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Die
Wahlverwandtſchaften
.

Zweyter Theil.
[[2]][[3]]
Die
Wahlverwandtſchaften.


Zweyter Theil.

Tuͤbingen,:
in der J. G. Cottaiſchen Buchhandlung.
1809.
[[4]][[5]]

Erſtes Kapitel.

Im gemeinen Leben begegnet uns oft
was wir in der Epopoͤe als Kunſtgriff des
Dichters zu ruͤhmen pflegen, daß naͤmlich
wenn die Hauptfiguren ſich entfernen, ver¬
bergen, ſich der Unthaͤtigkeit hingeben, gleich
ſodann ſchon ein zweyter, dritter, bisher kaum
Bemerkter den Platz fuͤllt, und indem er ſeine
ganze Thaͤtigkeit aͤußert, uns gleichfalls der
Aufmerkſamkeit, der Theilnahme, ja des Lo¬
bes und Preiſes wuͤrdig erſcheint.


So zeigte ſich gleich nach der Entfernung
des Hauptmanns und Eduards jener Archi¬
[6] tect taͤglich bedeutender, von welchem die An¬
ordnung und Ausfuͤhrung ſo manches Unter¬
nehmens allein abhing, wobey er ſich genau,
verſtaͤndig und thaͤtig erwies, und zugleich den
Damen auf mancherley Art beyſtand und in
ſtillen langwierigen Stunden ſie zu unterhal¬
ten wußte. Schon ſein Aeußeres war von
der Art, daß es Zutrauen einfloͤßte und Nei¬
gung erweckte. Ein Juͤngling im vollen
Sinne des Worts, wohlgebaut, ſchlank, eher
ein wenig zu groß, beſcheiden ohne aͤngſtlich,
zutraulich ohne zudringend zu ſeyn. Freudig
uͤbernahm er jede Sorge und Bemuͤhung,
und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete,
ſo war ihm bald das ganze Hausweſen kein
Geheimniß, und uͤberall hin verbreitete ſich
ſein guͤnſtiger Einfluß. Die Fremden ließ
man ihn gewoͤhnlich empfangen und er wußte
einen unerwarteten Beſuch entweder abzuleh¬
nen, oder die Frauen wenigſtens dergeſtalt dar¬
auf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequem¬
lichkeit daraus entſprang.


[7]

Unter andern gab ihm eines Tags ein
junger Rechtsgelehrter viel zu ſchaffen, der
von einem benachbarten Edelmann geſendet
eine Sache zur Sprache brachte, die zwar
von keiner ſonderlichen Bedeutung Charlotten
dennoch innig beruͤhrte. Wir muͤſſen dieſes
Vorfalls gedenken, weil er verſchiedenen Din¬
gen einen Anſtoß gab, die ſonſt vielleicht
lange geruht haͤtten.


Wir erinnern uns jener Veraͤnderung,
welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorge¬
nommen hatte. Die ſaͤmmtlichen Monumente
waren von ihrer Stelle geruͤckt und hatten
an der Mauer, an dem Sockel der Kirche
Platz gefunden. Der uͤbrige Raum war
geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur
Kirche und an derſelben vorbey zu dem jen¬
ſeitigen Pfoͤrtchen fuͤhrte, war das uͤbrige
alles mit verſchiedenen Arten Klee beſaͤt, der
auf das ſchoͤnſte gruͤnte und bluͤhte. Nach
einer gewiſſen Ordnung ſollten vom Ende her¬
[8] an die neuen Graͤber beſtellt, doch der Platz
jederzeit wieder verglichen und ebenfalls beſaͤt
werden. Niemand konnte laͤugnen, daß dieſe
Anſtalt beym ſonn- und feſttaͤgigen Kirch¬
gang eine heitere und wuͤrdige Anſicht ge¬
waͤhrte. Sogar der betagte und an alten
Gewohnheiten haftende Geiſtliche, der an¬
faͤnglich mit der Einrichtung nicht ſonderlich
zufrieden geweſen, hatte nunmehr ſeine Freude
daran, wenn er unter den alten Linden, gleich
Philemon, mit ſeiner Baucis vor der Hin¬
terthuͤre ruhend, ſtatt der holprigen Grab¬
ſtaͤtten einen ſchoͤnen, bunten Teppich vor ſich
ſah, der noch uͤberdieß ſeinem Haushalt zu
Gute kommen ſollte, indem Charlotte die
Nutzung dieſes Fleckes der Pfarre zuſichern
laſſen.


Allein demungeachtet hatten ſchon manche
Gemeindeglieder fruͤher gemißbilligt, daß man
die Bezeichnung der Stelle wo ihre Vorfah¬
ren ruhten, aufgehoben und das Andenken
[9] dadurch gleichſam ausgeloͤſcht: denn die wohl¬
erhaltenen Monumente zeigten zwar an, wer
begraben ſey, aber nicht wo er begraben ſey,
und auf das Wo komme es eigentlich an, wie
Viele behaupteten.


Von eben ſolcher Geſinnung war eine be¬
nachbarte Familie, die ſich und den Ihrigen
einen Raum auf dieſer allgemeinen Ruheſtaͤtte
vor mehreren Jahren ausbedungen und dafuͤr
der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet
hatte. Nun war der junge Rechtsgelehrte
abgeſendet, um die Stiftung zu wiederrufen
und anzuzeigen, daß man nicht weiter zahlen
werde, weil die Bedingung unter welcher
dieſes bisher geſchehen, einſeitig aufgehoben
und auf alle Vorſtellungen und Widerreden
nicht geachtet worden. Charlotte, die Urhe¬
berinn dieſer Veraͤnderung, wollte den jungen
Mann ſelbſt ſprechen, der zwar lebhaft, aber
nicht allzu vorlaut, ſeine und ſeines Princi¬
[10] pals Gruͤnde darlegte und der Geſellſchaft
manches zu denken gab.


Sie ſehen, ſprach er, nach einem kurzen
Eingang, in welchem er ſeine Zudringlichkeit
zu rechtfertigen wußte: Sie ſehen daß dem
Geringſten wie dem Hoͤchſten daran gelegen
iſt, den Ort zu bezeichnen der die Seinigen
aufbewahrt. Dem aͤrmſten Landmann, der
ein Kind begraͤbt, iſt es eine Art von Troſt,
ein ſchwaches hoͤlzernes Kreuz auf das Grab
zu ſtellen, es mit einem Kranze zu zieren,
um wenigſtens das Andenken ſo lange zu er¬
halten als der Schmerz waͤhrt, wenn auch
ein ſolches Merkzeichen, wie die Trauer ſelbſt,
durch die Zeit aufgehoben wird. Wohlha¬
bende verwandeln dieſe Kreuze in eiſerne, be¬
feſtigen und ſchuͤtzen ſie auf mancherley Weiſe,
und hier iſt ſchon Dauer fuͤr mehrere Jahre.
Doch weil auch dieſe endlich ſinken und un¬
ſcheinbar werden; ſo haben Beguͤterte nichts
Angelegneres, als einen Stein aufzurichten,
[11] der fuͤr mehrere Generationen zu dauern ver¬
ſpricht und von den Nachkommen erneut und
aufgefriſcht werden kann. Aber dieſer Stein
iſt es nicht, der uns anzieht, ſondern das
darunter Enthaltene, das daneben der Erde
Vertraute. Es iſt nicht ſowohl vom Anden¬
ken die Rede, als von der Perſon ſelbſt,
nicht von der Erinnerung, ſondern von der
Gegenwart. Ein geliebtes Abgeſchiedenes
umarme ich weit eher und inniger im Grab¬
huͤgel als im Denkmal: denn dieſes iſt fuͤr
ſich eigentlich nur wenig; aber um daſſelbe
her ſollen ſich, wie um einen Markſtein, Gat¬
ten, Verwandte, Freunde, ſelbſt nach ihrem
Hinſcheiden noch verſammeln, und der Le¬
bende ſoll das Recht behalten, Fremde und
Miswollende auch von der Seite ſeiner ge¬
liebten Ruhenden abzuweiſen und zu entfernen.


Ich halte deswegen dafuͤr, daß mein
Principal voͤllig Recht habe, die Stiftung
zuruͤckzunehmen; und dieß iſt noch billig ge¬
[12] nug, denn die Glieder der Familie ſind auf
eine Weiſe verletzt, wofuͤr gar kein Erſatz zu
denken iſt. Sie ſollen das ſchmerzlich ſuͤße
Gefuͤhl entbehren, ihren Geliebten ein Tod¬
tenopfer zu bringen, die troͤſtliche Hoffnung
dereinſt unmittelbar neben ihnen zu ruhen.


Die Sache iſt nicht von der Bedeutung,
verſetzte Charlotte, daß man ſich deshalb durch
einen Rechtshandel beunruhigen ſollte. Meine
Anſtalt reut mich ſo wenig, daß ich die
Kirche gern, wegen deſſen was ihr entgeht,
entſchaͤdigen will. Nur muß ich Ihnen auf¬
richtig geſtehen, Ihre Argumente haben mich
nicht uͤberzeugt. Das reine Gefuͤhl einer
endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigſtens
nach dem Tode, ſcheint mir beruhigender als
dieſes eigenſinnige ſtarre Fortſetzen unſerer
Perſoͤnlichkeiten, Anhaͤnglichkeiten und Lebens¬
verhaͤltniſſe. Und was ſagen Sie hierzu?
richtete ſie ihre Frage an den Architecten.


[13]

Ich moͤchte, verſetzte dieſer, in einer ſol¬
chen Sache weder ſtreiten, noch den Ausſchlag
geben. Laſſen Sie mich das, was meiner
Kunſt, meiner Denkweiſe am naͤchſten liegt,
beſcheidentlich aͤußern. Seitdem wir nicht
mehr ſo gluͤcklich ſind, die Reſte eines ge¬
liebten Gegenſtandes eingeurnt an unſere
Bruſt zu druͤcken; da wir weder reich noch
heiter genug ſind, ſie unverſehrt in großen
wohl ausgezierten Sarkophagen zu verwah¬
ren; ja da wir nicht einmal in den Kirchen
mehr Platz fuͤr uns und fuͤr die Unſrigen fin¬
den, ſondern hinaus ins Freye gewieſen ſind:
ſo haben wir alle Urſache, die Art und Weiſe
die Sie, meine gnaͤdige Frau, eingeleitet ha¬
ben, zu billigen. Wenn die Glieder einer
Gemeinde reihenweiſe neben einander liegen,
ſo ruhen ſie bey und unter den Ihrigen; und
wenn die Erde uns einmal aufnehmen ſoll,
ſo finde ich nichts natuͤrlicher und reinlicher,
als daß man die zufaͤllig entſtandenen nach
[14] und nach zuſammenſinkenden Huͤgel unge¬
ſaͤumt vergleiche, und ſo die Decke, indem
alle ſie tragen, einem Jeden leichter gemacht
werde.


Und ohne irgend ein Zeichen des Anden¬
kens, ohne irgend etwas das der Erinne¬
rung entgegen kaͤme, ſollte das alles ſo vor¬
uͤbergehen? verſetzte Ottilie.


Keineswegs! fuhr der Architect fort: nicht
vom Andenken, nur vom Platze ſoll man ſich
losſagen. Der Baukuͤnſtler, der Bildhauer
ſind hoͤchlich intereſſirt, daß der Menſch von
ihnen, von ihrer Kunſt, von ihrer Hand
eine Dauer ſeines Daſeyns erwarte; und des¬
wegen wuͤnſchte ich gut gedachte, gut ausge¬
fuͤhrte Monumente, nicht einzeln und zufaͤllig
ausgeſaͤt, ſondern an einem Orte aufgeſtellt,
wo ſie ſich Dauer verſprechen koͤnnen. Da
ſelbſt die Frommen und Hohen auf das Vor¬
[15] recht Verzicht thun, in den Kirchen perſoͤn¬
lich zu ruhen, ſo ſtelle man wenigſtens dort,
oder in ſchoͤnen Hallen um die Begraͤbni߬
plaͤtze, Denkzeichen, Denkſchriften auf. Es
giebt tauſenderley Formen die man ihnen vor¬
ſchreiben, tauſenderley Zieraten womit man ſie
ausſchmuͤcken kann.


Wenn die Kuͤnſtler ſo reich ſind, verſetzte
Charlotte, ſo ſagen Sie mir doch: wie kann
man ſich niemals aus der Form eines klein¬
lichen Obelisken, einer abgeſtutzten Saͤule und
eines Aſchenkrugs herausfinden? Anſtatt der
tauſend Erfindungen, deren Sie ſich ruͤhmen,
habe ich nur immer tauſend Wiederholungen
geſehen.


Das iſt wohl bey uns ſo, entgegnete ihr
der Architect, aber nicht uͤberall. Und uͤber¬
haupt mag es mit der Erfindung und der
ſchicklichen Anwendung eine eigne Sache ſeyn.
[16] Beſonders hat es in dieſem Falle manche
Schwierigkeit, einen ernſten Gegenſtand zu
erheitern und bey einem unerfreulichen nicht
ins Unerfreuliche zu gerathen. Was Ent¬
wuͤrfe zu Monumenten aller Art betrifft, de¬
ren habe ich viele geſammelt und zeige ſie gele¬
gentlich; doch bleibt immer das ſchoͤnſte Denk¬
mal des Menſchen eigenes Bildniß. Dieſes giebt
mehr als irgend etwas anders einen Begriff
von dem was er war; es iſt der beſte Text
zu vielen oder wenigen Noten: nur muͤßte es
aber auch in ſeiner beſten Zeit gemacht ſeyn,
welches gewoͤhnlich verſaͤumt wird. Niemand
denkt daran lebende Formen zu erhalten, und
wenn es geſchieht, ſo geſchieht es auf unzu¬
laͤngliche Weiſe. Da wird ein Todter ge¬
ſchwind noch abgegoſſen und eine ſolche
Maske auf einen Block geſetzt, und das
heißt man eine Buͤſte. Wie ſelten iſt der
Kuͤnſtler im Stande ſie voͤllig wieder zu be¬
leben!


[17]

Sie haben, ohne es vielleicht zu wiſſen
und zu wollen, verſetzte Charlotte, dieß Ge¬
ſpraͤch ganz zu meinen Gunſten gelenkt.
Das Bild eines Menſchen iſt doch wohl
unabhaͤngig; uͤberall wo es ſteht, ſteht es fuͤr
ſich und wir werden von ihm nicht verlangen,
daß es die eigentliche Grabſtaͤtte bezeichne.
Aber ſoll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬
dung bekennen, ſelbſt gegen die Bildniſſe habe
ich eine Art von Abneigung: denn ſie ſcheinen
mir immer einen ſtillen Vorwurf zu machen;
ſie deuten auf etwas Entferntes, Abgeſchiede¬
nes und erinnern mich, wie ſchwer es ſey,
die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man,
wie viel Menſchen man geſehen, gekannt, und
geſteht ſich, wie wenig wir ihnen, wie wenig
ſie uns geweſen, wie wird uns da zu Mu¬
the ! Wir begegnen dem Geiſtreichen ohne
uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten
ohne von ihm zu lernen, dem Gereiſten
ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen
ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.


II. 2[18]

Und leider ereignet ſich dieß nicht blos
mit den Voruͤbergehenden. Geſellſchaften und
Familien betragen ſich ſo gegen ihre liebſten
Glieder, Staͤdte gegen ihre wuͤrdigſten Buͤr¬
ger, Voͤlker gegen ihre trefflichſten Fuͤrſten,
Nationen gegen ihre vorzuͤglichſten Menſchen.


Ich hoͤrte fragen, warum man von den
Todten ſo unbewunden Gutes ſage, von den
Lebenden immer mit einer gewiſſen Vorſicht.
Es wurde geantwortet: weil wir von jenen
nichts zu befuͤrchten haben, und dieſe uns
noch irgendwo in den Weg kommen koͤnnten.
So unrein iſt die Sorge fuͤr das Andenken
der andern; es iſt meiſt nur ein ſelbſtiſcher
Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernſt
waͤre, ſeine Verhaͤltniſſe gegen die Ueberblie¬
benen immer lebendig und thaͤtig zu erhalten.

[]

Zweytes Kapitel.

Aufgeregt durch den Vorfall und die dar¬
an ſich knuͤpfenden Geſpraͤche, begab man
ſich des andern Tages nach dem Begraͤbni߬
platz, zu deſſen Verzierung und Erheiterung
der Architect manchen gluͤcklichen Vorſchlag
that. Allein auch auf die Kirche ſollte ſich
ſeine Sorgfalt erſtrecken, auf ein Gebaͤude
das gleich anfaͤnglich ſeine Aufmerkſamkeit an
ſich gezogen hatte.


Dieſe Kirche ſtand ſeit mehreren Jahr¬
hunderten, nach deutſcher Art und Kunſt, in
guten Maaßen errichtet und auf eine gluͤckliche
Weiſe verziert. Man konnte wohl nachkom¬
men, daß der Baumeiſter eines benachbarten
2 *[20] Kloſters mit Einſicht und Neigung ſich auch
an dieſem kleineren Gebaͤude bewaͤhrt, und
es wirkte noch immer ernſt und angenehm
auf den Betrachter, obgleich die innere neue
Einrichtung zum proteſtantiſchen Gottesdienſte
ihm etwas von ſeiner Ruhe und Majeſtaͤt
genommen hatte.


Dem Architecten fiel es nicht ſchwer, ſich
von Charlotten eine maͤßige Summe zu er¬
bitten, wovon er das Aeußere ſowohl als das
Innere im alterthuͤmlichen Sinne herzuſtellen
und mit dem davor liegenden Auferſtehungs¬
felde zur Uebereinſtimmung zu bringen ge¬
dachte. Er hatte ſelbſt viel Handgeſchick,
und einige Arbeiter, die noch am Hausbau
beſchaͤftigt waren, wollte man gern ſo lange
beybehalten bis auch dieſes fromme Werk
vollendet waͤre.


Man war nunmehr in dem Falle, das
Gebaͤude ſelbſt mit allen Umgebungen und
[21] Angebaͤuden zu unterſuchen, und da zeigte
ſich zum groͤßten Erſtaunen und Vergnuͤgen
des Architecten eine wenig bemerkte kleine Sei¬
tencapelle von noch geiſtreichern und leichte¬
ren Maaßen, von noch gefaͤlligern und fleißi¬
gern Zieraten. Sie enthielt zugleich manchen
geſchnitzten und gemalten Reſt jenes aͤlteren
Gottesdienſtes, der mit mancherley Gebild
und Geraͤthſchaft die verſchiedenen Feſte zu
bezeichnen und jedes auf ſeine eigne Weiſe zu
feyern wußte.


Der Architect konnte nicht unterlaſſen,
die Capelle ſogleich in ſeinen Plan mit her¬
einzuziehen und beſonders dieſen engen Raum
als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres
Geſchmacks wieder herzuſtellen. Er hatte ſich
die leeren Flaͤchen nach ſeiner Neigung ſchon
verziert gedacht, und freute ſich dabey ſein
maleriſches Talent zu uͤben; allein er machte
ſeinen Hausgenoſſen fuͤrs Erſte ein Geheim¬
niß davon.


[22]

Vor allem andern zeigte er verſprochener¬
maßen den Frauen die verſchiedenen Nachbil¬
dungen und Entwuͤrfe von alten Grabmonu¬
menten, Gefaͤßen und andern dahin ſich naͤ¬
hernden Dingen, und als man im Geſpraͤch
auf die einfacheren Grabhuͤgel der nordiſchen
Voͤlker zu reden kam, brachte er ſeine Samm¬
lung von mancherley Waffen und Geraͤth¬
ſchaften die darin gefunden worden, zur An¬
ſicht. Er hatte alles ſehr reinlich und trag¬
bar in Schubladen und Faͤchern auf einge¬
ſchnittenen mit Tuch uͤberzogenen Brettern, ſo
daß dieſe alten ernſten Dinge durch ſeine Be¬
handlung etwas Putzhaftes annahmen und man
mit Vergnuͤgen darauf, wie auf die Kaͤſtchen
eines Modehaͤndlers hinblickte. Und da er
einmal im Vorzeigen war, da die Einſamkeit
eine Unterhaltung forderte, ſo pflegte er jeden
Abend mit einem Theil ſeiner Schaͤtze her¬
vorzutreten. Sie waren meiſtentheils deut¬
ſchen Urſprungs: Bracteaten, Dickmuͤnzen,
Siegel und was ſonſt ſich noch anſchließen
[23] mag. Alle dieſe Dinge richteten die Einbil¬
dungskraft gegen die aͤltere Zeit hin, und da
er zuletzt mit den Anfaͤngen des Drucks,
Holzſchnitten und den aͤlteſten Kupfern ſeine
Unterhaltung zierte, und die Kirche taͤglich
auch, jenem Sinne gemaͤß, an Farbe und
ſonſtiger Auszierung gleichſam der Vergangen¬
heit entgegenwuchs; ſo mußte man ſich bey¬
nahe ſelbſt fragen: ob man denn wirklich in
der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum
ſey, daß man nunmehr in ganz andern Sit¬
ten, Gewohnheiten, Lebensweiſen und Ueber¬
zeugungen verweile.


Auf ſolche Art vorbereitet that ein groͤße¬
res Portefeuille, das er zuletzt herbeybrachte,
die beſte Wirkung. Es enthielt zwar meiſt
nur umrißne Figuren, die aber, weil ſie auf
die Bilder ſelbſt durchgezeichnet waren, ihren
alterthuͤmlichen Character vollkommen erhalten
hatten, und dieſen, wie einnehmend fanden
ihn die Beſchauenden! Aus allen Geſtalten
[24] blickte nur das reinſte Daſeyn hervor, alle
mußte man, wo nicht fuͤr edel, doch fuͤr gut
anſprechen. Heitere Sammlung, willige An¬
erkennung eines Ehrwuͤrdigen uͤber uns, ſtille
Hingebung in Liebe und Erwartung war auf
allen Geſichtern, in allen Gebaͤrden ausge¬
druͤckt. Der Greis mit dem kahlen Scheitel,
der reichlockige Knabe, der muntere Juͤngling,
der ernſte Mann, der verklaͤrte Heilige, der
ſchwebende Engel, alle ſchienen ſelig in einem
unſchuldigen Genuͤgen, in einem frommen
Erwarten. Das gemeinſte was geſchah hatte
einen Zug von himmliſchem Leben, und eine
gottesdienſtliche Handlung ſchien ganz jeder
Natur angemeſſen.


Nach einer ſolchen Region blicken wohl
die meiſten wie nach einem verſchwundenen
goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen
Paradieſe hin. Nur vielleicht Ottilie war
in dem Fall ſich unter ihres Gleichen zu
fuͤhlen.


[25]

Wer haͤtte nun widerſtehen koͤnnen als der
Architect ſich erbot, nach dem Anlaß dieſer Ur¬
bilder, die Raͤume zwiſchen den Spitzbogen der
Capelle auszumalen und dadurch ſein Andenken
entſchieden an einem Orte zu ſtiften, wo es
ihm ſo gut gegangen war. Er erklaͤrte ſich
hieruͤber mit einiger Wehmuth: denn er konnte
nach der Lage der Sache wohl einſehen, daß
ſein Aufenthalt in ſo vollkommener Geſellſchaft
nicht immer dauern koͤnne, ja vielleicht bald
abgebrochen werden muͤſſe.


Uebrigens waren dieſe Tage zwar nicht
reich an Begebenheiten, doch voller Anlaͤſſe
zu ernſthafter Unterhaltung. Wir nehmen
daher Gelegenheit von demjenigen was Ottilie
ſich daraus in ihren Heft angemerkt, einiges
mitzutheilen, wozu wir keinen ſchicklichern
Uebergang finden als durch ein Gleichniß,
das ſich uns beym Betrachten ihrer liebens¬
wuͤrdigen Blaͤtter aufdringt.


[26]

Wir hoͤren von einer beſondern Einrich¬
tung bey der engliſchen Marine. Saͤmmtliche
Tauwerke der koͤniglichen Flotte, vom ſtaͤrk¬
ſten bis zum ſchwaͤchſten ſind, dergeſtalt ge¬
ſponnen, daß ein rother Faden durch das
Ganze durchgeht, den man nicht herauswin¬
den kann ohne alles aufzuloͤſen, und woran
auch die kleinſten Stuͤcke kenntlich ſind, daß
ſie der Krone gehoͤren.


Eben ſo zieht ſich durch Ottiliens Tage¬
buch ein Faden der Neigung und Anhaͤng¬
lichkeit, der alles verbindet und das Ganze
bezeichnet. Dadurch werden dieſe Bemerkun¬
gen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnſpruͤche
und was ſonſt vorkommen mag, der Schrei¬
benden ganz beſonders eigen und fuͤr ſie von
Bedeutung. Selbſt jede einzelne von uns
ausgewaͤhlte und mitgetheilte Stelle giebt da¬
von das entſchiedenſte Zeugniß.


[27]

Aus
Ottiliens Tagebuche.

„Neben denen dereinſt zu ruhen die man
liebt, iſt die angenehmſte Vorſtellung welche
der Menſch haben kann, wenn er einmal
uͤber das Leben hinausdenkt. Zu den Seini¬
gen verſammelt werden, iſt ein ſo herzlicher
Ausdruck.“


„Es giebt mancherley Denkmale und
Merkzeichen, die uns Entfernte und Abge¬
ſchiedene naͤher bringen. Keins iſt von der
Bedeutung des Bildes. Die Unterhaltung
mit einem geliebten Bilde, ſelbſt wenn es
unaͤhnlich iſt, hat was Reizendes, wie es
manchmal etwas Reizendes hat, ſich mit ei¬
nem Freunde ſtreiten. Man fuͤhlt auf eine
[28] angenehme Weiſe, daß man zu zweyen iſt
und doch nicht auseinander kann.“


„Man unterhaͤlt ſich manchmal mit einem
gegenwaͤrtigen Menſchen als mit einem Bilde.
Er braucht nicht zu ſprechen, uns nicht an¬
zuſehen, ſich nicht mit uns zu beſchaͤftigen:
wir ſehen ihn, wir fuͤhlen unſer Verhaͤltniß
zu ihm, ja ſogar unſere Verhaͤltniſſe zu ihm
koͤnnen wachſen, ohne daß er etwas dazu
thut, ohne daß er etwas davon empfindet,
daß er ſich eben blos zu uns wie ein Bild
verhaͤlt.“


„Man iſt niemals mit einem Portraͤt zu¬
frieden von Perſonen die man kennt. Des¬
wegen habe ich die Portraͤtmaler immer be¬
dauert. Man verlangt ſo ſelten von den Leu¬
ten das Unmoͤgliche, und gerade von dieſen
fordert man's. Sie ſollen einem Jeden ſein
Verhaͤltniß zu den Perſonen, ſeine Neigung
und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen;
[29] ſie ſollen nicht blos darſtellen, wie ſie einen
Menſchen faſſen, ſondern wie Jeder ihn faſ¬
ſen wuͤrde. Es nimmt mich nicht Wunder,
wenn ſolche Kuͤnſtler nach und nach verſtockt,
gleichguͤltig und eigenſinnig werden. Daraus
moͤchte denn entſtehen was wollte, wenn man
nur nicht gerade daruͤber die Abbildungen ſo
mancher lieben und theueren Menſchen entbeh¬
ren muͤßte.“


„Es iſt wohl wahr, die Sammlung des
Architecten von Waffen und alten Geraͤth¬
ſchaften, die nebſt dem Koͤrper mit hohen
Erdhuͤgeln und Felſenſtuͤcken zugedeckt waren,
bezeugt uns, wie unnuͤtz die Vorſorge des
Menſchen ſey fuͤr die Erhaltung ſeiner Per¬
ſoͤnlichkeit nach dem Tode. Und ſo wider¬
ſprechend ſind wir! Der Architect geſteht,
ſelbſt ſolche Grabhuͤgel der Vorfahren geoͤff¬
net zu haben und faͤhrt dennoch fort ſich
mit Denkmaͤlern fuͤr die Nachkommen zu be¬
ſchaͤftigen.“


[30]

„Warum ſoll man es aber ſo ſtreng neh¬
men? Iſt denn alles was wir thun fuͤr die
Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬
gens an, um uns Abends wieder auszuziehen?
Verreiſen wir nicht, um wiederzukehren? Und
warum ſollten wir nicht wuͤnſchen, neben den
Unſrigen zu ruhen, und wenn es auch nur
fuͤr ein Jahrhundert waͤre.“


„Wenn man die vielen verſunkenen, die
durch Kirchgaͤnger abgetretenen Grabſteine,
die uͤber ihren Grabmaͤlern ſelbſt zuſammen¬
geſtuͤrzten Kirchen erblickt; ſo kann einem das
Leben nach dem Tode doch immer wie ein
zweytes Leben vorkommen, in das man nun
im Bilde, in der Ueberſchrift eintritt und
laͤnger darin verweilt als in dem eigentlichen
lebendigen Leben. Aber auch dieſes Bild,
dieſes zweyte Daſeyn verliſcht fruͤher oder
ſpaͤter. Wie uͤber die Menſchen ſo auch uͤber
die Denkmaͤler laͤßt ſich die Zeit ihr Recht
nicht nehmen.“

[]

Drittes Kapitel.

Es iſt eine ſo angenehme Empfindung
ſich mit etwas zu beſchaͤftigen was man nur
halb kann, daß Niemand den Dilettanten
ſchelten ſollte, wenn er ſich mit einer Kunſt
abgiebt, die er nie lernen wird, noch den
Kuͤnſtler tadeln duͤrfte, wenn er uͤber die
Graͤnze ſeiner Kunſt hinaus, in einem be¬
nachbarten Felde ſich zu ergehen Luſt hat.


Mit ſo billigen Geſinnungen betrachten
wir die Anſtalten des Architecten zum Aus¬
malen der Capelle. Die Farben waren be¬
reitet, die Maaße genommen, die Kartone
gezeichnet; allen Anſpruch auf Erfindung hatte
er aufgegeben; er hielt ſich an ſeine Umriſſe:
[32] nur die ſitzenden und ſchwebenden Figuren ge¬
ſchickt auszutheilen, den Raum damit geſchmack¬
voll auszuzieren, war ſeine Sorge.


Das Geruͤſte ſtand, die Arbeit ging vor¬
waͤrts, und da ſchon einiges was in die Au¬
gen fiel erreicht war, konnte es ihm nicht
zuwider ſeyn, daß Charlotte mit Ottilien ihn
beſuchte. Die lebendigen Engelsgeſichter, die
lebhaften Gewaͤnder auf dem blauen Himmels¬
grunde erfreuten das Auge, indem ihr ſtilles
frommes Weſen das Gemuͤth zur Samm¬
lung berief und eine ſehr zarte Wirkung her¬
vorbrachte.


Die Frauen waren zu ihm aufs Geruͤſt
geſtiegen, und Ottilie bemerkte kaum, wie
abgemeſſen leicht und bequem das alles zu¬
ging, als ſich in ihr das durch fruͤhern Un¬
terricht Empfangene mit einmal zu entwickeln
ſchien, ſie nach Farbe und Pinſel griff und
auf erhaltene Anweiſung ein faltenreiches Ge¬
[33] wand mit ſoviel Reinlichkeit als Geſchicklich¬
keit anlegte.


Charlotte, welche gern ſah wenn Ottilie
ſich auf irgend eine Weiſe beſchaͤftigte und
zerſtreute, ließ die beyden gewaͤhren und ging,
um ihren eigenen Gedanken nachzuhaͤngen,
um ihre Betrachtungen und Sorgen, die ſie
niemanden mittheilen konnte, fuͤr ſich durch¬
zuarbeiten.


Wenn gewoͤhnliche Menſchen, durch ge¬
meine Verlegenheiten des Tags zu einem
leidenſchaftlich aͤngſtlichen Betragen aufge¬
regt, uns ein mitleidiges Laͤcheln abnoͤ¬
thigen; ſo betrachten wir dagegen mit Ehr¬
furcht ein Gemuͤth, in welchem die Saat ei¬
nes großen Schickſals ausgeſaͤet worden, das
die Entwickelung dieſer Empfaͤngniß abwarten
muß, und weder das Gute noch das Boͤſe,
weder das Gluͤckliche noch das Ungluͤckliche
II. 3[34] was daraus entſpringen ſoll, beſchleunigen
darf und kann.


Eduard hatte durch Charlottens Boten,
den ſie ihm in ſeine Einſamkeit geſendet,
freundlich und theilnehmend, aber doch eher
gefaßt und ernſt als zutraulich und liebevoll,
geantwortet. Kurz darauf war Eduard ver¬
ſchwunden, und ſeine Gattinn konnte zu kei¬
ner Nachricht von ihm gelangen, bis ſie end¬
lich von ungefaͤhr ſeinen Namen in den Zei¬
tungen fand, wo er unter denen, die ſich bey
einer bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorge¬
than hatten, mit Auszeichnung genannt war.
Sie wußte nun, welchen Weg er genommen
hatte, ſie erfuhr daß er großen Gefahren
entronnen war; allein ſie uͤberzeugte ſich zu¬
gleich, daß er groͤßere aufſuchen wuͤrde, und
ſie konnte ſich daraus nur allzuſehr deuten,
daß er in jedem Sinne ſchwerlich vom Aeu¬
ßerſten wuͤrde zuruͤckzuhalten ſeyn. Sie trug
dieſe Sorgen fuͤr ſich allein immer in Ge¬
[35] danken, und mochte ſie hin und wieder legen
wie ſie wollte, ſo konnte ſie doch bey keiner
Anſicht Beruhigung finden.


Ottilie, von alle dem nichts ahndend,
hatte indeſſen zu jener Arbeit die groͤßte Nei¬
gung gefaßt, und von Charlotten gar leicht
die Erlaubniß erhalten, regelmaͤßig darin
fortfahren zu duͤrfen. Nun ging es raſch
weiter und der azurne Himmel war bald mit
wuͤrdigen Bewohnern bevoͤlkert. Durch eine
anhaltende Uebung gewannen Ottilie und der
Architect bey den letzten Bildern mehr Frey¬
heit, ſie wurden zuſehends beſſer. Auch
die Geſichter, welche dem Architecten zu ma¬
len allein uͤberlaſſen war, zeigten nach und
nach eine ganz beſondere Eigenſchaft: ſie fin¬
gen ſaͤmmtlich an Ottilien zu gleichen. Die
Naͤhe des ſchoͤnen Kindes mußte wohl in die
Seele des jungen Mannes, der noch keine
natuͤrliche oder kuͤnſtleriſche Phyſiognomie vor¬
gefaßt hatte, einen ſo lebhaften Eindruck
3 *[36] machen, daß ihm nach und nach, auf dem
Wege vom Auge zur Hand, nichts verloren
ging, ja daß beyde zuletzt ganz gleichſtimmig
arbeiteten. Genug, eins der letzten Geſicht¬
chen gluͤckte vollkommen, ſo daß es ſchien als
wenn Ottilie ſelbſt aus den himmliſchen Raͤu¬
men herunterſaͤhe.


An dem Gewoͤlbe war man fertig; die
Waͤnde hatte man ſich vorgenommen einfach
zu laſſen und nur mit einer hellern braͤunlichen
Farbe zu uͤberziehen; die zarten Saͤulen und
kuͤnſtlichen bildhaueriſchen Zieraten ſollten ſich
durch eine dunklere auszeichnen. Aber wie in
ſolchen Dingen immer eins zum andern fuͤhrt,
ſo wurden noch Blumen und Fruchtgehaͤnge
beſchloſſen, welche Himmel und Erde gleich¬
ſam zuſammenknuͤpfen ſollten. Hier war nun
Ottilie ganz in ihrem Felde. Die Gaͤrten
lieferten die ſchoͤnſten Muſter, und obſchon
die Kraͤnze ſehr reich ausgeſtattet wurden;
[37] ſo kam man doch fruͤher als man gedacht
hatte, damit zu Stande.


Noch ſah aber alles wuͤſte und roh aus.
Die Geruͤſte waren durch einander geſchoben,
die Bretter uͤber einander geworfen, der un¬
gleiche Fußboden durch mancherley vergoſſene
Farben noch mehr verunſtaltet. Der Archi¬
tect erbat ſich nunmehr, daß die Frauenzim¬
mer ihm acht Tage Zeit laſſen und bis dahin
die Capelle nicht betreten moͤchten. Endlich
erſuchte er ſie an einem ſchoͤnen Abende, ſich
beyderſeits dahin zu verfuͤgen; doch wuͤnſchte
er ſie nicht begleiten zu duͤrfen und empfahl
ſich ſogleich.


Was er uns auch fuͤr eine Ueberraſchung
zugedacht haben mag, ſagte Charlotte als er
weggegangen war; ſo habe ich doch gegen¬
waͤrtig keine Luſt hinunter zu gehen. Du
nimmſt es wohl allein uͤber dich und giebſt
mir Nachricht. Gewiß hat er etwas Ange¬
[38] nehmes zu Stande gebracht. Ich werde es
erſt in deiner Beſchreibung und dann gern in
der Wirklichkeit genießen.


Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte
ſich in manchen Stuͤcken in Acht nahm, alle
Gemuͤthsbewegungen vermied, und beſonders
nicht uͤberraſcht ſeyn wollte, begab ſich ſogleich
allein auf den Weg und ſah ſich unwillkuͤhr¬
lich nach dem Architecten um, der aber
nirgends erſchien und ſich mochte verborgen
haben. Sie trat in die Kirche, die ſie offen
fand. Dieſe war ſchon fruͤher fertig, gereinigt
und eingeweiht. Sie trat zur Thuͤre der Ca¬
pelle, deren ſchwere mit Erz beſchlagene Laſt
ſich leicht vor ihr aufthat und ſie in einem
bekannten Raume mit einem unerwarteten An¬
blick uͤberraſchte.


Durch das einzige hohe Fenſter fiel ein
ernſtes buntes Licht herein: denn es war von
farbigen Glaͤſern anmuthig zuſammengeſetzt.
[39] Das Ganze erhielt dadurch einen fremden
Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung.
Die Schoͤnheit des Gewoͤlbes und der Waͤnde
ward durch die Zierde des Fußbodens erhoͤht,
der aus beſonders geformten, nach einem ſchoͤ¬
nen Muſter gelegten, durch eine gegoſſene
Gipsflaͤche verbundenen Ziegelſteinen beſtand.
Dieſe ſowohl als die farbigen Scheiben hatte
der Architect heimlich bereiten laſſen, und
konnte nun in kurzer Zeit alles zuſammenfuͤ¬
gen. Auch fuͤr Ruheplaͤtze war geſorgt. Es
hatten ſich unter jenen kirchlichen Alterthuͤmern
einige ſchoͤngeſchnitzte Chorſtuͤhle vorgefunden,
die nun gar ſchicklich an den Waͤnden ange¬
bracht umherſtanden.


Ottilie freute ſich der bekannten ihr als
ein unbekanntes Ganze entgegentretenden
Theile. Sie ſtand, ging hin und wieder,
ſah und beſah; endlich ſetzte ſie ſich auf einen
der Stuͤhle und es ſchien ihr, indem ſie auf
und umherblickte, als wenn ſie waͤre und
[40] nicht waͤre, als wenn ſie ſich empfaͤnde und
nicht empfaͤnde, als wenn dieß alles vor
ihr, ſie vor ſich ſelbſt verſchwinden ſollte,
und nur als die Sonne das bisher ſehr leb¬
haft beſchienene Fenſter verließ, erwachte
Ottilie vor ſich ſelbſt und eilte nach dem
Schloſſe.


Sie verbarg ſich nicht in welche ſonder¬
bare Epoche dieſe Ueberraſchung gefallen ſey.
Es war der Abend vor Eduards Geburtstage.
Dieſen hatte ſie freylich ganz anders zu feyern
gehofft: wie ſollte nicht alles zu dieſem Feſte
geſchmuͤckt ſeyn? Aber nunmehr ſtand der
ganze herbſtliche Blumenreichthum ungepfluͤckt.
Dieſe Sonnenblumen wendeten noch immer ihr
Angeſicht gen Himmel; dieſe Aſtern ſahen
noch immer ſtill beſcheiden vor ſich hin, und
was allenfalls davon zu Kraͤnzen gebunden
war, hatte zum Muſter gedient einen Ort
auszuſchmuͤcken, der wenn er nicht blos eine
Kuͤnſtler-Grille bleiben, wenn er zu irgend et¬
[41] was genutzt werden ſollte, nur zu einer ge¬
meinſamen Grabſtaͤtte geeignet ſchien.


Sie mußte ſich dabey der geraͤuſchvollen
Geſchaͤftigkeit erinnern, mit welcher Eduard
ihr Geburtsfeſt gefeyert, ſie mußte des neu¬
gerichteten Hauſes gedenken, unter deſſen
Decke man ſich ſoviel Freundliches verſprach.
Ja das Feuerwerk rauſchte ihr wieder vor
Augen und Ohren, je einſamer ſie war, deſto
mehr vor der Einbildungskraft; aber ſie fuͤhlte
ſich auch nur um deſto mehr allein. Sie lehnte
ſich nicht mehr auf ſeinen Arm, und hatte
keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine
Stuͤtze zufinden.


[42]

Aus
Ottiliens Tagebuch
.

„Eine Bemerkung des jungen Kuͤnſtlers
muß ich aufzeichnen: wie am Handwerker
ſo am bildenden Kuͤnſtler kann man auf das
deutlichſte gewahr werden, daß der Menſch
ſich das am wenigſten zuzueignen vermag was
ihm ganz eigens angehoͤrt. Seine Werke
verlaſſen ihn, ſo wie die Voͤgel das Neſt
worin ſie ausgebruͤtet worden.“


„Der Baukuͤnſtler vor allen hat hierin
das wunderlichſte Schickſal. Wie oft wendet
er ſeinen ganzen Geiſt, ſeine ganze Neigung
auf, um Raͤume hervorzubringen, von denen
er ſich ſelbſt ausſchließen muß. Die koͤ¬
niglichen Saͤle ſind ihm ihre Pracht ſchuldig,
[43] deren groͤßte Wirkung er nicht mitgenießt.
In den Tempeln zieht er eine Graͤnze zwi¬
ſchen ſich und dem Allerheiligſten; er darf die
Stufen nicht mehr betreten, die er zur Herz
erhebenden Feyerlichkeit gruͤndete, ſo wie der
Goldſchmid die Monſtranz nur von fern an¬
betet, deren Schmelz und Edelſteine er zu¬
ſammengeordnet hat. Dem Reichen uͤbergiebt
der Baumeiſter mit dem Schluͤſſel des Palla¬
ſtes alle Bequemlichkeit und Behaͤbigkeit, ohne
irgend etwas davon mitzugenießen. Muß ſich
nicht allgemach auf dieſe Weiſe die Kunſt von
dem Kuͤnſtler entfernen, wenn das Werk, wie
ein ausgeſtattetes Kind, nicht mehr auf den
Vater zuruͤckwirkt? und wie ſehr mußte die
Kunſt ſich ſelbſt befoͤrdern, als ſie faſt al¬
lein mit dem Oeffentlichen, mit dem was
allen und alſo auch dem Kuͤnſtler gehoͤrte, ſich
zu beſchaͤftigen beſtimmt war!“


„Eine Vorſtellung der alten Voͤlker iſt
ernſt und kann furchtbar ſcheinen. Sie dach¬
[44] ten ſich ihre Vorfahren in großen Hoͤhlen
rings umher auf Thronen ſitzend in ſtummer
Unterhaltung. Dem neuen der hereintrat,
wenn er wuͤrdig genug war, ſtanden ſie auf
und neigten ihm einen Willkommen. Geſtern
als ich in der Capelle ſaß und meinem ge¬
ſchnitzten Stuhle gegenuͤber noch mehrere um¬
hergeſtellt ſah, erſchien mir jener Gedanke
gar freundlich und anmuthig. Warum kannſt
du nicht ſitzen bleiben? dachte ich bey mir
ſelbſt, ſtill und in dich gekehrt ſitzen bleiben,
lange lange, bis endlich die Freunde kaͤmen,
denen du aufſtuͤndeſt und ihren Platz mit
freundlichem Neigen anwieſeſt. Die farbigen
Scheiben machen den Tag zur ernſten Daͤm¬
merung und Jemand muͤßte eine ewige Lampe
ſtiften, damit auch die Nacht nicht ganz fin¬
ſter bliebe.“


„Man mag ſich ſtellen wie man will,
und man denkt ſich immer ſehend. Ich glaube
der Menſch traͤumt nur, damit er nicht auf¬
[45] hoͤre zu ſehen. Es koͤnnte wohl ſeyn, daß
das innere Licht einmal aus uns heraustraͤte,
ſo daß wir keines andern mehr beduͤrften.“


„Das Jahr klingt ab. Der Wind geht
uͤber die Stoppeln und findet nichts mehr zu
bewegen; nur die rothen Beeren jener ſchlan¬
ken Baͤume ſcheinen uns noch an etwas Mun¬
teres erinnern zu wollen, ſo wie uns der
Tactſchlag des Dreſchers den Gedanken er¬
weckt, daß in der abgeſichelten Aehre ſoviel
Naͤhrendes und Lebendiges verborgen liegt.“

[[46]]

Viertes Kapitel.

Wie ſeltſam mußte, nach ſolchen Ereig¬
niſſen, nach dieſem aufgedrungenen Gefuͤhl
von Vergaͤnglichkeit und Hinſchwinden, Ottilie
durch die Nachricht getroffen werden, die ihr
nicht laͤnger verborgen bleiben konnte, daß
Eduard ſich dem wechſelnden Kriegsgluͤck uͤber¬
liefert habe. Es entging ihr leider keine von
den Betrachtungen, die ſie dabey zu machen
Urſache hatte. Gluͤcklicherweiſe kann der
Menſch nur einen gewiſſen Grad des Un¬
gluͤcks faſſen; was daruͤber hinausgeht ver¬
nichtet ihn oder laͤßt ihn gleichguͤltig. Es
giebt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung
Eins werden, ſich einander wechſelſeitig auf¬
heben und in eine dunkle Fuͤhlloſigkeit verlie¬
ren. Wie koͤnnten wir ſonſt die entfernten
[47] Geliebteſten in ſtuͤndlicher Gefahr wiſſen und
dennoch unſer taͤgliches gewoͤhnliches Leben
immer ſo forttreiben.


Es war daher als wenn ein guter Geiſt
fuͤr Ottilien geſorgt haͤtte, indem er auf
einmal in dieſe Stille, in der ſie einſam und
unbeſchaͤftigt zu verſinken ſchien, ein wildes
Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von
außen genug zu ſchaffen gab und ſie aus ſich
ſelbſt fuͤhrte, zugleich in ihr das Gefuͤhl eige¬
ner Kraft anregte.


Charlottens Tochter, Luciane, war kaum
aus der Penſion in die große Welt getreten,
hatte kaum in dem Hauſe ihrer Tante ſich
von zahlreicher Geſellſchaft umgeben geſehen,
als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen er¬
regte, und ein junger, ſehr reicher Mann gar
bald eine heftige Neigung empfand, ſie zu
beſitzen. Sein anſehnliches Vermoͤgen gab
ihm ein Recht, das Beſte jeder Art ſein
[48] eigen zu nennen, und es ſchien ihm nichts
weiter abzugehen als eine vollkommene Frau,
um die ihn die Welt ſo wie um das uͤbrige
zu beneiden haͤtte.


