[][][][][][][[1]]
Reden
an
die deutſche Nation




Berlin,: 1808.
In der Realſchulbuchhandlung.
[[2]][[3]]

Vorrede.


Die folgenden Reden ſind zu Berlin
im Winter 1807–8, in einer Reihe
von Vorleſungen, und als Fortſetzung der
im Winter 1804–5, eben daſelbſt vor¬
getragenen Grundzuͤge des gegenwaͤr¬
tigen Zeitalters
(in derſelben Ver¬
lagshandlung abgedruckt 1806) gehalten
worden. Was bei ihnen und durch ſie
dem Publikum zu ſagen war, iſt in ih¬
nen ſelbſt ausgeſprochen, und es bedurfte
ſonach keiner Vorrede. Da inzwiſchen,
durch die Weiſe des Abdrucks dieſer Re¬
A 2[[4]] den ein auszufuͤllender leerer Raum ſich
ergeben hat, ſo fuͤlle ich denſelben mit
etwas, zum Theil ſchon anderwaͤrts die
Cenſur paßirten und abgedruckten, an
welches die Veranlaſſung der entſtandenen
Luͤcke erinnert, und das im allgemeinen
auch hier Anwendung finden duͤrfte, in¬
dem ich im beſonderen noch an den, den¬
ſelben Gegenſtand betreffenden Schluß
der zwoͤlften Rede, verweiſe.



Fichte.

[[5]]

Aus einer Abhandlung
uͤber
Machiavell als Schriftſteller,
und

Stellen aus ſeinen Schriften.

I.
Aus dem Beſchluſſe jener Abhandlung.

Zunaͤchſt fallen uns zwei Gattungen von
Menſchen ein, gegen die wir uns ver¬
wahren moͤchten, wenn wir es koͤnnten.
Zufoͤrderſt ſolche, welche, ſo wie ſie ſelbſt
mit ihren Gedanken niemals uͤber die neueſte
Zeitung hinaus kommen, annehmen, daß
[6] dies auch kein andrer koͤnne, daß demnach
alles, was geredet oder geſchrieben werde,
eine Beziehung auf dieſe Zeitung habe, und
derſelben zum Kommentar dienen ſolle.
Dieſe bitte ich zu bedenken, daß keiner ſa¬
gen koͤnne: ſiehe, da iſt dieſer gemeint,
und dieſer! — der nicht vorher bei ſich
ſelbſt geurtheilt habe, daß dieſer, und die¬
ſer wirklich und in der That alſo ſei, daß
er hier gemeint ſeyn koͤnne; daß daher kei¬
ner einen im Allgemeinen bleibenden Schrift¬
ſteller, der in der, alle Zeit umfaſſenden
Regel, jede beſondre Zeit vergißt, der Sa¬
tyre beſchuldigen koͤnne, ohne erſt ſelbſt, als
urſpruͤnglicher und ſelbſtſtaͤndiger Urheber,
dieſe Satyre gemacht zu haben, und ſo
hoͤchſt thoͤrichter Weiſe ſeine eignen geheim¬
ſten Gedanken zu verrathen.


Sodann giebt es ſolche, die vor keinem
Dinge Scheu haben, wohl aber vor den
Worten zu den Dingen, und vor dieſen
eine unmaͤßige. Du magſt ſie unter die
[7] Fuͤße treten, und alle Welt mag zuſe¬
hen; dabei iſt fuͤr ſie weder Schande noch
Uebel: wenn aber darauf ein Geſpraͤch erho¬
ben wuͤrde, vom Treten mit Fuͤßen, ſo waͤre
dies ein unleidliches Aergerniß, und nun
erſt hoͤbe das Uebel an; da doch auch uͤber¬
dies kein Vernuͤnftiger und Wohlwollender
ein ſolches Geſpraͤch erheben wird, aus Scha¬
denfreude, ſondern lediglich, um die Mittel
ausfindig zu machen, daß der Fall nicht
wieder eintrete. Eben ſo mit den zukuͤnftigen
Uebeln; ſie wollen nicht geſtoͤrt ſeyn in ih¬
rem ſuͤßen Traume, und ſchließen drum feſt
zu ihr Auge vor der Zukunft. Da aber da¬
durch andre, welche die Augen offen behal¬
ten, nicht verhindert werden, zu ſehen, was
herannaht, und in Verſuchung kommen koͤnn¬
ten, zu ſagen, und mit Namen zu benen¬
nen, was ſie ſehen, ſo duͤnkt ihnen gegen
dieſe Gefahr das ſicherſte Mittel dieſes, daß
ſie den Sehenden dieſes Sagen und Benen¬
nen verkuͤmmern; als ob nun, in umgekehr¬
[8] ter Ordnung mit der Wirklichkeit, aus dem
Nichtſagen das Nichtſehen, und aus dem
Nichtſehen das Nichtſeyn, erfolgen wuͤrde.
So ſchreitet der Nachtwandler einher am
Rande des Abgrundes; aus Barmherzigkeit,
ruft ihm nicht zu, jetzt ſichert ihn ſein Zu¬
ſtand, wenn er aber erwacht, ſo ſtuͤrzt er
herab. Moͤchten nur auch die Traͤume jener
die Gabe, die Vorrechte und die Sicherheit
des Nachtwandels mit ſich fuͤhren, damit es
ein Mittel gaͤbe, ſie zu retten, ohne ihnen
zuzurufen, und ſie zu erwecken. So ſagt
man, daß der Strauß die Augen vor dem
auf ihn zukommenden Jaͤger verſchließe, eben
auch, als ob die Gefahr, die ihm nicht
mehr ſichtbar ſei, uͤberhaupt nicht mehr da
ſei. Der waͤre kein Feind des Straußen,
der ihm zurufte: oͤffne deine Augen, ſiehe, da
kommt der Jaͤger, fliehe nach jener Seite
hin, damit du ihm entrinneſt.


[9]

II.
Große Schreibe- und Preß-Freiheit
in Machiavells Zeitalter.

Es duͤrfte auf Veranlaſſung des vorigen
Abſchnittes, und indem vielleicht einer oder
der andere unſrer Leſer ſich wundert, wie
dem Machiavell das ſo eben gemeldete habe
hingehen koͤnnen, der Muͤhe werth ſeyn, zu
Anfange des 19ten Jahrhunderts, aus den
Laͤndern, die ſich der hoͤchſten Denkfreiheit
ruͤhmen, einen Blick zu werfen auf die
Schreibe- und Preß-Freiheit, die zu An¬
fange des 16ten Jahrhunderts in Italien,
und in dem paͤbſtlichen Sitze Rom, ſtatt fand.
Ich fuͤhre von tauſenden nur Ein Beiſpiel
an. Machiavells Florentiniſche Geſchichte
iſt auf die Aufforderung des Pabſtes Cle¬
mens VII. geſchrieben, und an denſelben
uͤberſchrieben. In derſelben befindet ſich
gleich im erſten Buche folgende Stelle: „So
„wie bis auf dieſe Zeit keine Meldung ge¬
„ſchehen iſt von Nepoten oder Verwandten
[10] „irgend eines Pabſtes, ſo wird von nun an
„von ſolchen die Geſchichte voll ſeyn, bis
„wir ſodann auch auf die Soͤhne kommen
„werden; und ſo iſt denn den kuͤnftigen Paͤb¬
„ſten keine Steigerung mehr uͤbrig, als daß
„ſie, ſo wie ſie bisher dieſe ihre Soͤhne in
„Fuͤrſtenthuͤmer einzuſetzen geſucht haben,
„denſelben auch den paͤbſtlichen Stuhl erb¬
„lich hinterlaſſen.“


Dieſer Florentiniſchen Geſchichte, nebſt
dem Buche vom Fuͤrſten, und den Diſkurſen,
ſtellt derſelbe Clemens, honesto Antonii (ſo
hieß der Drucker) desiderio annuere volens,
ein Privilegium aus, in welchem allen Chri¬
ſten bei Strafe der Exkommunikation, den
paͤbſtlichen Unterthanen noch uͤberdies bei
Konfiskation der Exemplare, und 25 Duka¬
ten Strafe, verboten wird, dieſe Schriften
nachzudrucken.


Zu erklaͤren iſt dies allerdings. Die
Paͤbſte und die Großen der Kirche betrachte¬
ten ſelber ihr ganzes Weſen lediglich als ein
[11] Blendwerk fuͤr den niedrigſten Poͤbel, und,
wenn es ſeyn koͤnnte, fuͤr die Ultramonta¬
ner, und ſie waren liberal genug, jedem fei¬
nen und gebildeten Italiaͤniſchen Manne zu
erlauben, daß er uͤber dieſe Dinge eben ſo
daͤchte, redete und ſchriebe, wie ſie ſelbſt un¬
ter ſich daruͤber redeten. Den gebildeten
Mann wollten ſie nicht betruͤgen, und der
Poͤbel las nicht. Eben ſo leicht iſt zu erklaͤ¬
ren, warum ſpaͤterhin andere Maasregeln
noͤthig wurden. Die Reformatoren lehrten
das dentſche Volk leſen, ſie beriefen ſich auf
ſolche Schriftſteller, die unter den Augen der
Paͤbſte geſchrieben hatten, das Beiſpiel des
Leſens wurde anſteckend fuͤr die andern Laͤn¬
der, und jetzt wurden die Schriftſteller eine
furchtbare, und eben darum unter ſtrengere
Aufſicht zu nehmende Macht.


Auch dieſe Zeiten ſind voruͤber, und es
werden dermalen, zumal in proteſtantiſchen
Staaten, manche Zweige der Schrifſtellerei,
z. B. philoſophiſche Aufſtellung allgemeiner
[12] Grundſaͤtze jeder Art, gewiß nur darum der
Cenſur unterworfen, weil es ſo hergebracht
iſt. Da ſich nun hiebei findet, daß denen,
welche nichts zu ſagen wiſſen, als das was
jedermann auch ſchon auswendig weiß, in
alle Wege erlaubt wird, ſo viel Papier zu
verwenden, als ſie irgend wollen; wenn
aber einmal wirklich etwas neues geſagt
werden ſoll, der Cenſor, der das nicht ſo¬
gleich zu faſſen vermag, und vermeinend, es
koͤnne doch ein nur ihm verborgen bleibendes
Gift darin liegen, um ganz ſicher zu gehen,
es lieber unterdruͤcken moͤchte; ſo waͤre es
vielleicht manchem Schriftſteller vom Anfange
des 19ten Jahrhunderts in proteſtantiſchen
Laͤndern nicht zu verdenken, wenn er ſich
einen ſchicklichen und beſcheidenen Theil von
derjenigen Preßfreiheit wuͤnſchte, welche die
Paͤbſte zu Anfange des 16ten ohne Beden¬
ken allgemein zugeſtanden haben.

[]

III.
Aus der Vorrede zu einigen unge¬
druckt gebliebenen Geſpraͤchen uͤber
Vaterlandsliebe, und ihr
Gegentheil.

Innerhalb dieſer Beſchraͤnkungen nun,
welche die Gerechtigkeit und die Billigkeit
erfordern, koͤnnten uns, ſollte ich denken,
jene ſehr wohl erlauben, daß wir ohne Scheu
ſagen, was ſie ſelber ſich nicht ſcheuen in
wirklicher That zu thun; indem ja offenbar
die That, welche auch ohne unſer Sagen
ohne Zweifel in die Augen fallen wird, ein
weit groͤßeres Aergerniß anrichtet, als unſer
nachheriges Sagen von der That. Und ob¬
gleich durchaus nichts verhindert, daß dieje¬
nigen, welche von Amts wegen die Aufſicht
uͤber den oͤffentlichen Buͤcherdruck fuͤhren, fuͤr
ihre Perſonen zu einer von den beiden der¬
malen im Streite liegenden Hauptpartheien
in der Geiſterwelt gehoͤren, ſo koͤnnen ſie
[14] doch das Intereſſe dieſer ihrer Parthei nur
ſodann wahrnehmen, wenn ſie etwa ſelbſt
einmal als Schriftſteller auftreten ſollten;
als oͤffentliche Perſonen aber haben ſie gar
keine Parthei, und ſie muͤſſen dem Verſtan¬
de, der ohnedies weit ſeltner bei ihnen das
Wort nachſucht, denn der Unverſtand, daſ¬
ſelbe eben ſowohl geben, wie ſie dem leztern
taͤglich erlauben, nach aller Luſt ſeiner Noth¬
durft zu pflegen; keinesweges aber ſind ſie
befugt, irgend einem Tone deswegen zu ver¬
wehren, laut zu werden, weil er an ihre
Ohren fremd und paradox anſchlaͤgt


Geſchrieben zu Berlin, im Julius 1806.


[15]

Erſte Rede.


Vorerinnerungen und Ueberſicht des
Ganzen
.

Als eine Fortſetzung der Vorleſungen, die
ich im Winter vor drei Jahren allhier an der¬
ſelben Staͤtte gehalten, und welche unter dem
Titel: Grundzuͤge des gegenwaͤrtigen Zeital¬
ters, gedruckt ſind, habe ich die Reden, die
ich hiermit beginne, angekuͤndigt. Ich hatte
in jenen Vorleſungen gezeigt, daß unſere Zeit
in dem dritten Hauptabſchnitte der geſammten
Weltzeit ſtehe, welcher Abſchnitt den bloßen
ſinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller ſeiner
lebendigen Regungen und Bewegungen habe;
daß dieſe Zeit in der einzigen Moͤglichkeit des
[16] genannten Antriebes ſich ſelbſt auch vollkom¬
men verſtehe und begreife; und daß ſie durch
dieſe klare Einſicht ihres Weſens in dieſem ih¬
ren lebendigen Weſen, tief begruͤndet und un¬
erſchuͤtterlich befeſtiget werde.


Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem
Zeitalter, ſeitdem es eine Weltgeſchichte gab,
die Zeit Rieſenſchritte. Innerhalb der drei
Jahre, welche ſeit dieſer meiner Deutung des
laufenden Zeitabſchnitts verfloſſen ſind, iſt
irgendwo dieſer Abſchnitt vollkommen abgelau¬
fen und beſchloſſen. Irgendwo hat die Selbſt¬
ſucht durch ihre vollſtaͤndige Entwickelung ſich
ſelbſt vernichtet, indem ſie daruͤber ihr Selbſt,
und deſſen Selbſtſtaͤndigkeit, verloren; und ihr,
da ſie gutwillig keinen andern Zwek, denn ſich
ſelbſt, ſich ſetzen wollte, durch aͤußerliche Ge¬
walt ein ſolcher anderer und fremder Zwek auf¬
gedrungen worden. Wer es einmal unter¬
nommen hat, ſeine Zeit zu deuten, der muß
mit ſeiner Deutung auch ihren Fortgang beglei¬
ten, falls ſie einen ſolchen Fortgang gewinnt;
und ſo wird es mir denn zur Pflicht, vor dem¬
ſelben Publikum, vor welchem ich etwas
als[17] als Gegenwart bezeichnete, daſſelbe als ver¬
gangen anzuerkennen, nachdem es aufgehoͤrt
hat, die Gegenwart zu ſeyn.


Was ſeine Selbſtſtaͤndigkeit verloren hat,
hat zugleich verloren das Vermoͤgen einzugrei¬
fen in den Zeitfluß, und den Inhalt deſſelben
frei zu beſtimmen; es wird ihm, wenn es in
dieſem Zuſtande verharret, ſeine Zeit, und es
ſelber mit dieſer ſeiner Zeit, abgewickelt durch
die fremde Gewalt, die uͤber ſein Schikſal ge¬
bietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit
mehr, ſondern zaͤhlt ſeine Jahre nach den Be¬
gebenheiten und Abſchnitten fremder Voͤlker¬
ſchaften und Reiche. Es koͤnnte ſich erheben
aus dieſem Zuſtande, in welchem die ganze
bisherige Welt ſeinem ſelbſtthaͤtigen Eingreifen
entruͤckt iſt, und in dieſer ihm nur der Ruhm
des Gehorchens uͤbrig bleibt, lediglich unter
der Bedingung, daß ihm eine neue Welt auf¬
ginge, mit deren Erſchaffung es einen neuen
und ihm eigenen Abſchnitt in der Zeit begoͤnne,
und mit ihrer Fortbildung ihn ausfuͤllte; doch
muͤßte, da es einmal unterworfen iſt fremder
Gewalt, dieſe neue Welt alſo beſchaffen ſeyn,
B[18] daß ſie unvernommen bliebe jener Gewalt, und
ihre Eiferſucht auf keine Weiſe erregte, ja, daß
dieſe durch ihren eignen Vortheil bewegt wuͤr¬
de, der Geſtaltung einer ſolchen kein Hinder¬
niß in den Weg zu legen. Falls es nun eine
alſo beſchaffene Welt, als Erzeugungsmittel
eines neuen Selbſt und einer neuen Zeit, geben
ſollte, fuͤr ein Geſchlecht, das ſein bisheriges
Selbſt, und ſeine bisherige Zeit und Welt ver¬
loren hat, ſo kaͤme es einer allſeitigen Deu¬
tung ſelbſt der moͤglichen Zeit zu, dieſe alſo be¬
ſchaffene Welt anzugeben.


Nun halte ich meines Orts dafuͤr, daß es
eine ſolche Welt gebe, und es iſt der Zweck die¬
ſer Reden, Ihnen das Daſeyn und den wah¬
ren Eigenthuͤmer derſelben nachzuweiſen, ein
lebendiges Bild derſelben vor Ihre Augen zu
bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung an¬
zugeben. In dieſer Weiſe demnach werden
dieſe Reden eine Fortſetzung der ehemals ge¬
haltenen Vorleſungen uͤber die damals gegen¬
waͤrtige Zeit ſeyn, indem ſie enthuͤllen werden
das neue Zeitalter, das der Zerſtoͤrung des
[19] Reichs der Selbſtſucht durch fremde Gewalt
unmittelbar folgen kann und ſoll.


Bevor ich jedoch dieſes Geſchaͤft beginne,
muß ich Sie erſuchen vorauszuſetzen, alſo daß
es Ihnen niemals entfalle, und einverſtanden
zu ſeyn mit mir, wo und inwiefern dies noͤ¬
thig iſt, uͤber die folgenden Punkte:


1) Ich rede fuͤr Deutſche ſchlechtweg, von
Deutſchen ſchlechtweg, nicht anerkennend, ſon¬
dern durchaus bei Seite ſetzend und wegwer¬
fend alle die trennenden Unterſcheidungen, wel¬
che unſeelige Eraͤugniſſe ſeit Jahrhunderten in
der einen Nation gemacht haben. Sie, E.
V., ſind zwar meinem leiblichen Auge die er¬
ſten und unmittelbaren Stellvertreter, welche
die geliebten Nationalzuͤge mir vergegenwaͤrti¬
gen, und der ſichtbare Brennpunkt, in wel¬
chem die Flamme meiner Rede ſich entzuͤndet;
aber mein Geiſt verſammlet den gebildeten
Theil der ganzen deutſchen Nation, aus allen
den Laͤndern, uͤber welche er verbreitet iſt, um
ſich her, bedenkt und beachtet unſer aller ge¬
meinſame Lage und Verhaͤltniſſe, und wuͤn¬
ſchet, daß ein Theil der lebendigen Kraft, mit
B 2[20] welcher dieſe Reden vielleicht Sie ergreifen,
auch in dem ſtummen Abdrucke, welcher allein
nuter die Augen der Abweſenden kommen wird,
verbleibe, und aus ihm athme, und an allen
Orten deutſche Gemuͤther zu Entſchluß und
That entzuͤnde. Bloß von Deutſchen und fuͤr
Deutſche ſchlechtweg ſagte ich. Wir werden
zu ſeiner Zeit zeigen, daß jedwede andere Ein¬
heitsbezeichnung oder Nationalband entweder
niemals Wahrheit und Bedeutung hatte, oder,
falls es ſie gehabt haͤtte, daß dieſe Vereini¬
gungspunkte durch unſre dermalige Lage ver¬
nichtet, und uns entriſſen ſind, und niemals
wiederkehren koͤnnen; und daß es lediglich der
gemeinſame Grundzug der Deutſchheit iſt, wo¬
durch wir den Untergang unſrer Nation im Zu¬
ſammenfließen derſelben mit dem Auslande,
abwehren, und worin wir ein auf ihm ſelber
ruhendes, und aller Abhaͤngigkeit durchaus
unfaͤhiges Selbſt, wiederum gewinnen koͤnnen.
Es wird, ſo wie wir dieſes leztere einſehen
werden, zugleich der ſcheinbare Widerſpruch
dieſer Behauptung mit anderweitigen Pflichten,
und fuͤr heilig gehaltenen Angelegenheiten, den
[21] vielleicht dermalen mancher fuͤrchtet, vollkom¬
men verſchwinden.


Ich werde darum, da ich ja nur von Deut¬
ſchen uͤberhaupt rede, manches, das von den
allhier verſammelten nicht zunaͤchſt gilt, aus¬
ſprechen, als dennoch von uns geltend, ſo wie
ich anderes, das zunaͤchſt nur von Uns gilt,
ausſprechen werde, als fuͤr alle Deutſche gel¬
tend. Ich erblicke in dem Geiſte, deſſen Aus¬
fluß dieſe Reden ſind, die durch einander ver¬
wachſene Einheit, in der kein Glied irgend ei¬
nes andern Gliedes Schikſal, fuͤr ein ihm frem¬
des Schikſal haͤlt, die da entſtehen ſoll und
muß, wenn wir nicht ganz zu Grunde gehen
ſollen, — ich erblicke dieſe Einheit ſchon als
entſtanden, vollendet, und gegenwaͤrtig da¬
ſtehend.


2) Ich ſetze voraus ſolche deutſche Zuhoͤ¬
rer, welche nicht etwa mit allem was ſie ſind,
rein aufgehen in dem Gefuͤhle des Schmerzes
uͤber den erlittenen Verluſt, und in dieſem
Schmerze ſich wohlgefallen, und an ihrer Un¬
troͤſtlichkeit ſich weiden, und durch dieſes Ge¬
fuͤhl ſich abzufinden gedenken mit der an ſie er¬
[22] gehenden Aufforderung zur That; ſondern ſol¬
che, die ſelbſt uͤber dieſen gerechten Schmerz
zu klarer Beſonnenheit und Betrachtung ſich
ſchon erhoben haben, oder wenigſtens faͤhig
ſind, ſich dazu zu erheben. Ich kenne jenen
Schmerz, ich habe ihn gefuͤhlt wie einer, ich
ehre ihn; die Dumpfheit, welche zufrieden iſt,
wenn ſie Speiſe und Trank findet, und kein
koͤrperlicher Schmerz ihr zugefuͤgt wird, und
fuͤr welche Ehre, Freiheit, Selbſtſtaͤndigkeit
leere Namen ſind, iſt ſeiner unfaͤhig: aber auch
er iſt lediglich dazu da, um zu Beſinnung,
Entſchluß und That uns anzuſpornen; dieſes
Endzweks verfehlend, beraubt er uns der Be¬
ſinnung, und aller uns noch uͤbrig gebliebenen
Kraͤfte, und vollendet ſo unſer Elend; indem
er noch uͤberdies, als Zeugniß von unſrer Traͤg¬
heit und Feigheit, den ſichtbaren Beweis giebt,
daß wir unſer Elend verdienen. Keinesweges
aber gedenke ich Sie zu erheben uͤber dieſen
Schmerz, durch Vertroͤſtungen auf eine Huͤlfe,
die von außen her kommen ſolle, und durch
Verweiſungen auf allerlei moͤgliche Ereigniſſe,
und Veraͤnderungen, die etwa die Zeit herbei¬
[23] fuͤhren koͤnne: denn, falls auch nicht dieſe Denk¬
art, die lieber in der wankenden Welt der
Moͤglichkeiten ſchweifen, als auf das Noth¬
wendige ſich heften mag, und die ihre Rettung
lieber dem blinden Ohngefaͤhr, als ſich ſelber,
verdanken will, ſchon an ſich von dem ſtraͤflich¬
ſten Leichtſinne, und der tiefſten Verachtung
ſeiner ſelbſt zeugte, ſo wie ſie es thut, ſo ha¬
ben auch noch uͤberdies alle Vertroͤſtungen und
Verweiſungen dieſer Art durchaus keine An¬
wendung auf unſre Lage. Es laͤßt ſich der
ſtrenge Beweis fuͤhren, und wir werden ihn
zu ſeiner Zeit fuͤhren, daß kein Menſch, und
kein Gott, und keines von allen im Gebiete der
Moͤglichkeit liegenden Eraͤngniſſen uns helfen
kann, ſondern daß allein wir ſelber uns helfen
muͤſſen, falls uns geholfen werden ſoll. Viel¬
mehr werde ich Sie zu erheben ſuchen uͤber den
Schmerz, durch klare Einſicht in unſre Lage,
in unſre noch uͤbrig gebliebene Kraft, in die
Mittel unſrer Rettung. Ich werde darum
allerdings einen gewiſſen Grad der Beſinnung,
eine gewiſſe Selbſtthaͤtigkeit, und einige Auf¬
opferung anmuthen, und rechne darum auf
[24] Zuhoͤrer, denen ſich ſoviel anmuthen laͤßt.
Uebrigens ſind die Gegenſtaͤnde dieſer Anmu¬
thung insgeſammt leicht, und ſetzen kein groͤ¬
ßeres Maaß von Kraft voraus, als man, wie
ich glaube, unſerm Zeitalter zutrauen kann;
was aber die Gefahr betrift, ſo iſt dabei durch¬
aus keine.


3) Indem ich eine klare Einſicht der Deut¬
ſchen, als ſolcher, in ihre gegenwaͤrtige Lage
hervorzubringen gedenke; ſetze ich voraus Zu¬
hoͤrer, die da geneigt ſind, mit eignen Augen
die Dinge dieſer Art zu ſehen, keinesweges
aber ſolche, die es bequemer finden, ein frem¬
des und auslaͤndiſches Seh-Werkzeug, das
entweder abſichtlich auf Taͤuſchung berechnet
iſt, oder das auch natuͤrlich, durch ſeinen an¬
dern Standpunkt, und durch das geringere
Maaß von Schaͤrfe, niemals auf ein deutſches
Auge paßt, bei Betrachtung dieſer Gegenſtaͤn¬
de ſich unterſchieden zu laſſen. Ferner ſetze ich
voraus, daß dieſe Zuhoͤrer in dieſer Betrach¬
tung mit eigenen Augen den Muth haben,
redlich hin zu ſehen, auf das, was da iſt,
und redlich ſich zu geſtehen, was ſie ſehen, und
[25] daß ſie jene haͤufig ſich zeigende Neigung, uͤber
die eignen Angelegenheiten ſich zu taͤuſchen,
und ein weniger unerfreuliches Bild von den¬
ſelben, als mit der Wahrheit beſtehen kann,
ſich vorzuhalten, entweder ſchon beſiegt haben,
oder doch faͤhig ſind, ſie zu beſiegen. Jene
Neigung iſt ein feiges Entfliehen vor ſeinen
eignen Gedanken, und kindiſcher Sinn, der
da zu glauben ſcheint, wenn er nur nicht ſehe
ſein Elend, oder wenigſtens ſich nicht geſtehe,
daß er es ſehe, ſo werde dieſes Elend dadurch
auch in der Wirklichkeit aufgehoben, wie es,
aufgehoben iſt in ſeinem Denken. Dagegen
iſt es mannhafte Kuͤhnheit, das Uebel feſt ins
Auge zu faſſen, es zu noͤthigen, Stand zu hal¬
ten, es ruhig, kalt und frei zu durchdringen,
und es aufzuloͤſen in ſeine Beſtandtheile.
Auch wird man nur durch dieſe klare Einſicht
des Uebels Meiſter, und geht in der Bekaͤm¬
pfung deſſelben einher mit ſicherem Schritte,
indem man, in jedem Theile das Ganze uͤber¬
ſehend, immer weiß, wo man ſich befinde, und
durch die einmal erlangte Klarheit ſeiner
Sache gewiß iſt, dagegen der andere, ohne
[26] feſten Leitfaden, und ohne ſichere Gewißheit,
blind und traͤumend herumtappt.


Warum ſollten wir denn auch uns ſcheuen
vor dieſer Klarheit? Das Uebel wird durch
die Unbekanntſchaft damit nicht kleiner, noch
durch die Erkenntniß groͤßer; es wird nur heil¬
bar durch die leztere; die Schuld aber ſoll hier
gar nicht vorgeruͤkt werden. Zuͤchtige man
durch bittere Straf-Rede, durch beiſſenden
Spott, durch ſchneidende Verachtung die Traͤg¬
heit und die Selbſtſucht, und reize ſie, wenn
auch zu nichts beſſerem, doch wenigſtens zum
Haſſe und zur Erbitterung gegen den Erinnerer
ſelbſt, als doch auch einer kraͤftigen Regung,
an, — ſo lange die nothwendige Folge, das
Uebel, noch nicht vollendet iſt, und von der
Beſſerung noch Rettung oder Milderung ſich
erwarten laͤßt. Nachdem aber dieſes Uebel alſo
vollendet iſt, daß es uns auch die Moͤglichkeit
auf dieſe Weiſe fortzuſuͤndigen benimmt, wird
es zweklos, und ſieht aus wie Schadenfreude,
gegen die nicht mehr zu begehende Suͤnde noch
ferner zu ſchelten; und die Betrachtung faͤllt
ſodann ans dem Gebiete der Sittenlehre in
[27] das der Geſchichte, fuͤr welche die Freiheit vor¬
uͤber iſt, und die das Geſchehene als nothwen¬
digen Erfolg aus dem Vorhergegangenen an¬
ſieht. Es bleibt fuͤr unſere Reden keine andere
Anſicht der Gegenwart uͤbrig, als dieſe lezte,
und wir werden darum niemals eine andere
nehmen.


Dieſe Denkart alſo, daß man ſich als
Deutſchen ſchlechtweg denke, daß man nicht
gefeſſelt ſey ſelbſt durch den Schmerz, daß man
die Wahrheit ſehen wolle, und den Muth habe
ihr ins Auge zu blicken, ſetze ich voraus, und
rechne auf ſie bei jedem Worte, das ich ſagen
werde, und ſo jemand eine andere in dieſe
Verſammlung mitbraͤchte, ſo wuͤrde derſelbe
die unangenehmen Empfindungen, die ihm hier
gemacht werden koͤnnten, lediglich ſich ſelbſt
zuzuſchreiben haben. Dies ſey hiemit geſagt
fuͤr immer, und abgethan; und ich gehe nun an
das andre Geſchaͤft, Ihnen den Grundinhalt
aller folgenden Reden in einer allgemeinen
Ueberſicht vorzulegen.


Irgendwo, ſagte ich im Eingange meiner
Rede, habe die Selbſtſucht durch ihre vollſtaͤn¬
[28] dige Entwikelung ſich ſelbſt vernichtet, indem
ſie daruͤber ihr Selbſt, und das Vermoͤgen,
ſich ſelbſtſtaͤndig ihre Zwecke zu ſetzen, verloren
habe. Dieſe nunmehro erfolgte Vernichtung
der Selbſtſucht war der von mir angegebne
Fortgang der Zeit, und das durchaus neue
Eraͤugniß in derſelben, das nach mir eine
Fortſetzung meiner ehemaligen Schilderung
der Zeit ſo moͤglich wie nothwendig machte;
dieſe Vernichtung waͤre ſomit unſre eigentliche
Gegenwart, an welche unſer neues Leben in
einer neuen Welt, deren Daſeyn ich gleichfalls
behauptete, unmittelbar angeknuͤpft werden
muͤßte, ſie waͤre daher auch der eigentliche
Ausgangspunkt meiner Reden; und ich haͤtte
vor allen Dingen zu zeigen, wie und warum
eine ſolche Vernichtung der Selbſtſucht aus
ihrer hoͤchſten Entwiklung nothwendig erfolge.


Bis zu ihrem hoͤchſten Grade entwickelt iſt
die Selbſtſucht, wenn, nachdem ſie erſt mit
unbedeutender Ausnahme die Geſammtheit der
Regierten ergriffen, ſie von dieſen aus ſich
auch der Regierenden bemaͤchtigt, und deren
alleiniger Lebenstrieb wird. Es entſteht einer
[29] ſolchen Regierung zufoͤrderſt nach außen die
Vernachlaͤſſigung aller Bande, durch welche
ihre eigne Sicherheit an die Sicherheit anderer
Staaten geknuͤpft iſt, das Aufgeben des Gan¬
zen, deſſen Glied ſie iſt, lediglich darum, da¬
mit ſie nicht aus ihrer traͤgen Ruhe aufge¬
ſtoͤrt werde, und die traurige Taͤuſchung der
Selbſtſucht, daß ſie Frieden habe, ſo lange
nur die eignen Graͤnzen nicht angegriffen ſind;
ſodann nach innen jene weichliche Fuͤhrung der
Zuͤgel des Staats, die mit auslaͤndiſchen Wor¬
ten ſich Humanitaͤt, Liberalitaͤt und Populari¬
taͤt nennt, die aber richtiger in deutſcher Spra¬
che Schlaffheit und ein Betragen ohne Wuͤrde
zu nennen iſt.


