Carl Rümpler.
1860.
[]
Druck von Auguſt Grimpe in Hannover.
[]
Inhalts-Verzeichniß.
Gemüth und Leben.
- Seite
- Das Wort 1
- Halt feſt! 2
- Carpe diem5
- Durchwachte Nacht 7
- Mondesaufgang 10
- Der Mittelpunkt der Welt 12
- Grüße 15
- Doppeltgänger 18
- Im Graſe 20
- Die Golem 22
- Spätes Erwachen 24
- Stille Größe 27
- Gemüth 31
- Die todte Lerche 34
- Unter der Linde 36
- Meine Steckenpferde 41
- Der Dichter 43
- Seite
- Der Abſchied 45
- Das Bild 50
- Sylveſter-Abend 55
Erzählende Gedichte.
- Das erſte Gedicht 61
- Gaſtrecht 66
- Mutaſſin 69
- Der Nachtwandler 72
- Das verlorne Paradies 75
- Der ſterbende General 78
- Volksglauben in den Pyrenäen 81
- 1. Sylveſterfey 81
- 2. Münzkraut 85
- 3. Loup Garou 88
- 4. Maiſegen 92
- 5. Höhlenfey 97
- 6. Johannisthau 100
Denkblätter.
- An Philippa 105
- An *** 106
- Das einzige Kind 108
- Schloß Berg 109
- An meine Mutter 115
- An Eliſe 116
- An *** 117
- An den Freiherrn von Madroux 119
- Seite
- Die Mutter am Grabe 120
- An Ludowine 123
- An Joſeph von Laßberg 124
Klänge aus dem Orient.
- 1—20 127—141
- Die Judenbuche, Erzählung 145
- Bilder aus Weſtphalen 231
[]
Gemüth und Leben.
[][[1]]
Das Wort.
1
[2]
Halt feſt!
[3]
1*
[4]
[5]
Carpe diem?
[6]
[7]
Durchwachte Nacht.
[8]
[9]
[10]
Mondesaufgang.
[11]
[12]
Der Mittelpunkt der Welt.
[13]
[14]
[15]
Grüße.
[16]
[17]
2
[18]
Doppeltgänger.
[19]
2*
[20]
Im Graſe.
[21]
[22]
Die Golem.
[23]
[24]
Spätes Erwachen.
[25]
[26]
[27]
Stille Größe.
[28]
[29]
[30]
[31]
Gemüth.
[32]
[33]
3
[34]
Die todte Lerche.
[35]
3*
[36]
Unter der Linde.
[37]
[38]
[39]
[40]
[41]
Meine Steckenpferde, die Uhren.
[42]
[43]
Der Dichter.
[44]
[45]
Der Abſchied.
[46]
[47]
[48]
[49]
4
[50]
Das Bild.
1.
[51]
4*
[52]
2.
[53]
3.
[54]
[55]
Sylveſterabend.
[56]
[57]
[[58]][[59]]
Erzählende Gedichte.
[[60]][61]
Das erſte Gedicht.
[62]
[63]
[64]
[65]
5
[66]
Gaſtrecht.
[67]
5*
[68]
[69]
Mutaſſin.
[70]
[71]
[72]
Der Nachtwandler.
[73]
[74]
[75]
Das verlorne Paradies.
[76]
[77]
[78]
Der ſterbende General.
[79]
[80]
[81]
Volksglauben in den Pyrenäen.
1.
Sylveſterfey.
6
[82]
[83]
6*
[84]
[85]
2.
Münzkraut.
[86]
[87]
[88]
3.
Der Loup Garou.
[89]
[90]
[91]
[92]
4.
Maiſegen.
[93]
[94]
[95]
[96]
[97]
5.
Höhlenfey.
7
[98]
[99]
7*
[100]
6.
Johannisthau.
[101]
[102]
[[103]]
Denkblätter.
[[104]][105]
An Philippa.
[106]
An ***
[107]
[108]
Das einzige Kind.
[109]
Schloß Berg im Thurgau*)
[110]
[111]
[112]
[113]
8
[114]
[115]
An meine Mutter.
8*
[116]
An Eliſe.
Zum Geburtstage am 7. März 1845.
[117]
An ***
[118]
[119]
An meinen verehrten Freund, den Freiherrn von
Madroux, bei Ueberſendung der „Gedichte.“
[120]
Die Mutter am Grabe.
[121]
[122]
[123]
An Ludowine.
[124]
An Joſeph von Laßberg.
Zum Geburtstage am 10. April 1848.
[[125]]
Klänge aus dem Orient.
[[126]][127]
O Nacht!
[128]
Geſegnet.
[129]
Der Fiſcher.
9
[130]
Der Kaufmann.
[131]
Das Kind.
Der Greis.
9*
[132]
Geplagt.
[133]
Getreu.
[134]
Süß.
[135]
Freundlich.
[136]
Verliebt.
Verhenkert.
[137]
Verteufelt.
Verliebt.
[138]
Bezaubernd.
[139]
Verflucht.
Herrlich.
[140]
Unausſprechlich.
Unbeſchreiblich.
[141]
Unerhört.
[[142]][[143]]
Die Judenbuche.
Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Weſtphalen.
[[144]][[145]]
Haupt! —
Friederich Mergel, geboren 1738, war der
Sohn eines ſogenannten Halbmeiers oder Grund-
eigenthümers geringer Klaſſe im Dorfe B., das,
ſo ſchlecht gebaut und rauchig es ſein mag, doch
das Auge jedes Reiſenden feſſelt durch die überaus
maleriſche Schönheit ſeiner Lage in der grünen
Waldſchlucht eines bedeutenden und geſchichtlich
merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen dem es
angehörte, war damals einer jener abgeſchloſſenen
Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heer-
ſtraßen, wo noch ein fremdes Geſicht [Aufſehen]
erregte, und einer Reiſe von 30 Meilen ſelbſt den
Vornehmeren zum Ulyſſes ſeiner Gegend machte
10
[146] — kurz, ein Fleck, wie es deren ſonſt ſo viele in
Deutſchland gab, mit all den Mängeln und Tu-
genden, all der Originalität und Beſchränktheit,
wie ſie nur in ſolchen Zuſtänden gedeihen.
Unter höchſt einfachen [und] häufig unzuläng-
lichen Geſetzen waren die Begriffe der Einwohner
von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung
gerathen, oder vielmehr es hatte ſich neben dem
geſetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der
öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch
Vernachläſſigung entſtandenen Verjährung. Die
Gutsbeſitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zuſtand,
ſtraften und belohnten nach ihrer in den meiſten
Fällen redlichen Einſicht; der Untergebene that,
was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren
Gewiſſen verträglich ſchien, und nur dem Verlie-
renden fiel es zuweilen ein, in alten ſtaubigten
Urkunden nachzuſchlagen. — Es iſt ſchwer, jene
Zeit unparteiiſch ins Auge zu faſſen; ſie iſt ſeit
ihrem Verſchwinden entweder hochmüthig getadelt
oder albern gelobt worden, da den, der ſie erlebte,
zu viel theure Erinnerungen blenden und der
Spätergeborene ſie nicht begreift. So viel darf
man indeſſen behaupten, daß die Form ſchwächer,
der Kern feſter, Vergehen häufiger, Gewiſſenloſigkeit
ſeltener waren. Denn wer nach ſeiner Ueberzeugung
handelt, und ſei ſie noch ſo mangelhaft, kann nie
[147] ganz zu Grunde gehen, wogegen nichts ſeelentödtender
wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere
Recht in Anſpruch nehmen.
Ein Menſchenſchlag, unruhiger und unterneh-
mender als ſeine Nachbarn, ließ in dem kleinen
Staate, von dem wir reden, manches weit greller
hervortreten als anderswo unter gleichen Umſtänden.
Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung
und bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte
ſich jeder ſelbſt ſeines zerſchlagenen Kopfes zu tröſten.
Da jedoch große und ergiebige Waldungen den
Hauptreichthum des Landes ausmachten, ward aller-
dings ſcharf über die Forſten gewacht, aber weniger
auf geſetzlichem Wege, als in ſtets erneuten Ver-
ſuchen, Gewalt und Liſt mit gleichen Waffen zu
überbieten.
Das Dorf B. galt für die hochmüthigſte,
ſchlaueſte und kühnſte Gemeinde des ganzen Fürſten-
thums. Seine Lage inmitten tiefer und ſtolzer
Waldeinſamkeit mochte ſchon früh den angebo-
renen Starrſinn der Gemüther nähren; die Nähe
eines Fluſſes, der in die See mündete und bedeckte
Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz
bequem und ſicher außer Land zu führen, trug ſehr
dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler
zu ermuthigen, und der Umſtand, daß Alles umher
von Förſtern wimmelte, konnte hier nur aufregend
10*
[148] wirken, da bei den häufig vorkommenden Schar-
mützeln der Vortheil meiſt auf Seiten der Bauern
blieb. Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus
in den ſchönen Mondnächten mit ungefähr doppelt
ſo viel Mannſchaft jedes Alters, vom halbwüchſigen
Knaben bis zum ſiebzigjährigen Ortsvorſteher, der
als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich ſtolzem
Bewußtſein anführte, als er ſeinen Sitz in der
Gerichtsſtube einnahm. Die Zurückgebliebenen horch-
ten ſorglos dem allmähligen Verhallen des Knarrens
und Stoßens der Räder in den Hohlwegen und ſchlie-
fen ſacht weiter. Ein gelegentlicher Schuß, ein ſchwacher
Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder
Braut auffahren; kein Anderer achtete darauf. Beim
erſten Morgengrau kehrte der Zug eben ſo ſchwei-
gend heim, die Geſichter glühend wie Erz, hier und
dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht
in Betracht kam, und nach ein paar Stunden war
die Umgegend voll von dem Mißgeſchick eines oder
mehrerer Forſtbeamten, die aus dem Walde getragen
wurden, zerſchlagen, mit Schnupftaback geblendet
und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nach-
zukommen.
In dieſen Umgebungen ward Friedrich Mergel
geboren, in einem Hauſe, das durch die ſtolze Zu-
gabe eines Rauchfanges und minder kleiner Glas-
ſcheiben die Anſprüche ſeines Erbauers, ſo wie durch
[149] ſeine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen
Umſtände des jetzigen Beſitzers bezeugte. Das frühere
Geländer um Hof und Garten war einem vernachläſſig-
ten Zaune gewichen, das Dach ſchadhaft, fremdes Vieh
weidete auf den Triften, fremdes Korn wuchs auf
dem Acker zunächſt am Hofe, und der Garten enthielt,
außer ein paar holzigten Roſenſtöcken aus beſſerer
Zeit, mehr Unkraut als Kraut. Freilich hatten
Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt; doch
war auch viel Unordnung und böſe Wirthſchaft im
Spiel. Friedrichs Vater, der alte Hermann Mergel,
war in ſeinem Junggeſellenſtande ein ſogenannter
ordentlicher Säufer, d. h. einer, der nur an
Sonn- und Feſttagen in der Rinne lag und
die Woche hindurch ſo manierlich war wie ein
Anderer. So war denn auch ſeine Bewerbung
um ein recht hübſches und wohlhabendes Mädchen
ihm nicht erſchwert. Auf der Hochzeit giengs luſtig
zu. Mergel war nicht gar zu arg betrunken, und
die Eltern der Braut giengen Abends vergnügt
heim; aber am nächſten Sonntage ſah man die
junge Frau ſchreiend und blutrünſtig durchs Dorf
zu den Ihrigen rennen, alle ihrer guten Kleider und
neues Hausgeräth im Stich laſſend. Das war
freilich ein großer Skandal und Aerger für Mergel,
der allerdings Troſtes bedurfte. So war denn auch
am Nachmittage keine Scheibe an ſeinem Hauſe
[150] mehr ganz, und man ſah ihn noch bis ſpät in die
Nacht vor der Thürſchwelle liegen, einen abgebro-
chenen Flaſchenhals von Zeit zu Zeit zum Munde
führend und ſich Geſicht und Hände jämmerlich
zerſchneidend. Die junge Frau blieb bei ihren
Eltern, wo ſie bald verkümmerte und ſtarb. Ob
nun den Mergel Reue quälte oder Scham, genug,
er ſchien der Troſtmittel immer bedürftiger und
fing bald an, den gänzlich verkommenen Subjekten
zugezählt zu werden.
Die Wirthſchaft verfiel; fremde Mägde brachten
Schimpf und Schaden; ſo vergieng Jahr auf
Jahr. Mergel war und blieb ein verlegener und
zuletzt ziemlich armſeliger Wittwer, bis er mit einem-
male wieder als Bräutigam auftrat. War die
Sache an und für ſich unerwartet, ſo trug die
Perſönlichkeit der Braut noch dazu bei, die Ver-
wunderung zu erhöhen. Margareth Semmler war
eine brave, anſtändige Perſon, ſo in den Vierzigen,
in ihrer Jugend eine Dorfſchönheit und noch jetzt
ſehr klug und wirthlich geachtet, dabei nicht unver-
mögend; und ſo mußte es Jedem unbegreiflich ſein,
was ſie zu dieſem Schritte getrieben. Wir glauben
den Grund eben in dieſer ihrer ſelbſtbewußten Voll-
kommenheit zu finden. Am Abend vor der Hochzeit
ſoll ſie geſagt haben: „Eine Frau die von ihrem
Manne übel behandelt wird, iſt dumm oder taugt
[151] nicht: wenn’s mir ſchlecht geht, ſo ſagt, es liege an
mir.“ Der Erfolg zeigte leider, daß ſie ihre Kräfte
überſchätzt hatte. Anfangs imponirte ſie ihrem
Manne; er kam nicht nach Haus oder brach in die
Scheune, wenn er ſich übernommen hatte; aber
das Joch war zu drückend, um lange getragen zu
werden, und bald ſah man ihn oft genug quer
über die Gaſſe ins Haus taumeln, hörte drinnen
ſein wüſtes Lärmen und ſah Margreth eilends
Thür und Fenſter ſchließen. An einem ſolchen Tage
— keinem Sonntage mehr — ſah man ſie Abends
aus dem Hauſe ſtürzen, ohne Haube und Halstuch,
das Haar wild um den Kopf hängend, ſich im
Garten neben ein Krautbeet niederwerfen und die
Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängſtlich
um ſich ſchauen, raſch ein Bündel Kräuter brechen
und damit langſam wieder dem Hauſe zugehen,
aber nicht hinein, ſondern in die Scheune. Es
hieß, an dieſem Tage habe Mergel zuerſt Hand an
ſie gelegt, obwohl das Bekenntniß nie über ihre
Lippen kam. — Das zweite Jahr dieſer unglücklichen
Ehe ward mit einem Sohne, man kann nicht ſagen
erfreut, [denn] Margareth ſoll ſehr geweint haben,
als man ihr das Kind reichte. Dennoch, obwohl
unter einem Herzen voll Gram getragen, war Friedrich
ein geſundes hübſches Kind, das in der friſchen
Luft kräftig gedieh. Der Vater hatte ihn ſehr
[152] lieb, kam nie nach Hauſe ohne ihm ein Stückchen
Wecken oder dergleichen mitzubringen, und man
meinte ſogar, er ſei ſeit der Geburt des Knaben
ordentlicher geworden; wenigſtens war der Lärmen
im Hauſe geringer.
Friedrich ſtand in ſeinem neunten Jahre. Es
war um das Feſt der heiligen drei Könige, eine
rauhe, ſtürmiſche Winternacht. Hermann war zu
einer Hochzeit gegangen und hatte ſich ſchon bei
Zeiten auf den Weg gemacht, da das Brauthaus
Dreiviertelmeilen entfernt lag. Obgleich er verſprochen
hatte, Abends wiederzukommen, rechnete Frau Mergel
doch um ſo weniger darauf, da ſich nach Sonnen-
untergang dichtes Schneegeſtöber eingeſtellt hatte.
Gegen zehn Uhr ſchürte ſie die Aſche am Herde zu-
ſammen und machte ſich zum Schlafengehen bereit.
Friedrich ſtand neben ihr, ſchon halb entkleidet, und
horchte auf das Geheul des Windes und das
Klappen der Bodenfenſter.
„Mutter, kommt der Vater heute nicht?“
fragte er.
„Nein Kind, morgen. — „Aber warum nicht,
Mutter? er hat’s doch verſprochen.“ — „Ach Gott,
wenn der Alles hielte, was er verſpricht! Mach,
mach voran, daß du fertig wirſt.“
Sie hatten ſich kaum niedergelegt, ſo erhob
ſich eine Windsbraut, als ob ſie das Haus mit-
[153] nehmen wollte. Die Bettſtatt bebte und im Schorn-
ſtein raſſelte es wie ein Kobold. — „Mutter, es
pocht draußen!“ — „Still, Fritzchen, das iſt das
lockere Brett im Giebel, das der Wind jagt.“ —
„Nein, Mutter, an der Thür!“ — „Sie ſchließt
nicht; die Klinke iſt zerbrochen. Gott, ſchlaf doch!
bring mich nicht um das armſelige Bischen Nacht-
ruhe.“ — „Aber wenn nun der Vater kommt?“
— Die Mutter drehte ſich heftig im Bett um. —
„Den hält der Teufel feſt genug!“ — „Wo iſt
der Teufel, Mutter?“ — „Wart du Unraſt! er
ſteht vor der Thür und will dich holen, wenn du
nicht ruhig biſt!“
Friedrich ward ſtill; er horchte noch ein Weil-
chen und ſchlief dann ein. Nach einigen Stunden
erwachte er. Der Wind hatte ſich gewendet und
ziſchte jetzt wie eine Schlange durch die Fenſterritze
an ſeinem Ohr. Seine Schulter war erſtarrt; er
kroch tief unter’s Deckbett und lag aus Furcht ganz
ſtill. Nach einer Weile bemerkte er, daß die Mutter
auch nicht ſchlief. Er hörte ſie weinen und mitunter:
„Gegrüßt ſeiſt du, Maria!“ und „bitte für uns
arme Sünder!“ Die Kügelchen des Roſenkranzes
glitten an ſeinem Geſicht hin. Ein unwillkührlicher
Seufzer entfuhr ihm. — „Friedrich, biſt du wach?“ —
„Ja, Mutter.“ — „Kind, bete ein wenig — du
[154] kannſt ja ſchon das halbe Vaterunſer — daß Gott
uns bewahre vor Waſſer- und Feuersnoth.“
Friedrich dachte an den Teufel, wie der wohl
ausſehen möge. Das mannigfache Geräuſch und
Getöſe im Hauſe kam ihm wunderlich vor. Er
meinte, es müſſe etwas Lebendiges drinnen ſein
und draußen auch. — „Hör, Mutter, gewiß, da
ſind Leute, die pochen.“ — „Ach nein, Kind; aber
es iſt kein altes Brett im Hauſe, das nicht klap-
pert.“ — „Hör’! hörſt du nicht? es ruft! hör’
doch!“
Die Mutter richtete ſich auf; das Toben des
Sturms ließ einen Augenblick nach. Man hörte
deutlich an den Fenſterläden pochen und mehrere
Stimmen: „Margareth! Frau Margareth, heda,
aufgemacht!“ Magareth ſtieß einen heftigen Laut
aus: „Da bringen ſie mir das Schwein wieder!“
Der Roſenkranz flog klappernd auf den Brett-
ſtuhl, die Kleider wurden herbeigeriſſen. Sie fuhr
zum Herde und bald darauf hörte Friedrich ſie mit
trotzigen Schritten über die Tenne gehen. Mar-
gareth kam gar nicht wieder; aber in der Küche
war viel Gemurmel und fremde Stimmen. Zweimal
kam ein fremder Mann in die Kammer und ſchien
ängſtlich etwas zu ſuchen. Mit einem Male ward
eine Lampe hereingebracht; zwei Männer führten
die Mutter. Sie war weiß wie Kreide und hatte
[155] die Augen geſchloſſen. Friedrich meinte, ſie ſei todt;
er erhob ein fürchterliches Geſchrei, worauf ihm
Jemand eine Ohrfeige gab, was ihn zur Ruhe
brachte, und nun begriff er nach und nach aus den
Reden der Umſtehenden, daß der Vater vom Ohm
Franz Semmler und dem Hülsmeyer todt im Holze
gefunden ſei und jetzt in der Küche liege.
Sobald Margareth wieder zur Beſinnung kam,
ſuchte ſie die fremden Leute los zu werden. Der
Bruder blieb bei ihr und Friedrich, dem bei ſtrenger
Strafe im Bett zu bleiben geboten war, hörte die
ganze Nacht hindurch das Feuer in der Küche kni-
ſtern und ein Geräuſch wie von Hin- und Her-
rutſchen und Bürſten. Geſprochen ward wenig und
leiſe, aber zuweilen drangen Seufzer herüber, die
dem Knaben, ſo jung er war, durch Mark und
Bein gingen. Einmal verſtand er, daß der Oheim
ſagte: „Margareth, zieh dir das nicht zu Gemüth;
wir wollen Jeder drei Meſſen leſen laſſen, und um
Oſtern gehen wir zuſammen eine Bittfahrt zur
Muttergottes von Werl.“
Als nach zwei Tagen die Leiche fortgetragen
wurde, ſaß Margareth am Herde, das Geſicht mit
der Schürze verhüllend. Nach einigen Minuten,
als Alles ſtill geworden war, ſagte ſie in ſich hinein:
„Zehn Jahre, zehn Kreuze. Wir haben ſie doch
[156] zuſammen getragen, und jetzt bin ich allein!“ Dann
lauter: „Fritzchen, komm her!“ —
Friedrich kam ſcheu heran; die Mutter war
ihm ganz unheimlich geworden mit den ſchwarzen
Bändern und den verſtörten Zügen. „Fritzchen,“
ſagte ſie, „willſt du jetzt auch fromm ſein, daß ich
Freude an dir habe, oder willſt du unartig ſein
und lügen, oder ſaufen und ſtehlen?“ — „Mutter,
Hülsmeyer ſtiehlt.“ — „Hülsmeyer? Gott bewahre!
Soll ich dir auf den Rücken kommen? wer ſagt dir
ſo ſchlechtes Zeug?“ — „Er hat neulich den Aaron
geprügelt und ihm ſechs Groſchen genommen.“ —
„Hat er dem Aaron Geld genommen, ſo hat ihn
der verfluchte Jude gewiß zuvor darum betrogen.
Hülsmeyer iſt ein ordentlicher angeſeſſener Mann,
und die Juden ſind alle Schelme.“ — „Aber,
Mutter, Brandes ſagt auch, daß er Holz und Rehe
ſtiehlt.“ — „Kind, Brandes iſt ein Förſter.“ —
„Mutter, lügen die Förſter?“
Margareth ſchwieg eine Weile, dann ſagte ſie:
„Höre, Fritz, das Holz läßt unſer Herrgott frei
wachſen und das Wild wechſelt aus eines Herren
Lande in das andere; die können Niemandem ge-
hören. Doch das verſtehſt du noch nicht; jetzt geh
in den Schuppen und hole mir Reiſig.“
Friedrich hatte ſeinen Vater auf dem Stroh
geſehen, wo er, wie man ſagt, blau und fürchter-
[157] lich ausgeſehen haben ſoll. Aber davon erzählte er
nie und ſchien ungern daran zu denken. Ueber-
haupt hatte die Erinnerung an ſeinen Vater eine
mit Grauſen gemiſchte Zärtlichkeit in ihm zurück-
gelaſſen, wie denn nichts ſo feſſelt, wie die Liebe
und Sorgfalt eines Weſens, das gegen alles Uebrige
verhärtet ſcheint, und bei Friedrich wuchs dieſes
Gefühl mit den Jahren, durch das Gefühl mancher
Zurückſetzung von Seiten Anderer. Es war ihm
äußerſt empfindlich, wenn, ſo lange er Kind war,
Jemand des Verſtorbenen nicht allzu löblich ge-
dachte; ein Kummer, den ihm das Zartgefühl der
Nachbarn nicht erſparte. Es iſt gewöhnlich in jenen
Gegenden, den Verunglückten die Ruhe im Grabe
abzuſprechen. Der alte Mergel war das Geſpenſt
des Brederholzes geworden; einen Betrunkenen führte
er als Irrlicht bei einem Haar in den Zellerkolk
(Teich); die Hirtenknaben, wenn ſie Nachts bei ihren
Feuern kauerten und die Eulen in den Gründen
ſchrieen, hörten zuweilen in abgebrochenen Tönen
ganz deutlich dazwiſchen ſein: „Hör mal an, fein’s
Liſeken,“ und ein unprivilegirter Holzhauer, der
unter der breiten Eiche eingeſchlafen und dem es
darüber Nacht geworden war, hatte beim Erwachen
ſein geſchwollenes blaues Geſicht durch die Zweige
lauſchen ſehen. Friedrich mußte von andern Knaben
Vieles darüber hören; dann heulte er, ſchlug um
[158] ſich, ſtach auch einmal mit ſeinem Meſſerchen und
wurde bei dieſer Gelegenheit jämmerlich geprügelt.
Seitdem trieb er ſeiner Mutter Kühe allein an das
andere Ende des Thales, wo man ihn oft Stun-
den lang in derſelben Stellung im Graſe liegen
und den Thymian aus dem Boden rupfen ſah.
Er war 12 Jahre alt, als ſeine Mutter einen
Beſuch von ihrem jüngeren Bruder erhielt, der in
Brede wohnte und ſeit der thörichten Heirath ſeiner
Schweſter ihre Schwelle nicht betreten hatte.
Simon Semmler war ein kleiner, unruhiger,
magerer Mann mit vor dem Kopf liegenden Fiſch-
augen und überhaupt einem Geſicht wie ein Hecht,
ein unheimlicher Geſelle, bei dem dickthuende Ver-
ſchloſſenheit oft mit eben ſo geſuchter Treuherzigkeit
wechſelte, der gern einen aufgeklärten Kopf vorge-
ſtellt hätte und ſtatt deſſen für einen fatalen, Händel
ſuchenden Kerl galt, dem Jeder um ſo lieber aus
dem Wege ging, je mehr er in das Alter trat, wo
ohnehin beſchränkte Menſchen leicht an Anſprüchen
gewinnen, was ſie an Brauchbarkeit verlieren.
Dennoch freute ſich die arme Margareth, die ſonſt
keinen der Ihrigen mehr am Leben hatte.
„Simon, biſt du da?“ ſagte ſie, und zitterte,
daß ſie ſich am Stuhle halten mußte. „Willſt du
ſehen, wie es mir geht und meinem ſchmutzigen
Jungen?“ — Simon betrachtete ſie ernſt und
[159] reichte ihr die Hand: „Du biſt alt geworden,
Margreth!“ — Margreth ſeufzte: „Es iſt mir
derweil oft bitterlich gegangen mit allerlei Schick-
ſalen.“ — „Ja, Mädchen, zu ſpät gefreit, hat
immer gereut! Jetzt biſt du alt und das Kind iſt
klein. Jedes Ding hat ſeine Zeit. Aber wenn ein
altes Haus brennt, dann hilft kein Löſchen.“ Ueber
Margreths vergrämtes Geſicht flog eine Flamme, ſo
roth wie Blut.
„Aber ich höre, dein Junge iſt ſchlau und
gewichſt,“ fuhr Simon fort. — „Ei nun ſo ziem-
lich, und dabei fromm.“ — „Hum, ’s hat mal Einer
eine Kuh geſtohlen, der hieß auch Fromm. Aber
er iſt ſtill und nachdenklich, nicht wahr? er läuft
nicht mit den andern Buben?“ — „Er iſt ein
eigenes Kind,“ ſagte Margreth wie für ſich; „es iſt
nicht gut.“ Simon lachte hell auf: „Dein Junge
iſt ſcheu, weil ihn die andern ein paarmal gut
durchgedroſchen haben. Das wird ihnen der Burſche
ſchon wieder bezahlen. Hülsmeyer war neulich bei
mir, der ſagte, es ſei ein Junge wie ’n Reh.“
Welcher Mutter geht das Herz nicht auf,
wenn ſie ihr Kind loben hört? Der armen Mar-
greth ward ſelten ſo wohl, Jedermann nannte ihren
Jungen tückiſch und verſchloſſen. Die Thränen
traten ihr in die Augen. „Ja, Gottlob, er hat
gerade Glieder.“ — „Wie ſieht er aus?“ fuhr
[160] Simon fort. — „Er hat viel von dir, Simon,
viel.“ Simon lachte: „Ei. das muß ein rarer Kerl
ſein, ich werde alle Tage ſchöner. An der Schule
ſoll er ſich wohl nicht verbrennen. Du läßt ihn die
Kühe hüten? Eben ſo gut. Es iſt doch nicht halb
wahr, was der Magiſter ſagt. Aber wo hütet er?
Im Telengrund? im Koderholze? im Teutoburger
Wald? auch des Nachts und früh?“ — „Die
ganzen Nächte durch; aber wie meinſt du das?“
Simon ſchien dies zu überhören; er reckte den
Hals zur Thüre hinaus: „Ei da kommt der Geſell!
Vatersſohn! er ſchlenkert gerade ſo mit den Armen
wie dein ſeliger Mann. Und ſchau mal an! wahr-
haftig, der Junge hat meine blonden Haare!“
In der Mutter Züge kam ein heimliches, ſtolzes
Lächeln; ihres Friedrichs blonde Locken und Simons
röthliche Borſten! Ohne zu antworten, brach ſie
einen Zweig von der nächſten Hecke und ging ihrem
Sohne entgegen, ſcheinbar, eine träge Kuh anzu-
treiben, im Grunde aber, ihm einige raſche, halb-
drohende Worte zuzuraunen; denn ſie kannte ſeine
ſtörriſche Natur, und Simons Weiſe war ihr heute
einſchüchternder vorgekommen als je. Doch ging
Alles über Erwarten gut; Friedrich zeigte ſich weder
verſtockt, noch frech, vielmehr etwas blöde und ſehr
bemüht, dem Ohm zu gefallen. So kam es denn
dahin, daß nach einer halbſtündigen Unterredung
[161] Simon eine Art Adoption des Knaben in Vor-
ſchlag brachte, vermöge deren er denſelben zwar nicht
gänzlich der Mutter entziehen, aber doch über den
größten Theil ſeiner Zeit verfügen wollte, wofür
ihm dann am Ende des alten Junggeſellen Erbe
zufallen ſolle, das ihm freilich ohnedies nicht ent-
gehen konnte. Margreth ließ ſich geduldig aus-
einanderſetzen, wie groß der Vortheil, wie gering
die Entbehrung ihrerſeits bei dem Handel ſei. Sie
wußte am beſten, was eine kränkliche Wittwe an
der Hülfe eines zwölfjährigen Knaben entbehrt, den
ſie bereits gewöhnt hat, die Stelle einer Tochter zu
erſetzen. Doch ſie ſchwieg und gab ſich in Alles.
