfluͤgel bewegten ſich, und das Geſicht
ſah jenem eines Sterbenden vollkommen gleich: Alles
am Koͤrper war kalt und hieng unbeweglich da. Ich
ließ ihm an die Schlaͤfe Igel ſetzen, was der Wund-
arzt, da er den Knaben fuͤr ſterbend hielt, nimmer
thun wollte; waͤhrend, daß dieſe ſogen, kehrten Waͤr-
me, Bewußtſeyn, Kraft und Geſundheit zuruͤck.
§. 72.
Eine andere Art von Vollbluͤtigkeit entſtehet,
wenn die Gefaͤße zu klein werden, und dennoch die
Menge des Blutes nicht verhaͤltnißmaͤßig vermindert
wird. (Plethora ad Spatium) Dieſes geſchieht in der
Furcht, im Schrecken, bey einigen im heftigen Zorn,
im Fieberfroſt, durch große oder ploͤtzliche Kaͤlte,
durch Kraͤmpfe u. ſ. w. Die durch dieſe Urſachen er-
regte Mattigkeit, Schlaͤfrigkeit, Schlafſucht, Ent-
kraͤftung u. ſ. w. ſind ebenfalls nichts als Unterdruͤ-
ckung
[479] ckung der Lebenskraͤfte, und muͤßen nach Verſchieden-
heit der Umſtaͤnde verſchieden behandelt werden. In
der erſten Periode der exantematiſchen Fiebern ereignet
ſich dieſer Fall ſehr gerne. Von den Pocken z. B.
ſagt Vogel „zuweilen ſcheinen die Kranken gleich
anfangs ſehr entkraͤftet, haben einen langſamen, ge-
hemmten, kleinen Puls, und klagen uͤber allgemei-
ne Traͤgheit und Schwachheit der Glieder. Aber dies
iſt nur ſcheinbar, die Kraͤfte ſind blos unterdruͤckt.
Man huͤte ſich hier ja vor ſtaͤrkenden, hitzigen, aus-
treibenden Mitteln, da dieſe Entkraͤftung durch nichts,
als durch Aderlaͤße und die kuͤhlende Methode gehoben
wird. Iſt der Puls dabey voll, hart, heftig; der
Athem etwas beengt u. ſ. w. dann bedarf es gar kei-
ner Frage. — Zuweilen iſt es ein krampfhafter Zu-
ſtand, wobey Haͤnde und Fuͤße kalt, und die Hinfaͤl-
ligkeit recht groß zu ſeyn ſcheint. Wenn dieſen Zu-
ſtand die friſche Luft nicht bald merklich erleichtert, ſo
hilft oft ein lauwarmes Bad auf der Stelle. Die
Kranken werden unmittelbar darauf heitrer und mun-
terer, ſie leben zuſehends auf, und der Ausbruch der
Pocken erfolgt mit allgemeiner großer Erleichterung.
Bey ſehr beweglichen, ſchwachen und zaͤrtlichen Kin-
dern thut oft eine oder die andere Gabe Mohnſaft
unter ſolchen Umſtaͤnden vortrefliche Dienſte. Der
kleine, unordentliche Puls wird ruhiger und ordentli-
cher, die kalten Glieder werden warm, die Angſt,
die Hinfaͤlligkeit, der krampfhafte Schlaf, das ohn-
maͤchtige Weſen verſchwinden, und die Pocken kom-
men heraus.„*)
[480]
§. 13.
Die falſche oder ſcheinbare Vollbluͤtigkeit (Ple-
thora ad volumen, rarefacta) verdient eine beſondere
Aufmerkſamkeit. Sie entſteht von der Ausdehnung
des Blutes, und treibt die Adern ſo ſtark auf, wie
bey der wahren Vollbluͤtigkeit. Sie hat den ſtarken
Aderſchlag, den großen Puls, die brennende Hitze
des Koͤrpers, die Roͤthe der Augen und des Geſichts,
den Durſt, die Unruhe mit der wahren gemein; nur
iſt der Puls weicher; die Hitze der Haut brennender,
und, vorausgeſetzt, daß weder die eine noch die an-
dere einen hohen Grad erreicht haben, ſo leiden die
Lebenskraͤfte bey der letztern gemeiniglich mehr. Fer-
ner wird ſie durch ihre erregenden Urſachen erkennt.
Dieſe ſind: “groſſe Waͤrme der Luft, am Heerde
und im Bade, Speiſe und Trank, Arzneyen und Gif-
te, Brech- und Entzuͤndungsfieber, Bewegung,
Leidenſchaften und Reiben ꝛc. Große und ploͤtzliche
Verminderung des Druckes der Atmoſphaͤre, beſon-
dere Veraͤnderungen der Saͤfte durch beygemiſchte fremd-
artige Materien ꝛc. Noch mehr aber, wenn die Reitz-
barkeit dazu koͤmmt, oder eine fehlerhafte Beſchaffen-
heit des Blutes, ingleichen die Menge aufgeloͤſten,
von der Waͤrme ſtark ausgedehnten und in das Blut
aufgenommenen Fettes den Koͤrper dazu geneigt macht.„
*) Man erkennt ſie auch, wenn ſie ſich erſt nach Blut-
fluͤſſen oder einer andern betraͤchtlichen Ausleerung of-
fenbaret; wenn ſie ſich nach dem Zuruͤcktreten irgend
einer boͤsartigen Feuchtigkeit in das Blut; zu Ende
einer
[481] einer Krankheit oder bey der Wiederherſtellung ein-
findet. Die Fieber im Sommer und in heißen Laͤn-
dern, die heftigen Gallfieber ſind meiſtens mit dieſer
Aufwallung der Saͤfte verbunden.
Bey ſchwaͤchlichen Leuten aͤußern ſich immer-
waͤhrend Zeichen dieſer Vollbluͤtigkeit; ſo arm ſie
im Grunde an guten Saͤften ſind, ſo ſcheinen doch
alle ihre Gefaͤße bey einem geringen Krampfe, einer
geringen Ermuͤdung, oder Gemuͤthsbewegung zu ſtro-
zen. Nach Tiſche z. B. beſonders wenn die Verdau-
ung muͤhſam von ſtatten geht, ſchwellen die Adern
an den Haͤnden und im Geſichte auf; das Geſicht wird
roth und ſie empfinden eine laͤſtige Waͤrme. Wo ei-
ne Schaͤrfe obwaltet, iſt nebſt dem, daß die Ge-
ſichtsfarbe hochroth iſt, der Puls geſchwinder und
voͤller, manchmal auch haͤrter, als in der wahren Voll-
bluͤtigkeit, wo er unterdruͤckt iſt.
Die Wirkungen in Ruͤckſicht der Entkraͤftung
ſind, in ſofern die Gefaͤße gewaltſam ausgedehnt,
die Nerven und das Hirn gedruckt werden, die naͤm-
lichen; aber in ſo fern noch eine andere mehr oder
weniger nachtheilige Urſache mitwirkt, koͤnnen ſie un-
endlich verſchieden und ſchlimmer ſeyn.
Man bedient ſich zwar in vielen Faͤllen auch
der Aderlaͤße. Allein außer dem Falle, wo eine wah-
re Vollbluͤtigkeit mit dieſer falſchen zuſammen trifft,
ſind ſie zuverlaͤßig jedesmal hoͤchſt nachtheilig. Ich
kann mich hieruͤber nicht umſtaͤndlich einlaſſen; die
Natur des Uebels zeigt deutlich genug, daß die Ent-
leerungen einer Feuchtigkeit, welche nur deßwegen
Gall I. Band H huͤber-
[482] uͤberfluͤſſig iſt, weil ſie aufbrauſet, und vielleicht nur
deßwegen aufbrauſet, weil die Gefaͤße ihre zuſam-
menziehende Kraft verloren haben, nicht das eigent-
liche Gegenmittel ſeyn koͤnnen. “Es ereignet ſich
nichts oͤfter, ſagt Ciſſot, als das Kranke uͤber Er-
hitzung klagen; aber man koͤnnte mit keiner Kunſt
ihrem Blut jene entzuͤndliche Beſchaffenheit geben,
welche getaͤuſchte Aerzte durch die entzuͤndungswidrige
Heilart zu zerſtoͤhren ſuchen. Eine wahre Erhitzung iſt
zwar eine leichte Art von Entzuͤndung, naͤmlich die
falſche, welche von Schaͤrfe erregt wird, aber Him-
melweit von einer wahren Entzuͤndung verſchieden.
Sie haben beyde beym erſten Anblick viele Zufaͤlle ge-
mein, indeſſen hilft die naͤmliche Heilart bey der ei-
nen, und toͤdtet bey der andern.„
Aber in aͤhnlichen Vorfaͤllen ſind zwey Dinge zu
bedauern: erſtlich, daß Weiber, Bartſcheerer Wundaͤrzte
und Aerzte ihr Heilverfahren nach den ſinnlichen Erſchei-
nungen einer Krankheit einrichten. Einem Menſchen
dringt das Blut aus der Naſe; er hat Wallungen
und Hitze: es muß Blut weggeſchafft werden u. ſ. w.
Zweytens, daß man, obſchon ſo leichtfertig mit den
Purgiermitteln, mit den Aderlaͤſſen, den Blaſenpfla-
ſtern verfahren wird, dennoch um ſeiner Ehre willen
ſo ſehr auf ſeiner Hut ſeyn muß, eine andere eben-
falls ſehr in die Sinne fallende Heilart, ſo vernuͤnf-
tig ſie uͤbrigens ſeyn mag, in Ausuͤbung zu bringen.
Die außerordentliche Hitze, welche 1755 in Meßina
von 15ten des Brachmonates bis zu Ende des Au-
guſts herrſchte, hatte eine Krankheit hervorgebracht
deren
[483] deren Zufaͤlle und Folgen anfaͤnglich viel Schrecken
verurſachten. Alle, die davon befallen wurden, fielen
nach Verlauf von einigen Stunden in eine heftige Ra-
ſerey; ihr Kopf ſchwoll außerordentlich; ſie verloren
den Gebrauch ihrer Sinne, und ein heftiges Fieber
toͤdete ſie bald: Endlich badete man den Kopf mit kal-
tem Waſſer, und es ſtarb keiner mehr. Floyer er-
zaͤhlt, daß eine Muͤtze mit Schnee angefuͤllt einem
Menſchen, der lange wahnſinnig war, den ruhigſten
Schlaf verſchaffte; er erwachte viel ſtiller, und ward
bald durch dieſes Verfahren geheilt. Es iſt nach
Swieten beſonders bey ſolchen Wahnſinn zutraͤglich,
welcher von allzugroſſer Hitze und von Ausſchweifun-
gen in hitzigen Getraͤnken verurſacht wird. Deidier
ließ einen Kranken, der im Sommer von einem hi-
tzigen Fieber mit heftigem Wahnſinn befallen wurde,
in ein ſehr kaltes Bad ſetzen. Dieſes Mittel ſtillte
und heilte die Zufaͤlle gaͤnzlich, welche ſeit vielen Ta-
gen angehalten, und den reichlichſten Aderlaſſen wi-
derſtanden hatten. Noguez erzaͤhlt, daß der Herzog
de la Force in einem außerordentlich heißen Sommer
einen Mann, der lange in der Sonnenhitze geritten,
und endlich ſcheintod vom Pferde ſtuͤrzte, alſogleich
in einen fließenden Bach werfen ließ; von da ließ er
ihn in ein Bett bringen, ohne ihn zu ſehr mit De-
cken zu beſchweren, goß ihm ein wenig Wein ein.
Der Kranke erholte ſich, und nachdem er die Nacht
gut geſchlafen hatte, befand er ſich den andern Mor-
gen wohl. Ein zweyter Reitender, dem dieſe Hilfe
nicht geleiſtet werden konnte, blieb tod. Ludwig dem
H h 2Vier-
[484]Vierzehnten, der auf der Jagd einen Sonnenſtich be-
kam, muſte man neun Mal zur Aderlaſſen; man
haͤtte ohne Zweifel die meiſten, wo nicht alle erſparen
koͤnnen, wenn man ein aͤhnliches Verfahren benutzt
haͤtte. Alle Fieber, welche eine Wirkung des aus-
gedehnten Blutes ſind, wie dieſes in ſehr heißen Jahrs-
zeiten und Himmelsgegenden meiſtentheils der Fall iſt,
wuͤrden ein geſchwindes und wirkſames Mittel in dem
kalten Bade finden; waͤre auch das Aderlaſſen wirk-
lich eben ſo nuͤtzlich, ſo verdiente doch das Bad den
Vorzug, weil dadurch die Kraͤfte nicht zerſtoͤhrt wer-
den. Eben dieſes gilt von allen Arten von Schein-
tod, welche durch eine ſolche Ausdehnung der Saͤfte
verurſacht werden. Vielleicht iſt dieſes die unmittel-
bare Wirkung der betaͤubenden Gifte, wogegen ſich
nichts wirkſamer bezeugt hat, als herbe, reizende und
zugleich zuſammenziehende, ſaure Mittel, z. B. kal-
tes Waſſer, kalte Baͤder, Eßig, Zitronen- und Vi-
triolſaͤure — lauter Dinge, welche die gaͤhrende Luft
der Eingeweide nach dem Genuße ſehr windiger Spei-
ſen, in den aufgelaufenen Baͤuchen in Gall- und
Faulfiebern u. ſ. w. zu binden vermoͤgend ſind. — So
viel weiß ich aus Erfahrung, daß, wenn ſolche Leu-
te durch Blutausleerungen gerettet werden, ſie ſich
aͤußerſt langſam erholen, und allermeiſt mehr oder we-
niger in einer oder der andern Art von Bewegung
gehindert bleiben; da indeſſen die, welche durch kal-
tes Anſpritzen, durch Aufſchuͤtten ganzer Eymer voll
Waſſer, durch herbe Saͤuren hergeſtellt werden, in
wenig Stunden vollkommen geſund ſind.
§. 74.
[485]
§. 74.
Es iſt alſo gewiß daß man der Unterdruͤckung
der Kraͤfte aus dieſer Urſache, keineswegs durch die
Verminderung der Blutmaſſe abhelfen kann. Im
Gegentheil wird man in kurzer Zeit einen verwickelten
Zuſtand von Entkraͤftung zu wege bringen; je mehr
man die Gefaͤße entleert, deſto heftiger wird die in-
nere Gaͤhrung und deſto kraftloſer der Widerſtand und
die Gegenwirkung der Gefaͤße. Man zieht nothwen-
dig den wahren Mangel an Lebenskraft zu, ohne der
Unterdruͤckung zu ſteuern. Bey dieſen Umſtaͤnden
ſtirbt der Kranke mit allen Zeichen einer Vollbluͤtig-
keit, obſchon in ſeinem Leichname alle Gefaͤße an Blut
verarmt oder leer gefunden werden. Helmont erzaͤhlt
ein ſehr auffallendes Beyſpiel: Im Jahr 1641 den
8ten November wurde die Leiche des Kardinals Prinz
Ferdinand, des Koͤnigs von Spanien Bruders, ge-
oͤfnet. Er hatte durch neun und achtzig Tage das
dreytaͤgige Fieber, woran er im zwey und dreyſigſten
Jahre ſeines Alters ſtarb. Aus dem Herzen, der
Leber und den Lungen zuſammengenommen floß kaum
ein Loͤffelvoll Blut in die Bruſthoͤle, die Leber war
ganz blutleer, und das Herz welk wie ein Beutel.
Man hatte ihn durch Aderlaſſen, Purgiermittel und
Blutigel ſo ſehr erſchoͤpft, und dennoch hoͤrte das
Fieber nicht auf.
Lieutaud ſagt, die Blutgefaͤße werden manch-
mal ſo leer gefunden, daß der Kopf, die Bruſt, der
Unterleib ganz trocken ſind, und nur von Luft ſtrozen;
in den kleinen Gefaͤßen ſeye gar kein Blut, und die
großen
[486] großen ſeyen nur halb voll. Bey einer Jungfer,
der man innerhalb einem Jahre hundert Mal Ader ließ,
und die, wahrſcheinlich an einem Nervenſchlag, gaͤ-
hen Todes ſtarb, war in den Gehirngefaͤßen keine
Spur von Blut zu entdecken. — Ein Mann, dem
man in einer Lungenentzuͤndung oͤfters zur Ader ließ,
ſtarb in der Wiedergeneſung an einer heftigen Ohn-
macht. Man bemerkte doch, daß kurz vor dem Tode
die Kraͤfte zunahmen, und das Geſicht ſich wieder zu
faͤrben anfieng. In der Leiche waren die Hirngefaͤße
trocken, das Herz blutleer und alles ausgetroͤcknet.*)
Bey de Haen hatte eine Frau noch fuͤnf Stun-
den vor dem Tode einen geſchwinden, ſtarken, harten
Puls; das Blut ſprang mit Gewalt und entzuͤndli-
cher Dichtigkeit aus der Ader. Noch eine halbe Stun-
de vor dem Tode, nachdem ſie eine Verblutung von
ungefaͤhr ſechs Unzen erlitten hatte, war der Puls
noch ſtaͤrker an beyden Armen. Und dennoch war gar
kein Blut weder in den Schlagadern noch Blutadern;
auf dem Grunde des Schaͤdels fand man ſechs Unzen
ergoſſenes fluͤſſiges Blut.**) — Ein gichtfluͤſſiger
Mann hatte immerwaͤhrend bis kurz vor dem Tode ei-
nen harten, ſtarken Puls. Man hatte ihm nicht nur
keine Ausleerungen veranſtaltet, ſondern er hatte nicht
einmal die erforderlichen; die Schlagadern alle, ſelbſt
das Herz waren blutleer. Die Schlagadern waren
uͤber Finger dick, und die Blutadern ebenfalls ſehr
weit ausgedehnt; ſie enthielten beyde nichts als einen
kaum
[487] kaum einer Linie dicken Faden von geronnener, weißer
Lymphe.*)
Gattenhoff ſah einen jungen, dem Anſehen nach
ſtarken, großen Bauern, der an einem anhaltenden
hitzigen Fieber darnieder lag, und unvermuthet ſtarb.
Auſſer der Milz, welche von brandigem Blute gewal-
tig ausgedehnt war, fand man kein Blut im Herzen
und keines in allen großen Gefaͤßen, obſchon kurz vor
dem Tode der Aderſchlag zwar weich, aber ſtark, groß
und haͤufig war.**)
F. Hoffmann verſichert, mehrere ſolche geſe-
hen zu haben, beſonders ſchlechtbeſchaffene Leute und
hypochondriſche, wo die Gefaͤße und das Herz zwar
blutleer, aber dennoch ſehr von Luft ausgedehnt wa-
ren. Ein Beyſpiel fuͤhrt er von einem cachechtiſchen
Weibe an.***) Mehrere ſolche Faͤlle findet man bey
Haller, Gorter, Camerer, Heuermann, Schwen-
ke, Kupfer, Fiſcher, Sagar, Morgagni und
andern, daß man ſie alſo nicht als ſeltſame Erſchei-
nungen anſehen darf.
Die Kennzeichen dieſes Zuſtandes ſind bis jetzt
noch ungewiß. Lieutaud fuͤhrt folgende an: Die
Kranken fallen nach und nach von Kraͤften, und kla-
gen uͤber hartnaͤckiges Ohrenklingen; ſie verlieren die
Eßluſt, und werden oft entfaͤrbt. Die meiſten haben
Bauchfluͤße oder den Harnfluß, oder ſtarke, anhal-
tende Schweiße. Einige ſind den Ohnmachten unter-
worfen
[488] worfen und ſterben gaͤhlings. Zuweilen ſchwellen die
Beine, und dann ergießet ſich Waſſer in die Bruſt-
und Bauchhoͤle. Spaͤter verlieren die Kranken den
Schlaf, holen tiefe Seufzer, und verlieren alle Hoff-
nung der Wiedergeneſung. Einige werden ſogar aus
Kummer und immerwaͤhrender Todesangſt ſinnlos,
bis ſie endlich unterliegen. — Aber manchmal fehlen
alle dieſe Zeichen, oder es hat gerade das Gegentheil
ſtatt. Selbſt nach unglaublichen Ausleerungen iſt oft
noch eine große Blutmenge zugegen.
Dieſe Beyſpiele beweiſen, wie ſehr diejenigen
irren, welche mit den Ausleerungen ſo lange fortfah-
ren zu muͤſſen glauben, bis die Gefaͤße und die Haut
zuſammen gefallen ſind. So gewiß es iſt, ſo wenig
kann ich begreifen, wie man behaupten und Beyfall
finden kann, daß dieſe Entleerung der Gefaͤße, das
wahre Maaß der Entkraͤftung ſeye, auf welches man
die Kranken in hitzigen Krankheiten herabſetzen muͤße.
*) Haben denn ſolche Maͤnner nie die aufgeblaͤheten,
ſtrotzenden, hoch oder dunkelrothen, feurigen Geſichter
der an faulichten Krankheiten oder an Gallfiebern ſehr
gefaͤhrlich darnieder liegenden Kranken geſehen? —
Wenn man dieſe durch Ausleerungen beſonders des
Blutes heilen will, und dann die erfolgenden Zufaͤlle
und den Tod einer vorgegebenen Boͤsartigkeit der Krank-
heit zuſchreibet, ſo iſt es freylich kein Wunder, daß
man ſeinen Irrthum nie einſieht. Verſchafften ſie aber
ſolchen Kranken den Zutritt der friſchen, kuͤhlen Luft,
ſollte
[489] ſollte es auch eine Zugluft ſeyn, wenn nur kein Aus-
ſchlag, deſſen Zuruͤcktreten gefaͤhrlich werden koͤnn-
te, vorhanden iſt; ſpielten ſie nicht mit den Gaben der
vegetabiliſchen ſowohl, als der mineraliſchen Saͤuren;
naͤhmen ſie ihnen die Bettdecken weg; huͤteten ſie ſich
vor den reitzenden, hitzigen Arzneyen, u. ſ. w., ſo
wuͤrden ſie einſehen, daß man dieſer Art Vollſaftig-
keit ganz anderſt, als durch Entleerung abhelfen kann.
§. 75.
Selbſt in den wahren Entzuͤndungskrankheiten
iſt dieſe falſche Vollbluͤtigkeit eine alltaͤgliche, theils
freywillige, theils erkuͤnſtelte Erſcheinung.
Freywillig, bey ſchwaͤchlichen, empfindſamen,
beſonders durch vorhergegangene haͤufige Aderlaͤſſen
reizbar gemachten Leuten — Bey Frauenzimmern,
die eine hochrothe Geſichtsfarbe, den Zeitfluß alle
vierzehn Tage oder drey Wochen, und ſehr reichlich
haben; nach jedesmaliger Gemuͤthsbewegung, aber be-
ſonders, wenn eine Neigung zu Kraͤmpfen oder eine
beſondere Schaͤrfe im Koͤrper vorhanden iſt. In die-
ſen Faͤllen hab ich oft augenblicklich theils durch Zer-
ſtreuung, theils durch einige Tropfen des ſchmerzſtil-
lenden Hoffmanniſchen Geiſtes eine ſolche Aufwallung
der Saͤfte gehoben, daß ich ſelbſt, wenn ich nicht
auf die vorhergegangenen Umſtaͤnde, oder auf das Tem-
perament des Kranken geſehen haͤtte, aus der gegen-
waͤrtigen Lage unmoͤglich eine andere Anzeige, als zu
Blutlaͤſſen haͤtte machen koͤnnen. Der Aderſchlag z.
B. iſt außerordentlich hart; einige Theile des Koͤrpers
gluͤ-
[490] gluͤhen, andere ſind kalt; der Kranke klagt uͤber hef-
tige Schmerzen im Innern des Koͤrpers und im Kopfe;
die Augen ſind aufgetrieben; die Haut geſpannt, tro-
cken; das Geſicht gluͤhet; die Abgeſchlagenheit und
Kraftloſigkeit ſind allgemein u. ſ. w. Weiß ich aber,
daß dieſe Umſtaͤnde mit der gegenwaͤrtigen Krankheit
nicht zuſammenhaͤngen, und die Gefahr ſcheint mir
dennoch ſehr dringend, ſo ſchicke ich um den Wund-
arzt, wende unterdeſſen alles an, was eine falſche
Gaͤhrung der Saͤfte erfodert, ohne dennoch einer et-
wannigen Entzuͤndung zu ſchaden; ich gebe einen lau-
en Thee, worinn ſehr wenig holderbluͤthe und hoͤchſtens
eine Kamille aufgegoſſen ſind; zwey bis fuͤnf Hoffman-
niſche Tropfen; mache Baͤhungen. — Nach einer vier-
tel Stunde wird die Haut feuchter, weicher; der
Puls verliert ſeine Haͤrte; die Waͤrme wird gleich-
maͤſſig; die Schmerzen zertheilen ſich entweder unver-
merkt, oder treten auf die Oberflaͤche; und der Wund-
arzt geht nach Hauſe. Der Kranke iſt jezt ſehr matt
wovon er ſich dennoch, als von einer bloßen Ermuͤ-
dung, in einigen Stunden erholet. — Ereignen ſich
dieſe Zufaͤlle in einer ſehr kurzen Zeit, ſo daß viel-
leicht vor einer viertel Stunde noch alles ruhig war,
und jezt ſchon alles uͤber und uͤber iſt, — ereignen
ſie ſich in einer Krankheit, der ſolche Auftritte eigen
ſind, wie zum Beyſpiel in den ſchleimichten Nervenſie-
bern, in der Mutterkrankheit, in der Hypochondrie,
im Scharbock u. d. gl. auch wenn ſie wirklich mit ei-
ner wahren entzuͤndlichen verwickelt iſt; werden ſie
bald durch die Kunſt gehoben, verſchwinden ſie manch-
mal
[491] mal unerwartet von ſelbſt, und entſtehen ſie eben ſo un-
erwartet ohne alle wichtige Veranlaſſung wieder; ſo
weiß ich gewiß, daß ſie deſto oͤfter wiederkehren wer-
den, je fleißiger ich ſie durch Aderlaͤſſen zu heben
ſuche.
Erkuͤnſtelt wird dieſe Vollbluͤtigkeit, wenn man
ſich in Entzuͤndungskrankheiten einzig auf die Blutaus-
leerungen einſchraͤnkt, und dabey weder eine nachthei-
lige Lage, noch die Bettwaͤrme, noch innerliche und
aͤußerliche, reitzende, erhitzende Arzneyen, noch hitzi-
ge, zu nahrhafte Nahrungsmittel vermeidet. Von
der Lage habe ich ſchon geredet. Wie ſchaͤdlich in ſol-
chen Faͤllen die Bettwaͤrme ſeye, wie ſehr dadurch
das Fieber vermehrt, der Schlaf beunruhiget, und
die Maße der Feuchtigkeiten in Gaͤhrung gebracht wer-
den, hat Sydenham an vielen Stellen uͤberzeugend
dargethan. Das Blut iſt ohnehin ſchon durch den
entzuͤndlichen Reitz in Bewegung; die Reitzbarkeit des
ganzen Koͤrpers, in oͤrtlichen Entzuͤndungen aber vorzuͤg-
lich jene des kranken Theiles iſt erhoͤhet; dieſe Reitzbarkeit
nimmt nach jeder uͤbermaͤßigen Auslerung zu; die Ge-
faͤſſe werden erſchlappt, und folglich entweder außer-
ordentlich zu krampfhaften Bewegungen geneigt, oder
aber ſie wirken im Zuſtande der Erſchlaffung nur
ganz ſchwach gegen die erhitzten und ſich ausdehnenden
Saͤfte. — In jedem Falle haben wir die Zufaͤlle die-
ſer Art Vollbluͤtigkeit. Am deutlichſten aͤußern ſich
dieſe Wirkungen, wenn zur Zeit, als die angezeigten
Fehler begangen werden, das Gleichgewicht zwiſchen
den feſten und fluͤſſigen Theilen noch nicht hergeſtellt
iſt.
[492] iſt. „Wenn man die Blatternkranken, ſagt Syden-
ham zu fruͤh das Bette huͤten laͤßt, ſo bekommen ſie
nicht nur eine groſſe Menge Blattern, ſondern ſehr
oft Blutharnen und purpurfaͤrbene Flecken. — Das
durch die Bettwaͤrme erhitzte Blut dehnet ſich betraͤcht-
lich aus, und tritt bald in die Gefaͤße der Nieren,
wovon das Blutharnen, bald in die Gefaͤße der Haut,
wovon die Petechien entſtehen, welche nichts anders
ſind, als eben ſo viele von ergoßenem und geronnenem
Blute verurſachte Brandflecken. — — Ohne den Zu-
tritt der freyen Luft, faͤhrt er fort, ſehe ich nicht,
daß die Aderlaͤßen das Blut ſonderlich abkuͤhlen. Aber
man richtet noch weniger damit aus, wenn man den
Kranken gleich nach denſelben ins Bett legt, oder
mit Herzſtaͤrkungen uͤberhaͤuft: denn auf dieſe Weiſe
wird das Blut der Wirkungen dieſer neuen Erhitzung
noch empfaͤnglicher, als es zuvor war.„— — Da-
mit ſich der Kranke im Seitenſtiche nicht zu ſehr erhi-
ze, laſſe ich ihn nach Verhaͤltniß ſeiner Kraͤfte alle
Tage einige Stunden außer Bette. Dieſes iſt in die-
ſer Krankheit hoͤchſt wichtig; denn laͤßt man ihn im-
merwaͤhrend im Bette, ſo werden zuweilen weder die
Aderlaͤſſen, noch andere noch ſo kuͤhlende Arzneyen
die Zufaͤlle zu heben im Stande ſeyn. — —„ Die
naͤmlichen Maaßregeln hat er in den anhaltenden Fie-
bern der Jahre 1667, 1668, 1669, 1673, 74, 75. in
ſeinem neuen Fieber des Jahrs 1685., und uͤberhaupt
in allen Krankheiten, worin die kuͤhlende Heilart an-
gezeigt iſt, beobachtet.
§. 76.
[493]
§. 76.
In Ruͤckſicht der kuͤhlenden, entzuͤndungswidri-
gen Arzneyen, wodurch man doch, um die Kraͤfte
zu ſchonen, die Wirkung der Aderlaͤſſen aufs Sorg-
faͤltigſte unterſtuͤtzen ſollte, werden viele ſehr wichtige
Fehler begangen. Ich weiß nicht, ob ich meine Amts-
bruͤder uͤberzeugen werde.
Einige bedienen ſich der ſo genannten entzuͤn-
dungswidrigen Abfuͤhrungsmittel, als: der Manna,
der Tamarinden, des Polychreſtſalzes u. d. gl. —
Aber zu was Abfuͤhrungen, wenn man zu Folge der
dringendſten Anzeige auch in unreinen Entzuͤndungen,
zuerſt dieſe zu heben, ſich beſtreben ſollte? Zu was
Ausleerungen einer Materie zu einer Zeit und durch
Weege, die ihr nicht angemeſſen ſind? — Endlich
iſt es gewiß, daß alle Abfuͤhrungsmittel mehr oder
weniger reitzen, ſo lange ihre Wirkung dauert. Wie
kann es dann anders ſeyn, als daß eine oͤrtliche Ent-
zuͤndung durch dergleichen Dinge immerwaͤhrend un-
terhalten werde, beſonders wenn, wie einige ſehr wei-
ſe zu thun glauben, immer mit Aderlaͤßen und Ab-
fuͤhrungen abgewechſelt wird, oder dieſe alſobald nach
jenen gereichet werden. Ich gab einigemal verſchiede-
nen jungen Maͤnnern, die bey einer Lungenentzuͤndung
Blutſpeyen hatten, nachdem alle Zufaͤlle ſchon durch
die gehoͤrige Heilart gehoben waren, gelinde Aufloͤſun-
gen von Manna. — Aber ich hatte jedesmal das
Ungluͤck, einige Stunden darnach dem Kranken einen
Ruͤckfall zugezogen zu haben. Was dabey merkwuͤr-
dig iſt, iſt dieſes, daß ſolche Kranke ſelten von den
ihnen
[494] ihnen ſonſt gewoͤhnlichen Gaben abgefuͤhret werden, weil
die Wirkſamkeit der Natur vorzuͤglich nach dem ge-
reitzten Theile zugeht. Dieſe Mittel erregen fliehende
Hitzen im Kopf, eine wallende Bewegung um die Ma-
gengegend, Kopfſchmerzen, Reitz zum Huſten, und
Huſten ſelbſt, wodurch das in die erſchlappten und ge-
reitzten Lungen getriebene Blut ausgeleeret wird.
Andere vermeiden dieſes Verfahren; geben aber
ſtarke Gaben Salpeter und Holderſulze oder Holderbee-
renſaft. In rheumatiſchen Entzuͤndungen, wenn ſie nur
nicht ſo oft verkennt wuͤrden, haͤtte ich nichts dagegen.
Allein in den reinen Entzuͤndungen wirken betraͤchtliche
Gaben Salpeter z. B. zu zwey Quentchen auf 24
Stunden, und jede Gabe Holderſulze nicht anderſt
als reitzend, beſonders wenn die letzte, wie gewoͤhn-
lich, angebrannt iſt. Warum will man endlich
Schweiß oder Dunſt erregen, ehe es vermoͤg dem na-
tuͤrlichen Gange der Entzuͤndungen nuͤtzlich iſt? — —
Endlich befiehlt man ſeinem Kranken, recht
fleißig Gerſtenſchleim, Salep und Mandelmilchen zu
trinken; lauter Dinge, die, wenn ſie nicht ſehr ver-
duͤnnt ſind, in dem erſten Zeitpunkt einer Entzuͤndung
zu viel naͤhren; aber außer dem, daß ſie die Kran-
ken in Geſtalt einer dicken Suppe nehmen, wird die
Salep und der Gerſtenſchleim noch meiſtens in Fleiſch-
bruͤhen dargereicht; da indeſſen ein Loth Gerſte, oder
ein halb Quentchen Salep in vier Pfund Waſſer ab-
gekocht, und mit Sauerhoͤnig, oder, da auch dieſer fuͤr
manche Hypochondriſche und Hyſteriſche zu reizend iſt,
einem andern angenehmen Safte verſuͤßet, hinlaͤnglich
ſind.
[495] ſind. — Die Mandelmilchen erzeugen allerley Zufaͤl-
le von Unreinigkeit, die faͤlſchlich der Krankheit zu-
geſchrieben werden, und werden ſie nicht ganz mild ge-
trunken, ſo ſchaden ſie durch ihre ranzige Saͤure.
Man ſollte ſie daher lieber ganz weglaſſen; das Gute,
was ſie haben, kann man ja durch andere Dinge er-
ſetzen.
Jezt iſt das Raͤthſel nimmer ſchwer zu loͤſen,
warum in der naͤmlichen Statt einige Aerzte ſo vie-
ler Aderlaͤßen, in einer gewoͤhnlichen Entzuͤndungskrank-
heit z. B. nicht weniger als neun bis ſechs und zwan-
zig beduͤrfen, da indeßen andere jedesmal mit einer,
zwey, drey, hoͤchſtens vier ihren Endzweck erreichen.
Einem einzigen alten Weibe von vier und achzig Jah-
ren, die ſchon einige Tage an den heftigſten Zufaͤllen
einer Lungenentzuͤndung vernachlaͤßiget da lag, mußte
ich innerhalb drey Tagen fuͤnf Mal Aderlaſſen; um des
hohen Alters willen machte ich jede nur zu ſechs Un-
zen; ſie hatte auf jede einige Erleichterung, welche
zwoͤlf bis vierzehn Stunden anhielt. Da aber ihre an
Leib und Seele verkruͤppelte Tochter durchaus keine
lauen Umſchlaͤge machen wollte, und unter dem Vor-
wande, als koͤnnte ein laͤngeres Leben der Alten ohne-
hin nur zur Laſt ſeyn, gar nichts, als kaltes Waſſer,
gab, nebſtbey mit ſchweren Federdecken dieſelbe zum
Schwitzen noͤthigte, ſo ſtarb ſie mit allen Zeichen ei-
ner rohen Entzuͤndung den vierten Tag von meinem
erſten Beſuche an. Eben ſo waren Hippokrates,
Galenus, Celſus, Alexander, Fernelius, Fo-
reſtus, Silvius de le Boe, Plater, Amatus
Lu-
[496]Luſitanus, Sydenham, Stahl, Hoffmann, Tiſ-
ſot, und unzaͤhlige andere vortreffliche Aerzte ſehr
maͤßige Aderlaͤßer.
§. 77.
Einige Tage, oft noch eine Stunde vor der
heftigſten Entzuͤndung war der Menſch noch geſund:
wie kann man alſo glauben, daß ihn die Blutmen-
ge krank gemacht habe? und hat ihn der Ueberfluß
an Saͤften nicht krank gemacht, warum richtet man
ſein einziges Beſtreben dahin, dieſe Menge zu ver-
mindern? Man will die entzuͤndliche Stockung, den
Krampf der Gefaͤße, die Dichtigkeit des Blutes he-
ben — gut: aber erſtlich, was iſt an dieſen Vo-
rausſetzungen Wahres? zweytens: hatte der Kranke
eine Stunde fruͤher bey der naͤmlichen Blutmaße we-
der dieſe Stockung, noch dieſen Krampf, noch dieſe
entzuͤndliche Dichtigkeit; folglich iſt die Blutmenge
nicht die Urſache davon; und folglich kann das Ader-
laſſen nicht als das eigentliche Mittel, ſondern bloß
nach dem Beyſpiele des Boerhave, Sydenham, Ga-
lenus, Hippokrates als Befoͤrderungsmittel ange-
ſehen werden. — Ich ſehe auch nicht ein, warum das
Aderlaſſen, außer den Faͤllen einer wahren, und ſich
durch manche und langwierige Zufaͤlle aͤußernden Voll-
bluͤtigkeit, nicht durch ein anderes Mittel ganz ent-
behrlich gemacht werden koͤnnte. Der Verfaßer vom
Mißbrauche des Aderlaßens fuͤhrt den Herrn
Marteau an, welcher noch zu ſeiner Zeit in Paris
bey Bruſtfluͤſſen und Seitenſtichen nur ſelten zur Ader
ließ
[497] ließ, und dem keiner daran geſtorben ſeyn ſoll. Eben
ſo bediente ſich James in den hitzigen Fiebern und im
Seitenſtiche mit gleichem Erfolge eines beſondern Mit-
tels, wobey die Blutausleerungen ſelten noͤthig wa-
ren. Helmont, der keine andere, als oͤrtliche, z. B.
durch Blutigel oder Schrepfen am kranken Theile zu-
ließ, ſagt: „Ich laße keinem, der den Seitenſtich
hat, zur Ader, und meine Heilart iſt ſicher, gewiß,
bequem und gruͤndlich. Keiner geht zu Grunde, da
indeßen ſo viele durch das Aderlaßen ſchwindſuͤchtig,
oder faſt alle Jahre ruͤckfaͤllig werden. Denn nach dem
Ausſpruche des Galenus ſterben alle diejenigen
ſchwindſuͤchtig, welche den vierzigſten Tag nicht voll-
kommen geheilet ſind. Ich aber heile in wenigen Ta-
gen vollſtaͤndig, ohne daß je ein Ruͤckfall erfolget.“*)
Er erlernte ſeine Kunſt von einem Bauern, und ſie
beſtund darinn, daß er Roßmiſt mit Bier verduͤnnt,
abgeſotten, und durchgeſeigt zu trinken gab, wodurch
alle in drey Tagen geheilt werden ſollen. In der
That werden die fluͤchtigen Laugenſalze, welche ver-
duͤnnt ſehr oft ungemein nuͤtzlich ſind, nur von ſehr
wenigen Aerzten empfohlen. — Gaͤbe es aber nicht
auch bey uns dergleichen unverſchaͤmte Großſprecher,
die ſich, trotz ſo mancher erwieſenen Todesfaͤlle, ſchrift-
lich und muͤndlich zu behaupten getrauen, daß ihnen
noch Keiner an einer gewißen hitzigen Krankheit ge-
ſtorben ſeye; ſo muͤßten uns dergleichen dreiſte An-
maßungen allerdings unſern Glauben abnoͤthigen.
§. 78.
Gall I. Band. J i
[498]
§. 78.
So viel bleibt indeßen gewiß, daß man nicht
nur in der Vollbluͤtigkeit von Verengerung der Ge-
faͤße, und in jener von Ausdehnung der Saͤfte, wel-
che beyde die gewoͤhnlichſten ſind; ſondern auch in der
wahren die Blutausleerungen noch durch mancherley
Kunſtgriffe, ſparſamer machen kann und muß, als
gemeinhin zu geſchehen pflegt.
Bey oͤrtlicher Vollbluͤtigkeit oder Entzuͤndung
wird man auch durch die oͤrtlichen Mittel und Aus-
leerungen am leichteſten das gewuͤnſchte Ziel errei-
chen. Vogel erzaͤhlt in ſeinen Beobachtungen einen
Fall, wo der Seitenſtich bey einer 36 jaͤhrigen Kind-
betterin am fuͤnften Tage nach der Geburth ſchon ei-
nige Tage vor dem Fieber zugegen war, was alle-
mal als ein Zeichen eines ohnehin nur oͤrtlichen, von
irgend einem fremden dahin verſetzten Stoffe, erreg-
ten Uebels gelten kann. Man ließ wegen der heftigen
Entzuͤndung zwey Mal zu Ader; das Blut hatte jedes
Mal eine ſtarke Speckhaut; die Kranke wurde aber
vielmehr unruhiger und aͤngſtlicher dadurch. Ein Bla-
ſenpflaſter hatte zwar einige Linderung gemacht; al-
lein die Schmerzen kamen bald wieder ſo heftig, daß
ſie ſich des Schreyens und Weinens nicht enthalten
konnte. Der Puls war geſchwind und klein, der Athem
ſehr kurz, ſo daß Vogel nichts Wenigers, als eine
Erſtickung oder den Brand befuͤrchtete. Aber nach
allen umſonſt angewandten Mitteln ſchafften Umſchlaͤ-
ge mit leinernen in laulicht warme Milch, in der et-
was Safran gekocht war, getauchten Tuͤchern augen-
blick-
[499] blickliche Erleichterung und ſtufenweiſe Abnahme der
Schmerzen. Es erfolgte ein guter und leichter Aus-
wurf, der bisher ganz gefehlt hatte. Der Puls wur-
de groͤßer und langſamer; die Haut feucht; die Schmer-
zen verzogen ſich nach der Schulter und in die Huͤf-
te; ſie bekam einen weichen Leib und von ſelbſt eini-
ge Stuhlgaͤnge; ſchlief und konnte ſich nach allen Sei-
ten frey bewegen; holte freyen Athem; der Harn
zeigte einen kritiſchen Bodenſatz; ſie ſchwitzte; die
Reinigung fand ſich wieder ein, und es kam Milch
in die beyden Bruͤſte; vorzuͤglich war die linke, auf
welcher Seite der Schmerz war, ſehr davon ausge-
dehnt.*) Die Umſchlaͤge erſchlappten den Ort, wo-
hin eben ſo, wie bey einer oͤrtlichen Ausleerung, die
ſtockenden Saͤfte ihren Zufluß nehmen mußten. —
Ein junger lebhafter Juͤngling hatte ſich durch einen
Sturz vom Pferde waͤhrend einem ſtarken Rauſche ei-
ne Anhaͤufung des Bluts im Kopfe zugezogen. Alle
die ſonderbarſten, erſchrecklichſten Zufaͤlle und Ruͤck-
faͤlle wurden eher nicht gut, bis man die linke Schlaf-
pulsader oͤffnete. Da er auf eine heftige Gemuͤthsbe-
wegung abermal ruͤckfaͤllig wurde, nuͤtzte haͤufiges
Blutabzapfen am Fuße wieder nichts, bis man die
Schlagader nochmals oͤffnete; waͤhrend dem Lauf des
Blutes verſchwanden nicht nur alle Uebel, ſondern es
erfolgte auch eine vollkommene Herſtellung.**)
Triller behandelte zu gleicher Zeit zwey Kran-
ke, die einerley Lebensart fuͤhrten, und einerley Krank-
J i 2heit
[500] heit hatten. Dem einen oͤffnete er die Ader am Ar-
me, und dem andern am Fuße der ſchmerzhaften
Seite. Der erſte erholte ſich bald, ungeachtet ſein Fie-
ber heftiger war. Der andere erhielt kaum Erleichte-
rung, obſchon er eine groͤßere Menge Blut verlohr.
Als man ihm den Tag darauf die Ader am Arm oͤff-
nete, wurden ſogleich die Zufaͤlle beruhigt, und die
gefaͤhrliche Krankheit endigte ſich um zwey Tage ſpaͤ-
ter durch eine gluͤckliche Entſcheidung. Ueber den Vor-
zug der oͤrtlichen, und der dem kranken Theile zu
naͤchſt gemachten Blutlaͤſſen iſt ſo viel geſchrieben wor-
den, daß ich es fuͤr uͤberfluͤßig finde, umſtaͤndlicher
davon zu reden. Nur iſt zu wiſſen, daß dieſelben in
Faͤllen, wo vielleicht der ganze Koͤrper mitleidet, dann
vorzuͤglich nuͤtzen, wenn ihnen eine, oder im Nothfal-
le zwey allgemeine Ausleerungen vorausgeſchickt wor-
den ſind.
Hieher gehoͤren die Blutausleerungen auf der
kranken Seite des Koͤrpers. Die Natur entſcheidet
zum Theil die Leberentzuͤndungen durch das Bluten
aus dem rechten Naſenloche, und die Milzentzuͤndungen
durch das Bluten aus dem linken. Galenus verſichert
auch, er habe das uͤbermaͤßige Bluten aus dem rech-
ten Naſenloche durch einen Schrepfkopf in den Wei-
chen der rechten Seite, und jenes aus dem linken Na-
ſenloche durch einen auf die linke Seite angebrachten
Schrepfkopf angehalten. In dem Seitenſtich, oder der
Lungenentzuͤndung iſt der Aderſchlag auf der kranken
Seite gewoͤhnlich haͤrter und krampfhafter: eben den
Unterſchied bemerket man im einſeitigen Kopfwehe;
Krank-
[501] Krankheiten der Leber und der Milz greifen nicht ſel-
ten blos die kranke Seite an; und erregen von der Fuß-
ſohle bis zum Schaͤdel die ſchmerzhafteſten Zufaͤlle, oh-
ne daß die andere Seite das geringſte davon empfin-
det, wie ich bey einer Frau, die eine Leberverhaͤrtung
hatte, geſehen habe, und Bordeu bey einem fuͤnf-
zehnjaͤhrigen Junge, der von Kindheit auf eine Be-
ſchwerlichkeit an der Milz bemerkte. Er klagte von Zeit
zu Zeit uͤber einen ſehr lebhaften Schmerz in der Wei-
che, und auf der ganzen linken Seite; der Aderſchlag
auf dieſer Seite war gewoͤhnlich, und beſonders bey
dem Anfalle des Schmerzens unordentlicher, lebhaf-
ter und geſpannter. — Die Fußgicht macht den Ader-
ſchlag auf dieſer Seite enger und krampfartiger. —
Von einer durch einen Splitter verurſachten Entzuͤn-
dung des Fingers, ſahe ich die ganze Seite heiß und
die eine Wange hochroth. Nicht ſelten habe ich mei-
nen Kranken vorausgeſagt, an welcher Seite ſie ſchwit-
zen oder am meiſten ſchwitzen werden. Der Puls an
dieſer Seite iſt voͤller, weicher und mehr wellenfoͤr-
mig. Da alſo das ganze Beſtreben der Natur nach
einer Seite hingeht, ſo werden nothwendig die na-
tuͤrlichen Bewegungen entweder in Unordnung gebracht,
oder das Uebel wird in gar nichts veraͤndert, wenn
man ſeine Heilart auf der geſunden Seite anbringt[.]
Auch davon findet man jetzt uͤberall Beyſpiele. — Andere
unbedeutendere Kunſtgriffe, als Blutigel, Reiben der
kranken Stelle waͤhrend dem Aderlaſſen, Blaſenpflaſter
unmittelbar auf den kranken Theil, beſonders nach ei-
ner reichlichen Blutlaͤße; fluͤchtige, erweichende Sal-
ben
[502] ben, zertheilende, aromatiſche, kalte Umſchlaͤge; zu-
ſammenziehende, kuͤhlende, gelind reitzende Mittel,
Baͤder, Klyſtire, u. ſ. w. in deren Wahl uns der Grad
der Entzuͤndung, die Natur des angegriffenen Theils,
und die Dauer des Uebels beſtimmen muͤßen, bieten
ſich jedem hilfbegierigen Arzte von ſelbſten dar.
§. 79.
Es giebt noch eine Vollbluͤtigkeit in Ruͤck-
ſicht der Kräfte (Plethora ad Vires). Sie iſt im
Ueberfluße von Blut zu ſuchen, zu deſſen Aufbewah-
rung und Verbreitung die Naturkraͤfte nicht hinrei-
chend ſind, folglich der Laſt unterliegen.*) Sehr
ſchwachen Leuten kann eine ſehr geringe Blutmenge
zur Laſt ſeyn, weil ihre Gefaͤße nicht im Stande ſind,
ſie im Umlauf zu erhalten. Dieſe Leute haben gerne
einen gedunſenen, ſchwammichten, teigigten Koͤrper;
das Geſicht iſt blaß, und wird nur durch Bewegung
roth; der Puls bleibt ſehr ſchwach, aber dennoch ge-
ſchwind; in der Ruhe athmen ſie frey; bey geringer
Bewegung aber werden ſie beaͤngſtiget, ſchwer; ſie koͤn-
nen weder Kaͤlte noch Waͤrme ertragen; ſind ſehr den
Leidenſchaften ergeben; ihre Adern ſchwellen leicht auf;
bald ſind ſie leicht auf den Fuͤßen und guter Laune;
bald aber traͤg, ſchwer, dumm, und verdruͤßlich;
bald haben ſie Abweichen, bald ſind ſie verſtopft. Da
bey ihnen die Saͤfte nicht gehoͤrig ausgearbeitet und
verkocht werden; da ſie bey ihrer Schwaͤche und Reitz-
bar-
[503] barkeit keine Veraͤnderung ohne Folge ertragen koͤn-
nen, und die Natur nicht Kraft genug hat, den er-
zeugten unreinen Stoff, ſo wie bey Starken, fortzu-
ſchaffen, ſo ſind ſie den Verwerfungen nach den ed-
leren Eingeweiden ſehr ausgeſetzt, weßwegen ſie zu
Abzehrungen und zum Brand geneigt ſind. Bey je-
der Gelegenheit aͤußern ſich bey ihnen Zufaͤlle der Voll-
bluͤtigkeit; wenn man ſie aber durch Blutausleerun-
gen zu heben ſucht, ſo zieht man ihnen Schwind-
ſuchten, Waſſerſuchten, Nervenfieber, uͤble Leibes-
beſchaffenheit als unvermeidliche Folgen zu. Im Gan-
zen haben ſie vieles mit denen, welche der Vollbluͤ-
tigkeit von Ausdehnung der Saͤfte ausgeſetzt ſind, ge-
mein.
Dieſes Mißverhaͤltniß zwiſchen den Kraͤften
und der Maſſe der Feuchtigkeiten wird gerade ſo er-
zeugt, wie die eigentliche wahre Entkraͤftung, es ſeye
denn, daß man auch die wahre Vollbluͤtigkeit hierher
rechnen wollte, worinn die Gefaͤße manchmal ſo un-
vermoͤgend ſind, daß wahre Waſſerſuchten entſtehen,
welche in dem erſten Zeitpunkt mit Aderlaͤſſen behan-
delt werden muͤſſen. Langwierige Gemuͤthsangelegen-
heiten, fruͤhzeitige, unmaͤßige Samenergießungen,
oͤfterer natuͤrlicher und kuͤnſtlicher Blutverluſt, wodurch
endlich die Gefaͤße ſo ſchwach werden, daß ſie den
Erſatz, der freylich ſehr bald, aber immer mit ſchlech-
term Blute geſchieht, nimmer ertragen koͤnnen, weß-
wegen ſolche Leute den Blutfluͤßen durch die Goldader,
die Mutterſcheide, die Lungen, die Naſe, alle zwey
drey
[504] drey Wochen ausgeſetzt ſind. — Dieſes ſind die vor-
nehmſten Urſachen dieſes Zuſtandes.
§. 80.
Da er nun aber auch oͤfters in ſehr ſchweren
Krankheiten, nachdem ſie ſchon eine geraume Zeit ge-
dauert haben, ſtatt hat, ſo ſetzt er nicht ſelten die
erfahrnſten Aerzte in Verlegenheit. Ich kenne nicht
leicht eine kitzlichere Lage, in welcher die Erkenntniß
des wahren Zuſtandes verſteckter, und unſer Entſchluß
von zugleich wichtigerm und entgegengeſetzterm Erfolg
waͤre. Wenn die gegenwaͤrtige Krankheit noch nicht
lange gedauert hat, und Verhaͤltnißmaͤßig wenige
Ausleerungen vorgegangen ſind, ſo wuͤrde mich der
Anſchein der aͤußerſten Entkraͤftung in Ruͤckſicht mei-
nes Heilverfahrens nicht irre machen. So war der
Fall, bey Cothenius, den de Haen erzaͤhlet. Co-
thenius ließ einem Prieſter, der an einer heftigen
boͤßartigen Lungenentzuͤndung darnieder lag, bey der
groͤßten Kraftloſigkeit, und zwar ſiebenmal nach ein-
ander zur Ader, und verhalf ihm dadurch in kurzem
zu ſeiner Geſundheit. Triller ließ am fuͤnften Tage
eines Seitenſtiches noch zur Ader bey einem Kranken,
der in allen Stuͤcken einem Toden aͤhnlich war; denn
ſein Geſicht war blaß; die Naſe ſpitzig; die Schlaͤfe
eingefallen; die Lippen blau, die Augen ſtarr, ſteif
und dunkel, der ganze Koͤrper kalt; die Bruſt aufge-
treten; der Leib hergegen eingezogen; der Puls aus-
ſetzend, abnehmend und ſo ſchwach, daß man ihn
oft gar nicht fuͤhlte; der Othem ganz unmerklich;
der
[505] der Hals und Kopf ſo kraftlos, daß er auf die Bruſt
vor, oder auf die Schultern zuruͤck fiel; kurz, er war
ein wahres Bild des Todes. Es war ihm zweymal
zur Ader gelaſſen. Dennoch ließ er die Fuͤße in hei-
ßes Waſſer ſetzen, darauf mit der Lanzette in eine
Ader am rechten Fuße ein großes Loch machen; aber
vergebens; denn es kam nicht ein Tropfen Blut her-
aus. Eben den Verſuch machte man auch zugleich am
linken Fuße mit eben ſo ſchlechtem Erfolge. Es muſte
hierauf wiederum heißes und endlich ſiedendes Waſſer
zugegoſſen werden, und durch dieſe Muͤhe brachte man
es doch noch ſo weit, daß Blaſen an den Fuͤßen in
die Hoͤhe traten, und die aͤußerſte Haut los gieng.
Jetzt lief Blut aus beyden Adern in einem lebhaften
Strale, und ſo bekam man uͤber zwoͤlf Unzen Blut
ins Waſſer. Dann ſah man mit Freuden, wie ſich
die ganze Lage des Kranken wunderbar aͤnderte und
beſſerte; gleich nachher bekam er eine lebhafte Geſichts-
farbe; ſein Koͤrper wurde wieder warm; er konnte
freyer Athem ſchoͤpfen; ſein Puls ſchlug ſtaͤrker und
ordentlicher, und der halbtode Jaͤger lebte wieder auf.
Den neunten Tag loͤſete ſich die ganze Krankheit durch
Auswurf, Schweiß und Urin vollkommen. Hier hat-
te zuverlaͤßig ein heftiger Krampf großen Antheil,
und innere ſowohl als aͤußerliche Krampfſtillende Mit-
tel wuͤrden wahrſcheinlich mit weniger Muͤhe den be-
ſten Erfolg gehabt haben.
Setzen wir nun aber den Fall, daß bey ſolchen
Umſtaͤnden eine entkraͤftende Krankheit ſchon lange ge-
dauert habe; daß entkraͤftende Urſachen, als: Man-
gel,
[506] gel, Kummer u. d. gl. vorausgegangen; daß ſchon
betraͤchtliche, vielleicht nur zu haͤufige Ausleerungen
gemacht worden ſeyen; ſo weis ich kein anders Mittel,
wie das Beduͤrfniß noch mehrerer Ausleerungen erkennt
werden koͤnnte, als ein gewiſſes praktiſches, dunkles
Gefuͤhl, welches uns oft ſicherer, als Grundſaͤtze,
durch die finſterſten Irrgaͤnge fuͤhrt. Bey Haſenoͤhrl
brauchte ein magerer, bleicher, mit ſchwacher Bruſt
begabter Wundarzt fuͤnf Aderlaͤßen zu ſeiner Wieder-
herſtellung von einem Entzuͤndungsfieber, obſchon er
einige Male in haͤufige Ohnmachten fiel, den kalten
Schweiß auf dem Geſicht, einen geſchnuͤrten harten
Puls hatte, und ſehr ſchwach war. Er bekam einen
Bauchfluß, viele Ohnmachten; der kalte Schweiß
lief ihm tropfenweis uͤber die Stirne und das Ange-
ſicht; der Puls ſchien manchmal ganz zu verſchwinden;
dabey hatte er Schmerzen in der Herzgrube, ein leich-
tes, dunkles Irreſeyn, Sehnenhuͤpfen, und das Ge-
ſicht war zuſammen gefallen. — — Was iſt da zu
thun? — — Der Puls wurde wieder hart; —
man ließ wieder Ader — und die Krankheit beſſerte
ſich; der Puls wurde weich und gleich, obſchon er
klein und geſchwind blieb, ſo bekam der Kranke doch
einen gekochten Auswurf und genaß.*) “Es giebt
Faͤlle, ſagt Planchon, wo eine Aderlaͤße entweder
unnuͤtz waͤre, oder um ſo viel toͤdtlicher werden koͤnn-
te, je dringender die Gefahr ſchon iſt. Dieſer trau-
rige Umſtand ereignet ſich zuweilen in den brennen-
den Fiebern, im Seitenſtiche ꝛc. Der Kranke ſcheint
keine
[507] keine fernere Aderlaͤße ertragen zu koͤnnen; aber der
heftige Schmerz an der Seite, die Bedruͤckung, das
beſchwerliche Athmen, die Gefahr zu erſticken erhei-
ſchen noch dieſe Ausleerung. Die Krankheit hat aber
ſchon große Vorſchritte gemacht; die Aderlaͤßen ſind
ſchon oͤfters wiederholt worden; die Kraͤfte des Kran-
ken ſind erſchoͤpft, und der Tod iſt unvermeidlich,
wenn nicht noch die Kunſt der unterdruͤckten Natur
zu Hilfe kommen kann. Die Aderlaͤße ſcheint noch
das einzige Mittel zu ſeyn: Aber der Erfolg iſt in ſo
einem dringenden Falle zweifelhaft. Es wuͤrde dem
Arzte zum Nachtheile gereichen, wenn der Kranke un-
ter der Lanzette ſtuͤrbe. Daher muß man die Freun-
de des Kranken von der großen Gefahr, und dem ein-
zigen noch uͤbrigen zweifelhaften Mittel unterrichten.
Auf dieſe Art habe ich einen Kranken retten geſehen,
welcher augenblicklich, wie ihm das Blut aus der
Ader floß, leichter zu Athmen anfieng, und von den
Todesaͤngſten befreyet wurde.„*)
Am Ende der ſchwerſten Krankheiten geſchieht
es oft, wo noch keine oder nur mangelhafte Entſchei-
dungen vorgegangen ſind, daß die gelaͤhmte Wirkſam-
keit der Natur gleichſam ſtille ſteht; alle Ab- und Aus-
oͤnderungen gehemmt werden, das Athmen kurz und
abgeſtoßen wird, und Ergießungen, Verwerfungen
nach den Eingeweiden, den Gehirnhoͤlen, dem Ruͤcken-
mark geſchehen. Das beſte Erweckungsmittel, wodurch
die Richtung der Fluͤſſigkeiten wieder nach der Ober-
flaͤche beſtimmt wird, iſt eine kleine Aderlaͤße von ei-
ner
[508] ner, zwey Unzen, die man mit andern der Natur der
gegenwaͤrtigen Krankheit anpaſſenden Mitteln unterſtuͤ-
tzet. Vielleicht wuͤrden andere krampfſtillende, oder
von außen angebrachte erſchlappende und zugleich rei-
tzende Dinge die naͤmliche Abſicht mit mehr Schonung
der Kraͤfte erreichen. Clerk hat bemerkt, daß der
Biſam alle drey Stunden zu fuͤnfzehn bis zwanzig
Gran gegeben in Faulfiebern oft ein herrliches Erwe-
ckungsmittel ſeye; wahrſcheinlich blos, weil dadurch
die ſchwachen, krampfhaften Bewegungen, welche bey
einem kleinen, geſchnuͤrten, harten oder haͤrtlichen Pulſe
die Saͤfte nach innen treiben, entzuͤndliche Stockun-
gen, ſelbſt Entzuͤndungen erzeugen, gehoben werden.
§. 81.
Außer der Blutmaße koͤnnen noch andere dem
Koͤrper einheimiſche ſowohl, als von Außen angekom-
mene Materien die Kraͤfte unterdruͤcken, wovon es
alſo nicht minder wichtig iſt, einige Beobachtungen
anzufuͤhren. Ich fahre mit derjenigen Entkraͤftung
fort, welche von einer groͤßern Menge Krankheitsma-
terie verurſacht wird, als die gegenwaͤrtigen Kraͤfte
zu bewegen, zu verarbeiten und fortzuſchaffen im
Stande ſind. Sie iſt im Grunde auch nichts anders,
als ein Mißverhaͤltniß der Kraͤfte zu gewißen mehr
oder weniger beweglichen Materien. Nach Verſchie-
denheit der Umſtaͤnde muß man alſo bald nur den
fremdartigen Stoff, bald aber auch die ganze Saft-
maße vermindern, um den bewegenden Kraͤften freyen
Raum und Wirkſamkeit zu verſchaffen.