Wenn ſie auch der Regierenden ſich bemaͤch¬
tigt, habe ich geſagt. Ein Volk kann durchaus
verdorben ſeyn, d. i. ſelbſtſuͤchtig, denn die
Selbſtſucht iſt die Wurzel aller andern Verderbt¬
heit, — und dennoch dabei nicht nur beſtehen,
ſondern ſogar aͤußerlich glaͤnzende Thaten ver¬
richten, wenn nur nicht ſeine Regierung eben
alſo verdirbt; ja die leztere ſogar kann auch nach
außen treulos und pfticht- und ehrvergeſſen han¬
[30] deln, wenn ſie nur nach innen den Muth hat,
die Zuͤgel des Regiments mit ſtraffer Hand an¬
zuhalten, und die groͤßere Furcht fuͤr ſich zu ge¬
winnen. Wo aber alles eben genannte ſich
vereiniget, da gehet das gemeine Weſen bei
dem erſten ernſtlichen Angriffe, der auf daſſelbe
geſchieht, zu Grunde, und ſo, wie es ſelbſt
erſt treulos ſich abloͤſte von dem Koͤrper, deſ¬
ſen Glied es war, ſo loͤſen jetzo ſeine Glieder,
die keine Furcht vor ihm haͤlt, und die die
groͤßere Furcht vor dem Fremden treibt, mit
derſelben Treuloſigkeit ſich ab von ihm, und
gehen hin, ein jeder in das Seine. Hier er¬
greift die nun vereinzelt ſtehenden abermals
die groͤßere Furcht, und ſie geben in reichli¬
cher Spende, und mit erzwungen froͤlichem
Geſichte dem Feinde, was ſie kaͤrglich und aͤu¬
ßerſt unwillig dem Vertheidiger des Vaterlan¬
des gaben; bis ſpaͤterhin auch die von allen
Seiten verlaſſenen, und verrathenen Regie¬
renden genoͤthigt werden, durch Unterwerfung
und Folgſamkeit gegen fremde Plane ihre Fort¬
dauer zu erkaufen; und ſo nun auch diejeni¬
gen, die im Kampfe fuͤr das Vaterland die
[31] Waffen wegwarfen, unter fremden Panieren
lernen, dieſelben gegen das Vaterland tapfer
zu fuͤhren. So geſchieht es, daß die Selbſt¬
ſucht durch ihre hoͤchſte Entwiklung vernichtet,
und denen, die gutwillig keinen andern Zwek,
denn ſich ſelbſt, ſich ſetzen wollten, durch frem¬
de Gewalt ein ſolcher anderer Zwek aufgedrun¬
gen wird.


Keine Nation, die in dieſen Zuſtand der
Abhaͤngigkeit herabgeſunken, kann durch die
gewoͤhnlichen und bisher gebrauchten Mittel
ſich aus demſelben erheben. War ihr Wider¬
ſtand fruchtlos, als ſie noch im Beſitze aller
ihrer Kraͤfte war, was kann derſelbe ſodann
fruchten, nachdem ſie des groͤßten Theils der¬
ſelben beraubt iſt? Was vorher haͤtte helfen
koͤnnen, naͤmlich wenn die Regierung derſel¬
ben die Zuͤgel kraͤftig und ſtraff angehalten
haͤtte, iſt nun nicht mehr anwendbar, nachdem
dieſe Zuͤgel nur noch zum Scheine in ihrer
Hand ruhen, und dieſe ihre Hand ſelbſt durch
eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird.
Auf ſich ſelbſt kann eine ſolche Nation nicht
[32] laͤnger rechnen; und eben ſo wenig kann ſie
auf den Sieger rechnen. Dieſer muͤßte eben ſo
unbeſonnen, und eben ſo feige und verzagt
ſeyn, als jene Nation ſelbſt erſt war, wenn er
die errungenen Vortheile nicht feſt hielte, und
ſie nicht auf alle Weiſe verfolgte. Oder wenn
er einſt im Verlauf der Zeiten, doch ſo unbe¬
ſonnen und feige wuͤrde, ſo wuͤrde er zwar
eben alſo zu Grunde gehen, wie wir, aber
nicht zu unſerm Vortheile, ſondern er wuͤrde
die Beute eines neuen Siegers, und wir wuͤr¬
den die ſich von ſelbſt verſtehende, wenig be¬
deutende Zugabe zu dieſer Beute. Sollte eine
ſo geſunkene Nation dennoch ſich retten koͤn¬
nen, ſo muͤßte dies durch ein ganz neues, bis¬
her noch niemals gebrauchtes Mittel, vermit¬
telſt der Erſchaffung einer ganz neuen Ordnung
der Dinge, geſchehen. Laſſen Sie uns alſo
ſehen, welches in der bisherigen Ordnung der
Dinge der Grund war, warum es mit dieſer
Ordnung irgend einmal nothwendig ein Ende
nehmen mußte, damit wir an dem Gegentheile
dieſes Grundes des Untergangs das neue Glied
finden, welches in die Zeit eingefuͤgt werden
muͤßte,[33] muͤßte, damit an ihm die geſunkne Nation ſich
aufrichte zu einem neuen Leben.


Man wird in Erforſchung jenes Grundes
finden, daß in allen bisherigen Verfaſſungen
die Theilnahme am Ganzen geknuͤpft war an
die Theilnahme des Einzelnen an ſich ſelbſt,
vermittelſt ſolcher Bande, die irgendwo ſo
gaͤnzlich zerriſſen, daß es gar keine Theilnahme
fuͤr das Ganze mehr gab, — durch die Bande
der Furcht und Hoffnung fuͤr die Angelegenheit
des Einzelnen aus dem Schikſale des Ganzen,
in einem kuͤnftigen, und in dem gegenwaͤrtigen
Leben. Aufklaͤrung des nur ſinnlich berech¬
nenden Verſtandes war die Kraft, welche die
Verbindung eines kuͤnftigen Lebens mit dem
gegenwaͤrtigen durch Religion, aufhob, zugleich
auch andere Ergaͤnzungs- und ſtellvertretende
Mittel der ſittlichen Denkart, als da ſind Liebe
zum Ruhm, und National-Ehre, als taͤuſchende
Trugbilder begriff; die Schwaͤche der Regie¬
gierungen war es, welche die Furcht fuͤr die
Angelegenheiten des Einzelnen aus ſeinem Be¬
tragen gegen das Ganze, ſelbſt fuͤr das gegen¬
waͤrtige Leben, durch haͤufige Strafloſigkeit der
C[34] Pflichtvergeſſenheit aufhob, und eben ſo auch
die Hoffnung unwirkſam machte, indem ſie
dieſelbe gar oft, ohne alle Ruͤkſicht auf Ver¬
dienſte um das Ganze, nach ganz andern Re¬
geln und Bewegungsgruͤnden, befriedigte.
Bande ſolcher Art waren es, die irgendwo
gaͤnzlich zerriſſen, und durch deren Zerreißung
das gemeine Weſen ſich aufloͤſ'te.


Immerhin mag von nun an der Sieger, das,
was allein auch er kann, emſiglich thun, naͤmlich
den lezten Theil des Bindungsmittels, die Furcht
und Hoffnung fuͤr das gegenwaͤrtige Leben, wie¬
derum anknuͤpfen, und verſtaͤrken; damit iſt
nur ihm geholfen, keinesweges aber uns, denn
ſo gewiß er ſeinen Vortheil verſteht, knuͤpft er
an dieſes erneute Band zu allererſt nur ſeine
Angelegenheit, die unſrige aber nur in ſo weit,
inwiefern die Erhaltung unſrer, als Mittel fuͤr
ſeine Zweke, ihm ſelbſt zur Angelegenheit wird.
Fuͤr eine ſo verfallne Nation iſt von nun an
Furcht und Hoffnung voͤllig aufgehoben, in¬
dem deren Leitung ihrer Hand entfallen iſt,
und ſie zwar ſelber zu fuͤrchten hat und zu hof¬
fen, vor ihr aber von nun an kein Menſch ſich
[35] weiter fuͤrchtet, oder von ihr etwas hofft; und
es bleibt ihr nichts uͤbrig, als ein ganz ande¬
res und neues, uͤber Furcht und Hoffnung er¬
habenes Bindungsmittel zu finden, um die
Angelegenheit ihrer Geſammtheit an die Theil¬
nahme eines jeden aus ihr fuͤr ſich ſelber an¬
zuknuͤpfen.


Ueber den ſinnlichen Antrieb der Furcht
oder Hoffnung hinaus, und zunaͤchſt an ihn
angraͤnzend, liegt der geiſtige Antrieb der ſittli¬
chen Billigung, oder Mißbilligung, und der
hoͤhere Affekt des Wohlgefallens oder Mißfal¬
lens an unſerer und anderer Zuſtande. So
wie das an Reinlichkeit und Ordnung gewoͤhnte
aͤußere Auge durch einen Fleken, der ja unmit¬
telbar dem Leibe keinen Schmerz zufuͤgt, oder
durch den Anblik verworren durch einander
liegender Gegenſtaͤnde dennoch gepeinigt, und
geaͤngſtet wird, wie vom unmittelbaren Schmer¬
ze, indeß der des Schmuzes und der Unord¬
nung Gewohnte ſich in denſelben recht wohl be¬
findet; eben alſo kann auch das innere geiſtige
Auge des Menſchen ſo gewoͤhnt und gebildet
werden, daß der bloße Anblik eines verworre¬
C 2[36] nen und unordentlichen, eines unwuͤrdigen
und ehreloſen Daſeyns ſeiner ſelbſt und ſeines
verbruͤderten Stammes, ohne Ruͤkſicht auf
das, was davon fuͤr ſein ſinnliches Wohlſeyn
zu fuͤrchten oder zu hoffen ſey, ihm innig wehe
thue, und daß dieſer Schmerz dem Beſitzer ei¬
nes ſolchen Auges, abermals ganz unabhaͤngig
von ſinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe
laſſe, bis er, ſo viel an ihm iſt, den ihm mi߬
faͤlligen Zuſtand aufgehoben, und den, der ihm
allein gefallen kann, an ſeine Stelle geſezt ha¬
be. Im Beſitzer eines ſolchen Auges iſt die
Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen,
durch das treibende Gefuͤhl der Billigung oder
Mißbilligung, an die Angelegenheit ſeines eig¬
nen erweiterten Selbſt, das nur als Theil des
Ganzen ſich fuͤhlt, und nur im gefaͤlligen Gan¬
zen ſich ertragen kann, unabtrennbar ange¬
knuͤpft; die Sichbildung zu einem ſolchen Auge
waͤre ſomit ein ſicheres und das einzige Mit¬
tel, das einer Nation, die ihre Selbſtſtaͤndig¬
keit, und mit ihr allen Einfluß auf die oͤffent¬
liche Furcht und Hoffnung verloren hat, uͤbrig
bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung ſich
[37] wieder ins Daſeyn zu erheben, und dem ent¬
ſtandenen neuen und hoͤheren Gefuͤhle ihre
National Angelegenheiten, die ſeit ihrem Un¬
tergange kein Menſch und kein Gott weiter be¬
denkt, ſicher anzuvertrauen. So ergiebt ſich
denn alſo, daß das Rettungsmittel, deſſen An¬
zeige ich verſprochen, beſtehe in der Bildung
zu einem durchaus neuem, und bisher vielleicht
als Ausnahme bei Einzelnen, niemals aber als
allgemeines und nationales Selbſt, dagewe¬
ſenem Selbſt, und in der Erziehung der Na¬
tion, deren bisheriges Leben erloſchen, und
Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu
einem ganz neuen Leben, das entweder ihr
ausſchließendes Beſitzthum bleibt, oder, falls es
auch von ihr aus an andere kommen ſollte, ganz
und unverringert bleibt bei unendlicher Thei¬
lung; mit Einem Worte, eine gaͤnzliche Ver¬
aͤnderung des bisherigen Erziehungsweſens iſt
es, was ich, als das einzige Mittel die deut¬
ſche Nation im Daſeyn zu erhalten, in Vor¬
ſchlag bringe.


Daß man den Kindern eine gute Erziehung
geben muͤſſe, iſt auch in unſerm Zeitalter oft
[38] genug geſagt, und bis zum Ueberdruſſe wieder¬
holt worden, und es waͤre ein geringes, wenn
auch wir unſeres Ortes dies gleichfalls einmal
ſagen wollten. Vielmehr wird uns, ſo wir
ein anderes zu vermoͤgen glauben, obliegen,
genau und beſtimmt zu unterſuchen, was ei¬
gentlich der bisherigen Erziehung gefehlt habe,
und anzugeben, welches durchaus neue Glied
die veraͤnderte Erziehung der bisherigen Men¬
ſchenbildung hinzufuͤgen muͤſſe.


Man muß, nach einer ſolchen Unterſuchung,
der bisherigen Erziehung zugeſtehen, daß ſie
nicht ermangelt, irgend ein Bild von religioͤſer,
ſittlicher, geſezlicher Denkart, und von aller¬
hand Ordnung und guter Sitte vor das Auge
ihrer Zoͤglinge zu bringen, auch daß ſie hier
und da dieſelben getreulich ermahnt habe, jenen
Bildern in ihrem Leben einen Abdruck zu ge¬
ben; aber mit hoͤchſt ſeltnen Ausnahmen, die
ſomit nicht durch dieſe Erziehung begruͤndet
waren, indem ſie ſodann an allen durch dieſe
Bildung hindurch gegangenen, und als die Re¬
gel, haͤtten eintreten muͤſſen, ſondern die durch
andere Urſachen herbeigefuͤhrt worden, — mit
[39] dieſen hoͤchſtſeltenen Ausnahmen, ſage ich, ha¬
ben die Zoͤglinge dieſer Erziehung insgeſammt
nicht jenen ſittlichen Vorſtellungen und Ermah¬
nungen, ſondern ſie haben den Antrieben ih¬
rer, ihnen natuͤrlich, und ohne alle Beihuͤlfe
der Erziehungskunſt, erwachſenden Selbſtſucht,
gefolgt; zum unwiderſprechlichen Beweiſe, daß
dieſe Erziehungskunſt zwar wohl das Gedaͤcht¬
niß mit einigen Worten, und Redensarten,
und die kalte und theilnehmungsloſe Phantaſie
mit einigen matten und blaſſen Bildern anzu¬
fuͤllen vermocht, daß es ihr aber niemals ge¬
lungen, ihr Gemaͤlde einer ſittlichen Weltord¬
nung bis zu der Lebhaftigkeit zu ſteigern, daß
ihr Zoͤgling von der heißen Liebe und Sehn¬
ſucht dafuͤr, und von dem gluͤhenden Affekte,
der zur Darſtellung im Leben treibt, und vor
welchem die Selbſtſucht abfaͤllt, wie welkes
Laub, ergriffen worden; daß ſomit dieſe Er¬
ziehung weit davon entfernt geweſen ſey, bis
zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und
Bewegung durchzugreifen, und dieſe zu bilden,
indem dieſe vielmehr, unbeachtet von der blin¬
den und ohnmaͤchtigen, allenthalben wild
[40] aufgewachſen ſey, wie ſie gekonnt habe, zu
guter Frucht bei wenigen durch Gott begeiſter¬
ten, zu ſchlechter bei der großen Mehrzahl.
Auch iſt es dermalen vollkommen hinlaͤnglich,
dieſe Erziehung durch dieſen ihren Erfolg zu
zeichnen, und kann man fuͤr unſern Behuf
ſich des muͤhſamen Geſchaͤfts uͤberheben, die
innern Saͤfte und Adern eines Baumes zu zer¬
gliedern, deſſen Frucht dermalen vollſtaͤndig
reif iſt, und abgefallen, und vor aller Welt
Augen liegt, und hoͤchſt deutlich und verſtaͤnd¬
lich ausſpricht die innere Natur ihres Erzeu¬
gers. Der Strenge nach waͤre, dieſer Anſicht
zu Folge, die bisherige Erziehung auf keine
Weiſe die Kunſt der Bildung zum Menſchen
geweſen, wie ſie ſich denn deſſen auch eben
nicht geruͤhmt, ſondern gar oft ihre Ohnmacht,
durch die Federung, ihr ein natuͤrliches Talent,
oder Genie, als Bedingung ihres Erfolgs vor¬
aus zu geben, freimuͤthig geſtanden; ſondern
es waͤre eine ſolche Kunſt erſt zu erfinden, und
die Erfindung derſelben waͤre die eigentliche
Aufgabe der neuen Erziehung. Das erman¬
gelnde Durchgreifen bis in die Wurzel der Le¬
[41] bens Regung und Bewegung haͤtte dieſe neue
Erziehung der bisherigen hinzu zu fuͤgen, und wie
die bisherige hoͤchſtens etwas am Menſchen, ſo
hatte dieſe den Menſchen ſelbſt zu bilden, und
ihre Bildung keinesweges, wie bisher, zu einem
Beſitzthume, ſondern vielmehr zu einem per¬
ſoͤnlichen Beſtandtheile des Zoͤglings zu ma¬
chen.


Ferner wurde bisher dieſe alſo beſchraͤnkte
Bildung nur an die ſehr geringe Minderzahl
der eben daher gebildet genannten Staͤnde ge¬
bracht, die große Mehrzahl aber, auf welcher
das gemeine Weſen recht eigentlich ruht, das
Volk, wurde von der Erziehungskunſt faſt
ganz vernachlaͤßigt, und dem blinden Ohnge¬
faͤhr uͤbergeben. Wir wollen durch die neue
Erziehung die Deutſchen zu einer Geſamtheit
bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern
getrieben und belebt ſey durch dieſelbe Eine An¬
gelegenheit; ſo wir aber etwa hierbei abermals
einen gebildeten Stand, der etwa durch den
neu entwikelten Antrieb der ſittlichen Billigung
belebt wuͤrde, abſondern wollten von einem
ungebildeten, ſo wuͤrde dieſer lezte, da Hoff¬
[42] nung und Furcht, durch welche allein noch auf
ihn gewirkt werden koͤnnte, nicht mehr fuͤr uns
ſondern gegen uns dienen, von uns abfallen,
und uns verloren gehen. Es bleibt ſonach
uns nichts uͤbrig, als ſchlechthin an alles ohne
Ausnahme, was deutſch iſt, die neue Bildung
zu bringen, ſo daß dieſelbe nicht Bildung eines
beſondern Standes, ſondern daß ſie Bildung
der Nation ſchlechthin als ſolcher, und ohne
alle Ausnahme einzelner Glieder derſelben, wer¬
de, in welcher, in der Bildung zum innigen
Wohlgefallen am Rechten naͤmlich, aller Unter¬
ſchied der Staͤnde, der in andern Zweigen der
Entwiklung auch fernerhin ſtatt finden mag,
voͤllig aufgehoben ſey, und verſchwinde; und
daß auf dieſe Weiſe unter uns, keinesweges
Volks-Erziehung, ſondern eigenthuͤmliche deut¬
ſche National-Erziehung entſtehe.


Ich werde Ihnen darthun, daß eine ſolche
Erziehungskunſt, wie wir ſie begehren, wirk¬
lich ſchon erfunden iſt, und ausgeuͤbt wird, ſo
daß wir nichts mehr zu thun haben, als das
ſich uns darbietende anzunehmen, welches, ſo
wie ich dies oben von dem vorzuſchlagenden
[43] Rettungsmittel verſprach, ohne Zweifel kein
groͤßeres Maaß von Kraft erfordert, als man
bei unſerm Zeialter billig vorausſetzen kann.
Ich fuͤgte dieſem Verſprechen noch ein anderes
bei, daß naͤmlich, was die Gefahr anbelange,
bei unſerm Vorſchlage durchaus keine ſey, in¬
dem es der eigene Vortheil der uͤber uns ge¬
bietenden Gewalt erfordere, die Ausfuͤhrung
jenes Vorſchlags eher zu befoͤrdern, als zu hin¬
dern. Ich finde zwekmaͤßig, ſogleich in dieſer
erſten Rede uͤber dieſen Punkt mich deutlich
auszuſprechen.


Zwar ſind ſo in alter wie in neuer Zeit gar
haͤufig die Kuͤnſte der Verfuͤhrung und der ſitt¬
lichen Herabwuͤrdigung der Unterworfenen, als
ein Mittel der Herrſchaft mit Erfolg gebraucht
worden; man hat durch luͤgenhafte Erdichtun¬
gen, und durch kuͤnſtliche Verwirrung der Be¬
griffe und der Sprache, die Fuͤrſten vor den
Voͤlkern, und dieſe vor jenen verlaͤumdet, um
die entzweiten ſicherer zu beherrſchen, man
hat alle Antriebe der Eitelkeit und des Eigen¬
nutzes liſtig aufgereizt und entwikelt, um die
Unterworfenen veraͤchtlich zu machen, und ſo
[44] mit einer Art von gutem Gewiſſen ſie zu zer¬
treten: aber man wuͤrde einen ſicher zum Ver¬
derben fuͤhrenden Irrthum begehen, wenn man
mit uns Deutſchen dieſen Weg einſchlagen woll¬
te. Das Band der Furcht und der Hoffnung
abgerechnet beruht der Zuſammenhang desje¬
nigen Theils des Auslandes, mit dem wir der¬
malen in Beruͤhrung gekommen, auf den An¬
trieben der Ehre und des Nationalruhms; aber
die deutſche Klarheit hat vorlaͤngſt bis zur un¬
erſchuͤtterlichen Ueberzeugung eingeſehen, daß
dieſes leere Trugbilder ſind, und daß keine
Wunde, und keine Verſtuͤmmelung des Einzel¬
nen durch den Ruhm der ganzen Nation ge¬
heilt wird; und wir duͤrften wohl, ſo nicht eine
hoͤhere Anſicht des Lebens an uns gebracht
wird, gefaͤhrliche Prediger dieſer ſehr begreifli¬
chen und manchen Reiz bei ſich fuͤhrenden Lehre
werden. Ohne darum noch neues Verderben
an uns zu nehmen, ſind wir ſchon in unſrer
natuͤrlichen Beſchaffenheit eine unheilbringende
Beute; nur durch die Ausfuͤhrung des gemach¬
ten Vorſchlages koͤnnen wir eine heilbringende
werden: und ſo wird denn, ſo gewiß das Aus¬
[45] land ſeinen Vortheil verſteht, daſſelbe durch
dieſen ſelbſt bewegt, uns lieber auf die lezte
Weiſe haben wollen, denn auf die erſte.


Insbeſondere nun wendet mit dieſem Vor¬
ſchlage meine Rede ſich an die gebildeten Staͤn¬
de Deutſchlands, indem ſie dieſen noch am er¬
ſten verſtaͤndlich zu werden hofft, und traͤgt zu
allernaͤchſt ihnen an, ſich zu den Urhebern die¬
ſer neuen Schoͤpfung zu machen, und dadurch
theils mit ihrer bisherigen Wirkſamkeit die
Welt auszuſoͤhnen, theils ihre Fortdauer in
der Zukunft zu verdienen. Wir werden im
Fortgange dieſer Reden erſehen, daß bis hie¬
her alle Fortentwiklung der Menſchheit in der
deutſchen Nation vom Volke ausgegangen,
und daß an dieſes immer zuerſt die großen Na¬
tionalangelegenheiten gebracht, und von ihnen
beſorgt, und weiter befoͤrdert worden; daß es
ſomit jetzo zum erſtenmale geſchieht, daß den
gebildeten Staͤnden die urſpruͤngliche Fortbil¬
dung der Nation angetragen wird, und daß,
wenn ſie dieſen Antrag wirklich ergriffen, auch
dies das erſtemal geſchehen wuͤrde. Wir wer¬
den erſehen, daß dieſe Staͤnde nicht berechnen
[46] koͤnnen, auf wie lange Zeit es noch in ihrer
Gewalt ſtehen werde, ſich an die Spitze dieſer
Angelegenheit zu ſtellen, indem dieſelbe bis
zum Vortrage an das Volk ſchon beinahe vor¬
bereitet und reif ſey, und an Gliedern aus
dem Volke geuͤbt werde, und dieſes nach kurzer
Zeit ohne alle unſere Beihuͤlfe ſich ſelbſt werde
helfen koͤnnen, woraus fuͤr uns bloß das er¬
folgen werde, daß die jetzigen Gebildeten und
ihre Nachkommen zum Volke werden, aus dem
bisherigen Volke aber ein anderer hoͤher gebil¬
deter Stand emporkomme.


Nach allem iſt es der allgemeine Zwek die¬
ſer Reden, Muth und Hoffnung zu bringen in
die Zerſchlagenen, Freude zu verkuͤndigen in
die tiefe Trauer, uͤber die Stunde der groͤßten
Bedraͤngniß leicht und ſanft hinuͤber zu leiten.
Die Zeit erſcheint mir wie ein Schatten, der
uͤber ſeinem Leichname, aus dem ſo eben ein
Heer von Krankheiten ihn heraus getrieben,
ſteht, und jammert, und ſeinen Blik nicht
loszureiſſen vermag von der ehedem ſo gelieb¬
ten Huͤlle, und verzweifelnd alle Mittel
[47] verſucht, um wieder hinein zu kommen
in die Behauſung der Seuchen. Zwar ha¬
ben ſchon die belebenden Luͤfte der andern
Welt, in die die abgeſchiedene eingetreten,
ſie aufgenommen in ſich, und umgeben ſie
mit warmem Liebeshauche, zwar begruͤßen
ſie ſchon freudig heimliche Stimmen der Schwe¬
ſtern, und heißen ſie willkommen, zwar regt
es ſich ſchon und dehnt ſich in ihrem Innern
nach allen Richtungen hin, um die herrlichere
Geſtalt, zu der ſie erwachſen ſoll, zu entwik¬
keln; aber noch hat ſie kein Gefuͤhl fuͤr dieſe
Luͤſte, oder Gehoͤr fuͤr dieſe Stimmen, oder
wenn ſie es haͤtte, ſo iſt ſie aufgegangen in
Schmerz uͤber ihren Verluſt, mit welchem ſie
zugleich ſich ſelbſt verloren zu haben glaubt.
Was iſt mit ihr zu thun? Auch die Morgen¬
roͤthe der neuen Welt iſt ſchon angebrochen,
und vergoldet ſchon die Spitzen der Berge,
und bildet vor den Tag, der da kommen
ſoll. Ich will, ſo ich es kann, die Strahlen
dieſer Morgenroͤthe faſſen, und ſie verdichten
zu einem Spiegel, in welchem die troſtloſe
Zeit ſich erblicke, damit ſie glaube, daß ſie noch
[48] da iſt, und in ihm ihr wahrer Kern ſich ihr
darſtelle, und die Entfaltungen und Geſtal¬
tungen deſſelben in einem weißagenden Geſichte
vor ihr voruͤber gehen. In dieſe Anſchauung
hinein wird ihr denn ohne Zweifel auch das
Bild ihres bisherigen Lebens verſinken, und
verſchwinden, und der Todte wird ohne uͤber¬
maͤßiges Wehklagen zu ſeiner Ruheſtaͤtte ge¬
bracht werden koͤnnen.


Zweite[49]

Zweite Rede.


Vom Weſen der neuen Erziehung im
Allgemeinen
.

Das von mir vorgeſchlagene Erhaltungs-
Mittel einer deutſchen Nation uͤberhaupt, zu
deſſen klarer Einſicht dieſe Reden zunaͤchſt
Sie, und nebſt Ihnen, die ganze Nation
fuͤhren moͤchten, gehet als ein ſolches Mittel
hervor aus der Beſchaffenheit der Zeit, ſo wie
der deutſchen National-Eigenthuͤmlichkeiten,
ſo wie dieſes Mittel wiederum eingreifen ſoll
in Zeit und Bildung der National-Eigen¬
thuͤmlichkeiten. Es iſt ſomit dieſes Mittel
nicht eher vollkommen klar und verſtaͤndlich
gemacht, als bis es mit dieſen, und dieſe
mit ihm zuſammen gehalten, und beide in
vollkommner gegenſeitiger Durchdringung dar¬
geſtellt ſind, welche Geſchaͤfte einige Zeit er¬
fordern, und ſo die vollkommne Klarheit nur
am Ende unſrer Reden zu erwarten iſt. Da
D[50] wir jedoch bei irgend einem einzelnen Theile an¬
fangen muͤſſen, ſo wird es am zweckmaͤßigſten
ſeyn, zufoͤrderſt jenes Mittel ſelbſt, abgeſon¬
dert von ſeinen Umgebungen in Zeit und
Raum, fuͤr ſich in ſeinem innern Weſen zu
betrachten, und ſo ſoll denn dieſem Geſchaͤfte
unſere heutige und naͤchſtfolgende Rede ge¬
widmet ſeyn.


Das angegebene Mittel war eine durch¬
aus neue, und vorher noch nie alſo bei ir¬
gend einer Nation dageweſene National-Er¬
ziehung der Deutſchen. Dieſe neue Erzie¬
hung wnrde ſchon in der vorigen Rede zur
Unterſcheidung von der bisher uͤblichen alſo
bezeichnet: die bisherige Erziehung habe zu
guter Ordnung und Sittlichkeit hoͤchſtens nur
ermahnt, aber dieſe Ermahnungen ſeyen un¬
fruchtbar geweſen fuͤr das wirkliche Leben,
welches nach ganz andern, dieſer Erziehung
durchaus unzugaͤnglichen Gruͤnden ſich gebil¬
det habe. Im Gegenſatze mit dieſer muͤſſe
die neue Erziehung die wirkliche Lebens-Re¬
gung und Bewegung ihrer Zoͤglinge, nach
Regeln ſicher und ohnfehlbar bilden, und
beſtimmen koͤnnen.

[51]

So nun etwa hierauf jemand alſo geſagt
haͤtte, wie denn auch wirklich diejenigen, welche
die bisherige Erziehung leiten, faſt ohne Aus¬
nahme alſo ſagen: Wie koͤnnte man denn
auch irgend einer Erziehung mehr anmuthen,
als daß ſie dem Zoͤglinge das Rechte zeige,
und ihn getreulich zu demſelben anmahne;
ob er dieſen Ermahnungen folgen wolle, das
ſey ſeine eigne Sache, und wenn er es nicht
thue, ſeine eigne Schuld; er habe freien Wil¬
len, den keine Erziehung ihm nehmen koͤnne:
ſo wuͤrde ich hierauf, um die von mir ge¬
dachte neue Erziehung noch ſchaͤrfer zu be¬
zeichnen, antworten; daß gerade in dieſem
Anerkennen, und in dieſem Rechnen auf einen
freien Willen des Zoͤglings der erſte Irrthum
der bisherigen Erziehung, und das deutliche
Bekenntniß ihrer Ohnmacht, und Nichtigkeit
liege. Denn indem ſie bekennt, daß nach
aller ihrer kraͤftigſten Wirkſamkeit der Wille
dennoch frei, d. i. unentſchieden ſchwankend
zwiſchen gutem und boͤſem bleibe, bekennt
ſie, daß ſie den Willen, und da dieſer die
eigentliche Grund-Wurzel des Menſchen ſelbſt
iſt, den Menſchen ſelbſt zu bilden durchaus
D 2[52] weder vermoͤge, noch wolle oder begehre, und
daß ſie dies uͤberhaupt fuͤr unmoͤglich halte.
Dagegen wuͤrde die neue Erziehung gerade
darin beſtehen muͤſſen, daß ſie auf dem Bo¬
den, deſſen Bearbeitung ſie uͤbernaͤhme, die
Freiheit des Willens gaͤnzlich vernichtete, und
dagegen ſtrenge Nothwendigkeit der Entſchlieſ¬
ſungen, und die Unmoͤglichkeit des entgegen¬
geſezten in dem Willen hervorbraͤchte, auf
welchen Willen man nunmehro ſicher rechnen
und auf ihn ſich verlaſſen koͤnnte.