Nur bat ſie den Bruder, ſtreng, doch nicht hart
gegen den Knaben zu ſein.
„Er iſt gut,“ ſagte ſie, „aber ich bin eine ein-
ſame Frau; mein Sohn iſt nicht wie einer, über
den Vaterhand regiert hat.“ Simon nickte ſchlau
mit dem Kopf: „Laß mich nur gewähren, wir
wollen uns ſchon vertragen, und weißt du was?
gieb mir den Jungen gleich mit, ich habe zwei
Säcke aus der Mühle zu holen; der kleinſte iſt ihm
grad recht, und ſo lernt er mir zur Hand gehen.
Komm, Fritzchen, zieh deine Holzſchuh an!“ — Und
bald ſah Margreth den Beiden nach, wie ſie fort-
ſchritten, Simon voran, mit ſeinem Geſicht die Luft
durchſchneidend, während ihm die Schöße des rothen
11
[162] Rocks wie Feuerflammen nachzogen. So hatte er
ziemlich das Anſehen eines feurigen Mannes, der
unter dem geſtohlenen Sacke büßt; Friedrich ihm
nach, fein und ſchlank für ſein Alter, mit zarten,
faſt edlen Zügen und langen blonden Locken, die
beſſer gepflegt waren, als ſein übriges Aeußeres er-
warten ließ; übrigens zerlumpt, ſonnenverbrannt
und mit dem Ausdrucke der Vernachläſſigung und
einer gewiſſen rohen Melancholie in den Zügen.
Dennoch war eine große Familienähnlichkeit Beider
nicht zu verkennen, und wie Friedrich ſo langſam
ſeinem Führer nachtrat, die Blicke feſt auf denſelben
geheftet, der ihn gerade durch das Seltſame ſeiner
Erſcheinung anzog, erinnerte er unwillkürlich an
Jemand, der in einem Zauberſpiegel das Bild ſeiner
Zukunft mit verſtörter Aufmerkſamkeit betrachtet.
Jetzt nahten die Beiden ſich der Stelle des
Teutoburger Waldes, wo das Brederholz den Ab-
hang des Gebirges niederſteigt und einen ſehr dun-
keln Grund ausfüllt. Bis jetzt war wenig geſprochen
worden. Simon ſchien nachdenkend, der Knabe zer-
ſtreut, und Beide keuchten unter ihren Säcken.
Plötzlich fragte Simon: „Trinkſt du gern Brannt-
wein?“ — Der Knabe antwortete nicht. „Ich frage,
trinkſt du gern Branntwein? gibt dir die Mutter
zuweilen welchen?“ — „Die Mutter hat ſelbſt
keinen,“ ſagte Friedrich. — „So, ſo, deſto beſſer! —
[163] kennſt du das Holz da vor uns?“ — „Das iſt
das Brederholz.“ — „Weißt du auch, was darin
vorgefallen iſt?“ — Friedrich ſchwieg. Indeſſen
kamen ſie der düſtern Schlucht immer näher.
„Betet die Mutter noch ſo viel?“ hob Simon
wieder an. — „Ja, jeden Abend zwei Roſenkränze.“
— „So? und du beteſt mit?“ — Der Knabe
lachte halb verlegen mit einem durchtriebenen Seiten-
blick. — „Die Mutter betet in der Dämmerung
vor dem Eſſen den einen Roſenkranz, dann bin ich
noch nicht wieder da mit den Kühen, und den an-
dern im Bette, dann ſchlaf ich gewöhnlich ein.“ —
„So, ſo, Geſelle!“ — Dieſe letzten Worte wurden
unter dem Schirme einer weiten Buche geſprochen,
die den Eingang der Schlucht überwölbte. Es war
jetzt ganz finſter; das erſte Mondviertel ſtand am
Himmel, aber ſeine ſchwachen Schimmer dienten nur
dazu, den Gegenſtänden, die ſie zuweilen durch eine
Lücke der Zweige berührten, ein fremdartiges An-
ſehen zu geben. Friedrich hielt ſich dicht hinter
ſeinem Ohm; ſein Odem ging ſchnell, und wer ſeine
Züge hätte unterſcheiden können, würde den Aus-
druck einer ungeheuren, doch mehr phantaſtiſchen
als furchtſamen Spannung darin wahrgenommen
haben. So ſchritten Beide rüſtig voran, Simon
mit dem feſten Schritt des abgehärteten Wanderers,
Friedrich ſchwankend und wie im Traum. Es kam
11*
[164] ihm vor, als ob Alles ſich bewegte und die Bäume
in den einzelnen Mondſtrahlen bald zuſammen, bald
von einander ſchwankten. Baumwurzeln und ſchlüpf-
rige Stellen, wo ſich das Waſſer geſammelt, machten
ſeinen Schritt unſicher; er war einige Male nahe
daran, zu fallen. Jetzt ſchien ſich in einiger Ent-
fernung das Dunkel zu brechen, und bald traten
Beide in eine ziemlich große Lichtung. Der Mond
ſchien klar hinein und zeigte, daß hier noch vor
Kurzem die Axt unbarmherzig gewüthet hatte.
Ueberall ragten Baumſtümpfe hervor, manche meh-
rere Fuß über der Erde, wie ſie gerade in der Eile
am bequemſten zu durchſchneiden geweſen waren;
die verpönte Arbeit mußte unverſehens unterbrochen
worden ſein, denn eine Buche lag quer über dem
Pfad, in vollem Laube, ihre Zweige hoch über ſich
ſtreckend und im Nachtwinde mit den noch friſchen
Blättern zitternd. Simon blieb einen Augenblick
ſtehen und betrachtete den gefällten Stamm mit
Aufmerkſamkeit. In der Mitte der Lichtung ſtand
eine alte Eiche, mehr breit als hoch; ein blaſſer
Strahl, der durch die Zweige auf ihren Stamm
fiel, zeigte, daß er hohl ſei, was ihn wahrſcheinlich
vor der allgemeinen Zerſtörung geſchützt hatte. Hier
ergriff Simon plötzlich des Knaben Arm.
„Friedrich, kennſt du den Baum? Das iſt
die breite Eiche.“ — Friedrich fuhr zuſammen und
[165] klammerte ſich mit kalten Händen an ſeinen Ohm.
„Sieh,“ fuhr Simon fort, „hier haben Ohm
Franz und der Hülsmeyer deinen Vater gefunden,
als er in der Betrunkenheit ohne Buße und Oelung
zum Teufel gefahren war.“ — „Ohm, Ohm!“
keuchte Friedrich. — „Was fällt dir ein? Du wirſt
dich doch nicht fürchten? Satan von einem Jungen,
du kneipſt mir den Arm! laß los, los!“ — Er
ſuchte den Knaben abzuſchütteln. „Dein Vater war
übrigens eine gute Seele; Gott wird’s nicht ſo
genau mit ihm nehmen. Ich hatte ihn ſo lieb, wie
meinen eigenen Bruder.“ — Friedrich ließ den Arm
ſeines Ohms los; beide legten ſchweigend den übrigen
Theil des Waldes zurück und das Dorf Brede lag
vor ihnen, mit ſeinen Lehmhütten und den einzelnen
beſſeren Wohnungen von Ziegelſteinen, zu denen
auch Simons Haus gehörte.
Am nächſten Abend ſaß Margreth ſchon ſeit
einer Stunde mit ihrem Rocken vor der Thür und
wartete auf ihren Knaben. Es war die erſte Nacht,
die ſie zugebracht hatte, ohne den Athem ihres Kin-
des neben ſich zu hören, und Friedrich kam noch
immer nicht. Sie war ärgerlich und ängſtlich und
wußte, daß ſie beides ohne Grund war. Die Uhr
im Thurm ſchlug ſieben, das Vieh kehrte heim; er
war noch immer nicht da und ſie mußte aufſtehen,
um nach den Kühen zu ſchauen.
[166]
Als ſie wieder in die dunkle Küche trat, ſtand
Friedrich am Herde; er hatte ſich vorn übergebeugt
und wärmte die Hände an den Kohlen. Der Schein
ſpielte auf ſeinen Zügen und gab ihnen ein widriges
Anſehen von Magerkeit und ängſtlichem Zucken.
Margreth blieb in der Tennenthür ſtehen, ſo ſeltſam
verändert kam ihr das Kind vor.
„Friedrich, wie geht’s dem Ohm?“ Der Knabe
murmelte einige unverſtändliche Worte und drängte
ſich dicht an die Feuermauer. — „Friedrich, haſt
du das Reden verlernt? Junge, thu’ das Maul
auf! du weißt ja doch, daß ich auf dem rechten
Ohr nicht gut höre.“ — Das Kind erhob ſeine
Stimme und gerieth dermaßen in’s Stammeln, daß
Margreth es um nichts mehr begriff. —
„Was ſagſt du? einen Gruß von Meiſter
Semmler? wieder fort? wohin? die Kühe ſind ſchon
zu Hauſe. Verfluchter Junge, ich kann dich nicht
verſtehen. Wart’, ich muß einmal ſehen, ob du
keine Zunge im Munde haſt!“ — Sie trat heftig
einige Schritte vor. Das Kind ſah zu ihr auf
mit dem Jammerblick eines armen, halbwüchſigen
Hundes, der Schildwacht ſtehen lernt, und begann
in der Angſt mit den Füßen zu ſtampfen und den
Rücken an der Feuermauer zu reiben.
Margreth ſtand ſtill; ihre Blicke wurden ängſt-
lich. Der Knabe erſchien ihr wie zuſammengeſchrumpft,
[167] auch ſeine Kleider waren nicht dieſelben, nein, das
war ihr Kind nicht! und dennoch — „Friedrich,
Friedrich!“ rief ſie.
In der Schlafkammer klappte eine Schrank-
thür und der Gerufene trat hervor, in der einen
Hand eine ſogenannte Holzſchenvioline, d. h. einen
alten Holzſchuh, mit drei bis vier zerſchabten Gei-
genſaiten überſpannt, in der andern einen Bogen,
ganz des Inſtrumentes würdig. So ging er gerade
auf ſein verkümmertes Spiegelbild zu, ſeinerſeits
mit einer Haltung bewußter Würde und Selbſt-
ſtändigkeit, die in dieſem Augenblicke den Unterſchied
zwiſchen beiden ſonſt merkwürdig ähnlichen Knaben
ſtark hervortreten ließ.
„Da, Johannes!“ ſagte er und reichte ihm
mit einer Gönnermiene das Kunſtwerk; „da iſt die
Violine, die ich dir verſprochen habe.“
„Mein Spielen iſt vorbei, ich muß jetzt Geld
verdienen.“ — Johannes warf noch einmal einen
ſcheuen Blick auf Margreth, ſtreckte dann langſam
ſeine Hand aus, bis er das Dargebotene feſt er-
griffen hatte, und brachte es wie verſtohlen unter
die Flügel ſeines armſeligen Jäckchens.
Margreth ſtand ganz ſtill und ließ die Kinder
gewähren. Ihre Gedanken hatten eine andere, ſehr
ernſte Richtung genommen, und ſie blickte mit un-
ruhigem Auge von Einem auf den Andern. Der
[168] fremde Knabe hatte ſich wieder über die Kohlen
gebeugt mit einem Ausdruck augenblicklichen Wohl-
behagens, der an Albernheit grenzte, während in
Friedrichs Zügen der Wechſel eines offenbar mehr
ſelbſtiſchen als gutmüthigen Mitgefühls ſpielte und
ſein Auge in faſt glasartiger Klarheit zum erſten-
male beſtimmt den Ausdruck jenes ungebändigten
Ehrgeizes und Hanges zum Großthun zeigte, der
nachher als ſo ſtarkes Motiv ſeiner meiſten Hand-
lungen hervortrat.
Der Ruf ſeiner Mutter ſtörte ihn aus Ge-
danken, die ihm eben ſo neu als angenehm waren.
Sie ſaß wieder am Spinnrade.
„Friedrich,“ ſagte ſie zögernd, „ſag’ einmal —“
und ſchwieg dann. Friedrich ſah auf und wandte
ſich, da er nichts weiter vernahm, wieder zu ſeinem
Schützling. — „Nein, höre —“ und dann leiſer:
„was iſt das für ein Junge? wie heißt er?“ —
Friedrich antwortete eben ſo leiſe: „Das iſt des
Ohms Simon Schweinehirt, der eine Botſchaft an
den Hülsmeyer hat. Der Ohm hat mir ein paar
Schuhe und eine Weſte von Drillich gegeben, die
hat mir der Junge unterwegs getragen; dafür hab’
ich ihm meine Violine verſprochen; er iſt ja doch ein
armes Kind; Johannes heißt er.“ — „Nun?“
ſagte Margreth. — „Was willſt du, Mutter?“ —
„Wie heißt er weiter?“ — „Ja — weiter nicht —
[169] oder, warte — doch: Niemand, Johannes Niemand
heißt er. — Er hat keinen Vater,“ fügte er leiſer hinzu.
Margreth ſtand auf und ging in die Kammer.
Nach einer Weile kam ſie heraus mit einem harten,
finſtern Ausdruck in den Mienen. „So, Friedrich,“
ſagte ſie, „laß den Jungen gehen, daß er ſeine Be-
ſtellung machen kann. — Junge, was liegſt du da
in der Aſche? haſt du zu Hauſe nichts zu thun?“
Der Knabe raffte ſich mit der Miene eines
Verfolgten ſo eilfertig auf, daß ihm alle Glieder
im Wege ſtanden und die Holzſchenvioline bei einem
Haar in’s Feuer gefallen wäre.
„Warte, Johannes,“ ſagte Friedrich ſtolz, „ich
will dir mein halbes Butterbrod geben, es iſt mir
doch zu groß, die Mutter ſchneidet allemal über’s
ganze Brod.“
„Laß doch,“ ſagte Margreth, „er geht ja nach
Hauſe.“
„Ja, aber er bekommt nichts mehr; Ohm
Simon ißt um 7 Uhr.“ Margreth wandte ſich zu
dem Knaben: „Hebt man dir nichts auf? Sprich,
wer ſorgt für dich?“ — „Niemand,“ ſtotterte das
Kind. — „Niemand?“ wiederholte ſie; „da nimm,
nimm!“ fügte ſie heftig hinzu; „du heißt Niemand
und Niemand ſorgt für dich! Das ſei Gott geklagt!
Und nun mach dich fort! Friedrich, geh nicht mit
ihm, hörſt du, geht nicht zuſammen durch’s Dorf.“
[170] — „Ich will ja nur Holz holen aus dem Schup-
pen,“ antwortete Friedrich. — Als beide Knaben
fort waren, warf ſich Margreth auf einen Stuhl
und ſchlug die Hände mit dem Ausdruck des tiefſten
Jammers zuſammen. Ihr Geſicht war bleich wie
ein Tuch. „Ein falſcher Eid, ein falſcher Eid!“
ſtöhnte ſie. „Was iſt’s? Simon, Simon, wie willſt
du vor Gott beſtehen!“
So ſaß ſie eine Weile, ſtarr mit geklemmten
Lippen, wie in völliger Geiſtesabweſenheit. Friedrich
ſtand vor ihr und hatte ſie ſchon zweimal angeredet.
„Was iſt’s? was willſt du?“ rief ſie auffahrend. —
„Ich bringe Euch Geld,“ ſagte er, mehr erſtaunt
als erſchreckt. — „Geld? wo?“ Sie regte ſich und
die kleine Münze fiel klingend auf den Boden.
Friedrich hob ſie auf. — „Geld vom Ohm Simon,
weil ich ihm habe arbeiten helfen. Ich kann mir
nun ſelber was verdienen.“ — „Geld vom Simon?
wirf’s fort, fort! — nein, gib’s den Armen. Doch
nein, behalt’s,“ flüſterte ſie kaum hörbar; „wir ſind
ſelber arm; wer weiß, ob wir bei dem Betteln vor-
beikommen!“ — „Ich ſoll Montag wieder zum
Ohm und ihm bei der Einſaat helfen.“ — „Du
wieder zu ihm? nein, nein, nimmermehr!“ Sie
umfaßte ihr Kind mit Heftigkeit. „Doch,“ fügte ſie
hinzu, und ein Thränenſtrom ſtürzte ihr plötzlich
über die eingefallenen Wangen; „geh, er iſt mein
[171] einziger Bruder, und die Verläumdung iſt groß!
Aber halt Gott vor Augen und vergiß das täg-
liche Gebet nicht!“
Margreth legte das Geſicht an die Mauer und
weinte laut. Sie hatte manche harte Laſt getragen,
ihres Mannes üble Behandlung, noch ſchwerer
ſeinen Tod und es war eine bittere Stunde, als
die Wittwe das letzte Stück Ackerland einem Gläu-
biger zur Nutznießung überlaſſen mußte und der
Pflug vor ihrem Hauſe ſtille ſtand. Aber ſo war
ihr nie zu Muthe geweſen; dennoch, nachdem ſie
einen Abend durchgeweint, eine Nacht durchwacht
hatte, war ſie dahin gekommen, zu denken, ihr
Bruder Simon könne ſo gottlos nicht ſein, der
Knabe gehöre gewiß nicht ihm, Aehnlichkeiten wollen
nichts beweiſen. Hatte ſie doch ſelbſt vor 40 Jahren
ein Schweſterchen verloren, das genau dem fremden
Hechelkrämer glich. Was glaubt man nicht gern,
wenn man ſo wenig hat und durch Unglauben
dies wenige verlieren ſoll!
Von dieſer Zeit an war Friedrich ſelten mehr
zu Hauſe. Simon ſchien alle wärmeren Gefühle,
deren er fähig war, dem Schweſterſohn zugewendet
zu haben; wenigſtens vermißte er ihn ſehr und ließ
nicht nach mit Botſchaften, wenn ein häusliches
Geſchäft ihn auf einige Zeit bei der Mutter hielt.
Der Knabe war ſeitdem wie verwandelt, das träu-
[172] meriſche Weſen gänzlich von ihm gewichen, er trat
feſt auf, fing an, ſein Aeußeres zu beachten und
bald in den Ruf eines hübſchen, gewandten Burſchen
zu kommen. Sein Ohm, der nicht wohl ohne
Projekte leben konnte, unternahm mitunter be-
deutende öffentliche Arbeiten, z. B. beim Wegbau,
wobei Friedrich für einen ſeiner beſten Arbeiter und
überall als ſeine rechte Hand galt; denn obgleich
deſſen Körperkräfte noch nicht ihr volles Maß er-
reicht hatten, kam ihm doch nicht leicht Jemand
an Ausdauer gleich. Margreth hatte bisher ihren
Sohn nur geliebt, jetzt fing ſie an, ſtolz auf ihn
zu werden und ſogar eine Art Hochachtung für
ihn zu fühlen, da ſie den jungen Menſchen ſo
ganz ohne ihr Zuthun ſich entwickeln ſah, ſogar
ohne ihren Rath, den ſie, wie die meiſten Menſchen,
für unſchätzbar hielt und deshalb die Fähigkeiten
nicht hoch genug anzuſchlagen wußte, die eines ſo
koſtbaren Förderungsmittels entbehren konnten.
In ſeinem achtzehnten Jahre hatte Friedrich
ſich bereits einen bedeutenden Ruf in der jungen
Dorfwelt geſichert durch den Ausgang einer Wette,
in Folge deren er einen erlegten Eber über zwei
Meilen weit auf ſeinem Rücken trug, ohne abzu-
ſetzen. Indeſſen war der Mitgenuß des Ruhms
auch ſo ziemlich der einzige Vortheil, den Margreth
aus dieſen günſtigen Umſtänden zog, da Friedrich
[173] immer mehr auf ſein Aeußeres verwandte und all-
mählig anfing, es ſchwer zu verdauen, wenn Geld-
mangel ihn zwang, irgend Jemand im Dorf darin
nachzuſtehen. Zudem waren alle ſeine Kräfte auf
den auswärtigen Erwerb gerichtet; zu Hauſe ſchien
ihm, ganz im Widerſpiel mit ſeinem ſonſtigen Rufe,
jede anhaltende Beſchäftigung läſtig, und er unter-
zog ſich lieber einer harten, aber kurzen Anſtrengung,
die ihm bald erlaubte, ſeinem frühern Hirtenamte
wieder nachzugehen, was bereits begann, ſeinem
Alter unpaſſend zu werden, und ihm gelegentlichen
Spott zuzog, vor dem er ſich aber durch ein paar
derbe Zurechtweiſungen mit der Fauſt Ruhe ver-
ſchaffte. So gewöhnte man ſich daran, ihn bald
geputzt und fröhlich als anerkannten Dorfelegant
an der Spitze des jungen Volkes zu ſehen, bald
wieder als zerlumpten Hirtenbuben einſam und
träumeriſch hinter den Kühen herſchleichend, oder
in einer Waldlichtung liegend, ſcheinbar gedankenlos
und das Moos von den Bäumen rupfend.
Um dieſe Zeit wurden die ſchlummernden Ge-
ſetze doch einigermaßen aufgerüttelt durch eine Bande
von Holzfrevlern, die unter dem Namen der Blau-
kittel alle ihre Vorgänger ſo weit an Liſt und
Frechheit übertraf, daß es dem Langmüthigſten zu
viel werden mußte. Ganz gegen den gewöhnlichen
Stand der Dinge, wo man die ſtärkſten Böcke der
[174] Heerde mit dem Finger bezeichnen konnte, war es
hier trotz aller Wachſamkeit bisher nicht möglich
geweſen, auch nur ein Individuum namhaft zu
machen. Ihre Benennung erhielten ſie von der
ganz gleichförmigen Tracht, durch die ſie das Er-
kennen erſchwerten, wenn etwa ein Förſter noch
einzelne Nachzügler im Dickicht verſchwinden ſah.
Sie verheerten Alles wie die Wanderraupe, ganze
Waldſtrecken wurden in einer Nacht gefällt und
auf der Stelle fortgeſchafft, ſo daß man am andern
Morgen nichts fand, als Späne und wüſte Haufen
von Topholz, und der Umſtand, daß nie Wagen-
ſpuren einem Dorfe zuführten, ſondern immer vom
Fluſſe her und dorthin zurück, bewies, daß man
unter dem Schutz und vielleicht mit dem Beiſtande
der Schiffseigenthümer handelte. In der Bande
mußten ſehr gewandte Spione ſein, denn die Förſter
konnten Wochen lang umſonſt wachen; in der
erſten Nacht, gleichviel, ob ſtürmiſch oder mondhell,
wo ſie vor Uebermüdung nachließen, brach die Zer-
ſtörung ein. Seltſam war es, daß das Landvolk
umher ebenſo unwiſſend und geſpannt ſchien, als
die Förſter ſelber.
Von einigen Dörfern ward mit Beſtimmtheit
geſagt, daß ſie nicht zu den Blaukitteln gehörten,
aber keines konnte als dringend verdächtig bezeichnet
werden, ſeit man das verdächtigſte von allen, das
[175] Dorf B. freiſprechen mußte. Ein Zufall hatte
dies bewirkt, eine Hochzeit, auf der faſt alle Be-
wohner dieſes Dorfes notoriſch die Nacht zugebracht
hatten, während zu eben dieſer Zeit die Blaukittel
eine ihrer ſtärkſten Expeditionen ausführten.
Der Schaden in den Forſten war indeß all-
zugroß, deshalb wurden die Maßregeln dagegen
auf eine bisher unerhörte Weiſe geſteigert; Tag
und Nacht wurde patrouillirt, Oberknechte, Haus-
bediente mit Gewehren verſehen und den Forſtbeamten
zugeſellt. Dennoch war der Erfolg nur gering und
die Wächter hatten oft kaum das eine Ende des
Forſtes verlaſſen, wenn die Blaukittel ſchon zum
andern einzogen. Das währte länger als ein
volles Jahr, Wächter und Blaukittel, Blaukittel
und Wächter, wie Sonne und Mond, immer ab-
wechſelnd im Beſitz des Terrains und nie zu-
ſammentreffend.
Es war im Juli 1756 früh um drei Uhr;
der Mond ſtand klar am Himmel, aber ſein Glanz
fing an zu ermatten und im Oſten zeigte ſich be-
reits ein ſchmaler gelber Streif, der den Horizont
beſäumte und den Eingang einer engen Thalſchlucht
wie mit einem Goldbande ſchloß. Friedrich lag im
Graſe, nach ſeiner gewohnten Weiſe, und ſchnitzelte
an einem Weidenſtabe, deſſen knotigem Ende er die
Geſtalt eines ungeſchlachten Thieres zu geben ver-
[176] ſuchte. Er ſah übermüdet aus, gähnte, ließ mit-
unter ſeinen Kopf an einem verwitterten Stamm-
knorren ruhen und Blicke, dämmeriger als der
Horizont, über den mit Geſtrüpp und Aufſchlag
faſt verwachſenen Eingang des Grundes ſtreifen.
Ein paarmal belebten ſich ſeine Augen und nahmen
den ihnen eigenthümlichen glasartigen Glanz an,
aber gleich nachher ſchloß er ſie wieder halb und
gähnte und dehnte ſich, wie es nur faulen Hirten
erlaubt iſt. Sein Hund lag in einiger Entfernung
nah bei den Kühen, die unbekümmert um die
Forſtgeſetze eben ſo oft den jungen Baumſpitzen
als dem Graſe zuſprachen und in die friſche Mor-
genluft ſchnaubten.
Aus dem Walde drang von Zeit zu Zeit ein
dumpfer, krachender Schall; der Ton hielt nur
einige Sekunden an, begleitet von einem langen
Echo an den Bergwänden und wiederholte ſich etwa
alle 5 bis 8 Minuten. Friedrich achtete nicht
darauf; nur zuweilen, wenn das Getöſe ungewöhn-
lich ſtark oder anhaltend war, hob er den Kopf
und ließ ſeine Blicke langſam über die verſchiedenen
Pfade gleiten, die ihren Ausgang in dem Thal-
grunde fanden.
Es fing bereits ſtark zu dämmern an; die
Vögel begannen leiſe zu zwitſchern und der Thau
ſtieg fühlbar aus dem Grunde. Friedrich war an
[177] dem Stamm hinabgeglitten und ſtarrte, die Arme
über den Kopf verſchlungen in das leiſe einſchleichende
Morgenroth. Plötzlich fuhr er auf: über ſein
Geſicht fuhr ein Blitz, er horchte einige Sekunden
mit vorgebeugtem Oberleib wie ein Jagdhund, dem
die Luft Witterung zuträgt. Dann ſchob er ſchnell
zwei Finger in den Mund und pfiff gellend und
anhaltend. — „Fidel, du verfluchtes Thier!“ Ein
Steinwurf traf die Seite des unbeſorgten Hundes,
der vom Schlafe aufgeſchreckt, zuerſt um ſich biß
und dann heulend auf drei Beinen dort Troſt
ſuchte, von wo das Uebel ausgegangen war.
In demſelben Augenblicke wurden die Zweige
eines nahen Gebüſches faſt ohne Geräuſch zurück-
geſchoben und ein Mann trat heraus, im grünen
Jagdrock, den ſilbernen Wappenſchild am Arm,
die geſpannte Büchſe in der Hand. Er ließ ſchnell
ſeine Blicke über die Schlucht fahren und ſie dann
mit beſonderer Schärfe auf dem Knaben verweilen,
trat dann vor, winkte nach dem Gebüſch, und
allmählig wurden 7 bis 8 Männer ſichtbar, alle
in ähnlicher Kleidung, Waidmeſſer im Gürtel und
die geſpannten Gewehre in der Hand.
„Friedrich, was war das?“ fragte der zuerſt
Erſchienene. — „Ich wollte, daß der Racker auf
der Stelle krepirte. Seinetwegen können die Kühe
12
[178] mir die Ohren vom Kopfe freſſen.“ — „Die
Canaille hat uns geſehen,“ ſagte ein Anderer. —
„Morgen ſollſt du auf die Reiſe mit einem
Stein am Halſe,“ fuhr Friedrich fort und ſtieß
nach dem Hunde. — „Friedrich, ſtell dich nicht an
wie ein Narr! Du kennſt mich und du verſtehſt
mich auch!“ Ein Blick begleitete dieſe Worte, der
ſchnell wirkte. — „Herr Brandes, denkt an meine
Mutter!“ — „Das thu’ ich. Haſt du nichts im
Walde gehört?“ — „Im Walde?“ — Der Knabe
warf einen raſchen Blick auf des Förſters Geſicht.
— „Eure Holzfäller, ſonſt nichts.“ — „Meine
Holzfäller!“
Die ohnehin dunkle Geſichtsfarbe des Förſters
ging in tiefes Braunroth über. „Wie viele ſind
ihrer, und wo treiben ſie ihr Weſen?“ — „Wo-
hin Ihr ſie geſchickt habt; ich weiß es nicht.“ —
Brandes wandte ſich zu ſeinen Gefährten: „Geht
voran; ich komme gleich nach.“
Als einer nach dem andern im Dickicht ver-
ſchwunden war, trat Brandes dicht vor den Knaben:
„Friedrich“, ſagte er mit dem Ton unterdrückter
Wuth, „meine Geduld iſt zu Ende; ich möchte dich
prügeln wie einen Hund, und mehr ſeid ihr auch
nicht werth. Ihr Lumpenpack, dem kein Ziegel
auf dem Dach gehört! Bis zum Betteln habt
ihr es, gottlob, bald gebracht, und an meiner Thür
[179] ſoll deine Mutter, die alte Hexe, keine verſchimmelte
Brodrinde bekommen. Aber vorher ſollt ihr mir
noch Beide in’s Hundeloch.“ Friedrich griff krampf-
haft nach einem Aſte. Er war todtenbleich und
ſeine Augen ſchienen wie Kryſtallkugeln aus dem
Kopfe ſchießen zu wollen. Doch nur einen Augen-
blick. Dann kehrte die größte, an Erſchlaffung
grenzende Ruhe zurück. „Herr,“ ſagte er feſt, mit
faſt ſanfter Stimme, „Ihr habt geſagt, was Ihr
nicht verantworten könnt, und ich vielleicht auch.