Dieſe Familienangelegenheit war es, welche
Charlotten bisher ſehr viel zu thun gab, der
ſie ihre ganze Ueberlegung, ihre Correſpon¬
denz widmete, inſofern dieſe nicht darauf ge¬
richtet war, von Eduard naͤhere Nachricht
zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als
ſonſt in der letzten Zeit allein blieb. Dieſe
wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im
Hauſe hatte ſie deshalb die noͤthigſten Vor¬
kehrungen getroffen; allein ſo nahe ſtellte man
ſich den Beſuch nicht vor. Man wollte vor¬
her noch ſchreiben, abreden, naͤher beſtimmen,
als der Sturm auf einmal uͤber das Schloß
und Ottilien hereinbrach.


Angefahren kamen nun Kammerjungfern
und Bediente, Brancards mit Koffern und
[49] Kiſten; man glaubte ſchon eine doppelte und
dreyfache Herrſchaft im Hauſe zu haben;
aber nun erſchienen erſt die Gaͤſte ſelbſt: Die
Großtante mit Lucianen und einigen Freun¬
dinnen, der Braͤutigam gleichfalls nicht unbe¬
gleitet. Da lag das Vorhaus voll Vachen,
Mantelſaͤcke und anderer ledernen Gehaͤuſe.
Mit Muͤhe ſonderte man die vielen Kaͤſtchen
und Futterale auseinander. Des Gepaͤckes
und Geſchleppes war kein Ende. Dazwiſchen
regnete es mit Gewalt, woraus manche Un¬
bequemlichkeit entſtand. Dieſem ungeſtuͤmen
Treiben begegnete Ottilie mit gleichmuͤthiger
Thaͤtigkeit, ja ihr heiteres Geſchick erſchien
im ſchoͤnſten Glanze: denn ſie hatte in kurzer
Zeit alles untergebracht und angeordnet. Je¬
dermann war logirt, Jedermann nach ſeiner
Art bequem, und glaubte gut bedient zu ſeyn,
weil er nicht gehindert war ſich ſelbſt zu be¬
dienen.


Nun haͤtten alle gern, nach einer hoͤchſt
beſchwerlichen Reiſe, einige Ruhe genoſſen;
II. 4[50] der Braͤutigam haͤtte ſich ſeiner Schwieger¬
mutter gern genaͤhert, um ihr ſeine Liebe, ſei¬
nen guten Willen zu betheuern: aber Luciane
konnte nicht raſten. Sie war nun einmal zu
dem Gluͤcke gelangt, ein Pferd beſteigen zu
duͤrfen. Der Braͤutigam hatte ſchoͤne Pferde,
und ſogleich mußte man aufſitzen. Wetter
und Wind, Regen und Sturm kamen nicht
in Anſchlag; es war als wenn man nur
lebte um naß zu werden und ſich wieder zu
trocknen. Fiel es ihr ein, zu Fuße auszu¬
gehen, ſo fragte ſie nicht, was fuͤr Kleider
ſie anhatte und wie ſie beſchuht war; ſie
mußte die Anlagen beſichtigen von denen ſie
vieles gehoͤrt hatte. Was nicht zu Pferde
geſchehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt.
Bald hatte ſie alles geſehen und abgeurtheilt.
Bey der Schnelligkeit ihres Weſens war ihr
nicht leicht zu widerſprechen. Die Geſellſchaft
hatte manches zu leiden, am meiſten aber die
Kammermaͤdchen, die mit Waſchen und Buͤ¬
[51] geln, Auftrennen und Annaͤhen, nicht fertig
werden konnten.


Kaum hatte ſie das Haus und die Ge¬
gend erſchoͤpft, als ſie ſich verpflichtet fuͤhlte,
rings in der Nachbarſchaft Beſuch abzulegen.
Weil man ſehr ſchnell ritt und fuhr, ſo
reichte die Nachbarſchaft ziemlich fern umher.
Das Schloß ward mit Gegenbeſuchen uͤber¬
ſchwemmt, und damit man ſich ja nicht ver¬
fehlen moͤchte, wurden bald beſtimmte Tage
angeſetzt.


Indeſſen Charlotte mit der Tante und
dem Geſchaͤftstraͤger des Braͤutigams die in¬
nern Verhaͤltniſſe feſtzuſtellen bemuͤht war,
und Ottilie mit ihren Untergebenen dafuͤr zu
ſorgen wußte, daß es an nichts, bey ſo gro¬
ßem Zudrang, fehlen moͤchte, da denn Jaͤger
und Gaͤrtner, Fiſcher und Kraͤmer in Bewe¬
gung geſetzt wurden; zeigte ſich Luciane im¬
mer wie ein brennender Cometenkern, der
4 *[52] einen langen Schweif nach ſich zieht. Die
gewoͤhnlichen Beſuchsunterhaltungen duͤnkten
ihr bald ganz unſchmackhaft. Kaum daß ſie
den aͤlteſten Perſonen eine Ruhe am Spieltiſch
goͤnnte; wer noch einigermaßen beweglich war
— und wer ließ ſich nicht durch ihre reizen¬
den Zudringlichkeiten in Bewegung ſetzen? —
mußte herbey, wo nicht zum Tanze, doch
zum lebhaften Pfand-Straf- und Vexirſpiel.
Und obgleich das Alles, ſo wie hernach die
Pfaͤnderloͤſung, auf ſie ſelbſt berechnet war, ſo
ging doch von der andern Seite Niemand, be¬
ſonders kein Mann, er mochte von einer Art
ſeyn von welcher er wollte, ganz leer aus; ja
es gluͤckte ihr, einige aͤltere Perſonen von
Bedeutung ganz fuͤr ſich zu gewinnen, indem
ſie ihre eben einfallenden Geburts- und Namens¬
tage ausgeforſcht hatte und beſonders feyerte.
Dabey kam ihr ein ganz eignes Geſchick zu
Statten, ſo daß, indem alle ſich beguͤnſtigt ſa¬
hen, jeder ſich fuͤr den am meiſten beguͤnſtig¬
ten hielt: eine Schwachheit deren ſich ſogar der
[53] Aelteſte in der Geſellſchaft am allermerklich¬
ſten ſchuldig machte.


Schien es bey ihr Plan zu ſeyn, Maͤn¬
ner die etwas vorſtellten, Rang, Anſehen,
Ruhm oder ſonſt etwas Bedeutendes vor ſich
hatten, fuͤr ſich zu gewinnen, Weisheit und
Beſonnenheit zu Schanden zu machen, und
ihrem wilden wunderlichen Weſen ſelbſt bey
der Bedaͤchtlichkeit Gunſt zu erwerben; ſo
kam die Jugend doch dabey nicht zu kurz:
Jeder hatte ſein Theil, ſeinen Tag, ſeine
Stunde, in der ſie ihn zu entzuͤcken und zu
feſſeln wußte. So hatte ſie den Architecten
ſchon bald ins Auge gefaßt, der jedoch aus
ſeinem ſchwarzen langlockigen Haar ſo unbe¬
fangen herausſah, ſo gerad und ruhig in der
Entfernung ſtand, auf alle Fragen kurz und
verſtaͤndig antwortete, ſich aber auf nichts
weiter einzulaſſen geneigt ſchien, daß ſie ſich
endlich einmal, halb unwillig halb liſtig, ent¬
ſchloß ihn zum Helden des Tages zu machen
[54] und dadurch auch fuͤr ihren Hof zu ge¬
winnen.


Nicht umſonſt hatte ſie ſo vieles Gepaͤcke
mitgebracht, ja es war ihr noch manches ge¬
folgt. Sie hatte ſich auf eine unendliche
Abwechſelung in Kleidern vorgeſehen. Wenn
es ihr Vergnuͤgen machte, ſich des Tags drey
viermal umzuziehen und mit gewoͤhnlichen,
in der Geſellſchaft uͤblichen Kleidern vom
Morgen bis in die Nacht zu wechſeln; ſo
erſchien ſie dazwiſchen wohl auch einmal im
wirklichen Maskenkleid, als Baͤuerinn und
Fiſcherinn, als Fee und Blumenmaͤdchen.
Sie verſchmaͤhte nicht, ſich als alte Frau zu
verkleiden, um deſto friſcher ihr junges Ge¬
ſicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirk¬
lich verwirrte ſie dadurch das Gegenwaͤrtige
und das Eingebildete dergeſtalt, daß man ſich
mit der Saalnixe verwandt und verſchwaͤgert
zu ſeyn glaubte.


[55]

Wozu ſie aber dieſe Verkleidungen haupt¬
ſaͤchlich benutzte, waren pantomimiſche Stel¬
lungen und Taͤnze, in denen ſie verſchiedene
Character auszudruͤcken gewandt war. Ein
Cavalier aus ihrem Gefolge hatte ſich einge¬
richtet, auf dem Fluͤgel ihre Gebaͤrden mit
der wenigen noͤthigen Muſik zu begleiten; es
bedurfte nur einer kurzen Abrede und ſie wa¬
ren ſogleich in Einſtimmung.


Eines Tages, als man ſie bey der Pauſe
eines lebhaften Balls, auf ihren eigenen
heimlichen Antrieb, gleichſam aus dem Ste¬
gereife, zu einer ſolchen Darſtellung aufge¬
fordert hatte; ſchien ſie verlegen und uͤber¬
raſcht und ließ ſich wider ihre Gewohnheit
lange bitten. Sie zeigte ſich unentſchloſſen,
ließ die Wahl, bat wie ein Improviſator um
einen Gegenſtand, bis endlich jener Clavier
ſpielende Gehuͤlfe, mit dem es abgeredet
ſeyn mochte, ſich an den Fluͤgel ſetzte, einen
Trauermarſch zu ſpielen anfing und ſie auf¬
[56] forderte, jene Artemiſia zu geben, welche ſie
ſo vortrefflich einſtudirt habe. Sie ließ ſich
erbitten, und nach einer kurzen Abweſenheit
erſchien ſie, bey den zaͤrtlich traurigen Toͤnen
des Todtenmarſches, in Geſtalt der koͤniglichen
Wittwe, mit gemeſſenem Schritt, einen
Aſchenkrug vor ſich hertragend. Hinter ihr
brachte man eine große ſchwarze Tafel und
in einer goldenen Reißfeder ein wohl zuge¬
ſchnitztes Stuͤck Kreide.


Einer ihrer Verehrer und Adjutanten,
dem ſie etwas ins Ohr ſagte, ging ſogleich
den Architecten aufzufordern, zu noͤthigen und
gewiſſermaßen herbeyzuſchieben, daß er als
Baumeiſter das Grab des Mauſolus zeich¬
nen, und alſo keineswegs einen Statiſten,
ſondern einen ernſtlich Mitſpielenden vorſtellen
ſollte. Wie verlegen der Architect auch aͤu¬
ßerlich erſchien — denn er machte in ſeiner
ganz ſchwarzen knappen modernen Civilge¬
ſtalt einen wunderlichen Contraſt mit jenen
[57] Floͤren, Creppen, Franzen, Schmelzen, Qua¬
ſten und Kronen — ſo faßte er ſich doch
gleich innerlich, allein um ſo wunderlicher
war es anzuſehen. Mit dem groͤßten Ernſt
ſtellte er ſich vor die große Tafel, die von
ein paar Pagen gehalten wurde, und zeich¬
nete mit viel Bedacht und Genauigkeit ein
Grabmal, das zwar eher einem longobardi¬
ſchen als einem cariſchen Koͤnig waͤre gemaͤß
geweſen, aber doch in ſo ſchoͤnen Verhaͤltniſ¬
ſen, ſo ernſt in ſeinen Theilen, ſo geiſtreich
in ſeinen Zieraten, daß man es mit Ver¬
gnuͤgen entſtehen ſah und als es fertig war
bewunderte.


Er hatte ſich in dieſem ganzen Zeitraum
faſt nicht gegen die Koͤniginn gewendet, ſon¬
dern ſeinem Geſchaͤft alle Aufmerkſamkeit ge¬
widmet. Endlich als er ſich vor ihr neigte
und andeutete, daß er nun ihre Befehle voll¬
zogen zu haben glaube, hielt ſie ihm noch
die Urne hin, und bezeichnete das Verlan¬
[58] gen, dieſe oben auf dem Gipfel abgebildet zu
ſehen. Er that es, obgleich ungern, weil ſie
zu dem Character ſeines uͤbrigen Entwurfs
nicht paſſen wollte. Was Lucianen betraf, ſo
war ſie endlich von ihrer Ungeduld erloͤſt:
denn ihre Abſicht war keineswegs eine gewiſ¬
ſenhafte Zeichnung von ihm zu haben. Haͤtte
er mit wenigen Strichen nur hinſkizzirt, was
etwa einem Monument aͤhnlich geſehen, und
ſich die uͤbrige Zeit mit ihr abgegeben; ſo
waͤre das wohl dem Endzweck und ihren
Wuͤnſchen gemaͤßer geweſen. Bey ſeinem Be¬
nehmen dagegen kam ſie in die groͤßte Ver¬
legenheit: denn ob ſie gleich in ihrem
Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutun¬
gen, ihrem Beyfall uͤber das nach und nach
Entſtehende, ziemlich abzuwechſeln ſuchte und
ſie ihn einigemal beynahe herumzerrte, um nur
mit ihm in eine Art von Verhaͤltniß zu kommen;
ſo erwies er ſich doch gar zu ſteif, dergeſtalt
daß ſie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne neh¬
men, ſie an ihr Herz druͤcken und zum Him¬
[59] mel ſchauen mußte, ja zuletzt, weil ſich doch
dergleichen Situationen immer ſteigern, mehr
einer Wittwe von Epheſus als einer Koͤniginn
von Carien aͤhnlich ſah. Die Vorſtellung
zog ſich daher in die Laͤnge, der Clavierſpie¬
ler, der ſonſt Geduld genug hatte, wußte
nicht mehr in welchen Ton er ausweichen
ſollte. Er dankte Gott als er die Urne auf
der Pyramide ſtehn ſah und fiel unwillkuͤhr¬
lich, als die Koͤniginn ihren Dank ausdruͤ¬
cken wollte, in ein luſtiges Thema; wodurch
die Vorſtellung zwar ihren Character verlor,
die Geſellſchaft jedoch voͤllig aufgeheitert wur¬
de, die ſich denn ſogleich theilte, der Dame
fuͤr ihren vortrefflichen Ausdruck, und dem
Architecten fuͤr ſeine kuͤnſtliche und zierliche
Zeichnung eine freudige Bewunderung zu be¬
weiſen.


Beſonders der Braͤutigam unterhielt ſich
mit dem Architecten. Es thut mir leid,
ſagte jener, daß die Zeichnung ſo vergaͤnglich
[60] iſt. Sie erlauben wenigſtens, daß ich ſie mir
auf mein Zimmer bringen laſſe und mich mit
Ihnen daruͤber unterhalte. Wenn es Ihnen
Vergnuͤgen macht, ſagte der Architect, ſo kann
ich Ihnen ſorgfaͤltige Zeichnungen von der¬
gleichen Gebaͤuden und Monumenten vorlegen,
wovon dieſes nur ein zufaͤlliger fluͤchtiger
Entwurf iſt.


Ottilie ſtand nicht fern und trat zu den
beyden. Verſaͤumen Sie nicht, ſagte ſie zum
Architecten, den Herrn Baron gelegentlich
Ihre Sammlung ſehn zu laſſen: er iſt ein
Freund der Kunſt und des Alterthums; ich
wuͤnſche daß Sie ſich naͤher kennen lernen.


Luciane kam herbeygefahren und fragte:
Wovon iſt die Rede?


Von einer Sammlung Kunſtwerke, ant¬
wortete der Baron, welche dieſer Herr beſitzt
und die er uns gelegentlich zeigen will.


[61]

Er mag ſie mir gleich bringen, rief Lu¬
ciane. Nicht wahr, Sie bringen ſie gleich?
ſetzte ſie ſchmeichelnd hinzu, indem ſie ihn
mit beyden Haͤnden freundlich anfaßte.


Es moͤchte jetzt der Zeitpunkt nicht ſeyn,
verſetzte der Architect.


Was! rief Luciane gebieteriſch: Sie wol¬
len dem Befehl Ihrer Koͤniginn nicht gehor¬
chen? Dann legte ſie ſich auf ein neckiſches
Bitten.


Seyn Sie nicht eigenſinnig, ſagte Ottilie
halb leiſe.


Der Architect entfernte ſich mit einer
Beugung, ſie war weder bejahend noch ver¬
neinend.


Kaum war er fort, als Luciane ſich mit
einem Windſpiel im Saale herumjagte. Ach!
[62] rief ſie aus, indem ſie zufaͤllig an ihre Mut¬
ter ſtieß: wie bin ich nicht ungluͤcklich!
Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen;
man hat mir es abgerathen, es iſt aber nur
die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich
um dieſes Vergnuͤgen bringt. Ich will ihn
aber nachkommen laſſen, es ſoll mir Jemand
hin ihn zu holen. Wenn ich nur ſein Bild¬
niß ſehen koͤnnte, ſo waͤre ich ſchon vergnuͤgt.
Ich will ihn aber gewiß auch malen laſſen
und er ſoll mir nicht von der Seite kommen.


Vielleicht kann ich dich troͤſten, verſetzte
Charlotte, wenn ich dir aus der Bibliothek
einen ganzen Band der wunderlichſten Affen¬
bilder kommen laſſe. Luciane ſchrie vor Freu¬
den laut auf, und der Folioband wurde ge¬
bracht. Der Anblick dieſer menſchenaͤhnlichen
und durch den Kuͤnſtler noch mehr vermenſch¬
lichten abſcheulichen Geſchoͤpfe machte Lucianen
die groͤßte Freude. Ganz gluͤcklich aber fuͤhlte
ſie ſich, bey einem jeden dieſer Thiere die
[63] Aehnlichkeit mit bekannten Menſchen zu fin¬
den. Sieht der nicht aus wie der Onkel?
rief ſie unbarmherzig: der wie der Galanterie¬
haͤndler M—, der wie der Pfarrer S—
und dieſer iſt der Dings — der — leibhaf¬
tig. Im Grunde ſind doch die Affen die ei¬
gentlichen Incroyables und es iſt unbegreiflich,
wie man ſie aus der beſten Geſellſchaft aus¬
ſchließen mag.


Sie ſagte das in der beſten Geſellſchaft,
doch Niemand nahm es ihr uͤbel. Man war
ſo gewohnt ihrer Anmuth vieles zu erlauben,
daß man zuletzt ihrer Unart alles erlaubte.


Ottilie unterhielt ſich indeſſen mit dem
Braͤutigam. Sie hoffte auf die Ruͤckkunft
des Architecten, deſſen ernſtere, geſchmackvol¬
lere Sammlungen die Geſellſchaft von dieſem
Affenweſen befreyen ſollten. In dieſer Er¬
wartung hatte ſie ſich mit dem Baron be¬
ſprochen und ihn auf manches aufmerkſam
[64] gemacht. Allein der Architect blieb aus, und
als er endlich wiederkam, verlor er ſich unter
der Geſellſchaft, ohne etwas mit zu bringen,
und ohne zu thun als ob von etwas die
Frage geweſen waͤre. Ottilie ward einen Au¬
genblick — wie ſoll man's nennen? — ver¬
drießlich, ungehalten, betroffen; ſie hatte ein
gutes Wort an ihn gewendet, ſie goͤnnte dem
Braͤutigam eine vergnuͤgte Stunde nach ſei¬
nem Sinne, der bey ſeiner unendlichen Liebe
fuͤr Lucianen doch von ihrem Betragen zu
leiden ſchien.


Die Affen mußten einer Collation Platz
machen. Geſellige Spiele, ja ſogar noch
Taͤnze, zuletzt ein freudeloſes Herumſitzen und
Wiederaufjagen einer ſchon geſunkenen Luſt
dauerten dießmal, wie ſonſt auch, weit uͤber
Mitternacht. Denn ſchon hatte ſich Luciane
gewoͤhnt, Morgens nicht aus dem Bette und
Abends nicht ins Bette gelangen zu koͤnnen.


[65]

Um dieſe Zeit finden ſich in Ottiliens
Tagebuch Ereigniſſe ſeltner angemerkt, dage¬
gen haͤufiger auf das Leben bezuͤgliche und
vom Leben abgezogene Maximen und Sen¬
tenzen. Weil aber die meiſten derſelben
wohl nicht durch ihre eigene Reflexion ent¬
ſtanden ſeyn koͤnnen; ſo iſt es wahrſcheinlich,
daß man ihr irgend einen Heft mitgetheilt,
aus dem ſie ſich was ihr gemuͤthlich war,
ausgeſchrieben. Manches eigene von innige¬
rem Bezug wird an dem rothen Faden wohl
zu erkennen ſeyn.


II. 5[66]

Aus
Ottiliens Tagebuche.

„Wir blicken ſo gern in die Zukunft, weil
wir das Ungefaͤhre was ſich in ihr hin und
her bewegt, durch ſtille Wuͤnſche ſo gern zu un¬
ſern Gunſten heranleiten moͤchten.“


„Wir befinden uns nicht leicht in großer
Geſellſchaft, ohne zu denken: der Zufall, der
ſo viele zuſammenbringt, ſolle uns auch unſre
Freunde herbeyfuͤhren.“


„Man mag noch ſo eingezogen leben, ſo
wird man ehe man ſich's verſieht, ein Schuld¬
ner oder ein Glaͤubiger.“


„Begegnet uns Jemand der uns Dank
ſchuldig iſt, gleich faͤllt es uns ein. Wie
[67] oft koͤnnen wir Jemand begegnen, dem wir
Dank ſchuldig ſind, ohne daran zu denken.“


„Sich mitzutheilen iſt Natur; Mitge¬
theiltes aufzunehmen wie es gegeben wird, iſt
Bildung.“


„Niemand wuͤrde viel in Geſellſchaften
ſprechen, wenn er ſich bewußt waͤre, wie oft
er die andern mißverſteht.“


„Man veraͤndert fremde Reden beym
Wiederhohlen wohl nur darum ſo ſehr, weil
man ſie nicht verſtanden hat.“


„Wer vor andern lange allein ſpricht,
ohne den Zuhoͤrern zu ſchmeicheln, erregt
Widerwillen.“


„Jedes ausgeſprochene Wort erregt den
Gegenſinn.“


5 *[68]

„Widerſpruch und Schmeicheley machen
beyde ein ſchlechtes Geſpraͤch.“


„Die angenehmſten Geſellſchaften ſind die,
in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glie¬
der gegen einander obwaltet.“


„Durch nichts bezeichnen die Menſchen
mehr ihren Character als durch das was ſie
laͤcherlich finden.“


„Das Laͤcherliche entſpringt aus einem
ſittlichen Contraſt, der, auf eine unſchaͤdliche
Weiſe, fuͤr die Sinne in Verbindung gebracht
wird.“


„Der ſinnliche Menſch lacht oft wo nichts
zu lachen iſt. Was ihn auch anregt, ſein in¬
neres Behagen kommt zum Vorſchein.“


„Der Verſtaͤndige findet faſt alles laͤcher¬
lich, der Vernuͤnftige faſt nichts.“


[69]

„Einem bejahrten Manne verdachte man,
daß er ſich noch um junge Frauenzimmer be¬
muͤhte. Es iſt das einzige Mittel, verſetzte er,
ſich zu verjuͤngen und das will doch Jeder¬
mann.“


„Man laͤßt ſich ſeine Maͤngel vorhalten,
man laͤßt ſich ſtrafen, man leidet manches
um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig
wird man, wenn man ſie ablegen ſoll.“


„Gewiſſe Maͤngel ſind nothwendig zum
Daſeyn des Einzelnen. Es wuͤrde uns unan¬
genehm ſeyn, wenn alte Freunde gewiſſe Ei¬
genheiten ablegten.“


„Man ſagt: er ſtirbt bald, wenn einer
etwas gegen ſeine Art und Weiſe thut.“


„Was fuͤr Maͤngel duͤrfen wir behalten,
ja an uns cultiviren? Solche die den andern
eher ſchmeicheln als ſie verletzen.“


[70]

„Die Leidenſchaften ſind Maͤngel oder
Tugenden, nur geſteigerte.“


„Unſre Leidenſchaften ſind wahre Phoͤnixe.
Wie der alte verbrennt, ſteigt der neue ſo¬
gleich wieder aus der Aſche hervor.“


„Große Leidenſchaften ſind Krankheiten
ohne Hoffnung. Was ſie heilen koͤnnte, macht
ſie erſt recht gefaͤhrlich.“


„Die Leidenſchaft erhoͤht und mildert ſich
durchs Bekennen. In nichts waͤre die Mit¬
telſtraße vielleicht wuͤnſchenswerther als im
Vertrauen und Verſchweigen gegen die die
wir lieben.“

[[71]]

Fuͤnftes Kapitel.

So peitſchte Luciane den Lebensrauſch im
geſelligen Strudel immer vor ſich her. Ihr
Hofſtaat vermehrte ſich taͤglich, theils weil
ihr Treiben ſo manchen anregte und anzog,
theils weil ſie ſich andre durch Gefaͤlligkeit und
Wohlthun zu verbinden wußte. Mittheilend
war ſie im hoͤchſten Grade: denn da ihr durch
die Neigung der Tante und des Braͤutigams
ſo viel Schoͤnes und Koͤſtliches auf einmal
zugefloſſen war; ſo ſchien ſie nichts eigenes
zu beſitzen, und den Werth der Dinge nicht
zu kennen, die ſich um ſie gehaͤuft hatten.
So zauderte ſie nicht einen Augenblick
einen koſtbaren Shawl abzunehmen und
ihn einem Frauenzimmer umzuhaͤngen, das
[72] ihr gegen die uͤbrigen zu aͤrmlich geklei¬
det ſchien, und ſie that das auf eine ſo
neckiſche, geſchickte Weiſe, daß Niemand eine
ſolche Gabe ablehnen konnte. Einer von
ihrem Hofſtaat hatte ſtets eine Boͤrſe und
den Auftrag, in den Orten wo ſie einkehrten,
ſich nach den Aelteſten und Kraͤnkſten zu erkun¬
digen, und ihren Zuſtand wenigſtens fuͤr den
Augenblick zu erleichtern. Dadurch entſtand
ihr in der ganzen Gegend ein Name von
Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬
mal unbequem ward, weil er allzuviel laͤſtige
Nothleidende an ſie heranzog.


Durch nichts aber vermehrte ſie ſo ſehr ih¬
ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬
harrliches Benehmen gegen einen ungluͤcklichen
jungen Mann, der die Geſellſchaft floh, weil
er, uͤbrigens ſchoͤn und wohlgebildet, ſeine
rechte Hand, obgleich ruͤhmlich, in der Schlacht
verloren hatte. Dieſe Verſtuͤmmlung erregte
ihm einen ſolchen Mißmuth; es war ihm ſo
[73] verdrießlich, daß jede neue Bekanntſchaft ſich
auch immer mit ſeinem Unfall bekannt machen
ſollte, daß er ſich lieber verſteckte, ſich dem
Leſen und andern Studien ergab und ein fuͤr
allemal mit der Geſellſchaft nichts wollte zu
ſchaffen haben.


Das Daſeyn dieſes jungen Mannes blieb
ihr nicht verborgen. Er mußte herbey, erſt
in kleiner Geſellſchaft, dann in groͤßerer, dann
in der groͤßten. Sie benahm ſich anmuthiger
gegen ihn als gegen irgend einen andern, be¬
ſonders wußte ſie durch zudringliche Dienſt¬
fertigkeit ihm ſeinen Verluſt werth zu machen,
indem ſie geſchaͤftig war ihn zu erſetzen.
Bey Tafel mußte er neben ihr ſeinen Platz
nehmen, ſie ſchnitt ihm vor, ſo daß er nur
die Gabel gebrauchen durfte. Nahmen Aeltere,
Vornehmere ihm ihre Nachbarſchaft weg, ſo
erſtreckte ſie ihre Aufmerkſamkeit uͤber die
ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten
mußten das erſetzen was ihm die Entfernung
[74] zu rauben drohte. Zuletzt munterte ſie ihn
auf, mit der linken Hand zu ſchreiben: er
mußte alle ſeine Verſuche an ſie richten, und
ſo ſtand ſie, entfernt oder nah, immer mit
ihm in Verhaͤltniß. Der junge Mann wußte
nicht wie ihm geworden war, und wirklich
fing er von dieſem Augenblick ein neues Le¬
ben an.


Vielleicht ſollte man denken, ein ſolches
Betragen waͤre dem Braͤutigam mißfaͤllig ge¬
weſen; allein es fand ſich das Gegentheil.
Er rechnete ihr dieſe Bemuͤhungen zu großem
Verdienſt an, und war um ſo mehr daruͤber
ganz ruhig, als er ihre faſt uͤbertriebenen
Eigenheiten kannte, wodurch ſie alles was
im mindeſten verfaͤnglich ſchien, von ſich ab¬
zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann
nach Belieben umſpringen, Jeder war in
Gefahr, von ihr einmal angeſtoßen, gezerrt
oder ſonſt geneckt zu werden; Niemand aber
durfte ſich gegen ſie ein Gleiches erlauben,
[75] Niemand ſie nach Willkuͤhr beruͤhren, Nie¬
mand auch nur im entfernteſten Sinne, eine
Freyheit die ſie ſich nahm, erwiedern; und
ſo hielt ſie die andern in den ſtrengſten Graͤn¬
zen der Sittlichkeit gegen ſich, die ſie gegen
andere jeden Augenblick zu uͤbertreten ſchien.


Ueberhaupt haͤtte man glauben koͤnnen, es
ſey bey ihr Maxime geweſen, ſich dem Lobe
und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung
gleichmaͤßig auszuſetzen. Denn wenn ſie die
Menſchen auf mancherley Weiſe fuͤr ſich zu
gewinnen ſuchte; ſo verdarb ſie es wieder mit
ihnen gewoͤhnlich durch eine boͤſe Zunge, die
Niemanden ſchonte. So wurde kein Beſuch
in der Nachbarſchaft abgelegt, nirgends ſie
und ihre Geſellſchaft in Schloͤſſern und Woh¬
nungen freundlich aufgenommen, ohne daß
ſie bey der Ruͤckkehr auf das ausgelaſſenſte
merken ließ, wie ſie alle menſchlichen Ver¬
haͤltniſſe nur von der laͤcherlichen Seite zu
nehmen geneigt ſey. Da waren drey Bruͤ¬
[76] der, welche unter lauter Complimenten, wer
zuerſt heiraten ſollte, das Alter uͤbereilt hatte;
hier eine kleine junge Frau mit einem großen
alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner
munterer Mann und eine unbehuͤlfliche Rie¬
ſinn. In dem einen Hauſe ſtolperte man
bey jedem Schritte uͤber ein Kind; das andre
wollte ihr bey der groͤßten Geſellſchaft nicht
voll erſcheinen, weil keine Kinder gegenwaͤrtig
waren. Alte Gatten ſollten ſich nur ſchnell
begraben laſſen, damit doch wieder einmal
Jemand im Hauſe zum Lachen kaͤme, da ih¬
nen keine Notherben gegeben waren. Junge
Eheleute ſollten reiſen, weil das Haushalten
ſie gar nicht kleide. Und wie mit den Per¬
ſonen, ſo machte ſie es auch mit den Sachen,
mit den Gebaͤuden, wie mit dem Haus- und
Tiſchgeraͤthe. Beſonders alle Wandverzierun¬
gen reizten ſie zu luſtigen Bemerkungen. Von
dem aͤlteſten Hautelißteppich bis zu der neu¬
ſten Papiertapete, vom ehrwuͤrdigſten Fami¬
lienbilde bis zum frivolſten neuen Kupferſtich,
[77] eins wie das andre mußte leiden, eins wie
das andre wurde durch ihre ſpoͤttiſchen Be¬
merkungen gleichſam aufgezehrt, ſo daß man
ſich haͤtte verwundern ſollen, wie fuͤnf Meilen
umher irgend etwas nur noch exiſtirte.


Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in
dieſem verneinenden Beſtreben; ein ſelbſtiſcher
Muthwille mochte ſie gewoͤhnlich anreizen:
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte ſich in
ihrem Verhaͤltniß zu Ottilien erzeugt. Auf
die ruhige ununterbrochene Thaͤtigkeit des
lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt
und geprieſen wurde, ſah ſie mit Verachtung
herab, und als zur Sprache kam, wie ſehr
ſich Ottilie der Gaͤrten und der Treibhaͤuſer
annehme, ſpottete ſie nicht allein daruͤber,
indem ſie, uneingedenk des tiefen Winters in
dem man lebte, ſich zu verwundern ſchien,
daß man weder Blumen noch Fruͤchte gewahr
werde; ſondern ſie ließ auch von nun an ſo
viel Gruͤnes, ſo viel Zweige und was nur
[78] irgend keimte, herbeyhohlen und zur taͤglichen
Zierde der Zimmer und des Tiſches verſchwen¬
den, daß Ottilie und der Gaͤrtner nicht wenig
gekraͤnkt waren, ihre Hoffnungen fuͤr das
naͤchſte Jahr und vielleicht auf laͤngere Zeit
zerſtoͤrt zu ſehen.


Eben ſo wenig goͤnnte ſie Ottilien die
Ruhe des haͤuslichen Ganges, worin ſie ſich
mit Bequemlichkeit fortbewegte. Ottilie ſollte
mit auf die Luſt- und Schlittenfahrten; ſie
ſollte mit auf die Baͤlle die in der Nachbar¬
ſchaft veranſtaltet wurden; ſie ſollte weder
Schnee noch Kaͤlte noch gewaltſame Nacht¬
ſtuͤrme ſcheuen, da ja ſoviel andre nicht davon
ſtuͤrben. Das zarte Kind litt nicht wenig
darunter, aber Luciane gewann nichts dabey:
denn obgleich Ottilie ſehr einfach gekleidet
ging, ſo war ſie doch, oder ſo ſchien ſie we¬
nigſtens immer den Maͤnnern die ſchoͤnſte. Ein
ſanftes Anziehen verſammelte alle Maͤnner
um ſie her, ſie mochte ſich in den großen
[79] Raͤumen am erſten oder am letzten Platze
befinden, ja der Braͤutigam Lucianens ſelbſt
unterhielt ſich oft mit ihr, und zwar um ſo
mehr, als er in einer Angelegenheit die ihn
beſchaͤftigte, ihren Rath, ihre Mitwirkung
verlangte.


Er hatte den Architecten naͤher kennen
lernen, bey Gelegenheit ſeiner Kunſtſammlung
viel uͤber das Geſchichtliche mit ihm geſpro¬
chen, in andern Faͤllen auch, beſonders bey
Betrachtung der Capelle, ſein Talent ſchaͤtzen
gelernt. Der Baron war jung, reich; er
ſammelte, er wollte bauen; ſeine Liebhaberey
war lebhaft, ſeine Kenntniſſe ſchwach; er
glaubte in dem Architecten ſeinen Mann zu
finden, mit dem er mehr als einen Zweck
zugleich erreichen koͤnnte. Er hatte ſeiner
Braut von dieſer Abſicht geſprochen; ſie lobte
ihn darum und war hoͤchlich mit dem Vor¬
ſchlag zufrieden, doch vielleicht mehr, um die¬
ſen jungen Mann Ottilien zu entziehen —
[80] denn ſie glaubte ſo etwas von Neigung bey
ihm zu bemerken — als daß ſie gedacht haͤtte,
ſein Talent zu ihren Abſichten zu benutzen.
Denn ob er gleich bey ihren extemporirten
Feſten ſich ſehr thaͤtig erwieſen und manche
Reſourcen bey dieſer und jener Anſtalt dar¬
geboten, ſo glaubte ſie es doch immer ſelbſt
beſſer zu verſtehen; und da ihre Erfindungen
gewoͤhnlich gemein waren, ſo reichte, um ſie
auszufuͤhren, die Geſchicklichkeit eines gewand¬
ten Kammerdieners eben ſo gut hin, als die
des vorzuͤglichſten Kuͤnſtlers. Weiter als zu
einem Altar, worauf geopfert ward, und zu
einer Bekraͤnzung, es mochte nun ein gypfer¬
nes oder ein lebendes Haupt ſeyn, konnte
ihre Einbildungskraft ſich nicht verſteigen,
wenn ſie irgend Jemand zum Geburts- und
Ehrentage ein feſtliches Compliment zu machen
gedachte.


Ottilie konnte dem Braͤutigam, der ſich nach
dem Verhaͤltniß des Architecten zum Hauſe
[81] erkundigte, die beſte Auskunft geben. Sie
wußte daß Charlotte ſich ſchon fruͤher nach
einer Stelle fuͤr ihn umgethan hatte: denn
waͤre die Geſellſchaft nicht gekommen, ſo haͤtte
ſich der junge Mann gleich nach Vollendung
der Capelle entfernt, weil alle Bauten den
Winter uͤber ſtillſtehn ſollten und mußten;
und es war daher ſehr erwuͤnſcht, wenn der
geſchickte Kuͤnſtler durch einen neuen Goͤnner
wieder genutzt und befoͤrdert wurde.


Das perſoͤnliche Verhaͤltniß Ottiliens zum
Architecten war ganz rein und unbefangen.
Seine angenehme und thaͤtige Gegenwart hatte
ſie, wie die Naͤhe eines aͤltern Bruders, unter¬
halten und erfreut. Ihre Empfindungen fuͤr
ihn blieben auf der ruhigen leidenſchaftsloſen
Oberflaͤche der Blutsverwandtſchaft: denn in
ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war
von der Liebe zu Eduard ganz gedraͤngt aus¬
gefuͤllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬
II. 6[82] dringt, konnte dieſes Herz zugleich mit ihm
beſitzen.


Indeſſen je tiefer der Winter ſich ſenkte,
je wilderes Wetter, je unzugaͤnglicher die
Wege, deſto anziehender ſchien es, in ſo guter
Geſellſchaft die abnehmenden Tage zuzubrin¬
gen. Nach kurzen Ebben uͤberflutete die
Menge von Zeit zu Zeit das Haus. Offiziere
von entfernteren Garniſonen, die gebildeten
zu ihrem großen Vortheil, die roheren zur
Unbequemlichkeit der Geſellſchaft, zogen ſich
herbey; am Civilſtande fehlte es auch nicht,
und ganz unerwartet kamen eines Tages der
Graf und die Baroneſſe zuſammen ange¬
fahren.


Ihre Gegenwart ſchien erſt einen wahren
Hof zu bilden. Die Maͤnner von Stand
und Sitten umgaben den Grafen, und die
Frauen ließen der Baroneſſe Gerechtigkeit wi¬
derfahren. Man verwunderte ſich nicht lange,
[83] ſie beyde zuſammen und ſo heiter zu ſehen:
denn man vernahm, des Grafen Gemahlinn
ſey geſtorben, und eine neue Verbindung werde
geſchloſſen ſeyn ſobald es die Schicklichkeit
nur erlaube. Ottilie erinnerte ſich jenes er¬
ſten Beſuchs, jedes Worts was uͤber Ehe¬
ſtand und Scheidung, uͤber Verbindung und
Trennung, uͤber Hoffnung, Erwartung, Ent¬
behren und Entſagen geſprochen ward. Beyde
Perſonen, damals noch ganz ohne Ausſichten,
ſtanden nun vor ihr, dem gehofften Gluͤck ſo
nahe, und ein unwillkuͤhrlicher Seufzer drang
aus ihrem Herzen.


Luciane hoͤrte kaum, daß der Graf ein
Liebhaber von Muſik ſey, ſo wußte ſie ein
Conzert zu veranſtalten; ſie wollte ſich dabey
mit Geſang zur Guitarre hoͤren laſſen. Es
geſchah. Das Inſtrument ſpielte ſie nicht un¬
geſchickt, ihre Stimme war angenehm; was
aber die Worte betraf, ſo verſtand man ſie
ſo wenig als wenn ſonſt eine deutſche Schoͤne
6 *[84] zur Guitarre ſingt. Indeß verſicherte Jeder¬
mann, ſie habe mit viel Ausdruck geſungen,
und ſie konnte mit dem lauten Beyfall zu¬
frieden ſeyn. Nur ein wunderliches Ungluͤck
begegnete bey dieſer Gelegenheit. In der Ge¬
ſellſchaft befand ſich ein Dichter, den ſie auch
beſonders zu verbinden hoffte, weil ſie einige
Lieder von ihm an ſie gerichtet wuͤnſchte, und
deshalb dieſen Abend meiſt nur von ſeinen
Liedern vortrug. Er war uͤberhaupt, wie alle,
hoͤflich gegen ſie, aber ſie hatte mehr erwar¬
tet. Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte
aber weiter nichts von ihm vernehmen, bis
ſie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute
an ihn ſchickte und ſondiren ließ, ob er denn
nicht entzuͤckt geweſen ſey, ſeine vortrefflichen
Gedichte ſo vortrefflich vortragen zu hoͤren.
Meine Gedichte? verſetzte dieſer mit Erſtau¬
nen. Verzeihen Sie, mein Herr, fuͤgte er
hinzu: ich habe nichts als Vocale gehoͤrt und
die nicht einmal alle. Unterdeſſen iſt es mei¬
ne Schuldigkeit mich fuͤr eine ſo liebenswuͤr¬
[85] dige Intention dankbar zu erweiſen. Der
Hofmann ſchwieg und verſchwieg. Der andre
ſuchte ſich durch einige wohltoͤnende Compli¬
mente aus der Sache zu ziehen. Sie ließ
ihre Abſicht nicht undeutlich merken, auch et¬
was eigens fuͤr ſie gedichtetes zu beſitzen.
Wenn es nicht allzu unfreundlich geweſen
waͤre, ſo haͤtte er ihr das Alphabet uͤberrei¬
chen koͤnnen, um ſich daraus ein beliebiges
Lobgedicht zu irgend einer vorkommenden Me¬
lodie ſelbſt einzubilden. Doch ſollte ſie nicht
ohne Kraͤnkung aus dieſer Begebenheit ſchei¬
den. Kurze Zeit darauf erfuhr ſie: er habe
noch ſelbigen Abend einer von Ottiliens Lieb¬
lingsmelodieen ein allerliebſtes Gedicht unter¬
gelegt, das noch mehr als verbindlich ſey.


Luciane, wie alle Menſchen ihrer Art,
die immer durcheinander miſchen was ihnen
vortheilhaft und was ihnen nachtheilig iſt,
wollte nun ihr Gluͤck im Recitiren verſuchen.
Ihr Gedaͤchtniß war gut, aber wenn man
[86] aufrichtig reden ſollte, ihr Vortrag geiſtlos
und heftig ohne leidenſchaftlich zu ſeyn. Sie
recitirte Balladen, Erzaͤhlungen und was
ſonſt in Declamatorien vorzukommen pflegt.
Dabey hatte ſie die ungluͤckliche Gewohnheit
angenommen, das was ſie vortrug mit Geſten
zu begleiten, wodurch man das was eigent¬
lich epiſch und lyriſch iſt, auf eine unange¬
nehme Weiſe mit dem Dramatiſchen mehr ver¬
wirrt als verbindet.


Der Graf, ein einſichtsvoller Mann, der
gar bald die Geſellſchaft, ihre Neigungen,
Leidenſchaften und Unterhaltungen uͤberſah,
brachte Lucianen, gluͤcklicher oder ungluͤcklicher
Weiſe, auf eine neue Art von Darſtellung,
die ihrer Perſoͤnlichkeit ſehr gemaͤß war. Ich
finde, ſagte er, hier ſo manche wohlgeſtaltete
Perſonen, denen es gewiß nicht fehlt, male¬
riſche Bewegungen und Stellungen nachzuah¬
men. Sollten ſie es noch nicht verſucht ha¬
ben, wirkliche bekannte Gemaͤlde vorzuſtellen?
[87] Eine ſolche Nachbildung, wenn ſie auch man¬
che muͤhſame Anordnung erfordert, bringt
dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor.


Schnell ward Luciane gewahr, daß ſie
hier ganz in ihrem Fach ſeyn wuͤrde. Ihr
ſchoͤner Wuchs, ihre volle Geſtalt, ihr regel¬
maͤßiges und doch bedeutendes Geſicht, ihre
lichtbraunen Haarflechten, ihr ſchlanker Hals,
alles war ſchon wie aufs Gemaͤlde berechnet;
und haͤtte ſie nun gar gewußt, daß ſie ſchoͤner
ausſah wenn ſie ſtill ſtand als wenn ſie ſich
bewegte, indem ihr im letzten Falle manch¬
mal etwas ſtoͤrendes Ungrazioͤſes entſchluͤpfte,
ſo haͤtte ſie ſich mit noch mehrerem Eifer die¬
ſer natuͤrlichen Bildnerey ergeben.


Man ſuchte nun Kupferſtiche nach be¬
ruͤhmten Gemaͤlden; man waͤhlte zuerſt den
Beliſar nach van Dyk. Ein großer und wohlge¬
bauter Mann von gewiſſen Jahren ſollte den
ſitzenden blinden General, der Architect den
[88] vor ihm theilnehmend traurig ſtehenden Krie¬
ger nachbilden, dem er wirklich etwas aͤhnlich
ſah. Luciane hatte ſich, halb beſcheiden, das
junge Weibchen im Hintergrunde gewaͤhlt,
das reichliche Almoſen aus einem Beutel in
die flache Hand zaͤhlt, indeß eine Alte ſie ab¬
zumahnen und ihr vorzuſtellen ſcheint, daß
ſie zu viel thue. Eine andre ihm wirklich
Almoſen reichende Frauensperſon war nicht
vergeſſen.


Mit dieſen und andern Bildern beſchaͤf¬
tigte man ſich ſehr ernſtlich. Der Graf gab
dem Architecten uͤber die Art der Einrichtung
einige Winke, der ſogleich ein Theater dazu
aufſtellte und wegen der Beleuchtung die noͤ¬
thige Sorge trug. Man war ſchon tief in
die Anſtalten verwickelt, als man erſt bemerkte,
daß ein ſolches Unternehmen einen anſehn¬
lichen Aufwand verlangte, und daß auf dem
Lande mitten im Winter gar manches Erfor¬
derniß abging. Deshalb ließ, damit ja nichts
[89] ſtocken moͤge, Luciane beynah ihre ſaͤmmtliche
Garderobe zerſchneiden, um die verſchiedenen
Coſtuͤme zu liefern, die jene Kuͤnſtler will¬
kuͤhrlich genug angegeben hatten.


Der Abend kam herbey und die Darſtel¬
lung wurde vor einer großen Geſellſchaft und
zu allgemeinem Beyfall ausgefuͤhrt. Eine
bedeutende Muſik ſpannte die Erwartung.
Jener Beliſar eroͤffnete die Buͤhne. Die
Geſtalten waren ſo paſſend, die Farben ſo
gluͤcklich ausgetheilt, die Beleuchtung ſo kunſt¬
reich, daß man fuͤrwahr in einer andern
Welt zu ſeyn glaubte; nur daß die Gegen¬
wart des Wirklichen ſtatt des Scheins eine
Art [von] aͤngſtlicher Empfindung hervorbrachte.