Alle Bildung ſtrebt an die Hervorbrin¬
gung eines feſten beſtimmten und beharrli¬
chen Seyns, das nun nicht mehr wird, ſon¬
dern iſt, und nicht anders ſeyn kann, denn
ſo wie es iſt. Strebte ſie nicht an ein ſol¬
ches Seyn, ſo waͤre ſie nicht Bildung, ſon¬
dern irgend ein zweckloſes Spiel; haͤtte ſie
ein ſolches Seyn nicht hervorgebracht, ſo waͤre
ſie eben noch nicht vollendet. Wer ſich noch
ermahnen muß, und ermahnt werden, das
Gute zu wollen, der hat noch kein beſtimm¬
tes, und ſtets bereit ſtehendes Wollen, ſon¬
dern er will ſich dieſes erſt jedesmal im Falle
des Gebrauches machen; wer ein ſolches feſtes
[53] Wollen hat, der will, was er will, fuͤr alle
Ewigkeit, und er kann in keinem moͤglichen
Falle anders wollen, denn alſo, wie er eben
immer will; fuͤr ihn iſt die Freiheit des Wil¬
lens vernichtet, und aufgegangen in der
Nothwendigkeit. Dadurch eben hat die bis¬
herige Zeit gezeigt, daß ſie von Bildung zum
Menſchen weder einen rechten Begriff, noch
die Kraft hatte, dieſen Begriff darzuſtellen,
daß ſie durch ermahnende Predigten die Men¬
ſchen beſſern wollte, und verdrießlich ward,
und ſchalt, wenn dieſe Predigten nichts fruch¬
teten. Wie konnten ſie doch fruchten? Der
Wille des Menſchen hat ſchon vor der Er¬
mahnung vorher, und unabhaͤngig von ihr,
ſeine feſte Richtung; ſtimmt dieſe zuſammen
mit deiner Ermahnung, ſo koͤmmt die Er¬
mahnung zu ſpaͤt, und der Menſch haͤtte auch
ohne dieſelbe gethan, wozu du ihn ermah¬
neſt, ſteht ſie mit derſelben im Widerſpruche,
ſo magſt du ihn hoͤchſtens einige Augenblicke
betaͤuben; wie die Gelegenheit kommt, vergißt
er ſich ſelbſt und deine Ermahnung, und folgt
ſeinem natuͤrlichen Hange. Willſt du etwas
uͤber ihn vermoͤgen, ſo mußt du mehr thun,
[54] als ihn bloß anreden, du mußt ihn machen, ihn
alſo machen, daß er gar nicht anders wollen
koͤnne, als du willſt, daß er wolle. Es iſt
vergebens zu ſagen, fliege — dem der keine
Fluͤgel hat, und er wird durch alle deine
Ermahnungen nie zwei Schritte uͤber den
Boden empor kommen; aber entwikle, wenn
du kannſt, ſeine geiſtigen Schwungfedern,
und laſſe ihn dieſelben uͤben, und kraͤftig
machen, und er wird ohne alle dein Ermah¬
nen gar nicht anders mehr wollen, oder koͤn¬
nen, denn fliegen.


Dieſen feſten, und nicht weiter ſchwan¬
kenden Willen muß die neue Erziehung her¬
vorbringen nach einer ſichern, und ohne Aus¬
nahme wirkſamen Regel; ſie muß ſelber mit
Nothwendigkeit erzeugen die Nothwendigkeit,
die ſie beabſichtiget. Was bisher gut gewor¬
den iſt, iſt gut geworden durch ſeine natuͤr¬
liche Anlage, durch welche die Einwirkung der
ſchlechten Umgebung uͤberwogen wurde; kei¬
nesweges aber durch die Erziehung, denn ſonſt
haͤtte alles durch dieſelbe hindurch gegan¬
gene gut werden muͤſſen: was da verdarb,
verdarb eben ſo wenig, durch die Erziehung,
[55] denn ſonſt haͤtte alles durch ſie hindurch ge¬
hende verderben muͤſſen, ſondern durch ſich
ſelber, und ſeine natuͤrliche Anlage; die Er¬
ziehung war in dieſer Ruͤckſicht nur nichtig,
keinesweges verderblich, das eigentliche bil¬
dende Mittel war die geiſtige Natur. Aus
den Haͤnden dieſer dunklen, und nicht zu be¬
rechnenden Kraft nun ſoll hinfuͤhro die Bil¬
dung zum Menſchen unter die Bothmaͤßig¬
keit einer beſonnenen Kunſt gebracht werden,
die an allem ohne Ausnahme, was ihr an¬
vertraut wird, ihren Zweck ſicher erreiche,
oder, wo ſie ihn etwa nicht erreichte, wenig¬
ſtens weiß, daß ſie ihn nicht erreicht hat,
und daß ſomit die Erziehung noch nicht ge¬
ſchloſſen iſt. Eine ſichere und beſonnene
Kunſt einen feſten, und unfehlbaren guten
Willen im Menſchen zu bilden, ſoll alſo die
von mir vorgeſchlagene Erziehung ſeyn, und
dieſes iſt ihr erſtes Merkmal.


Weiter — der Menſch kann nur dasjenige
wollen, was er liebt; ſeine Liebe iſt der ein¬
zige, zugleich auch der unfehlbare Antrieb
ſeines Wollens, und aller ſeiner Lebens-
Regung, und Bewegung. Die bisherige
[56] Staatskunſt, als ſelbſt Erziehung des geſell¬
ſchaftlichen Menſchen, ſetzte als ſichere, und
ohne Ausnahme geltende Regel voraus, daß
jedermann ſein eigenes ſinnliches Wohlſeyn
liebe, und wolle, und ſie knuͤpfte an dieſe
natuͤrliche Liebe durch Furcht und Hofnung
kuͤnſtlich den guten Willen, den ſie wollte,
das Intereſſe fuͤr das gemeine Weſen. Ab¬
gerechnet, daß bei dieſer Erziehungs-Weiſe
der aͤußerlich zum unſchaͤdlichen oder brauch¬
baren Buͤrger gewordene dennoch innerlich
ein ſchlechter Menſch bleibt, denn darin eben
beſteht die Schlechtigkeit, daß man nur ſein
ſinnliches Wohlſeyn liebe, und nur durch
Furcht, oder Hofnung fuͤr dieſes, ſey es nun
im gegenwaͤrtigen, oder in einem kuͤnftigen
Leben, bewegt werden koͤnne; — dieſes ab¬
gerechnet, haben wir ſchon oben erſehen, daß
dieſe Maaßregel fuͤr uns nicht mehr anwend¬
bar iſt, indem Furcht und Hofnung nicht
mehr fuͤr uns, ſondern gegen uns dienen,
und die ſinnliche Selbſtliebe auf keine Weiſe
in unſern Vortheil gezogen werden kann.
Wir ſind daher ſogar durch die Noth gedrun¬
gen, innerlich, und im Grunde gute Menſchen
[57] bilden zu wollen, indem nur in ſolchen die
deutſche Nation noch fortdauern kann, durch
ſchlechte aber nothwendig mit dem Auslande
zuſammenfließt. Wir muͤſſen darum an die
Stelle jener Selbſtliebe, an welche nichts
gutes fuͤr uns ſich laͤnger knuͤpfen laͤßt, eine
andere Liebe, die unmittelbar auf das Gute,
ſchlechtweg als ſolches, und um ſein ſelbſt
willen gehe, in den Gemuͤthern aller, die wir
zu unſrer Nation rechnen wollen, ſetzen, und
begruͤnden.


Die Liebe fuͤr das Gute ſchlechtweg als
ſolches, und nicht etwa um ſeiner Nuͤzlichkeit
willen fuͤr uns ſelber, traͤgt, wie wir ſchon
erſehen haben, die Geſtalt des Wohlgefallens
an demſelben: eines ſo innigen Wohlgefal¬
lens, daß man dadurch getrieben werde, es
in ſeinem Leben darzuſtellen. Dieſes innige
Wohlgefallen alſo waͤre es, was die neue
Erziehung als feſtes und unwandelbares Seyn
ihres Zoͤglings hervorbringen muͤßte; worauf
denn dieſes Wohlgefallen durch ſich ſelbſt den
unwandelbar guten Willen deſſelben Zoͤglings
als nothwendig begruͤnden wuͤrde.


Ein Wohlgefallen, das da treibet, einen
[58] gewiſſen Zuſtand der Dinge, der in der Wirk¬
lichkeit nicht vorhanden iſt, hervorzubringen
in derſelben, ſezt voraus ein Bild dieſes Zu¬
ſtandes, das vor dem wirklichen Seyn deſſel¬
ben vorher dem Geiſte vorſchwebt, und jenes
zur Ausfuͤhrung treibende Wohlgefallen auf
ſich ziehet. Somit ſezt dieſes Wohlgefallen
in der Perſon, die von ihm ergriffen wer¬
den ſoll, voraus, das Vermoͤgen, ſelbſtthaͤtig
dergleichen Bilder, die unabhaͤngig ſeyen von
der Wirklichkeit, und keinesweges Nachbilder
derſelben, ſondern vielmehr Vorbilder, zu ent¬
werfen. Ich habe jetzt zu allernaͤchſt von
dieſem Vermoͤgen zu ſprechen, und ich bitte,
waͤhrend dieſer Betrachtung ja nicht zu ver¬
geſſen, daß ein durch dieſes Vermoͤgen her¬
vorgebrachtes Bild eben als bloßes Bild,
und als dasjenige, worin wir unſre bildende
Kraft fuͤhlen, gefallen koͤnne, ohne doch dar¬
um genommen zu werden als Vorbild einer
Wirklichkeit, und ohne in dem Grade zu ge¬
fallen, daß es zur Ausfuͤhrung treibe; daß
dies letztere ein ganz anderes, und unſer
eigentlicher Zweck iſt, von dem wir ſpaͤter zu
reden nicht unterlaſſen werden, jenes naͤchſte
[59] aber lediglich die vorlaͤufige Bedingung ent¬
haͤlt zu Erreichung des wahren letzten Zwecks
der Erziehung.


Jenes Vermoͤgen, Bilder, die keinesweges
bloße Nachbilder der Wirklichkeit ſeyen, ſon¬
dern die da faͤhig ſind, Vorbilder derſelben
zu werden, ſelbſtthaͤtig zu entwerfen, waͤre
das erſte, wovon die Bildung des Geſchlechts
durch die neue Erziehung ausgehen muͤßte.
Selbſtthaͤtig zu entwerfen, habe ich geſagt,
und alſo, daß der Zoͤgling durch eigne Kraft
ſie ſich erzeuge, keinesweges etwa, daß er
nur faͤhig werde, das durch die Erziehung
ihm hingegebne Bild, leidend aufzufaſſen, es
hinlaͤnglich zu verſtehen, und es, alſo wie es
ihm gegeben iſt, zu wiederholen, als ob es
nur um das Vorhandenſeyn eines ſolchen
Bildes zu thun waͤre. Der Grund dieſer
Forderung der eignen Selbſtthaͤtigkeit in die¬
ſem Bilden iſt folgender: nur unter dieſer
Bedingung kann das entworfene Bild das
thaͤtige Wohlgefallen des Zoͤglings an ſich
ziehen. Es iſt nemlich ganz etwas anderes,
ſich etwas nur gefallen zu laſſen, und nichts
dagegen zu haben, dergleichen leidendes Ge¬
[60] fallenlaſſen allein hoͤchſtens aus einem leiden¬
den Hingeben entſtehen kann; wiederum aber
etwas anderes, von dem Wohlgefallen an
etwas alſo ergriffen werden, daß daſſelbe
ſchoͤpferiſch werde, und alle unſre Kraft zum
Bilden anrege. Von dem erſten, das in alle¬
wege in der bisherigen Erziehung wohl auch
vorkam, ſprechen wir nicht, ſondern von dem
lezten. Dieſes lezte Wohlgefallen aber wird
allein dadurch angezuͤndet, daß die Selbſt¬
thaͤtigkeit des Zoͤglings zugleich angereizt, und
an dem gegebnen Gegenſtande ihm offenbar
werde, und ſo dieſer Gegenſtand nicht bloß
fuͤr ſich, ſondern zugleich auch als ein Ge¬
genſtand der geiſtigen Kraftaͤußerung gefalle,
welche leztere unmittelbar, nothwendig, und
ohne alle Ausnahme wohlgefaͤllt.


Dieſe im Zoͤglinge zu entwickelnde Thaͤ¬
tigkeit des geiſtigen Bildens iſt ohne Zweifel
eine Thaͤtigkeit nach Regeln, welche Regeln
dem Thaͤtigen kund werden, bis zur Einſicht
ihrer einzigen Moͤglichkeit in unmittelbarer
Erfahrung an ſich ſelber; alſo, dieſe Thaͤtig¬
keit bringt hervor Erkenntniß, und zwar,
allgemeiner, und ohne Ausnahme geltender
[61] Geſetze. Auch in dem von dieſem Punkte
aus ſich anhebenden freien Fortbilden iſt un¬
moͤglich, was gegen das Geſetz unternommen
wird, und es erfolgt keine That, bis das
Geſetz befolgt iſt; wenn daher auch dieſe freie
Fortbildung anfangs von blinden Verſuchen
ausginge, ſo muͤßte ſie doch enden mit erwei¬
terter Erkenntniß des Geſetzes. Dieſe Bil¬
dung iſt daher in ihrem lezten Erfolge Bil¬
dung des Erkenntnißvermoͤgens des Zoͤglings,
und zwar keinesweges die hiſtoriſche an den
ſtehenden Beſchaffenheiten der Dinge, ſondern
die hoͤhere, und philoſophiſche, an den Ge¬
ſetzen, nach denen eine ſolche ſtehende Be¬
ſchaffenheit der Dinge nothwendig wird. Der
Zoͤgling lernt.


Ich ſetze hinzu: der Zoͤgling lernt gern,
und mit Luſt, und er mag, ſo lange die
Spannung der Kraft vorhaͤlt, gar nichts lie¬
ber thun, denn lernen, denn er iſt ſelbſtthaͤ¬
tig, indem er lernt, nnd dazu hat er unmit¬
telbar die allerhoͤchſte Luſt. Wir haben hier¬
an ein aͤußeres theils unmittelbar ins Auge
fallendes theils untruͤgliches Kennzeichen der
wahren Erziehung gefunden, dies, daß ohne
[62] alle Ruͤckſicht auf die Verſchiedenheit der na¬
tuͤrlichen Anlagen und ohne alle Ausnahme
jedweder Zoͤgling, an den dieſe Erziehung
gebracht wird, rein um des Lernens ſelbſt
willen, und aus keinem andern Grunde, mit
Luſt und Liebe lerne. Wir haben das Mit¬
tel gefunden, dieſe reine Liebe zum Lernen
anzuzuͤnden, dies, die unmittelbare Selbſt¬
thaͤtigkeit des Zoͤglings anzuregen, und
dieſe zur Grundlage aller Erkenntniß zu
machen, alſo, daß an ihr gelernt werde, was
gelernt wird.


Dieſe eigne Thaͤtigkeit des Zoͤglings in irgend
einem uns bekannten Punkte nur erſt anzure¬
gen, iſt das erſte Hauptſtuͤck der Kunſt. Iſt die¬
ſes gelungen, ſo kommt es nur noch darauf an,
die angeregte von dieſem Punkte aus immer
im friſchen Leben zu erhalten, welches allein
durch regelmaͤßiges Fortſchreiten moͤglich iſt,
und wo jeder Fehlgriff der Erziehung auf der
Stelle durch Mißlingen des Beabſichtigten
ſich entdeckt. Wir haben alſo auch das Band
gefunden, wodurch der beabſichtigte Erfolg
unabtrennlich angeknuͤpft wird an die ange¬
gebene Wirkungsweiſe, das ewige und ohne
[63] alle Ausnahme waltende Grundgeſez der gei¬
ſtigen Natur des Menſchen, daß er geiſtige
Thaͤtigkeit unmittelbar anſtrebe.


Sollte jemand, durch die gewoͤhnliche Er¬
fahrung unſerer Tage irre geleitet, ſogar ge¬
gen das Vorhandenſeyn eines ſolchen Grund¬
geſetzes Zweifel hegen, ſo merken wir fuͤr
einen ſolchen zum Ueberfluſſe an, daß der
Menſch von Natur allerdings bloß ſinnlich
und ſelbſtſuͤchtig iſt, ſo lange die unmittel¬
bare Noth, und das gegenwaͤrtige ſinnliche
Beduͤrfniß ihn treibt, und daß er durch kein
geiſtiges Beduͤrfniß, oder irgend eine ſcho¬
nende Ruͤckſicht ſich abhalten laͤßt, dieſes zu
befriedigen; daß er aber, nachdem nur die¬
ſem abgeholfen iſt, wenig Neigung hat, das
ſchmerzhafte Bild deſſelben in ſeiner Phantaſie
zu bearbeiten, und es ſich gegenwaͤrtig zu
erhalten, ſondern daß er es weit mehr liebt,
den losgebundenen Gedanken auf die freie
Betrachtung deſſen, was die Aufmerkſamkeit
ſeiner Sinne reizt, zu richten, ja daß er auch
einen dichteriſchen Ausflug in ideale Welten
gar nicht verſchmaͤht, indem ihm von Natur
ein leichter Sinn beiwohnt fuͤr das Zeitliche,
[64] damit ſein Sinn fuͤr das Ewige einigen Spiel-
Raum zur Entwickelung erhalte. Das letzte
wird bewieſen durch die Geſchichte aller alten
Voͤlker, und die mancherlei Beobachtungen und
Entdeckungen, die von ihnen auf uns gekom¬
men ſind; es wird bewieſen bis auf unſere
Tage durch die Beobachtung der noch uͤbri¬
gen wilden Voͤlker, falls nemlich ſie von ih¬
rem Klima nur nicht gar zu ſtiefmuͤtterlich
behandelt werden, und durch die unſrer eig¬
nen Kinder; es wird ſogar bewieſen durch
das freimuͤthige Geſtaͤndniß unſerer Eiferer
gegen Ideale, welche ſich beklagen, daß es
ein weit verdrießlicheres Geſchaͤft ſey, Na¬
men und Jahrszahlen zu lernen, denn auf¬
zufliegen in das, wie es ihnen vorkommt,
leere Feld der Ideen, welche ſonach ſelber,
wie es ſcheint, lieber das zweite thaͤten, wenn
ſie ſichs erlauben duͤrften, denn das erſte.
Daß an die Stelle dieſes naturgemaͤßen Leicht¬
ſinns der ſchwere Sinn trete, wo auch dem
Geſaͤttigten der kuͤnftige Hunger, und die
ganzen langen Reihen alles moͤglichen kuͤnf¬
tigen Hungers, als das einzige ſeine Seele
fuͤllende, vorſchweben, und ihn immerfort ſta¬
cheln[65] cheln und treiben, wird in unſerm Zeitalter
durch Kunſt bewirkt, beim Knaben durch Zuͤch¬
tigung ſeines natuͤrlichen Leichtſinns, beim
Manne durch das Beſtreben fuͤr einen klugen
Mann zu gelten, welcher Ruhm nur demje¬
nigen zu Theil wird, der jenen Geſichtspunkt
keinen Augenblick aus den Augen laͤßt; es iſt
daher dies keinesweges Natur, auf die wir
zu rechnen haͤtten, ſondern ein der widerſtre¬
benden Natur mit Muͤhe aufgedrungenes Ver¬
derben, das da wegfaͤllt, ſo wie nur jene
Muͤhe nicht mehr angewendet wird.


Dieſe unmittelbar die geiſtige Selbſtthaͤtig¬
keit des Zoͤglings anregende Erziehung, erzeugt
Erkenntniß, ſagten wir oben; und dies giebt
uns Gelegenheit, die neue Erziehung im Ge¬
genſatze mit der bisherigen, noch tiefer zu
bezeichnen. Eigentlich nemlich, und unmit¬
telbar geht die neue Erziehung nur auf Anre¬
gung regelmaͤßig fortſchreitender Geiſtesthaͤtig¬
keit. Die Erkenntniß ergiebt ſich, wie wir
oben geſehen haben, nur neben bei, und als
nicht außenbleibende Folge. Ob es daher,
nun zwar wohl dieſe Erkenntniß iſt, in wel¬
cher allein das Bild fuͤr das wirkliche Leben,
E[66] das die kuͤnftige ernſtliche Thaͤtigkeit unſers
zum Manne gewordenen Zoͤglings anregen
ſoll, erfaßt werden kann; die Erkenntniß da¬
her allerdings ein weſentlicher Beſtandtheil
der zn erlangenden Bildung iſt, ſo kann man
dennoch nicht ſagen, daß die neue Erziehung
dieſe Erkenntniß unmittelbar beabſichtige, ſon¬
dern die Erkenntniß faͤllt derſelben nur zu.
Im Gegentheile beabſichtigte die bisherige Er¬
ziehung geradezu Erkenntniß, und ein ge¬
wiſſes Maaß eines Erkenntnißſtoffes. Ferner
iſt ein großer Unterſchied zwiſchen der Art
der Erkenntniß, welche der neuen Erziehung
nebenbei entſteht, und derjenigen, welche
die bisherige Erziehung beabſichtigte. Jener
entſteht die Erkenntniß der die Moͤglichkeit
aller geiſtigen Thaͤtigkeit bedingenden Geſetze
dieſer Thaͤtigkeit. Z. B. wenn der Zoͤgling
in freier Phantaſie durch gerade Linien einen
Raum zu begrenzen verſucht, ſo iſt dies die
zuerſt angeregte geiſtige Thaͤtigkeit deſſelben.
Wenn er in dieſen Verſuchen findet, daß er
mit weniger denn drei geraden Linien keinen
Raum begrenzen koͤnne, ſo iſt dieſes letztere
die neben bei entſtehende Erkenntniß einer
[67] zweiten ganz andern Thaͤtigkeit des, das zuerſt
angeregte freie Vermoͤgen, beſchraͤnkenden Er¬
kenntnißvermoͤgens. Dieſer Erziehung ent¬
ſteht ſonach gleich bei ihrem Beginnen eine
wahrhaft uͤber alle Erfahrung erhabene, uͤber¬
ſinnliche, ſtreng nothwendige, und allgemeine
Erkenntniß, die alle nachher moͤgliche Erfah¬
rung ſchon im voraus unter ſich befaßt. Da¬
gegen ging der bisherige Unterricht in der Re¬
gel nur auf die ſtehenden Beſchaffenheiten
der Dinge, wie ſie eben ohne daß man
dafuͤr einen Grund angeben koͤnne, ſeyen, und
geglaubt, und gemerkt werden muͤßten; alſo
auf ein bloß leidendes Auffaſſen durch das
lediglich im Dienſte der Dinge ſtehende Ver¬
moͤgen des Gedaͤchtniſſes, wodurch es uͤber¬
haupt gar nicht zur Ahndung des Geiſtes,
als eines ſelbſtſtaͤndigen, und uranfaͤng¬
lichen Princips der Dinge ſelber, kommen
konnte. Es vermeine die neuere Paͤdagogik
ja nicht durch die Berufung auf ihren oft
bezeugten Abſcheu gegen mechaniſches Aus¬
wendiglernen, und auf ihre bekannten Mei¬
ſterſtuͤcke in ſokratiſcher Manier, gegen dieſen
Vorwurf ſich zu decken; denn hierauf hat ſie
E 2[68] ſchon laͤngſt wo anders den gruͤndlichen Be¬
ſcheid erhalten, daß dieſe ſokratiſchen Raͤſon¬
nements gleichfals nur mechaniſch auswendig
gelernt werden, und daß dies ein um ſo ge¬
faͤhrlicheres Auswendiglernen iſt, da es dem
Zoͤglinge, der nicht denkt, dennoch den Schein
giebt, daß er denken koͤnne; daß dies bei
dem Stoffe, den ſie zur Entwickelung des
Selbſtdenkens anwenden wollte, nicht an¬
ders erfolgen konnte, und daß man fuͤr die¬
ſen Zweck mit einem ganz andern Stoffe an¬
heben muͤſſe. Aus dieſer Beſchaffenheit des
bisherigen Unterrichts erhellet, theils warum
in der Regel der Zoͤgling bisher ungern, und
darum langſam und ſpaͤrlich lernte, und in
Ermangelung des Reizes aus dem Lernen
ſelber, fremdartige Antriebe untergelegt wer¬
den mußten, theils geht daraus hervor der
Grund von bisherigen Ausnahmen von der
Regel. Das Gedaͤchtniß, wenn es allein,
und ohne irgend einem andern geiſtigen Zwecke
dienen zu ſollen, in Anſpruch genommen wird,
iſt vielmehr ein Leiden des Gemuͤths, als
eine Thaͤtigkeit deſſelben, und es laͤßt ſich ein¬
ſehen, daß der Zoͤgling dieſes Leiden hoͤchſt
[69] ungern uͤbernehmen werde. Auch iſt die Be¬
kanntſchaft mit ganz fremden, und nicht das
mindeſte Intereſſe fuͤr ihn habenden Dingen,
und mit ihren Eigenſchaften, ein ſchlechter
Erſatz fuͤr jenes ihm zugefuͤgte Leiden; des¬
wegen mußte ſeine Abneigung durch die Ver¬
troͤſtung auf die kuͤnftige Nuͤtzlichkeit dieſer Er¬
kenntniſſe, und daß man nur vermittelſt ihrer
Brod und Ehre finden koͤnne, und ſogar durch
unmittelbar gegenwaͤrtige Strafe und Beloh¬
nung uͤberwunden werden; — daß ſomit die
Erkenntniß gleich von vorn herein als Diene¬
rin des ſinnlichen Wohlſeyns aufgeſtellt wurde,
und dieſe Erziehung, welche in Abſicht ihres
Inhalts oben als bloß unkraͤftig fuͤr Ent¬
wicklung einer ſittlichen Denkart aufgeſtellt
wurde, um nur an den Zoͤgling zu gelangen,
das moraliſche Verderben deſſelben ſogar
pflanzen und entwickeln, und ihr Intereſſe
an das Intereſſe dieſes Verderbens anknuͤpfen
mußte. Man wird ferner finden, daß das
natuͤrliche Talent, welches als Ausnahme
von der Regel, in der Schule dieſer bisherigen
Erziehung gern lernte, und deswegen gut,
und durch dieſe in ihm waltende hoͤhere
Liebe das moraliſche Verderben der Umgebung
[70] uͤberwand, und ſeinen Sinn rein erhielt,
durch ſeinen natuͤrlichen Hang, jenen Gegen¬
ſtaͤnden ein praktiſches Intereſſe abgewann,
und daß es, von ſeinem gluͤcklichen Inſtinkte
geleitet, vielmehr darauf ausging, dergleichen
Erkenntniſſe ſelbſt hervorzubringen, denn dar¬
auf, ſie bloß aufzufaſſen: ſodann, daß in Ab¬
ſicht der Lehrgegenſtaͤnde, mit denen, als
Ausnahme von der Regel, es dieſer Erzie¬
hung noch am allgemeinſten und gluͤcklichſten
gelang, dieſes insgeſammt ſolche ſind, die ſie
thaͤtig ausuͤben ließ, ſo wie z. B. diejenige
gelehrte Sprache, in der bis aufs Schreiben
und Reden derſelben ausgegangen wurde,
beinah allgemein ziemlich gut, dagegen die¬
jenige andere, in der die Schreibe- und Rede-
Uebungen vernachlaͤſſigt wurden, in der Re¬
gel ſehr ſchlecht und oberflaͤchlich gelernt, und
in reiferen Jahren vergeſſen worden. Daß
daher auch aus der bisherigen Erfahrung
hervorgeht, daß es allein die Entwickelung
der geiſtigen Thaͤtigkeit durch den Unterricht
ſey, die da Luſt an der Erkenntniß, rein als
ſolcher, hervorbringe, und ſo auch das Ge¬
muͤth der ſittlichen Bildung offen erhalte, da¬
gegen das bloß leidende Empfangen eben ſo
[71] die Erkenntniß laͤhme und toͤdte, wie es ihr
Beduͤrfniß ſey, den ſittlichen Sinn in Grund
und Boden hinein zu verderben.


Um wieder zuruͤckzukehren zum Zoͤglinge
der neuen Erziehung: es iſt klar, daß der¬
ſelbe, von ſeiner Liebe getrieben, viel, und
da er alles in ſeinem Zuſammenhange faßt,
und das gefaßte unmittelbar durch ein Thun
uͤbt, dieſes viele richtig und unvergeßlich ler¬
nen werde. Doch iſt dieſes nur Nebenſache.
Bedeutender iſt, daß durch dieſe Liebe ſein
Selbſt erhoͤhet, und in eine ganz neue Ord¬
nung der Dinge, in welche bisher nur we¬
nige von Gott beguͤnſtigte von ohngefaͤhr ka¬
men, beſonnen, und nach einer Regel ein¬
gefuͤhrt wird. Ihn treibt eine Liebe, die
durchaus nicht auf irgend einen ſinnlichen
Genuß ausgeht, indem dieſer, als Antrieb,
fuͤr ihn gaͤnzlich ſchweigt, ſondern auf geiſtige
Thaͤtigkeit, um der Thaͤtigkeit willen, und
auf das Geſetz derſelben, um des Geſetzes
willen. Ob nun zwar nicht dieſe geiſtige
Thaͤtigkeit uͤberhaupt es iſt, auf welche die
Sittlichkeit geht, ſondern dazu noch eine be¬
ſondere Richtung jener Thaͤtigkeit kommen
muß, ſo iſt dennoch jene Liebe die allgemeine
[72] Beſchaffenheit und Form des ſittlichen Wil¬
lens; und ſo iſt denn dieſe Weiſe der geiſti¬
gen Bildung, die unmittelbare Vorbereitung
zu der ſittlichen; die Wurzel der Unſittlichkeit
aber rottet ſie, indem ſie den ſinnlichen Ge¬
nuß durchaus niemals Antrieb werden laͤßt,
gaͤnzlich aus. Bisher war dieſer Antrieb der
erſte, der da angeregt, und ausgebildet wurde,
weil man außerdem den Zoͤgling gar nicht
bearbeiten, und einigen Einfluß auf denſel¬
ben gewinnen zu koͤnnen glaubte; ſollte hin¬
terher der ſittliche Antrieb entwickelt werden,
ſo kam derſelbe zu ſpaͤt, und fand das Herz
ſchon eingenommen und angefuͤllt von einer
andern Liebe. Durch die neue Erziehung ſoll
umgekehrt die Bildung zum reinen Wollen
das erſte werden, damit, wenn ſpaͤterhin doch
die Selbſtſucht innerlich erwachen, oder von
außen angeregt werden ſollte, dieſe zu ſpaͤt
komme, und in dem ſchon von etwas an¬
derm eingenommenen Gemuͤthe keinen Platz
fuͤr ſich finde.


Weſentlich iſt ſchon fuͤr dieſen erſten, ſo
wie fuͤr den demnaͤchſt anzugebenden zweiten
Zweck, daß der Zoͤgling von Anbeginn an
ununterbrochen, und ganz unter dem Einfluſſe
[73] dieſer Erziehung ſtehe, und daß er von dem
Gemeinen gaͤnzlich abgeſondert, und vor
aller Beruͤhrung damit verwahrt werde.
Daß man um ſeiner Erhaltung und ſeines
Wohlſeyns willens im Leben ſich regen und
bewegen koͤnne, muß er gar nicht hoͤren, und
eben ſo wenig, daß man um deswillen lerne,
oder daß das Lernen dazu etwas helfen koͤnne.
Es folgt daraus, daß die geiſtige Entwicke¬
lung in der oben angegebenen Weiſe, die ein¬
zige ſeyn muͤſſe, die an ihn gebracht werde,
und daß er mit derſelben ohne Unterlaß be¬
ſchaͤftigt werden muͤſſe, daß aber keinesweges
dieſe Weiſe des Unterrichts mit demjenigen,
der des entgegengeſezten ſinnlichen Antriebs
bedarf, abwechſeln duͤrfe.


Ob nun aber wohl dieſe geiſtige Ent¬
wickelung die Selbſtſucht nicht zum Leben
kommen laͤßt, und die Form eines ſittlichen
Willens giebt, ſo iſt dies doch darum noch
nicht der ſittliche Wille ſelbſt; und falls die
von uns vorgeſchlagene neue Erziehung nicht
weiter ginge, ſo wuͤrde ſie hoͤchſtens trefliche
Bearbeiter der Wiſſenſchaften erziehen, deren
es auch bisher gegeben hat, und deren es nur
wenige bedarf, und die fuͤr unſern eigentlichen
[74] menſchlichen, und nationalen Zweck, nicht
mehr vermoͤgen wuͤrden, als dergleichen Maͤn¬
ner auch bisher vermocht haben; ermahnen,
und wieder ermahnen, und ſich anſtaunen
und nach Gelegenheit ſchmaͤhen zu laſſen.
Aber es iſt klar, und iſt auch ſchon oben
geſagt, daß dieſe freie Thaͤtigkeit des Geiſtes
in der Abſicht entwickelt worden, damit der
Zoͤgling mit derſelben frei das Bild einer
ſittlichen Ordnung des wirklich vorhandenen
Lebens entwerfe, dieſes Bild mit der in ihm
gleichfalls ſchon entwickelten Liebe faſſe, und
durch dieſe Liebe getrieben werde, daſſelbe in
und durch ſein Leben wirklich darzuſtellen.
Es fragt ſich, wie die neue Erziehung ſich
den Beweis fuͤhren koͤnne, daß ſie dieſen
ihren eigentlichen und letzten Zweck an ihrem
Zoͤglinge erreicht habe?