Sehen
[509]
Sehen wir zu erſt, wie in aͤhnlichen Faͤllen die
Natur zu Werke gehe; vielleicht laͤſt ſich dann das
Verfahren der Kunſt mit mehr Ueberzeugung beſtim-
men. “Die Art, einen betraͤchtlichen Theil der Gicht-
materie auf die Gelenke abzuſetzen, bis das uͤbrige
auf eine gute Weiſe aus dem Koͤrper weggeſchafft wer-
den kann, iſt ein ganz gewoͤhnliches Mittel, deſſen ſich
die Natnr ſehr oft in vielen Faͤllen zu bedienen pflegt,
wo ſie durch die allzugroße Menge der Krankheitsma-
terie beynahe ganz unterdruͤckt wird. So z. B. ge-
ſchieht bey den zuſammenfließenden Blattern, wenn
der Ausbruch voͤllig erfolgt iſt, die erſte Verſetzung
nach dem Kopfe, rings um das Geſicht, den Hals
und Nacken, welche Theile dadurch betraͤchtlich an-
ſchwellen. So wie ſich aber die Schwulſt allmaͤhlich
ſetzt, ſo faͤngt ſie bey den Haͤnden und Armen an;
und vermindert ſie ſich da, ſo entſteht ſie an den Fuͤ-
ßen und Beinen, oder ſoll doch entſtehen. So lang
dieſe Geſchwuͤlſte ſehr ſtark ſind, iſt auch das Fieber
ganz gelind und regelmaͤßig, und es geht alles ganz
gut von ſtatten. Wofern aber ein ploͤtzlicher Schweiß
oder eine andere heftige Ausleerung dieſe Geſchwulſt
ehe vermindert, ehe die Natur die noch im Koͤrper
uͤbrige Krankheitsmaterie durchgearbeitet und ausge-
fuͤhrt hat, ſo zeigen ſich bald gefaͤhrliche Zufaͤlle;
halten hingegen dieſe Geſchwuͤlſte, ſonderlich an den
Fuͤßen ſo lange an, bis das zweyte Blatternfieber
ſich vermindert und verloren hat, ſo wird der Patient
mit wenig Beſchwerden, und ohne uͤble Folgen wie-
der hergeſtellt, und es geht dabey allemal deſto beſſer,
je
[510] je langſamer und mehr nach und nach die Geſchwuͤl-
ſte ſich vermindern, und dieſes auch, nachdem das
Fieber bereits, wenigſtens auf eine gewiſſe Art, ſich
verloren hat. Bey dieſer Schwulſt, wenn ſie ſo lan-
ge anhaͤlt, bis die Krankheit ganz voruͤber iſt, und
dann nach und nach vergeht, geht es dem Patienten
allemal beſſer, als wenn ſie durch ſtarkes Purgieren
oder Speichelfluß gehoben wird.„*)Grant haͤlt
dieſes Verfahren der Natur in den Blattern ſowohl
als in andern Fiebern fuͤr nichts anders, als eine einſt-
weilige Beſeitigung eines Theils des Krankheitsſtof-
fes, mittlerweilen der andere Theil gekocht und aus-
geleert wird; unterdeſſen geht mit der abgelagerten
Materie in dem Aufenthaltsorte ſchon einige Veraͤnde-
rung vor, worauf ſie wieder eingeſogen, erſt recht
durchgearbeitet und dann weggeſchaffet wird. So hat
er im Anfange eines Anfalls der Gicht, wenn das
Fieber die Nacht durch ſehr heftig war, des andern
Morgens die leidende Gelenke auch im Verhaͤltniß
mehr geſchwollen gefunden. Dieſe Geſchwulſt nimmt
bey jedem neuen Anfalle zu. Hat aber die Krankheit
ſchon einige betraͤchtliche Zeit gedauert, und das Fie-
ber nun ſehr abgenommen, ſo faͤngt auch die Geſchwulſt
der Gelenke an, ſich zu vermindern. Vornehmlich er-
folgt dieſes allemal, wenn der Patient durch die Ein-
ſaugung eine unruhige Nacht gehabt hat.
Es giebt alſo Faͤlle, wo der Krankheitsſtoff zu
haͤufig iſt, als daß er zu gleicher Zeit hinlaͤnglich be-
wegt
[411] wegt und verarbeitet werden koͤnnte. Sind nun die
Lebenskraͤfte in gutem Stande, ſo erregen ſie bald frey-
willige Ausleerungen auf verſchiedenen Weegen; bald
bedienen ſie ſich des Zellengewebes, um einſtweilige
Ablagerungen zu machen, bis ſie der erſten Buͤrde
entledigt, die Verararbeitung einer andern vornehmen
koͤnnen. — —
Geſchieht es nun aber, daß entweder eben die-
ſe Krankheitsmaterie, oder eine andere Urſache die
Kraͤfte in ihrer Urquelle angegriffen haben, ſo kann
ſich die Natur auf keine Weiſe, oder hoͤchſtens nur
ſehr unvollkommen uͤber die Krankheitsmaterie Mei-
ſter machen. Bey ſolchen Umſtaͤnden geht z. B. vom
Blatterngift auch noch ein Theil nach der Haut, aber
unter der Geſtalt brandiger, ſchwarzer, ſchwarzblau-
er mit Blutfluͤſſen begleiteter Waſſerblaſen; unter der
Geſtalt bleyfarbener mit einem ſchwaͤrzlichen und in
der Mitte eingeſunkenen Flecke verunſtalteten Blatter-
pocken, die eine waͤſſerichte ſcharfe Lymphe enthalten.
— Aber dieſe Zufaͤlle moͤgen noch ſo erſchrecklich ſeyn,
ſo muß der Arzt jedesmal demjenigen Umſtand begeg-
nen, welcher die Urſache der Entkraͤftung iſt. Bey
ſehr Vollbluͤtigen, Starken, Wohlgenaͤhrten, beſonders,
wenn die Zufaͤlle noch nicht zu lange angehalten haben,
werden Aderlaͤßen dieſer anſcheinenden Faͤulniß am
kraͤftigſten wiederſtehen. Hat man Urſache, das Uebel
einer ſchlimmen Gaͤhrung der Saͤfte und einem wirk-
lich faulen Stoffe zuzuſchreiben, ſo ſind die minerali-
ſchen Saͤuren das zuverlaͤßigſte Mittel. Einem hart-
naͤckigen Krampfe helfen Mohnſaft und laue Baͤder
ab.
[412] ab. In der gefaͤhrlichen Blatternepidemie, welche
wir im Spaͤtjahre 1790. in Wien gehabt haben, und
die durch eine beſondere Neigung zu Verſetzungen gro-
ße Verheerung unter den Kindern anrichtete, iſt mir
auch bey den bedenklichſten Zufaͤllen, von allen denen
keines geſtorben, denen ich entweder gleich anfaͤnglich
eine wunde Stelle gemacht und erhalten, oder aber
erſt bey annaͤhernder Gefahr ein ſcharfes Blaſenpfla-
ſter uͤber den ganzen Bauch gelegt hatte, wodurch ei-
ner großen Menge Krankheitsmaterie der Ausgang
verſchaffet wurde.
§. 82.
Die Faͤlle, wo groͤbere Unreinigkeiten, welche
die Kraͤfte ſehr oft bis zur Betaͤubung und zum Schlag-
fluß zerſtoͤhren, durch Brech- und Purgiermittel weg-
geſchafft werden muͤßen, obſchon der Kranke kaum die
geringſte Entleerung ertragen zu koͤnnen ſcheint, ſind
ſo bekannte und alltaͤgliche Erſcheinungen, daß ich nur
ſehr weniges davon ſagen will. Iſt z. B. der Puls
in Unreinigkeitskrankheiten klein, haſtig, ungleich,
und ſind die uͤbrigen Zeichen von Entkraͤftung nur zum
Theil zugegen, ſo liegt die Urſache wahrſcheinlicher
Weiſe nur im Magen und den Gedaͤrmen, und der
Puls hebt ſich, ſobald dieſe gereiniget ſind. Allein hun-
dert Male kann dieſes die Urſache ſeyn, ohne daß man
ein zuverlaͤßiges Kennzeichen am Pulſe haben kann;
daß man alſo bloß im Zuſammenhange mit den vor-
hergehenden und gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden, der Le-
bensart, der herrſchenden Epidemie, der Jahrszeit
u.
[513] u. ſ. w. einige Zuverlaͤßigkeit ſuchen muß. — Bey
Grant wurde ploͤtzlich Jemand mit Schmerzen und
Spannen des Unterleibes, mit Betaͤubung in den
Haͤnden, Schmerz, und einer groſſen Voͤlle und Schwe-
re im Kopf, Entkraͤftung und Niedergeſchlagenheit
befallen. Die Zunge war unrein, und voll Schleim,
und der Puls ſo ſchwach, daß man ihn nirgends fuͤh-
len konnte. Grant rettete ihn mit Brech- und Pur-
giermitteln. So haͤtten die Schlagfluͤßigen bey Medi-
cus, an denen das Gehirn geſund, und der Magen
von Galle uͤberſchwemmt gefunden worden ſind, ge-
rettet werden koͤnnen. Ueberhaupt werden die Kran-
ken, wenn der Magen von ſchleimichten faulen Unrei-
nigkeiten angefuͤllt iſt, manchmal auf einmal aller
Kraͤfte ſo ſehr beraubt, daß man dieſen Zuſtand ſehr
leicht fuͤr boͤsartig halten koͤnnte. Bey Kaͤmpf ſchien
ein halbjaͤhriges Kind in einem Anfall von Gichtern
wirklich tod zu ſeyn; aber durch reitzende, mit Seife
verſetzte Klyſtire u. ſ. w. ward es wieder zum Leben
zuruͤckgebracht, nachdem die Klyſtire und andere Mit-
tel einen pechartigen Unrath in großer Menge abge-
fuͤhrt hatten.
Nur das muß ich noch anmerken, daß es mit
dieſer Art Unreinigkeiten das naͤmliche Bewandniß
habe, wie mit der Vollbluͤtigkeit. Es koͤnnen eben-
falls haͤufige Ausleerungen vorhergegangen ſeyn; der
Kranke ſelbſt kann eine ſchwaͤchliche Leibesbeſchaffen-
heit haben; und dennoch iſt vorhandener Unrath die
einzige Urſache der Kraftloſigkeit und der uͤbrigen Zu-
faͤlle. So erzaͤhlt ebenfalls Kaͤmpf von einem Kin-
Gall I. Band K kde
[514] de von ſieben Wochen, welches man fuͤr verloren hielt,
weil ſeit zehn Tagen, die innern und aͤuſſern Gichter,
mit einem verdaͤchtigen Schlafen, Tag und Nacht bey
ihm abwechſelten. „Ungeachtet man mich verſicher-
te, ſagt er, daß es genug Abfuͤhrungen bekommen,
ſo ließ ich ihm dennoch ein mit Brechweinſtein geſchaͤrf-
tes Laxiermittel, mit einer abfuͤhrenden Seifenaufloͤ-
ſung abwechſelnd, und ſo oft es ſchlucken konnte, ge-
ben, und ihm alle zwey Stunden ein erweichendes Sei-
fenklyſtir beybringen. Dadurch war das mit Pituita
(rotzigem Schleime) gemiſchte Kinderpech ſo oft und haͤu-
fig ausgeleeret, daß es den Umſtehenden unbegreiflich
vorkam, wie die Gedaͤrme im Stande waren, es zu
faſſen, und wie das an ſich ſchwaͤchliche Kind, der
erſtaunenden Ausleerungen ungeachtet, zuſehends an
Kraͤften und Geſundheit zunehmen konnte. Aehnliche
Faͤlle ſind mir ſehr viele vorgekommen: man weiß
uͤbrigens ohnehin, wie kraftlos die Hypochondern be-
ſonders alsdenn ſind, wo gewiſſe, ſcharfe, gaͤhrende
Unreinigkeiten in Bewegung gerathen.
§. 83.
Von dieſen ſehr ſinnlichen Urſachen der Unterdruͤ-
ckung der Kraͤfte kehre ich wieder zu jenen zuruͤck,
welche den Scharfſinn des Arztes weit mehr auf die
Probe ſetzen. Dieſes ſind vorzuͤglich jene Faͤlle, wel-
che die, auf die bloſſen Zufaͤlle einer Krankheit auf-
merkſamen Aerzte, gewoͤhnlich zu einer faͤulnißwidri-
gen und herzſtaͤrkenden Heilart verleiten. Ich habe
es ſchon einige Male geſagt, und wiederhole es um der
Wich-
[515] Wichtigkeit der Sache willen noch ein Mal, daß der
Arzt aus weit weſentlichern Quellen, als aus der Ge-
ſtalt der Zufaͤlle, ſeine Heilanzeigen ſchoͤpfen muͤſſe. —
In dem epidemiſchen Fieber, welches 1623 zu Mont-
pellier eine ſchreckliche Niederlage machte, ſtarben faſt
die Haͤlfte der Kranken, beſonders aber diejenigen,
denen die Druͤſen hinter den Ohren auftraten, wel-
ches um den neunten oder eilften Tag zu geſchehen
pflegte; dieſe waren in zwey Tage alle verloren. Nach-
dem Riveri von nichts einen guten Erfolg erhalten
konnte, dachte er bey ſich: der Ort, durch welchen
die Materie einen Ausgang ſucht, iſt nicht groß ge-
nug, ſie zu faſſen, weil ſich eine ſolche Menge im In-
nern des Koͤrpers vorfindet, das ſie den Kranken ganz
unterdruͤckt. Der Anzeige zu Ausleerungen wider-
ſprach aber die aͤuſſerſte Kraftloſigkeit der Kranken;
denn dieſe war ſo groß, daß ſie bereits im Todes-
kampfe zu liegen ſchienen, und dieſem auch wirklich
in Kurzem unterlagen. Zudem hatte man zuvor Blut
genug weggelaſſen. Dem ungeachtet ſchien ihm die
Entkraͤftung mehr eine Unterdruͤckung der Kraͤfte,
als ein wahrer Mangel derſelben zu ſeyn. Er ver-
muthete, die Kraͤfte ſeyen nur deßwegen ſo ploͤtzlich
und ſo tief geſunken, weil ſich die Natur der Laſt nicht
entledigen konnte, und daß man ihr zu Hilfe kommen
koͤnnte, wenn man einen Theil derſelben wegnaͤhme.
Den erſten Kranken ließ er Anfangs nur drey Unzen
Blut weg. Nach drey oder vier Stunden fand er den
Puls kraftvoller. Er ließ alſo nochmals ſechs Unzen
weg. Der Puls wurde wieder beſſer und ſtaͤrker;
K k 2das
[516] das abgezapfte Blut ſah ſehr verdorben aus; den an-
dern Tag gab er zum Abfuͤhren; und ſo war dieſer,
und in Zukunft alle uͤbrigen, die Ohrendruͤſenge-
ſchwuͤlſte hatten, geheilt.
Wo Burſeri von den Verwerfungen, nament-
lich von den Ohrendruͤſengeſchwuͤlſten redet, empfiehlt
er im Falle, wo ſie heftig ſchmerzen, zu groß, oder
gar roth ſind, zur Ader zu laſſen, obſchon die Zei-
chen der Vollbluͤtigkeit mangeln, und der Puls klein
und ſchwach iſt; denn oͤfters hebt ſich der Aderſchlag
nach einem Blutverluſt von wenig Unzen, und wird
kraftvoller; die Kraͤfte ſcheinen da mehr unterdruͤckt
als mangelhaft zu ſeyn. Iſt die Schwulſt nur durch
Ausbreitung des Uebels (per Epigeneſin) entſtanden,
ſo ſeye die Aderlaͤße deſto nothwendiger. Dieſes
that auch Traverſarius in den 1709. bis 1711.
herrſchenden Fiebern. Pujati fuͤhrt ſogar Beobach-
tungen an, daß man nicht nur im Anfange, ſondern
auch bey der Zunahme und dem Fortgange der
Schwulſt Blut laſſen koͤnne. Eben ſo, ſagt Burſe-
ri, ſeye ihnen Azogvidi, ohne jemals einen Schaden
davon beobachtet zu haben, zu Hilfe gekommen. Die-
ſe Schwuͤlſte entſtuͤnden vornehmlich dann, wenn im
Anfange die erforderlichen Blutlaͤßen vernachlaͤßiget
worden ſind, und ſeyen alſo oͤfters die Folge eines
entzuͤndlichen zu haͤufigen Blutes.*)
§. 89.
[517]
§. 89.
Aehnliche Erfahrungen brachten den Haen auf
folgende Gedanken: „Man muß die wahre Schwaͤche
und die ſcheinbare gehoͤrig unterſcheiden, ehe man be-
hauptet, die Kranken ſind ſchwach. Dieſe wahre
Schwaͤche iſt in boͤsartigen Krankheiten ſo ſelten, daß
man ſich wundern muß, wie derſelben in ſolchen Krank-
heiten ſo oft gedacht wird. Wer ſeine eigene Er-
fahrung ſowohl, als fremde daruͤber unpartheyiſch zu
Rathe zieht, wird mir hierinnen Recht geben muͤſſen.
Wie oft iſt nicht der Fall in hitzigen Krankheiten,
daß bey gefaͤhrlichen Verſetzungen der Krankheitsma-
terie, wenn die Todesgefahr ſchon vor der Thuͤre zu
ſeyn ſcheint, und man die Frage aufwirft, ob man
zur Verhuͤtung derſelben das Aeußerſte wagen, und
dem Kranken noch zur Ader laßen ſolle, welches man
außer der dringendſten Gefahr nie wagen wuͤrde, das
alsdann vorgenommene und wiederholte Aderlaßen,
von dem Kranken ſo gut uͤberſtanden wird, daß er,
anſtatt, daß er vorher ganz ſchwach und kraftlos
zu ſeyn ſchien, nunmehr nach der Aderlaͤß ſo viel
Kraͤfte erhaͤlt, daß er die Kochung der Krankheits-
materie gluͤcklich uͤberſteht. — — Es folgt auch da-
raus, wie ſchwer es iſt, die Zeichen der wahren Ent-
kraͤftung zu beſtimmen. Wenn nicht offenbar erſchoͤ-
pfende Urſachen vorhergegangen ſind, als: große Ent-
leerungen, langwierige Krankheiten u. ſ. w. ſo iſt
gewiß auch der hoͤchſte Grad von Schwaͤche nur Taͤu-
ſchung. Wie haͤtten ſonſt Sydenham, Riviere,
Botallus, Mareſcotti und Sinapius bloß durch
reich-
[518] reichliches Blutlaſſen bis zu Ohnmachten die gefaͤhr-
lichſten Peſtkranken mit oder ohne Peſtbeulen retten
koͤnnen? Folglich, muß der Begriff der Boͤsartig-
keit ſchlechterdings mit dem Verfall der Kraͤfte nicht
mehr in Verbindung gebracht werden, als in ſo fern
ſie mit andern uͤblen Zufaͤllen ein ſchlimmer Zufall
ſind, aber bey aller Boͤsartigkeit dennoch abweſend
ſeyn koͤnnen.„ Dieſes letztere beobachtete man in der
Peſt 1713. Einige wurden gleich Anfangs nach ge-
lindem Froſte und etwas Kopfwehe, ohne darauf fol-
gende Hitze oder Fieber mit Peſtbeulen und Peſtkohlen
befallen; ſind einige Zeit herumgegangen, haben ge-
geſſen, gearbeitet, als wenn ihnen nichts geweſen waͤ-
re; zuletzt aber folgte die gaͤhlinge Entkraͤftung mit
der Erſcheinung der Peſtbeulen und Peſtkohlen (Kar-
funkeln) worauf ſie oft gaͤhlings den Geiſt aufgaben.
Bey Diemerbröck klagte der Pater Felizian, ein
Franziskaner, uͤber nichts, als nur uͤber Beklem-
mung und Bangigkeit, die ſo heftig war, daß er
ſagte, es waͤre ihm, als ob ſein Herz unter einer Preſ-
ſe laͤge, und zuſammen geſchraubt wuͤrde. Er bekam
endlich am Schenkel zwey kleine Peſtkohlen, und in
den Weichen hatte er ſehr tief liegende Beulen. Da-
bey hatte er jedoch ziemliche Kraͤfte, und ſehr wenig
Mattigkeit. Am vierten Tage ſeiner Krankheit gieng
er noch mit Diemerbröck ohne zu taumeln recht herz-
haft herum, und wieß ihm purpurrothe Flecken auf
der Bruſt und am Arme. Gleich darauf ſtarb er.
Das naͤmliche ereignete ſich bey mehrern.
Der
[519]
Der Zuſatz, wodurch der Begriff der Boͤsar-
tigkeit beſtimmt werden ſollte, daß naͤmlich die gaͤh-
linge Entkraͤftung ohne bekannte Urſache ſich ereigne,
beweiſet mehr nicht, als daß uns das betaͤubende, die
Lebenskraͤfte laͤhmende Weſen der peſtilentialiſchen Fie-
ber nicht allemal ſo, wie einige Gran Mohnſaft, oder
einige Pfund Blut, in die Sinne faͤllt. Von der ge-
ringſten Uebelkeit und Neigung zum Erbrechen, wel-
che das vom Unterleibe aufſteigende betaͤubende Weſen
erzeugt, bis zum Scheintode, welchen der Kohlen-
dampf und alle uͤbrigen betaͤubenden ſichtbaren und un-
ſichtbaren Gifte verurſachen, iſt alles nichts, als Be-
taͤubung und Unterdruͤckung der Lebenskraͤfte, deren
Verfall bald langſamer, bald geſchwinder in die Sin-
ne faͤllt, je nachdem die [Lebensverrichtungen] auf ver-
ſchiedene Weiſe angegriffen werden. Sind wir im
Stande, dieſes Weſen durch ein eignes Gegengift zu
entkraͤften, oder wegzuſchaffen, ehe neue Urſachen
ſchlimmerer Folgen erzeugt worden ſind, ſo erhaͤlt der
Kranke in wenig Stunden, ja manchmal eben ſo gaͤh-
lings ſeine vorige Kraft wieder, als er ſie verloren
hatte. Einige Loͤffelvoll Zitronenſaͤure geben der Katze
all die Kraft wieder, welche ihr der Schierling genom-
men hatte. Sydenham ſchaffte in einer peſtilentiali-
ſchen Epidemie das entkraͤftende, boͤsartige Weſen
durch einen lange anhaltenden, ſtarken Schweiß weg.
Huxham, wenn er bey Kranken, die an boͤsartigen
Fiebern darnieder lagen, den Zunder der Boͤßartig-
keit aufgefangen hatte, und Eckel, Uebligkeit und
Kraftloſigkeit zu empfinden anfieng, ritt auf eine er-
habne
[520] habne Gegend in die freye Luft, und zerſtreute oder
entkraͤftete dadurch jenen boͤsartigen Krankheitsſtoff.
Sobald in den ſchleichenden boͤsartigen Nervenfiebern
eine Harnſtrenge, oder ein brandiges Geſchwuͤr ent-
ſteht, und die Krankheitsmaterie dadurch wenigſtens
zum Theil entweder abgelagert oder ausgeleeret wird;
ſo werden Kopf und Bruſt freyer, das Fieber laͤßt
nach, der Puls wird weiter, ſtaͤrker, gleicher, das
Athmen leichter, freyer, ruhiger, die Haut weich
und feucht. Da aber dieſe Art Fieber allermeiſt nur
ſchlechtbeſchaffene und erſchoͤpfte Menſchen zu befallen
pflegt, ſo ſieht man leicht ein, warum man der Na-
tur durch wirklich ſtaͤrkende angenehme Dinge zu Hil-
fe kommen muͤße; warum weder Blut, noch ſonſt
ein Ueberfluß von rohen Saͤften hier das entkraͤften-
de Weſen ſeye, und folglich weder durch Blutauslee-
rungen, noch durch Brech- und Purgiermittel wegge-
ſchaft werden koͤnne. Der ſcharfe, ſeine, zaͤhe, faule,
den Nerven hoͤchſt feindſelige Stoff will nach ſeiner
eigenen Weiſe ausgeleert werden. Huxham hielt
nichts fuͤr ſo guͤnſtig, als einen haͤufigen Speichelfluß
ohne Geſchwuͤrchen. „Wo dieſer eintritt, ſagte er,
und die Haut maͤßig feucht iſt, da gebe ich kaum je-
mals die Hoffnung auf, ſo betaͤubt, dumm und ent-
kraͤftet auch immer der Kranke zu ſeyn ſcheinet.„
Sehr gerne wirft die Natur dieſen Stoff auf das Zel-
lengewebe beſonders der Hinterbackenmuskeln, und
dieſes zwar ſchon manchmal die erſten Tage der Kran-
heit; nach einer vollſtaͤndigen Kochung geht er auch
durch den Harn und durch Stuͤhle weg. — — Man
thut
[521] thut alſo recht, das Wort Bösartig mit Vogel bloß
nach ſeiner woͤrtlichen Bedeutung beyzubehalten, und
denjenigen Zuſtand eines Fiebers boͤßartig zu nennen,
wenn aus dem Zuſammenfluße und der Uebereinſtim-
mung gewißer Erſcheinungen und Zufaͤlle, welche die
Erfahrung bey gleichen Umſtaͤnden jederzeit als ge-
faͤhrlich bezeichnet hat, eine wahre Gefahr der Krank-
heit fließet, die entweder ſchlechterdings zum Tode
fuͤhrt, oder doch mit vieler Schwierigkeit, und mei-
ſtens auf eine unvollkommene und bedenkliche Weiſe
gehoben wird. — Nur wird auch hier die Boͤsartig-
keit, je nachdem die Heilkunde zu einer Zeit, in einer
Gegend, unter den Haͤnden verſchiedener Aerzte mehr
oder weniger vollkommen iſt, unendlich verſchiedene
Kennzeichen bekommen; Heute und Dieſem werden al-
le Kranken zu Grunde gehen, die Morgen und einem
Andern alle geneſen. Folglich waͤre es beßer, um we-
ſentlichere Dinge, als um Worte zu ſtreiten, und die
Natur einer Krankheit aus allzeitigen, unveraͤnderli-
chen Umſtaͤnden, welche den geraden Weeg zur Heil-
art fuͤhren, zu beſtimmen, — was ich im naͤchſten
Kapitel zu leiſten verſuchen werde.
§. 85.
Obſchon man nun das Daſeyn ſolcher Dinge
nicht leugnen kann, welche die Kraͤfte in ſehr kurzer
Zeit nicht nur zu unterdruͤcken, ſondern wirklich zu zer-
nichten vermoͤgend ſind, wie z. B. traurige Leidenſchaf-
ten u. d. gl.; ſo kann man doch im Allgemeinen alle-
mal entweder ganz allein oder zum Theil eine Unter-
druͤ-
[522] druͤckung annehmen, wenn ohne vorher erlittene be-
traͤchtliche Ausleerungen, lange anhaltender Krank-
heit, Mangel u. d. gl. die Kraͤfte ſehr geſunken ſind;
wenn auch bey dergleichen Umſtaͤnden die Entkraͤf-
tung dennoch verhaͤltnißmaͤßig zu groß iſt, und zu
ſchnell zugenommen hat; wenn die Zufaͤlle bald eine
mehr oder weniger thaͤtige Wirkſamkeit, bald eine
gaͤnzliche Erlegenheit der Natur verrathen, ſo, daß
z. B. der Aderſchlag zuweilen vollkommen verſchwindet,
zuweilen ausſetzet, zuweilen voll, weich und ſtark, und
zuweilen wieder klein, zuſammengezogen und ſchwach
wird; einzelne Verrichtungen in verhaͤltnißmaͤßig beſ-
ſerm Stande ſind, als es das Ganze zu erlauben
ſcheint, die Sprache z. B. bey aller uͤbrigen Hinfaͤl-
ligkeit dennoch ſtark und lebhaft iſt; in den inneren
Theilen eine große Hitze, in den aͤußern eine große
Kaͤlte empfunden wird; wenn uͤberhaupt keine Stetig-
keit in den Zufaͤllen herrſchet; wenn bey einer herr-
ſchenden Volkskrankheit die Starken eben ſo wie die
Schwaͤchlichen entkraͤftet werden, oder ſelbſt die ſtaͤrk-
ſten, geſuͤndeſten Leute fruͤher und ſchwerer unterlie-
gen; wenn ſtaͤrkende, naͤhrende, hitzende Dinge ſcha-
den; wenn die Krankheit Ausleerungen oder Verwer-
fungen mit Erleichterung macht oder ertraͤgt; wenn
nach dieſen Entſcheidungen die Wiedergeneſung ge-
ſchwinder von ſtatten geht, als bey einer wahren
Entkraͤftung zu geſchehen pflegt.
Von
[523]
Von der Erſchoͤpfung der Kraͤfte.
§. 89
Ich glaube nicht, daß es noch noͤthig ſeyn wird,
von der Erſchoͤpfung der Kraͤfte, oder der wahren
Entkraͤftung ſehr umſtaͤndlich zu handeln. Langwieri-
ge, ſchwere Krankheiten, uͤbermaͤßige oder lange an-
haltende Ausleerungen des Blutes, des Samens, des
Schweißes, des Harns, der Stuͤhle, des Speichels,
Erbrechen, weißer Fluß, langwierige Katarrhe mit
haͤufigem ſchleimichtem oder eiterichtem Auswurf; Man-
gel an Nahrungsmittel, oder innere Urſachen, wo-
durch die Ernaͤhrung des Koͤrpers gehindert wird;
langes Wachen, traurige Leidenſchaften, als: Kum-
mer, Zorn, Furcht, Schrecken, unbefriedigte Sehn-
ſucht; Dinge, welche die Saͤfte ſchnell oder langſam
aufloͤſen, die Lebensgeiſter zerſtieben, oder ihre Wir-
kung auf gewiße Theile hindern, die die feſten Theile
laͤhmen, u. ſ. w. ſind die eigenthuͤmlichen Urſachen ei-
ner wahren Entkraͤftung.
Die Stufen ſind verſchieden. Auf einem be-
traͤchtlichen Grade koͤnnen die Kranken kaum mehr ſte-
hen, ſo, daß ſie beym Gehen wanken; ihre Sinnen
und Denkkraft werden benebelt; ſie empfinden eine
Geneigtheit zum Irreſeyn und ſind vergeſſen; ihre
Glieder ſind gewißermaßen betaͤubt und keiner anhal-
tenden Bewegung oder ruhigen Stellung faͤhig; ſie
koͤnnen nicht ſchlafen, und athmen ſchwer; meiſten[s]
ſind ſie verſtopft, und haben gerne eine trockene Haut.
Zuweilen bluten ſie aus der Naſe, oder andern Thei-
len
[524] len. Lieutaud ſahe eine Blutung aus der Harnroͤhre
bey einem Wolluͤſtling. Sie verfallen gerne in Ohnmach-
ten; ſind ſehr mißmuthig und verzagt; ſterben bald
gaͤhlings unvermuthet, bald gehen ihrem Tode oͤftere
und ſchwere Ohnmachten vorher. —
Bey Galenus verfiel ein fuͤnf und zwanzig jaͤh-
riger, hagerer, abgezehrter, trockner Mann aus er-
ſchoͤpfenden Urſachen in ein eintaͤgiges Fieber. Die ſo
genannten Diatritarii*) ließen ihn zwey Tage ohne
alle Nahrung, und hatten es auch ſo beym dritten
Anfalle beſchloſſen. Nun kam aber Galenus dazu;
dieſer ſah, daß der Kranke ſchon voͤllig das Hyppo-
kratiſche Ausſehen hatte, und befuͤrchtete daher eine
Abzehrung oder das hektiſche Fieber; er gab ihm et-
was leicht Nahrhaftes zu ſchluͤrfen; das Fieber kam
zur gewoͤhnlichen Stunde mit einem ſehr kleinen Pulſe
und ſo kalten Gliedern, daß er kaum zu erwaͤrmen
war. Den vierten Tag gab er ihm die naͤmliche Nah-
rung zweymal, den fuͤnften Tag eine ſtaͤrkere. So
fuhr er bis den eilften Tag fort, da indeſſen die an-
dern Aerzte unaufhoͤrlich ſchryen, daß der Kranke zu
viel genaͤhrt werde. Galenus hatte beobachtet, daß
der Puls etwas an Kraft zugenommen habe, und
entſchloß ſich daher, ſeine Gegner durch eine Thatſa-
che zu widerlegen. Er gab alſo dem Kranken gar kei-
ne Nahrung; da nun um die Zeit des Anfalles die
uͤbrigen Aerzte alle beyſammen waren, zog er den
Schluͤßel von der Thuͤre. Das Fieber kam — aber
der
[525] der Kranke war ohne Puls, ganz erſtarrt, konnte
nicht reden, und vernahm nichts von allem, was um
ihn vorgieng. Er oͤffnete ihm den Mund, und goß ihm
einen Gerſtentrank mit weißem Weine gemiſcht ein;
alſobald oͤffnete der Kranke die Augen, fieng an zu
hoͤren, und zu reden, und erkannte die Umſtehenden.
Dann gab er ihm in Wein getunktes Brod, und
den ſiebenzehnten Tag befand ſich der Kranke wohl.
Dieſes iſt ein Beweiß, wie wenig die Natur
in der wahren Entkraͤftung vermag, und zugleich ei-
ne Lehre, wie ſich der Arzt dabey in Ruͤckſicht der Le-
bensordnung zu verhalten habe. „Der Arzt ſoll ſich-
uͤberall und allzeit zur Pflicht machen, ſagt Celſus,
auf die Kraͤfte des Kranken aufmerkſam zu ſeyn, da-
mit er ſie, ſo lange ſie uͤbermaͤßig ſind, mittelſt der
Enthaltſamkeit in Schranken halten, und ihnen, wo ein
zu großer Verfall derſelben zu befuͤrchten iſt, alſobald
mit angemeßner Nahrung zu Hilfe kommen koͤnne.
Denn man muß den Kranken weder mit Ueberfluß
uͤberladen, noch den Geſchwaͤchten durch Hunger zu
Grunde richten.“
Die wichtigſte Regel hierin iſt dieſe, daß die
Nahrungsmittel jedesmal mit den Daukraͤften in ge-
radem Verhaͤltniſſe ſtehen muͤſſen. Nun aber ſind die
Daukraͤften auf der hoͤchſten Hoͤhe der Krankheit ſo zu
ſagen ganz unthaͤtig, folglich muß man in dieſem
Zeitpunkt den Kranken gar keine Nahrung geben: in
der aͤußerſten Schwaͤche muß die Nahrung ebenfalls
ſchwach und mit der Zunahme der Kraͤfte ſtaͤrker ein-
gerichtet werden. Niemand kann, wie ich ſchon oben
ge-
[526] geſagt habe, beſſere Maßregeln geben, als ſie Hippokra-
tes gegeben hat. Ich will hier nur die Folgen an-
fuͤhren, wie er ſie beſchreibt, wenn eine fuͤr die Kraͤf-
te zu ſtarke Nahrung gereichet wird. “Dann und
wann ziehen ſich hierauf von dem Kopfe rohe und von
der Bruſt gallichte Saͤfte zuſammen, und ſie verfal-
len in eine Schlafloſigkeit, woruͤber die Krankheit
nicht reifet, ſie werden niedergeſchlagen, es ſchmeckt
ihnen bitter im Munde, ſie ſind verwirrt, ihre Au-
gen funkeln, es ſauſt ihnen vor den Ohren, ihre aͤu-
ßern Gliedmaßen werden kalt, der Urin iſt roh und
ungekocht, der Auswurf duͤnne, ſalzicht, einfaͤrbig
und ſparſam, ſie ſchwitzen um den Hals, ſie waͤlzen
ſich aͤngſtlich herum; die Luft ziſcht und pfeift beym
Ausathmen, ſie athmen geſchwind oder auch ſehr tief;
die Augenbraunen ſind wie bey den Zornigen zuſam-
men gezogen; ſie verfallen in ſchlimme Ohnmachten;
ſie entbloͤßen ſich die Bruſt; ſie zittern mit den Haͤn-
den, bisweilen aber bewegt ſich auch die Unterlippe.
Erſcheinen dieſe Zufaͤlle ſchon im Anfange: ſo verkuͤn-
digen ſie eine inſtehende heftige Raſerey, und die
Kranken ſterben meiſtentheils. Die aber ja durchkom-
men, entfliehen dem Tode unter Beguͤnſtigung eines
Abſceſſes, eines Naſenblutens, oder auch bey dem
Auswurfe eines dicken Eiters; auſſerdem aber nicht.„*)
Die Ruͤckenmarkauszehrung (conſumptio dorſa-
lis) iſt eine beſondere Art der Zehrung, deren naͤchſte
Urſache in einer allgemeinen Schwaͤche der Nerven
liegt. — Eine allgemeine Erſchlaffung der Fibern,
eine
[527] eine Schwaͤche des ganzen Nervenſyſtems, eine in den
Saͤften vorgegangene nachtheilige Veraͤnderung; die-
ſes ſind nach Tiſſot die Urſachen des Uebels, welches
von der Schwaͤche aller Theile herruͤhret. Wie ſchwer
hier die Kraͤfte zu erſetzen ſeyen, wird man einſehen,
wenn man mit Tiſſot bedenkt, daß Nahrungsmittel
und Arzneyen nichts anders ſind, als die Werkzeuge,
deren ſich die Natur bedienet, ſich zu unterhalten,
den erlittenen Verluſt zu erſetzen, und den im Koͤrper
ſich aͤußernden Unordnungen abzuhelfen. “Ich habe
Erfahrungen von Maͤgen gehabt, ſagt er, die der-
maſſen geſchwaͤcht geweſen, daß die Speiſen ſo unbe-
arbeitet darinn blieben, wie in einer hoͤlzernen Schuͤſ-
ſel. Bisweilen fuͤgen ſie ſich darinn nach den Geſe-
tzen ihrer ſpezifiſchen Schwere; und wenn endlich eine
neue Portion durch ihr Gewicht den Magen reitzt,
ſo gehen ſie auf eine gelinde Anſtrengung nach und
nach wieder ab, und zwar jede Speiſe beſonders.
Zu andern Zeiten aber verderben ſie nach einem allzu
langen Aufenthalt im Magen, und gehen in Geſtalt
vermoderter Stuͤcke durch Erbrechen wieder ab. Was
hilft einen bey ſolchen Umſtaͤnden Eſſen und Trinken?
— — — Die Erſchoͤpfung der Kraͤfte, faͤhrt er
fort, iſt nicht bey allen in gleicher Maſſe betraͤchtlich.
Es giebt Leute, wo ſelbige nur geſchwaͤcht, nicht aber
ganz zerſtoͤhrt ſind; und hier koͤnnen naͤhrende Sachen
und ſelbſt Arzneyen etwas ausrichten. Durch erſtere
hilft ſich der noch vorhandene Naturreſt gewiſſermaſ-
ſen wieder auf; letztere aber muͤſſen von derjenigen
Gattung ſeyn, welche die beynahe verloͤſchten Funken
der
[456] der Lebenskraft wieder anfachen koͤnnen. Durch die-
ſen fremden Beyſtand hilft man dem Werkmeiſter, daß
er an ſeinem Werke fortarbeiten kann, und doch ſo
wenig Kraͤfte dabey zuſetzt, als immer moͤglich iſt;
das ſind gleichſam die Sporen, die man einem mat-
ten Pferde giebt, wenn man will, daß es in einem
ſchlimmen Weege ſeine Kraͤfte anſtrengen ſoll. Aber
wie viel Geſchicklichkeit und Klugheit gehoͤrt nicht da-
zu, um mit einem Blicke die Tiefe des Moraſtes,
und die Kraft des Thieres zu uͤberſehen, und beydes
mit einander zu vergleichen! Ueberſteigt das Werk
ſeine Kraͤfte, ſo wird es zwar dieſer Spornſtreich noͤ-
thigen, ſich uͤber Vermoͤgen anzugreifen; koͤmmt es
aber dadurch dennoch nicht auf den guten Weeg, ſo
entgehen ihm zuletzt alle Kraͤfte.” Man findet in ſei-
nen Schriften, beſonders von der Selbſtbefleckung zahl-
reiche Beyſpiele, wo nach dieſen Grundſaͤtzen verfah-
ren worden iſt, weßwegen ich hier kuͤrzer bin, und
die Leſer dorthin verweiſe.
Die naͤmlichen Maßregeln muͤſſen auch beobach-
tet werden, wenn der verwickelte Zuſtand von Ermuͤ-
dung und Erſchoͤpfung, oder von Unterdruͤckung und Er-
ſchoͤpfung, oder von allen drey Arten der Entkraͤftungen
eintrift, wie dieſes z. B. in den ſchleichenden Nerven-
fiebern der Fall iſt. Da dergleichen Krankheiten ſchon
groͤſtentheils erſchoͤpfte Koͤrper befallen, ſo muß da
nothwendig eine ſtrenge Enthaltſamkeit deſto nachthei-
liger ſeyn. Burſeri will daher, man ſolle dem Kran-
ken hie und da, auch wo er alle Nahrung verabſcheu-
et, mit Gewalt ein duͤnne, gute Nahrung eingeben;
“denn
[529] “denn, ſagt er, nirgendwo ſchadet die Enthaltſamkeit
oder zu ſparſame Nahrung mehr, als in dieſem Fie-
ber. Er fuͤhrt den Buchan an, der den Bordeaux-
wein uͤber alle Maßen lobt, und verſichert, daß er da-
durch mehrere Kranke gerettet habe, welche gleichſam
keinen Puls mehr hatten, bey kalten Gliedmaſſen im-
merwaͤhrend irre waren, nebſt andern Zeichen des na-
hen Todes. Er gab ihnen alle Tage eine Flaſche ſol-
chen Wein unter Molken (Serum Lactis) oder Ger-
ſtenwaſſer. Dazu tragen Ruhe des Koͤrpers und des
Gemuͤthes, und kuͤhle, reine Luft ſehr vieles bey. —
Auch Herz mußte nicht ſelten die Heilart ſeiner Ner-
venfieber mit ſtaͤrkenden Mitteln anfangen, ehe er zu
aufloͤſenden und ausleerenden ſchreiten konnte. Es waͤ-
re zu wuͤnſchen, daß man dieſe Bemerkungen nie in
den Krankheiten der Kindbetterinnen vergaͤße.
In Ruͤckſicht der Ausleerungen gilt im Allgemei-
nen der Grundſatz, daß man deſto weniger ausleeren
doͤrfe, je mehr die Entkraͤftung eine wahre Erſchoͤ-
pfung der Kraͤfte iſt. Auch hieruͤber hat Tiſſot alles
geſagt. Ich rechne hierher den Huſten und die eiter-
artigen Auswuͤrfe der ſaͤugenden Frauen und junger,
in der Periode der Mannbarkeit, begriffener Leute,
welche ſo, wie andere taͤuſchende Entwicklungszufaͤlle
durch eine ausleerende und erſchlappende Heilart aͤu-
ßerſt hartnaͤckig und oft toͤdtlich gemacht werden,
wovon aber umſtaͤndlich im Kap. von den Zufaͤllen
der Entwicklung und den Krankheiten der Alter und
Geſchlechter. Clerk zaͤhlt diejenigen Uebel, welche
von zu haͤufigen Vergnuͤgungen in der Liebe entſtehen,
Gall I. Band. L lund
[530] und beſonders die Ruͤckenmarkſchwindſucht der friſch Ver-
heuratheten unter die Anzeigen, wo alle Ausleerun-
gen, beſonders das Aderlaſſen toͤdtlich werden koͤnnen,
obſchon die Schmerzen oft ſo heftig ſind, daß man ſie
leicht fuͤr einen Gichtfluß oder fuͤr ein entzuͤndliches
Lendenweh anſehen koͤnnte. Ueberall, wo Mangel an
Kraͤften iſt, oder ein großer Aufwand derſelben erfor-
dert wird, muͤſſen Ausleerungen mit der groͤßten Be-
hutſamkeit vorgenommen oder geduldet werden; z. B.
wenn der Menſch ſehr jung oder ſehr alt iſt, wenn
er viel Blut, Saamen ꝛc. verloren hat, verſchnitten
iſt, oder viel den Beyſchlaf pflegt; ſaͤugt oder ſchwan-
ger iſt; wenn er von vorhergegangenen oder von ge-
genwaͤrtigen Krankheiten ſehr ermattet und erſchoͤpft
iſt u. ſ. w. Hippokrates war auch darinn ſo ſehr
auf die kleinſten Umſtaͤnde aufmerkſam, daß er die
noͤthigen Ausleerungen, jedesmal nach Verhaͤltniß der
Kraͤfte, bald durch ein Purgiermittel, bald durch ein
Klyſtier, bald nur durch eine Steckpille zu veranſtal-
ten heißet. “Man muß die Bleichſuͤchtigen, ſagt er
ferner, die Heißern, die Milzſuͤchtigen, die Ausge-
hungerten, die Engbruͤſtigen, die trocken Huſtenden,
die Saͤuſer, die mit Blaͤhungen Geplagten, die, wel-
che einen ausbleibenden Puls haben, unter den kurzen
Nibben aufgetrieben ſind, oder Schmerzen in der Sei-
te und zwiſchen den Schultern fuͤhlen, die Schlaͤfri-
gen, die Uebelſehenden, die, welchen es vor den Oh-
ren klingt, die, welche ſchwache Urinwege haben, die
Gelbſuͤchtigen, die, welche rohe Exkremente von ſich
geben, die, ſo ſehr aus der Naſe bluten, die welche
die
[531] die guͤldene Ader ſtark, oder eine Windgeſchwulſt ha-
ben, und die ein heftiger Schmerz, den ſie nicht aus-
zuhalten vermoͤgend, quaͤlt, wohl kennen. Keinem
von dieſen ſoll man Purgiermittel geben; denn ohne
etwas zu helfen, wird man Gefahr davon haben, und
die freywilligen Abaͤnderungen und Kriſis vertreiben.,
Man ſieht wohl, daß hier manche Ausnahme
zu machen iſt. Nicht einmal bey abgezehrten, ſaft-
und fleiſchloſen Leuten ſind alle Ausleerungen unbe-
dingt zu fuͤrchten. Es iſt bekannt, wie verſtekt manch-
mal die veralteten Verſtopfungen der Eingeweide ſind,
welche den Koͤrper immer mehr abzehren, und woge-
gen ſtaͤrkende Mittel und Nahrung ſo lange unzulaͤng-
lich, ja, nicht ſelten ſchaͤdlich bleiben, bis jene aufgeloͤſet
ſind, und ihr materieller Stoff fortgeſchafft iſt. Teſta
rieth einem Manne, der faſt ganz ausgezehrt war,
Brech- und Abfuͤhrungsmittel, und er bekam dadurch
einen wohlgenaͤhrten und ſaftvollen Koͤrper. Der zaͤ-
he, kleiſter artige Stoff wird weggeſchafft, nebſt dem
daß die Thaͤtigkeit der einſaugenden Gefaͤße und die
Einſaugung vermehrt werden.
Hat eine Entkraͤftung, z. B. von Blut- oder
Saamenausleerungen ſchon ſehr lange angehalten,
ſo artet das Uebel gemeiniglich in ein Verderbniß
aller Saͤfte aus, mit deſſen Zerſtoͤhrung man den An-
fang machen muß, ehe man an der Wiederherſtel-
lung der Kraͤfte arbeiten kann. Da ſind ausleerende
Mittel, freylich nur bey einer klugen Leitung, un-
umgaͤnglich noͤthig, und thun ſehr gute Wirkung.
Gebraucht man aber bey dieſen Umſtaͤnden ſogleich
L l 2ſtaͤr-
[532] ſtaͤrkende und naͤhrende Mittel, Milch u. d. gl. ſo
wird der Kranke ein ſchleichendes Fieber bekommen,
und ſeine Kraͤfte deſto mehr verlieren, je laͤnger und
je mehr er ſich dieſer Mittel bedient. Eben ſo iſt in
den hitzigen Fiebern von veneriſchen Ausſchweifungen
eine große Schwaͤche vorhanden, und die Kraͤfte ge-
hen mit unbegreiflicher Geſchwindigkeit verloren. Den-
noch darf man da nicht ſtaͤrken; ſondern man muß lin-
dernde, verduͤnnende, erweichende, naͤhrende Mittel
geben, welche zugleich die Kraͤfte erſtatten, z. B.
die Buttermilch. Dieſes gilt uͤberhaupt bey jeder
verdorbenen Leibesbeſchaffenheit, weßwegen ich die gu-
te Leibesbeſchaffenheit als das erſte Erforderniß auf-
geſtellt habe. Indeſſen gehoͤrt viel Scharfſinn dazu,
daß man wiße, wie viel von dem einem und dem an-
dern erfordert werde.
Daß man bey Beurtheilung der Entkraͤftung
weder den Klagen der Kranken, noch den Berichten
der Freunde trauen ſolle; — daß die Entkraͤftung je-
des Mal nur mit Ruͤckſicht auf die Natur und die Ei-
genheiten der gegenwaͤrtigen Krankheit und ihrer Zeit-
punkte beurtheilt werden muͤße; — daß die heftigen,
krampfhaften, unordentlichen Bewegungen, welche
oft nach den haͤufigſten Ausleerungen, auf der hoͤch-
ſten Stufe der wahren Entkraͤftung entſtehen, keine
Beweiſe einer noch wirkſamen und kraftvollen Natur
ſeyn koͤnnen; ſondern vielmehr anzeigen, daß die Le-
benskraͤfte bis auf die Ueberbleibſel der Reitzbarkeit
zerſtoͤhrt ſind. — — Dieſes alles ergiebt ſich aus dem,
was ich durchgaͤngig von den Kraͤften geſagt habe.
Drit-
[533]
Dritter Erfahrungsſatz.
Das dritte Erforderniß zur Wirkſamkeit der
Natur iſt verhaͤltnißmaͤßige Reitzbarkeit.
§. 87.
Was Reitzbarkeit ſeye; in wie fern ſie einen gewiſ-
ſen Grad von Waͤrme und Geſchmeidigkeit fodere;
wie ſie von der Lebenskraft abhaͤnge, und als die letzte
ſichtbare Wirkung derſelben zuletzt vom Leben uͤbrig
bleibe, iſt theils im erſten Kapitel geſagt worden,
theils zu meinem Zwecke nicht naͤher zu beſtimmen noͤ-
thig, weil ich nur einige Bemerkungen uͤber die ver-
minderte und vermehrte Reitzbarkeit in praktiſcher Ruͤck-
ſicht machen werde.
Jedem Himmelsſtriche, jeder Jahrszeit, jedem
Temperamente, Alter und Geſchlechte, jeder Krank-
heit, und einer jeden ihrer Stufen und Zeitpunkte iſt
ein gewiſſer Grad von Reitzbarkeit des ganzen Koͤr-
pers, oder einiger ſeiner Theile eigen, bey welchen
die erforderlichen Verrichtungen am beſten von ſtatten
gehen. Was uͤber oder unter dieſem Grade iſt,
hemmt, verzoͤgert, ſtoͤhrt, oder beſchleunigt dieſelben.
Er haͤngt aber ſo genau mit der Leibesbeſchaffenheit
und den Kraͤften zuſammen, daß in Hinſicht der Em-
pfaͤnglichkeit fuͤr Krankheiten, und der verſchiedenen
Geſtalten derſelben ein ganz gleiches Verhaͤltniß ſtatt
hat.
Es koͤmmt alſo wieder alles darauf an, daß
der Arzt die dem Wohnorte, der Jahrszeit, dem
Al-
[534] Alter, Geſchlechte, Temperamente, der Krankheit und
ihren Stufen und Zeitpunkten eigne Reitzbarkeit ken-
ne; ehe laͤßt ſich kein Wort von den Abweichungen der-
ſelben ſagen, und noch weit weniger der gegenwaͤrtige
Zuſtand einer Krankheit beurtheilen. Ich halte mich
hier ſo ſtreng, als moͤglich, an die Krankheiten, da
von den uͤbrigen im zweyten Bande umſtaͤndlicher ge-
handelt wird. — — Aber hier ſtehe ich ſtill — und
ſehe auf dem weiten Felde noch ſo manches oͤde!
Man war es von jeher gewoͤhnt, jeden Zuſtand, der
von dem natuͤrlichen geſunden abweichet, fuͤr wider-
natuͤrlich und fehlerhaft anzuſehen, und je groͤſſer die-
ſe Abweichung war, deſto groͤßer ſchien die Gefahr;
daher machte man ſichs zum Geſetze, jeden widerna-
tuͤrlichen Zuſtand zu veraͤndern. Alles was einige Na-
turforſcher dagegen behauptet haben, betrift nur ein-
zelne Faͤlle; nie haben ſie dieſen Gedanken auf alle
Krankheiten ausgedehnt. Wer hat den Muth, einen
ſinnloſen, betaͤubten, eiskalten, raſenden, am gan-
zen Leibe bebenden, brennenden Kranken ohne Hilfs-
mittel der Kunſt liegen zu laſſen? Wer iſt ſo genau
mit den Stufen, den Zeitpunkten, der Dauer und
den Zufaͤllen der Krankheiten vertraut, daß er von
keinem Scheine geblendet, von keiner eitlen Hoffnung
oder von keinem paniſchen Schreken getaͤuſcht werde?
Hier, theuren Amtsbruͤder! werden wir indeßen am
oͤfteſten durch die ſonderbare, fuͤrchterliche Geſtalt der
Zufaͤlle irre gefuͤhrt; wir ergreifen die wirkſamſten
Mittel, und bringen das angefangene Werk der Na-
tur in Unordnung, oder zerſtoͤhren es ganz und gar,
und
[535] und ſchmeichlen uns, einen großen Sieg erfochten zu
haben.
Franz Jeſtel, von deſſen Krankengeſchichte
der Anfang im 1 Kap. S. 63. erzaͤhlt worden iſt,
verfiel den zehnten Tag, nachdem er am neunten mit
erfolgendem Bewußtſeyn haͤufig geſchwitzt hatte, in
ſehr verdaͤchtige Nervenzuſtaͤnde, und wurde wieder
irre; alle dieſe Zufaͤlle nahmen bis in die Nacht vom
dreyzehnten zum vierzehnten Tag zu. In dieſer Nacht
raſete er einige Male; wollte immerwaͤhrend entlau-
fen, joͤhlte in einem fort, als wenn er ein ſtockendes
Fuhrwerk in Gang bringen wollte, woraus ich auf
eine im Koͤrper muͤhſam vorgehende Veraͤnderung
ſchloß; er knirſchte heftig mit den Zaͤhnen; hatte thraͤ-
nende, ganz von Blut uͤberronnene Augen; zupfte an
den Bettdecken; zitterte mit den Haͤnden; der Puls
ſetzte aus, war unordentlich, und meiſtentheils heftig;
die Waͤrme war natuͤrlich. — — Bisher hatte er
eine ſtarke Abkochung von der Rinde mit Kampfer,
Umſchlaͤge aus den wohlriechenden Kraͤutern mit Wein
auf dem Bauche, der immer in gutem Stande war.
— Nun werde ich wohl dieſen Zufaͤllen auf eine wirk-
ſamere Weiſe begegnet ſeyn? — — Einem andern
Arzte zu gefallen, geſtattete ich, daß er alle zwey
Stunden zwey Gran Biſam bekam, weil ich von
dieſer Gabe eben ſo wenig Schaden befuͤrchtete,
als wenig ſie haͤtte nuͤtzen koͤnnen. Statt in Furcht
zu gerathen, erinnerte ich ſeine Frau, daß ich
ihr dieſes vorhergeſagt habe, und daß die Hoffnung
jetzt groͤßer waͤre, als jemals. Was konnte aber die-
ſes
[536] ſes ruhige Zuſchauen, und dieſe Vorherkuͤndigung recht-
fertigen? — — Ich hatte den naͤmlichen Gang in
Nervenfiebern ſchon einige Male beobachtet; wuſte, daß
ich noch keinen Fehler in der Heilart begangen hatte;
der Kranke hatte auſſer einer ſchwachen, vielleicht
ſchadhaften Bruſt, eine gute Leibesbeſchaffenheit; der
Harn hatte den dreyzehnten Tag einen geringen, braͤun-
lichten Bodenſatz, und zeigte mir alſo die nahe Ko-
chung. — Er ließ waͤhrend dem heftigſten Sturm ei-
nen dicken Harn, der ſich alſogleich brach, und einen
haͤufigen weißroͤthlichen Bodenſatz machte. Den vier-
zehnten Tag war das Irreſeyn etwas ruhiger, und
er ließ einige Male einen aͤhnlichen Harn, wobey auch
die uͤbrigen Zufaͤlle gelinder wurden; das Zahnknir-
ſchen, das Haͤndezittern, das Ausſetzen des Pulſes
hoͤrten ganz auf. — Den fuͤnfzehnten war der Harn
der naͤmliche; der Kranke legte ſich auf die Seite;
fieng an zu hoͤren, und kam hie und da zu ſich. — —
War es nun recht, daß ich die Natur nicht ſtoͤhrte?
Alles, was im Stande geweſen waͤre, dieſe Zufaͤlle
zu heben, wuͤrde auch die dadurch bewirkten Veraͤn-
derungen hintertrieben haben, und dann iſt es kein
Wunder, wenn man in dieſen Krankheiten keine Ent-
ſcheidungen und keine Tagordnung zu ſehen bekoͤmmt.
— Bis daher dient dieſe Krankengeſchichte als ein
Beyſpiel, wie man die überſpannte Reitzbarkeit
ungeſtoͤhrt laßen ſolle. — —
Den ſechzehnten Tag ſetzte der Harn erſt, nach-
dem er drey Stunden geſtanden war, einen leichtern
Bodenſatz; — gegen die Nacht wurde die Haut waͤr-
mer,
[537] mer, als ſie gewoͤhnlich war; der Puls ſtaͤrker und
geſchwinder; der Kranke hatte große Neigung zum
Schlummer; das Irreſeyn wandelte ihn wieder oͤfter
an; er athmete ſehr ungleich, bald voll, tief, muͤh-
ſam und geſchwind, bald langſam, ausſetzend, ſtill,
unmerklich. — Auf alles dieſes war ich gefaßt. Die
vorhergegangene Beßerung, die unvollſtaͤndige Ent-
ſcheidung, der weniger gekochte Harn, meine Kennt-
niße von dem gewohnten Verlauf dieſer Krankheit,
die Annaͤherung des ſiebenzehnten Tages zeigten mir
deutlich an, was zu erwarten war. Mein Freund
Dopfer, und ich machten alſo allen Umſtehenden
wieder die in der Nacht zu erwartenden Zufaͤlle be-
kannt; beſtimmten dem bisherigen Verlaufe der Krank-
heit zu Folge, die Stunden der großen Veraͤnderung
von Mitternacht bis drey Uhr. Die obigen Zufaͤlle
dauerten unter einem anhaltenden Schlummer bis halb
zwoͤlf Uhr; nun fieng er an, ſich umher zu werfen,
und war, wie es ſchien, vor Aengſten ſehr unruhig;
um zwoͤlf Uhr wurde er kalt und todenblaß; das Ath-
men und der Puls wurden beynahe ganz unmerklich,
ſo daß er oͤfter mehrere Minuten gar nicht zu athmen
ſchien, und von den, obſchon unterrichteten Kranken-
waͤrtern fuͤr ſterbend gehalten wurde. Er blieb bis
drey Uhr in einem tiefen Schlummer liegen. Jetzt
wurde er wieder unruhig; kam zu ſich; ließ auf ein-
mal zwey Pfund Harn, wobey er uͤber Schmerzen
klagte. Der Harn brach ſich alſobald und machte
einen guten Bodenſatz. Nun fieng er an zu ſchwitzen
uͤber dem ganzen Koͤrper; reckte auf begehren die
Zun-
[538] Zunge hervor, die feucht und ſchleimig war; war ganz
bey ſich; und klagte uͤber außerordentliche Mattigkeit.
Von nun an erholte er ſich. In der Heilart war
ich blos darauf bedacht, die zu dieſer Art von Ent-
ſcheidung noͤthigen Kraͤfte zu erhalten, und nebſtdem,
daß von dem fuͤnfzehnten Tage an, die Gabe der
Rinde etwas verſtaͤrket wurde, bekam er einen guten,
alten Wein alle zwey Stunden einen Eßloͤffelvoll, und
des Tags zweymal etwas Suppe. Waͤhrend dem
Todenſchlaf war ich dreiſt genug, gar nichts vorzu-
nehmen, weil ich die Natur ſchon mehrmal ihre be-
truͤgliche Rolle auf dieſe Art ſpielen ſah. — — Al-
ſo auch ein Beyſpiel, wo der Zuſtand der aͤußerſten
Reizloſigkeit nicht gewaltthaͤtig veraͤndert werden darf.
Es war zu Thaſſus eine gewiſſe muͤrriſche
aͤngſtliche Frau, die, nach einer auffallenden Betruͤb-
niß, ob ſie gleich noch herum gieng, den Schlaf und
die Eßluſt verlor. Sie war dabey auch durſtig, un-
ruhig und voll Eckel und Angſt. Den erſten Tag
beym Eintritte der Nacht fuͤrchtete ſie ſich, ſie ſchwaͤtz-
te viel, ſie war mißmuthig, und hatte nur ein klei-
nes Fieber. Fruͤhe bekam ſie viele Kraͤmpfe, ſobald
unterdeſſen die haͤufigen Zuckungen nachließen, ſo ſprach
ſie auch irre. In der Verwirrung entfuhren ihr gei-
le Ausdruͤcke, und ſie hatte viele heftige anhaltende
Schmerzen. Den zweyten Tag war es das naͤmliche;
ſie ſchlief nicht, und das Fieber wurde ſtaͤrker. Am
dritten Tage ließen die Zuckungen zwar nach; allein
ſie hatte erſt eine Neigung zum Schlaf, und verfiel
dann in einen tiefen Schlaf. Sie erwachte auf ein-
mal,
[539] mal, ſie ſprang auf, und konnte ſich nicht erhalten.
Sie ſprach ſehr viel irre. Das Fieber war uͤberaus
heftig. In derſelben Nacht ſchwitzte ſie durchaus
warm. Das Fieber verließ ſie, und ſie ſchlief. Sie
beſann ſich wieder auf alles, und die Krankheit brach
ſich. Um den vierten Tag ließ ſie ſchwarzen, duͤn-
nen Urin, der meiſtens eine abgerundete Wolke in ſich
enthielte, und ſich doch nicht ſetzte. Um die Kriſts
herum brach ihre Reinigung reichlich aus.〟*) Wer
ſieht nicht die Aehnlichkeit in dem Weſentlichen dieſer
Hippokratiſchen Krankengeſchichte mit der meinigen?
— Gerade dieſes hatte auch ſtatt in der erſten Kran-
kengeſchichte des Sim. Herz. Nachdem die Natur
einige Male nur unvollſtaͤndige Entſcheidungen zu Stan-
de gebracht hatte, weßwegen immer Ruͤckfaͤlle ent-
ſtanden, bekam die Kranke den 31ten Tag in der
Nacht einen Schauer und hatte Fieber, worauf im
Munde und an der Zunge kleine Geſchwuͤre zum Vor-
ſchein kamen. Obſchon das Fieber und die uͤbrigen
Zufaͤlle jetzt nicht ganz nachließen, ſo wurden ſie doch
gelinder, und dauerten bis den fuͤnf und vierzigſten
Tag ſo fort. — (Man bemerke hier die Vorboten
einer zu erwartenden zwar gewaltthaͤtigen aber
guten Entſcheidung.) — In der Nacht des fuͤnf
und vierzigſten wurde das Fieber heftiger mit Irre-
ſeyn und andern ſchweren Nervenunordnungen. Sie
ſprach allerley verwirrtes und laͤcherliches Zeug, und
waͤlzte und warf ſich umher, und zupfte an der Bett-
decke. Endlich fieng ſie an allen Gliedern zu zittern
an,
[540] an, bekam heftige Zuckungen, und nachdem der gan-
ze Koͤrper einige Zeit, ja eine halbe Stunde krampf-
haft angeſtrengt war, ließen die Kraͤmpfe nach. Gaͤh-
lings aber kamen die Kraͤmpfe zuruͤck, und ſo wech-
ſelten Anſtrengung und Erſchlappung uͤber vier Stun-
den mit einander ab. (Bis daher die kritiſche Stoͤh-
rung. — Was erwarten nun meine Leſer?) — Die
Zuckungen und das Irreſeyn hoͤrten gaͤnzlich auf,
und der Kranke ſchlief unter einem allgemeinen Schwei-
ße fuͤnf Stunden ganz ruhig. — (Kann man etwas
beſſeres wuͤnſchen? Ich kann daher dieſe Lage der
Umſtaͤnde fuͤr nichts weniger als fuͤr verzweifelt anſe-
hen, und finde die Blaſenpflaſter, und die Pulver
aus Kampfer, Biſam und der virginiſchen Schlan-
genwurzel, welche Herz verordnete, fuͤr ganz uͤber-
fluͤßig.) — Den folgenden Tag war alles ruhig, die
Zunge feucht, der Aderſchlag regelmaͤßig und lang-
ſam, der Harn truͤb; es erfolgte freywilliger Stuhl.