Der Vorhang fiel, und ward auf Ver¬
langen mehr als einmal wieder aufgezogen.
Ein muſikaliſches Zwiſchenſpiel unterhielt die
Geſellſchaft, die man durch ein Bild hoͤherer
Art uͤberraſchen wollte. Es war die bekannte
[90] Vorſtellung von Pouſſin: Ahasverus und
Eſther. Dießmal hatte ſich Luciane beſſer
bedacht. Sie entwickelte in der ohnmaͤchtig
hingeſunkenen Koͤniginn alle ihre Reize, und
hatte ſich kluger Weiſe zu den umgebenden
unterſtuͤtzenden Maͤdchen lauter huͤbſche wohl¬
gebildete Figuren ausgeſucht, worunter ſich
jedoch keine mit ihr auch nur im mindeſten
meſſen konnte. Ottilie blieb von dieſem Bilde
wie von den uͤbrigen ausgeſchloſſen. Auf
den goldnen Thron hatten ſie, um den Zevs
gleichen Koͤnig vorzuſtellen, den ruͤſtigſten und
ſchoͤnſten Mann der Geſellſchaft gewaͤhlt, ſo
daß dieſes Bild wirklich eine unvergleichliche
Vollkommenheit gewann.


Als drittes hatte man die ſogenannte vaͤ¬
terliche Ermahnung von Terburg gewaͤhlt,
und wer kennt nicht den herrlichen Kupfer¬
ſtich unſeres Wille von dieſem Gemaͤlde. Ei¬
nen Fuß uͤber den andern geſchlagen, ſitzt ein
edler ritterlicher Vater und ſcheint ſeiner vor
[91] ihm ſtehenden Tochter ins Gewiſſen zu reden.
Dieſe, eine herrliche Geſtalt, im faltenreichen
weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬
ten geſehen, aber ihr ganzes Weſen ſcheint
anzudeuten, daß ſie ſich zuſammennimmt.
Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und
beſchaͤmend ſey, ſieht man aus der Miene
und Gebaͤrde des Vaters; und was die Mut¬
ter betrifft, ſo ſcheint dieſe eine kleine Verle¬
genheit zu verbergen, indem ſie in ein Glas
Wein blickt, das ſie eben auszuſchluͤrfen im
Begriff iſt.


Bey dieſer Gelegenheit nun ſollte Luciane
in ihrem hoͤchſten Glanze erſcheinen. Ihre
Zoͤpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und
Nacken, waren uͤber alle Begriffe ſchoͤn, und
die Taille, von der bey den modernen antiki¬
ſirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬
nig ſichtbar wird, hoͤchſt zierlich, ſchlank und
leicht zeigte ſich an ihr in dem aͤlteren Coſtuͤm
aͤußerſt vortheilhaft; und der Architect hatte
[92] geſorgt, die reichen Falten des weißen Atlaſ¬
ſes mit der kuͤnſtlichſten Natur zu legen, ſo
daß ganz ohne Frage dieſe lebendige Nachbil¬
dung weit uͤber jenes Originalbildniß hinaus¬
reichte und ein allgemeines Entzuͤcken erregte.
Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht
endigen, und der ganz natuͤrliche Wunſch,
einem ſo ſchoͤnen Weſen, das man genugſam
von der Ruͤckſeite geſehen, auch ins Angeſicht
zu ſchauen, nahm dergeſtalt uͤberhand, daß
ein luſtiger ungeduldiger Vogel die Worte,
die man manchmal an das Ende einer Seite
zu ſchreiben pflegt: tournez s'il vous plait
laut ausrief und eine allgemeine Beyſtimmung
erregte. Die Darſtellenden aber kannten
ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn
dieſer Kunſtſtuͤcke zu wohl gefaßt, als daß
ſie dem allgemeinen Ruf haͤtten nachgeben
ſollen. Die beſchaͤmt ſcheinende Tochter blieb
ruhig ſtehen, ohne den Zuſchauern den Aus¬
druck ihres Angeſichts zu goͤnnen; der Vater
blieb in ſeiner ermahnenden Stellung ſitzen,
[93] und die Mutter brachte Naſe und Augen
nicht aus dem durchſichtigen Glaſe, worin
ſich, ob ſie gleich zu trinken ſchien, der Wein
nicht verminderte. — Was ſollen wir noch viel
von kleinen Nachſtuͤcken ſagen, wozu man
niederlaͤndiſche Wirthshaus- und Jahrmarkts¬
ſcenen gewaͤhlt hatte.


Der Graf und die Baroneſſe reiſten ab
und verſprachen in den erſten gluͤcklichen Wo¬
chen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren,
und Charlotte hoffte nunmehr, nach zwey
muͤhſam uͤberſtandenen Monaten, die uͤbrige
Geſellſchaft gleichfalls los zu werden. Sie
war des Gluͤcks ihrer Tochter gewiß, wenn
bey dieſer der erſte Braut- und Jugendtaumel
ſich wuͤrde gelegt haben: denn der Braͤutigam
hielt ſich fuͤr den gluͤcklichſten Menſchen von
der Welt. Bey großem Vermoͤgen und ge¬
maͤßigter Sinnesart ſchien er auf eine wun¬
derbare Weiſe von dem Vorzuge geſchmeichelt,
ein Frauenzimmer zu beſitzen, das der ganzen
[94] Welt gefallen mußte. Er hatte einen ſo ganz
eigenen Sinn, alles auf ſie und erſt durch ſie
auf ſich zu beziehen, daß es ihm eine unan¬
genehme Empfindung machte, wenn ſich nicht
gleich ein Neuankommender mit aller Auf¬
merkſamkeit auf ſie richtete, und mit ihm,
wie es wegen ſeiner guten Eigenſchaften be¬
ſonders von aͤlteren Perſonen oft geſchah, eine
naͤhere Verbindung ſuchte ohne ſich ſonderlich
um ſie zu bekuͤmmern. Wegen des Architec¬
ten kam es bald zur Richtigkeit. Aufs Neu¬
jahr ſollte ihm dieſer folgen und das Carne¬
val mit ihm in der Stadt zubringen, wo
Luciane ſich von der Wiederholung der ſo
ſchoͤn eingerichteten Gemaͤlde, ſo wie von
hundert andern Dingen, die groͤßte Gluͤckſe¬
ligkeit verſprach, um ſo mehr als Tante und
Braͤutigam jeden Aufwand fuͤr gering zu ach¬
ten ſchienen, der zu ihrem Vergnuͤgen erfor¬
dert wurde.


Nun ſollte man ſcheiden, aber das konnte
nicht auf eine gewoͤhnliche Weiſe geſchehen.
[95] Man ſcherzte einmal ziemlich laut, daß Char¬
lottens Wintervorraͤthe nun bald aufgezehrt
ſeyen, als der Ehrenmann, der den Beliſar
vorgeſtellt hatte, und freylich reich genug war,
von Lucianens Vorzuͤgen hingeriſſen, denen
er nun ſchon ſo lange huldigte, unbedachtſam
ausrief: ſo laſſen Sie es uns auf polniſche
Art halten! Kommen Sie nun und zehren
mich auch auf, und ſo gehet es dann weiter
in der Runde herum. Geſagt, gethan: Lu¬
ciane ſchlug ein. Den andern Tag war ge¬
packt und der Schwarm warf ſich auf ein
anderes Beſitzthum. Dort hatte man auch
Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit
und Einrichtung. Daraus entſtand manches
Unſchickliche, das erſt Lucianen recht gluͤcklich
machte. Das Leben wurde immer wuͤſter
und wilder. Treibjagen im tiefſten Schnee,
und was man ſonſt nur unbequemes auffinden
konnte, wurde veranſtaltet. Frauen ſo we¬
nig als Maͤnner durften ſich ausſchließen,
und ſo zog man, jagend und reitend, ſchlit¬
[96] tenfahrend und lermend, von einem Gute
zum andern, bis man ſich endlich der Reſi¬
denz naͤherte; da denn die Nachrichten und
Erzaͤhlungen, wie man ſich bey Hofe und in
der Stadt vergnuͤge, der Einbildungskraft ei¬
ne andre Wendung gaben, und Lucianen mit
ihrer ſaͤmmtlichen Begleitung, indem die Tante
ſchon vorausgegangen war, unaufhaltſam in
einen andern Lebenskreis hineinzogen.


[97]

Aus
Ottiliens Tagebuche
.

„Man nimmt in der Welt Jeden wofuͤr
er ſich giebt; aber er muß ſich auch fuͤr et¬
was geben. Man ertraͤgt die Unbequemen
lieber als man die Unbedeutenden duldet.“


„Man kann der Geſellſchaft alles auf¬
dringen, nur nicht was eine Folge hat.“


„Wir lernen die Menſchen nicht kennen,
wenn ſie zu uns kommen; wir muͤſſen zu ih¬
nen gehen, um zu erfahren wie es mit ihnen
ſteht.“


„Ich finde es beynahe natuͤrlich, daß wir
an Beſuchenden mancherley auszuſetzen haben,
II. 7[98] daß wir ſogleich wenn ſie weg ſind, uͤber ſie
nicht zum liebevollſten urtheilen: denn wir
haben ſo zu ſagen ein Recht, ſie nach un¬
ſerm Maaßſtabe zu meſſen. Selbſt verſtaͤn¬
dige und billige Menſchen enthalten ſich in
ſolchen Faͤllen kaum einer ſcharfen Cenſur.“


„Wenn man dagegen bey andern geweſen
iſt und hat ſie mit ihren Umgebungen, Ge¬
wohnheiten, in ihren nothwendigen unaus¬
weichlichen Zuſtaͤnden geſehen, wie ſie um ſich
wirken, oder wie ſie ſich fuͤgen; ſo gehoͤrt
ſchon Unverſtand und boͤſer Wille dazu, um
das laͤcherlich zu finden, was uns in mehr
als einem Sinne ehrwuͤrdig ſcheinen muͤßte.“


„Durch das was wir Betragen und gute
Sitten nennen, ſoll das erreicht werden, was
außerdem nur durch Gewalt, oder auch nicht
einmal durch Gewalt zu erreichen iſt.“


„Der Umgang mit Frauen iſt das Ele¬
ment guter Sitten.“


[99]

„Wie kann der Character, die Eigenthuͤm¬
lichkeit des Menſchen, mit der Lebensart be¬
ſtehen?


„Das Eigenthuͤmliche muͤßte durch die
Lebensart erſt recht hervorgehoben werden.
Das Bedeutende will Jedermann, nur ſoll es
nicht unbequem ſeyn.“


„Die groͤßten Vortheile im Leben uͤber¬
haupt wie in der Geſellſchaft hat ein gebil¬
deter Soldat.“


„Rohe Kriegsleute gehen wenigſtens nicht
aus ihrem Character, und weil doch meiſt
hinter der Staͤrke eine Gutmuͤthigkeit verbor¬
gen liegt, ſo iſt im Nothfall auch mit ihnen
auszukommen.“


„Niemand iſt laͤſtiger als ein taͤppiſcher
Menſch vom Civilſtande. Von ihm koͤnnte
7 *[100] man die Feinheit fordern, da er ſich mit
nichts Rohem zu beſchaͤftigen hat.“


„Wenn wir mit Menſchen leben, die
ein zartes Gefuͤhl fuͤr das Schickliche haben,
ſo wird es uns Angſt um ihretwillen, wenn
etwas Ungeſchicktes begegnet. So fuͤhle ich
immer fuͤr und mit Charlotten, wenn Jemand
mit dem Stuhle ſchaukelt, weil ſie das in
den Tod nicht leiden kann.“


„Es kaͤme Niemand mit der Brille auf
der Naſe in ein vertrauliches Gemach, wenn
er wuͤßte, daß uns Frauen ſogleich die Luſt
vergeht ihn anzuſehen und uns mit ihm zu
unterhalten.“


„Zutraulichkeit an der Stelle der Ehr¬
furcht iſt immer laͤcherlich. Es wuͤrde Nie¬
mand den Hut ablegen, nachdem er kaum
das Compliment gemacht hat, wenn er wuͤßte,
wie comiſch das ausſieht.“


[101]

„Es giebt kein aͤußeres Zeichen der Hoͤf¬
lichkeit das nicht einen tiefen ſittlichen Grund
haͤtte. Die rechte Erziehung waͤre, welche
dieſes Zeichen und den Grund zugleich uͤber¬
lieferte.“


„Das Betragen iſt ein Spiegel, in wel¬
chem jeder ſein Bild zeigt.“


„Es giebt eine Hoͤflichkeit des Herzens;
ſie iſt der Liebe verwandt. Aus ihr ent¬
ſpringt die bequemſte Hoͤflichkeit des aͤußern
Betragens.“


„Freywillige Abhaͤngigkeit iſt der ſchoͤnſte
Zuſtand und wie waͤre der moͤglich ohne
Liebe.“


„Wir ſind nie entfernter von unſern Wuͤn¬
ſchen, als wenn wir uns einbilden das Ge¬
wuͤnſchte zu beſitzen.“


[102]

„Niemand iſt mehr Sklave als der ſich
fuͤr frey haͤlt ohne es zu ſeyn.“


„Es darf ſich einer nur fuͤr frey erklaͤren,
ſo fuͤhlt er ſich den Augenblick als bedingt.
Wagt er es ſich fuͤr bedingt zu erklaͤren, ſo
fuͤhlt er ſich frey.“


„Gegen große Vorzuͤge eines Andern giebt
es kein Rettungsmittel als die Liebe.“


„Es iſt was ſchreckliches um einen vor¬
zuͤglichen Mann, auf den ſich die Dummen
was zu Gute thun.“


„Es giebt, ſagt man, fuͤr den Kammer¬
diener keinen Helden. Das kommt aber blos
daher, weil der Held nur vom Helden aner¬
kannt werden kann. Der Kammerdiener wird
aber wahrſcheinlich ſeines Gleichen zu ſchaͤtzen
wiſſen.“


[103]

„Es giebt keinen groͤßern Troſt fuͤr die
Mittelmaͤßigkeit als daß das Genie nicht un¬
ſterblich ſey.“


„Die groͤßten Menſchen haͤngen immer
mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwach¬
heit zuſammen.“


„Man haͤlt die Menſchen gewoͤhnlich fuͤr
gefaͤhrlicher als ſie ſind.“


„Thoren und geſcheide Leute ſind gleich
unſchaͤdlich. Nur die Halbnarren und Halb¬
weiſen, das ſind die gefaͤhrlichſten.“


„Man weicht der Welt nicht ſicherer aus
als durch die Kunſt, und man verknuͤpft ſich
nicht ſicherer mit ihr als durch die Kunſt.“


„Selbſt im Augenblick des hoͤchſten Gluͤcks
und der hoͤchſten Noth beduͤrfen wir des
Kuͤnſtlers.“


[104]

„Die Kunſt beſchaͤftigt ſich mit dem
Schweren und Guten.“


„Das Schwierige leicht behandelt zu ſe¬
hen giebt uns das Anſchauen des Unmoͤg¬
lichen.“


„Die Schwierigkeiten wachſen je naͤher
man dem Ziele kommt.“


„Saͤen iſt nicht ſo beſchwerlich als aͤrn¬
ten.“

[[105]]

Sechſtes Kapitel.

Die große Unruhe welche Charlotten durch
dieſen Beſuch erwuchs, ward ihr dadurch
verguͤtet, daß ſie ihre Tochter voͤllig begreifen
lernte, worin ihr die Bekanntſchaft mit der
Welt ſehr zu Huͤlfe kam. Es war nicht zum
erſtenmal, daß ihr ein ſo ſeltſamer Character
begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf
dieſer Hoͤhe erſchien. Und doch hatte ſie aus
der Erfahrung, daß ſolche Perſonen durchs
Leben, durch mancherley Ereigniſſe, durch aͤl¬
terliche Verhaͤltniſſe gebildet eine ſehr ange¬
nehme und liebenswuͤrdige Reife erlangen
koͤnnen, indem die Selbſtigkeit gemildert wird
und die ſchwaͤrmende Thaͤtigkeit eine entſchie¬
dene Richtung erhaͤlt. Charlotte ließ als
[106] Mutter ſich um deſto eher eine fuͤr andere viel¬
leicht unangenehme Erſcheinung gefallen, als
es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo
Fremde nur zu genießen wuͤnſchen, oder we¬
nigſtens nicht belaͤſtigt ſeyn wollen.


Auf eine eigne und unerwartete Weiſe
jedoch ſollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬
reiſe getroffen werden, indem dieſe nicht ſowohl
durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen,
als durch das was man daran lobenswuͤrdig
haͤtte finden koͤnnen, eine uͤble Nachrede hin¬
ter ſich gelaſſen hatte. Luciane ſchien ſich's
zum Geſetz gemacht zu haben, nicht allein
mit den Froͤhlichen froͤhlich, ſondern auch mit
den Traurigen traurig zu ſeyn, und um den
Geiſt des Widerſpruchs recht zu uͤben, manch¬
mal die Froͤhlichen verdrießlich und die Trau¬
rigen heiter zu machen. In allen Familien
wo ſie hinkam, erkundigte ſie ſich nach den Kran¬
ken und Schwachen, die nicht in Geſellſchaft
erſcheinen konnten. Sie beſuchte ſie auf ihren
[107] Zimmern, machte den Arzt und drang einem
Jeden aus ihrer Reiſeapotheke, die ſie beſtaͤn¬
dig im Wagen mit ſich fuͤhrte, energiſche
Mittel auf; da denn eine ſolche Kur, wie
ſich vermuthen laͤßt, gelang oder mislang,
wie es der Zufall herbeyfuͤhrte.


In dieſer Art von Wohlthaͤtigkeit war
ſie ganz grauſam und ließ ſich gar nicht ein¬
reden, weil ſie feſt uͤberzeugt war, daß ſie
vortrefflich handle. Allein es mißrieth ihr
auch ein Verſuch von der ſittlichen Seite,
und dieſer war es, der Charlotten viel zu
ſchaffen machte, weil er Folgen hatte, und
Jedermann daruͤber ſprach. Erſt nach Lucia¬
nens Abreiſe hoͤrte ſie davon; Ottilie, die
gerade jene Partie mitgemacht hatte, mußte
ihr umſtaͤndlich davon Rechenſchaft geben.


Eine der Toͤchter eines angeſehnen Hauſes
hatte das Ungluͤck gehabt, an dem Tode ei¬
nes ihrer juͤngeren Geſchwiſter ſchuld zu ſeyn.
[108] und ſich daruͤber nicht beruhigen noch wieder
finden koͤnnen. Sie lebte auf ihrem Zimmer
beſchaͤftigt und ſtill, und ertrug ſelbſt den
Anblick der Ihrigen nur wenn ſie einzeln ka¬
men: denn ſie argwohnte ſogleich, wenn meh¬
rere beyſammen waren, daß man untereinan¬
der uͤber ſie und ihren Zuſtand reflectire.
Gegen Jedes allein aͤußerte ſie ſich vernuͤnftig
und unterhielt ſich ſtundenlang mit ihm.


Luciane hatte davon gehoͤrt und ſich ſo¬
gleich im Stillen vorgenommen, wenn ſie in
das Haus kaͤme, gleichſam ein Wunder zu
thun und das Frauenzimmer der Geſellſchaft
wiederzugeben. Sie betrug ſich dabey vor¬
ſichtiger als ſonſt, wußte ſich allein bey der
Seelenkranken einzufuͤhren, und ſoviel man
merken konnte, durch Muſik ihr Vertrauen
zu gewinnen. Nur zuletzt verſah ſie es:
denn eben weil ſie Aufſehn erregen wollte, ſo
brachte ſie das ſchoͤne blaſſe Kind, das ſie
genug vorbereitet waͤhnte, eines Abends ploͤtz¬
[109] lich in die bunte glaͤnzende Geſellſchaft; und
vielleicht waͤre auch das noch gelungen, wenn
nicht die Societaͤt ſelbſt, aus Neugierde
und Apprehenſion, ſich ungeſchickt benommen,
ſich um die Kranke verſammelt, ſie wieder
gemieden, ſie durch Fluͤſtern, Koͤpfe zuſam¬
menſtecken irre gemacht und aufgeregt haͤtte.
Die zart Empfindende ertrug das nicht. Sie
entwich unter fuͤrchterlichem Schreyen, das
gleichſam ein Entſetzen vor einem eindrin¬
genden Ungeheuren auszudruͤcken ſchien. Er¬
ſchreckt fuhr die Geſellſchaft nach allen Seiten
auseinander, und Ottilie war unter denen,
welche die voͤllig Ohnmaͤchtige wieder auf ihr
Zimmer begleiteten.


Indeſſen hatte Luciane eine ſtarke Straf¬
rede nach ihrer Weiſe an die Geſellſchaft gehal¬
ten, ohne im mindeſten daran zu denken,
daß ſie allein alle Schuld habe, und ohne
ſich durch dieſes und andres Mißlingen von
ihrem Thun und Treiben abhalten zu laſſen.


[110]

Der Zuſtand dek Kranken war ſeit jener
Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte
ſich ſo geſteigert, daß die Aeltern das arme
Kind nicht im Hauſe behalten konnten, ſon¬
dern einer oͤffentlichen Anſtalt uͤberantworten
mußten. Charlotten blieb nichts uͤbrig als
durch ein beſonder zartes Benehmen gegen
jene Familie den von ihrer Tochter verurſach¬
ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf
Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck
gemacht; ſie bedauerte das arme Maͤdchen
um ſo mehr als ſie uͤberzeugt war, wie ſie
auch gegen Charlotten nicht laͤugnete, daß
bey einer conſequenten Behandlung die Kranke
gewiß herzuſtellen geweſen waͤre.


So kam auch, weil man ſich gewoͤhnlich
vom vergangenen Unangenehmen mehr als
vom Angenehmen unterhaͤlt, ein kleines Mi߬
verſtaͤndniß zur Sprache, das Ottilien an
dem Architecten irre gemacht hatte, als er
jenen Abend ſeine Sammlung nicht vorzeigen
[111] wollte, ob ſie ihn gleich ſo freundlich darum
erſuchte. Es war ihr dieſes abſchlaͤgige Be¬
tragen immer in der Seele geblieben und ſie
wußte ſelbſt nicht warum. Ihre Empfindun¬
gen waren ſehr richtig: denn was ein Maͤdchen
wie Ottilie verlangen kann, ſollte ein Juͤng¬
ling wie der Architect nicht verſagen. Dieſer
brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leiſen
Vorwuͤrfe ziemlich guͤltige Entſchuldigungen
zur Sprache.


Wenn Sie wuͤßten, ſagte er, wie roh
ſelbſt gebildete Menſchen ſich gegen die ſchaͤtz¬
barſten Kunſtwerke verhalten, ſie wuͤrden mir
verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter
die Menge bringen mag. Niemand weiß
eine Medaille am Rand anzufaſſen; ſie be¬
taſten das ſchoͤnſte Gepraͤge, den reinſten
Grund, laſſen die koͤſtlichſten Stuͤcke zwiſchen
dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬
gehen, als wenn man Kunſtformen auf dieſe
Weiſe pruͤfte. Ohne daran zu denken, daß
[112] man ein großes Blatt mit zwey Haͤnden an¬
faſſen muͤſſe, greifen ſie mit Einer Hand nach
einem unſchaͤtzbaren Kupferſtich, einer unerſetz¬
lichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher Politiker
eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern
des Papiers ſchon im Voraus ſein Urtheil
uͤber die Weltbegebenheiten zu erkennen giebt.
Niemand denkt daran, daß wenn nur zwan¬
zig Menſchen mit einem Kunſtwerke hinter¬
einander eben ſo verfuͤhren, der Einund¬
zwanzigſte nicht mehr viel daran zu ſehen
haͤtte.


Habe ich Sie nicht auch manchmal, fragte
Ottilie, in ſolche Verlegenheit geſetzt? habe
ich nicht etwan Ihre Schaͤtze, ohne es zu
ahnden, gelegentlich einmal beſchaͤdigt?


Niemals, verſetzte der Architect: niemals!
Ihnen waͤre es unmoͤglich: das Schickliche
iſt mit Ihnen geboren.


[113]

Auf alle Faͤlle, verſetzte Ottilie, waͤre es
nicht uͤbel, wenn man kuͤnftig in das Buͤch¬
lein von guten Sitten, nach den Kapiteln,
wie man ſich in Geſellſchaft beym Eſſen und
Trinken benehmen ſoll, ein recht umſtaͤndliches
einſchoͤbe, wie man ſich in Kunſtſammlungen
und Muſeen zu betragen habe.


Gewiß, verſetzte der Architect, wuͤrden
alsdann Cuſtoden und Liebhaber ihre Selten¬
heiten froͤhlicher mittheilen.


Ottilie hatte ihm ſchon lange verziehen,
als er ſich aber den Vorwurf ſehr zu Herzen
zu nehmen ſchien und immer aufs Neue be¬
theuerte, daß er gewiß gerne mittheile, gern
fuͤr Freunde thaͤtig ſey; ſo empfand ſie, daß
ſie ſein zartes Gemuͤth verletzt habe, und fuͤhlte
ſich als ſeine Schuldnerinn. Nicht wohl
konnte ſie ihm daher eine Bitte rund abſchla¬
gen, die er in Gefolg dieſes Geſpraͤchs an
ſie that, ob ſie gleich, indem ſie ſchnell ihr
II. 8[114] Gefuͤhl zu Rathe zog, nicht einſah wie ſie
ihm ſeine Wuͤnſche gewaͤhren koͤnne.


Die Sache verhielt ſich alſo. Daß Otti¬
lie durch Lucianens Eiferſucht von den Ge¬
maͤldedarſtellungen ausgeſchloſſen worden, war
ihm hoͤchſt empfindlich geweſen; daß Charlotte
dieſem glaͤnzenden Theil der geſelligen Unter¬
haltung nur unterbrochen beywohnen koͤnnen,
weil ſie ſich nicht wohl befand, hatte er gleich¬
falls mit Bedauern bemerkt: nun wollte er
ſich nicht entfernen, ohne ſeine Dankbarkeit
auch dadurch zu beweiſen, daß er zur Ehre der
einen und zur Unterhaltung der andern, eine
weit ſchoͤnere Darſtellung veranſtaltete als die
bisherigen geweſen waren. Vielleicht kam
hierzu, ihm ſelbſt unbewußt, ein andrer ge¬
heimer Antrieb: es ward ihm ſo ſchwer, die¬
ſes Haus, dieſe Familie zu verlaſſen, ja es
ſchien ihm unmoͤglich von Ottiliens Augen zu
ſcheiden, von deren ruhig freundlich gewoge¬
[115] nen Blicken er die letzte Zeit faſt ganz allein
gelebt hatte.


Die Weihnachtsfeyertage nahten ſich und
es wurde ihm auf einmal klar, daß eigentlich
jene Gemaͤldedarſtellungen durch runde Figu¬
ren von dem ſogenannten Preſepe ausgegan¬
gen, von der frommen Vorſtellung, die man
in dieſer heiligen Zeit der goͤttlichen Mutter
und dem Kinde widmete, wie ſie in ihrer
ſcheinbaren Niedrigkeit erſt von Hirten bald
darauf von Koͤnigen verehrt werden.


Er hatte ſich die Moͤglichkeit eines ſolchen
Bildes vollkommen vergegenwaͤrtigt. Ein ſchoͤ¬
ner friſcher Knabe war gefunden; an Hirten und
Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber
ohne Ottilien war die Sache nicht auszufuͤhren.
Der junge Mann hatte ſie in ſeinem Sinne
zur Mutter Gottes erhoben, und wenn ſie es
abſchlug, ſo war bey ihm keine Frage, daß
das Unternehmen fallen muͤſſe. Ottilie halb
8 *[116] verlegen uͤber ſeinen Antrag wies ihn mit
ſeiner Bitte an Charlotten. Dieſe ertheilte
ihm gern die Erlaubniß, und auch durch ſie
ward die Scheu Ottiliens, ſich jener heiligen
Geſtalt anzumaßen, auf eine freundliche Weiſe
uͤberwunden. Der Architect arbeitete Tag
und Nacht, damit am Weihnachtsabend
nichts fehlen moͤge.


Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen
Sinne. Er hatte ohnehin wenig Beduͤrfniſſe,
und Ottiliens Gegenwart ſchien ihm ſtatt al¬
les Labſals zu ſeyn; indem er um ihretwil¬
len arbeitete, war es als wenn er keines
Schlafs, indem er ſich um ſie beſchaͤftigte,
keiner Speiſe beduͤrfte. Zur feyerlichen Abend¬
ſtunde war deshalb alles fertig und bereit.
Es war ihm moͤglich geweſen wohltoͤnende
Blasinſtrumente zu verſammeln, welche die
Einleitung machten und die gewuͤnſchte Stim¬
mung hervorzubringen wußten. Als der Vor¬
[117] hang ſich hob, war Charlotte wirklich uͤber¬
raſcht. Das Bild das ſich ihr vorſtellte, war
ſo oft in der Welt wiederhohlt, daß man
kaum einen neuen Eindruck davon erwarten
ſollte. Aber hier hatte die Wirklichkeit als
Bild ihre beſondern Vorzuͤge. Der ganze
Raum war eher naͤchtlich als daͤmmernd, und
doch nichts undeutlich im Einzelnen der Umge¬
bung. Den unuͤbertrefflichen Gedanken, daß
alles Licht vom Kinde ausgehe, hatte der
Kuͤnſtler durch einen klugen Mechanismus der
Beleuchtung auszufuͤhren gewußt, der durch
die beſchatteten, nur von Streiflichtern er¬
leuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt
wurde. Frohe Maͤdchen und Knaben ſtan¬
den umher; die friſchen Geſichter ſcharf von
unten beleuchtet. Auch an Engeln fehlte es
nicht, deren eigener Schein von dem goͤttli¬
chen verdunkelt, deren aͤtheriſcher Leib vor
dem goͤttlich-menſchlichen verdichtet und lichts¬
beduͤrftig ſchien.


[118]

Gluͤcklicherweiſe war das Kind in der an¬
muthigſten Stellung eingeſchlafen, ſo daß
nichts die Betrachtung ſtoͤrte, wenn der
Blick auf der ſcheinbaren Mutter verweilte,
die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer
aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz
zu offenbaren. In dieſem Augenblick ſchien
das Bild feſtgehalten und erſtarrt zu ſeyn.
Phyſiſch geblendet, geiſtig uͤberraſcht, ſchien
das umgebende Volk ſich eben bewegt zu ha¬
ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden,
neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr
Verwunderung und Luſt, als Bewunderung
und Verehrung anzuzeigen; obgleich dieſe auch
nicht vergeſſen und einigen aͤltern Figuren der
Ausdruck derſelben uͤbertragen war.


Ottiliens Geſtalt, Gebaͤrde, Miene,
Blick uͤbertraf aber alles was je ein Maler
dargeſtellt hat. Der gefuͤhlvolle Kenner,
der dieſe Erſcheinung geſehen haͤtte, waͤre
in Furcht gerathen, es moͤge ſich nur irgend
[119] etwas bewegen, er waͤre in Sorge geſtanden,
ob ihm jemals etwas wieder ſo gefallen koͤnne.
Ungluͤcklicherweiſe war Niemand da, der
dieſe ganze Wirkung aufzufaſſen vermocht
haͤtte. Der Architect allein, der als langer
ſchlanker Hirt von der Seite uͤber die Knieen¬
den hereinſah, hatte, obgleich nicht in dem
genauſten Standpunct, noch den groͤßten Ge¬
nuß. Und wer beſchreibt auch die Miene der
neugeſchaffenen Himmelskoͤniginn? Die reinſte
Demuth, das liebenswuͤrdigſte Gefuͤhl von
Beſcheidenheit bey einer großen unverdient
erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬
lichen Gluͤck, bildete ſich in ihren Zuͤgen, ſowohl
indem ſich ihre eigene Empfindung, als indem
ſich die Vorſtellung ausdruͤckte, die ſie ſich von
dem machen konnte was ſie ſpielte.


Charlotten erfreute das ſchoͤne Gebilde,
doch wirkte hauptſaͤchlich das Kind auf ſie.
Ihre Augen ſtroͤmten von Thraͤnen und ſie
ſtellte ſich auf das lebhafteſte vor, daß ſie
[120] ein aͤhnliches liebes Geſchoͤpf bald auf ihrem
Schooße zu hoffen habe.


Man hatte den Vorhang niedergelaſſen,
theils um den Vorſtellenden einige Erleichte¬
rung zu geben, theils eine Veraͤnderung
in dem Dargeſtellten anzubringen. Der
Kuͤnſtler hatte ſich vorgenommen, das erſte
Nacht- und Niedrigkeitsbild in ein Tag- und
Glorienbild zu verwandeln, und deswegen
von allen Seiten eine unmaͤßige Erleuchtung
vorbereitet, die in der Zwiſchenzeit angezuͤn¬
det wurde.


Ottilien war in ihrer halb theatraliſchen
Lage bisher die groͤßte Beruhigung geweſen,
daß außer Charlotten und wenigen Hausge¬
noſſen Niemand dieſer frommen Kunſtmum¬
merey zugeſehen. Sie wurde daher einiger¬
maßen betroffen, als ſie in der Zwiſchenzeit
vernahm, es ſey ein Fremder angekommen,
im Saale von Charlotten freundlich begruͤßt.
[121] Wer es war, konnte man ihr nicht ſagen.
Sie ergab ſich darein, um keine Stoͤrung zu
verurſachen. Lichter und Lampen brannten
und eine ganz unendliche Hellung umgab ſie.
Der Vorhang ging auf, fuͤr die Zuſchauen¬
den ein uͤberraſchender Anblick: das ganze
Bild war alles Licht, und ſtatt des voͤllig
aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬
ben uͤbrig, die bey der klugen Auswahl eine
liebliche Maͤßigung hervorbrachten. Unter
ihren langen Augenwimpern hervorblickend
bemerkte Ottilie eine Mannsperſon neben
Charlotten ſitzend. Sie erkannte ihn nicht,
aber ſie glaubte die Stimme des Gehuͤlfen
aus der Penſion zu hoͤren. Eine wunderbare
Empfindung ergriff ſie. Wie vieles war be¬
gegnet, ſeitdem ſie die Stimme dieſes treuen
Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen
Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬
den ſchnell vor ihrer Seele vorbey und regte
die Frage auf: darfſt du ihm alles bekennen
und geſtehen? Und wie wenig werth biſt du
[122] unter dieſer heiligen Geſtalt vor ihm zu er¬
ſcheinen, und wie ſeltſam muß es ihm vor¬
kommen, dich die er nur natuͤrlich geſehen,
als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬
ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefuͤhl
und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr
Herz war befangen, ihre Augen fuͤllten ſich
mit Thraͤnen, indem ſie ſich zwang immerfort
als ein ſtarres Bild zu erſcheinen; und wie
froh war ſie, als der Knabe ſich zu regen
anfing, und der Kuͤnſtler ſich genoͤthigt ſah
das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬
der fallen ſollte.


Hatte das peinliche Gefuͤhl, einem wer¬
then Freunde nicht entgegeneilen zu koͤnnen,
ſich ſchon die letzten Augenblicke zu den uͤbri¬
gen Empfindungen Ottiliens geſellt, ſo war
ſie jetzt in noch groͤßerer Verlegenheit.
Sollte ſie in dieſem fremden Anzug und
Schmuck ihm entgegengehn? ſollte ſie ſich um¬
kleiden? Sie waͤhlte nicht, ſie that das letzte
[123] und ſuchte ſich in der Zwiſchenzeit zuſammen¬
zunehmen, ſich zu beruhigen, und war nur
erſt wieder mit ſich ſelbſt in Einſtimmung
als ſie endlich im gewohnten Kleide den An¬
gekommenen begruͤßte.

[[124]]

Siebentes Kapitel.

Inſofern der Architect ſeinen Goͤnnerin¬
nen das Beſte wuͤnſchte, war es ihm ange¬
nehm, da er doch endlich ſcheiden mußte, ſie
in der guten Geſellſchaft des ſchaͤtzbaren Ge¬
huͤlfen zu wiſſen; indem er jedoch ihre Gunſt
auf ſich ſelbſt bezog, empfand er es einiger¬
maßen ſchmerzhaft, ſich ſobald, und wie es
ſeiner Beſcheidenheit duͤnken mochte, ſo gut,
ja vollkommen, erſetzt zu ſehen. Er hatte
noch immer gezaudert, nun aber draͤngte es
ihn hinweg: denn was er ſich nach ſeiner
Entfernung mußte gefallen laſſen, das wollte
er wenigſtens gegenwaͤrtig nicht erleben.


Zu großer Erheiterung dieſer halb trauri¬
gen Gefuͤhle machten ihm die Damen beym
[125] Abſchiede noch ein Geſchenk mit einer Weſte,
an der er ſie beyde lange Zeit hatte ſtricken
ſehen, mit einem ſtillen Neid uͤber den unbe¬
kannten Gluͤcklichen dem ſie dereinſt werden
koͤnnte. Eine ſolche Gabe iſt die angenehmſte
die ein liebender, verehrender Mann erhal¬
ten mag: denn wenn er dabey des unermuͤ¬
deten Spiels der ſchoͤnen Finger gedenkt, ſo
kann er nicht umhin ſich zu ſchmeicheln, das
Herz werde bey einer ſo anhaltenden Arbeit
doch auch nicht ganz ohne Theilnahme geblie¬
ben ſeyn.


Die Frauen hatten nun einen neuen Mann
zu bewirthen, dem ſie wohlwollten und dem
es bey ihnen wohl werden ſollte. Das weib¬
liche Geſchlecht hegt ein eignes inneres un¬
wandelbares Intereſſe, von dem ſie nichts in
der Welt abtruͤnnig macht; im aͤußern geſelli¬
gen Verhaͤltniß hingegen laſſen ſie ſich gern
und leicht durch den Mann beſtimmen der
ſie eben beſchaͤftigt, und ſo durch Abweiſen
[126] wie durch Empfaͤnglichkeit, durch Beharren
und Nachgiebigkeit fuͤhren ſie eigentlich das
Regiment, dem ſich in der geſitteten Welt
kein Mann zu entziehen wagt.


Hatte der Architect, gleichſam nach eigener
Luſt und Belieben, ſeine Talente vor den
Freundinnen zum Vergnuͤgen und zu den
Zwecken derſelben geuͤbt und bewieſen; war
Beſchaͤftigung und Unterhaltung in dieſem
Sinne und nach ſolchen Abſichten eingerichtet:
ſo machte ſich in kurzer Zeit durch die Ge¬
genwart des Gehuͤlfen eine andre Lebensweiſe.
Seine große Gabe war, gut zu ſprechen und
menſchliche Verhaͤltniſſe, beſonders in Bezug
auf Bildung der Jugend, in der Unterredung
zu behandeln. Und ſo entſtand gegen die
bisherige Art zu leben ein ziemlich fuͤhlbarer
Gegenſatz, um ſo mehr als der Gehuͤlfe
nicht ganz dasjenige billigte, womit man ſich
die Zeit uͤber ausſchließlich beſchaͤftigt hatte.


[127]

Von dem lebendigen Gemaͤlde das ihn
bey ſeiner Ankunft empfing, ſprach er
gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche,
Capelle und was ſich darauf bezog, mit Zu¬
friedenheit ſehen ließ, konnte er ſeine Mey¬
nung, ſeine Geſinnungen daruͤber nicht zu¬
ruͤckhalten. Was mich betrifft, ſagte er, ſo
will mir dieſe Annaͤherung, dieſe Vermiſchung
des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen
keineswegs gefallen, nicht gefallen, daß
man ſich gewiſſe beſondre Raͤume widmet,
weihet und aufſchmuͤckt, um erſt dabey ein
Gefuͤhl der Froͤmmigkeit zu hegen und zu
unterhalten. Keine Umgebung, ſelbſt die ge¬
meinſte nicht, ſoll in uns das Gefuͤhl des
Goͤttlichen ſtoͤren, das uns uͤberall hin beglei¬
ten und jede Staͤtte zu einem Tempel ein¬
weihen kann. Ich mag gern einen Hausgot¬
tesdienſt in dem Saale gehalten ſehen, wo
man zu ſpeiſen, ſich geſellig zu verſammeln,
mit Spiel und Tanz zu ergetzen pflegt. Das
[128] Hoͤchſte, das Vorzuͤglichſte am Menſchen iſt
geſtaltlos, und man ſoll ſich huͤthen es anders
als in edler That zu geſtalten.


Charlotte, die ſeine Geſinnungen ſchon
im Ganzen kannte und ſie noch mehr in
kurzer Zeit erforſchte, brachte ihn gleich in
ſeinem Fache zur Thaͤtigkeit, indem ſie ihre
Gartenknaben, welche der Architect vor ſeiner
Abreiſe eben gemuſtert hatte, in dem großen
Saal aufmarſchiren ließ; da ſie ſich denn in
ihren heitern reinlichen Uniformen, mit geſetz¬
lichen Bewegungen und einem natuͤrlichen
lebhaften Weſen, ſehr gut ausnahmen. Der
Gehuͤlfe pruͤfte ſie nach ſeiner Weiſe, und hatte
durch mancherley Fragen und Wendungen gar
bald die Gemuͤthsarten und Faͤhigkeiten der
Kinder zu Tage gebracht, und ohne daß es
ſo ſchien, in Zeit von weniger als einer Stun¬
de, ſie wirklich bedeutend unterrichtet und ge¬
foͤrdert.


[129]

Wie machen Sie das nur? ſagte Char¬
lotte, indem die Knaben wegzogen. Ich habe
ſehr aufmerkſam zugehoͤrt; es ſind nichts als
ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch
wuͤßte ich nicht, wie ich es anfangen ſollte,
ſie in ſo kurzer Zeit, bey ſo vielem Hin- und
Wiederreden, in ſolcher Folge zur Sprache
zu bringen.


Vielleicht ſollte man, verſetzte der Gehuͤlfe,
aus den Vortheilen ſeines Handwerks ein
Geheimniß machen. Doch kann ich Ihnen
die ganz einfache Maxime nicht verbergen,
nach der man dieſes und noch viel mehr zu
leiſten vermag. Faſſen Sie einen Gegenſtand,
eine Materie, einen Begriff, wie man es
nennen will; halten Sie ihn recht feſt; ma¬
chen Sie ſich ihn in allen ſeinen Theilen recht
deutlich, und dann wird es Ihnen leicht ſeyn,
Geſpraͤchsweiſe, an einer Maſſe Kinder zu
erfahren was ſich davon ſchon in ihnen ent¬
wickelt hat, was noch anzuregen, zu uͤberlie¬
II. 9[130] fern iſt. Die Antworten auf Ihre Fragen
moͤgen noch ſo ungehoͤrig ſeyn, moͤgen noch
ſo ſehr ins Weite gehen, wenn nur ſodann
Ihre Gegenfrage Geiſt und Sinn wieder
hereinwaͤrts zieht, wenn Sie ſich nicht von
Ihrem Standpunkte verruͤcken laſſen; ſo muͤſ¬
ſen die Kinder zuletzt denken, begreifen, ſich
uͤberzeugen, nur von dem was und wie es
der Lehrende will. Sein groͤßter Fehler iſt
der, wenn er ſich von den Lernenden mit in
die Weite reißen laͤßt, wenn er ſie nicht auf
dem Punkte feſtzuhalten weiß den er eben
jetzt behandelt. Machen Sie naͤchſtens einen
Verſuch und es wird zu Ihrer großen Unter¬
haltung dienen.


Das iſt artig, ſagte Charlotte: die gute
Paͤdagogik iſt alſo gerade das Umgekehrte von
der guten Lebensart. In der Geſellſchaft ſoll
man auf nichts verweilen, und bey dem Un¬
terricht waͤre das hoͤchſte Gebot, gegen alle
Zerſtreuung zu arbeiten.


[131]

Abwechſelung ohne Zerſtreuung waͤre fuͤr
Lehre und Leben der ſchoͤnſte Wahlſpruch,
wenn dieſes loͤbliche Gleichgewicht nur ſo leicht
zu erhalten waͤre! ſagte der Gehuͤlfe, und
wollte weiter fortfahren als ihn Charlotte
aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten,
deren munterer Zug ſich ſo eben uͤber den
Hof bewegte. Er bezeigte ſeine Zufriedenheit,
daß man die Kinder in Uniform zu gehen
anhalte. Maͤnner — ſo ſagte er — ſollten
von Jugend auf Uniform tragen, weil ſie ſich
gewoͤhnen muͤſſen zuſammen zu handeln, ſich
unter ihres Gleichen zu verlieren, in Maſſe
zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten. Auch
befoͤrdert jede Art von Uniform einen mili¬
taͤriſchen Sinn, ſo wie ein knapperes ſtracke¬
res Betragen, und alle Knaben ſind ja ohne¬
hin geborne Soldaten: man ſehe nur ihre
Kampf- und Streitſpiele, ihr Erſtuͤrmen und
Erklettern.


9 *[132]

So werden Sie mich dagegen nicht ta¬
deln, verſetzte Ottilie, daß ich meine Maͤd¬
chen nicht uͤberein kleide. Wenn ich ſie Ih¬
nen vorfuͤhre, hoffe ich Sie durch ein bun¬
tes Gemiſch zu ergetzen.


Ich billige das ſehr, verſetzte jener. Frauen
ſollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen:
jede nach eigner Art und Weiſe, damit eine
Jede fuͤhlen lernte, was ihr eigentlich gut
ſtehe und wohl zieme. Eine wichtigere Ur¬
ſache iſt noch die: weil ſie beſtimmt ſind, ihr
ganzes Leben allein zu ſtehen und allein zu
handeln.


Das ſcheint mir ſehr paradox, verſetzte
Charlotte; ſind wir doch faſt niemals fuͤr
uns.


O ja! verſetzte der Gehuͤlfe, in Abſicht
auf andre Frauen ganz gewiß. Man be¬
trachte ein Frauenzimmer als Liebende, als
[133] Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter,
immer ſteht ſie iſolirt, immer iſt ſie allein,
und will allein ſeyn. Ja die Eitle ſelbſt iſt
in dem Falle. Jede Frau ſchließt die andre
aus, ihrer Natur nach: denn von Jeder wird
alles gefordert, was dem ganzen Geſchlechte
zu leiſten obliegt. Nicht ſo verhaͤlt es ſich
mit den Maͤnnern. Der Mann verlangt den
Mann; er wuͤrde ſich einen zweyten erſchaffen,
wenn es keinen gaͤbe: eine Frau koͤnnte eine
Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, ſich
ihres Gleichen hervorzubringen.