Wir wollen es gegen einander aufgehen laſſen, und
nun will ich Euch ſagen, was Ihr verlangt. Wenn
Ihr die Holzfäller nicht ſelbſt beſtellt habt, ſo
müſſen es die Blaukittel ſein; denn aus dem Dorfe
iſt kein Wagen gekommen; ich habe den Weg ja
vor mir, und vier Wagen ſind es. Ich habe ſie
nicht geſehen, aber den Hohlweg hinauffahren hören.“
Er ſtockte einen Augenblick. —
„Könnt Ihr ſagen, daß ich je einen Baum
in Eurem Revier gefällt habe? überhaupt, daß ich
je anderwärts gehauen habe, als auf Beſtellung?
Denkt nach, ob Ihr das ſagen könnt?“
Ein verlegenes Murmeln war die ganze Ant-
wort des Förſters, der nach Art der meiſten rauhen
Menſchen leicht bereute. Er wandte ſich unwirſch
und ſchritt dem Gebüſche zu. — „Nein Herr,“
rief Friedrich, „wenn Ihr zu den andern Förſtern
12*
[180] wollt, die ſind dort an der Buche hinaufgegangen.“
„An der Buche?“ ſagte Brandes zweifelhaft, „nein,
dort hinüber, nach dem Maſtergrunde.“ — „Ich
ſage Euch, an der Buche; des langen Heinrich
Flintenriemen blieb noch am krummen Aſt dort
hängen; ich hab’s ja geſehen!“
Der Förſter ſchlug den bezeichneten Weg ein.
Friedrich hatte die ganze Zeit hindurch ſeine
Stellung nicht verlaſſen, halb liegend, den Arm
um einen dürren Aſt geſchlungen, ſah er dem Fort-
gehenden unverrückt nach, wie er durch den halb-
verwachſenen Steig glitt, mit den vorſichtigen weiten
Schritten ſeines Metiers, ſo geräuſchlos wie ein
Luchs die Hühnerſtiege erklimmt. Hier ſank ein
Zweig hinter ihm, dort einer; die Umriſſe ſeiner
Geſtalt ſchwanden immer mehr. Da blitzte es noch
einmal durch’s Laub. Es war ein Stahlknopf
ſeines Jagdrocks; nun war er fort. Friedrichs
Geſicht hatte während dieſes allmähligen Ver-
ſchwindens den Ausdruck ſeiner Kälte verloren und
ſeine Züge ſchienen zuletzt unruhig bewegt. Gereute
es ihn vielleicht, den Förſter nicht um Verſchweigung
ſeiner Angaben gebeten zu baben? Er ging einige
Schritte voran, blieb dann ſtehen. „Es iſt zu
ſpät,“ ſagte er vor ſich hin und griff nach ſeinem
Hute. Ein leiſes Picken im Gebüſche, nicht zwanzig
Schritte von ihm. Es war der Förſter, der den
[181] Flintenſtein ſchärfte. Friedrich horchte. — „Nein!“
ſagte er dann mit entſchloſſenem Tone, raffte ſeine
Siebenſachen zuſammen und trieb das Vieh eil-
fertig die Schlucht entlang.
Um Mittag ſaß Frau Margreth am Heerd
und kochte Thee. — Friedrich war krank heimge-
kommen, er klagte über heftige Kopfſchmerzen und
hatte auf ihre beſorgte Nachfrage erzählt, wie er
ſich ſchwer geärgert über den Förſter, kurz den
ganzen eben beſchriebenen Vorgang, mit Ausnahme
einiger Kleinigkeiten, die er beſſer fand, für ſich zu
behalten. Margreth ſah ſchweigend und trübe in
das ſiedende Waſſer. Sie war es wohl gewohnt,
ihren Sohn mitunter klagen zu hören, aber heute
kam er ihr ſo angegriffen vor, wie faſt nie. Sollte
wohl eine Krankheit im Anzuge ſein? ſie ſeufzte
tief und ließ einen eben ergriffenen Holzblock fallen.
„Mutter!“ rief Friedrich aus der Kammer. —
„Was willſt du?“ — „War das ein Schuß?“ —
„Ach nein, ich weiß nicht, was du meinſt.“ —
„Es pocht mir wohl nur ſo im Kopfe,“ verſetzte
er. Die Nachbarin trat herein und erzählte mit
leiſem Flüſtern irgend eine unbedeutende Klatſcherei,
die Margreth ohne Theilnahme anhörte. Dann
ging ſie. —
„Mutter!“ rief Friedrich. Margreth ging zu
ihm hinein. „Was erzählte die Hülsmeyer?“ —
[182] „Ach gar nichts, Lügen, Wind!“ — Friedrich
richtete ſich auf. — „Von der Gretchen Siemers;
du weißt ja wohl die alte Geſchichte; und iſt doch
nichts Wahres dran.“ — Friedrich legte ſich wieder
hin. „Ich will ſehen, ob ich ſchlafen kann,“
ſagte er.
Margreth ſaß am Heerde; ſie ſpann und
dachte wenig Erfreuliches. Im Dorfe ſchlug es
halb zwölf; die Thüre klinkte und der Gericht-
ſchreiber Kapp trat herein. —
„Guten Tag, Frau Mergel,“ ſagte er; „könnt
Ihr mir einen Trunk Milch geben? ich komme
von M.“ — Als Frau Mergel das Verlangte
brachte, fragte er: „Wo iſt Friedrich?“ Sie war
gerade beſchäftigt, einen Teller hervorzulangen und
überhörte die Frage. Er trank zögernd und in
kurzen Abſätzen. „Wißt Ihr wohl,“ ſagte er dann,
„daß die Blaukittel in dieſer Nacht wieder im
Maſterholze eine ganze Strecke ſo kahl gefegt haben,
wie meine Hand?“ — „Ei, du frommer Gott!“
verſetzte ſie gleichgültig. — „Die Schandbuben,“
fuhr der Schreiber fort, „ruiniren Alles; wenn ſie
noch Rückſicht nähmen auf das junge Holz, aber
Eichenſtämmchen wie mein Arm dick, wo nicht
einmal eine Ruderſtange drin ſteckt! Es iſt, als
ob ihnen anderer Leute Schaden eben ſo lieb wäre
wie ihr Profit!“ — „Es iſt Schade!“ ſagte
[183] Margreth. Der Amtsſchreiber hatte getrunken und
ging noch immer nicht. Er ſchien etwas auf dem
Herzen zu haben. „Habt Ihr nichts von Brandes
gehört?“ fragte er plötzlich. — „Nichts; er kommt
niemals hier in’s Haus.“ — „So wißt Ihr nicht,
was ihm begegnet iſt?“ — „Was denn?“ fragte
Margreth geſpannt. — „Er iſt todt!“ — „Todt!“
rief ſie, „was, todt? Um Gotteswillen! er ging
ja noch heute Morgen ganz geſund hier vorüber
mit der Flinte auf dem Rücken!“ — „Er iſt todt,“
wiederholte der Schreiber, ſie ſcharf fixirend; „von
den Blaukitteln erſchlagen. Vor einer Viertelſtunde
wurde die Leiche in’s Dorf gebracht.“
Margreth ſchlug die Hände zuſammen. —
„Gott im Himmel, geh’ nicht mit ihm in’s Gericht!
er wußte nicht, was er that!“ — „Mit ihm!“
rief der Amtsſchreiber, „mit dem verfluchten Mörder,
meint Ihr?“ Aus der Kammer drang ein ſchweres
Stöhnen. Margreth eilte hin und der Schreiber
folgte ihr. Friedrich ſaß aufrecht im Bette, das
Geſicht in die Hände gedrückt und ächzte wie ein
Sterbender. — „Friedrich, wie iſt dir?“ ſagte die
Mutter. — „Wie iſt dir?“ wiederholte der Amts-
ſchreiber. — „O mein Leib, mein Kopf!“ jammerte
er. — „Was fehlt ihm?“ — „Ach Gott weiß
es,“ verſetzte ſie; „er iſt ſchon um vier mit den
Kühen heimgekommen, weil ihm ſo übel war. [...]
[184] Friedrich, Friedrich antworte doch, ſoll ich zum
Doctor?“ — „Nein, nein,“ ächzte er, „es iſt nur
Kolik, es wird ſchon beſſer.“
Er legte ſich zurück; ſein Geſicht zuckte krampf-
haft vor Schmerz; dann kehrte die Farbe wieder.
„Geht,“ ſagte er matt; „ich muß ſchlafen, dann
gehts vorüber.“ —
„Frau Mergel,“ ſagte der Amtsſchreiber ernſt,
„iſt es gewiß, daß Friedrich um vier zu Hauſe
kam, und nicht wieder fortging?“ — Sie ſah ihn
ſtarr an. „Fragt jedes Kind auf der Straße.
Und Fortgehen? — wollte Gott, er könnt’ es!“
— Hat er Euch nichts von Brandes erzählt?“ —
„In Gottes Namen, ja, daß er ihn im Walde
geſchimpft und unſere Armuth vorgeworfen hat,
der Lump! — Doch Gott verzeih mir, er iſt todt!
Geht!“ fuhr ſie heftig fort; „ſeid Ihr gekommen,
um ehrliche Leute zu beſchimpfen? Geht!“ —
Sie wandte ſich wieder zu ihrem Sohne; der
Schreiber ging. — „Friedrich, wie iſt dir?“ ſagte
die Mutter; „haſt du wohl gehört? ſchrecklich,
ſchrecklich! ohne Beichte und Abſolution!“ —
„Mutter, Mutter, um Gotteswillen, laß mich
ſchlafen; ich kann nicht mehr!“
In dieſem Augenblicke trat Johannes Niemand
in die Kammer; dünn und lang wie eine Hopfen-
ſtange, aber zerlumpt und ſcheu, wie wir ihn vor
[185] fünf Jahren geſehen. Sein Geſicht war noch
bleicher als gewöhnlich. „Friedrich,“ ſtotterte er,
„du ſollſt ſogleich zum Ohm kommen; er hat
Arbeit für dich; aber ſogleich.“ — Friedrich drehte
ſich gegen die Wand. — „Ich komme nicht,“ ſagte
er barſch, „ich bin krank.“ — „Du mußt aber
kommen,“ keuchte Johannes; „er hat geſagt, ich
müßte dich mitbringen.“ —
Friedrich lachte höhniſch auf: „das will ich
doch ſehen!“ — „Laß ihn in Ruhe, er kann nicht,“
ſeufzte Margreth, „du ſiehſt ja, wie es ſteht.“ —
Sie ging auf einige Minuten hinaus; als ſie
zurückkam, war Friedrich bereits angekleidet. —
„Was fällt dir ein?“ rief ſie, „du kannſt, du
ſollſt nicht gehen!“ — „Was ſein muß, ſchickt ſich
wohl,“ verſetzte er und war ſchon zur Thüre hin-
aus mit Johannes. — „Ach Gott,“ ſeufzte die
Mutter, „wenn die Kinder klein ſind, treten ſie
uns in den Schooß, und wenn ſie groß ſind,
in’s Herz!“
Die gerichtliche Unterſuchung hatte ihren An-
fang genommen, die That lag klar am Tage; über
den Thäter aber waren die Anzeigen ſo ſchwach,
daß, obſchon alle Umſtände die Blaukittel dringend
verdächtigten, man doch nicht mehr als Muth-
maßungen wagen konnte. Eine Spur ſchien Licht
geben zu wollen: doch rechnete man aus Gründen
[186] wenig darauf. Die Abweſenheit des Gutsherrn
hatte den Gerichtſchreiber genöthigt, auf eigene Hand
die Sache einzuleiten. Er ſaß am Tiſche; die
Stube war gedrängt voll von Bauern, theils neu-
gierigen, theils ſolchen, von denen man in Er-
mangelung eigentlicher Zeugen einigen Aufſchluß zu
erhalten hoffte. Hirten, die in derſelben Nacht ge-
hütet, Knechte, die den Acker in der Nähe beſtellt,
Alle ſtanden ſtramm und feſt, die Hände in den
Taſchen, gleichſam als ſtillſchweigende Erklärung,
daß ſie nicht einzuſchreiten geſonnen ſeien.
Acht Forſtbeamten wurden vernommen. Ihre
Ausſagen waren völlig gleichlautend: Brandes habe
ſie am zehnten Abends zur Runde beſtellt, da ihm
von einem Vorhaben der Blaukittel müſſe Kunde
zugekommen ſein; doch habe er ſich nur unbeſtimmt
darüber geäußert. Um zwei Uhr in der Nacht ſeien
ſie ausgezogen und auf manche Spuren der Zer-
ſtörung geſtoßen, die den Oberförſter ſehr übel ge-
ſtimmt; ſonſt ſei Alles ſtill geweſen. Gegen vier
Uhr habe Brandes geſagt: „wir ſind angeführt,
laßt uns heimgehen.“ — Als ſie nun um den
Bremerberg gewendet und zugleich der Wind um-
geſchlagen, habe man deutlich im Maſterholz fällen
gehört und aus der ſchnellen Folge der Schläge
geſchloſſen, daß die Blaukittel am Werk ſeien. Man
habe nun eine Weile berathſchlagt, ob es thunlich
[187] ſei, mit ſo geringer Macht die kühne Bande an-
zugreifen, und ſich dann ohne beſtimmten Entſchluß
dem Schalle langſam genähert. Nun folgte der
Auftritt mit Friedrich. Ferner: nachdem Brandes
ſie ohne Weiſung fortgeſchickt, ſeien ſie eine Weile
vorangeſchritten und dann, als ſie bemerkt, daß
das Getöſe im noch ziemlich weit entfernten Walde
gänzlich aufgehört, ſtille geſtanden, um den Ober-
förſter zu erwarten.
Die Zögerung habe ſie verdroſſen, und nach
etwa zehn Minuten ſeien ſie weiter gegangen und
ſo bis an den Ort der Verwüſtung. Alles ſei
vorüber geweſen, kein Laut mehr im Walde, von
zwanzig gefällten Stämmen noch acht vorhanden,
die übrigen bereits fortgeſchafft. Es ſei ihnen un-
begreiflich, wie man dieſes in’s Werk geſtellt, da
keine Wagenſpuren zu finden geweſen.
Auch habe die Dürre der Jahrszeit und der
mit Fichtennadeln beſtreute Boden keine Fußſtapfen
unterſcheiden laſſen, obgleich der Grund ringsumher
wie feſtgeſtampft war. Da man nun überlegt, daß
es zu nichts nützen könne, den Oberförſter zu er-
warten, ſei man raſch der andern Seite des Waldes
zugeſchritten, in der Hoffnung, vielleicht noch einen
Blick von den Frevlern zu erhaſchen. Hier habe
ſich einem von ihnen beim Ausgange des Waldes
die Flaſchenſchnur in Brombeerranken verſtrickt, und
[188] als er umgeſchaut, habe er etwas im Geſtrüpp
blitzen ſehen; es war die Gurtſchnalle des Ober-
förſters, den man nun hinter den Ranken liegend
fand, grad ausgeſtreckt, die rechte Hand um den
Flintenlauf geklemmt, die andere geballt und die
Stirn von einer Axt geſpalten.
Dies waren die Ausſagen der Förſter; nun
kamen die Bauern an die Reihe, aus denen jedoch
nichts zu bringen war. Manche behaupteten, um
vier Uhr noch zu Hauſe oder anderswo beſchäftigt
geweſen zu ſein, und ſie waren ſämmtlich angeſeſſene,
unverdächtige Leute. Man mußte ſich mit ihren
negativen Zeugniſſen begnügen.
Friedrich ward herein gerufen. Er trat ein
mit einem Weſen, das ſich durchaus nicht von
ſeinem gewöhnlichen unterſchied, weder geſpannt noch
keck. Das Verhör währte ziemlich lange und die
Fragen waren mitunter ziemlich ſchlau geſtellt; er
beantwortete ſie jedoch alle offen und beſtimmt und
erzählte den Vorgang zwiſchen ihm und dem Ober-
förſter ziemlich der Wahrheit gemäß, bis auf das
Ende, das er gerathener fand, für ſich zu behalten.
Sein Alibi zur Zeit des Mordes war leicht er-
wieſen.
Der Förſter lag am Ausgange des Maſter-
holzes; über dreiviertel Stunden Weges von der
Schlucht, in der er Friedrich um vier Uhr ange-
[189] redet und aus der dieſer ſeine Heerde ſchon zehn
Minuten ſpäter in’s Dorf getrieben. Jedermann
hatte dies geſehen; alle anweſenden Bauern be-
eiferten ſich, es zu bezeugen; mit dieſem hatte er
geredet, jenem zugenickt.
Der Gerichtsſchreiber ſaß unmuthig und ver-
legen da. Plötzlich fuhr er mit der Hand hinter
ſich und brachte etwas Blinkendes vor Friedrichs
Auge. „Wem gehört dies?“ — Friedrich ſprang
drei Schritt zurück. „Herr Jeſus! ich dachte Ihr
wolltet mir den Schädel einſchlagen.“ Seine Augen
waren raſch über das tödtliche Werkzeug gefahren
und ſchienen momentan auf einem ausgebrochenen
Splitter am Stiele zu haften. „Ich weiß es nicht,“
ſagte er feſt. — Es war die Axt, die man in dem
Schädel des Oberförſters eingeklammert gefunden
hatte. — „Sieh ſie genau an,“ fuhr der Gerichts-
ſchreiber fort. Friedrich faßte ſie mit der Hand,
beſah ſie oben, unten, wandte ſie um. „Es iſt
eine Axt wie andere,“ ſagte er dann und legte ſie
gleichgültig auf den Tiſch. Ein Blutfleck ward
ſichtbar; er ſchien zu ſchaudern, aber er wiederholte
noch einmal ſehr beſtimmt: „Ich kenne ſie nicht.“
Der Gerichtsſchreiber ſeufzte vor Unmuth. Er ſelbſt
wußte um nichts mehr, und hatte nur einen Ver-
ſuch zu möglicher Entdeckung durch Ueberraſchung
[190] machen wollen. Es blieb nichts übrig, als das
Verhör zu ſchließen.
Denjenigen, die vielleicht auf den Ausgang
dieſer Begebenheit geſpannt ſind, muß ich ſagen,
daß dieſe Geſchichte nie aufgeklärt wurde, obwohl
noch viel dafür geſchah und dieſem Verhöre mehrere
folgten. Den Blaukitteln ſchien durch das Auf-
ſehen, das der Vorgang gemacht und die darauf
folgenden geſchärften Maßregeln der Muth genommen;
ſie waren von nun an wie verſchwunden, und ob-
gleich ſpäterhin noch mancher Holzfrevler erwiſcht
wurde, fand man doch nie Anlaß, ihn der be-
rüchtigten Bande zuzuſchreiben. Die Axt lag zwanzig
Jahre nachher als unnützes corpus delicti im
Gerichtsarchiv, wo ſie wohl noch jetzt ruhen mag
mit ihren Roſtflecken. Es würde in einer erdichteten
Geſchichte Unrecht ſein, die Neugier des Leſers ſo
zu täuſchen. Aber dies Alles hat ſich wirklich zu-
getragen; ich kann nichts davon oder dazu thun.
Am nächſten Sonntage ſtand Friedrich ſehr
früh auf, um zur Beichte zu gehen. Es war Mariä
Himmelfahrt und die Pfarrgeiſtlichen ſchon vor
Tagesanbruch im Beichtſtuhle.
Nachdem er ſich im Finſtern angekleidet, ver-
ließ er ſo geräuſchlos wie möglich den engen Ver-
ſchlag, der ihm in Simons Hauſe eingeräumt war.
In der Küche mußte ſein Gebetbuch auf dem
[191] Sims liegen und er hoffte, es mit Hülfe des
ſchwachen Mondlichtes zu finden; es war nicht da.
Er warf die Augen ſuchend umher und fuhr zu-
ſammen; in der Kammerthür ſtand Simon, faſt
unbekleidet, ſeine dürre Geſtalt, ſein ungekämmtes,
wirres Haar und die vom Mondſchein verurſachte
Bläſſe des Geſichts gaben ihm ein ſchauerlich ver-
ändertes Anſehen. „Sollte er nachtwandeln?“
dachte Friedrich, und verhielt ſich ganz ſtill. —
„Friedrich, wohin?“ flüſterte der Alte. — „Ohm,
ſeid Ihr’s? ich will beichten gehen.“ — „Das
dacht ich mir; geh’ in Gottes Namen, aber beichte
wie ein guter Chriſt.“ — „Das will ich,“ ſagte
Friedrich. — „Denk an die zehn Gebote: du ſollſt
kein Zeugniß ablegen gegen deinen Nächſten.“ —
„Kein falſches!“ — „Nein, gar keines; du biſt
ſchlecht unterrichtet; wer einen andern in der Beichte
anklagt, der empfängt das Sakrament unwürdig.“
Beide ſchwiegen. — „Ohm, wie kommt Ihr
darauf?“ ſagte Friedrich dann; „Eu’r Gewiſſen iſt
nicht rein; Ihr habt mich belogen.“ — „Ich?
ſo?“ — „Wo iſt Eure Axt?“ — „Meine Axt?
auf der Tenne.“ — „Habt Ihr einen neuen Stiel
hinein gemacht? wo iſt der alte?“ — „Den kannſt
du heute bei Tage im Holzſchuppen finden.“
„Geh,“ fuhr er verächtlich fort, „ich dachte
du ſeieſt ein Mann; aber du biſt ein altes Weib,
[192] das gleich meint das Haus brenne, wenn ihr Feuer-
topf raucht. Sieh,“ fuhr er fort, „wenn ich mehr
von der Geſchichte weiß, als der Thürpfoſten da,
ſo will ich ewig nicht ſelig werden. Längſt war ich
zu Haus,“ fügte er hinzu. — Friedrich ſtand be-
klemmt und zweifelnd. Er hätte viel darum ge-
geben, ſeines Ohms Geſicht ſehen zu können. Aber
während ſie flüſterten, hatte der Himmel ſich bewölkt.
„Ich habe ſchwere Schuld,“ ſeufzte Friedrich,
„daß ich ihn den unrechten Weg geſchickt — ob-
gleich — doch, dies hab ich nicht gedacht, nein,
gewiß nicht. Ohm, ich habe Euch ein ſchweres Ge-
wiſſen zu danken.“ — „So geh, beicht!“ flüſterte
Simon mit bebender Stimme; „verunehre das Sa-
crament durch Angeberei und ſetze armen Leuten
einen Spion auf den Hals, der ſchon Wege finden
wird, ihnen das Stückchen Brod aus den Zähnen
zu reißen, wenn er gleich nicht reden darf — geh!“
Friedrich ſtand unſchlüſſig; er hörte ein leiſes
Geräuſch; die Wolken verzogen ſich, das Mondlicht
fiel wieder auf die Kammerthür: ſie war geſchloſſen.
Friedrich ging an dieſem Morgen nicht zur Beichte.
Der Eindruck, den dieſer Vorfall auf Friedrich
gemacht, erloſch leider nur zu bald. Wer zweifelt
daran, daß Simon Alles that, ſeinen Adoptivſohn
dieſelben Wege zu leiten, die er ſelber ging? Und
in Friedrich lagen Eigenſchaften, die dies nur zu
[193] ſehr erleichterten: Leichtſinn, Erregbarkeit, und vor
Allem ein grenzenloſer Hochmuth, der nicht immer
den Schein verſchmähte, und dann Alles daran
ſetzte, durch Wahrmachung des Uſurpirten möglicher
Beſchämung zu entgehen. Seine Natur war nicht
unedel, aber er gewöhnte ſich, die innere Schande
der äußern vorzuziehen. Man darf nur ſagen, er
gewöhnte ſich zu prunken, während ſeine Mutter
darbte.
Dieſe unglückliche Wendung ſeines Charakters
war indeſſen das Werk mehrerer Jahre, in denen
man bemerkte, daß Margreth immer ſtiller über ihren
Sohn ward und allmählich in einen Zuſtand der
Verkommenheit verſank, den man früher bei ihr für
unmöglich gehalten hätte. Sie wurde ſcheu, ſaum-
ſelig, ſogar unordentlich, und Manche meinten, ihr
Kopf habe gelitten. Friedrich ward deſto lauter; er
verſäumte keine Kirchweih oder Hochzeit, und da ein
ſehr empfindliches Ehrgefühl ihn die geheime Miß-
billigung Mancher nicht überſehen ließ, war er gleich-
ſam unter Waffen, der öffentlichen Meinung nicht
ſowohl Trotz zu bieten, als ſie den Weg zu leiten,
der ihm gefiel. Er war äußerlich ordentlich, nüch-
tern, anſcheinend treuherzig, aber liſtig, prahleriſch
und oft roh, ein Menſch, an dem Niemand Freude
haben konnte, am wenigſten ſeine Mutter, und der
dennoch durch ſeine gefürchtete Kühnheit und noch
13
[194] mehr gefürchtete Tücke ein gewiſſes Uebergewicht im
Dorfe erlangt hatte, das um ſo mehr anerkannt
wurde, je mehr man ſich bewußt war, ihn nicht zu
kennen und nicht berechnen zu können, weſſen er
am Ende fähig ſei. Nur ein Burſch im Dorfe,
Wilm Hülsmeyer, wagte im Bewußtſein ſeiner Kraft
und guter Verhältniſſe ihm die Spitze zu bieten;
und da er gewandter in Worten war, als Friedrich,
und immer, wenn der Stachel ſaß, einen Scherz
daraus zu machen wußte, ſo war dies der Einzige,
mit dem Friedrich ungern zuſammentraf.
Vier Jahre waren verfloſſen; es war im Oc-
tober; der milde Herbſt von 1760, der alle Scheunen
mit Korn und alle Keller mit Wein füllte, hatte
ſeinen Reichthum auch über dieſen Erdwinkel ſtrömen
laſſen, und man ſah mehr Betrunkene, hörte von
mehr Schlägereien und dummen Streichen, als je.
Ueberall gab’s Luſtbarkeiten; der blaue Montag kam
in Aufnahme, und wer ein paar Thaler erübrigt
hatte, wollte gleich eine Frau dazu, die ihm heute
eſſen und morgen hungern helfen könne. Da gab
es im Dorfe eine tüchtige, ſolide Hochzeit, und die
Gäſte durften mehr erwarten, als eine verſtimmte
Geige, ein Glas Branntwein und was ſie an guter
Laune ſelber mitbrachten. Seit früh war Alles auf
den Beinen; vor jeder Thüre wurden Kleider ge-
lüftet, und B. glich den ganzen Tag einer Trödel-
[195] bude. Da viele Auswärtige erwartet wurden, wollte
Jeder gern die Ehre des Dorfes oben halten.
Es war 7 Uhr Abends und Alles in vollem
Gange; Jubel und Gelächter an allen Enden, die
niedern Stuben zum Erſticken angefüllt mit blauen,
rothen und gelben Geſtalten, gleich Pfandſtällen, in
denen eine zu große Heerde eingepfercht iſt. Auf
der Tenne ward getanzt, das heißt, wer zwei Fuß
Raum erobert hatte, drehte ſich darauf immer rund
um und ſuchte durch Jauchzen zu erſetzen, was an
Bewegung fehlte. Das Orcheſter war glänzend, die
erſte Geige als anerkannte Künſtlerin prädominirt
die zweite und eine große Baßviole mit drei Saiten
von Dilettanten ad libitum geſtrichen; Branntwein
und Kaffee im Ueberfluſſe, alle Gäſte von Schweiß
triefend; kurz, es war ein köſtliches Feſt.
Friedrich ſtolzirte umher wie ein Hahn, im
neuen himmelblauen Rock, und machte ſein Recht
als erſter Elegant geltend. Als auch die Gutsherr-
ſchaft anlangte, ſaß er gerade hinter der Baßgeige
und ſtrich die tiefſte Saite mit großer Kraft und
vielem Anſtand.
„Johannes!“ rief er gebieteriſch, und heran
trat ſein Schützling von dem Tanzplatze, wo er
auch ſeine ungelenken Beine zu ſchlenkern und eins
zu jauchzen verſucht hatte. Friedrich reichte ihm den
Bogen, gab durch eine ſtolze Kopfbewegung ſeinen
13*
[196] Willen zu erkennen und trat zu den Tanzenden.
„Nun luſtig, Muſikanten: den Papen van Iſtrup!“
Der beliebte Tanz ward geſpielt und Friedrich
machte Sätze vor den Augen ſeiner Herrſchaft, daß
die Kühe an der Tenne die Hörner zurückzogen und
Kettengeklirr und Gebrumme an ihren Ständern
herlief. Fußhoch über die Andern tauchte ſein blonder
Kopf auf und nieder, wie ein Hecht, der ſich im
Waſſer überſchlägt; an allen Enden ſchrieen Mäd-
chen auf, denen er zum Zeichen der Huldigung mit
einer raſchen Kopfbewegung ſein langes Flachshaar
in’s Geſicht ſchleuderte.
„Jetzt iſt es gut!“ ſagte er endlich und trat
ſchweißtriefend an den Kredenztiſch; „die gnädigen
Herrſchaften ſollen leben und alle die hochadeligen
Prinzen und Prinzeſſinnen, und wer’s nicht mit-
trinkt, den will ich an die Ohren ſchlagen, daß er
die Engel ſingen hört!“ Ein lautes Vivat beant-
wortete den galanten Toaſt. — Friedrich machte
ſeinen Bückling. — „Nichts für ungut, gnädige
Herrſchaften; wir ſind nur ungelehrte Bauers-
leute!“
In dieſem Augenblick erhob ſich ein Getümmel
am Ende der Tenne, Geſchrei, Schelten, Gelächter,
alles durcheinander. „Butterdieb, Butterdieb!“ riefen
ein paar Kinder, und heran drängte ſich, oder viel-
mehr ward geſchoben, Johannes Niemand, den Kopf
[197] zwiſchen die Schultern ziehend und mit aller Macht
nach dem Ausgange ſtrebend. — „Was iſt’s? was
habt ihr mit unſerm Johannes?“ rief Friedrich
gebieteriſch.