Nur der Kopf ſchien noch etwas verwirrt zu ſeyn.
Die Kranke bat, man moͤchte ſie mit Arzneyen ver-
ſchonen und bekam eine Herzſtaͤrkung, welche ſie ver-
lange, aus dem Kinaauszug. Sie ſchwitzte noch meh-
rere Tage, und war nach einem Monate vollkommen
geſund, obſchon ſie die Pulver weggebrochen hatte.
In der vierten Geſchichte hatte zwar die Kunſt
mehr Antheil an der Herſtellung, aber allem Anſchei-
ne nach nicht ſo viel, als man in aͤhnlichen Faͤllen
glaubt. Vielleicht waͤren auch, auſſer dem eigenmaͤch-
tig genommenen Brechmittel, die Mittelſalzen und die
Klyſtiere, wie wir in der Folge ſehen werden, zu ver-
werſen.
[541] werfen. — Ein 16 jaͤhriger Juͤngling, nachdem er
bis den neunten Tag mit ſehr bedenklichen Nervenzu-
ſtaͤnden gekaͤmpft hatte, bekam den neunten Ohnmach-
ten, Zittern, Sehnenhuͤpfen, Schluckſen, mit einem
kleinen, ſchwachen, bebenden Pulſe. Blaſenpflaſter,
Kampfer und Biſam, worauf alles zur Ruhe kam. —
(Wohlgemerkt, den neunten Tag)! — Nun ſchlich
das Fieber ſo fort ohne ordentlichen Gang, wobey
der Puls beynah nicht oͤfter, als natuͤrlich ſchlug;
hie und da ereigneten ſich krampfhafte Bewegungen,
Zittern, Sehnenhuͤpfen, die Haut war bald trocken,
bald feucht; die Schweiße ungleich, oͤrtlich; der Harn
bald ſparſam und bleich, bald ſehr truͤb. — (Vorbo-
ten einer nahen aber zweifelhaften Entſcheidung); —
In der Nacht vom eilften zum zwoͤlften Tag wurde
alles ſchlimmer. Er warf die Arme herum, ſam-
melte Flocken, redete ſchwer, war irre, und ſchwitzte
anhaltend. Dazu kam Bedruͤckung auf der Bruſt,
beſchwerliches Athmen, und Huſten, gar kein Aus-
wurf. In der Fruͤhe fand Herz von allen dieſen
Zufaͤllen nichts mehr, als ein Ziſchen beym Athmen,
und eine leichte Bedruͤckung. Der Kranke war bey
ſich, und der Puls gleich. Auf Meerzwiebelſaft und
mineraliſchen Kermes bekam er einen ſchleimichten
Auswurf. — (Kritiſche Stoͤhrung, unvollſtaͤndige
Entſcheidung, theilweiſe Verwerfung nach der Lunge.
Es war alſo noch keine vollſtaͤndige Geneſung zu er-
warten.) — Die Zufaͤlle blieben im Alten; doch kam
in gewiſſen Zwiſchenraͤumen das Uebel zuruͤck; das
Athmen wurde beaͤngſtigt, der Aderſchlag oͤfter, und
der
[542] der Kranke faſelte. — (Zeichen, daß noch ein Sturm
im Hinterhalte iſt.) — Den vierzehnten Tag Nachmit-
tag ſchien alles zum Untergange zu zielen. Das Ath-
men wurde von einem zaͤhen, klebrichten Schleime,
der ſich haͤufiger nach der Lunge warf, aͤuſſerſt be-
ſchwert. Huſten, aͤngſtliches Einathmen, Kaͤlte der
Gliedmaſſen, kalter Schweiß an der Stirne, verkehr-
te und krampfhaft verdrehte Augen, Betaͤubung al-
ler Sinne, zuweilen Sehnenhuͤpfen, kaum zaͤhlbar
geſchwinder, und kaum fuͤhlbarer Puls, Gefahr der
Erſtickung. Blaſenpflaſter auf die Arme und die Bruſt,
Kampfer, Biſam, virginiſche Schlangenwurzel, lau-
lichter Thee mit Meerzwiebelſaft und Goldſchwefel
nebſt Rheinwein, dem Hirſchhornſalz beygemiſcht wur-
de. — (In der That lauter unverbeſſerliche Mittel!) —
Der Kranke warf viel aus, und es brach uͤber den
ganzen Koͤrper ein haͤufiger Schweiß hervor; er ſchlief
einige Stunden, und den andern Tag in der Fruͤhe
waren alle Zufaͤlle verſchwunden, und er genaß bey dem
fortgeſetzten Gebrauch der Rinde vollkommen.*) —
Es war hoͤchſt vernuͤnftig gehandelt, daß man die
Natur unterſtuͤtzte. Aber Niemand wird mich uͤber-
zeugen, daß nicht alles Beſtreben der Natur auf den
erlangten Zweck hingieng, und dieſe Mittel hoͤchſtens
als eine Unterſtuͤtzung angeſehen werden muͤſſen. Wer
weiß, ob nicht auch hier, in dieſem Zeitpunkte, die
Kunſt uͤberfluͤſſig war? Der gluͤckliche Erfolg iſt zu
geſchwind, und es ſieht alles dem Gange einer natuͤr-
lichen Entſcheidung zu aͤhnlich, als daß man ihn den
Heil-
[584] Heilmitteln zueignen koͤnnte. Warum brachte die Na-
tur den eilften Tag, wo ſie noch die ganze Laſt der
Krankheit auf ſich hatte; wo ſie ſich noch weniger
von dem Brechmittel und andern Ausleerungen er-
holt hatte — warum brachte ſie da ohne alle Unterſtuͤ-
tzung eine ſo auffallende Beſſerung, und in der vorigen
Geſchichte den fuͤnf und vierzigſten Tag die vollſtaͤndi-
ge Entſcheidung zu Stande? Pringle that daher ſehr
weiſe, daß er gegen die Betaͤubung, welche in dem
ſchwachen Zuſtande ſeines Lazarethfiebers ſtatt hatte,
nichts vornahm, weil ſie von dieſem Zeitpunkt unzer-
trennlich war. Auch konnte er dazumal mit allen er-
weckenden Mitteln nichts Gutes dagegen ausrichten.
— Hingegen war es eben ſo ſehr gefehlt, daß er in
der erſten oder zweyten Stufe, wenn er den Puls
voll und ſtark fand, auch ohne daß eine beſondere
Entzuͤndung gegenwaͤrtig war, zur Ader ließ; denn
er wuſte ja, daß dieſes ebenfalls der natuͤrliche Gang
der Krankheit war, und daß auch in den Faͤllen,
wo kein Blut gelaſſen wurde, den dritten oder vierten
Tag der Puls ſank. Er kann aber in der That den
Nachtheil davon nicht bergen; bey vielen blieb ſchon
die zweyte Stufe aus, und die Krankheit machte ei-
nen ſchnellen Uebergang in die Dritte; viele, die kei-
Blut gelaſſen hatten, kamen davon, wenige aber,
welche viel Blut verlohren hatten. Hatte ich alſo
nicht recht, wenn ich den Gehalt der Zeichen von dem
Unvermoͤgen der Natur nur nach der Natur und dem
Zeitpunkte der Krankheiten beurtheilt wiſſen wollte?
Habe ich unrecht, wenn ich das naͤmliche in Ruͤckſicht
des
[544] des zu reitzloſen oder zu reitzbaren Zuſtandes fordere?
Warum vergißt man die Ausſpruͤche des Hippokra-
tes, daß man im Anfange der Krankheit, wenn ſie
in ihrer vollen Staͤrke iſt, wenn ſie damit beſchaͤftigt
iſt, die Krankheit zu brechen, wenn ſie ſchon gebro-
chen iſt, weder durch Heil- noch andere reitzende Mit-
tel, die Bewegungen der Natur ſtoͤhren ſolle? Und
〟warum, fraͤgt Daignan, ſind ſo wenige, die ſo
handlen? Ohne Zweifel, weil ſie die Natur weniger
kennen, weniger von ihren Wirkungsvermoͤgen uͤber-
zeugt ſind〟 u. ſ. w.
Es giebt keine, weder hitzige noch langwierige
Krankheit, wo nicht zuweilen einer von den zwey Faͤl-
len ſtatt hat. Die Ohnmachten von Blutfluͤſſen,
die Kraͤmpfe und der Scheintod in der Mutterkrankheit,
die allgemeine, fuͤhlloſe Entkraͤftung nach heftigen und
anhaltenden Schmerzen, die ganze Monate fortdau-
rende Reitzloſigkeit und Betaͤubung in gewiſſen Faul-
fiebern, die Anfaͤlle der fallenden Sucht und der
Starrſucht, die Zuckungen im Ausbruchfieber der
Ausſchlagskrankheiten, die hoͤchſte Empfindlichkeit ge-
wiſſer Theile in den Gichtanfaͤllen, die kritiſche Stoͤh-
rung in einigen wenigen Krankheiten, und einige an-
dere Erſcheinungen ſind lauter auffallende Abweichun-
gen von dem geſunden Zuſtande in Ruͤckſicht der Reitz-
barkeit: Sind ſie aber nicht eben ſo viele Beſtrebun-
gen der Natur, deren vortheilhafte Wirkungen den
meiſten Aerzten bekannt ſind, und die ſo lange bleiben
werden, als man nicht durch eine ganz eigne Heilart
geradezu die Krankheitsurſache zerſtoͤhren kann? —
Was
[545]
Was kann uns aber in unbekannten Faͤllen be-
lehren? Wie koͤnnen wir uns zu dem bloßen Zuſchau-
en beſtimmen laſſen, ohne das Leben unſerer Kran-
ken aufs Spiel zu ſetzen? Iſt die Leibesbeſchaffenheit
meines Kranken gut; ſind die Kraͤfte den Umſtaͤnden
angemeſſen; ſind die vorfallenden Erſcheinungen keine
einer aͤhnlichen Krankheit ungewoͤhnlichen Erſcheinun-
gen; ereignen ſie ſich um die Zeitpunkte der Entſchei-
dungen, und hat man Urſache, deren gluͤcklichen Er-
folg dem bisherigen Verlauf der Krankheit zu Folge
zu erwarten: ſo verzage ich nie, ſo unerklaͤrbar und
ſchrecklich mir auch das Benehmen der Natur vorkom-
men mag.
Ueber dieß kann der Zufall, wenn er gehoͤrig
benuͤtzt wird, nicht ſelten unſerer Schuͤchternheit zu-
vorkommen. Aber dieſer wird allermeiſt fuͤr ein blin-
des Ungefaͤhr gehalten. Philoſophen, Aerzte, Na-
turforſcher, und blindes Ungefaͤhr! Wo es beſtimm-
te Wirkungen giebt, da giebt es auch beſtimmte Ur-
ſachen, und es moͤgen dieſe Wirkungen durch bloßen
Zufall, durch einen Marktſchreyer oder ein altes Muͤt-
terchen veranlaſſet worden ſeyn, ſo verdienen ſie die
Aufmerkſamkeit des philoſophiſchen Arztes. Valliſ-
neri erzaͤhlt von einem Maͤdchen, welches an einem
doppelten dreytaͤgigen Wechſelfieber vom erſten bis den
dreyßigſten Merz in aͤußerſter Entkraͤftung da lag.
Vom ſiebenten an war es, den Kopf ausgenommen,
ganz unbeweglich. Es hatte keine andere Hilfe als
Waſſer; und bekam dennoch den ſieben und zwanzig-
ſten an beyden Hinterbacken den Brand, der freylich
Gall I. Band. M mvon
[546] von unſern meiſten Aerzten als eine ſehr ſchlimme
Erſcheinung betrachtet wird. Indeſſen fieng es von
da an, ſich zu erholen und genaß.*)Roͤdder, der
Ueberſetzer der Abhandlung Fridrich Hoffmanns von
der gewiſſen Vorherſagung des Todes in Krankheiten,
erzaͤhlt von einem hundertjaͤhrigen Schweinhirte, der
die Gicht, beſonders das Huͤftweh mit einem ſehr geſaͤt-
tigten Trank des Hinſchkrautes (Solanum dulcamara)
heilte. Darauf wurden die Leute auf einige Stun-
den raſend toll; verfielen endlich in einen ſehr lange
anhaltenden tiefen Schlaf, worunter ſie reichlich ſchwitz-
ten, und ganz geſund erwachten, ohne daß Ruͤckfaͤlle
erfolgten. In den folgenden Theilen, beſonders im
Kapitel von den Entſcheidungen werde ich Gelegenheit
haben, zahlreiche Beyſpiele anzufuͤhren, wo die Na-
tur ganz aus eigner Kraft auf ganz aͤhnliche Weiſe
verfaͤhrt. Vielleicht fuͤhren uns derley Unterſuchun-
gen etwas naͤher zu der Entſcheidung der Fragen;
ob man den Anfaͤllen von Raſerey der Wahnſinnigen,
den Anfaͤllen der fallenden Sucht, den verſchiedenen
Arten von Scheintod und Ohnmachten, und uͤberhaupt
den verſchiedenen Stufen von uͤberſpannter oder ertoͤd-
teter Reitzbarkeit jedesmal durch die bisher uͤblichen
Mittel abhelfen ſolle? — Ich verlaße dieſe fuͤr jetzt
noch ſehr mangelhaften Bemerkungen, um etwas we-
niges uͤber jenen Zuſtand zu ſagen, wo die Reitzbar-
keit, dem allgemeinen Urtheile gemaͤß, zu gering oder zu
ſtark iſt.
Ver-
[547]
Verminderte Reizbarkeit.
§. 88.
Iſt die Reizbarkeit verhaͤltnißmaͤßig zu gering,
ſo wirkt die Natur traͤg, langſam, unzulaͤnglich, und
ihre Bemuͤhungen muͤßen angeſpornt, die Hilfsmittel
der Kunſt aber deſto wirkſamer gemacht werden. Ein
ſchweizeriſcher Bauer, der nur von Kaͤſe und Milch
lebt, erbricht ſich auf vier und zwanzig Gran
Spiesglasglas nur gelinde. Der wittenbergiſche Ar-
chiater Lentil richtete bey den Kurlaͤndern, nachdem
er aufloͤſende Mittel vorausgeſchickt hatte, mit fol-
genden Pillen nur wenig oder nichts aus: R. Gum.
Sagap. in acet. ſolut. \& inſpis. dr. ſemis. Reſin. Jalap.
Scrup. unum. Magnes. Gum. Gutt. gr. decem. ol.
baccar. junip. gt. duas. Auf einmal zu nehmen.
Wenn er noch ſtarke Klyſtire verordnete, ſo erfolgten
hoͤchſtens vier Stuͤhle. Die noͤrdlichen Amerikaner
laſſen ſich ſchlagen, zerfetzen, brennen, ohne ſonder-
liche Zeichen des Schmerzens, Thraͤnen oder Seuf-
zer an Tag zu geben. In den Gegenden des Indi-
ſchen Archipelagus wird kein Stein oder Ballen auf-
gehoben, faſt keine Arbeit wird unternommen, ohne
haͤufiges Laͤrmen und Schreyen. Die Traͤgheit der
Seele, die langſamere Beweglichkeit der Zaſern muß
bey dieſen Leuten immer durch wilde Toͤne, durch Tam-
bour und ſtarke Inſtrumente aufgeweckt werden. Wei-
kard fuͤhrt einen magern, ungemein groſſen und ſtar-
ken, zu harten Arbeiten von Jugend auf gewoͤhnten
Mann an, der, ohne es zu fuͤhlen, ſeinen Finger mit
einem Brette auf die Bank anbohrte. Ein anderer
M m 2ver-
[548] verlor bey einer Arbeit ſeinen Finger, ebenfalls ohne
es gewahr zu werden.
Rohe, arbeitſame, mit ſtarken, feſten, zu
ſchlappen, dicken, ſproͤden, ſchwammichten Faſern
verſehene, ungeſunde, ſehr waͤßerichte, ſchleimichte,
rotzige, kalte, traͤge Leute ſind uͤberhaupt ſowohl ge-
gen ſittliche als koͤrperliche Reitze weniger empfindlich.
Je mehr ein Menſch abgehaͤrtet iſt, Hitze und Kaͤlte
ertragen kann; je weniger ſeine Sitten ausgebildet,
ſene Seelenfaͤhigkeiten entwickelt; je ſtumpfer ſeine in-
neren und aͤußeren Sinne ſind; deſto geringer iſt zu-
verlaͤßig ſeine Reitzbarkeit, und deſto weniger ſind ſol-
che Leute ſowohl der Hilfsmittel der Natur als der
Kunſt faͤhig. Daher muß man dem Viehe und den
Sinnloſen weit ſtaͤrkere Gaben darreichen; daher ſind
die Maͤnner im Durchſchnitte mit weniger Schonung
zu behandeln, als Kinder und Frauen; daher auch
zum Theil iſt das weibliche Geſchlecht dauerhafter als
das maͤnnliche, weil es den Wirkungen der Heilmit-
teln und den Anſtrengungen der Natur leichter nach-
giebt.*) — Ich habe einer ſchlagfluͤſſigen Frau zwoͤlf
Gran Brechweinſtein von oben, und eben ſo viel von
unten nebſt einem ſcharfen Tobackklyſtier beygebracht,
bis ein einziges Erbrechen erfolgte. Bey Mutzel
wirkten in einem melancholiſchen und beynahe unem-
pfindlichen Menſchen, weſentliche Oele in ſtarker Ga-
be, Zugpflaſter im Nacken, und drey und zwanzig
Gran
[549] Gran Brechweinſtein kaum ein einziges Erbrechen.
Je mehr die Reitzbarkeit abnimmt, deſto leidender
wird die Natur, und ſie kann auf der hoͤchſten Stu-
fe der Reitzloſigkeit die Bemuͤhungen der Kunſt auf
keine Weiſe mehr beguͤnſtigen, bis die Urſachen, wel-
che die Reitzbarkeit unterdruͤckt oder zerſtoͤhrt haben,
gehoben ſind, und jene wieder hergeſtellt iſt. Die
ſechzigjaͤhrige Frau bey Lanzyſi lag zwey Tage ohne
alles Beſtreben der Natur und ohne allen Nutzen der
Kunſt, bis man durch Oeffnung der Goldaderknoten
die Urſache der Reitzloſigkeit wegſchaffte, worauf ein
entſtandenes Fieber die Frau herſtellte. Einige Aerz-
te eifern darum auch ſo ſehr gegen den haͤufigen Ge-
brauch der mineraliſchen Saͤuren in faulichten Krank-
heiten, weil dieſe die Reitzbarkeit der Schlagadern
und des Herzens ſchwaͤchen. Hat die Faͤulung der
Saͤfte, oder vielmehr, haben die faulartigen Zufaͤlle
ſolcher Krankheiten ihren vornehmſten Grund in einer
zu geringen Reitzbarkeit der Nerven oder der Blutge-
faͤſe, wie in den Nervenfiebern, ſo haben Boiſſieu
und Burſery unſtreitig recht, beſonders, wenn dieſe
Reitzloſigkeit noch von groſſer Entkraͤftung begleitet
iſt. Aber, wenn die faulichte Aufloͤſung eine Folge
des boͤsartigen, unreinen, gaͤhrenden Zunders iſt,
wie in den gewoͤhnlichen gallichten Faulfiebern, und
die Entkraͤftung hat noch nicht einen ſehr hohen Grad
erreichet, ſo werden dieſe Saͤuren vermoͤg der theils
ſchon angefuͤhrten, theils noch anzufuͤhrenden Grund-
ſaͤtze die Lebenskraͤfte und die Reitzbarkeit vielmehr
erwecken als unterdruͤcken.
Außer
[550]
Außer den hitzigen Krankheiten erkennt man die
erſte Stufe der verminderten Reitzbarkeit durch eine
Schwaͤche, Betaͤubung, Prikeln, Schmerzen, oͤfte-
re, ſchwache Stiche, gehemmte Bewegung und ſtum-
pfes Gefuͤhl. In der zweyten Stufe nehmen dieſe
Zufaͤlle zu; und man erkennt ſie aus der Abweſenheit
der Schmerzen, dem Verluſt der Bewegung, der Un-
empfindlichkeit des Gefuͤhls, durch eine Empfindung
von Kaͤlte, Abzehrung, Schwindung, Austroͤcknung,
oder waͤſſerichte Geſchwuͤlſte der leidenden Theile,
worauf endlich brandige Zufaͤlle, als die Folge alles
Aufhoͤrens von Lebenskraft, erfolgen, und der dritten
Stufe durch Abſterben des kranken Theils, oder,
wo die Reitzloſigkeit allgemein iſt, des ganzen Koͤr-
pers ein Ende machen.
§. 89.
Ueberſpannte Reitzbarkeit.
Bey uͤberſpannter Reitzbarkeit ſind die Wirkun-
gen ſowohl der Ratur als der Kunſt uͤbereilt, uͤber-
maͤßig, unordentlich und uͤberhaupt zweckwidrig. Da-
her muß entweder die Reitzbarkeit vermindert, oder
die Bemuͤhungen der Natur und der Kunſt muͤſſen,
in ſo fern ſie die Thaͤtigkeit des ganzen Koͤrpers oder
einzelner Theile anſpornen, geſchwaͤcht werden. Ich
kenne ein hoͤchſt reitzbares Frauenzimmer, welches
von einem Kaffeloͤffelchen voll Mannaaufloͤſung drey
bis ſechs Stuͤhle bekoͤmmt. Bey bevorſtehenden oder
gaͤhlings eintreffenden Wetterveraͤnderungen verfaͤllt
ſie jedesmal in Blutſpeyen, und ſetzt man ihr an die
Fuͤße
[551] Fuͤße zwey Blutigel, ſo iſt ſie auf mehrere Tage ei-
nem krampfhaften Schnuͤren der Bruſt, Zuckungen,
Uebelkeiten und Eiskaͤlte der Glieder unterworfen.
Einer andern von eben ſolcher Leibesbeſchaffenheit gab
ich bey einer gallichten Anhaͤufung im Magen einen
halben Gran Brechweinſtein in drey Loth Waſſer auf-
geloͤſet: Sie nahm davon einen Eßloͤffelvoll, und ich
muſte alles Moͤgliche anwenden, um das erſchrecklich-
ſte Brechen zu ſtillen.
Ueberhaupt kann man in jenen Leuten eine er-
hoͤhte Reitzbarkeit vorausſetzen, welche gut eſſen und
trinken, ſtudieren, den Leidenſchaften, Ausſchweifun-
gen, der Empfindeley ergeben ſind; die einen ſchmaͤch-
tigen Bau, zarte, glaͤnzende Haut; lichte Haare,
hochrothe Geſichtsfarbe oder eine erkuͤnſtelte Blaͤße
haben; in allen Leuten, die an der ſogenannten Ner-
venſchwaͤche leiden; in den hyſteriſchen Frauen und
den Hypochondern u. ſ. w. Auf alle dieſe Leute wir-
ken die unbedeutendſten Dinge mit ungewoͤhnlicher
Macht. 〟Weikard war durch fruͤhzeitige Gemuͤths-
unruhen und Studieren zeitlich hypochondriſch gewor-
den. Er muſte oft im hoͤchſten Grade die ſogenann-
ten Vapeurs leiden, naͤmlich, er bekam ungemeine
Bangigkeit, Herzensangſt, Unruhe, Zittern, Schwin-
del, Aufblaͤhungen, einen aufgetriebenen Hals mit
einem gewiſſen aͤngſtigen Unvermoͤgen zu ſchlingen.
Dieſe Anfaͤlle bekam er am Tiſche und auſſer ſelbi-
gem, bey verdruͤßlichen Nachrichten, bey unangeneh-
men Vorſtellungen, z. B. einer gefaͤhrlichen Praͤzipiz
oder einer ungluͤcklichen Begebenheit, ſogar in Ge-
ſellſchaf-
[552] ſellſchaften bey langer Weile, am meiſten aber auf
gewiſſen Speiſen. Rettige, Knoblauch und Zwiebel
waren ihm unausſtehlich, wie auch meiſtens der Kaffe.
Sogar den Meerrettig und den mit ſuͤßem gekochten
Moſte angemachten Senf konnte er nicht wohl ertra-
gen, beſonders wenn durch Studieren oder Gemuͤths-
angelegenheiten ſeine Nerven ohnehin ſchon ein wenig
in Unordnung waren. Auf die meiſten Gemuͤſer be-
kam er ſeine Anfaͤlle, beſonders wenn er ſich darauf
nicht ganz des Trinkens enthielt. — Ein warmes
Bad, die Stubenwaͤrme u. d. gl., trugen immer ſehr
viel zur Verſtaͤrkung der Anfaͤlle bey.„*) Nach einer
heftigen Krampfkolik hinterblieb mir eine ſolche, mir
ſonſt ganz unbekannte Reitzbarkeit, daß ich noch lan-
ge Zeit hernach auf jeden unerwartenden Vorfall,
auf das Anklopfen z. B. oder Oeffnen der Thuͤre, das
Gebell eines Hundes, ja auf jeden unwillkuͤhrlichen
unangenehmen oder angenehmen Gedanken heftige
Wallungen und Herzklopfen bekam mit einem Gefuͤhl
von groſſer Mattigkeit, beſonders in den Knien; und
noch jetzt, drey Jahre nach der Kolik, werde ich nicht
ſelten erſt durch das Herzklopfen oder ein banges Ge-
fuͤhl in der Bruſt auf eine widrige Vorſtellung, die
ſich nur im Vorbeygehen angemeldet hat, aufmerkſam
gemacht. Eine hagere, blutreiche Frau wird jedesmal
ſehr matt, traurig, aͤngſtlich, furchtſam, bekoͤmmt
eine gelbe Geſichtsfarbe und Mangel an Eß- und Dau-
kraft, ſo bald ſie die geringſte Unſchicklichkeit unter
ihren Dienſtboten bemerkt.
Eben
[553]
Eben ſo wird in gewiſſen Stufen der Krank-
heiten die Reitzbarkeit des Koͤrpers oder einzelner Thei-
le erhoͤhet, und entweder der ganze Koͤrper oder die
einzelnen Theile ſind fuͤr jeden Reitz weit empfaͤngli-
cher. So ſteigt uͤberhaupt bey jeder Entzuͤndungs-
krankheit die Empfindlichkeit; bey Katharren und Rheu-
matiſmen wird die Haut gegen jedes Luͤftchen empfind-
lich. Bey Weikard war in einer Kranken die Em-
pfindlichkeit ſo hoch geſtiegen, daß das Geraͤuſch ei-
nes ſeidenen Kleides fuͤr ihre Ohren, und fuͤr ihre
Haͤnde die Neugierde eines Pulsfuͤhlers unausſtehlich
waren. In dem Anfalle eines Wechſelſiebers konnte
mir im Zeitpunkte der Hitze nichts grauſameres wie-
derfahren, als wenn wer mit ſtarken Schritten auf
mich zugieng, oder laut ſprach; und es machte mich
bis zur Verzweiflung raſend, wenn die Haußglocke
gelaͤutet wurde. Bey einigen Kranken ſollen die in-
nern Sinne ſo ſehr uͤberſtimmt ſeyn, daß ſie ſich ſelbſt
zu ſehen glauben, wobey vielleicht allezeit der Tod in
der Naͤhe iſt. Man ſieht leicht, wie ſich in ſolchen
Faͤllen der Arzt und die Umſtehenden in Ruͤckſicht der
Sprache, der Waͤrme, des Lichtes, der Reden, der
Bewegungen u. d. gl. gegen den Kranken zu betragen
haben. Perfekt verordnete daher faſt allen ſeinen
Wahnſinnigen eine kuͤhlende, krampfſtillende Heilart;
bewahrte ihre Sinne gegen allen lebhaften Eindruck,
in dem er ſie von aller Geſellſchaft entfernte, in ruhi-
ge, dunkle Zimmer einſchloß, und ihnen alle hitzige
Nahrung entzog. Dieſe Vorſichtsregeln waren im
vierten Falle bey der Kindbetterin, welche aus einem
irrigen
[554] irrigen Verdacht gegen ihren Ehemann ploͤtzlich in ei-
ne heftige Raſerey verfiel, deſto nothwendiger, weil
Kindbetterinnen ohnehin ſchon ſehr reitzbar ſind, und
beſonders wenn ſie ein bewegliches Nervenſyſtem ha-
ben, ein ruhiges, nicht gar zu helles, kuͤhles und ge-
raumes Zimmer erfordern.
So lange in hitzigen oder langwierigen Krank-
heiten die uͤberſpannte Reitzbarkeit anhaͤlt, ſo lange
muß man von allen Arzneymitteln ungewoͤhnlich ſtar-
ke Wirkungen erwarten. Boerhaave wollte einem
reitzbaren Manne den Goldaderfluß nur mindern; al-
lein die Reitzbarkeit war ſo groß, daß die Heilart
hinlaͤnglich war, denſelben zu ſtopfen; worauf der
Mann zwar vollkommen geſund wurde, aber in eini-
gen Monaten an einer beſondern Krankheit ſtarb.
Bey einem entzuͤndlichen Reize iſt die Reitzbarkeit des
ganzen Koͤrpers vermehrt, daher ſonſt unſchaͤdliche
Dinge, als Holderſulze u. d. gl. jetzt ſo leicht nach-
theilig werden. Selbſt in Unreinigkritskrankheiten,
wenn die Reitzbarkeit zu groß, und nicht eine unmit-
telbare Folge des unreinen Stoffes iſt, obſchon man
alle Anzeigen zum Abfuͤhren hat, ſollte man nur ſol-
che Mittel geben, die allen fernern Reitz verhuͤten.
Burſeri rathet in dieſem Falle das friſchgepreßte Oli-
ven-Lein- oder Mandeloͤl zu 4 — 6 Unzen. Uibrigens
gilt freylich jedesmal das erſte Geſetz, die reitzende
Urſache wegzuſchaffen. Man trepanirt den Kopf nach
einem Falle oder Schlag, oͤfnet Eyterſaͤcke, reiniget
Geſchwuͤre, giebt heftige Brech- und Abfuͤhrungsmit-
tel,
[555] tel, laͤſt zur Ader, u. ſ. w. jedesmal nach der Be-
ſchaffenheit der reitzenden Urſache.
In allen durch Schmerz, Kummer, Auslee-
rungen, Mangel u. d. gl. geſchwaͤchten Leuten herr-
ſchet eine erhoͤhte Reisbarkeit. In den Zerruͤttun-
gen der erſten Weege, welche von Unreinigkeit, Wuͤr-
mern, Giften oder innern Geſchwuͤren entſtehen, in
den Beſchwerden der Harnweege von einem Steine
in den Krankheiten der Eingeweide, z. B. der Leber,
welche von Gallenſteinen, veralteten Verhaͤrtungen,
Krauſelung der Nerven und unordentlicher Bewegung
der Lebenskraͤfte herkommen; in Blutfluͤſſen und an-
dern Ausleerungen, welche von widernatuͤrlichen Ge-
waͤchſen, von krampfhaften Bewegungen, von Schmer-
zen unterhalten werden; in gewiſſen Arten der Eng-
bruͤſtigkeit; im Schluchzen; in dem Rheumatismus und
der Gicht; in den Traͤumereyen der fieberhaften, der
Schlafloſigkeit, dem Wahnſinn, der Raſerey; in der
Darmgicht, dem Brechdurchfall, dem Durchfall von
einer ſehr heftigen und ausgebreiteten Entzuͤndung u.
ſ. w. muß die Reitzbarkeit durch eine den Urſachen an-
paſſende Heilart vermindert werden; denn die Natur
wird durch ihre gereizte Thaͤtigkeit das Uebel um ſo
mehr vergroͤſſern, je mehr ſie noch durch eine unſchick-
liche Heilart gereizet wird.
Daher verlaufen alle Krankheiten, wenn ſie
entweder ſo ſehr reitzbare Leute befallen; oder wenn
in irgend einem Zeitpunkte die Reitzbarkeit ſehr hoch
geſtimmt iſt, unter ſehr unordentlichen Zufaͤllen, und
nicht ſelten viel geſchwinder, als ſie ihrer Natur nach
ver-
[556] verlaufen ſollten. Wenn der Reitz eines ſcharfen
Giftes zu dem Reitze des Blatterngiftes hinzukommt,
ſo brechen dieſe oft ſchon den erſten Tag hervor. Eben
ſo richtet der Milchfrieſel bey ſehr reitzbaren, ſchwaͤch-
lichen und cachektiſchen Frauen die ſchnellſten Verhee-
rungen an. Neuere, ſcharfſinnige Schriftſteller ma-
chen die Fehler der Reitzbarkeit und Empfindlichkeit,
vorzuͤglich der erhoͤheten, woraus Zuckungen, Irre-
ſeyn, Schmerzen, Schauer und das Gefuͤhl der Kaͤl-
te nebſt andern ſonderbaren Zufaͤllen entſtehen, zum
weſentlichen Zeichen der Bösartigkeit. Und in der
That, wenn man dieſen Begriff nach dem Sinne des
Hippokrates angeben will, ſo iſt nach dem Urtheil
des Sim. Herz nichts geſchickter, alle Zufaͤlle ſowohl
der erhoͤheten als verminderten Reitzbarkeit zu erklaͤ-
ren. Die große Mattigkeit, die Betaͤubung, die
Kraftloſigkeit, die Verwirrung des Geiſtes, das trau-
rige Gemuͤth, die Seltenheit oder vielmehr Unbeſtaͤn-
digkeit des Pulſes zeigen die verminderte Empfindlich-
keit an; andere zahlreiche Zufaͤlle bezeugen von der
uͤberſpannten Reitzbarkeit und Empfindlichkeit ſowohl
der Muskeln, als der Nerven und des Gehirnes.
Von der oͤrtlichen Reizbarkeit.
§. 90.
So wenig man von der Schwaͤche eines Theils
auf die Schwaͤche eines andern, oder des ganzen Koͤr-
pers ſchließen darf, eben ſo wenig kann man von der
Reitzbarkeit des einen Theils auf jene des ganzen
Koͤr-
[557] Koͤrpers oder anderer Theile ſchießen, und umgekehrt.
Der ganze Koͤrper kann gefuͤhllos ſeyn, waͤhrend daß
einzelne Theile auf den hoͤchſten Grad von Reitzbar-
keit geſtimmt ſind. Dieſes iſt der Fall bey Raſenden,
Wahnſinnigen, man moͤge die Raſerey oder den Wahn-
ſinn als eigentliche und anhaltende Verſtandesverwir-
rung oder nur als Zufaͤlle in hitzigen Krankheiten be-
trachten. Daher ertragen dieſe Leute drey bis vier-
fach ſtaͤrkere Gaben der ſchaͤrfeſten Arzneyen, Hunger,
Durſt, Kaͤlte bis zum Erſtaunen; ſie bleiben bey den
heftigſten aͤußern Reitzen, wenn ſie gebrennt oder ge-
ſchnitten oder durch Aetzmittel behandelt werden, ganz
unempfindlich, da indeſſen die Werkzeuge des Den-
kens und der Phantaſie bis zur Wuth gereizet ſind.
So bedienten ſich die ehemaligen Zauberer gewißer
Salben, deren Beſtandtheile die Reitzbarkeit der in-
nern Sinne außerordentlich uͤberſtimmten, die Em-
pfindlichkeit der aͤußern hingegen vollkommner ſtumpf
machten. Es bewegten ſich daher ihre Ideen, gerade
wie bey Traͤumenden, mit großer Schnelligkeit und
zwar zufolge ihrer vorgefaßten Vorſtellungen; ſie wur-
den alſo ohne ihr Wiſſen in die naͤmliche Lage ver-
ſetzt, in welche ſich die Enthuſiaſten und die heutigen
Zauberer durch Rauchwerke u. d. gl. willkuͤhrlich zu
verſetzen wiſſen. — Manche Kranke ſcheinen ganz be-
taͤubt zu ſeyn, da indeſſen einige Sinne mit aller
Schaͤrfe ihre Verrichtungen ausuͤben. Der Geſchmack
geht z. B. bey den meiſten verloren; weit ſeltner
der Geruch; einige zwar verlieren dieſen alſogleich
bey jeder Krankheit, und bekommen einen Abſcheu
gegen
[558] gegen den Toback: ſie erkennen aus der Wiederkehr des
Geruches und der Luſt zum Taback die annaͤhernde
Beſſerung; nicht ſelten bekommen Leute, die vor
Krankheiten ein ſtumpfes Gehoͤr oder ein bloͤdes Ge-
ſicht hatten, ein ſcharfes Geſicht und feines Gehoͤr,
da hingegen die Eßluſt, die Daukraft, die Beſin-
nungskraft unendlich geſchwaͤcht ſind. Bey einer ſchlag-
fluͤßigen Frau beobachtete ich ein ſo feines Gehoͤr,
daß ſie auf mehrere Schritte das leiſeſte Geſpraͤch deut-
lich vernahm. Nach dem Tode fand ich die eine Haͤlf-
te des Gehirns mit Blut, die andere mit Waſſer an-
gefuͤllt. Andere ſehen alles aufs deutlichſte, koͤnnen
vollkommen richtig daruͤber denken; dieſe Gedanken er-
regen in ihnen Freude, Traurigkeit, Angſt u. d. gl.
und dennoch ſind ſie in allen uͤbrigen Verrichtungen,
ſogar in der Bewegung der Geſichtsmuskeln ſo ſehr
gehemmt, daß ſie ihren Zuſtand auf keine Weiſe zu
erkennen geben koͤnnen. Man ſollte daher ſowohl mit
Worten als Gebehrden vor dergleichen Kranken aͤuſ-
ſerſt behutſam ſeyn. Hievon im zweyten Bande ein
Mehreres. —
Der Mangel von Reizbarkeit in gewißen Thei-
len verbirgt ſonſt ſehr offenbare Krankheiten unter
mancherley ſeltſamen Masken. So werden die Ent-
zuͤndungen des Darmfells, des Netzes, des Herzbeu-
tels, der Hirnhaͤnte, der Sehnen, der Knorpel, ſelbſt
manchmal des Magens und der Gedaͤrme, wenn nicht
die benachbarten Theile dabey leiden, weder von
Schmerz, noch, doch nicht immer, von Fieber be-
gleitet. Eine gewiße, unerklaͤrbare Angſt, das Ge-
fuͤhl
[559] fuͤhl eines Gewichtes, einer Spannung, etwas Ver-
ſtelltes im Geſichte u. ſ. w. ſind hier die einzigen Er-
kenntnißquellen, deren vollſtaͤndige Eroͤrterung ich eben-
falls auf den 2 B. erſpare. Burſery verbietet daher
in allen Arten von entzuͤndlichen Kopfſchmerzen den
Gebrauch des Mohnſaftes, aus Furcht, daß die
Sinne dadurch betaͤubt, die Krankheit eingeſchlaͤfert,
und der Arzt in Ruͤckſicht ihrer Heftigkeit irre gefuͤhrt
werde. Daher gehen zuweilen in ſtumpfen Koͤrpern
die dem Anſcheine nach gelindeſten Entzuͤndungen in
Brand uͤber; da hingegen bey ſehr reizbaren, empfind-
lichen Leuten die heftigſten entzuͤndlichen Schmerzen
nicht allemal ſo dringende Gefahr anzeigen.
Oft bleibt in einzelnen Theilen eine vollkomme-
ne geſunde, zum wenigſten hinlaͤngliche Reitzbarkeit
uͤbrig, ohne daß der Kranke das geringſte Bewußt-
ſeyn davon haben kann. So hat man Beyſpiele,
daß Frauenzimmer waͤhrend einer Betaͤubung, einem
hyſteriſchen Anfalle, einem Scheintode geſchwaͤngert
worden ſind. Bey geſchlachteten Thieren zucken die
Muskeln des Halſes und des innern Beckens noch ei-
nige Stunden. Wie lange das Herz bey warmbluͤ-
thigen Thieren, und die Muskeln bey kaltbluͤtigen
reitzbar bleiben, iſt bekannt. Ohne dieſe oͤrtliche
Reitzbarkeit waͤre es ſchlechterdings unmoͤglich, daß
Scheintode entweder von ſelbſt oder durch Kunſt wie-
der zum Leben kaͤmen. — Manches hieher Gehoͤrige iſt
im 1ten Kap. geſagt worden.
§. 91.
[560]
§. 91.
Die ausuͤbende Heilkunde kann aus dieſen Un-
terſuchungen ſehr ſchaͤtzbare Vortheile ziehen, weßwe-
gen ich ſie noch etwas weiter ausdehnen will.
Wenn man mit geſpannter Aufmerkſamkeit Vor-
ſtellungen mit Vorſtellungen vergleicht; Begriffe trennt,
vereinigt, und aus vielfach verflochtenen Gruͤnden ein
richtiges Urtheil ſucht, ſo wird einem das Hirn warm,
der Kopf gluͤht, die Augen werden empfindlich, die
Ideen draͤngen ſich in leichter Ordnung aufeinander.
Hier iſt das Werkzeug des Denkens in dem Zuſtan-
de einer erhoͤheten Reitzbarkeit. Bey welchen hinge-
gen entweder aus Mangel an hinlaͤnglicher Hirnmaße,
oder wegen ihrer waͤßerichten Schlappheit oder trock-
nen Sproͤdigkeit, aus Entkraͤftung des ganzen Koͤr-
pers oder des Kopfes allein; oder weil alle Reitzbar-
keit ſchon auf einen andern Theil eingeſchraͤnket iſt,
kein aͤhnlicher Zuſtand bewirkt werden kann, bey de-
nen iſt die Reitzbarkeit, die Beweglichkeit der Hirn-
maße zu gering; die Ideen entſtehen gar nicht, oder
entwickeln ſich traͤg auseinander; die Eindruͤcke von
Auſſen geſchehen langſam und unvollſtaͤndig. Dieſe
Leute koͤnnen durch Wein, durch Fieberhitze, durch
unmaͤßige Anſtrengung der Phantaſie ꝛc. zu Rednern,
Dichtern und Wahrſagern umgeſchaffen werden. Waͤh-
rend dem Zeitpunkt der uͤberſpannten Reitzbarkeit des
Gehirnes iſt der ganze uͤbrige Koͤrper unempfindlicher;
man hoͤrt, ſieht, riecht und fuͤhlt nicht, oder nur ſehr
dunkel; die Verrichtungen des Magens und der Ge-
daͤrme werden geſchwaͤcht; obſchon man kurz zuvor
Hun-
[561] Hunger hatte, ſo empfindet man jetzt keine Eßluſt
mehr; der Mund, die Mundhoͤhle und der Schlund
kauen und ſchluͤcken die Speiſen ohne Wohlgeſchmack;
der Magen wird von einer unnuͤtzen Buͤrde beſchwert.
Selbſt, wenn man gleich nach Tiſche tiefſinnigen Un-
terſuchungen nachhaͤngt, ſpuͤrt man an der heißen Auf-
wallung nach dem Kopfe, und der Kaͤlte des ganzen
uͤbrigen Koͤrpers, daß das Verdauungsgeſchaͤft ſehr
mangelhaft von ſtatten geht. Der Maſtdarm befoͤr-
dert nur aͤußerſt traͤge oder gar nicht die Entleerung,
wenn man waͤhrend dieſem Geſchaͤfte ſeine Aufmerk-
ſamkeit auf andere Dinge anſtrengt, ſo groß der na-
tuͤrliche Drang zuvor geweſen ſeyn mag. — Es giebt
Leute, denen waͤhrend jedem Beyſchlafe ein heftiges
Kollern im Leibe entſteht, und viele Winde abgehen;
andere, denen im entſcheidenden Augenblicke die Zun-
ge kalt wird u. d. gl.
Chroniſche Krankheiten, welche mit widerna-
tuͤrlicher Empfindlichkeit der Nerven und mannigfaltigen
Zufaͤllen verknuͤpft ſind, hyſteriſche und hypochondri-
ſche Beſchwerden, langwierige Engbruͤſtigkeit, poda-
griſche oder rheumatiſche Schmerzen, Zahnweh u. ſ.
w. koͤnnen oͤfters eine Zeitlang aufhoͤren, wenn Furcht,
Verwunderung oder tiefes Nachdenken den Geiſt von
der Aufmerkſamkeit auf die Schmerzen des Koͤrpers
abwendet. Gardiner hat zaͤrtliche, hyſteriſche Frau-
enzimmer, die oft in vielen Monaten keinen geſunden
Tag gehabt hatten, auf einmal von allen Schmerzen
befreyet geſehen, wenn etwa eines ihrer Kinder ge-
faͤhrlich krank wurde. Sie waren dem Anſchein nach
Gall I. Band N nvoll-
[562] vollkommen geſund, und in Wartung des geliebten
Gegenſtandes ungewoͤhnlich thaͤtig, und unermuͤdet.
Hoͤrten ſie aber, daß die Gefahr voruͤber ſeye, ſo be-
kamen ſie wieder ihre vorigen Zufaͤlle, wenn ſie
ſchon nach einer ſo langen Befreyung von ſelbigen,
gaͤnzlich geheilt zu ſeyn glaubten. Ein Mann hatte
waͤhrend eines Kriegszuges einen heftigen Anfall von
Engbruͤſtigkeit bekommen, der ſonſt immer zehn bis
zwoͤlf Tage zu dauern pflegte. Am dritten oder vier-
ten Tage der Krankheit, wo er nur ſtehend athmen,
und ſeiner Meinung nach kaum ſechs Schritte weit
haͤtte gehen koͤnnen, hoͤrte er ploͤtzlich einige Laͤrmſchuͤſ-
ſe, als das Zeichen zum Angriff, weil ein Trupp
Maratten ins Lager eingebrochen war. Augenblicklich
ſprang der Kranke zur Verwunderung aller Umſtehen-
den auf, ſchwang ſich aufs Pferd, und zog den De-
gen, den er noch am vorigen Tage nicht hatte aus
der Scheide bringen koͤnnen. — Von dieſem Augen-
blicke an verließ ihn ſeine Schwaͤche und Engbruͤſtig-
keit; kam auch nachher nicht eher, als zur gewoͤhn-
lichen Zeit wieder.*) — — Dieſe Erfahrungen bewei-
ſen, wie noͤthig eine anhaltende Beſchaͤftigung oder
Zerſtreuung des Gemuͤths zur Heilung gewißer Krank-
heiten ſey, die mit widernatuͤrlicher Reitzbarkeit ein-
zelner Theile verknuͤpft ſind, und ſie zeigen zum
Theil, auf welche Weiſe die Einbildungskraft, die Er-
wartung, das Zutrauen u. d. gl. wirkſam werden.
§. 92.
[563]
§. 92.
Aus dieſen Erſcheinungen folgt, daß die Wirk-
ſamkeit der Natur jedesmal in gewißen Theilen ſchwaͤ-
cher iſt, wenn ſie in andern ſtaͤrker wirkt. So lange
die Kranken faſeln, thun abfuͤhrende Mittel nur
ſchlechte Wirkung; aber ſo bald ſie bey Tiſſot durch
die Senfteige wieder ſich gegenwaͤrtig gemacht worden
waren, ſo thaten ſie wieder ihre vollkommene Wir-
kung. — Wenn Wahnwitzige verſtopft werden, ſo
kuͤndiget dieſes die Langwierigkeit des Uebels an, weil
es anzeigt, daß das Gehirn der Sitz der Reitzbarkeit
geworden, welche hingegen in den Gedaͤrmen verloren
gegangen iſt. Wenn die Natur eine Verwerfung zu
machen im Begriffe iſt, ſo werden die uͤbrigen Ab-
und Ausſonderungen entweder ſehr vermindert, oder ſie
hoͤren ganz auf. Nicht ſelten iſt ein bloßer lebhafter
Schmerz die Urſache, warum die Natur die Entſchei-
dungen nicht zu Stande bringt; warum die Ausſchlaͤ-
ge z. B. die Blattern nicht zum Vorſchein kommen.
Daher iſt der Zuſtand, wo eine allgemeine Ruhe im
Koͤrper herrſcht, eine anſcheinende Betaͤubung, eine
tiefe Ohnmacht, ein tiefer Schlaf, den Entſcheidun-
gen ſo guͤnſtig; daher iſt in der Magengicht oder
uͤberhaupt, wo ſich der Gichtſtoff auf ſehr empfindli-
che Theile geworfen hat, der Mohnſaft mit andern
hitzigen Dingen, und im Allgemeinen in allen ſehr
heftigen Schmerzen ohne Entzuͤndung, in der Gallen-
kranheit (Cholera) in den ſchmerzhaften Ruhren von
großer Schaͤrfe und Reitzbarkeit der Gedaͤrme der
Mohnſaft allein das beſte ſowohl beſaͤnftigende als
N n 2ſtaͤr-
[564] ſtaͤrkende Mittel, wodurch die uͤbrigen Verrichtungen
in ihren ordentlichen Gang gebracht werden. — Aus
den Swietenſchen Beobachtungen ſcheinet zu erhellen,
daß Beinbruͤche bey Schwangern viel ſchwerer, und
ſelten vor der Entbindung heilen, weil alle Wirk-
ſamkeit auf die Ausbildung, Nahrung und den Wachs-
thum der Leibesfrucht gerichtet iſt; daher leiden auch
bey Blutausleerungen oder andern heftig wirkenden
Urſachen die Frucht und die Gebaͤrmutter am meiſten;
das Kind geraͤtht in krampfhafte Bewegungen, was
die Frauen auf dem Wahne beſtaͤttigen hilft, als wenn
es mehr Luft und Leben bekaͤme; die Gebaͤrmutter
wird ebenfalls nicht ſelten krampfhaft erſchuͤttert, ſo
daß ſie ſo gar, beſonders wenn die Entleerungen nach
Gewohnheit der Alten zu groß waren, unfaͤhig wird,
die Frucht laͤnger zu naͤhren, oder mit ſich in Gemein-
ſchaft zu erhalten. Die gefaͤhrlichſten Zufaͤlle einer
Lungenſchwindſucht, das ſonſt gewohnte Blutſpeyen,
krampfhafte, hyſteriſche Anfaͤlle hoͤren hingegen nicht
ſelten auf, ſo bald und ſo lange eine Frau mit der
Schwangerſchaft zu thun hat.
Man ſollte alſo die Natur nicht ſtoͤhren, wenn
ſie gerade mit einer andern wohlthaͤtigen Arbeit be-
ſchaͤftigt iſt. In dieſem Falle erreignet ſich eines von
den zwey folgenden Faͤllen: Entweder wird das ange-
fangene Werk der Natur gehindert; oder es wird ge-
waltthaͤtiger Weiſe uͤber die gehoͤrigen Grenzen ver-
ſtaͤrkt. 〟Die Zeit, wenn man ein Arzneymittel giebt,
ſagt Teſta, traͤgt viel zur Wirkſamkeit deſſelben bey;
denn wenn die Natur im Begriffe ſteht, irgendwo ei-
nen
[565] nen Ausfall zu thun, ſo muß der Arzt mit aͤußerſter
Behutſamkeit zu Werke gehen; ſonſt draͤngt ſie ſich
nach dem naͤchſten beſten Theile hin, und die Lebens-
kraft wird in dem uͤbrigen Koͤrper in eben dem Grade
geſchwaͤcht, in welchem ſie in demjenigen Punkte, wo
die Natur einen Ausweeg ſucht, uͤbermaͤßig ſtark
wird.〟*)
Da Reitzbarkeit, Reitz und Mitleidung ſo in-
nig mit einander verbunden ſind, ſo werde ich dieſe
Faͤlle beſſer unten noch einmal vornehmen. — Indeſ-
ſen iſt es auffallend, wie genau die folgenden Maaß-
regeln des Hippokrates mit den angefuͤhrten Erfah-
rungen uͤbereinſtimmen: 〟Es iſt nach der Regel,
ſagt er, die Gruͤtzſuppe nicht mitten unter der Wir-
kung der Purganzen zu geben; wenn man abfuͤhrt,
ſo ſoll ſich der Kranke dabey der duͤnnen Tiſanenſuppe
bedienen, und man hat zugleich auf die Fieberanfaͤl-
le acht, ſo, daß man nichts reicht, weder wenn ſie
da ſind, noch wenn ſie kommen wollen; ſondern nur
alsdann, wenn ſie aufhoͤren, und nun gelinder gewor-
den, oder am weiteſten von ihrem Eintritte entfernt
ſind. So lange die Fuͤße kalt ſind, gebe man weder
Getraͤnke, noch die Gruͤtzſuppe, noch ſonſt etwas der-
gleichen. Man glaube im Gegentheil, daß es am be-
ſten ſey, zu warten, bis ſie recht warm geworden
ſind, und alsdann ſoll man, was nuͤtzlich ſcheint,
reichen. Denn meiſtens verkuͤndigt die Kaͤlte der Fuͤße
den inſtehenden Ausbruch des kuͤnftigen Fiebers. — —
Naͤhrt
[566] Naͤhert ſich das Fieber der Entſcheidung, und es iſt
alles in Unruhe, ſo giebt man auch die duͤnne Suppe
nicht; ſondern alsdann erſt, wenn alles wieder in
Ruhe iſt, und es beſſer geht. Man hat aber noͤthig,
in allen Fiebern auf ihren Bruch zu merken, und die
duͤnnen Gruͤtzſuppen die ganze Zeit uͤber auszuſetzen.〟
Aus eben der Urſache ſoll man bey der kritiſchen Stoͤh-
rung nichts Erhebliches vornehmen; die angefangenen
Ausleerungen weder ſehr zu verſtaͤrken, noch, wenn
ſie nicht durch Irrweege geſchehen, durch andere zu
erſetzen ſuchen. u. d. gl.
§. 93.
In Ruͤckſicht der Heilart der verminderten oder
erhoͤheten Reitzbarkeit hat man unſtreitig jedesmal auf
die Urſache zu ſehen. Ein Fraͤulein hatte ein unge-
mein empfindliches Nervenſyſtem. Ein geringer Schall,
ein heftiges Licht wirkten ſo ſtark auf ſie, daß ſie Zu-
ckungen bekam; ſie empfand im Unterleibe wunderliche
Bewegungen, als wenn alles zerriſſen wuͤrde. Die
Gummiarten, der Bibergeil, u. d. gl. waren ohne
Wirkung. Der Bau der Zaſern ſelbſt mußte gegen
die leichte Empfaͤnglichkeit der Eindruͤcke geſichert wer-
den. Van Swieten ließ das Maͤdchen monatweis
mit Binden feſt von den Schenkeln bis an die Bruͤſte
wickeln, worauf es ſogleich Linderung empfand. Als-
dann erſt hat er ſeine Arzneyen gegeben. Ein Fraͤu-
lein eines ſchlaffen Koͤrperbaues, war noch durch eine
Krankheit ſchwaͤcher, aber auch reitzbarer geworden.
Etwas Schaͤrfe hatte ſich in die Fuͤße geworfen. Sie
ſchlaͤu-
[567] ſchlaͤuderte immer ihre Beine, wenn ſie gehen wollte,
hin und her, daß ſie keinen ordentlichen Tritt machen
konnte. Nur im Bette war alles ruhig; Weikard
ließ ihre Fuͤße von unten hinauf wickeln, und minder-
te geſchwind dieſe Beweglichkeit. Die gewoͤhnlichſten
Mittel gegen die erhoͤhte Reitzbarkeit, wenn ſie von
zu groſſer Beweglichkeit, Zartheit und Schlappheit
der Zaſern herkoͤmmt, ſind die peruvianiſche Rinde,
Eiſen, kalte Baͤder u. d. gl. Uebrigens giebt es
nichts, was nicht bey gewiſſen Umſtaͤnden die Reitz-
barkeit vermindern koͤnnte. Eben ſo giebt es auch
nichts, was nicht zuweilen die verminderte Reitzbar-
keit aufzuwecken im Stande waͤre. Es waͤre mir hier
unmoͤglich, jeden Fall zu beſtimmen. Bald ſind Ader-
laͤſſen, bald Blaſenpflaſter, bald Wein, Hirſchhorn-
geiſt, und andere fluͤchtige Laugenſalzen, bald Saͤuren
u. ſ. w. die angemeßendſten Erweckungsmittel. In
allen Faͤllen aber hat man folgende Klugheitsregeln
nie außer acht zu laſſen: Daß man erſtlich in der
Wahl und den Gaben der reitzenden Mittel deſto
behutſamer ſeyn muͤſſe, je reitzbarer der wirkliche Zu-
ſtand des Kranken iſt. Bey ſtarken Leuten z. B. hei-
len dir waſſerabfuͤhrenden Purgiermittel ſolche Waſ-
ſerſuchten, welche von Zerruͤttung der erſten Weege
entſtanden ſind; aber ſie ſind hoͤchſt ſchaͤdlich, wenn
die Saͤfte ſchon zu ſehr aufgeloͤſet, die feſten Theile
zu empfindlich und reizbar geworden ſind; wo Reitzun-
gen, Kraͤmpfe und Verhaͤrtungen zugegen ſind. —
Daß man zweytens bey dem Zuſtande der Reitzloſig-
keit in eben dem Maaße die reitzende Heilart vermin-
dere,
[568] dere, in welchem die Reitzbarkeit wieder hergeſtellt
wird. Eine ſchon lange Zeit uͤbel beſchaffne Frau
litt durch unmaͤßigen Beyſchlaf einen Umſchlag (abor-
tum) und dabey einen ſo haͤufigen Blutverluſt, daß oͤf-
tere und ſchreckliche Ohnmachten hinzukamen, die Glied-
maſſen kalt, der Aderſchlag ſchnell, geſchwind und aͤuſ-
ſerſt ſchwach wurden. Die Kranke gaͤhnte und dehnte
ſich unaufhoͤrlich und ſchien unter Zuckungen zu ſterben.
Ich verordnete die Zimmttinktur, Wein mit Zucker
in reichlichen Gaben. Bald wurde das Gaͤhnen ſelt-
ner, der Koͤrper und die Glieder warm; die Gebaͤhr-
mutter, die unterdeſſen wie ein welker Sack im Leibe
lag, und das Blut wie aus einem Schlauche ergoß,
zog ſich wieder in eine harte Kugel zuſammen; die
Ohnmachten ſetzten laͤnger aus, und waren weniger
ſchreckbar. Haͤtte ich nun mit den naͤmlichen Mitteln
in der naͤmlichen Gabe fortgefahren, ſo wuͤrde ich zu-
verlaͤßig Entzuͤndung und Brand verurſacht haben,
da ſie bisher noͤthig waren, um die Laͤhmung der fe-
ſten und die Stockung der fluͤſſigen Theile zu heben.
So bald in Nervenfiebern die Reitzbarkeit wieder her-
geſtellt iſt, ſo werden die Sinne durch ſtarke Gaben
Mohnſaft oder geiſtiger Getraͤnke betaͤubt, da ſie hin-
gegen zuvor die ſtaͤrkſten Gaben vertrugen. Es iſt
alſo unvernuͤnftig, wenn man durch den gluͤcklichen
Erfolg ſeiner Beſtrebungen in verzweifelten Faͤllen
aufgemuntert, die erſten Regungen des Lebens mit
verdoppelten Kraͤften ferner zu erwecken ſucht. Die
ſchwache Lebenskraft kann dem heftigen Reitze nicht ge-
nuͤgſame Gegenwirkung leiſten, und ſie unterliegt un-
ter
[569] ter den uͤberſpannten Wirkungen der Kunſt. Daher
entſtehen gerade dann die kaum mehr heilbaren Ruͤck-
faͤlle, wo man, voller Entzuͤckung uͤber die angehen-
de Rettung ſeines Kranken, ſich deſto thaͤtiger fuͤr ihn
verwendet. Es muß jedesmal zwiſchen der Reitzbar-
keit, dem Maaße der Lebenskraft und dem Erwe-
ckungsmittel ein gewiſſes Verhaͤltniß ſtatt haben. Hun-
ter giebt bey Wiederherſtellung ertrunkener Perſonen
den naͤmlichen Rath. “Man muß, ſagt er, in An-
ſehung der Doſis und Staͤrke der Mitteln, auf den
Grad der noch uͤbrigen Lebenskraͤfte ſehen, und die
Behandlung allemal im Verhaͤltniß zu dieſem Grade
einrichten. Alle Mittel koͤnnen wahrſcheinlicher Wei-
ſe, wenn ſie in einer zu groſſen Menge oder zu ſtark
gebraucht werden, die ſchwache Wirkung des Lebens,
die ſie erregt haben, auch gaͤnzlich zerſtoͤren. Man
muß daher, ſtatt, wie man gemeiniglich zu thun pflegt,
die Bemuͤhungen zur Rettung des Kranken bey den
erſten Kennzeichen des wiederkommenden Lebens zu
verſtaͤrken und zu beſchleunigen, dieſelbigen vielmehr
ſodann vermindern, damit ſie nachher im Verhaͤltniß
zu der Lebenskraft, ſo wie dieſe immer mehr und
mehr zunimmt, auch allmaͤhlig verſtaͤrkt werden koͤn-
nen u. ſ. w.„*) — Die Waͤrme bringt eine groͤßere
Ausuͤbung und Bewegung der Lebenskraͤfte hervor als
die Kaͤlte, und ein Thier, welches ſich in einem ſchwaͤch-
lichen Zuſtande befindet, kann durch die Waͤrme zu
einer ſolchen groͤßern Wirkung des Lebens angeſtrengt
werden, daß die Kraͤfte des Lebens ſelbſt zerſtoͤhrt
werden.
[570] werden. Dieſes iſt die Urſache, warum bey heftigen
Entzuͤndungen der Brand erfolgt; warum erfrohrne
Thiere und Pflanzen, wenn ſie zu gaͤhlings in eine un-
verhaͤltnißmaͤßige Waͤrme gebracht werden, zwar an-
faͤnglich Zeichen der Belebung von ſich geben, aber
bald deſto unwiederbringlicher verloren ſind, und ihre
Beſtandtheile in einen faulichten Schlamm aufgeloͤſet
werden; warum Kranken eine maͤßige Waͤrme aller-
meiſt zutraͤglich, eine unmaͤßige aber nachtheilig iſt;
vielleicht auch zum Theil, warum man in Krankhei-
ten, die von groſſer Hitze begleitet ſind, eine ſo un-
beſchreibliche angenehme Labung an der kuͤhlen Luft
findet u. ſ. w.
Von dem Zuſtande, wo fehlerhafte Reitzbarkeit
und Kraftloſigkeit zuſammentreffen.
§. 94.
Dieſer Zuſtand verdient allerdings eine vorzuͤg-
liche Aufmerkſamkeit. Man erkuͤnſtelt ihn, wenn
man ſchon ohnehin geſchwaͤchte Leute durch unange-
zeigte Ausleerungen beſonders des Blutes und des
Samens noch mehr erſchoͤpfet. Es erfolgen alſobald
Ohnmachten, Zittern, krampfhafte Windkoliken,
Wahnſinn, alle Arten von Fieber, die aber entweder
die Geſtalt der Nervenfiebern oder ſonſt ſchleichender
Zehrfieber annehmen; Hypochondrie, Hyſterie. —
Bey den Gelehrten hat allermeiſt ein gewiſſer Grad
von Schwaͤche und Reitzbarkeit, zum wenigſten ein-
zelner Theile ſtatt. Anfaͤnglich koͤnnen ſie gewiſſe Spei-
ſen nicht mehr ertragen, ſie bekommen Blaͤhungen,
Koli-
[571] Koliken, Spannen im Kopfe, Melancholie, Gleich-
guͤltigkeit, Fadheit, Beaͤngſtigung, Mangel an Nah-
rung, Hypochondrie, Funkenſehen, Lichtſcheue, tief-
liegende Augenſchmerzen, zuweilen den ſchwarzen
Staar, Schlafloſigkeit, Hirnwuth, Staarſucht, Narr-
heit, Schlagfluͤße, und ſo, wie alle, die ein ſchwa-
ches und ſehr empfindliches Nervenſyſtem haben, von
jeder ungewoͤhnlichen Gemuͤthsbewegung Unverdaulich-
keit und andere Nervenzuſtaͤnde. — Alle dieſe Leute
ſind mit aͤußerſter Behutſamkeit in allen ihren Ge-
brechen zu behandeln. Sie verfallen von ein Bischen
Honig oder Salz, von einem Klyſtiere, von einer
widrigen Vorſtellung in toͤdtliche Ohnmachten, Zu-
ckungen, Zittern, in die ſchwerſten Ruͤckfaͤlle u. d. gl.