Man darf, ſagte Charlotte, das Wahre
nur wunderlich ſagen; ſo ſcheint zuletzt das
Wunderliche auch wahr. Wir wollen uns
aus Ihren Bemerkungen das Beſte heraus¬
nehmen und doch als Frauen mit Frauen zu¬
ſammenhalten, und auch gemeinſam wirken,
um den Maͤnnern nicht allzu große Vorzuͤge
uͤber uns einzuraͤumen. Ja Sie werden uns
eine kleine Schadenfreude nicht uͤbel nehmen,
[134] die wir kuͤnftig um deſto lebhafter empfinden
muͤſſen, wenn ſich die Herren untereinander
auch nicht ſonderlich vertragen.


Mit vieler Sorgfalt unterſuchte der ver¬
ſtaͤndige Mann nunmehr die Art, wie Ottilie
ihre kleinen Zoͤglinge behandelte, und bezeigte
daruͤber ſeinen entſchiedenen Beyfall. Sehr
richtig heben Sie, ſagte er, Ihre Untergebenen
nur zur naͤchſten Brauchbarkeit heran. Rein¬
lichkeit veranlaßt die Kinder mit Freuden et¬
was auf ſich ſelbſt zu halten, und alles iſt
gewonnen, wenn ſie das was ſie thun, mit
Munterkeit und Selbſtgefuͤhl zu leiſten ange¬
regt ſind.


Uebrigens fand er zu ſeiner großen Be¬
friedigung nichts auf den Schein und nach
außen gethan, ſondern alles nach innen und
fuͤr die unerlaͤßlichen Beduͤrfniſſe. Mit wie
wenig Worten, rief er aus, ließe ſich das
[135] ganze Erziehungsgeſchaͤft ausſprechen, wenn
Jemand Ohren haͤtte zu hoͤren.


Moͤgen Sie es nicht mit mir verſuchen,
ſagte freundlich Ottilie.


Recht gern, verſetzte Jener, nur muͤſſen
Sie mich nicht verrathen. Man erziehe die
Knaben zu Dienern und die Maͤdchen zu
Muͤttern, ſo wird es uͤberall wohl ſtehn.


Zu Muͤttern, verſetzte Ottilie, das koͤnn¬
ten die Frauen noch hingehen laſſen, da ſie ſich,
ohne Muͤtter zu ſeyn, doch immer einrichten
muͤſſen, Waͤrterinnen zu werden; aber frey¬
lich zu Dienern wuͤrden ſich unſre jungen
Maͤnner viel zu gut halten, da man Jedem
leicht anſehen kann, daß er ſich zum Gebieten
faͤhiger duͤnkt.


Deswegen wollen wir es ihnen verſchwei¬
gen, ſagte der Gehuͤlfe. Man ſchmeichelt
[136] ſich ins Leben hinein, aber das Leben ſchmei¬
chelt uns nicht. Wie viel Menſchen moͤgen
denn das freywillig zugeſtehen, was ſie am
Ende doch muͤſſen? Laſſen wir aber dieſe
Betrachtungen, die uns hier nicht beruͤhren.


Ich preiſe Sie gluͤcklich, daß Sie bey
Ihren Zoͤglingen ein richtiges Verfahren an¬
wenden koͤnnen. Wenn Ihre kleinſten Maͤd¬
chen ſich mit Puppen herumtragen und eini¬
ge Laͤppchen fuͤr ſie zuſammenflicken; wenn
aͤltere Geſchwiſter alsdann fuͤr die juͤngeren
ſorgen, und das Haus ſich in ſich ſelbſt be¬
dient und aufhilft: dann iſt der weitere
Schritt ins Leben nicht groß, und ein ſolches
Maͤdchen findet bey ihrem Gatten, was ſie
bey ihren Aeltern verließ.


Aber in den gebildeten Staͤnden iſt die
Aufgabe ſehr verwickelt. Wir haben auf hoͤ¬
here, zartere, feinere, beſonders auf geſell¬
[137] ſchaftliche Verhaͤltniſſe Ruͤckſicht zu nehmen.
Wir andern ſollen daher unſre Zoͤglinge nach
außen bilden; es iſt nothwendig, es iſt un¬
erlaͤßlich und moͤchte recht gut ſeyn, wenn
man dabey nicht das Maaß uͤberſchritte: denn
indem man die Kinder fuͤr einen weiteren
Kreis zu bilden gedenkt, treibt man ſie leicht
ins Graͤnzenloſe, ohne im Auge zu behalten
was denn eigentlich die innere Natur fordert.
Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder
weniger von den Erziehern geloͤſt oder ver¬
fehlt wird.


Bey Manchem womit wir unſere Schuͤle¬
rinnen in der Penſion ausſtatten, wird mir
bange, weil die Erfahrung mir ſagt, von
wie geringem Gebrauch es kuͤnftig ſeyn werde.
Was wird nicht gleich abgeſtreift, was nicht
gleich der Vergeſſenheit uͤberantwortet ſobald
ein Frauenzimmer ſich im Stande der Haus¬
frau, der Mutter befindet!


[138]

Indeſſen kann ich mir den frommen
Wunſch nicht verſagen, da ich mich einmal
dieſem Geſchaͤft gewidmet habe, daß es mir
dereinſt in Geſellſchaft einer treuen Gehuͤlfinn
gelingen moͤge, an meinen Zoͤglingen dasjenige
rein auszubilden was ſie beduͤrfen, wenn ſie
in das Feld eigener Thaͤtigkeit und Selbſtaͤn¬
digkeit hinuͤberſchreiten; daß ich mir ſagen
koͤnnte: in dieſem Sinne iſt an ihnen die
Erziehung vollendet. Freylich ſchließt ſich
eine andre immer wieder an, die bey¬
nahe mit jedem Jahre unſers Lebens, wo
nicht von uns ſelbſt, doch von den Umſtaͤnden
veranlaßt wird.


Wie wahr fand Ottilie dieſe Bemerkung!
Was hatte nicht eine ungeahndete Leiden¬
ſchaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen!
was ſah ſie nicht alles fuͤr Pruͤfungen vor ſich
ſchweben, wenn ſie nur aufs naͤchſte, aufs
naͤchſt kuͤnftige hinblickte!


[139]

Der junge Mann hatte nicht ohne Vor¬
bedacht, einer Gehuͤlfinn, einer Gattinn er¬
waͤhnt: denn bey aller ſeiner Beſcheidenheit
konnte er nicht unterlaſſen, ſeine Abſichten
auf eine entfernte Weiſe anzudeuten; ja er
war durch mancherley Umſtaͤnde und Vorfaͤlle
aufgeregt worden, bey dieſem Beſuch einige
Schritte ſeinem Ziele naͤher zu thun.


Die Vorſteherinn der Penſion war bereits
in Jahren, ſie hatte ſich unter ihren Mitar¬
beitern und Mitarbeiterinnen ſchon lange nach
einer Perſon umgeſehen, die eigentlich mit
ihr in Geſellſchaft traͤte, und zuletzt dem Ge¬
huͤlfen, dem ſie zu vertrauen hoͤchlich Urſache
hatte, den Antrag gethan: er ſolle mit ihr
die Lehranſtalt fortfuͤhren, darin als in dem
Seinigen mitwirken, und nach ihrem Tode
als Erbe und einziger Beſitzer eintreten.
Die Hauptſache ſchien hiebey, daß er eine
einſtimmende Gattinn finden muͤſſe. Er hatte
im Stillen Ottilien vor Augen und im Her¬
[140] zen; allein es regten ſich mancherley Zweifel,
die wieder durch guͤnſtige Ereigniſſe einiges
Gegengewicht erhielten. Luciane hatte die
Penſion verlaſſen: Ottilie konnte freyer zuruͤck¬
kehren; von dem Verhaͤltniſſe zu Eduard hatte
zwar etwas verlautet; allein man nahm die
Sache, wie aͤhnliche Vorfaͤlle mehr, gleichguͤl¬
tig auf, und ſelbſt dieſes Ereigniß konnte zu
Ottiliens Ruͤckkehr beytragen. Doch waͤre
man zu keinem Entſchluß gekommen, kein
Schritt waͤre geſchehen, haͤtte nicht ein un¬
vermutheter Beſuch auch hier eine beſondere
Anregung gegeben. Wie denn die Erſchei¬
nung von bedeutenden Menſchen in irgend
einem Kreiſe niemals ohne Folgen bleiben
kann.


Der Graf und die Baroneſſe, welche ſo
oft in den Fall kamen, uͤber den Werth ver¬
ſchiedener Penſionen befragt zu werden, weil
faſt Jedermann um die Erziehung ſeiner Kin¬
der verlegen iſt, hatten ſich vorgenommen,
[141] dieſe beſonders kennen zu lernen, von der ſo
viel Gutes geſagt wurde, und konnten nun¬
mehr in ihren neuen Verhaͤltniſſen zuſammen
eine ſolche Unterſuchung anſtellen. Allein die
Baroneſſe beabſichtigte noch etwas anderes.
Waͤhrend ihres letzten Aufenthalts bey Charlot¬
ten hatte ſie mit dieſer alles umſtaͤndlich durch¬
geſprochen was ſich auf Eduarden und Ottilien
bezog. Sie beſtand aber und abermals dar¬
auf: Ottilie muͤſſe entfernt werden. Sie
ſuchte Charlotten hiezu Muth einzuſprechen,
welche ſich vor Eduards Drohungen noch im¬
mer fuͤrchtete. Man ſprach uͤber die ver¬
ſchiedenen Auswege, und bey Gelegenheit der
Penſion war auch von der Neigung des Ge¬
huͤlfen die Rede, und die Baroneſſe entſchloß
ſich um ſo mehr zu dem gedachten Beſuch.


Sie kommt an, lernt den Gehuͤlfen ken¬
nen, man beobachtet die Anſtalt und ſpricht
von Ottilien. Der Graf ſelbſt unterhaͤlt ſich
gern uͤber ſie, indem er ſie bey dem neulichen
[142] Beſuch genauer kennen gelernt. Sie hatte
ſich ihm genaͤhert, ja ſie ward von ihm an¬
gezogen, weil ſie durch ſein gehaltvolles Ge¬
ſpraͤch dasjenige zu ſehen und zu kennen glaub¬
te, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben
war. Und wie ſie in dem Umgange mit
Eduard die Welt vergaß, ſo ſchien ihr an
der Gegenwart des Grafen die Welt erſt
recht wuͤnſchenswerth zu ſeyn. Jede Anzie¬
hung iſt wechſelſeitig. Der Graf empfand
eine Neigung fuͤr Ottilien, daß er ſie gern
als ſeine Tochter betrachtete. Auch hier war
ſie der Baroneſſe zum zweytenmal und mehr
als das erſtemal im Wege. Wer weiß was
dieſe, in Zeiten lebhafterer Leidenſchaft, gegen
ſie angeſtiftet haͤtte; jetzt war es ihr genug,
ſie durch eine Verheiratung den Ehefrauen
unſchaͤdlicher zu machen.


Sie regte daher den Gehuͤlfen auf eine
leiſe doch wirkſame Art kluͤglich an, daß er
ſich zu einer kleinen Excurſion auf das Schloß
[143] einrichten und ſeinen Planen und Wuͤnſchen,
von denen er der Dame kein Geheimniß ge¬
macht, ſich ungeſaͤumt naͤhern ſolle.


Mit vollkommner Beyſtimmung der Vor¬
ſteherinn trat er daher ſeine Reiſe an, und
hegte in ſeinem Gemuͤth die beſten Hoffnun¬
gen. Er weiß, Ottilie iſt ihm nicht unguͤn¬
ſtig, und wenn zwiſchen ihnen einiges Mi߬
verhaͤltniß des Standes war, ſo glich ſich
dieſes gar leicht durch die Denkart der Zeit
aus. Auch hatte die Baroneſſe ihm wohl
fuͤhlen laſſen, daß Ottilie immer ein armes
Maͤdchen bleibe. Mit einem reichen Hauſe
verwandt zu ſeyn, hieß es, kann Niemanden
helfen: denn man wuͤrde ſich, ſelbſt bey dem
groͤßten Vermoͤgen, ein Gewiſſen daraus ma¬
chen, denjenigen eine anſehnliche Summe zu
entziehen, die dem naͤheren Grade nach ein
vollkommneres Recht auf ein Beſitzthum zu
haben ſcheinen. Und gewiß bleibt es wunder¬
bar, daß der Menſch das große Vorrecht,
[144] nach ſeinem Tode noch uͤber ſeine Habe zu
disponiren, ſehr ſelten zu Gunſten ſeiner Lieb¬
linge gebraucht, und wie es ſcheint, aus Ach¬
tung fuͤr das Herkommen, nur diejenigen be¬
guͤnſtigt, die nach ihm ſein Vermoͤgen beſitzen
wuͤrden, wenn er auch ſelbſt keinen Willen
haͤtte.


Sein Gefuͤhl ſetzte ihn auf der Reiſe Ot¬
tilien voͤllig gleich. Eine gute Aufnahme er¬
hoͤhte ſeine Hoffnungen. Zwar fand er gegen
ſich Ottilien nicht ganz ſo offen wie ſonſt;
aber ſie war auch erwachſener, gebildeter und
wenn man will, im Allgemeinen mittheilender
als er ſie gekannt hatte. Vertraulich ließ man
ihn in manches Einſicht nehmen, was ſich
beſonders auf ſein Fach bezog. Doch wenn
er ſeinem Zwecke ſich naͤhern wollte; ſo hielt
ihn immer eine gewiſſe innere Scheu zuruͤck.


Einſt gab ihm jedoch Charlotte hierzu Ge¬
legenheit indem ſie, in Beyſeyn Ottiliens, zu
[145] ihm ſagte: Nun, Sie haben alles was in
meinem Kreiſe heranwaͤchſt, ſo ziemlich ge¬
pruͤft; wie finden Sie denn Ottilien? Sie duͤr¬
fen es wohl in ihrer Gegenwart ausſprechen.


Der Gehuͤlfe bezeichnete hierauf, mit ſehr
viel Einſicht und ruhigem Ausdruck, wie er
Ottilien in Abſicht eines freyeren Betragens,
einer bequemeren Mittheilung, eines hoͤhern
Blicks in die weltlichen Dinge, der ſich mehr in
ihren Handlungen als in ihren Worten bethaͤ¬
tige, ſehr zu ihrem Vortheil veraͤndert finde;
daß er aber doch glaube, es koͤnne ihr ſehr zum
Nutzen gereichen, wenn ſie auf einige Zeit in die
Penſion zuruͤckkehre, um das in einer gewiſſen
Folge gruͤndlich und fuͤr immer ſich zuzueignen,
was die Welt nur ſtuͤckweiſe und eher zur
Verwirrung als zur Befriedigung, ja manch¬
mal nur allzuſpaͤt uͤberliefere. Er wolle dar¬
uͤber nicht weitlaͤuftig ſeyn: Ottilie wiſſe ſelbſt
am beſten aus was fuͤr zuſammenhaͤngenden
Lehrvortraͤgen ſie damals herausgeriſſen worden.


II. 10[146]

Ottilie konnte das nicht laͤugnen; aber ſie
konnte nicht geſtehen, was ſie bey dieſen
Worten empfand, weil ſie ſich es kaum ſelbſt
auszulegen wußte. Es ſchien ihr in der
Welt nichts mehr unzuſammenhaͤngend, wenn
ſie an den geliebten Mann dachte, und ſie
begriff nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas
zuſammenhaͤngen koͤnne.


Charlotte beantwortete den Antrag mit
kluger Freundlichkeit. Sie ſagte, daß ſowohl
ſie als Ottilie eine Ruͤckkehr nach der Penſion
laͤngſt gewuͤnſcht haͤtten. In dieſer Zeit nur
ſey ihr die Gegenwart einer ſo lieben Freun¬
dinn und Helferinn unentbehrlich geweſen;
doch wolle ſie in der Folge nicht hinderlich
ſeyn, wenn es Ottiliens Wunſch bliebe, wie¬
der auf ſo lange dorthin zuruͤckzukehren, bis
ſie das Angefangene geendet und das Unter¬
brochene ſich vollſtaͤndig zugeeignet.


Der Gehuͤlfe nahm dieſe Anerbietung
freudig auf; Ottilie duͤrfte nichts dagegen
[147] ſagen, ob es ihr gleich vor dem Gedan¬
ken ſchauderte. Charlotte hingegen dachte
Zeit zu gewinnen; ſie hoffte Eduard ſollte ſich
erſt als gluͤcklicher Vater wieder finden und
einfinden, dann, war ſie uͤberzeugt, wuͤrde
ſich alles geben und auch fuͤr Ottilien auf
eine oder die andere Weiſe geſorgt werden.


Nach einem bedeutenden Geſpraͤch, uͤber
welches alle Theilnehmende nachzudenken ha¬
ben, pflegt ein gewiſſer Stillſtand einzutreten,
der einer allgemeinen Verlegenheit aͤhnlich
ſieht. Man ging im Saale auf und ab,
der Gehuͤlfe blaͤtterte in einigen Buͤchern und
kam endlich an den Folioband, der noch von
Lucianens Zeiten her liegen geblieben war.
Als er ſah, daß darin nur Affen enthalten
waren, ſchlug er ihn gleich wieder zu. Die¬
ſer Vorfall mag jedoch zu einem Geſpraͤch
Anlaß gegeben haben, wovon wir die Spuren
in Ottiliens Tagebuch finden.


10 *[148]

Aus
Ottiliens Tagebuche.

„Wie man es nur uͤber das Herz bringen
kann, die garſtigen Affen ſo ſorgfaͤltig abzu¬
bilden. Man erniedrigt ſich ſchon, wenn
man ſie nur als Thiere betrachtet; man wird
aber wirklich boͤsartiger, wenn man dem Reize
folgt, bekannte Menſchen unter dieſer Maske
aufzuſuchen.“


„Es gehoͤrt durchaus eine gewiſſe Verſchro¬
benheit dazu, um ſich gern mit Caricaturen
und Zerrbildern abzugeben. Unſerm guten Ge¬
huͤlfen danke ich's, daß ich nicht mit der Na¬
turgeſchichte gequaͤlt worden bin: ich konnte
mich mit den Wuͤrmern und Kaͤfern niemals
befreunden.“


[149]

„Dießmal geſtand er mir, daß es ihm
eben ſo gehe. Von der Natur, ſagte er,
ſollten wir nichts kennen, als was uns un¬
mittelbar lebendig umgiebt. Mit den Baͤu¬
men die um uns bluͤhen, gruͤnen, Frucht
tragen, mit jeder Staude an der wir vorbey¬
gehen, mit jedem Grashalm uͤber den wir
hinwandeln, haben wir ein wahres Verhaͤlt¬
niß, ſie ſind unſre aͤchten Compatrioten. Die
Voͤgel die auf unſern Zweigen hin und wieder
huͤpfen, die in unſerm Laube ſingen, gehoͤren
uns an, ſie ſprechen zu uns, von Jugend
auf, und wir lernen ihre Sprache verſtehen.
Man frage ſich, ob nicht ein jedes fremde,
aus ſeiner Umgebung geriſſene Geſchoͤpf ei¬
nen gewiſſen aͤngſtlichen Eindruck auf uns
macht, der nur durch Gewohnheit abgeſtumpft
wird. Es gehoͤrt ſchon ein buntes geraͤuſch¬
volles Leben dazu, um Affen, Papageyen
und Mohren um ſich zu ertragen.“


„Manchmal wenn mich ein neugieriges
Verlangen nach ſolchen abenteuerlichen Din¬
[150] gen anwandelte, habe ich den Reiſenden be¬
neidet, der ſolche Wunder mit andern Wun¬
dern in lebendiger alltaͤglicher Verbindung
ſieht. Aber auch er wird ein anderer Menſch.
Es wandelt niemand ungeſtraft unter Pal¬
men, und die Geſinnungen aͤndern ſich gewiß
in einem Lande wo Elephanten und Tiger
zu Hauſe ſind.“


„Nur der Naturforſcher iſt verehrungs¬
werth, der uns das Fremdeſte, Seltſamſte, mit
ſeiner Localitaͤt, mit aller Nachbarſchaft, jedes¬
mal in dem eigenſten Elemente zu ſchildern
und darzuſtellen weiß. Wie gern moͤchte ich
nur einmal Humboldten erzaͤhlen hoͤren.“


„Ein Naturalien-Cabinet kann uns vor¬
kommen wie eine aͤgyptiſche Grabſtaͤtte, wo
die verſchiedenen Thier- und Pflanzengoͤtzen bal¬
ſamirt umherſtehen. Einer Prieſter-Caſte ge¬
ziemt es wohl, ſich damit in geheimnißvollem
Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemei¬
[151] nen Unterricht ſollte dergleichen nicht einflie¬
ßen, um ſo weniger, als etwas Naͤheres und
Wuͤrdigeres ſich dadurch leicht verdraͤngt ſieht.“


„Ein Lehrer, der das Gefuͤhl an einer
einzigen guten That, an einem einzigen gu¬
ten Gedicht erwecken kann, leiſtet mehr als
einer der uns ganze Reihen untergeordneter
Naturbildungen der Geſtalt und dem Na¬
men nach uͤberliefert: denn das ganze Reſul¬
tat davon iſt, was wir ohnedieß wiſſen koͤn¬
nen, daß das Menſchengebild am vorzuͤglich¬
ſten und einzigſten das Gleichniß der Gott¬
heit an ſich traͤgt.“


„Dem Einzelnen bleibe die Freyheit ſich
mit dem zu beſchaͤftigen, was ihn anzieht,
was ihm Freude macht, was ihm nuͤtzlich
daͤucht; aber das eigentliche Studium der
Menſchheit iſt der Menſch.“

[[152]]

Achtes Kapitel.

Es giebt wenig Menſchen, die ſich mit
dem Naͤchſtvergangenen zu beſchaͤftigen wiſ¬
ſen. Entweder das Gegenwaͤrtige haͤlt uns
mit Gewalt an ſich, oder wir verlieren uns
in die Vergangenheit und ſuchen das voͤllig
Verlorene, wie es nur moͤglich ſeyn will,
wieder hervorzurufen und herzuſtellen. Selbſt
in großen und reichen Familien, die ihren
Vorfahren vieles ſchuldig ſind, pflegt es ſo zu
gehen, daß man des Großvaters mehr als
des Vaters gedenkt.


Zu ſolchen Betrachtungen ward unſer
Gehuͤlfe aufgefordert, als er an einem der
ſchoͤnen Tage, an welchen der ſcheidende
[153] Winter den Fruͤhling zu luͤgen pflegt, durch
den großen alten Schloßgarten gegangen war
und die hohen Lindenalleen, die regelmaͤßigen
Anlagen, die ſich von Eduards Vater herſchrie¬
ben, bewundert hatte. Sie waren vortreff¬
lich gediehen, in dem Sinne desjenigen der
ſie pflanzte, und nun, da ſie erſt anerkannt
und genoſſen werden ſollten, ſprach Niemand
mehr von ihnen; man beſuchte ſie kaum und
hatte Liebhaberey und Aufwand gegen eine
andere Seite hin ins Freye und Weite ge¬
richtet.


Er machte bey ſeiner Ruͤckkehr Charlot¬
ten die Bemerkung, die ſie nicht unguͤnſtig
aufnahm. Indem uns das Leben fortzieht,
verſetzte ſie, glauben wir aus uns ſelbſt zu
handeln, unſre Thaͤtigkeit, unſre Vergnuͤgun¬
gen zu waͤhlen; aber freylich, wenn wir es
genau anſehen, ſo ſind es nur die Plane, die
Neigungen der Zeit, die wir mit auszufuͤhren
genoͤthigt ſind.


[154]

Gewiß, ſagte der Gehuͤlfe: und wer wi¬
derſteht dem Strome ſeiner Umgebungen.
Die Zeit ruͤckt fort und in ihr Geſinnungen,
Meynungen, Vorurtheile und Liebhabereyen.
Faͤllt die Jugend eines Sohnes gerade in die
Zeit der Umwendung, ſo kann man verſichert
ſeyn, daß er mit ſeinem Vater nichts gemein
haben wird. Wenn dieſer in einer Periode
lebte, wo man Luſt hatte ſich manches zuzu¬
eignen, dieſes Eigenthum zu ſichern, zu be¬
ſchraͤnken, einzuengen und in der Abſonde¬
rung von der Welt ſeinen Genuß zu befeſtigen;
ſo wird jener ſodann ſich auszudehnen ſuchen,
mittheilen, verbreiten und das Verſchloſſene er¬
oͤffnen.


Ganze Zeitraͤume, verſetzte Charlotte, glei¬
chen dieſem Vater und Sohn, den Sie ſchil¬
dern. Von jenen Zuſtaͤnden, da jede kleine
Stadt ihre Mauern und Graͤben haben mu߬
te, da man jeden Edelhof noch in einen
Sumpf baute, und die geringſten Schloͤſſer
[155] nur durch eine Zugbruͤcke zugaͤnglich waren,
davon koͤnnen wir uns kaum einen Begriff
machen. Sogar groͤßere Staͤdte tragen jetzt
ihre Waͤlle ab, die Graͤben ſelbſt fuͤrſtli¬
cher Schloͤſſer werden ausgefuͤllt, die Staͤdte
bilden nur große Flecken, und wenn man
ſo auf Reiſen das anſieht, ſollte man glauben:
der allgemeine Friede ſey befeſtigt und das
goldne Zeitalter vor der Thuͤre. Niemand
glaubt ſich in einem Garten behaglich, der
nicht einem freyen Lande aͤhnlich ſieht; an
Kunſt, an Zwang ſoll nichts erinnern, wir
wollen voͤllig frey und unbedingt Athem ſchoͤp¬
fen. Haben Sie wohl einen Begriff, mein
Freund, daß man aus dieſem in einen an¬
dern, in den vorigen Zuſtand zuruͤckkehren
koͤnne?


Warum nicht? verſetzte der Gehuͤlfe: je¬
der Zuſtand hat ſeine Beſchwerlichkeit, der
beſchraͤnkte ſowohl als der losgebundene. Der
letztere ſetzt Ueberfluß voraus und fuͤhrt zur
[156] Verſchwendung. Laſſen Sie uns bey Ihrem
Beyſpiel bleiben, das auffallend genug iſt.
Sobald der Mangel eintritt, ſogleich iſt die
Selbſtbeſchraͤnkung wiedergegeben. Menſchen
die ihren Grund und Boden zu nutzen ge¬
noͤthigt ſind, fuͤhren ſchon wieder Mauern
um ihre Gaͤrten auf, damit ſie ihrer Er¬
zeugniſſe ſicher ſeyen. Daraus entſteht nach
und nach eine neue Anſicht der Dinge.
Das Nuͤtzliche erhaͤlt wieder die Oberhand
und ſelbſt der Vielbeſitzende meynt zuletzt auch
das alles nutzen zu muͤſſen. Glauben Sie
mir: es iſt moͤglich, daß Ihr Sohn die
ſaͤmmtlichen Parkanlagen vernachlaͤſſigt und
ſich wieder hinter die ernſten Mauern und
unter die hohen Linden ſeines Großvaters zu¬
ruͤckzieht.


Charlotte war im Stillen erfreut, ſich ei¬
nen Sohn verkuͤndigt zu hoͤren, und verzieh
dem Gehuͤlfen deshalb die etwas unfreundliche
Prophezeyung, wie es dereinſt ihrem lieben
[157] ſchoͤnen Park ergehen koͤnne. Sie verſetzte
deshalb ganz freundlich: Wir ſind beyde noch
nicht alt genug um dergleichen Widerſpruͤche
mehrmals erlebt zu haben; allein wenn man
ſich in ſeine fruͤhe Jugend zuruͤckdenkt, ſich
erinnert woruͤber man von aͤlteren Per¬
ſonen klagen gehoͤrt, Laͤnder und Staͤdte mit
in die Betrachtung aufnimmt: ſo moͤchte wohl
gegen die Bemerkung nichts einzuwenden ſeyn.
Sollte man denn aber einem ſolchen Natur¬
gang nichts entgegenſetzen, ſollte man Vater
und Sohn, Aeltern und Kinder nicht in Ue¬
bereinſtimmung bringen koͤnnen? Sie haben
mir freundlich einen Knaben geweiſſagt; muͤßte
denn der gerade mit ſeinem Vater im Wider¬
ſpruch ſtehen? zerſtoͤren was ſeine Aeltern
erbaut haben? anſtatt es zu vollenden und
zu erheben wenn er in demſelben Sinne fort¬
faͤhrt.


Dazu giebt es auch wohl ein vernuͤnftiges
Mittel, verſetzte der Gehuͤlfe, das aber von
[158] den Menſchen ſelten angewandt wird. Der
Vater erhebe ſeinen Sohn zum Mitbeſitzer,
er laſſe ihn mitbauen, pflanzen, und erlaube
ihm, wie ſich ſelbſt, eine unſchaͤdliche Will¬
kuͤhr. Eine Thaͤtigkeit laͤßt ſich in die andre
verweben, keine an die andre anſtuͤckeln. Ein
junger Zweig verbindet ſich mit einem alten
Stamme gar leicht und gern, an den kein
erwachſener Aſt mehr anzufuͤgen iſt.


Es freute den Gehuͤlfen, in dem Augen¬
blick da er Abſchied zu nehmen ſich genoͤthigt
ſah, Charlotten zufaͤlligerweiſe etwas Ange¬
nehmes geſagt und ihre Gunſt aufs neue da¬
durch befeſtigt zu haben. Schon allzulange
war er von Hauſe weg, doch konnte er zur
Ruͤckreiſe ſich nicht eher entſchließen, als nach
voͤlliger Ueberzeugung, er muͤſſe die heranna¬
hende Epoche von Charlottens Niederkunft
erſt vorbeygehn laſſen, bevor er wegen Otti¬
liens irgend eine Entſcheidung hoffen koͤnne.
Er fuͤgte ſich deshalb in die Umſtaͤnde und
[159] kehrte mit dieſen Ausſichten und Hoffnungen
wieder zur Vorſteherinn zuruͤck.


Charlottens Niederkunft nahte heran.
Sie hielt ſich mehr in ihren Zimmern. Die
Frauen, die ſich um ſie verſammelt hatten,
waren ihre geſchloſſenere Geſellſchaft. Ottilie
beſorgte das Hausweſen indem ſie kaum dar¬
an denken durfte was ſie that. Sie hatte
ſich zwar voͤllig ergeben, ſie wuͤnſchte fuͤr
Charlotten, fuͤr das Kind, fuͤr Eduarden,
ſich auch noch ferner auf das dienſtlichſte zu
bemuͤhen, aber ſie ſah nicht ein, wie es moͤg¬
lich werden wollte. Nichts konnte ſie vor
voͤlliger Verworrenheit retten, als daß ſie je¬
den Tag ihre Pflicht that.


Ein Sohn war gluͤcklich zur Welt gekom¬
men, und die Frauen verſicherten ſaͤmmtlich,
es ſey der ganze leibhafte Vater. Nur
Ottilie konnte es im Stillen nicht finden, als
ſie der Woͤchnerinn Gluͤck wuͤnſchte und das
[160] Kind auf das herzlichſte begruͤßte. Schon
bey den Anſtalten zur Verheiratung ihrer
Tochter war Charlotten die Abweſenheit ihres
Gemahls hoͤchſt fuͤhlbar geweſen; nun ſollte
der Vater auch bey der Geburt des Sohnes
nicht gegenwaͤrtig ſeyn; er ſollte den Namen
nicht beſtimmen, bey dem man ihn kuͤnftig
rufen wuͤrde.


Der erſte von allen Freunden die ſich
gluͤckwuͤnſchend ſehen ließen, war Mittler, der
ſeine Kundſchafter ausgeſtellt hatte um von
dieſem Ereigniß ſogleich Nachricht zu erhal¬
ten. Er fand ſich ein und zwar ſehr behag¬
lich. Kaum daß er ſeinen Triumph in Ge¬
genwart Ottiliens verbarg, ſo ſprach er ſich
gegen Charlotten laut aus, und war der
Mann alle Sorgen zu heben und alle augen¬
blicklichen Hinderniſſe bey Seite zu bringen.
Die Taufe ſollte nicht lange aufgeſchoben
werden. Der alte Geiſtliche, mit einem Fuß
ſchon im Grabe, ſollte durch ſeinen Segen
[161] das Vergangene mit dem Zukuͤnftigen zuſam¬
menknuͤpfen; Otto ſollte das Kind heißen:
es konnte keinen andern Namen fuͤhren als
den Namen des Vaters und des Freundes.


Es bedurfte der entſchiedenen Zudringlich¬
keit dieſes Mannes, um die hunderterley Be¬
denklichkeiten, das Widerreden, Zaudern,
Stocken, Beſſer- und Anderswiſſen, das
Schwanken, Meynen, Um- und Wiedermey¬
nen zu beſeitigen; da gewoͤhnlich bey ſolchen
Gelegenheiten aus einer gehobenen Bedenk¬
lichkeit immer wieder neue entſtehen, und in¬
dem man alle Verhaͤltniſſe ſchonen will, im¬
mer der Fall eintritt, einige zu verletzen.


Alle Meldungsſchreiben und Gevatterbriefe
uͤbernahm Mittler; ſie ſollten gleich ausge¬
fertigt ſeyn: denn ihm war ſelbſt hoͤchlich dar¬
an gelegen, ein Gluͤck das er fuͤr die Fami¬
lie ſo bedeutend hielt, auch der uͤbrigen mit
unter mißwollenden und mißredenden Welt
II. 11[162] bekannt zu machen. Und freylich waren die
bisherigen leidenſchaftlichen Vorfaͤlle dem Pu¬
blikum nicht entgangen, das ohnehin in der
Ueberzeugung ſteht, alles was geſchieht, ge¬
ſchehe nur dazu, damit es etwas zu reden
habe.


Die Feyer des Taufactes ſollte wuͤrdig
aber beſchraͤnkt und kurz ſeyn. Man kam zu¬
ſammen, Ottilie und Mittler ſollten das Kind
als Taufzeugen halten. Der alte Geiſtliche,
unterſtuͤtzt vom Kirchdiener, trat mit langſamen
Schritten heran. Das Gebet war verrichtet,
Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und
als ſie mit Neigung auf daſſelbe herunterſah,
erſchrak ſie nicht wenig an ſeinen offenen Au¬
gen: denn ſie glaubte in ihre eigenen zu ſe¬
hen, eine ſolche Uebereinſtimmung haͤtte Je¬
den uͤberraſchen muͤſſen. Mittler, der zunaͤchſt
das Kind empfing, ſtutzte gleichfalls, indem
er in der Bildung deſſelben eine ſo auffallende
Aehnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann
[163] erblickte, dergleichen ihm ſonſt noch nie vor¬
gekommen war.


Die Schwaͤche des guten alten Geiſtlichen
hatte ihn gehindert, die Taufhandlung mit
mehrerem als der gewoͤhnlichen Liturgie zu
begleiten. Mittler indeſſen, voll von dem
Gegenſtande, gedachte ſeiner fruͤhern Amts¬
verrichtungen und hatte uͤberhaupt die Art,
ſich ſogleich in jedem Falle zu denken, wie er
nun reden, wie er ſich aͤußern wuͤrde. Die߬
mal konnte er ſich um ſo weniger zuruͤckhalten,
als es nur eine kleine Geſellſchaft von lauter
Freunden war, die ihn umgab. Er fing da¬
her an, gegen das Ende des Acts, mit Be¬
haglichkeit ſich an die Stelle des Geiſtlichen
zu verſetzen, in einer muntern Rede ſeine
Pathenpflichten und Hoffnungen zu aͤußern
und um ſo mehr dabey zu verweilen, als er
Charlottens Beyfall in ihrer zufriedenen Miene
zu erkennen glaubte.


11 *[164]

Daß der gute alte Mann ſich gern ge¬
ſetzt haͤtte, entging dem ruͤſtigen Redner, der
noch viel weniger dachte, daß er ein groͤßeres
Uebel hervorzubringen auf dem Wege war:
denn nachdem er das Verhaͤltniß eines jeden
Anweſenden zum Kinde mit Nachdruck geſchil¬
dert und Ottiliens Faſſung dabey ziemlich
auf die Probe geſtellt hatte; ſo wandte er
ſich zuletzt gegen den Greis mit dieſen Wor¬
ten: Und Sie, mein wuͤrdiger Altvater, koͤn¬
nen nunmehr mit Simeon ſprechen: Herr
laß deinen Diener in Frieden fahren; denn
meine Augen haben den Heiland dieſes Hauſes
geſehen.


Nun war er im Zuge recht glaͤnzend zu
ſchließen, aber er bemerkte bald, daß der
Alte, dem er das Kind hinhielt, ſich zwar
erſt gegen daſſelbe zu neigen ſchien, nachher
aber ſchnell zuruͤckſank. Vom Fall kaum ab¬
gehalten ward er in einen Seſſel gebracht
[165] und man mußte ihn, ungeachtet aller augen¬
blicklichen Beyhuͤlfe, fuͤr todt anſprechen.


So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg
und Wiege neben einander zu ſehen und zu
denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft,
ſondern mit den Augen dieſe ungeheuern Ge¬
genſaͤtze zuſammenzufaſſen, war fuͤr die Um¬
ſtehenden eine ſchwere Aufgabe, je uͤberraſchen¬
der ſie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrach¬
tete den Eingeſchlummerten, der noch immer
ſeine freundliche einnehmende Miene behalten
hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben
ihrer Seele war getoͤdtet, warum ſollte der
Koͤrper noch erhalten werden?


Fuͤhrten ſie auf dieſe Weiſe gar manch¬
mal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags
auf die Betrachtung der Vergaͤnglichkeit, des
Scheidens, des Verlierens; ſo waren ihr da¬
gegen wunderſame naͤchtliche Erſcheinungen
zum Troſt gegeben, die ihr das Daſeyn
[166] des Geliebten verſicherten und ihr eigenes be¬
feſtigten und belebten. Wenn ſie ſich Abends
zur Ruhe gelegt, und im ſuͤßen Gefuͤhl noch
zwiſchen Schlaf und Wachen ſchwebte, ſchien
es ihr, als wenn ſie in einen ganz hellen
doch mild erleuchteten Raum hineinblickte.
In dieſem ſah ſie Eduarden ganz deutlich
und zwar nicht gekleidet wie ſie ihn ſonſt ge¬
ſehen, ſondern im kriegeriſchen Anzug, jedes¬
mal in einer andern Stellung, die aber voll¬
kommen natuͤrlich war und nichts Phantaſti¬
ſches an ſich hatte: ſtehend, gehend, liegend,
reitend. Die Geſtalt bis aufs kleinſte ausge¬
malt bewegte ſich willig vor ihr, ohne daß
ſie das mindeſte dazu that, ohne daß ſie
wollte oder die Einbildungskraft anſtrengte.
Manchmal ſah ſie ihn auch umgeben, beſon¬
ders von etwas Beweglichem, das dunkler
war als der helle Grund; aber ſie unterſchied
kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als
Menſchen, als Pferde, als Baͤume und Ge¬
birge vorkommen konnten. Gewoͤhnlich ſchlief
[167] ſie uͤber der Erſcheinung ein, und wenn ſie
nach einer ruhigen Nacht morgens wieder er¬
wachte; ſo war ſie erquickt, getroͤſtet, ſie
fuͤhlte ſich uͤberzeugt: Eduard lebe noch,
ſie ſtehe mit ihm noch in dem innigſten Ver¬
haͤltniß.

[[168]]

Neuntes Kapitel.

Der Fruͤhling war gekommen, ſpaͤter aber
auch raſcher und freudiger als gewoͤhnlich. Otti¬
lie fand nun im Garten die Frucht ihres Vor¬
ſehens: alles keimte, gruͤnte und bluͤhte zur
rechten Zeit; manches was hinter wohl ange¬
legten Glashaͤuſern und Beeten vorbereitet
worden, trat nun ſogleich der endlich von
außen wirkenden Natur entgegen, und alles
was zu thun und zu beſorgen war, blieb
nicht bloß hoffnungsvolle Muͤhe wie bisher,
ſondern ward zum heitern Genuſſe.


An dem Gaͤrtner aber hatte ſie zu troͤſten
uͤber manche durch Lucianens Wildheit ent¬
ſtandene Luͤcke unter den Topfgewaͤchſen, uͤber
[169] die zerſtoͤrte Symmetrie mancher Baumkrone.
Sie machte ihm Muth, daß ſich das alles
bald wieder herſtellen werde; aber er hatte
zu ein tiefes Gefuͤhl, zu einen reinen Begriff
von ſeinem Handwerk, als daß dieſe Troſt¬
gruͤnde viel bey ihm haͤtten fruchten ſollen.
So wenig der Gaͤrtner ſich durch andere Lieb¬
habereyen und Neigungen zerſtreuen darf,
ſo wenig darf der ruhige Gang unterbro¬
chen werden, den die Pflanze zur dauern¬
den oder zur voruͤbergehenden Vollendung
nimmt. Die Pflanze gleicht den eigenſinni¬
gen Menſchen, von denen man alles erhalten
kann, wenn man ſie nach ihrer Art behan¬
delt. Ein ruhiger Blick, eine ſtille Conſe¬
quenz, in jeder Jahrszeit, in jeder Stunde
das ganz Gehoͤrige zu thun, wird vielleicht
von Niemand mehr als vom Gaͤrtner ver¬
langt.


Dieſe Eigenſchaften beſaß der gute Mann
in einem hohen Grade, deswegen auch Ottilie
[170] ſo gern mit ihm wirkte; aber ſein eigentliches
Talent konnte er ſchon einige Zeit nicht mehr
mit Behaglichkeit ausuͤben. Denn ob er
gleich alles was die Baum- und Kuͤchengaͤrt¬
nerey betraf, auch die Erforderniſſe eines aͤl¬
teren Ziergartens, vollkommen zu leiſten ver¬
ſtand — wie denn uͤberhaupt einem vor dem
andern dieſes oder jenes gelingt — ob er
ſchon in Behandlung der Orangerie, der Blu¬
menzwiebeln, der Nelken- und Aurikelnſtoͤcke,
die Natur ſelbſt haͤtte herausfordern koͤnnen:
ſo waren ihm doch die neuen Zierbaͤume und
Modeblumen einigermaßen fremd geblieben,
und er hatte vor dem unendlichen Felde der
Botanik, das ſich nach der Zeit aufthat, und
den darin herumſummenden fremden Namen,
eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich
machte. Was die Herrſchaft voriges Jahr
zu verſchreiben angefangen, hielt er um ſo
mehr fuͤr unnuͤtzen Aufwand und Verſchwen¬
dung, als er gar manche koſtbare Pflanze
ausgehen ſah, und mit den Handelsgaͤrtnern
[171] die ihn, wie er glaubte, nicht redlich genug
bedienten, in keinem ſonderlichen Verhaͤlt¬
niſſe ſtand.


Er hatte ſich daruͤber, nach mancherley
Verſuchen, eine Art von Plan gemacht, in
welchem ihn Ottilie um ſo mehr beſtaͤrkte, als
er auf die Wiederkehr Eduards eigentlich ge¬
gruͤndet war, deſſen Abweſenheit man in die¬
ſem wie in manchem andern Falle taͤglich
nachtheiliger empfinden mußte.


Indem nun die Pflanzen immer mehr
Wurzel ſchlugen und Zweige trieben, fuͤhlte
ſich auch Ottilie immer mehr an dieſe Raͤume
gefeſſelt. Gerade vor einem Jahre trat ſie
als Fremdling, als ein unbedeutendes Weſen
hier ein; wie viel hatte ſie ſich ſeit jener Zeit
nicht erworben! aber leider wie viel hatte ſie
nicht auch ſeit jener Zeit wieder verloren!
Sie war nie ſo reich und nie ſo arm gewe¬
ſen. Das Gefuͤhl von beydem wechſelte au¬
[172] genblicklich mit einander ab, ja durchkreuzte
ſich aufs innigſte, ſo daß ſie ſich nicht anders
zu helfen wußte, als daß ſie immer wieder
das Naͤchſte mit Antheil, ja mit Leidenſchaft
ergriff.


Daß alles was Eduarden beſonders lieb
war, auch ihre Sorgfalt am ſtaͤrkſten an ſich
zog, laͤßt ſich denken; ja warum ſollte ſie
nicht hoffen, daß er ſelbſt nun bald wieder¬
kommen, daß er die vorſorgliche Dienſtlich¬
keit, die ſie dem Abweſenden geleiſtet, dank¬
bar gegenwaͤrtig bemerken werde.


Aber noch auf eine viel andre Weiſe war
ſie veranlaßt fuͤr ihn zu wirken. Sie hatte
vorzuͤglich die Sorge fuͤr das Kind uͤbernom¬
men, deſſen unmittelbare Pflegerinn ſie um
ſo mehr werden konnte, als man es keiner
Amme zu uͤbergeben, ſondern mit Milch und
Waſſer aufzuziehen ſich entſchieden hatte. Es
ſollte in jener ſchoͤnen Zeit der freyen Luft
[173] genießen; und ſo trug ſie es am liebſten
ſelbſt heraus, trug das ſchlafende unbewußte
zwiſchen Blumen und Bluͤthen her, die der¬
einſt ſeiner Kindheit ſo freundlich entgegen
lachen ſollten, zwiſchen jungen Straͤuchen und
Pflanzen, die mit ihm in die Hoͤhe zu wach¬
ſen durch ihre Jugend beſtimmt ſchienen.
Wenn ſie um ſich her ſah, ſo verbarg ſie
ſich nicht, zu welchem großen reichen Zuſtande
das Kind geboren ſey: denn faſt alles wohin
das Auge blickte, ſollte dereinſt ihm gehoͤ¬
ren. Wie wuͤnſchenswerth war es zu dieſem
allen, daß es vor den Augen des Vaters,
der Mutter, aufwuͤchſe und eine erneute frohe
Verbindung beſtaͤtigte.


Ottilie fuͤhlte dieß alles ſo rein, daß ſie
ſich's als entſchieden wirklich dachte und ſich
ſelbſt dabey gar nicht empfand. Unter dieſem
klaren Himmel, bey dieſem hellen Sonnen¬
ſchein, ward es ihr auf einmal klar, daß
ihre Liebe, um ſich zu vollenden, voͤllig un¬
[174] eigennuͤtzig werden muͤſſe; ja in manchen Au¬
genblicken glaubte ſie dieſe Hoͤhe ſchon er¬
reicht zu haben. Sie wuͤnſchte nur das
Wohl ihres Freundes, ſie glaubte ſich faͤhig
ihm zu entſagen, ſogar ihn niemals wieder
zu ſehen, wenn ſie ihn nur gluͤcklich wiſſe.
Aber ganz entſchieden war ſie fuͤr ſich, nie¬
mals einem andern anzugehoͤren.


Daß der Herbſt eben ſo herrlich wuͤrde
wie der Fruͤhling, dafuͤr war geſorgt. Alle
ſogenannte Sommergewaͤchſe, alles was im
Herbſt mit Bluͤhen nicht enden kann und
ſich der Kaͤlte noch keck entgegen entwickelt,
Aſtern beſonders, waren in der groͤßten Man¬
nigfaltigkeit geſaͤt und ſollten nun uͤberall¬
hin verpflanzt, einen Sternhimmel uͤber die
Erde bilden.


[175]

Aus

Ottiliens Tagebuche.