„Das ſollt Ihr früh genug gewahr werden,“
keuchte ein altes Weib mit der Küchenſchürze und
einem Wiſchhader in der Hand. — Schande! Jo-
hannes, der arme Teufel, dem zu Hauſe das Schlech-
teſte gut genug ſein mußte, hatte verſucht, ſich ein
halbes Pfündchen Butter für die kommende Dürre
zu ſichern, und ohne daran zu denken, daß er es,
ſauber in ſein Schnupftuch gewickelt, in der Taſche
geborgen, war er an’s Küchenfeuer getreten und nun
rann das Fett ſchmählich die Rockſchöße entlang.
Allgemeiner Aufruhr; die Mädchen ſprangen zu-
rück, aus Furcht, ſich zu beſchmutzen, oder ſtießen den
Delinquenten vorwärts. Andere machten Platz, ſo-
wohl aus Mitleid als Vorſicht. Aber Friedrich trat
vor: „Lumpenhund!“ rief er; ein paar derbe Maul-
ſchellen trafen den geduldigen Schützling; dann ſtieß
er ihn an die Thür und gab ihm einen tüchtigen
Fußtritt mit auf den Weg. Er kehrte niederge-
ſchlagen zurück; ſeine Würde war verletzt, das all-
gemeine Gelächter ſchnitt ihm durch die Seele, ob
er ſich gleich durch einen tapfern Juchheſchrei wieder
in den Gang zu bringen ſuchte — es wollte nicht
mehr recht gehen. Er war im Begriff, ſich wieder
[198] hinter die Baßviole zu flüchten; doch zuvor noch ein
Knalleffekt: er zog ſeine ſilberne Taſchenuhr hervor,
zu jener Zeit ein ſeltener und koſtbarer Schmuck.
„Es iſt bald zehn,“ ſagte er. „Jetzt den Braut-
menuet! ich will Muſik machen.“
„Eine prächtige Uhr!“ ſagte der Schweinehirt
und ſchob ſein Geſicht in ehrfurchtsvoller Neu-
gier vor.
„Was hat ſie gekoſtet?“ rief Wilm Hüls-
meyer, Friedrichs Nebenbuhler. — „Willſt du ſie
bezahlen?“ fragte Friedrich. — „Haſt du ſie be-
zahlt?“ antwortete Wilm. Friedrich warf einen
ſtolzen Blick auf ihn und griff in ſchweigender Ma-
jeſtät zum Fidelbogen. — „Nun, nun,“ ſagte
Hülsmeyer, „dergleichen hat man erlebt. Du weißt
wohl, der Franz Ebel hatte auch eine ſchöne Uhr,
bis der Jude Aaron ſie ihm wieder abnahm.“ —
Friedrich antwortete nicht, ſondern winkte ſtolz der
erſten Violine, und ſie begannen aus Leibeskräften
zu ſtreichen.
Die Gutsherrſchaft war indeſſen in die Kammer
getreten, wo der Braut von den Nachbarfrauen das
Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde,
umgelegt wurde. Das junge Blut weinte ſehr,
theils weil es die Sitte ſo wollte, theils aus wahrer
Beklemmung. Sie ſollte einem verworrenen Haus-
halt vorſtehen, unter den Augen eines mürriſchen
[199] alten Mannes, den ſie noch obendrein lieben ſollte.
Er ſtand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräu-
tigam des hohen Liedes, der „in die Kammer tritt
wie die Morgenſonne.“ — „Du haſt nun genug
geweint,“ ſagte er verdrießlich; „bedenk, du biſt es
nicht, die mich glücklich macht, ich mache dich glück-
lich!“ — Sie ſah demüthig zu ihm auf, und ſchien
zu fühlen, daß er Recht habe. — Das Geſchäft
war beendigt; die junge Frau hatte ihrem Manne
zugetrunken, junge Spaßvögel hatten durch den
Dreifuß geſchaut, ob die Binde gerade ſitze, und
man drängte ſich wieder der Tenne zu, von wo
unauslöſchliches Gelächter und Lärm herüberſchallte.
Friedrich war nicht mehr dort. Eine große, uner-
trägliche Schmach hatte ihn getroffen, da der Jude
Aaron, ein Schlächter und gelegentlicher Althändler
aus dem nächſten Städtchen, plötzlich erſchienen war,
und nach einem kurzen, unbefriedigenden Zwiegeſpräch
ihn laut vor allen Leuten um den Betrag von
zehn Thalern für eine ſchon um Oſtern gelieferte
Uhr gemahnt hatte. Friedrich war wie vernichtet
fortgegangen und der Jude ihm gefolgt, immer
ſchreiend: „O weh mir! warum hab’ ich nicht gehört
auf vernünftige Leute! Haben ſie mir nicht hun-
dertmal geſagt, Ihr hättet all Eu’r Gut am Leibe
und kein Brod im Schranke!“ — Die Tenne tobte
von Gelächter; manche hatten ſich auf den Hof
[200] nachgedrängt. — „Packt den Juden! wiegt ihn
gegen ein Schwein!“ riefen Einige; Andere waren
ernſt geworden. — „Der Friedrich ſah ſo blaß aus
wie ein Tuch,“ ſagte eine alte Frau, und die Menge
theilte ſich, wie der Wagen des Gutsherrn in den
Hof lenkte. Herr von S. war auf dem Heimwege
verſtimmt, die jedesmalige Folge, wenn der Wunſch,
ſeine Popularität aufrecht zu erhalten, ihn bewog,
ſolchen Feſten beizuwohnen. Er ſah ſchweigend aus
dem Wagen. „Was ſind denn das für ein paar
Figuren?“ — Er deutete auf zwei dunkle Geſtalten,
die vor dem Wagen rannten wie Strauße. Nun
ſchlüpften ſie in’s Schloß. — „Auch ein paar ſelige
Schweine aus unſerm eigenen Stall!“ ſeufzte Herr
von S. — Zu Hauſe angekommen, fand er die Haus-
flur vom ganzen Dienſtperſonal eingenommen, das
zwei Kleinknechte umſtand, welche ſich blaß und
athemlos auf der Stiege niedergelaſſen hatten. Sie
behaupteten, von des alten Mergels Geiſt verfolgt
worden zu ſein, als ſie durch’s Brederholz heim-
kehrten. Zuerſt hatte es über ihnen an der Höhe
gerauſcht und gekniſtert; darauf hoch in der Luft
ein Geklapper, wie von aneinander ſchlagenden
Stöcken; plötzlich ein gellender Schrei und ganz
deutlich die Worte: „O weh, meine arme Seele!“
hoch von oben herab. Der Eine wollte auch glü-
hende Augen durch die Zweige funkeln geſehen haben,
[201] und Beide waren gelaufen, was ihre Beine ver-
mochten.
„Dummes Zeug!“ ſagte der Gutsherr ver-
drießlich und trat in die Kammer, ſich umzukleiden.
Am andern Morgen wollte die Fontaine im Garten
nicht ſpringen, und es fand ſich, daß Jemand eine
Röhre verrückt hatte, augenſcheinlich um nach dem
Kopfe eines vor vielen Jahren hier verſcharrten
Pferdegerippes zu ſuchen, der für ein bewährtes
Mittel wider allen Hexen- und Geiſterſpuck gilt.
„Hm,“ ſagte der Gutsherr, „was die Schelme nicht
ſtehlen, das verderben die Narren.“
Drei Tage ſpäter tobte ein furchtbarer Sturm.
Es war Mitternacht, aber Alles im Schloſſe außer
dem Bett. Der Gutsherr ſtand am Fenſter und
ſah beſorgt in’s Dunkle, nach ſeinen Feldern hin-
über. An den Scheiben flogen Blätter und Zweige
her; mitunter fuhr ein Ziegel hinab und ſchmetterte
auf das Pflaſter des Hofes. „Furchtbares Wetter!“
ſagte Herr von S. Seine Frau ſah ängſtlich aus.
„Iſt das Feuer auch gewiß gut verwahrt?“ ſagte
ſie; „Gretchen, ſieh noch einmal nach, gieß es lieber
ganz aus! Kommt, wir wollen das Evangelium
Johannis beten.“ Alles kniete nieder und die Haus-
frau begann:
„Im Anfang war das Wort und das Wort
war bei Gott und Gott war das Wort.“ — Ein
[202] furchtbarer Donnerſchlag. Alle fuhren zuſammen;
dann furchtbares Geſchrei und Getümmel die Treppe
heran. — „Um Gotteswillen! brennt es?“ rief
Frau von S. und ſank mit dem Geſichte auf den
Stuhl. Die Thüre ward aufgeriſſen und herein
ſtürzte die Frau des Juden Aaron, bleich wie der
Tod, das Haar wild um den Kopf, von Regen
triefend. Sie warf ſich vor dem Gutsherrn auf
die Kniee. „Gerechtigkeit!“ rief ſie, „Gerechtigkeit!
mein Mann iſt erſchlagen!“ und ſank ohnmächtig
zuſammen.
Es war nur zu wahr, und die nachfolgende
Unterſuchung bewies, daß der Jude Aaron durch
einen Schlag an die Schläfe mit einem ſtumpfen
Inſtrumente, wahrſcheinlich einem Stabe, ſein Leben
verloren hatte durch einen einzigen Schlag. An
der linken Schläfe war der blaue Fleck, ſonſt keine
Verletzung zu finden. Die Ausſagen der Jüdin
und ihres Knechtes Samuel lauteten ſo: Aaron war
vor drei Tagen am Nachmittage ausgegangen, um
Vieh zu kaufen, und hatte dabei geſagt, er werde
wohl über Nacht ausbleiben, da noch einige böſe
Schuldner in B. und S. zu mahnen ſeien. In
dieſem Falle werde er in B. beim Schlachter Sa-
lomon übernachten. Als er am folgenden Tage nicht
heimkehrte, war ſeine Frau ſehr beſorgt geworden
und hatte ſich endlich um drei Uhr Nachmittags in
[203] Begleitung ihres Knechtes und des großen Schlächter-
hundes auf den Weg gemacht. Beim Juden Sa-
lomon wußte man nichts von Aaron; er war gar
nicht da geweſen. Nun waren ſie zu allen Bauern
gegangen, von denen ſie wußten, daß Aaron einen
Handel mit ihnen im Auge hatte.
Nur zwei hatten ihn geſehen, und zwar an
demſelben Tage, an welchem er ausgegangen. Es
war darüber ſehr ſpät geworden. Die große Angſt
trieb das Weib nach Haus, wo ſie ihren Mann
wiederzufinden eine ſchwache Hoffnung nährte. So
waren ſie im Brederholz vom Gewitter überfallen
worden und hatten unter einer großen, am Berg-
hange ſtehenden Buche Schutz geſucht; der Hund
hatte unterdeſſen auf eine auffallende Weiſe umher-
geſtöbert und ſich endlich, trotz allem Locken, im
Walde verlaufen. Mit einem Male ſieht die Frau
beim Leuchten des Blitzes etwas Weißes neben ſich
im Mooſe. Es iſt der Stab ihres Mannes, und
faſt im ſelben Augenblicke bricht der Hund durch’s
Gebüſch und trägt etwas im Maule: es iſt der
Schuh ihres Mannes. Nicht lange, ſo iſt in einem
mit dürrem Laube gefüllten Graben der Leichnam
des Juden gefunden.
Dies war die Angabe des Knechtes, von der
Frau nur im Allgemeinen unterſtützt; ihre über-
große Spannung hatte nachgelaſſen und ſie ſchien
[204] jetzt halb verwirrt oder vielmehr ſtumpfſinnig.
„Aug’ um Auge, Zahn um Zahn!“ dies waren die
einzigen Worte, die ſie zuweilen hervorſtieß.
In derſelben Nacht noch wurden die Schützen
aufgeboten, um Friedrich zu verhaften. Der Anklage
bedurfte es nicht, da Herr von S. ſelbſt Zeuge eines
Auftritts geweſen war, der den dringendſten Ver-
dacht auf ihn werfen mußte; zudem die Geſpenſter-
geſchichte von jenem Abende, das Aneinanderſchlagen
der Stäbe im Brederholz, der Schrei aus der Höhe.
Da der Amtsſchreiber gerade abweſend war, ſo be-
trieb Herr von S. ſelbſt alles raſcher, als ſonſt
geſchehen wäre. Dennoch begann die Dämmerung
bereits anzubrechen, bevor die Schützen ſo geräuſchlos
wie möglich das Haus der armen Margreth um-
ſtellt hatten. Der Gutsherr ſelber pochte an; es
währte kaum eine Minute, bis geöffnet ward und
Margreth völlig angekleidet in der Thüre erſchien.
Herr von S. fuhr zurück; er hatte ſie faſt nicht
erkannt, ſo blaß und ſteinern ſah ſie aus. „Wo
iſt Friedrich?“ fragte er mit unſicherer Stimme.
„Sucht ihn,“ antwortete ſie und ſetzte ſich auf
einen Stuhl. Der Gutsherr zögerte noch einen
Augenblick.
„Herein, herein!“ ſagte er dann barſch;
„worauf warten wir?“ Man trat in Friedrichs
Kammer. Er war nicht da, aber das Bett noch
[205] warm. Man ſtieg auf den Söller, in den Keller,
ſtieß in’s Stroh, ſchaute hinter jedes Faß, ſogar in
den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in
den Garten, ſahen hinter den Zaun und in die
Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.
„Entwiſcht!“ ſagte der Gutsherr mit ſehr ge-
miſchten Gefühlen: der Anblick der alten Frau
wirkte gewaltig auf ihn. „Gebt den Schlüſſel zu
jenem Koffer.“ — Margreth antwortete nicht. —
„Gebt den Schlüſſel!“ wiederholte der Gutsherr,
und merkte jetzt erſt, daß der Schlüſſel ſteckte. Der
Inhalt des Koffers kam zum Vorſchein; des Ent-
flohenen gute Sonntagskleider und ſeiner Mutter
ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit
ſchwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das
andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war
tief erſchüttert. Ganz zu unterſt auf dem Boden
des Koffers lag die ſilberne Uhr und einige Schrif-
ten von ſehr leſerlicher Hand, eine derſelben von
einem Manne unterzeichnet, den man in ſtarkem
Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte.
Herr von S. nahm ſie mit zur Durchſicht, und
man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein
anderes Lebenszeichen von ſich gegeben hätte, als
daß ſie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den
Augen zwinkerte.
Im Schloſſe angelangt, fand der Gutsherr
[206] den Amtsſchreiber, der ſchon am vorigen Abend
heimgekommen war und behauptete, die ganze Ge-
ſchichte verſchlafen zu haben, da der gnädige Herr
nicht nach ihm geſchickt.
„Sie kommen immer zu ſpät,“ ſagte Herr
von S. verdrießlich. „War denn nicht irgend ein
altes Weib im Dorfe, das Ihrer Magd die Sache
erzählte? und warum weckte man Sie dann nicht?“
„Gnädiger Herr,“ verſetzte Kapp, „allerdings hat
meine Anne Marie den Handel um eine Stunde
früher erfahren als ich; aber ſie wußte, daß Ihre
Gnaden die Sache ſelbſt leiteten, und dann,“ fügte
er mit klagender Miene hinzu, „daß ich ſo todtmüde
war!“ — „Schöne Polizei!“ murmelte der Guts-
herr, „jede alte Schachtel im Dorf weiß Beſcheid,
wenn es recht geheim zugehen ſoll.“ Dann fuhr
er heftig fort: „Das müßte wahrhaftig ein dummer
Teufel von Delinquenten ſein, der ſich packen
ließe!“
Beide ſchwiegen eine Weile. „Mein Fuhrmann
hatte ſich in der Nacht verirrt,“ hob der Amts-
ſchreiber wieder an; „über eine Stunde lang hielten
wir im Walde; es war ein Mordwetter; ich dachte,
der Wind werde den Wagen umreißen. Endlich,
als der Regen nachließ, fuhren wir in Gottes Namen
darauf los, immer in das Zellerfeld hinein, ohne
eine Hand vor den Augen zu ſehen. Da ſagte der
[207] Kutſcher: „wenn wir nur nicht den Steinbrüchen
zu nahe kommen!“ Mir war ſelbſt bange; ich ließ
halten und ſchlug Feuer, um wenigſtens etwas Un-
terhaltung an meiner Pfeife zu haben. Mit einem
Male hörten wir ganz nah, perpendicular unter uns
die Glocke ſchlagen. Ew. Gnaden mögen glauben,
daß mir fatal zu Muth wurde. Ich ſprang aus
dem Wagen, denn ſeinen eigenen Beinen kann man
trauen, aber denen der Pferde nicht. So ſtand ich,
in Koth und Regen, ohne mich zu rühren, bis es
Gottlob ſehr bald anfing zu dämmern. Und wo
hielten wir? dicht an der Heerſer Tiefe und den
Thurm von Heerſe gerade unter uns. Wären wir
noch zwanzig Schritte weiter gefahren, wir wären
alle Kinder des Todes geweſen.“ — „Das war in
der That kein Spaß,“ verſetzte der Gutsherr, halb
verſöhnt.
Er hatte unterdeſſen die mitgenommenen Pa-
piere durchgeſehen. Es waren Mahnbriefe um ge-
liehene Gelder, die meiſten von Wucherern. „Ich
hatte nicht gedacht,“ murmelte er, „daß die Mergels
ſo tief drin ſteckten.“ — „Ja, und daß es ſo an
den Tag kommen muß,“ verſetzte Kapp; „das wird
kein kleiner Aerger für Frau Margreth ſein.“ —
„Ach Gott, die denkt jetzt daran nicht!“ Mit dieſen
Worten ſtand der Gutsherr auf und verließ das
Zimmer, um mit Herrn Kapp die gerichtliche Leichen-
[208] ſchau vorzunehmen. — Die Unterſuchung war kurz,
gewaltſamer Tod erwieſen, der vermuthliche Thäter
entflohen, die Anzeigen gegen ihn zwar gravirend,
doch ohne perſönliches Geſtändniß nicht beweiſend,
ſeine Flucht allerdings ſehr verdächtig. So mußte
die gerichtliche Verhandlung ohne genügenden Erfolg
geſchloſſen werden.
Die Juden der Umgegend hatten großen An-
theil gezeigt. Das Haus der Wittwe ward nie
leer von Jammernden und Rathenden.
Seit Menſchengedenken waren nicht ſo viel
Juden beiſammen in L. geſehen worden.
Durch den Mord ihres Glaubensgenoſſen
auf’s Aeußerſte erbittert, hatten ſie weder Mühe
noch Geld geſpart, dem Thäter auf die Spur zu
kommen. Man weiß ſogar, daß einer derſelben,
gemeinhin der Wucherjoel genannt, einem ſeiner
Kunden, der ihm mehrere Hunderte ſchuldete und
den er für einen beſonders liſtigen Kerl hielt, Erlaß
der ganzen Summe angeboten hatte, falls er ihm
zur Verhaftung des Mergel verhelfen wolle; denn
der Glaube war allgemein unter den Juden, daß
der Thäter nur mit guter Beihülfe entwiſcht und
wahrſcheinlich noch in der Umgegend ſei. Als
dennoch Alles nichts half und die gerichtliche Ver-
handlung für beendet erklärt worden war, erſchien
am nächſten Morgen eine Anzahl der angeſehenſten
[209] Iſraeliten im Schloſſe, um dem gnädigen Herrn
einen Handel anzutragen. Der Gegenſtand war
die Buche, unter der Arons Stab gefunden und
wo der Mord wahrſcheinlich verübt worden war. —
„Wollt ihr ſie fällen? ſo mitten im vollen Laube?“
fragte der Gutsherr.
„Nein, Ihro Gnaden, ſie muß ſtehen bleiben
im Winter und Sommer, ſo lange ein Span
daran iſt.“ — „Aber, wenn ich nun den Wald
hauen laſſe, ſo ſchadet es dem jungen Aufſchlag.“ —
„Wollen wir ſie doch nicht um gewöhnlichen Preis.“
Sie boten 200 Thaler. Der Handel ward ge-
ſchloſſen und allen Förſtern ſtreng eingeſchärft, die
Judenbuche auf keine Weiſe zu ſchädigen.
Darauf ſah man an einem Abende wohl
gegen ſechszig Juden, ihren Rabbiner an der Spitze,
in das Brederholz ziehen, alle ſchweigend und mit
geſenkten Augen.
Sie blieben über eine Stunde im Walde und
kehrten dann ebenſo ernſt und feierlich zurück, durch
das Dorf B. bis in das Zellerfeld, wo ſie ſich
zerſtreuten und Jeder ſeines Weges ging.
Am nächſten Morgen ſtand an der Buche mit
dem Beil eingehauen:
שׂ שֶׂה לִי אִם חַעַמּר בַּמָּקוֹם הַזֶּה יִכְּגַע בָּך כַּאֲשֶׁר אַתָּח
14
[210]
Und wo war Friedrich? Ohne Zw-ifel fort,
weit genug, um die kurzen Arme einer ſo ſchwachen
Polizei nicht mehr fürchten zu dürfen. Er war
bald verſchollen, vergeſſen. Ohm Simon redete
ſelten von ihm, und dann ſchlecht; die Judenfrau
tröſtete ſich am Ende und nahm einen andern
Mann. Nur die arme Margreth blieb ungetröſtet.
Etwa ein halbes Jahr nachher las der Guts-
herr einige eben erhaltene Briefe in Gegenwart des
Amtsſchreibers.
„Sonderbar, ſonderbar!“ ſagte er. „Denken
Sie ſich, Kapp, der Mergel iſt vielleicht unſchuldig
an dem Morde. So eben ſchreibt mir der Prä-
ſident des Gerichtes zu P.: „Le vrai n’est pas
toujours vraisemblable; das erfahre ich oft in
meinem Berufe und jetzt neuerdings. Wiſſen Sie
wohl, daß Ihr lieber Getreuer, Friedrich Mergel,
den Juden mag eben ſo wenig erſchlagen haben,
als ich oder Sie? Leider fehlen die Beweiſe, aber
die Wahrſcheinlichkeit iſt groß. Ein Mitglied der
Schlemming’ſchen Bande (die wir jetzt, nebenbei
geſagt, größtentheis unter Schloß und Riegel haben),
Lumpenmoiſes genannt, hat im letzten Verhöre
ausgeſagt, daß ihn nichts ſo ſehr gereue, als der
Mord eines Glaubensgenoſſen, Aaron, den er im
Walde erſchlagen und doch nur ſechs Groſchen bei
ihm gefunden habe.
[211]
Leider ward das Verhör durch die Mittags-
ſtunde unterbrochen, und während wir tafelten, hat
ſich der Hund von einem Juden an einem Strumpf-
bande erhängt. Was ſagen Sie dazu? Aaron
iſt zwar ein verbreiteter Name u. ſ. w. —
„Was ſagen Sie dazu?“ wiederholte der
Gutsherr: „und weshalb wäre der Eſel von einem
Burſchen denn gelaufen?“
Der Amtsſchreiber dachte nach. — „Nun,
vielleicht der Holzfrevel wegen, mit denen wir ja
gerade in Unterſuchung waren. Heißt es nicht:
der Böſe läuft vor ſeinem eigenen Schatten?
Mergels Gewiſſen war ſchmutzig genug auch ohne
dieſen Flecken.“
Dabei beruhigte man ſich. Friedrich war hin,
verſchwunden und — Johannes Niemand, der arme,
unbeachtete Johannes, am gleichen Tage mit ihm.
Eine ſchöne lange Zeit war verfloſſen, acht-
undzwanzig Jahre, faſt die Hälfte eines Menſchen-
lebens; der Gutsherr war ſehr alt und grau ge-
worden, ſein gutmüthiger Gehülfe Kapp längſt be-
graben. Menſchen, Thiere und Pflanzen waren
entſtanden, gereift, vergangen, nur Schloß B. ſah
immer gleich grau und vornehm auf die Hütten
herab, die wie alte hektiſche Leute immer fallen zu
wollen ſchienen und immer ſtanden.
14*
[212]
Es war am Vorabende des Weihnachtsfeſtes
den 24. December 1788.
Tiefer Schnee lag in den Hohlwegen, wohl
an zwölf Fuß hoch, und eine durchdringende Froſt-
luft machte die Fenſterſcheiben in der geheizten
Stube gefrieren. Mitternacht war nahe, dennoch
flimmerten überall matte Lichtchen aus den Schnee-
hügeln, und in jedem Hauſe lagen die Einwohner
auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Chriſt-
feſtes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katho-
liſchen Ländern Sitte iſt, oder wenigſtens damals
allgemein war. Da bewegte ſich von der Breder
Höhe herab eine Geſtalt langſam gegen das Dorf;
der Wanderer ſchien ſehr matt oder krank; er ſtöhnte
ſchwer und ſchleppte ſich äußerſt mühſam durch den
Schnee.
An der Mitte des Hanges ſtand er ſtill, lehnte
ſich auf ſeinen Krückenſtab und ſtarrte unverwandt
auf die Lichtpunkte. Es war ſo ſtill überall, ſo
todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirch-
höfen denken. Nun ſchlug es zwölf im Thurm;
der letzte Schlag verdröhnte langſam und im nächſten
Hauſe erhob ſich ein leiſer Geſang, der, von
Hauſe zu Hauſe ſchwellend, ſich über das ganze
Dorf zog:
[213]
Der Mann am Hange war in die Knie ge-
ſunken und verſuchte mit zitternder Stimme einzu-
fallen: es ward nur ein lautes Schluchzen daraus,
und ſchwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee.
Die zweite Strophe begann; er betete leiſe mit;
dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt
und die Lichter in den Häuſern begannen ſich zu
bewegen. Da richtete der Mann ſich mühſelig auf
und ſchlich langſam hinab in das Dorf. An
mehrern Häuſern keuchte er vorüber, dann ſtand
er vor einem ſtill und pochte leiſe an.
„Was iſt denn das?“ ſagte drinnen eine
Frauenſtimme; „die Thüre klappert und der Wind
geht doch nicht.“ — Er pochte ſtärker. — „Um
Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menſchen
ein, der aus der türkiſchen Sklaverei kommt!“ —
Geflüſter in der Küche. „Geht in’s Wirthshaus,“
antwortete eine andere Stimme; „das fünfte Haus
[214] von hier!“ — „Um Gottes Barmherzigkeit willen,
laßt mich ein! ich habe kein Geld.“ —
Nach einigem Zögern ward die Thür geöffnet
und ein Mann leuchtete mit der Lampe hinaus. —
„Kommt nur herein;“ ſagte er dann, „Ihr werdet
uns den Hals nicht abſchneiden.“
In der Küche befanden ſich außer dem Manne
eine Frau in den mittlern Jahren, eine alte Mutter
und fünf Kinder. Alle drängten ſich um den Ein-
tretenden her und muſterten ihn mit ſcheuer Neu-
gier. Eine armſelige Figur! mit ſchiefem Halſe,
gekrümmtem Rücken, die ganze Geſtalt gebrochen
und kraftlos; langes, ſchneeweißes Haar hing um
ſein Geſicht, das den verzogenen Ausdruck langen
Leidens trug. Die Frau ging ſchweigend an den
Heerd und legte friſches Reiſig zu. — „Ein Bett
können wir Euch nicht geben,“ ſagte ſie; „aber ich
will hier eine gute Streu machen; Ihr müßt Euch
ſchon ſo behelfen.“ — „Gott’s Lohn!“ verſetzte
der Fremde; „ich bin’s wohl ſchlechter gewohnt.“ —
Der Heimgekehrte ward als Johannes Niemand
erkannt, und er ſelbſt bethätigte, daß er derſelbe
ſei, der einſt mit Friedrich Mergel entflohen.
Das Dorf war am folgenden Tage voll von
den Abenteuern des ſo lange Verſchollenen.
Jeder wollte den Mann aus der Türkei ſehen,
und man wunderte ſich beinahe, daß er noch aus-
[215] ſehe wie andere Menſchen. Das junge Volk hatte
zwar keine Erinnerungen von ihm, aber die Alten
fanden ſeine Züge noch ganz wohl heraus, ſo er-
bärmlich entſtellt er auch war.
„Johannes, Johannes, was ſeid Ihr grau
geworden!“ ſagte eine alte Frau. „Und woher
habt Ihr den ſchiefen Hals?“ — „Vom Holz
und Waſſer tragen in der Sklaverei,“ verſetzte er.
„Und was iſt aus Mergel geworden? Ihr
ſeid doch zuſammen fortgelaufen?“
„Freilich wohl; aber ich weiß nicht, wo er iſt,
wir ſind von einander gekommen. Wenn Ihr an
ihn denkt, betet für ihn,“ fügte er hinzu, „er wird
es wohl nöthig haben.“
Man fragte ihn, warum Friedrich ſich denn
aus dem Staube gemacht, da er den Juden doch
nicht erſchlagen? — „Nicht?“ ſagte Johannes und
horchte geſpannt auf, als man ihm erzählte, was
der Gutsherr gefliſſentlich verbreitet hatte, um den
Fleck von Mergels Namen zu löſchen. — „Alſo
ganz umſonſt,“ ſagte er nachdenkend, „ganz um-
ſonſt ſo viel ausgeſtanden!“ Er ſeufzte tief und
fragte nun ſeinerſeits nach Manchem. Simon war
lange todt, aber zuvor noch ganz verarmt, durch
Prozeſſe und böſe Schuldner, die er nicht gerichtlich
belangen durfte, weil es, wie man ſagte, zwiſchen
ihnen keine reine Sache war.
[216]
Er hatte zuletzt Bettelbrod gegeſſen und war
in einem fremden Schuppen auf dem Stroh ge-
ſtorben. Margreth hatte länger gelebt, aber in
völliger Geiſtesſtumpfheit.
Die Leute im Dorf waren es bald müde ge-
worden, ihr beizuſtehen, da ſie alles verkommen
ließ, was man ihr gab, wie es denn die Art der
Menſchen iſt, gerade die Hülfloſeſten zu verlaſſen,
ſolche, bei denen der Beiſtand nicht nachhaltig wirkt
und die der Hülfe immer gleich bedürftig bleiben.