Zufoͤrderſt iſt klar, daß die ſchon fruͤher
an andern Gegenſtaͤnden geuͤbte geiſtige Thaͤ¬
tigkeit des Zoͤglings angeregt werden muͤſſe,
ein Bild von der geſellſchaftlichen Ordnung
der Menſchen, ſo wie dieſelbe nach dem Ver¬
nunftgeſetze ſchlechthin ſeyn ſoll, zu entwerfen.
Ob dieſes, vom Zoͤglinge entworfene Bild
richtig ſey, iſt von einer Erziehung, die nur
[75] ſelbſt im Beſitze dieſes richtigen Bildes ſich
befindet, am leichteſten zu beurtheilen; ob
daſſelbe durch die eigne Selbſtthaͤtigkeit des
Zoͤglings entworfen, keinesweges aber nur
leidend aufgefaßt, und der Schule glaͤubig
nachgeſagt werde, ferner ob es zur gehoͤrigen
Klarheit, und Lebhaftigkeit geſteigert ſey, wird
die Erziehung auf dieſelbe Weiſe beurtheilen
koͤnnen, wie ſie fruͤher in derſelben Ruͤckſicht
bei andern Gegenſtaͤnden ein treffendes Ur¬
theil gefaͤllt hat. Alles dies iſt noch Sache
der bloßen Erkenntniß, und verbleibt auf dem
in dieſer Erziehung ſehr zugaͤnglichen Gebiete
dieſer. Eine ganz andere aber und hoͤhere
Frage iſt die, ob der Zoͤgling alſo von
trennender Liebe fuͤr eine ſolche Ordnung der
Dinge ergriffen ſey, daß es ihm, der Leitung
der Erziehung entlaſſen, und ſelbſtſtaͤndig hin¬
geſtellt, ſchlechterdings unmoͤglich ſeyn werde,
dieſe Ordnung nicht zu wollen, und nicht
aus allen ſeinen Kraͤften fuͤr die Befoͤrderung
derſelben zu arbeiten; uͤber welche Frage ohne
Zweifel nicht Worte, und in Worten anzu¬
ſtellende Pruͤfungen, ſondern allein der An¬
blick von Thaten entſcheiden koͤnnen.


Ich loͤſe die durch dieſe lezte Betrachtung
[76] uns geſtellte Aufgabe alſo: Ohne Zweifel wer¬
den doch die Zoͤglinge dieſer neuen Erziehung,
obwohl abgeſondert von der ſchon erwachſe¬
nen Gemeinheit, dennoch untereinander ſelbſt
in Gemeinſchaft leben, und ſo ein abgeſon¬
dertes und fuͤr ſich ſelbſt beſtehendes Gemein-
Weſen bilden, das ſeine genau beſtimmte, in
der Natur der Dinge gegruͤndete, und von
der Vernunft durchaus geforderte Verfaſſung
habe. Das allererſte Bild einer geſelligen Ord¬
nung, zu deſſen Entwerfung der Geiſt des
Zoͤglings angeregt werde, ſey dieſes der Ge¬
meine, in der er ſelber lebt, alſo, daß er in¬
nerlich gezwungen ſey, dieſe Ordnung Punkt
fuͤr Punkt gerade alſo ſich zu bilden, wie ſie
wirklich vorgezeichnet iſt, und daß er dieſelbe
in allen ihren Theilen, als durchaus noth¬
wendig aus ihren Gruͤnden verſtehe. Dies
iſt nun abermals bloßes Werk der Erkennt¬
niß. In dieſer geſellſchaftlichen Ordnung
muß nun im wirklichen Leben jeder Einzelne
um des Ganzen willen immerfort gar vieles
unterlaſſen, was er, wenn er ſich allein be¬
faͤnde, unbedenklich thun koͤnnte; und es wird
zweckmaͤßig ſeyn, daß in der Geſezgebung,
und in dem darauf zu bauenden Unterrichte
[77] uͤber die Verfaſſung, jedem Einzelnen alle die uͤb¬
rigen mit einer zum Ideal geſteigerten Ordnungs¬
liebe vorgeſtellt werden, welche alſo vielleicht
kein einziger wirklich hat, die aber alle haben
ſollten; und daß ſomit dieſe Geſezgebung einen
hohen Grad von Strenge erhalte, und der Un¬
terlaſſungen gar viele auflege. Dieſe, als etwas
das ſchlechthin ſeyn muß, und auf welchem das
Beſtehen der Geſellſchaft beruht, ſind auf den
Nothfall ſogar durch Furcht vor gegenwaͤrtiger
Strafe zu erzwingen; und muß dieſes Strafge¬
ſez ſchlechthin ohne Schonung oder Ausnahme
vollzogen werden. Der Sittlichkeit des Zoͤg¬
lings geſchieht durch dieſe Anwendung der
Furcht, als eines Triebes, gar kein Eintrag, in¬
dem hier ja nicht zum Thun des Guten, ſondern
nur zu Unterlaſſung des in dieſer Verfaſſung Boͤ¬
ſen getrieben werden ſoll; uͤberdieß muß im Un¬
terrichte uͤber die Verfaſſung vollkommen ver¬
ſtaͤndlich gemacht werden, daß der, welcher der
Vorſtellung von der Strafe, oder wohl gar der
Anfriſchung dieſer Vorſtellung durch die Erdul¬
dung der Strafe ſelbſt noch beduͤrfe, auf einer ſehr
niedrigen Stufe der Bildung ſtehe. Jedennoch
iſt bei allem dieſen klar, daß, da man niemals
wiſſen kann, ob, da wo gehorcht wird, aus Liebe
[78] zur Ordnung, oder aus Furcht vor der Strafe
gehorcht werde, in dieſem Umkreiſe der Zoͤgling
ſeinen guten Willen nicht aͤußerlich darthun,
noch die Erziehung ihn ermeſſen koͤnne.


Dagegen iſt der Umkreis, wo ein ſolches Er¬
meſſen moͤglich iſt, der folgende. Die Verfaſſung
muß nemlich ferner alſo eingerichtet ſeyn, daß
der Einzelne fuͤr das Ganze, nicht bloß unter¬
laſſen muͤſſe, ſondern daß er fuͤr daſſelbe auch
thun, und handelnd leiſten koͤnne. Außer der
geiſtigen Entwicklung im Lernen finden in die¬
ſem Gemein-Weſen der Zoͤglinge auch noch koͤr¬
perliche Uebungen, und die mechaniſchen aber
hier zum Ideale veredelten Arbeiten des Acker¬
baues, und die von mancherlei Handwerken
ſtatt. Es ſey Grundregel der Verfaſſung, daß
jedem, der in irgend einem dieſer Zweige ſich
hervorthut, zugemuthet werde, die andern darin
unterrichten zu helfen, und mancherlei Aufſich¬
ten, und Verantwortlichkeiten zu uͤbernehmen;
jedem, der irgend eine Verbeſſerung findet, oder
die von einem Lehrer vorgeſchlagene zuerſt, und
am klaͤrſten begreift, dieſelbe mit eigner Muͤhe
auszufuͤhren, ohne daß er doch darum von ſei¬
nen ohnedies ſich verſtehenden perſoͤnlichen Auf¬
gaben des Lernens und Arbeitens losgeſprochen
[79] ſey; daß jeder dieſer Anmuthung freiwillig ge¬
nuͤge, und nicht aus Zwang, indem es dem Nicht¬
wollenden auch frei ſteht, ſie abzulehnen; daß er
dafuͤr keine Belohnung zu erwarten habe, indem
in dieſer Verfaſſung alle in Beziehung auf Ar¬
beit und Genuß ganz gleich geſezt ſind, nicht
einmal Lob, indem es die herrſchende Denkart
iſt in der Gemeine, daß daran jeder eben nur
ſeine Schuldigkeit thue, ſondern daß er allein
genieße die Freude an ſeinem Thun und Wir¬
ken fuͤr das Ganze, und an dem Gelingen deſ¬
ſelben, falls ihm dieſes zu Theil wird. In
dieſer Verfaſſung wird ſonach aus erworbener
groͤßerer Geſchiklichkeit, und aus der hierauf
verwendeten Muͤhe, nur neue Muͤhe und Ar¬
beit folgen, und gerade der Tuͤchtigere wird oft
wachen muͤſſen, wenn andere ſchlafen, und
nachdenken muͤſſen, wenn andere ſpielen.


Die Zoͤglinge welche, ohnerachtet ihnen die¬
ſes alles vollkommen klar, und verſtaͤndlich iſt,
dennoch fortgeſezt, und alſo, daß man mit
Sicherheit auf ſie rechnen koͤnne, jene erſte
Muͤhe, und die aus ihr folgenden weiteren
Muͤhen, freudig uͤbernehmen, und in dem Ge¬
fuͤhle ihrer Kraft und Thaͤtigkeit ſtark bleiben
und ſtaͤrker werden, — dieſe kann die Erzie¬
[80] hung ruhig entlaſſen in die Welt; an ihnen hat
ſie dieſen ihren Zweck erreicht; in ihnen iſt die
Liebe angezuͤndet, und brennt bis in die Wur¬
zel ihrer lebendigen Regung hinein, und ſie
wird von nun an weiter alles ohne Ausnahme
ergreifen, was an dieſe Lebens-Regung gelan¬
gen wird; und ſie werden in dem groͤßeren
Gemein-Weſen, in das ſie von nun an eintre¬
ten, niemals etwas anderes zu ſeyn vermoͤgen,
denn dasjenige, was ſie in dem kleinen Ge¬
mein-Weſen, das ſie jetzo verlaſſen, unverruͤckt,
und unwandelbar waren.


Auf dieſe Weiſe iſt der Zoͤgling vollendet
fuͤr die naͤchſten, und ohne Ausnahme eintre¬
tenden Anforderungen der Welt an ihn, und
es iſt geſchehen, was die Erziehung im Namen
dieſer Welt von ihm verlangt. Noch aber iſt
er nicht in ſich und fuͤr ſich ſelber vollendet,
und es iſt noch nicht geſchehen, was er ſelbſt
von der Erziehung fordern kann. So wie auch
dieſe Forderung erfuͤllt wird, wird er zugleich
tuͤchtig, den Anforderungen, die eine hoͤhere
Welt im Namen der gegenwaͤrtigen in beſon¬
dern Faͤllen an ihn machen duͤrfte, zu genuͤgen.


[81]

Dritte Rede.


Fortsetzung der Schilderung der neuen
Erziehung.

Das eigentliche Weſen der in Vorſchlag
gebrachten neuen Erziehung, inwiefern die¬
ſelbe in der vorigen Rede beſchrieben wor¬
den, beſtand darin, daß ſie die beſonnene und
ſichere Kunſt ſey, den Zoͤgling zu reiner Sitt¬
lichkeit zu bilden. Zu reiner Sittlichkeit, ſagte
ich; die Sittlichkeit, zu der ſie erziehet, ſtehet
als ein erſtes, unabhaͤngiges, und ſelbſtſtaͤndi¬
ges da, das aus ſich ſelber lebet ſein eigenes
Leben; keinesweges aber, ſo wie die bisher
oft beabſichtigte Geſetzmaͤßigkeit angeknuͤpft iſt,
und eingeimpft, einem andern nicht ſittlichen
Triebe, deſſen Befriedigung es diene. Sie iſt
die beſonnene und ſichere Kunſt dieſer ſittlichen
Erziehung, ſagte ich. Sie ſchreitet nicht
F[82] planlos und auf gutes Gluͤck, ſondern nach
einer feſten, und ihr wohl bekannten Regel
einher, und iſt ihres Erfolges gewiß. Ihr
Zoͤgling geht zu rechter Zeit als ein feſtes, und
unwandelbares Kunſtwerk dieſer ihrer Kunſt
hervor, das nicht etwa auch anders gehen
koͤnne, denn alſo, wie es durch ſie geſtellt wor¬
den, und das nicht etwa einer Nachhuͤlfe be¬
duͤrfe, ſondern das durch ſich ſelbſt nach ſei¬
nem eignen Geſetze fortgeht.


Zwar bildet dieſe Erziehung auch den Geiſt
ihres Zoͤglings; und dieſe geiſtige Bildung iſt
ſogar ihr erſtes, mit welchem ſie ihr Geſchaͤft
anhebt. Doch iſt dieſe geiſtige Entwicklung
nicht erſter, und ſelbſtſtaͤndiger Zweck, ſondern
nur das bedingende Mittel, um ſittliche Bil¬
dung an den Zoͤgling zu bringen. Inzwiſchen
bleibt auch dieſe nur gelegentlich erworbene
geiſtige Bildung ein aus dem Leben des Zoͤg¬
lings unaustilgbarer Beſitz, und die ewig fort¬
brennende Leuchte ſeiner ſittlichen Liebe. Wie
groß auch, oder wie geringfuͤgig die Summe der
Erkenntniſſe ſeyn moͤge, die er aus der Erzie¬
hung mitgebracht; einen Geiſt, der ſein gan¬
zes Leben hindurch jedwede Wahrheit, deren
[83] Erkenntniß ihm nothwendig wird, zu faſſen
vermag, und welcher eben ſo der Belehrung
durch andere empfaͤnglich, als des eignen
Nachdenkens faͤhig ohn' Unterlaß bleibt,
hat er von derſelben ſicherlich mit davon ge¬
bracht.


Soweit waren wir in der Beſchreibung
dieſer neuen Erziehung in der vorigen Rede ge¬
kommen. Wir bemerkten am Schluſſe derſel¬
ben, daß durch dieſes alles ſie dennoch noch
nicht vollendet ſey, ſondern noch eine andere,
von den bis jetzt aufgeſtellten verſchiedene Auf¬
gabe zu loͤſen habe; und wir gehen jetzt an das
Geſchaͤft, dieſe Aufgabe naͤher zu bezeichnen.


Der Zoͤgling dieſer Erziehung iſt ja nicht
bloß Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft hier
auf dieſer Erde, und fuͤr die kurze Spanne Le¬
ben, die ihm auf derſelben vergoͤnnt iſt, ſon¬
dern er iſt auch, und wild ohne Zweifel von
der Erziehung anerkannt fuͤr ein Glied in der
ewigen Kette eines geiſtigen Lebens uͤberhaupt,
unter einer hoͤhern geſellſchaftlichen Ordnung.
Ohne Zweifel muß auch zur Einſicht in dieſe
hoͤhere Ordnung eine Bildung, die ſein ganzes
Weſen zu umfaſſen ſich vorgenommen hat, ihn
F 2[84] anfuͤhren, und ſo wie ſie ihn leitete, ein Bild
jener ſittlichen Welt-Ordnung, die da niemals
iſt, ſondern ewig werden ſoll, durch eigne
Selbſtthaͤtigkeit ſich vorzuzeichnen, eben ſo
muß ſie ihn leiten, ein Bild jener uͤberſinnli¬
chen Welt-Ordnung, in der nichts wird, und
die auch niemals geworden iſt, ſondern die da
ewig nur iſt, in dem Gedanken, zu entwerfen,
mit gleicher Selbſtthaͤtigkeit, und alſo, daß er
innigſt verſtehe und einſehe, daß es nicht an¬
ders ſeyn koͤnne. Er wird, richtig geleitet,
mit den Verſuchen eines ſolchen Bildes zu
Ende kommen, und an dieſem Ende finden,
daß da nichts wahrhaftig da ſey, außer das
Leben, und zwar das geiſtige Leben, das da
lebet in dem Gedanken; und daß alles uͤbrige
nicht wahrhaftig da ſey, ſondern nur dazuſeyn
ſcheine, welches Scheines aus dem Gedanken
hervorgehenden Grund er gleichfalls, ſey es
auch nur im allgemeinen, begreifen wird. Er
wird ferner einſehen, daß jenes allein wahr¬
haft daſeyende geiſtige Leben, in den mannig¬
faltigen Geſtaltungen, die es nicht durch ein
Ohngefaͤhr, ſondern durch ein in Gott ſelber
gegruͤndetes Geſetz erhielt, wiederum Eins ſey,
[85] das goͤttliche Leben ſelber, welches goͤttliche
Leben allein in dem lebendigen Gedanken da
iſt, und ſich offenbar macht. So wird er ſein
Leben, als ein ewiges Glied in der Kette der
Offenbarung des goͤttlichen Lebens, und jed¬
wedes andere geiſtige Leben, als eben ein ſol¬
ches Glied, erkennen, und heilig halten ler¬
nen; und nur in der unmittelbaren Be¬
ruͤhrung mit Gott und dem nicht vermittelten
Ausſtroͤmen ſeines Lebens aus jenem, Leben,
und Licht, und Seeligkeit; in jeder Entfernung
aber aus der Unmittelbarkeit, Tod, Finſterniß
und Elend finden. Mit Einem Worte: dieſe
Entwickelung wird ihn zur Religion bilden; und
dieſe Religion des Einwohnens unſers Lebens
in Gott ſoll allerdings auch in der neuen Zeit
herrſchen, und in derſelben ſorgfaͤltig gebildet
werden. Dagegen ſoll die Religion der alten
Zeit, die das geiſtige Leben von dem goͤttli¬
chen abtrennte, [und] dem erſtern nur vermit¬
telſt eines Abfalls von dem zweiten das abſo¬
lute Daſeyn zu verſchaffen wußte, das ſie ihm
zugedacht hatte, und welche Gott als Faden
brauchte, um die Selbſtſucht noch uͤber den Tod
des ſterblichen Leibes hinaus in andere Welten
[86] einzufuͤhren, und durch Furcht und Hofnung
in dieſen die fuͤr die gegenwaͤrtige Welt ſchwach
gebliebene, zu verſtaͤrken, — dieſe Religion, die
offenbar eine Dienerin der Selbſtſucht war,
ſoll allerdings mit der alten Zeit zugleich zu
Grabe getragen werden; denn in der neuen
Zeit bricht die Ewigkeit nicht erſt jenſeits des
Grabes an, ſondern ſie kommt ihr mitten in ihre
Gegenwart hinein, die Selbſtſucht aber iſt ſo¬
wohl des Regiments, als des Dienſtes entlaſ¬
ſen, und zieht demnach auch ihre Dienerſchaft
mit ihr ab.


Die Erziehung zur wahren Religion iſt ſo¬
mit das letzte Geſchaͤft der neuen Erziehung.
Ob in der Entwerfung eines hiezu erforderli¬
chen Bildes der uͤberſinnlichen Welt-Ordnung
der Zoͤgling wahrhaft ſelbſtthaͤtig verfahren
ſey; und ob das entworfene Bild allenthalben
richtig, und durchaus klar, und verſtaͤndlich
ſey, wird die Erziehung leicht, auf dieſelbe
Weiſe wie bei den uͤbrigen Gegenſtaͤnden der
Erkenntniß, beurtheilen koͤnnen; denn auch
dies bleibt auf dem Gebiete der Erkennt¬
niß.

[87]

Bedeutender aber iſt auch hier die Frage,
wie die Erziehung ermeſſen, und ſich die Ge¬
waͤhrſchaft leiſten koͤnne, daß dieſe Religions¬
kenntniſſe nicht tod und kalt bleiben, ſondern
daß ſie ſich ausdruͤcken werden im wirklichen
Leben ihres Zoͤglings; welcher Frage die Be¬
antwortung einer andern Frage vorauszu¬
ſchicken iſt, der folgenden: wie, und auf welche
Weiſe zeigt ſich die Religion uͤberhaupt im
Leben.


Unmittelbar, im gewoͤhnlichen Leben, und
in einer wohlgeordneten Geſellſchaft, bedarf es
der Religion durchaus nicht, um das Leben zu
bilden, ſondern es reicht fuͤr dieſe Zwecke die
wahre Sittlichkeit vollkommen hin. In die¬
ſer Ruͤckſicht iſt alſo die Religion nicht prak¬
tiſch, und kann und ſoll gar nicht praktiſch wer¬
den, ſondern ſie iſt lediglich Erkenntniß: ſie
macht bloß den Menſchen ſich ſelber vollkom¬
men klar, und verſtaͤndlich, beantwortet die
hoͤchſte Frage die er aufwerfen kann, loͤſet
ihm den letzten Widerſpruch auf, und bringt
ſo vollkommne Einigkeit mit ſich ſelbſt, und
durchgefuͤhrte Klarheit in ſeinen Verſtand.
Sie iſt ſeine vollſtaͤndige Erloͤſung und Be¬
[88] freiung von allem fremden Bande; und ſo iſt
ſie ihm denn die Erziehung, als etwas, das
ihm ſchlechtweg, und ohne weitern Zweck
gebuͤhrt, ſchuldig. Ein Gebiet, um als Antrieb
zu wirken, erhaͤlt die Religion nur entweder in
einer hoͤchſt unſittlichen, und verdorbenen Ge¬
ſellſchaft, oder wenn die Wirkungsſphaͤre des
Menſchen nicht innerhalb der geſellſchaftlichen
Ordnung, ſondern uͤber dieſelbe hinaus liegt, und
dieſelbe vielmehr immerfort neu zu erſchaffen,
und zu erhalten hat, wie beim Regenten, welcher
in vielen Faͤllen ohne Religion ſein Amt gar
nicht mit gutem Gewiſſen fuͤhren koͤnnte. Von
dem letztern Falle iſt in einer auf alle, und
auf die ganze Nation berechneten Erziehung
nicht die Rede. Wo in der erſten Ruͤckſicht bei
klarer Einſicht des Verſtandes in die Unver¬
beſſerlichkeit des Zeitalters dennoch unablaͤſ¬
ſig fortgearbeitet wird an demſelben; wo
muthig der Schweiß des Saͤens erduldet wird,
ohne einige Ausſicht auf eine Erndte; wo
wohlgethan wird auch den Undankbaren, und
geſeegnet werden mit Thaten, und Guͤtern
diejenigen, die da fluchen, und in der klaren
Vorherſicht, daß ſie abermals fluchen werden;
[89] wo nach hundertfaͤltigem Mißlingen dennoch
ausgeharret wird im Glauben, und in der
Liebe: da iſt es nicht die bloße Sittlichkeit, die
da treibt, denn dieſe will einen Zweck, ſondern
es iſt die Religion, die Ergebung in ein hoͤhe¬
res uns unbekanntes Geſez, das demuͤthige
Verſtummen vor Gott, die innige Liebe zu ſei¬
nem in uns ausgebrochnen Leben, welches
allein und um ſein ſelbſt willen gerettet wer¬
den ſoll, wo das Auge nichts anderes zu retten
ſieht.


Auf dieſe Weiſe kann die erlangte Reli¬
gions-Einſicht der Zoͤglinge der neuen Erzie¬
hung in ihrem kleinen Gemein-Weſen, in dem
ſie zunaͤchſt aufwachſen, nicht praktiſch wer¬
den, noch ſoll ſie es auch. Dieſes Gemein-
Weſen iſt wohlgeordnet, und in ihm gelingt
das geſchickt unternommene immer; auch ſoll
das noch zarte Alter des Menſchen erhalten
werden in der Unbefangenheit, und im ruhi¬
gen Glauben an ſein Geſchlecht. Die Erkennt¬
niß ſeiner Tuͤcken bleibe vorbehalten der eig¬
nen Erfahrung des gereiften, und befeſtigtern
Alters.

[90]

Nur in dieſem gereifteren Alter ſonach, und
in dem ernſtlich gemeinten Leben, nachdem die
Erziehung laͤngſt ihn ſich ſelber uͤberlaſſen hat,
koͤnnte der Zoͤgling derſelben, falls ſeine geſell¬
ſchaftlichen Verhaͤltniſſe aus der Einfachheit
zu hoͤhern Stufen fortſchreiten ſollten, ſeiner
Religionskenntniß, als eines Antriebes, be¬
duͤrfen. Wie ſoll nun die Erziehung, welche
uͤber dieſen Punkt den Zoͤgling, ſo lange er
unter ihren Haͤnden iſt, nicht pruͤfen kann,
dennoch ſicher ſeyn koͤnnen, daß, wenn nur
dieſes Beduͤrfniß eintreten werde, auch dieſer
Antrieb ohnfehlbar wirken werde? Ich ant¬
worte: dadurch, daß ihr Zoͤgling uͤberhaupt
ſo gebildet iſt, daß keine Erkenntniß, die er
hat, in ihm todt und kalt bleibt, wenn die
Moͤglichkeit eintritt, daß ſie ein Leben be¬
komme, ſondern jedwede nothwendig ſogleich
eingreift in das Leben, ſo wie das Leben der¬
ſelben bedarf. Ich werde dieſe Behauptung
ſogleich noch tiefer begruͤnden, und dadurch
den ganzen in dieſer und der vorigen Rede
behandelten Begriff erheben, und einfuͤgen in
ein groͤßeres Ganzes der Erkenntniß, welchem
groͤßeren Ganzen ſelber ich aus dieſem Be¬
[91] griffe ein neues Licht, und eine hoͤhere Klar¬
heit geben werde, nachdem ich nur vorher
das wahre Weſen der neuen Erziehung, deren
allgemeine Beſchreibung ich ſo eben geſchloſſen
habe, beſtimmt werde angegeben haben.


Dieſe Erziehung erſcheint nun nicht mehr,
ſo wie im Anfange unſrer heutigen Rede,
bloß als die Kunſt den Zoͤgling zu reiner Sitt¬
lichkeit zu bilden, ſondern ſie leuchtet vielmehr
ein, als die Kunſt, den ganzen Menſchen durch¬
aus und vollſtaͤndig zum Menſchen zu bilden.
Hierzu gehoͤren zwei Hauptſtuͤcke, zuerſt in
Abſicht der Form, daß der wirkliche lebendige
Menſch, bis in die Wurzel ſeines Lebens hin¬
ein, keinesweges aber der bloße Schatten und
Schemen eines Menſchen gebildet werde, ſo¬
dann in Abſicht des Inhalts, daß alle noth¬
wendige Beſtandtheile des Menſchen ohne
Ausnahme und gleichmaͤßig ausgebildet wer¬
den. Dieſe Beſtandtheile ſind Verſtand, und
Willen, und die [Erziehung] hat zu beabſichtigen
die Klarheit des erſten, und die Reinheit des
zweiten. Zur Klarheit des erſten aber ſind
zu erheben zwei Hauptfragen: zuerſt was es
ſey, das der reine Wille eigentlich wolle, und
[92] durch welche Mittel dieſes Gewollte zu er¬
reichen ſey, durch welches Hauptſtuͤck die uͤbri¬
gen dem Zoͤglinge beizubringenden Erkennt¬
niſſe befaßt werden; ſodann, was dieſer reine
Wille in ſeinem Grunde und Weſen ſelber ſey,
wodurch die Religions - Erkenntniß befaßt wird.
Die genannten Stuͤcke nun, entwickelt bis
zum Eingreifen ins Leben, fordert die Erzie¬
hung ſchlechtweg, und gedenkt keinem das min¬
deſte davon zu erlaſſen, denn jeder ſoll eben
ein Menſch ſeyn; was jemand nun noch wei¬
ter werde, und welche beſondre Geſtalt die
allgemeine Menſchheit in ihm annehme, oder
erhalte, geht der allgemeinen Erziehung nichts
an, und liegt außerhalb ihres Kreiſes. — Ich
gehe jezt fort zu der verſprochenen tiefern Be¬
gruͤndung des Satzes, daß im Zoͤglinge der
neuen Erziehung gar keine Erkenntniß todt
bleiben koͤnne, und zu dem Zuſammenhange,
in den ich alles geſagte erheben will, vermittelſt
folgender Saͤtze.


1) Es giebt zufolge des Geſagten zwei
durchaus verſchiedene und voͤllig entgegengeſezte
Klaſſen unter den Menſchen in Abſicht ihrer
Bildung. Gleich zufoͤrderſt iſt alles, was
[93] Menſch iſt, und ſo auch dieſe beiden Klaſſen,
darin, daß den mannigfaltigen Aeußerungen
ihres Lebens ein Trieb zum Grunde liegt, der
in allem Wechſel unveraͤndert beharret, und
ſich ſelbſt gleich bleibt. — Im Vorbeigehen;
daß Sichverſtehn dieſes Triebes, und die Ue¬
berſetzung deſſelben in Begriffe erzeugt die
Welt, und es giebt keine andere Welt, als
dieſe auf dieſe Weiſe in dem, jedoch keineswe¬
ges freien, ſondern nothwendigen Gedanken
ſich erzeugende Welt. Dieſer, immer in ein
Bewußtſeyn zu uͤberſetzende Trieb, worin ſo¬
mit abermals die beiden Klaſſen einander gleich
ſind, kann nun auf eine doppelle Weiſe, nach
den zwei verſchiedenen Grundarten des Be¬
wußtſeyns, in daſſelbe uͤberſezt werden, und
in dieſer Weiſe der Ueberſetzung und des ſich
ſelbſt Verſtehens ſind die beiden Klaſſen ver¬
ſchieden.


Die erſte, zu allererſt der Zeit nach ſich
entwickelnde Grundart des Bewußtſeyns iſt die
des dunklen Gefuͤhls. Mit dieſem Gefuͤhle
wird am gewoͤhnlichſten und in der Regel der
Grundtrieb erfaßt als Liebe des Einzelnen zu
ſich ſelbſt, und zwar giebt das dunkle Gefuͤhl
[94] dieſes Selbſt zunaͤchſt nur als ein ſolches, das
da leben will, und wohl ſeyn. Hieraus ent¬
ſteht die ſinnliche Selbſtſucht, als wirklicher
Grundtrieb und entwickelnde Kraft eines ſol¬
chen, in dieſer Ueberſetzung ſeines urſpruͤng¬
lichen Grundtriebes befangenen Lebens. So
lange der Menſch fortfaͤhrt, alſo ſich zu ver¬
ſtehen, ſo lange muß er ſelbſtſuͤchtig handeln,
und kann nicht anders; und dieſe Selbſtſucht
iſt das einige beharrende, ſich gleichbleibende,
und ſicher zu erwartende in dem unaufhoͤrlichen
Wandel ſeines Lebens. Als außergewoͤhnliche
Ausnahme von der Regel kann dieſes dunkle
Gefuͤhl auch das perſoͤnliche Selbſt uͤberſprin¬
gen, und den Grundtrieb erfaſſen, als ein
Verlangen nach einer dunkel gefuͤhlten andern
Ordnung der Dinge. Hieraus entſpringt das,
an andern Orten von uns ſattſam beſchrie¬
bene Leben, das da, erhaben uͤber die Selbſt¬
ſucht, durch Ideen, die zwar dunkel ſind,
aber dennoch Ideen, getrieben wird, und in
welchem die Vernunft als Inſtinkt waltet.
Dieſes Erfaſſen des Grundtriebes, uͤberhaupt
nur im dunklen Gefuͤhle, iſt der Grundzug
der erſten Klaſſe unter den Menſchen, die
[95] nicht durch die Erziehung, ſondern durch ſich
ſelbſt gebildet wird, und welche Klaſſe wie¬
derum zwei Unterarten in ſich faßt, die durch
einen unbegreiflichen, der menſchlichen Kunſt
durchaus unzugaͤnglichen Grund geſchieden
werden.


Die zweite Grundart des Bewußtſeyns,
welche in der Regel ſich nicht von ſelbſt ent¬
wikelt, ſondern in der Geſellſchaft ſorgfaͤltig
gepflegt werden muß, iſt die klare Erkennt¬
niß. Wuͤrde der Grundtrieb der Menſchheit
in dieſem Elemente erfaßt, ſo wuͤrde dies eine
zweite, von der erſtern ganz verſchiedene
Klaſſe von Menſchen geben. Eine ſolche, die
Grundliebe ſelbſt erfaſſende Erkenntniß laͤßt
nun nicht, wie eine andere Erkenntniß dies
wohl kann, kalt, und untheilnehmend, ſon¬
dern der Gegenſtand derſelben wird geliebt
uͤber alles, da dieſer Gegenſtand ja nur die
Deutung und Ueberſetzung unſerer urſpruͤng¬
lichen Liebe ſelbſt iſt. Andere Erkenntniß er¬
faßt fremdes, und dieſes bleibt fremd, und
laͤßt kalt; dieſe erfaßt den Erkennenden ſelbſt
und ſeine Liebe, und dieſe liebt er. Ohner¬
achtet es nun bei beiden Klaſſen dieſelbe
[96] urſpruͤngliche nur in anderer Geſtalt erſchei¬
nende Liebe iſt, die ſie treibt, ſo kann man
dennoch, von jenem Umſtande abſehend, ſa¬
gen, daß dort der Menſch durch dunkle Ge¬
fuͤhle, hier durch klare Erkenntniß getrieben
werde.