„Einen guten Gedanken den wir geleſen,
etwas Auffallendes das wir gehoͤrt, tragen
wir wohl in unſer Tagebuch. Naͤhmen wir
uns aber zugleich die Muͤhe, aus den Briefen
unſerer Freunde eigenthuͤmliche Bemerkungen,
originelle Anſichten, fluͤchtige geiſtreiche Worte
auszuzeichnen, ſo wuͤrden wir ſehr reich wer¬
den. Briefe hebt man auf, um ſie nie wie¬
der zu leſen; man zerſtoͤrt ſie zuletzt einmal
aus Discretion, und ſo verſchwindet der
ſchoͤnſte unmittelbarſte Lebenshauch unwieder¬
bringlich fuͤr uns und andre. Ich nehme
mir vor, dieſes Verſaͤumniß wieder gut zu
machen.“


[176]

„So wiederhohlt ſich denn abermals das
Jahresmaͤhrchen von vorn. Wir ſind nun
wieder, Gott ſey Dank! an ſeinem artig¬
ſten Kapitel. Veilchen und Mayblumen ſind
wie Ueberſchriften oder Vignetten dazu. Es
macht uns immer einen angenehmen Eindruck,
wenn wir ſie in dem Buche des Lebens wie¬
der aufſchlagen.“


„Wir ſchelten die Armen, beſonders die
Unmuͤndigen, wenn ſie ſich an den Straßen
herumlegen und betteln. Bemerken wir nicht,
daß ſie gleich thaͤtig ſind, ſobald es was zu
thun giebt? Kaum entfaltet die Natur ihre
freundlichen Schaͤtze, ſo ſind die Kinder da¬
hinterher um ein Gewerbe zu eroͤffnen; keines
bettelt mehr; jedes reicht dir einen Strauß;
es hat ihn gepfluͤckt ehe du vom Schlaf er¬
wachteſt, und das Bittende ſieht dich ſo
freundlich an wie die Gabe. Niemand ſieht
erbaͤrmlich aus, der ſich einiges Recht fuͤhlt,
fordern zu duͤrfen.“


[177]

„Warum nur das Jahr manchmal ſo
kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo
kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung!
Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬
gends auffallender als im Garten, wie ver¬
gaͤngliches und dauerndes in einander greift.
Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine
Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.“


„Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen.
Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn
die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor
uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken
auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen
und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬
duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die
Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich
als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.“


„Alles Vollkommene in ſeiner Art muß
uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas
anderes unvergleichbares werden. In manchen
II. 12[178] Toͤnen iſt die Nachtigall noch Vogel; dann
ſteigt ſie uͤber ihre Claſſe hinuͤber und ſcheint
jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was
eigentlich ſingen heiße.“


„Ein Leben ohne Liebe, ohne die Naͤhe
des Geliebten, iſt nur eine Comédie à tiroir,
ein ſchlechtes Schubladenſtuͤck. Man ſchiebt
eine nach der anderen heraus und wieder hin¬
ein und eilt zur folgenden. Alles was auch
gutes und bedeutendes vorkommt, haͤngt nur
kuͤmmerlich zuſammen. Man muß uͤberall von
vorn anfangen und moͤchte uͤberall enden.“

[[179]]

Zehntes Kapitel.

Charlotte von ihrer Seite befindet ſich
munter und wohl. Sie freut ſich an
dem tuͤchtigen Knaben, deſſen viel verſpre¬
chende Geſtalt ihr Auge und Gemuͤth ſtuͤnd¬
lich beſchaͤftigt. Sie erhaͤlt durch ihn einen
neuen Bezug auf die Welt und auf den Be¬
ſitz. Ihre alte Thaͤtigkeit regt ſich wieder;
ſie erblickt, wo ſie auch hinſieht, im vergan¬
genen Jahre vieles gethan und empfindet
Freude am Gethanen. Von einem eigenen
Gefuͤhl belebt ſteigt ſie zur Mooshuͤtte mit
Ottilien und dem Kinde, und indem ſie dieſes
auf den kleinen Tiſch, als auf einen haͤuslichen
Altar niederlegt, und noch zwey Plaͤtze leer
ſieht, gedenkt ſie der vorigen Zeiten und eine
12 *[180] neue Hoffnung fuͤr ſie und Ottilien dringt
hervor.


Junge Frauenzimmer ſehen ſich beſcheiden
vielleicht nach dieſem oder jenem Juͤngling
um, mit ſtiller Pruͤfung, ob ſie ihn wohl
zum Gatten wuͤnſchten; wer aber fuͤr eine
Tochter oder einen weiblichen Zoͤgling zu ſor¬
gen hat, ſchaut in einem weitern Kreis um¬
her. So ging es auch in dieſem Augenblick
Charlotten, der eine Verbindung des Haupt¬
manns mit Ottilien nicht unmoͤglich ſchien,
wie ſie doch auch ſchon ehemals in dieſer
Huͤtte neben einander geſeſſen hatten. Ihr
war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aus¬
ſicht auf eine vortheilhafte Heirat wieder
verſchwunden ſey.


Charlotte ſtieg weiter und Ottilie trug
das Kind. Jene uͤberließ ſich mancherley
Betrachtungen. Auch auf dem feſten Lande
giebt es wohl Schiffbruch; ſich davon auf das
[181] ſchnellſte zu erhohlen und herzuſtellen, iſt ſchoͤn
und preiswuͤrdig. Iſt doch das Leben nur
auf Gewinn und Verluſt berechnet. Wer
macht nicht irgend eine Anlage und wird dar¬
in geſtoͤrt! Wie oft ſchlaͤgt man einen Weg
ein und wird davon abgeleitet! Wie oft wer¬
den wir von einem ſcharf ins Auge gefaßten
Ziel abgelenkt, um ein hoͤheres zu erreichen!
Der Reiſende bricht unterwegs zu ſeinem
hoͤchſten Verdruß ein Rad und gelangt durch
dieſen unangenehmen Zufall zu den erfreulich¬
ſten Bekanntſchaften und Verbindungen, die
auf ſein ganzes Leben Einfluß haben. Das
Schickſal gewaͤhrt uns unſre Wuͤnſche, aber
auf ſeine Weiſe, um uns etwas uͤber unſere
Wuͤnſche geben zu koͤnnen.


Dieſe und aͤhnliche Betrachtungen waren
es, unter denen Charlotte zum neuen Ge¬
baͤude auf der Hoͤhe gelangte, wo ſie voll¬
kommen beſtaͤtigt wurden. Denn die Um¬
gebung war viel ſchoͤner als man ſich's hatte
[182] denken koͤnnen. Alles ſtoͤrende Kleinliche war
rings umher entfernt; alles Gute der Land¬
ſchaft, was die Natur, was die Zeit daran ge¬
than hatte, trat reinlich hervor und fiel ins Au¬
ge, und ſchon gruͤnten die jungen Pflanzungen,
die beſtimmt waren, einige Luͤcken auszufuͤllen
und die abgeſonderten Theile angenehm zu
verbinden.


Das Haus ſelbſt war nahezu bewohn¬
bar; die Ausſicht, beſonders aus den obern
Zimmern, hoͤchſt mannigfaltig. Je laͤnger
man ſich umſah, deſto mehr Schoͤnes entdeckte
man. Was mußten nicht hier die verſchiede¬
nen Tagszeiten, was Mond und Sonne fuͤr
Wirkungen hervorbringen! Hier zu verweilen
war hoͤchſt wuͤnſchenswerth, und wie ſchnell
ward die Luſt zu bauen und zu ſchaffen in
Charlotten wieder erweckt, da ſie alle grobe
Arbeit gethan fand. Ein Tiſcher, ein Tape¬
zirer, ein Maler, der mit Patronen und
leichter Vergoldung ſich zu helfen wußte, nur
[183] dieſer bedurfte man, und in kurzer Zeit war
das Gebaͤude im Stande. Keller und Kuͤche
wurden ſchnell eingerichtet: denn in der Entfer¬
nung vom Schloſſe mußte man alle Beduͤrf¬
niſſe um ſich verſammeln. So wohnten die
Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und
von dieſem Aufenthalt, als von einem neuen
Mittelpunkt, eroͤffneten ſich ihnen unerwartete
Spaziergaͤnge. Sie genoſſen vergnuͤglich in
einer hoͤheren Region der freyen friſchen Luft
bey dem ſchoͤnſten Wetter.


Ottiliens liebſter Weg, theils allein, theils
mit dem Kinde, ging herunter nach den Pla¬
tanen auf einem bequemen Fußſteig, der ſo¬
dann zu dem Puncte leitete, wo einer der
Kaͤhne angebunden war, mit denen man
uͤberzufahren pflegte. Sie erfreute ſich manch¬
mal einer Waſſerfahrt; allein ohne das Kind,
weil Charlotte deshalb einige Beſorgniß zeigte.
Doch verfehlte ſie nicht, taͤglich den Gaͤrtner
im Schloßgarten zu beſuchen und an ſeiner
[184] Sorgfalt fuͤr die vielen Pflanzenzoͤglinge, die
nun alle der freyen Luft genoſſen, freundlich
Theil zu nehmen.


In dieſer ſchoͤnen Zeit kam Charlotten
der Beſuch eines Englaͤnders ſehr gelegen, der
Eduarden auf Reiſen kennen gelernt, einige¬
mal getroffen hatte und nunmehr neugierig war,
die ſchoͤnen Anlagen zu ſehen, von denen er
ſo viel Gutes erzaͤhlen hoͤrte. Er brachte
ein Empfehlungsſchreiben vom Grafen mit
und ſtellte zugleich einen ſtillen aber ſehr ge¬
faͤlligen Mann als ſeinen Begleiter vor. In¬
dem er nun bald mit Charlotten und Otti¬
lien, bald mit Gaͤrtnern und Jaͤgern, oͤfters
mit ſeinem Begleiter, und manchmal allein
die Gegend durchſtrich; ſo konnte man ſeinen
Bemerkungen wohl anſehen, daß er ein Lieb¬
haber und Kenner ſolcher Anlagen war, der
wohl auch manche dergleichen ſelbſt ausgefuͤhrt
hatte. Obgleich in Jahren nahm er auf eine
heitere Weiſe an allem Theil, was dem Le¬
[185] ben zur Zierde gereichen und es bedeutend
machen kann.


In ſeiner Gegenwart genoſſen die Frauen¬
zimmer erſt vollkommen ihrer Umgebung. Sein
geuͤbtes Auge empfing jeden Effect ganz
friſch, und er hatte um ſomehr Freude an
dem Entſtandenen, als er die Gegend vorher
nicht gekannt, und was man daran gethan,
von dem was die Natur geliefert, kaum zu
unterſcheiden wußte.


Man kann wohl ſagen, daß durch ſeine
Bemerkungen der Park wuchs und ſich berei¬
cherte. Schon zum voraus erkannte er, was
die neuen heranſtrebenden Pflanzungen ver¬
ſprachen. Keine Stelle blieb ihm unbemerkt,
wo noch irgend eine Schoͤnheit hervorzuheben
oder anzubringen war. Hier deutete er auf
eine Quelle, welche gereinigt, die Zierde ei¬
ner ganzen Buſchpartie zu werden verſprach;
hier auf eine Hoͤhle, die ausgeraͤumt und er¬
[186] weitert, einen erwuͤnſchten Ruheplatz geben
konnte, indeſſen man nur wenige Baͤume zu
faͤllen brauchte, um von ihr aus herrliche
Felſenmaſſen aufgethuͤrmt zu erblicken. Er
wuͤnſchte den Bewohnern Gluͤck, daß ihnen
ſo manches nachzuarbeiten uͤbrig blieb, und
erſuchte ſie, damit nicht zu eilen, ſondern
fuͤr folgende Jahre ſich das Vergnuͤgen des
Schaffens und Einrichtens vorzubehalten.


Uebrigens war er außer den geſelligen
Stunden keineswegs laͤſtig: denn er beſchaͤf¬
tigte ſich die groͤßte Zeit des Tags, die ma¬
leriſchen Ausſichten des Parks in einer trag¬
baren dunklen Kammer aufzufangen und zu
zeichnen, um dadurch ſich und andern von ſeinen
Reiſen eine ſchoͤne Frucht zu gewinnen. Er
hatte dieſes, ſchon ſeit mehreren Jahren,
in allen bedeutenden Gegenden gethan und
ſich dadurch die angenehmſte und intereſſan¬
teſte Sammlung verſchafft. Ein großes Porte¬
feuille das er mit ſich fuͤhrte, zeigte er den
[187] Damen vor und unterhielt ſie, theils durch
das Bild, theils durch die Auslegung. Sie
freuten ſich, hier in ihrer Einſamkeit die
Welt ſo bequem zu durchreiſen, Ufer und
Haͤfen, Berge, Seen und Fluͤſſe, Staͤdte,
Caſtelle und manches andre Local, das in
der Geſchichte einen Namen hat, vor ſich vor¬
beyziehen zu ſehen.


Jede von beyden Frauen hatte ein beſon¬
deres Intereſſe; Charlotte das allgemeinere,
gerade an dem, wo ſich etwas hiſtoriſch
merkwuͤrdiges fand, waͤhrend Ottilie ſich vor¬
zuͤglich bey den Gegenden aufhielt, wovon
Eduard viel zu erzaͤhlen pflegte, wo er gern
verweilt, wohin er oͤfters zuruͤckgekehrt: denn
jeder Menſch hat in der Naͤhe und in der
Ferne gewiſſe oͤrtliche Einzelnheiten die ihn
anziehen, die ihm, ſeinem Character nach,
um des erſten Eindrucks, gewiſſer Umſtaͤnde,
der Gewohnheit willen, beſonders lieb und
aufregend ſind.


[188]

Sie fragte daher den Lord, wo es ihm
denn am beſten gefalle, und wo er nun ſeine
Wohnung aufſchlagen wuͤrde, wenn er zu
waͤhlen haͤtte. Da wußte er denn mehr als
Eine ſchoͤne Gegend vorzuzeigen, und was ihm
dort widerfahren, um ſie ihm lieb und werth
zu machen, in ſeinem eigens accentuirten Fran¬
zoͤſiſch gar behaglich mitzutheilen.


Auf die Frage hingegen, wo er ſich denn
jetzt gewoͤhnlich aufhalte, wohin er am lieb¬
ſten zuruͤckkehre, ließ er ſich ganz unbewun¬
den, doch den Frauen unerwartet, alſo ver¬
nehmen.


Ich habe mir nun angewoͤhnt uͤberall zu
Hauſe zu ſeyn und finde zuletzt nichts be¬
quemer, als daß andre fuͤr mich bauen, pflan¬
zen und ſich haͤuslich bemuͤhen. Nach mei¬
nen eigenen Beſitzungen ſehne ich mich nicht
zuruͤck, theils aus politiſchen Urſachen, vorzuͤg¬
lich aber weil mein Sohn, fuͤr den ich alles
[189] eigentlich gethan und eingerichtet, dem ich es
zu uͤbergeben, mit dem ich es noch zu genießen
hoffte, an allem keinen Theil nimmt, ſondern
nach Indien gegangen iſt, um ſein Leben dort,
wie mancher andere, hoͤher zu nutzen, oder
gar zu vergeuden.


Gewiß wir machen viel zu viel vorarbei¬
tenden Aufwand aufs Leben. Anſtatt daß
wir gleich anfingen uns in einem maͤßigen
Zuſtand behaglich zu finden, ſo gehen wir
immer mehr ins Breite, um es uns immer un¬
bequemer zu machen. Wer genießt jetzt meine
Gebaͤude, meinen Park, meine Gaͤrten?
Nicht ich, nicht einmal die Meinigen; fremde
Gaͤſte, Neugierige, unruhige Reiſende.


Selbſt bey vielen Mitteln ſind wir immer
nur halb und halb zu Hauſe, beſonders auf
dem Lande, wo uns manches Gewohnte der
Stadt fehlt. Das Buch das wir am eifrig¬
ſten wuͤnſchten, iſt nicht zur Hand, und ge¬
[190] rade was wir am meiſten beduͤrften, iſt ver¬
geſſen. Wir richten uns immer haͤuslich ein,
um wieder auszuziehen, und wenn wir es
nicht mit Willen und Willkuͤhr thun; ſo wirken
Verhaͤltniſſe, Leidenſchaften, Zufaͤlle, Noth¬
wendigkeit und was nicht alles.


Der Lord ahndete nicht, wie tief durch
ſeine Betrachtungen die Freundinnen getroffen
wurden. Und wie oft kommt nicht Jeder in
dieſe Gefahr, der eine allgemeine Betrachtung
ſelbſt in einer Geſellſchaft deren Verhaͤltniſſe
ihm ſonſt bekannt ſind, ausſpricht. Charlot¬
ten war eine ſolche zufaͤllige Verletzung auch
durch Wohlwollende und Gutmeynende nichts
Neues; und die Welt lag ohnehin ſo deut¬
lich vor ihren Augen, daß ſie keinen beſondern
Schmerz empfand, wenn gleich Jemand ſie
unbedachtſam und unvorſichtig noͤthigte, ihren
Blick da oder dorthin auf eine unerfreuliche
Stelle zu richten. Ottilie hingegen, die in
halbbewußter Jugend mehr ahndete als ſah,
[191] und ihren Blick wegwenden durfte ja mußte
von dem was ſie nicht ſehen mochte und
ſollte, Ottilie ward durch dieſe traulichen
Reden in den ſchrecklichſten Zuſtand verſetzt:
denn es zerriß mit Gewalt vor ihr der an¬
muthige Schleyer, und es ſchien ihr, als
wenn alles was bisher fuͤr Haus und Hof,
fuͤr Garten, Park und die ganze Umgebung
geſchehen war, ganz eigentlich umſonſt ſey,
weil der dem es alles gehoͤrte, es nicht ge¬
noͤſſe, weil auch der, wie der gegenwaͤrtige
Gaſt, zum Herumſchweifen in der Welt und
zwar zu dem gefaͤhrlichſten, durch die Lieb¬
ſten und Naͤchſten gedraͤngt worden. Sie
hatte ſich an Hoͤren und Schweigen gewoͤhnt,
aber ſie ſaß dießmal in der peinlichſten Lage,
die durch des Fremden weiteres Geſpraͤch eher
vermehrt als vermindert wurde, das er mit
heiterer Eigenheit und Bedaͤchtlichkeit fortſetzte.


Nun glaub' ich, ſagte er, auf dem rech¬
ten Wege zu ſeyn, da ich mich immerfort als
[192] einen Reiſenden betrachte, der vielem entſagt,
um vieles zu genießen. Ich bin an den
Wechſel gewoͤhnt, ja er wird mir Beduͤrf¬
niß, wie man in der Oper immer wieder auf
eine neue Decoration wartet, gerade weil
ſchon ſo viele da geweſen. Was ich mir
von dem beſten und dem ſchlechteſten Wirths¬
hauſe verſprechen darf, iſt mir bekannt: es
mag ſo gut oder ſchlimm ſeyn als es will,
nirgends find' ich das Gewohnte, und am
Ende laͤuft es auf Eins hinaus, ganz von
einer nothwendigen Gewohnheit, oder ganz
von der willkuͤhrlichſten Zufaͤlligkeit abzuhan¬
gen. Wenigſtens habe ich jetzt nicht den
Verdruß, daß etwas verlegt oder verloren
iſt, daß mir ein taͤgliches Wohnzimmer un¬
brauchbar wird, weil ich es muß repariren
laſſen, daß man mir eine liebe Taſſe zer¬
bricht und es mir eine ganze Zeit aus keiner
andern ſchmecken will. Alles deſſen bin ich
uͤberhoben, und wenn mir das Haus uͤber
dem Kopf zu brennen anfaͤngt, ſo packen
[193] meine Leute gelaſſen ein und auf, und wir
fahren zu Hofraum und Stadt hinaus.
Und bey allen dieſen Vortheilen, wenn ich es
genau berechne, habe ich am Ende des Jahrs
nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hauſe
gekoſtet haͤtte.


Bey dieſer Schilderung ſah Ottilie nur
Eduarden vor ſich, wie er nun auch, mit Ent¬
behren und Beſchwerde, auf ungebahnten
Straßen hinziehe, mit Gefahr und Noth zu
Felde liege, und bey ſo viel Unbeſtand und
Wagniß ſich gewoͤhne heimatlos und freund¬
los zu ſeyn, alles wegzuwerfen nur um
nicht verlieren zu koͤnnen. Gluͤcklicherweiſe
trennte ſich die Geſellſchaft fuͤr einige Zeit.
Ottilie fand Raum ſich in der Einſamkeit
auszuweinen. Gewaltſamer hatte ſie kein
dumpfer Schmerz ergriffen, als dieſe Klar¬
heit, die ſie ſich noch klarer zu machen ſtreb¬
te, wie man es zu thun pflegt, daß man ſich
II. 13[194] ſelbſt peinigt, wenn man einmal auf dem
Wege iſt gepeinigt zu werden.


Der Zuſtand Eduards kam ihr ſo kuͤm¬
merlich, ſo jaͤmmerlich vor, daß ſie ſich ent¬
ſchloß, es koſte was es wolle, zu ſeiner
Wiedervereinigung mit Charlotten alles bey¬
zutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe
an irgend einem ſtillen Orte zu verbergen
und durch irgend eine Art von Thaͤtigkeit zu
betriegen.


Indeſſen hatte der Begleiter des Lords,
ein verſtaͤndiger, ruhiger Mann und guter
Beobachter, den Mißgriff in der Unterhal¬
tung bemerkt und die Aehnlichkeit der Zuſtaͤnde
ſeinem Freunde offenbart. Dieſer wußte
nichts von den Verhaͤltniſſen der Familie;
allein jener, den eigentlich auf der Reiſe
nichts mehr intereſſirte als die ſonderbaren
Ereigniſſe, welche durch natuͤrliche und kuͤnſt¬
liche Verhaͤltniſſe, durch den Conflict des
[195] Geſetzlichen und des Ungebaͤndigten, des Ver¬
ſtandes und der Vernunft, der Leidenſchaft
und des Vorurtheils hervorgebracht werden,
jener hatte ſich ſchon fruͤher, und mehr noch
im Hauſe ſelbſt, mit allem bekannt gemacht
was vorgegangen war und noch vorging.


Dem Lord that es leid, ohne daß er
daruͤber verlegen geweſen waͤre. Man muͤßte
ganz in Geſellſchaft ſchweigen, wenn man nicht
manchmal in den Fall kommen ſollte: denn
nicht allein bedeutende Bemerkungen, ſondern
die trivialſten Aeußerungen koͤnnen auf eine
ſo mißklingende Weiſe mit dem Intereſſe der
Gegenwaͤrtigen zuſammentreffen. Wir wollen
es heute Abend wieder gut machen, ſagte der
Lord, und uns aller allgemeinen Geſpraͤche
enthalten. Geben Sie der Geſellſchaft etwas
von den vielen angenehmen und bedeutenden
Anecdoten und Geſchichten zu hoͤren, womit
Sie Ihr Portefeuille und ihr Gedaͤchtni[ß]
auf unſerer Reiſe bereichert haben.


13 *[196]

Allein auch mit dem beſten Vorſatze ge¬
lang es den Fremden nicht, die Freunde
dießmal mit einer unverfaͤnglichen Unterhal¬
tung zu erfreuen. Denn nachdem der Be¬
gleiter durch manche ſonderbare, bedeutende,
heitere, ruͤhrende, furchtbare Geſchichten die
Aufmerkſamkeit erregt und die Theilnahme
aufs hoͤchſte geſpannt hatte; ſo dachte er
mit einer zwar ſonderbaren, aber ſanfteren
Begebenheit zu ſchließen, und ahndete nicht,
wie nahe dieſe ſeinen Zuhoͤrern verwandt war.


[197]

Die
wunderlichen Nachbarskinder.
Novelle.

Zwey Nachbarskinder von bedeutenden
Haͤuſern, Knabe und Maͤdchen, in verhaͤlt¬
nißmaͤßigem Alter, um dereinſt Gatten zu
werden, ließ man in dieſer angenehmen Aus¬
ſicht mit einander aufwachſen, und die bey¬
derſeitigen Aeltern freuten ſich einer kuͤnftigen
Verbindung. Doch man bemerkte gar bald,
daß die Abſicht zu mislingen ſchien, indem
ſich zwiſchen den beyden trefflichen Naturen
ein ſonderbarer Widerwille hervorthat. Viel¬
leicht waren ſie einander zu aͤhnlich. Beyde
[198] in ſich ſelbſt gewendet, deutlich in ihrem
Wollen, feſt in ihren Vorſaͤtzen; jedes einzeln
geliebt und geehrt von ſeinen Geſpielen; im¬
mer Widerſacher wenn ſie zuſammen waren,
immer aufbauend fuͤr ſich allein, immer wech¬
ſelsweiſe zerſtoͤrend wo ſie ſich begegneten;
nicht wetteifernd nach Einem Ziel, aber im¬
mer kaͤmpfend um Einen Zweck; gutartig
durchaus und liebenswuͤrdig, und nur haſ¬
ſend, ja boͤsartig, indem ſie ſich auf einander
bezogen.


Dieſes wunderliche Verhaͤltniß zeigte ſich
ſchon bey kindiſchen Spielen, es zeigte ſich bey
zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben
Krieg zu ſpielen, ſich in Parteyen zu ſondern,
einander Schlachten zu liefern pflegen, ſo ſtellte
ſich das trotzig muthige Maͤdchen einſt an
die Spitze des einen Heers, und focht gegen
das andre mit ſolcher Gewalt und Erbitte¬
rung, daß dieſes ſchimpflich waͤre in die
Flucht geſchlagen worden, wenn ihr einzelner
[199] Widerſacher ſich nicht ſehr brav gehalten und
ſeine Gegnerinn doch noch zuletzt entwaffnet
und gefangen genommen haͤtte. Aber auch
da noch wehrte ſie ſich ſo gewaltſam, daß er,
um ſeine Augen zu erhalten, und die Fein¬
dinn doch nicht zu beſchaͤdigen, ſein ſeidenes
Halstuch abreißen und ihr die Haͤnde damit
auf den Ruͤcken binden mußte.


Dieß verzieh ſie ihm nie, ja ſie machte
ſo heimliche Anſtalten und Verſuche ihn zu
beſchaͤdigen, daß die Aeltern, die auf dieſe
ſeltſamen Leidenſchaften ſchon laͤngſt Acht ge¬
habt, ſich mit einander verſtaͤndigten und be¬
ſchloſſen, die beyden feindlichen Weſen zu
trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzu¬
geben.


Der Knabe that ſich in ſeinen neuen Ver¬
haͤltniſſen bald hervor. Jede Art von Unter¬
richt ſchlug bey ihm an. Goͤnner und eigene
Neigung beſtimmten ihn zum Soldatenſtande.


[200]

Ueberall wo er ſich fand, war er geliebt und
geehrt. Seine tuͤchtige Natur ſchien nur zum
Wohlſeyn, zum Behagen anderer zu wirken,
und er war in ſich, ohne deutliches Bewußt¬
ſeyn, recht gluͤcklich, den einzigen Widerſacher
verloren zu haben, den die Natur ihm zu¬
gedacht hatte.


Das Maͤdchen dagegen trat auf einmal
in einen veraͤnderten Zuſtand. Ihre Jahre,
eine zunehmende Bildung, und mehr noch
ein gewiſſes inneres Gefuͤhl zogen ſie von den
heftigen Spielen hinweg, die ſie bisher in
Geſellſchaft der Knaben auszuuͤben pflegte.
Im Ganzen ſchien ihr etwas zu fehlen,
nichts war um ſie herum, das werth geweſen
waͤre, ihren Haß zu erregen. Liebenswuͤrdig
hatte ſie noch Niemanden gefunden.


Ein junger Mann, aͤlter als ihr ehema¬
liger nachbarlicher Widerſacher, von Stand,
Vermoͤgen und Bedeutung, beliebt in der
[201] Geſellſchaft, geſucht von Frauen, wendete ihr
ſeine ganze Neigung zu. Es war das erſte¬
mal, daß ſich ein Freund, ein Liebhaber, ein
Diener um ſie bemuͤhte. Der Vorzug den
er ihr vor vielen gab, die aͤlter, gebildeter,
glaͤnzender und anſpruchsreicher waren als ſie,
that ihr gar zu wohl. Seine fortgeſetzte
Aufmerkſamkeit, ohne daß er zudringlich ge¬
weſen waͤre, ſein treuer Beyſtand bey verſchie¬
denen unangenehmen Zufaͤllen, ſein gegen ihre
Aeltern zwar ausgeſprochnes, doch ruhiges
und nur hoffnungsvolles Werben, da ſie frey¬
lich noch ſehr jung war: das alles nahm ſie
fuͤr ihn ein, wozu die Gewohnheit, die aͤu¬
ßern nun von der Welt als bekannt ange¬
nommenen Verhaͤltniſſe, das ihrige beytru¬
gen. Sie war ſo oft Braut genannt wor¬
den, daß ſie ſich endlich ſelbſt dafuͤr hielt,
und weder ſie noch irgend Jemand dachte dar¬
an, daß noch eine Pruͤfung noͤthig ſey, als
ſie den Ring mit demjenigen wechſelte, der
ſo lange Zeit fuͤr ihren Braͤutigam galt.


[202]

Der ruhige Gang den die ganze Sache
genommen hatte, war auch durch das Ver¬
loͤbniß nicht beſchleunigt worden. Man ließ
eben von beyden Seiten alles ſo fortgewaͤh¬
ren; man freute ſich des Zuſammenlebens
und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch
als einen Fruͤhling des kuͤnftigen ernſteren
Lebens genießen.


Indeſſen hatte der entfernte ſich zum
ſchoͤnſten ausgebildet, eine verdiente Stufe
ſeiner Lebensbeſtimmung erſtiegen, und kam
mit Urlaub die Seinigen zu beſuchen. Auf
eine ganz natuͤrliche aber doch ſonderbare
Weiſe ſtand er ſeiner ſchoͤnen Nachbarinn
abermals entgegen. Sie hatte in der letzten
Zeit nur freundliche, braͤutliche Familienem¬
pfindungen bey ſich genaͤhrt, ſie war mit al¬
lem was ſie umgab in Uebereinſtimmung; ſie
glaubte gluͤcklich zu ſeyn und war es auch
auf gewiſſe Weiſe. Aber nun ſtand ihr zum
erſtenmal ſeit langer Zeit wieder etwas ent¬
[203] gegen: es war nicht haſſenswerth, ſie war
des Haſſes unfaͤhig geworden; ja der kindiſche
Haß, der eigentlich nur ein dunkles Anerken¬
nen des inneren Werthes geweſen, aͤußerte
ſich nun in frohem Erſtaunen, erfreulichem
Betrachten, gefaͤlligem Eingeſtehen, halb
willigem halb unwilligem und doch nothwen¬
digem Annahen, und das alles war wechſel¬
ſeitig. Eine lange Entfernung gab zu laͤnge¬
ren Unterhaltungen Anlaß. Selbſt jene kin¬
diſche Unvernunft diente den Aufgeklaͤrteren
zu ſcherzhafter Erinnerung, und es war als
wenn man ſich jenen neckiſchen Haß wenig¬
ſtens durch eine freundſchaftliche aufmerkſame
Behandlung verguͤten muͤſſe, als wenn jenes
gewaltſame Verkennen nunmehr nicht ohne
ein ausgeſprochnes Anerkennen bleiben duͤrfe.


Von ſeiner Seite blieb alles in einem
verſtaͤndigen, wuͤnſchenswerthen Maaß. Sein
Stand, ſeine Verhaͤltniſſe, ſein Streben,
ſein Ehrgeiz beſchaͤftigten ihn ſo reichlich,
[204] daß er die Freundlichkeit der ſchoͤnen Braut
als eine dankenswerthe Zugabe mit Behag¬
lichkeit aufnahm, ohne ſie deshalb in irgend
einem Bezug auf ſich zu betrachten, oder ſie
ihrem Braͤutigam zu mißgoͤnnen, mit dem er
uͤbrigens in den beſten Verhaͤltniſſen ſtand.


Bey ihr hingegen ſah es ganz anders
aus. Sie ſchien ſich wie aus einem Traum
erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen
Nachbar war die erſte Leidenſchaft geweſen,
und dieſer heftige Kampf war doch nur, un¬
ter der Form des Widerſtrebens, eine heftige
gleichſam angeborene Neigung. Auch kam es
ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als
daß ſie ihn immer geliebt habe. Sie laͤchelte
uͤber jenes feindliche Suchen mit den Waffen
in der Hand; ſie wollte ſich des angenehmſten
Gefuͤhls erinnern, als er ſie entwaffnete; ſie
bildete ſich ein die groͤßte Seligkeit empfunden
zu haben, da er ſie band, und alles was
ſie zu ſeinem Schaden und Verdruß unter¬
[205] nommen hatte, kam ihr nur als unſchuldiges
Mittel vor, ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zu
ziehen. Sie verwuͤnſchte jene Trennung, ſie
bejammerte den Schlaf in den ſie verfallen,
ſie verfluchte die ſchleppende, traͤumeriſche Ge¬
wohnheit, durch die ihr ein ſo unbedeutender
Braͤutigam hatte werden koͤnnen, ſie war
verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaͤrts und
ruͤckwaͤrts wie man es nehmen will.


Haͤtte Jemand ihre Empfindungen, die
ſie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr
theilen koͤnnen, ſo wuͤrde er ſie nicht geſcholten
haben: denn freylich konnte der Braͤutigam
die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬
halten, ſobald man ſie neben einander ſah.
Wenn man dem einen ein gewiſſes Zutrauen
nicht verſagen konnte, ſo erregte der andere
das vollſte Vertrauen; wenn man den einen
gern zur Geſellſchaft mochte, ſo wuͤnſchte
man ſich den andern zum Gefaͤhrten; und
dachte man gar an hoͤhere Theilnahme, an
[206] außerordentliche Faͤlle: ſo haͤtte man wohl an
dem einen gezweifelt, wenn einem der andere
vollkommene Gewißheit gab. Fuͤr ſolche Ver¬
haͤltniſſe iſt den Weibern ein beſonderer Tact
angeboren und ſie haben Urſache ſo wie Ge¬
legenheit ihn auszubilden.


Jemehr die ſchoͤne Braut ſolche Geſinnun¬
gen bey ſich ganz heimlich naͤhrte, je weniger
nur irgend Jemand dasjenige auszuſprechen
im Fall war, was zu Gunſten des Braͤuti¬
gams gelten konnte, was Verhaͤltniſſe, was
Pflicht anzurathen und zu gebieten, ja was
eine unabaͤnderliche Nothwendigkeit unwieder¬
ruflich zu fordern ſchien; deſto mehr beguͤn¬
ſtigte das ſchoͤne Herz ſeine Einſeitigkeit, und
indem ſie von der einen Seite durch Welt
und Familie, Braͤutigam und eigne Zuſage
unaufloͤslich gebunden war, von der andern
der emporſtrebende Juͤngling gar kein Ge¬
heimniß von ſeinen Geſinnungen, Planen und
Ausſichten machte, ſich nur als ein treuer
[207] und nicht einmal zaͤrtlicher Bruder gegen ſie
bewies, und nun gar von ſeiner unmittelbaren
Abreiſe die Rede war; ſo ſchien es als ob
ihr fruͤher kindiſcher Geiſt mit allen ſeinen
Tuͤcken und Gewaltſamkeiten wieder erwachte,
und ſich nun auf einer hoͤheren Lebensſtufe
mit Unwillen ruͤſtete, bedeutender und ver¬
derblicher zu wirken. Sie beſchloß zu ſterben,
um den ehmals Gehaßten und nun ſo heftig
Geliebten fuͤr ſeine Untheilnahme zu ſtrafen
und ſich, indem ſie ihn nicht beſitzen ſollte,
wenigſtens mit ſeiner Einbildungskraft, ſeiner
Reue auf ewig zu vermaͤhlen. Er ſollte ihr
todtes Bild nicht loswerden, er ſollte nicht
aufhoͤren ſich Vorwuͤrfe zu machen, daß er
ihre Geſinnungen nicht erkannt, nicht erforſcht,
nicht geſchaͤtzt habe.


Dieſer ſeltſame Wahnſinn begleitete ſie
uͤberall hin. Sie verbarg ihn unter allerley
Formen, und ob ſie den Menſchen gleich
wunderlich vorkam; ſo war Niemand auf¬
[208] merkſam oder klug genug, die innere wahre
Urſache zu entdecken.


Indeſſen hatten ſich Freunde, Verwandte,
Bekannte in Anordnungen von mancherley
Feſten erſchoͤpft. Kaum verging ein Tag,
daß nicht irgend etwas neues und unerwar¬
tetes angeſtellt worden waͤre. Kaum war ein
ſchoͤner Platz der Landſchaft, den man nicht
ausgeſchmuͤckt und zum Empfang vieler frohen
Gaͤſte bereitet haͤtte. Auch wollte unſer jun¬
ger Ankoͤmmling noch vor ſeiner Abreiſe das
Seinige thun, und lud das junge Paar mit
einem engeren Familienkreiſe zu einer Waſſer¬
luſtfahrt. Man beſtieg ein großes ſchoͤnes
wohlausgeſchmuͤcktes Schiff, eine der Jachten
die einen kleinen Saal und einige Zimmer
anbieten und auf das Waſſer die Bequemlich¬
keit des Landes uͤberzutragen ſuchen.


Man fuhr auf dem großen Strome mit
Muſik dahin, die Geſellſchaft hatte ſich bey
[209] heißer Tageszeit in den untern Raͤumen ver¬
ſammelt, um ſich an Geiſtes- und Gluͤcks¬
ſpielen zu ergetzen. Der junge Wirth, der
niemals unthaͤtig bleiben konnte, hatte ſich
ans Steuer geſetzt, den alten Schiffsmeiſter
abzuloͤſen, der an ſeiner Seite eingeſchlafen
war; und eben brauchte der Wachende alle
ſeine Vorſicht, da er ſich einer Stelle nahte,
wo zwey Inſeln das Flußbette verengten und
indem ſie ihre flachen Kiesufer, bald an der
einen bald an der andern Seite hereinſtreck¬
ten, ein gefaͤhrliches Fahrwaſſer zubereiteten.
Faſt war der ſorgſame und ſcharfblickende
Steurer in Verſuchung den Meiſter zu wecken,
aber er getraute ſich's zu und fuhr gegen die
Enge. In dem Augenblick erſchien auf dem
Verdeck ſeine ſchoͤne Feindinn mit einem Blu¬
menkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab
und warf ihn auf den Steuernden. Nimm
dieß zum Andenken! rief ſie aus. Stoͤre mich
nicht! rief er ihr entgegen, indem er den Kranz
auffing: ich bedarf aller meiner Kraͤfte und
II. 14[210] meiner Aufmerkſamkeit. Ich ſtoͤre dich nicht
weiter, rief ſie: du ſiehſt mich nicht wieder!
Sie ſprach's und eilte nach dem Vordertheil
des Schiffs, von da ſie ins Waſſer ſprang.
Einige Stimmen riefen: rettet! rettet! ſie er¬
trinkt. Er war in der entſetzlichſten Verle¬
genheit. Ueber dem Lerm erwacht der alte
Schiffsmeiſter, will das Ruder ergreifen, der
juͤngere es ihm uͤbergeben; aber es iſt keine
Zeit die Herrſchaft zu wechſeln: das Schiff
ſtrandet, und in eben dem Augenblick, die
laͤſtigſten Kleidungsſtuͤcke wegwerfend, ſtuͤrzte
er ſich ins Waſſer, und ſchwamm der ſchoͤnen
Feindinn nach.


Das Waſſer iſt ein freundliches Element
fuͤr den der damit bekannt iſt und es zu be¬
handeln weiß. Es trug ihn, und der ge¬
ſchickte Schwimmer beherrſchte es. Bald
hatte er die vor ihm fortgeriſſene Schoͤne er¬
reicht; er faßte ſie, wußte ſie zu heben und
zu tragen; beyde wurden vom Strom gewalt¬
[211] ſam fortgeriſſen bis ſie die Inſeln, die Wer¬
der, weit hinter ſich hatten und der Fluß
wieder breit und gemaͤchlich zu fließen an¬
fing. Nun erſt ermannte, nun erholte er
ſich aus der erſten zudringenden Noth, in
der er ohne Beſinnung nur mechaniſch gehan¬
delt; er blickte mit emporſtrebendem Haupt
umher und ruderte nach Vermoͤgen einer fla¬
chen buſchigten Stelle zu, die ſich angenehm
und gelegen in den Fluß verlief. Dort brachte
er ſeine ſchoͤne Beute aufs Trockne; aber kein
Lebenshauch war in ihr zu ſpuͤren. Er war
in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad
der durchs Gebuͤſch lief, in die Augen leuch¬
tete. Er belud ſich aufs neue mit der theu¬
ren Laſt, er erblickte bald eine einſame Woh¬
nung und erreichte ſie. Dort fand er gute
Leute, ein junges Ehepaar. Das Ungluͤck,
die Noth ſprach ſich geſchwind aus. Was er
nach einiger Beſinnung forderte, ward gelei¬
ſtet. Ein lichtes Feuer brannte; wollne De¬
cken wurden uͤber ein Lager gebreitet; Pelze,
14 *[212] Felle und was Erwaͤrmendes vorraͤthig war,
ſchnell herbeygetragen. Hier uͤberwand die
Begierde zu retten jede andre Betrachtung.
Nichts ward verſaͤumt, den ſchoͤnen halbſtar¬
ren nackten Koͤrper wieder ins Leben zu rufen.
Es gelang. Sie ſchlug die Augen auf, ſie
erblickte den Freund, umſchlang ſeinen Hals
mit ihren himmliſchen Armen. So blieb ſie
lange; ein Thraͤnenſtrom ſtuͤrzte aus ihren
Augen und vollendete ihre Geneſung. Willſt
du mich verlaſſen, rief ſie aus: da ich dich
ſo wiederfinde? Niemals, rief er, niemals!
und wußte nicht was er ſagte noch was er
that. Nur ſchone dich, rief er hinzu: ſchone
dich! denke an dich um deinet- und meinetwillen.


Sie dachte nun an ſich und bemerkte jetzt
erſt den Zuſtand in dem ſie war. Sie konnte
ſich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht
ſchaͤmen; aber ſie entließ ihn gern, damit er
fuͤr ſich ſorgen moͤge: denn noch war was
ihn umgab, naß und triefend.


[213]

Die jungen Eheleute beredeten ſich: er
bot dem Juͤngling, und ſie der Schoͤnen das
Hochzeitkleid an, das noch vollſtaͤndig da
hing, um ein Paar von Kopf zu Fuß und
von innen heraus zu bekleiden. In kur¬
zer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht
nur angezogen ſondern geputzt. Sie ſahen
allerliebſt aus, ſtaunten einander an, als ſie
zuſammentraten, und fielen ſich mit unmaͤßi¬
ger Leidenſchaft, und doch halb laͤchelnd uͤber
die Vermummung, gewaltſam in die Arme.
Die Kraft der Jugend und die Regſamkeit
der Liebe ſtellten ſie in wenigen Augenblicken
voͤllig wieder her, und es fehlte nur die
Muſik um ſie zum Tanz aufzufordern.


Sich vom Waſſer zur Erde, vom Tode
zum Leben, aus dem Familienkreiſe in eine
Wildniß, aus der Verzweiflung zum Ent¬
zuͤcken, aus der Gleichguͤltigkeit zur Neigung,
zur Leidenſchaft gefunden zu haben, alles in
[214] einem Augenblick — der Kopf waͤre nicht
hinreichend das zu faſſen, er wuͤrde zerſprin¬
gen oder ſich verwirren. Hiebey muß das
Herz das beſte thun, wenn eine ſolche Ue¬
berraſchung ertragen werden ſoll.


Ganz verloren eins ins andre, konnten
ſie erſt nach einiger Zeit an die Angſt, an
die Sorgen der Zuruͤckgelaſſenen denken, und
faſt konnten ſie ſelbſt nicht ohne Angſt, ohne
Sorge daran denken, wie ſie jenen wieder be¬
gegnen wollten. Sollen wir fliehen? ſollen wir
uns verbergen? ſagte der Juͤngling. Wir
wollen zuſammen bleiben, ſagte ſie, indem ſie
an ſeinem Hals hing.


Der Landmann, der von ihnen die Ge¬
ſchichte des geſtrandeten Schiffs vernommen
hatte, eilte ohne weiter zu fragen nach dem
Ufer. Das Fahrzeug kam gluͤcklich einherge¬
ſchwommen; es war mit vieler Muͤhe losge¬
[215] bracht worden. Man fuhr aufs Ungewiſſe
fort, in Hoffnung die Verlornen wieder zu
finden. Als daher der Landmann mit Rufen
und Winken die Schiffenden aufmerkſam
machte, an eine Stelle lief, wo ein vortheil¬
hafter Landungsplatz ſich zeigte, und mit Win¬
ken und Rufen nicht aufhoͤrte, wandte ſich das
Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schau¬
ſpiel ward es, da ſie landeten! Die Aeltern
der beyden Verlobten draͤngten ſich zuerſt ans
Ufer; den liebenden Braͤutigam hatte faſt die
Beſinnung verlaſſen. Kaum hatten ſie ver¬
nommen, daß die lieben Kinder gerettet ſeyen,
ſo traten dieſe in ihrer ſonderbaren Verklei¬
dung aus dem Buſch hervor. Man erkannte
ſie nicht eher, als bis ſie ganz herangetreten
waren. Wen ſeh' ich? riefen die Muͤtter:
was ſeh' ich? riefen die Vaͤter. Die Geret¬
teten warfen ſich vor ihnen nieder. Eure
Kinder! riefen ſie aus: ein Paar. Verzeiht!
rief das Maͤdchen. Gebt uns Euren Segen!
[216] rief der Juͤngling. Gebt uns Euren Segen!
riefen beyde, da alle Welt ſtaunend ver¬
ſtummte. Euren Segen! ertoͤnte es zum drit¬
tenmal, und wer haͤtte den verſagen koͤnnen.

[[217]]

Elftes Kapitel.

Der Erzaͤhlende machte eine Pauſe, oder
hatte vielmehr ſchon geendigt als er bemerken
mußte, daß Charlotte hoͤchſt bewegt ſey; ja
ſie ſtand auf und verließ mit einer ſtummen
Entſchuldigung das Zimmer: denn die Ge¬
ſchichte war ihr bekannt. Dieſe Begebenheit
hatte ſich mit dem Hauptmann und einer
Nachbarinn wirklich zugetragen, zwar nicht
ganz wie ſie der Englaͤnder erzaͤhlte, doch
war ſie in den Hauptzuͤgen nicht entſtellt,
nur im Einzelnen mehr ausgebildet und aus¬
geſchmuͤckt, wie es dergleichen Geſchichten zu
gehen pflegt, wenn ſie erſt durch den Mund
der Menge und ſodann durch die Phantaſie
eines geiſt- und geſchmackreichen Erzaͤhlers
[218] durchgehen. Es bleibt zuletzt meiſt alles und
nichts wie es war.