Dennoch hatte ſie nicht eigentlich Noth gelitten;
die Gutsherrſchaft ſorgte ſehr für ſie, ſchickte ihr
täglich das Eſſen und ließ ihr auch ärztliche Be-
handlung zukommen, als ihr kümmerlicher Zuſtand
in völlige Abzehrung übergegangen war. In ihrem
Hauſe wohnte jetzt der Sohn des ehemaligen
Schweinehirten, der an jenem unglücklichen Abende
Friedrichs Uhr ſo ſehr bewundert hatte. —
„Alles hin, Alles todt!“ ſeufzte Johannes.
Am Abend, als es dunkel geworden war und
der Mond ſchien, ſah man ihn im Schnee auf
dem Kirchhofe umherhumpeln; er betete bei keinem
Grabe, ging auch an keines dicht hinan, aber auf
einige ſchien er aus der Ferne ſtarre Blicke zu
heften. So fand ihn der Förſter Brandes, der
Sohn des Erſchlagenen, den die Gutsherrſchaft
abgeſchickt hatte, ihn in’s Schloß zu holen.
[217]
Beim Eintritt in das Wohnzimmer ſah er
ſcheu umher, wie vom Licht geblendet, und dann
auf den Baron, der ſehr zuſammengefallen in ſeinem
Lehnſtuhl ſaß, aber noch immer mit den hellen
Augen und dem rothen Käppchen auf dem Kopfe
wie vor achtundzwanzig Jahren; neben ihm die
gnädige Frau, auch alt, ſehr alt geworden.
„Nun, Johannes,“ ſagte der Gutsherr, „erzähl
mir einmal recht ordentlich von deinen Abenteuern.
Aber,“ er muſterte ihn durch die Brille, „du biſt
ja erbärmlich mitgenommen in der Türkei!“ —
Johannes begann: wie Mergel ihn Nachts
von der Heerde abgerufen und geſagt, er müſſe
mit ihm fort. — „Aber warum lief der dumme
Junge denn? Du weißt doch, daß er unſchuldig
war?“ — Johannes ſah vor ſich nieder: „Ich
weiß nicht recht, mich dünkt, es war wegen Holz-
geſchichten. Simon hatte ſo allerlei Geſchäfte; mir
ſagte man nichts davon, aber ich glaube nicht, daß
Alles war, wie es ſein ſollte.“ — „Was hat
denn Friedrich dir geſagt?“ — „Nichts, als daß
wir laufen müßten, ſie wären hinter uns her.
So liefen wir bis Heerſe; da war es noch dunkel
und wir verſteckten uns hinter das große Kreuz
am Kirchhofe bis es etwas heller wurde, weil wir
uns vor den Steinbrüchen am Zellerfelde fürchteten,
und wie wir eine Weile geſeſſen hatten, hörten
[218] wir mit einemmale über uns ſchnauben und ſtampfen
und ſahen lange Feuerſtrahlen in der Luft gerade
über dem Heerſer Kirchthurm.
Wir ſprangen auf und liefen, was wir konnten
in Gottes Namen gerade aus, und wie es dämmerte,
waren wir wirklich auf dem rechten Wege nach P.“
Johannes ſchien noch vor der Erinnerung zu
ſchaudern, und der Gutsherr dachte an ſeinen ſeligen
Kapp und deſſen Abenteuer am Heerſer Hange. —
„Sonderbar!“ lachte er, „ſo nah wart ihr
einander! aber fahr fort.“ —
Johannes erzählte nun, wie ſie glücklich durch
P. und über die Grenze gekommen.
Von da hatten ſie ſich als wandernde Hand-
werksburſche durchgebettelt bis Freiburg im Breis-
gau. „Ich hatte meinen Brodſack bei mir,“ ſagte
er, „und Friedrich ein Bündelchen; ſo glaubte man
uns.“ — In Freiburg hatten ſie ſich von den
Oeſtreichern anwerben laſſen: ihn hatte man nicht
gewollt, aber Friedrich beſtand darauf. So kam
er unter den Train. „Den Winter über blieben
wir in Freiburg,“ fuhr er fort, „und es ging uns
ziemlich gut; mir auch, weil Friedrich mich oft
erinnerte und mir half, wenn ich etwas verkehrt
machte. Im Frühling mußten wir marſchiren,
nach Ungarn, und im Herbſt ging der Krieg mit
den Türken los. Ich kann nicht viel davon nach-
[219] ſagen, denn ich wurde gleich in der erſten Affaire
gefangen und bin ſeitdem ſechsundzwanzig Jahre
in der türkiſchen Sklaverei geweſen!“ — „Gott
im Himmel! das iſt doch ſchrecklich!“ ſagte Frau
von S. — „Schlimm genug, die Türken halten
uns Chriſten nicht beſſer als Hunde; das Schlimmſte
war, daß meine Kräfte unter der harten Arbeit
vergingen; ich ward auch älter und ſollte noch
immer thun wie vor Jahren.“
Er ſchwieg eine Weile.
„Ja,“ ſagte er dann, „es ging über Menſchen-
kräfte und Menſchengeduld; ich hielt es auch nicht
aus. — Von da kam ich auf ein holländiſches
Schiff.“ — „Wie kamſt du denn dahin?“ fragte
der Gutsherr. — „Sie fiſchten mich auf aus dem
Bosporus,“ verſetzte Johannes. Der Baron ſah
ihn befremdet an und hob den Finger warnend
auf; aber Johannes erzählte weiter.
Auf dem Schiffe war es ihm nicht viel beſſer
gegangen. „Der Skorbut riß ein; wer nicht ganz
elend war, mußte über Macht arbeiten, und das
Schiffstau regierte eben ſo ſtreng wie die türkiſche
Peitſche.“
„Endlich,“ ſchloß er, „als wir nach Holland
kamen, nach Amſterdam, ließ man mich frei, weil
ich unbrauchbar war, und der Kaufmann, dem
das ſchiff gehörte, hatte auch Mitleiden mit mir
[220] und wollte mich zu ſeinem Pförtner machen. Aber“
— er ſchüttelte den Kopf — „ich bettelte mich
lieber durch bis hieher.“ — „Das war dumm ge-
nug,“ ſagte der Gutsherr. Johannes ſeufzte tief:
„O Herr, ich habe mein Leben zwiſchen Türken
und Ketzern zubringen müſſen, ſoll ich nicht wenigſtens
auf einem katholiſchen Kirchhofe liegen?“ Der
Gutsherr hatte ſeine Börſe gezogen: „Da Johannes,
nun geh und komm bald wieder. Du mußt mir
das Alles noch ausführlicher erzählen; heute ging
es etwas konfus durch einander.“
„Du biſt wohl noch ſehr müde?“ — „Sehr
müde,“ verſetzte Johannes; „und,“ er deutete auf
ſeine Stirn, „meine Gedanken ſind zuweilen ſo
kurios, ich kann nicht recht ſagen, wie es ſo iſt.“ —
„Ich weiß ſchon,“ ſagte der Baron, „von alter
Zeit her. Jetzt geh. Hülsmeyers behalten dich
wohl noch die Nacht über, morgen komm wieder.“
Herr von S. hatte das innigſte Mitleiden mit
dem armen Schelm; bis zum folgenden Tage war
überlegt worden, wo man ihn einmiethen könne;
eſſen ſollte er täglich im Schloſſe, und für Kleidung
fand ſich auch wohl Rath. — „Herr,“ ſagte Jo-
hannes, „ich kann auch noch wohl etwas thun;
ich kann hölzerne Löffel machen, und Ihr könnt
mich auch als Boten ſchicken.“
Herr von S. ſchüttelte mitleidig den Kopf:
[221] „Das würde doch nicht ſonderlich ausfallen.“ —
„O doch Herr, wenn ich erſt im Gange bin — es
geht nicht ſchnell, aber hin komme ich doch, und
es wird mir auch nicht ſo ſauer, wie man denken
ſollte.“ — „Nun,“ ſagte der Baron zweifelnd,
„willſt du’s verſuchen? hier iſt ein Brief nach P.
Es hat keine ſonderliche Eile.“
Am folgenden Tage bezog Johannes ſein
Kämmerchen bei einer Wittwe im Dorfe.
Er ſchnitzelte Löffel, aß auf dem Schloſſe und
machte Botengänge für den gnädigen Herrn. Im
Ganzen ging’s ihm leidlich; die Herrſchaft war ſehr
gütig, und Herr von S. unterhielt ſich oft lange
mit ihm über die Türkei, den öſtreichiſchen Dienſt
und die See.
„Der Johannes könnte viel erzählen,“ ſagte er
zu ſeiner Frau, „wenn er nicht ſo grundeinfältig
wäre.“ — „Mehr tiefſinnig als einfältig,“ verſetzte
ſie; „ich fürchte immer, er ſchnappt noch über.“ —
„Ei bewahre!“ antwortete der Baron, „er war ſein
Lebenlang ein Simpel; ſimple Leute werden nie
verrückt.“
Nach einiger Zeit blieb Johannes auf einem
Botengange über Gebühr lange aus. Die gute
Frau von S. war ſehr beſorgt um ihn und wollte
ſchon Leute ausſenden, als man ihn die Treppe
heraufſtelzen hörte.
[222]
„Du biſt lange ausgeblieben, Johannes,“ ſagte
ſie; „ich dachte ſchon, du hätteſt dich im Brederholz
verirrt.“
„Ich bin durch den Föhrengrund gegangen.“
„Das iſt ja ein weiter Umweg; warum gingſt
du nicht durch’s Brederholz?“
Er ſah trübe zu ihr auf: „Die Leute ſagten
mir, der Wald ſei gefällt, und jetzt ſeien ſo viele
Kreuz- und Querwege darin, da fürchtete ich, nicht
wieder hinauszukommen. Ich werde alt und du-
ſelig,“ fügte er langſam hinzu. — „Sahſt du wohl,“
ſagte Frau von S. nachher zu ihrem Manne, „wie
wunderlich und quer er aus den Augen ſah? Ich
ſage dir, Ernſt, das nimmt noch ein ſchlimmes
Ende.“
Indeſſen nahte der September heran. Die
Felder waren leer, das Laub begann abzufallen und
mancher Hektiſche fühlte die Scheere an ſeinem Le-
bensfaden. Auch Johannes ſchien unter dem Ein-
fluſſe des nahen Aequinoctiums zu leiden; die ihn
in dieſen Tagen ſahen, ſagten, er habe auffallend
verſtört ausgeſehen und unaufhörlich leiſe mit ſich
ſelber geredet, was er auch ſonſt mitunter that, aber
ſelten. Endlich kam er eines Abends nicht nach
Hauſe. Man dachte, die Herrſchaft habe ihn ver-
ſchickt, am zweiten auch nicht, am dritten ward ſeine
Hausfrau ängſtlich. Sie ging in’s Schloß und
[223] fragte nach. — „Gott bewahre,“ ſagte der Guts-
herr, „ich weiß nichts von ihm; aber geſchwind den
Jäger gerufen und Förſters Wilhelm! Wenn der
armſelige Krüppel,“ ſetzte er bewegt hinzu, „auch
nur in einen trockenen Graben gefallen iſt, ſo kann
er nicht wieder heraus. Wer weiß, ob er nicht gar
eines von ſeinen ſchiefen Beinen gebrochen hat! —
Nehmt die Hunde mit,“ rief er den abziehenden
Jägern nach, „und ſucht vor Allem in den Gräben;
ſeht in die Steinbrüche!“ rief er lauter.
Die Jäger kehrten nach einigen Stunden heim;
ſie hatten keine Spur gefunden. Herr von S. war
in großer Unruhe: „Wenn ich mir denke, daß Einer
ſo liegen muß wie ein Stein, und kann ſich nicht
helfen! Aber er kann noch leben; drei Tage hält’s
ein Menſch wohl ohne Nahrung aus.“ Er machte
ſich ſelbſt auf den Weg; in allen Häuſern wurde
nachgefragt, überall in die Hörner geblaſen, ge-
rufen, die Hunde zum Suchen angehetzt — um-
ſonſt! — Ein Kind hatte ihn geſehen, wie er am
Rande des Brederholzes ſaß und an einem Löffel
ſchnitzelte; „er ſchnitt ihn aber ganz entzwei,“ ſagte
das kleine Mädchen. Das war vor zwei Tagen
geweſen. Nachmittags fand ſich wieder eine Spur:
abermals ein Kind, das ihn an der andern Seite
des Waldes bemerkt hatte, wo er im Gebüſch ge-
ſeſſen, das Geſicht auf den Knieen, als ob er ſchliefe.
[224] Das war noch am vorigen Tage. Es ſchien, er
hatte ſich immer um das Brederholz herumgetrieben.
„Wenn nur das verdammte Buſchwerk nicht
ſo dicht wäre! da kann keine Seele hindurch,“ ſagte
der Gutsherr. Man trieb die Hunde in den jungen
Schlag; man blies und hallohte und kehrte endlich
mißvergnügt heim, als man ſich überzeugt, daß die
Thiere den ganzen Wald abgeſucht hatten. —
„Laßt nicht nach! laßt nicht nach!“ bat Frau von
S.; „beſſer ein paar Schritte umſonſt, als daß
etwas verſäumt wird.“ Der Baron war faſt ebenſo
beängſtigt wie ſie. Seine Unruhe trieb ihn ſogar
nach Johannes Wohnung, obwohl er ſicher war,
ihn dort nicht zu finden. Er ließ ſich die Kam-
mer des Verſchollenen aufſchließen. Da ſtand ſein
Bett noch ungemacht, wie er es verlaſſen hatte,
dort hing ſein guter Rock, den ihm die gnädige
Frau aus dem alten Jagdkleide des Herrn hatte
machen laſſen; auf dem Tiſche ein Napf, ſechs neue
hölzerne Löffel und eine Schachtel.
Der Gutsherr öffnete ſie; fünf Groſchen lagen
darin, ſauber in Papier gewickelt, und vier ſilberne
Weſtenknöpfe; der Gutsherr betrachtete ſie aufmerk-
ſam. „Ein Andenken von Mergel,“ murmelte er
und trat hinaus, denn ihm ward ganz beengt in
dem dumpfen, engen Kämmerchen.
Die Nachſuchungen wurden fortgeſetzt, bis
[225] man ſich überzeugt hatte, Johannes ſei nicht mehr
in der Gegend, wenigſtens nicht lebendig.
So war er denn zum zweitenmal verſchwunden;
ob man ihn wiederfinden würde — vielleicht ein-
mal nach Jahren ſeine Knochen in einem trockenen
Graben? ihn lebend wieder zu ſehen, dazu war
wenig Hoffnung, und jedenfalls nach achtundzwanzig
Jahren gewiß nicht.
Vierzehn Tage ſpäter kehrte der junge Brandes
Morgens von einer Beſichtigung ſeines Reviers durch
das Brederholz heim. Es war ein für die Jahres-
zeit ungewöhnlich heißer Tag; die Luft zitterte, kein
Vogel ſang, nur die Raben krächzten langweilig aus
den Aeſten und hielten ihre offenen Schnäbel der
Luft entgegen. Brandes war ſehr ermüdet. Bald
nahm er ſeine von der Sonne durchglühte Kappe
ab, bald ſetzte er ſie wieder auf. Es war Alles
gleich unerträglich, das Arbeiten durch den kniehohen
Schlag ſehr beſchwerlich. Rings umher kein Baum
außer der Judenbuche. Dahin ſtrebte er denn auch
aus allen Kräften und ließ ſich todtmatt auf das
beſchattete Moos darunter nieder. Die Kühle zog
ſo angenehm durch ſeine Glieder, daß er die Augen
ſchloß.
„Schändliche Pilze!“ murmelte er halb im
Schlaf. Es giebt nämlich in jener Gegend eine
Art ſehr ſaftiger Pilze, die nur ein paar Tage
15
[226] ſtehen, dann einfallen und einen unerträglichen Ge-
ruch verbreiten. Brandes glaubte ſolche unangenehme
Nachbarn zu ſpüren, er wandte ſich ein paarmal
hin und her, mochte aber doch nicht aufſtehen; ſein
Hund ſprang unterdeſſen umher, kratzte am Stamm
der Buche und bellte hinauf. „Was haſt du da,
Bello? eine Katze?“ murmelte Brandes. Er öffnete
die Wimper halb und die Judenſchrift fiel ihm in’s
Auge, ſehr ausgewachſen, aber doch noch ganz kennt-
lich. Er ſchloß die Augen wieder; der Hund fuhr
fort zu bellen und legte endlich ſeinem Herrn die
kalte Schnauze an’s Geſicht.
„Laß mich in Ruh! was haſt du denn?“
Hiebei ſah Brandes, wie er ſo auf dem Rücken lag,
in die Höhe, ſprang dann mit einem Satze auf und
wie beſeſſen in’s Geſtrüpp hinein.
Todtenbleich kam er auf dem Schloſſe an: in
der Judenbuche hänge ein Menſch; er habe die
Beine gerade über ſeinem Geſichte hängen ſehen. —
„Und du haſt ihn nicht abgeſchnitten, Eſel?“ rief
der Baron.
„Herr,“ keuchte Brandes, „wenn Ew. Gnaden
da geweſen wären, ſo wüßten Sie wohl, daß der
Menſch nicht mehr lebt. Ich glaubte Anfangs, es
ſeien die Pilze.“ — Dennoch trieb der Gutsherr zur
größten Eile und zog ſelbſt mit hinaus.
Sie waren unter der Buche angelangt. „Ich
[227] ſehe nichts,“ ſagte Herr von S. — „Hierher müſſen
Sie treten, hierher, an dieſe Stelle!“ — Wirklich,
dem war ſo: der Gutsherr erkannte ſeine eigenen
abgetragenen Schuhe.
„Gott, es iſt Johannes! — Setzt die Leiter
an! — ſo — nun herunter! — ſacht, ſacht! laßt
ihn nicht fallen! — Lieber Himmel, die Würmer
ſind ſchon daran! Macht dennoch die Schlinge auf
und die Halsbinde.“ Eine breite Narbe ward ſicht-
bar; der Gutsherr fuhr zurück.
„Mein Gott!“ ſagte er; er beugte ſich wieder
über die Leiche, betrachtete die Narbe mit großer
Aufmerkſamkeit und ſchwieg eine Weile in tiefer
Erſchütterung.
Dann wandte er ſich zu dem Förſter: „Es
iſt nicht recht, daß der Unſchuldige für den Schul-
digen leide; ſage es nur allen Leuten: der da“ —
er deutete auf den Todten — „war Friedrich
Mergel.“
Die Leiche ward auf dem Schindanger ver-
ſcharrt.
Dies hat ſich nach allen Hauptumſtänden
wirklich ſo begeben im September des Jahres 1788.
Die hebräiſche Schrift an dem Baume heißt:
„Wenn du dich dieſem Orte naheſt, ſo wird
es dir ergehen, wie du mir gethan haſt.“
[[228]][[229]]
Bilder aus Weſtphalen.
(1840.)
[[230]][[231]]
1.
Die Phyſiognomie des Landes Paderborn, Münſter, der
Grafſchaft Mark und des Herzogthums Weſtphalen.
Wenn wir von Weſtphalen reden, ſo be-
greifen wir darunter einen großen, ſehr verſchiedenen
Landſtrich, verſchieden nicht nur den weit aus-
einanderliegenden Stammwurzeln ſeiner Bevölkerung
nach, ſondern auch in Allem, was die Phyſiognomie
des Landes bildet, oder weſentlich darauf zurück-
wirkt, in Klima, Naturform, Erwerbsquellen, und,
als Folge deſſen, in Cultur, Sitten, Charakter, und
ſelbſt Körperbildung ſeiner Bewohner: daher möch-
ten wohl wenige Theile unſeres Deutſchlands einer
ſo vielſeitigen Beleuchtung bedürfen.
Zwar giebt es ein Element, das dem Ganzen,
mit Ausnahme einiger kleinen Grenzprovinzen, für
den oberflächlichen Beobachter einen Anhauch von
Gleichförmigkeit verleiht, ich meine das des gleichen
(katholiſchen) Religionscultus und des gleichen frü-
heren Lebens unter den Krummſtäben, was in ſeiner
[232] feſten Form und gänzlicher Beſchränkung auf die
nächſten Zuſtände, immer dem Volkscharakter und
ſelbſt der Natur einen Charakter von bald beſchau-
licher, bald in ſich ſelbſt arbeitender Abgeſchloſſenheit
giebt, den wohl erſt eine lange Reihe von Jahren,
und die Folge mehrerer, unter fremden Einflüſſen
herangebildeter Generationen völlig verwiſchen dürf-
ten. Das ſchärfere Auge wird indeſſen ſehr bald
von Abſtufungen angezogen, die in ihren Endpunkten
ſich faſt zum Contraſte ſteigern, und, bei der noch
großentheils erhaltenen Volksthümlichkeit, dem Lande
ein Intereſſe zuwenden, was ein vielleicht beſſerer,
aber zerfloſſener Zuſtand nicht erregen könnte. —
Gebirg und Fläche ſcheinen auch hier, wie überall,
die ſchärferen Grenzlinien bezeichnen zu wollen; doch
haben, was das Volk betrifft, Umſtände die ge-
wöhnliche Folgenreihe geſtört, und ſtatt aus dem
flachen, haidigen Münſterland, durch die hügelige
Grafſchaft Mark und das Bisthum Paderborn, bis
in die, dem Hochgebirge naheſtehenden Bergkegel des
Sauerlandes (Herzogthum Weſtphalen) ſich der
Natur nachzumetamorphoſiren, bildet hier vielmehr
der Sauerländer den Uebergang vom friedlichen
Haidebewohner zum wilden, faſt ſüdlich durchglühten
Inſaſſen des Teutoburger Waldes. — Doch laſſen
wir dies beiläufig bei Seite und faſſen die Land-
ſchaft in’s Auge, unabhängig von ihren Bewohnern,
[233] inſofern die Einwirkung derſelben (durch Cultur ꝛc.)
auf deren äußere Form dies erlaubt.
Wir haben bei Weſel die Ufer des Niederrheins
verlaſſen und nähern uns durch das, auf der Karte
mit Unrecht Weſtphalen zugezählte, noch echt rhei-
niſche Herzogthum Cleve, den Grenzen jenes Landes.
Das allmähliche Verlöſchen des Grüns und der
Betriebſamkeit; das Zunehmen der glänzenden Sand-
dünen und einer gewiſſen lauen träumeriſchen At-
moſphäre, ſowie die aus den ſeltenen Hütten immer
blonder und weicher hervorſchauenden Kindergeſichter
ſagen uns, daß wir ſie überſchritten haben, — wir
ſind in den Grenzſtrichen des Bisthums Münſter. —
Eine troſtloſe Gegend! unabſehbare Sandflächen,
nur am Horizonte hier und dort von kleinen Wal-
dungen und einzelnen Baumgruppen unterbrochen. —
Die von Seewinden geſchwängerte Luft ſcheint nur
im Schlafe aufzuzucken. — Bei jedem Hauche geht
ein zartes, dem Rauſchen der Fichten ähnliches Ge-
rieſel über die Fläche, und ſäet den Sandkies in
glühenden Streifen bis an die nächſte Düne, wo
der Hirt in halb ſomnambüler Beſchaulichkeit ſeine
Socken ſtrickt und ſich ſo wenig um uns kümmert,
als ſein gleichfalls ſomnambüler Hund und ſeine
Haidſchnucken. Schwärme badender Krähen liegen
quer über den Pfad, und flattern erſt auf, wenn
wir ſie faſt greifen könnten, um einige Schritte ſeit-
[234] wärts wieder niederzufallen, und uns im Vorübergehen
mit einem weiſſagenden Auge, „oculo torvo sini-
stroque“ zu betrachten. Aus den einzelnen Wach-
holderbüſchen dringt das klagende, mövenartige
Geſchrill der jungen Kibitze, die wie Taucher-Vögel
im Schilf in ihrem ſtachlichen Aſyle umſchlüpfen,
und bald hier bald dort ihre Federbüſchel hervor-
ſtrecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte,
vor deren Thür ein paar Kinder ſich im Sande
wälzen und Käfer fangen, und allenfalls ein wan-
dernder Naturforſcher, der neben ſeinem überfüllten
Torniſter kniet und lächelnd die zierlich verſteinerten
Muſcheln und Seeigel betrachtet, die wie Modelle
einer früheren Schöpfung hier überall verſtreut lie-
gen, — und wir haben Alles genannt, was eine
lange Tagereiſe hindurch eine Gegend belebt, die
keine andere Poeſie aufzuweiſen hat, als die einer
faſt jungfräulichen Einſamkeit, und einer weichen,
traumhaften Beleuchtung, in der ſich die Flügel der
Phantaſie unwillkürlich entfalten. Allmählich bereiten
ſich indeſſen freundlichere Bilder vor, — zerſtreute
Grasflächen in den Niederungen, häufigere und
friſchere Baumgruppen begrüßen uns als Vorpoſten
nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns
in dem Herzen des Münſterlandes, in einer Gegend,
die ſo anmuthig iſt, wie der gänzliche Mangel an
Gebirgen, Felſen und belebten Strömen dieſes nur
[235] immer geſtattet, und die wie eine große Oaſe, in
dem ſie von allen Seiten, nach Holland, Olden-
burg, Cleve zu, umſtäubenden Sandmeer liegt. In
hohem Grade friedlich, hat ſie doch nichts von dem
Charakter der Einöde, vielmehr mögen wenige Land-
ſchaften ſo voll Grün, Nachtigallenſchlag und Blu-
menflor angetroffen werden, und der aus minder
feuchten Gegenden Einwandernde wird faſt betäubt
vom Geſchmetter der zahlloſen Singvögel, die ihre
Nahrung in dem weichen Kleiboden finden. Die
wüſten Steppen haben ſich in mäßige, mit einer
Haideblumendecke farbig überhauchte Weideſtrecken
zuſammengezogen, aus denen jeder Schritt Schwärme
blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge auf-
ſtäuben läßt. Faſt jeder dieſer Weidegründe enthält
einen Waſſerſpiegel, von Schwertlilien umkränzt, an
denen Tauſende kleiner Libellen wie bunte Stäbchen
hängen, während die der größeren Art bis auf die
Mitte des Weihers ſchnurren, wo ſie in die Blätter
der gelben Nymphäen wie goldene Schmucknadeln
in emaillirte Schalen niederfallen, und dort auf die
Waſſerinſekten lauern, von denen ſie ſich nähren.
Das Ganze umgrenzen kleine, aber zahlreiche Wal-
dungen. Alles Laubholz, und namentlich ein Eichen-
beſtand von tadelloſer Schönheit, der die holländiſche
Marine mit Maſten verſieht — in jedem Baume
ein Neſt, auf jedem Aſte ein luſtiger Vogel und
[236] überall eine Friſche des Grüns und ein Blätterduft,
wie dieſes anderwärts nur nach einem Frühlings-
regen der Fall iſt. Unter den Zweigen lauſchen die
Wohnungen hervor, die langgeſtreckt, mit tief nieder-
ragendem Dache, im Schatten Mittagsruhe zu halten
und mit halbgeſchloſſenem Auge nach den Rindern
zu ſchauen ſcheinen, welche hellfarbig und geſcheckt,
wie eine Damwildheerde ſich gegen das Grün des
Waldbodens, oder den blaſſen Horizont abzeichnen,
und in wechſelnden Gruppen durcheinander ſchieden,
da dieſe Haiden immer Almenden ſind, und jede
wenigſtens ſechzig Stück Hornvieh und darüber ent-
hält. — Was nicht Wald und Haide iſt, iſt Kamp,
d. h. Privateigenthum, zu Acker und Wieſengrund
benutzt, und, um die Beſchwerde des Hütens zu
vermeiden, je nach dem Umfange des Beſitzes oder
der Beſtimmung, mit einem hohen, von Laubholz
überflatterten Erdwalle umhegt. — Dieſes begreift
die fruchtbarſten Grundſtrecken der Gemeinde, und
man trifft gewöhnlich lange Reihen ſolcher Kämpe
nach- und nebeneinander, durch Stege und Pförtchen
verbunden, die man mit jener angenehmen Neugier
betritt, mit der man die Zimmer eines dachloſen
Hauſes durchwandert. Wirklich geben auch vorzüg-
lich die Wieſen einen äußerſt heitern Anblick durch
die Fülle und Mannigfaltigkeit der Blumen und
Kräuter, in denen die Elite der Viehzucht, ſchwerer
[237] oſtfrieſiſcher Race, überſättigt wiederkaut, und den
Vorübergehenden ſo träge und hochmüthig an-
ſchnaubt, wie es nur der Wohlhäbigkeit auf vier
Beinen erlaubt iſt. Gräben und Teiche durchſchneiden
auch hier, wie überall, das Terrain, und würden,
wie alles ſtehende Gewäſſer, widrig ſein, wenn nicht
eine weiße, von Vergißmeinnicht umwucherte Blü-
thendecke und der aromatiſche Duft des Münzkrautes
dem überwiegend entgegenwirkten; auch die Ufer der
träg ſchleichenden Flüſſe ſind mit dieſer Zierde ver-
ſehen, und mildern ſo das Unbehagen, das ein
ſchläfriger Fluß immer erzeugt. — Kurz dieſe Gegend
bietet eine lebhafte Einſamkeit, ein fröhliches Allein-
ſein mit der Natur, wie wir es anderwärts noch
nicht angetroffen. — Dörfer trifft man alle Stunde
Weges höchſtens eines, und die zerſtreuten Pachthöfe
liegen ſo verſteckt hinter Wallhecken und Bäumen,
daß nur ein ferner Hahnenſchrei, oder ein aus ſeiner
Laubperrücke winkender Heiligenſchein ſie dir an-
deutet, und du dich allein glaubſt mit Gras und
Vögeln, wie am vierten Tage der Schöpfung, bis
ein langſames „Hott“ oder „Haar“ hinter der näch-
ſten Hecke dich aus dem Traume weckt, oder ein
grellanſchlagender Hofhund dich auf den Dachſtreifen
aufmerkſam macht, der ſich gerade neben dir, wie
ein liegender Balken durch das Geſtrüpp des Erd-
walles zeichnet. — So war die Phyſiognomie des
[238] Landes bis heute, und ſo wird es nach vierzig Jahren
nimmer ſein. Bevölkerung und Luxus wachſen ſicht-
lich, mit ihnen Bedürfniſſe und Induſtrie. Die
kleinern maleriſchen Haiden werden getheilt; die
Cultur des langſam wachſenden Laubwaldes wird
vernachläſſigt, um ſich im Nadelholze einen ſchnelleren
Ertrag zu ſichern, und bald werden auch hier Fich-
tenwälder und endloſe Getreideſeen den Charakter
der Landſchaft theilweiſe umgeſtaltet haben, wie auch
ihre Bewohner von den uralten Sitten und Ge-
bräuchen mehr und mehr ablaſſen; faſſen wir des-
halb das Vorhandene noch zuletzt in ſeiner Eigen-
thümlichkeit auf, ehe die ſchlüpfrige Decke, die all-
mählich Europa überfließt, auch dieſen ſtillen Erd-
winkel überleimt hat.