Mit den Ausleerungen kann man daher nie behutſam
genug ſeyn. Wenn ich bey dem oben S. 329 ange-
fuͤhrten Kranken, der fuͤnfmal ruͤckfaͤllig wurde, ei-
nen Fehler begangen habe, ſo iſt es zuverlaͤßig dieſer,
daß ich mich durch den Schmutz der Zunge, durch
das anfaͤngliche freywillige Erbrechen, durch den un-
ertraͤglichen Geſtank der Ausleerungen verfuͤhren ließ,
nebſt den angezeigten Mitteln, der Rinde, dem Kam-
pfer und Wein, durch einige Gaben Tamarinden alle
Tage einen oder zwey Stuͤhle zu bewirken. Der naͤm-
lichen Urſache ſchreibe ich den Tod jener Frau S. 327
zu, bey der man wider meinen Willen die Heilart auf
Abfuͤhrungen, und Schwefelgeiſt einſchraͤnkte, obſchon
ſie ſich ſchon zweymal durch die blos ſtaͤrkende Heilart
gebeſſert hatte. Dem Bedienten S. 535 ließ ich
durchaus nicht einmal ein Klyſtier geben, obſchon
er
[572] er ſchon ſieben Tage gar keine Oeffnung hatte; und
nie kann eine ſo bedenkliche Krankheit gluͤcklicher ver-
laufen. Den zwanzigſten Tag fieng der Bauch an
zu rumpeln, und es giengen Winde ab; den ein und
zwanzigſten bekam er ein Klyſtier aus bloßem Oele
mit Fleiſchbruͤhe und Eyerdotter, die ihm einige Oeff-
nung machte, nachdem die Krankheit den ſiebenzehn-
ten ſchon durch den Harn und Schweiß entſchieden
war. —
Bey Tiſſot ließ ſich ein ſonſt ganz geſunder
und ſtarker Mann wegen heftiger Hitze und Kopf-
ſchmerzen zur Ader. Er war den ſechſten Tag ſo
ſchwach, ſo beaͤngſtigt und ſo beißend heiß, der Kopf-
ſchmerz ſo heftig, und die Reitzbarkeit ſo uͤberſpannt,
daß Tiſſot nicht an die geringſte Ausleerung denken
konnte. Er fuͤrchtete, wenn die Materie zu haͤufig
beweglich gemacht wuͤrde, daß die Kraͤfte zu der-
ſelben Ausleerung nicht hinreichen moͤchten. Daher
gab er zu erſt gelinde, ſaͤuerlichte Herzſtaͤrkungen und
Sauerteige, bis ſich die Kraͤfte nach und nach er-
holten, wo er denn mit Ausleerungen die Krankheit
vollends heilte. Es blieb aber lange eine Verſtopfung
der Leber zuruͤck, welche eine langwierige Behandlung,
Luftveraͤnderung ꝛc. forderte. Der Kranke war meh-
rere Monate zu allen Verrichtungen unfaͤhig, und er-
langte kaum in einem Jahre wieder ſeine Kraͤfte. —
Le C [...]mus erzaͤhlt von einem Knaben, welcher in
einem Seitenſtiche durch neunmal Aderlaſſen ſchon
bis zum Grabe hingerichtet war; man muſte ihm herz-
ſtaͤrkende Mittel reichen, wodurch er in ſo weit ſich
erhol-
[573] erholte, daß man ihm ohne Gefahr ein Abfuͤhrungs-
mittel reichen konnte. Je mehr die Abfuͤhrungen wirk-
ten, deſto mehr nahm der Aderſchlag zu, und kam
erſt nach haͤufigen Entleerungen der Galle und fauler
Feuchtigkeiten wieder in Ordnung.
Selbſt in der Wahl der ſtaͤrkenden Heilmittel
muß alles vermieden werden, was auf was immer
fuͤr eine Art den Koͤrper, ich will nicht ſagen, ſchwaͤ-
chen, ſondern reitzen kann, beſonders wenn der da-
durch erregte Reitz nicht zugleich von einer anhaltend
ſtaͤrkenden Wirkung begleitet wird. Deßwegen ſagt
Tiſſot “wenn die Nervenkrankheiten eine Folge lang-
wieriger Krankheiten ſind, ſo muͤßen dieſe Krankhei-
ten geheilt werden. Indeß muß doch die Empfind-
lichkeit, die die Nerven erlangt haben, nicht uͤberſe-
hen werden; ſie erfordert groſſe Behutſamkeit und
groſſe Aufmerkſamkeit bey der Auswahl der Mittel:
denn ſie aͤndert die Wirkung der Heilmittel gaͤnzlich,
wenn ſie reitzend ſind. Bey Verſtopfungen verurſa-
chen wirkſame aufloͤſende Mittel Kraͤmpfe, die vor-
nehmlich auf die kranken Theile wirken, und die An-
haͤufung der Saͤfte in denſelben nur noch groͤßer ma-
chen, die gelindere aufloͤſende Mittel vermindert ha-
ben wuͤrden, weil ihre Wirkung nicht geſtoͤhrt wor-
den ſeyn wuͤrde, indem ſie nicht zu ſcharf waren,
und die Nerven nicht reitzten. Es iſt faſt unbegreif-
lich, wie wenig hierauf gemerkt wird; und eben da-
her entſtehen ſo oft die heftigſten Zufaͤlle; die gelin-
deſten Krankheiten werden durch dieſe Unachtſamkeit
noch heftiger, etwas ſtaͤrkere unheilbar gemacht; und
die
[574] die lebhafteſten Temperamente zerſtoͤrt. Wenn ich
oft Klagen und Bemerkungen dieſer Art aͤußere, ſo
koͤmmt dieß daher, daß mir viele Geſchichten von
Krankheiten, die ich aus allen Laͤndern vor Augen
gehabt habe, beweiſen, wie wenig noch die meiſten
von denen, die die Arzneywiſſenſchaft ausuͤben, auf-
merkſam ſind; und wie ſehr ſie die Gefahr verkennen,
die aus der Vernachlaͤßigung der uͤblen Wirkung der
Reitzung auf die Nerven erwaͤchſt„*) In der Ab-
handlung von der Selbſtbefleckung druͤckt er ſich ſchon
ganz auf aͤhnliche Art aus: “Die durch die Selbſtbe-
fleckung erzeugte Schwachheit verurſacht bey der Wahl
der ſtaͤrkenden Mittel eine Schwierigkeit, die bey an-
dern Faͤllen nicht vorkoͤmmt, naͤmlich, daß man ſich
aufs ſorgfaͤltigſte vor allen den Mitteln huͤten muß,
die, indem ſie reitzen, den Stachel des Fleiſches aufs
Neue reg machen koͤnnen. In der Mechanik beleb-
ter Koͤrper, die von der Einrichtung lebloſer Maſchi-
nen ſo ſehr unterſchieden, und nicht ſonderlich an die
Regeln der letztern gebunden iſt, hat das Geſetz ſtatt,
daß, wenn ſich die Bewegungen vermehren, dieſe
Vermehrung ſtaͤrker in denjenigen Theilen vorgeht,
die dazu am beſten geſchickt ſind. Dieß ſind bey den
Selbſtbefleckern die Zeugungstheile: Dort wird ſich
alſo die Wirkung reitzender Mittel am erſten offenba-
ren, und die gefaͤhrlichen Folgen dieſer Wirkung koͤn-
nen uns in Anſehung der anzuwendenden Mitteln nicht
behutſam genug machen.„ Dem naͤmlichen Geſetze
zu Folge wird jeder andere ſehr reizbare Theil, oder
wo
[575] wo die Reitzbarkeit des ganzen Koͤrpers uͤberſpannt
iſt, der ganze Koͤrper von jedem angebrachten Reitze
angegriffen, und folglich der gegenwaͤrtige Zuſtand
verſchlimmert werden. — Ganz anderſt iſt es freylich
wo mit der Schwaͤche eine verminderte Reitzbarkeit
verbunden iſt. In dieſem Falle muß man nicht ſel-
ten zu den reizendſten Mitteln ſchreiten, wie wir in
der Folge ſehen werden.
Um dieſen Zuſtand noch mehr zu erlaͤutern, will
ich einige Unterſuchungen uͤber die Krankheiten anſtel-
len, welche von unangenehmen Leidenſchaften, als
Kummer, Eiferſucht und Zorn zu entſtehen pflegen.
Leidenſchaftliche Krankheiten.
§. 95.
Die Verbindung einer groſſen Reitzloſigkeit oder
Reitzbarkeit mit einer betraͤchtlichen Ermuͤdung, Un-
terdruͤckung oder Erſchoͤpfung der Kraͤfte ſcheint mir
die vornehmſte Urſache zu ſeyn, warum Krankheiten
welche aus lange anhaltenden traurigen, oder heftig
wirkenden, empoͤrenden Leidenſchaften entſtehen, manch-
mal ſo ungemein gefaͤhrlich und boͤsartig ſind. Ge-
woͤhnlich vermuthet man keine andern, als die bekann-
ten Folgen einer jeden heftig wirkenden Urſache. Der
Traurigkeit ſchreibt man Niedergeſchlagenheit der See-
lenkraͤfte, ſparſame oder unterdruͤckte Abſonderungen
und Ausleerungen, Anhaͤufung nach den innern Thei-
len, Schwaͤche des Magens u. d. gl. zu. Der Zorn,
glaubt man, errege hitzige, beſonders gallichte Fieber,
oder auch ſchlechtweg gallichte Ergießungen ohne fie-
ber-
[576] berhafte Bewegungen u. ſ. w. Dieſes mag auch
allermeiſt der Fall ſeyn. — Meinen bisherigen Er-
fahrungen aber zu Folge entſtehen daher weit oͤfter,
als man glaubt, ganz beſondere, eigne Uebel, die
ſich durch ihre eigne Zufaͤlle, und durch die Heilart,
welche ſie erfordern, von den uͤbrigen Folgen der
Krankheitsurſachen auszeichnen. Es iſt unſtreitig ſehr
wichtig, daß man die Aerzte immer mehr aufmerk-
ſam darauf mache, und ich bleibe hier mit meinen
Bemerkungen bey dieſer Abſicht ſtehen.
Nr. 1. Eine Frau, deren Mann durch den Ver-
luſt ſeines Dienſtes und ſeines Vermoͤgens wahnſin-
nig im Tollhauſe ſtarb, und ſeiner ſonſt ans Wohlle-
ben gewoͤhnten und hoͤchſt empfindſamen Wittwe ſechs
unmuͤndige Kinder hinterließ, fieng an, troſt- und kraft-
los zu werden; ſie klagte, wenn ſie nicht zu verdruͤßig
war, uͤber innere Bangigkeiten, uͤber Bloͤdſinnigkeit
und Vergeſſenheit; ſie froͤſtelte immer, und ſchlief
nur ſelten; ihr ſanfter Karakter verhuͤllte alles das
unter der Maske einer gewoͤhnlichen Gemuͤthsangele-
genheit. So ſchleppte ſie ſich uͤber zwey Monate bey
ihren Hausgeſchaͤften herum. Endlich konnte ſie vor
Schwere der Bruſt und vor Bangigkeit nimmer außer
Bette bleiben. Sie ſeufzte ſehr oft, konnte aber nie
ganz tief einathmen; der Kopf ſchien etwas betaͤubt
zu ſeyn, und ſie zeigte ſich uͤberhaupt zu gleichguͤltig;
die Geſichtszuͤge waren alle hangend, wovon ich ur-
theilte, daß die Entkraͤftung bey weitem den Schein
uͤbertreffe. Da ich indeſſen von einer Anhaͤufung
des Blutes in der Lunge uͤberzeugt war, ſo ließ ich
fuͤnf
[577] fuͤnf Unzen Blut abzapfen. Es erfolgte einige Er-
leichterung des innern bangen Gefuͤhls; aber ſchon
nach einem Tage kehrte die vorige Beſchwerdniß zu-
ruͤck, und die Entkraͤftung war weit betraͤchtlicher.
Nun begnuͤgte ich mich mit lauen Umſchlaͤgen auf die
Bruſt, und den uͤbrigen entzuͤndungswidrigen Mitteln.
In weniger als drey Tagen muſte ich ſchon zu erwe-
ckenden, ſtaͤrkenden, reitzenden Dingen ſchreiten, ob-
ſchon der Zuſtand der Bruſt gar nicht veraͤndert war.
Die Entkraͤftung, die Betaͤubung, und andere au-
genſcheinliche Nervenzufaͤlle nahmen ſo uͤberhand, daß
ich die ſtaͤrkſten Mittel von Innen und Außen ver-
ſuchte; allein ſie ſtarb ohne alle erfolgte Beſſerung,
unter einem anhaltenden Taumel unvermerkt.
Dieſes geſchah mir im erſten Jahre meiner
Ausuͤbung, wo ich noch nicht mit dieſer Krankheit
bekannt war, und noch nicht umſtaͤndlich genug beo-
bachtete. Um mich aber zu rechtfertigen, machte ich
die Leichenoͤfnung: Die Lunge war zwar nicht heftig
entzuͤndet, aber dennoch ſo mit Blut angefuͤllt, daß
einige Stuͤcke im Waſſer untergiengen. Im Kopfe
ſtrotzten ſowohl in den Hirnhoͤhlen als auf der Ober-
flaͤche des Gehirns alle Gefaͤße von Blut. Die uͤbri-
gen Eingeweide waren geſund.
Nro 2. Dealkes Frau verfiel aus Traurigkeit
in ein hitziges mit Froͤſteln verbundenes Fieber. An-
faͤnglich huͤllete man ſie wohl ein. Sie gab nie den
geringſten Laut von ſich, ſie griff um ſich her, ſie
tupfte und kratzte an der Zudecke, ſie las Haͤrchen
und Flocken zuſammen, ſie weinte und lachte gleich
Gall I. Band. O oda-
[578] darauf wieder, ſie konnte nicht ſchlafen, ſie hatte ei-
nen Reitz und ein Dringen zu Stuhle zu gehen, ohne
daß doch etwas erfolgte; ſie nahm zu Trinken zu ſich,
wenn man ſie ein wenig daran erinnerte. Ihr Urin
war duͤnn und ſparſam. Nach dem Gefuͤhl zu urthei-
len ſchien ihr Fieber gering, und ihre aͤußern Glied-
maßen waren kalt. Am neunten Tage redete ſie viel
irre, und wiederum beruhigte ſie ſich, und ſchwieg
ganz ſtille. Am vierzehnten Tage war ihr Athem
tief, ſtark, langſam und bald darauf ganz kurz. Den
ſiebenzehnten Tag bekam ſie einen Reitz zum Durch-
fall. Darauf lief auch ſelbſt das Getraͤnke mit durch,
und nichts ſtillte dieſen Zufall. Sie blieb gegen alles
unempfindlich. Ihre Haut war trocken und geſpannt.
Am zwanzigſten Tage ſprach ſie viel irre, und dann
lag ſie wieder ruhig und ohne Stimme hin, und keich-
te dazu. Sie ſtarb den ein und zwanzigſten Tag.
Sie hatte allemal einen tiefen und ſtarken Athem,
ſie that gegen alles fuͤhllos, man deckte ſie beſtaͤndig
zu, und ſie ſprach entweder ſehr viel, oder ſie ſchwieg
auch ſtille. Sie war zu aller Zeit im Kopfe verwirrt,
und dieſes die Hirnwuth.„*)
Nro 3. Eine ſechsundzwanzigjaͤhrige lebhafte,
aber empfindſame Frau, wovon im erſten Kapitel S.
193 die Rede war, lebte ſeit ſechs Jahren in einer
hoͤchſt unzufriedenen Ehe. Nach langem Kummer
und Zorn, anhaltender Eiferſucht, Verachtung und
Rachgierde wurde ſie gaͤhlings heftig krank. Sie klag-
te uͤber gewaltige Bruſt- und Bauchſchmerzen, weß-
we-
[579] wegen ihr der Arzt eine ſtarke Aderlaͤße verordnete. Da-
rauf nahmen alle Zufaͤlle mit ſtrengſter Heftigkeit zu;
in einigen Stunden wurde eine noch reichlichere Ader-
laͤße gemacht. Alſogleich fieng die Kranke an zu ra-
ſen, zu ſchreien, zu fluchen; machte nachdenkend ei-
ne Pauſe, und brach in ein fuͤrchterliches Lachen und
Jauchzen aus, wobey ſie das Geſicht ſchrecklich ver-
drehte. Nun wurde ich gerufen; ich fand den Ader-
ſchlag außerordentlich ſchnell und prellend, das Ath-
men ſtark und heftig. — Da ich nun die Natur die-
ſer Krankheit ein wenig beſſer kannte, ſo ſagte ich
geradezu den Tod vor. Weil mir in der erſten Kran-
kengeſchichte ſo ſtarke Mittel gar keine Dienſte tha-
ten, und die Raſerey heftig war, ſo entſchloß ich
mich zur aͤußerſten Heilart. Ich ließ die Fuͤße, die
Fußſohlen, die Schenkel und den Ruͤcken mit ſpani-
ſcher Fliegentinktur ſtark einreiben; legte die ſchaͤrfe-
ſten Sauerteige auf die ganzen Fuͤße und Waden;
Blaſenpflaſter mit Fliegenpulver beſtreut auf die ein-
geriebenen Stellen; der Bauch wurde in Umſchlaͤge von
den Kopfkraͤutern mit Wein eingewickelt. Innerlich
gab ich zuerſt Kina Auszug in groſſen Gaben in ei-
nem Abſud von Baldrian und Giftwurz (Contrajerva)
aufgeloͤſet, nebſt einer Miſchung von gleichen Theilen
Hirſchhorn- und Salmiakgeiſt. Wie nun alles zum
Untergang eilte, ſo miſchte ich ſelbſt die ſpaniſche Flie-
gentinktur unter dieſe Mixtur. Die Kranke verſchluck-
te alles gierig; aͤußerte weder Widerwillen noch ſonſt
irgend eine Empfindung; raſete und lachte immer fort
u. ſ. w. ruͤhmte ſich inzwiſchen ſehr oft eines vollkom-
O o 2menen
[580] menen Wohlſeyns, und ſtarb in der vier und dreißig-
ſten Stunde von der Zeit, als ich ſie zum erſten Ma-
le ſah, ohne daß weder die innern noch die aͤuſſern
Haͤute im geringſten von den Mitteln veraͤndert wor-
den waͤren. Bey der Leichenoͤffnung fand ich weder
in der Bruſthoͤhle, noch im Unterleibe etwas widerna-
tuͤrliches, als daß die Stellen ſowohl der Gebaͤrmut-
ter als des Maſtdarms, wo ſie ſich beruͤhren, von
ſchwarzem Blute ſtrotzten; es iſt aber zu bemerken,
daß die Kranke einen Tag vor dem Tode ihren Zeit-
fluß hatte. — Eine Krankengeſchichte, die um der vor-
gegangenen Fehler willen hoͤchſt wichtig werden wird!
Nach dieſen ungluͤcklichen Verſuchen nahm ich
mir vor, die erſte Gelegenheit mit allem Fleiße
zu benutzen. Ich wuſte aber, daß dergleichen Krank-
heiten durchgaͤngig fuͤr hoͤchſt gefaͤhrlich gehalten wer-
den. So z. B. ſagt Kämpf, „Meiſtens entdecke
ich, manchmal erſt nach unermuͤdetem Nachforſchen
folgenden Anlaß zu den Infarktus: naͤmlich, heim-
lichen Kummer, unterdruͤckte Rachbegierde und Zorn,
Nahrungsſorgen, Betruͤbniß, Gram uͤber irgend ei-
nen Verluſt, ungluͤckliche Liebe u. ſ. w. Dieſe ſind
alsdann fuͤr ſchleichende und am Keime des Lebens
nagende Gifte anzuſehen, wenn ſie, wie es gemei-
niglich geſchieht, anhaltend wirken, mithin auch das
Uebel unheilbar machen. Leider habe ich dieſes oft
genug erfahren.„ Fridrich Hoffmann that den Aus-
ſpruch: Lethale animi Pathema mœſtum. — Ex Pa-
themate prompte quisquis ſibi peſſimum venenum in
corpore generare poteſt. Zu allen Zeiten hat man
die
[581] dieſe traurigen Folgen beobachtet. So ſtarb Antio-
chus der Edle vor Betruͤbniß uͤber das Uebel, das
er in Jeruſalem gethan hatte.*) Und der menſchen-
freundliche Syrach warnet gegen langes Trauren uͤber
einen Verſtorbenen; „denn von Trauren koͤmmt der
Tod; und des Herzens Traurigkeit ſchwaͤchet die Kraͤf-
te.„**) Dem ohngeachtet wußte ich auch, daß die
muͤrriſche Frau zu Thaſus S. 538. davon kam, ob-
ſchon des Dealkes Frau S. 577. Nro 2.geſtorben war.
Es muß alſo, dacht ich, keine gerade [Nothwendig-
keit] in der Natur liegen, daß dieſe Krankheiten jeder-
zeit toͤdlich ſeyen. Die vortreflichen Krankengeſchich-
ten des Sim. Herz waren mir noch unbekannt.
Folgende Gelegenheit bahnte mir den Weeg zur voll-
kommenen Erkenntniß dieſer Krankheit, was ich nach-
her in allen guten Krankengeſchichten beſtaͤttigt fand.
Die ich hier liefere, zeigt noch manchmal meine man-
gelhafte Einſicht; aber ſie iſt vollſtaͤndig, und ich ſchaͤ-
ze ſie daher einer vorzuͤgliehen Aufmerkſamkeit werth.
Nro. 4. Klara Sied, eine ſonſt immer ge-
ſunde, ſtarke, aber empfindſame Frau hatte ſchon lan-
ge Zeit her viel Verdruß und heimlichen Zorn. Nun
aber gerieth ſie mit einem andern Weibe in einen leb-
haften Hader. Den 12ten July als den Tag hernach,
ſtund ſie mit eingenommenem, ſchmerzhaftem Kopfe
auf, und erbrach ungefaͤhr ein halb Pfund gruͤne,
bittere Galle; der Kopfſchmerz nahm zu; ſie ſpuͤrte
eine Beklemmung auf der Bruſt, konnte nicht ohne
Schmer-
[582] Schmerzen athmen und noch weniger huſten. Dabey
fuͤhlte ſie ſich ſehr kraftlos, und es ſtellte ſich der Zeit-
fluß als um die gehoͤrige Zeit ein; dieſer hoͤrte auch
wie ſonſt auf, ohne im geringſten geſtoͤhrt worden zu ſeyn.
Den dritten Tag verordnete ihr ein Wundarzt
das Doppelſalz mit Holderſulze und Kamillenſaft; ſie
wurde alſogleich ſchlimmer. Nun kam ich, und fand
ſie gegen ihre Gewohnheit aͤuſſerſt niedergeſchlagen;
ſie ſprach wimmernd, ſehr geſchwind und ſo lebhaft,
daß ſie nahe ans Irreſeyn grenzte; ſie warf ſich un-
ruhig im Bette herum, und beſtimmte mit unmaß-
geblicher Zuverſicht den eilften Tag als den Tag ihres
Todes. Der Kopfſchmerz war heftig; vor den Au-
gen alles gruͤn, die Zunge ſchleimig, der Mund bit-
ter, lettig; die Geſichtsfarbe roth, die Gegend um
den Mund, das Kien und die Naſe blaßgelb; das
Athmen geſchwind; Druͤcken und Schwere ober der
Herzgrube, obſchon ſie die Bruſt weit beſſer hob, als
es der Art des Athmens und dem Beklagen nach moͤg-
lich ſchien; ſie hatte Schmerzen in der rechten Seite-
ſo, daß ſie beym Anfuͤhlen die Mundwinkel, die Augen-
braunen, Augenwinkel und die Naſenfluͤgel heftig ver-
zog; es ſtach ſie auch auf der linken Seite, und ſie
mußte mit dem Liegen oft abwechſeln; der Bauch na-
tuͤrlich; die Waͤrme und Feuchte der Haut gut; der
Aderſchlag geſchwind, zuſammengezogen, klein; der
rechte Arm war betaͤubt und halb gelaͤhmt; ſie konn-
te die Finger der rechten Hand weder kruͤmmen noch
ausſtrecken; die Kraͤfte im Verhaͤltniß der uͤbrigen
Zufaͤlle ſehr geſunken. Ich verordnete ein Loth Wun-
der-
[583] derſalz mit 8 Loth Kamillenwaſſer, ein Loth Kamil-
lenſaft und zwanzig Tropfen Hoffmanniſchen Geiſt,
jede Stunde einen Eßloͤffelvoll; auf die ſchmerzhaften
Stellen warme Umſchlaͤge aus Holder- und Kamil-
lenbluͤthe mit Mehl und Milch; Klyſtiren von Kley-
enwaſſer, Kamillen, Oel und Eyerdotter; zum Trank
Gerſtenwaſſer mit Sauerhoͤnig. Innerhalb acht Stun-
den waren der Kopfſchmerz, das Druͤcken, die Schmer-
zen der Seiten leichter, ſie lag ruhig, ſprach ordent-
lich, ſah gut, athmete beſſer, und empfand nur noch
bey einem ſtaͤrkeren Druck die Schmerzen, wobey
ſie auch nichts mehr als die Mundwinkel verzog; der
Puls war langſamer, voͤller, wellenfoͤrmig, gleich-
ſam doppelt ſchlagend; ſie hatte zwey waͤſſerichte Stuͤ-
le. Die folgende Nacht war ziemlich unruhig; ſobald
ſie die Augen ſchloß, ſchwebten ihr aller Art Bilder
vor, und der Taumel nahm zu; der Bauch ſchwoll auf,
und es hob ſich immerwaͤhrend etwas gegen die Bruſt,
was ſie zum Erbrechen reitzte, ſie ſchwitzte haͤufig am
ganzen Leibe; bekam drey haͤufige, theils mit flockich-
ten, haͤutigen, ſchleimigen, gruͤnen und braunen Thei-
len gemiſchte Stuͤhle jedesmal mit ausnehmender Er-
leichterung; der truͤbe Harn hatte einen haͤufigen,
weißlichten, flockichten Bodenſatz; der Kopf zwar
ohne Schmerzen, aber noch eingenommen, ſo daß ſie
des Nachdenkens bedarf, um richtig zu antworten;
indeſſen laͤchelte ſie auf eine unangenehme Art, und
die Augen waren roth, die Geſichtsfarbe etwas erd-
artiger; die Zunge unreiner, der Geſchmack lettig,
trocken, bitter; viel Durſt; der Puls weich, voll;
die
[584] die Hand noch wie geſtern. Hatte ſich die Kranke
mit vieler Anſtrengung, was ich ihr unterſagte, auf-
gerichtet, ſo mußte ſie huſten, und fiel mit Gewalt
auf den Ruͤcken zuruͤck. Dieſes war der vierte Tag.
Ich verordnete zwey Unzen Tamarindenmark,
eine halbe Unze Wunderſalz, zehn Tropfen Salpeter-
geiſt mit einem ſaͤuerlichten Saft; und ließ das uͤbri-
ge im Alten, nur daß die vorige Arzney weg blieb,
weil ſie ihr jetzt zuwider war. Nachts fand ich ſie kraft-
los hingeſtreckt mit ſtarkem Schluchzen, Wuͤrgen und
leerem Erbrechen; ſie konnte weder den Kopf noch ei-
ne Hand aufheben; der Kopf heiß, das Geſicht toden-
artig eingefallen, blaßgelb; ſie hoͤrte und ſah nichts,
verdrehte die Augen graͤßlich ein- und aufwaͤrts,
ſchnappte, wie ein Sterbender mit dem Munde; der
Mund war trocken heiß; ſie leckte gierig nach Feuchtig-
keit, konnte aber wegen unablaͤßlicher Schnuͤrung des
Halſes keinen Tropfen hinabſchluͤcken; endlich ſchlug ſie
die Arme auseinander und ſchrie mit gebrochner Stim-
me: Ich kann nicht bleiben! der Bauch hart, hoch
aufgetrieben, geſpannt, ſo ſchmerzhaft, daß ſie jaͤm-
merlich ſchrie; dieſe Schmerzen nahmen auf mein
Befuͤhlen des Bauches auf einen ſchrecklichen Grad
zu; alle Klyſtieren traten zuruͤck; Haut und Waͤrme,
wie im geſuͤndeſten Menſchen. Sie kam noch vor Mit-
ternacht zu ſich, wollte mich bey der Hand nehmen,
war aber zu ſchwach. Ich verſchrieb Bibergeilwaſſer
mit dem Hoffmanniſchen ſchmerzſtillenden Geiſt; ein
Pflaſter von Theriack uͤber den ganzen Bauch und Ma-
gen, und daruͤber einen Umſchlag wie oben von Kamil-
len
[585] len ꝛc. Nach dem zweyten Loͤffelvoll der Mixtur konn-
te ſie beſſer ſchluͤcken; das Schnuͤren der Kehle, das
Schluchzen, und die Stoͤße zum Erbrechen ließen nach,
und ſie wurde ruhiger; es giengen viele Winde ab,
der Bauch wurde weicher; ſie ſchlief gar nicht, und
klagte immerwaͤhrend uͤber Troͤckne und hoͤlzerne Sproͤ-
digkeit des Mundes und des Halſes, verlangte To-
ckaier, den ſie nicht erhielt.
Den fuͤnften Tag in der Fruͤhe lag ſie ruhiger,
aber noch eben ſo kraftlos da; der Kopf weniger
heiß, und das Geſicht nimmer ſo todenblaß; aber die
Augen ſtunden allermeiſt ſteif, das rechte einwaͤrts ver-
dreht, wenn das linke in der Mitte oder auswaͤrts
ſtund; dennoch, wenn man lebhaft auf ſie rufte,
ſchauete ſie einen mit geradem Blicke an; ſie konnte
aber nichts erklaͤren, und ſagte blos, ſie wiſſe nicht,
wie ihr ſeye; das Athmen aͤngſtig; der Bauch noch
ſehr ſchmerzhaft; keine Stuͤhle; aber viel gallichter
Harn mit ſchmutzig weißem, flockichtem ober dem
Grunde des Gefaͤßes ſchwebendem Bodenſatze; die Zun-
ge feucht; der Puls ſchlug achtzigmal, weich, voll;
etwas mehr Waͤrme, als ſonſt. Gegen eilf Uhr ſchlief
ſie eine Stunde lang unruhig; als man ſie zurecht
legen wollte, erbrach ſie eine zaͤhe, kleiſterartige, lei-
michte Materie mit gruͤner, ſcharfer Galle; der Kopf
freyer, wie ſie ſich ſelbſt erklaͤrte; die Augen ſtarre-
ten nicht mehr, und ſie erkannte Jedermann, erin-
nerte ſich aber an nichts, was Heute und Geſtern vor-
gegangen war; obſchon die Zunge feucht war, klagte
ſie dennoch uͤber die Sproͤdigkeit und den unausloͤſch-
lichen
[586] lichen Durſt; der Bauch wieder aufgetrieben, weni-
ger ſchmerzhaft; auf dem gallichten Harn ſchwamm
jetzt ein dicker, weißer Satz, ſo wie er geſtern auf
dem Grunde aufſtand; der Puls etwas mehr geſpannt;
abwechſelnde, fliehende Hitze mit Froͤſteln, Blaͤße
und Roͤthe; in der Nacht um zwoͤlf Uhr wurde ſie
ſehr uͤbel; ſie hatte ein Klyſtir bekommen, dem eini-
ge Gran Brechweinſtein beygemiſcht waren.
Den ſechſten Tag in der Fruͤhe fand ich ſie
mehr, als bisher, herunter geſchurrt, obſchon ſie
ſich manchmal mit vieler Kraft gegen den untern Theil
der Bettſtatte anſtemmte; der Kopf weniger heiter,
die Augen truͤb und immer noch roth geſtreift; die
Zunge feucht, aber die Klagen uͤber den Durſt und
die Troͤckne wie vorher. Oeſters erhob ſich ober der
Magengegend eine ſchmerzhafte Schwulſt, welche die
Kranke greifen zu koͤnnen glaubte. Alle Ausleerungen
ſtockten. Gegen Tag des ſiebenten Tages war alles
wieder ſchlimmer. Endlich ließ ſie einen gallichten
Harn, in deſſen Mitte truͤbe, dunkle, flockichte Wol-
ken ſchwebten; der Puls wieder weich und voll;
die Waͤrme wie ſonſt; nur an den Fußſohlen klagte
ſie uͤber Kaͤlte, und was ſie trank, kam ihr alles ſehr
kalt vor. Am Arme, der oͤfter zuckte, kam ein koͤr-
nichter rother Ausſchlag zum Vorſchein. Nur mit aͤuſ-
ſerſter Muͤhe konnte man ſie jetzt auf Dinge vor der
Krankheit erinnern. Ich verordnete einen Abſud
der Wohlverleybluͤten (arnica) und der virginiſchen
Schlangenwurzel mit dem Hoffmanniſchen Geiſt; die
Senfteige, welche bisher die Haut gar nicht veraͤn-
der-
[587] derten, verſtaͤrkte ich; zu den Klyſtiren ſetzte ich wie-
der Brechweinſtein, und weil nichts wirkte, Extrac-
tum Catholicum; allein der Bauch wurde nur aufge-
trieben, geſpannt; ſie redete irre waͤhrend einem un-
ruhigen Schlummer; und erwartete zu allen Zeiten be-
gierig den eilften Tag als die Zeit ihres Ablebens;
ſie dankte mir mit Entſchloſſenheit fuͤr meine Beſorg-
niſſen; rieth mir alle fernere Muͤhe ab, weil ſie ge-
wiß wuͤßte, daß alles umſonſt waͤre, und verſprach,
jenſeits fuͤr mich zu beten. Ich ließ ihr eiskalte Um-
ſchlaͤge auf den Bauch machen, die ihr anfaͤnglich ei-
ne hoͤchſt angenehme Empfindung erregten; nach dem
16ten Umſchlag uͤberfiel ſie eine große Kaͤlte. In der
Nacht faſelte ſie, und zuckte mit den Armen und
Fingern.
Den achten gegen zwoͤlf Uhr bekam ſie zwey
geringe, gelbe, gelieferte, kleyenartige Stuͤhle, die
ſie ins Bett ließ; Gegenwart des Geiſtes ohne Erin-
nerung an das Vergangene. Sie verlangte ſaure Kir-
ſchen, die ſie mit Begierde aß, und trank etwas
Wein. In der Nacht ſchlief ſie anderthalb Stunden;
faſelte uͤbrigens anhaltend, ſprang aus dem Bette,
und wollte in Garten.
Den 9ten Tag in der Fruͤhe klagte ſie uͤber hef-
tige Magenſchmerzen, die ſie zu oͤfterm Erbrechen
reitzten; ihr Blick war trotzig, drohend, mit ſenkrech-
ten Falten uͤber der Naſe zwiſchen den Augenbraunen;
die Zunge trocken, unrein; hie und da machte ſie die
ſonderbarſten Gebehrden mit den Lippen, klagte uͤber
Schmerzen im Halſe, und knirſchte inzwiſchen fuͤrch-
terlich
[588] terlich mit den Zaͤhnen; dieß hielt einige Minuten
an; dabey waren die Augen ſtarr, und das eine ge-
ſchwollen, der Puls immer regelmaͤßig, und ſie war
ſich aller dieſer Dinge, waͤhrend ſie vorgiengen, genau
bewußt. Sie bat wieder um Kirſchen, die ſie mit
Luſt verzehrte. Weil ich die Magenſchmerzen von
der Wohlverley herleitete, ſo verminderte ich die Ga-
be bis auf einen Skrupel, und gab Kampfer und
Biſam. Sie konnte nichts nehmen.
Den zehnten Tag verfiel ſie von Stunde zu
Stunde in heftigere Schmerzen, in heftigere und oͤf-
tere Kraͤmpfe; alles, was ſie ſchluͤcken ſollte, brach-
te ſie nur bis in den Hals, wo es ſtecken blieb; im-
merwaͤhrend ſtieg ihr etwas vom Bauche gegen den
Hals, wornach ſie mit den Haͤnden griff; ſie be-
kam drey Blaſenpflaſter; die Schmerzen in der Herzgru-
be wurden von Zeit zu Zeit ſo heftig, daß ſie raſete,
den Mund wie einen Schweinruͤßel hervorſtreckte, und
um eiligſte Hilfe ſchrie; ſie riß ſich das Hemd von der
Bruſt; verlangte ſehnlichſt ein Meſſer, um ſich die
ſchmerzhafte Stelle aufzureißen; die Fuͤße ſchwollen
an; das Irreſeyn dauerte fort; endlich kam ſie zu ſich;
konnte aber die Zunge nicht hervorſtrecken, und gab ihr
Unvermoͤgen durch Zeichen zu erkennen; ſie lag aus-
geſtreckt, unbeweglich mit kleinem Pulſe; der Bauch
ſchwoll oͤfters auf, ſank aber jedesmal auf kalte Um-
ſchlaͤge. — Bey dieſen Umſtaͤnden fragte ich den
Freyherrn Störk um Rath; Er ſchlug mir Kly-
ſtiren aus Bilſenkrautoͤl mit Kampfer vor, die ich
alſogleich geben ließ. In der Nacht wurde ſie aͤuſ-
ſerſt
[589] ßerſt unruhig und beynahe raſend; deutete aber oͤfters
auf den Bauch und nach den Schamtheilen, welche
bey Unterſuchung in der Fruͤhe des
Eilften Tags von einer ſcharfen Feuchtigkeit
angefreſſen gefunden wurden. Gegen Tag hatte ſie
gewaltig haͤufige, unertraͤglich ſtinkende, gelbe, krie-
ſigte Stuͤhle, und ließ ebenfalls eine groſſe Menge
Harn ins Bett; nachher blieb ſie ruhig, der Laͤnge
nach hingeſtreckt liegen; die Blaſenpflaſter hatten kaum
die Haut roth gemacht; der Puls ſchwach, ſehr weich,
geſchwind, gleich, das Athmen gut; das Zahnknir-
ſchen und die Verzerrungen der Lippen ſeltner; aber
noch oft kam die krampfhafte Schnuͤrung in den
Hals; im Ganzen war das Schlucken ſehr erleichtert,
und das, was wie ein zaͤher Schleim in der Kehle
und Luftroͤhre roßelte, war ganz weg; indeßen warf
ſie haͤufig einen zaͤhen Speichel aus. Nun bat ſie
dringend um eine Aderlaͤße, die ihr nicht gemacht
wurde. In der Nacht des eilften Tags war ſie zwar
unruhig; ſie verlangte ſo oft kalte Umſchlaͤge, als ihr
der Bauch zu ſchmerzen anfieng, und empfand jedes-
mal ſo viel Erleichterung, daß ſie wuͤnſchte, man moͤch-
te ſie Eymervollweis mit kaltem Waſſer uͤbergießen.
Es gieng viel ſtinkender, fauler Harn ins Bett.
Den Zwoͤlften Tag war ſie mehr bey ſich; der
Blick bey weitem nimmer ſo drohend und grimmig,
wie noch geſtern; der Puls ſtaͤrker; zuweilen Seuf-
zer, ſonſt das Athmen gut; Sehnſucht nach einer
Aderlaͤße und kalten Umſchlaͤgen; die Zunge trocken,
aber rein. Den Nachmittag ſchlief ſie fuͤnf Stunden
ſehr
[590] ſehr ruͤhig. Beym Erwachen verlangte ſie dringend
etwas zu Eſſen; und ich glaube, man hab ihr zu viel
gegeben; denn in der Nacht bekam ſie dreymal ſtarke
Zuckungen, und klagte den
Dreyzehnten Tag wieder mehr uͤber Bauch-
ſchmerzen; hatte einen weichen Stuhl und ließ viel
Harn, der einen Satz machte; klagte uͤber Kopf-
ſchmerzen; trauriges Geſicht; ſehr oft fieng ſie mit
ſchmerzhaften Empfindungen um den Hals und die
Bruſt mit den Zaͤhnen zu knirſchen an, wobey ſie ſich
wieder vollkommen gegenwaͤrtig war; der Puls voll,
weich, langſam; ſie war von ſieben Uhr Abends bis
Mitternacht unruhig; ſchlief nachher, und als ſie er-
wachte, fiel ſie in Uebelkeiten.
Den vierzehnten Tag einige gut gekochte, gel-
be Stuͤhle; kein Knirſchen und keine Zuckungen mehr;
viel Durſt; ruhige Nacht, außer daß ſie noch einige
Male leicht zu knirſchen anfieng. Man bemerkte nun
auch am obern Theil des rechten Hinterbackens eine
aufgelegene Wunde, oder vielmehr jenen kritiſchen
Brand, bey deſſen Erſcheinung man mehr zu hoffen
als zu fuͤrchten hat. Sie ließ nun immer viel Harn,
hatte oͤftere Stuͤhle — nahm Kina und Wein, und
erholte ſich innerhalb drey Wochen vollſtaͤndig. Es
war noch merkwuͤrdig, daß ſie jedesmal gegen den
Tagesanbruch heftige Zufaͤlle bekam, die aber nicht
anhielten.
Ehe ich dieſe Geſchichte auf den Hauptendzweck
anwende, mache ich einige Nebenbemerkungen: Die
alltaͤglichen Verſchlimmerungen gegen Tag, der un-
aus-
[591] ausſtehliche Durſt, der unwiderſtehliche Abſcheu vor
fluͤſſigen Dingen und vor Licht, das Unvermoͤgen zu
Schlingen, das Bewußtſeyn bey den heftigſten krampf-
haften Zufaͤllen; das Entſtehen der wahren Waſſer-
ſcheue vom Biße erzuͤrnter Thiere, u. ſ. w. — Waͤ-
ren das nicht Gruͤnde genug, um in dieſer Krankheit
die naͤchſte Aehnlichkeit mit der wahren Waſſerſcheue
zu finden?
Was den [Verlauf] der Krankheit angeht, ſo
wird der Vorurtheilfreye Beobachter finden, daß je-
desmal die ſchlimmſten Zufaͤlle auf den dritten, den
ſechſten, die Nacht des achten und den Vormittag des
neunten, den zehnten Tag, wo alles am heftigſten war,
verfielen; darauf erfolgten theilweiſe Entſcheidungen,
den vierten durch Schweiß, Stuͤhle und Harn; den
ſiebenten durch Harn und einen Ausſchlag; den neun-
ten gar keine Entſcheidung, weßwegen die Zufaͤlle ſo
ſehr ſtiegen; den eilften aber deſto reichlicher durch
Stuͤhle, Harn und Speichelfluß. Wann der Brand
entſtanden iſt, kann ich nicht genau beſtimmen, weil
ich dazumal noch nicht ſo viel Einſicht hatte, um ge-
fließentlich darauf aufmerkſam zu ſeyn. Alſo ganz ein
aͤhnlicher Verlauf, wie in den Herziſchen und Hippo-
kratiſchen Geſchichten; obſchon der Eine vielleicht
Nichts, und der andere ganz andere Mittel brauchte
als ich! Wem gebuͤhrt alſo die Ehre, der Kunſt, oder
der Natur? Nicht einmal die Magenſchmerzen wa-
ren hier eine Folge der Wohlverleybluͤten, denn
die Kranke hatte dieſe ſchon ganz ausgeſetzt, als jene
am
[592] am heftigſten wurden, und Hoffmann hat lange vor
mir die naͤmlichen Zufaͤlle beobachtet:
“Ein Mann von dreyßig Jahren hatte ſich hef-
tig entruͤſtet, und darauf berauſchenden Wein getrun-
ken. Am folgenden Tag klagte er uͤber heftige Schmer-
zen in dem obern Theil des Unterleibs, uͤber eine an-
haltende Neigung zum Erbrechen, und uͤber eine Em-
pfindung, als wenn ein Koͤrper aus dem Magen in
die Hoͤhe ſteigen und aus dem Munde herausgehen
wollte. Man gab ihm guͤldiſchen Spießglasſchwefel,
worauf Er ſich ſtark erbrach. Am zweyten Tag be-
fand er ſich noch ſchlimmer. Außer den erſten Zu-
faͤllen hatte er eine brennende Hitze im Magen, ein
Zittern, eine Kaͤlte der aͤußern Theile; er verfiel in
Irrereden, bekam Zuckungen und ſtarb.„ Alles die-
ſes hatte meine Kranke, obſchon ſie kein Brechmittel
bekommen hatte. “Bey der Oeffnung des Leichnams
fand man, daß der Magen und der zwoͤlffingerdarm
durch die Reitzung zerſtoͤrt waren.„ Haͤtte ſich die
Schaͤrfe, welche den eilften Tag die Schamtheile an-
gefreſſen hat, auf den Magen geworfen, wie ſie
wahrſcheinlich zuvor dieſe Gegend einnahm, ſo wuͤrde
man ihn zuverlaͤßig auch zerſtoͤrt gefunden haben.
Wie ſchwer es iſt, und wie genau man mit der Na-
tur einer Krankheit bekannt ſeyn muß, ehe man von
der Wirkung eines Heilmittels richtig urtheilen kann!
Die Leſer werden nun bald ſelbſt vermuthen
daß dieſe Gattung von Krankheit ihre eignen Zu-
faͤlle habe, was ich beweiſen wollte, und noch vollſtaͤn-
diger darthun werde:
Die
[593]
Die erſte Kranke bey Herz hatte ohne alle
ſichtbare Urſache ein Schnuͤren des Rachens und der
Kehle, nebſt einem heftigen Reitz zum Huſten, natuͤr-
liche Waͤrme. In dem von ihm beſchriebenen boͤsar-
tigen Schwitzfieber S. 94. beobachtete er anhalten-
den Reitz zum Erbrechen; abwechſelnde Roͤthe mit
Blaͤße; Bedruͤckungen der Bruſt; krampfhaftes Schnuͤ-
ren der Kehle, daß der Kranke nichts ſchluͤcken konnte,
ein Umſtand, den ſchon Hippokrates anfuͤhrt; Spei-
chelfluß; Schluchzen. In der dritten Krankengeſchich-
te S. 50. ſchon den fuͤnften Tag einen Brandflecken
am Hintern, Speichelfluß; Schluchzen, Lichtſcheue,
Sehnenhuͤpfen. In der Kranken S. 110. Niederge-
ſchlagenheit, Taubheit, Speichelfluß. In der Frau
S. 113. Beſchwerden des Athmens, Aengſtigkeiten,
Schmerzen in den Seiten, die einem Seitenſtiche gli-
chen; Spannung des Unterleibes, anſcheinende Lun-
genentzuͤndung, welche auch Brendel und Huxham
beobachtet, und von der wahren zu unterſcheiden ge-
lehrt haben, obſchon meine angefuͤhrte Krankenge-
ſchichte Nro 1. beweiſet, daß wahre Blutanhaͤufungen
nach der Lunge und dem Kopfe ſtatt haben. Die Frau
S. 145. und die Jungfer 150 hatten die Hirnwuth,
ſo wie des Dealkes Frau Nro 2. und meine zwey
Frauen Nro 3 und 4. — Wer ſich die nuͤtzliche Muͤ-
he geben will, ſelbſt alle dieſe Krankengeſchichten zu
vergleichen, wird uͤbrigens im Ganzen eine auffallen-
de Uebereinſtimmung finden. — Und alle die angefuͤhr-
ten Krankheiten hatten den vorzuͤglichſten Grund ihrer
Entſte-
Gall I. Band. P p
[594] Entſtehung in traurigen oder heftigen Gemuͤthsbewe-
gungen.
Der Verlauf, die Zufaͤlle, die Art der Ent-
ſcheidungen zeigen uͤbrigens offenbar, daß man dieſel-
ben unter die ſchlimmern Nervenfieber zaͤhlen muß,
die ſich von den gewoͤhnlichen vielleicht blos durch die
groͤßere Verwirrung und Heftigkeit der Zufaͤlle aus-
zeichnen. Allermeiſt werden in den aus andern Ur-
ſachen entſtandenen Nervenfiebern mehr die Kraͤfte,
und in dieſen mehr die Reitzbarkeit leiden, weßwe-
gen die ſtaͤrkende und beruhigende Heilanzeige zwar
vereinigt, im erſten Falle aber die ſtaͤrkenden, und
im zweyten die beruhigenden Mittel vorzuͤglich ange-
wendet werden muͤſſen, wie dieſes z. B. in der Ge-
ſchichte S. 356 und in der S. 600 der Fall war.
§. 96.
Nun komme ich auf meine Erfahrungsſaͤtze zu-
ruͤck, um die gegenſeitige Anwendung zu machen. Al-
le Zufaͤlle zeugen auf das Deutlichſte von großer Ent-
kraͤftung und von verdorbener Reitzbarkeit. Je mehr
nun die Kranken entkraͤftet ſind, je mehr die Reitz-
barkeit vom natuͤrlichen Zuſtande abweichet, deſto aus-
gearteter, gefahrvoller wird die Krankheit. Es be-
weiſet aber die Erfahrung aller Zeiten, daß traurige
und widrige Gemuͤthsangelegenheiten, heftige Ge-
muͤthserſchuͤtterungen von dieſer Art eine ausgezeichnete
Kraft haben, die Kraͤfte, und zwar vorzuͤglich des
Herzens zu ſchwaͤchen, und die Reitzbarkeit der Ner-
ven bald zu ertoͤden, bald gewaltſam zu uͤberſpannen.
Warum
[595] Warum toͤden alſo dieſe Krankheiten allermeiſt ſo
wohl in den Haͤnden der Aerzte, als unter der Auf-
ſicht der Natur, beſonders wenn ſie noch mit einer
uͤblen Leibesbeſchaffenheit zuſammen treffen, wie die-
jes bey Herz in dem Juͤngling S. 127. in dem Kinde
137, in dem Knaben S. 143, in dem Manne S. 81,
und in dem Maͤdchen S. 101. der Fall war? — —
Erſtlich, weil die Heilkraͤfte der Natur ohne gute
Leibesbeſchaffenheit, ohne verhaͤltnißmaͤßige Kraͤfte
und ohne verhaͤltnißmaͤßige Reitzbarkeit, zu Folge der
bisherigen Unterſuchungen nur aͤußerſt ſchlecht, oder
gar nicht beſtehen koͤnnen. Zweytens weil die Aerz-
te, unbekannt mit der Natur dieſer Krankheiten,
von taͤuſchenden Zufaͤllen bald einer Entzuͤndung, bald
einer angehaͤuften Unreinigkeit u. d. gl. zu einer fal-
ſchen Heilart verleitet werden. Drittens, weil Sie die
ſonderbaren Zufaͤlle der verminderten oder uͤberſpannten
Reitzbarkeit durch eine zu geſchaͤftige Heilart bald un-
terdruͤcken, bald uͤbermaͤßig heftig machen, bald ver-
wirren.
Sind dieſe Gruͤnde wahr, woran aufmerkſame
Leſer nimmer zweiflen koͤnnen; ſo ergiebt ſich die wah-
re Heilart von ſelbſt, und die einzige Heilanzeige geht
dahin, daß man die verlornen Kraͤfte erſetze, die ge-
genwaͤrtigen ſchone, die Reitzbarkeit in gehoͤrigen
Schranken erhalte, und endlich, wenn es moͤglich iſt,
den Fehlern der Leibesbeſchaffenheit abzuhelfen ſuche.
Dieſe Anzeigen kann der Arzt allermeiſt erfuͤllen,
und nur dieſer Unterſtuͤtzung bedarf die Natur. Man
uͤberlaſſe ihr alles uͤbrige, und ſo deutlich auch andere
P p 2Neben-
[596] Nebenanzeigen ſeyn moͤgen, ſo muß man ſie dennoch
ſchlechterdings ſo lange uͤbergehen, bis man von Sei-
ten der Kraͤfte und der Reitzbarkeit verſichert iſt,
daß Nebenabſichten ohne Nachtheil der weſentlichen
erreicht werden koͤnnen. Man vermeide alſo alle aufloͤ-
ſenden, und alle ausleerenden Mittel, am meiſten Brech-
und ſtarke Purgiermittel; man huͤte ſich zur Unzeit
vor Klyſtieren; fliehe ſorgfaͤltig die Blutentleerungen;
man uͤberzeuge ſich, daß ſelbſt die Blaſenpflaſter aller-
meiſt die Reitzbarkeit in Unordnung bringen, und die
Kraͤfte erſchuͤttern; man gebe uͤberhaupt auf die Zeit-
punkte der Krankheit, beſonders auf die Tage und
Stunden der kritiſchen Stoͤhrung acht, um nicht zu
irrigen Urtheilen uͤber den Einfluß ſeiner Heilart ver-
leitet zu werden: So wird man nur ſelten nicht das
Schreckliche dieſer Krankheiten beſiegen.
Man vergleiche nun alle von mir und Herz an-
gefuͤhrten Krankengeſchichten, ſo wird man uͤberzeugt
werden, daß der ordentliche Gang, der gluͤckliche
Verlauf jedesmal mit der ſtrengern oder nachlaͤßigern
Beobachtung dieſer Maßregeln in Verhaͤltniß ſtehe.
So wenig ich uͤberhaupt den Mitteln, die auf andere
als die angegebenen Zwecke gerichtet ſind, zugeſtehe,
ſo ſind ſie doch, indem ſie die Kraͤfte erſchuͤttern,
vermindern, und die Reizbarkeit widernatuͤrlich ver-
aͤndern, ſehr faͤhig, eine bey einer guten Heilart uͤber-
windbare Krankheit, unuͤberwindlich zu machen, wo-
von ich ſchon viele Beyſpiele angefuͤhrt habe, und
noch eines aus Tiſſot anfuͤhren will: “Ein dreyſig-
jaͤhriger Mann wurde nach vielen und langwierigen
trau-
[597] traurigen Vorfaͤllen von einem 1756 herrſchenden,
rheumatiſchen Fieber befallen, welches das Zwergfell
einzunehmen pflegte. Tiſſot ließ einige Unzen Blut
weg, um einen Dunſt zu bewirken. Den fuͤnften
Tag ließ der Kranke viel Harn, der einen Bodenſatz
machte; er ſchwitzte ſtark, und es gieng alles gut.
Den ſechſten war er zwar fieberfrey, aber ein zu-
weilen gaͤhling zuruͤckkehrendes Huͤpfen der Glieder
ließ ein in den erſten Weegen verborgenes Uebel ver-
muthen, welches man morgen auszuleeren geſinnt war.
Aber den Abend entſtunden nach einer heftigen Lei-
denſchaft ganz andere Zufaͤlle. Der Puls, der zu-
vor noch regelmaͤßig, erhaben und kraftvoll war,
wurde jetzt geſchwind, aͤuſſerſt ſchnell und klein; der
Kranke wurde gaͤhlings irre, was zwar bald voruͤber
war; der Harn waͤſſericht; die Haut trocken, der
Stuhl roh und weiß, das Athmen beſchwert. Tiſſot
verordnete Klyſtiere, Gerſtenwaſſer mit Hoffmanns
ſchmerzſtillendem Geiſt, welchen er in Gemuͤthsbewe-
gungen vortrefflich fand, wenn etwas laues darauf
getr[u]nken wird. Die Zufaͤlle ließen nach. Den ſie-
benten Tag gab er Manna, Tamarinden mit einer
kleinen Gabe Brechweinſtein, weil dieſer gelinder als
die Mittelſalzen auf den Stuhl wirkt. Dann gab er
wie den uͤbrigen zu gleicher Zeit Kranken, einen Ab-
ſud mit Graswurzel und Sauerampfer mit Zitronen-
ſaft. Den Abend hatte der Kranke nur wenig ge-
trunken, aber oͤfter den ſchmerzſtillenden Geiſt genom-
men. Jetzt waren die Sinne betaͤubt, der Puls ſehr
ſchnell, die Nacht ſchlaflos, mit zunehmendem Irre-
ſeyn.
[598] ſeyn. Den achten Tag bekam der Kranke abfuͤhren-
de Mittel mit Gerſtendekokt, einen ſaͤuerlichten Saft
und Salpetergeiſt, und ſtarke Sauerteige. Aber durch
eine Berathſchlagung wurde alles dieſes beſeitigt, und
Blaſenpflaſter auf die Waden, Molken mit Tamarinden
verordnet. Den neunten Tag hatte ſich alles ſehr ver-
ſchlimmert; es gieng keine Ausleerung von ſtatten,
der Kranke war aͤuſſerſt unruhig und raſete; der Puls
geſchwind, klein, ſchnell, was am ſchlimmſten war:
denn, ſagt Tiſſot, (was ich nicht glaube) man heilt
zwar die Hirnwuth, wo der Puls ſtark, geſpannt und
langſam iſt; aber keine, wo er klein und ſchnell iſt.
Man berathſchlagte ſich wieder, und um der Raſerey
willen oͤffnete man die Ader; der Kranke wird noch
raſender, die Weichen werden geſpannt, man laͤßt
wieder zur Ader! der Kranke wird ohnmaͤchtig, und
aus Mangel an Kraͤften faſelt er etwas ruhiger, was
aber wieder mit den Kraͤften zunahm. Jetzt giebt
man mehrere Gaben zum Brechen, ohne daß ein
Erbrechen erfolgte!! — Die Nacht war ſchlimm.
Den zehnten Tag wird nach einer Berathſchlagung,
ein heftiges Abfuͤhrungsmittel verordnet, obſchon der
Aderſchlag kaum merkbar, und die Raſerey heftig war
Es erfolgten keine Stuͤhle; Nachmittag giebt man ein
ſcharfes Klyſtir, worauf unter beſtaͤndigen Ohnmach-
ten ungeheure Ausleerungen erfolgten, und — der
Kranke verſchied.
Dieſe Geſchichte aͤuſſerte im Anfange deutlicher,
nachher aber ſchon dunkler den natuͤrlichen Gang der
Krankheit, und hat viel Aehnliches mit Nro. 4. Ich
hatte
[599] hatte dort manchen Fehler begangen, z. B. die Mit-
telſalzen; die Klyſtiren mit Brechweinſtein und dem
Extracto catholico; gluͤcklicher Weiſe thun ſolche
Dinge, wenn ſie nicht aͤußerſt ſtark ſind, wie in der
Tiſſotiſchen Geſchichte, nur ſchwache oder gar keine
Wirkung, weil eine oͤrtliche Reizbarkeit auf den Ner-
ven des Unterleibes und des Gehirnes ſtatt hat. Tiſſot
begieng beynahe die naͤmlichen Fehler; ein Beweiß,
daß der groͤßte Mann durch bloße Beachtung der Zu-
faͤlle, ohne Kenntniß von der Natur einer Krankheit
keine richtige Anzeige zu machen im Stande iſt. —
So nothwendig es ſonſt iſt, ſeine Anzeigen von der
herrſchenden Beſchaffenheit der Krankheiten herzuneh-
men, ſo war doch in dieſem Falle die Anzeige der durch
Kummer zerſtoͤhrten Lebenskraͤfte wichtiger, und er haͤtte
weder aderlaſſen noch abfuͤhren ſollen. So ſah Sim. Herz
1784. oͤfters Gallſieber ſich zu den Maſern geſellen.
In gewoͤhnlichen Faͤllen mußte er Brech- oder Abfuͤh-
rungsmittel geben; wo eine Entzuͤndung mit im Spie-
le war, auch Aderlaſſen; Nur, ſagt er, einige Schwaͤch-
linge ausgenommen. In dieſen verlief die Krankheit
anderſt; die Maſern erſchienen erſt den ſiebenten und
achten Tag. Man mußte die herrſchende Beſchaffen-
heit vernachlaͤßigen, und ohne dringende Noth, ſorg-
faͤltig alle Ausleerungen vermeiden.*) Das Ver-
fahren der berathſchlagenden Aerzte war freylich mehr
Folge als Hilfsmittel der Raſerey; hingegen auch
maͤchtig genug, alle Hilfsquellen der Natur zu
er-
[600] erſchoͤpfen, den Verlauf unordentlich und den Tod
unvermeidlich zu machen.
Ein vernuͤnftigeres Verfahren unterdruͤckt nicht
nur manchmal die Krankheit ſchon in ihrem Entſtehen,
wie ich ſeitdem oͤfters erfahren habe, wenn ich mich
gleich blos an beruhigende, und wo es noͤthig war, an
ſtaͤrkende Mittel hielt; ſondern bewirkt auch den na-
tuͤrlichſten Verlauf, macht die kritiſche Stoͤhrung
unſchaͤdlich, und befoͤrdert die verſchiedenen Ent-
ſcheidungen; und alles dieſes, wenn auch wirlich zu-
weilen die Leibesbeſchaffenheit ſehr fehlerhaft iſt, wie
es bey Herz in dem Manne S. 50., dem Juͤnglinge
S. 94. der Mutter und den zwey Kindern S. 100.
u. ſ. w. der Fall war.
Alles, was bisher einzeln vorgekommen iſt,
wird durch folgende Krankengeſchichte beſtaͤttigt. Si-
mon Schneider, Maurergeſell, ein 52 jaͤhriger, ſtar-
ker, wohlgenaͤhrter, vollbluͤtiger Mann, der jaͤhrlich zwey-
drey Mal Ader zu laſſen pflegte, dieſes aber ſchon zum
zweyren Male, obſchon er ſchon einige Zeit beaͤngſtigt war,
uͤbergangen hatte, erzuͤrnte ſich (1791. den 16ten Maͤrz)
heftig, nachdem er ſeine gewoͤhnliche Portion Wein ge-
trunken hatte. Er empfand alſogleich heftige Bangigkei-
ten, und ſchickte um den Wundarzt, der ihm 12 Unzen
Blut abzapfte, worauf ihm wie gewoͤhnlich uͤbel wur-
de. Nach einer halben Stunde war er irre, wollte
entlaufen, kannte Niemand, weinte und ſang, ſetzte
ſich im Bette auf, ſeufzte tief und fiel kraftlos auf den
Ruͤcken. So fand ich ihn nebſt einem geſchnuͤrten,
harten Pulſe, der aber in Ruͤckſicht der Geſchwindig-
keit,
[601] keit, ſo wie die Waͤrme natuͤrlich war. Ich gab ihm
eilends mehrere Hoffmanniſche Tropfen auf Zucker;
er nahms, ohne was zu empfinden. Unterdeſſen ver-
ordnete ich ein Quintel der naͤmlichen Tropfen in Muͤn-
zen- und Bibergeilwaſſer jedes 2 Loth mit Kamillen-
und weißem Mohnſafte. Bald legte er ſich auf die
Seite, und fieng an, uͤber den Geſchmack der Tro-
pfen den Kopf zu ſchuͤtteln; der Puls wurde freyer;
hie und da machte er die ſonderbarſten Bewegungen
mit den Backen und den Lippen, worauf er jedesmal
aufſaß, und uͤber unausſtehliche Bangigkeit und Ver-
wirrung des Kopfes klagte. Endlich bekam er einen
heftigen Froſt, wie es beym Nachlaſſen eines ſtarken
Krampfes zu geſchehen pflegt, deckte ſich zu, und ſchlum
merte einige Minuten. Darauf ließ er 2 Pfund eines
waͤſſerichten Harnes. Jetzt nahm er einige Male die Mix-
tur; auf die 3te Gabe ſchlief er ein, und erwachte
heiter; gieng zu Stuhle und ließ einen Harn, der ei-
ne Wolke auf dem Grund hatte. Er erzaͤhlte nun,
daß er ſeinen Tod fuͤr unvermeidlich gehalten habe;
wuſte aber vom Uibrigen nichts. Seine Gebehrden wa-
ren grimmig, und obſchon er einmal etwas von Rache
ſagte, ſo waren doch ſeine uͤbrigen Bewegungen nicht
ſtuͤrmiſch. Er beſchrieb mir auch das gewaltige Schnuͤ-
ren um die Weichen und den Magen. Dabey war er
hoch-feurig roth. Wie er aber bey ſich war, hatte
er ſeine gewoͤhnliche gute Farbe, und verſah den an-
dern Tag ſeine Geſchaͤfte.