Ottilie folgte Charlotten, wie es die bey¬
den Fremden ſelbſt verlangten, und nun kam
der Lord an die Reihe zu bemerken, daß
vielleicht abermals ein Fehler begangen,
etwas dem Hauſe Bekanntes oder gar Ver¬
wandtes erzaͤhlt worden. Wir muͤſſen uns
huͤthen, fuhr er fort, daß wir nicht noch mehr
Uebles ſtiften. Fuͤr das viele Gute und Ange¬
nehme, das wir hier genoſſen, ſcheinen wir den
Bewohnerinnen wenig Gluͤck zu bringen; wir
wollen uns auf eine ſchickliche Weiſe zu em¬
pfehlen ſuchen.


Ich muß geſtehen, verſetzte der Begleiter,
daß mich hier noch etwas anderes feſthaͤlt,
ohne deſſen Aufklaͤrung und naͤhere Kenntniß
ich dieſes Haus nicht gern verlaſſen moͤchte.
Sie waren geſtern, Mylord, als wir mit
der tragbaren dunklen Kammer durch den
[219] Park zogen, viel zu beſchaͤftigt, ſich einen
wahrhaft maleriſchen Standpunkt auszuwaͤh¬
len, als daß ſie haͤtten bemerken ſollen was
nebenher vorging. Sie lenkten vom Haupt¬
wege ab, um zu einem wenig beſuchten
Platze am See zu gelangen, der Ihnen ein
reizendes Gegenuͤber anbot. Ottilie die uns
begleitete, ſtand an zu folgen, und bat, ſich
auf dem Kahne dorthin begeben zu duͤrfen.
Ich ſetzte mich mit ihr ein und hatte meine
Freude an der Gewandtheit der ſchoͤnen Schif¬
ferinn. Ich verſicherte ihr, daß ich ſeit der
Schweiz, wo auch die reizendſten Maͤdchen
die Stelle des Fuhrmanns vertreten, nicht ſo
angenehm ſey uͤber die Wellen geſchaukelt
worden; konnte mich aber nicht enthalten ſie
zu fragen, warum ſie eigentlich abgelehnt
jenen Seitenweg zu machen: denn wirklich
war in ihrem Ausweichen eine Art von aͤngſt¬
licher Verlegenheit. Wenn Sie mich nicht
auslachen wollen, verſetzte ſie freundlich; ſo
kann ich Ihnen daruͤber wohl einige Aus¬
[220] kunft geben, obgleich ſelbſt fuͤr mich dabey
ein Geheimniß obwaltet. Ich habe jenen
Nebenweg niemals betreten, ohne daß mich
ein ganz eigener Schauder uͤberfallen haͤtte,
den ich ſonſt nirgends empfinde und den ich
mir nicht zu erklaͤren weiß. Ich vermeide da¬
her lieber, mich einer ſolchen Empfindung
auszuſetzen, um ſomehr als ſich gleich dar¬
auf ein Kopfweh an der linken Seite einſtellt,
woran ich ſonſt auch manchmal leide. Wir
landeten, Ottilie unterhielt ſich mit Ihnen,
und ich unterſuchte indeß die Stelle, die ſie
mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte.
Aber wie groß war meine Verwunderung,
als ich eine ſehr deutliche Spur von Stein¬
kohlen entdeckte, die mich uͤberzeugt, man
wuͤrde bey einigem Nachgraben vielleicht ein
ergiebiges Lager in der Tiefe finden.


Verzeihen Sie, Mylord: ich ſehe Sie
laͤcheln und weiß recht gut, daß Sie mir meine
leidenſchaftliche Aufmerkſamkeit auf dieſe Dinge,
[221] an die Sie keinen Glauben haben, nur als
weiſer Mann und als Freund nachſehen; aber
es iſt mir unmoͤglich von hier zu ſcheiden,
ohne das ſchoͤne Kind auch die Pendelſchwin¬
gungen verſuchen zu laſſen.


Es konnte niemals fehlen, wenn die
Sache zur Sprache kam, daß der Lord nicht
ſeine Gruͤnde dagegen abermals wiederholte,
welche der Begleiter beſcheiden und geduldig
aufnahm, aber doch zuletzt bey ſeiner Meinung,
bey ſeinen Wuͤnſchen verharrte. Auch er gab
wiederhohlt zu erkennen, daß man deswegen,
weil ſolche Verſuche nicht Jedermann gelaͤngen,
die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur
deſto ernſthafter und gruͤndlicher unterſuchen
muͤßte; da ſich gewiß noch manche Bezuͤge
und Verwandtſchaften unorganiſcher Weſen un¬
tereinander, organiſcher gegen ſie und abermals
untereinander, offenbaren wuͤrden, die uns
gegenwaͤrtig verborgen ſeyen.


[222]

Er hatte ſeinen Apparat von goldnen Rin¬
gen, Markaſiten und andern metalliſchen Sub¬
ſtanzen, den er in einem ſchoͤnen Kaͤſtchen im¬
mer bey ſich fuͤhrte, ſchon ausgebreitet und
ließ nun Metalle, an Faͤden ſchwebend, uͤber
liegende Metalle zum Verſuche nieder. Ich
goͤnne Ihnen die Schadenfreude, Mylord,
ſagte er dabey, die ich auf Ihrem Geſichte
leſe, daß ſich bey mir und fuͤr mich nichts
bewegen will. Meine Operation iſt aber auch
nur ein Vorwand. Wenn die Damen zu¬
ruͤckkehren, ſollen ſie neugierig werden was
wir wunderliches hier beginnen.


Die Frauenzimmer kamen zuruͤck. Char¬
lotte verſtand ſogleich was vorging. Ich habe
manches von dieſen Dingen gehoͤrt, ſagte
ſie, aber niemals eine Wirkung geſehen.
Da Sie alles ſo huͤbſch bereit haben, laſſen
Sie mich verſuchen, ob es mir nicht auch
anſchlaͤgt.


[223]

Sie nahm den Faden in die Hand; und
da es ihr Ernſt war, hielt ſie ihn ſtaͤt und
ohne Gemuͤthsbewegung; allein auch nicht das
mindeſte Schwanken war zu bemerken. Darauf
ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel
noch ruhiger, unbefangner, unbewußter uͤber
die unterliegenden Metalle. Aber in dem
Augenblicke ward das ſchwebende wie in einem
entſchiedenen Wirbel fortgeriſſen und drehte
ſich, je nachdem man die Unterlage wechſelte,
bald nach der einen, bald nach der andern
Seite, jetzt in Kreiſen, jetzt in Ellipſen, oder
nahm ſeinen Schwung in graden Linien, wie
es der Begleiter nur erwarten konnte, ja uͤber
alle ſeine Erwartung.


Der Lord ſelbſt ſtutzte eingermaßen, aber
der andere konnte vor Luſt und Begierde gar
nicht enden und bat immer um Wiederholung
und Vermannigfaltigung der Verſuche. Ottilie
war gefaͤllig genug ſich in ſein Verlangen zu
finden, bis ſie ihn zuletzt freundlich erſuchte,
[224] er moͤge ſie entlaſſen, weil ihr Kopfweh ſich
wieder einſtelle. Er daruͤber verwundert, ja
entzuͤckt, verſicherte ihr mit Enthuſiasmus,
daß er ſie von dieſem Uebel voͤllig heilen wolle,
wenn ſie ſich ſeiner Kurart anvertraue. Man
war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber
die geſchwind begriff wovon die Rede ſey,
lehnte den wohlgeſinnten Antrag ab, weil ſie
nicht gemeynt war, in ihrer Umgebung etwas
zuzulaſſen, wovor ſie immerfort eine ſtarke
Apprehenſion gefuͤhlt hatte.


Die Fremden hatten ſich entfernt, und un¬
geachtet man von ihnen auf eine ſonderbare
Weiſe beruͤhrt worden war, doch den Wunſch
zuruͤckgelaſſen, daß man ſie irgendwo wieder
antreffen moͤchte. Charlotte benutzte nunmehr
die ſchoͤnen Tage, um in der Nachbarſchaft
ihre Gegenbeſuche zu enden, womit ſie kaum
fertig werden konnte, indem ſich die ganze
Landſchaft umher, einige wahrhaft theilneh¬
mend, andre blos der Gewohnheit wegen,
[225] bisher fleißig um ſie bekuͤmmert hatten. Zu
Hauſe belebte ſie der Anblick des Kindes;
es war gewiß jeder Liebe, jeder Sorgfalt
werth. Man ſah in ihm ein wunderbares,
ja ein Wunderkind, hoͤchſt erfreulich dem
Anblick, an Groͤße, Ebenmaaß, Staͤrke und
Geſundheit, und was noch mehr in Verwun¬
derung ſetzte, war jene doppelte Aehnlichkeit
die ſich immer mehr entwickelte. Den Geſichts¬
zuͤgen und der ganzen Form nach glich das
Kind immer mehr dem Hauptmann, die Au¬
gen ließen ſich immer weniger von Ottiliens
Augen unterſcheiden.


Durch dieſe ſonderbare Verwandtſchaft und
vielleicht noch mehr durch das ſchoͤne Gefuͤhl
der Frauen geleitet, welche das Kind eines
geliebten Mannes auch von einer Andern
mit zaͤrtlicher Neigung umfangen, ward Otti¬
lie dem heranwachſenden Geſchoͤpf ſo viel als
eine Mutter, oder vielmehr eine andre Art
von Mutter. Entfernte ſich Charlotte, ſo
II. 15[226] blieb Ottilie mit dem Kinde und der Waͤrte¬
rinn allein. Nanny hatte ſich ſeit einiger
Zeit, eiferſuͤchtig auf den Knaben, dem ihre
Herrinn alle Neigung zuzuwenden ſchien, trotzig
von ihr entfernt und war zu ihren Aeltern
zuruͤckgekehrt. Ottilie fuhr fort, das Kind
in die freye Luft zu tragen, und gewoͤhnte
ſich an immer weitere Spazirgaͤnge. Sie
hatte das Milchflaͤſchchen bey ſich, um dem
Kinde, wenn es noͤthig, ſeine Nahrung zu
reichen. Selten unterließ ſie dabey ein Buch
mitzunehmen, und ſo bildete ſie, das Kind auf
dem Arm, leſend und wandelnd, eine gar
anmuthige Penſeroſa.

[[227]]

Zwoͤlftes Kapitel.

Der Hauptzweck des Feldzugs war er¬
reicht, und Eduard mit Ehrenzeichen ge¬
ſchmuͤckt, ruͤhmlich entlaſſen. Er begab ſich
ſogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er
genaue Nachrichten von den Seinigen fand,
die er, ohne daß ſie es bemerkten und wu߬
ten, ſcharf hatte beobachten laſſen. Sein
ſtiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichſte
entgegen: denn man hatte indeſſen nach ſeiner
Anordnung manches eingerichtet, gebeſſert und
gefoͤrdert, ſo daß die Anlagen und Umgebun¬
gen, was ihnen an Weite und Breite fehlte,
durch das Innere und zunaͤchſt Genießbare
erſetzten.


15 *[228]

Eduard, durch einen raſcheren Lebensgang
an entſchiedenere Schritte gewoͤhnt, nahm ſich
nunmehr vor dasjenige auszufuͤhren, was er
lange genug zu uͤberdenken Zeit gehabt hatte.
Vor allen Dingen berief er den Major. Die
Freude des Wiederſehens war groß. Jugend¬
freundſchaften, wie Blutsverwandtſchaften, ha¬
ben den bedeutenden Vortheil, daß ihnen Ir¬
rungen und Mißverſtaͤndniſſe, von welcher Art
ſie auch ſeyen, niemals von Grund aus ſchaden,
und die alten Verhaͤltniſſe ſich nach einiger
Zeit wieder herſtellen.


Zum frohen Empfang erkundigte ſich
Eduard nach dem Zuſtande des Freundes,
und vernahm, wie vollkommen nach ſeinen
Wuͤnſchen ihn das Gluͤck beguͤnſtigt habe.
Halb ſcherzend vertraulich fragte Eduard ſo¬
dann, ob nicht auch eine ſchoͤne Verbindung
im Werke ſey. Der Freund verneinte es,
mit bedeutendem Ernſt.


[229]

Ich kann und darf nicht hinterhaltig ſeyn,
fuhr Eduard fort: ich muß dir meine Geſin¬
nungen und Vorſaͤtze ſogleich entdecken. Du
kennſt meine Leidenſchaft fuͤr Ottilien und haſt
laͤngſt begriffen, daß ſie es iſt, die mich in
dieſen Feldzug geſtuͤrzt hat. Ich laͤugne nicht,
daß ich gewuͤnſcht hatte, ein Leben los zu
werden, das mir ohne ſie nichts weiter nuͤtze
war; allein zugleich muß ich dir geſtehen,
daß ich es nicht uͤber mich gewinnen konnte,
vollkommen zu verzweifeln. Das Gluͤck mit
ihr war ſo ſchoͤn, ſo wuͤnſchenswerth, daß es
mir unmoͤglich blieb, voͤllig Verzicht darauf
zu thun. So manche troͤſtliche Ahndung, ſo
manches heitere Zeichen hatte mich in dem
Glauben, in dem Wahn beſtaͤrkt, Ottilie koͤnne
die meine werden. Ein Glas mit unſerm
Namenszug bezeichnet, bey der Grundſteinle¬
gung in die Luͤfte geworfen, ging nicht zu
Truͤmmern; es ward aufgefangen und iſt
wieder in meinen Haͤnden. So will ich mich
denn ſelbſt, rief ich mir zu, als ich an dieſem
[230] einſamen Orte ſo viel zweifelhafte Stunden
verlebt hatte: mich ſelbſt will ich an die
Stelle des Glaſes zum Zeichen machen, ob
unſre Verbindung moͤglich ſey oder nicht. Ich
gehe hin und ſuche den Tod, nicht als ein
Raſender, ſondern als einer der zu leben
hofft. Ottilie ſoll der Preis ſeyn, um den ich
kaͤmpfe; ſie ſoll es ſeyn, die ich hinter jeder
feindlichen Schlachtordnung, in jeder Ver¬
ſchanzung, in jeder belagerten Feſtung zu ge¬
winnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder
thun, mit dem Wunſche verſchont zu bleiben,
im Sinne Ottilien zu gewinnen, nicht ſie zu
verlieren. Dieſe Gefuͤhle haben mich geleitet,
ſie haben mir durch alle Gefahren beygeſtan¬
den; aber nun finde ich mich auch wie einen
der zu ſeinem Ziele gelangt iſt, der alle Hin¬
derniſſe uͤberwunden hat, dem nun nichts
mehr im Wege ſteht. Ottilie iſt mein, und
was noch zwiſchen dieſem Gedanken und der
Ausfuͤhrung liegt, kann ich nur fuͤr nichts
bedeutend anſehen.


[231]

Du loͤſcheſt, verſetzte der Major, mit
wenig Zuͤgen alles aus, was man dir entge¬
genſetzen koͤnnte und ſollte; und doch muß es
wiederhohlt werden. Das Verhaͤltniß zu dei¬
ner Frau in ſeinem ganzen Werthe dir zuruͤck¬
zurufen, uͤberlaſſe ich dir ſelbſt; aber du biſt
es ihr, du biſt es dir ſchuldig, dich hieruͤber
nicht zu verdunkeln. Wie kann ich aber nur
gedenken, daß Euch ein Sohn gegeben iſt,
ohne zugleich auszuſprechen, daß ihr einander
auf immer angehoͤrt, daß ihr um dieſes We¬
ſens willen ſchuldig ſeyd, vereint zu leben,
damit ihr vereint fuͤr ſeine Erziehung und fuͤr
ſein kuͤnftiges Wohl ſorgen moͤget.


Es iſt bloß ein Duͤnkel der Aeltern, ver¬
ſetzte Eduard, wenn ſie ſich einbilden, daß
ihr Daſeyn fuͤr die Kinder ſo noͤthig ſey.
Alles was lebt findet Nahrung und Beyhuͤlfe,
und wenn der Sohn, nach dem fruͤhen Tode
des Vaters, keine ſo bequeme, ſo beguͤnſtigte
Jugend hat; ſo gewinnt er vielleicht eben des¬
[232] wegen an ſchnellerer Bildung fuͤr die Welt,
durch zeitiges Anerkennen, daß er ſich in
andere ſchicken muß; was wir denn doch
fruͤher oder ſpaͤter alle lernen muͤſſen.
Und hievon iſt ja die Rede gar nicht: wir
ſind reich genug, um mehrere Kinder zu ver¬
ſorgen, und es iſt keineswegs Pflicht noch
Wohlthat, auf Ein Haupt ſo viele Guͤter zu
haͤufen.


Als der Major mit einigen Zuͤgen Char¬
lottens Werth und Eduards lange beſtande¬
nes Verhaͤltniß zu ihr anzudeuten gedachte,
fiel ihm Eduard haſtig in die Rede: Wir ha¬
ben eine Thorheit begangen, die ich nur all¬
zuwohl einſehe. Wer in einem gewiſſen Al¬
ter fruͤhere Jugendwuͤnſche und Hoffnungen
realiſiren will, betriegt ſich immer: denn je¬
des Jahrzehend des Menſchen hat ſein eige¬
nes Gluͤck, ſeine eigenen Hoffnungen und
Ausſichten. Wehe dem Menſchen der vor¬
waͤrts oder ruͤckwaͤrts zu greifen, durch Um¬
[233] ſtaͤnde oder durch Wahn veranlaßt wird!
Wir haben eine Thorheit begangen; ſoll ſie
es denn fuͤrs ganze Leben ſeyn? Sollen wir
uns, aus irgend einer Art von Bedenklich¬
keit, dasjenige verſagen, was uns die Sitten
der Zeit nicht abſprechen? In wie vielen
Dingen nimmt der Menſch ſeinen Vorſatz,
ſeine That zuruͤck, und hier gerade ſollte es
nicht geſchehen, wo vom Ganzen und nicht
vom Einzelnen, wo nicht von dieſer oder je¬
ner Bedingung des Lebens, wo vom ganzen
Complex des Lebens die Rede iſt!


Der Major verfehlte nicht auf eine eben
ſo geſchickte als nachdruͤckliche Weiſe Eduar¬
den die verſchiedenen Bezuͤge zu ſeiner Ge¬
mahlinn, zu den Familien, zu der Welt, zu
ſeinen Beſitzungen vorzuſtellen; aber es gelang
ihm nicht, irgend eine Theilnahme zu erregen.


Alles dieſes, mein Freund, erwiederte
Eduard, iſt mir vor der Seele vorbeygegangen,
[234] mitten im Gewuͤhl der Schlacht, wenn die Erde
vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Ku¬
geln ſauſten und pfiffen, rechts und links die Ge¬
faͤhrten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein
Hut durchloͤchert ward; es hat mir vorgeſchwebt
beym ſtillen naͤchtlichen Feuer unter dem ge¬
ſtirnten Gewoͤlbe des Himmels. Dann tra¬
ten mir alle meine Verbindungen vor die
Seele; ich habe ſie durchgedacht, durchge¬
fuͤhlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich
abgefunden, zu wiederholten Malen, und
nun fuͤr immer.


In ſolchen Augenblicken, wie kann ich
dir's verſchweigen, warſt auch du mir gegen¬
waͤrtig, auch du gehoͤrteſt in meinen Kreis;
und gehoͤren wir denn nicht ſchon ſo lange
zueinander? Wenn ich dir etwas ſchuldig ge¬
worden, ſo komme ich jetzt in den Fall dir
es mit Zinſen abzutragen; wenn du mir je
etwas ſchuldig geworden, ſo ſiehſt du dich nun
im Stande, mir es zu vergelten. Ich weiß
[235] du liebſt Charlotten, und ſie verdient es; ich
weiß du biſt ihr nicht gleichguͤltig, und war¬
um ſollte ſie deinen Werth nicht erkennen!
Nimm ſie von meiner Hand! fuͤhre mir Ot¬
tilien zu! und wir ſind die gluͤcklichſten Men¬
ſchen auf der Erde.


Eben weil du mich mit ſo hohen Gaben be¬
ſtechen willſt, verſetzte der Major, muß ich
deſto vorſichtiger, deſto ſtrenger ſeyn. Anſtatt
daß dieſer Vorſchlag, den ich ſtill verehre, die
Sache erleichtern moͤchte, erſchwert er ſie viel¬
mehr. Es iſt, wie von dir, nun auch von mir die
Rede, und ſo wie von dem Schickſal, ſo auch
von dem guten Namen, von der Ehre zweyer
Maͤnner, die bis jetzt unbeſcholten, durch dieſe
wunderliche Handlung, wenn wir ſie auch
nicht anders nennen wollen, in Gefahr kom¬
men, vor der Welt in einem hoͤchſt ſeltſamen
Lichte zu erſcheinen.


Eben daß wir unbeſcholten ſind, verſetzte
Eduard, giebt uns das Recht uns auch ein¬
[236] mal ſchelten zu laſſen. Wer ſich ſein ganzes
Leben als einen zuverlaͤſſigen Mann bewie¬
ſen, der macht eine Handlung zuverlaͤſſig,
die bey andern zweydeutig erſcheinen wuͤrde.
Was mich betrifft, ich fuͤhle mich durch die
letzten Pruͤfungen die ich mir auferlegt, durch
die ſchwierigen gefahrvollen Thaten die ich
fuͤr andere gethan, berechtigt auch etwas fuͤr
mich zu thun. Was dich und Charlotten be¬
trifft, ſo ſey es der Zukunft anheim gegeben;
mich aber wirſt du, wird Niemand von mei¬
nem Vorſatze zuruͤckhalten. Will man mir
die Hand bieten, ſo bin ich auch wieder zu
allem erboͤtig; will man mich mir ſelbſt uͤber¬
laſſen, oder mir wohl gar entgegen ſeyn: ſo
muß ein Extrem entſtehen, es werde auch
wie es wolle.


Der Major hielt es fuͤr ſeine Pflicht,
dem Vorſatz Eduards ſo lange als moͤglich
Widerſtand zu leiſten, und er bediente ſich
nun gegen ſeinen Freund einer klugen Wen¬
[237] dung, indem er nachzugeben ſchien und nur
die Form, den Geſchaͤftsgang zur Sprache
brachte, durch welchen man dieſe Trennung,
dieſe Verbindungen erreichen ſollte. Da trat
denn ſo manches Unerfreuliche, Beſchwerliche,
Unſchickliche hervor, daß ſich Eduard in die
ſchlimmſte Laune verſetzt fuͤhlte.


Ich ſehe wohl, rief dieſer endlich, nicht
allein von Feinden, ſondern auch von Freun¬
den muß was man wuͤnſcht, erſtuͤrmt werden.
Das was ich will, was mir unentbehrlich iſt,
halte ich feſt im Auge; ich werde es ergrei¬
fen und gewiß bald und behende. Derglei¬
chen Verhaͤltniſſe, weiß ich wohl, heben ſich
nicht auf und bilden ſich nicht, ohne daß
manches falle was ſteht, ohne daß manches
weiche was zu beharren Luſt hat. Durch
Ueberlegung wird ſo etwas nicht geendet; vor
dem Verſtande ſind alle Rechte gleich, und
auf die ſteigende Wagſchale laͤßt ſich immer
wieder ein Gegengewicht legen. Entſchließe
[238] dich alſo, mein Freund, fuͤr mich, fuͤr dich
zu handeln, fuͤr mich, fuͤr dich dieſe Zuſtaͤnde
zu entwirren, aufzuloͤſen, zu verknuͤpfen. Laß
dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir
haben die Welt ohnehin ſchon von uns reden
machen, ſie wird noch einmal von uns reden,
uns ſodann, wie alles uͤbrige was aufhoͤrt neu
zu ſeyn, vergeſſen und uns gewaͤhren laſſen
wie wir koͤnnen, ohne weitern Theil an uns
zu nehmen.


Der Major hatte keinen andern Ausweg
und mußte endlich zugeben, daß Eduard ein
fuͤr allemal die Sache als etwas Bekanntes
und Vorausgeſetztes behandelte, daß er wie
alles anzuſtellen ſey, im Einzelnen durchſprach
und ſich uͤber die Zukunft auf das heiterſte,
ſogar in Scherzen erging.


Dann wieder ernſthaft und nachdenklich
fuhr er fort: Wollten wir uns der Hoffnung,
der Erwartung uͤberlaſſen, daß alles ſich von
[239] ſelbſt wieder finden, daß der Zufall uns lei¬
ten und beguͤnſtigen ſolle; ſo waͤre dieß ein
ſtraͤflicher Selbſtbetrug. Auf dieſe Weiſe koͤn¬
nen wir uns unmoͤglich retten, unſre allſeitige
Ruhe nicht wiederherſtellen; und wie ſollte
ich mich troͤſten koͤnnen, da ich unſchuldig die
Schuld an allem bin! Durch meine Zudring¬
lichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins
Haus zu nehmen, und auch Ottilie iſt nur
in Gefolg von dieſer Veraͤnderung bey uns ein¬
getreten. Wir ſind nicht mehr Herr uͤber das
was daraus entſprungen iſt, aber wir ſind
Herr, es unſchaͤdlich zu machen, die Verhaͤlt¬
niſſe zu unſerm Gluͤcke zu leiten. Magſt du
die Augen von den ſchoͤnen und freundlichen
Ausſichten abwenden, die ich uns eroͤffne, magſt
du mir, magſt du uns allen ein trauriges Ent¬
ſagen gebieten, inſofern du dir's moͤglich denkſt,
inſofern es moͤglich waͤre: iſt denn nicht auch
alsdann, wenn wir uns vornehmen in die
alten Zuſtaͤnde zuruͤckzukehren, manches Un¬
ſchickliche, Unbequeme, Verdrießliche zu uͤber¬
[240] tragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas
Heiteres daraus entſpraͤnge? Wuͤrde der gluͤckli¬
che Zuſtand in dem du dich befindeſt, dir wohl
Freude machen, wenn du gehindert waͤrſt,
mich zu beſuchen, mit mir zu leben? Und
nach dem was vorgegangen iſt, wuͤrde es
doch immer peinlich ſeyn. Charlotte und ich
wuͤrden mit allem unſerm Vermoͤgen uns nur
in einer traurigen Lage befinden. Und wenn
du mit andern Weltmenſchen glauben magſt,
daß Jahre, daß Entfernung ſolche Empfin¬
dungen abſtumpfen, ſo tief eingegrabene Zuͤge
ausloͤſchen; ſo iſt ja eben von dieſen Jahren
die Rede, die man nicht in Schmerz und
Entbehren ſondern in Freude und Behagen
zubringen will. Und nun zuletzt noch das
Wichtigſte auszuſprechen: wenn wir auch, un¬
ſerm aͤußern und innern Zuſtande nach, das
allenfalls abwarten koͤnnten, was ſoll aus
Ottilien werden, die unſer Haus verlaſſen, in
der Geſellſchaft unſerer Vorſorge entbehren
und ſich in der verruchten kalten Welt jaͤm¬
[241] merlich herumdruͤcken muͤßte! Male mir einen
Zuſtand worin Ottilie, ohne mich, ohne uns,
gluͤcklich ſeyn koͤnnte, dann ſollſt du ein
Argument ausgeſprochen haben, das ſtaͤrker
iſt als jedes andre, das ich, wenn ich's auch
nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann,
dennoch recht gern aufs neue in Betrachtung
und Ueberlegung ziehen will.


Dieſe Aufgabe war ſo leicht nicht zu loͤ¬
ſen, wenigſtens fiel dem Freunde hierauf keine
hinlaͤngliche Antwort ein, und es blieb ihm
nichts uͤbrig, als wiederhohlt einzuſchaͤrfen,
wie wichtig, wie bedenklich und in manchem
Sinne gefaͤhrlich das ganze Unternehmen ſey,
und daß man wenigſtens wie es anzugrei¬
fen waͤre, auf das ernſtlichſte zu bedenken
habe. Eduard ließ ſich's gefallen, doch nur
unter der Bedingung, daß ihn der Freund
nicht eher verlaſſen wolle, als bis ſie uͤber
die Sache voͤllig einig geworden, und die
erſten Schritte gethan ſeyen.


II. 16
[[242]]

Dreyzehntes Kapitel.

Voͤllig fremde und gegen einander gleich¬
guͤltige Menſchen, wenn ſie eine Zeit lang
zuſammen leben, kehren ihr Inneres wechſel¬
ſeitig heraus, und es muß eine gewiſſe Ver¬
traulichkeit entſtehen. Um ſo mehr laͤßt ſich
erwarten, daß unſern beyden Freunden, in¬
dem ſie wieder neben einander wohnten, taͤg¬
lich und ſtuͤndlich zuſammen umgingen, ge¬
genſeitig nichts verborgen blieb. Sie wieder¬
hohlten das Andenken ihrer fruͤheren Zuſtaͤn¬
de, und der Major verhehlte nicht, daß Char¬
lotte Eduarden, als er von Reiſen zuruͤckge¬
kommen, Ottilien zugedacht, daß ſie ihm das
ſchoͤne Kind in der Folge zu vermaͤhlen ge¬
meynt habe. Eduard bis zur Verwirrung
[243] entzuͤckt uͤber dieſe Entdeckung, ſprach ohne
Ruͤckhalt von der gegenſeitigen Neigung Char¬
lottens und des Majors, die er, weil es ihm
gerade bequem und guͤnſtig war, mit lebhaf¬
ten Farben ausmalte.


Ganz laͤugnen konnte der Major nicht und
nicht ganz eingeſtehen; aber Eduard befeſtigte,
beſtimmte ſich nur mehr. Er dachte ſich al¬
les nicht als moͤglich, ſondern als ſchon ge¬
ſchehen. Alle Theile brauchten nur in das
zu willigen was ſie wuͤnſchten; eine Schei¬
dung war gewiß zu erlangen; eine baldige
Verbindung ſollte folgen, und Eduard wollte
mit Ottilien reiſen.


Unter allem was die Einbildungskraft ſich
Angenehmes ausmalt, iſt vielleicht nichts Rei¬
zenderes, als wenn Liebende, wenn junge
Gatten, ihr neues friſches Verhaͤltniß in einer
neuen friſchen Welt zu genießen, und einen
dauernden Bund an ſo viel wechſelnden Zu¬
16 *[244] ſtaͤnden zu pruͤfen und zu beſtaͤtigen hoffen.
Der Major und Charlotte ſollten unterdeſſen
unbeſchraͤnkte Vollmacht haben, alles was ſich
auf Beſitz, Vermoͤgen und die irdiſchen wuͤn¬
ſchenswerthen Einrichtungen bezieht, dergeſtalt
zu ordnen und nach Recht und Billigkeit ein¬
zuleiten, daß alle Theile zufrieden ſeyn koͤnn¬
ten. Worauf jedoch Eduard am allermeiſten
zu fußen, wovon er ſich den groͤßten Vortheil
zu verſprechen ſchien, war dieß: Da das Kind
bey der Mutter bleiben ſollte, ſo wuͤrde der
Major den Knaben erziehen, ihn nach ſeinen
Einſichten leiten, ſeine Faͤhigkeiten entwickeln
koͤnnen. Nicht umſonſt hatte man ihm dann
in der Taufe ihren beyderſeitigen Namen Otto
gegeben.


Das alles war bey Eduarden ſo fertig
geworden, daß er keinen Tag laͤnger anſtehen
mochte, der Ausfuͤhrung naͤher zu treten. Sie
gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute
zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein
[245] Haus beſaß, wo er verweilen und die Ruͤck¬
kunft des Majors abwarten wollte. Doch
konnte er ſich nicht uͤberwinden, daſelbſt ſo¬
gleich abzuſteigen, und begleitete den Freund
noch durch den Ort. Sie waren beyde zu
Pferde, und in bedeutendem Geſpraͤch ver¬
wickelt ritten ſie zuſammen weiter.


Auf einmal erblickten ſie in der Ferne das
neue Haus auf der Hoͤhe, deſſen rothe Zie¬
geln ſie zum erſtenmal blinken ſahn. Eduar¬
den ergreift eine unwiderſtehliche Sehnſucht;
es ſoll noch dieſen Abend alles abgethan
ſeyn. In einem ganz nahen Dorfe will er
ſich verborgen halten; der Major ſoll die
Sache Charlotten dringend vorſtellen, ihre
Vorſicht uͤberraſchen und durch den unerwar¬
teten Antrag ſie zu freyer Eroͤffnung ihrer
Geſinnung noͤthigen. Denn Eduard, der ſeine
Wuͤnſche auf ſie uͤbergetragen hatte, glaubte
nicht anders als daß er ihren entſchiedenen
Wuͤnſchen entgegen komme, und hoffte eine
[246] ſo ſchnelle Einwilligung von ihr, weil er kei¬
nen andern Willen haben konnte.


Er ſah den gluͤcklichen Ausgang freudig
vor Augen, und damit dieſer dem Lauernden
ſchnell verkuͤndigt wuͤrde, ſollten einige Kano¬
nenſchlaͤge losgebrannt werden, und waͤre es
Nacht geworden, einige Racketen ſteigen.


Der Major ritt nach dem Schloſſe zu.
Er fand Charlotten nicht, ſondern erfuhr viel¬
mehr, daß ſie gegenwaͤrtig oben auf dem
neuen Gebaͤude wohne, jetzt aber einen Be¬
ſuch in der Nachbarſchaft ablege, von welchem
ſie heute wahrſcheinlich nicht ſobald nach Hau¬
ſe komme. Er ging in das Wirthshaus
zuruͤck, wohin er ſein Pferd geſtellt hatte.


Eduard indeſſen von unuͤberwindlicher
Ungeduld getrieben, ſchlich aus ſeinem Hinter¬
halte durch einſame Pfade, nur Jaͤgern und
Fiſchern bekannt, nach ſeinem Park, und fand
[247] ſich gegen Abend im Gebuͤſch in der Nachbar¬
ſchaft des Sees, deſſen Spiegel er zum er¬
ſtenmal vollkommen und rein erblickte.


Ottilie hatte dieſen Nachmittag einen
Spazirgang an den See gemacht. Sie trug
das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬
wohnheit. So gelangte ſie zu den Eichen
bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬
ſchlafen; ſie ſetzte ſich, legte ihn neben ſich
nieder und fuhr fort zu leſen. Das Buch
war eins von denen die ein zartes Gemuͤth
an ſich ziehen und nicht wieder los laſſen.
Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte
nicht, daß ſie zu Lande noch einen weiten
Ruͤckweg nach dem neuen Gebaͤude habe;
aber ſie ſaß verſenkt in ihr Buch, in ſich ſelbſt,
ſo liebenswuͤrdig anzuſehen, daß die Baͤume,
die Straͤuche rings umher haͤtten belebt, mit
Augen begabt ſeyn ſollen, um ſie zu bewundern
und ſich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel
ein roͤthliches Streiflicht der ſinkenden Sonne
[248] hinter ihr her und vergoldete Wange und
Schulter.


Eduard, dem es bisher gelungen war, un¬
bemerkt ſo weit vorzudringen, der ſeinen Park
leer, die Gegend einſam fand, wagte ſich
immer weiter. Endlich bricht er durch das
Gebuͤſch bey den Eichen; er ſieht Ottilien,
ſie ihn; er fliegt auf ſie zu und liegt zu ihren
Fuͤßen. Nach einer langen ſtummen Pauſe,
in der ſich beyde zu faſſen ſuchen, erklaͤrt er
ihr mit wenig Worten, warum und wie er
hieher gekommen. Er habe den Major an
Charlotten abgeſendet, ihr gemeinſames Schick¬
ſal werde vielleicht in dieſem Augenblick ent¬
ſchieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezwei¬
felt, ſie gewiß auch nie an der ſeinigen. Er
bitte ſie um ihre Einwilligung. Sie zauder¬
te, er beſchwur ſie; er wollte ſeine alten Rech¬
te geltend machen und ſie in ſeine Arme
ſchließen; ſie deutete auf das Kind hin.


[249]

Eduard erblickt es und ſtaunt. Großer
Gott! ruft er aus: wenn ich Urſache haͤtte an
meiner Frau, an meinem Freunde zu zwei¬
feln, ſo wuͤrde dieſe Geſtalt fuͤrchterlich gegen
ſie zeugen. Iſt dieß nicht die Bildung des
Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie
geſehen.


Nicht doch! verſetzte Ottilie: alle Welt
ſagt, es gleiche mir. Waͤr' es moͤglich, ver¬
ſetzte Eduard? und in dem Augenblick ſchlug
das Kind die Augen auf, zwey große, ſchwar¬
ze, durchdringende Augen, tief und freund¬
lich. Der Knabe ſah die Welt ſchon ſo ver¬
ſtaͤndig an; er ſchien die beyden zu kennen,
die vor ihm ſtanden. Eduard warf ſich bey
dem Kinde nieder, er kniete zweymal vor Ot¬
tilien. Du biſts! rief er aus: deine Augen
ſind's. Ach! aber laß mich nur in die dei¬
nigen ſchaun. Laß mich einen Schleyer wer¬
fen uͤber jene unſelige Stunde, die dieſem
Weſen das Daſeyn gab. Soll ich deine reine
[250] Seele mit dem ungluͤcklichen Gedanken er¬
ſchrecken, daß Mann und Frau entfremdet
ſich einander ans Herz druͤcken und einen ge¬
ſetzlichen Bund durch lebhafte Wuͤnſche ent¬
heiligen koͤnnen! Oder ja, da wir einmal ſo
weit ſind, da mein Verhaͤltniß zu Charlotten
getrennt werden muß, da du die meinige ſeyn
wirſt, warum ſoll ich es nicht ſagen! Warum
ſoll ich das harte Wort nicht ausſprechen:
dieß Kind iſt aus einem doppelten Ehbruch
erzeugt! es trennt mich von meiner Gattinn
und meine Gattinn von mir, wie es uns haͤt¬
te verbinden ſollen. Mag es denn gegen
mich zeugen, moͤgen dieſe herrlichen Augen
den deinigen ſagen, daß ich in den Armen
einer andern dir gehoͤrte; moͤgeſt du fuͤhlen,
Ottilie, recht fuͤhlen, daß ich jenen Fehler,
jenes Verbrechen nur in deinen Armen ab¬
buͤßen kann!


Horch! rief er aus, indem er aufſprang
und einen Schuß zu hoͤren glaubte, als das
[251] Zeichen das der Major geben ſollte. Es war
ein Jaͤger, der im benachbarten Gebirg ge¬
ſchoſſen hatte. Es erfolgte nichts weiter;
Eduard war ungeduldig.


Nun erſt ſah Ottilie, daß die Sonne ſich
hinter die Berge geſenkt hatte. Noch zuletzt
blinkte ſie von den Fenſtern des obern Ge¬
baͤudes zuruͤck. Entferne dich, Eduard! rief
Ottilie. So lange haben wir entbehrt, ſo
lange geduldet. Bedenke was wir beyde
Charlotten ſchuldig ſind. Sie muß unſer
Schickſal entſcheiden, laß uns ihr nicht vor¬
greifen. Ich bin die Deine, wenn ſie es
vergoͤnnt; wo nicht, ſo muß ich dir entſagen.
Da du die Entſcheidung ſo nah glaubſt, ſo
laß uns erwarten. Geh in das Dorf zuruͤck,
wo der Major dich vermuthet. Wie manches
kann vorkommen, das eine Erklaͤrung fordert.
Iſt es wahrſcheinlich, daß ein roher Kano¬
nenſchlag dir den Erfolg ſeiner Unterhandlun¬
gen verkuͤnde? Vielleicht ſucht er dich auf
[252] in dieſem Augenblick. Er hat Charlotten nicht
getroffen, das weiß ich: er kann ihr entge¬
gen gegangen ſeyn, denn man wußte wo ſie
hin war. Wie vielerley Faͤlle ſind moͤglich!
Laß mich! Jetzt muß ſie kommen. Sie er¬
wartet mich mit dem Kinde dort oben.


Ottilie ſprach in Haſt. Sie rief ſich alle
Moͤglichkeiten zuſammen. Sie war gluͤcklich
in Eduards Naͤhe und fuͤhlte, daß ſie ihn
jetzt entfernen muͤſſe. Ich bitte, ich beſchwoͤre
dich, Geliebter! rief ſie aus: Kehre zuruͤck
und erwarte den Major! Ich gehorche deinen
Befehlen, rief Eduard, indem er ſie erſt lei¬
denſchaftlich anblickte und ſie dann feſt in ſei¬
ne Arme ſchloß. Sie umſchlang ihn mit den
ihrigen und druͤckte ihn auf das zaͤrtlichſte an
ihre Bruſt. Die Hoffnung fuhr wie ein
Stern, der vom Himmel faͤllt, uͤber ihre
Haͤupter weg. Sie waͤhnten, ſie glaubten
einander anzugehoͤren; ſie wechſelten zum er¬
[253] ſtenmal entſchiedene, freye Kuͤſſe und trennten
ſich gewaltſam und ſchmerzlich.


Die Sonne war untergegangen und es
daͤmmerte ſchon und duftete feucht um den
See. Ottilie ſtand verwirrt und bewegt; ſie
ſah nach dem Berghauſe hinuͤber und glaubte
Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu
ſehen. Der Umweg war groß am See hin;
ſie kannte Charlottens ungeduldiges Harren
nach dem Kinde. Die Platanen ſieht ſie ge¬
gen ſich uͤber, nur ein Waſſerraum trennt ſie
von dem Pfade, der ſogleich zu dem Gebaͤude
hinauffuͤhrt. Mit Gedanken iſt ſie ſchon druͤ¬
ben, wie mit den Augen. Die Bedenklich¬
keit, mit dem Kinde ſich aufs Waſſer zu wa¬
gen, verſchwindet in dieſem Drange. Sie
eilt nach dem Kahn, ſie fuͤhlt nicht daß ihr
Herz pocht, daß ihre Fuͤße ſchwanken, daß
ihr die Sinne zu vergehen drohn.


Sie ſpringt in den Kahn, ergreift das
Ruder und ſtoͤßt ab. Sie muß Gewalt brau¬
[254] chen, ſie wiederhohlt den Stoß, der Kahn
ſchwankt und gleitet eine Strecke Seewaͤrts.
Auf dem linken Arme das Kind, in der lin¬
ken Hand das Buch, in der rechten das Ru¬
der, ſchwankt auch ſie und faͤllt in den Kahn.
Das Ruder entfaͤhrt ihr, nach der einen
Seite, und wie ſie ſich erhalten will, Kind
und Buch, nach der andern, alles ins Waſ¬
ſer. Sie ergreift noch des Kindes Gewand;
aber ihre unbequeme Lage hindert ſie ſelbſt
am Aufſtehen. Die freye rechte Hand iſt
nicht hinreichend ſich umzuwenden, ſich aufzu¬
richten; endlich gelingt's, ſie zieht das Kind
aus dem Waſſer, aber ſeine Augen ſind ge¬
ſchloſſen, es hat aufgehoͤrt zu athmen.


In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Be¬
ſonnenheit zuruͤck, aber um deſto groͤßer iſt
ihr Schmerz. Der Kahn treibt faſt in der
Mitte des Sees, das Ruder ſchwimmt fern,
ſie erblickt Niemanden am Ufer und auch was
haͤtte es ihr geholfen, Jemanden zu ſehen!
[255] Von allem abgeſondert ſchwebt ſie auf dem
treuloſen unzugaͤnglichen Elemente.


Sie ſucht Huͤlfe bey ſich ſelbſt. So oft
hatte ſie von Rettung der Ertrunkenen gehoͤrt.
Noch am Abend ihres Geburtstags hatte ſie
es erlebt. Sie entkleidet das Kind, und
trocknet's mit ihrem Muſſelingewand. Sie
reißt ihren Buſen auf und zeigt ihn zum er¬
ſtenmal dem freyen Himmel; zum erſtenmal
druͤckt ſie ein Lebendiges an ihre reine nackte
Bruſt, ach! und kein Lebendiges. Die kalten
Glieder des ungluͤcklichen Geſchoͤpfs verkaͤlten
ihren Buſen bis ins innerſte Herz. Unendliche
Thraͤnen entquellen ihren Augen und ertheilen
der Oberflaͤche des Erſtarrten einen Schein
von Waͤrm' und Leben. Sie laͤßt nicht nach,
ſie uͤberhuͤllt es mit ihrem Shawl, und durch
Streicheln, Andruͤcken, Anhauchen, Kuͤſſen,
Thraͤnen glaubt ſie jene Huͤlfsmittel zu er¬
ſetzen, die ihr in dieſer Abgeſchnittenheit ver¬
ſagt ſind.


[256]

Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt
das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung
ſteht der Kahn auf der Waſſerflaͤche; aber
auch hier laͤßt ihr ſchoͤnes Gemuͤth ſie nicht
huͤlflos. Sie wendet ſich nach oben. Knieend
ſinkt ſie in dem Kahne nieder und hebt das
erſtarrte Kind mit beyden Armen uͤber ihre
unſchuldige Bruſt, die an Weiße und leider
auch an Kaͤlte dem Marmor gleicht. Mit
feuchtem Blick ſieht ſie empor und ruft Huͤlfe
von daher, wo ein zartes Herz die groͤßte
Fuͤlle zu finden hofft, wenn es uͤberall mangelt.


Auch wendet ſie ſich nicht vergebens zu
den Sternen, die ſchon einzeln hervorzublin¬
ken anfangen. Ein ſanfter Wind erhebt ſich
und treibt den Kahn nach den Platanen.

[]

Vierzehntes Kapitel.

Sie eilt nach dem neuen Gebaͤude, ſie
ruft den Chirurgus hervor, ſie uͤbergiebt ihm
das Kind. Der auf alles gefaßte Mann be¬
handelt den zarten Leichnam ſtufenweiſe nach
gewohnter Art. Ottilie ſteht ihm in allem
bey; ſie ſchafft, ſie bringt, ſie ſorgt, zwar
wie in einer andern Welt wandelnd: denn das
hoͤchſte Ungluͤck wie das hoͤchſte Gluͤck veraͤn¬
dert die Anſicht aller Gegenſtaͤnde; und nur,
als nach allen durchgegangenen Verſuchen der
wackere Mann den Kopf ſchuͤttelt, auf ihre
hoffnungsvollen Fragen erſt ſchweigend, dann
mit einem leiſen Nein antwortet, verlaͤßt ſie
das Schlafzimmer Charlottens, worin dieß
alles geſchehen, und kaum hat ſie das Wohn¬
II. 17[258] zimmer betreten, ſo faͤllt ſie, ohne den Sopha
erreichen zu koͤnnen, erſchoͤpft aufs Angeſicht
uͤber den Teppich hin.