Daß nun eine ſolche klare Erkenntniß un¬
mittelbar antreibend werde im Leben, und
man hierauf ſicher zaͤhlen koͤnne, haͤngt, wie
geſagt, davon ab, daß es die wirkliche und
wahre Liebe des Menſchen ſey, die durch die¬
ſelbe gedeutet werde, auch daß ihm unmittel¬
bar klar werde, daß es alſo ſey, und mit der
Deutung zugleich das Gefuͤhl jener Liebe in
ihm angeregt und von ihm empfunden werde,
daß daher niemals die Erkenntniß in ihm ent¬
wikelt werde, ohne daß zugleich die Liebe es
werde, indem im entgegengeſezten Falle er
kalt bleiben wuͤrde, und niemals die Liebe,
ohne daß die Erkenntniß zugleich es werde,
indem im Gegentheile ſein Antrieb ein dunk¬
les Gefuͤhl werden wuͤrde; daß daher mit
jedem Schritte ſeiner Bildung der ganze ver¬
einigte Menſch gebildet werde. Ein von der
Erziehung alſo als ein untheilbares Ganzes
immer¬[97] immerfort behandelter Menſch wird es auch
fernerhin bleiben, und jede Erkenntniß wird
ihm nothwendig Lebensantrieb werden.


2) Indem auf dieſe Weiſe ſtatt des dun¬
keln Gefuͤhls die klare Erkenntniß zu dem
allererſten, und zu der wahren Grundlage, und
Ausgangspunkte des Lebens gemacht wird,
wird die Selbſtſucht ganz uͤbergangen, und um
ihre Entwiklung betrogen. Denn nur das
dunkle Gefuͤhl giebt dem Menſchen ſein Selbſt
als ein Genußbeduͤrftiges, und Schmerz¬
ſcheuendes; keinesweges aber giebt es ihm
alſo der klare Begriff, ſondern dieſer zeigt es
als Glied einer ſittlichen Ordnung, und es
giebt eine Liebe dieſer Ordnung, welche bei
der Entwiklung des Begriffs zugleich mit an¬
gezuͤndet und entwickelt wird. Mit der Selbſt¬
ſucht bekommt dieſe Erziehung gar nichts zu
thun, weil ſie die Wurzel derſelben, das dunkle
Gefuͤhl, durch Klarheit erſtickt; ſie beſtreitet
ſie nicht, eben ſo wenig als ſie dieſelbe entwik¬
kelt, ſie weiß gar nicht von ihr. Waͤre es moͤg¬
lich, daß dieſe Sucht ſpaͤter dennoch ſich regen
ſollte, ſo wuͤrde ſie das Herz ſchon angefuͤllt
G[98] finden von einer hoͤhern Liebe, die ihr den
Platz verſagt.


3) Dieſer Grundtrieb des Menſchen nun,
wenn er in klare Erkenntniß uͤberſezt wird, geht
nicht auf eine ſchon gegebene und vorhandene
Welt, welche ja nur leidend genommen wer¬
den kann, wie ſie eben iſt, und in der eine
zu urſpruͤnglich ſchoͤpferiſcher Thaͤtigkeit trei¬
bende Liebe keinen Wirkungskreis fuͤr ſich
faͤnde; ſondern er geht, zur Erkenntniß geſtei¬
gert, auf eine Welt die da werden ſoll, eine
aprioriſche, eine ſolche, die da zukuͤnftig iſt,
und ewig fort zukuͤnftig bleibt. Das aller Er¬
ſcheinung zu Grunde liegende goͤttliche Leben
tritt darum niemals ein als ein ſtehendes,
und gegebenes Seyn, ſondern als etwas, das
da werden ſoll, und nachdem ein ſolches, das
da werden ſollte, geworden iſt, wird es aber¬
mals eintreten als ein werden ſollendes in alle
Ewigkeit, daß daher jenes goͤttliche Leben
niemals eintritt in den Tod des ſtehenden
Seyns, ſondern immerfort bleibet in der Form
des fortfließenden Lebens. Die unmittelbare
Erſcheinung und Offenbarung Gottes iſt die
[99] Liebe; erſt die Deutung dieſer Liebe durch die
Erkenntniß ſezt ein Seyn, und zwar ein ſol¬
ches, das ewig fort nur werden ſoll, und die¬
ſes, als die einige wahre Welt, in wiefern an
einer Welt uͤberhaupt Wahrheit iſt. Dage¬
gen iſt die zweite gegebene und von uns als
vorhanden vorgefundene Welt nur der Schat¬
ten, und Schemen, aus welchem die Erkennt¬
niß ihrer Deutung der Liebe eine feſte Ge¬
ſtalt, und einen ſichtbaren Leib erbaut; dieſe
zweite Welt das Mittel und die Bedingung
der Anſchaulichkeit der fuͤr ſich ſelbſt unſicht¬
baren hoͤhern Welt. Nicht einmal in dieſe
letztere hoͤhere Welt tritt Gott unmittelbar ein,
ſondern auch hier nur vermittelt durch die
Eine, reine, unwandelbare und geſtaltloſe
Liebe, in welcher Liebe allein er unmit¬
telbar erſcheint. Zu dieſer Liebe tritt hinzu
die anſchauende Erkenntniß, welche aus ſich
ſelber ein Bild mitbringt, in das ſie den an
ſich unſichtbaren Gegenſtand der Liebe kleidet;
widerſprochen jedoch jedesmal von der Liebe,
und darum fortgetrieben zu neuer Geſtaltung,
welcher abermals eben alſo widerſprochen
G 2[100] wird; wodurch allein nun die Liebe, welche
rein fuͤr ſich Eins iſt, des Fortfließens, der
Unendlichkeit und der Ewigkeit durchaus un¬
faͤhig, in dieſer Verſchmelzung mit der An¬
ſchauung auch ein ewiges, und unendliches
wird, ſo wie dieſe. Das ſo eben erwaͤhnte
aus der Erkenntniß ſelbſt hergegebene Bild,
fuͤr ſich allein und noch ohne Anwendung auf
die deutlich erkannte Liebe daſſelbe genom¬
men, iſt die ſtehende, und gegebene Welt, oder
die Natur. Der Wahn, daß in dieſe Natur
Gottes Weſen auf irgend eine Weiſe unmit¬
telbar, und anders, als durch die angegebe¬
nen Zwiſchenglieder vermittelt, eintrete,
ſtammt aus Finſterniß im Geiſte, und aus
Unheiligkeit im Willen.


4) Daß nun das dunkle Gefuͤhl, als Aufloͤ¬
ſungsmittel der Liebe, in der Regel ganz uͤber¬
ſprungen, und an die Stelle deſſelben die klare
Erkenntniß als das gewoͤhnliche Aufloͤſungsmit¬
tel geſezt werde, kann, wie ſchon erinnert, nur
durch eine beſonnene Kunſt der Erziehung des
Menſchen geſchehen, und iſt bisher nicht alſo ge¬
ſchehen. Da nun, wie wir gleichfalls erſehen
[101] haben, auf die lezte Weiſe eine von den bis¬
herigen gewoͤhnlichen Menſchen durchaus ver¬
ſchiedene Menſchen Art eingefuͤhrt, und als die
Regel geſezt wird, ſo wuͤrde durch eine ſolche
Erziehung allerdings eine ganz neue Ordnung
der Dinge, und eine neue Schoͤpfung begin¬
nen. Zu dieſer neuen Geſtalt wuͤrde nun die
Menſchheit ſich ſelber durch ſich ſelbſt, eben in¬
dem ſie als gegenwaͤrtiges Geſchlecht, ſich
ſelbſt, als zukuͤnftiges Geſchlecht, erzieht, er¬
ſchaffen; auf die Weiſe, wie ſie allein dies
kann, durch die Erkenntniß, als das einzige
gemeinſchaftliche, und frei mitzutheilende, und
das wahre, die Geiſterwelt zur Einheit ver¬
bindende Licht, und Luft dieſer Welt. Bisher
wurde die Menſchheit, was ſie eben wurde,
und werden konnte; mit dieſem Werden durch
das Ohngefaͤhr iſt es vorbei: denn da, wo ſie
am allerweiteſten ſich entwickelt hat, iſt ſie zu
Nichts worden. Soll ſie nicht bleiben in die¬
ſem Nichts, ſo muß ſie von nun an zu allem,
was ſie noch weiter werden ſoll, ſich ſelbſt
machen. Dies ſey die eigentliche Beſtimmung
des Menſchengeſchlechts auf der Erde, ſagte
[102] ich in den Vorleſungen, deren Fortſetzung
dieſe ſind, daß es mit Freiheit ſich zu dem
mache, was es eigentlich urſpruͤnglich iſt.
Dieſes Sichſelbſtmachen, im allgemeinen mit
Beſonnenheit, und nach einer Regel, muß
nun irgendwo, und irgendwann, im Raum
und in der Zeit einmal anheben, wodurch ein
zweiter Haupt-Abſchnitt der freien und be¬
ſonnenen Entwiklung des Menſchengeſchlechts
an die Stelle des erſten Abſchnitts einer nicht
freien Entwiklung treten wuͤrde. Wir ſind
der Meinung, daß, in Abſicht der Zeit, dieſe
Zeit eben jetzt ſey, und daß dermalen das
Geſchlecht in der wahren Mitte ſeines Lebens
auf der Erde, zwiſchen ſeinen beiden Haupt-
Epochen ſtehe; in Abſicht des Raums aber
glauben wir, daß zu allernaͤchſt den Deut¬
ſchen es anzumuthen ſey, die neue Zeit, vor¬
angehend und vorbildend fuͤr die uͤbrigen, zu
beginnen.


5) Dennoch wird auch ſogar dieſe ganz
neue Schoͤpfung nicht durch einen Sprung er¬
folgen aus dem vorhergehenden, ſondern ſie
iſt die wahre natuͤrliche Fortſetzung, und Folge
[103] der bisherigen Zeit, ganz beſonders unter den
Deutſchen. Sichtbar, und wie ich glaube, all¬
gemein zugeſtanden, ging ja alles Regen und
Streben der Zeit darauf, die dunklen Gefuͤhle
zu verbannen, und allein der Klarheit und
der Erkenntniß die Herrſchaft zu verſchaffen.
Dieſes Streben iſt auch inſofern vollkommen
gelungen, daß das bisherige Nichts vollkom¬
men enthuͤllt iſt. Keinesweges ſoll nun die¬
ſer Trieb nach Klarheit ausgerottet, oder das
dumpfe Beruhen beim dunkeln Gefuͤhle wieder
herrſchend werden; jener Trieb ſoll nur noch
weiter entwikelt, und in hoͤhere Kreiſe einge¬
fuͤhrt werden, alſo, daß nach der Enthuͤllung
des Nichts auch das Etwas, die bejahende
und wirklich etwas ſetzende Wahrheit, eben¬
falls offenbar werde. Die aus dem dunklen
Gefuͤhle ſtammende Welt des gegebnen und
ſich durch ſich ſelbſt machenden Seyns iſt ver¬
ſunken, und ſie ſoll verſunken bleiben; dage¬
gen ſoll die aus der urſpruͤnglichen Klarheit
ſtammende Welt des ewig fort aus dem Geiſte
zu entbindenden Seyns aufſtralen und an¬
brechen in ihrem ganzen Glanze.

[104]

Zwar duͤrfte die Weiſſagung eines neuen
Lebens in ſolchen Formen, der Zeit ſonderbar
duͤnken, und es duͤrfte dieſe kaum den Muth
haben, dieſe Verheißung ſich zuzueignen; wenn
ſie lediglich auf den ungeheuren Abſtand ih¬
rer herrſchenden Meinungen uͤber die ſo eben
zur Sprache gebrachten Gegenſtaͤnde von
dem, was als Grundſaͤtze der neuen Zeit
ausgeſprochen worden, ſehen ſollte. Ich will
von der Bildung, welche, jedoch als ein nicht
gemein zu machendes Vorrecht, bisher in der
Regel nur die hoͤhern Staͤnde erhielten, die
von einer uͤberſinnlichen Welt ganz ſchwieg,
und lediglich einige Geſchicklichkeit fuͤr die
Geſchaͤfte der ſinnlichen zu bewirken ſtrebte,
als von der offenbar ſchlechteren, nicht reden;
ſondern nur auf diejenige ſehen, welche
Volks-Bildung war, und, in einem gewiſſen
ſehr beſchraͤnkten Sinne auch National-Erzie¬
hung genannt werden koͤnnte, die uͤber eine
uͤberſinnliche Welt nicht durchaus Stillſchwei¬
gen beobachtete. Welches waren die Lehren
dieſer Erziehung? Wenn wir, als allererſte
Vorausſetzung der neuen Erziehung aufſtel¬
[105] len, daß in der Wurzel des Menſchen ein
reiner Wohlgefallen am Guten ſey, und daß
dieſer Wohlgefallen ſo ſehr entwikelt wer¬
den koͤnne, daß es dem Menſchen unmoͤglich
werde, das fuͤr gut erkannte zu unterlaſſen,
und ſtatt deſſen das fuͤr boͤs erkannte zu
thun; ſo hat dagegen die bisherige Erziehung
nicht bloß angenommen, ſondern auch ihre
Zoͤglinge von fruͤher Jugend an belehrt, theils,
daß dem Menſchen eine natuͤrliche Abnei¬
gung gegen Gottes Gebote beiwohne, theils,
daß es ihm ſchlechthin unmoͤglich ſey, die¬
ſelben zu erfuͤllen. Was laͤßt von einer ſol¬
chen Belehrung, wenn ſie fuͤr Ernſt genom¬
men wird, und Glauben findet, anderes ſich
erwarten, als daß jeder Einzelne ſich in
ſeine nun einmal nicht abzuaͤndernde Natur
ergebe, nicht verſuche zu leiſten, was ihm
nun als einmal unmoͤglich vorgeſtellt iſt, und
nicht beſſer zu ſeyn begehre, denn er und alle
uͤbrigen zu ſeyn vermoͤgen; ja, daß er ſich
ſogar die ihm angemuthete Niedertraͤchtigkeit
gefallen laſſe, ſich ſelbſt in ſeiner radikalen
Suͤndhaftigkeit, und Schlechtigkeit anzuer¬
[106] kennen; indem dieſe Niedertraͤchtigkeit vor
Gott ihm als das einzige Mittel vorgeſtellt
wird, mit demſelben ſich abzufinden: und
daß er, falls etwa eine ſolche Behauptung,
wie die unſrige, an ſein Ohr trift, nicht
anders denken koͤnne, als daß man bloß
einen ſchlechten Scherz mit ihm treiben
wolle, indem er allgegenwaͤrtig fuͤhlt in ſeinem
Innern, und mit den Haͤnden greift, daß
dieſes nicht wahr, ſondern das Gegentheil
davon allein wahr ſey? Wenn wir eine von
allem gegebenen Seyn ganz unabhaͤngige und
vielmehr dieſem Seyn ſelbſt das Geſez ge¬
bende Erkenntniß annehmen, und in dieſe
gleich vom Anbeginn jedes menſchliche Kind
eintauchen, und es von nun an in dem
Gebiete derſelben immerfort erhalten wol¬
len, wogegen wir die nur hiſtoriſch zu er¬
lernende Beſchaffenheit der Dinge als eine
geringfuͤgige Nebenſache, die von ſelbſt ſich
ergiebt, betrachten; ſo treten die reifſten
Fruͤchte der bisherigen Bildung uns entge¬
gen, und erinnern uns, daß es ja bekann¬
termaaßen gar keine a prioriſche Erkennt¬
[107] niß gebe, und daß ſie wohl wiſſen moͤchten,
wie man erkennen koͤnne, außer durch Er¬
fahrung. Und damit dieſe uͤberſinnliche, und
a prioriſche Welt auch ſogar an derjenigen
Stelle ſich nicht verrathe, wo es gar nicht zu
vermeiden ſchien — an der Moͤglichkeit einer
Erkenntniß von Gott, und ſelbſt an Gotte
nicht die geiſtige Selbſtthaͤtigkeit ſich erhoͤbe,
ſondern das leidende Hingeben alles in allem
bliebe, hat gegen dieſe Gefahr die bisherige
Menſchenbildung das kuͤhne Mittel gefunden,
das Daſeyn Gottes zu einem hiſtoriſchen Fak¬
tum zu machen, deſſen Wahrheit durch ein
Zeugenverhoͤr ausgemittelt wird.


So verhaͤlt es ſich wohl freilich; dennoch
aber wolle das Zeitalter darum nicht an ſich ſel¬
ber verzagen. Denn dieſe, und alle andere aͤhn¬
liche Erſcheinungen ſind ſelber nichts ſelbſt¬
ſtaͤndiges, ſondern nur Bluͤthen und Fruͤchte
der wilden Wurzel der alten Zeit. Gebe
nur das Zeitalter ſich ruhig hin der Ein¬
impfung einer neuen edlern und kraͤftigern
Wurzel, ſo wird die alte erſticken, und die
Bluͤthen und Fruͤchte derſelben, denen aus
[108] jener keine weitere Nahrung zugefuͤhrt wird,
werden von ſelbſt verwelken und abfallen.
Jetzt vermag es das Zeitalter noch gar nicht,
unſern Worten zu glauben, und es iſt noth¬
wendig, daß ihm dieſelben vorkommen, wie
Maͤhrchen. Wir wollen auch dieſen Glau¬
ben nicht; wir wollen nur Raum zum
Schaffen und Handeln. Nachmals wird es
ſehen, und es wird glauben ſeinen eigenen
Augen.


So wird z. B. jedermann, der mit den
Erzeugungen der letzten Zeit bekannt iſt, ſchon
laͤngſt bemerkt haben, daß hier abermals die
Saͤtze und Anſichten ausgeſprochen werden,
welche die neuere deutſche Philoſophie ſeit
ihrer Entſtehung geprediget hat, und wie¬
derum geprediget, weil ſie eben nichts weiter
vermochte, denn zn predigen. Daß dieſe
Predigten fruchtlos verhallet ſind in der lee¬
ren Luft, iſt nun hinlaͤnglich klar, auch iſt
der Grund klar, warum ſie alſo verhallen
mußten. Nur auf Lebendiges wirkt Lebendi¬
ges; in dem wirklichen Leben der Zeit aber
iſt gar keine Verwandſchaft zu dieſer Philo¬
[109] ſophie, indem dieſe Philoſophie ihr Weſen
treibet in einem Kreiſe, der fuͤr jene noch
gar nicht aufgegangen, und fuͤr Sinnenwerk¬
zeuge, die jener noch nicht erwachſen ſind.
Sie iſt gar nicht zu Hauſe in dieſem Zeit¬
alter, ſondern ſie iſt ein Vorgriff der Zeit,
und ein ſchon im Voraus fertiges Lebens- Ele¬
ment eines Geſchlechts, das in demſelben
erſt zum Lichte erwachen ſoll. Auf das ge¬
gegenwaͤrtige Geſchlecht muß ſie Verzicht thun,
damit ſie aber bis dahin nicht muͤßig ſey,
ſo uͤbernehme ſie dermalen die Aufgabe, das
Geſchlecht, zu welchem ſie gehoͤrt, ſich zu bil¬
den. Erſt wie dies ihr naͤchſtes Geſchaͤft ihr
klar geworden, wird ſie friedlich und freund¬
lich zuſammen leben koͤnnen mit einem Ge¬
ſchlechte, das uͤbrigens ihr nicht gefaͤllt. Die
Erziehung, die wir bisher beſchrieben haben,
iſt zugleich die Erziehung fuͤr ſie; wiederum
kann in einem gewiſſen Sinn nur ſie die Er¬
zieherin ſeyn in dieſer Erziehung; und ſo mußte
ſie ihrer Verſtaͤndlichkeit und Annehmbarkeit
zuvoreilen. Aber es wird die Zeit kommen,
in der ſie verſtanden und mit Freuden ange¬
[110] nommen werden wird; und darum wolle das
Zeitalter nicht an ſich ſelbſt verzagen.


Hoͤre dieſes Zeitalter ein Geſicht eines al¬
ten Sehers, das auf eine wohl nicht weni¬
ger beklagenswerthe Lage berechnet war. So
ſagt der Seher am Waſſer Chebar, der Troͤ¬
ſter der Gefangenen nicht im eigenen ſondern
im fremden Lande: „Des Herrn Hand kam
uͤber mich, und fuͤhrte mich hinaus im Gei¬
ſte des Herrn, und ſtellte mich auf ein weit
Feld, das voller Gebeine lag, und er fuͤhrte
mich allenthalben herum, und ſiehe, des Ge¬
beines lag ſehr viel auf dem Felde, und
ſiehe, ſie waren ſehr verdorret. Und der
Herr ſprach zu mir: du Menſchenkind, mei¬
neſt du wohl, daß dieſe Gebeine werden wie¬
der lebendig werden? Und ich ſprach: Herr
das weißeſt nur du wohl. Und er ſprach zu
mir: Weiſſage von dieſen Gebeinen, und
ſprich zu ihnen: ihr verdorrten Gebeine, hoͤ¬
ret des Herrn Wort. So ſpricht der Herr
von euch verdorrten Gebeinen, ich will euch
durch Flechſen und Sehnen wieder verbinden,
und Fleiſch laſſen uͤber euch wachſen; und
[111] euch mit Haut uͤberziehen, und will euch
Odem geben, daß ihr wieder lebendig wer¬
det, und ihr ſollet erfahren, daß ich der
Herr ſey. Und ich weiſſagte, wie mir befoh¬
len war, und ſiehe, da rauſchte es, als ich
weiſſagte, und regte ſich, und die Gebeine
fuͤgten ſich wieder aneinander, ein jegliches
an ſeinen Ort, und es wuchſen darauf Adern
und Fleiſch, und er uͤberzog ſie mit Haut;
noch aber war kein Odem in ihnen. Und
der Herr ſprach zu mir: Weiſſage zum Win¬
de, du Menſchenkind, und ſprich zum Win¬
de: ſo ſpricht der Herr: Wind komm herzu
aus den vier Winden, und blaſe an dieſe
Getoͤdteten, daß ſie wieder lebendig werden.
Und ich weiſſagete, wie er mir befohlen hat¬
te. Da kam Odem in ſie, und ſie wurden
wieder lebendig, und richteten ſich auf ihre
Fuͤße, und ihrer war ein ſehr großes Heer.“
Laſſet immer die Beſtandtheile unſres hoͤ¬
hern geiſtigen Lebens eben ſo ausgedorret,
und eben darum auch die Bande unſerer Na¬
tional-Einheit eben ſo zerriſſen, und in wil¬
der Unordnung durcheinander zerſtreut herum¬
[112] liegen, wie die Todtengebeine des Sehers;
laſſet unter Stuͤrmen, Regenguͤſſen, und ſen¬
gendem Sonnenſcheine mehrerer Jahrhunderte
dieſelben gebleicht und ausgedorrt haben; —
der belebende Odem der Geiſterwelt hat noch
nicht aufgehoͤrt zu wehen. Er wird auch
unſers Nationalkoͤrpers erſtorbene Gebeine
ergreifen, und ſie aneinanderfuͤgen, daß ſie
herrlich daſtehen in neuem und verklaͤrtem
Leben.


[113]

Vierte Rede.


Hauptverſchiedenheit zwiſchen den Deut¬
ſchen und den uͤbrigen Voͤlkern Germa¬
niſcher Abkunft.

Das in dieſen Reden vorgeſchlagene Bil¬
dungsmittel eines neuen Menſchengeſchlechts
muͤſſe zu allererſt von Deutſchen an Deutſchen
angewendet werden, und es komme daſſelbe
ganz eigentlich und zunaͤchſt unſrer Nation
zu, iſt geſagt worden. Auch dieſer Satz be¬
darf eines Beweiſes, und wir werden auch
hier, ſo wie bisher, anheben von dem hoͤch¬
ſten, und allgemeinſten, zeigend, was der
Deutſche an und fuͤr ſich, unabhaͤngig von
dem Schickſale, das ihn dermalen betroffen
hat, in ſeinem Grundzuge ſey, und von jeher
geweſen ſey, ſeitdem er iſt; und darlegend,
daß ſchon in dieſem Grundzuge die Faͤhigkeit
H[114] und Empfaͤnglichkeit einer ſolchen Bildung,
ausſchließend vor allen andern Europaͤiſchen
Nationen, liege.


Der Deutſche iſt zuvoͤrderſt ein Stamm
der Germanier uͤberhaupt, uͤber welche leztere
hier hinreicht die Beſtimmung anzugeben, daß
ſie da waren, die im alten Europa errichtete
geſellſchaftliche Ordnung mit der im alten
Aſien aufbewahrten wahren Religion zu ver¬
einigen, und ſo an und aus ſich ſelbſt eine
neue Zeit, im Gegenſatze des untergegange¬
nen Alterthums, zu entwickeln. Ferner reicht
es hin den Deutſchen insbeſondre nur im
Gegenſatze mit den andern neben ihm ent¬
ſtandenen Germaniſchen Voͤlkerſtaͤmmen zu
bezeichnen; indem andere Neueuropaͤiſche
Nationen, als z.B. die von Slaviſcher Ab¬
ſtammung, ſich vor dem uͤbrigen Europa noch
nicht ſo klar entwickelt zu haben ſcheinen,
daß eine beſtimmte Zeichnung von ihnen moͤg¬
lich ſey, andere aber von der gleichen Germa¬
niſchen Abſtammung, von denen der ſogleich
anzufuͤhrende Haupt-Unterſcheidungs-Grund
nicht gilt, wie die Skandinavier, hier unbe¬
zweifelt fuͤr Deutſche genommen werden, und
[115] unter allen den allgemeinen Folgen unſrer
Betrachtung mit begriffen ſind.


Vor allem voraus aber iſt der jezt ins¬
beſondre anzuſtellenden Betrachtung folgende
Bemerkung voranzuſenden. Ich werde als
Grund des erfolgten Unterſchiedes in dem
urſpruͤnglich Einen Grundſtamme eine Bege¬
benheit angeben, die bloß als Begebenheit
klar und unwiderſprechlich vor aller Augen
liegt; ich werde ſodann einzelne Erſcheinun¬
gen dieſes erfolgten Unterſchiedes aufſtellen,
welche als bloße Begebenheiten wohl eben ſo
einleuchtend duͤrften gemacht werden koͤnnen.
Was aber die Verknuͤpfung der letztern, als
Folgen, mit dem erſten, als ihrem Grunde,
und die Ableitung der Folge aus dem Grunde
betrift, kann ich im allgemeinen nicht auf
dieſelbe Klarheit und uͤberzeugende Kraft fuͤr
alle rechnen. Zwar ſpreche ich auch in dieſer
Ruͤckſicht nicht eben ganz neue, und bisher
unerhoͤrte Saͤtze aus, ſondern es giebt un¬
ter uns viele einzelne, die fuͤr eine ſolche An¬
ſicht der Sache entweder ſehr gut vorberei¬
tet, oder auch wohl mit derſelben ſchon ver¬
traut ſind. Unter der Mehrheit aber ſind
H 2[116] uͤber den anzuregenden Gegenſtand Begriffe
im Umlaufe, die von den unſrigen ſehr ab¬
weichen, und welche zu berichtigen, und alle,
von ſolchen, die keinen geuͤbten Sinn fuͤr
ein Ganzes haben, aus einzelnen Faͤllen bei¬
zubringenden Einwuͤrfe zu widerlegen, die
Grenze unſrer Zeit, und unſers Plans bei
weitem uͤberſchreiten wuͤrde. Den leztern muß
ich mich begnuͤgen das in dieſer Ruͤckſicht zu
ſagende, das in meinem geſammten Denken
nicht ſo einzeln und abgeriſſen, und nicht ohne
Begruͤndung bis in die Tiefe des Wiſſens,
daſtehen duͤrfte, wie es hier ſich giebt, nur
als Gegenſtand ihres weitern Nachdenkens
hinzulegen. Ganz uͤbergehen durfte ich es,
noch abgerechnet die fuͤr das Ganze nicht zu er¬
laſſende Gruͤndlichkeit, auch ſchon nicht in
Ruͤckſicht der wichtigen Folgen daraus, die
ſich im ſpaͤtern Verlaufe unſrer Reden erge¬
ben werden, und die ganz eigentlich zu un¬
ſerm naͤchſten Vorhaben gehoͤren.


Der zu allererſt, und unmittelbar der Be¬
trachtung ſich darbietende Unterſchied zwiſchen
den Schickſalen der Deutſchen und der uͤbri¬
gen aus derſelben Wurzel erzeugten Staͤmme
[117] iſt der, daß die erſten in den urſpruͤnglichen
Wohnſitzen des Stammvolks blieben, die lez¬
ten in andere Sitze auswanderten, die erſten
die urſpruͤngliche Sprache des Stammvolks
behielten und fortbildeten, die lezten eine
fremde Sprache annahmen, und dieſelbe all¬
maͤhlig nach ihrer Weiſe umgeſtalteten. Aus
dieſer fruͤheſten Verſchiedenheit muͤſſen erſt die
ſpaͤter erfolgten, z. B. daß im urſpruͤnglichen
Vaterlande, angemeſſen Germaniſcher Urſitte,
ein Staatenbund unter einem beſchraͤnkten
Oberhaupte blieb, in den fremden Laͤndern
mehr auf bisherige Roͤmiſche Weiſe, die Ver¬
faſſung in Monarchien uͤberging, u. dergl.
erklaͤrt werden, keinesweges aber in umgekehr¬
ter Ordnung.


Von den angegebnen Veraͤnderungen iſt
nun die erſte, die Veraͤnderung der Heimath,
ganz unbedeutend. Der Menſch wird leicht
unter jedem Himmelsſtriche einheimiſch, und
die Volkseigenthuͤmlichkeit, weit entfernt durch
den Wohnort ſehr veraͤndert zu werden, be¬
herrſcht vielmehr dieſen, und veraͤndert ihn
nach ſich. Auch iſt die Verſchiedenheit der
Natureinfluͤſſe in dem von Germaniern be¬
[118] wohnten Himmelsſtriche nicht ſehr groß.
Eben ſo wenig wolle man auf den Umſtand
ein Gewicht legen, daß in den eroberten Laͤn¬
dern die Germaniſche Abſtammung mit den
fruͤhern Bewohnern vermiſcht worden; denn
Sieger, und Herrſcher, und Bildner des aus
der Vermiſchung entſtehenden neuen Volks
waren doch nur die Germanen. Ueberdies
erfolgte dieſelbe Miſchung, die im Auslande
mit Galliern, Kantabriern, u. ſ. w. geſchah,
im Mutterlande mit Slaven wohl nicht in
geringerer Ausdehnung; ſo daß es keinem
der aus Germaniern entſtandenen Voͤlker heut
zu Tage leicht fallen duͤrfte, eine groͤßere
Reinheit ſeiner Abſtammung vor den uͤbrigen
darzuthun.


Bedeutender aber, und wie ich dafuͤr halte,
einen vollkommnen Gegenſatz zwiſchen den
Deutſchen, und den uͤbrigen Voͤlkern Germa¬
niſcher Abkunft begruͤndend, iſt die zweite
Veraͤnderung, die der Sprache; und kommt
es dabei, welches ich gleich zu Anfange be¬
ſtimmt ausſprechen will, weder auf die be¬
ſondre Beſchaffenheit derjenigen Sprache an,
welche von dieſem Stamme beibehalten, noch
[119] auf die der andern, welche von jenem andern
Stamme angenommen wird, ſondern allein
darauf, daß dort eigenes behalten, hier frem¬
des angenommen wird; noch kommt es an auf
die vorige Abſtammung derer, die eine ur¬
ſpruͤngliche Sprache fortſprechen, ſondern nur
darauf, daß dieſe Sprache ohne Unterbrechung
fort geſprochen werde, indem weit mehr die
Menſchen von der Sprache gebildet werden,
denn die Sprache von den Menſchen.


Um die Folgen eines ſolchen Unterſchiedes
in der Voͤlkererzeugung, und die beſtimmte
Art des Gegenſatzes in den Nationalzuͤgen,
die aus dieſer Verſchiedenheit nothwendig er¬
folgt, klar zu machen, ſo weit es hier moͤg¬
lich, und noͤthig iſt, muß ich Sie zu einer
Betrachtung uͤber das Weſen der Sprache
uͤberhaupt einladen.