Wir haben dieſen Raum des Münſterlandes
eine Oaſe genannt, ſo ſind es auch wieder Steppen,
Sand und Fichtenöden, die uns durch Paderborn,
die ehemalige Reſidenz und Grenzſtadt, in das Bis-
thum gleichen Namens führen, wo die Ebene all-
mählich zu Hügeln anſchwillt, von denen jedoch die
höchſten — der jenſeitigen Grenze zu — die Höhe
eines mäßigen Berges nicht überſteigen. — Hier iſt
die Phyſiognomie des Landes bei weitem nicht ſo
anziehend, wie die ſeiner Bewohner, ſondern ein
ziemlich reizloſer Uebergang von der Fläche zum
Gebirge, ohne die Milde der erſteren oder die Groß-
[239] artigkeit des letzteren; — unabſehbare Getreidefelder,
ſich über Thal und Höhen ziehend, welche die Frucht-
barkeit des Bodens bezeugen, aber das Auge er-
müden, — Quellen und kleine Flüſſe, die recht
munter laufen, aber gänzlich ohne Geräuſch und die
phantaſtiſchen Sprünge der Bergwäſſer, — ſteinigter
Grund, der, wo man nur den Spaten einſtößt,
treffliches Baumaterial liefert, aber nirgends eine
Klippenwand vorſtreckt, außer der künſtlichen des
Steinbruchs, — niedere Berge von gewöhnlicher
Form, unter denen nur die bewaldeten auf einige
Anmuth Anſpruch machen können, bilden zuſammen
ein wenig hervorſtechendes Ganze. Selbſt der claſſiſche
Teutoburger Wald, das einzige, zwar nicht durch
Höhe, aber durch ſeine Ausdehnung und mitunter
maleriſchen Formen impoſante Waldgebirge, iſt in
neueren Zeiten ſo durchlichtet und nach der Schnur
beforſtet worden, daß wir nur mit Hülfe der rothen
(eiſenhaltigen) Erde, die fortwährend unter unſern
Tritten kniſtert, ſowie der unzähligen fliegenden
Leuchtwürmchen, die hier in Sommernächten an
jeden Zweig ihr Laternchen hängen, und eine rege
Phantaſie von „Stein, Gras und Grein“ träumen
können. Doch fehlt es dem Lande nicht an ein-
zelnen Punkten, wo das Zuſammentreffen vieler
kleiner Schönheiten wirklich reizende Partieen her-
vorbringt, an hübſchen grünen Thalſchluchten,
[240] z. B. von Quellen durchrieſelt, wo es ſich recht an-
muthig und ſogar ein wenig ſchwindelnd durch die
ſchlanken Stämme bergauf ſchauen läßt; liegt nun
etwa noch ein Schlößchen droben, und gegenüber
ein Steinbruch, der für’s Auge ſo ziemlich die
Klippen erſetzt, ſo wird der wandernde Maler gewiß
ſein Album hervorlangen, und der benachbarte Flach-
länder kehrt von ſeiner Ferienreiſe mit Stoff zu
langen Erzählungen und Nachentzückungen heim;
ein Dorf am Fuße des Berges kann übrigens das
Bild nur verderben, da das Bisthum Paderborn
hiervon ausgemacht die elendeſten und rauchigſten
Exemplare Weſtphalens aufzuweiſen hat, ein Um-
ſtand, zu dem Uebervölkerung und Leichtſinn der
Einwohner in gleichen Theilen beitragen.
Haben wir die paderbornſche Grenze — gleichviel
ob zur Rechten oder zur Linken — überſchritten,
ſo beginnt der hochromantiſche Theil Weſtphalens,
rechts das geiſtliche Fürſtenthum Corvey, links die
Grafſchaft Mark; erſteres die mit Recht berühmten
Weſerlandſchaften, das andere die gleichſchönen Ruhr-
und Lenne-Ufer umſchließend. Dieſe beiden Pro-
vinzen zeigen, obwohl der Lage nach getrennt, eine
große Verwandtſchaft der Natur, nur daß die eine
durch ſegelnde Fahrzeuge, die andere durch das
Pochen der Hämmer und Gewerke belebt wird; beide
ſind gleich lachend und fruchtbar, mit gleich wellen-
[241] förmigen, üppig belaubten Bergrücken geſchmückt,
in die ſich nach und nach kühnere Formen und
Klippenwände drängen, bis die Weſerlandſchaft, wie
eine Schönheit, die ihren Scheitelpunkt erreicht hat,
allmählich wieder einſinkt und gleichſam abwelkt,
während von der Ruhr aus immer kühnere Gebirgs-
formen in das Herz des Sauerlandes dringen, und
ſich durch die höchſte romantiſche Wildheit bis zur
Oede ſteigern. Daß die vielbeſprochene Porta Weſt-
phalica nur einen geringen Beitrag zu jener Bilder-
reihe ſteuert, und nur den letzten zweifelhaften beau
jour der bereits verblichenen Weſerſchönheit aus-
macht, iſt ſchon öfters geſagt worden; deſto reizender
iſt der Strombord in ſeinem Knospen, Erblühen
und Reifen, das Corveyer Ländchen und die an-
ſchließenden Striche entlang bis zur kurheſſiſchen
Grenze: ſo ſanfte Berghänge und verſchwimmende
Gründe, wo Waſſer und Land ſich zu haſchen und
einander mit ihrer Friſche anzuhauchen ſcheinen; ſo
angenehme Kornfluren im Wechſel mit Wieſe und
Wald; ſo kokette Windungen des Stroms, daß
wir in einem Garten zu wandeln glauben. —
Immer mannichfaltiger wird die Landſchaft, immer
reicher ſchattirt von Laub- und Nadelholz, ſcharfen
und wellenſchlagenden Linien. — Hinter dem alten
Schloſſe Wehern und der Türkenruine hebt der
Wildberg aus luftigen Hügeln, die ihn wie vom
16
[242] Spiel ermüdete Kinder umlagern, ſeinen ſtachlichen
Sargrücken, und ſcheint nur den Cathagenberg ge-
genüber, der ihn wie das Knochengebäude eines
vorweltlichen Ungeheuers aus rothen Augenhöhlen
anſtarrt, ſeiner Beachtung werth zu halten. Von
hier an beginnen die Ufer ſteil zu werden, mit jeder
Viertelſtunde ſteiler, hohler und felſiger, und bald
ſehen wir von einer ſtundenlangen, mit Mauern
und Geländern eingehegten Klippe die Schiffe unter
uns gleiten, klein, wie Kinderſpielzeug, und hören
den Ruf der Schiffer, dünn wie Mövengeſchrei,
während hoch über uns von der Feldterraſſe junge
Laubzweige niederwinken, wie die Hände ſchöner
Frauen von Burgzinnen. — Bei dem neu-antiken
Schloſſe Herſtelle hat die Landſchaft ihren Höhepunkt
erreicht, und geht, nach einer reichen Ausſicht die
Weſer entlang, und einem ſchwindelnden Nieder-
blicke auf das heſſiſche Grenzſtädtchen Carlshafen,
der Verflachung und überall dem Verfall entgegen.
Dieſen ähnliche Bilder bietet die Grafſchaft Mark,
von gleicher theils ſanfter, theils kräftiger auftre-
tenden Romantik, und durch die gleichen Mittel.
Doch iſt die Landſchaft hier belebter, reicher an
Quellengeräuſch und Echo, die Flüſſe kleiner und
raſcher, und ſtatt Segel bei uns vorbeigleiten zu
laſſen, ſchreiten wir ſelbſt an ſchäumenden Wehren
und Mühlrädern vorüber, und hören ſchon weit
[243] her das Pochen der Gewerke, denn wir ſind in
einem Fabriklande. — Auch iſt die Gegend anfangs,
von der Nähe des Münſterlandes angehaucht, noch
milder, die Thäler träumeriſcher, und tritt dagegen,
wo ſie ſich dem eigentlichen Sauerlande nähert,
ſchon kühner auf, als die Weſer. Das „Felſenmeer“
unweit Menden z. B., ein Thal, wo Rieſen mit
wüſten Felswürfeln geſpielt zu haben ſcheinen —
und die Bergſchlucht unter der Schloßruine und
der bekannten Tropfſteinhöhle Kluſenſtein dürfen
unbezweifelt einen ehrenvollen Platz im Gebiete des
Wildromantiſchen anſprechen, ſonderlich das Letzte
und eben dieſe ſtarr gegeneinander rückenden Fels-
wände, an denen ſich der kaum fußbreite Ziegenpfad
windet — oben das alte Gemäuer, in der Mitte
der ſchwarze Höllenſchlund, unten im Keſſel das
Getöſe und Geſchäum der Mühle, zu der man nur
vermittelſt Planken und Stege gelangt, und wo es
immer dämmert — ſollen dem weiland vielgeleſenen
Spies den Rahmen zu einem ſeiner ſchlimmſten
Schauerromane (ich glaube die Teufelsmühle im
Höllenthal) geliefert haben. — Doch ſind dieſes
Ausnahmen, die Landſchaften durchgängig ſanft,
und würden, ohne die induſtrielle Regſamkeit ihrer
Bewohner, entſchieden träumeriſch ſein. Sobald
wir die Fläche überſchritten, verliert ſich indeſſen das
Milde mehr und mehr, und bald begegnet es uns
16*
[244] nur noch in einzelnen, gleichſam verirrten Partieen,
die uns jetzt durch ihre Seltenheit ſo überraſchend
anregen, wie früher die kühneren Formen, von denen
wir fortan durch tagelange Wanderungen faſt über-
ſättigt werden. Der Sauerländer rühmt ſich eines
glorreichen Urſprungs ſeiner Benennung — dieſes
iſt mir ein ſaures Land geworden, ſoll Karl der
Große geſagt haben — und wirklich, wenn wir
uns durch die mit Felsblöcken halb verrammelten
Schluchten des Binnenlandes winden, unter Wänden
her, deren Unerſteiglichkeit wir mit ſchwindelndem
Auge meſſen und aus denen ſich koloſſale Balkone
ſtrecken, breit und feſt genug, eine wilde Berghorde
zu tragen, ſo zweifeln wir nicht an der Wahrheit
dieſes Worts, mag es nun geſagt ſein oder nicht.
Das Gebirge iſt waſſerreich, und in den Thal-
ſchlünden das Getöſe der niederrauſchenden und
brodelnden Quellen faſt betäubend, wogegen der
Vogelgeſang in den überhand nehmenden Fichten-
waldungen mehr und mehr erſtirbt, bis wir zuletzt
nur Geier und Habichte die Felszacken umkreiſen
ſehen, und ihre grellen Diebspfeifen ſich hoch in
der Luft antworten hören. Ueberall ſtarren uns
die ſchwarzen Eingänge der Stollen, Spalten und
Stalaktitenhöhlen entgegen, deren Senkungen noch
zum Theil nicht ergründet ſind, und an die ſich
Sagen von Wegelagerern, Berggeiſtern und ver-
[245] hungerten Verirrten knüpfen. Das Ganze ſteht den
wildeſten Gegenden des Schwarzwaldes nicht nach,
ſonderlich, wenn es zu dunkeln beginnt, gehört viel
kaltes Blut dazu, um ſich eines mindeſtens poetiſchen
Schauers zu erwehren, wenn das Volk der Eulen
und Schuhu’s in den Spalten lebendig wird, und
das Echo ihr Gewimmer von Wand zu Wand
laufen läßt, und wenn die Hohöfen wie glü-
hende Rachen aus den Schluchten gähnen, wirre
Funkenſäulen über ſich aufblaſen und Baum und
Geſtein umher mit rothem Brandſcheine überzittern.
In dieſem Style nimmt die Landſchaft immer an
Wildheit zu, zuletzt Klippen bietend — auf denen man
ſchon verirrte Ziegen hat tagelang umherſchwanken
ſehen — bis die Zackenform der Berge allmählich kahlen
Kegeln weicht, an denen noch wohl im hohen Mai
Schneeflecke lagern, der Baumwuchs faſt gänzlich
eingeht und endlich bei „Winterberg“ die Gegend
nur noch das Bild troſtloſer Oede beut, — kahle
Zuckerhutformen, an denen hier und dort ein Fleck-
chen magerer Haferſaat mehr gilbt als grünt.
[[246]]
2.
Handelsgeiſt im Sauerlande. — Wilde Poeſie in Pader-
born. — Die Barackenbewohner. — Ihre Ehen. — Die
Branntweinpeſt. — Sittenverderbniß. — Alte Gebräuche.
— Aberglauben. — Beſprechungen. — Raufluſt. — Eine
Gerichtsſcene.
Wir haben im Vorhergehenden den Charakter
der Eingebornen bereits flüchtig angedeutet, und
geſagt, daß, dem gewöhnlichen Einfluſſe der Natur
auf ihre Zöglinge entgegen, am, verhältnißmäßig in
einem zahmen Lande aufgenährten Paderborner
der Stempel des Bergbewohners, ſowohl moraliſch
als körperlich, weit entſchiedener hervortritt, als an
dem, durch ſeine Umgebung weit mehr dazu be-
rechtigten Sauerländer. Der Grund liegt nahe;
in den Handelsverhältniſſen des Letzteren, die ſeine
Heimath dem Fremden öffnen, und ihn ſelbſt der
Fremde zutreiben, wo unter kaufmänniſcher Cultur
die Sitten, durch auswärtige Heirathen das Blut
ſeines Stammes ſich täglich mehr verdünnen, und
wir müſſen uns eher über die Kraft einer Ader
wundern, die, von ſo vielen Quellen verwäſſert,
[247] doch noch durchgängig einen ſcharfen, feſten Strich
zeichnet, wie der Rhein durch den Bodenſee. Der
Sauerländer iſt ungemein groß und wohlgebaut,
vielleicht der größte Menſchenſchlag in Deutſchland,
aber von wenig geſchmeidigen Formen; koloſſale
Körperkraft iſt bei ihm gewöhnlicher, als Behendig-
keit anzutreffen. Seine Züge, obwohl etwas breit
und verflacht, ſind ſehr angenehm, und bei vor-
herrſchend lichtbraunem oder blondem Haare haben
doch ſeine langbewimperten blauen Augen alle den
Glanz und den dunkeln Blick der ſchwarzen. —
Seine Phyſionogmie iſt kühn und offen, ſein An-
ſtand ungezwungen, ſo daß man geneigt iſt, ihn
für ein argloſeres Naturkind zu halten, als irgend
einen ſeiner Mitweſtphalen; dennoch iſt nicht leicht
ein Sauerländer ohne einen ſtarken Zuſatz von
Schlauheit, Verſchloſſenheit und praktiſcher Ver-
ſtandesſchärfe und ſelbſt der ſonſt Beſchränkteſte
unter ihnen wird gegen den geſcheidteſten Münſter-
länder faſt immer praktiſch im Vortheil ſtehen. —
Er iſt ſehr entſchloſſen, ſtößt ſich dann nicht an
Kleinigkeiten, und ſcheint eher zum Handel und
gutem Fortkommen geboren, als dadurch und dazu
herangebildet. Seine Neigungen ſind heftig, aber
wechſelnd, und ſo wenig er ſie Jemandes Wunſch
zu Liebe aufgiebt, ſo leicht entſchließt er ſich aus
eigener Einſicht oder Grille hierzu. — Er iſt ein
[248] raſtloſer und zumeiſt glücklicher Spekulant, vom
reichen Fabrikherrn, der mit Vieren fährt, bis zum
abgeriſſenen Herumſtreicher, der „Kirſchen für Lumpen“
ausbietet; und hier findet ſich der einzige Adel
Weſtphalens, der ſich durch Eiſenhämmer, Papier-
mühlen und Salzwerke dem Kaufmannsſtande an-
ſchließt. — Obwohl der Confeſſion nach katholiſch,
iſt das Fabrikvolk doch an vielen Orten bis zur
Gleichgültigkeit lau, und lacht nur zu oft über die
Schaaren frommer Wallfahrer, die vor ſeinen
Gnadenbildern beſtäubt und keuchend ihre Litaneien
abſingen, und an denen ihm der Klang des Geldes,
das ſie einführen, bei weitem die verdienſtvollſte
Muſik ſcheint. — Uebrigens beſitzt der Sauerländer
manche anziehende Seite; er iſt muthig, beſonnen,
von ſcharfem aber kühlem Verſtande, obwohl im
Allgemeinen berechnend, doch aus Ehrgefühl be-
deutender Aufopferungen fähig; und ſelbſt der ge-
ringſte beſitzt einen Anflug ritterlicher Galanterie
und einen naiven Humor, der ſeine Unterhaltung
äußerſt angenehm für denjenigen macht, deſſen
Ohren nicht allzu zart ſind. — Daß in einem
Lande, wo drei Viertel der Bevölkerung, Mann,
Weib und Kind, ihren Tag unter fremdem Dache
(in den Fabrikſtuben) zubringen, oder auf Handels-
füßen das Land durchziehen, die häuslichen Ver-
hältniſſe ſehr locker, gewiſſermaßen unbedeutend ſind,
[249] begreift ſich wohl; ſo wie aus dem Geſagten her-
vorgeht, daß dort nicht der Hort der Träume und
Mährchen, der charakteriſtiſchen Sitten und Ge-
bräuche zu ſuchen iſt; denn obwohl die Sage manche
Kluft und unheimliche Höhle mit Berggeiſtern, und
den Geſpenſtern Ermordeter, oder in den Irrgängen
Verſchmachteter bevölkert hat, ſo lacht doch jedes
Kind darüber, und nur der minder beherzte oder
phantaſiereichere Reiſende fährt zuſammen, wenn
ihm in dem ſchwarzen Schlunde etwa eine Eule
entgegenwimmert, oder ein kalter Tropfen von den
Steinzapfen in ſeinen Nacken rieſelt. Kurz der
Sohn der Induſtrie beſitzt vom Bergbewohner nur
die eiſerne Geſundheit, Körperkraft und Entſchloſſen-
heit, aber ohne den romantiſchen Anflug und die
Phantaſie, welche ſich an großartigen Umgebungen
zu entwickeln pflegen, — er liebt ſein Land, ohne
deſſen Charakter herauszufühlen; er liebt ſeine
Berge, weil ſie Eiſen und freien Athemzug; ſeine
Felſen, weil ſie vortreffliches Material und Fern-
ſichten, ſeine rauſchenden Waſſerfälle, weil ſie den
Fabrikrädern raſcheren Umſchwung geben, und das
Ganze endlich, weil es ſeine Heimath und in deſſen
Luft ihm am wohlſten iſt. — Seine Feſtlichkeiten
ſind nach den Umſtänden des Gaſtgebers, den
ſtädtiſchen möglichſt nachgebildet; ſeine Trachten
desgleichen. — Alles wie anderwärts, ſtaubende
[250] Chauſſeen mit Frachtwagen und Einſpännern bedeckt,
— Wirthshäuſer mit Kellern und gedruckten Speiſe-
zetteln; einzelne Dörfer im tiefſten Gebirge ſind noch
ſtrohdachig und verfallen genug, die meiſten jedoch,
nett wie alle Fabrikorte, erhalten allein durch die
ſchwarze Schieferbekleidung und die mit Steinplatten
beſchwerten Dächer, die man hier der Rauhigkeit
des Klima’s entgegenſetzen muß, einen ſchwachen
Anſtrich von Ländlichkeit, und nur die Kohlen-
brenner in den Waldungen, die bleichen Hammer-
ſchmiede vor ihren Höllenfeuern, und die an den
Stollen, mit Lederſchurz und blitzendem Bleierz
auf ihrem Kärrchen aus- und einfahrenden Berg-
knappen geben der Landſchaft hier und dort eine
paſſende Staffage.
Anders iſt es im Hochſtifte Paderborn, wo
der Menſch eine Art wilder Poeſie in die ſonſt
nüchterne Umgebung bringt, und uns in die
Abruzzen verſetzen würde, wenn wir Phantaſie ge-
nug hätten, jene Gewitterwolke für ein mächtiges
Gebirge, jenen Steinbruch für eine Klippe zu halten.
— Nicht groß von Geſtalt, hager und ſehnig, mit
ſcharfen, ſchlauen, tiefgebräunten, und vor der Zeit
von Mühſal und Leidenſchaft durchfurchten Zügen
fehlt dem Paderborner nur das brandſchwarze Haar
zu einem entſchieden ſüdlichen Ausſehen. — Die
Männer ſind oft hübſch und immer maleriſch, die
[251] Frauen haben das Schickſal der Südländerinnen,
eine frühe üppige Blüthe und ein frühes, zigeuner-
haftes Alter. Nirgends giebt es ſo rauchige Dörfer,
ſo dachluckige Hüttchen, als hier, wo ein unge-
ſtümes Temperament einen ſtarken Theil der Be-
völkerung übereilten Heirathen zuführt, ohne ein
anderes Kapital, als vier Arme und ein Dutzend
zuſammengebettelter und zuſammengeſuchter Balken,
aus denen dann eine Art von Koben zuſammen-
geſetzt wird, eben groß genug für die Heerdſtelle,
das Ehebett, und allenfalls einen Verſchlag, der
den ſtolzen Namen Stube führt, in der That
aber nur ein ungewöhnlich breiter und hoher
Kaſten mit einem oder zwei Fenſtergläſern iſt.
— Beſitzt das junge Paar Fleiß und Aus-
dauer, ſo mögen nach und nach einige Verſchläge
angezimmert werden; hat es ungewöhnlichen Fleiß
und Glück zugleich, ſo dürfte endlich eine beſcheidene
Menſchenwohnung entſtehen, häufig aber laſſen
Armuth und Nachläſſigkeit es nicht hierzu kommen
und wir ſelbſt ſahen einen bejahrten Mann, deſſen
Pallaſt zu kurz war um ausgeſtreckt darin zu
ſchlafen, ſeine Beine ein gutes Ende in die Straße
recken. — Selbſt der Roheſte iſt ſchlau und zu
allen Dingen geſchickt, weiß jedoch ſelten nachhaltigen
Vortheil daraus zu ziehen, da er ſein Talent gar
oft in kleinen Pfiffigkeiten, deren Ertrag er ſofort
[252] vergeudet, erſchöpft, und ſich dem Einfluſſe von
Winkeladvokaten hingiebt, die ihm über jeden Zaun-
pfahl einen Prozeß einfädeln, der ihn völlig aus-
ſaugt, faſt immer zur Auspfändung, und häufig
von Hof und Haus bringt. — Große Noth treibt
ihn zu großen Anſtrengungen, aber nur bis das
dringendſte Bedürfniß geſtillt iſt, — jeder erübrigte
Groſchen, den der Münſterländer ſorglich zurück-
legen, der Sauerländer in irgend ein Geſchäft ſtecken
würde, wird hier am liebſten von dem Kind der
Armuth ſofort dem Wirthe und Kleinhändler zu-
getragen, und die Schenken ſind meiſt gefüllt mit
Glückſeligen, die ſich einen oder ein paar blaue
Montage machen, um nachher wieder auf die alte
Weiſe fort zu hungern und zu taglöhnern. — So
verleben leider Viele, ohwohl in einem fruchtbaren
Lande, und mit allen Naturgaben ausgerüſtet, die
ſonſt in der Welt voran bringen, ihre Jugend in
Armuth und gehen einem elenden Alter am Bettel-
ſtabe entgegen. — In ſeiner Verwahrloſung dem
Aberglauben zugeneigt, glaubt der Unglückliche ſehr
fromm zu ſein, während er ſeinem Gewiſſen die
ungebührlichſten Ausdehnungen zumuthet. Wirklich
ſtehen auch manche Pflichten ſeinen mit der Mutter-
milch eingeſogenen Anſichten von eigenem Rechte zu
ſehr entgegen, als daß er ſie je begreifen ſollte, —
jene gegen den Gutsherrn zum Beiſpiel, den er
[253] noch ſeinem Naturrecht gern als einen Erbfeind
oder Uſurpator des eigentlich ihm zuſtändigen Bodens
betrachtet, dem ein ächtes Landeskind nur aus Liſt,
um der guten Sache willen, ſchmeichle, und übri-
gens Abbruch thun müſſe, wo es immer könne.
— Noch empörender ſcheinen ihm die Forſt- und
Jagdgeſetze, da ja „unſer Herrgott das Holz von
ſelbſt wachſen läßt, und das Wild aus einem Lande
in das andere wechſelt.“ Mit dieſem Spruche im
Munde glaubt der Frierende ſich völlig berechtigt,
jeden Förſter, der ihn in flagranti überraſcht, mit
Schnupftaback zu blenden, und wie er kann mit
ihm fertig zu werden. — Die Gutsbeſitzer ſind
deshalb zu einem erſchöpfenden Aufwande an Forſt-
beamten gezwungen, die den ganzen Tag und manche
Nacht durchpatrouilliren, und doch die maſſivſten
Forſtfrevel, z. B. das Niederſchlagen ganzer Wald-
ſtrecken in einer Nacht, nicht immer verhindern
können. — Hier ſcheitern alle Anſtrengungen der
ſehr ehrenwerthen Geiſtlichkeit, und ſelbſt die Ver-
ſagung der Abſolution im Beichtſtuhle verliert ihre
Kraft, wie bei dem Corſen, wenn es eine Vendetta
gilt. — Noch vor dreißig Jahren war es etwas
ſehr gewöhnliches, beim Mondſcheine langen Wagen-
reihen zu begegnen, neben denen dreißig bis vierzig
Männer hertrabten, das Beil auf der Schulter,
den Ausdruck lauernder Entſchloſſenheit in den ge-
[254] bräunten Zügen und der nächſte Morgen brachte
dann gewiß, — je nachdem ſie mit den Förſtern
zuſammen getroffen, oder ihnen glücklich ausgewichen
waren — die Geſchichte eines blutigen Kampfes,
oder eines grandioſen Waldfrevels. — Die Ueber-
wachung der preußiſchen Regierung hat allerdings
dieſer Oeffentlichkeit ein Ziel geſetzt, jedoch ohne be-
deutende Reſultate in der Sache ſelbſt, da die
Frevler jetzt durch Liſt erſetzen, was ſie an Macht
einbüßten, und es iſt leider eine Thatſache, daß die
Holzbedürftigen, ſogar Beamte, von Leuten, denen
doch, wie ſie ganz wohl wiſſen, kein rechtlicher
Splitter eigen iſt, ihren Bedarf ſo ruhig nehmen,
wie aller Orts Strandbewohner ihren Kaffee und
Zucker von den Schmugglern zu nehmen pflegen.