Alſo Vollbluͤtigkeit, vernachlaͤßigte gewohnte
Blutausleerungen, um eine Zeit, wo es wahre Ent-
zuͤn-
[602] zuͤndungen gab, und dennoch von einer einzigen Ader-
laͤße ſo auffallende Folgen. Offenbahre Aehnlichkeit
mit der dritten und vierten Geſchichte. Acht Tage
vorher hatte ſich der Joſeph Rabbl Maurermeiſter
beym Handwerk erzuͤrnt, gieng nach Hauſe, ließ ſich
zur Ader, und war den andern Tag eine Leiche! —
Obſchon wir nun nicht wiſſen, in was eigent-
lich dieſe Krankheit beſtehe, ſo ſind mir dennoch dieſe
Hauptanzeigen, ſo bald Kraͤfte und Reitzbarkeit betraͤcht-
lich gelitten haben, ſo wichtig, daß weder die Abwe-
ſenheit der Kochung, noch das beſchwerliche Athmen,
die trockne Zunge, oder andere ſchwere Nervenzufaͤlle
eine Gegenanzeige der ſtaͤrkenden und beruhigenden
Heilart ausmachen koͤnnen; ja vielmehr unter die drin-
gendſten Anzeigen gerechnet werden muͤſſen, weil die
Nervenzuſtaͤnde nothwendig deſto mehr ausarten, je
mehr durch ihre anhaltende Wirkung die Stimmung
der feſten und die Miſchung der fluͤſſigen Theile zer-
ruͤttet werden. — Dieſes iſt ſo wahr, daß, wenn
die betraͤchtlichſten Anhaͤufungen in irgend einem Ein-
geweide durch die Gemuͤthsbewegungen entſtanden ſind,
aber weder die Kraͤfte, noch die Reitzbarkeit betraͤcht-
lich dadurch gelitten haben, weder Blut- noch andere
Ausleerungen einen merklichen Schaden thun. Ich
ſah von ungluͤcklicher Liebe das beſchwerlichſte Athmen,
und ſo anhaltende Stockungen, daß Geſchwuͤre unter
den Achſeln, Naſenbluten und Blutſpeyen entſtunden,
wogegen man oͤftere Aderlaͤßen vornahm, ohne daß
das
[603] das Uebel weder gebeſſert, (es ſeye dann auf eine
kurze Zeit) noch verſchlimmert worden waͤre.*)
Folgerungen.
Vom Unterſchied des geſunden und kranken
Zuſtandes.
§. 97.
Alles, was in den drey Erfahrungsſaͤtzen geſagt
worden iſt, beweiſet, daß die Leibesbeſchaffenheit,
die allgemeinen und oͤrtlichen Kraͤfte und die Reitzbar-
keit im geſunden Menſchen ganz anders beſchaffen ſind,
als im Kranken. Da nun das Heilvermoͤgen der Kunſt
und der Natur von dieſen drey wichtigſten Erforder-
nißen abhaͤngt; ſo muͤßen nothwendig im kranken Men-
ſchen, in Ruͤckſicht der Ein- und Gegenwirkungen ſo-
wohl ſeiner Beſtandtheile, als der Dinge außer ihm,
ganz andere, oder anderſt veraͤnderte Geſetze ſtatt ha-
ben, als im geſunden. Folglich ſind die Folgerun-
gen, die man von einem Zuſtande auf den andern
macht, theils mangelhaft, theils ganz irrig. Hier iſt
die Quelle ſo mancher Luftgebaͤude, eitler Erwartun-
gen, und falſcher Beobachtungen.
Nahrungsmittel bringen keine merkliche Veraͤn-
derung hervor, ſo lange ſie verdaut, und ihre Ueber-
bleib-
[604] bleibſel fortgeſchaft werden. Sobald aber z. B. ein
fauler Stoff im Magen liegt, ſo entſteht ſchon beym
Anblick der ſonſt angenehmſten Speiſe ein Widerwil-
len dagegen, und ihr Genuß erregt Erbrechen oder
andere Unordnungen. Brech- und Abfuͤhrungsmittel,
die im geſunden Zuſtande den Koͤrper abgemattet haͤt-
te, verſchaffen jezt wieder das vorige Wohlbefinden.
Bey ſtarken Dauwerkzeugen bleibt von der Milch ein
derber Unrath zuruͤck; ſie gerinnt hingegen in einem
ſchlappen Magen, verurſacht Kneipen, gelieferte,
fluͤßige, zwanghafte Stuͤhle; den Gallichten macht ſie
Verſtopfungen und erzeugt in ihnen die ſchaͤrfſte Gal-
le. — Je weniger uͤberhaupt ein Heilmittel mit dem
geſunden Zuſtande in Verwandtſchaft ſteht, deſto groͤ-
ßere Veraͤnderungen iſt es faͤhig, in demſelben hervor-
zubringen; und eben deßwegen kann ein Ding vor-
trefflich auf dieſen oder jenen kranken Zuſtand paſſen,
welches den geſunden oder einen andern kranken zer-
ruͤttet haͤtte. Macht man alſo in der Wahl und den
Gaben ſeiner Arzneyen, wie gewoͤhnlich zu geſchehen
pflegt, von ihrer Wirkung in dem geſunden Koͤrper
einen Schluß auf ihre Wirkung in dem Kranken; ſo
wird man das aͤchte Verhaͤltniß in eben dem Maaße
verfehlen, als die Leibesbeſchaffenheit, das Verhaͤlt-
niß der Kraͤfte und der Reizbarkeit verſchieden ſind.
Ich kenne kein Heilmittel, und uͤberhaupt kein
Heilverfahren, welches eine beſtimmte, immer dieſel-
be Wirkung haͤtte. Der Mohnſaft ſoll, den Schweiß
ausgenommen, alle uͤbrigen Ausleerungen unterdruͤ-
cken; er ſoll eine beruhigende Kraft haben; die Schmer-
zen
[605] zen und Kraͤmpfe ſtillen; die Saͤfte nach dem Kopf
treiben, eine innere Gaͤhrung derſelben hervorbringen
u. ſ. w. — lauter Wirkungen, die Heute wahr und Mor-
gen falſch ſind. Dabey erlaubt man nur geringe Ga-
ben. Indeſſen ſagt Grant vom Londner Philonium,
daß es die gichtiſchen Perſonen nicht ſo ſehr, als man
glauben ſollte, zu Verſtopfungen geneigt mache. Hat
ſich die Gicht auf den Magen geworfen, ſo giebt
man ſo, wie in der Bleykolik, obſchon in beyden Faͤl-
len der Kopf unendlich ſchmerzhaft und betaͤubt ſeyn
kann, in auſſerordentlichen Gaben den Mohnſaft mit
dem Erfolge, daß der Andrang der Saͤfte nach dem
Kopf, das etwannige Naſenbluten und die Betaͤubung
aufhoͤren. Hoffmann heilte mit einer Gabe von
achzig Tropfen fluͤſſigem Laudanum augenblicklich einen
Nervenſchlag, der ein boͤsartiges Wechſelfieber be-
gleitete. Gooch gab in einem Blutharnen, das zehn
Monate faſt ununterbrochen angehalten und allen Mit-
teln widerſtanden hatte, vier Gran unaufgeloͤſten
Mohnſaft, mit einem Loͤffel von einfachem Pfeffer-
muͤnzen- und Zimmetwaſſer. Der Kranke fiel bald
in einen feſten Schlaf, der faſt ſechs Stunden dauerte,
und das Blutharnen hoͤrte auf.*)Sydenham hin-
gegen empfiehlt ihn, um den Kindbettfluß wieder in
Gang zu bringen. Planchon ſah durch Mohnſaft ein
Kind von einem ſchlafſuͤchtigen Zufall retten, welches
von zuruͤckgehaltenem Blatterſtoff entſtanden war. Lind
gab eine halbe Stunde, nachdem im Wechſelfieber die
Hitze angefangen hatte, 15—20 Tropfen der thebai-
ſchen
[606] ſchen Tinktur, worauf der Anfall kuͤrzer und leichter
wurde. In den meiſten erleichterte ſie den Kopf,
und machte einen haͤufigen Schweiß, der angenehm
warm war; ſie machte einen ruhigen Schlaf, und ſtaͤrk-
te den matten Kranken. Das Irreſeyn machte ſie
nie ſtaͤrker, wo es daſſelbe nicht hob. Sehr ſtarke
und wiederholte Gaben Mohnſaft erregen im Ruͤcken-
und Bauchkrampf keine Betaͤubung.*) Das naͤmliche
geſchieht, wenn Mohnſaft gegen den trockenen Brand,
wo er ſo herrliche Dienſte thut, in groſſen Gaben ge-
braucht wird. Wall hat bemerkt, daß unter den
naͤmlichen Umſtaͤnden kleine Gaben Mohnſaft ſehr oft
die Reizbarkeit vermehrten, wo hingegen ſtarke Gaben
die groͤſten Unordnungen der Nerven beruhigten. u. ſ. w.
Selten darf man den Bauchfluͤſſen in faulich-
ten Krankheiten ganz Einhalt thun. Indeſſen giebt
man in dieſem Falle doch den herben Saͤuren den
Vorzug. Walcarrenghi gab den Granataͤpfelſaft
in Waſſer nach dem Beyſpiele des Alexander Tral-
lianus und anderer Alten. “Sanis, ſagt dieſer,
alvum adſtringunt, ægris autem non item. In
Gallfiebern gab Planchon bey aufgeloͤſten Stuͤhlen
oͤfters den Weinſchaͤdling- oder den Quittenſaft, wel-
che ſonſt ebenfalls ſtopfen. Die Stuͤhle wurden zwar
verdickt, aber nicht aufgehalten, weil die Erſchlap-
pung der Gedaͤrme zu groß, die Saͤfte des Magens,
der Leber und der Gedaͤrme zu aufgeloͤſet ſind, als
daß dieſes zu befuͤrchten waͤre. — Wenn bey Blut-
fluͤſſen oder andern Ausleerungen die Kraͤfte erſchoͤpft
werden,
[607] werden, Ohnmachten und Zuckungen folgen; wenn
Blutbrechen, Blutſpeyen, und andere Blutfluͤſſe von
aufgeloͤſten ſcharfen Saͤften entſtehen, welche bald
von den fuͤrchterlichſten Ohnmachten begleitet werden,
was will man da von herzſtaͤrkenden, zuſammenzie-
henden Mitteln befuͤrchten? gluͤcklich genug, wenn
man im Stande iſt, dieſe Ausfluͤſſe nur zu mindern?
Freylich wuͤrde im Falle einer ſtarken Erhitzung, wo
ein Blutfluß von heftiger Bewegung entſtanden waͤre,
und die feſten Theile noch ihre ganze Thaͤtigkeit ha-
ben, ein Trunk kalten Waſſers, oder eine ſtarke
Alaunaufloͤſung ganz anderſt wirken.
Theden erwaͤhnt einer ſonderbaren Nerven-
krankheit. “Als die ordentliche Zeit des Monatfluſ-
ſes kam — — folgte am rechten Arme eine Laͤhmung;
man legte auf denſelben eine ſpaniſche Fliege; dieſes
zog keine Blaſen auf der Stelle; dagegen zeigte ſich
eine Roͤthe am linken Arm, uͤber welchen ſie auch,
waͤhrend daß das Blaſenpflaſter am rechten Arme lag,
beſtaͤndig ſchrie. Die Laͤhmung des rechten Armes
verlor ſich, und der linke wurde damit befallen. Man
legte auch auf dieſen ein Blaſenpflaſter, und es er-
folgte wieder die gegenſeitige Wirkung, nur mit dem
Unterſchiede, daß das Uebel nunmehr aus beyden Ar
men verſchwand„. Er hat ihr nach gaͤnzlicher Her-
ſtellung aus Neugierde noch einige Blaſenpflaſter le-
gen laſſen; es erfolgte aber allemall die ſonſt gewoͤhn-
liche Wirkung, wie bey andern Menſchen.*)
Der
[608]
Der Umſtand, daß ein gewiſſes Heilverfahren
die ihm ſonſt gewoͤhnlichen ſchaͤdlichen Folgen nicht her-
vorbringt, iſt oft ein Beweis, daß es angezeigt war.
Blaſenpflaſter aus ſpaniſchen Fliegen machen dem ge-
ſunden ſchon, wenn ſie ſehr ſchwach ſind, die Harn-
ſtrenge. Giebt man ſie aber in dem Zeitpunkt der
Entkraͤftung und der verminderten Reizbarkeit, bey
zaͤhen, leimichten Saͤften, in rheumatiſchen Schmer-
zen, bey oͤrtlichen Stockungen von Erſchlappung u. d-
gl.; ſo erheben ſie den Aderſchlag, erwecken die Reiz-
barkeit, zertheilen den zaͤhen, klebrichten Stoff, ver-
fluͤchten die rheumatiſche Schaͤrfe, heben die Stockun-
gen, ohne Bangigkeiten, Wallungen, Fieber, Harn-
ſtrenge, oder faulichte Aufloͤſung der Saͤfte hervorzu-
bringen. Mertens verordnete den Aufguß der Wohl-
verleybluͤthen zu zwey Quentchen auf ein Pfund Waſ-
ſer, wovon alle Stunden ein Loͤffelvoll zu nehmen war
Aber der Kranke hatte alle Zeichen der geſpaltenen
Hirnſchale und des ergoſſenen Blutes; er klagte wohl
uͤber heftige Schmerzen vom Hinterhaupt gegen den
Hals und das linke Schulterblatt zu; uͤbrigens befand
er ſich bald beſſer; ſpuͤrte weder Magenſchmerzen,
noch ſonſt eine Ungelegenheit, ſondern wurde vielmehr
weniger von Eckel geplagt.*) Was ertragen und ver-
dauen nicht manchmal bleichſuͤchtige Maͤdchen und
ſchwangere oder hyſteriſche Frauen? Kalch, Kreide,
Aſche, Kohlen, eine unglaubliche Menge Pfeffer,
Haͤringe, Leder, rohes Fleiſch, Menſchenkoth u. ſ. w.
Der
[609]
Der Kranke S. 329. konnte in geſunden Tagen
keinen Tokaier ertragen. Nachdem er aber uͤber zwan-
zig Tage an einem faulichten Nervenfieber unter den
ſchlimmſten Zufaͤllen, Zittern, Zucken und gewaltigem
Sehnenhuͤpfen des ganzen Koͤrpers, Schwerhoͤrigkeit,
Betaͤubung und anhaltender Verwirrung, aͤuſſerſter
Angſt u. ſ. w. darnieder gelegen war, bekam er Luſt
darnach. In einer ſo verzweifelten Lage reichte man
ihm ſchalenvollweis, ſo lange er Begierde darnach
hatte, und ſo viel er vertrug. So trank er drey Tage
lang, jeden Tag drey Flaſchen Tokaier, und zwey
Flaſchen Rheinwein. Nebſtdem nahm er jede Stun-
de einen Skrupel Kina mit einem Gran Kampfer;
und alles dieſes bewirkte weiter nichts, als daß er
nach und nach beſſer zu Sinnen kam, und die obigen
Zufaͤlle zuſehends nachließen. Jezt gab man den Wein
weniger und mit Waſſer gemiſcht. Er fieng aber bald
an, obſchon er im Kopfe heiter blieb, uͤber Brennen
im Halſe zu klagen. So erhielt er ſich einige Tage;
aber wie ich ſchon geſagt habe, ich drang alle Tage
auf eine oder zwey Ausleerungen; er hatte eine aͤuſſerſt
ſchlechte Leibesbeſchaffenheit, verfiel alſo in den letzten
Ruͤckfall, und ſtarb den ſechs und dreißigſten Tag mit
Zufaͤllen einer Verſetzung nach dem Gehirn. — Nach-
her fand ich in Walls Werkchen von den Nervenſie-
bern eine ganz aͤhnliche Geſchichte, deren Ausgang
aber gluͤcklicher war.
Eine im Sommer behandelte Weibsperſon,
nahm verſchiedene Tage lang alle vier und zwanzig
Stunden, bey jeder Ohnmacht ein Glas, vier Bou-
Gall I. Band. Q qteillen
[610] teillen Wein und Waſſer, dann nicht wenig Brandt-
wein, und oͤfters eine Miſchung mit ſtarken Herzſtaͤr-
kungen und Kinarinde zu ſich. Als ſie ſich erholte,
griff ihr der Wein den Magen an; man muſte all-
maͤhlig die Menge vrrmindern, bis ſie endlich kaum
noch ein Glas voll vertragen konnte. “Wenn in
Nervenfiebern, ſagt Macbride, der Puls weich oder
geſunken iſt, und ein Irreſeyn mit Betaͤubung ſtatt
hat, ſo muß man Wein in groſſer Menge geben.„
Wall ſagt alſo mit allem Recht, daß man
bey Idioſinkraſien von der Natur des Uebels erwarten
koͤnne, daß dadurch dieſe beſondere, eigne Beſchaf-
fenheit des Koͤrpers veraͤndert werde, und ſomit eine
Arzney mit groͤſtem Vortheil genommen werden koͤnn-
te, die zu einer andern Zeit oder bey vollkommner
Geſundheit das Nervenſiſtem zu reizen, oder zu beun-
ruhigen geſchienen hat. Und Grant ſagt: “Ein
Arznenmittel leiſtet einem Patienten nicht anderſt und
ehe Dienſt, als bis daſſelbe bey ihm erforderlich iſt.
Was ſoll man alſo von jenen Maͤnnern denken, wel-
che ein Mittel, bloß um ſeiner ſtarken Wirkſamkeit
willen, unter dem einſeitigen Vorwande verdammen,
daß ſie uͤble Wirkungen davon geſehen haͤtten? Wa-
rum verdammen ſie nicht das Aderlaſſen, die Brech-
und Purgiermittel, die Blaſenpflaſter, den Kampfer,
die Rinde, als eben ſo viele unter gewiſſen Umſtaͤn-
den hoͤchſt nachtheilige Mittel? — Man huͤte ſich vor
uͤbereilten Beobachtungen; unterſuche mit gewiſſenhaf-
ter Beharrlichkeit die gegenwaͤrtigen Umſtaͤnde; laure
den Stufen und Zeitpunkten auf; halte die Kraft ſei-
nes
[611] nes Mittels mit der noch uͤbrigen Thaͤtigkeit der Na-
tur zuſammen: ſo wird man den Wein, die Wohl-
verley, den Schierling, das Gummigutt, das Queck-
ſilber, den Mohnſaft, das Feuer u. ſ. w. nicht mehr
fuͤrchten. — Man folgere von Verſuchen, die man an
Thieren gemacht hat, nicht geradezu auf den Men-
ſchen; man merke auf den Unterſchied des Kranken
und geſunden Zuſtandes; man vergeſſe nie auf die ver-
ſchiedene Natur der verſchiedenen Krankheiten u. ſ. w.
ſo wird man einſehen, warum der Wahnſinnige gan-
ze Tage auf einem Striche von Kohlen hin und her
gehen, ein vernuͤnftiger hingegen eine Idee nicht lan-
ge unveraͤndert behalten kann; warum der Raſende
Hunger und Kaͤlte ertraͤgt, wobey der geſunde erſtar-
ret; warum das naͤmliche Mittel die entgegengeſetzte-
ſten Wirkungen hervorbringt; warum ſich die Beobach-
ter unaufhoͤrlich widerſprechen, obſchon ſie ſich alle
auf die Erfahrung berufen u. ſ. w. Man ermuͤde nie
von der Natur zu erfahren, Was ſeye, und unter
welchen Bedingnißen es ſo ſeye: Und nur dann, wenn
dieſe Kenntniß nicht hinreicht, unſern Zweck zu errei-
chen, frage man: Wie es ſeye? So wird man
zwar weniger ſinnreiche und voruͤbergehende Mei-
nungen, aber deſto dauerhaftere und nuͤtzlichere Wahr-
heiten entdecken.
Q q 2Vier-
[612]
Vierter Abſchnitt.
Von den Hilfsmitteln der Natur.
§. 98.
Von den weſentlichſten Erfordernißen zur Wirk-
ſamkeit der Natur gehe ich zu den Mitteln uͤber, de-
ren ſich die Natur vorzuͤglich bedient, um wirkſam zu
werden. Hieher rechne ich: Ueberhaupt die Zufälle,
wovon theils ſchon geredet worden iſt, theils noch um-
ſtaͤndlicher im Kapitel vom Unterſchied der Krankhei-
ten und Zufaͤlle geredet werden wird. — Fieber und
Entſcheidungen, denen ich ebenfalls ein eignes Ka-
pitel widme. — Entwicklung; ihr Gang und ihre
Zufaͤlle im Kapitel von den Krankheiten der Alter und
Geſchlechter. — Reiz, Mitleidung, Gewohn-
heit, und Inſtinkt, wovon ich hier, ſoviel es mei-
ne Abſicht fordert, vortragen werde.
Reiz und Mitleidung.
§. 99.
Die allgemeinſte Wirkung des Reizes iſt, daß
dadurch die Summe der Thaͤtigkeit entweder im ganzen
Koͤrper oder in einzelnen Theilen vermehrt wird. Wo
immer alſo die eine oder die andere Verrichtung zu
traͤge von ſtatten geht, da muß Natur oder Kunſt
einen Reiz anbringen. Jeder von Außen hinzugekom-
mene, oder von Innen erzeugte Krankheitsreiz veran-
laßet
[613] laßet gewiſſe Bewegungen, welche ſich weiter verbrei-
ten. Durch dieſe der Natur des Reizes und der ge-
reizten Theile angemeſſene Bewegungen wird nicht
ſelten der reizende Stoff in groͤſſerer Menge erzeugt,
wie z. B. in den anſteckenden Krankheiten, den Ma-
ſern, Blattern, der Luſtſeuche, Kraͤze, vielleicht auch
bey der Wirkung einiger Gifte, welche, ohne gera-
dezu eingeſogen zu werden, theils durch Erzeugung,
theils durch die unordentlichen Bewegungen ihre ge-
wohnten Wirkungen aͤußern; wie wir am Mohnſaft
ein Beyſpiel haben. Am oͤfteſten aber ſind gerade
dieſe Bewegungen das Mittel, dem Reize ſeine Ge-
walt zu benehmen, ihn abzuſtumpfen, zu kochen und
zur Ausleerung faͤhig zu machen. Daher Fieber,
fieberhafte Zufaͤlle, Schmerz, Zuckungen, Kraͤmpfe,
Angſt, Froſt, Hitze, Erbrechen, Durchfaͤlle u. ſ. w.
und alles, was dadurch Gutes oder Schlimmes bewirkt
wird. — — Wir haben viele und heftige Reize in
unſerer Macht, wodurch wir der unthaͤtigen Natur
zu Hilfe kommen koͤnnen. Es laͤßt ſich aber nichts
Nuͤtzliches ſagen, ehe man die Geſetze kennt, an wel-
che die Natur bey jedem Reize gebunden iſt. Auſſer-
dem alſo, was ich ſchon bey der Reizbarkeit geſagt
habe, mache ich noch folgende Bemerkungen.
§. 100.
Erſtes Geſetz. Auf eine gereizte Stelle über-
haupt, und insbeſondere auf die meiſt gereizte
Stelle wirkt die Natur am ſtärkſten.
Ein
[614]
Ein Splitter unter der Haut, aufgelegter Sei-
delbaſt, Senfteige, Blaſenpflaſter, u. ſ. w. verurſa-
chen nach verſchiedenem Grade ihrer reizenden Kraft,
Waͤrme, Jucken, Pricklen, Brennen, Roͤthe,
Schwulſt, Ergießungen, Spannen, Schmerz, Ent-
zuͤndung, Berſten der Oberhaut, Ausſchwitzen der
Feuchtigkeiten, Eiterung ꝛc. — Auf dieſe Erſcheinun-
gen gruͤndet ſich das Betragen der Aerzte, wenn ſie
Theile, deren Verrichtungen zu traͤg oder gar nicht
von ſtatten gehen, zu reizen ſuchen, z. B. gelaͤhmte
Theile, ſchlappe Eingeweide, mittelſt heißer, kalter,
mineraliſcher Baͤder, aͤuſſerlicher und innerlicher Reiz-
mittel, als Sauerteige, Blaſenpflaſter, ſpaniſche
Fliegen, bittere, gewuͤrzhafte, abfuͤhrende, Harn-
Speichel-Thraͤnen-Rotz ausleerende Dinge. — Da-
durch werden die Haͤute, die Gefaͤße, die Nerven,
das Zellengewebe der traͤgen Theile zu lebhaftern
Schwingungen und groͤßerer Thaͤtigkeit aufgefodert,
und die Ab- und Ausſoͤnderungen in denſelben ver-
mehrt. Auf dieſe Art erregen Kunſt und Natur oͤrt-
liche Fieber, oͤrtlich vermehrte Wirkſamkeit z. B.
des Magens, der Gedaͤrme, der Harnblaſe, der
Speicheldruͤſen und eines jeden Theiles, der eines
Reizes faͤhig iſt.
Hat nun die Natur die Abſicht, auf irgend ei-
nen von dieſen Theilen eine Ablagerung zu machen,
ſo ſind einige der obigen Zufaͤlle, als Jucken, Span-
nen, Waͤrme, Roͤthe u. d. gl. die erſten Anſtalten,
wodurch der jetzt noch groͤßtentheils durch die ganze
Saͤftmaße verbreitete fremdartige Stoff zugelockt,
und
[615] und folglich von den uͤbrigen Saͤften abgeſchieden wird.
Je heftiger dieſe Zufaͤlle ſind, und je unedler nebſt-
bey der Ort der Ablagerung iſt, deſto heilſamer iſt
die Verwerfung. Daher der Nutzen der Peſtkohlen
und Peſtbeulen in der Peſt und den peſtilentialiſchen
Fiebern, gewiſſer Blutſchwaͤren in Blutanſchoppun-
gen; des Speichelfluſſes, der Harnſtrenge, des kriti-
ſchen kalten Brandes in den hitzigen Nervenſiebern;
der Ohrendruͤſengeſchwuͤlſte und Leiſtenbeulen in ſchlim-
men Faulfiebern; der dicken Lippen, der verſchiede-
nen Ausſchlaͤge, des Grindkopfes u. d. gl. bey Kin-
dern; der geſchwollenen Druͤſen bey Skrophuloͤſen;
des aͤußerlich geſchwollenen rothen Halſes in der ent-
zuͤndlichen Braͤune; des dicken Bauches nach langwie-
rigen Fiebern, beſonders bey Kindern; der geſchwol-
lenen und ſchmerzhaften, rothen Fuͤße in der Gicht;
der Geſchwulſt des Geſichtes und der Gliedmaſſen im
Eyterungsfieber der Blattern; der Nagelgeſchwuͤre u.
ſ. w. Daher auch der Nachtheil der Verwerfungen
nach den innern Theilen, z. B. den Hoͤhlen des Ge-
hirns, der Bruſt, des Herzbeutels, des Unterleibes,
der Gelenke ꝛc. Was iſt alſo in der Lungenſucht von
den Schmerzen um die Lebergegend und an den Fuͤſ-
ſen, von der brennenden Hitze der Gliedmaßen, von
den ſchmerzhaften Stellen am Bruſtbein zu denken? —
Was lehrt uns das Anſchwellen der Fuͤße in den ver-
ſchiedenen Waſſerſuchten? Wie iſt jener hellglaͤnzen-
de weiße Frieſel zu beurtheilen, der bey den Kindern,
welche an waͤßerichten Ergießungen in den Gehirn-
hoͤhlen ſterben, einen oder zwey Tage vor ihrem To-
de
[616] de haͤufig auf dem Bauche und der Bruſt zum Vor-
ſchein koͤmmt? Freylich, lauter hoͤchſt ſchlimme Vor-
deutungen, in ſofern ſie als Zeichen der wichtigſten
Uebel betrachtet werden; aber dennoch Fingerzeige
einer zu ohnmaͤchtigen Natur!
Denn dieſes iſt der Weeg, auf welchem die
Natur die ſchwerſten Krankheiten zu heilen pflegt.
Beyſpiele, wo durch zufaͤllige Geſchwuͤre, Kraͤtze, Po-
cken, Verwundungen, ſie ſeyen nun das Werk der
Natur, der Kunſt, oder eines Zufalls geweſen, unheil-
bar geſchienene Krankheiten, Wahnſinn, eiterhafte
Lungenſuchten, Hyppochondrie, Waſſerſuchten, toͤdlich
Ablagerungen ꝛc. geheilt worden ſind, habe ich im
erſten Abſchnitte theils genug angefuͤhrt, theils kom-
men ſie ſo haͤufig bey den Schriftſtellern vor, daß
nichts uͤbrig bleibt, als die Urſache davon zu erfor-
ſchen, und die Anwendung auf das Betragen der
Aerzte zu machen.
Vorausgeſetzt alſo, daß die Bedingniße, ohne
welche keine Wirkſamkeit der Natur ſtatt hat, erfuͤllt
ſind; ſo koͤmmt alles darauf an: daß der Reitz in
demjenigen Theile, auf welchen man das Beſtreben
der Natur richten will, ſtaͤrker ſeyn muͤße, als in
jenem, wovon man es entfernen will. Denn ſo lan-
ge irgendwo ein ſtaͤrkerer Reitz obwaltet, ſind die Ver-
richtungen der andern Theile entweder geſchwaͤcht, oder
ſie hoͤren gar auf; daher wird die Kochung der Gicht-
materie ſo lange gehindert, als die Gicht mit einer
rohen Entzuͤndung verbunden iſt; daher die Verſtaͤr-
kung der Lebensverrichtungen bey Wundfiebern, bey
Ent-
[617] Entzuͤndungen und Blutfiebern, da indeſſen die natuͤr-
lichen Verrichtungen ſehr geſchwaͤcht ſind, weßwegen
Stuhl und Harn ſparſam oder gar nicht abgehen, die
Daukraft gleichſam tod iſt ꝛc., und auch auf keine
Weiſe befoͤrdert werden ſollten, ſo lange man von der
Verſtaͤrkung der Lebensverrichtungen etwas Gutes er-
wartet; daher in Gall- und Faulfiebern die Verſtaͤr-
kung der natuͤrlichen Verrichtungen, vermehrte Aus-
leerungen auf allen Weegen, da ebenfalls die uͤbri-
gen Geſchaͤfte der thieriſchen Haushaltung traͤge von
ſtatten gehen, und ſo lange nicht gewaltthaͤtig ange-
ſpornt werden ſollten, als von jenen etwas Gutes zu
erwarten iſt. Sobald nach der Entbindung der Trieb
der Milch nach den Bruͤſten entſteht, ſo hoͤrt der
Kindbettfluß auf einige Zeit entweder ganz auf, oder
wird ſehr ſparſam. Es waͤre Unſinn, dieſes fuͤr wi-
dernatuͤrlich anzuſehen, und ihn befoͤrdern zu wollen.
Diejenigen Vorbereitungen, die Lentin der
Entbindungszeit vorangehen laͤßt, beziehen ſich haupt-
ſaͤchlich darauf, daß er alles das zu entfernen ſucht,
was die Geburt ohne Noth erſchweren, oder nach
derſelben einen Reiz im Unterleibe erregen kann, der
ſtaͤrker wirkt, als der natuͤrliche Zug der Milch nach
den Bruͤſten.
Beym Blutſpeyen iſt allermeiſt der Leib ver-
ſtopft; und alles, was man zu deſſen Oeffnung giebt,
wirkt mehr auf die Lunge, als auf den After; da-
her die gelindſten Mittel das Blutſpeyen vermehren,
und zur Befoͤrderung des Stuhles, was man nie
thun ſollte, ſtarke Gaben erfordert werden.
Da-
[618]
Darauf gruͤndet ſich auch das Hippokratiſche
Geſetz, daß man keine Ausleerungen veranſtalten ſol-
le, waͤhrend dem die Natur auf einem entgegengeſetz-
ten Weege eine andere veranſtaltet. So z. B. ſolle
man nicht abfuͤhren, wenn ein Schweiß im Anzuge
iſt, und nicht zum Schwitzen geben, wo die Materie
ihren Ausgang nach dem After oder der Harnblaſe
nimmt, weil ſonſt jedesmal das Werk der Natur ge-
ſtoͤhrt wird.
Dieſe Regel leidet ihre Ausnahmen: denn es
giebt Faͤlle, wo man die Natur von einer Seite er-
leichtern muß, waͤhrend ſie auf der andern ihr Werk
nicht ganz zu Stande bringen kann. In der von 1757 bis
—59. herrſchenden Petechienepidemie ließ Haſenöhrl
einem Manne zur Ader, waͤhrend daß der Ausſchlag
auf der Haut war, weil er uͤber einen ſtechenden, an-
haltenden Schmerzen unter den kurzen Ribben klagte,
der Puls haͤrtlich und das Athmen gehindert war.
Auch Huxham raͤtht in aͤhnlichen Faͤllen das Blutlaſ-
ſen, wenn naͤmlich der Puls geſchwind, hart, voll,
der Athem kurz und muͤhſam, der Harn roth, der
Durſt heftig, die Zunge trocken und ſchmutzig, die
Augen roth, funkelnd, die Kopf- Ruͤcken- Kreuz-
und Lendenſchmerzen unertraͤglich und das Klopfen der
Droßeladern ſehr merklich ſind. Unter dieſen Zufaͤl-
len, ſagt Planchon muß man ſogar in der Peſt Ader-
laſſen. Es gilt auch bey allen Arten von ſchlimmen
Blattern; nur jedesmal mit der Einſchraͤnkung, daß
die Natur der herrſchenden Seuche nicht entgegen ſeye
Fordyce that das naͤmliche im Frieſelfieber, obſchon
der
[619] der Ausbruch vollſtaͤndig war, um den Kranken eben-
falls von einem heftigen Seitenſtiche, der ihn zu erſti-
cken drohete, zu befreyen. Ueberhaupt, ſeitdem die
Aerzte mit der Natur der Ausſchlaͤge beſſer bekannt
ſind; ſeitdem man weiß, daß ſie ſehr oft nur das Er-
zeugniß eines zu ſehr kochenden und entzuͤndlichen Ge-
bluͤtes, oder einer hitzigen Heilart ſind; ſeitdem man
von der Zuſammenkunft verſchiedener Krankheiten in
einem und dem naͤmlichen Kranken mehr uͤberzeugt iſt,
und die dringendſte Heilanzeige den uͤbrigen vorzuziehen
gelernt hat; ſeitdem man die kritiſchen Bemuͤhungen
der Natur von den zufaͤlligen unterſcheidet: — — —
ſo ſind wir weder bey Ausſchlaͤgen, noch bey Bauch-
fluͤſſen, noch bey Blutſpeyen, Blutfluͤſſen u. d. gl.
weder mit Aderlaßen, noch Brech- und Abfuͤhrungs-
mitteln, mehr ſo furchtſam, als es unſere Vorgaͤnger
waren. Wir ſchaffen im Anfang der Krankheiten die
beweglichen Unreinigkeiten weg, laſſen bey zufaͤlligen
Bauchfluͤſſen zu Ader, machen zu allen Zeiten aller
Arten Ausleerungen, wenn wir nur hoffen koͤnnen,
daß wir dadurch die Natur von ihren Hinderniſſen be-
freyen. Doch die erforderlichen Maßregeln im Ka[p].
von den Entſcheidungen.
§. 101.
Das Beſtreben der Natur richtet ſich alſo je-
des Mal nach dem ſtaͤrkern Reitze. Wir wuͤrden noch
weit oͤftere Wunder wirken, wenn wir unſer Verfah-
ren mehr nach dieſem Geſetze einrichteten. Ich will
vorher noch einige Thatſachen anfuͤhren, ehe ich die-
ſem
[620] ſem Mangel der jetzigen Heilart geradezu entgegen ar-
beite.
Hippokrates hat angemerkt, “daß die, wel-
che die goldene Ader haben, weder vom Seitenſtiche,
noch von der Lungenentzuͤndung, noch von einem freſ-
ſenden Geſchwuͤre, noch von Blutſchwaͤren, noch von
Brandblaſen, vielleicht auch nicht vom Ausſatze,
vielleicht nicht von den uͤbrigen dergleichen Krankhei-
ten heimgeſucht werden. Ja viele zur Unzeit geheilte
ſeyen in kurzem von dieſen Uebeln uͤberfallen worden,
und durch ſie in Gefahr gerathen. Dieſes gilt auch
von jeder andern Verwerfung, dergleichen die Roͤhr-
geſchwuͤre ſind, und von allen uͤbrigen Ausſcheidungen.
Was ſich aber in der Krankheit einfindet, und ſie
heilet, das wendet ſie ſogar ab, wenn ſich es vorher
einſtellt. — Die welche in den Fiebern aus dem Kopfe
ſchnupficht und heiſer ſind, bekommen ſeltner Ruͤck-
faͤlle. Alles was verſchwuͤrt, laͤßt keinen Ruͤckfall zu;
denn dieſe Kochung iſt an ſich zugleich eine Kriſis und
Verwerfung„.*) Jede Krankheitsurſache wirkt hier auf
das gereizte Pfortaderſyſtem. Indeſſen kann auch die-
ſer Reitz durch einen noch ſtaͤrkern uͤberwaͤltigt werden.
Ich ſah einen Hypochondriſchen Mann, der den Beſchwer-
den der Goldader wirklich ſtark unterworfen war, und
ſchon oͤfter den Seitenſtich hatte, im Monat Merz;
1787. von einem heftigen, wahrhaft entzuͤndlichen
Seitenſtiche befallen werden.
In den von Clerk beobachteten Seuchen ſtarb
kein einziges Thier, welchem an dem Halſe ein Haar-
ſeil
[621] ſeil gezogen war. Auch unſerm Wolſtein iſt dieſes
ſowohl in den gewoͤhnlichen Seuchen der Thiere, als
in ihren Lungenentzuͤndungen eines der geprießenſten
Mitteln. Wenn die Hunde von ihrer eignen Krank-
heit befallen, das iſt, triefaͤugicht werden, eine ſchmu-
tzige rotzige Entzuͤndung der Schleimhaut bekommen,
die Goſche und die Zaͤhne von einem ſchmutzigen, ſtin-
kenden Geifer triefen ꝛc. und man nicht bald mittelſt
des mineraliſchen oder antimonialiſchen Moors, Brech-
und Schweißmitteln, Schießpulvers ꝛc. Hilfe ſchaft, ſo
werden ſie ſchwindlich, mager, verfallen in Hirnwuth,
in ein anhaltendes Zittern, und Unvermoͤgen zu ſte-
hen, beſonders auf die hintern Fuͤße. Ein ſtarkes
Haarſeil am Nacken heilt dieſe Krankheit am ſicher-
ſten. Der Arzt Hencius befreyete dadurch Venedig
von der Peſt, daß er den Gebrauch der Aeztmittel
allgemein anrieth. In der Ukraine hat man bemerkt,
daß alle die, ſo Geſchwuͤre oder alte Wunden hatten,
nicht von der 1738—39 herrſchenden Peſt angegriffen
wurden. In Lauſanne, Koppenhagen, Hamburg,
Breßlau hat eben dieſes Vorbeugungsmittel in un-
endlich vielen Faͤllen der Erwartung entſprochen. Fa-
britz von Hilden ſagt: “Ich weiß nicht, das Je-
mand, der ein Fontanell am Arme oder Fuß gehabt,
außer etwan eine oder etliche Perſonen, die aͤuſſerſt
verdorbene Saͤfte hatten, an der Peſt geſtorben waͤ-
ren. Diemerbröck, Mercurialis, Hercules a
Saxonia, Georgius, Hilldanus, Johannes Ar-
culanus bezeugen eben dieſes aus Erfahrung von der
Peſt. Tiſſot heilte ein Augentriefen durch eine Fon-
tanell
[622] tanelle, worauf heftige Schmerzen und Entzuͤndung an
dem Geſchwuͤre, und ein flechtenartiger Ausſchlag
uͤber dem ganzen Leibe zum Vorſchein kamen.
Eben ſo wirken Blaſenpflaſter bey bevorſtehen-
den Verwerfungen, bey heftigen innern Reizen. Man
hat durch Peitſchen, Kneipen, Brennen, Stechen,
eiskalte Umſchlaͤge die heftigſten, ſonſt unuͤberwind-
lichſten Koliken geheilt. Alpinus erzaͤhlt die Ge-
ſchichte eines Kranken von 40 Jahren, welcher ſeit
langer Zeit an der ſchleimichten Engbruͤſtigkeit litte,
und durch keines von unzaͤhlichen Mitteln wieder her-
geſtellt werden konnte. Endlich, nachdem der ganze
Koͤrper ſchon voͤllig abgezehrt war, nahm er zum
aͤgyptiſchen Brennen ſeine Zuflucht, und ließ es an
drey Stellen auf der Bruſt anbringen. Er hielt die
Geſchwuͤre lange offen, und wurde wieder geſund.*)
Die Chineſer bedienen ſich des Brennens bey Magen-
ſchmerzen auf den Schultern, beym Seitenſtiche auf
den Ruͤckwirbeln und auf dem ganzen Ruͤcken nach der
Laͤnge des Ruͤckgrades. Die Aegyptier haben die Ker-
zen (Moxam) mit Nutzen gegen den Schlagfluß, die
fallende Sucht und die Laͤhmungen gebraucht. Hip-
pokrates erklaͤrt ſchon, daß bey Perſonen, welche
von alten Huͤftſchmerzen geplagt werden, endlich die
Austrocknung des dicken Beins und das Hinken erfolgt,
wenn ſie ſich nicht dieſes Brennmittels bedienten. So
wurde der Geiſtliche bey Swieten, der eine angeerbte
Gicht hatte, durch die Moxam von den heftigſten
Schmerzen befreyet. Die Wunde gab nach vermehr-
ten
[623] tem oͤrtlichen Umlaufe einen heftigen Geſtank von ſich,
worauf der Kranke in den bey Entſcheidungen ſo wich-
tigen Schlaf verfiel, und ſchmerzenlos wieder erwach-
te.*) Das Beyſpiel jenes Juͤnglings beym Tulpius
iſt bekannt, der ſich mit bewunderungswuͤrdiger Stand-
haftigkeit die Huͤfte bis auf’s Bein hinein brennen
ließ, die Wunde lange fließend erhielt, und ſo von
dem grauſamſten Huͤftweh befreyet wurde. Der ſtar-
gegohrne Reißtrank verurſacht den Japoneſern Zuckun-
gen und unertraͤgliche Schmerzen in den Eingeweiden,
den Muskeln des Unterleibs und beſonders in dem Lei-
ſten und den benachbarten Theilen. Die japoniſchen
Aerzte machen drey Reihen Nadelſtiche, jede zu drey
Loͤchern, und vertilgen den Schmerz ohne Mohnſaft,
ohne Ausleerung und ohne Zerſtoͤhrung der Nerven,
bloß durch Ableitung des Reizes von den innern Thei-
len nach den aͤußern. Duobus doloribus ſimul obor-
tis non in eodem loco, vehementior alterum ob-
ſcuret.
Strack macht bey Gelegenheit der Blaſen-
pflaſter im Seitenſtich folgende Bemerkung: “Wenn
kurz nach dem Auflegen eines Blaſenpflaſters ein kri-
tiſcher Auswurf erfolgte, ſo geſchah dieſes nicht,
weil das Salz der Kanthariden die Speckhaut aufloͤ-
ſete, oder die Lungengefaͤſſe und Lungen ſelbſt zu mehr
Thaͤtigkeit in der Abſoͤnderung und Ausleerung an-
ſpornte; ſondern vorzuͤglich, weil der von außen er-
weckte Schmerz den Mittelpunkt der Entzuͤndung von ei-
nem empfindlicheren Theile wegruͤckte, daher denn auch
Schmerz
[624] Schmerz und Fieber aufhoͤrten, der Athem freyer
wurde, und kurz hernach der Mundauswurf ſich ein-
ſtellte. So hoͤrt auf gleiche Weiſe die ganze Krank-
heit auf, wenn der Stoff zur Entzuͤndung an den
Lippen ausſchwuͤrt, oder ſich von der Seite hinweg
und an den Oberarm begiebt.„
Gerade ſo werden die hartnaͤckigſten Verſtopfun-
gen des Leibs und des Harns gehoben, indem man
an den After oder die Harnroͤhre ſtark zuſammenziehen-
de Mittel anbringt; z. B. Klyſtieren von Alaun; oft
iſt ſchon ein aͤußerlicher Reiz hinreichend z. B. das
Auflegen des Eyerhaͤutchens auf die Eichel. Bei
Verſtopfung der Schleimhoͤlen in der Naſe thut das
Einſpritzen einer Vitriolaufloͤſung vortreffliche Dienſte.
Darinn beſteht auch die Wirkung der Brechmittel in
kleinen Gaben, welche die Kraͤmpfe der entfernten Thei-
le auf die Haͤute des Magens und der Gedaͤrme hin-
ſeiten; darauf gruͤndet ſich die Hoffnung, die man
ſich von den Wohlverleybluͤthen in heftigen krampfhaf-
ten Schmerzen macht.
Wenn daher beym Eintritt einer Krankheit ir-
gend ein Theil in einem gereizten Zuſtande iſt, ſo ſe-
tzet ſich die Krankheit gern auf demſelben feſt. Si
quid doluerit ante morbum, ibi ſe figit morbus.
So veranlaſſet die falſche Lungenentzuͤndung gern die
innerliche Gicht. Harntreibende, und abfuͤhrende Mit-
tel leiten die Gicht auf den Magen, die Gedaͤrme und
die Harnblaſe. Man ſollte alſo, wenn eine ſcharfe,
fluͤchtige Materie im Koͤrper herumwandelt, z. B. die
rothlaufartige, gallichte ꝛc., mit Purgiermitteln aͤuſſerſt
be-
[625] behutſam ſeyn, weil ſie durch den Reiz nicht ſelten
nach den Gedaͤrmen hingeleitet wird, wo ſie oft ohne
Rettung die haͤutigen Theile außerordentlich ſchnell
durch den ſchlimmſten Brand zerſtoͤrt. Hingegen ſind
in allen dergleichen Faͤllen aͤuſſerliche Reize angezeigt.
Daher thun, vorzuͤglich in Fiebern von gallichtem,
faulem Stoffe die ſcharfen Senfteige, welche man gleich
Anfangs und lange fortbrauchen muß, ſo vortreffliche
Dienſte. Tiſſot bemerkte, daß gegen die Tage, wo
die nun aufgeloͤßte Materie beweglich zu werden an-
fieng, eine ungeheure Menge eines ſehr ſcharfen Blut-
waſſers nach den rothen und wunden Stellen zufloß,
welche ſonſt vielleicht nach edlern Theilen hingefloſſen
waͤre; ein Umſtand, den wir alle Tage bemerken koͤn-
nen, und in Faul-Spital-Kerker und Nervenfiebern
nie unbeſtaͤttigt finden wuͤrden, wenn wir unſere Heil-
art auf dieſe Abſicht einrichteten. Dieſes ſollten wir
nie vernachlaͤßigen, wo entweder der Kranke ein ſchwa-
ches Eingeweid hat, oder wo es der Natur der Krank-
heit gemaͤß iſt, ſolche Geſchwuͤre zu erregen. Denen
ſo etwas widerfaͤhrt, die werden nach der Bemerkung
des Hippokrates geſund, ſo ſehr noch Heute unſere
meiſten Aerzte vor der Erſcheinung eines brandigen
Geſchwuͤres erſchrecken. Der Puls wird groͤſſer, frey-
er, lebhafter, gleicher; das Athmen leichter, ruhi-
ger, und die Beklemmung laͤſt nach; das Fieber wird
geringer; die Haut weich und durchgaͤngig von einem war-
men Dunſte befeuchtet. Burſeri hat dieſen Erfolg mit
vielen Aerzten in boͤsartigen Krankheiten beobachtet.
In den von Baraldo beſchriebenen in Corregeo 1781
Gall I. Band R rherr-
[626] herrſchenden boͤsartigen Fiebern war die Erſcheinung
eines ſolchen Brandes ſo gut, daß er allzeit ein gutes
Ende vorherſagen konnte. In dem 1775 zu Cuneo
herrſchenden Fieber wurden die von Fliegenpflaſtern
gereizten Stellen oͤfters brandig, und dieſes war all-
zeit heilſam. Burſeri will daher mit Recht, daß
man die Zugpflaſter gleich im Anfange auflege, und
ſie ſo lange offen erhalte, bis das Fieber ganz und
gar voruͤber iſt. Je mehr die Geſchwuͤre entzuͤndet
und ſchmerzhaft werden, je haͤufigern und beſſern Ei-
ter ſie geben, deſto mehr Gutes hat man zu hoffen.
Dem Franz Jeſtel, der bey ſeinem Nervenfieber ei-
ne ſchadhafte Lunge hatte, ließ ich aus Vorſicht gleich
im Anfange der Krankheit durch die ſchaͤrfſten Sauer-
teige Loͤcher in die Fuͤße beitzen. Ich ſorgte bis zur
Entſcheidung bloß, daß ſie offen blieben. Gleich nach
der Entſcheidung floß alle Tage eine groſſe Menge
Eiter aus ihnen; und ohne ſie waͤre mirs vielleicht
nicht gelungen, die Ablagerung nach den Lungen zu
verhuͤten, indem, bey all der Vorſorge, der Kran-
ke dennoch erſt nach dem acht und zwanzigſten Tage
Blut und Eiter auswarf, dem ungeachtet aber
gluͤcklich entkam. — Iſt ein Ausſchlag zuruͤckgetret-
ten, und man bewirkt nicht durch erweichende und
reizende aͤußerliche Mittel einen ſehr empfindlichen
Schmerz, ſo wird man nur ſelten das Gluͤck haben,
ihn wieder hervor zu locken.
Nur iſt wohl zu merken, daß zu dieſem Zwecke
nicht jeder aͤuſſerliche Reiz hinreichend ſeye. Lanziſi
erzaͤhlt von dem Arzte eines Krankenhauſes auf der
Inſel
[627] Inſel Tybeen, welcher verſchiedene Perſonen durch
kein Mittel, und wenn es auch noch ſo ſtark waͤre,
im Schlagfluß erwecken konnte, als bis er ihnen an
den Fußſohlen gluͤhende Eiſen anhielt. Klaudius
raͤtht den Kranken in die flache Hand zu ſtechen;
Henr. ab Heers hat einer ſchlagfluͤſſigen Weibsper-
ſon, die kein Zeichen des Lebens von ſich gab, ein
lange Nadel unter dem Nagel der groſſe Zehen ge-
ſtochen, wovon ſie augenblicklich zu ſich ſelbſt gekom-
men iſt. Faſt alle Aerzte rathen bey der Fallſucht
nicht nur ein ſtarkes Haarſeil am Hinterhaupt, ſon-
dern auch gluͤhendes Eiſen an die Kopfnathen zu le-
gen. Die Anwendung des gluͤhenden Eiſens iſt zwar
ſehr alt; man muß aber geſtehen, daß die Rath-
ſchlaͤge, die Kopfnathen zu brennen, mehr nachgebe-
tet, als durch Erfahrung gepruͤft ſind. De Haen
ließ einem Knaben wegen dem ſchwarzen Staaren die
Hirnſchaale brennen. Obſchon der Knabe ſehr ſtark
war, ſo hatte er doch einen duͤnnen, durchſcheinenden
Schaͤdel, und das Brennen, welches nicht bis auf
das Mark der Hirnſchale gedrungen hat, hatte doch
die Hirnhaut entzuͤndet, zuſammengeſchrumpft und
die eine Blatte des Schaͤdels geſpalten. Dieſes ge-
ſchah ihm ebenfalls bey einer Frau. Er fuͤhrt noch
mehrere Erfahrungen an, die die Gefahr des Kopf-
brennens unwiderſprechlich beweiſen.*)
Deſto vortrefflichere Dienſte hingegen leiſtet
das Brennen, z. B. die Kerzen bey innern Geſchwuͤ-
ren, beſonders der Lunge. Man lißt bey Pouteau
R r 2und
[628] und Lentin die gluͤcklichſten dadurch bewerkſtelligten
Kuren, wodurch man billig aufgemuntert werden ſoll-
te, dieſes Hilfsmittel der Natur oͤfter, als bisher ge-
ſchehen iſt, in die Kunſt zu uͤbertragen. Was die
Natur ſo deutlich anzeiget, und was ſie ſo oft, und
auf ſo mancherley Weiſe anfaͤngt, aber aus Ohn-
macht aͤußerſt ſelten zu vollenden vermag; und was
endlich die Erfahrungen richtig denkender Maͤnner als:
eines Tiſſot, Unzer, Düpuis u. a. beſtaͤttigt haben: —
Sollten da die Aerzte noch zaudern, es allgemein in
Ausuͤbung zu bringen? Kürenios und Hekaſon zu
Omilos, die innerliche Geſchwuͤre hatten, wurden
beyde zu ſpaͤt unten am Bauche gebrannt; dennoch
trocknete beym erſten der Eiter ganz, beym zweyten
bis auf etwas weniges aus, obſchon ſie ſpaͤter bey ei-
ner unſchicklichen Lebensordnung am Durchfalle ſtar-
ben.*) Man mache alſo dieſe Wunde; verſchaffe
dem Kranken Bewegung in freyer, reiner Luft; ge-
be ihm gute Nahrung; — Kurz! man behandle ihn
nach der Idee eines erſchoͤpften Koͤrpers und einer
ohnmaͤchtigen Natur; nach den bisher ausgefuͤhrten
Grundſaͤtzen; man verlaſſe eine immer mehr entkraͤf-
tende Heilart, die noch keinem das Leben gerettet hat:
ſo doͤrfen wir mit einiger Zuverſicht die Niederlage
eines der ſchrecklichſten Feinde des Menſchengeſchlechts
erwarten. — Dem zufolge, was ich von der oͤrtlichen
Schwaͤche geſagt habe, iſt leicht zu erachten, daß man
deſto ſchnellere und ſichrere Wirkungen vom oͤrtlichen
Rei-
[629] Reize zu erwarten habe, wenn man ihn mit erſchlap-
penden Mitteln verbindet.
§ 102.
Zweytes Geſetz. Die Natur wirkt auf die
gereizte Stelle nicht bloß durch den vermehrten
Zufluß der Feuchtigkeiten überhaupt; ſondern es
hat eine Auswahl beſtimmter und zwar vorzüg-
lich ſchadhafter Feuchtigkeiten ſtatt.
Ich war ehemals mit den meiſten Aerzten der
Meinung, daß es der Natur ſchlechterdings an einer
abſoͤndernden Auswahl fehle, und hielt die von außen
angebrachten Reize, als kuͤnſtliche Geſchwuͤre, Haar-
ſeile, Blaſenpflaſter u. d. gl. blos fuͤr Mittel, das
Fieber zu vermehren, die Lebenskraͤfte zu erwecken,
den Reiz von inneren Theilen abzuleiten, und die Maſ-
ſe der Feuchtigkeiten zu vermindern. Seitdem ich
mich aber weniger um Erklaͤrungen, und mehr um
Thatſachen bekuͤmmere, bin ich ganz vom Gegentheil
uͤberzeugt. Auch de Haen ſchreibt den Nutzen dieſer
Geſchwuͤre in der Peſt blos den dadurch bewirkten
Ausleerungen zu; allein warum mußte man ſo erſtau-
nende Ausleerungen machen, bis man eben ſo viel be-
wirkte? Warum koͤnnen wir durch keine Ausleerung
die z. B. von unterdruͤcktem Goldaderfluße, oder von
einem zugeheilten Geſchwuͤre entſtandenen Beſchwer-
den heben? Lentin merkt ausdruͤcklich an, daß die
Zufaͤlle, ſo von unterdruͤckten Schweißen der Fuͤße ent-
ſtanden waren, obſchon die Fuͤße wieder haͤufig ſchwitz-
ten, dennoch nicht ehe vergehen, bis die Schweiße
wie-
[630] wieder ihren vorigen ſtinkenden Geruch bekommen.
Die Materie des Kopfgrindes, der Blattern, der
Maſern, der Kraͤtze und uͤberhaupt aller Entſcheidun-
gen iſt eine eigne Materie, die ſich durchaus durch
keine andere erſetzen laͤßt, weßwegen ſo oft ein kleines
Geſchwuͤrchen, ein paar Tropfen Blut aus der Naſe
oder dem After oder der Mutterſcheide, ein Bischen
Feuchtigkeit aus der Harnblaſe oder dem Hintern al-
les bewirken, was alle erdenklichen Ausleerungen nicht
bewirken konnten.
Auf keine Weiſe anderſt wirkt die Natur, wo
irgend ein Reitz erregt wird. Wenn beym Ausbruche
der Blattern eine Verwundung zugegen iſt, ſo pflegen
ſich gemeiniglich die Blattern um dieſelbe anzuhaͤufen.
Ein Waſſerſuͤchtiger hatte ſich auf die Zunge gebiſſen,
und durch dieſe Wunde gieng binnen 24 Stunden wohl
ein Waſſereimervoll eines uͤbel riechenden ſchleimigen
Waſſers ab.*) Ueberhaupt, alles, was ich bisher
vom Reitze und von den eigenmaͤchtigen Kuren der Na-
tur geſagt habe, beweiſet das Daſeyn einer abſon-
dernden Auswahl ſo einleuchtend, daß ichs fuͤr uͤber-
fluͤſſig halte, mich auf mehrere Beyſpiele und auf die
Analogie in den Verrichtungen des geſunden Zuſtan-
des, wo jedes Werkzeug entweder vermoͤg ſeines eige-
nen Baues, oder ſeiner beſondern Reizbarkeit zu be-
ſtimmten Saͤften eine Neigung oder Abneigung hat,
zu berufen.
§. 103.
[631]
§. 103.
Drittes Geſetz. Die Natur iſt beym Reize
nicht an ſeine fortſchreitende Verbreitung gebun-
den; ſondern wirkt, ohne die Zwiſchenräume
merklich zu verändern, auf entfernte Theile,
vorzüglich aber auf ſchon gereizte Theile.
Darauf gruͤndet ſich alles, was von der Mit-
leidung geſagt werden kann. Dieſe geſchieht durch
die Nerven, den Umlauf der Saͤfte, die Fortſetzung
der Haͤute, die Vereinigung der Gefaͤße, durch die
Gleichheit des Baues und der Fluͤſſigkeiten, die Nach-
barſchaft der Theile, die Gleichheit der Verrichtun-
gen, durch das uͤberall verbreitete Zellengewebe, viel-
leicht durch ein der Gehirnſubſtanz aͤhnliches, und
durch den ganzen Koͤrper verbreites Weſen, vielleicht
noch durch manche andere Dinge, die nicht in die Sin-
ne fallen. Sie hat theils wechſelſeitig, theils nur
von dieſem Theile zu jenem, und nicht wieder von je-
nem zu dieſem ſtatt. — Weil man aber uͤber den Reiz
und die Mitleidung faſt bey allen Schriftſtellern etwas
antrift, und mehrere weitlaͤufig daruͤber geſchrieben
haben, ſo verweiſe ich meine Leſer auf Tiſſot, Platt-
ner, Rega, Whytt, Langhans, Rahn, Hal-
ler, Jackſon u. a. m.
Von der Gewohnheit.
§. 104.
Dasjenige Ding, was dem Menſchen den Ge-
nuß gleichguͤltig, und die Leiden ertraͤglich macht; was
un-
[632] unſere Urtheile und unſere Triebe bey Tugenden und Laſtern
leitet; was den Bettelſtab und den Szepter ins Gleich-
gewicht ſetzt; uͤber die unſinnigſten Vorurtheile einen
heiligen Schleyer wirft, und Sklaverey und Freyheit,
Dummheit und Aufklaͤrung zu gleichem Werth erhebt:
war zu allen Zeiten ein wichtiger Gegenſtand fuͤr die
Philoſophen, und verdient auch in vielerley Ruͤckſicht,
von den Aerzten unterſucht zu werden.
Dieſe haben ſich aber bisher mehr um die Er-
klaͤrung als um die Erſcheinungen, und deren Anwen-
dung auf die Heilkunde bekuͤmmert. Indeſſen hat die
Gewohnheit ſowohl auf den geſunden als kranken Zu-
ſtand einen ſo maͤchtigen Einfluß, daß derjenige, der
ſie vernachlaͤßigt, oft die wichtigſte Begebenheit nicht
einſehen, und den ſchwerſten Zufaͤllen nicht abhelfen
kann.
Man ſeye an Arbeit, an Hitze und Kaͤlte, an
Ruhe und Bewegung, an Schlaf und Wachen, an
die ſchnellſten und groͤßten Veraͤnderungen der Luft,
Witterung, Nahrung, Kleidung, an Nachſinnen,
an gewiße Nahrung, an betaͤubende Gifte, an gewiſ-
ſe Ausleerungen, an Beyſchlaf, oder an was ſonſt
immer fuͤr eine Verrichtung gewoͤhnt, ſo ertraͤgt man
alle dieſe Dinge entweder viel leichter, als der unge-
woͤhnte, oder ſie werden ſelbſt zum Beduͤrfniß. Die
Perſer ertragen innerhalb 24 Stunden zu zwey [Quent-
chen] Mohnſaft; eben ſo viel verzehrte der Rechtsge-
lehrte, von dem Zimmermann redet, alle Tage.
Pallas fand unter den bey den Rußen eßbaren Schwaͤm-
men viele giftige. Galenus hat ſchon angemerkt,
daß
[633] daß man ſich an den Schierling gewoͤhnen koͤnne;
Linnäus zeigt eben dieſes vom Eiſenhuͤtlein, und
Scharſchmidt vom Arſenik. In Oſtindien bedient
man ſich faſt uͤberall des Teufelsdrecks zur Wuͤrze der
Speiſen; die Mexicaner, ſagt Lanziſi, ſpeiſen nicht
nur die Eyer der Inſekten, welche Moraͤſte bewohnen,
ſondern ſogar den ſtinkenden Moosſchlamm. Was fuͤr
einen ungeheuern Miſchmaſch von Speiſen ertragen
die Maͤgen unſerer ſchwelgeriſchen Damen, die der
Anblick einer Spinne oder eines kranken Huͤndchens
außer Faßung bringt! Man ſehe, was ich hievon im
1 Kap. geſagt habe.
Sobald man die angewoͤhnte Sache unterlaſſen
muß, ſo empfindet man eine mehr oder weniger be-
ſchwerliche Unbehaglichkeit, welche hie und da bis zu
den heftigſten Zufaͤllen anwachſen kann. Die Berau-
bung des Tabacks, eines Glaͤschen Weines, einer
gewohnten Umarmung, ja ſogar die gewaltſame Un-
terlaſſung einer Fraze ſind im Stande, uns in die
verdruͤßlichſte Verlegenheit zu ſetzen.