Eben hoͤrt man Charlotten vorfahren. Der
Chirurg bittet die Umſtehenden dringend zu¬
ruͤck zu bleiben, er will ihr entgegen, ſie vor¬
bereiten; aber ſchon betritt ſie ihr Zimmer.
Sie findet Ottilien an der Erde, und ein
Maͤdchen des Hauſes ſtuͤrzt ihr mit Geſchrey
und Weinen entgegen. Der Chirurg tritt
herein und ſie erfaͤhrt alles auf einmal. Wie
ſollte ſie aber jede Hoffnung mit einmal auf¬
geben! Der erfahrne, kunſtreiche, kluge Mann
bittet ſie nur das Kind nicht zu ſehen; er
entfernt ſich, ſie mit neuen Anſtalten zu taͤu¬
ſchen. Sie hat ſich auf ihren Sopha geſetzt,
Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der
Freundinn Kniee herangehoben, uͤber die ihr
ſchoͤnes Haupt hingeſenkt iſt. Der aͤrztliche
Freund geht ab und zu; er ſcheint ſich um
das Kind zu bemuͤhen, er bemuͤht ſich um die
[259] Frauen. So kommt die Mitternacht herbey,
die Todtenſtille wird immer tiefer. Charlotte
verbirgt ſich's nicht mehr, daß das Kind nie
wieder ins Leben zuruͤckkehre; ſie verlangt es
zu ſehen. Man hat es in warme wollne Tuͤ¬
cher reinlich eingehuͤllt, in einen Korb gelegt,
den man neben ſie auf den Sopha ſetzt; nur
das Geſichtchen iſt frey; ruhig und ſchoͤn liegt
es da.


Von dem Unfall war das Dorf bald er¬
regt worden und die Kunde ſogleich bis nach
dem Gaſthof erſchollen. Der Major hatte
ſich die bekannten Wege hinaufbegeben; er
ging um das Haus herum, und indem er
einen Bedienten anhielt, der in dem Ange¬
baͤude etwas zu hohlen lief, verſchaffte er ſich
naͤhere Nachricht und ließ den Chirurgen her¬
ausrufen. Dieſer kam, erſtaunt uͤber die Er¬
ſcheinung ſeines alten Goͤnners, berichtete ihm
die gegenwaͤrtige Lage und uͤbernahm es, Char¬
lotten auf ſeinen Anblick vorzubereiten. Er
17*[260] ging hinein, fing ein ableitendes Geſpraͤch an
und fuͤhrte die Einbildungskraft von einem
Gegenſtand auf den andern, bis er endlich
den Freund Charlotten vergegenwaͤrtigte, deſ¬
ſen gewiſſe Theilnahme, deſſen Naͤhe dem
Geiſte, der Geſinnung nach, die er denn bald
in eine wirkliche uͤbergehen ließ. Genug ſie
erfuhr, der Freund ſtehe vor der Thuͤr, er
wiſſe alles und wuͤnſche eingelaſſen zu wer¬
den.


Der Major trat herein; ihn begruͤßte Char¬
lotte mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln. Er ſtand
vor ihr. Sie hub die gruͤnſeidne Decke auf,
die den Leichnam verbarg, und bey dem dunk¬
len Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne
geheimes Grauſen, ſein erſtarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und ſo
ſaßen ſie gegen einander uͤber, ſchweigend, die
Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf
den Knieen Charlottens; ſie athmete ſanft,
ſie ſchlief, oder ſie ſchien zu ſchlafen.


[261]

Der Morgen daͤmmerte, das Licht ver¬
loſch, beyde Freunde ſchienen aus einem dum¬
pfen Traum zu erwachen. Charlotte blickte
den Major an und ſagte gefaßt: erklaͤren Sie
mir, mein Freund, durch welche Schickung
kommen Sie hieher, um Theil an dieſer Trau¬
erſcene zu nehmen?


Es iſt hier, antwortete der Major ganz
leiſe wie ſie gefragt hatte, — als wenn ſie
Ottilien nicht aufwecken wollten — es iſt hier
nicht Zeit und Ort, zuruͤckzuhalten, Einlei¬
tungen zu machen und ſachte heran zu treten.
Der Fall, in dem ich Sie finde, iſt ſo unge¬
heuer, daß das Bedeutende ſelbſt weshalb ich
komme, dagegen ſeinen Werth verliert.


Er geſtand ihr darauf, ganz ruhig und
einfach, den Zweck ſeiner Sendung, in ſo fern
Eduard ihn abgeſchickt hatte; den Zweck ſei¬
nes Kommens, in ſo fern ſein freyer Wille,
ſein eigenes Intereſſe dabey war. Er trug
[262] beydes ſehr zart, doch aufrichtig vor; Char¬
lotte hoͤrte gelaſſen zu, und ſchien weder dar¬
uͤber zu ſtaunen, noch unwillig zu ſeyn.


Als der Major geendigt hatte, antworte¬
te Charlotte mit ganz leiſer Stimme, ſo daß
er genoͤthigt war ſeinen Stuhl [heranzuruͤcken]:
In einem Falle wie dieſer iſt, habe ich mich
noch nie befunden; aber in aͤhnlichen habe ich
mir immer geſagt: wie wird es morgen ſeyn?
Ich fuͤhle recht wohl, daß das Loos von meh¬
reren jetzt in meinen Haͤnden liegt; und was
ich zu thun habe iſt bey mir außer Zweifel
und bald ausgeſprochen. Ich willige in die
Scheidung. Ich haͤtte mich fruͤher dazu ent¬
ſchließen ſollen; durch mein Zaudern, mein
Widerſtreben habe ich das Kind getoͤdtet. Es
ſind gewiſſe Dinge, die ſich das Schickſal
hartnaͤckig vornimmt. Vergebens, daß Ver¬
nunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige
ſich ihm in den Weg ſtellen; es ſoll etwas
geſchehen was ihm recht iſt, was uns nicht
[263] recht ſcheint; und ſo greift es zuletzt durch,
wir moͤgen uns gebaͤrden wie wir wollen.


Doch was ſag' ich! Eigentlich will das
Schickſal meinen eigenen Wunſch, meinen
eigenen Vorſatz, gegen die ich unbedachtſam
gehandelt, wieder in den Weg bringen. Habe
ich nicht ſelbſt ſchon Ottilien und Eduarden
mir als das ſchicklichſte Paar zuſammenge¬
dacht? Habe ich nicht ſelbſt beyde einander
zu naͤhern geſucht? Waren Sie nicht ſelbſt,
mein Freund, Mitwiſſer dieſes Plans? Und
warum konnt' ich den Eigenſinn eines Man¬
nes nicht von wahrer Liebe unterſcheiden?
Warum nahm ich ſeine Hand an? da ich
als Freundinn ihn und eine andre Gattinn
gluͤcklich gemacht haͤtte. Und betrachten Sie
nur dieſe ungluͤckliche Schlummernde! Ich
zittere vor dem Augenblicke, wenn ſie aus ih¬
rem halben Todtenſchlafe zum Bewußtſeyn
erwacht. Wie ſoll ſie leben, wie ſoll ſie ſich
troͤſten, wenn ſie nicht hoffen kann, durch
[264] ihre Liebe Eduarden das zu erſetzen, was ſie
ihm als Werkzeug des wunderbarſten Zufalls
geraubt hat. Und ſie kann ihm alles wieder¬
geben nach der Neigung, nach der Leidenſchaft
mit der ſie ihn liebt. Vermag die Liebe alles
zu dulden, ſo vermag ſie noch vielmehr alles
zu erſetzen. An mich darf in dieſem Augen¬
blick nicht gedacht werden.


Entfernen Sie ſich in der Stille, lieber
Major. Sagen Sie Eduarden, daß ich in
die Scheidung willige, daß ich ihm, Ihnen,
Mittlern die ganze Sache einzuleiten uͤber¬
laſſe; daß ich um meine kuͤnftige Lage unbe¬
kuͤmmert bin und es in jedem Sinne ſeyn
kann. Ich will jedes Papier unterſchreiben,
das man mir bringt; aber man verlange nur
nicht von mir, daß ich mitwirke, daß ich be¬
denke, daß ich berathe.


Der Major ſtand auf. Sie reichte ihm
ihre Hand uͤber Ottilien weg. Er druͤckte
[265] ſeine Lippen auf dieſe liebe Hand. Und fuͤr
mich, was darf ich hoffen? lispelte er leiſe.


Laſſen Sie mich Ihnen die Antwort ſchul¬
dig bleiben, verſetzte Charlotte. Wir haben
nicht verſchuldet ungluͤcklich zu werden; aber
auch nicht verdient zuſammen gluͤcklich zu ſeyn.


Der Major entfernte ſich, Charlotten tief
im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme
abgeſchiedene Kind bedauern zu koͤnnen. Ein
ſolches Opfer ſchien ihm noͤthig zu ihrem all¬
ſeitigen Gluͤck. Er dachte ſich Ottilien mit
einem eignen Kind auf dem Arm, als den
vollkommenſten Erſatz fuͤr das, was ſie Eduar¬
den geraubt; er dachte ſich einen Sohn auf
dem Schooße, der mit mehrerem Recht ſein
Ebenbild truͤge, als der abgeſchiedene.


So ſchmeichelnde Hoffnungen und Bilder
gingen ihm durch die Seele, als er auf dem
Ruͤckwege nach dem Gaſthofe Eduarden fand,
[266] der die ganze Nacht im Freyen den Major
erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein
Donnerlaut ein gluͤckliches Gelingen verkuͤnden
wollte. Er wußte bereits von dem Ungluͤck
und auch er, anſtatt das arme Geſchoͤpf zu
bedauern, ſah dieſen Fall, ohne ſich's ganz
geſtehen zu wollen, als eine Fuͤgung an, wo¬
durch jedes Hinderniß an ſeinem Gluͤck auf
einmal beſeitigt waͤre. Gar leicht ließ er ſich
daher durch den Major bewegen, der ihm
ſchnell den Entſchluß ſeiner Gattinn verkuͤn¬
digte, wieder nach jenem Dorfe, und ſodann
nach der kleinen Stadt zuruͤckzukehren, wo
ſie das Naͤchſte uͤberlegen und einleiten wollten.


Charlotte ſaß, nachdem der Major ſie ver¬
laſſen hatte, nur wenige Minuten in ihre Be¬
trachtungen verſenkt: denn ſogleich richtete
Ottilie ſich auf, ihre Freundinn mit großen
Augen anblickend. Erſt erhob ſie ſich von
dem Schooße, dann von der Erde und ſtand
vor Charlotten.


[267]

Zum zweytenmal — ſo begann das herr¬
liche Kind mit einem unuͤberwindlichen anmu¬
thigen Ernſt — zum zweytenmal widerfaͤhrt
mir daſſelbige. Du ſagteſt mir einſt: es be¬
gegne den Menſchen in ihrem Leben oft Aehn¬
liches auf aͤhnliche Weiſe, und immer in be¬
deutenden Augenblicken. Ich finde nun die
Bemerkung wahr, und bin gedrungen dir ein
Bekenntniß zu machen. Kurz nach meiner
Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich
meinen Schemmel an dich geruͤckt; du ſaßeſt
auf dem Sopha wie jetzt; mein Haupt lag auf
deinen Knieen, ich ſchlief nicht, ich wachte
nicht; ich ſchlummerte. Ich vernahm alles
was um mich vorging, beſonders alle Reden,
ſehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht
regen, mich nicht aͤußern, und wenn ich auch
gewollt haͤtte, nicht andeuten, daß ich meiner
ſelbſt mich bewußt fuͤhlte. Damals ſprachſt
du mit einer Freundinn uͤber mich; du be¬
dauerteſt mein Schickſal, als eine arme Waiſe
in der Welt geblieben zu ſeyn; du ſchilderteſt
[268] meine abhaͤngige Lage und wie mißlich es um
mich ſtehen koͤnne, wenn nicht ein beſondrer
Gluͤcksſtern uͤber mich walte. Ich faßte al¬
les wohl und genau, vielleicht zu ſtreng, was
du fuͤr mich zu wuͤnſchen, was du von mir
zu fordern ſchienſt. Ich machte mir nach
meinen beſchraͤnkten Einſichten hieruͤber Ge¬
ſetze; nach dieſen habe ich lange gelebt, nach
ihnen war mein Thun und Laſſen eingerich¬
tet, zu der Zeit da du mich liebteſt, fuͤr
mich ſorgteſt, da du mich in dein Haus auf¬
nahmeſt, und auch noch eine Zeit hernach.


Aber ich bin aus meiner Bahn geſchrit¬
ten, ich habe meine Geſetze gebrochen, ich
habe ſogar das Gefuͤhl derſelben verloren,
und nach einem ſchrecklichen Ereigniß klaͤrſt
du mich wieder uͤber meinen Zuſtand auf, der
jammervoller iſt als der erſte. Auf deinem
Schooße ruhend, halb erſtarrt, wie aus einer
fremden Welt vernehm' ich abermals deine
leiſe Stimme uͤber meinem Ohr; ich verneh¬
[269] me, wie es mit mir ſelbſt ausſieht; ich ſchau¬
dere uͤber mich ſelbſt: aber wie damals habe
ich auch diesmal in meinem halben Todten¬
ſchlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet.


Ich bin entſchloſſen, wie ich's war, und
wozu ich entſchloſſen bin, mußt du gleich er¬
fahren. Eduardens werd' ich nie! Auf eine
ſchreckliche Weiſe hat Gott mir die Augen
geoͤffnet, in welchem Verbrechen ich befangen
bin. Ich will es buͤßen; und Niemand ge¬
denke mich von meinem Vorſatz abzubringen!
Darnach, Liebe, Beſte, nimm deine Maaßre¬
geln. Laß den Major zuruͤckkommen; ſchrei¬
be ihm, daß keine Schritte geſchehen. Wie
aͤngſtlich war mir, daß ich mich nicht ruͤhren
und regen konnte, als er ging. Ich wollte
auffahren, aufſchreyen: du ſollteſt ihn nicht
mit ſo frevelhaften Hoffnungen entlaſſen.


Charlotte ſah Ottiliens Zuſtand, ſie em¬
pfand ihn; aber ſie hoffte durch Zeit und
[270] Vorſtellungen etwas uͤber ſie zu gewinnen.
Doch als ſie einige Worte ausſprach, die auf
eine Zukunft, auf eine Milderung des Schmer¬
zes, auf Hoffnung deuteten: Nein! rief Ot¬
tilie mit Erhebung: ſucht mich nicht zu be¬
wegen, nicht zu hintergehen! In dem Au¬
genblick, in dem ich erfahre: du habeſt in
die Scheidung gewilligt, buͤße ich in demſel¬
bigen See meine Vergehen, meine Verbrechen.

[[271]]

Funfzehntes Kapitel.

Wenn ſich in einem gluͤcklichen friedlichen
Zuſammenleben Verwandte, Freunde, Haus¬
genoſſen, mehr als noͤthig und billig iſt, von
dem unterhalten was geſchieht oder geſchehen
ſoll; wenn ſie ſich einander ihre Vorſaͤtze, Unter¬
nehmungen, Beſchaͤftigungen wiederhohlt mit¬
theilen, und ohne gerade wechſelſeitigen Rath
anzunehmen, doch immer das ganze Leben gleich¬
ſam rathſchlagend behandeln: ſo findet man
dagegen, in wichtigen Momenten, eben da
wo es ſcheinen ſollte, der Menſch beduͤrfe frem¬
den Beyſtandes, fremder Beſtaͤtigung am al¬
lermeiſten, daß ſich die einzelnen auf ſich ſelbſt
zuruͤckziehen, jedes fuͤr ſich zu handeln, jedes
auf ſeine Weiſe zu wirken ſtrebt, und indem
[272] man ſich einander die einzelnen Mittel ver¬
birgt, nur erſt der Ausgang, die Zwecke, das
Erreichte wieder zum Gemeingut werden.


Nach ſoviel wundervollen und ungluͤckli¬
chen Ereigniſſen war denn auch ein gewiſſer
ſtiller Ernſt uͤber die Freundinnen gekommen,
der ſich in einer liebenswuͤrdigen Schonung
aͤußerte. Ganz in der Stille hatte Charlotte
das Kind nach der Kapelle geſendet. Es ruh¬
te dort als das erſte Opfer eines ahndungs¬
vollen Verhaͤngniſſes.


Charlotte kehrte ſich, ſo viel es ihr moͤg¬
lich war, gegen das Leben zuruͤck, und hier
fand ſie Ottilien zuerſt, die ihres Beyſtandes
bedurfte. Sie beſchaͤftigte ſich vorzuͤglich mit
ihr, ohne es jedoch merken zu laſſen. Sie
wußte wie ſehr das himmliſche Kind Eduar¬
den liebte; ſie hatte nach und nach die Scene
die dem Ungluͤck vorher gegangen war, her¬
ausgeforſcht, und jeden Umſtand, theils von
[273] Ottilien ſelbſt, theils durch Briefe des Majors
erfahren.


Ottilie von ihrer Seite erleichterte Char¬
lotten ſehr das augenblickliche Leben. Sie
war offen, ja geſpraͤchig, aber niemals war
von dem Gegenwaͤrtigen oder kurz Vergange¬
nen die Rede. Sie hatte ſtets aufgemerkt,
ſtets beobachtet, ſie wußte viel; das kam jetzt
alles zum Vorſchein. Sie unterhielt, ſie zer¬
ſtreute Charlotten, die noch immer die ſtille
Hoffnung naͤhrte, ein ihr ſo werthes Paar
verbunden zu ſehen.


Allein bey Ottilien hing es anders zuſam¬
men. Sie hatte das Geheimniß ihres Le¬
bensganges der Freundinn entdeckt; ſie war
von ihrer fruͤhen Einſchraͤnkung, von ihrer
Dienſtbarkeit entbunden. Durch ihre Reue,
durch ihren Entſchluß fuͤhlte ſie ſich auch be¬
freyt von der Laſt jenes Vergehens, jenes
Mißgeſchicks. Sie bedurfte keiner Gewalt
II. 18[274] mehr uͤber ſich ſelbſt; ſie hatte ſich in der
Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung
des voͤlligen Entſagens verziehen, und dieſe
Bedingung war fuͤr alle Zukunft unerlaͤßlich.


So verfloß einige Zeit, und Charlotte fuͤhl¬
te, wie ſehr Haus und Park, Seen, Felſen-
und Baumgruppen, nur traurige Empfindun¬
gen taͤglich in ihnen beyden erneuerten. Daß
man den Ort veraͤndern muͤſſe, war allzu
deutlich; wie es geſchehen ſolle, nicht ſo leicht
zu entſcheiden.


Sollten die beyden Frauen zuſammenblei¬
ben? Eduards fruͤherer Wille ſchien es zu ge¬
bieten, ſeine Erklaͤrung, ſeine Drohung es
noͤthig zu machen: allein wie war es zu ver¬
kennen, daß beyde Frauen, mit allem guten
Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anſtren¬
gung, ſich in einer peinlichen Lage neben ein¬
ander befanden. Ihre Unterhaltungen waren
vermeidend. Manchmal mochte man gern et¬
[275] was nur halb verſtehen, oͤfters wurde aber
doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Ver¬
ſtand wenigſtens durch die Empfindung, mi߬
deutet. Man fuͤrchtete ſich zu verletzen, und
gerade die Furcht war am erſten verletzbar
und verletzte am erſten.


Wollte man den Ort veraͤndern und ſich
zugleich, wenigſtens auf einige Zeit, von ein¬
ander trennen; ſo trat die alte Frage wieder
hervor: wo ſich Ottilie hinbegeben ſolle? Je¬
nes große reiche Haus hatte vergebliche Ver¬
ſuche gemacht, einer hoffnungsvollen Erbtoch¬
ter unterhaltende und wetteifernde Geſpielin¬
nen zu verſchaffen. Schon bey der letzten
Anweſenheit der Baroneſſe, und neuerlich durch
Briefe, war Charlotte aufgefordert worden,
Ottilien dorthin zu ſenden; jetzt brachte ſie es
abermals zur Sprache. Ottilie verweigerte
aber ausdruͤcklich dahin zu gehen, wo ſie das¬
jenige finden wuͤrde, was man große Welt
zu nennen pflegt.


18 *[276]

Laſſen Sie mich, liebe Tante, ſagte ſie,
damit ich nicht eingeſchraͤnkt und eigenſinnig
erſcheine, dasjenige ausſprechen was zu ver¬
ſchweigen, zu verbergen in einem andern Falle
Pflicht waͤre. Ein ſeltſam ungluͤcklicher Menſch,
und wenn er auch ſchuldlos waͤre, iſt auf eine
fuͤrchterliche Weiſe gezeichnet. Seine Gegen¬
wart erregt in allen die ihn ſehen, die ihn
gewahr werden, ein Art von Entſetzen. Jeder
will das Ungeheure ihm anſehen was ihm
auferlegt ward; jeder iſt neugierig und aͤngſt¬
lich zugleich. So bleibt ein Haus, eine
Stadt, worin eine ungeheure That geſche¬
hen, jedem furchtbar der ſie betritt. Dort
leuchtet das Licht des Tages nicht ſo hell,
und die Sterne ſcheinen ihren Glanz zu ver¬
lieren.


Wie groß, und doch vielleicht zu entſchul¬
digen, iſt gegen ſolche Ungluͤckliche die In¬
discretion der Menſchen, ihre alberne Zu¬
dringlichkeit und ungeſchickte Gutmuͤthigkeit.
[277] Verzeihen Sie mir, daß ich ſo rede; aber ich
habe unglaublich mit jenem armen Maͤdchen
gelitten, als es Luciane aus den verborgenen
Zimmern des Hauſes hervorzog, ſich freund¬
lich mit ihm beſchaͤftigte, es in der beſten
Abſicht zu Spiel und Tanz noͤthigen wollte.
Als das arme Kind bange [und] immer baͤnger
zuletzt floh und in Ohnmacht ſank, ich es in
meine Arme faßte, die Geſellſchaft erſchreckt
aufgeregt und jeder erſt recht neugierig auf
die Ungluͤckſelige ward: da dachte ich nicht,
daß mir ein gleiches Schickſal bevorſtehe; aber
mein Mitgefuͤhl, ſo wahr und lebhaft; iſt
noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitlei¬
den gegen mich ſelbſt wenden und mich huͤthen,
daß ich nicht zu aͤhnlichen Auftritten Anlaß gebe.


Du wirſt aber, liebes Kind, verſetzte Char¬
lotte, dem Anblick der Menſchen dich nirgends
entziehen koͤnnen. Kloͤſter haben wir nicht,
in denen ſonſt eine Freyſtatt fuͤr ſolche Ge¬
fuͤhle zu finden war.


[278]

Die Einſamkeit macht nicht die Freyſtatt,
liebe Tante, verſetzte Ottilie. Die ſchaͤtzens¬
wertheſte Freyſtatt iſt da zu ſuchen, wo wir
thaͤtig ſeyn koͤnnen. Alle Buͤßungen, alle
Entbehrungen ſind keineswegs geeignet uns
einem ahndungsvollen Geſchick zu entziehen,
wenn es uns zu verfolgen entſchieden iſt. Nur,
wenn ich im muͤßigen Zuſtande der Welt zur
Schau dienen ſoll, dann iſt ſie mir wider¬
waͤrtig und aͤngſtigt mich. Findet man mich
aber freudig bey der Arbeit, unermuͤdet in
meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines
Jeden aushalten, weil ich die goͤttlichen nicht
zu ſcheuen brauche.


Ich muͤßte mich ſehr irren, verſetzte Char¬
lotte, wenn deine Neigung dich nicht zur
Penſion zuruͤckzoͤge.


Ja, verſetzte Ottilie, ich laͤugne es nicht:
ich denke es mir als eine gluͤckliche Beſtim¬
mung, andre auf dem gewoͤhnlichen Wege zu
[279] erziehen, wenn wir auf dem ſonderbarſten er¬
zogen worden. Und ſehen wir nicht in der
Geſchichte, daß Menſchen, die wegen großer
ſittlicher Unfaͤlle ſich in die Wuͤſten zuruͤckzo¬
gen, dort keineswegs, wie ſie hofften, verbor¬
gen und gedeckt waren. Sie wurden zuruͤck¬
gerufen in die Welt, um die Verirrten auf
den rechten Weg zu fuͤhren; und wer konnte
es beſſer als die in den Irrgaͤngen des Lebens
ſchon Eingeweihten! Sie wurden berufen den
Ungluͤcklichen beyzuſtehen, und wer vermochte
das eher als ſie, denen kein irdiſches Unheil
mehr begegnen konnte!


Du waͤhlſt eine ſonderbare Beſtimmung,
verſetzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬
ſtreben: es mag ſeyn, wenn auch nur, wie
ich hoffe, auf kurze Zeit.


Wie ſehr danke ich Ihnen, ſagte Ottilie,
daß Sie mir dieſen Verſuch, dieſe Erfahrung
goͤnnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu
[280] ſehr, ſo ſoll es mir gluͤcken. An jenem Orte
will ich mich erinnern, wie manche Pruͤfun¬
gen ich ausgeſtanden, und wie klein, wie nich¬
tig ſie waren gegen die, die ich nachher er¬
fahren mußte. Wie heiter werde ich die Ver¬
legenheiten der jungen Aufſchoͤßlinge betrach¬
ten, bey ihren kindlichen Schmerzen laͤcheln
und ſie mit leiſer Hand aus allen kleinen Ver¬
irrungen herausfuͤhren. Der Gluͤckliche iſt
nicht geeignet Gluͤcklichen vorzuſtehen: es liegt
in der menſchlichen Natur, immer mehr von
ſich und von andern zu fordern je mehr man
empfangen hat. Nur der Ungluͤckliche der ſich
erhohlt, weiß fuͤr ſich und andre das Gefuͤhl
zu naͤhren, daß auch ein maͤßiges Gute mit
Entzuͤcken genoſſen werden ſoll.


Laß mich gegen deinen Vorſatz, ſagte Char¬
lotte zuletzt nach einigem Bedenken, noch ei¬
nen Einwurf anfuͤhren, der mir der wichtigſte
ſcheint. Es iſt nicht von dir, es iſt von ei¬
nem Dritten die Rede. Die Geſinnungen
[281] des guten vernuͤnftigen frommen Gehuͤlfen ſind
dir bekannt; auf dem Wege den du gehſt,
wirſt du ihm jeden Tag werther und unent¬
behrlicher ſeyn. Da er ſchon jetzt, ſeinem
Gefuͤhl nach, nicht gern ohne dich leben mag,
ſo wird er auch kuͤnftig, wenn er einmal dei¬
ne Mitwirkung gewohnt iſt, ohne dich ſein
Geſchaͤft nicht mehr verwalten koͤnnen. Du
wirſt ihm anfangs darin beyſtehen, um es
ihm hernach zu verleiden.


Das Geſchick iſt nicht ſanft mit mir ver¬
fahren, verſetzte Ottilie; und wer mich liebt
hat vielleicht nicht viel beſſeres zu erwarten.
So gut und verſtaͤndig als der Freund iſt,
eben ſo, hoffe ich, wird ſich in ihm auch die
Empfindung eines reinen Verhaͤltniſſes zu
mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte
Perſon erblicken, die nur dadurch ein unge¬
heures Uebel fuͤr ſich und andre vielleicht auf¬
zuwiegen vermag, wenn ſie ſich dem Heiligen
widmet, das uns unſichtbar umgebend allein
[282] gegen die ungeheuren zudringenden Maͤchte be¬
ſchirmen kann.


Charlotte nahm alles was das liebe Kind
ſo herzlich geaͤußert, zur ſtillen Ueberlegung.
Sie hatte verſchiedentlich, obgleich auf das
leiſeſte, angeforſcht, ob nicht eine Annaͤherung
Ottiliens zu Eduard denkbar ſey; aber auch
nur die leiſeſte Erwaͤhnung, die mindeſte
Hoffnung, der kleinſte Verdacht ſchien Otti¬
lien aufs tiefſte zu ruͤhren; ja ſie ſprach ſich
einſt, da ſie es nicht umgehen konnte, hier¬
uͤber ganz deutlich aus.


Wenn dein Entſchluß, entgegnete ihr
Charlotte, Eduarden zu entſagen, ſo feſt und
unveraͤnderlich iſt, ſo huͤthe dich nur vor der
Gefahr des Wiederſehens. In der Entfernung
von dem geliebten Gegenſtande ſcheinen wir,
je lebhafter unſere Neigung iſt, deſto mehr
Herr von uns ſelbſt zu werden, indem wir
die ganze Gewalt der Leidenſchaft, wie ſie ſich
[283] nach außen erſtreckte, nach innen wenden; aber
wie bald, wie geſchwind ſind wir aus dieſem
Irrthum geriſſen, wenn dasjenige was wir
entbehren zu koͤnnen glaubten, auf einmal
wieder als unentbehrlich vor unſern Augen
ſteht. Thue jetzt was du deinen Zuſtaͤnden
am gemaͤßeſten haͤltſt; pruͤfe dich, ja veraͤndre
lieber deinen gegenwaͤrtigen Entſchluß: aber
aus dir ſelbſt, aus freyem, wollenden Her¬
zen. Laß dich nicht zufaͤllig, nicht durch Ueber¬
raſchung, in die vorigen Verhaͤltniſſe wieder
hineinziehen: dann giebt es erſt einen Zwie¬
ſpalt im Gemuͤth der unertraͤglich iſt. Wie
geſagt, ehe du dieſen Schritt thuſt, ehe du
dich von mir entfernſt und ein neues Leben
anfaͤngſt, das dich wer weiß auf welche Wege
leitet; ſo bedenke noch einmal, ob du denn
wirklich fuͤr alle Zukunft Eduarden entſagen
kannſt. Haſt du dich aber hierzu beſtimmt;
ſo ſchließen wir einen Bund, daß du dich
mit ihm nicht einlaſſen willſt, ſelbſt nicht in
eine Unterredung, wenn er dich aufſuchen,
[284] wenn er ſich zu dir draͤngen ſollte. Ottilie
beſann ſich nicht einen Augenblick, ſie gab
Charlotten das Wort, das ſie ſich ſchon ſelbſt
gegeben hatte.


Nun aber ſchwebte Charlotten immer noch
jene Drohung Eduards vor der Seele, daß
er Ottilien nur ſo lange entſagen koͤnne, als
ſie ſich von Charlotten nicht trennte. Es
hatten ſich zwar ſeit der Zeit die Umſtaͤnde
ſo veraͤndert, es war ſo mancherley vorge¬
fallen, daß jenes vom Augenblick ihm abge¬
drungene Wort gegen die folgenden Ereigniſſe
fuͤr aufgehoben zu achten war; dennoch wollte
ſie auch im entfernteſten Sinne weder etwas
wagen, noch etwas vornehmen das ihn verletzen
koͤnnte, und ſo ſollte Mittler in dieſem Falle
Eduards Geſinnungen erforſchen.


Mittler hatte ſeit dem Tode des Kindes
Charlotten oͤfters, obgleich nur auf Augen¬
blicke, beſucht. Dieſer Unfall, der ihm die
[285] Wiedervereinigung beyder Gatten hoͤchſt un¬
wahrſcheinlich machte, wirkte gewaltſam auf
ihn; aber immer nach ſeiner Sinnesweiſe hof¬
fend und ſtrebend, freute er ſich nun im
Stillen uͤber den Entſchluß Ottiliens. Er
vertraute der lindernden voruͤberziehenden Zeit,
dachte noch immer die beyden Gatten zu¬
ſammenzuhalten und ſah dieſe leidenſchaft¬
lichen Bewegungen nur als Pruͤfungen ehe¬
licher Liebe und Treue an.


Charlotte hatte gleich anfangs den Major
von Ottiliens erſter Erklaͤrung ſchriftlich un¬
terrichtet, ihn auf das inſtaͤndigſte gebeten,
Eduarden dahin zu vermoͤgen, daß keine wei¬
teren Schritte geſchaͤhen, daß man ſich ruhig
verhalte, daß man abwarte, ob das Gemuͤth
des ſchoͤnen Kindes ſich wieder herſtelle. Auch
von den ſpaͤtern Ereigniſſen und Geſinnungen
hatte ſie das Noͤthige mitgetheilt, und nun
war freylich Mittlern die ſchwierige Aufgabe
uͤbertragen, auf eine Veraͤnderung des Zu¬
[286] ſtandes Eduarden vorzubereiten. Mittler aber,
wohlwiſſend, daß man das Geſchehene ſich
eher gefallen laͤßt, als daß man in ein noch
zu Geſchehendes einwilligt, uͤberredete Char¬
lotten: es ſey das beſte, Ottilien gleich nach
der Penſion zu ſchicken.


Deshalb wurden, ſobald er weg war, An¬
ſtalten zur Reiſe gemacht. Ottilie packte zu¬
ſammen, aber Charlotte ſah wohl, daß ſie
weder das ſchoͤne Koͤfferchen, noch irgend et¬
was daraus mitzunehmen ſich anſchickte. Die
Freundinn ſchwieg und ließ das ſchweigende
Kind gewaͤhren. Der Tag der Abreiſe kam
herbey; Charlottens Wagen ſollte Ottilien
den erſten Tag bis in ein bekanntes Nacht¬
quartier, den zweyten bis in die Penſion
bringen; Nanny ſollte ſie begleiten und ihre
Dienerinn bleiben. Das leidenſchaftliche Maͤd¬
chen hatte ſich gleich nach dem Tode des
Kindes wieder an Ottilien zuruͤckgefunden und
hing nun an ihr wie ſonſt durch Natur und
[287] Neigung; ja ſie ſchien, durch unterhaltende
Redſeligkeit, das bisher Verſaͤumte wieder
nachbringen und ſich ihrer geliebten Herrinn
voͤllig widmen zu wollen. Ganz außer ſich
war ſie nun uͤber das Gluͤck mitzureiſen,
fremde Gegenden zu ſehen, da ſie noch nie¬
mals außer ihrem Geburtsort geweſen, und
rannte vom Schloſſe ins Dorf, zu ihren Ael¬
tern, Verwandten, um ihr Gluͤck zu verkuͤndi¬
gen und Abſchied zu nehmen. Ungluͤcklicher¬
weiſe traf ſie dabey in die Zimmer der Ma¬
ſerkranken und empfand ſogleich die Folgen
der Anſteckung. Man wollte die Reiſe nicht
aufſchieben; Ottilie drang ſelbſt darauf: ſie
hatte den Weg ſchon gemacht, ſie kannte
die Wirthsleute bey denen ſie einkehren ſollte,
der Kutſcher vom Schloſſe fuͤhrte ſie; es war
nichts zu beſorgen.


Charlotte widerſetzte ſich nicht; auch ſie
eilte ſchon in Gedanken aus dieſen Umgebun¬
gen weg, nur wollte ſie noch die Zimmer die
[288] Ottilie im Schloß bewohnt hatte, wieder fuͤr
Eduarden einrichten, gerade ſo wie ſie vor der
Ankunft des Hauptmanns geweſen. Die Hoff¬
nung ein altes Gluͤck wiederherzuſtellen flammt
immer einmal wieder in dem Menſchen auf,
und Charlotte war zu ſolchen Hoffnungen
abermals berechtigt, ja genoͤthigt.

[[289]]

Sechzehntes Kapitel.

Als Mittler gekommen war, ſich mit
Eduarden uͤber die Sache zu unterhalten,
fand er ihn allein, den Kopf in die rechte
Hand gelehnt, den Arm auf den Tiſch ge¬
ſtemmt. Er ſchien ſehr zu leiden. Plagt
Ihr Kopfweh Sie wieder? fragte Mittler.
Es plagt mich, verſetzte jener; und doch kann
ich es nicht haſſen: denn es erinnert mich an
Ottilien. Vielleicht leidet auch ſie jetzt, denk'
ich, auf ihren linken Arm geſtuͤtzt, und leidet
wohl mehr als ich. Und warum ſoll ich es
nicht tragen, wie ſie? Dieſe Schmerzen
ſind mir heilſam, ſind mir, ich kann beynah
ſagen, wuͤnſchenswerth: denn nur maͤchtiger,
deutlicher, lebhafter ſchwebt mir das Bild
II. 19[290] ihrer Geduld, von allen ihren uͤbrigen Vor¬
zuͤgen begleitet, vor der Seele; nur im Lei¬
den empfinden wir recht vollkommen alle die
großen Eigenſchaften, die noͤthig ſind um es
zu ertragen.


Als Mittler den Freund in dieſem Grade
reſignirt fand, hielt er mit ſeinem Anbringen
nicht zuruͤck, das er jedoch ſtufenweiſe, wie
der Gedanke bey den Frauen entſprungen,
wie er nach und nach zum Vorſatz gereift
war, hiſtoriſch vortrug. Eduard aͤußerte ſich
kaum dagegen. Aus dem wenigen was er
ſagte, ſchien hervorzugehen, daß er jenen al¬
les uͤberlaſſe; ſein gegenwaͤrtiger Schmerz ſchien
ihn gegen alles gleichguͤltig gemacht zu haben.


Kaum aber war er allein, ſo ſtand er auf
und ging in dem Zimmer hin und wieder.
Er fuͤhlte ſeinen Schmerz nicht mehr, er war
ganz außer ſich beſchaͤftigt. Schon unter
Mittlers Erzaͤhlung hatte die Einbildungs¬
[291] kraft des Liebenden ſich lebhaft ergangen. Er
ſah Ottilien, allein oder ſo gut als allein,
auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohn¬
ten Wirthshauſe, deſſen Zimmer er ſo oft be¬
treten; er dachte, er uͤberlegte, oder vielmehr,
er dachte, er uͤberlegte nicht; er wuͤnſchte,
er wollte nur. Er mußte ſie ſehn, ſie
ſprechen. Wozu, warum, was daraus ent¬
ſtehen ſollte? davon konnte die Rede nicht
ſeyn. Er widerſtand nicht, er mußte.


Der Kammerdiener ward ins Vertrauen
gezogen, und erforſchte ſogleich Tag und
Stunde, wann Ottilie reiſen wuͤrde. Der
Morgen brach an; Eduard ſaͤumte nicht, un¬
begleitet ſich zu Pferde dahin zu begeben,
wo Ottilie uͤbernachten ſollte. Er kam nur
allzuzeitig dort an: die uͤberraſchte Wirthinn
empfing ihn mit Freuden: ſie war ihm
ein großes Familiengluͤck ſchuldig geworden.
Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat ſich
ſehr brav gehalten, ein Ehrenzeichen verſchafft.
19 *[292] indem er deſſen That, wobey er allein gegen¬
waͤrtig geweſen, heraushob, mit Eifer bis
vor den Feldherrn brachte und die Hinderniſſe
einiger Mißwollenden uͤberwand. Sie wußte
nicht, was ſie ihm alles zu Liebe thun ſollte.
Sie raͤumte ſchnell in ihrer Putzſtube, die
freylich auch zugleich Garderobe und Vorraths¬
kammer war, moͤglichſt zuſammen; allein er
kuͤndigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers
an, die hier hereinziehen ſollte, und ließ fuͤr
ſich eine Kammer hinten auf dem Gange
nothduͤrftig einrichten. Der Wirthinn erſchien
die Sache geheimnißvoll, und es war ihr
angenehm, ihren Goͤnner, der ſich dabey ſehr
intereſſirt und thaͤtig zeigte, etwas gefaͤlliges
zu erweiſen. Und er, mit welcher Empfin¬
dung brachte er die lange lange Zeit bis zum
Abend hin! Er betrachtete das Zimmer rings
umher, in dem er ſie ſehen ſollte; es ſchien
ihm in ſeiner ganzen haͤuslichen Seltſamkeit
ein himmliſcher Aufenthalt. Was dachte er
ſich nicht alles aus, ob er Ottilien uͤberraſchen,
[293] ob er ſie vorbereiten ſollte! Endlich gewann
die letztere Meynung Oberhand; er ſetzte ſich
hin und ſchrieb. Dieß Blatt ſollte ſie
empfangen.


Eduard an Ottilien.

Indem du dieſen Brief lieſeſt, Geliebteſte,
bin ich in deiner Naͤhe. Du mußt nicht er¬
ſchrecken, dich nicht entſetzen; du haſt von
mir nichts zu befuͤrchten. Ich werde mich
nicht zu dir draͤngen. Du ſiehſt mich nicht
eher als du es erlaubſt.


Bedenke vorher deine Lage, die meinige.
Wie ſehr danke ich dir, daß du keinen ent¬
ſcheidenden Schritt zu thun vorhaſt; aber be¬
deutend genug iſt er: thu ihn nicht! Hier,
auf einer Art von Scheideweg, uͤberlege noch¬
mals: kannſt du mein ſeyn, willſt du mein
[294] ſeyn? O du erzeigſt uns allen eine große
Wohlthat und mir eine uͤberſchwaͤngliche.


Laß mich dich wiederſehen, dich mit
Freuden wiederſehen. Laß mich die ſchoͤne
Frage muͤndlich thun, und beantworte ſie mir
mit deinem ſchoͤnen Selbſt. An meine Bruſt,
Ottilie! hieher, wo du manchmal geruht
haſt und wo du immer hingehoͤrſt! —


Indem er ſchrieb, ergriff ihn das Gefuͤhl,
ſein Hoͤchſterſehntes nahe ſich, es werde nun
gleich gegenwaͤrtig ſeyn. Zu dieſer Thuͤre
wird ſie hereintreten, dieſen Brief wird ſie
leſen, wirklich wird ſie wie ſonſt vor mir da¬
ſtehen, deren Erſcheinung ich mir ſo oft her¬
beyſehnte. Wird ſie noch dieſelbe ſeyn? Hat
ſich ihre Geſtalt, haben ſich ihre Geſinnungen
veraͤndert? Er hielt die Feder noch in der
Hand, er wollte ſchreiben wie er dachte; aber
der Wagen rollte in den Hof. Mit fluͤchti¬
[295] ger Feder ſetzte er noch hinzu: Ich hoͤre dich
kommen. Auf einen Augenblick leb wohl!


Er faltete den Brief, uͤberſchrieb ihn; zum
Siegeln war es zu ſpaͤt. Er ſprang in die
Kammer, durch die er nachher auf den Gang
zu gelangen wußte, und Augenblicks fiel ihm
ein, daß er die Uhr mit dem Petſchaft noch
auf dem Tiſch gelaſſen. Sie ſollte dieſe nicht
zuerſt ſehen; er ſprang zuruͤck und hohlte ſie
gluͤcklich weg. Vom Vorſaal her vernahm er
ſchon die Wirthinn, die auf das Zimmer los¬
ging, um es dem Gaſt anzuweiſen. Er eilte
gegen die Kammerthuͤr, aber ſie war zugefah¬
ren. Den Schluͤſſel hatte er beym Hinein¬
ſpringen herunter geworfen, der lag inwendig;
das Schloß war zugeſchnappt und er ſtund
gebannt. Heftig draͤngte er an der Thuͤre;
ſie gab nicht nach. O wie haͤtte er gewuͤnſcht
als ein Geiſt durch die Spalten zu ſchluͤpfen!
Vergebens! Er verbarg ſein Geſicht an den
Thuͤrpfoſten. Ottilie trat herein, die Wir¬
[296] thinn, als ſie ihn erblickte, zuruͤck. Auch
Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬
borgen bleiben. Er wendete ſich gegen ſie,
und ſo ſtanden die Liebenden abermals auf
die ſeltſamſte Weiſe gegen einander. Sie ſah
ihn ruhig und ernſthaft an, ohne vor oder
zuruͤckzugehen, und als er eine Bewegung
machte, ſich ihr zu naͤhern, trat ſie einige
Schritte zuruͤck bis an den Tiſch. Auch er
trat wieder zuruͤck. Ottilie, rief er aus, laß
mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind
wir nur Schatten, die einander gegenuͤber
ſtehen? Aber vor allen Dingen hoͤre! es iſt
Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findeſt.
Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬
ten ſollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und
dann beſchließe was du kannſt.


Sie blickte herab auf den Brief und nach
einigem Beſinnen nahm ſie ihn auf, erbrach
und las ihn. Ohne die Miene zu veraͤndern,
hatte ſie ihn geleſen und ſo legte ſie ihn leiſe
[297] weg; dann druͤckte ſie die flachen, in die Hoͤhe
gehobenen Haͤnde zuſammen, fuͤhrte ſie gegen
die Bruſt, indem ſie ſich nur wenig vorwaͤrts
neigte, und ſah den dringend Fordernden mit
einem ſolchen Blick an, daß er von allem
abzuſtehen genoͤthigt war, was er verlangen
oder wuͤnſchen mochte. Dieſe Bewegung
zerriß ihm das Herz. Er konnte den Anblick,
er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.
Es ſah voͤllig aus, als wuͤrde ſie in die Kniee
ſinken, wenn er beharrte. Er eilte verzweif¬
lend zur Thuͤr hinaus und ſchickte die Wir¬
thinn zu der Einſamen.


Er ging auf dem Vorſaal auf und ab.
Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb
es ſtille. Endlich trat die Wirthinn heraus,
und zog den Schluͤſſel ab. Die gute Frau
war geruͤhrt, war verlegen, ſie wußte nicht
was ſie thun ſollte. Zuletzt im Weggehen
bot ſie den Schluͤſſel Eduarden an, der ihn
[298] ablehnte. Sie ließ das Licht ſtehen und ent¬
fernte ſich.


Eduard im tiefſten Kummer warf ſich auf
Ottiliens Schwelle, die er mit ſeinen Thraͤnen
benetzte. Jammervoller brachten kaum jemals
in ſolcher Naͤhe Liebende eine Nacht zu.


Der Tag brach an; der Kutſcher trieb,
die Wirthinn ſchloß auf und trat in das Zim¬
mer. Sie fand Ottilien angekleidet eingeſchla¬
fen, ſie ging zuruͤck und winkte Eduarden
mit einem theilnehmenden Laͤcheln. Beyde
traten vor die Schlafende; aber auch dieſen
Anblick vermochte Eduard nicht auszuhalten.
Die Wirthinn wagte nicht das ruhende Kind
zu wecken, ſie ſetzte ſich gegenuͤber. Endlich
ſchlug Ottilie die ſchoͤnen Augen auf und rich¬
tete ſich auf ihre Fuͤße. Sie lehnt das
Fruͤhſtuͤck ab, und nun tritt Eduard vor ſie.
Er bittet ſie inſtaͤndig, nur ein Wort zu re¬
den, ihren Willen zu erklaͤren: er wolle allen
[299] ihren Willen, ſchwoͤrt er; aber ſie ſchweigt.
Nochmals fragt er ſie liebevoll und dringend,
ob ſie ihm angehoͤren wolle? Wie lieblich be¬
wegt ſie, mit niedergeſchlagnen Augen, ihr
Haupt zu einem ſanften Nein. Er fragt, ob
ſie nach der Penſion wolle? Gleichguͤltig
verneint ſie das. Aber als er fragt, ob er
ſie zu Charlotten zuruͤckfuͤhren duͤrfe? bejaht
ſie's mit einem getroſten Neigen des Hauptes.
Er eilt ans Fenſter dem Kutſcher Befehle zu
geben; aber hinter ihm weg, iſt ſie wie der
Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab
in dem Wagen. Der Kutſcher nimmt den
Weg nach dem Schloſſe zuruͤck; Eduard folgt
zu Pferde in einiger Entfernung.

[[300]]

Siebzehntes Kapitel.