Daß auch dieſer letztere Erwerbzweig hier dem Cha-
rakter des Beſitzloſen zu ſehr zuſagt, als daß er
ihn vernachläſſigen ſollte, ſelbſt wenn die mehr-
ſtündige Entfernung der Grenze ihn mühſam, ge-
fahrvoll und wenig einträglich zugleich macht, läßt
ſich wohl vorausſetzen und faſt bis im Herzen des
Landes ſehen wir bei abendlichen Spaziergängen
kleine Truppen von Fünfen oder Sechſen haſtig
und ohne Gruß an uns vorüber der Waſſergegend
zuſtapfen und können ſie in der Morgendämme-
rung mit kleinen Bündeln, ſchweißtriefend und nicht
ſelten mit verbundenem Kopfe oder Arme, wieder
[255] in ihre Baracken ſchlüpfen ſehen. Zuweilen folgen
die Zollbeamten ihnen ſtundenweit; die Dörfer des
Binnenlandes werden durch nächtliche Schüſſe und
wüſtes Geſchrei aufgeſchreckt, — am nächſten Morgen
zeigen Gänge durchs Kornfeld, in welcher Richtung
die Schmuggler geflohen; zerſtampfte Flächen, wo
ſie ſich mit den Zöllnern gepackt haben, und ein
halbes Dutzend Taglöhner läßt ſich bei ſeinem
Dienſtherrn krank melden. — Ihre Ehen, meiſt aus
Leidenſchaft und mit gänzlicher Rückſichtsloſigkeit
auf äußere Vortheile geſchloſſen, würden ander-
wärts für höchſt unglücklich gelten, da kaum eine
Barackenbewohnerin ihr Leben beſchließt, ohne Be-
kanntſchaft mit dem ſogenannten „braunen Heinrich,“
dem Stocke nämlich, gemacht zu haben. Sie aber
finden es ländlich, ſittlich, und leben der Ueber-
zeugung, daß eine gute Ehe wie ein gutes Gewebe
zuerſt des Einſchlags bedarf, um nachher ein tüch-
tiges Hausleinen zu liefern. Wollten wir eine
Zuſammenſtellung der unteren Volksklaſſen nach
den drei Hauptfarben Weſtphalens wagen, ſo würden
wir ſagen: der Sauerländer freit wie ein Kauf-
mann, nach Geld und Geſchicklichkeit und führt
auch ſeine Ehe ſo — kühl und auf gemeinſchaft-
lichen Erwerb gerichtet. — Der Münſterländer freit
wie ein Herrnhuther, gutem Rufe und dem Willen
ſeiner Eltern gemäß, und liebt und trägt ſeine
[256] Ehe, wie ein aus Gottes Hand gefallenes Loos,
in friedlicher Pflichterfüllung. — Der Paderborner
Wildling aber, hat Erziehung und Zucht nichts an
ihm gethan, wirbt wie ein derbes Naturkind mit
allem Ungeſtüm ſeines heftigen Bluts. Mit ſeinen
und den Eltern ſeiner Frau muß es daher auch
oft zu heftigen Auftritten kommen. Er geht unter
die Soldaten, oder läuft Gefahr zu verkommen,
wenn ſeine Neigung unerwiedert bleibt. Die Ehe
wird in dieſen dürftigen Hütten den Frauen zum
wahren Fegfeuer, bis ſie ſich zurechtgefunden; Flüche
und Schimpfreden haben, wie bei den Matroſen,
einen großen Theil ihrer Bedeutung verloren, und
laſſen eine rohe Art aufopfernder Liebe wohl neben
ſich beſtehen. Ueber das Verderbniß der dienenden
Klaſſen wird ſehr geklagt: jedes noch ſo flüchtige
Verhältniß zwiſchen den zwei Geſchlechtern müſſe
ſtreng überwacht werden von denen, welche ihr
Haus rein von Scandal zu erhalten wünſchen;
ſelbſt die Unteraufſeher, Leute von geſetzten Jahren
und ſonſt ſtreng genug, ſcheinen taub und blind,
ſobald nicht ein wirkliches Verlöbniß, ſondern nur der
Glaube an eine ernſtliche Abſicht vorhanden ſei: „die
Beiden freien ſich“ — und damit ſeien alle
Schranken gefallen, obwohl aus zwanzig ſolcher
Freiereien kaum eine Ehe hervorgehe und die Folgen
[257] davon den Gemeinden zur Laſt fielen. Auch die
Branntweinpeſt fordert hier nicht wenige Opfer,
und bei dieſem heftigen Blut wirkt das Uebermaß
um ſo wilder und gefährlicher. Dieſe Verwahr-
loſung iſt um ſo mehr zu beklagen, da es auch dem
Letzten nicht leicht an Talenten und geiſtigen Mitteln
gebricht, und ſeine ſchlaue Gewandtheit, ſein Muth,
ſeine tiefen einwohnenden Leidenſchaften, und vor
Allem ſeine reine Nationalität, verbunden mit dem
markirten Aeußern, ihn zu einem allerdings würdi-
gen Gegenſtande der Aufmerkſamkeit machen. — Alter
Gebräuche bei Feſtlichkeiten giebt es wenige und
in ſeltener Anwendung, da der Paderborner jedem
Zwange zu abgeneigt iſt, als daß er ſich eine Luſt
durch etwas, das nach Ceremoniell ſchmeckt, ver-
derben ſolle. — Bei den Hochzeiten z. B. fällt
wenig Beſonderes vor, das allerwärts bekannte
Schlüſſel- und Brod-Ueberreichen findet auch hier
ſtatt, d. h. wo es, außer einer alten Truhe, etwas
giebt, was des Schlüſſels bedarf, — nachher geht
Jeder ſeinem Jubel bei Tanz und Flaſche nach,
bis ſich alles zum „Papen von Iſtrup“ ſtellt, einem
beliebten Nationaltanz, einem Durcheinanderwirbeln
und Verſchlingen, das erſt nach dem Lichtanzünden
beginnt, und dem „Reiſenden für Völker- und
Länderkunde“ den Zeitpunkt angiebt, wo es für ihn
gerathener ſein möchte, ſich zu entfernen, da fortan
17
[258] die Aufregung der Gäſte bis zu einer Höhe ſteigt,
deren Culminationspunkt nicht voraus zu berechn en
iſt. — Iſt die Braut eine echte „Flüggebraut,“
eine Braut in Kranz und fliegenden Haaren, ſo
tritt ſie gewiß ſtolz wie eine Fürſtin auf, und
dieſes glorreiche Familienereigniß wird noch der
Ruhm ihrer Nachkommen, die ſich deſſen wohl zu
rühmen wiſſen, wie ſtattlich ſie mit Spiegeln und
Flittergold in den Haaren einhergeſtrahlt ſei. Lieber
als eine Hochzeit iſt dem Paderborner noch die
Faſtnacht, an deren erſtem Tage (Sonntag Esto
mihi) der Burſche daherſteigt, in der Hand, auf
goldenem Apfel, einen befiederten Hahn aus Brod-
teig, den er ſeiner Liebſten verehrt, oder auch der
Edelfrau, nämlich, wenn es ihm an Geld für die
kommenden naſſen Tage fehlt. — Am Montag iſt
der Jubel im tollſten Gange, ſelbſt Bettler, die
nichts anderes haben, hängen ihr geflicktes Bettuch
über den Kopf, und binden einen durchlöcherten
Papierbogen vor’s Geſicht, und dieſe machen, wie
ſie mit ihren, aus der weißen Umrändung blitzenden
Augen und langen Naſenſchnäbeln die Mauern
entlang taumeln, einen noch grauſigeren Eindruck
wie die eigentlichen Maskenzüge, die in ſcheußlichen
Verkleidungen mit Geheul und Hurrah auf Acker-
gäulen durch die Felder galoppiren, alle hundert
Schritte einen Sandreiter zurücklaſſend, der ihnen
[259] wüſt nachjohlt, oder als ein hinkendes Ungethüm
in’s Dorf zurückkrächzt. Sehr beliebt iſt auch das
Schützenfeſt, zum Theil der Ironie wegen, da an
dieſem Tage der „Wildſchütz“ vor dem Auge der
ſein Gewerb ignorirenden Herrſchaft mit ſeinem
ſicheren Blicke und ſeiner feſten Hand paradiren darf,
und oft der ſchlimmſte Schelm, dem die Förſter
ſchon wochenlang nachſtellten, dem gnädigen Fräu-
lein Strauß und Ehrenſchärpe als ſeiner Königin
überreicht und mit ihr die Ceremonie des erſten
Tanzes durchmacht. — Ihm folgt am nächſten
Tage das Frauenſchießen, eine galante Sitte, die
man hier am wenigſten ſuchen ſollte, und die
ſich anmuthig genug ausnimmt. Morgens in aller
Frühe ziehen alle Ehefrauen der Gemeinde, unter
ihnen manche blutjunge und hübſche, von dem
Edelhofe aus, in ihren goldenen Häubchen und
Stirnbinden, bebändert und beſtraußt, jede mit dem
Gewehr ihres Mannes über die Schulter. Voran
die Frau des Schützenkönigs, mit den Abzeichen
ihrer Würde, dem Säbel an der Seite, wie weiland
Maria Thereſia auf den Kremnitzer Dukaten; ihr
zunächſt die Fähndrichin mit der weißen Schützen-
fahne; auf dem Hofe wird Halt gemacht, die Kö-
nigin zieht den Säbel, kommandirt — rechts —
links — kurz alle militäriſchen Evolutionen; dann
wird die Fahne geſchwenkt, und das blanke Regiment
17*
[260] zieht mit einem feinen Hurrah dem Schießplatze zu,
wo jede — Manche mit der zierlichſten Koketterie
— ihr Gewehr ein paar mal abfeuert, um unter
klingendem Spiele nach der Schenke zu marſchiren,
wo es heute keinen König giebt, ſondern nur eine
Königin und ihren Hof, die alles anordnen, und
von denen ſich die Männer heute Alles gefallen
laſſen. Einen gleich ſtarken Gegenſatz zu den
derben Sitten des Landes giebt der Beginn des
Erndtefeſtes. Dieſes wird nur auf Edelhöfen
und großen Pachtungen im altherkömmlichen Style
gefeiert. Der voranſchreitenden Muſik folgt der
Erndtewagen mit dem letzten Fuder, auf deſſen
Garben die Großmagd thront, über ſich auf einer
Stange den funkelnden Erndtekranz; dann folgen
ſämmtliche Dienſtleute, paarweiſe mit gefalteten
Händen, die Männer baarhaupt, ſo ziehen ſie lang-
ſam über das Feld dem Edelhofe zu, das Te Deum
nach der ſchönen alten Melodie des katholiſchen
Ritus abſingend, ohne Begleitung, aber bei jedem
dritten Verſe von den Blasinſtrumenten abgelöſt,
was ſich überaus feierlich macht, und gerade bei
dieſen Menſchen, und unter freiem Himmel etwas
wahrhaft Ergreifendes hat. Im Hofe angelangt,
ſteigt die Großmagd ab, und trägt ihren Kranz
mit einem artigen Spruche zu jedem Mitgliede der
Familie, vom Hausherrn an bis zum kleinſten
[261] Junkerchen auf dem Schaukelpferde, dann wird er
über das Scheuerthor an die Stelle des vorigjäh-
rigen gehängt, und die Luſtbarkeit beginnt. —
Obwohl ſich keiner ausgezeichneten Singorgane er-
freuend, ſind die Paderborner doch überaus geſang-
liebend; überall — in Spinnſtuben — auf dem
Felde — hört man ſie quinkeliren und pfeifen, —
ſie haben ihre eigenen Spinn-, ihre Acker-, Flachs-
brech- und Rauflieder, das letzte iſt ein ſchlimmes
Spottlied, was ſie nach dem Takte des Raufens
jedem Vorübergehenden aus dem Stegreif zuſingen. —
Sonderlich junge Herren, die ſich, dem Verhältniſſe
nach, zu Freiern ihrer Fräulein qualifiziren, können
darauf rechnen, nicht ungeneckt vorbei zu kommen,
und ſich von zwanzig bis dreißig Stimmen nach-
krähen zu hören: „He! he! he! er iſt ihr zu dick,
er hat kein Geſchick,“ — oder, „er iſt ihr zu arm,
daß Gott erbarm! Den Kuinkel den kuank, der Vogel
der ſang, das Jahr iſt lang, oh! oh! oh! laßt
ihn gehn!“ Ueberhaupt rühmen ſie ſich gern, wo
es ihnen Anlaß zum Streit verſpricht, ihrer Herr-
ſchaft, als ob ſie aus Gold wäre; ſtehen auch in
ernſteren Fällen aus demſelben Grunde bisweilen
zu ihr gleich dem Beſten, und es iſt hier, wie bei
der Pariſer Polizei, nichts Ungewöhnliches, die
ſchlimmſten „Wildſchützen“ nach einigen Jahren als
Forſtgehülfen wieder zu finden, denen es alsdann
[262] ein Herzensgandium iſt, ſich mit ihren alten Kame-
raden zu raufen, und den bekannten Liſten neue
entgegen zu ſetzen; und noch vor Kurzem packten
ein Dutzend ſolcher Praktiker ihren Herzensfreund,
den Dorfſchulmeiſter, der ſie früher in der Taktik
des „Holzſuchens“ unterrichtet hatte, wie er eben
daran war, die dritte oder vierte Auflage der Re-
kruten einzuüben, etwa achtzig baarfüßige Schlingel
nämlich, die, wie junge Wölfe, zuerſt mit dem Blut-
ausſaugen anfangen, mit ihren krummen Meſſern
kunſtfertig in dem jungen Schlag wütheten, während
der Pädagog, von einer breiten Buche herab, das
Commando führte. Wir haben bereits den Volks-
aberglauben erwähnt; dieſer äußert ſich, neben der
Geſpenſterfurcht und dem Hexenglauben, vorzugs-
weiſe in ſympathetiſchen Mitteln und dem ſogenannten
Beſprechen, einem Act, der Manches zu denken
giebt und deſſen wirklich ſeltſame Erfolge ſich durch
bloßes Hinwegläugnen keineswegs beſeitigen laſſen.
Wir ſelbſt müſſen geſtehen, Zeugen unerwarteter
Reſultate geweſen zu ſein. — Auf die Felder, die
der Beſprecher mit ſeinem weißen Stäbchen um-
ſchritten, und worauf er die Scholle eines verpfändeten
Ackers geworfen hat, wagt ſich in der That kein
Sperling, kein Wurm, fällt kein Mehlthau, und
es iſt überraſchend, die Strecken mit ſchweren,
niederhangenden Aehren zwiſchen weiland Flächen
[263] leeren Strohes zu ſehen. Ferner: ein prächtiger
Schimmel, arabiſcher Race, und überaus feurig,
war, zu einem übermäßigen Sprunge geſpornt, ge-
ſtürzt und hatte ſich die Zunge dicht an der Wurzel
durchgebiſſen. — Da das Schlagen des wüthenden
Thieres es in den erſten Tagen unmöglich machte,
der Wunde beizukommen, war der Brand hinzu-
getreten, und ein ſehr geſchickter Arzt erklärte das
ſchöne Pferd für rettungslos verloren. — Jetzt
ward zur „Waffenſalbe“ geſchritten, keinem Arznei-
mittel, wie man wahrſcheinlich glauben wird, ſon-
dern einem geheimnißvollen, mir unbekannt geblie-
benen, Gebrauch, zu deſſen Behuf dem mehrere
Stunden entfernten Beſprecher nur ein von dem
Blut des Thieres beflecktes Tuch geſandt wurde. —
Man kann ſich denken, welches Vertrauen ich in
dieſes Mittel ſetzte! Am nächſten Tage wurde das
Thier jedoch ſo ruhig, daß ich dieſes als ein Zeichen
ſeiner nahenden Auflöſung anſah; — am folgenden
Morgen richtete es ſich auf, zerbiß und verſchluckte,
obwohl etwas mühſam, einige Brodſcheiben ohne
Rinde, — am dritten Morgen ſahen wir zu unſerm
Erſtaunen, daß es ſich über das in der Raufe be-
findliche Futter hergemacht, und einen Theil des-
ſelben bereits verzehrt hatte, während nur ein be-
hutſames Auswählen der weicheren Halme und ein
leiſes Zucken um Lippen und Nüſtern die Empfind-
[264] lichkeit der, wie wir uns durch den Augenſchein
überzeugen mußten, völlig geſchloſſenen Wundſtelle
andeuteten; und ſeitdem habe ich den ſchönen Araber
manches mal friſch und feurig, wie zuvor, mit
ſeinem Reiter durchs Feld ſtolziren ſehen. — Der-
gleichen und Aehnliches fällt oft vor und hierbei
iſt die Annäherung des Beſprechers oder ſeines
Mittels an den zu beſprechenden Gegenſtand immer
ſo gering (in manchen Fällen, wie dem eben ge-
nannten, fällt ſie gänzlich fort), daß eine Erklärung
durch natürlich wirkende Eſſenzen hier keine Statt
haben kann, ſo wie die vielbeſprochene Macht der
Phantaſie bei Thieren, Kräutern und ſelbſt Geſtein
wegfallen muß, und dem Erklärer wohl nur die
Kraft des menſchlichen Glaubens, die magnetiſche
Gewalt eines feſten Willens über die Natur als
letztes Auskunftsmittel bleiben dürfte. — Folgenden
Vorfall haben wir aus dem Munde eines glaub-
würdigen Augenzeugen: In dem Garten eines
Edelhofes hatte die grüne Kohlraupe dermaßen
überhand genommen, daß der Beſitzer, obwohl
Proteſtant, in ſeinem Ueberdruſſe endlich zum Be-
ſprecher ſchickte. — Dieſer fand ſich alsbald ein,
umſchritt die Gemüſefelder, leiſe vor ſich hinmur-
melnd, wobei er mit ſeinem Stäbchen hier und
dort einen Kohlkopf berührte. Nun ſtand un-
mittelbar am Garten ein Stallgebäude, an deſſen
[265] ſchadhaftem Dache einige Arbeiter flickten, die ſich
den Spaß machten, den Zauberer durch Spottreden,
hinabgeworfene Kalkſtückchen ꝛc. zu ſtören. — Nach-
dem dieſer ſie wiederholt gebeten hatte, ihn nicht
zu irren, ſagte er endlich: „Wenn ihr nicht Ruhe
haltet, ſo treibe ich euch die Raupen auf das Dach,“
und als die Neckereien dennoch nicht aufhörten,
ging er an die nächſte Hecke, ſchnitt eine Menge
fingerlanger Stäbchen, ſtellte ſie horizontal an die
Stallmauer und entfernte ſich. — Alsbald ver-
ließen ſämmtliche Raupen ihre Pflanzen, krochen in
breiten grünen Colonnen über die Sandwege an
den Stäbchen die Mauer aufwärts, und nach einer
halben Stunde hatten die Arbeiter das Feld ge-
räumt und ſtanden im Hofe, mit Ungeziefer be-
ſäet, und nach dem Dache deutend, das wie mit
einer grünen wimmelnden Decke überzogen war. —
Wir geben das Ebenerzählte übrigens keineswegs
als etwas Beſonderes, da die oben berührte Er-
klärung durch auf den Geruch wirkende Eſſenzen
hier am erſten ſtattfinden dürfte, ſondern nur als
ein kleines Genrebild aus dem Thun und Treiben
eines phantaſiereichen und eben beſprochenen Volkes.
Ehe wir von dieſem zu anderen übergehen, er-
lauben wir uns noch zum Schluſſe die Mittheilung
einer vor etwa vierzig Jahren vorgefallenen Scene,
die allerdings unter der jetzigen Regierung nicht mehr
[266] ſtattfinden könnte, jedoch den Charakter des Volks
zu anſchaulich darſtellt, als daß wir ſie am unge-
eigneten Orte glauben ſollten. — Zu jener Zeit
ſtand den Gutsbeſitzern die niedere Gerichtsbarkeit
zu und wurde mitunter ſtreng gehandhabt, wobei
ſich, wie es zu gehen pflegt, der Untergebene mit
der Härte des Herrn, der Herr mit der Böswillig-
keit des Untergebenen entſchuldigte, und in dieſer
Wechſelwirkung das Uebel ſich fortwährend ſteigerte.
Nun ſollte der Vorſteher (Meier) eines Dorfes,
allzugrober Betrügereien und Diebſtähle halber ſeines
Amtes entſetzt werden. — Er hatte ſich Manchen
verpflichtet, Manchen bedrückt und die Gemeinde
war in zwei bittere Parteien geſpalten. — Schon
ſeit mehreren Tagen war eine tückiſche Stille im
Dorfe bemerkt worden, und als am Gerichtstage
der Gutsherr, aus Veranlaſſung des Unwohlſeins,
ſeinen Geſchäftsführer bevollmächtigte, in Verein mit
dem eigentlichen Juſtitiar die Sache abzumachen,
war den beiden Herren dieſe Abänderung keines-
weges angenehm, da ihnen recht wohl bewußt war,
daß der Bauer ſeine Herrſchaft zwar haßt, jeden
Städter aber und namentlich „das Schreibervolk“
aus tiefſter Seele verachtet. Ihre Beſorgniß ward
nicht gemindert, als einige Stunden vor der Sitzung
ein Schwarm baarfüßiger Weiber in den Schloß-
hof zog, wahre Poiſſarden, mit fliegenden Haaren
[267] und Kindern auf dem Arm, ſich vor dem Haupt-
gebäude zuſammendrängte und wie ein Neſt junger
Teufel zu krähen anfing: „Wir revoltiren! wir
proteſtiren! wir wollen den Meier behalten! unſere
Kerle ſind auf dem Felde und mähen, und haben
uns geſchickt, wir revoltiren!“ Der Gutsherr trat
ans Fenſter und rief hinaus: „Weiber! macht euch
fort, der Amtmann (Juſtitiar) iſt noch nicht da,“
worauf der Schwarm ſich allmählich, unter Geſchrei
und Fluchen verlor. Als nach einigen Stunden
die Sitzung begonnen hatte, und die bereits abge-
haltenen Verhöre verleſen wurden, erhob ſich unter
den Fenſtern des Gerichtslokals ein dumpfes, viel-
ſtimmiges Gemurmel, das immer zunahm, —
dann drängten ſich ein paar ſtarkknochige Männer
in die Stube, — wieder andere, in Kurzem war
ſie zum Erſticken überfüllt. Der Juſtitiar, an
ſolche Auftritte gewöhnt, befahl ihnen mit ernſter
Stimme hinauszugehen; — ſie gehorchten wirklich,
ſtellten ſich aber, wie er ſehr wohl ſah, vor der
Thür auf; zugleich bemerkte er, daß Einige, mit
grimmigem Blicke auf die Gegenpartei, ihre Kittel
lüfteten und kurze ſchwere Knittel ſichtbar werden
ließen, was von der anderen Seite mit einer ähn-
lichen Pantomime erwiedert wurde. — Dennoch
las er das Urtheil mit ziemlicher Faſſung ab, und
ſchritt dann, ſeinen Gefährten am Kleide zupfend,
[268] haſtig der Thür zu. — Dort aber drängten ſich
die Außenſtehenden hinein, und ließen ihre Knittel
ſpielen, und — daß wir es kurz machen — die
heilige Juſtiz mußte froh ſein, die Nähe eines
Fenſters zu einem etwas unregelmäßigen Rückzuge
benutzen zu können. — Dem Gutsherrn war in-
deſſen durch den ſich allmählig nach Außen ziehen-
den Tumult die Lage der Dinge bereits klar ge-
worden, und er hatte die Schützengilde aufbieten
laſſen, lauter Angehörige der Betheiligten, die ſich
freuten, bei dieſer ſchönen Gelegenheit auch einmal
darauf loswaſchen zu können. — Sie waren eben
aufmarſchirt, als die Sturmglocke erſchallte. —
Einige Schützen rannten nun ſpornſtreichs in den
Thurm, wo ſie ein altes Weib fanden, das aus
Leibeskräften den Strang zog, ſofort aber gepackt
und auf Umwegen ins Hundeloch ſpedirt wurde.
Indeſſen ſtand der Gutsherr am Fenſter, und
überwachte mit ſeinem Tubus die Wege, welche zu
den berüchtigtſten Dörfern führten, und nicht lange,
ſo ſah er es von allen Bergen herunter wimmeln,
wie die Beduinenſchwärme, er konnte deutlich die
Knittel in ihren Händen unterſcheiden und an
ihren Gebärden ſehen, wie ſie ſich einander riefen
und zuwinkten. Schnell beſonnen, warf er einen
Blick auf die Windfahne des Schloßthurmes, und
nachdem er ſich überzeugt hatte, daß die Luft den
[269] Lärm nicht bis zu der Stelle führe, wo die
Kommenden etwa in einer Viertelſtunde angelangt
ſein konnten, wurden eilends einige zuverläſſige
Leute abgefertigt, die in Hemdärmeln mit Senſe
und Rechen, wie Arbeiter, die aufs Feld ziehen,
den verſchiedenen Trupps entgegen ſchlendern und
ihnen erzählen mußten, das Geläute im Dorfe
habe einem brennenden Schlote gegolten, der aber
bereits gelöſcht ſei. Die Liſt gelang, alle trollten
ſich fluchend heim, während drinnen die Schützen-
gilde auch ihr Beſtes mit Fauſt und Kolben that,
und ſo der ganze Scandal mit einigen ernſtlich
Verwundeten und einem Dutzend ins Loch Geſteckten
endigte, zwei Drittel der Gemeinde aber eine Woche
lang wie mit Peſtbeulen behaftet ausſahen, und
eine beſondere Schwerfälligkeit in ihren Bewegungen
zeigten. — Aehnliche Auftritte waren früher ſo
gewöhnlich, wie das tägliche Brod; noch heute,
trotz des langjährigen Zwanges, iſt der gemeine
Mann innerlich nicht um ein Haar breit von
ſeinen Gelüſten und Anſichten abgewichen, er kann
wohl niedergehalten werden, die Gluth wird aber
unter der Aſche immer fortglimmen. — Erhöhter
Wohlſtand würde Einiges mildern, wären nicht
Leichtſinn und die Leidenſchaft, welche zuerſt eine
dürftige Bevölkerung zu Wege bringen, deren ge-
ringes Eigenthum Schenkwirthen und Winkel-
[270] advokaten zur Beute wird. — Dennoch kann man
ſich des Bedauerns mit einem Volke nicht enthalten,
das mit Kraft, Scharfſinn und Ausdauer begabt
und im Beſitze eines geſegneten Bodens, in ſo
vielen ſeiner Glieder den traurigſten Verhältniſſen
anheimgefallen iſt.
[[271]]
3.
Die Grenze. — Münſteriſches Stillleben. — Patriarcha-
liſches Weſen. — Brautwerbung und Hochzeitsgebräuche. —
Frömmigkeit und harmloſer Aberglaube. — Die Vor-
geſchichte. — Duldender Muth und Herzensgüte.
Selten mögen wenige Meilen einen ſo raſchen
Uebergang hervorbringen, als jene, welche die Grenz-
ſtriche Paderborns und ſeines frommen Nachbar-
landes, des Bisthums Münſter, bilden. — Noch
vor einer Stunde, hinter dem nächſten Hügel, haben
kleine ſchwarzbraune Schlingel, die, im halben Na-
turzuſtande, ihre paar mageren Ziegen weniger
hüteten, als bei ihnen diebswegen Wache ſtanden,
auf deine Frage nach dem Wege dich zuerſt durch
verſtelltes Mißverſtehen und Witzeleien gehöhnt, und
dir dann unfehlbar einen Pfad angegeben, wo du
wie eine Unke im Sumpfe, oder wie Abrahams
Widder in den Dornen geſteckt haſt, — d. h. wenn
du nicht mit Geld klimperſt, denn in dieſem Falle
haben nicht einer, ſondern ſämmtliche Buben ihre
[272] Ziegen, um ſie deſto ſicherer wiederzufinden, in’s
Kornfeld getrieben und mindeſtens ein Dutzend
Zäune zerbrochen und Pfähle ausgeriſſen, um dir
den nächſten Weg zu bahnen, und du haſt dich,
gut oder übel, zu einer vierfachen Abfindung ent-
ſchließen müſſen, — und jetzt ſtehſt du wie ein
Amerikaner, der ſo eben den Wigwams der Irokeſen
entſchlüpft iſt, und die erſten Einfriedigungen einer
Herrnhuterkolonie betritt, vor ein paar runden
Flachsköpfen, in mindeſtens vier Kamiſölern, Zipfel-
mützen, Wollſtrümpfen und den landesüblichen Holz-
ſchuhen, die ihre Kuh ängſtlich am Strick halten
und vor Schrecken aufſchreien, wenn ſie nach einer
Aehre ſchnappt. Ihre Züge, deren Milchhaut die
Sonne kaum hat etwas anhaben können, tragen
ſo offen den Ausdruck der gutmüthigſten Einfalt,
daß du dich zu einer nochmaligen Nachfrage ent-
ſchließeſt. „Herr!“ ſagt der Knabe, und reicht dir
eine Kußhand, „das Ort weiß ich nicht.“ — Du
wendeſt dich an ſeinen Nachbar, der gar nicht ant-
wortet, ſondern dich nur anblinzt, als dächte er,
du wolleſt ihn ſchlagen. — „Herr!“ nimmt der
Erſtere wieder das Wort, „der weiß es auch nicht;“
verdrießlich trabſt du fort, aber die Knaben haben
zuſammen geflüſtert und der große Redner kömmt
dir nachgeklappert: „Meint der Herr vielleicht —?
(hier nennt er den Namen des Orts im Volks-
[273] dialekt); auf deine Bejahung ſtapft er herzhaft vor
dir her, immer nach ſeinen Kameraden umſchauend,
die ihm mit ihren Augen den Rücken decken, bis zum
nächſten Kreuzweg; dann haſtig mit der Hand eine
Richtung bezeichnend, ſpringt er fort, ſo ſchnell es
ſich in Holzſchuhen galoppiren läßt, und du ſteckſt
deinen Dreier wieder ein, oder wirfſt ihn in den
Sand, wo die kleinen Haidläufer, die dich aus der
Ferne beobachten, ihn ſchon nicht werden umkommen
laſſen. — In dieſem Zuge haſt du den Charakter
des Landvolkes in Kürze. — Gutmüthigkeit, Furcht-
ſamkeit, tiefes Rechtsgefühl und eine ſtille Ordnung
und Wirthlichkeit, die, trotz ſeiner geringen Anlage
zur Speculation und glücklichen Gedanken, ihm doch
einen Wohlſtand zu Wege gebracht hat, der ſelbſt
den ſeines gewerbtreibenden Nachbars, des Sauer-
länders, weit übertrifft. Der Münſterländer hei-
rathet ſelten, ohne ein ſicheres Einkommen in der
Hand zu haben, und verläßt ſich, wenn ihm dieſes
nicht beſchieden iſt, lieber auf die Milde ſeiner Ver-
wandten oder ſeines Brodherrn, der einen alten
Diener nicht verſtoßen wird; und wirklich giebt es
keine, einigermaßen bemittelte Wirthſchaft, ohne ein
paar ſolcher Segenbringer, die ihre müden Knochen
auf dem beſten Platze am Herde auswärmen. —
Die illegitime Bevölkerung iſt gar nicht in Anſchlag
18
[274] zu bringen, obwohl jetzt eher, als wie vor dreißig
Jahren, wo wir in einer Pfarre von fünftauſend
Seelen ein einziges uneheliches Kind antrafen.
Bettler giebt es unter dem Landvolke nicht,
weder dem Namen, noch der That nach, ſondern
nur in jeder Gemeinde einige „arme Männer oder
Frauen,“ denen in bemittelten Häuſern nach der
Reihe die Koſt gereicht wird, wo dann die nach-
läſſigſte Mutter ihr Kind ſtrafen würde, wenn es
an dem „armen Mann“ vorüberging, ohne ihn
zu grüßen. — So iſt Raum, Nahrung und Frieden
für Alle da, — die Regierung möchte gern zu
einer ſtärkeren Bevölkerung anregen, die aber gewiß
traurige Folgen haben würde bei einem Volke, das
wohl ein Eigenthum verſtändig zu bewirthſchaften
weiß, dem es aber zum Gewerbe mit leerer Hand
gänzlich an Geſchick und Energie fehlt, und das
Sprichwort: „Noth lehrt beten“ (resp. arbeiten),
würde ſich ſchwerlich hinlänglich hier bewähren, wo
ſchon die laue, feuchte Luft den Menſchen träu-
meriſch macht, und ſeine Schüchternheit zum Theil
körperlich iſt, ſo daß man ihn nur anzuſehen braucht,
um das langſame Rollen ſeines Bluts gleichſam
mitzufühlen.