In dem alltaͤglichen Leben aber geſchieht ſehr
vieles nach den Geſetzen der Angewoͤhnung. Die Zeit
des Hungers und des Schlafes, der Ausleerungen und
anderer Beduͤrfniße werden bey den meiſten Menſchen
ſo ſehr auf gewiße Augenblicke eingeſchraͤnkt, daß man,
wenn einmal dieſe Zeit uͤbergangen iſt, weder Hunger,
noch Schlaf, noch ſonſt einen Drang zu den uͤbrigen
Verrichtungen empfindet. Zur gewohnten Zeit hinge-
gen draͤngt es uns zum Harn oder zum Stuhle, ob-
ſchon die Anhaͤufung nur ſehr gering iſt. Werden
zur
[634] zur beſtimmten Zeit dieſe Auslerungen zuruͤckgehalten,
ſo werden ſie nachher ehe Blaͤhungen, Schwindel und
Kopfſchmerzen, als einen neuen Trieb zur Entleerung
erregen. Es giebt Leute, die jedesmal ihr angewoͤhn-
tes Maaß ſchlafen, zu was immer fuͤr einer Stunde
ſie zu Bette liegen; andere wachen immer, obſchon
ſie die Stunde des Schlafengehens wechſeln, zur naͤm-
lichen Zeit auf. Sind Kinder an gewiße Zeitraͤume
der Nahrung gewoͤhnt, ſo erwachen ſie jedesmal nach
dem Verlauf eines ſolchen Zeitraumes. — Je mehr
dieſe Angewoͤhnungen zur Natur geworden ſind, de-
ſto unentbehrlicher iſt die Befriedigung derſelben zum
allgemeinen Wohlſeyn.
Entſpinnt ſich aber im Innern des Menſchen
der Zunder einer kuͤnftigen Krankheit, ſo wird der Zu-
ſammenhang der Verrichtungen geſtoͤrt; es entſtehen
uͤberall Unordnungen; die Angewoͤhnungen werden ver-
ruͤckt und unterdruͤckt; und es iſt dieſer Umſtand ein
deſto ſicherer Vorbote, je unveraͤnderlicher ſie ſonſt ge-
weſen ſind, und je mehr ſelbſt dieſe Stoͤhrung im
Stande iſt, uͤble Zufaͤlle zu erzeugen.
§. 105.
Daraus ergiebt es ſich von ſelbſt, wie ſehr
ſichs der Arzt zur Pflicht machen ſollte, die Angewoͤh-
nungen ſeines Kranken auszuſpaͤhen, und ſein Betra-
gen darnach einzurichten. Sie muͤſſen ſowohl in Ruͤck-
ſicht der Lebensordnung, als der Heilart, ſo viel moͤg-
lich iſt, beybehalten, oder wo ſie erſtickt ſind, wieder
hergeſtellt werden. Ohne ſie bleibet nicht ſelten das
Be-
[635] Beſtreben der Kunſt und der Natur fruchtlos, und
dieſes zwar auch dann, wenn in jedem andern Falle,
wo keine Angewoͤhnung ſtatt gehabt haͤtte, die naͤm-
liche Sache hoͤchſt nachtheilig geweſen waͤre.
So ungerne ich die Gewohnheitsaderlaͤßen, z.
B. zulaße, ſo ſehe ich mich doch oft genoͤthigt, dieſel-
ben ſelbſt anzuordnen. Will man ſie, beſonders auf
einmal unterdruͤcken, ſo entſtehen um die beſtimmte
Zeit nicht nur die ſonſt gewoͤhnlichen Zufaͤlle einer
Vollbluͤtigkeit z. B. beſchwerliches Athmen, Span-
nen und Steifigkeit der Glieder, Heiſerkeit, Schwin-
del, Kopfſchmerzen, Brennen an einigen Stellen,
beſonders an der Narbe, wo ehemals die Wunde ge-
macht war, Ubelkeiten, allerley Zeichen von Unreinig-
keit, Mangel an Eßluſt u. ſ. w.; ſondern es entſtehen auch
fieberhafte Bewegungen, Blutſpeyen, reichliche Blut-
fluͤſſe aus der Naſe, der Goldader, den Schamthei-
len, oder Stockungen der ſonſt gewoͤhnlichen Blut-
fluͤße, Schlagfluͤße ꝛc. Ich habe vielmal eine duͤnne,
kuͤhlende, ſparſame, durch mehrere Tage fortgeſetzte
Lebensordnung, freye Luft, maͤßige Bewegung, ge-
linde Abfuͤhrungen u. d. gl. ſo lange fruchtlos gefun-
den, bis ich mich entſchloß, der Angewoͤhnung nach-
zugeben, worauf ſich innerhalb 12—24 Stunden al-
le Zufaͤlle legten.
Ein alter Mann bekam nach einer Unverdaulich-
keit den Schluchzen, den mehrere Aerzte nicht ſtillen
konnten. Man erfuhr endlich, daß er ſonſt alle Ta-
ge engliſche, bittere Magentropfen zu nehmen ge-
wohnt war. Obſchon zuvor aͤhnliche Mittel im Ue-
ber-
[636] berfluße angewendet worden waren, ſo hoͤrte doch auf
dieſe augenblicklich der Schluchzen auf.
Galenus redet von einer Wittwe, welcher die
Zuruͤckhaltung der Samenfeuchtigkeit Mutterbeſchwer-
den zuzog; ſie hatte, wenn ſie ſchlief, krampfhafte
Bewegungen in den Lenden, Armen und Beinen, wo-
bey jedesmal eine Menge dicken Saamens von ihr
gieng, und ihr die Wohlluſt des wirklichen Beyſchla-
fes, an den ſie zuvor ſehr gewoͤhnt war, gewaͤhrte
So wurden ebenfalls ein Mann und eine Frau aus
ungewohnter Enthaltſamkeit von ſchlimmen Zufaͤllen
befallen, und ſie genaſen durch das Heyrathen.*)
Bey Tiſſot bekam eine ſtarke 40jaͤhrige Wittwe, wel-
che vorher in den Umarmungen ihres Mannes die
Vergnuͤgungen der Liebe lange genoßen hatte, und
nach deſſelben Tode ganz entbehren mußte, von Zeit
zu Zeit ſo heftige Mutterzufaͤlle, daß ſie den Gebrauch
ihrer Sinne verlor. Keine Arzney auf der Welt war
vermoͤgend, ihre Anfaͤlle zu vertreiben; ſie hoͤrten nie
ehe auf, als vermittelſt eines ſtarken Reibens der Zeu-
gungstheile, welches ein krampfartiges Zittern bey ihr
hervorbrachte, worauf eine haͤufige Saamenergießung
folgte, und in demſelben Augenblicke kam ſie wieder
zu Sinnen. Aehnliche Faͤlle erzaͤhlt er aus dem Za-
cutus, und ſie ſind bey unſern Zeiten in groſſen Staͤd-
ten nichts weniger als ſelten. — Ein Wundarzt ver-
bot einer Taͤnzerin wegen einer leichten Wunde an der
linken Bruſt den Beyſchlaf; aber die Natur wollte
ihr
[637] ihr Recht behaupten; ſie hatte ſchon die dritte Nacht
eine Saamenergießung, welche dann alle Nacht wie-
der kam, ſo, daß ſie in die Ruͤckenmarkauszehrung
verfiel. Sie ſetzte endlich alle Mittel bey Seite, fieng
die vorige Lebensart wieder an, und wurde ihrer
Schwachheit und ihrer Schmerzen geſchwind los, ſo
ſchaͤdlich ſonſt bey Verwundeten der Beyſchlaf zu ſeyn
pflegt, daß ſelbſt manchmal der Tod eine unmittelba-
re Folge davon iſt. Es iſt daher gewiß, daß man
bey den von Enthaltſamkeit entſtandenen Zufaͤllen mehr
auf die Gewohnheit, als auf den Ueberfluß der Saa-
menfeuchtigkeit, deren Wirkungen deswegen nicht ge-
leugnet werden koͤnnen, zu ſehen habe.
Kämpf erzaͤhlt von einem an das taͤgliche
Brandtweintrinken gewoͤhnten Soldaten, der mit vie-
len Wunden beladen ins Lazareth gebracht wurde.
Man behandelte ſie auf die gewoͤhnliche Art und mit
gehoͤriger Sorgfalt. Es wollte ſich aber keine gute
Eiterung einſtellen, und die Entkraͤftung nahm zuſe-
hends uͤberhand, ungeachtet man es an den kraͤftigſten
Mitteln nicht fehlen ließ. Als nun auch der beſte
Wein ohne Wirkung war, und man den Verwunde-
ten fuͤr verloren hielt, ſo that man endlich ſeiner Sehn-
ſucht nach Brandtwein ein Genuͤge, und erlaubte ihm
dann und wann einen guten Schluck von dieſer ſeiner
Herzſtaͤrkung zu thun; auf der Stelle fiengen die Kraͤf-
te an, ſich zu heben, der Eiter ward gutartig, und
die Heilung erfolgte bald. — Ein anderes fuͤhrt er
aus Richtern an, wo ein Kranker, nach einer we-
gen Verwachſung ſehr langſamen Operation eines un-
ge-
[638] geheuer groſſen Hodenbruches den dritten Tag faſt oh-
ne alle Empfindung und Athem, kalt an den aͤußern
Theilen, mit geſchloſſenen Augen, und dem Tode ſo
nahe, daß er nicht der Muͤhe werth zu ſeyn achtete,
den Verband abzunehmen, oder etwas zu verordnen.
Als der Wundarzt den Kranken zu verlaſſen im Be-
griffe war, erzaͤhlte die Frau deſſelben, daß ihr Mann
jederzeit den Brandtwein haͤufig getrunken habe. Der
Wundarzt ließ einen Loͤffelvoll Brandtwein in den
Mund des Kranken fließen, und es war kaum geſche-
hen, als dieſer die Augen oͤffnete. Nach etlichen Eß-
loͤffelvoll kam Waͤrme, Leben, Bewegung, Empfin-
dung wieder. Der Kranke bekam waͤhrend der ganzen
Kur taͤglich etliche Weinglaͤſervoll Brandtwein, und
erhielt ſeine Geſundheit vollkommen. Alſo erſt durch
den gewohnten Reiz des Weingeiſtes wurde die Lebens-
kraft erweckt, und in Thaͤtigkeit geſetzt. Dieſes ſoll-
te man bey allen denen, welche an hitzige Getraͤnke
gewoͤhnt ſind, wohl bedenken, denn ſie fallen bey ei-
ner gezwungenen Enthaltſamkeit in die ſchrecklichſten
Zufaͤlle, Uebelkeit, Brechen, Sodbrennen, Entkraͤf-
tung, Zittern, Schwermuth bis zur Verzweiflung u.
d. gl. Sehr oft muß man ſo gar in den dem Scheine
nach entgegengeſetzteſten Anzeigen der Gewohnheit nach-
geben, wo man dann freylich theils in der Gabe, theils
in der Zeit anfaͤnglich ſehr behutſam ſeyn muß.
§. 106.
Auch hier zeichnet ſich Hippokrates in vielen
Stellen aus. Ich will nur einige aus dem Buche
von
[639] von der Lebensordnung anfuͤhren, in welchen auch zu-
gleich auf den Nachtheil der gaͤhen Veraͤnderungen
Ruͤckſicht genommen wird: “Die ſich demnach der
Tiſane in hitzigen Krankheiten bedienen, ſollen, mit
einem Worte geſagt, ihre Adern auch keinen Tag
leer laſſen, im Gegentheil ſich ihrer bedienen, und
ſie nicht ausſetzen, wenn es nicht um irgend etwas,
es ſeye um einer Purganz oder eines Klyſtiers willen,
noͤthig iſt; denen die taͤglich zweymal zu ſpeiſen ge-
wohnt ſind, muß man ſie zweymal, und die nur ein-
mal zu eſſen pflegen, denen giebt man ſie den erſten
Tag nur einmal, allmaͤhlich aber kann man ſie ihnen,
theils wenn es unſchaͤdlich iſt, theils wenn es gar noͤ-
thig ſcheint, zweymal geben. Im Anfange braucht
man ſie weder in zu groſſem Ueberfluße noch auch ſehr
dick zu geben, dargegen laͤßt man um der Gewohn-
heit willen etwas zu, und begnuͤgt ſich, wenn nur
die Gefaͤße nicht zu leer werden. — — Denen ſo-
wohl, die zweymal, als auch ſolchen, die nur einmal
taͤglich ſpeiſen, verurſachen ſchleunige Veraͤnderungen
Nachtheile und Krankheiten. Die z. B. welche ſich
nicht angewoͤhnt haben zu Mittag zu ſpeiſen, und es
nun thun, macht es augenblicklich unpaͤßlich, traͤge
am ganzen Koͤrper, unvermoͤgend und verdruͤßlich.
Wenn ſie nun noch dazu eine Abendmalzeit gehalten
haben, ſo ſtoͤßt es ihnen ſauer auf, und einige be-
kommen einen duͤnnen Stuhlgang. — — Noch uͤb-
ler wird ſich ſo einer befinden, wenn er ſich den Tag
dreymal recht ſatt ißt, und noch weit uͤbler, wenn er
noch mehrmalen ſpeißt; ungeachtet es viele giebt,
die
[640] die taͤglich drey reichliche Malzeiten machen, und ſie
recht gut vertragen; ſie ſind aber daran gewoͤhnt.
Ferner Leute, die taͤglich zweymal zu ſpeiſen pflegen,
befinden ſich, wenn ſie das Mittageſſen verſaͤumen,
ſchwach, elend, und zu aller Arbeit untuͤchtig und
bekommen Magenweh. Es iſt ihnen, als ob ihnen
ihre Eingeweide ſchlotterten, ihr Urin wird gelbgruͤn,
und geht mit Brennen ab, ſo wie ihre Exkremente
trocken und verbrannt ſind. Einigen ſchmeckt es bitter
im Munde, ſie ſehen hohlaͤugicht aus, die Adern an
den Schlaͤfen ſchlagen ihnen, und ihre Glieder werden
kalt. Die meiſten koͤnnen zwar, wenn ſie die Mit-
tagsmalzeit verſaͤumt haben, nicht einmal zu Nacht
eſſen. Halten ſie aber ja eine Abendmalzeit, ſo be-
ſchweren ſie ſich den Magen, und liegen viel unruhi-
ger zu Bette, als wenn ſie auch zu Mittag gegeſſen
haͤtten. Wenn nun ſelbſt den geſunden um einer einen
halben Tag in ihrer gewohnten Lebensordnung vorge-
nommenen Veraͤnderung willen alles dieſes begegnet;
ſo ſcheint es ja am zutraͤglichſten zu ſeyn, derſelben we-
der etwas zuzuſetzen, noch abzunehmen. Speißt mithin
einer, der wider ſeine Art nur eine Malzeit gemacht,
und ſeine Gefaͤße den ganzen Tag ausgeleert hat, ſo
viel zu Nacht, als er ſonſt pflegte: ſo muß er noth-
wendig, da er ſich nicht nur ſchon um des ausgeſetzten
Mittagseſſens willen uͤbel und ſchwaͤchlich befand,
ſondern auch, weil er zu Nacht geſpeißt, ſchwerloͤthig
war, jetzt ſich um ſo viel belaͤſtigter fuͤhlen. Hat er
ſeine Gefaͤße eine noch laͤngere Zeit ausgeleert, und
haͤlt nachher auf einmal ein ſtarke Abendmalzeit, ſo
wird
[641] wird er ſich noch ſchwerloͤthiger und uͤberladen finden.
Wer alſo ſeine Gefaͤße wider ſeine Gewohnheit hat
leer werden laſſen, dem iſt es gut, wenn er denſel-
ben Tag nach zu helfen, in einer maͤßigen Waͤrme,
und ohne ſich zu erkaͤlten, ruhig hinbringt; denn al-
les das muß er uͤbel empfinden. Auſſerdem muß er
ein kleiners Abendeſſen, als er ſonſt pflegt, zu ſich neh-
men, und dabey nicht ſowohl trockne, als etwas feuch-
te Speiſen genießen, hinterher keinen waͤſſerichten
Wein, noch auch weniger, als ſich zur Speiſe ſchickt,
trinken. Den Tag darauf muß die Malzeit ganz kurz
ſeyn, damit er nach und nach Stufenweiſe wieder in
ſeine Gewohnheit komme. — Dieſes iſt mithin ein
wichtiger Beweiß, daß die ſehr groſſen Veraͤnderun-
gen ſolcher Dinge, die unſere Gewohnheiten angehen,
uns vorzuͤglich Krankheiten erzeugen. Daher iſt es
auch nicht ſchicklich, außer der Zeit gar zu reichliche
Ausleerungen vorzunehmen, oder in der aͤuſſerſten
Staͤrke der Krankheiten, und bey ihrer groͤſten Hitze,
Nahrungsmittel zu geben, oder auf dieſe oder jene
Art ploͤtzlich in dem ganzen Verhalten etwas abzuaͤn-
dern. Man koͤnnte inzwiſchen noch vieles uͤber das,
was mit dem Magen in Verbindung ſteht, und andere
hieher gehoͤrige Dinge beybringen, wie etwa, daß
man ſich zwar bey gewohnten Speiſen, wenn ſie auch
ihrem innern Gehalt nach ungeſund ſind, wohl be-
findet, und ſo auch in Anſehung der Getraͤnke; da
man im Gegentheile ungewohnte Speiſen, wenn ſie
auch an ſich nicht ungeſund waͤren, uͤbel vertraͤgt,
und ſo mit den Getraͤnken. Was der haͤufige und un-
Gall I. Band S sgewohn-
[642] gewoͤhnte Genuß des Fleiſches, des Knoblauchs, des
Silphium, ſeines Saftes oder Stengels, oder auch
anderer ſolcher Dinge, die an ſich ſchon groſſe Kraͤfte
haben, ausrichten. Weniger wird man ſich dann ver-
wundern, wenn dergleichen Sachen den Magen mehr,
als etwas anders belaͤſtigen. Allein, wenn man nun
auch ſieht, was der ungewohnte Genuß des Honigku-
chens bey einem, der nur Brod zu ſpeiſen pflegte,
im Leibe fuͤr Unruhe, Auftreiben, Blaͤhungen und
Grimmen veranlaßt; oder was der an Honigkuchen
gewoͤhnte, wenn er ungefaͤhr Brod ißt, fuͤr eine Schwe-
re und Spannen im Magen fuͤhlt, oder was das naͤm-
liche Brod, warm geſpeißt fuͤr Durſt und ploͤtzliche
Anfuͤllung, wegen ſeiner trocknenden und ſchwer wei-
tergehenden Eigenſchaften erregt; was fuͤr einen Un-
terſchied der ungewoͤhnte Genuß eines recht klaren von
gebeuteltem Mehl gebackenen und dargegen eines gro-
ben geſchrotenen Brodes mache; oder was es thue, oh-
ne daran gewoͤhnt zu ſeyn, trockenen, friſchen, oder
kloſichten Honigkuchen zu eſſen. Was friſche geroͤſte-
te Gerſtengruͤtze bey denen mache, die ſie nicht ge-
wohnt ſind, und eine andere, die ſie ſonſt friſch zu
verbrauchen pflegen. Was das Wein- oder Waſſer-
trinken, wenn man das eine mit dem andern wider
die Gewohnheit ploͤtzlich vertauſcht; deßgleichen duͤn-
ner und waͤſſerichter oder guter ſtarker Wein, wenn
er ungewohnt getrunken wird, wirken. Denn jener
erzeugt uͤbrige waͤſſerichte Feuchtigkeiten in dem Ma-
gen, und in den Daͤrmen Blaͤhungen; dieſer hergegen
Klopfen in den Adern, eine Schwere im Kopfe und
Durſt
[643] Durſt. Auch der weiße und rothe Wein muͤſſen bey
dem, der ſie wider ſeine Gewohnheit gegen einander
vertauſcht, wenn gleich beyde geiſtreich ſind, im Koͤr-
per ebenfalls eine Menge Veraͤnderungen machen, daß
man daher wohl ſagen moͤchte, es ſeye noch weniger
zu verwundern, daß der ſuͤße und ſtarke Wein, eben
das, wenn man ihn ploͤtzlich aͤndert, kann. — Es
ſind auch hier die Staͤrke und der Gang einer jeden
Krankheit, das Temperament einer Perſon und ihre
Gewohnheiten, weiter, die dem Kranken uͤbliche Le-
bensordnung in Erwaͤgung zu ziehen„. ꝛc. — — —
Nachdem Er noch viel Leſenswerthes gegen die ſchnel-
len Veraͤnderungen geſagt hat, fuͤhrt er das Beyſpiel
an: “Bekoͤmmt einer, der weder eine ſehr heilſame,
noch auch eine ſehr unheilſame Haut hat, eine Wunde,
die weder ſehr betraͤchtlich, noch auch ſehr gering iſt,
am Schenkel, ſo wird er, weil er ſich gleich den er-
ſten Tag niedergelegt, in die Kur begeben, und den
Fuß, der uͤberdieß nicht entzuͤndet iſt, ruhig gelaſſen
hat, viel geſchwinder geheilt werden, als wenn er da-
bey herum gieng. Ferner, wenn er am fuͤnften, oder
am ſechſten Tage, oder auch noch ſpaͤter ſich aufma-
chen, und herum gehen wollte; ſo wird er darauf
mehr uͤble Empfindung haben, als wenn er ſogleich
vom Anfange bey der Kur herumgegangen waͤre. Faͤngt
er nun an, ſich ploͤtzlich viel zu beſchaͤftigen, ſo wird
er es weit mehr fuͤhlen, als wenn er in eben der
Kur alle die Tage uͤber das naͤmliche gethan haͤtte.„
— — Eben ſo redet er vom Bade. “Es iſt ſehr
rathſam, dem Kranken viel nachzugeben, wenn er
S s 2bey
[644] bey geſunden Tagen das Baden geliebt hat, und ſich
deſſelben zu bedienen, gewohnt geweſen iſt. Der-
gleichen Leute erheiſchen es mehr, denn es bekoͤmmt
ihnen, wenn ſie ſich baden, und ſie leiden Schaden
davon, wenn ſie es unterlaſſen.„ —
Dieſen Grundſaͤtzen zu Folge wollte Ariſtoteles
kein kaltes Waſſer trinken, weil er an die warmen
Getraͤnke gewohnt war, und an einem andern, deſ-
ſen Leibesbeſchaffenheit der ſeinigen gleichte, heftige
Kraͤmpfe entſtehen ſah, obſchon es ſonſt ſeiner Krank-
heit angemeſſen geweſen waͤre. Er gab aber endlich
den zudringlichen Aerzten nach, und ſtarb. Als die
Aerzte den Galenus daruͤber befragten, ſo verwarf
dieſer ihr Verfahren, obſchon er in aͤhnlichen Faͤllen das
kalte Waſſer mit beſtem Erfolge anrieth, wenn nur
kein Eingeweide entzuͤndet, und die Leute uͤbrigens
ſtark waren, theils weil Ariſtoteles einen ſchmaͤchtigen
Koͤrper hatte, und theils, weil es wider ſeine Gewohn-
heit war. — Was Galenus aus dem Eraſiſtratus
anfuͤhrt, koͤmmt vollkommen mit den Hyppokratiſchen
Lehrſaͤtzen uͤberein, und betrifft noch den Nutzen oder
Schaden, wenn die gewoͤhnten Ausleerungen, obſchon
ſie an ſich unbequem ſind, z. B. ein Goldaderfluß,
periodiſche Ausſchlaͤge, gallichtes Erbrechen unterdruͤckt
oder wieder hergeſtellt werden. Ferner beweiſet es,
daß die Gewohnheit in der ſittlichen Welt den naͤmli-
chen Einfluß habe, wie in der phyſiſchen, und gleich-
wie Schwaͤchlinge und Greiſe, wenn ſie nur an Ar-
beit gewoͤhnt ſind, dieſelbe beſſer aushalten koͤnnen,
als ungewoͤhnte ſtarke und junge Leute, eben ſo wer-
de
[645] de der an das Dichten und Unterſuchen gewoͤhnte Geiſt
weit weniger ermuͤden, als der ungewoͤhnte.
§. 107.
Der Einfluß der Gewohnheit iſt ſelbſt in Ruͤck-
ſicht der Zeit, an welche dieſe oder jene Abſonderung
und Ausleerung, dieſe oder jene Verrichtung gewoͤhnt
iſt, ſorgfaͤltig in acht zu nehmen, wie dieſes ſchon
zum Theil aus den angefuͤhrten Hippokratiſchen Stel-
len erhellet. Die Zeit, an welche die Natur gewoͤhnt
iſt, iſt auch diejenige, in welcher jedesmal zum we-
nigſten eine Neigung in ihr entſteht, das geſtoͤrte oder
gehemmte Geſchaͤft wieder in Gang zu bringen.
Schweißmittel ſind um die Zeit am wirkſamſten, wo
der Menſch ohnehin am haͤufigſten zu Duͤnſten pflegt,
als in den Morgenſtunden, nach Mitternacht und in
den Abendſtunden. Den Zeitfluß zu befoͤrdern beſtrebt
man ſich mit den wirkſamſten Arzneyen allermeiſt um-
ſonſt, wenn man ſie nicht um die gewoͤhnte, und mit
der ganzen koͤrperlichen Verfaſſung ſeiner Kranken in
Verhaͤltniß geſetzten Zeit darreichet. Die Ausfuͤh-
rungswege des Harns und des Stuhls reitzen wir weit
leichter zur Entleerung, wenn in ihnen ſelbſt eine Re-
gung dazu vorgeht. Teſta hat den Fall bey einem
alten Manne beobachtet, welcher in ſeinen geſunden
Tagen hauptſaͤchlich Abends zu Stuhle zu gehen ge-
wohnt war. Dieſer hatte ſchon mehrere Tage ver-
ſtopften Leib. Er gab ihm drey Tage hintereinander
fruͤh Morgens Abfuͤhrungsmittel, und es erfolgte kei-
ne Wirkung; endlich nahm der Alte gegen Abend wie-
der
[646] der eine ganz gelinde Purganz, und er bekam ſogleich
offnen Leib.*)
Dieſen, und den S. 560. angefuͤhrten Thatſa-
chen gemaͤß, rathe ich denjenigen, welche den ganzen
Tag uͤber beſchaͤftigt ſind, an Verſtopfungen des
Stuhles, und den daher entſtehenden Folgen leiden,
ſich mit dieſer Entleerung entweder an die Morgen-
ſtunde, oder gleich nach Tiſche zu gewoͤhnen. Um die-
ſe Zeiten iſt der Geiſt noch ruhig, und die Angewoͤh-
nung hilft auch bey einem geringeren Drange die Ent-
leerung befoͤrdern.
Dieſe Bemerkung iſt noch vorzuͤglich darum
wichtig, weil man auch krankhafte Angewoͤhnungen
um ihre gewohnte Zeit, obſchon ſie ziemlich lang un-
terdruͤckt waren, auf die geringſte Veranlaſſung wie-
der in Wirklichkeit ſetzet. Darum hat man ſich z. B.
nach einem dreytaͤgigen Fieber uͤberhaupt in den Tagen
der Anfaͤlle mehr, als an den freyen Tagen, und den
achten Tag mehr, als den dritten oder vierten vor
Fehlern der Lebensordnung oder vor Purgiermitteln zu
huͤten, weil an dieſen Tagen, der Natur des Uebels
gemaͤß, ohnehin eine Neigung zu Ruͤckfaͤllen entſteht.
Eben ſo bey den uͤbrigen Wechſelfiebern, und allen
jenen Krankheiten, die unter gewiſſen Umſtaͤnden, zu
einer beſtimmten Zeit Ruͤckfaͤlle zu machen pflegen,
wovon ich umſtaͤndlich theils im 2ten Bande theils im
Kap. von den Entſcheidungen reden werde.
Daraus iſt es leicht zu beurtheilen, wie ſchwer
die Natur von einem ſchon gewohnten, obwohl ſchaͤd-
lichen
[647] lichen Verfahren abzubringen ſeyn muͤße. Je laͤnger
dieſe Gewohnheit ſchon gedauert hat, deſto mehr Ge-
waltthaͤtigkeit fordert ſie zu ihrer Zerſtoͤrung. Aus
dem Grunde mißrathen es einige Schriftſteller, ſich
gegen ſolche Gewohnheiten zu ſetzen. Man ſolle z. B.
nichts unternehmen, wenn die Natur den Zeitfluß
durch die Lunge zu entleeren gewoͤhnt iſt. Zuverlaͤßig
erfodert die Abſicht, die natuͤrliche Ausleerung zu
Stande zu bringen, große Behutſamkeit. Aber un-
moͤglich und ſchlechterdings gefahrvoll iſt ſie nicht. Ei-
nem ſolchen Frauenzimmer rietht Teſta, um die Zeit
der Reinigung ihre Lebensart ganz zu veraͤndern, und
ſich in eine andere Gegend, kurz, in ein ganz anderes
Verhaͤltniß mit den Außendingen zu verſetzen, was
ſie vollkommen gegen die ſonſt gewoͤhnliche Engbruͤſtig-
keit und das Blutſpeyen ſicher ſtellte.
§. 108.
Die Pſychologen ſowohl als die Aerzte wuͤrden
ſich manche ſcharfſinnige, aber ungluͤckliche Hypotheſe
erſpart haben, wenn ſie mehr Achtung fuͤr die Staͤr-
ke der Gewohnheit gehabt haͤtten.
Die ſonderbare Geſchichte des Kammerdieners,
wovon Tiedemann ſpricht, der im Schlafe den Tiſch
deckte, auftrug, einſchenkte, die Stuͤhle in Ordnung
ſtellte, abtrug, die Gaͤſte fortbegleitete; ꝛc. die Ge-
ſchichte des Predigers aus der Enzyklopaͤdie, welcher
vom Bette aufſtund, Predigten niederſchrieb, ſie mit
vernehmlicher Stimme herablaß, und alle Ausdruͤcke,
die ihm nicht anſtaͤndig waren, verbeſſerte; fehlerhaf-
te
[648] te Worte genau ausſtrich, an ihre Stelle andere ſetz-
te, und die Augen immer geſchloſſen hatte; — ſind
unſtreitig groͤßtentheils aus bloßer Angewoͤhnung zu er-
klaͤren, obſchon man Einiges von dergleichen Erſcheinun-
gen auch einem geheimen Vorſatze zueignen muß.
Die Macht der Gewohnheit wirkt nicht nur im
Schlafe, ſondern ſelbſt noch beym Verfalle der Sin-
ne. Ein Mann, der ſehr fleißig ſtudirte, wurde ploͤtz-
lich von einem Schlagfluße befallen; er hatte ſonſt die
Gewohnheit, allemal zu einer beſtimmten Stunde zu
ſchreiben; ſobald jezt die Zeit kam, machte er mit der
Hand und den Fingern die Bewegungen eines Schrei-
benden, und trieb dieſes eben ſo lange, als er alle-
mal in geſunden Tagen geſchrieben hatte. So kannte
Teſta auch einen neunzigjaͤhrigen Greiſen, welcher
noch alle Morgen und Nachmittage zu beſtimmten
Stunden ſeine gewoͤhnlichen Gebete herbetete. Ein
Layenbruder war ſchon lange daran gewoͤhnt, zu ge-
wiſſen Stunden mit dem Glockenſchlage die Horas zu
ſingen, und dieß that er genau zu eben der Stunde,
wenn ihn auch keine Glocke daran erinnerte. Ein
aͤhnliches Beyſpiel hat Tiedemann von einem, der im
Wahnſinn zur beſtimmten Zeit die Stunden zaͤhlte,
obſchon er keine Glocke ſchlagen hoͤrte.
Dieſes ſind nun lauter, durch oͤftere Wieder-
holungen der naͤmlichen Bewegungen entſtandene An-
gewoͤhnungen. Auf dieſe Art entſtand in der von Ro-
ſenblad beſchriebenen krampfhaften Epidemie nach oft
wiederholten Zuckungen zuweilen eine wahre Fallſucht,
welche manchmal geheilt wurde, manchmal toͤdete;
oft-
[649] oftmals fuͤnfzehn und mehrere Jahre alle Jahre die
Kranken elendiglich marterte. Eben ſo kamen bey
dem Weibe, wovon van Swieten aus den medical.
Eſſay die Geſchichte anfuͤhrt, endlich des Tages 3
bis 5mal die Anfaͤlle der Fallſucht, nachdem ſie zuerſt
nur alle Monate einen hatte.*)Teſta, der ſo vor-
treffliche Bemerkungen uͤber die Gewohnheiten gemacht
hat, ſucht auch den Zeitfluß der Weiber bloß von der
Gewohnheit herzuleiten. Aber, warum faͤngt dieſer
erſt um das 12—20te Jahr an? warum verſchwin-
det er allermeiſt bey Schwangern und Saͤugenden?
Warum hoͤrt er um das 36—50ſte Jahr auf?
Warum hat ſich dieſe Gewohnheit noch nicht unter den
in Ruhe und weiblichen Geſchaͤften lebenden Maͤnnern
des Koͤnigreiches Congou entſponnen? Wer hat den
Zeitfluß bey den Weibleins der Affen eingefuͤhret?
Geht nicht bey allen Saͤugthieren eine aͤhnliche Veraͤn-
derung vor, ehe ſie zur Begattung aufgefordert wer-
den? Warum iſt der periodiſche Gold aderfluß noch
nicht weder unter den Maͤnnern noch Weibern zur
Gewohnheit geworden?
§. 109.
Es giebt noch etwas ſehr Merkwuͤrdiges in der
thieriſchen Haushaltung, welches von den meiſten mit
der Gewohnheit zuſammen geſtellt wird, obſchon aller-
meiſt gerade das Gegentheil ſtatt hat. Es iſt keine
Folge oͤfterer vorgegangener gleichmaͤßiger Bewegun-
gen;
[650] gen; ſondern vielmehr eines auf einmal tief gemach-
ten Eindruckes; und dieſes hat im Sittlichen ſtatt,
wie im Koͤrperlichen.
Ein Mann, der durch das Phantaſiren eines
Weibes zu haͤufigen Saamenentleerungen gereizt wur-
de, nahm ſich feſt vor, ſobald ihm das Weib erſchei-
nen wuͤrde, aus dem Bette zu ſpringen. Von der
Zeit an weckte ihn das Bild des Weibes jedesmal vom
Schlafe auf. — Man nimmt ſich feſt vor, morgen
um eine beſtimmte Stunde, die doch ganz ungewoͤhn-
lich iſt, aufzuſtehen; man ſchlaͤft ruhig bis zur Stun-
de, wo man ohne andere Veranlaſſung erwachet.
Tiſſot kannte einen Mann, der vor zwanzig
Jahren in der Nacht um ein Uhr durch einen Feuer-
laͤrmen aus dem Schlafe geweckt wurde, und ſeitdem
wachte er alle Nacht um die naͤmliche Stunde auf.
Ein Bauer traͤumte, eine Schlange ſchleiche
um ſeinen Arm; er ſchlug ſchnell den Arm in die Hoͤ-
he, um die Schlange wegzuſchleudern. Von dieſer
Zeit an uͤberfiel ihn oft drey- bis viermal eine hefti-
ge Zuckung in dieſem Arme, die oft eine halbe Stun-
de waͤhrte, und durch keine Gewalt gehemmt werden
konnte.
Swieten ſah einen Mann, den ein ſchreckli-
cher Donnerſchlag vom Schlaf aufſchreckte, in ein
ſolches Zittern des ganzen Koͤrpers verfallen, daß er
nicht ein einziges Glied willkuͤhrlich bewegen konnte.
In dieſem Zuſtande lebte er zwanzig Jahre. Waͤhrend
dem Schlafe ließ das Zittern nach, oder wurde viel
geringer. Eben ſo verfiel ein geſundes ſtarkes Maͤd-
chen
[651] chen aus gaͤhlinger Furcht in ein allgemeines Zittern,
welches, aller Nervenmittel ungeachtet, bey der ge-
ringſten Veranlaſſung wieder kam.*) Ein anderes
Maͤdchen blieb durch viele Jahre fallſuͤchtig, nachdem
ſie den erſten Anfall durch Kitzeln an den Fußſohlen
bekommen hatte.**)
Teſta erzaͤhlt von einem Manne, der zur be-
ſtimmten Zeit den Goldaderfluß hatte, und ſich da-
bey wohl befand. Einſtmahls nahm er im Fruͤhjahre
bey einem Verderbniß des Magens juſt zu der Zeit,
da der Goldaderfluß eintrat, ein Brechmittel. Die-
ſes hatte die Wirkung, daß er drey ganzer Tage hin-
durch ſchwarzes Blut wegbrach. Gegen den Herbſt
hin kam der Goldaderfluß wieder; mit ihm bekam der
Kranke Bruſtbeklemmung, Schluchzen, und war dem
Erſticken nahe. Kein Mittel wollte etwas helfen,
bis man ihm wieder ein Brechmittel gab; und kaum
hatte er dieſes genommen, ſo brach er wieder dickes
und ſchwarzes Blut weg, und die Krankheit war da-
durch auf einmal gehoben. So oft er in der Folge
gegen den Herbſt und Fruͤhling hin in dem Ruͤcken
und in den Lenden Schmerzen bekam, erfolgte ein
Blutbrechen, worauf er bald voͤllig wieder geſund
war. — Plattner hat in dem Invalidenhauſe zu Paris
einen Offizier geſehen, welcher am rechten Fuße eine
große Schußwunde gehabt hatte. Man hatte ihm
bey dem erſten Verbande ein Brechmittel gegeben.
Noch viele Jahre nach der Kur verſpuͤrte er allzeit,
ſo
[652] ſo oft er Schmerzen in dem Fuße empfand, [Neigun-
gen] zum Brechen; und wenn er ſich den Magen ver-
dorben hatte, fuͤhlte er Schmerzen in dem Fuße.*)
Leute, die einmal eine Krankheit gehabt haben,
wenn nicht eben dadurch der Koͤrper die Empfaͤnglich-
keit ganz verliert, wie bey den Pocken, bekommen
dieſelbe aus ſehr geringen Veranlaſſungen wieder.
Zimmermann kannte einen Wundarzt, der in ſechs
Jahren alljaͤhrlich 2—3mal eine Entzuͤndung in dem
Halſe gehabt, die faſt jedesmal in Eiterung uͤbergegan-
gen iſt. — Die Hartnaͤckigkeit und die Ruͤckfaͤlle der
Wechſelfieber, die große oft kaum zerſtoͤhrbare Ge-
neigtheit, gewiſſe Arten von Verunſtaltungen, als:
Warzen, Froſtbeulen, Feigwarzen, ohne alle Urſa-
che, wieder zu erzeugen, ſind lauter Wirkungen eines
hinterlaſſenen Karakters oder einer beſtimmten Ein-
praͤgung. —
Was dieſe Erſcheinungen noch wunderbarer
macht, iſt die regelmaͤßige Zeit, an welche man-
che gebunden ſind, und wodurch nicht nur der Zu-
ſammenhang des ganzen Weltalls, ſondern auch wirk-
liche in der Natur der Dinge gegruͤndete Zeitlaͤufte
bewieſen werden. In meinem 17ten Jahre wurde mir
zum erſten Male zur Ader gelaßen. Nach einem Jahr
bekam ich an der Narbe ein unausſtehlich kizelndes
Brennen. Nachher entdeckte ich, daß es der naͤmli-
che Tag war, an welchem mir zur Ader gelaßen wor-
den war. Mariana Koller, die aͤltere Tochter unſers
bota-
[653] botaniſchen Gaͤrtners und der aͤltere H. Sohn unſers be-
ruͤhmten H. v. Jacquin beſtrichen ſich den Handruͤcken
mit dem Safte des Giftſumachs (Rhus toxicodendron.)
Sie bekamen beyde einen garſtigen Ausſchlag uͤber dem
ganzen Koͤrper, welcher ſeitdem ſchon ins vierte Jahr,
alle Jahre um die naͤmliche Zeit, aber jedesmal mit gelin-
dern Zufaͤllen wieder koͤmmt. Kath. Koller eine ſtarke
Dienſtmagd aus Maͤhren wurde 1787. auf Egidi Tag
von einem Kutſcher aus Eiferſucht mit Arſenik verge-
ben. Nach entſetzlichem Erbrechen bekam ſie grauſa-
me Schmerzen in den Fußzehen. Seitdem fangen
ihr alle Jahre einige Tage vor Egydy die Fuͤße zu
ſchmerzen, und die Naͤgel der Zehen ſchwarz zu wer-
den an. Auf Egydy aber hat ſie jedesmal die heftig-
ſten Schmerzen, welche ſich hernach mit ſamt der
ſchwarz violetten Farbe wieder nach und nach verlie-
ren. Joſeph Gromann bekam nach einem ſtarken
Falle auf das Hinterhaupt und heftiger in groſſer Hi-
tze gemachten Bewegung ein auſſerordentliches Kopf-
weh. Man hatte das Uebel verkennt, und durch
ſechs Wochen eine unordentliche, verwirrte und zweck-
widrige Heilart angewandt. Den 27ten Auguſt 1789
war der Schmerz auf einen ſo hohen Grad geſtiegen,
daß die Aerzte und der Kranke am Aufkommen ver-
zweifelten. Ich ließ ihm Igel ſetzen; nachher zwey
maͤßige Aderlaͤßen machen, und verordnete eine ma-
gere, kuͤhle Lebensordnung, wodurch er in 14 Tagen
vollkommen hergeſtellt wurde, und am ganzen behaar-
ten Kopfe einen hoͤkerichten Ausſchlag bekam. Das
Jahr darauf 1790 gerade den 27ten Auguſt uͤberfiel
ihn
[654] ihn der naͤmliche Schmerz der Art nach, nur war er
gelinder, und ließ ſich in drey Tagen durch die kuͤh-
lende Lebensordnung allein heben; dennoch bekam er
auch jetzt mehrere Geſchwuͤrchen auf dem Kopfe. —
Clerk erzaͤhlt von einer Waſſerſcheue, welche drey
Jahre, jedesmal am naͤmlichen Tage, an dem der
Kranke gebißen worden war, den Anfall wiederholte,
ſich mit Schmerz und Roͤthe des Theils, mit einem
Jucken des ganzen Koͤrpers, und mit einem nach 4—5
Stunden erfolgten Erbrechen endigte. — Der gelehr-
te Saumaiſe bekam in ſeinem 38ten Jahre zum er-
ſten Male, und von nun an alle Jahre das Fieber,
welches ihn 7 Jahr lang jedes Mal mit Gefahr des
Lebens anfiel. — Der Dichter Aulipater von Si-
don bekam jederzeit an ſeinem Geburtstage das Fie-
ber, waran er auch endlich ſtarb.
Ich uͤberlaſſe jedem Leſer die Erklaͤrung dieſer
Erſcheinungen. Durch Angewoͤhnungen koͤnnen ſie
nicht erklaͤrt werden, weil ſie ſtatt im Verlaufe der
Zeit hartnaͤckiger zu werden, vielmehr nach und nach
aufhoͤren; die periodiſche Ruͤckkehr kann ebenfalls nicht,
wie Galenus glaubte, aus bloßen aͤhnlichen Veran-
laſſungen der Lebensordnung erklaͤrt werden, weil die
Ruͤckkehr oft puͤnktlich mit dem vorigen Zeitverlauf
zuſammentrift, und weil in vielen Faͤllen, z. B. in
den angefuͤhrten Beyſpielen von Vergiftungen, von
Kopfweh, von der Waſſerſcheue gar keine neue Ver-
anlaſſung ſtatt hatte. Galenus mag in jenen Krank-
heiten Recht haben, welche ſich einige Jahre lang
um die gewoͤhnliche Zeit zu melden pflegen, wie die-
ſes
[655] ſes z. B. bey Gall- und Faulfiebern geſchieht. Die
naͤmliche Lebensart, die noch vorhandene Anlage,
und die Macht einer beſtimmten Jahreszeit wirken ge-
meinſchaftlich, um die naͤmlichen Zufaͤlle zu erregen.
Ein uneigennuͤtziger Arzt wird daher ſeinen Kranken
nie verlaſſen, ohne ihm den Rath zu geben, um die-
ſe gefaͤhrlichen Zeiten die angemeſſenen Vorbeugungs-
mittel zu brauchen. — Bey Schulze, Maty, Con-
dillac, Loke, Pujati, Galenus ꝛc. findet man
nichts von dieſen hinterlaſſenen Eindruͤcken. Den
Seeger habe ich nicht geleſen. Das Beſte, was ich
weiß, hat Ceſta geſagt.
Die Geſetze der Vergeſellſchaftung der Ideen,
der Gefuͤhle ꝛc. ſind bekannt. Vielleicht herrſcht hier
ein aͤhnliches Geſetz, daß naͤmlich durch den Eintritt
einer ſchwachen oder nur einzelnen Urſache von vielen,
welche vorher gegenwaͤrtig waren, die ſchon gegen-
waͤrtige Stimmung oder der noch geringe Ueberbleib-
ſel wieder in die naͤmliche Bewegung geſetzt wird.
Freylich muß der Einfluß von einer Sache maͤchtiger
ſeyn, als von der andern. Der naͤmliche Stand der
Geſtirne, der naͤmliche Druck der Luft, die naͤmliche
Einwirkung der unbekannten Dinge, die uns umge-
ben ꝛc. moͤgen zu dieſen Urſachen gehoͤren.
So viel iſt zuverlaͤßig, daß man bey Behand-
lung ſolcher Erſcheinungen nicht nur auf den Men-
ſchen, in wie fern er Menſch iſt, ſondern vorzuͤglich
in wie fern er mit der Schoͤpfung zuſammen haͤngt,
Ruͤckſicht nehmen muß. Man muß, wie ſchon oben
gezeigt worden iſt, das Verhaͤltniß der Zeit, des Or-
tes,
[656] tes, der Nahrung, der Gemuͤthsfaſſung ꝛc. veraͤn-
dern. Es war bey einem zur Gewohnheit geworden,
daß er alle Morgen Brechen bekam; kein Mittel
wollte helfen, bis man ihm rietht, ſich gegen Abend
mit einer Feder zum Erbrechen zu reitzen, darauf
blieb das Erbrechen in der Fruͤhe weg. Es war die
Stimmung veraͤndert. Ein junger Menſch bekam all-
zeit nach der Malzeit Zuckungen und Aengſtlichkeiten;
ſchon hatte er Jahre lang dieſe uͤblen Zufaͤlle erlitten,
als er in Anſehung des Tiſches ganz von ſeiner bishe-
rigen Gewohnheit abwich, und ſich hierdurch auf ein-
mal vollkommen davon befreyete.*)
Dieſes iſt auch eine von den Urſachen, warum
ein geſpannter Gemuͤthszuſtand, eine heftige Gemuͤths-
erſchuͤtterung, eine Ueberraſchung, eine Taͤuſchung
durch Verwechslung der Tage oder der Stunden,
Zerſtreuung nach Geſundbrunnen, Reiſen u. d. gl. ſo
auffallende Wirkungen hervorbringen.
Vom Inſtinkte.
§. 110.
Ein ſehr allgemeines Hilfsmittel der Natur
iſt jener unwiderſtehliche, weder vom Willen, noch
von der Einbildungskraft, noch von vorgefaßten Be-
griffen abhaͤngige Drang, etwas Beſtimmtes zu thun
oder zu laſſen, den man Inſtinkt heißet. Dieſer Na-
turtrieb hat ſehr viele Schriftſteller beſchaͤftigt; aber
alle haben zu wenig davon geſagt, weßwegen alle ein-
ſeitig geworden ſind. Indeſſen iſt er die Stimme der
Natur,
[657] Natur, und es iſt ſehr wichtig zu unterſuchen, in wie-
ſern dieſe gehoͤrt zu werden verdiene.
§. 111.
Die Bewohner der mittaͤglichen und der mitter-
naͤchtlichen Gegenden lieben ſehr die ſtark berauſchenden
und geiſtigen Getraͤnke. Der Aethiope und der Groͤn-
laͤnder verſchaffen ſich dadurch eine ſtaͤrkere Ausduͤn-
ſtung, welche beyden ſehr nuͤtzlich iſt. Franklin
machte in den amerikaniſchen Kolonien, beſonders un-
ter den Sklaven die Beobachtung, daß diejenigen,
welche das Feld bauen, oder immer unter freyem Him-
mel jagen, auf keine andere Art den gefaͤhrlichſten Krank-
heiten und oft einem ploͤtzlichen Tode entgehen koͤnnen.
Fehlt es den Aegyptiern, Perſern und Arabern am
Mohnſafte, ſo erſetzen ſie ihn durch hitzige Getraͤnke.
Nebſtdem ſalben die Bewohner der heißen Erdſtriche
ihre Leiber mit Oel, vielleicht um ſich gegen die aus-
trocknenden Sonnenſtrahlen, gegen die Einſaugung
der haͤufigen boͤſen Ausduͤnſtungen, und gegen die
Stiche der giftigen Inſekten, deren es bey ihnen ſehr
viele gibt, zu ſchuͤtzen. In den noͤrdlichen Gegen-
den ſind beſonders Ausſchlagskrankheiten, als Pocken
ſehr gefaͤhrlich, weil ſie wegen der allzugroſſen Dicke
der Saͤfte faſt gar nicht zum Ausbruche kommen
koͤnnen. Deßwegen lieben dieſe Voͤlker vorzuͤglich
bittere Dinge, Pfeffer, weil dieſe den zaͤhen, rotzi-
gen Schleim am beſten zertheilen. Ihre ſtraffen Fa-
ſern erweichen ſie durch fette Speiſen, und den Thran
der Fiſche, welche ihr allermeiſter Genuß ſind.
Gall I. Band. T tDie
[658] Die mittaͤglichen Voͤlker hingegen verbeſſern die gal-
lichte, erhoͤhte, ſcharfe, aufbrauſende Beſchaffenheit
ihrer Saͤfte durch das Mark aller Obſtarten, das
ſie mit Zucker einmachen, durch ſaͤuerlichte, angeneh-
me, herbe Fruͤchten und Getraͤnke. Die Bewohner
des neblichten Englandes lieben den Punſch und das
Tabackrauchen; unſere muͤßigen Frauen die ſuͤßen
Weine und den Kaffee, wodurch einigermaßen erſetzt
wird, was ihnen an Bewegung abgeht. Kinder ſtre-
ben nach Bewegung, und alte Leute nach Ruhe ꝛc.
In den Gall- und Faul fiebern verabſcheuen die
Kranken alle thieriſche Koſt; der Genuß, ja der An-
blick derſelben macht ihnen Eckel und Erbrechen. Sie
verlangen ſaͤuerlichte Getraͤnke, ſaure Nahrung; Zi-
tronen, Pomeranzen, Eſſig ꝛc. Sehr viele bitten
um den Zeitpunkt, wo ihnen die untere Lippe zittert,
um ein Brechmittel, welches man zu jeder Zeit der
Krankheit bey dieſen Umſtaͤnden geben ſollte. Andere
verlangen Abfuͤhrungsmittel, wo dann allermeiſt ein
loſer, beweglicher Unrath vorhanden ſeyn wird. In
der groſſen Schwaͤche der Faulfieber, wo die Kran-
ken ſich gegenwaͤrtig ſind, verlangen ſie Wein, der
auch wirklich allen andern aufweckenden Herzſtaͤrkun-
gen vorzuziehen iſt, beſonders wenn die Krankheit
ſchon lange gedauert hat, wenn die Stimme ſchwach
oder verloren und die Zunge feucht iſt, der Kranke
keinen heftigen Durſt hat; oder wenn, obſchon die
Zunge trocken iſt, er ihn doch mit Vergnuͤgen trinkt,
und von Neuem verlangt. In dem Falle hingegen,
wo er dieſen Kranken ſchaͤdlich iſt, iſt er ihnen auch
gleich-
[659] gleichguͤltig, oder ſie ſind vielmehr abgeneigt dagegen.
Wenn ſich das Kerker- und Lazarethfieber in die Laͤn-
ge zieht, mit einer langſamen und leiſen Stimme,
ſo haben die Kranken ein ſonderbares Verlangen nach
herzſtaͤrkenden Sachen, und nichts iſt ihnen ſo ange-
nehm und kraͤftig, als der Wein. In Gall-Faul- und
Nervenfiebern ſehnen ſich die Kranken ſehr oft nach
kaltem, eißkaltem Waſſer, nach friſcher Luft: Dinge
die man nur bey ſehr wichtigen Gegenanzeigen verſa-
gen ſollte. Diejenigen, ſo einen kritiſchen Schweiß
bekommen, ſpuͤren, ſobald dieſer anfaͤngt, bey der
geringſten Beruͤhrung der freyen Luft, einen unange-
nehmen, uͤber den ganzen Koͤrper laufenden Schauer,
weßwegen ſie ſich ſelbſt von allen Seiten aufs ſorgfaͤl-
tigſte zudecken. Man verabſcheut das Licht, das Ge-
toͤſe, je nachdem die Reitzbarkeit der Augen oder der
Ohren uͤberſpannt iſt. In einer allgemeinen Haut-
waſſefrucht geluͤſtete Resling bey Clerc nach der
Frucht des Johannesbrodbaums (ſiliqua dulcis). Er
aß im Anfang nur wenig; der Harn gieng haͤufiger;
er aß mehr, und der Harn gieng von Tag zu Tag
noch haͤufiger, ſo daß bald die ganze Geſchwulſt ge-
fallen war. — Es giebt wenige Mittel, welche die
ausgedehnten Saͤfte und die erſchlappten Gefaͤße beſ-
ſer zuſammen ziehen, als das kalte Waſſer. Floyer
erzaͤhlt von einer Frau, welche von einem Fieber mit
Wahnſinn befallen war, und die ſich in einen Brun-
nen warf; ſie erhielt gleich Erleichterung, und war
bald geheilt. Eine andere ſprang in der Raſerey des
heftigſten Fiebers in die Themſe; ſie wurde heraus-
T t 2ge-
[660] gezogen, und war geheilt. Ein Rechtsgelehrter ſprang
in einem heftigen Fieber wahnſinnig in einen Trog
Waſſer; der Aufenthalt von einer halben Stunde gab
ihm ſeinen Verſtand wieder, und die Hitze und der
Durſt, welche ihn verzehrten, verloren ſich. Floyer
verſichert, nie eine uͤble Wirkung davon geſehen zu
haben, wenn Wahnſinnige in kaltes Waſſer geſprun-
gen ſind. Zuverlaͤßig iſt in dieſen Faͤllen, wenn es
auch nicht gerade Wahnſinn oder Raſerey iſt, und kei-
ne wichtige Gegenanzeige, als innere Entzuͤndung ꝛc.
ſtatt hat, das kalte Baad das wirkſamſte Mittel.
Jener Tuͤrke, den ſeine Kameraden in der Raſerey
eines hitzigen Fiebers in die Themſe tauchten, wurde
mit ſeinem voͤlligen Verſtande zuruͤckgefuͤhrt, und be-
fand ſich den andern Tag vollkommen wohl. — Was
fuͤr Abſichten mag wohl die Natur bey jenen Kran-
ken haben, welche alles, Gewalt und Liſt anwenden,
um zu entfliehen, und die wir, gewiß oft zum Nach-
theile, auf ihr Lager befeſtigen? Es iſt nichts ge-
ringes, einem Menſchen, deſſen verabſcheuenden und
annaͤhrenden Begierden ohnehin uͤberſpannt ſind, alle
Willkuͤhr in Dingen zu benehmen, deren Daſeyn und
Beduͤrfniß er ſo lebhaft empfindet. Man weiß, wie
wohlthaͤtig die freye Luft auf dergleichen Kranke
wirkt; daß ſich die Soldaten oder andere Kranken,
wenn ſie von einem Orte zum andern uͤberbracht wer-
den, gewoͤhnlich auf dem Weege weit beſſer befinden,
als in den Spitaͤlern und Lazarethen. — Zwey Moͤnche
hatten Waſſerſchierling genoſſen, und fuͤhlten davon
einen heftigen Durſt, und heftige innerliche Hitze.
Der
[661] Der eine ſtuͤrzte ſich in einen nahen Pful, weil er
glaubte, er waͤre in eine Ganſe verwandelt; der an-
dere zerriß ſeine Kleider, ſuchte einen Fluß, um ſei-
nen innerlichen Brand zu loͤſchen, weil er zur Ente ge-
worden waͤre, und ohne Waſſer nicht leben koͤnnte.*)
Ohne Zweifel waͤre das Anſchuͤtten oder Baaden mit
kaltem Waſſer die beſte Kurart fuͤr die Wirkungen
der betaͤubenden Gifte und der aufwallenden Saͤfte.
Die bleichſuͤchtigen Maͤdchen, die ſchwangern Frauen
werden oft aufs gewaltthaͤtigſte von den ſonderbarſten
Geluͤſten hingeriſſen; der Mangel an Befriedigung
macht ſie kleinmuͤthig, muͤrriſch, abgeſchlagen; manch-
mal ſchadet er ihnen auf andere Arten. Hingegen er-
tragen ſie die unverdaulichſten, ſeltſamſten, eckelhaf-
teſten Dinge, und befinden ſich wohl und vergnuͤgt
dabey. Allermeiſt ſind ihre Begierden von der Art,
daß dadurch ihre rohen, zaͤhen, rotzigen, ſchleimich-
ten Saͤfte zertheilt und ausgeleert, oder beſſer ver-
dauet werden, z. B. wenn ſie Pfeffer, Kalkerden,
Aſche, Salzen, ſtinkenden Kaͤß, Haͤringe, thieriſche
Auswuͤrfe, Wurzeln, ſaͤuerlichte Obſtfruͤchten, ſchar-
fe Pflanzen u. d. gl. verſchlingen. Eben ſo ſehnen ſich
faſt alle Hypochondern nach ſcharfen Pflanzen, nach ge-
ſalzenem, geraͤuchertem Fleiſche, nach Haͤringen ꝛc:
lauter Dinge, die ihnen der vernuͤnftige Arzt ohnehin
nur ſelten nicht anempfehlen ſollte. Die hyſteriſchen
Frauen lieben ſcharfe Geruͤche, ſtinkende, fluͤchtige,
durchdringende Geiſter und Rauchwerke; manche tra-
gen Kampfer, verfaulte Stuͤcke Leder ꝛc. bey ſich,
ob-
[662] obſchon ſie eben dieſen Dingen ihr Uebel zuſchreiben.
— So wie die Natur nach Verſchiedenheit des Krank-
heitsſtoffes im naͤmlichen Menſchen verſchiedene Fie-
ber erregt, ſo erregt ſie auch nach eben der Ver-
ſchiedenheit verſchiedene Begierden. Mein Freund
Verrier hatte in einem hypochondriſchen Uebel bald zu
Eſſig, bald zu Wein, bald zu Waſſer, Fleiſch,
Mehlſpeiſen, Kaͤſe, ſchwarzem Brode, Schinken ꝛc.
die abwechſelndſten Geluͤſten; ſo oft er ſie befriedigte,
befand er ſich wohl; that er hingegen das Gegentheil,
ſo bekam es ihm Uebel. Aus der Art der Begierden
konnte er die Art ſeiner Ausleerungen, des Stuhles
und Harnes voraus beſtimmen. — Die Soldaten im
Felde, die Kinder lieben auſſerordentlich die Mehl-
ſpeiſen, welche bey Arbeit und Bewegung die beſte
Nahrung ſind. — Die Waſſerſuͤchtigen lechzen nach
Getraͤnken, welche man ihnen ehemals zum groͤſten
Nachtheile verſagt hat. — Die Melancholiſchen ha-
ben oft einen unwiderſtehlichen Trieb, etwas zu thun,
was ohne heftige Schmerzen nicht geſchehen kann,
die ſie mit unbegreiflicher Geduld ertragen. Der
Schmerz kann nicht nur die auf den innern Werkzeu-
gen abgelagerte Krankheitsmaterie herauslocken, ſon-
dern auch als Gegenreitz die Reitzbarkeit der feinern,
innern Theile aufheben. — Die Ausſaͤtzigen ſuchen
mit Tollkuͤhnheit den Beyſchlaf, den Galenus als
das gewiſſeſte Mittel anempfiehlt. — Im Fieberfroſt
ſuchen die Kranken die Bettwaͤrme oder die Sonne.
— Selbſt der Selbſtmord hat das Ende aller Lei-
den zur Abſicht. — Auch die Thiere, dieſe unbeſto-
chenen
[663] chenen Lehrmeiſter des Menſchen, befolgen ihre In-
ſtinkte. “Im Schauder, ſagt Wolſtein vermeiden
ſie den Zug der Luft, der Winde; ſie ſuchen ſich Oer-
ter, ſie waͤhlen ſich Plaͤtze, die ihr Leben erwaͤrmen,
die ſanft, die wohlthaͤtig fuͤr ihr Gefuͤhl, fuͤr ihre
Empfindungen ſind. — Iſt der Schauder oder die
Kaͤlte voruͤber, dann verlaſſen ſie dieſe Plaͤtze; dann
weichen ſie der Sonne, der Hitze, der Waͤrme aus,
dann ſuchen ſie rauhe, dunkle, kuͤhle oder finſtere
Oerter, Schatten und Luft; dann ſtellen ſie ihre Na-
ſen dem Zuge der Winde entgegen. — In allen die-
ſen, und in allen andern Faͤllen ſind die ſich ſelbſt uͤber-
laſſenen Thiere den Vorſchriften der Natur ſo treu,
ſo ganz ergeben, als ſich ſelbſt; ſie folgen ihnen ſo
lange, als ihre Kraͤfte dauern, als ihre natuͤrlichen
Verrichtungen ihre Glieder bewegen koͤnnen.„ Sie
faſten wenn ihre Daukraͤfte verdorben ſind; der ver-
ſtopfte Hund kauet das Hundsgraß ꝛc.
§. 112.
Sollte man jetzt nicht geneigt ſeyn, den Inſtinkt
als einen ſichern Weegweiſer anzuſehen? Auch hat
er ſich in der That unter den groͤſten Aerzten viele
Achtung erworben. Van Swieten ermahnet die
Aerzte, aufmerkſam darauf zu ſeyn; denn, ſagt er,
die Begierden der Kranken ſind oft wunderbare Be-
ſtrebungen der Natur, die Krankheiten zu beſiegen,
und ſie uͤbertreffen nicht ſelten alle Bemuͤhungen der
Heilkunde. Schon Hippokrates zog die den Kranken an-
genehmern, obſchon minder heilſamen Speiſen und
Ge-
[664] Getraͤnke den heilſamern, aber unangenehmern vor.
“Man findet ſehr haͤufig, ſagt Sydenham, daß
eine Speiſe, nach welcher den Kranken geluͤſtete,
ob ſie gleich ſchwer zu verdauen iſt, doch weit beſſer
von dem Magen, als eine ſolche Speiſe verdaut wird,
gegen welche der Magen einen Eckel hat, ob man ſie
ſchon im uͤbrigen als eine ſolche anſieht, die weit leich-
ter, als die erſte, zu verdauen iſt.„ Nur ſoll man
ſich der unverdaulichen Nahrungsmitteln ſparſamer
bedienen. Der ungemeine Nutzen der freyen Luft in
den Blattern, wobey ſich die Kranken gleichſam aufs
Neue belebt empfinden; brachte ihn auf den Gedan-
ken, daß uns die Vernunft weit oͤfter, als die Sin-
ne, hintergehen, und daß man mehr Ruͤckſicht auf
die heftigen Begierden der Kranken, wenn ſie nur nicht
gar zweckwidrig ſind, und gerade zu ſchaͤdliche Dinge
betreffen, als auf die ungewiſſen Regeln der Heilkun-
de nehmen muͤſſe. “Ein Kranker zum Beyſpiel,
ſagt er, der ein hitziges Gallfieber hat, wird drin-
gend um ein kuͤhlendes Getraͤnk bitten; ein Arzt
aber, mit deſſen Meinung ſich dieſes Verfahren nicht
reimt, wird ihm ein hitzendes Getraͤnke aufdeingen
Der naͤmliche Kranke verabſcheuet alle Nahrung, und
will nichts, als ein angenehmes Getraͤnk; aber ge-
wiße Aerzte und vorzuͤglich Weiber werden hartnaͤ-
ckig behaupten, daß man ihm zu eſſen geben muͤße.