Die Sprache uͤberhaupt, und beſonders
die Bezeichnung der Gegenſtaͤnde in derſelben
durch das Lautwerden der Sprachwerkzeuge
haͤngt keinesweges von willkuͤhrlichen Be¬
ſchluͤſſen, und Verabredungen ab, ſondern es
giebt zufoͤrderſt ein Grundgeſez, nach welchem
jedweder Begriff in den menſchlichen Sprach¬
[120] werkzeugen zu dieſem, und keinem andern
Laute wird. So wie die Gegenſtaͤnde ſich in
den Sinnenwerkzeugen des Einzelnen mit die¬
ſer beſtimmten Figur, Farbe, u. ſ. w. abbil¬
den, ſo bilden ſie ſich im Werkzeuge des ge¬
ſellſchaftlichen Menſchen, in der Sprache, mit
dieſem beſtimmten Laute ab. Nicht eigentlich
redet der Menſch, ſondern in ihm redet die
menſchliche Natur, und verkuͤndiget ſich an¬
dern ſeines Gleichen. Und ſo muͤßte man
ſagen: die Sprache iſt eine einzige, und durch¬
aus nothwendige.


Nun mag zwar, welches das zweite iſt, die
Sprache in dieſer ihrer Einheit fuͤr den Men¬
ſchen ſchlechtweg, als ſolchen, niemals, und
nirgend hervorgebrochen ſeyn, ſondern allent¬
halben weiter geaͤndert und gebildet durch die
Wirkungen, welche der Himmelsſtrich, und
haͤufigerer, oder ſeltnerer Gebrauch, auf die
Sprachwerkzeuge, und die Aufeinanderfolge
der beobachteten und bezeichneten Gegenſtaͤnde,
auf die Aufeinanderfolge der Bezeichnung hat¬
ten. Jedoch findet auch hierin nicht Will¬
kuͤhr oder Ohngefaͤhr, ſondern ſtrenges Geſez
ſtatt; und es iſt nothwendig, daß in einem
[121] durch die erwaͤhnten Bedingungen alſo be¬
ſtimmten Sprachwerkzeuge, nicht die Eine und
reine Menſchenſprache, ſondern daß eine Ab¬
weichung davon, und zwar, daß gerade dieſe
beſtimmte Abweichung davon hervorbreche.


Nenne man die unter denſelben aͤußern
Einfluͤſſen auf das Sprachwerkzeug ſtehenden,
zuſammenlebenden, und in fortgeſezter Mit¬
theilung ihre Sprache fortbildenden Men¬
ſchen ein Volk, ſo muß man ſagen: die
Sprache dieſes Volks iſt nothwendig ſo wie
ſie iſt, und nicht eigentlich dieſes Volk ſpricht
ſeine Erkenntniß aus, ſondern ſeine Erkennt¬
niß ſelbſt ſpricht ſich aus aus demſelben.


Bei allen im Fortgange der Sprache
durch dieſelben oben erwaͤhnten Umſtaͤnde er¬
folgten Veraͤnderungen bleibt ununterbrochen
dieſe Geſezmaͤßigkeit; und zwar fuͤr alle, die
in ununterbrochner Mittheilung bleiben, und
wo das von jedem einzelnen ausgeſprochene
Neue an das Gehoͤr aller gelangt, dieſelbe
Eine Geſezmaͤßigkeit. Nach Jahrtauſenden,
und nach allen den Veraͤnderungen, welche
in ihnen die aͤußere Erſcheinung der Sprache
dieſes Volks erfahren hat, bleibt es immer
[122] dieſelbe Eine, urſpruͤnglich alſo ausbrechen¬
muͤſſende lebendige Sprachkraft der Natur,
die ununterbrochen durch alle Bedingungen
herab gefloſſen iſt, und in jeder ſo werden
mußte, wie ſie ward, am Ende derſelben ſo
ſeyn mußte, wie ſie jezt iſt, und in einiger
Zeit alſo ſeyn wird, wie ſie ſodann muͤſſen
wird. Die reinmenſchliche Sprache zuſam¬
mengenommen zufoͤrderſt mit dem Organe
des Volks, als ſein erſter Laut ertoͤnte; was
hieraus ſich ergiebt, ferner zuſammengenom¬
men mit allen Entwiklungen, die dieſer erſte
Laut unter den gegebnen Umſtaͤnden gewin¬
nen mußte, giebt als letzte Folge die gegen¬
waͤrtige Sprache des Volks. Darum bleibt
auch die Sprache immer dieſelbe Sprache.
Laſſet immer nach einigen Jahrhunderten die
Nachkommen die damalige Sprache ihrer
Vorfahren nicht verſtehen, weil fuͤr ſie die
Uebergaͤnge verloren gegangen ſind, dennoch
giebt es vom Anbeginn an einen ſtetigen
Uebergang, ohne Sprung, immer unmerklich
in der Gegenwart, und nur durch Hinzufuͤ¬
gung neuer Uebergaͤnge bemerklich gemacht,
und als Sprung erſcheinend. Niemals iſt
[123] ein Zeitpunkt eingetreten, da die Zeitgenoſſen
aufgehoͤrt haͤtten ſich zu verſtehen, indem ihr
ewiger Vermittler und Dollmetſcher die aus
ihnen allen ſprechende gemeinſame Naturkraft
immerfort war und blieb. So verhaͤlt es
ſich mit der Sprache als Bezeichnung der
Gegenſtaͤnde unmittelbar ſinnlicher Wahrneh¬
mung, und dieſes iſt alle menſchliche Sprache
anfangs. Erhebt von dieſer das Volk ſich
zu Erfaſſung des uͤberſinnlichen, ſo vermag
dieſes uͤberſinnliche zur beliebigen Wieder¬
holung und zur Vermeidung der Verwirrung
mit dem ſinnlichen fuͤr den erſten Einzelnen,
und zur Mittheilung und zwekmaͤßigen Lei¬
tung fuͤr andere, zufoͤrderſt nicht anders feſt
gehalten zu werden, denn alſo, daß ein Selbſt
als Werkzeug einer uͤberſinnlichen Welt, be¬
zeichnet, und von demſelben Selbſt, als Werk¬
zeug der ſinnlichen Welt, genau unterſchieden
werde — eine Seele, Gemuͤth und dergl.
einem koͤrperlichen Leibe entgegengeſetzt werde.
Ferner koͤnnten die verſchiedenen Gegenſtaͤnde
dieſer uͤberſinnlichen Welt, da ſie insgeſammt
nur in jenem uͤberſinnlichen Werkzeuge er¬
ſcheinen, und fuͤr daſſelbe da ſind, in der
[124] Sprache nur dadurch bezeichnet werden, daß
geſagt werde, ihr beſonderes Verhaͤltniß zu
ihrem Werkzeuge ſey alſo, wie das Verhaͤlt¬
niß der und der beſtimmten ſinnlichen Ge¬
genſtaͤnde zum ſinnlichen Werkzeuge, und daß
in dieſem Verhaͤltniß ein beſonderes uͤberſinn¬
liches einem beſondern ſinnlichen gleichgeſezt,
und durch dieſe Gleichſetzung ſein Ort im
uͤberſinnlichen Werkzeuge durch die Sprache
angedeutet werde. Weiter vermag in dieſem
Umkreiſe die Sprache nichts; ſie giebt ein
ſinnliches Bild des Ueberſinnlichen bloß mit
der Bemerkung, daß es ein ſolches Bild ſey;
wer zur Sache ſelbſt kommen will, muß nach
der durch das Bild ihm angegebenen Regel
ſein eigenes geiſtiges Werkzeug in Bewegung
ſetzen. — Im allgemeinen erhellet, daß dieſe
ſinnbildliche Bezeichnung des Ueberſinnlichen
jedesmal nach der Stuffe der Entwiklung des
ſinnlichen Erkenntnißvermoͤgens unter dem
gegebenen Volke ſich richten muͤſſe; daß da¬
her der Anfang und Fortgang dieſer ſinnbild¬
lichen Bezeichnung in verſchiedenen Spra¬
chen ſehr verſchieden ausfallen werde, nach
der Verſchiedenheit des Verhaͤltniſſes, das
[125] zwiſchen der ſinnlichen, und geiſtigen Ausbil¬
dung des Volkes, das eine Sprache redet,
ſtatt gefunden, und fortwaͤhrend ſtatt findet.


Wir beleben zufoͤrderſt dieſe in ſich klare Be¬
merkung durch ein Beiſpiel. Etwas, das
zufolge der in der vorigen Rede erklaͤrten
Erfaſſung des Grundtriebes nicht erſt durch
das dunkle Gefuͤhl, ſondern ſogleich durch
klare Erkenntniß entſteht, dergleichen jedes¬
mal ein uͤberſinnlicher Gegenſtand iſt, heißt
mit einem griechiſchen, auch in der deutſchen
Sprache haͤufig gebrauchten Worte, eine
Idee, und dieſes Wort giebt genau daſſelbe
Sinnbild, was in der deutſchen das Wort
Geſicht, wie dieſes in folgenden Wendun¬
gen der lutheriſchen Bibeluͤberſetzung: ihr
werdet Geſichte ſehen, ihr werdet Traͤume
haben, vorkommt. Idee oder Geſicht in ſinn¬
licher Bedeutung waͤre etwas, das nur durch
das Auge des Leibes, keinesweges aber durch
einen andern Sinn, etwa der Betaſtung, des
Gehoͤrs u. ſ. w. erfaßt werden koͤnnte, ſo
wie etwa ein Regenbogen, oder die Geſtal¬
ten, welche im Traume vor uns voruͤber ge¬
hen. Daſſelbe in uͤberſinnlicher Bedeutung
[126] hieße zufoͤrderſt, zufolge des Umkreiſes in
dem das Wort gelten ſoll, etwas, das gar
nicht durch den Leib, ſondern nur durch den
Geiſt erfaßt wird, ſodann, das auch nicht
durch das dunkle Gefuͤhl des Geiſtes, wie
manches andere, ſondern allein durch das
Auge deſſelben, die klare Erkenntniß, erfaßt
werden kann. Wollte man nun etwa ferner
annehmen, daß den Griechen bei dieſer ſinn¬
bildlichen Bezeichnung allerdings der Regen¬
bogen, und die Erſcheinungen der Art, zum
Grunde gelegen, ſo muͤßte man geſtehen, daß
ihre ſinnliche Erkenntniß ſchon vorher ſich zur
Bemerkung des Unterſchiedes zwiſchen den
Dingen, daß einige ſich allen oder mehrern
Sinnen, einige ſich bloß dem Auge offenba¬
ren, erhoben haben muͤſſe, und daß außerdem
ſie den entwickelten Begriff, wenn er ihnen
klar geworden waͤre, nicht alſo, ſondern an¬
ders haͤtten bezeichnen muͤſſen. Es wuͤrde ſo¬
dann auch ihr Vorzug in geiſtiger Klarheit
erhellen etwa vor einem andern Volke, das
den Unterſchied zwiſchen ſinnlichem und uͤber¬
ſinnlichem nicht durch ein aus dem beſonne¬
nen Zuſtande des Wachens hergenommenes
[127] Sinnbild habe bezeichnen koͤnnen, ſondern zum
Traume ſeine Zuflucht genommen, um ein Bil d
fuͤr eine andere Welt zu finden; zugleich wuͤrde
einleuchten, daß dieſer Unterſchied nicht etwa
durch die groͤßere oder geringere Staͤrke des
Sinns fuͤrs Ueberſinnliche in den beiden Voͤlkern,
ſondern daß er lediglich durch die Verſchiede n¬
heit ihrer ſinnlichen Klarheit, damals, als ſie Ue¬
berſinnliches bezeichnen wollten, begruͤndet ſey.


So richtet alle Bezeichnung des Ueberſin n¬
lichen ſich nach dem Umfange und der Klarheit
der ſinnlichen Erkenntniß desjenigen, der da
bezeichnet. Das Sinnbild iſt ihm klar, und
druͤckt ihm das Verhaͤltniß des Begriffenen
zum geiſtigen Werkzeuge vollkommen verſtaͤnd¬
lich aus, denn dieſes Verhaͤltniß wird ihm er¬
klaͤrt durch ein anderes unmittelbar lebendiges
Verhaͤltniß zu ſeinem ſinnlichen Werkzeuge.
Dieſe alſo entſtandene neue Bezeichnung, mit
aller der neuen Klarheit, die durch dieſen er¬
weiterten Gebrauch des Zeichens die ſinnliche
Erkenntniß ſelber bekommt, wird nun nieder¬
gelegt in der Sprache; und die moͤgliche kuͤnf¬
tige uͤberſinnliche Erkenntniß wird nun nach
ihrem Verhaͤltniſſe zu der ganzen in der ge¬
[128] ſammten Sprache niedergelegten uͤberſinnlichen
und ſinnlichen Erkenntniß bezeichnet; und ſo
geht es ununterbrochen fort; und ſo wird denn
die unmittelbare Klarheit und Verſtaͤndlichkeit
der Sinnbilder niemals abgebrochen, ſondern
ſie bleibt ein ſtetiger Fluß. — Ferner, da die
Sprache nicht durch Willkuͤhr vermittelt, ſon¬
dern als unmittelbare Naturkraft aus dem ver¬
ſtaͤndigen Leben ausbricht, ſo hat eine ohne
Abbruch nach dieſem Geſetze fortentwickelte
Sprache auch die Kraft, unmittelbar einzu¬
greifen in das Leben, und daſſelbe anzuregen.
Wie die unmittelbar gegenwaͤrtigen Dinge den
Menſchen bewegen, ſo muͤſſen auch die Worte
einer ſolchen Sprache den bewegen, der ſie ver¬
ſteht, denn auch ſie ſind Dinge, keinesweges
willkuͤhrliches Machwerk. So zunaͤchſt im Sinn¬
lichen. Nicht anders jedoch auch im Ueberſinn¬
lichen. Denn obwohl in Beziehung auf das
leztere der ſtetige Fortgang der Naturbeobach¬
tung durch freie Beſinnung und Nachdenken
unterbrochen wird, und hier gleichſam der un¬
bildliche Gott eintritt; ſo verſezt dennoch die
Bezeichnung durch die Sprache das unbildliche
auf der Stelle in den ſtetigen Zuſammenhang
des[129] des bildlichen zuruͤck; und ſo bleibt auch in
dieſer Ruͤckſicht der ſtetige Fortgang der zuerſt
als Naturkraft ausgebrochenen Sprache un¬
unterbrochen, und es tritt in den Fluß der Be¬
zeichnung keine Willkuͤhr ein. Es kann darum
auch dem uͤberſinnlichen Theile einer alſo ſtetig
fortentwickelten Sprache ſeine Leben anregende
Kraft auf den, der nur ſein geiſtiges Werkzeug
in Bewegung ſezt, nicht entgehen. Die Worte
einer ſolchen Sprache in allen ihren Theilen
ſind Leben, und ſchaffen Leben. — Machen wir
auch in Ruͤckſicht der Entwiklung der Sprache
fuͤr das uͤberſinnliche die Vorausſetzung, daß
das Volk dieſer Sprache in ununterbrochener
Mittheilung geblieben, und daß, was Einer
gedacht, und ausgeſprochen, bald an alle ge¬
kommen, ſo gilt, was bisher im allgemeinen
geſagt worden, fuͤr Alle, die dieſe Sprache
reden. Allen, die nur denken wollen, iſt das
in der Sprache niedergelegte Sinnbild klar;
allen, die da wirklich denken, iſt es lebendig,
und anregend ihr Leben.


So verhaͤlt es ſich, ſage ich, mit einer Spra¬
che, die von dem erſten Laute an, der in dem¬
ſelben Volke ausbrach, ununterbrochen aus
dem wirklichen gemeinſamen Leben dieſes Volks
I[130] ſich entwickelt hat, und in die niemals ein Be¬
ſtandtheil gekommen, der nicht eine wirklich er¬
lebte Anſchauung dieſes Volks, und eine mit
allen uͤbrigen Anſchauungen deſſelben Volks im
allſeitig eingreifenden Zuſammenhange ſtehende
Anſchauung ausdruͤckte. Laſſet dem Stamm¬
volke dieſer Sprache noch ſo viel Einzelne an¬
dern Stammes, und anderer Sprache einver¬
leibt werden; wenn es dieſen nur nicht verſtat¬
tet wird, den Umkreis ihrer Anſchauungen zu
dem Standpunkte, von welchem von nun an
die Sprache ſich fortentwickle, zu erheben, ſo
bleiben dieſe ſtumm in der Gemeine, und ohne
Einfluß auf die Sprache, ſo lange, bis ſie ſelbſt
in den Umkreis der Anſchauungen des Stamm¬
volkes hineingekommen ſind, und ſo bilden
nicht ſie die Sprache, ſondern die Sprache bil¬
det ſie.


Ganz das Gegentheil aber von allem bis¬
her geſagten erfolgt alsdann, wenn ein Volk,
mit Aufgebung ſeiner eignen Sprache eine
fremde, fuͤr uͤberſinnliche Bezeichnung ſchon
ſehr gebildete, annimmt; und zwar nicht alſo,
daß es ſich der Einwirkung dieſer fremden
Sprache ganz frei hingebe, und ſich beſcheide
ſprachlos zu bleiben, ſo lange, bis es in den
[131] Kreis der Anſchauungen dieſer fremden Sprache
hineingekommen; ſondern alſo, daß es ſeinen
eignen Anſchauungskreis der Sprache aufdrin¬
ge, und dieſe, von dem Standpunkte aus, wo
ſie dieſelbe fanden, von nun an in dieſem An¬
ſchauungskreiſe ſich fortbewegen muͤſſe. In
Abſicht des ſinnlichen Theils der Sprache zwar
iſt dieſe Begebenheit ohne Folgen. In jedem
Volke muͤſſen ja ohnedies die Kinder dieſen
Theil der Sprache, gleich als ob die Zeichen
willkuͤhrlich waͤren, lernen, und ſo die ganze
fruͤhere Sprachentwiklung der Nation hierin
nachholen; jedes Zeichen aber in dieſem ſinn¬
lichen Umkreiſe kann durch die unmittelbare
Anſicht, oder Beruͤhrung des Bezeichneten voll¬
kommen klar gemacht werden. Hoͤchſtens wuͤrde
daraus folgen, daß das erſte Geſchlecht eines
ſolchen ſeine Sprache aͤndernden Volks als
Maͤnner wieder in die Kinderjahre zuruͤckzuge¬
hen genoͤthigt geweſen; mit den nachgebornen
aber und an den kuͤnftigen Geſchlechtern war
alles wieder in der alten Ordnung. Dagegen
iſt dieſe Veraͤnderung von den bedeutendſten
Folgen in Ruͤckſicht des uͤberſinnlichen Theils
der Sprache. Dieſer hat zwar fuͤr die erſten
Eigenthuͤmer der Sprache ſich gemacht auf die
I 2[132] bisher beſchriebene Weiſe; fuͤr die ſpaͤtern Er¬
oberer derſelben aber enthaͤlt das Sinnbild
eine Vergleichung mit einer ſinnlichen Anſchau¬
ung, die ſie entweder ſchon laͤngſt, ohne die
beiliegende geiſtige Ausbildung, uͤberſprungen
haben, oder die ſie dermalen noch nicht gehabt
haben, auch wohl niemals haben koͤnnen. Das
hoͤchſte, was ſie hiebei thun koͤnnen, iſt, daß ſie
das Sinnbild und die geiſtige Bedeutung deſ¬
ſelben ſich erklaͤren laſſen, wodurch ſie die flache
und todte Geſchichte einer fremden Bildung,
keinesweges aber eigene Bildung erhalten, und
Bilder bekommen, die fuͤr ſie weder unmittel¬
bar klar, noch auch Lebenanregend ſind, ſon¬
dern voͤllig alſo willkuͤhrlich erſcheinen muͤſſen,
wie der ſinnliche Theil der Sprache. Fuͤr ſie
iſt nun, durch dieſen Eintritt der bloßen Ge¬
ſchichte, als Erklaͤrerin, die Sprache in Abſicht
des ganzen Umkreiſes ihrer Sinnbildlichkeit
tod, abgeſchloſſen, und ihr ſtetiger Fortfluß
abgebrochen; und obwohl uͤber dieſen Umkreis
hinaus ſie nach ihrer Weiſe, und in wiefern
dies von einem ſolchen Ausgangspunkte aus
moͤglich iſt, dieſe Sprache wieder lebendig fort¬
bilden moͤgen; ſo bleibt doch jener Beſtandtheil
die Scheidewand an welcher der urſpruͤngliche
[133] Ausgang der Sprache, als eine Naturkraft,
aus dem Leben, und die Ruͤckkehr der wirkli¬
chen Sprache in das Leben, ohne Ausnahme
ſich bricht. Obwohl eine ſolche Sprache auf
der Oberflaͤche durch den Wind des Lebens be¬
wegt werden, und ſo den Schein eines Lebens
von ſich geben mag, ſo hat ſie doch tiefer einen
todten Beſtandtheil, und iſt, durch den Ein¬
tritt des neuen Anſchauungskreiſes, und die
Abbrechung des alten, abgeſchnitten von der
lebendigen Wurzel.


Wir beleben das ſo eben geſagte durch ein
Beiſpiel; indem wir zum Behuf dieſes Bei¬
ſpiels noch beilaͤufig die Bemerkung machen,
daß eine ſolche im Grunde todte und unver¬
ſtaͤndliche Sprache ſich auch ſehr leicht verdre¬
hen, und zu allen Beſchoͤnigungen des menſch¬
lichen Verderbens mißbrauchen laͤßt, was in
einer niemals erſtorbenen nicht alſo moͤglich
iſt. Ich bediene mich als ſolchen Beiſpiels der
drei beruͤchtigten Worte, Humanitaͤt, Popula¬
ritaͤt, Liberalitaͤt. Dieſe Worte, vor dem Deut¬
ſchen, der keine andere Sprache gelernt hat,
ausgeſprochen, ſind ihm ein voͤllig leerer Schall,
der an nichts ihm ſchon bekanntes durch Ver¬
wandſchaft des Lautes erinnert, und ſo aus
[134] dem Kreiſe ſeiner Anſchauung, und aller moͤg¬
lichen Anſchauung ihn vollkommen herausreißt.
Reizt nun doch etwa das unbekannte Wort
durch ſeinen fremden, vornehmen, und wohl¬
toͤnenden Klang ſeine Aufmerkſamkeit, und
denkt er, was ſo hoch toͤne, muͤſſe auch etwas
hohes bedeuten; ſo muß er ſich dieſe Bedeutung
ganz von vorn herein, und als etwas ihm ganz
neues, erklaͤren laſſen, und kann dieſer Erklaͤ¬
rung eben nur blind glauben, und wird ſo ſtill¬
ſchweigend gewoͤhnt, etwas fuͤr wirklich da¬
ſeyend, und wuͤrdig anzuerkennen, das er, ſich
ſelbſt uͤberlaſſen, vielleicht niemals des Erwaͤh¬
nens werth gefunden haͤtte. Man glaube nicht,
daß es ſich mit den neulateiniſchen Voͤlkern,
welche jene Worte, vermeintlich als Worte ih¬
rer Mutterſprache ausſprechen, viel anders
verhalte. Ohne gelehrte Ergruͤndung des Al¬
terthums, und ſeiner wirklichen Sprache, ver¬
ſtehen ſie die Wurzeln dieſer Woͤrter eben ſo
wenig, als der Deutſche. Haͤtte man nun etwa
dem Deutſchen ſtatt des Worts Humanitaͤt das
Wort Menſchlichkeit, wie jenes woͤrtlich uͤber¬
ſezt werden muß, ausgeſprochen, ſo haͤtte er
uns ohne weitere hiſtoriſche Erklaͤrung verſtan¬
den; aber er haͤtte geſagt: da iſt man nicht
[135] eben viel, wenn man ein Menſch iſt, und kein
wildes Thier. Alſo aber, wie wohl nie ein
Roͤmer geſagt haͤtte, wuͤrde der Deutſche ſagen,
deswegen, weil die Menſchheit uͤberhaupt in
ſeiner Sprache nur ein ſinnlicher Begriff ge¬
blieben, niemals aber wie bei den Roͤmern zum
Sinnbilde eines uͤberſinnlichen geworden; in¬
dem unſere Vorfahren vielleicht lange vorher
die einzelnen menſchlichen Tugenden bemerkt,
und ſinnbildlich in der Sprache bezeichnet, ehe
ſie darauf gefallen, dieſelben in einem Einheits¬
begriffe, und zwar als Gegenſatz mit der thie¬
riſchen Natur, zuſammenzufaſſen, welches denn
auch unſern Vorfahren den Roͤmern gegenuͤber
zu gar keinem Tadel gereicht. Wer nun den
Deutſchen dennoch dieſes fremde und roͤmiſche
Sinnbild kuͤnſtlich in die Sprache ſpielen wollte,
der wuͤrde ihre ſittliche Denkart offenbar her¬
unterſtimmen, indem er ihnen als etwas vor¬
zuͤgliches und lobenswuͤrdiges hingaͤbe, was in
der fremden Sprache auch wohl ein ſolches ſeyn
mag, was er aber, nach der unaustilgbaren
Natur ſeiner National- Einbildungskraft nur
faßt, als das bekannte, das gar nicht zu erlaſ¬
ſen iſt. Es ließe ſich vielleicht durch eine naͤhere
Unterſuchung darthun, daß dergleichen Herab¬
[136] ſtimmungen der fruͤhern ſittlichen Denkart durch
unpaſſende und fremde Sinnbilder den germa¬
niſchen Staͤmmen, die die Roͤmiſche Sprache an¬
nahmen, ſchon zu Anfange begegnet; doch wird
hier auf dieſen Umſtand nicht gerade das groͤßte
Gewicht gelegt.


Wuͤrde ich ferner dem Deutſchen ſtatt der
Woͤrter Popularitaͤt, und Liberalitaͤt, die Aus¬
druͤcke Haſchen nach Gunſt beim großen Hau¬
fen, und, Entfernung vom Sklavenſinn, wie
jene woͤrtlich uͤberſezt werden muͤſſen, ſagen,
ſo bekaͤme derſelbe zufoͤrderſt nicht einmal ein
klares und lebhaftes ſinnliches Bild, derglei¬
chen der fruͤhere Roͤmer allerdings bekam.
Dieſer ſahe alle Tage die ſchmiegſame Hoͤflich¬
keit des ehrgeizigen Kandidaten gegen alle
Welt, ſo wie die Ausbruͤche des Sklavenſinns
vor Augen, und jene Worte bildeten ſie ihm
wieder lebendig vor. Durch die Veraͤnderung
der Regierungsform und die Einfuͤhrung des
Chriſtenthums waren ſchon dem ſpaͤtern Roͤ¬
mer dieſe Schauſpiele entriſſen; wie denn uͤber¬
haupt dieſem, beſonders durch das fremdartige
Chriſtenthum, das er weder abzuwehren, noch
ſich einzuverleiben vermochte, die eigne Sprache
guten Theils abzuſterben anfing im eignen
[137] Munde. Wie haͤtte dieſe, ſchon in der eignen
Heimath halbtodte Sprache, lebendig uͤberlie¬
fert werden koͤnnen an ein fremdes Volk?
Wie ſollte ſie es jezt koͤnnen an uns Deutſche?
Was ferner das in jenen beiden Ausdruͤcken
liegende Sinnbild eines geiſtigen betrift, ſo
liegt in der Popularitaͤt ſchon urſpruͤnglich eine
Schlechtigkeit, die durch das Verderben der
Nation und ihrer Verfaſſung in ihrem Munde
zur Tugend verdreht wurde. Der Deutſche
geht in dieſe Verdrehung, ſo wie ſie ihm nur
in ſeiner eignen Sprache dargeboten wird,
nimmer ein. Zur Ueberſetzung der Liberalitaͤt
aber dadurch, daß ein Menſch keine Sklaven-
Seele, oder, wenn es in die neue Sitte ein¬
gefuͤhrt wird, keine Lakayen-Denkart habe,
antwortet er abermals, daß auch dies ſehr we¬
nig geſagt heiße.


Nun hat man aber noch ferner in dieſe,
ſchon in ihrer reinen Geſtalt bei den Roͤmern
auf einer tiefen Stufe der ſittlichen Bildung
entſtandene, oder geradezu eine Schlechtigkeit
bezeichnenden Sinnbilder in der Fortentwiklung
der neulateiniſchen Sprachen den Begriff von
Mangel an Ernſt uͤber die geſellſchaftlichen
Verhaͤltniſſe, den des ſich Wegwerfens, den der
[138] gemuͤthloſen Lockerheit, hineingeſpielt, und die¬
ſelben auch in die Deutſche Sprache gebracht,
um durch das Anſehen des Alterthums und des
Auslandes, ganz in der Stille, und ohne daß
jemand ſo recht deutlich merke, wovon die Rede
ſey, die leztgenannten Dinge auch unter uns in
Anſehen zu bringen. Dies iſt von jeher der
Zweck und der Erfolg aller Einmiſchung gewe¬
ſen; zufoͤrderſt aus der unmittelbaren Verſtaͤnd¬
lichkeit und Beſtimmtheit, die jede urſpruͤngliche
Sprache bei ſich fuͤhrt, den Hoͤrer in Dunkel
und Unverſtaͤndlichkeit einzuhuͤllen; darauf an
den dadurch erregten blinden Glauben deſſelben
ſich mit der nun noͤthig gewordenen Erklaͤrung
zu wenden, in dieſer endlich Laſter und Tugend
alſo durcheinander zu ruͤhren, daß es kein leich¬
tes Geſchaͤft iſt, dieſelben wieder zu ſondern.
Haͤtte man das, was jene drei auslaͤndiſchen
Worte eigentlich wollen muͤſſen, wenn ſie uͤber¬
haupt etwas wollen, dem Deutſchen in ſeinen
Worten, und in ſeinem ſinnbildlichen Kreiſe
alſo ausgeſprochen: Menſchenfreundlichkeit,
Leutſeeligkeit, Edelmuth, ſo haͤtte er uns ver¬
ſtanden; die genannten Schlechtigkeiten aber
haͤtten ſich niemals in jene Bezeichnungen
einſchieben laſſen. Im Umfange Deutſcher
[139] Rede entſteht eine ſolche Einhuͤllung in Un¬
verſtaͤndlichkeit, und Dunkel, entweder aus
Ungeſchicktheit, oder aus boͤſer Tuͤcke, ſie
iſt zu vermeiden, und die Ueberſetzung in
rechtes wahres Deutſch liegt als ſtets fertiges
Huͤlfsmittel bereit. In den neulateiniſchen
Sprachen aber iſt dieſe Unverſtaͤndlichkeit na¬
tuͤrlich und urſpruͤnglich, und ſie iſt durch gar
kein Mittel zu vermeiden, indem dieſe uͤberhaupt
nicht im Beſitze irgend einer lebendigen Spra¬
che, woran ſie die todte pruͤfen koͤnnten, ſich be¬
finden, und, die Sache genau genommen, eine
Mutterſprache gar nicht haben.


Das an dieſem einzelnen Beiſpiele darge¬
legte, was gar leicht durch den ganzen Umkreis
der Sprache ſich wuͤrde hindurch fuͤhren laſſen,
und allenthalben alſo ſich wieder finden wuͤrde,
ſoll Ihnen das bis hieher geſagte ſo klar ma¬
chen, als es hier werden kann. Es iſt vom
uͤberſinnlichen Theile der Sprache die Rede,
vom ſinnlichen zunaͤchſt und unmittelbar gar
nicht. Dieſer uͤberſinnliche Theil iſt in einer
immerfort lebendig gebliebenen Sprache ſinn¬
bildlich, zuſammenfaſſend bei jedem Schritte
das ganze des ſinnlichen und geiſtigen, in der
Sprache niedergelegten Lebens der Nation in
[140] vollendeter Einheit, um einen, ebenfalls nicht
willkuͤhrlichen, ſondern aus dem ganzen bishe¬
rigen Leben der Nation nothwendig hervorge¬
henden Begriff zu bezeichnen, aus welchem,
und ſeiner Bezeichnung, ein ſcharfes Auge die
ganze Bildungsgeſchichte der Nation ruͤckwaͤrts¬
ſchreitend wieder muͤßte herſtellen koͤnnen. In
einer todten Sprache aber, in der dieſer Theil,
als ſie noch lebte, daſſelbige war, wird er durch
die Ertoͤdtung zu einer zerriſſenen Sammlung
willkuͤhrlicher, und durchaus nicht weiter zu
erklaͤrender Zeichen eben ſo willkuͤhrlicher Be¬
griffe, wo mit beiden ſich nichts weiter anfan¬
gen laͤßt, als daß man ſie eben lerne.