Wie hoͤchſt uͤberraſcht war Charlotte als
ſie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pfer¬
de ſogleich in den Schloßhof hereinſprengen
ſah. Sie eilte bis zur Thuͤrſchwelle: Ottilie
ſteigt aus und naͤhert ſich mit Eduarden.
Mit Eifer und Gewalt faßt ſie die Haͤnde
beyder Ehegatten, druͤckt ſie zuſammen und eilt
auf ihr Zimmer. Eduard wirft ſich Charlotten
um den Hals und zerfließt in Thraͤnen; er
kann ſich nicht erklaͤren, bittet Geduld mit
ihm zu haben, Ottilien beyzuſtehen, ihr
zu helfen. Charlotte eilt auf Ottiliens Zim¬
mer und ihr ſchaudert da ſie hineintritt: es
war ſchon ganz ausgeraͤumt, nur die leeren
[301] Waͤnde ſtanden da. Es erſchien ſo weitlauftig
als unerfreulich. Man hatte alles weggetra¬
gen, nur das Koͤfferchen, unſchluͤſſig wo man
es hinſtellen ſollte, in der Mitte des Zimmers
ſtehen gelaſſen. Ottilie lag auf dem Boden,
Arm und Haupt uͤber den Koffer geſtreckt,
Charlotte bemuͤht ſich um ſie, fragt was vor¬
gegangen, und erhaͤlt keine Antwort.


Sie laͤßt ihr Maͤdchen, das mit Erquickun¬
gen kommt, bey Ottilien und eilt zu Eduar¬
den. Sie findet ihn im Saal; auch er be¬
lehrt ſie nicht. Er wirft ſich vor ihr nieder,
er badet ihre Haͤnde in Thraͤnen, er flieht
auf ſein Zimmer, und als ſie ihm nachfolgen
will, begegnet ihr der Kammerdiener, der ſie
aufklaͤrt ſoweit er vermag. Das Uebrige denkt
ſie ſich zuſammen, und dann ſogleich mit
Entſchloſſenheit an das was der Augenblick
fordert. Ottiliens Zimmer iſt aufs baldigſte
wieder eingerichtet. Eduard hat die ſeinigen
[302] angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie
er ſie verlaſſen.


Die Dreye ſcheinen ſich wieder gegenein¬
ander zu finden; aber Ottilie faͤhrt fort zu
ſchweigen, und Eduard vermag nichts als
ſeine Gattinn um Geduld zu bitten, die ihm
ſelbſt zu fehlen ſcheint. Charlotte ſendet Bo¬
ten an Mittlern und an den Major. Jener
war nicht anzutreffen; dieſer kommt. Gegen
ihn ſchuͤttet Eduard ſein Herz aus, ihm geſteht
er jeden kleinſten Umſtand, und ſo erfaͤhrt
Charlotte was begegnet, was die Lage ſo
ſonderbar veraͤndert, was die Gemuͤther auf¬
geregt.


Sie ſpricht aufs liebevollſte mit ihrem Ge¬
mahl. Sie weiß keine andere Bitte zu thun
als nur, daß man das Kind gegenwaͤrtig nicht
beſtuͤrmen moͤge. Eduard fuͤhlt den Werth,
die Liebe, die Vernunft ſeiner Gattinn;
aber ſeine Neigung beherrſcht ihn ausſchlie߬
[303] lich. Charlotte macht ihm Hoffnung, verſpricht
ihm in die Scheidung zu willigen. Er traut
nicht; er iſt ſo krank, daß ihn Hoffnung und
Glaube abwechſelnd verlaſſen; er dringt in
Charlotten, ſie ſoll dem Major ihre Hand
zuſagen; eine Art von wahnſinnigem Unmuth
hat ihn ergriffen. Charlotte, ihn zu beſaͤnfti¬
gen, ihn zu erhalten, thut was er fordert.
Sie ſagt dem Major ihre Hand zu, auf den
Fall, daß Ottilie ſich mit Eduarden verbinden
wolle, jedoch unter ausdruͤcklicher Bedingung,
daß die beyden Maͤnner fuͤr den Augenblick
zuſammen eine Reiſe machen. Der Major
hat fuͤr ſeinen Hof ein auswaͤrtiges Geſchaͤft,
und Eduard verſpricht ihn zu begleiten. Man
macht Anſtalten und man beruhigt ſich einiger¬
maßen, indem wenigſtens etwas geſchieht.


Unterdeſſen kann man bemerken, daß Ot¬
tilie kaum Speiſe noch Trank zu ſich nimmt,
indem ſie immerfort bey ihrem Schweigen
verharrt. Man redet ihr zu, ſie wird aͤngſt¬
[304] lich; man unterlaͤßt es. Denn haben wir
nicht meiſtentheils die Schwaͤche, daß wir
Jemanden auch zu ſeinem Beſten nicht gern
quaͤlen moͤgen. Charlotte ſann alle Mittel
durch, endlich gerieth ſie auf den Gedanken,
jenen Gehuͤlfen aus der Penſion kommen zu
laſſen, der uͤber Ottilien viel vermochte, der
wegen ihres unvermutheten Außenbleibens ſich
ſehr freundlich geaͤußert, aber keine Antwort
erhalten hatte.


Man ſpricht, um Ottilien nicht zu uͤber¬
raſchen, von dieſem Vorſatz in ihrer Gegen¬
wart. Sie ſcheint nicht einzuſtimmen; ſie
bedenkt ſich; endlich ſcheint ein Entſchluß in
ihr zu reifen, ſie eilt nach ihrem Zimmer
und ſendet noch vor Abend an die Verſam¬
melten folgendes Schreiben.


[305]

Ottilie den Freunden.

Warum ſoll ich ausdruͤcklich ſagen, meine
Geliebten, was ſich von ſelbſt verſteht. Ich
bin aus meiner Bahn geſchritten und ich ſoll
nicht wieder hinein. Ein feindſeliger Daͤmon,
der Macht uͤber mich gewonnen, ſcheint mich
von außen zu hindern, haͤtte ich mich auch
mit mir ſelbſt wieder zur Einigkeit gefunden.


Ganz rein war mein Vorſatz, Eduarden
zu entſagen, mich von ihm zu entfernen. Ihm
hofft' ich nicht wieder zu begegnen. Es iſt
anders geworden; er ſtand ſelbſt gegen ſeinen
eigenen Willen vor mir. Mein Verſprechen
mich mit ihm in keine Unterredung einzulaſ¬
ſen, habe ich vielleicht zu buchſtaͤblich genom¬
men und gedeutet. Nach Gefuͤhl und Ge¬
wiſſen des Augenblicks ſchwieg ich, verſtummt'
II. 20[306] ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts
mehr zu ſagen. Ein ſtrenges Ordensgeluͤbde,
welches den der es mit Ueberlegung eingeht,
vielleicht unbequem aͤngſtiget, habe ich zufaͤl¬
lig, vom Gefuͤhl gedrungen, uͤber mich ge¬
nommen. Laßt mich darin beharren, ſo lange
mir das Herz gebietet. Beruft keine Mit¬
telsperſon! Dringt nicht in mich, daß ich re¬
den, daß ich mehr Speiſe und Trank ge¬
nießen ſoll, als ich hoͤchſtens bedarf. Helft
mir durch Nachſicht und Geduld uͤber dieſe
Zeit hinweg. Ich bin jung, die Jugend ſtellt
ſich unverſehens wieder her. Duldet mich in
eurer Gegenwart, erfreut mich durch eure
Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung;
aber mein Innres uͤberlaßt mir ſelbſt.


Die laͤngſt vorbereitete Abreiſe der Maͤn¬
ner unterblieb, weil jenes auswaͤrtige Geſchaͤft
des Majors ſich verzoͤgerte: wie erwuͤnſcht fuͤr
Eduard! Nun durch Ottiliens Blatt aufs
[307] neue angeregt, durch ihre troſtvollen hoffnung¬
gebenden Worte wieder ermuthigt und zu
ſtandhaftem Ausharren berechtigt, erklaͤrte er
auf einmal: er werde ſich nicht entfernen.
Wie thoͤricht! rief er aus, das Unentbehr¬
lichſte, Nothwendigſte vorſaͤtzlich, voreilig weg¬
zuwerfen, das, wenn uns auch der Verluſt
bedroht, vielleicht noch zu erhalten waͤre. Und
was ſoll es heißen? Doch nur, daß der Menſch
ja ſcheine wollen, waͤhlen zu koͤnnen. So
habe ich oft, beherrſcht von ſolchem albernen
Duͤnkel, Stunden ja Tage zu fruͤh, mich von
Freunden losgeriſſen, um nur nicht von dem
letzten unausweichlichen Termin entſchieden ge¬
zwungen zu werden. Dießmal aber will ich
bleiben. Warum ſoll ich mich entfernen? Iſt
ſie nicht ſchon von mir entfernt? Es faͤllt mir
nicht ein, ihre Hand zu faſſen, ſie an mein
Herz zu druͤcken; ſogar darf ich es nicht den¬
ken, es ſchaudert mir. Sie hat ſich nicht
von mir weg, ſie hat ſich uͤber mich wegge¬
hoben.


20 *[308]

Und ſo blieb er, wie er wollte, wie er
mußte. Aber auch dem Behagen glich nichts,
wenn er ſich mit ihr zuſammenfand. Und ſo
war auch ihr dieſelbe Empfindung geblieben;
auch ſie konnte ſich dieſer ſeligen Nothwen¬
digkeit nicht entziehen. Nach wie vor uͤbten
ſie eine unbeſchreibliche, faſt magiſche Anzie¬
hungskraft gegen einander aus. Sie wohn¬
ten unter Einem Dache; aber ſelbſt ohne ge¬
rade an einander zu denken, mit andern Din¬
gen beſchaͤftigt, von der Geſellſchaft hin und
her gezogen, naͤherten ſie ſich einander. Fan¬
den ſie ſich in Einem Saale, ſo dauerte es
nicht lange und ſie ſtanden, ſie ſaßen neben
einander. Nur die naͤchſte Naͤhe konnte ſie
beruhigen, aber auch voͤllig beruhigen, und
dieſe Naͤhe war genug; nicht eines Blickes,
nicht eines Wortes, keiner Gebaͤrde, keiner
Beruͤhrung bedurfte es, nur des reinen Zu¬
ſammenſeyns. Dann waren es nicht zwey
Menſchen, es war nur Ein Menſch im be¬
wußtloſen vollkommnen Behagen, mit ſich
[309] ſelbſt zufrieden und mit der Welt. Ja, haͤt¬
te man eins von beyden am letzten Ende der
Wohnung feſtgehalten, das andere haͤtte ſich
nach und nach von ſelbſt, ohne Vorſatz, zu
ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein
Raͤthſel, deſſen Aufloͤſung ſie nur mit einan¬
der fanden.


Ottilie war durchaus heiter und gelaſſen,
ſo daß man ſich uͤber ſie voͤllig beruhigen
konnte. Sie entfernte ſich wenig aus der Ge¬
ſellſchaft, nur hatte ſie es erlangt, allein zu
ſpeiſen. Niemand als Nanny bediente ſie.


Was einem jeden Menſchen gewoͤhnlich
begegnet, wiederhohlt ſich mehr als man glaubt,
weil ſeine Natur hiezu die naͤchſte Beſtim¬
mung giebt. Character, Individualitaͤt, Nei¬
gung, Richtung, Oertlichkeit, Umgebungen
und Gewohnheiten bilden zuſammen ein Gan¬
zes, in welchem jeder Menſch, wie in einem
Elemente, in einer Atmosphaͤre, ſchwimmt,
[310] worin es ihm allein bequem und behaglich
iſt. Und ſo finden wir die Menſchen, uͤber
deren Veraͤnderlichkeit ſo viele Klage gefuͤhrt
wird, nach vielen Jahren zu unſerm Erſtau¬
nen unveraͤndert, und nach aͤußern und in¬
nern unendlichen Anregungen unveraͤnderlich.


So bewegte ſich auch in dem taͤglichen
Zuſammenleben unſerer Freunde faſt alles wie¬
der in dem alten Gleiſe. Noch immer aͤußer¬
te Ottilie ſtillſchweigend durch manche Gefaͤl¬
ligkeit ihr zuvorkommendes Weſen; und ſo
jedes nach ſeiner Art. Auf dieſe Weiſe zeig¬
te ſich der haͤusliche Zirkel als ein Scheinbild
des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob
noch alles beym alten ſey, war verzeihlich.


Die herbſtlichen Tage, an Laͤnge jenen
Fruͤhlingstagen gleich, riefen die Geſellſchaft
um eben die Stunde aus dem Freyen ins
Haus zuruͤck. Der Schmuck an Fruͤchten und
Blumen, der dieſer Zeit eigen iſt, ließ glau¬
[311] ben als wenn es der Herbſt jenes erſten Fruͤh¬
lings waͤre; die Zwiſchenzeit war ins Ver¬
geſſen gefallen. Denn nun bluͤhten die Blu¬
men, dergleichen man in jenen erſten Tagen
auch geſaͤt hatte; nun reiften Fruͤchte an den
Baͤumen, die man damals bluͤhen geſehen.


Der Major ging ab und zu; auch Mitt¬
ler ließ ſich oͤfter ſehen. Die Abendſitzungen
waren meiſtens regelmaͤßig. Eduard las ge¬
woͤhnlich; lebhafter, gefuͤhlvoller, beſſer, ja
ſogar heiterer, wenn man will, als jemals.
Es war als wenn er, ſo gut durch Froͤhlich¬
keit als durch Gefuͤhl, Ottiliens Erſtarren
wieder beleben, ihr Schweigen wieder aufloͤ¬
ſen wollte. Er ſetzte ſich wie vormals, daß
ſie ihm ins Buch ſehen konnte, ja er ward
unruhig, zerſtreut, wenn ſie nicht hineinſah,
wenn er nicht gewiß war, daß ſie ſeinen Wor¬
ten mit ihren Augen folgte.


Jedes unerfreuliche unbequeme Gefuͤhl der
mittleren Zeit war ausgeloͤſcht. Keines trug
[312] mehr dem andern etwas nach; jede Art von
Bitterkeit war verſchwunden. Der Major be¬
gleitete mit der Violine das Clavierſpiel Char¬
lottens, ſo wie Eduards Floͤte mit Ottiliens
Behandlung des Saiteninſtruments wieder wie
vormals zuſammentraf. So ruͤckte man dem
Geburtstage Eduards naͤher, deſſen Feyer man
vor einem Jahre nicht erreicht hatte. Er
ſollte ohne Feſtlichkeit in ſtillem freundlichen
Behagen dießmal gefeyert werden. So war
man, halb ſtillſchweigend halb ausdruͤcklich,
mit einander uͤbereingekommen. Doch je naͤher
dieſe Epoche heranruͤckte, vermehrte ſich das
Feyerliche in Ottiliens Weſen, das man bis¬
her mehr empfunden als bemerkt hatte. Sie
ſchien im Garten oft die Blumen zu muſtern;
ſie hatte dem Gaͤrtner angedeutet, die Som¬
mergewaͤchſe aller Art zu ſchonen, und ſich
beſonders bey den Aſtern aufgehalten, die ge¬
rade dieſes Jahr in unmaͤßiger Menge bluͤhten.

[[313]]

Achtzehntes Kapitel.

Das Bedeutendſte jedoch was die Freunde
mit ſtiller Aufmerkſamkeit beobachteten, war,
daß Ottilie den Coffer zum erſtenmal ausge¬
packt und daraus verſchiedenes gewaͤhlt und
abgeſchnitten hatte, was zu einem einzigen
aber ganzen und vollen Anzug hinreichte. Als
ſie das Uebrige mit Beyhuͤlfe Nannys wieder
einpacken wollte, konnte ſie kaum damit zu
Stande kommen; der Raum war uͤbervoll,
obgleich ſchon ein Theil herausgenommen
war. Das junge habgierige Maͤdchen konnte
ſich nicht ſatt ſehen, beſonders da ſie auch
fuͤr alle kleineren Stuͤcke des Anzugs geſorgt
fand. Schuhe, Struͤmpfe, Strumpfbaͤnder
mit Deviſen, Handſchuhe und ſo manches
[314] andere war noch uͤbrig. Sie bat Ottilien,
ihr nur etwas davon zu ſchenken. Dieſe ver¬
weigerte es; zog aber ſogleich die Schublade
einer Commode heraus und ließ das Kind
waͤhlen, das haſtig und ungeſchickt zugriff
und mit der Beute gleich davon lief, um den
uͤbrigen Hausgenoſſen ihr Gluͤck zu verkuͤnden
und vorzuzeigen.


Zuletzt gelang es Ottilien alles ſorgfaͤltig
wieder einzuſchichten; ſie oͤffnete hierauf ein
verborgenes Fach das im Deckel angebracht
war. Dort hatte ſie kleine Zettelchen und
Briefe Eduards, mancherley aufgetrocknete
Blumenerinnerungen fruͤherer Spazirgaͤnge,
eine Locke ihres Geliebten, und was ſonſt
noch verborgen. Noch eins fuͤgte ſie hinzu —
es war das Portraͤt ihres Vaters — und
verſchloß das Ganze, worauf ſie den zarten
Schluͤſſel an dem goldnen Kettchen wieder um
den Hals an ihre Bruſt hing.


[315]

Mancherley Hoffnungen waren indeß in
dem Herzen der Freunde rege geworden. Char¬
lotte war uͤberzeugt, Ottilie werde auf jenen
Tag wieder zu ſprechen anfangen: denn ſie
hatte bisher eine heimliche Geſchaͤftigkeit be¬
wieſen, eine Art von heiterer Selbſtzufrieden¬
heit, ein Laͤcheln wie es demjenigen auf dem
Geſichte ſchwebt, der Geliebten etwas Gutes
und Erfreuliches verbirgt. Niemand wußte,
daß Ottilie gar manche Stunde in großer
Schwachheit hinbrachte, aus der ſie ſich nur
fuͤr die Zeiten, wo ſie erſchien, durch Geiſtes¬
kraft emporhielt.


Mittler hatte ſich dieſe Zeit oͤfter ſehen
laſſen und war laͤnger geblieben als ſonſt ge¬
woͤhnlich. Der hartnaͤckige Mann wußte nur
zu wohl, daß es einen gewiſſen Moment giebt
wo allein das Eiſen zu ſchmieden iſt. Otti¬
liens Schweigen ſo wie ihre Weigerung legte
er zu ſeinen Gunſten aus. Es war bisher
kein Schritt zu Scheidung der Gatten ge¬
[316] ſchehen; er hoffte das Schickſal des guten
Maͤdchens auf irgend eine andere guͤnſtige
Weiſe zu beſtimmen; er horchte, er gab nach,
er gab zu verſtehen und fuͤhrte ſich nach ſei¬
ner Weiſe klug genug auf.


Allein uͤberwaͤltigt war er ſtets ſobald er
Anlaß fand, ſein Raͤſonnement uͤber Mate¬
rien zu aͤußern, denen er eine große Wichtig¬
keit beylegte. Er lebte viel in ſich, und wenn
er mit andern war, ſo verhielt er ſich ge¬
woͤhnlich nur handelnd gegen ſie. Brach nun
einmal unter Freunden ſeine Rede los, wie
wir ſchon oͤfter geſehen haben; ſo rollte ſie
ohne Ruͤckſicht fort, verletzte oder heilte, nutzte
oder ſchadete, wie es ſich gerade fuͤgen mochte.


Den Abend vor Eduards Geburtstage
ſaßen Charlotte und der Major, Eduarden
der ausgeritten war, erwartend beyſammen;
Mittler ging im Zimmer auf und ab; Ottilie
war auf dem ihrigen geblieben, den morgen¬
[317] den Schmuck auseinander legend und ihrem
Maͤdchen manches andeutend, welche ſie voll¬
kommen verſtand und die ſtummen Anord¬
nungen geſchickt befolgte.


Mittler war gerade auf eine ſeiner Lieb¬
lingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu
behaupten, daß ſowohl bey der Erziehung der
Kinder als bey der Leitung der Voͤlker, nichts
ungeſchickter und barbariſcher ſey als Verbote,
als verbietende Geſetze und Anordnungen.
Der Menſch iſt von Hauſe aus thaͤtig, ſagte
er, und wenn man ihm zu gebieten verſteht,
ſo faͤhrt er gleich dahinter her, handelt und
richtet aus. Ich fuͤr meine Perſon mag lie¬
ber in meinem Kreiſe Fehler und Gebrechen
ſo lange dulden, bis ich die entgegengeſetzte
Tugend gebieten kann, als daß ich den Feh¬
ler los wuͤrde und nichts Rechtes an ſeiner
Stelle ſaͤhe. Der Menſch thut recht gern
das Gute, das Zweckmaͤßige, wenn er nur
dazu kommen kann; er thut es, damit er was
[318] zu thun hat, und ſinnt daruͤber nicht weiter
nach, als uͤber alberne Streiche, die er aus
Muͤßiggang und langer Weile vornimmt.


Wie verdrießlich iſt mir's oft, mit anzu¬
hoͤren, wie man die Zehngebote in der Kin¬
derlehre wiederhohlen laͤßt. Das vierte iſt
noch ein ganz huͤbſches vernuͤnftiges gebieten¬
des Gebot: Du ſollſt Vater und Mutter ehren.
Wenn ſich das die Kinder recht in den Sinn
ſchreiben, ſo haben ſie den ganzen Tag daran
auszuuͤben. Nun aber das fuͤnfte, was ſoll
man dazu ſagen? Du ſollſt nicht toͤdten. Als
wenn irgend ein Menſch im mindeſten Luſt
haͤtte den andern todt zu ſchlagen! Man haßt
einen, man erzuͤrnt ſich, man uͤbereilt ſich
und in Gefolg von dem und manchem andern
kann es wohl kommen, daß man gelegentlich
einen todt ſchlaͤgt. Aber iſt es nicht eine bar¬
bariſche Anſtalt, den Kindern Mord und
Todtſchlag zu verbieten? Wenn es hieße:
ſorge fuͤr des Andern Leben, entferne was
[319] ihm ſchaͤdlich ſeyn kann, rette ihn mit deiner
eigenen Gefahr; wenn du ihn beſchaͤdigſt,
denke daß du dich ſelbſt beſchaͤdigſt: das ſind
Gebote wie ſie unter gebildeten vernuͤnftigen
Voͤlkern Statt haben, und die man bey der
Catechismuslehre nur kuͤmmerlich in dem
Wasiſtdas nachſchleppt.


Und nun gar das ſechſte, das finde ich
ganz abſcheulich! Was? die Neugierde vor¬
ahndender Kinder auf gefaͤhrliche Myſterien
reizen, ihre Einbildungskraft zu wunderlichen
Bildern und Vorſtellungen aufregen, die ge¬
rade das was man entfernen will, mit Ge¬
walt heranbringen! Weit beſſer waͤre es, daß
dergleichen von einem heimlichen Gericht will¬
kuͤhrlich beſtraft wuͤrde, als daß man vor
Kirch' und Gemeinde davon plappern laͤßt.


In dem Augenblick trat Ottilie herein —
Du ſollſt nicht ehebrechen, fuhr Mittler fort:
Wie grob, wie unanſtaͤndig! Klaͤnge es nicht
[320] ganz anders wenn es hieße: Du ſollſt Ehr¬
furcht haben vor der ehelichen Verbindung;
wo du Gatten ſiehſt die ſich lieben, ſollſt du
dich daruͤber freuen und Theil daran nehmen
wie an dem Gluͤck eines heitern Tages. Soll¬
te ſich irgend in ihrem Verhaͤltniß etwas truͤ¬
ben, ſo ſollſt du ſuchen es aufzuklaͤren; du
ſollſt ſuchen ſie zu beguͤtigen, ſie zu beſaͤnfti¬
gen, ihnen ihre wechſelſeitigen Vortheile deut¬
lich zu machen, und mit ſchoͤner Uneigen¬
nuͤtzigkeit das Wohl der andern foͤrdern, in¬
dem du ihnen fuͤhlbar machſt was fuͤr ein
Gluͤck aus jeder Pflicht und beſonders aus
dieſer entſpringt, welche Mann und Weib
unaufloͤslich verbindet.


Charlotte ſaß wie auf Kohlen, und der
Zuſtand war ihr um ſo aͤngſtlicher als ſie
uͤberzeugt war, daß Mittler nicht wußte was
und wo er's ſagte, und ehe ſie ihn noch un¬
terbrechen konnte, ſah ſie ſchon Ottilien, deren
[321] Geſtalt ſich verwandelt hatte, aus dem Zim¬
mer gehen.


Sie erlaſſen uns wohl das ſiebente Ge¬
bot, ſagte Charlotte mit erzwungenem Laͤcheln.
Alle die uͤbrigen, verſetzte Mittler, wenn ich
nur das rette, worauf die andern beruhen.


Mit entſetzlichem Schrey hereinſtuͤrzend
rief Nanny: Sie ſtirbt! Die Fraͤulein ſtirbt!
Kommen Sie! kommen Sie!


Als Ottilie nach ihrem Zimmer ſchwan¬
kend zuruͤckgekommen war, lag der morgende
Schmuck auf mehreren Stuͤhlen voͤllig aus¬
gebreitet, und das Maͤdchen, das betrachtend
und bewundernd daran hin und herging, rief
jubelnd aus: Sehen Sie nur, liebſte Fraͤu¬
lein, das iſt ein Brautſchmuck ganz Ihrer
werth!


Ottilie vernahm dieſe Worte und ſank auf
den Sopha. Nanny ſieht ihre Herrinn erblaſ¬
II. 21[322] ſen, erſtarren; ſie laͤuft zu Charlotten; man
kommt. Der aͤrztliche Hausfreund eilt her¬
bey; es ſcheint ihm nur eine Erſchoͤpfung.
Er laͤßt etwas Kraftbruͤhe bringen; Ottilie
weiſt ſie mit Abſcheu weg, ja ſie faͤllt faſt in
Zuckungen als man die Taſſe dem Munde
naͤhert. Er fragt mit Ernſt und Haſt, wie
es ihm der Umſtand eingab: was Ottilie heu¬
te genoſſen habe? Das Maͤdchen ſtockt; er
wiederhohlt ſeine Frage, das Maͤdchen be¬
kennt, Ottilie habe nichts genoſſen.


Nanny erſcheint ihm aͤngſtlicher als billig.
Er reißt ſie in ein Nebenzimmer, Charlotte
folgt, das Maͤdchen wirft ſich auf die Kniee,
ſie geſteht, daß Ottilie ſchon lange ſo gut wie
nichts genieße. Auf Andringen Ottiliens habe
ſie die Speiſen an ihrer Statt genoſſen; ver¬
ſchwiegen habe ſie es wegen bittender und
drohender Gebaͤrden ihrer Gebieterinn, und
auch, ſetzte ſie unſchuldig hinzu: weil es ihr
gar ſo gut geſchmeckt.


[323]

Der Major und Mittler kamen heran, ſie
fanden Charlotten thaͤtig in Geſellſchaft des
Arztes. Das bleiche himmliſche Kind ſaß,
ſich ſelbſt bewußt wie es ſchien, in der Ecke
des Sophas. Man bittet ſie ſich niederzule¬
gen; ſie verweigert's, winkt aber daß man
das Koͤfferchen herbeybringe. Sie ſetzt ihre
Fuͤße darauf und findet ſich in einer halb lie¬
genden bequemen Stellung. Sie ſcheint Ab¬
ſchied nehmen zu wollen, ihre Gebaͤrden
druͤcken den Umſtehenden die zarteſte Anhaͤng¬
lichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und
das herzlichſte Lebewohl.


Eduard der vom Pferde ſteigt, vernimmt
den Zuſtand, er ſtuͤrzt in das Zimmer, er
wirft ſich an ihre Seite nieder, faßt ihre
Hand und uͤberſchwemmt ſie mit ſtummen
Thraͤnen. So bleibt er lange. Endlich ruft
er aus: Soll ich deine Stimme nicht wieder¬
hoͤren? wirſt du nicht mit einem Wort fuͤr
mich ins Leben zuruͤckkehren? Gut, gut! ich
21 *[324] folge dir hinuͤber: da werden wir mit an¬
dern Sprachen reden!


Sie druͤckt ihm kraͤftig die Hand, ſie
blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach
einem tiefen Athemzug, nach einer himmli¬
ſchen, ſtummen Bewegung der Lippen: Ver¬
ſprich mir zu leben! ruft ſie aus, mit holder
zaͤrtlicher Anſtrengung, doch gleich ſinkt ſie
zuruͤck. Ich verſprech' es! rief er ihr ent¬
gegen, doch er rief es ihr nur nach; ſie war
ſchon abgeſchieden.


Nach einer thraͤnenvollen Nacht fiel die
Sorge, die geliebten Reſte zu beſtatten, Char¬
lotten anheim. Der Major und Mittler ſtan¬
den ihr bey. Eduards Zuſtand war zu be¬
jammern. Wie er ſich aus ſeiner Verzweif¬
lung nur hervorheben und einigermaßen be¬
ſinnen konnte, beſtand er darauf: Ottilie ſoll¬
te nicht aus dem Schloſſe gebracht, ſie ſollte
gewartet, gepflegt, als eine Lebende behandelt
[325] werden; denn ſie ſey nicht todt, ſie koͤnne
nicht todt ſeyn. Man that ihm ſeinen Wil¬
len, inſofern man wenigſtens das unterließ
was er verboten hatte. Er verlangte ſie nicht
zu ſehen.


Noch ein anderer Schreck ergriff, noch
eine andre Sorge beſchaͤftigte die Freunde.
Nanny von dem Arzt heftig geſcholten, durch
Drohungen zum Bekenntniß genoͤthigt, und
nach dem Bekenntniß mit Vorwuͤrfen uͤber¬
haͤuft, war entflohen. Nach langem Suchen
fand man ſie wieder; ſie ſchien außer ſich
zu ſeyn. Ihre Aeltern nahmen ſie zu ſich.
Die beſte Begegnung ſchien nicht anzuſchla¬
gen, man mußte ſie einſperren, weil ſie wie¬
der zu entfliehen drohte.


Stufenweiſe gelang es, Eduarden der hef¬
tigſten Verzweiflung zu entreißen, aber nur
zu ſeinem Ungluͤck: denn es ward ihm deut¬
lich, es ward ihm gewiß, daß er das Gluͤck
[326] ſeines Lebens fuͤr immer verloren habe. Man
wagte es ihm vorzuſtellen, daß Ottilie in jener
Capelle beygeſetzt, noch immer unter den Le¬
bendigen bleiben und einer freundlichen ſtillen
Wohnung nicht entbehren wuͤrde. Es fiel
ſchwer ſeine Einwilligung zu erhalten, und
nur unter der Bedingung, daß ſie im offenen
Sarge hinausgetragen, und in dem Gewoͤlbe
allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt
und eine immerbrennende Lampe geſtiftet wer¬
den ſollte, ließ er ſichs zuletzt gefallen und
ſchien ſich in alles ergeben zu haben.


Man kleidete den holden Koͤrper in jenen
Schmuck den ſie ſich ſelbſt vorbereitet hatte;
man ſetzte ihr einen Kranz von Aſterblumen
auf das Haupt, die wie traurige Geſtirne
ahndungsvoll glaͤnzten. Die Baare, die Kir¬
che, die Capelle zu ſchmuͤcken, wurden alle
Gaͤrten ihres Schmucks beraubt. Sie lagen
veroͤdet als wenn bereits der Winter alle
Freude aus den Beeten weggetilgt haͤtte.


[327]

Beym fruͤhſten Morgen wurde ſie im offnen
Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬
gehende Sonne roͤthete nochmals das himm¬
liſche Geſicht. Die Begleitenden draͤngten ſich
um die Traͤger, Niemand wollte vorausgehn,
Niemand folgen, Jedermann ſie umgeben,
Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬
wart genießen. Knaben, Maͤnner und Frauen,
keins blieb ungeruͤhrt. Untroͤſtlich waren die
Maͤdchen, die ihren Verluſt am unmittelbar¬
ſten empfanden.


Nanny fehlte. Man hatte ſie zuruͤckge¬
halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag
und die Stunde des Begraͤbniſſes verheim¬
licht. Man bewachte ſie bey ihren Aeltern
in einer Kammer, die nach dem Garten ging.
Als ſie aber die Glocken laͤuten hoͤrte, ward
ſie nur allzubald inne was vorging, und da
ihre Waͤchterinn, aus Neugierde den Zug zu
ſehen, ſie verließ, entkam ſie zum Fenſter
hinaus auf einen Gang und von da, weil ſie
[328] alle Thuͤren verſchloſſen fand, auf den Ober¬
boden.


Eben ſchwankte der Zug den reinlichen mit
Blaͤttern beſtreuten Weg durchs Dorf hin.
Nanny ſah ihre Gebieterinn deutlich unter
ſich, deutlicher, vollſtaͤndiger, ſchoͤner als alle
die dem Zuge folgten. Ueberirdiſch, wie auf
Wolken oder Wogen getragen, ſchien ſie ihrer
Dienerinn zu winken, und dieſe verworren
ſchwankend taumelnd ſtuͤrzte hinab.


Auseinander fuhr die Menge mit einem
entſetzlichen Schrey nach allen Seiten. Vom
Draͤngen und Getuͤmmel waren die Traͤger
genoͤthigt die Baare niederzuſetzen. Das Kind
lag ganz nahe daran; es ſchien an allen Glie¬
dern zerſchmettert. Man hob es auf; und
zufaͤllig oder aus beſonderer Fuͤgung lehnte
man es uͤber die Leiche, ja es ſchien ſelbſt
noch mit dem letzten Lebensreſt ſeine geliebte
Herrinn erreichen zu wollen. Kaum aber
[329] hatten ihre ſchlotternden Glieder Ottiliens Ge¬
wand, ihre kraftloſen Finger Ottiliens gefal¬
tete Haͤnde beruͤhrt, als das Maͤdchen auf¬
ſprang, Arme und Augen zuerſt gen Himmel
erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge
niederſtuͤrzte und andaͤchtig entzuͤckt zu der
Herrinn hinauf ſtaunte.


Endlich ſprang ſie wie begeiſtert auf und
rief mit heiliger Freude: Ja, ſie hat mir
vergeben! Was mir kein Menſch, was ich
mir ſelbſt nicht vergeben konnte, vergiebt mir
Gott durch ihren Blick, ihre Gebaͤrde, ihren
Mund. Nun ruht ſie wieder ſo ſtill und
ſanft; aber Ihr habt geſehen wie ſie ſich auf¬
richtete und mit entfalteten Haͤnden mich ſeg¬
nete, wie ſie mich freundlich anblickte! Ihr
habt es alle gehoͤrt, Ihr ſeyd Zeugen daß
ſie zu mir ſagte: Dir iſt vergeben! — Ich
bin nun keine Moͤrderinn mehr unter Euch;
ſie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬
[330] hen, und Niemand kann mir mehr etwas
anhaben.


Umhergedraͤngt ſtand die Menge; ſie wa¬
ren erſtaunt, ſie horchten und ſahen hin und
wieder, und kaum wußte Jemand was er
beginnen ſollte. Tragt ſie nun zur Ruhe!
ſagte das Maͤdchen: ſie hat das Ihrige ge¬
than und gelitten, und kann nicht mehr unter
uns wohnen. Die Baare bewegte ſich weiter,
Nanny folgte zuerſt und man gelangte zur
Kirche, zur Capelle.


So ſtand nun der Sarg Ottiliens, zu
ihren Haͤupten der Sarg des Kindes, zu ih¬
ren Fuͤßen das Koͤfferchen, in ein ſtarkes
eichenes Behaͤltniß eingeſchloſſen. Man hatte
fuͤr eine Waͤchterinn geſorgt, welche in der
erſten Zeit des Leichnams wahrnehmen ſollte,
der unter ſeiner Glasdecke gar liebenswuͤrdig
dalag. Aber Nanny wollte ſich dieſes Amt
nicht nehmen laſſen; ſie wollte allein, ohne
[331] Geſellinn bleiben und der zum erſtenmal an¬
gezuͤndeten Lampe fleißig warten. Sie ver¬
langte dieß ſo eifrig und hartnaͤckig, daß man
ihr nachgab, um ein groͤßeres Gemuͤthsuͤbel
das ſich befuͤrchten ließ, zu verhuͤthen.


Aber ſie blieb nicht lange allein: denn
gleich mit ſinkender Nacht, als das ſchwebende
Licht ſein volles Recht ausuͤbend einen helleren
Schein verbreitete, oͤffnete ſich die Thuͤre und
es trat der Architect in die Capelle, deren
fromm verzierte Waͤnde, bey ſo mildem Schim¬
mer, alterthuͤmlicher und ahndungsvoller, als
er je haͤtte glauben koͤnnen, ihm entgegen
drangen.


Nanny ſaß an der einen Seite des Sar¬
ges. Sie erkannte ihn gleich; aber ſchwei¬
gend deutete ſie auf die verblichene Herrinn.
Und ſo ſtand er auf der andern Seite, in
jugendlicher Kraft und Anmuth, auf ſich ſelbſt
zuruͤckgewieſen, ſtarr, in ſich gekehrt, mit nie¬
[332] dergeſenkten Armen, gefalteten, mitleidig ge¬
rungenen Haͤnden, Haupt und Blick nach der
Entſeelten hingeneigt.


Schon einmal hatte er ſo vor Beliſar ge¬
ſtanden. Unwillkuͤhrlich gerieth er jetzt in die
gleiche Stellung; und wie natuͤrlich war ſie
auch dießmal! Auch hier war etwas unſchaͤtz¬
bar Wuͤrdiges von ſeiner Hoͤhe herabge¬
ſtuͤrzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit,
Macht, Rang und Vermoͤgen in einem Man¬
ne als unwiederbringlich verloren bedauert
wurden; wenn Eigenſchaften, die der Nation,
dem Fuͤrſten, in entſcheidenden Momenten un¬
entbehrlich ſind, nicht geſchaͤtzt, vielmehr ver¬
worfen und ausgeſtoßen worden: ſo waren
hier ſo viel andere ſtille Tugenden, von der
Natur erſt kurz aus ihren gehaltreichen Tie¬
fen hervorgerufen, durch ihre gleichguͤltige
Hand ſchnell wieder ausgetilgt: ſeltene, ſchoͤne,
liebenswuͤrdige Tugenden, deren friedliche Ein¬
wirkung die beduͤrftige Welt zu jeder Zeit mit
[333] wonnevollem Genuͤgen umfaͤngt und mit ſehn¬
ſuͤchtiger Trauer vermißt.


Der Juͤngling ſchwieg, auch das Maͤdchen
eine Zeit lang; als ſie ihm aber die Thraͤnen
haͤufig aus dem Auge quellen ſah, als er ſich
im Schmerz ganz aufzuloͤſen ſchien, ſprach ſie
mit ſo viel Wahrheit und Kraft, mit ſo viel
Wohlwollen und Sicherheit, ihm zu, daß er
uͤber den Fluß ihrer Rede erſtaunt, ſich zu
faſſen vermochte, und ſeine ſchoͤne Freundinn
ihm in einer hoͤhern Region lebend und wir¬
kend vorſchwebte. Seine Thraͤnen trockneten,
ſeine Schmerzen linderten ſich; knieend nahm
er von Ottilien, mit einem herzlichen Haͤnde¬
druck von Nanny Abſchied, und noch in der
Nacht ritt er vom Orte weg ohne Jemand
weiter geſehen zu haben.


Der Wundarzt war die Nacht uͤber, ohne
des Maͤdchens Wiſſen, in der Kirche geblie¬
ben, und fand als er ſie des Morgens be¬
[334] ſuchte, ſie heiter und getroſten Muthes. Er
war auf mancherley Verirrungen gefaßt; er
dachte ſchon, ſie werde ihm von naͤchtlichen
Unterredungen mit Ottilien und von andern
ſolchen Erſcheinungen ſprechen: aber ſie war
natuͤrlich, ruhig und ſich voͤllig ſelbſtbewußt.
Sie erinnerte ſich vollkommen aller fruͤheren
Zeiten, aller Zuſtaͤnde mit großer Genauig¬
keit, und nichts in ihren Reden ſchritt aus
dem gewoͤhnlichen Gange des Wahren und
Wirklichen heraus, als nur die Begebenheit
beym Leichenbegaͤngniß, die ſie mit Freudig¬
keit oft wiederhohlte: wie Ottilie ſich aufge¬
richtet, ſie geſegnet, ihr verziehen, und ſie
dadurch fuͤr immer beruhigt habe.


Der fortdauernd ſchoͤne, mehr ſchlaf- als
todaͤhnliche Zuſtand Ottiliens zog mehrere
Menſchen herbey. Die Bewohner und An¬
wohner wollten ſie noch ſehen, und Jeder
mochte gern aus Nanny's Munde das Un¬
glaubliche hoͤren; manche um daruͤber zu ſpot¬
[335] ten, die meiſten um daran zu zweifeln, und
wenige um ſich glaubend dagegen zu ver¬
halten.


Jedes Beduͤrfniß deſſen wirkliche Befrie¬
digung verſagt iſt, noͤthigt zum Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerſchmetterte
Nanny war durch Beruͤhrung des frommen
Koͤrpers wieder geſund geworden: warum
ſollte nicht auch ein aͤhnliches Gluͤck hier an¬
dern bereitet ſeyn? Zaͤrtliche Muͤtter brachten
zuerſt heimlich ihre Kinder, die von irgend
einem Uebel behaftet waren, und ſie glaubten
eine ploͤtzliche Beſſerung zu ſpuͤren. Das
Zutrauen vermehrte ſich, und zuletzt war Nie¬
mand ſo alt und ſo ſchwach, der ſich nicht
an dieſer Stelle eine Erquickung und Erleich¬
terung geſucht haͤtte. Der Zudrang wuchs
und man ſah ſich genoͤthigt die Capelle, ja
außer den Stunden des Gottesdienſtes, die
Kirche zu verſchließen.


[336]

Eduard wagte ſich nicht wieder zu der
Abgeſchiedenen. Er lebte nur vor ſich hin,
er ſchien keine Thraͤne mehr zu haben, keines
Schmerzes weiter faͤhig zu ſeyn. Seine
Theilnahme an der Unterhaltung, ſein Genuß
von Speiſ' und Trank vermindert ſich mit
jedem Tage. Nur noch einige Erquickung
ſcheint er aus dem Glaſe zu ſchluͤrfen, das
ihm freylich kein wahrhafter Prophet gewe¬
ſen. Er betrachtet noch immer gern die ver¬
ſchlungenen Namenszuͤge und ſein ernſtheite¬
rer Blick dabey ſcheint anzudeuten, daß er
auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe.
Und wie den Gluͤcklichen jeder Nebenumſtand
zu beguͤnſtigen, jedes Ungefaͤhr mit emporzu¬
heben ſcheint; ſo moͤgen ſich auch gern die
kleinſten Vorfaͤlle zur Kraͤnkung, zum Ver¬
derben des Ungluͤcklichen vereinigen. Denn
eines Tages, als Eduard, das geliebte Glas
zum Munde brachte, entfernte er es mit Ent¬
ſetzen wieder: es war daſſelbe und nicht daſ¬
ſelbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
[337] Man dringt in den Kammerdiener und dieſer
muß geſtehen: das aͤchte Glas ſey unlaͤngſt
zerbrochen, und ein gleiches, auch aus Eduards
Jugendzeit, untergeſchoben worden. Eduard
kann nicht zuͤrnen, ſein Schickſal iſt ausge¬
ſprochen durch die That: wie ſoll ihn das
Gleichniß ruͤhren? Aber doch druͤckt es ihn tief.
Der Trank ſcheint ihm von nun an zu wider¬
ſtehen; er ſcheint ſich mit Vorſatz der Speiſe,
des Geſpraͤchs zu enthalten.


Aber von Zeit zu Zeit uͤberfaͤllt ihn eine
Unruhe. Er verlangt wieder etwas zu genie¬
ßen, er faͤngt wieder an zu ſprechen. Ach!
ſagte er einmal zum Major, der ihm wenig
von der Seite kam: was bin ich ungluͤcklich,
daß mein ganzes Beſtreben nur immer eine
Nachahmung, ein falſches Bemuͤhen bleibt!
Was ihr Seligkeit geweſen, wird mir Pein;
und doch, um dieſer Seligkeit willen, bin ich
genoͤthigt dieſe Pein zu uͤbernehmen. Ich
muß ihr nach, auf dieſem Wege nach; aber
II. 22[338] meine Natur haͤlt mich zuruͤck und mein
Verſprechen. Es iſt eine ſchreckliche Aufgabe,
das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fuͤhle
wohl, Beſter, es gehoͤrt Genie zu allem,
auch zum Maͤrtyrerthum.


Was ſollen wir, bey dieſem hoffnungs¬
loſen Zuſtande, der ehegattlichen, freundſchaft¬
lichen, aͤrztlichen Bemuͤhungen gedenken, in
welchen ſich Eduards Angehoͤrige eine Zeit
lang hin und herwogten. Endlich fand man
ihn todt. Mittler machte zuerſt dieſe traurige
Entdeckung. Er berief den Arzt und beob¬
achtete, nach ſeiner gewoͤhnlichen Faſſung, ge¬
nau die Umſtaͤnde in denen man den Verbli¬
chenen angetroffen hatte. Charlotte ſtuͤrzte
herbey: ein Verdacht des Selbſtmordes regte
ſich in ihr; ſie wollte ſich, ſie wollte die andern
einer unverzeihlichen Unvorſichtigkeit anklagen.
Doch der Arzt aus natuͤrlichen, und Mittler
aus ſittlichen Gruͤnden, wußten ſie bald vom
Gegentheil zu uͤberzeugen. Ganz deutlich
[339] war Eduard von ſeinem Ende uͤberraſcht
worden. Er hatte, was er bisher ſorgfaͤltig
zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien
uͤbrig gebliebene, in einem ſtillen Augenblick,
vor ſich aus einem Kaͤſtchen, aus einer Brief¬
taſche ausgebreitet: eine Locke, Blumen in
gluͤcklicher Stunde gepfluͤckt, alle Blaͤttchen
die ſie ihm geſchrieben, von jenem erſten an
das ihm ſeine Gattinn ſo zufaͤllig ahndungs¬
reich uͤbergeben hatte. Das alles konnte er
nicht einer ungefaͤhren Entdeckung mit Wil¬
len preißgeben. Und ſo lag denn auch dieſes
vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufge¬
regte Herz in unſtoͤrbarer Ruhe; und wie
er in Gedanken an die Heilige eingeſchlafen
war, ſo konnte man wohl ihn ſelig nennen.
Charlotte gab ihm ſeinen Platz neben Ottilien
und verordnete, daß Niemand weiter in die¬
ſem Gewoͤlbe beygeſetzt werde. Unter dieſer
Bedingung machte ſie fuͤr Kirche und Schule,
fuͤr den Geiſtlichen und den Schullehrer an¬
ſehnliche Stiftungen.


22 *[340]

So ruhen die Liebenden neben einander.
Friede ſchwebt uͤber ihrer Staͤtte, heitere ver¬
wandte Engelsbilder ſchauen vom Gewoͤlbe
auf ſie herab, und welch ein freundlicher Au¬
genblick wird es ſeyn, wenn ſie dereinſt wie¬
der zuſammen erwachen.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Wahlverwandtschaften. Die Wahlverwandtschaften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjbc.0