— Ein anderer Kranke, den ein hitziges Fieber ſehr
erſchoͤpft hat, wird ſehnlichſt etwas verlangen, was
an ſich ungereimt iſt, und ſchaͤdlich ſcheint; ein un-
wiſſender Arzt wird es ihm unbarmherziger Weiſe
unter
[665] unter dem Vorwande, daß es ihn toͤdten wuͤrde, ver-
ſagen. Indeſſen muß doch ein erfahrner und aufmerk-
ſamer Arzt geſtehen, daß ſich mehrere Kranke vortreff-
lich dabey befunden haben, wenn ſie mehr ihre Neigung
als die Anordnungen ihres Arztes befolgten. — Man
bedenke nur, daß ſehr viele hitzige Krankheiten von
ſelbſt einen gluͤcklichen Ausgang gewinnen, ſo wird
dieſes Niemand mehr befremden; denn die damit ver-
bundenen Begierden ſchuͤtzen den Kranken gegen die
ſchaͤdlichen Unternehmungen einer uͤbel verſtandenen
Kunſt, und fuͤhren ihn unfehlbar auf den rechten Weeg.
Der Inſtinkt iſt alſo ein Gluͤck fuͤr die Menſchen, in-
dem er ihnen den gaͤnzlichen Mangel der Heilkunde
erſetzt.„*)
Es wird keinem Arzte an Beyſpielen fehlen,
welche die Wahrheit dieſer Behauptungen beſtaͤttigen.
Ich kenne mehrere, denen ein gutes Glas Wein das
Leben gerettet hat, nachdem es ihnen von den Aerz-
ten abgeſprochen, und der Wein bey Todesgefahr ver-
boten war u. ſ. w. Es iſt daher kein Zweifel, daß
die Inſtinkte unter die Anſtalten gehoͤren, wodurch
die Natur fuͤr die Erhaltung der Geſundheit und die
Beſiegung der Krankheiten ſorgen wollte.
§. 113.
Aber, giebt es in der Natur ein einziges Ding,
das nicht unter gewiſſen Umſtaͤnden ſchaͤdlich ſeyn koͤnn-
te? — Ich fuͤrchte, dieſe leidige Nothwendigkeit werde
auch
[666] auch beym Inſtinkte ſtatt haben. — Die Inſtinkte
ganzer Voͤlker ſind uͤberhaupt aͤußerſt ſchwer zu beur-
theilen; man weiß nicht, ob gefuͤhltes Beduͤrfniß,
Ueberlieferung, Gewohnheit, Nothwendigkeit, Ge-
ſetzgebung, Religion, Erfahrung oder Vorurtheil den
groͤßten Einfluß darauf haben; ob eben die Urſachen
welche Krankheiten von einer Art abwenden, nicht
Krankheiten von einer andern Art veranlaſſen. So
z. B. wohnen die pohlniſchen und lithauer Juden in
niedrigen feuchten Orten, und ſie ſaufen haͤufig den
Brandtwein, wie die ungariſchen Hirten. Dadurch
werden zwar ihre ſchwammigen Koͤrper feſter gemacht,
und gegen die uͤblen Eindruͤcke der Sumpfluft einiger-
maſſen geſchuͤtzet; allein dafuͤr bekommen ſie die Gicht,
das Podagra, den Weichſelzopf, die ſchrecklichen
Verknorplungen der haͤutigen Eingeweide, die ſo ge-
nannte Schaͤferkrankheit. Die Krankheiten aller Voͤl-
ker geben hievon Beweiſe ab. — In Lungenentzuͤn-
dungen ſehnen ſich die meiſten nach kaltem Waſſer;
und dennoch wiſſen wir, daß ſo oft toͤdliche Eiterungen
auf dieſes Verfahren folgen. Lungenſuͤchtige, Leute,
deren Saͤfte ſehr ſcharf ſind, Kinder, welche Wuͤrmer
oder Schaͤrfe haben, erſchoͤpfte Buhler und Buhlerin-
nen, die kraͤtzigen Neger, die Tripperpatienten,
die Selbſtbeflecker haben alle einen heftigen Antrieb
zum Beyſchlafe oder zu gewaltſamen Saamenentleerun-
gen, ohne daß man deßwegen je die Heilung dieſer
Uebel davon erwartet haͤtte. Schlechtbeſchaffene Frau-
enzimmer, deren ſchlappen Eingeweide von Saͤure
ſtrotzen, lieben die Saͤuren oft ganz unſinnig; andere,
deren
[667] deren Saͤfte ſehr ſcharf ſind, verlangen nichts als
Fleiſchſpeiſen, wie dieſes oͤfters ſchon bey Kindern noch
lange ehe ſie Zaͤhne haben, der Fall iſt. — In der
von Roſenblad beſchriebenen mit Zuckungen und Kraͤm-
pfen begleiteten Volkskrankheit hatten die Kranken
durchaus einen beſchwerlichen, unerſaͤttlichen, wider-
natuͤrlichen Hunger. Indeſſen hat doch die Uebermaͤſ-
ſigkeit im Eſſen oft Ruͤckfaͤlle zuwegen gebracht, und
die Heilung der Krankheit erſchwert.*) Die Hypo-
chondern werden oft von der unerſaͤttlichſten Eßbegier-
de geplagt, deren Befriedigung die unausſtehlichſte
Bangigkeit, Blaͤhungen ꝛc. zur Folge hat. Die Me-
lancholiſchen ſuchen die Einſamkeit, wo ſie dem Ge-
genſtande der Krankheit noch mehr nachhaͤngen, und
ſie verſchlimmern. Noch einen [Augenblick] vor dem To-
denkampfe haben manche, beſonders, die innere Ei-
terungen haben, eine ungewoͤhnliche Eßluſt. Sie eſ-
ſen zwar mit Begierde; muͤßen es aber alſobald wie-
der durch ein ſchmerzhaftes Erbrechen von ſich geben.
Eben dieſes ſah ich bey einem Kinde, welches von zu-
ruͤckgetretener Blattermaterie irre war. Wie oft hat
man in andern Krankheiten einen unertraͤglichen Hun-
ger; alles was man ſieht oder ſich vorſtellt, moͤgte
man verzehren; und bringt man’s an den Mund, ſo
iſt man ſatt; zwingt man ſich, ſo wird man davon
beſchwert. — Wenn bey Waſſerſuͤchtigen die Schaͤrfe
ſchon auf einen ſehr hohen Grad geſtiegen iſt, ſo daß ſie
nimmer verbeſſert werden kann, ſo beſchleunigt das
Trin-
[668] Trinken den Tod, weil es die ſchaͤrfſten Theile in Be-
wegung ſetzt, wodurch in verſchiedenen Gefaͤſen und
Eingeweiden der Brand verurſacht wird; auch in je-
nen Waſſerſuchten, die von zerriſſenen Lymphengefaͤſen
herkommen, kann das viele Trinken nichts, als ſcha-
den; und doch duͤrſten da die Kranken nicht weniger,
als wo ihnen Getraͤnke heilſam ſind. — In Vogels
Beobachtungen 16 Beob. bekam der Kranke, noch-
dem er wegen der Darmgicht (Miſerere) auſſer Ge-
fahr war, den zweyten Tag eine ſtarke Luſt zu einer
ſauren Kirſchſuppe, wozu ihn vorzuͤglich ein heftiger
Durſt reitzte. Er aß ſie ohne Wiſſen des Arztes mit
Zitronenſaft, und ſtarb nach zwey Stunden an Ent-
zuͤndung und Zuſamenſchnuͤrung der Gedaͤrmen un-
ter den heftigſten, konvulſiviſchen Kolikſchmerzen.
Die Tobſuͤchtigen trinken wenig; man mußte des De-
alkes Frau daran erinnern und dazu noͤthigen. So
muß man auch die an Nervenkrankheiten darnieder-
liegenden hie und da zum Eſſen noͤthigen, damit ſie
nicht gaͤnzlich von Kraͤften kommen. Der Handels-
mann im 9ten Falle bey Perfekt aͤußerte gegen die
Nahrung und alle Speiſen eine ſolche Abneigung, daß
es ſchwer war, ihm nur das zur Erhaltung des Le-
bens Nothwendige beyzubringen. Ein alter wahnſin-
niger Offizier nahm 46 Tage nicht die geringſte Spei-
ſe zu ſich, und die letzten acht Tage trank er auch
nichts mehr; hingegen wurde ihm das Geſicht und
der ganze Koͤrper ſehr ſchwach, und er gab von der
Zeit, als er zu faſten anfieng, einen abſcheulichen
[a]aßhaften Geruch von ſich. Eine ſehr duͤnne Huͤhner-
bruͤ-
[669] bruͤhe, die man ihm die letzten Tage eingoß, ver-
urſachte ihm Erbrechen. Auf einmal bekam er durch
den Anblick eines Maͤdchens, das ein Stuͤck Brod mit
Kaͤſe in der Hand hielt, heftige Begierde nach Brod
und feſten Speiſen, die ihm wahrſcheinlich nicht ſo
gleich wuͤrden gut bekommen ſeyn.*) Verſchleim~te, fette
Leute ſind den Bewegungen und der Arbeit ſehr abge-
neigt, obſchon dieſe ihnen ſehr dienlich waͤren. So
war es auch Perſects dritter Kranke, bey deſſen Hei-
lung doch dieſe Bewegung in freyer Luft eine Haupt-
ſache ſeyn mußte. Der Soldat bey Pringle, in deſ-
ſen Gehirn ein Abſceß von der Groͤße eines Eyes ge-
funden wurde, wollte einige Tage vor ſeinem Tode
nichts als kaltes Waſſer trinken. Zu was haͤtte ihm
das helfen koͤnnen! Zwey Reuter wurden ploͤtzlich
mit Raſerey befallen, und ſtuͤrzten ſich von ihren Pfer-
den ins Waſſer, weil ſie glaubten, ſie muͤßten nach
ihren Quartieren ſchwimmen. Die Raſenden, wo-
von Diemerbroͤck erzaͤhlt, liefen herum, und ſchlu-
gen alle, die ihnen begegneten; die meiſten ſtarben
den 5ten oder 6ten Tag.*) — Wenn Verruͤckte un-
ablaͤßlich eine gewiſſe Zahl zaͤhlen, auf dem Spalte
zweyer Dielen auf und ab gehen: was ſoll dieſer in-
nere Antrieb heißen? — So viel mag genug ſeyn,
um zu zeigen, daß es auch einen unnuͤtzen und ſchaͤd-
lichen Inſtinkt gibt, und folglich nicht jeder blind-
lings befolgt werden darf.
§. 114.
[670]
§. 114.
Wie unterſcheiden ſich aber der unnuͤtze und der
ſchaͤdliche vom heilſamen? — Freylich waͤre es kein ge-
ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal feſtſetzen
koͤnnte, woraus ſich mit einiger Gewißheit erkennen
ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben,
oder ſie verwerfen muͤſſe. Allein ich bin’s uͤberzeugt,
daß wir noch viel weiter davon entfernt ſind, als
man glaubt. — Sims will aus Erfahrungen behaup-
ten, daß man dieſem Verlangen vor der Abnahme
der Krankheit niemals wiederſtehen duͤrfe; hingegen
ſeye es bedenklich nach der Nachlaſſung, und ſobald
ſich eine Veraͤnderung zur Beſſerung eingeſtellt habe,
beſonders, wenn ſich der Puls dem natuͤrlichen naͤ-
hert, es ſeye denn, daß das Verlangen auſſerordent-
lich heftig ſey, und der Kranke bey der verweigerten
Erfuͤllung deſſelben den Muth zu verlieren ſcheine.
Er verſichert, daß fuͤnfzig unter ſolchen aufkommen
fuͤr einen, der ſtirbt. Vogel ſucht dieſes in ſeinem
Handb. d. prakt. Arz. alſo zu erklaͤren: „Je mehr ſich
der Kranke ſeiner bewußt iſt, je mehr Lebhaftigkeit
die Empfindungen ſeines Magens nach gebrochener
Krankheit wieder erhalten, und je emſiger die Natur
nun ſucht, den Verluſt der Kraͤfte, der feſten und
fluͤſſigen Theile baldigſt wieder zu erſetzen; deſto leich-
ter wird der Patient, bey der groſſen Wahl von
Speiſen und Getraͤnken, auf Dinge, und vielmals
auf diejenigen beſonders verfallen, die er in geſunden
Tagen am liebſten genaß, welche nun aber der Schwach-
heit ſeiner Danungskraͤfte, der Reitzbarkeit ſeines
Ma-
[671] Magens u. ſ. w. nicht angemeſſen ſeyn koͤnnen, wo-
durch folglich zu vielerley Beſchwerden und Ruͤckfaͤl-
len Anlaß gegeben wird. Ganz anders verhaͤlt ſich
hingegen die Sache, wo in dem Laufe und auf der
Hoͤhe der Krankheit bey fehlenden Urſachen einer na-
tuͤrlichen Eßluſt, und bey einem Widerwillen gegen
alle uͤbrigen dem Kranken ſonſt angenehme Speiſen und
Getraͤnke, ein beſonders ausgezeichnetes Verlangen
zu irgend etwas dieſer Art entſteht, zumahl zu Din-
gen, die ihm ſonſt und in geſunden Tagen zuwieder
waren. Hier faͤllt aller Verdacht einer den geheimen
Trieben ſeiner hilfbegierigen Natur nicht entſprechen-
den Luͤſternheit weg, und man darf hoͤchſt wahrſchein-
lich vermuthen, daß dieſer Appetit, dieſes Verlan-
gen eine wahre Kuranzeige ſey, deren vernuͤnftig ge-
leitete Befriedigung zum wahren Heil des Kranken
gereichen werde.„
Clerc, um zu erfahren, ob die Geluͤſten der
Kranken nur Luͤſternheit, oder wahrer Inſtinkt ſind,
reicht ihnen anfaͤnglich alles, was ſie verlangen. War
es Einbildung, ſagt er, ſo werfen ſie es gleich wie-
der weg, ſobald ſie es verſucht haben; war es aber
ein wahres Beduͤrfniß der Natur, ſo eſſen ſie es mit
der groͤſten Luſt. Er will von dieſem Verfahren nie
uͤble Folgen geſehen haben.
Alle dieſe Pruͤfungsmittel haben den Fehler,
daß ſie ſich nur auf jene Begierden, welche Speiß
und Trank betreffen, einſchraͤnken. Aber, außer dem,
daß ſie auch da nicht Probe halten, giebt es noch ſo
viele andere Dinge, welche die Ab- und Zuneigung
der
[672] der Kranken in die lebhafteſte Thaͤtigkeit verſetzen,
und auf welche folglich ein jedes gutes Pruͤfungsmit-
tel ebenfalls paſſen muͤſte. Auch im geſunden Zuſtan-
de, und in langwierigen Krankheiten, in der Wie-
dergeneſung der hitzigen giebt es heilſame und ſchaͤd-
liche Inſtinkte, welche nach der Simſiſchen Methode
auf keine Weiſe unterſchieden werden koͤnnen. Sims
fuͤhrt ſelbſt Beyſpiele an, wo Inſtinkte unter ſeinen
Bedingnißen fruchtlos waren. Tiſſot erzaͤhlt von
einem Kranken, der im Anfang der Krankheit ſchwar-
ze Galle brach, und noch einige Stunden vor ſeinem
Tode faſelnd und mit Heftigkeit eine Aderlaͤß verlang-
te, die ihm ein Bartſcheerer machte. Gleich darauf
verfiel er in die heftigſte Hirnwuth, welcher bald ein
gaͤher Tod folgte. Die Klara Sied verlangte auf
der hoͤchſten Stufe der Krankheit, wo ſie ganz auſ-
ſer ſich war, nicht nur ein Meſſer, um den Magen
aufzureiſſen, ſondern auch dringend und hartnaͤckig ei-
ne Aderlaͤße, die ihr gewiß den Tod gebracht haͤtte.
— Der Kranke S. 329 als er in tiefer Betaͤubung
lag, verlangte Tokaierwein, den er ſonſt nicht ertra-
gen konnte. Er trank und ertrug ihn in großer Men-
ge; kam auch wirklich zu ſich. In dem letzten Ruͤck-
falle verſtund man aus ſeinen Gebehrden, daß er ſich
nach Obſt ſehnte; man ſtellte ihm alle Gattungen
vor; nach den Pfirſichen ſtreckte er eiligſt, wie ein
Kind, beyde Arme aus, machte die ruͤhrendeſten Be-
wegungen eines bittenden, und bebte vor Begierde;
er aß mit unbeſchreiblicher Freude, wie ein verhun-
gertes Thier; ſchaute immer um ſich her, ob wohl
hin-
[673] hinlaͤnglich da ſeyn werden, ſeine ganze Luſt zu befrie-
digen; man gab ihm freylich nicht zu viel auf ein-
mal; es aͤuſſerte ſich keine Verſchlimmerung; aber die
Krankheit gieng ihren traurigen Gang fort, und er
ſtarb nach zwey Tagen. — Vogels Kranker aß die
Kirſchſuppe mit Luſt auf; ſie verurſachte ihm den
Tod. — Durch dieſe und die in den zwey vorigen
Paragraphen angefuͤhrten Geſchichten wird das Simſiſche
und Klerkiſche Pruͤfungsmittel, obſchon beyde in manchen
Faͤllen ſehr brauchbar bleiben, dennoch als unzuver-
laͤßig und oft unſicher dargethan.
§. 115.
Ich halte den Inſtinkt fuͤr eine Eigenſchaft der
ganzen organiſchen Natur. Wir ſehen ihn in den
Pflanzen, in den Thieren und im Menſchen. Er er-
haͤlt nach Verſchiedenheit des Subjektes und der Aeu-
ßerung [...]ſchiedene Namen, als: Neigung, Trieb,
Zuneigung, Inſtinkt u. ſ. w. Er iſt folglich den
naͤmlichen Geſetzen unterworfen, welchen jeder beſon-
dere Organismus unter ſeinen verſchiedenen Abaͤnde-
rungen unterworfen iſt. Wenn die in dem thieriſchen
Organismus vereinigten und wirkenden Kraͤfte zur
Erhaltung deſſelben abzielen, und zureichend ſind, ſo
iſt der dadurch bewirkte Inſtinkt heilſam; wirken die-
ſe hingegen verwirrt, zweckwidrig, irrig, traͤg, uͤber-
maͤßig, zum Untergang, ſo iſt auch der Inſtinkt nichts
anders, als ein verwirrtes, zweckwidriges, irriges,
traͤges, uͤbermaͤßiges, ſchaͤdliches Bemuͤhen der thie-
riſchen Natur, gerade ſo, wie es unter dieſen Um-
Gall I. Band U uſtaͤn-
[674] ſtaͤnden alle ihre uͤbrigen Hilfsmittel, das Fieber, die
Entſcheidungen, die Entwicklung, der Reitz, die Mit-
leidung, die Gewohnheit ꝛc., wie es alle Zufaͤlle ſind,
wenn ſie von gehemmten, irrigen oder uͤbermaͤßig
verſtaͤrkten Bewegungen der thieriſchen Haushaltung
erregt werden.
Je geſchmeidiger der Organismus iſt, deſto
betraͤchtlichere Veraͤnderungen des Inſtinktes hat man
zu erwarten. Veredelter oder herabgewuͤrdigter Bau
der feinern Werkzeuge, Uebung oder Mangel an Ue-
bung, Freyheit oder Sklaverey, Ueberfluß oder Man-
gel, geſellſchaftliches oder einſames Leben u. d. gl.
koͤnnen den Inſtinkt veraͤndern, verfeinern oder ab-
ſtumpfen, wobey er meiſtentheils mit den Beduͤrfni-
ßen in ziemlichem Verhaͤltniſſe ſtehen wird. So, ſagt
Wolſtein, folgen nur die ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Thiere
ihren Inſtinkten, nicht die zahmen, die an Staͤlle
gewoͤhnten; dieſe ſind dumm, haben einen verwiſch-
ten Inſtinkt; ſie bleiben im Stalle, im Stande, ſie
bleiben auf dem gewoͤhnten Flecke ſtehen, bis man ſie
davon verjagt.„ Das wilde Thier, unterſcheidet die
heilſamen und ſchaͤdlichen Kraͤuter, wozu die ſtumpfern
Sinne unſerer Hausthiere ſehr oft nimmer hinreichen.
Beym Menſchen, den die Vortheile des geſellſchaft-
lichen Lebens, die Entwicklung der Vernunft, ange-
woͤhnte gleichſam zur Natur gewordene Gefuͤhle und
Vorſtellungen der Leitung der Sinne beynahe ganz
entziehen, iſt der Inſtinkt nothwendiger Weiſe am
allermeiſten verwiſcht, und groͤſtentheils entbehrlich.
Die veranlaſſenden Urſachen deſſelben ſind hier nicht
allein
[675] allein Beduͤrfniß der Natur; ſondern Anerbung, Ge-
wohnheit, Luͤſternheit, Furchtſamkeit, Hoffnung,
Vorurtheile, Beyſpiel u. ſ. w. durchkreuzen ſich viel-
faͤltig, und wirken zuſammen, um eine mehr oder we-
niger beſtimmte, mehr oder weniger heftige Begier-
de zu erregen.
So wie der vormalige Seelenzuſtand auf die
Traͤume, die Faſeleyen und die Verruͤckungen Einfluß
hat, 1 Kap. §. 45. ſo hat er es auch auf die Entſte-
hung und die Natur der Begierden, die Krankheit
ſey noch ſo heftig, und der Kranke werde noch ſo un-
widerſtehlich davon fortgeſchleppt. Freylich geſchieht
dieſes oft auf eine ſo geheime Weiſe, daß man kaum
etwas davon vermuthen kann.
Ferner werden zuverlaͤßig die Geluͤſte ſehr oft
durch bloße Vergeſellſchaftung der Ideen beſtimmt;
z. B. einem Kranken, deſſen Nerven in einem wider-
natuͤrlichen Zuſtande ſind; in deſſen Innerſtem ein
wirkliches Beduͤrfniß ſtatt hat, koͤmmt etwas vor die
innern oder aͤußern Sinne, was ihm eine angenehme
Empfindung erregt: Alſogleich wird ſich ſeine Begier-
de darauf feſt heften, als auf einen Gegenſtand, der
das vorhandene Beduͤrfniß erleichtern oder befriedigen
kann. Jeder andere, nur nicht von einem geradezu
unangenehmen Eindruck begleitete Gegenſtand wuͤrde
die naͤmliche Wirkung gemacht haben.
Oft kann der Gegenſtand des Inſtinktes gut ge-
weſen ſeyn; man befriedigte ihn aber zu wenig, als
daß er die wohlthaͤtige Wirkung haͤtte thun koͤnnen;
oder man that zu viel, woraus Nachtheil entſtund.
U u 2Bey
[676]
Bey den durch den Inſtinkt bewirkten Kuren
hat man zu unterſuchen, ob die Geneſung eine Wir-
kung des Inſtinktes, oder der Inſtinkt eine Wirkung
der anfangenden Geneſung, der vermehrten Abſonde-
rung des Speichels und Magenſaftes, der verſtaͤrkten
Daukraͤfte ꝛc. geweſen ſeye. Dieſes ſcheint in der
vom Jahr 1673 von Sydenham beſchriebenen Epi-
demie der Fall geweſen zu ſeyn, in welcher das er-
ſte Zeichen der Geneſung eine unmaͤßige Luſt war,
etwas Sonderbares zu eſſen oder zu trinken.
Den ſtrengſten Beweiß endlich, daß die hef-
tigſten, unwiderſtehlichſten, nicht im geringſten von
der Einbildungskraft abhaͤngigen Begierden oft nur
hoͤchſt unordentliche, und nachtheilige Beſtrebungen
ſeyen, haben wir an dem Triebe zum Selbſtmord
und an der Waſſerſcheue. Es ſind beyde ein Hoͤllen-
kampf zwiſchen den widerſprechendſten Begierden und
Verabſcheuungen. Die Kranken fuͤhlen den allmaͤch-
tigen Drang ſich zu toͤden, oder die Umſtehenden zu
beißen und anzuſpeyen. Da ſie ſich aber bewuſt ſind,
ſo kaͤmpft der eine zwiſchen der Liebe zum Leben, zwi-
ſchen Mitleiden fuͤr ſich und ſeinen zu hinterlaſſenden
Angehoͤrigen ꝛc; der and ere bittet inſtaͤndig, man moͤch-
te ſein unſinniges Beſtreben vereitlen; er ſtreckt die
Haͤnde dar, um ſich binden zu laſſen; aber er kann
in den heftigen Zu ckungen ſo wenig dem Beißen wi-
derſtehen, daß er ſich ſelbſten beißet; ſein Durſt iſt
unertraͤglich grauſam heftig, und der Anblick, der
bloße Gedanke an eine Fluͤßigkeit erregt ihm die jam-
mervollſten Kraͤmpfe und einen unnennbaren Abſcheu
vor
[677] vor derſelben. Beyde ſuchen ſich zu verbergen, und
brennen vor Begierde, ſich oder andern zu ſchaden.
Wer iſt noch je von der Befriedigung dieſer wider-
ſprechenden Triebe geheilt worden?
Ich ſah einen Mann, den, ſeines voͤlligen Be-
wuſtſeyns ungeachtet, eine unuͤberwindliche Mordſucht
bis zur Verzweiflung plagte: Bring ihn um. Schneid
ihm die Gurgel ab! ſo ſchrie es ihm unablaͤßlich ins
Gehoͤr. Der Elende bebte am ganzen Leibe, als er
mit mir ſprach, und bat mich inſtaͤndig, auf meiner
Hut zu ſeyn. Sein Auge war aͤuſſerſt fluͤchtig, und
der Kopf immer nach der Seite gedreht; mit den
Haͤnden wuͤhlte er entweder in den Taſchen, oder
rang ſie verzweiflungsvoll. Nichts konnte ihn gefaß-
ter machen, als meine feyerliche Verſicherung, daß
er nicht von Gott verlaſſen ſeye, wie er behauptete,
ſondern blos von einem heftigen Eindruck erſchuͤttert
worden waͤre, wozu ſein koͤrperlicher Zuſtand alles
beytrage; daß ich ihn aber bey der erſten Bewegung
an die Wand ſchleudern werde, und er alſo nie das
Ungluͤck erleben wuͤrde, mich zu toͤden. Der Geiſt
der Verſuchung war ein Wanſtvoll veralteter Unrath,
und ich trieb den Teufel durch den Hintern aus. Er
hatte den ungluͤcklichen Moͤrder Z.... raͤdern geſehen,
und dadurch bey ſeiner kranken Beſchaffenheit den
Grund zu dieſem gefaͤhrlichen Wahnſinne gelegt.
Ein junger Menſch, der immer eine untadel-
hafte Auffuͤhrung hatte, muſte wegen einer ſchweren
Kopfwunde trepanirt werden, wodurch er einen Theil
der aͤußern Gehirnmaße verlor, aber geheilt wurde.
Von
[678] Von der Zeit an hatte er zu ſeinem groͤſten Leidweſen
einen unwiderſtehlichen Trieb zu ſtehlen. Ungeach-
tet wiederholter, ſcharfer Strafen kam es endlich ſo
weit, daß er zum Galgen verdammt wurde. Er
ſelbſt war damit ſehr zufrieden, weil er von der Straͤf-
lichkeit ſeiner Handlungen uͤberzeugt war, und doch
keine Hoffnung hatte, daß er ſich je werde beſſern
koͤnnen. Die Bemuͤhungen eines philoſophiſchen Arz-
tes haben ihm das Leben gerettet; und zu ſeinem Auf-
enthalt iſt ihm, als einem Verruͤckten, daß Dollhaus
angewieſen worden. Man erinnere ſich, was ich im
1ten Kap. §. 18 und 44 von den theilweiſen Verle-
tzungen geſagt habe, welche bey Erregung der Ge-
muͤthsbewegungen einen ſo maͤchtigen Einfluß haben,
und wovon zuverlaͤßig auch nach Verſchiedenheit des
Ortes verſchiedene Gefuͤhle und Beduͤrfniße entſtehen,
welche dann verſchiedene Regungen des Willens her-
vorbringen.
Von dem unbedeutendſten Eckel alſo gegen eine
Arzney oder eine Speiſe bis zur unwiderſtehlichſten
Mordwuth geht es in allen Stufen von Begierden
und Abſcheu genau ſo, wie bey allen andern Beſtre-
bungen der Natur. So wie ſie alle unter gewiſſen
Bedingnißen goͤttliche Anſtalten ſind, ſo iſt auch der
Inſtinkt in den Organismus der Thiere und des Men-
ſchen zu deſſelben Erhaltung verwebt worden. Sie
ſind aber den Geſetzen der mancherley Zerruͤttungen un-
terworfen, und bedarfen alle der Leitung eines wei-
ſen Arztes. Den Inſtinkt blindlings befolgen, und
ihn veraͤchtlich hindanſetzen, iſt beydes gleiche Thor-
heit.
[679] heit. Man verwerfe ihn, wo er bekannten Erfah-
rungen zu Folge Aftertrieb iſt; man befriedige ihn
in zweifelhaften Faͤllen nach und nach, wenn es die
Art deſſelben und die Umſtaͤnde zulaſſen, und beobach-
te ohne Vorliebe, ob Vortheil oder Nachtheil daraus
erfolge; man befolge ihn, wo er der Erfahrung ge-
maͤß hoͤchſt wahrſcheinlich Beduͤrfniß der Natur iſt;
oder wo er in verzweifelten Faͤllen gleichſam die letzte
Stimme der Natur zu ſeyn ſcheint, und dem Arzte
[k]eine andere Zuflucht mehr uͤbrig bleibt.
Fuͤnfter Abſchnitt.
Von den Hilfsmitteln der Kunſt.
§. 116.
Da mein Freund Stift ſeine praktiſche
Heilmittellehre, welche aller Erwartung entſprechen
wird, ſo eben unter der Preſſe hat; ſo halte ich mich
hier bloß an die allgemeine Ueberſicht einiger Haupt-
grundſaͤtze, welche man bey Anwendung kuͤnſtlicher
Hilfsmittel jederzeit vor Augen haben ſollte.
Ich habe bisher oͤfters gezeigt, daß die kuͤnſt-
lichen Mittel, wenn ſie zur Unzeit, oder zu gewalt-
thaͤtig angewendet werden, dit Natur in ihren Wir-
kungen ſtoͤhren, die Kochung des Krankheitsſtoffes
hindern oder verzoͤgern, die Ausleerungen unterdruͤ-
cken
[680] cken oder uͤbermaͤßig machen ꝛc. Einige wollen die
Aerzte gegen dieſen Vorwurf vertheidigen, indem ſie
vorgeben, die Wirkungen der Arzneymitteln thaͤten
den periodiſchen Wirkungen der Lebenskraft wenig
oder gar keinen Eintrag; die Natur brauche einmal
ihre beſtimmte Zeit, binnen welcher die Kochung der
Krankheit vor ſich geht, welche ſie weder vor, noch
ruͤckwaͤrts uͤberſchreite.*) Sie ſuchen dieſes durch
aͤhnliche Beobachtungen zu beweiſen, deren ich ſchon
mehrere angefuͤhrt habe; man ſehe alle Tage, daß
Blattern und andere Ausſchlagskrankheiten, als Frie-
ſel ꝛc. ſowohl durch ein kuͤhlende als hitzige Heilart
geheilt werden, wovon Teſta und Sydenham ſelbſt
Beyſpiele anfuͤhren.
Aus dergleichen Einwendungen folgt nichts an-
ders, als daß die Natur nicht allemal ſo leicht aus
ihrem natuͤrlichen Gleiße gebracht werden koͤnne.
Aber, wenn man einmal annimmt, was man nie
leugnen kann, daß naͤmlich einerley Krankheiten unter
verſchiedenen, beſonders entgegengeſetzten Heilarten
mit ſehr ungleichem Gluͤcke geheilt werden; daß z. B.
bey der hitzigen Heilart unter zehn Blatterkranken
ſechs ſterben, und bey der kuͤhlenden nur einer; ſo
muß man dem Heilverfahren in der That eine groſſe
Kraft, den Gang der Krankheiten zu veraͤndern, zu-
geſtehen. Eine zu leichte Anſteckung z. B., ein zu
oberflaͤchlicher Impfſtich wird, beſonders in einem
ſchwaͤchlichen Kinde, nicht den 7ten, ſondern erſt den
14ten Tag oder noch ſpaͤter das Ausbruchsfieber her-
vor-
[681] vorbringen, wie ich es ſelbſt beobachtet habe. Ro-
ſen erzaͤhlt von einem Kinde, welches von uͤbermaͤ-
ßigem Aderlaſſen eine einzige Blatter bekam; nachdem
es aber zu Kraͤften gekommen war, bekam es einen
reichlichen Blatternausbruch. Die Braſilianiſchen
Weiber ſollen ihre Toͤchter, wenn ſie mannbar wer-
den, an den Schenkeln ſtark ſchrepfen, und dadurch
verhuͤten, daß ſie in ihrem ganzen Leben keinen Zeit-
fluß bekommen. Auch erſchoͤpfende Krankheiten, und
zuweilen unmaͤßige Ausleerungen hemmen dieſen perio-
diſchen Blutfluß. Burſeri fuͤhrt an, daß man all-
gemein erfahren habe, daß der Brechweinſtein in
kleinen Gaben nicht nur die Saͤfte in Faͤulniß aufloͤſe,
ſondern auch die Kochung und Entſcheidungen hindere.
Teſta will zwar behaupten, die Herren Bordeux,
Fouquet, Michelli, Fizes und Cchirak, deren
Heilart in immerwaͤhrendem Purgieren und Aderlaſſen
beſtund, haͤtten dadurch die Perioden der Krankhei-
ten nie veraͤndert geſehen. Allein de Haen, Burſe-
ri, und tauſend andere haben dadurch nicht nur den
Puls, ſondern den ganzen Verlauf auf alle Arten ver-
aͤndert geſehen, was durch meine oben §. 41—42—
95—96 ꝛc. angefuͤhrte Krankengeſchichten vielfaͤltig
beſtaͤttigt wird. — Sydenham ſah die Wechſelfieber
von den Jahren 1661—62—63—64 durch unmaͤ-
ßige Ausleerungen verdoppeln. Von den Sommer-
und Herbſtfiebern der naͤmlichen Jahre, ſagt er:
Wenn man die dreytaͤgigen Fieber durch Aderlaſſen,
beſonders wo ſie ſehr epidemiſch ſind, behandelt, und
ſie bleiben nicht alſogleich aus, ſo hat man auch in
den
[682] den ſtaͤrkſten und beſt beſchaffenen Leuten ſehr | lange
damit zu thun. Alte Perſonen ſterben ſogar nicht
ſelten nach langen Leiden; auch entſtehen die Zufaͤlle,
welche ſonſt nur Folgen eines ſchon ſehr lange anhal-
tenden Fiebers ſind, viel geſchwinder, z. B. die Ent-
zuͤndung der Mandeln, die Haͤrte des Unterleibes,
die Waſſerſucht ꝛc. Im viertaͤgigen Fieber bleiben
auch junge Leute, denen man zur Ader gelaſſen hat,
gerade noch ſo lange krank, und alte die man ſonſt
in einem Jahre wuͤrde geheilt haben, laufen Gefahr,
endlich zu unterliegen, oder es zum wenigſten viel laͤn-
ger zu haben. Eben dieſes gilt auch zum Theil von
zu fruͤhzeitigen und zu oft wiederholten Abfuͤhrun-
gen.*)Torti ſah die dreytaͤgigen Fieber am naͤm-
lichen Tage, als Blut gelaſſen wurde, doppelt wer-
den. Das naͤmliche hat Ramazzini in der Wechſel-
fieberepidemie von 1690 beobachtet.
Es wird aber hier eine ſo weit ausſehende
Kenntniß von der Natur, den Urſachen und den Be-
dingniſſen der Perioden und der Entſcheidungen erfor-
dert, daß man zur Beſtaͤttigung einer ſo einſeitigen
Behauptung viele und große Dinge eroͤrtern muͤßte.
Deßwegen erſpare ich die vollſtaͤndige Berichtigung
dieſer Sache auf die zwey Kap. des letzten Bandes.
Was einſtweilen daraus gefolgert werden kann, iſt die-
ſes: daß man mit den Hilfsmitteln der Kunſt nicht
leichtſinnig ſpielen, weder ein unumſchraͤnktes Zutrauen
auf ſie ſetzen ſolle; und daß bey Beurtheilung einer
Krank-
[683] Krankheit und ihres Verlaufes viele Einſicht erfordert
wird, um zu beſtimmen, was der Natur, und was
der Kunſt angehoͤre.
§. 117.
Das Wichtigſte, worauf man bey Anwendung
der kuͤnſtlichen Heilmittel zu ſehen hat, iſt, daß ſie der
Natur und dem Grade der Krankheit, und dem Krank-
heitsſtoffe angemeſſen ſeyn muͤſſen. Gelinde Krank-
heiten muͤſſen gelind, heftige und hartnaͤckige mit klu-
gem Muthe angegriffen werden. Dieſe bleiben bey
einer zu unwirkſamen Heilart unveraͤndert; und jene
werden durch eine zu wirkſame aus ihrer Ordnung ge-
bracht, verwickelt und ſchwerer, oder unheilbar ge-
macht. Den Ueberfluß des Blutes, und alle daher
entſtandenen Uebel muß man nicht durch Brech- und
Abfuͤhrungsmittel behandeln; die Galle, und ihre Zu-
faͤlle, ſie moͤgen ein Rothlaufen, eine Ruhr, ein Blut-
ſpeyen, eine Halsbraͤune, ein Seitenſtich u. ſ. w. ſeyn,
koͤnnen nicht durch Blutausleerungen behandelt wer-
den. Bey ſcharfer, waͤſſerichter, beweglicher Galle
thun ſaͤuerlichte Abfuͤhrungsmittel aus Tamarinden
und den Salzen alles, was man wuͤnſchen kann. Aber
wo das gallichte Weſen verdickt, mit zaͤhem Schlei-
me und Kleiſter eine undurchdringliche Maſſe ausmacht,
da wird man mit dergleichen Mitteln wohl den Ma-
gen und die Gedaͤrme ihrer Saͤfte berauben, aber den
zaͤhen Unrath ehe verſchlimmert als verbeſſert in ſei-
nen Winkeln liegen laſſen. Tiſſot ahmte hierin den
Hippokrates nach, und gab uͤberall, wo zaͤher Gall-
ſtoff
[684] ſtoff aufzuloͤſen und auszufuͤhren war, das Diagri-
dium, und, ohne Kneipen zu verurſachen, bewirkte er
dadurch jedesmal haͤufige gallichte Stuͤhle.
Der Abſud der Senekawurzel, in kleinen Ga-
ben vorſichtig getrunken, und den Klyſtieren beyge-
miſcht, ſcheint vorzuͤgliche Kraͤfte gegen die faſt un-
aufloͤsliche Pituita zu aͤuſſern; der Sabadillenſaamen
zu 15—20 Gr. in Pillen genommen, die aus ſtin-
kendem Aſand, arabiſchem Gummi, Queckſilber und
Honig zubereitet werden, wirkt vorzuͤglich gegen die
in den zaͤhen. Schlamm verwickelten Wuͤrmer. Hat
ſich die Galle in der Verbindung mit der Pituita an-
gehaͤuft, verdickt, und ſelbſt zu Steinen verhaͤrtet,
ſo findet man an der großen Schellwurzel (chelido-
nium majus) ein bewaͤhrtes Mittel. Man giebt den
Saft davon des Tages viermal zu 15—20 Tropfen
in Kraͤuterbruͤhe. Von dem zu 30—40 Tropfen in
Kraͤuterbruͤhe genommenem Lorbeerkirſchenwaſſer hat
Chelenius auſſerordentliche Wirkungen gegen den ver-
dickten, ſtockenden Blutkuchen, und die Folgen da-
von geſehen. Alle dieſe Dinge bleiben noch manchmal
unwirkſam, wenn ihnen nicht mit den Kaͤmpfiſchen
Eſſigklyſtieren der Weeg gebahnet wird.
Bey dem Knaben, den Kämpf einen thieriſchen
Luftballon nennt, mußte man zu heftig wirkenden ab-
fuͤhrenden Mitteln ſchreiten, um den vollgepropften
Wanſt hinlaͤnglich zu fegen. Dieſe leerten ganze Toͤ-
pfe voll pituitoͤſen Moraſt, und zuletzt erſt eine groſſe
Menge wohlgemaͤſteter Spulwuͤrmer aus. Was will
man bey zaͤhem, klumpenweiſe angehaͤuftem Wurm-
ſchleime
[685] ſchleime mit Kindermeth, mit Manna ausrichten!
Ich gebe ſeit einigen Jahren Kindern von 1—2—3
Jahren 10—14—20 Gran Jalappenharz in einem
Tage, ohne je eine uͤble Folge, oder Schmerzen da-
durch verurſacht zu haben. Schwammichte Leute
kann man zwar mit Salzen, Tamarinden, Manna
abfuͤhren, aber ſie befinden ſich vielmehr ſchlimmer,
als beſſer darauf; hingegen ein halbes Quentchen,
oder auch ein ganzes Quentchen von der Maß. pil.
cathol. und aneth. oder ein maͤchtiges Brechmittel
verſchaft ihnen Erleichterung gegen die immerwaͤhren-
den Eckel, Schwere, Kopfſchmerzen ꝛc., welche der
traͤge rotzige Schleim verurſacht hatte. Eine hagere
Frau wurde in einem ſchleichenden Nervenfieber von
einem gewiß groſſen Arzte uͤber zwey Jahre nicht nur
fruchtlos mit gelind aufloͤſenden Mitteln behandelt,
ſondern ſie war ſchon in ein deutliches Zehrfieber mit
alltaͤglicher Abnahme der Kraͤfte verfallen. Ein junger
Arzt hatte den Muth, ihr ein ſtarkes Brechmittel zu
geben, welches ſie zwar gewaltſam hernahm, aber
vollkommen geſund machte. Durch die erſten Mittel
war freylich der Stoff zu dieſer Art Ausleerung vor-
bereitet worden. — Den Bandwurm unterſteht man
ſich, mit ſcharfen Purgiermitteln zu vertreiben. Sind
denn aber allemal bey dem rotzigen, gallertartigen
Schleime der Kinder Spulwuͤrmer zugegen? Giebt es
keinen zaͤhen, lederartigen Glasſchleim ohne Band-
wurm? Was hat die Natur mit dieſen Thieren fuͤr
eine Abſicht? Heilt man den Kranken, weil man die
Wuͤr-
[686] Wuͤrmer verjagt, oder weil man die Urſache ihres
Daſeyns, den Stoff ihrer Nahrung fortſchaffet?
Kämpf fand ein Pulver aus aufloͤslichem Wein-
ſteinrahm, Eiſenhuͤtleinextrakt, zubereitetem Meer-
zwiebel, oder Brechwurzel, oder Spießglasſchwefel
nicht hinreichend gegen den zaͤhen Schlamm der Ge-
daͤrme, oder den Glasſchleim. Er mußte ſie oft mit
ſeinen gummoͤſen Seifen, der venetianiſchen Seife,
mit verdickter Ochſengalle und dem waͤſſerichten Aloe-
auszug verſtaͤrken; und dieſe gab er noch in wirkſa-
men Getraͤnken, z. B. in einer mit Fallkraut (arnica)
und Bitterſalz ſtark verſetzten Kraͤuterbruͤhe; oder in
Kalkwaſſer, das man mit einem geſaͤttigten Abſud
von Quajack oder Saſſafraßholz vermiſchte. — Ge-
gen die ſchwarze Galle zaͤher Art, und die unbaͤndige
Pituita oder den Glasſchleim empfiehlt er ſeine lin-
dernde, mit Gummigut verſetzte, oder die Stoͤrkiſche
Wurmlattwerge, welcher man das Ext. Panchym.
Crollii in hinlaͤnglicher Menge beyſetzt; oder ein Pul-
ver, das aus 6—10 Gran Brechwurzel, 10—20
Gran Rhabarbar oder Jalappa, und 20—30 Gran
Quajackharz, und eben oder doppelt ſo viel aufloͤslichen
Weinſtein beſteht, taͤglich viermal zu nehmen; oder
das Dowerſche Pulver, welches aus einem Quentchen
Scammoneum, einem halben Quentchen rohem Spieß-
glas und eben ſo viel eroͤffnendem Eiſenſafran ver-
fertigt, und zu 20 Gran in einem Loth Sauerhonig
genommen wird; ferner ein Pulver aus 10—15 Gr. mit
Zucker und Kampfer abgeriebenem Scammoneum, 5
Gran des eben ſo behandelten Jalappenharzes, und
3
[687] 3 Gran verſuͤſtes Queckſilber, auf einmal und ſo
nach Umſtaͤnden mehrere Tage wiederholt. — „Die
heftigen Mittel, ſagt er, wirken manchmal nicht mehr
als ein Loth Manna, bey einem weſtphaͤliſchen Bau-
ern; in dem Falle naͤmlich, wo der Darmkanal mit
einem undurchdringlichen Kleiſter außerordentlich an-
gefuͤllt, und deſſen Waͤnde durch einen lederhaften
Ueberzug gegen allen Reiz geſchuͤtzt ſind. Und dieſes
iſt gerade der Fall, wo der furchtſame Arzt durch
einen tollkuͤhnen Quackſalber beſchaͤmt wird. Und iſt
eben deßwegen auch der Fall, wo der vorſichtiche Arze
oft gezwungen iſt, den verwegenen Quackſalber klug
nachzuahmen, oder mehr heroiſch zu Werke zu gehen.„
— Bey Mutzer bekam ein ſchon lange Engbruͤſtiger
ein ganzes Quentel Meerzwiebelwurzel; darauf folgte
ein kaum zu ſtillendes Erbrechen; nachdem aber dieſes
durch Arzneien geſtillt war, beklagte ſich der Kranke
uͤber Hitze und Jucken der Haut, worauf die Kraͤze
wieder erſchien. — Sollte mir der Fall §. 95. Nro.
3. wieder vorkommen, ſo naͤhme ich nicht den gering-
ſten Anſtand, Sydenhams fluͤſſiges Ludanum Quen-
telweis einzuſchuͤtten. — Und, wenn meine Vermu-
thung S. 590. gegruͤndet iſt, daß die wahre Waſſer-
ſcheuc nichts anders als der hoͤchſte Grad der naͤmli-
chen Krankheit ſeye, ſo darf man auch hoffen, daß
dieſes bisher ſo widerſpenſtige Uebel ebenfalls mit
Mohnſaft, den man aber in ungeheuren Gaben, viel-
leicht zu mehrern Quentchen darreichen muͤſte, geheilt
werden koͤnne. Clerc ſagt ſehr wahr, daß wir mehr
ſpezifiſche Mittel haben wuͤrden, wenn wir die Ga-
ben
[688] ben nach dem Erforderniß der Krankheit einrichteten.
Man bedenke, was ich §. 88—97 ꝛc. geſagt habe.
Was wuͤrden in den unter der Maske eines Toden-
ſchlummers, eines Schlagflußes u. d. gl. verſteckten
Wechſelfiebern einige Quentchen der peruvianiſchen
Rinde ausrichten? Was kleine Gaben Vitriolſaͤure
auf der hoͤchſten Stufe des Scharbocks und der wah-
ren Faulfieber? u. ſ. w. Der Arzt iſt groß, wel-
cher die Rechte der Natur kennt, und verehrt; aber
der ſich dieſelbe zur rechten Zeit zinsbar zu machen
weis, der iſt noch groͤßer.
Wie die Heilmittel mit den Zeitpunkten der
Krankheiten, mit den Weegen, durch welche eine je-
de beſondere Krankheitsmaterie ausgeleert werden will,
mit dem Grade ihres Verderbniſſes und ihrer Menge ꝛc.
uͤbereinſtimmen muͤſſen, iſt ein ſehr wichtiger und reich-
haltiger Gegenſtand, den ich im Kap. von den Ent-
ſcheidungen vollſtaͤndig behandeln werde.
Von den ſpezifiſchen Mitteln.
§. 118.
Die wirkſamſten Heilmittel ſind alſo diejenigen
welche in gehoͤriger Gabe entweder auf den Krank-
heitsſtoff, oder auf den kranken Theil, oder auch nur
auf die krankhafte Beſchaffenheit die unmittelbarſte
Einwirkung haben, und folglich die faͤhigſten ſind,
den gegenwaͤrtigen Zuſtand zu veraͤndern. Solche
Mittel heiße ich ſpezifiſche, eigene Mittel; denn
nur in dieſem Sinne laͤßt ſich etwas weſentlich Nuͤtz-
liches
[689] liches daruͤber ſagen. Und dieſe verdienen unſtreitig
uͤberall, wo eine ſpezifiſche Krankheits urſache zugegen iſt,
vor allen, bloß durch eine allgemeine Kraft wirkenden
Dingen, den Vorzug. Alle aufloͤſenden und ausleerenden
Mittel z. B. wuͤrden den groͤbern Stoff eines, unter der
Maske eines leicht toͤdlich werdenden Todenſchlum-
mers, erſcheinenden Wechſelfiebers wegſchaffen.
Aber die dringende Gefahr erheiſchet das eigene Ge-
genmittel der periodiſchen Anfaͤlle, welche ihren Grund
ohne Zweifel in der eigenen Natur der Eingeweide,
oder in einem eignen ſpezifiſchen Fieberſtoffe (Miasma)
haben. So haben die Pocken, die Maſern, der Frie-
ſel, der Scharlach, die Luſtſeuche, die Kraͤze, der
Auſſatz, der Weichſelzopf u. ſ. w. ihre eigenen ma-
teriellen Stoffe. Vielleicht gilt dieſes von allen wah-
ren, eigentlichen Krankheiten: der Peſt, der entzuͤnd-
lichen oder faulichten, ſkrophuloͤſen, krebsartigen,
ſcharbockartigen ꝛc. Beſchaffenheit der Saͤfte. Es ſeye
nun, daß dieſe auf eine eigne Art zerſtoͤhrt oder gemiſcht
werden, oder daß etwas Eignes in ihnen erzeugt,
oder von Auſſen hinzugekommen ſeye; ſo kann Nie-
mand behaupten, daß es nicht etwas gebe, durch deſ-
ſen Einwirkung der gegenwaͤrtige Zuſtand unmittelbar
veraͤndert, verbeſſert, zerſtoͤhrt oder unwirkſam ge-
macht werden koͤnne.
Freylich, wer ein eignes Mittel ſucht gegen
den Seitenſtich, die Hirnwuth, die Waſſerſucht, die
Abzehrung, das Fieber, das Blutbrechen, den Bauch-
fluß, die Ruhr, die Kolick, den Schlagfluß, die
Fallſucht, die Zuckungen ꝛc.; gegen die Verſchieden-
Gall I. Band X xheit
[690] heiten der Peſten; gegen die peſtilentialiſchen und boͤs-
artigen [Fiebern, ]Blattern, Maſern, Braͤune u. ſ. w., der
wird ewig vergebens ſuchen, weil alle dergleichen
Uebel nur Zufalle der verſchiedenſten Krankheiten
ſind. Zaͤher Schleimſtoff, ſcharfe angehaͤufte Galle,
jede Art von Schaͤrfe, ſtockende Unreinigkeiten, ent-
zuͤndliches Blut ꝛc. machen alle den Seitenſtich, wenn
ſie ſich nach der Oberflaͤche der Lungen oder der Rib-
benhaut begeben. So entſtehen alle die andern Zu-
faͤlle, z. B. die Ruhr bald von Entzuͤndung des Maſt-
darms, bald von rheumatiſcher Materie, bald von
Gallſtoff ꝛc. der ſich dahin geworfen hat. Nur in
dem Sinne kann auch gegen alle Zufaͤlle ein ſpezifiſches
Mittel entdeckt werden, wenn es gegen ihre Urquelle
entdeckt werden kann. Die Zufaͤlle der Luſtſeuche moͤ-
gen in Knochenſchmerzen und Beinknoten, in Lungen-
ſucht und Abzehrung, in Augenentzuͤndung oder in
Geſchwuͤren u. d. gl. beſtehen, ſo werden ſie bey ge-
hoͤriger Vorſicht alle durch ihr bekanntes eignes Ge-
genmittel, das Queckſilber, geheilt. — Die Boͤsar-
tigkeit der Blattern, die verſchiedene Geſtalt der Pe-
ſten, der Fieber ꝛc. iſt von ihrem eigentlichen Stoffe
unabhaͤngig. Alſo erſt dann, wenn die Grenzlinie
zwiſchen Krankheit und Zufall, zwiſchen dem, was
der Krankheit weſentlich angehoͤrt, und dem, was
ſich zufaͤllig zu ihr geſellt hat, gezogen ſeyn wird,
laͤßt ſich vernuͤnftig nach ſpezifiſchen Heilmitteln fra-
gen.
Wenn ich nicht, miſdeutet zu werden, beſor-
gen muͤßte, ſo wuͤrde ich behaupten, daß alle Dinge
in
[691] in der Welt ihre Eigenheiten haben, und folglich
alle Mittel ſpezifiſch ſind. Was auf ein ganzes Ge-
ſchlecht auf dieſe Art wirkt, wirkt anderſt auf ein
anderes Geſchlecht. Brod iſt ein allgemeines Nah-
rungsmittel fuͤr den Menſchen; aber der Raubvogel
bricht es heraus; der Schierling betaͤubt die meiſten
geſunden Thiere; aber er maͤſtet die Geiſe; das Blat-
terngift, das Luſtſeuchengift, gewiſſe Arten anſtecken-
der Seuchengifte ſind nichts fuͤr die Thiere, ſo wie ge-
wiſſe Thiergifte nichts fuͤr den Menſchen ſind. — Eben
ſo haben manche Dinge eine allgemeine Wirkung auf
mehrere Theile, obſchon ſie einen, oder mehrere beſtim̃-
te Theile ganz anderſt zu veraͤndern pflegen. Eine
Kaͤlte, welche die Gefaͤße der Naſe, der Ohren,
der Finger und der Zehen zerſtoͤhrt, ſchadet dem em-
pfindlichen Auge noch nichts. Das Schlangengift
toͤdet den Menſchen, wenn es unmittelbar in Kreis-
lauf koͤmmt; aber vermiſcht mit den Saͤften des Mun-
des, des Magens, der Gedaͤrme bleibt es unſchaͤd-
lich. — Es iſt geradezu unmoͤglich, daß ein Ding
auf verſchiedene Theile, es ſeye dann, daß es von
derſelben Lebenskraft uͤberwaͤltigt werde, einerley
Wirkung aͤuſſere. Der verſchiedene Bau, die ver-
ſchiedenen Beſtandtheile, die verſchiedene Lebenskraft
und Reizbarkeit derſelben haben nothwendiger Weiſe
eine verſchiedene Ein- und Gegenwirkung zur Folge.
Das Mutterkorn erregt die Kriebelkrankheit und den
trocknen Brand der aͤuſſern Gliedmaſſen; der Pfeffer
erregt ein heftiges Brennen im Schlunde, aber nicht
das geringſte im Magen; den Sehnerven reizt das
Xx 2Licht
[692] Licht, den Gehoͤrnerven der Schall, den Geruchsner-
ven das Riechbare; die Brechwurzel und der Brech-
weinſtein, wenn ſie auch unmittelbar ins Blut gebracht
werden, den Magen; die Rhabarber die Gedaͤrme;
die Urinblaſe empfindet von dem ſcharfen Urin nur
maͤßigen Reiz; er wird aber ſchmerzend, wenn war-
mes Waſſer in die Blaſe gebracht wird; warmes
Waſſer reizt oft den Magen zum Erbrechen; der Saft
der gelben Ruben, in die Naſe gezogen, erregt Nie-
ſen, ſo mild er dem Mund, dem Schlunde und dem
Magen iſt; die Bluͤthen der Wohlverley greifen den
Magen an; die Faͤrberroͤthe wirkt auf die Knochen
der Thiere und des Menſchen, laͤßt aber die eben ſo
harten Kiele der Federn ungefaͤrbt; Luft und war-
mes Waſſer ſind die ſtaͤrkſten Reizmittel fuͤr das
Herz; die Luft reizt die Lungen nicht, aber ein
Troͤpfchen Waſſer erregt Zuckungen in der Luftroͤhre;
die Vitriolſaͤure, die Salpeterſaͤure, die Spießglaß-
butter, der Hoͤllenſtein, ſo ſcharf ſie ſind, zerſtoͤh-
ren die Reizbarkeit der Schlagadern und des Herzens
ehe, als daß ſie dieſelbe erwecken; der Metallſafran
(crocus metallorum) iſt den Augen unſchaͤdlich, reizt
aber den Magen zum Erbrechen; die ſpanniſchen Flie-
gen greifen nur in großen Gaben den Magen an, er-
regen aber weit fruͤher entzuͤndliche Zufaͤlle in den
Nieren und der Harnblaſe; der Auszug der ſchwar-
zen Kuchenſchelle (Pulfatilla nigra) wirkt vorzuͤglich
auf die Augen, und entzuͤndet ſie in groſſen Gaben;
die Tollkirſche (ſolanum furioſum) innerlich gebraucht
macht den Augenſtern einſchrumpfen ꝛc. ꝛc.
Sind
[693]
Sind das nicht eben ſo viele gegenſeitige Ver-
haͤltniße, woraus wir lernen ſollten, nur mit groͤſter
Behutſamkeit von den ſinnlichen Wirkungen eines
Mittels auf ſeinen wahren und ganzen Einfluß auf
den Koͤrper oder ſeine verſchiedene Theile zu folgern?
Woher endlich koͤmmt es, daß einige Mittel die Feuch-
tigkeiten nach dem Darmkanal, andere nach der Harn-
blaſe, nach den Speicheldruͤſen, andere nach der Haut,
und wieder andere nach dem Kopfe treiben? daß
einige das Blut gerinnen machen, andere es uͤbermaͤ-
ßig ausdehnen? daß einige das Athmen ungemein er-
leichtern, und andere es auf einmal hemmen, und
andere ſchon bey bloßer Beruͤhrung der Nerven die
Lebenskraft auf ein Mal ertoͤden? u. ſ. w. —
Gerade ſo iſt es auch mit den verſchiedenen
Krankheitsmaterien. Das Blattern- und Maſern-
gift ꝛc. be geben ſich nach der Haut; die Kehle, die
Schleim- und Speicheldruͤſen ſind der Sitz der Wir-
kung in dem Keuchhuſten und der Waſſerſcheue; die
Skrofeln greifen das Syſtem der Lymphatiſchen Ge-
faͤße und beſonders der Lymphatiſchen Druͤſen an;
die Bruͤſte, die Hoden, und die zuſammengeſetzten
Druͤſen ſind der Sitz des Krebſes; die Haut, der
Hals, und die Naſe werden von dem Luſtſeuchengifte
leichter befallen, als die Knochen und die Knochen-
haut; die zum Leben nothwendigen Theile hingegen
werden nur aͤuſſerſt ſelten davon angegriffen. Dieſer
Krankheitsſtoff leeret ſich durch dieſe Weege, und
jener durch andere aus dem Koͤrper; dieſer fruͤher,
jener ſpaͤter u. ſ. w. — Und dennoch kann man die
Eigen-
[694] Eigenheiten der Außendinge und der Beſtandtheile des
Koͤrpers bezweiflen!
Die Abneigung gegen die ſpezifiſchen Mittel
koͤmmt von den Vorſtellungen her, die man ſich da-
von zu machen pflegt. So z. B. heißen einige die-
jenigen Mittel ſpezifiſch, welche eine beſtimmte Krank-
heit unter allen Umſtaͤnden ſicher heilen. Wer dieſen
Begriff annimmt, der muß auch behaupten, daß das
gewiß zum Sehen ganz eigends eingerichtete Auge un-
ter keinerley Umſtaͤnden zum Sehen unfaͤhig gemacht
werden koͤnne.
Bey andern ſind nur diejenigen Mittel ſpezi-
fiſch, welche eine beſtimmte Krankheit auf eine un-
bekannte, unerklaͤrbare und verborgene Weiſe heilen.
Im Grunde iſt uns kein einzige Erſcheinung weder
des geſunden noch des kranken Menſchen anſchaulich
bekannt; ſie geſchehen alle durch die Lebenskraft,
uͤber welche die Natur einen undurchdringlichen Schley-
er gezogen hat. Und wer erklaͤrt mir, warum der
gelindere Reitz des Brechweinſteins und der Brech-
wurzel den Magen umkehrt, da jener des Jalappen-
harzes und der Aloe ꝛc. einen Bauchfluß erregt? Wer
erklaͤrt es, warum der Mohnſaft, ungeachtet er uͤber-
all die Kraͤmpfe hebt, dennoch alle Ausleerungen zu-
ruͤckhaͤlt, und den Schweiß befoͤrdert? Wirken die
ſpaniſchen Fliegen, die Rhabarber, die Hundsbeeren
(Liguſtrum vulgare) minder auf die Harnweege —
die Faͤrberroͤthe minder auf die Knochen und die Ge-
baͤrmutter ꝛc. wenn wir dieſe Wirkungen erklaͤren oder
nicht erklaͤren zu koͤnnen glauben? — Iſt endlich die
Wir-
[695] Wirkung des Blatterngiftes, des Luſtſeuchengiftes,
des Peſtgiftes weniger ſpezifiſch, weniger von andern
Giften unterſchieden, wenn wir Blattern, Tripper-
materie und Leuſtenbeulen ſehen? — Zu was alſo
dergleichen widerſinnige Einſchraͤnkungen?
Sollte endlich die Kraft eines Mittels darum
nicht ſpezifiſch heißen, weil ſie ihm nicht einzig und
allein eigen iſt? — Zuverlaͤßig hat jedes Ding et-
was Eignes, wodurch es von allen uͤbrigen Dingen
unterſchieden iſt; Jedes hat aber auch manches, was
es mit mehr oder weniger andern gemein hat. Wer
kann aber fordern, daß jedes Ding ſeine ausgezeich-
nete Eigenſchaft gerade auf den Menſchen aͤußere?
Das Euphorbium (Euphorbium eſula) iſt fuͤr ihre
ſchoͤne große Raupe ein treffliches Nahrungsmittel,
obſchon es beym Menſchen einſtweilen bloß als ein
ſcharfes, aͤtzendes Gift bekannt iſt ꝛc. Andere Din-
ge, obſchon ſie eine allgemeine Wirkung auf ein gan-
zes Geſchlecht haben, aͤußern dennoch ganz beſondere
Wirkungen auf gewiße Einzelnheiten des naͤmlichen
Geſchlechtes. So ſind die Krebsaugen bey allen Men-
ſchen, wie alle Kalkerden, ſaͤureverſchluckend; indeßen
erregen ſie einigen heftige Kraͤmpfe und garſtige Aus-
ſchlaͤge; der Geruch der Roſe, einer Katze; der Ge-
nuß einer gewiſſen Art Aepfel, des Kaͤſes; der An-
blick einer Spiane; das Gefuͤhl des Sammets ꝛc. ꝛc.
erregt einigen gewaltige Uebelkeiten, Ohnmachten,
Zuckungen u. d. gl. Dieſe Erſcheinungen heißen Idio-
ſinkraſien, und muͤßen als einzelne ſpezifiſche Verhaͤlt-
niße angeſehen werden.