Somit iſt unſre naͤchſte Aufgabe, den unter¬
ſcheidenden Grundzug des Deutſchen vor den
andern Voͤlkern Germaniſcher Abkunft zu fin¬
den, geloͤſt. Die Verſchiedenheit iſt ſogleich bei
der erſten Trennung des gemeinſchaftlichen
Stamms entſtanden, und beſteht darin, daß
der Deutſche eine bis zu ihrem erſten Ausſtroͤmen
aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die
uͤbrigen Germaniſchen Staͤmme eine nur auf
der Oberflaͤche ſich regende, in der Wurzel aber
todte Sprache. Allein in dieſen Umſtand, in
die Lebendigkeit, und in den Tod, ſetzen wir
[141] den Unterſchied; keinesweges aber laſſen wir
uns ein auf den uͤbrigen innern Werth der
Deutſchen Sprache. Zwiſchen Leben und Tod
findet gar keine Vergleichung ſtatt, und das
erſte hat vor dem lezten unendlichen Werth;
darum ſind alle unmittelbare Vergleichungen
der Deutſchen und der Neulateiniſchen Spra¬
chen durchaus nichtig, und ſind gezwungen von
Dingen zu reden, die der Rede nicht werth ſind.
Sollte vom innern Werthe der Deutſchen
Sprache die Rede entſtehen, ſo muͤſte wenig¬
ſtens eine von gleichem Range, eine ebenfalls
urſpruͤngliche, als etwa die Griechiſche, den
Kampfplatz betreten; unſer gegenwaͤrtiger Zweck
aber liegt tief unter einer ſolchen Vergleichung.


Welchen unermeßlichen Einfluß auf die
ganze menſchliche Entwicklung eines Volks die
Beſchaffenheit ſeiner Sprache haben moͤge, der
Sprache, welche den Einzelnen bis in die ge¬
heimſte Tiefe ſeines Gemuͤths bei Denken, und
Wollen begleitet, und beſchraͤnkt oder befluͤgelt,
welche die geſammte Menſchenmenge, die die¬
ſelbe redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzi¬
gen gemeinſamen Verſtande verknuͤpft, welche
der wahre gegenſeitige Durchſtroͤmungspunkt
der Sinnenwelt, und der der Geiſter iſt, und
die Enden dieſer beiden alſo in einander ver¬
[142] ſchmilzt, daß gar nicht zu ſagen iſt, zu welcher
von beiden ſie ſelber gehoͤre; wie verſchieden
die Folge dieſes Einfluſſes ausfallen moͤge,
da, wo das Verhaͤltniß iſt, wie Leben, und
Tod, laͤßt ſich im Allgemeinen errathen. Zu¬
naͤchſt bietet ſich dar, daß der Deutſche ein
Mittel hat ſeine lebendige Sprache durch Ver¬
gleichung mit der abgeſchloßnen Roͤmiſchen
Sprache, die von der ſeinigen im Fortgange
der Sinnbildlichkeit gar ſehr abweicht, noch
tiefer zu ergruͤnden, wie hinwiederum jene auf
demſelben Wege klarer zu verſtehen, welches
dem Neulateiner, der im Grunde in dem Um¬
kreiſe derſelben Einen Sprache gefangen bleibt,
nicht alſo moͤglich iſt; daß der Deutſche, in¬
dem er die Roͤmiſche Stammſprache lernt, die
abgeſtammten gewiſſermaßen zugleich mit er¬
haͤlt, und falls er etwa die erſte gruͤndlicher
lernen ſollte, denn der Auslaͤnder, welches er
aus dem angefuͤhrten Grunde gar wohl ver¬
mag, er zugleich auch dieſes Auslaͤnders eigene
Sprachen weit gruͤndlicher verſtehen und weit
eigenthuͤmlicher beſitzen lernt, denn jener ſelbſt,
der ſie redet; daß daher, der Deutſche, wenn
er ſich nur aller ſeiner Vortheile bedient, den
Auslaͤnder immerfort uͤberſehen, und ihn voll¬
kommen, ſogar beſſer, denn er ſich ſelbſt, ver¬
[143] ſtehen, und ihn, nach ſeiner ganzen Ausdeh¬
nung uͤberſetzen kann; dagegen der Auslaͤn¬
der, ohne eine hoͤchſt muͤhſame Erlernung der
Deutſchen Sprache, den wahren Deutſchen
niemals verſtehen kann, und das aͤcht Deut¬
ſche ohne Zweifel unuͤberſetzt laſſen wird.
Was in dieſen Sprachen man nur vom Aus¬
laͤnder ſelbſt lernen kann, ſind meiſtens aus
Langeweile und Grille entſtandene neue Mo¬
den des Sprechens, und man iſt ſehr beſchei¬
den, wenn man auf dieſe Belehrungen ein¬
geht. Meiſtens wuͤrde man ſtatt deſſen ihnen
zeigen koͤnnen, wie ſie der Stammſprache und
ihrem Verwandlungsgeſetze gemaͤß, ſprechen
ſollten, und daß die neue Mode nichts tauge,
und gegen die althergebrachte gute Sitte ver¬
ſtoße. — Jener Reichthum an Folgen uͤber¬
haupt, ſo wie die beſondere zulezt erwaͤhnte
Folge ergeben ſich, wie geſagt, von ſelbſt.


Unſere Abſicht aber iſt es dieſe Folgen ins¬
geſammt im Ganzen, nach ihrem Einheits¬
bande, und aus der Tiefe zu erfaſſen, um da¬
durch eine gruͤndliche Schilderung des Deut¬
ſchen im Gegenſatze mit den uͤbrigen Germa¬
niſchen Staͤmmen zu geben. Ich gebe dieſe Fol¬
gen vorlaͤufig in der Kuͤrze alſo an: 1) Beim
Volke der lebendigen Sprache greift die Gei¬
[144] ſtesbildung ein ins Leben; beim Gegentheile
geht geiſtige Bildung, und Leben jedes ſeinen
Gang fuͤr ſich fort. 2) Aus demſelben Grunde
iſt es einem Volke der erſten Art mit aller Gei¬
ſtesbildung rechter eigentlicher Ernſt, und es
will, daß dieſelbe ins Leben eingreife; dage¬
gen einem von der letztern Art dieſe vielmehr
ein genialiſches Spiel iſt, mit dem ſie nichts
weiter wollen. Die leztern haben Geiſt; die
erſtern haben zum Geiſte auch noch Gemuͤth.
3) Was aus dem zweiten folgt; die erſtern
haben redlichen Fleiß und Ernſt in allen Din¬
gen, und ſind muͤhſam, dagegen die leztern
ſich im Geleite ihrer gluͤcklichen Natur gehen
laſſen. 4) Was aus allem zuſammen folgt:
In einer Nation von der erſten Art iſt das
große Volk bildſam, und die Bildner einer
ſolchen erproben ihre Entdeckungen an dem
Volke, und wollen auf dieſes einfließen; da¬
gegen in einer Nation von der zweiten Art
die gebildeten Staͤnde vom Volke ſich ſcheiden,
und des leztern nicht weiter, denn als eines
blinden Werkzeugs ihrer Plaͤne achten. Die
weitere Eroͤrterung dieſer angegebnen Merk¬
male behalte ich der folgenden Stunde vor.


[145]

Fuͤnfte Rede.


Folgen aus der aufgeſtellten Verſchie¬
denheit
.

Zum Behuf einer Schilderung der Eigen¬
thuͤmlichkeit der Deutſchen iſt der Grund-Un¬
terſchied zwiſchen dieſen und den andern Voͤl¬
kern Germaniſcher Abkunft angegeben worden,
daß die erſtern in dem ununterbrochenen Fort¬
fluſſe einer aus wirklichem Leben ſich fortent¬
wickelnden Urſprache geblieben, die letztern
aber eine ihnen fremde Sprache angenommen,
die unter ihrem Einfluſſe ertoͤdtet worden. Wir
haben zu Ende der vorigen Stunde andre Er¬
ſcheinungen an dieſen alſo verſchiedenen Volks¬
ſtaͤmmen angegeben, welche aus jenem Grund-
Unterſchiede nothwendig erfolgen mußten; und
werden heute dieſe Erſcheinungen weiter ent¬
wickeln, und feſter auf ihrem gemeinſamen
Boden begruͤnden.

K[146]

Eine Unterſuchung, die ſich der Gruͤndlich¬
keit befleißiget, kann manches Streites, und
der Erregung von mancherlei Scheelſucht ſich
uͤberheben. Wie wir ehemals, in der Unter¬
ſuchung, von der die gegenwaͤrtige die Fort¬
ſetzung iſt, thaten, ſo werden wir auch hier
thun. Wir werden Schritt vor Schritt ablei¬
ten, was aus dem aufgeſtellten Grund Unter¬
ſchiede folgt, und nur darauf ſehen, daß dieſe
Ableitung richtig ſey. Ob nun die Verſchie¬
denheit der Erſcheinungen, die dieſer Ableitung
zufolge ſeyn ſollte, in der wirklichen Erfahrung
eintrete oder nicht, dies zu entſcheiden, will ich
lediglich Ihnen, und jedem Beobachter uͤber¬
laſſen. Zwar werde ich, was insbeſondere
den Deutſchen betrift, zu ſeiner Zeit darlegen,
daß er ſich wirklich alſo gezeigt habe, wie er
unſrer Ableitung zufolge ſeyn mußte. Was
aber den Germaniſchen Auslaͤnder betrift, ſo
werde ich nichts dagegen haben, wenn einer
unter ihnen wirklich verſteht, wovon eigentlich
hier die Rede ſey, und wenn dieſem hernach
auch der Beweis gelingt, daß ſeine Landsleute
eben auch daſſelbe geweſen ſeyen, was die Deut¬
ſchen, und wenn er ſie von den entgegengeſetz¬
[147] ten Zuͤgen, voͤllig loszuſprechen vermag. Im
allgemeinen wird unſre Beſchreibung auch in
dieſen gegentheiligen Zuͤgen keinesweges in das
nachtheilige und grelle hin zeichnen, was den
Sieg leichter macht denn ehrenvoll, ſondern
nur das nothwendig erfolgende angeben, und
dieſes ſo ehrbar ausdruͤcken, als es mit der
Wahrheit beſtehen kann.


Die erſte Folge von dem aufgeſtellten Grund-
Unterſchiede, die ich angab, war die: beim
Volke der lebendigen Sprache greife die Gei¬
ſtesbildung ein in das Leben: beim Gegen¬
theile gehe geiſtige Bildung und Leben jedes
fuͤr ſich ſeinen Gang fort. Es wird nuͤz¬
lich ſeyn, zufoͤrderſt den Sinn des aufgeſtellten
Satzes tiefer zu erklaͤren. Zufoͤrderſt, indem
hier vom Leben, und von dem Eingreifen der
geiſtigen Bildung in daſſelbe geredet wird, ſo
iſt darunter zu verſtehen das urſpruͤngliche Le¬
ben, und ſein Fortfluß aus dem Quell alles
geiſtigen Lebens, aus Gott, die Fortbildung der
menſchlichen Verhaͤltniſſe nach ihrem Urbilde,
und ſo die Erſchaffung eines neuen, und vorher
nie dageweſenen; keinesweges aber iſt die Rede
von der bloßen Erhaltung jener Verhaͤltniſſe
K 2[148] auf der Stufe, wo ſie ſchon ſtehen, gegen Her¬
abſinken, und noch weniger, vom Nachhelfen
einzelner Glieder, die hinter der allgemeinen
Ausbildung zuruͤckgeblieben. Sodann, wenn
von geiſtiger Bildung die Rede iſt, ſo iſt dar¬
unter zu allererſt die Philoſophie, — wie wir dies
mit dem auslaͤndiſchen Namen bezeichnen muͤſ¬
ſen, da die Deutſchen ſich den vorlaͤngſt vorge¬
ſchlagenen Deutſchen Namen nicht haben ge¬
fallen laſſen, — die Philoſophie, ſage ich, iſt zu
allererſt darunter zu verſtehen; denn dieſe iſt
es, welche das ewige Urbild alles geiſtigen Lebens
wiſſenſchaftlich erfaſſet. Von dieſer und von
aller auf ſie gegruͤndeten Wiſſenſchaft wird nun
geruͤhmt, daß beim Volke der lebendigen Sprache
ſie einfließe in das Leben. Nun aber iſt, in
ſcheinbarem Widerſpruche mit dieſer Behaup¬
tung oftmals und auch von den unſern,
geſagt worden, daß Philoſophie, Wiſſenſchaft,
ſchoͤne Kunſt, und dergleichen, Selbſtzwecke
ſeyen, und dem Leben nicht dienten, und
daß es Herabwuͤrdigung derſelben ſey, ſie
nach ihrer Nuͤzlichkeit in dieſem Dienſte zu
ſchaͤtzen. Es iſt hier der Ort dieſe Ausdruͤcke
naͤher zu beſtimmen, und vor aller Mißdeutung
[149] zu verwahren. Sie ſind wahr in folgendem
doppelten aber beſchraͤnkten Sinne; zufoͤrderſt,
daß Wiſſenſchaft oder Kunſt dem Leben auf einer
gewiſſen niedern Stufe, z. B. dem irrdiſchen und
ſinnlichen Leben, oder der gemeinen Erbaulich¬
keit, wie einige gedacht haben, nicht muͤſſe die¬
nen wollen; ſodann, daß ein Einzelner, zufolge
ſeiner perſoͤnlichen Abgeſchiedenheit vom Gan¬
zen einer Geiſterwelt, in dieſen beſondern Zwei¬
gen des allgemeinen goͤttlichen Lebens, voͤllig
aufgehen koͤnne, ohne eines außer ihnen lie¬
genden Antriebes zu beduͤrfen, und volle Be¬
friedigung in ihnen finden koͤnne. Keines¬
weges aber ſind ſie wahr in ſtrenger Bedeutung,
denn es iſt eben ſo unmoͤglich, daß es mehrere
Selbſtzwecke gebe, als es unmoͤglich iſt, daß es
mehrere Abſolute gebe. Der einige Selbſt¬
zweck, außer welchem es keinen andern geben
kann, iſt das geiſtige Leben. Dieſes aͤußert ſich
nun zum Theil und erſcheint als ein ewiger
Fortfluß aus ihm ſelber, als Quell, d. i. als
ewige Thaͤtigkeit. Dieſe Thaͤtigkeit erhaͤlt ewig
fort ihr Muſterbild von der Wiſſenſchaft,
die Geſchicklichkeit, nach dieſem Bilde ſich zu
geſtalten, von der Kunſt, und in ſoweit koͤnnte
[150] es ſcheinen, daß Wiſſenſchaft und Kunſt da
ſeyen, als Mittel fuͤr das thaͤtige Leben, als
Zweck. Nun aber iſt in dieſer Form der Thaͤ¬
tigkeit das Leben ſelber niemals vollendet, und
zur Einheit geſchloſſen, ſondern es geht fort ins
Unendliche. Soll nun doch das Leben als eine
ſolche geſchloßne Einheit da ſeyn, ſo muß es
alſo da ſeyn in einer andern Form. Dieſe
Form iſt nun die des reinen Gedankens, der die
in der dritten Rede beſchriebene Religions-Ein¬
ſicht giebt; eine Form, die als geſchloßne Ein¬
heit mit der Unendlichkeit des Thuns ſchlecht¬
hin auseinander faͤllt, und in dem leztern, dem
Thun, niemals vollſtaͤndig ausgedruͤckt werden
kann. Beide demnach, der Gedanke, ſo wie
die Thaͤtigkeit, ſind nur in der Erſcheinung aus¬
einanderfaltende Formen, jenſeit der Erſchei¬
nung aber ſind ſie, eine wie die andere, daſ¬
ſelbe Eine abſolute Leben; und man kann gar
nicht ſagen, daß der Gedanke um des Thuns,
oder das Thun um des Gedankens willen ſey,
und alſo ſey, ſondern daß beides ſchlechthin
ſeyn ſolle, indem auch in der Erſcheinung das
Leben ein vollendetes Ganzes ſeyn ſolle, alſo,
wie es dies iſt jenſeit aller Erſcheinung. In¬
[151] nerhalb dieſes Umkreiſes demnach und zufolge
dieſer Betrachtung, iſt es noch viel zu wenig
geſagt, daß die Wiſſenſchaft einfließe aufs Le¬
ben; ſie iſt vielmehr ſelber, und in ſich ſelbſt¬
beſtaͤndiges Leben. — Oder, um daſſelbe an eine
bekannte Wendung anzuknuͤpfen. Was hilft
alles Wiſſen, hoͤrt man zuweilen ſagen, wenn
nicht darnach gehandelt wird? In dieſem Aus¬
ſpruche wird das Wiſſen als Mittel fuͤr das
Handeln, und dieſes leztere als der eigentliche
Zweck angeſehen. Man koͤnnte umgekehrt ſa¬
gen; wie kann man doch gut handeln, ohne
das Gute zu kennen? und es wuͤrde in dieſem
Ausſpruche das Wiſſen, als das bedingende
des Handelns betrachtet. Beide Ausſpruͤche
aber ſind einſeitig; und das wahre iſt, daß
beides, Wiſſen ſo wie Handeln, auf dieſelbe
Weiſe unabtrennliche Beſtandtheile des ver¬
nuͤnftigen Lebens ſind.


In ſich ſelbſt beſtaͤndiges Leben aber, wie
wir ſo eben uns ausdruͤckten, iſt die Wiſſenſchaft
nur alsdann, wenn der Gedanke der wirkliche
Sinn, und die Geſinnung des Denkenden iſt,
alſo daß er, ohne beſondere Muͤhe, und ſogar
ohne deſſen ſich klar bewußt zu ſeyn, alles an¬
[152] dre was er denkt, anſieht, beurtheilt, zufolge
jenes Grundgedankens anſieht, und beurtheilt,
und falls derſelbe aufs handeln einfließt, nach
ihm eben ſo nothwendig handelt. Keineswe¬
ges aber iſt der Gedanke Leben und Geſinnung,
wenn er nur als Gedanke eines fremden Le¬
bens gedacht wird; ſo klar und vollſtaͤndig er
auch als ein ſolcher bloß moͤglicher Gedanke be¬
griffen ſeyn mag; und ſo hell man ſich auch
denken moͤge, wie etwa jemand alſo denken
koͤnne. In dieſem leztern Falle liegt zwiſchen
unſerm gedachten Denken, und zwiſchen unſerm
wirklichen Denken ein großes Feld von Zufall,
und Freiheit, welche lezte wir nicht vollziehen
moͤgen; und ſo bleibt jenes gedachte Denken
von uns abſtehend, und ein bloß moͤgliches,
und ein von uns frei gemachtes, und immer¬
fort frei zu wiederholendes Denken: In jenem
erſten Falle hat der Gedanke unmittelbar durch
ſich ſelbſt unſer Selbſt ergriffen, und es zu ſich
ſelbſt gemacht, und durch dieſe alſo entſtandene
Wirklichkeit des Gedankens fuͤr uns geht unſre
Einſicht hindurch zu deſſen Nothwendigkeit.
Daß nun das leztere alſo erfolge, kann, wie
eben geſagt, keine Freiheit erzwingen, ſondern
[153] es muß eben ſich ſelbſt machen, und der Ge¬
danke ſelber muß uns ergreifen, und uns nach
ſich bilden.


Dieſe lebendige Wirkſamkeit des Gedan¬
kens wird nun ſehr befoͤrdert, ja, wenn das
Denken nur von der gehoͤrigen Tiefe und
Staͤrke iſt, ſogar nothwendig gemacht, durch
Denken, und Bezeichnen in einer lebendigen
Sprache. Das Zeichen in der lezten iſt ſelbſt
unmittelbar lebendig, und ſinnlich, und wie¬
der darſtellend das ganze eigene Leben, und ſo
daſſelbe ergreifend, und eingreifend in daſſelbe;
mit dem Beſitzer einer ſolchen Sprache ſpricht
unmittelbar der Geiſt, und offenbart ſich ihm,
wie ein Mann dem Manne. Dagegen regt
das Zeichen einer todten Sprache unmittel¬
bar nichts an; um in den lebendigen Fluß
deſſelben hineinzukommen, muß man erſt
hiſtoriſch erlernte Kenntniſſe aus einer abge¬
ſtorbenen Welt ſich wiederholen, und ſich in
eine fremde Denkart hineinverſetzen. Wie
uͤberſchwenglich wohl muͤßte der Trieb des
eignen Denkens ſeyn, wenn er in dieſem
langen und breiten Gebiete der Hiſtorie nicht
ermattete, und nicht zulezt auf dem Felde
[154] dieſer beſcheiden ſich begnuͤgte. So eines Be¬
ſitzers der lebendigen Sprache Denken nicht
lebendig wird, ſo kann man einen ſolchen ohne
Bedenken beſchuldigen, daß er gar nicht ge¬
dacht, ſondern nur geſchwaͤrmt habe. Den
Beſitzer einer todten Sprache kann man in
demſelben Falle deſſen nicht ſofort beſchuldi¬
gen; gedacht mag er allerdings haben nach
ſeiner Weiſe, die in ſeiner Sprache niederge¬
legten Begriffe ſorgfaͤltig entwikelt; er hat nur
das nicht gethan, was, falls es ihm gelaͤnge,
einem Wunder gleich zu achten waͤre.


Es erhellet im Vorbeigehen, daß beim Volke
einer todten Sprache im Anfange, wie die
Sprache noch nicht allſeitig klar genug iſt, der
Trieb des Denkens noch am kraͤftigſten wal¬
ten, und die ſcheinbarſten Erzeugniſſe hervor¬
bringen werde; daß aber dieſer, ſo wie die
Sprache klarer und beſtimmter wird, in den
Feſſeln derſelben immermehr erſterben; und daß
zulezt die Philoſophie eines ſolchen Volks mit
eignem Bewußtſeyn ſich beſcheiden wird, daß
ſie nur eine Erklaͤrung des Woͤrterbuchs, oder
wie undeutſcher Geiſt unter uns dies hochtoͤ¬
nender ausgedruͤckt hat, eine Metakritik der
[155] Sprache ſey; zu allerlezt, daß ein ſolches Volk
etwa ein mittelmaͤßiges Lehrgedicht uͤber die
Heuchelei in Komoͤdien-Form fuͤr ihr groͤßtes
philoſophiſches Werk anerkennen wird.


In dieſer Weiſe, ſage ich, fließt die geiſtige Bil¬
dung, und hier insbeſondre das Denken in einer
Urſprache nicht ein in das Leben, ſondern es
iſt ſelbſt Leben des alſo Denkenden. Doch ſtrebt
es nothwendig aus dieſem alſo denkenden Leben
einzufließen auf anderes Leben außer ihm,
und ſo auf das vorhandene allgemeine Leben,
und dieſes nach ſich zu geſtalten. Denn eben
weil jenes Denken Leben iſt, wird es gefuͤhlt von
ſeinem Beſitzer mit innigem Wohlgefallen, in
ſeiner belebenden, verklaͤrenden, und befreien¬
den Kraft. Aber jeder, dem Heil aufgegangen
iſt in ſeinem Innern, will nothwendig, daß
allen andern daſſelbe Heil wiederfahre, und er
iſt ſo getrieben, und muß arbeiten, daß die
Quelle, aus der ihm ſein Wohlſeyn aufging,
auch uͤber andre ſich verbreite. Anders derje¬
nige, der bloß ein fremdes Denken, als ein
moͤgliches begriffen hat. So wie ihm ſelber
deſſen Inhalt weder Wohl noch Wehe giebt,
ſondern es nur ſeine Muße angenehm beſchaͤf¬
[156] tigt, und unterhaͤlt, ſo kann er auch nicht glau¬
ben, daß es einem andern Wohl oder Wehe
machen koͤnne, und haͤlt es zulezt fuͤr einerlei,
woran jemand ſeinen Scharfſinn uͤbe, und
womit er ſeine muͤßigen Stunden ausfuͤlle.


Unter den Mitteln, das Denken, das im
einzelnen Leben begonnen, in das allgemeine
Leben einzufuͤhren, iſt das vorzuͤglichſte die
Dichtung, und ſo iſt denn dieſe der zweite
Hauptzweig der geiſtigen Bildung eines Vol¬
kes. Schon unmittelbar der Denker, wie er
ſeinen Gedanken in der Sprache bezeichnet,
welches nach obigem nicht anders denn ſinn¬
bildlich geſchehen kann, und zwar uͤber den
bisherigen Umkreis der Sinnbildlichkeit hinaus
neu erſchaffend, iſt Dichter; und falls er dies
nicht iſt, wird ihm ſchon beim erſten Gedanken
die Sprache, und beim Verſuche des zweiten
das Denken ſelber ausgehen. Dieſe durch den
Denker begonnene Erweiterung und Ergaͤnzung
des ſinnbildlichen Kreiſes der Sprache durch
dieſes ganze Gebiet der Sinnbilder zu ver¬
floͤßen, alſo daß jedwedes an ſeiner Stelle den
ihm gebuͤhrenden Antheil von der neuen geiſti¬
gen Veredlung erhalte, und ſo das ganze Le¬
[157] ben bis auf ſeinen letzten ſinnlichen Boden her¬
ab in den neuen Lichtſtral getaucht erſcheine,
wohlgefalle, und in bewußtloſer Taͤuſchung wie
von ſelbſt ſich veredle, dieſes iſt das Geſchaͤft
der eigentlichen Dichtung. Nur eine lebendige
Sprache kann eine ſolche Dichtung haben,
denn nur in ihr iſt der ſinnbildliche Kreis durch
erſchaffendes Denken zu erweitern, und nur in
ihr bleibt das ſchon Geſchaffne lebendig, und
dem Einſtroͤmen verſchwiſterten Lebens offen.
Eine ſolche Sprache fuͤhrt in ſich Vermoͤgen un¬
endlicher, ewig zu erfriſchender, und zu ver¬
juͤngender Dichtung, denn jede Regung des le¬
bendigen Denkens in ihr eroͤfnet eine neue Ader
dichteriſcher Begeiſterung; und ſo iſt ihr denn
dieſe Dichtung das vorzuͤglichſte Verfloͤßungs¬
mittel der erlangten geiſtigen Ausbildung in
das allgemeine Leben. Eine todte Sprache
kann in dieſem hoͤhern Sinne gar keine Dich¬
tung haben, indem alle die angezeigten Bedin¬
gungen der Dichtung in ihr nicht vorhanden
ſind. Dagegen kann eine ſolche auf eine Zeit¬
lang einen Stellvertreter der Dichtung haben
auf folgende Weiſe. Die in der Stammſprache
vorhandenen Ausfluͤſſe der Dichtkunſt werden
[158] die Aufmerkſamkeit reizen. Zwar kann das
neu entſtandene Volk nicht fortdichten auf der
angehobnen Bahn, denn dieſe iſt ihrem Leben
fremd; aber ſie kann ihr eignes Leben, und die
neuen Verhaͤltniſſe deſſelben in den ſinnbildlichen
und dichteriſchen Kreis, in welchem ihre Vor¬
welt ihr eignes Leben ausſprach, einfuͤhren,
und z. B. ihren Ritter ankleiden, als Heros
und umgekehrt, und die alten Goͤtter mit den
neuen das Gewand tauſchen laſſen. Gerade
durch dieſe fremde Einhuͤllung des gewoͤhnli¬
chen wird daſſelbe einen dem idealiſirten aͤhnli¬
chen Reiz erhalten, und es werden ganz wohl¬
gefaͤllige Geſtalten hervorgehen. Aber beides,
ſowohl der ſinnbildliche und dichteriſche Kreis
der Stammſprache, als die neuen Lebens-
Verhaͤltniſſe, ſind endliche und beſchraͤnkte Groͤ¬
ßen, ihre gegenſeitige Durchdringung iſt ir¬
gendwo vollendet; da aber wo ſie vollendet iſt,
feyert das Volk ſein goldnes Zeitalter, und der
Quell ſeiner Dichtung iſt verſiegt. Irgendwo
giebt es nothwendig einen hoͤchſten Punkt des
Anpaſſens der geſchloßnen Woͤrter an die ge¬
ſchloßnen Begriffe, und der geſchloßnen Sinn¬
bilder an die geſchloßnen Lebens-Verhaͤltniſſe.
[159] Nachdem dieſer Punkt erreicht iſt, kann das
Volk nicht mehr, denn entweder ſeine gelun¬
genſten Meiſterſtuͤcke veraͤndert wiederholen,
alſo, daß ſie ausſaͤhen, als ob ſie etwas neues
ſeyen, da ſie doch nur das wohlbekannte alte
ſind; oder, wenn ſie durchaus neu ſeyn wol¬
len, zum unpaſſenden und unſchicklichen ihre
Zuflucht nehmen, und eben ſo in der Dichtkunſt
das Haͤßliche mit dem Schoͤnen zuſammenmi¬
ſchen, und ſich auf die Karrikatur, und das
Humoriſtiſche legen, wie ſie in der Proſa genoͤ¬
thigt ſind, die Begriffe zu verwirren, und La¬
ſter und Tugend mit einander zu vermengen,
wenn ſie in neuen Weiſen reden wollen.


Indem auf dieſe Weiſe in einem Volke gei¬
ſtige Bildung und Leben jedes fuͤr ſich ſeinen
beſondern Gang fortgehen, ſo erfolgt von ſelbſt,
daß die Staͤnde, die zu der erſten keinen Zu¬
gang haben; und an die auch nicht einmal,
wie in einem lebendigen Volke, die Folgen die¬
ſer Bildung kommen ſollen, gegen die gebil¬
deten Staͤnde zuruͤckgeſetzt, und gleichſam fuͤr
eine andere Menſchenart gehalten werden, die
an Geiſteskraͤften urſpruͤnglich, und durch die
bloße Geburt den erſten nicht gleich ſeyen; daß
[160] darum die gebildeten Staͤnde gar keine wahr¬
haft liebende Theilnahme an ihnen, und keinen
Trieb haben, ihnen gruͤndlich zu helfen, indem
ſie eben glauben, daß ihnen, wegen urſpruͤng¬
licher Ungleichheit, gar nicht zu helfen ſey, und
daß die Gebildeten vielmehr gereizt werden,
dieſelben zu brauchen, wie ſie ſind, und ſie alſo
brauchen zu laſſen. Auch dieſe Folge der Er¬
toͤdtung der Sprache kann beim Beginnen des
neuen Volkes durch eine menſchenfreundliche
Religion, und durch den Mangel an eigner
Gewandheit der hoͤhern Staͤnde gemildert wer¬
den, im Fortgange aber wird dieſe Verach¬
tung des Volkes immer unverholner und grau¬
ſamer. Mit dieſem allgemeinen Grunde des
Sicherhebens und Vornehmthuns der gebilde¬
ten Staͤnde hat noch ein beſonderer ſich verei¬
nigt, welcher, da er auch ſelbſt auf die Deut¬
ſchen einen ſehr verbreiteten Einfluß gehabt,
hier nicht uͤbergangen werden darf. Nemlich
die Roͤmer, welche anfangs den Griechen ge¬
genuͤber, ſehr unbefangen jenen nachſprechend,
ſich ſelbſt Barbaren, und ihre eigne Sprache
barbariſch nannten, gaben nachher die auf ſich
geladene Benennung weiter, und fanden bei
den[161] den Germaniern dieſelbe glaͤubige Treuherzig¬
keit, die erſt ſie ſelbſt den Griechen gezeigt hat¬
ten. Die Germanier glaubten der Barbarei
nicht anders los werden zu koͤnnen, als wenn
ſie Roͤmer wuͤrden. Die auf ehemaligem roͤmi¬
ſchen Boden Eingewanderten wurden es nach
allem ihren Vermoͤgen. In ihrer Einbildungs¬
kraft bekam aber barbariſch gar bald die Ne¬
benbedeutung gemein, poͤbelhaft, toͤlpiſch, und
ſo ward das Roͤmiſche im Gegentheil gleichgel¬
tend mit vornehm. Bis in das allgemeine und
beſondere ihrer Sprachen geht dieſes hinein, in¬
dem, wo Anſtalten zur beſonnenen und bewu߬
ten Bildung der Sprache getroffen wurden,
dieſe darauf gingen, die germaniſchen Wur¬
zeln auszuwerfen, und aus roͤmiſchen Wurzeln
die Woͤrter zu bilden, und ſo die Romance,
als die Hof- und gebildete Sprache zu erzeu¬
gen; im beſondern aber, indem faſt ohne Aus¬
nahme bei gleicher Bedeutung zweier Worte
das aus germaniſcher Wurzel das unedle und
ſchlechte, das aus roͤmiſcher Wurzel aber das
edlere und vornehmere bedeutet.