Der Münſterländer iſt groß, fleiſchig, ſelten
von großer Muskelkraft; ſeine Züge ſind weich, oft
äußerſt lieblich, und immer durch einen Ausdruck
[275] von Güte gewinnend, aber nicht leicht intereſſant,
da ſie immer etwas Weibliches haben, und ſelbſt
ein alter Mann oft frauenhafter ausſieht, als eine
Paderbörnerin in den mittleren Jahren; die helle
Haarfarbe iſt durchaus vorherrſchend; man trifft alte
Flachsköpfe, die vor Blondheit nicht haben ergrauen
können.
Dieſes und alles dazu Gehörige — die
Hautfarbe — blendendweiß und roſig, und den
Sonnenſtrahlen bis in’s überreife Alter widerſtehend,
die lichtblauen Augen, ohne kräftigen Ausdruck,
das feine Geſicht mit faſt lächerlich kleinem Munde,
hierzu ein oft ſehr anmuthiges und immer wohl-
wollendes Lächeln und ſchnelles Erröthen, ſtellen
die Schönheit beider Geſchlechter auf ſehr ungleiche
Wage, — es giebt nämlich faſt keinen Mann, den
man als ſolchen wirklich ſchön nennen könnte, wäh-
rend unter zwanzig Mädchen wenigſtens funfzehn als
hübſch auffallen und zwar in dem etwas faden, aber
doch lieblichen Geſchmacke der engliſchen Kupferſtiche. —
Die weibliche Landestracht iſt mehr wohlthätig als
wohlſtehend; recht viele Tuchröcke mit dicken Falten,
recht ſchwere Goldhauben und Silberkreuze an
ſchwarzem Sammetbande, und bei den Ehefrauen
Stirnbänder an möglichſt breiter Spitze, bezeichnen
hier den Grad des Wohlſtandes, da ſelten Jemand
18*
[276] in den Laden geht ohne die nöthigen blanken Thaler
in der Hand, und noch ſeltener durch Putzſucht
das richtige Verhältniß zwiſchen der Kleidung und
dem ungeſchnittenen Leinen und anderen häuslichen
Schätzen geſtört wird. — Der Hausſtand in den,
zumeiſt vereinzelt liegenden Bauernhöfen iſt groß
und in jedem Betracht reichlich, aber durchaus
bäuriſch. — Das lange Gebäude von Ziegelſteinen,
mit tief niederragendem Dache, und von der Tenne
durchſchnitten, an der zu beiden Seiten eine lange
Reihe Hornvieh, oſtfrieſiſcher Race, mit ſeinen Ketten
klirrt, — die große Küche, hell und ſauber, mit
gewaltigem Kamine, unter dem ſich das ganze Haus-
perſonal bergen kann; das viele zur Schau geſtellte
blanke Geſchirr und die abſichtlich an den Wänden
der Fremdenſtube aufgethürmten Flachsvorräthe er-
innern ebenfalls an Holland, dem ſich überhaupt
dieſe Provinz, was Wohlſtand und Lebensweiſe be-
trifft, bedeutend nähert, obwohl Abgeſchloſſenheit
und gänzlich auf den inneren Verkehr beſchränktes
Wirken ihre Bevölkerung von all den ſittlichen Ein-
flüſſen, denen handelnde Nationen nicht entgehen
können, ſo frei gehalten haben, wie kaum einen
anderen Landſtrich. Ob ſtarke Reibungen mit der
Außenwelt dem Münſterländer den Muth und die
Betriebſamkeit des Batavers, — ein patriarchaliſches
Leben dieſem die Sitteneinfalt und Milde des
[277] Münſterländers geben könnten, müſſen wir dahin
geſtellt ſein laſſen, bezweifeln es aber; jetzt mindeſtens
ſind ſie ſich in den Zügen, die man als die natio-
nalſten Beider anzuſehen pflegt, faſt feindlich ent-
gegengeſetzt, und verachten ſich auch gegenſeitig, wie
es Nachbarn zukömmt. Wir haben ſchon früher
von dem überaus friedlichen Eindrucke eines Mün-
ſteriſchen Gehöftes geſprochen. — In den Sommer-
monaten, wo das Vieh im Felde iſt, vernimmſt du
keinen Laut, außer dem Bellen des ſich an ſeiner
Kette abzappelnden Hofhundes, und, wenn du dicht
an der offenen Hausthür herſchreiteſt, dem leiſen Zirpen
der in den Mauerneſſeln aus- und einſchlüpfenden
Küchlein und dem gemeſſenen Pendelſchwung der
Uhr, mit deſſen Gewichten ein paar junge Kätzchen
ſpielen; — die im Garten jätenden Frauen ſitzen
ſo ſtill gekauert, daß du ſie nicht ahndeſt, wenn
ein zufälliger Blick über den Hagen ſie dir nicht
verräth und die ſchönen ſchwermüthigen Volksbal-
laden, an denen dieſe Gegend überreich iſt, hörſt du
etwa nur auf einer nächtlichen Wanderung durch
das Schnurren der Spinnräder, wenn die blöden
Mädchen ſich vor jedem Ohre geſichert glauben. —
Auch auf dem Felde kannſt du im Gefühl der tiefſten
Einſamkeit gelaſſen fortträumen, bis ein zufälliges
Räuspern oder das Schnauben eines Pferdes dir
verräth, daß der Schatten, in den du ſoeben trittſt,
[278] von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen
wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter
geſchritten biſt, die ſich weiter nicht wundern,
daß der „nachdenkende Herr“ ihr Hutabnehmen
nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung
„andächtig“ iſt, das heißt den Roſenkranz aus
dem Gedächtniſſe herſagt. — Dieſe Ruhe und
Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver-
breiten ſich auch über alle Lebensverhältniſſe. —
Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver-
geſſen, und alten Leuten treten noch Thränen in
die Augen, wenn ſie von ihren verſtorbenen Eltern
reden. An den Eheſchlüſſen hat frühere Neigung
nur ſelten Theil; Verwandte und achtbare Freunde
empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort
des Geachtetſten giebt in der Regel den Ausſchlag, —
ſo kömmt es, daß manches Ehepaar ſich vor der
Copulation kaum einmal geſehen hat, und unter
der franzöſiſchen Regierung kam nicht ſelten der
lächerliche Fall vor, daß Sponſen, die meilenweit
hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen
Scheine bei der Behörde zu löſen, weder Vor- noch
Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die ſie in
der nächſten Woche zu heirathen gedachten, und ſich
höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd
oder Nichte irgend eines angeſehenen Gemeindegliedes
nicht hinreichend gefunden wurde. — Daß unter
[279] dieſen Umſtänden die möglichſt große Anzahl der
Anträge noch ehrenvoller und für den Ruf ent-
ſcheidender iſt, als anderwärts, begreift ſich, und wir
ſelbſt wohnten der Trauung eines wahren Kleinodes
von Brautpaare bei, wo der Bräutigam unter acht-
undzwanzigen, die Braut unter zweiunddreißigen
gewählt hatte. Trotz der vorläufigen Verhandlung
iſt jedoch ſelbſt der Glänzendſte hier ſeines Erfolges
nicht ſicher, da die Ehrbarkeit ein beſtimmtes Ein-
gehen auf die Anträge des Brautwerbers verbietet,
und jetzt beginnt die Aufgabe des Freiers. Er tritt
an einem Nachmittage in das Haus der Geſuchten
und zwar jedesmal unter dem Vorwande, ſeine
Pfeife anzuzünden, — die Hausfrau ſetzt ihm einen
Stuhl und ſchürt ſchweigend die Gluth auf, dann
knüpft ſie ein gleichgültiges Geſpräch an vom Wetter,
den Kornfrüchten ꝛc. und nimmt unterdeſſen eine
Pfanne vom Geſimſe, die ſie ſorgfältig ſcheuert und
über die Kohlen hängt. Jetzt iſt der entſcheidende
Augenblick gekommen. — Sieht der Freier die Vor-
bereitungen zu einem Pfannenkuchen, ſo zieht er
ſeine dicke ſilberne Uhr hervor und behauptet, ſich
nicht länger aufhalten zu können; werden aber Speck-
ſchnitzel und Eier in die Pfanne gelegt, ſo rückt er
kühnlich mit ſeinem Antrage heraus, die jungen
Leute wechſeln „die Treue,“ nämlich ein Paar alte
Schaumünzen, und der Handel iſt geſchloſſen.
[280]
Einige Tage vor der Hochzeit macht der Gaſt-
bitter mit ellenlangem Spruche ſeine Runde, oft
meilenweit, da hier, wie bei den Schotten, das ver-
wandte Blut bis in das entfernteſte Glied und bis
zum Aermſten hinab geachtet wird. — Nächſt die-
ſem dürfen vor Allen die ſogenannten Nachbarn
nicht übergangen werden, drei oder vier Familien
nämlich, die vielleicht eine halbe Meile entfernt woh-
nen, aber in uralten Gemeinderegiſtern, aus den
Zeiten einer noch viel ſparſameren Bevölkerung, als
„Nachbarn“ verzeichnet ſtehen, und gleich Prinzen
von Geblüt vor den näheren Seitenverbindungen,
ſo auch ihre Rechte und Verpflichtungen vor den,
vielleicht erſt ſeit ein paar hundert Jahren Näher-
wohnenden wahren. — Am Tage vor der Hochzeit
findet der „Gabenabend“ ſtatt — eine freundliche
Sitte, um den jungen Anfängern über die ſchwerſte
Zeit wegzuhelfen. Abends, wenn es bereits ſtark
dämmert, tritt eine Magd nach der andern in’s
Haus, ſetzt mit den Worten: „Gruß von unſerer
Frau“ einen mit weißem Tuch bedeckten Korb auf
den Tiſch und entfernt ſich ſofort; dieſer enthält
die Gabe: Eier, Butter, Geflügel, Schinken — je
nach den Kräften eines Jeden — und die Geſchenke
fallen oft, wenn das Brautpaar unbemittelt iſt, ſo
reichlich aus, daß dieſes um den nächſten Winter-
vorrath nicht ſorgen darf. — Eine liebenswürdige,
[281] das Volk bezeichnende Höflichkeit des Herzens ver-
bietet die Ueberbringung der Gabe durch ein Fa-
milienmitglied; wer keine Magd hat, ſchickt ein frem-
des Kind. — Am Hochzeitmorgen, etwa um acht,
beſteigt die Braut den mit einer weißen, goldflin-
kernden Fahne geſchmückten Wagen, der ihre Aus-
ſtattung enthält; — ſie ſitzt allein zwiſchen ihren
Schätzen, im beſten Staate, aber ohne beſonderes
Abzeichen und weint auf’s Jämmerlichſte; auch die
auf dem folgenden Wagen gruppirten Brautjungfern
und Nachbarinnen beobachten eine ernſte, verſchämte
Haltung, während die auf dicken Ackergäulen nebenher
trabenden Burſche durch Hutſchwenken und hier und
dort ein ſchwerfälliges Juchhei ihre Luſtigkeit aus-
zudrücken ſuchen, und zuweilen eine alte, blindge-
ladene Flinte knallen laſſen. — Erſt vor der Pfarr-
kirche findet ſich der Bräutigam mit ſeinem Gefolge
ein, beſteigt aber nach der Trauung nicht den Wagen
der Braut, ſondern trabt als einziger Fußgänger
nebenher bis zur Thür ſeines Hauſes, wo die
junge Frau von der Schwiegermutter empfangen
und mit einem „Gott ſegne deinen Ein- und Aus-
gang“ feierlich über die Schwelle geleitet wird. —
Lebt die Mutter nicht mehr, ſo vertritt der Pfarrer
ihre Stelle, oder, wenn er zufällig gegenwärtig iſt,
der Gutsherr, was für eine ſehr glückliche Vorbe-
deutung gehalten wird, die den Neuvermählten und
[282] ihren Nachkommen den ungeſtörten Genuß des Hofes
ſichert, nach dem Spruche: „Wen die Herrſchaft
einleitet, den leitet ſie nicht wieder heraus.“ Wäh-
rend dieſer Ceremonie ſchlüpft der Bräutigam in
ſeine Kammer und erſcheint alsbald in Kamiſol,
Zipfelmütze und Küchenſchürze. In dieſem Aufzuge
muß er an ſeinem Ehrentage den Gäſten aufwarten,
nimmt auch keinen Theil am Hochzeitsmahle, ſon-
dern ſteht, mit dem Teller unterm Arme, hinter der
Braut, die ihrerſeits keinen Finger rührt und ſich
wie eine Prinzeſſin bedienen läßt. — Nach Tiſche
beginnen auf der Tenne die althergebrachten Tänze:
„der halbe Mond,“ „der Schuſtertanz,“ „hinten im
Garten“, manche mit den anmuthigſten Ver-
ſchlingungen. — Das Orcheſter beſteht aus einer
oder zwei Geigen und einer invaliden Baßgeige, die
der Schweinehirt oder Pferdeknecht aus dem Steg-
reif ſtreicht. — Iſt das Publikum ſehr muſikliebend,
ſo kommen noch wohl ein Paar Topfdeckel hinzu
und eine Kornſchwinge, die abwechſelnd von den
Gäſten mit einem Spane aus Leibeskräften wider
den Strich gekratzt wird. — Nimmt man hiezu
das Gebrüll und Kettengeklirr des Viehes, das er-
ſchrocken an ſeinen Ständern ſtampft, ſo wird man
zugeben, daß die unerſchütterliche Gravität der Tänzer
mindeſtens nicht dem Mangel an aufregendem Ge-
räuſche zuzuſchreiben iſt. Hier und dort läßt wohl
[283] ein Burſche ein Juchhei los, was aber ſo einſam
klingt, wie ein Eulenſchrei in einer Sturmnacht. —
Bier wird mäßig getrunken, Branntwein noch
mäßiger, aber ſiedender Kaffee „zur Abkühlung“ in
ganzen Strömen, und mindeſtens ſieben blanke
Zinnkeſſel ſind in ſteter Bewegung. — Zwiſchen
dem Tanzen verſchwindet die Braut von Zeit zu
Zeit und kehrt allemal in einem andern Anzuge
zurück, ſo viel ihr derer zu Gebote ſtehen, vom
Trauſtaate an bis zum gewöhnlichen Sonntags-
putze, in dem ſie ſich noch ſtattlich genug ausnimmt,
in der damaſtenen Kappe mit breiter Goldtreſſe, dem
ſchweren Seidenhalstuche und einem ſo impoſanten
Körperumfange, als ihn mindeſtens vier Tuchröcke
übereinander hervorbringen können. Sobald die
Hängeuhr in der Küche Mitternacht geſchlagen hat,
ſieht man die Frauen ſich von ihren Bänken er-
heben und mit einander flüſtern; gleichzeitig drängt
ſich das junge Volk zuſammen, nimmt die Braut
in ſeine Mitte und beginnt einen äußerſt künſtlichen
Schneckentanz, deſſen Zweck iſt, im raſchen Durch-
einanderwimmeln immer eine vierfache Mauer um
die Braut zu erhalten, denn jetzt gilt’s den Kampf
zwiſchen Ehe und Jungfrauſchaft. — So wie die
Frauen anrücken, wird der Tanz lebhafter, die Ver-
ſchlingungen bunter, die Frauen ſuchen von allen
Seiten in den Kreis zu dringen, die Junggeſellen
[284] durch vorgeſchobene Paare ſie wegzudrängen; die
Parteien erhitzen ſich, immer raſcher wirbelt die
Muſik, immer enger zieht ſich die Spirallinie, Arme
und Kniee werden zu Hülfe genommen, die Burſche
glühen wie Oefen, die ehrwürdigen Matronen triefen
von Schweiß, und man hat Beiſpiele, daß die Sonne
über dem entſchiedenen Kampfe aufgegangen iſt;
endlich hat eine Veteranin, die ſchon einige zwanzig
Bräute in den Eheſtand gezerrt hat, ihre Beute
gepackt; plötzlich verſtummt die Muſik, der Kreis
ſtäubt auseinander, und Alles ſtrömt den Siegerinnen
und der weinenden Braut nach, die jetzt zum letzten
Male umgekleidet und mit Anlegung der fraulichen
Stirnbinde ſymboliſch von ihrem Mädchenthum
geſchieden wird, — ein Ehrendienſt, welcher den
(ſogenannten) Nachbarinnen zuſteht, an dem ſich aber
jede anweſende Ehefrau, die Gattin des Gutsherrn
nicht ausgenommen, durch irgend eine kleine Dienſt-
leiſtung betheiligt. Die Braut erſcheint nun bar-
häuptig und in Hemdärmeln, gleichſam eine be-
zwungene und fortan zum Dienen willige Brunhildis,
greift aber dennoch nach ihres Mannes bereitliegen-
dem Hute und ſetzt ihn auf; die Frauen thun des-
gleichen, und zwar jede den Hut ihres eigenen
Mannes, den er ihr ſelbſt ehrerbietig reicht und eine
ſtattliche Frauenmenuett beſchließt die Feier und giebt
zugleich die Vorbedeutung eines ehrenhaften, fleißigen,
[285] friedlichen Eheſtandes, in dem die Frau aber nie
vergißt, daß ſie am Hochzeitstage ihres Mannes
Hut getragen. Noch bleibt den Gäſten, bevor ſie
ſich zerſtreuen, eine ſeltſame Aufgabe: der Bräutigam
iſt nämlich während der Menuett unſichtbar ge-
worden, — er hat ſich verſteckt, offenbar aus Furcht
vor der behuteten Braut, und das ganze Haus wird
umgekehrt, ihn zu ſuchen; man ſchaut in und unter
die Betten, raſchelt im Stroh und Heu umher,
durchſtöbert ſogar den Garten, bis endlich Jemand
in einem Winkel voll alten Gerümpels den Quaſt
ſeiner Zipfelmütze oder ein Endchen der Küchen-
ſchürze entdeckt, wo er dann ſofort gefaßt und mit
gleicher Gewalt und viel weniger Anſtand als ſeine
ſchöne Hälfte der Brautkammer zugeſchleppt wird.
Bei Begräbniſſen fällt wenig Ungewöhnliches vor,
außer daß der Tod eines Hausvaters ſeinen Bienen
angeſagt werden muß, wenn nicht binnen Jahresfriſt
alle Stöcke abzehren und verziehen ſollen, weshalb, ſo-
bald der Verſcheidende den letzten Athemzug gethan, ſo-
fort der Gefaßteſte unter den Anweſenden an den Stand
geht, an jeden Korb pocht und vernehmlich ſpricht:
„Einen Gruß von der Frau, der Herr iſt todt,“
worauf die Bienen ſich chriſtlich in ihr Leid finden
und ihren Geſchäften nach wie vor obliegen. Die
Leichenwacht, die in Stille und Gebet abgehalten
wird, iſt eine Pflicht jener entfernten Nachbarn, ſo
[286] wie das Leichenmahl ihr Recht und ſie ſorgen mit
dafür, daß der Todte ein feines Hemd erhält, recht
viele ſchwarze Schleifen und einen recht flimmernden
Kranz und Strauß von Spiegeln, Rauſchgold und
künſtlichen Blumen, da er unfehlbar am jüngſten
Tage in demſelben Aufzuge erſcheinen wird, wo ſie
dann Lob und Tadel mit den Hinterlaſſenen zu
theilen haben. Der Münſterländer iſt überhaupt
ſehr abergläubiſch, ſein Aberglaube aber ſo harmlos,
wie er ſelber. Von Zauberkünſten weiß er nichts,
von Hexen und böſen Geiſtern wenig, obwohl er
ſich ſehr vor dem Teufel fürchtet, jedoch meint, daß
dieſer wenig Veranlaſſung finde, im Münſterlande
umzugehen. Die häufigen Geſpenſter im Moor,
Haide und Wald ſind arme Seelen aus dem Fege-
feuer, deren täglich in vielen tauſend Roſenkränzen
gedacht wird, und ohne Zweifel mit Nutzen, da
man zu bemerken glaubt, daß die „Sonntags-
ſpinnerin“ ihre blutigen Arme immer ſeltener aus
dem Gebüſche ſtreckt, der „diebiſche Torfgräber“
nicht halb ſo kläglich mehr im Moore ächzt und
vollends der „kopfloſe Geiger“ ſeinen Sitz auf dem
Waldſtege gänzlich verlaſſen zu haben ſcheint. Von
den ebenfalls häufigen Hausgeiſtern in Schlöſſern
und großen Bauernhöfen denkt man etwas unklar,
aber auch nicht ſchlimm und glaubt, daß mit ihrem
völligen Verſchwinden die Familie des Beſitzers aus-
[287] ſterben oder verarmen werde. Dieſe beſitzen weder
die häuslichen Geſchicklichkeiten, noch die Tücke an-
derer Kobolde, ſondern ſind einſamer, träumeriſcher
Natur, ſchreiten, wenn es dämmert, wie in tiefen
Gedanken langſam und ſchweigend an irgend einer
verſpäteten Milchmagd oder einem Kinde vorüber
und find ohne Zweifel echte Münſterländer, da man
kein Beiſpiel hat, daß ſie Jemanden beſchädigt oder
abſichtlich erſchreckt hätten. Man unterſcheidet ſie in
„Timphüte“ und „Langhüte.“ Die erſteren kleine,
runzliche Männchen, in altmodiſcher Tracht, mit
eisgrauem Barte und dreieckigem Hütchen; die an-
deren übernatürlich lang und hager, mit langem
Schlapphut, aber beide gleich wohlwollend, nur daß
der Timphut beſtimmten Segen bringt, der Lang-
hut dagegen nur Unglück zu verhüten ſucht. Zu-
weilen halten ſie nur in den Umgebungen, den
Alleen des Schloſſes, dem Wald- und Wieſen-
grunde des Hofes ihre philoſophiſchen Spaziergänge;
gewöhnlich haben ſie jedoch außerdem einen Speicher
oder eine wüſte Bodenkammer inne, wo man ſie
zuweilen Nachts auf- und abgehen, oder einen
knarrenden Haspel langſam umdrehen hört. Bei
Feuersbrünſten hat man den Hausgeiſt ſchon ernſt-
haft aus den Flammen ſchreiten und einen Feldweg
einſchlagen ſehen, um nie wiederzukehren, und es
war dann hundert gegen eins zu wetten, daß die
[288] Familie bei dem Neubau in einige Verlegenheit und
Schulden gerathen würde.
Größere Aufmerkſamkeit als dieſes verdient
das ſogenannte „Vorgeſicht,“ ein bis zum Schauen
oder mindeſtens deutlichen Hören geſteigertes Ahnungs-
vermögen, ganz dem Second sight der Hoch-
ſchotten ähnlich, und hier ſo gewöhnlich, daß, ob-
wohl die Gabe als eine höchſt unglückliche eher
geheim gehalten wird, man doch überall auf noto-
riſch damit Behaftete trifft, und im Grunde faſt
kein Eingeborner ſich gänzlich davon freiſprechen
dürfte. — Der Vorſchauer (Vorgucker) im höheren
Grade iſt auch äußerlich kenntlich an ſeinem hell-
blonden Haare, dem geiſterhaften Blitze der waſſer-
blauen Augen, und einer blaſſen oder überzarten
Geſichtsfarbe; übrigens iſt er meiſtens geſund und
im gewöhnlichen Leben häufig beſchränkt und ohne
eine Spur von Ueberſpannung. — Seine Gabe
überkömmt ihn zu jeder Tageszeit, am Häufigſten
jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht, und
von fieberhafter Unruhe ins Freie oder ans Fenſter
getrieben wird; dieſer Drang iſt ſo ſtark, daß ihm
kaum Jemand widerſteht, obwohl Jeder weiß, daß
das Uebel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen,
zum völligen Entbehren der Nachtruhe geſteigert
wird; wogegen fortgeſetzter Widerſtand es allmäh-
lig abnehmen, und endlich gänzlich verſchwinden
[289] läßt. — Der Vorſchauer ſieht Leichenzüge — lange
Heereskolonnen und Kämpfe — er ſieht deutlich
den Pulverrauch und die Bewegungen der Fechten-
den, beſchreibt genau ihre fremden Uniformen und
Waffen, hört ſogar Worte in fremder Sprache, die
er verſtümmelt wiedergiebt, und die vielleicht erſt
lange nach ſeinem Tode auf demſelben Flecke wirk-
lich geſprochen werden. — Auch unbedeutende Be-
gebenheiten muß der Vorſchauer unter gleicher Be-
ängſtigung ſehen, z. B. einen Erndtewagen, der
nach vielleicht zwanzig Jahren auf dieſem Hofe
umfallen wird; er beſchreibt genau die Geſtalt und
Kleidung der jetzt noch ungebornen Dienſtboten, die
ihn aufzurichten ſuchen; die Abzeichen des Fohlens
oder Kalbes, das erſchreckt zur Seite ſpringt, und
in eine jetzt noch nicht vorhandene Lehmgrube
fällt ꝛc. — Napoleon grollte noch in der Kriegs-
ſchule zu Brienne mit ſeinem beengten Geſchicke, als
das Volk ſchon von „ſilbernen Reitern“ ſprach,
mit ſilbernen Kugeln auf den Köpfen, von denen
„ein langer, ſchwarzer Pferdeſchweif“ flatterte, ſo
wie von wunderlich aufgeputztem Geſindel, das auf
„Pferden wie Katzen“ (ein üblicher Ausdruck für
kleine knollige Roſſe) über Hecken und Zäune fliege,
in der Hand eine lange Stange mit eiſernem
Stachel daran. — Ein längſt verſtorbener Guts-
beſitzer hat viele dieſer Geſichte verzeichnet, und es
19
[290] iſt höchſt anziehend, ſie manchem ſpäteren ent-
ſprechenden Begebniſſe zu vergleichen. Der minder
Begabte und nicht bis zum Schauer Geſteigerte „hört“
— er hört den dumpfen Hammerſchlag auf dem
Sargdeckel und das Rollen des Leichenwagens, hört
den Waffenlärm, das Wirbeln der Trommeln, das
Trappeln der Roſſe, und den gleichförmigen Tritt
der marſchirenden Colonnen. — Er hört das Ge-
ſchrei der Verunglückten, und an Thür oder Fenſter-
laden das Anpochen desjenigen, der ihn oder ſeinen
Nachfolger zur Hülfe auffordern wird. — Der
Nichtbegabte ſteht neben dem Vorſchauer und ahnet
Nichts, während die Pferde im Stalle ängſtlich
ſchnauben und ſchlagen, und der Hund jämmerlich
heulend, mit eingeklemmtem Schweife ſeinem Herrn
zwiſchen die Beine kriecht. — Die Gabe ſoll ſich
jedoch übertragen, wenn ein Nebenſtehender dem
Vorgucker über die linke Schulter ſieht, wo er zwar
für dieſes Mal nichts bemerkt, fortan aber für den
Anderen die nächtliche Schau halten muß. — Wir
ſagen dies faſt ungern, da dieſer Zuſatz einem un-
läugbaren und höchſt merkwürdigen Phänomen den
Stempel des Lächerlichen aufdrückt. — Wir haben
den Münſterländer früher furchtſam genannt, dennoch
erträgt er den eben berührten Verkehr mit der über-
ſinnlichen Welt mit vieler Ruhe, wie überall ſeine
Furchtſamkeit ſich nicht auf paſſive Zuſtände er-
[291] ſtreckt. — Gänzlich abgeneigt, ſich ungeſetzlichen
Handlungen anzuſchließen, kommt ihm doch an Muth,
ja Hartnäckigkeit des Duldens für das, was ihm
recht ſcheint, Keiner gleich, und ein geiſtreicher Mann
verglich dieſes Volk einmal mit den Hindus, die,
als man ihnen ihre religiöſen und bürgerlichen
Rechte ſchmälern wollte, ſich zu vielen Tauſenden
verſammelten, und auf den Grund gehockt, mit
verhüllten Häuptern, ſtandhaft den Hungertod er-
warteten. — Dieſer Vergleich hat ſich mitunter als
ſehr treffend erwieſen.
Unter der franzöſiſchen Regierung, wo Eltern
und, nachdem dieſe ausgeplündert waren, auch Ge-
ſchwiſter mit ihren Habſeligkeiten für diejenigen ein-
ſtehen mußten, die ſich der Militairpflicht entzogen
hatten, haben ſich zuweilen alle Zweige eines
Stammes, ohne Rückſicht auf ihre unmündigen
Kinder, zuerſt bis zum letzten Heller exequiren, und
dann bis aufs Hemde auspfänden laſſen, ohne daß
es einem eingefallen wäre, dem Verſteckten nur mit
einem Worte den Wunſch zu äußern, daß er aus
ſeinem Bretterverſchlage oder Heuſchober hervor-
kriechen möge, und ſo verhaßt, ja entſetzlich Jedem
damals der Kriegsdienſt war, dem manche ſogar
durch freiwillige Verſtümmelung, z. B. Abhacken
eines Fingers, zu entgehen ſuchten, ſo häufig trat
doch der Fall ein, daß ein Bruder ſich für den
[292] andern ſtellte, wenn er dachte, dieſer werde den
Strapazen erliegen, er aber möge noch mit dem
Leben davonkommen. — Kurz der Münſterländer
beſitzt den Muth der Liebe, und einer unter dem
Schein des Phlegmas verſteckten ſchwärmeriſchen
Religiöſität, ſo wie er überhaupt durch Eigenſchaften
des Herzens erſetzt, was ihm an Geiſtesſchärfe ab-
geht, und der Fremde verläßt mit Theilnahme ein
Volk, das ihn zwar mitunter langweilte, deſſen
häusliche Tugenden ihm aber immer Achtung ein-
flößen und zuweilen ihn tief gerührt haben. —
Müſſen wir noch hinzufügen, daß alles bisher
Geſagte nur das Landvolk angeht? — ich glaube
„nein“, Städter ſind ja überall gleich, Kleinſtädter
wie Großſtädter. — Oder, daß alle dieſe Zuſtände
am Verlöſchen ſind, und nach vierzig Jahren viel-
leicht wenig mehr davon anzutreffen ſein möchte?
— Auch leider „nein,“ es geht ja überall ſo!
Freundinnen Emilie und Emma von Thurn-Valſaſſina gewidmet.
horſt, ſtarb an den Folgen des Heimwehs.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Droste-Hülshoff, Annette von. Letzte Gaben. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj8g.0