Uebri-
[696]
Uebrigens iſt es die Sache des philoſophiſchen Arz-
tes, daß er die Kraͤfte der Heilmittel, ſo viel moͤg-
lich, auf allgemeine Ordnungen zuruͤckfuͤhre. Die
Heilkraͤfte der Natur machen die ſpezifiſchen Mittel,
wo nicht uͤberfluͤſſig, doch groͤſtentheils entbehrlich.
Die meiſten Wechſelfieber werden gluͤcklich, ſo wie
die Blattern, Maſern ꝛc. ohne ein eignes Gegenmit-
tel geheilet.
Sehen wir nun, daß ein gewiſſer Krankheits-
reitz gewiſſe beſtimmte Theile vorzuͤglich anzugreifen
pflegt, und wir kennen ein Mittel, welches vorzuͤg-
lich auf dieſe Theile wirkt; ſo haben wir gegruͤndete
Hoffnung, von dieſem Mittel in dieſem Falle eine
auffallende Wirkung zu erwarten. Das Luſtſeuchen-
gift und die herben Obſtſaͤuren z. B. greifen vorzuͤg-
lich die Schleim-Speichel- und Gedaͤrmdruͤſen an;
Queckſilber und Schierling ſind bisher noch als die
wirkſamſten Gegenmittel bekannt, und ihre Beſtand-
theile zeigen ebenfalls die naͤchſte Verwandſchaft zu
den naͤmlichen hier leidenden Theilen. Das Gift der
Klapperſchlange richtet die groͤſten Verheerungen in
den Lungen an, und die Senegawurzel, welche auch
die ſchleimichten Anhaͤufungen der Lungen maͤchtig zer-
theilet und ausleeret, thut die beſten Dienſte. So
wie der Schwefel, die Aloe, die Nießwurz mehr
auf den Unterleib wirken, ſo wirkt der Auszug des
Tabacks und der mineraliſche Kermes mehr auf die
Bruſt ꝛc. Man leſe, was Kämpf von den wirk-
ſamſten Mitteln gegen die verſchiedenen Verderbniſ-
ſe ſagt. — Und nun entſcheide man, ob ſich’s nicht
jeder
[697] jeder Arzt ſollte angelegen ſeyn laſſen, nebſt der all-
gemeinen Kraft eines Mittels, auch deſſelben beſondere,
eigne, ſpezifiſche, wodurch es ſich von ſeines Glei-
chen auszeichnet, kennen zu lernen.
§. 119.
Von den zuſammengeſetzten Arzneien und Heil-
arten.
Man gibt jetzt ſo ziemlich allgemein den ein-
fachſten Arzneien und Heilarten den Vorzug. Vor-
ausgeſetzt, daß wir eine beſtimmte und nur einfache
Heilanzeige vor uns haben, und daß wir die Wir-
kung und Zulaͤnglichkeit eines einfachen Mittels voll-
kommen kennen; ſo iſt gewiß das einfachſte Heilverfah-
ren jederzeit auch das vernuͤnftigſte. Je vertrauter da-
her ein Arzt mit der Heilmittellehre und mit der Na-
tur der Krankheiten iſt, deſto weniger Mittel und
Anzeigen wird er unter einander werfen. Allermeiſt
koͤmmt es ohnehin nur auf eine allgemeine Leitung an,
weil die Wirkſamkeit der Natur das eigentliche Ue-
bel ſelbſt beſieget.
Indeſſen kann man dennoch hierin zu weit ge-
hen, und geht gewiß im Lehrvortrage ſehr oft wei-
ter, als man in der Ausuͤbung beſtehen kann. Die
Natur hat ſelbſt alles vielfaͤltig zuſammen geſetzt,
und was ſie uns unter der einfachſten Geſtalt dar-
bietet, iſt nicht ſelten eine Verbindung der entgegen-
geſetzteſten Kraͤfte. So ſetzen auch wir Saͤuren und
Laugenſalzen ꝛc. zuſammen, und erhalten einzelne Er-
zeugniße, welche durchaus von der Natur und Wir-
kung
[698] kung ihrer Beſtandtheile abweichen. Brennſtoff und
Vitriolſaͤure, zwey ſo wirkſame Dinge! und daraus
entſteht der geſchmackloſe, milde Schwefel. Warum
will man kuͤnſtliche Verbindungen, wenn ſie die Er-
fahrung beſtaͤttigt, oder ein richtiger Verſtand ver-
einigt hat, verwerfen? Wie viele Speiſen koͤnnen
wir manchmal in dieſer oder jener Verbindung,
in dieſer oder jener Zubereitung nicht vertragen, da
ſie uns auf eine andere Art ganz gut bekommen! So
z. B. koͤnnen einige keine ungekochte Milch, andere
keine Milch mit Kaffee ertragen. Ich ertrage den
Wein und die Aepfel vortrefflich; aber rohe Aepfel
und Wein, zu gleicher Zeit genoſſen, ſind Gift fuͤr mich ꝛc.
“Es iſt bekannt, ſagt Kämpf, daß oͤfters ein Kraͤut-
chen da unthaͤtig war, wo ſeines gleichen die Kur
vollendet hat, und daß ſogar das naͤmliche Mittel als-
dann erſt gewirkt hat, wenn es in einer andern Ge-
ſtalt gegeben worden iſt, wovon das verſchiedene zu-
bereitete Queckſilber einen uͤberfuͤhrenden Beweiß ab-
giebt. Dieſes trift vorzuͤglich bey den Nervenkrank-
heiten ein, wo manchmal der Baldrian, Biſam,
die Fieberrinde und Zinkblumen fruchtlos gebraucht
worden, und wo Dippels Oel mit Naphta, oder
das Kajeputoͤl geholfen, oder, wo alle dieſe Nerven-
mittel, oder noch mehrere vergebens angewendet wor-
den, und wo das Bilſenkraut gleichſam auf der Stel-
le Wunder gethan. Es iſt ferner bekannt, daß viele
Mittel einzeln, außer ihrer Verbindung, unkraͤftig
oder gar ſchaͤdlich ſeyn koͤnnen, welche erſt vermiſcht
heilſam werden, und daß anderer ihre Kraͤfte, bloß
durch
[699] durch eine gut gewaͤhlte Verbindung merklich erhoͤhet
werden. Wer ſollte, ohne es erfahren zu haben,
glauben, daß der beygemiſchte Weingeiſt das Vitriol-
oͤl, und der Schwefel den Arſenik und das [Queckſil-
ber] zahm machen kann; daß die Wirkung der Pur-
gier- und Brechmittel, durch den ſo geringen Zuſatz
von Salpeter außerordentlich erhoͤhet wird, und daß
ein paar Quentchen Bitterſalz in ſeiner natuͤrlichen
Aufloͤſung beynahe eben ſo ſtark und oft ſtaͤrker pur-
gieren, als dreymal ſoviel des naͤmlichen Salzes,
wenn es in gemeinem Waſſer aufgeloͤſet worden iſt.„
“Welcher Arzt kennt die innern Beſtandtheile,
die ſpezifiſche Wirkung ſeines Mittelchens ſo genau,
daß er behaupten koͤnne, es muͤße auf dieſen oder je-
nen Fall unfehlbar paßen, und ihn, ohne einigen Zu-
ſatz, zuverlaͤßig heben? Wie viel weniger wird er
in einer verwickelten Krankheit damit auslangen, wo
man oft kaum errathen kann, wie vielerley Urſachen,
und welche derſelben hauptſaͤchlich anzuklagen ſind,
oder unter welchen Bedingungen, in welcher Verbin-
dung und Verhaͤltniß ſie zum Raͤdelsfuͤhrer wird,
und was fuͤr eine Gattung Idioſinkraſie, oder ande-
re verborgene Maͤngel, oder was fuͤr ein Miſchmaſch
von Kokochimien ſich mit ins Spiel gemiſcht haben?
Wie oft haben wir nicht ſich ganz entgegengeſetzte
Fehler zu beſtreiten? Wie oft muͤſſen wir z. B. zu-
gleich auf Saͤuren und Faͤulniß, auf hier ſchlaffe und dort
angeſpannte und trockne Faſern, auf hier traͤges und
ſtockendes, und dort allzu duͤnnes und aufwallendes
Blut unſer Ruͤckſicht nehmen.„
Wenn
[700]
Wenn z. B. der Goldaderfluß ſeinen Ausgang
durch die Harnwege nimmt, die ſchmerzhafteſten Kraͤm-
pfe, Harnverhaltung ꝛc. erregt, ſo wirken kalte, zu-
ſammenziehende Umſchlaͤge auf die Schaamtheile, und
warme, erſchlappende auf den Hintern vortrefflich auf
den Endzweck, dem Blute ſeinen natuͤrlichen Ausgang
zu verſchaffen.
Man beſtimmt die Faͤlle aufs genaueſte, wo
die Rinde, die ſpaniſchen Fliegen, der Kampfer, Bal-
drian, Biſam, die Wohlverley, der Wein und Mohnſaft,
die mineraliſchen Saͤuren angezeigt ſind. Dieſes iſt vor-
trefflich; — aber ich habe die groͤſten Meiſter der Kunſt
nicht ſelten in Verlegenheit geſehen — und ſie ent-
ſchloſſen ſich endlich, lieber alle dieſe Dinge zu ver-
einigen, als eine bloß ungewiße, obſchon einfache An-
zeige zu befolgen. Es kommen ſo oft die dem Scheine
nach widerſprechendſten Zufaͤlle zuſammen; alle er-
denklichen Abaͤnderungen des Pulſes, außerordentli-
che Schwaͤche, hoͤchſter Grad der Faͤulniß, heimli-
che Entzuͤndung u. ſ. w., daß es, wenn es einmal
darauf ankoͤmmt, ſeine Anzeigen von den ſinnlichen
Erſcheinungen herzunehmen, ſchlechterdings unmoͤg-
lich iſt, zu entſcheiden, welche die dringendſte und
weſentlichſte ſeye.
Dem ungeachtet bleibt es gewiß, daß die we-
ſentlichen Anzeigen nur wenige ſind, und daß der
Arzt, dem die Hauptbeduͤrfniße der Natur bekannt
ſind; der ſich nur in ſeltenen Nothfaͤllen von den Zu-
fällen zu dieſem oder einem andern Heilvecfahren be-
ſtimmen laͤßt; ſondern das Weſentliche der Krank-
heiten
[701] heiten ſtets vor Augen hat, meiſtentheils mit einer
einfachen und angemeſſenen Heilart ſeinen Zweck er-
reichen wird, wenn er je erreichbar iſt.
Warnung.
§. 120.
Es iſt zwar ein allgemein anerkannter Grund-
ſatz, daß die Vorherkuͤndigungen, beſonders in hitzi-
gen Krankheiten ungewiß ſind; daß manche Kranke
bey lauter guten Zeichen ſterben, und andern bey lau-
ter ſchlimmen davon kommen. Dem zufolge ſollte
man glauben, kein Arzt werde aufhoͤren, ſeinem
Kranken thaͤtige Hilfe zu leiſten, bis er wahrhaft er-
blichen iſt. Kann er auch nimmer helfen, ſo kann er
beobachten.
Allein der ſo oft und ſo lange in ſeiner Hoff-
nung getaͤuſchte Kranke, die vor Kleinmuth verzwei-
felten, gegen manchmal ſchmerzhafte Hilfleiſtungen zu
empfindſamen Hausgenoßen, oder die ungeduldigen
Erben ſind nicht ſelten ſo ſchwach, alle Rettung fuͤr
unmoͤglich, und folglich alles fernere Beſtreben des
Arztes fuͤr unnuͤtz zu halten. Der Kranke, die
Freunde und nur gar zu oft auch der Arzt glauben
alles Moͤgliche gethan zu haben, wenn ſie ein oder
mehrere Male Adergelaſſen, purgirt, zum Erbrechen ge-
geben, Senfteige und Blaſenpflaſter aufgelegt haben;
wenn der Kranke recht oft mit den wirkſamſten Arz-
neyen gewechſelt hat — uͤberhaupt, wenn alles ge-
ſche-
[702] ſchehen iſt, was deutlich in die Sinne faͤllt, und eine
recht erfinderiſche Geſchaͤftigkeit des Arztes verraͤtht.
Sind nun aber alle dieſe herrlichen Dinge
fruchtlos geblieben; geht von Tage zu Tage alles ſchlim-
mer, und der Kranke liegt endlich da, kalt, ſteif, Puls-
und Athemlos — kurz, mit allen Erſcheinungen eines
Sterbenden: — Wer ſollte dann nicht alle Hoffnung
verlieren? Manche alten Aerzte, die ſchon ſo oft auf
gewiſſe Umſtaͤnde den Tod erfolgen ſahen, und die Faͤl-
le, wo ſie getaͤuſcht worden ſind, hoͤchſtens einem Un-
gefaͤhr zuſchrieben, duͤnken ſich eine unfehlbare Fertig-
keit in Beurtheilung des zu erwartenden Ausganges
zu beſitzen, und ſind auf eine oft unverantwortliche
Weiſe, von Selbſtgenuͤgſamkeit und grauem Stolze
durchdrungen, grauſam und leichtfertig genug, dem
Kranken und ſeinen Freunden ſchlechterdings den letzten
Troſt aller Leiden, die Hoffnung, zu benehmen. Die-
ſe Klaſſe von Aerzten werden eben dadurch verwegen
und unempfindlich, wodurch der Menſchenfreund und
der Beobachter in eben dem Maaße theilnehmender
und kluͤger wird, als ſich ſeine Jahre und ſeine Er-
fahrungen vervielfaͤltigt haben. Keiner kennt voll-
kommen die Grenzen der Natur und der Kunſt; folg-
lich iſt keiner berechtigt, dem Leben oder dem To-
de ein Ziel vorzuſchreiben.
§. 121.
Wenn nicht Zerreißung innerer Gefaͤße, Zer-
ſtoͤhrung der Eingeweide, hartnaͤckige unuͤberwindliche
Verhaͤrtungen, heftiger Druck, oder ſonſt augen-
ſchein-
[703] ſcheinlich unheilbare Uebel der Eingeweide und der
Nerven vorhanden ſind; ſo kann auch der ſcharfſin-
nigſte Arzt durch mancherley ſeltſame Abweichungen
uͤber den gegenwaͤrtigen Zuſtand getaͤuſcht werden.
Einer der gewoͤhnlichſten Faͤlle iſt ein ſehr ho-
her Grad von Entzuͤndung. Man iſt außerordentlich
geneigt, den ſo genannten Brand zu vermuthen, und,
da den Nichtaͤrzten nur wenige Todesarten bekannt
ſind, ſo iſt man des Beyfalls verſichert. Ich geſte-
he es, daß ich noch nicht im Stande bin, mir eine
vernuͤnftige Vorſtellung vom Brande zu machen, wenn
ich die angenommene Heilart deſſelben zum Grund le-
gen ſoll. Entweder werden die angeſchoppten, gereiz-
ten, entzuͤndeten Theile durch die Heftigkeit der Ent-
zuͤndung zerſtoͤhrt; oder ſie ſterben ab, wie bey alten,
kraftloſen, durch Krankheiten oder andere Urſachen
erſchoͤpften Leuten, aus Mangel der Lebenskraft, des
Umlaufes und der Nahrung. Im letzten Falle ſehe
ich ein, wie man den Brand durch erwaͤrmende,
ſtaͤrkende Dinge verhuͤten, aber nicht, wie man ihn
heilen kann. In toden Theilen iſt keine Wirkſamkeit
mehr; ſie muͤſſen ſchlechterdings von den lebendigen
abgeſtoſſen werden, oder als ausgedoͤrrte Koͤrper un-
ſchaͤdlich ſeyn koͤnnen. — Im erſten Falle aber weiß
ich kein anders Mittel, den Brand zu verhuͤten, als
gerade die naͤmlichen, wodurch eine Entzuͤndung ge-
heilt wird. Denn ſind auch da die Theile einmal zer-
ſtoͤhrt, ſo kann ihnen kein Kampfer, keine Kina,
kein Mohnſaft, keine Giftwurz und kein Arzt wieder
Leben geben. Indeſſen iſt es doch faſt allgemein uͤb-
lich
[704] lich, ſobald man bey einer ſchweren Entzuͤndung den
Brand vermuthet, dergleichen hitzige, faͤulnißwidri-
ge, geiſtige, fluͤchtige Dinge zu verordnen. Dadurch
aber habe ich weder einen heilen geſehen, noch gele-
ſen, daß je einer geheilt worden waͤre.
Ein fuͤnf und ſechzig jaͤhriger Mann verfiel im
Fruͤhjahr 1787 in eine Lungenentzuͤndung, die er ver-
nachlaͤßigte. Endlich wurde ſein Athmen aͤuſſerſt klein
und geſchwind, wie bey einem ſchnaubenden Hunde.
Der Puls gieng unzaͤhlbar geſchwind und ungleich;
die Augen lagen tief, der Mann konnte noch gehen,
und ſprach einzelne, abgeſtoßne Worte mit vernehm-
licher Stimme. Ach, hier iſt keine Hilfe mehr, ſprach
der Arzt, denn es iſt der offenbare Brand. — Er
verſchrieb Kampfer mit einer fluͤchtigen Mixtur, und
in 16 Stunden verſchied der Kranke. — Die Gefahr
war ohne Zweifel groß; aber durchaus nicht von
der Art, daß dieſe Mittel haͤtten helfen koͤnnen. Waͤ-
ren wirklich einige Theile durch die Staͤrke der Ent-
zuͤndung ſchon zerſtoͤhrt, oder in Gefahr gewe-
ſen, zerſtoͤhrt zu werden, ſo wuͤrde die Entzuͤn-
dung, und folglich die Gefahr vermehrt worden ſeyn.
Was ich bey Gelegenheit der wahren Vollbluͤtigkeit
von ihren Stufen geſagt haben, gilt auch hier. Auf
dem hoͤchſten Grade der Entzuͤndung, beſonders wenn
krampfhafte Schnuͤrungen dazu kommen, wie dieſes
bey ſtrammen, oder auch bey ſehr reitzbaren Leuten
oͤfters geſchieht, verlieren ſich alle Zeichen der Ent-
zuͤndung; der Puls wird klein, und aͤuſſerſt geſchwind;
die Gliedmaſſen, und ſelbſt der Athem werden kalt;
die
[705] die Haut faͤllt uͤberall ein u. ſ. w; und dennoch iſt
der gegenwaͤrtige Zuſtand noch immer eine rohe Ent-
zuͤndung, der man mit anfaͤnglich maͤßigen, bald
aber wiederholten Aderlaͤſſen, mit warmen Baͤdern,
laulichten Getraͤnken, und mit krampfſtillenden gelin-
den Mitteln begegnen muß. Ein Soldat, der nach
heftiger Erhitzung kalten Wein trank, bekam eine
Magenentzuͤndung. Er nahm noch obendrein zu erſt
ein Brechmittel. Darauf wurde der Puls ſchwach,
das Athmen ſchwer; er bekam Brennen in der Herzgru-
be, Eckel, Bauchfluß, zuweilen Erbrechen, Irre-
ſeyn, unterbrochenen Schlaf, trockne Zunge, aͤuſſerſte
Kraftloſigkeit — und ſtarb verwirrt an Zuckungen.
— — Sollte hier nicht der Magenbrand geweſen
ſeyn? — Man fand den Magen und die Gedaͤrme
ſehr ausgedehnt; breite, rothe, entzuͤndete Flecken,
beſonders im Grunde des Magens und beynahe im
ganzen Grimmdarm.*)
Man behauptet, der Tod werde in aͤhnlichen
Faͤllen durch Aderlaͤſſen beſchleunigt. Vorausgeſetzt,
daß dieſes wahr waͤre, ſo wuͤnſchte ich nur einen ein-
zigen Fall zu ſehen, wo bey dieſen Umſtaͤnden die be-
kannte Brandkur geholfen hat. Es kommen aber in
dieſem Werke mehrere Beyſpiele vor, welche bewei-
ſen, daß die entzuͤndungswidrige Heilart, vernuͤnftig
gelei-
Gall I. Band Y y
[706] geleitet, hier die einzige paſſende iſt, und oft noch
in den verzweifelſten Faͤllen Wunder wirkt. So hat
Zimmermann in heftigen Lungenentzuͤndungen noch
Kranken durch den Dampf des Weineßigs gehol-
fen, welche den neunten und eilften Tag ſchon das ſo
ſchreckliche Roͤcheln hatten. Eben ſo ſind Blutigel
oder Schrepfkoͤpfe gegen jene von Unterbindung oder
Verletzung eines Blutgefaͤßes entſtandene ſchwarz-
blaue Unterlaufungen, die den Brand drohen, das
zuverlaͤßigſte Mittel.
§. 122.
Es iſt noch keine auch noch ſo ſchwere Krankheit
geweſen, von der nicht hie und da unter mehreren
den ſchrecklichſten und verzweifelſten Zufaͤllen die Kran-
ken geneſen ſind. Von der Peſt, ſagt Mertens,
daß ſie manchmal durch uͤberraſchende und grauenvolle
Zufaͤlle taͤuſche, indem bey ihrer Gegenwart Kranke
aufkommen, welche man kurz zuvor fuͤr unwiederbring-
lich verloren hielt; da indeſſen andere bey lauter ge-
linden Zufaͤllen gaͤhlings wegſterben. Auch Trollius
hat in der Epidemie vom Jahr 1783 kein ſo gefaͤhr-
liches Zeichen ausfindig machen koͤnnen, wobey jedes-
mal der Tod erfolgt waͤre.*) Wenn in den Lauſan-
niſchen Gallfiebern die Zufaͤlle bis uͤber den ſieben-
zehn
[707] zehnten Tag unveraͤndert blieben, ſo war ſehr wenig
oder gar keine Hoffnung mehr. Indeßen blieben bey
einer Frau alle Zufaͤlle, welche den nahen Tod ver-
kuͤndigten, bis den ſechs und zwanzigſten Tag die
naͤmlichen; an dieſem aber erfolgten ſehr haͤufige,
gallichte Stuͤhle, welche die Krankheit entſchieden.
Leichengeruch und Hypochondrien mit Aufblaͤhen
des Unterleibes (meteorismus) ſind gewiß Zeichen
vom hoͤchſten Grade der Aufloͤſung, und dennoch hat
Krebs noch zwey ſolche Faͤlle geheilt.*) Eine bley-
farbne kalte Zunge zeigt allermeiſt den nahen Tod an.
In einer Krampfkolik aber waren bey einem Manne
von 78 Jahren Fuͤße und Haͤnde zuſammengezogen,
die Zunge war kalt, weich, an den Raͤndern livid, die
Sprache gehindert, der Puls unmerklich, die aͤuſſern
Theile kalt, und doch erholte ſich der Kranke.**)
Der Roſina Greſſer, einem 32 jaͤhrigen Frau-
enzimmer wurden 1785 durch unzeitige Brechmittel
heftige Gliederſchmerzen zugezogen. Sie war ſehr
entkraͤftet, und hatte, ohne Entſcheidung, ſchon den
zweyten Ruͤckfall erlitten. Als ich das erſte Mal zu
ihr gerufen wurde, fand ich ſie ſterbend, von Geiſt-
lichen umrungen. Sie lag hingeſtreckt; der Kopf
hieng zur Seite vorwaͤrts; die Haare, die Stirne
Y y 2und
[708] und die Ohren glaͤnzten von einem ſchmutzigen kalten
Schweiße; die Kinnlade hieng ſchief herab; die Au-
gen verdreht, gebrochen, halbgeſchloſſen, unbeweg-
lich; das Athmen aͤuſſerſt muͤhſam, nach langen a-
themloſen Pauſen, abgeſtoſſene Seufzer mit abwech-
ſelndem Roͤcheln, und alle Gliedmaſſen kalt, einge-
ſchrumpft, klebricht; die Naſe und die Ohrlaͤppchen
angezogen; der Puls an den Haͤnden unfuͤhlbar; nur
am Herzen merkte ich eine ſchnelle, beynahe zitternde
Bewegung. Man ſagte mir, daß die Sterbende kurz
vor dieſem Zeitpunkte uͤber heftige Schmerzen um die
Nabelgegend geklagt habe. — Ich druͤckte dieſen Ort
ſtark, und ſpuͤrte unter der Hand eine kleine, ſchnel-
le, zuckende Bewegung, wobey die Winkel des Mun-
des merklich verzogen wurden. — Alſogleich ließ ich
den Bauch mit warmen Tuͤchern reiben; mittlerweile
wurden Klyſtire aus Wein und Hirſchhorngeiſt berei-
tet, denen ich, ſobald es moͤglich war, einen Kinaab-
ſud mit Kampfer zumiſchte. An den zarteſten Stel-
len ließ ich ſie mit ſpaniſcher Fliegentinktur reiben,
und legte zerriebenen Meerrettig daruͤber. Die Fuͤſſe
und Schenkel wurden mit in warmen Wein getauchten
Tuͤchern eingewickelt. Durch den Mund goß ich ihr
Hirſchhorngeiſt und Wein ein; es lief aber alles wieder
heraus. Nach einer halben Stunde wurde der Puls
an den Haͤnden fuͤhlbar, und um den Mund herum
aͤuſſerten ſich willkuͤhrliche Bewegungen; die Haut
wurde warm, und ſie fieng an, langſam zu ſchlin-
gen ꝛc. ꝛc. Innerhalb drey Stunden erkannte ſie uns
alle,
[709] alle, und fieng bald zu reden an. Spaͤter erzaͤhlte
ſie uns, daß ſie auf den elyſaͤiſchen Feldern in tiefem,
ſchwerem Sande, bis uͤber den Nabel herumgewaden
ſeye. — Nach einigen Tagen bekam ſie eine vollſtaͤn-
dige und dauerhafte Erleichterung, nachdem nicht
nur die Reihendruͤſen angeſchwollen, ſondern auf der
ganzen Oberflaͤche des Bauches harte, fingerdicke, er-
habene, zahlreiche Knoten zum Vorſchein gekommen
waren. Dieſe zertheilten ſich nach und nach durch
den anhaltenden Gebrauch der Rinde und des Schier-
lings, wobey der Harn oͤfters einen Bodenſatz hatte.
Hier beſtaͤttigte ſich der Hippokratiſche Ausſpruch, daß
die auffahrenden Geſchwuͤre und Beulen die Fieber
entſcheiden.*)
§. 123.
Vielleicht waren alle dieſe Zufaͤlle nichts anders
als die eigentliche, kritiſche Stoͤhrung, zu deren Be-
obachtung ich aber dazumal noch nicht reif war. Wie
ſehr da das Leben ſinken kann, haben wir oben viel-
faͤltig geſehen. Dieſes iſt der Fall, wo der Arzt Heute
den ſterbenden Kranken verlaͤßt, den er Morgen auſſer
Gefahr findet. Nicht nur, weil die Hilfsquellen der
Natur unerſchoͤpflich ſind; ſondern auch, weil hier die
Kunſt oft zu ihrer Unterſtuͤtzung unentbehrlich iſt, muß
der
[710] der Arzt um ſeiner eigenen Ehre, und um das Heil
des Kranken willen, ſich huͤten, nicht zu voreilig den
Stab zu brechen. Bey einer etliche und vierzigjaͤhri-
gen Frau ſchien den zwanzigſten Tag in einem faulich-
ten Gallfieber die hoͤchſte Todesgefahr zugegen zu ſeyn.
Der Bauch war angeſchwollen, geſpannt, und die
Kranke faſelte; kein Aderſchlag, Schlaͤfrigkeit, Un-
ruhe, ſehr beſchwerliches Athmen und Schlucken. Da
aber Tiſſot die Haut weich fand, keine Petechien da
waren, Winde abgiengen, und der ein und zwanzig-
ſte Tag bevorſtunde, ſo urtheilte er, daß der Krank-
heitsſtoff gekocht und beweglich waͤre, und die Krank-
heit ſich zur Entſcheidung anſchicke. Er half der kaͤm-
pfenden Natur mit Limonade und Wein. Zur Zeit
der inſtehenden Entſcheidung ließ er mit Bedacht die
mineraliſchen Saͤuren weg. Mitten in der Nacht ent-
giengen ihr ohne Wiſſen und Wollen haͤufige, gewalt-
ſame Stuͤhle eine halbe Stunde lang unablaͤßlich.
Die Entkraͤftung war dadurch aufs aͤuſſerſte gebracht.
Es erfolgten mehrere ſchwere Ohnmachten; der
Athem blieb faſt ganz aus, und die Kranke konnte
ſo wenig von der Betaͤubung erweckt werden, daß
man gar nicht mehr am Todenkampf zweifelte: der
Wundarzt hielt es fuͤr uͤberfluͤſſig, die Wunde noch
ferners zu verbinden. Tiſſot fand indeſſen vielmehr
eine Art Schlaf, als den Tod. Das Athmen war
jetzt ſehr langſam, aber leicht; der Puls aͤufferſt
klein, aber weich; die Schwulſt des Bauches hatte
abgenommen. Er ließ ihr Limonade mit der Haͤlfte
Wein
[711] Wein in den Mund troͤpfeln; Tuͤcher, welche in ei-
ne Miſchung von Waſſer, Eſſig und Wein getaucht
wurden, auf den Bauch und die Bruſt legen, und
die gefaͤßreicheſten Stellen damit befeuchten. Nach und
nach hob ſich der Puls; die Geſichtsfarbe wurde leb-
hafter; der Schlaf ordentlich; erſt den andern Tag,
ſechs und dreyßig Stunden nach der Entſcheidung wur-
de ſie erweckt; ſie leerte durch den Stuhl noch mehr
Galle aus, und genaß. — Wie dieſer Zeitpunkt von
den wirlichen Vorboten des Todes zu unterſcheiden
ſeye, werde ich an einem andern Orte vollſtaͤndig
zeigen.
Dieſer Fall kann ſich nach jeder heftigen, be-
ſonders mit Schmerzen begleiteten, und folglich deſto
mehr ermattenden Ausleerung ereignen. Timokrates
in Helis trank viel, und nahm, als er von ſchwar-
zer Galle in eine Raſerey verfiel, ein Purgiermittel.
Er wurde purgirt, die Purganz trieb den Tag uͤber
haͤufigen Schleim und ſchwarze Galle ab, und gegen
Abend ließ die Ausleerung nach. Beym Purgieren
hatte er ſtarke Schmerzen. Nachdem er etwas [ſe]ine
Gruͤtzſuppe genoſſen hatte, bekam er Schlaf, der die
Nacht durch, bis es tagte, anhielt. Im Schlafe ſchien
er den Umſeyenden gar nicht zu athmen; ſondern todt
zu ſeyn: denn er empfand von dem, was geredet oder
gethan wurde, nichts. Sein Koͤrper lag ſtarr, aus-
geſtreckt und ſteif. Doch lebte er, und wurde wieder
aufgeweckt.*)
Fer-
[712]
§. 124.
Ferner kann man alle, und zwar die angemeſ-
ſendſten Mittel gebraucht haben; aber man hat ſie
nicht in derjenigen Geſtalt, welche der beſondern Be-
ſchaffenheit des Kranken angemeßen iſt; nicht in der
gehoͤrigen Gabe; nicht in der erforderlichen Ordnung
oder nicht zur rechten Zeit gebraucht; oder ſelbſt die
Eigenheiten des Kranken fordern eine Ausnahme,
wozu der Arzt in der Natur der Krankheit keinen
Grund findet. Manchem Kranken z. B. erregt die
Kina in Pulver allerley Beſchwerden, und ſie wird
unnuͤtz weggebrochen; da er den kalten Aufguß oder
eine andere Zubereitung vortrefflich ertraͤgt. Der Bi-
ſam, der Wein, der Kampfer, der Schierling ꝛc.
koͤnnen lange Zeit in zu geringen Gaben fruchtlos blei-
ben, wo hingegen groͤßere augenblicklich ihre Wirkung
thun. Kleine Gaben Mohnſaft wirken oft als Reiz-
mittel, da groͤſſere die allgemeine Ruhe herſtellen.
— Vringle fand in den Lazarethfiebern die Blaſen-
pflaſter ſo lange unnuͤtz, als der mit dieſen Fiebern
unzertrennlich vereinigte Stupor nur ſchwach war,
und nur des Abends in ein geringes Irreſeyn uͤber-
gieng. Sie thaten aber gute Dienſte, ſobald die Au-
gen wild ausſahen, die Stimme geſchwind wurde,
und eine Hirnwuth zu befuͤrchten war. Die gelindeſten
Abfuͤhrungen ſchaden, ſo lange z. B. die Entzuͤndung
der Gedaͤrme im rohen Zuſtande iſt; ſie koͤnnen aber
nach der Entſcheidung nuͤtzlich und nothwendig wer-
den
[713] den. Es iſt auch nicht gleichguͤltig, ob man zu erſt eine
allgemeine, oder oͤrtliche Entleerung vornimmt ꝛc. ꝛc.
In dergleichen Faͤllen fuͤhrt uns oft ein Zu-
fall, ein kleiner Wink der unaufhoͤrlich beſchaͤftigten
Natur auf den rechten Weeg, oder die Lebenskraͤf-
te bewirken noch unvermuthet, was wir nimmer den
Muth hatten, von ihnen zu erwarten. Es tritt der
Zeitfluß, der Goldaderfluß, ein Naſenbluten, ein
Abweichen ein; oder es erſcheint eine Beule, ein
Ausſchlag, ein Geſchwuͤr u. d. gl. wobey die ſchwer-
ſten Zufaͤlle verſchwinden.
Einer Frau war zu Ende eines Nervenfiebers
das Leben abgeſagt. In der aͤuſſerſten Schwaͤche ver-
langte ſie auf die Bedingniß, daß ſie ohnehin ſterben
muͤſſe, einen Schluck Wein. Ihre Tochter reichte ihr
denſelben ohne Anſtand; alſobald bekam die Kranke ein
unausſprechlich angenehmes Gefuͤhl durch den ganzen
Koͤrper; ſie verlangte mehr, und trank bis ungefaͤhr
8 Unzen. Darauf ſchlief ſie ein, und erwachte nach
drey Stunden neu belebt; beſſerte ſich von der Stun-
de an, und genaß. — Beyſpiele von der Art kom-
men haͤufig vor, und verdienen die Aufmerkſamkeit
des Arztes, weil ſie ihn manche geheime Kraft, und
manchen unbekannten Kunſtgriff kennen lehren.
§. 124.
[714]
§. 124.
Selbſt der kalte Tod iſt in gewiſſen Faͤllen noch
kein unumſtoͤßlicher Beweiß, daß das entweder ſchon
ganz erloſchene oder nur noch ſehr kleine Leben nicht
wieder erweckt werden koͤnne. Wir haben nur ein
einziges Zeichen des gewiſſen vollkommenen Todes.
Mangel des Pulsſchlages, des Athemholens, der
Empfindung; Kaͤlte und Steifigkeit; freywilliges Ab-
gehen des Harns und des Unraths; das Hippokrati-
ſche Geſicht; Nichtfließen des Blutes; erweiterte Au-
genſterne ꝛc. ſind oft alle zugegen, ohne daß deßwegen
die Wiederbelebung unmoͤglich waͤre. Ich rede nicht
von dem Scheintode der Erſtickten, Erhenkten, Er-
ſaͤuften u. ſ. w. ſondern von jenem, der ſich unter den
Haͤnden der Aerzte in Krankheiten zutragen kann.
Dieſes geſchieht am oͤfteſten: Im Schlagfluß mit und
ohne Vollbluͤtigkeit; in Kopfkrankheiten; Nervenzu-
ſtaͤnden; in der Schlafſucht; Starrſucht; Hypochon-
drie; Hyſterie; in der Peſt; in der fallenden Sucht;
im Steckfluß; in der krampfichten Engbruͤſtigkeit;
bey Polipen des Herzens oder der groſſen Adern; in
freywilligen und nicht freywilligen Entzuͤckungen; in
ſtarken Ohnmachten; bey groſſer Entkraͤftung; nach
heftigen Ausleerungen aller Art; in der Kindbett;
in Verwundungen; Vergiftungen; von uͤbermaͤßigem
Faſten; Ueberfuͤllung des Magens; unmaͤßigem Liebes-
genuß; anhaltendem Nachdenken; heftigen Schmer-
zen; von Zorn, Kummer, Furcht, Bangigkeit, Angſt,
Scham;
[715] Scham; ploͤtzlicher Freude oder ploͤtzlichem Leid ꝛc. ꝛc
Weiber ſind dem Scheintode haͤufiger ausgeſetzt, als
Maͤnner, und behalten das Vermoͤgen, wieder auf-
zuleben, laͤnger. — Der Scheintod iſt gemeiner in
hitzigen als in langwierigen Krankheiten, und iſt
dann, wenn ſich der Tod unvermuthet zugetragen hat,
am erſten zu vermuthen.
Die Zeichen von der Natur eines jeden,
und die darauf gegruͤndete Behandlungsart ſind verſchie-
den, und muͤſſen jedem Arzte aus den daher gehoͤri-
gen Schriftſtellern genau bekannt ſeyn.*)
Es iſt ſehr merkwuͤrdig, daß ſehr viele Schein-
toden von ſelbſt wieder zu ſich kommen, obſchon man
zuvor das wirkſamſte Verfahren lange Zeit umſonſt
angewandt und der Scheintod ſchon ſehr lange ange-
halten hatte. In dem neuen deutſchen Merkur fuͤhrt
Hufeland die Geſchichte der Milady Ruſſel an,
welche 7 Tage lang im Todesſchlummer lag, waͤhrend
welcher Zeit ſich keine Zeichen der Faͤulniß aͤußerten,
welche ihr Gemahl durchaus abwarten wollte. End-
lich erwachte ſie. Merkwuͤrdiger noch iſt das Beyſpiel
von einer Profeſſors Frau, welches Camerer er-
zaͤhlt. Dieſe ſehr zu hyſteriſchen Zufaͤllen geneigte
Per-
[716] Perſon erſchrack im 6ten Monate der Schwangerſchaft
[...]o ſehr, daß ſie die heftigſten Zuckungen bekam, und
nach 4 Stunden Tod ſchien. Nach 4 Stunden lang
vergeblich angewandten ſtaͤrkſten Erweckungsmitteln
hatte Camerer noch den Einfall, die Blaſenpflaſter
von beyden Fußſohlen abzunehmen, und zugleich die
Geſichtszuͤge aufs genaueſte zu beobachten. Als man
die Oberhaut von der groſſen Zehe abzog, bemerk-
te man einen ſchwachen Zug des Mundes. Man
fieng an, die empfindlichſten Theile zu reitzen; man
gebrauchte ſelbſt das gluͤhende Eiſen, und es war
kein Theil, dem man nicht durch Stechen, Brennen
und andere Reitzungen aufs ſtaͤrkſte zugeſetzt haͤtte;
aber alles umſonſt; und doch wagte man nicht, im
Vertrauen auf die kleine Spuhr, ſie zu begraben. Sie
lag ganze 6 Tage lang mit allen Zeichen des Todes,
eine geringe Waͤrme in der Gegend des Herzens aus-
genommen. Nun ſchlug ſie aber ploͤtzlich die Augen
auf. Nachdem ſie mit einiger Nahrung erquickt war,
wurde ſie von einem toden Kinde entbunden, und er-
holte ſich bald darauf voͤllig wieder. — Iſt dieſes
nicht etwan der naͤmliche, aber ſehr verlaͤngerte Zu-
ſtand, den ich §. 123 angefuͤhrt habe? — — Bey
Leuten, welche ſchweren Ohnmachten, heftigen Kraͤm-
pfungen oͤfters ausgeſetzt ſind, kann ſich das Leben,
endlich an ſehr lange Pauſen des Außenbleibens ge-
woͤhnen, und der Scheintod kann periodiſch werden.
Alſo erſt, wenn der Geruch wirklich faul, die
Farbe fleckicht, ins Braune und Blaulichte ſpielend,
die
[717] die ganze Oberflaͤche etwas aufgedunſen, und die Con-
ſiſtenz weich und breiartig wird; dann erſt iſt das
Band, was die Maſſe von Kraͤften und Organen ſo
wunderbar vereinte, geloͤſet. Die Faͤulniß muß aber
allgemein ſeyn. Der bloße Leuchengeruch kann bey
Leuten, die Geſchwuͤre, durch den kalten Brand zer-
ſtoͤhrte Theile, die Pocken u. d. gl. haben, ebenfalls
zugegen ſeyn. So bekam bey Sydenham ein Blat-
ternkranker die Hirnwuth und ſchien tod zu ſeyn; er
hatte den Todengeruch. Als er nakt auf den Tiſch
gelegt wurde, gab er Lebenszeichen von ſich, und
wurde geheilt.
§. 125.
Eine der maͤchtigſten Urſachen nicht nur des
Scheintodes, ſondern auch der Unheilbarkeit der Krank-
heiten, iſt Niedergeſchlagenheit des Gemuͤths, Ver-
zweiflung, Furcht vor dem Tode. Zimmermann
erzaͤhlt von einem 36 jaͤhrigen Bauern, der aus Furcht
des Galgens im Gefaͤngniße alle ſeine Kraͤfte ſo ver-
loren hatte, daß kein Puls zu fuͤhlen, keine Bewe-
gung des Herzens und kein Athen zu entdecken war.
Sein Angeſicht und ſeine Lippen waren ganz erblaßt;
ſeine Augen geſchloſſen; er war kalt und einem toden
Koͤrper ganz aͤhnlich. Man ſtieß ihn, rieß ihn,
ſchlug ihn, und waͤlzte ihn auf der Erde herum, oh-
ne ihm das geringſte Lebenszeichen auszupreſſen. Zim-
mer-
[718]mermann hielt ihm den fluͤchtigen Salmiakgeiſt unter
die Naſe, goß denſelben in die Naſe, ſchuͤttete ihm
die ſtaͤrkſten Arzneyen in den Hals; ſie kamen aber
von ſelbſt in den Mund zuruͤck, und floßen ihm uͤber
den Bart herunter. Erſt nach 24 Stunden bemerk-
te man ein ſehr langſames und kleines Athmen. In
den erſten 24 Stunden rieb man ihm von Zeit zu
Zeit Salmiakgeiſt unter die Naſe. Nach dieſen 24
Stunden ſchien er etwas von den Arzneyen zu ſchluͤ-
cken. Nach 30 Stunden that er zum erſten Male die
Augen auf; nach 36 Stunden gab er einen kleinen
Laut; nach 6 Tagen war er vollkommen geſund, und
ſtund bald darauf am Pranger.
Nun ſollen Vater und Mutter, Kinder und
Eltern gewaltſam von einander ſcheiden; der Liebende
ſoll den Armen der Geliebten, der Reiche ſeinen
Schaͤtzen, der Wohllebende allem Genuße entriſſen
werden! — — Unduldſamkeit im Leiden; Mangel
an Troſt; Gewiſſensbangigkeiten; ſchreckvolle, fey-
erliche Zubereitungen; Jammer und Wehklagen,
oder marternde Gleichguͤltigkeit der Angehoͤrigen: —
Wenn der Kranke dieß alles fuͤhlt, wie allmaͤchtig
muͤßen dann ſeine ohnehin erſchuͤtterten Lebenskraͤfte
zermalmt werden! — — Aber nur die Leiden, die
Vorlaͤufer und die Furcht des Todes ſind ſchrecklich.
Der Tod ſelbſt hat uns uͤberfallen, ehe wir’s ge-
merkt haben. — —
Dor
[319]
Hier iſt es alſo Pflicht, daß der Arzt den Muth
ſeines Kranken nicht ſinken laſſe. Ohne die Angele-
genheiten der Verlaſſenſchaften und der Zukunft zu
vernachlaͤßigen, wiſſe er, manchmal gegen ſeine eig-
ne Ueberzeugung, mit offner Zuverſicht einen gluͤck-
lichen Ausgang zu verſprechen. In zweifelhaften oder
unheilbaren Faͤllen aber ſchraͤnke er ſeine Verheißun-
gen auf keine beſtimmte Zeit ein, damit, wenn dieſe
Zeit ohne Beſſerung herannaht, der Kranke nicht
alles fuͤr verloren halte. Der Arzt wiſſe, das ſchwan-
kende Vertrauen durch mannigfaltige Abaͤnderungen
zu unterſtuͤtzen; und laſſe ja nicht merken, daß die
Hilfsmittel der Natur oder der Kunſt zu Ende ſind.
Er ſeye auf jeden ungluͤcklichen Vorfall gefaßt, und
wiſſe ihm, wenn der Kranke die Wahrheit nicht er-
tragen kann, ein guͤnſtige Wendung zu geben. — —
Hier iſt der einzige Fall, wo manchmal eine Alles
verheißende Pralerey zur Pflicht wird, und Wun-
der thut. So wie wir von der aͤußerſten Spitze einer
Anhoͤhe in den Abgrund hinabſehen, ohne das Gleich-
gewicht zu verlieren, wenn wir im Nothfalle einer
Haltung verſichert ſind; hingegen ſobald wir uns der
Rettung beraubt glauben, von einem weit groͤſſern
Standpunkte hinabſchwindlen: — Eben ſo erliegt der
muthloſe Kranke einem ſchwachen Uebel, und trotzt
der verheerenden Macht des Todes, wenn der Arzt
die geſammten Kraͤfte ſeines Geiſtes und ſeines Koͤr-
pers mit jenen der Kunſt zur wechſelſeitigen Unterſtuͤ-
tzung
[720] tzung zu vereinigen weiß. — — Soll aber das
Ende ſeiner Tage nahe ſeyn, ſo laͤßt ihn zum we-
nigſten ſein Arzt die Schrecken der Aufloͤſung nicht
fuͤhlen. — Und in jedem Falle wird ein Menſch
des andern Gott.
[[721]]
Inhalt
des
erſten Kapitels
- Erſter Abſchnitt.
Seit.
Erſcheinungen des menſchlichen Koͤrpers 1 - Anſtalten zu deſſen Erhaltung 2
- Krankheitsurſachen 2
- Anſtalten gegen die Krankheitsurſachen 3
- Erforſchung der Grundurſachen dieſer Anſtalten 5
- Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe 6
- Darſtellung der Halleriſchen Hypotheſe 12
- Plattners Gruͤnde gegen die Halleriſche und fuͤr
das Weſentliche der Stahliſchen Hypotheſe 15 - Plattners Zuſaͤtze zur Stahliſchen Hypotheſe 19
- Pruͤfung der Plattneriſchen Hypotheſe 21
- Zweyter Abſchnitt.
Vergleich des Menſchen mit den Thieren.
— In Ruͤckſicht der Geſchlechtsverrichtung 28 - — — Der Entwicklung und der Krankheiten 32
- — — Der verabſcheuenden und annaͤhernden Be-
gierden 37 - — — Der thieriſchen Beſtrebungen und der Vor-
herſehungen 42 - Seit.
Erklaͤrung der Vorgefuͤhle, Vorherſehungen, und
der Erhoͤhung der Seelenkraͤfte in Krank-
heiten 48 - Faͤlle, in welchen Vorherſehung ſtatt hat 66
- Von den Traͤumen, in wiefern ſie Krankheit, Ge-
neſung oder den Tod ankuͤnden 68 - Vorboten einiger Krankheiten 72
- Ahndungen 76
- Fortſetzung des Vergleiches des Menſchen mit den
Thieren 77 - In Ruͤckſicht der Vollkommenheit des Mechanismus 79
- — — Der innern Empfindung von ſeiner Natur
und ſeinen Kraͤften 87 - — — Des eingepflanzten Bemuͤhens zu gewiſſen
der Natur gemaͤßen Handlungen 101 - — — Der Biegſamkeit des Koͤrpers 103
- — — Der Vorſorge der Natur, der angebohrnen
Kunſtfertigkeiten, angebohrnen Gemuͤthsfaͤ-
higkeiten und der angebohrnen Vollkommenheit 111 - — — Der ſinnlichen Empfindungen 124
- — — Der angebohrnen Anlagen 128
- — — Der Organiſation, und der Gewandtheit
des Geiſtes 133 - Dritter Abſchnitt.
Vergleich des Menſchen und der Thiere
mit den Pflanzen139 - — In Ruͤckſicht ihrer Erhaltung, ihres Wachs-
thums und ihrer Fortpflanzung 139 - — — Des Erſtattungsvermoͤgens 149
- — — Der Reizbarkeit, der Einſaugung, der ruͤck-
gaͤngigen Bewegung, und der Krankheiten 153 - — — Des Baues, der Verbreitſamkeit, des Him-
melsſtriches und des Standortes 158 - Folgerungen aus den angefuͤhrten Vergleichen 162
- Vierter Abſchnitt.
Seit.
Von dem wechſelſeitigen Einfluß der
Seele und des Körpers166 - Anwendung der bisherigen Unterſuchungen auf die
verſchiedenen Verrichtungen des Menſchen 166 - Vom Einfluß des Koͤrpers auf die Seele insbeſondere 183
- Vom Einfluß der Seele auf den Koͤrper insbeſondere 191
- Inhalt
des
zweyten Kapitels.
Erſter Abſchnitt.
Vom Heilvermögen der Natur.
Seit.
Eigenmaͤchtige Kuren der Natur, und Eroͤrterung
derſelben 206 - Nachtheil von geſtoͤhrter Wirkſamkeit der Natur 229
- Beweis von der Wirkſamkeit der Natur in Krank-
heiten, deren Heilung man gewoͤhnlich den
Arzneymitteln zuſchreibt 246 - Zweyter Abſchnitt.
Vom Heilvermögen der Kunſt251 - Verhaͤltniß der Sterblichkeit und der Krankheiten,
je nachdem die Kunſt der Natur zu Hilfe koͤmmt 252 - Seit.
Faͤlle, wo die Beſtrebungen der Natur mangelhaft
oder nachtheilig ſind 264 - Zweifel uͤber die Beſtimmung des Unvermoͤgens
der Natur, und Kennzeichen deſſelben 274 - Dritter Abſchnitt.
Von den wichtigſten Erforderniſſen zur
Wirkſamkeit der Natur293 - Das erſte Erforderniß zur Wirkſamkeit der
Natur iſt eine gute Leibesbeſchaffenheit 293 - Verhaͤltniß und Unterſchied der Krankheiten ganzer
Voͤlker und einzelner Menſchen, je nachdem
ihre Leibesbeſchaffenheit beſſer oder ſchlechter iſt 293 - Zufaͤlle und Zeichen der verdorbenen Leibesbeſchaffenheit 336
- Das zweyte Erforderniß zur Wirkſamkeit
der Natur ſind verhaͤltnißmaͤßige Kraͤfte 341 - Verhaͤltniß und Vergleich der Krankheiten nach dem
Unterſchiede der Lebenskraͤfte 344 - Von den Kraͤften in hitzigen Krankheiten 351
- Von der Wiedergeneſung 388
- Von den Ruͤckfaͤllen 398
- Lebensordnung in hitzigen Krankheiten 404
- Von den Kraͤften in langwierigen Krankheiten 407
- Von der Schaͤtzung der Kraͤfte 426-432
- Zeichen der Kraftloſigkeit 428
- Von der oͤrtlichen Schwaͤche 445
- Erkenntnißquellen der oͤrtlichen Schwaͤche 452
- Von der Verſchiedenheit der Entkraͤftung 459
- Von der Ermuͤdung der Kraͤfte 462
- Von der Unterdruͤckung der Kraͤfte 472
- Unterdruͤckung der Kraͤfte von wahrer Volloluͤtig-
keit, Faͤlle, Stufen und Kennzeichen derſelben 473 - — — Von Vollbluͤtigkeit, welche von Verengerung
der Gefaͤße veranlaſſet wird, Faͤlle und Kenn-
zeichen derſelben 478 - — — Von Vollbluͤtigkeit, welche von Ausdehnung
der Saͤfte entſteht, Faͤlle und Zeichen derſelben 480 - — — Von Vollbluͤtigkeit in Ruͤckſicht der Kraͤfte;
Faͤlle und Zeichen derſelben 502 - — — Von zu haͤufiger Krankheitsmaterie; Faͤlle
und Kennzeichen 508 - Von der Erſchoͤpfung der Kraͤfte, Faͤlle, Stuffen
und Kennzeichen derſelben 523 - Das dritte Erforderniß zur Wirkſamkeit
der Natur iſt verhaͤltnißmaͤßige Reitzbarkeit 533 - Faͤlle, wo die Reizbarkeit irriger Weiſe fuͤr uͤber-
ſpannt oder vermindert gehalten wird 535 - Von der verminderten Reizbarkeit; Faͤlle und
Kennzeichen 547 - Von uͤberſpannter Reizbarkeit; Faͤlle und Kennzeichen 550
- Von der oͤrtlichen Reizbarkeit 556
- Heilart der fehlerhaften Reizbarkeit 566
- Von dem Zuſtande, wo fehlerhafte Reizbarkeit und
Kraftloſigkeit zuſammentreffen 570 - Von der Natur und der Heilart der leidenſchaftli-
chen Krankheiten 575 - Vom Unterſchiede des geſunden und des kranken
Zuſtandes 603 - Vierter Abſchnitt.
Von den Hilfsmitteln der Natur612 - Von dem Reize und der Mitleidung. Geſetze des
Reitzes 612 - Von der Gewohnheit 631
- Vom hinterlaſſenen Eindruck 649
- Vom Inſtinkte 656
- Ueber die Pruͤfungsmittel des Inſtinktes 670
- Fuͤnfter Abſchnitt.
Von den Hilfsmitteln der Kunſt679 - Die Hilfsmittel der Kunſt koͤnnen den Verlauf und
die Perioden der Krankheiten veraͤndern 679 - Sie muͤſſen der Natur und dem Grade der Krank-
heit, und dem Krankheitsſtoffe angemeſſen
ſeyn 683 - Von den ſpezifiſchen Mitteln 688
- Von den zuſammengeſetzten Arzneyen und Heil-
arten 697 - Warnung uͤber die vorgebliche Unheilbarkeit einer
Krankheit, und Faͤlle, wo dergleichen Taͤu-
ſchungen ſtatt haben 701
Appendix A
Wien,
mit Goldhannſchen Schriften.
1791.
Appendix B Berichtigungen.
S. 83 Z. 15. iſt die Note ausgeblieben: Daß die Wurzel
des Manioc (Jatropha Manihot Linn.) durch die Zuberei-
tung ihre ſcharfe und ſchaͤdliche Eigenſchaft verliere, und
ein gutes, geſundes, das ſogenannte Madagaſcari-
ſche Brod gebe, welches den meiſten Einwohnern in
Weſtindien zur Nahrung dient. Selbſt der Saft wird
durch die Kaͤlte und das Feuer unſchaͤdlich. Neuer Schau-
platz der Natur 1 B. S. 961.
S. 192. Z. 15 gehoͤrt mit dem Vorhergehenden in Verbin-
dung, und erſt mit den Worten: „Jeder Schmerz \&c.
ſoll von Vorne angefangen werden.
S. 438 Z. 28 ſtatt: Zu Ende des 3, 4, 7, 11, 14, 17 Tages, ließ:
Zu Ende des 3ten Tages, oder den 4, 7, 11, 14, 17 Tag u. ſ. w.
S. 690 Z. 2 ſtatt: boͤsartigen Blattern, ließ: boͤsartigen Fie-
bern, Blattern \&c.
Die minder wichtigen Buchſtabenfehler z. B. S. 12 Z. 17 Mus-
kelfiebern, ſtatt: Muskelfibern \&c. bittet man den Leſer
zu entſchuldigen, und ſelbſt zu verbeſſern.
[[728]][[729]]
diziniſchen Polizey von der Wirkung des Luxus auf die
Vermehrung des Menſchen ſagt: 2te Auflage 1ter Theil
S. 19. In folgendem Theile Artikel Unveraͤnderlich-
keit der Krankheiten werde ich dieſen Gegenſtand
naͤher berichtigen.
§. X. p. 25.
fordiæ 1738.
lung geſchrieben, und deſſen Urſache von dem Fieber und
den Entzuͤndungen widerlegt. Raccolta d’Opuſcoli de
P. Colagera. T. 50.
von Anton Bach, Breßlau 1790.
heit 1ter Theil S. 31.
che auch das Kapitel von der Naturlehre des Fiebers
bey den Pferden mit den Fieberbeſchreibungen der Men-
ſchen. Innere Krankheiten der Fuͤllen. S. 43 bis 62.
u. ſ. w.
ſchichte der Thiere und Mineralien 1. Thl. S. 124.
gen von der Seelenloſigkeit der Thiere hat Condillac in
verſchiedenen Stellen ſeines Traité des animaux 1. cap.
2. 4. 5. hinlaͤnglich widerlegt.
1ter Thl. S. 45.
Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleih haben, ſicher und
gruͤndlich zu heilen. 42te Krankengeſchichte.
niis.
vetur, \& in corporis partes ſubrepens, domum ſuam gu-
Corpus dormiens ſentit, ipſa vero vigilans cognoſcit, vi-
denda videt, \& audienda audit, vadit, tangit, mœret,
ratiocinatur, ac, ut paucis dicam, quæcumque corporis,
aut animæ officia ſunt, ea omnia in ſomnis anima pera-
git. Und Galenus: Videtur enim in ſomnis anima in cor-
poris profundum ingreſſa, et ab externis ſenſilibus digreſ-
ſa, affectionem, quæ in corpore eſt, ſentire; atque eorum
omnium, quæ appetit, tanquam jam præſentium, Viſu
concipere.
V. I.
graphiſche Geſchichte des Menſchen.
in Herders Ideen zur Geſchichte der Menſchheit 1ter Thl.
Thl. 1te Abh. von der Dummheit der Amerikaner.
die koͤrperliche Verſchiedenheit des Negers vom Europaͤer.
Geographie uͤberzeugen. Abſichtlich und gut hat Sander
von der Guͤte und Weisheit Gottes in der Natur und
uͤber Natur und Religion, von dieſem Gegenſtand ge-
ſchrieben.
Les premiers mouvemens de l’animal ſont donnes à l’é-
tude; \& lorsque nous le croyoas tout occupé a jouer,
’eſt proprement la nature, qui joue aves lui pour l’in-
[...]re.
VI. Abſch. S. 259.
ert hat, ſind folgende lebendig begraben worden: Pina-
ria, Oppia, Urbinia, Minucia, Scata, Opimia, Lucinia,
Marcia, Emilia, Cornelia, Claudia, Aurelia, Pompo-
nia und [R]u[ſi]na.
4ter Thl.
Oppida tota canem venerantur, nemo Dianam
Menſchen 1tes. 1 Verſuch von 12 bis 53, und andere
bisher dagegen geſagt haben, iſt zwar leſenswerth; al-
lein Zimmermann hat ſie in der geographiſchen Geſchich-
te des Menſchen 1 B. von Seite 54 bis 101 ſattfam wi-
derlegt. Uebrigens bleibt allemal die Hauptſache meiner
Behauptungen wah[r].
O ſanctas gentes, quibus hæc naſcuntur in hortis
Numina! lanatis animalibus abſtinet omnis
Menſa. Nefas illie fatum jugulare Capellæ.
Juvenal. Sat. XV.
Pflanzenthiere S. 164 bis 172, 1773. wo er den Bil-
und Pro[b]aska’s hieher gehoͤrige Schriften — Caldani
Phiſiologie u. ſ. w.
Knochen, in Sammlung auserleſener Abhandlungen fuͤr
praktiſche Aerzte. 6ter B. S. 199. Man ſehe auch Troja
de novorum oſſium regeneratione experimenta. Paris 1771.
und andere Neuere, die uͤber die Wiedererzeugung verlor-
ner Theile geſchrieben haben.
543.
den Bewegungen der einſaugenden Gefaͤße des Koͤrpers
in einigen Krankheiten. Sammlung auserleſener Ab-
handlungen zum Gebrauche praktiſcher Aerzte 6 B. S.
254 331.
Krankheitslehre §. 640 man vergleiche damit §. 51. 99
105. 643. 647. 648. 649. obſ[c]hon Gaubius ſelbſt der
Stahliſchen Hypotheſs nicht abgeneigt iſt.
Creſcere ſentimns, pariterque ſeneſcere mentem.
Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur
Corpore; ſic animi ſequitur ſententia tenuis.
Inde ubi robuſtis adolevit viribus ætas,
Conſilium quoque majus, \& accutior eſt animi vis.
Poſt ubi jam validis quaſſatum eſt viribus ævi
Cor-
Claudicat ingenium, delirat linquaque, mensque,
Omnia deficiunt, atque uno temporc deſunt.
Quin etiam morbis in corporis avius errat
Sæpe animus, dementit enim, deliraque fatus,
Ergo — — — Das Gemaͤlde iſt allermeiſt richtig, aber
die Folgerung in den folgenden Verſen iſt uͤbereilt.
diſſolvi quoque convenit omnem animai
Naturam, ceu fumus in altas aeris auras:
Quandoquidem gigni pariter, pariterque videmus
Creſcere, \& (ut docui) fimul ævo feſſa fatiſcit.
Lucretius de rerum natura lib. III.
v. 446. \& ſeqq.
gitur: \& frigeſcunt impetus mentium, quos non expli-
cant miniſteria membrorum. Quintilian. Declamat. I.
p. 14.
uͤber die Folgen dieſer Verbindung zu belehren, leſe man
Hippocrates de aere aquis et locis. — Die vortreffliche Ab-
handlung des Galenns: quod animi mores corporis tempe-
ramenta ſequantur. — Mede[c]i[n]e de l’eſprit von Le
Camus \&c. \&c. \&c.
und Zufall machen. Indeſſen iſt es ſo wenig meine Ab-
daß ich mich ſelbſt in der Folge deſſelben bedienen werde.
und Leibarzt. \&c.
faͤllen. S. 25.
10tes Kapitel, woraus ich hier nichts angefuͤhrt habe, ob-
ſchon es wichtige Beobachtungen enthaͤlt.
P. II. p. 346.
S. 170.
lichen Geſchlechts in allen Altern, Krankheiten und Un-
gluͤcksfaͤllen. S. 65.
Polizey.
ſchlechter und von den Zufaͤllen der Entwicklung werde
ich mein Verfahren mit jenem der Natur vergleichen.
Und in dem Kapitel von der Nachahmung der Natur
werde ich alle aͤhnliche Faͤlle zuſammenſtellen.
ſchiedenen Verhaͤltniße der Beſtandtheile des geſunden
Menſchen, welche wir unter dem Namen der Tempera-
mente zu bezeichnen pflegen; was dieſe zur Entſtebung
und zufaͤlligen Veraͤnderung der Krankheiten beytragen,
werde ich im 3ten Kapitel unterſ[u]ch[en].
pr. Arz. 1 Thl. S. 51. und Pringle an verſch. Stellen.
rum miaſmate. p. 21.
arzneykunſt und Arzneygelahrhett 2tes B. S. 124.
aufklaͤren.
von Storr.
§. 327—328.
Schrœder de viribus naturæ min.
nung S. 327.
lebende Aerzte.
ſten drey Tage alle Nahrung entzogen.
der. d. Veraͤnd. d. menſch. Lebens 2ter Thl. S. 269.
S. 595.
mich der Benennungen: Reitzbarkeit, Beweglich-
keit, Empfindlichkeit ohne Unterſchied bedient ha-
ben. Ich glaubte, daß dieſes in der ausuͤbenden Heikun-
de ohne Schaden geſchehen konnte, und außer dem, daß
es ſchwer zu vermeiden geweſen waͤre, wuͤrde es auch gar-
zu puͤnktlich herausgekommen ſeyn.
thode, die Scheintoden wieder zu beleben ꝛc. von einem
reiſenden Deutſchen.
- Lizenz
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Gall, Franz Joseph. Philosophisch-Medicnische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustande des Menschen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjbv.0