Dieſes, gleich als ob es eine Grundſeuche
des ganzen germaniſchen Stammes waͤre, faͤllt
L[162] auch im Mutterlande den Deutſchen an, falls
er nicht durch hohen Ernſt dagegen geruͤſtet iſt.
Auch unſern Ohren toͤnt gar leicht Roͤmiſcher
Laut vornehm, auch unſern Augen erſcheint
Roͤmiſche Sitte edler, dagegen das Deutſche
gemein; und da wir nicht ſo gluͤcklich waren,
dieſes alles aus der erſten Hand zu erhalten,
ſo laſſen wir es uns auch aus der zweiten, und
durch den Zwiſchenhandel der neuen Roͤmer,
recht wohl gefallen. So lange wir deutſch
ſind, erſcheinen wir uns als Maͤnner, wie an¬
dre auch; wenn wir halb oder auch uͤber die
Haͤlfte undeutſch reden, und abſtechende Sit¬
ten, und Kleidung an uns tragen, die gar
weit herzukommen ſcheinen, ſo duͤnken wir
uns vornehm; der Gipfel aber unſers Triumphs
iſt es, wenn man uns gar nicht mehr fuͤr
Deutſche, ſondern etwa fuͤr Spanier oder
Englaͤnder haͤlt, je nachdem nun einer von
dieſen gerade am meiſten Mode iſt. Wir ha¬
ben recht. Naturgemaͤßheit von Deutſcher
Seite, Willkuͤhrlichkeit und Kuͤnſtelei von der
Seite des Auslandes ſind die Grund-Unter¬
ſchiede; bleiben wir bei der erſten, ſo ſind wir
eben, wie unſer ganzes Volk, dieſes begreift
[163] uns, und nimmt uns als ſeines Gleichen; nur
wie wir zur lezten unſre Zuflucht nehmen, wer¬
den wir ihm unverſtaͤndlich, und es haͤlt uns
fuͤr andere Naturen. Dem Auslande kommt
dieſe Unnatur von ſelbſt in ſein Leben, weil es
urſpruͤnglich und in einer Hauptſache von der
Natur abgewichen; wir muͤſſen ſie erſt auf¬
ſuchen, und an den Glauben, daß etwas ſchoͤn,
ſchiklich, und bequem ſey, das natuͤrlicherweiſe
uns nicht alſo erſcheint, uns erſt gewoͤhnen.
Von dieſem allen iſt nun beim Deutſchen der
Hauptgrund ſein Glaube an die groͤßere Vor¬
nehmigkeit des romaniſirten Auslandes, nebſt
der Sucht, eben ſo vornehm zu thun, und auch
in Deutſchland die Kluft zwiſchen den hoͤhern
Staͤnden, und dem Volke, die im Auslande
natuͤrlich erwuchs, kuͤnſtlich aufzubauen. Es
ſey genug, hier den Grundquell dieſer Auslaͤn¬
derei unter den Deutſchen angegeben zu ha¬
ben; wie ausgebreitet dieſe gewirkt, und daß
alle die Uebel, an denen wir jezt zu Grunde
gegangen, auslaͤndiſchen Urſprungs ſind,
welche freilich nur in der Vereinigung mit
Deutſchem Ernſte, und Einfluß aufs Leben,
L 2[164] das Verderben nach ſich ziehen mußten, wer¬
den wir zu einer andern Zeit zeigen.


Außer dieſen beiden aus dem Grund-Unter¬
ſchiede erfolgenden Erſcheinungen, daß geiſtige
Bildung ins Leben eingreife, oder nicht, und
daß zwiſchen den gebildeten Staͤnden und dem
Volke eine Scheidewand beſtehe, oder nicht,
fuͤhrte ich noch die folgende an, daß das Volk
der lebendigen Sprache Fleiß und Ernſt haben,
und Muͤhe anwenden werde, in allen Dingen,
dagegen das der todten Sprache die geiſtige
Beſchaͤftigung mehr fuͤr ein genialiſches Spiel
halte, und im Geleite ſeiner gluͤcklichen Natur
ſich gehen laſſe. Dieſer Umſtand ergiebt aus
dem oben Geſagten ſich von ſelbſt. Beim Volke
der lebendigen Sprache geht die Unterſuchung
aus von einem Beduͤrfniſſe des Lebens, welches
durch ſie befriedigt werden ſoll, und erhaͤlt ſo
alle die noͤthigenden Antriebe, die das Leben
ſelbſt bei ſich fuͤhrt. Bei dem der todten will
ſie weiter nichts, denn die Zeit auf eine ange¬
nehme, und dem Sinne fuͤrs Schoͤne angemeſ¬
ſene Weiſe hinbringen, und ſie hat ihren Zweck
vollſtaͤndig erreicht, wenn ſie dies gethan hat.
[165] Bei den Auslaͤndern iſt das lezte faſt nothwen¬
dig; beim Deutſchen, wo dieſe Erſcheinung ſich
einſtellt, iſt das Pochen auf Genie, und gluͤck¬
liche Natur, eine ſeiner unwuͤrdige Auslaͤnderei,
die, ſo wie alle Auslaͤnderei, aus der Sucht
vornehm zu thun, entſteht. Zwar wird in kei¬
nem Volke der Welt ohne einen urſpruͤnglichen
Antrieb im Menſchen, der, als ein uͤberſinnli¬
ches, mit dem auslaͤndiſchen Namen mit Recht
Genius genannt wird, irgend etwas trefliches
entſtehen. Aber dieſer Antrieb fuͤr ſich allein
regt nur die Einbildungskraft an, und entwirft
in ihr uͤber dem Boden ſchwebende, niemals
vollkommen beſtimmte Geſtalten. Daß dieſe
bis auf den Boden des wirklichen Lebens her¬
ab vollendet, und bis zur Haltbarkeit in dieſem
beſtimmt werden, dazu bedarf es des fleißigen,
beſonnenen, und nach einer feſten Regel ein¬
hergehenden Denkens. Genialitaͤt liefert dem
Fleiße den Stoff zur Bearbeitung, und der lezte
wuͤrde ohne die erſte entweder nur das ſchon
bearbeitete, oder nichts, zu bearbeiten haben.
Der Fleiß aber fuͤhret dieſen Stoff, der ohne
ihn ein leeres Spiel bleiben wuͤrde, ins Leben
ein; und ſo vermoͤgen beide nur in ihrer Ver¬
[166] einigung etwas, getrennt aber ſind ſie nichtig.
Nun kann uͤberdies im Volke einer todten
Sprache gar keine wahrhaft erſchaffende Ge¬
nialitaͤt zum Ausbruche kommen, weil es ihnen
am urſpruͤnglichen Bezeichnungsvermoͤgen fehlt,
ſondern ſie koͤnnen nur ſchon angehobnes fort¬
bilden, und in die ganze ſchon vorhandene und
vollendete Bezeichnung verfloͤßen.


Was insbeſondere die groͤßere Muͤhe anbe¬
langt, ſo iſt natuͤrlich, daß dieſe auf das Volk
der lebendigen Sprache falle. Eine lebendige
Sprache kann in Vergleichung mit einer an¬
dern auf einer hohen Stufe der Bildung ſte¬
hen, aber ſie kann niemals in ſich ſelber die¬
jenige Vollendung und Ausbildung erhalten,
die eine todte Sprache gar leichtlich erhaͤlt.
In der lezten iſt der Umfang der Woͤrter ge¬
ſchloſſen, die moͤglichen ſchicklichen Zuſammen¬
ſtellungen derſelben werden allmaͤhlich auch er¬
ſchoͤpft, und ſo muß der, der dieſe Sprache
reden will, ſie eben reden, ſo wie ſie iſt; nach¬
dem er dieſes aber einmal gelernt hat, redet
die Sprache in ſeinem Munde ſich ſelbſt, und
denkt, und dichtet fuͤr ihn. In einer lebendi¬
gen Sprache aber, wenn nur in ihr wirklich
[167] gelebt wird, vermehren und veraͤndern die
Worte, und ihre Bedeutungen ſich immerfort,
und eben dadurch werden neue Zuſammenſtel¬
lungen moͤglich, und die Sprache, die niemals
iſt, ſondern ewig fort wird, redet ſich nicht
ſelbſt, ſondern wer ſie gebrauchen will, muß
eben ſelber nach ſeiner Weiſe, und ſchoͤpferiſch
fuͤr ſein Beduͤrfniß, ſie reden. Ohne Zweifel
erfordert das lezte weit mehr Fleiß und Uebun¬
gen, denn das erſte. Eben ſo gehen, wie
ſchon oben geſagt, die Unterſuchungen des
Volks einer lebendigen Sprache bis auf die
Wurzel der Ausſtroͤmung der Begriffe aus der
geiſtigen Natur ſelbſt; dagegen die einer tod¬
ten Sprache nur einen fremden Begriff zu
durchdringen, und ſich begreiflich zu machen
ſuchen, und ſo in der That nur geſchichtlich,
und auslegend, jene erſten aber wahrhaft phi¬
loſophiſch ſind. Es begreift ſich, daß eine
Unterſuchung von der lezten Art eher, und
leichter abgeſchloſſen werden moͤge, denn eine
von der erſten.


Nach allem wird der auslaͤndiſche Genius
die betretenen Heerbahnen des Alterthums mit
Blumen beſtreuen, und der Lebensweisheit,
[168] die leicht ihm fuͤr Philoſophie gelten wird, ein
zierliches Gewand weben; dagegen wird der
deutſche Geiſt neue Schachten eroͤfnen, und
Licht und Tag einfuͤhren in ihre Abgruͤnde,
und Felsmaſſen von Gedanken ſchleudern, aus
denen die kuͤnftigen Zeitalter ſich Wohnungen
erbauen. Der auslaͤndiſche Genius wird ſeyn
ein lieblicher Sylphe, der mit leichtem Fluge
uͤber den ſeinem Boden von ſelbſt entkeimten
Blumen hinſchwebt, und ſich niederlaͤßt auf
dieſelben, ohne ſie zu beugen, und ihren er¬
quikenden Thau in ſich zieht; oder eine Biene,
die aus denſelben Blumen mit geſchaͤftiger
Kunſt den Honig ſammlet, und ihn in regel¬
maͤßig gebauten Zellen zierlich geordnet nieder¬
legt; der deutſche Geiſt ein Adler, der mit Ge¬
walt ſeinen gewichtigen Leib emporreißt, und
mit ſtarkem, und vielgeuͤbten Fluͤgel viel Luft
unter ſich bringt, um ſich naͤher zu heben der
Sonne, deren Anſchauung ihn entzuͤkt.


Um alles bisher Geſagte in Einen Haupt¬
geſichtspunkt zuſammenzufaſſen. In Bezie¬
hung auf die Bildungsgeſchichte uͤberhaupt
eines Menſchengeſchlechts, das hiſtoriſch in ein
Alterthum und in eine neue Welt zerfallen iſt,
[169] werden zur urſpruͤnglichen Fortbildung dieſer
neuen Welt im großen und ganzen die beiden
beſchriebenen Hauptſtaͤmme ſich alſo verhalten.
Der auslaͤndiſch gewordene Theil der friſchen
Nation hat durch ſeine Annahme der Sprache
des Alterthums eine weit groͤßere Verwand¬
ſchaft zu dieſem erhalten. Es wird dieſem
Theile anfangs weit leichter werden, die
Sprache deſſelben auch in ihrer erſten und un¬
veraͤnderten Geſtalt zu erfaſſen, in die Denkmale
ihrer Bildung einzudringen, und in dieſelben
ohngefaͤhr ſo viel friſches Leben zu bringen,
daß ſie ſich an das entſtandene neue Leben anfuͤ¬
gen koͤnnen. Kurz es wird von ihnen das
Studium des klaſſiſchen Alterthums uͤber das
neuere Europa ausgegangen ſeyn. Von den
ungeloͤßt gebliebenen Aufgaben deſſelben begei¬
ſiert, wird es dieſelben fortbearbeiten, aber
freilich nur alſo, wie man eine, keinesweges
durch ein Beduͤrfniß des Lebens, ſondern durch
bloße Wißbegier gegebene Aufgabe bearbeitet,
leicht ſie nehmend, nicht mit ganzem Gemuͤthe
ſondern nur mit der Einbildungskraft ſie er¬
faſſend, und lediglich in dieſer zu einem lufti¬
gen Leibe ſie geſtaltend. Bei dem Reichthume
[170] des Stoffs, den das Alterthum hinterlaſſen,
bei der Leichtigkeit, mit der in dieſer Weiſe ſich
arbeiten laͤßt, werden ſie eine Fuͤlle ſolcher
Bilder in den Geſichtskreis der neuen Welt
einfuͤhren. Dieſe ſchon in die neue Form ge¬
ſtalteten Bilder der alten Welt, angekommen
bei demjenigen Theile des Urſtamms, der durch
beibehaltne Sprache im Fluſſe urſpruͤnglicher
Bildung blieb, werden auch deſſen Aufmerk¬
ſamkeit, und Selbſtthaͤtigkeit reizen, ſie, welche
vielleicht, wenn ſie in der alten Form geblieben
waͤren, unbeachtet, und unvernommen vor ihm
voruͤbergegangen waͤren. Aber er wird, ſo
gewiß er ſie nur wirklich erfaßt, und nicht etwa
nur ſie weiter giebt von Hand in Hand, die¬
ſelben erfaſſen gemaͤß ſeiner Natur, nicht im
bloßen Wiſſen eines fremden, ſondern als
Beſtandtheil eines Lebens; und ſo ſie aus dem
Leben der neuen Welt nicht nur ableiten, ſon¬
dern ſie auch in daſſelbe wiederum einfuͤhren,
verkoͤrpernd die vorher bloß luftigen Geſtalten
zu gediegenen, und im wirklichen Lebens-
Elemente haltbaren Leibern.


In dieſer Verwandlung, die das Ausland
ſelbſt ihm zu geben niemals vermocht haͤtte,
[171] erhaͤlt nun dieſes es von ihnen zuruͤck, und ver¬
mittelſt dieſes Durchganges allein wird eine
Fortbildung des Menſchengeſchlechts auf der
Bahn des Alterthums, eine Vereinigung der
beiden Haupthaͤlften, und ein regelmaͤßiger
Fortfluß der menſchlichen Entwiklung moͤglich.
In dieſer neuen Ordnung der Dinge wird
das Mutterland nicht eigentlich erfinden, ſon¬
dern im kleinſten, wie im groͤßten, wird es
immer bekennen muͤſſen, daß es durch irgend
einen Wink des Auslandes angeregt worden,
welches Ausland ſelbſt wieder angeregt wurde
durch die Alten; aber das Mutterland wird
ernſthaft nehmen, und ins Leben einfuͤhren,
was dort nur obenhin, und fluͤchtig entwor¬
fen wurde. An treffenden und tiefgreifenden
Beiſpielen dieſes Verhaͤltniß darzulegen, iſt,
wie ſchon oben geſagt, hier nicht der Ort,
und wir behalten es uns vor auf die kuͤnf¬
tige Rede.


Beide Theile der gemeinſamen Nation
blieben auf dieſe Weiſe Eins, und nur in
dieſer Trennung und Einheit zugleich ſind ſie
ein Pfropf-Reis auf dem Stamme der al¬
terthuͤmlichen Bildung, welche leztere außer¬
[172] dem durch die neue Zeit abgebrochen ſeyn,
und die Menſchheit ihren Weg von vorn wie¬
der angefangen haben wuͤrde. In dieſen ih¬
ren, beim Ausgangspunkte verſchiedenen, am
Ziele zuſammenlaufenden Beſtimmungen muͤſſen
nun beide Theile, jeder ſich ſelbſt, und den
andern, erkennen, und denſelben gemaͤß ein¬
ander benutzen; beſonders aber jeder den an¬
deren zu erhalten, und in ſeiner Eigenthuͤm¬
lichkeit unverfaͤlſcht zu laſſen, ſich bequemen:
wenn es mit allſeitiger, und vollſtaͤndiger
Bildung des Ganzen einen guten Fortgang
haben ſoll. Was dieſe Erkenntniß anbelangt,
ſo duͤrfte dieſelbe wohl vom Mutterlande, als
welchem zunaͤchſt der Sinn fuͤr die Tiefe ver¬
liehen iſt, ausgehen muͤſſen. Wenn aber in
ſeiner Blindheit fuͤr ſolche Verhaͤltniſſe, und
fortgeriſſen von oberflaͤchlichem Scheine, das
Ausland jemals darauf ausgehen ſollte, ſein
Mutterland der Selbſtſtaͤndigkeit zu berauben,
und es dadurch zu vernichten und aufzuneh¬
men in ſich, ſo wuͤrde daſſelbe, wenn ihm
dieſer Vorſatz gelaͤnge, dadurch fuͤr ſich ſelbſt
die lezte Ader zerſchneiden, durch die es bisher
noch zuſammenhing mit der Natur und dem
[173] Leben, und es wuͤrde gaͤnzlich anheim fallen,
dem geiſtigen Tode, der ohne dies im Fort¬
gange der Zeiten immer ſichtbarer als ſein
Weſen ſich offenbart hat; ſodann waͤre der
bisher noch ſtetig fortgegangene Fluß der
Bildung unſers Geſchlechts in der That be¬
ſchloſſen, und die Barbarei muͤßte wieder be¬
ginnen, und ohne Rettung fortſchreiten, ſo
lange, bis wir insgeſammt wieder in Hoͤhlen
lebten, wie die wilden Thiere, und gleich ih¬
nen uns untereinander aufzehrten. Daß dies
wirklich alſo ſey, und nothwendig alſo erfol¬
gen muͤſſe, kann freilich nur der Deutſche
einſehen, und er allein ſoll es auch: Dem
Auslaͤnder, der, da er keine fremde Bildung
kennt, unbegraͤnztes Feld hat ſich in der ſei¬
nigen zu bewundern, muß es, und mag es
immer erſcheinen als eine abgeſchmakte Laͤſte¬
rung der ſchlecht unterrichteten Unwiſſenheit.


Das Ausland iſt die Erde, aus welcher
fruchtbare Duͤnſte ſich abſondern, und ſich em¬
porheben zu den Wolken, und durch welche auch
noch die in den Tartarus verwieſenen alten
Goͤtter zuſammenhaͤngen mit dem Umkreiſe des
Lebens. Das Mutterland iſt der jene umge¬
[174] bende ewige Himmel, an welchem die leich¬
ten Duͤnſte ſich verdichten zu Wolken, die,
durch des Donnerers aus andrer Welt ſtam¬
menden Blitzſtrahl geſchwaͤngert, herabfallen
als befruchtender Regen, der Himmel und
Erde vereinigt, und die im erſten einheimi¬
ſchen Gaben auch dem Schooße der letztern
entkeimen laͤßt. Wollen neue Titanen aber¬
mals den Himmel erſtuͤrmen? Er wird fuͤr
ſie nicht Himmel ſeyn, denn ſie ſind Erdge¬
borne; es wird ihnen bloß der Anblick und
die Einwirkung des Himmels entruͤckt wer¬
den, und nur ihre Erde als eine kalte fin¬
ſtere und unfruchtbare Behauſung ihnen zu¬
ruͤckbleiben. Aber was vermochte, ſagt ein
roͤmiſcher Dichter, was vermoͤchte ein Ty¬
phoͤus, oder der gewaltige Mimas, oder Por¬
phyrion in drohender Stellung, oder Rhoͤ¬
tus, oder der kuͤhne Schleuderer ausgeriſſe¬
ner Baumſtaͤmme, Enceladus, wenn ſie ſich
ſtuͤrzen gegen Pallas toͤnenden Schild. Die¬
ſer ſelbige Schild iſt es, der ohne Zweifel
auch uns decken wird, wenn wir es verſte¬
hen, uns unter ſeinen Schutz zu begeben.


[175]

Anmerkung zu S. 162.


Auch uͤber den groͤßern oder geringern Wohllaut
einer Sprache, ſollte, unſers Erachtens, nicht nach
dem unmittelbaren Eindrucke, der von ſo vielen Zu¬
faͤlligkeiten abhaͤngt, entſchieden werden, ſondern es
muͤßte ſich auch ein ſolches Urtheil auf feſte Grundſaͤtze
zuruͤckfuͤhren laſſen. Das Verdienſt einer Sprache
in dieſer Ruͤckſicht wuͤrde ohne Zweifel darein zu ſetzen
ſeyn, daß ſie zufoͤrderſt das Vermoͤgen des menſchli¬
chen Sprachwerkzeugs erſchoͤpfte, und umfaſſend dar¬
ſtellte, ſodann, daß ſie die einzelnen Laute deſſelben
zu einer naturgemaͤßen, und ſchiklichen Verfließung in
einander verbaͤnde. Es geht ſchon hieraus hervor,
daß Nationen, die ihre Sprachwerkzeuge nur halb
und einſeitig ausbilden, und gewiſſe Laute, oder Zu¬
ſammenſetzungen, unter Vorwand der Schwierigkeit
oder des Uebelklanges vermeiden, und denen leicht¬
lich nur das, was ſie zu hoͤren gewohnt ſind, und her¬
vorbringen koͤnnen, wohl klingen duͤrfte, bei einer
ſolchen Unterſuchung keine Stimme haben.


Wie nun, jene hoͤheren Grundſaͤtze vorausgeſetzt,
das Urtheil uͤber die Deutſche Sprache in dieſer Ruͤk¬
ſicht ausfallen werde, mag hier unentſchieden bleiben.
Die Roͤmiſche Stammſprache ſelbſt wird von jeder
Neu-Europaͤiſchen Nation ausgeſprochen nach derſel¬
ben eignen Mundart, und ihre wahre Ausſprache duͤrfte
ſich nicht leicht wieder herſtellen laſſen. Es bliebe
demnach nur die Frage uͤbrig, ob denn, den Neulatei¬
[176] niſchen Sprachen gegen uͤber, die Deutſche ſo uͤbel,
hart, und rauh toͤne, wie einige zu glauben geneigt
ſind?


Bis einmal dieſe Frage gruͤndlich entſchieden wer¬
de, mag wenigſtens vorlaͤufig erklaͤrt werden, wie es
komme, daß Auslaͤndern, und ſelbſt Deutſchen, auch
wenn ſie unbefangen ſind, und ohne Vorliebe oder
Haß, dieſes alſo ſcheine. — Ein noch ungebildetes Volk
von ſehr regſamer Einbildungskraft, bei großer Kind¬
lichkeit des Sinnes, und Freiheit von National-Eitel¬
keit (die Germanier ſcheinen dieſes alles geweſen zu
ſeyn) wird angezogen durch die Ferne, und verſetzt
gern in dieſe, in entlegene Laͤnder, und ferne Inſeln,
die Gegenſtaͤnde ſeiner Wuͤnſche, und die Herrlichkei¬
ten, die es ahnet. Es entwickelt ſich in ihm ein Ro¬
mantiſcher
Sinn (das Wort erklaͤrt ſich ſelbſt, und
koͤnnte nicht paſſender gebildet ſeyn). Laute und
Toͤne aus jenen Gegenden treffen nun auf dieſen
Sinn, und regen ſeine ganze Wunderwelt auf, und
darum gefallen ſie.


Daher mag es kommen, daß unſre ausgewander¬
ten Landsleute ſo leicht die eigne Sprache fuͤr die
fremde aufgaben, und daß noch bis jetzt uns, ihren
ſehr entfernten Anverwandten, jene Toͤne ſo wunder¬
bar gefallen.


[177]

Sechſte Rede.


Darlegung der deutſchen Grundzuͤge
in der Geſchichte
.

Welche Haupt-Unterſchiede ſeyn wuͤrden zwi¬
ſchen einem Volke, das in ſeiner urſpruͤngli¬
chen Sprache ſich fortgebildet, und einem ſol¬
chen, das eine fremde Sprache angenommen,
iſt in der vorigen Rede auseinander geſezt.
Wir ſagten bei dieſer Gelegenheit: was das
Ausland betreffe, ſo wollten wir dem eignen
Urtheile jedweden Beobachters die Entſchei¬
dung uͤberlaſſen, ob in demſelben diejenigen
Erſcheinungen wirklich eintraͤten, die zufolge
unſrer Behauptungen darin eintreten muͤßten;
M[178] was aber die Deutſchen betrift, machten wir
uns anheiſchig darzulegen, daß dieſe ſich wirk¬
lich alſo geaͤußert, wie unſern Behauptungen
zufolge das Volk einer Urſprache ſich aͤußern
muͤſſe. Wir gehen heute an die Erfuͤllung un¬
ſers Verſprechens, und zwar legen wir das
zu erweiſende zunaͤchſt dar an der lezten gro¬
ßen, und in gewiſſem Sinne, vollendeten Welt-
That des deutſchen Volkes, an der kirchlichen
Reformation.


Das aus Aſien ſtammende, und durch ſeine
Verderbung erſt recht aſiatiſch gewordene, nur
ſtumme Ergebung und blinden Glauben pre¬
digende Chriſtenthum war ſchon fuͤr die Roͤ¬
mer etwas fremdartiges, und auslaͤndiſches; es
wurde niemals von ihnen wahrhaft durchdrun¬
gen, und angeeignet, und theilte ihr Weſen
in zwei nicht an einander paſſende Haͤlften;
wobei jedoch die Anfuͤgung des fremden Theils
durch den angeſtammten ſchwermuͤthigen Aber¬
glauben vermittelt wurde. An den eingewan¬
derten Germaniern erhielt dieſe Religion Zoͤg¬
linge, in denen keine fruͤhere Verſtandesbil¬
dung ihr hinderlich war, aber auch kein ange¬
[179] ſtammter Aberglaube ſie beguͤnſtigte, und ſo
wurde ſie denn an dieſelben gebracht, als ein
zum Roͤmer, das ſie nun einmal ſeyn wollten,
eben auch gehoͤriges Stuͤk, ohne ſonderlichen
Einfluß auf ihr Leben. Daß dieſe chriſtlichen
Erzieher von der alt Roͤmiſchen Bildung, und
dem Sprachverſtaͤndniſſe, als dem Behaͤlter
derſelben, nicht mehr an dieſe Neubekehrten
kommen ließen, als mit ihren Abſichten ſich
vertrug, verſteht ſich von ſelbſt; und auch hierin
liegt ein Grund des Verfalls und der Ertoͤdtung
der Roͤmiſchen Sprache in ihrem Munde. Als
ſpaͤterhin die aͤchten und unverfaͤlſchten Denk¬
male der alten Bildung in die Haͤnde dieſer
Voͤlker fielen, und dadurch der Trieb, ſelbſt¬
thaͤtig zu denken, und zu begreifen, in ihnen
angeregt wurde, ſo mußte, da ihnen theils die¬
ſer Trieb neu und friſch war, theils kein ange¬
ſtammtes Erſchrecken vor den Goͤttern ihm
das Gegengewicht hielt, der Widerſpruch eines
blinden Glaubens, und der ſonderbaren Dinge,
welche im Verlaufe der Zeiten zu Gegenſtaͤnden
deſſelben geworden waren, dieſelben weit haͤr¬
ter treffen, denn ſogar die Roͤmer, als an dieſe
M 2[180] zuerſt das Chriſtenthum kam. Einleuchten
des vollkommnen Widerſpruchs aus demjeni¬
gen, woran man bisher treuherzig geglaubt
hat, erregt Lachen; die welche das Raͤthſel ge¬
loͤßt hatten, lachten, und ſpotteten, und die
Prieſter ſelbſt, die es ebenfalls geloͤſt hatten,
lachten mit, geſichert dadurch, daß nur ſehr
wenigen der Zugang zur alterthuͤmlichen Bil¬
dung, als dem Loͤſungsmittel des Zaubers,
offen ſtehe. Ich deute hiemit vorzuͤglich auf
Italien, als den damaligen Hauptſiz der neu-
Roͤmiſchen Bildung, hinter welchem die uͤbri¬
gen neu Roͤmiſchen Staͤmme in jeder Ruͤkſicht
noch ſehr weit zuruͤk waren.


Sie lachten des Truges, denn es war kein
Ernſt in ihnen, den er erbittert haͤtte; ſie wur¬
den durch dieſen ausſchließenden Beſitz einer
ungemeinen Erkenntniß um ſo ſicherer ein vor¬
nehmer und gebildeter Stand, und mochten es
wohl leiden, daß der große Haufe, fuͤr den ſie
kein Gemuͤth hatten, dem Truge ferner Preiß
gegeben, und ſo auch fuͤr ihre Zwecke folgſamer
erhalten bliebe. Alſo nun, daß das Volk be¬
trogen werde, der Vornehmere den Betrug
[181] nuͤtze, und ſein lache, konnte es fortbeſtehen:
und es wuͤrde wahrſcheinlich, wenn in der
neuen Zeit nichts vorhanden geweſen waͤre,
außer Neu-Roͤmer, alſo fortbeſtanden haben
bis ans Ende der Tage.


Sie ſehen hier einen klaren Beleg zu dem,
was fruͤher uͤber die Fortſetzung der alten Bil¬
dung durch die neue, und uͤber den Antheil,
den die Neu-Roͤmer daran zu haben vermoͤgen,
geſagt wurde. Die neue Klarheit gieng aus
von den Alten, ſie fiel zuerſt in den Mittelpunkt
der neu Roͤmiſchen Bildung, ſie wurde daſelbſt
nur zu einer Verſtandes-Einſicht ausgebildet,
ohne das Leben zu ergreifen, und anders zu
geſtalten.


Nicht laͤnger aber konnte der bisherige
Zuſtand der Dinge beſtehen, ſobald dieſes Licht
in ein in wahrem Ernſte und bis auf das Leben
herab religioͤſes Gemuͤth fiel, und, wenn die¬
ſes Gemuͤth von einem Volke umgeben war,
dem es ſeine ernſtere Anſicht der Sache leicht
mittheilen konnte, und dieſes Volk Haͤupter
fand, welche auf ſein entſchiedenes Beduͤrfniß
etwas gaben. So tief auch das Chriſtenthum
[182] herabſinken mochte, ſo bleibt doch immer in
ihm ein Grundbeſtandtheil, in dem Wahrheit
iſt, und der ein Leben, das nur wirkliches und
ſelbſtſtaͤndiges Leben iſt, ſicher anregt; die
Frage: was ſollen wir thun, damit wir ſeelig
werden. War dieſe Frage auf einen erſtorbe¬
nen Boden gefallen, wo es entweder uͤberhaupt
an ſeinen Ort geſtellt blieb, ob wohl ſo etwas,
wie Seeligkeit im Ernſte moͤglich ſey, oder,
wenn auch das erſte angenommen worden
waͤre, dennoch gar kein feſter und entſchiedener
Wille, ſelbſt auch ſeelig zu werden, vorhanden
war, ſo hatte auf dieſen, Boden die Religion
gleich anfangs nicht eingegriffen in Leben, und
Willen, ſondern ſie war nur als ein ſchwan¬
kender und blaſſer Schatten im Gedaͤchtniſſe,
und in der Einbildungskraft behangen geblie¬
ben; und ſo mußten natuͤrlich auch alle fernere
Aufklaͤrungen uͤber den Zuſtand der vorhande¬
nen Religionsbegriffe gleichfalls ohne Einfluß
auf das Leben bleiben. War hingegen jene
Frage in einen urſpruͤnglich lebendigen Boden
gefallen, ſo daß im Ernſte geglaubt wurde, es
gebe eine Seeligkeit, und der feſte Wille da
[183] war, ſeelig zu werden, und die von der bishe¬
rigen Religion angegebnen Mittel zur Seelig¬
keit mit innigem Glauben, und redlichem Ern¬
ſte in dieſer Abſicht gebraucht worden waren,
ſo mußte, wenn in dieſen Boden, der gerade
durch ſein Ernſtnehmen dem Lichte uͤber die Be¬
ſchaffenheit dieſer Mittel ſich laͤnger verſchloß,
dieſes Licht zulezt dennoch fiel, ein graͤßliches
Entſetzen ſich erzeugen vor dem Betruge um
das Heil der Seele, und die treibende Unruhe,
dieſes Heil auf andere Weiſe zu retten, und
was als in ewiges Verderben ſtuͤrzend erſchien,
konnte nicht ſcherzhaft genommen werden.
Ferner konnte der Einzelne, den zuerſt dieſe
Anſicht ergriffen, keinesweges zufrieden ſeyn,
etwa nur ſeine eigne Seele zu retten, gleich¬
guͤltig uͤber das Wohl aller uͤbrigen unſterbli¬
chen Seelen, indem er, ſeiner tiefern Religion
zufolge, dadurch auch nicht einmal die eigne
Seele gerettet haͤtte; ſondern mit der gleichen
Angſt, die er um dieſe fuͤhlte, mußte er rin¬
gen, ſchlechthin allen Menſchen in der Welt
das Auge zu oͤffnen uͤber die verdammliche
Taͤuſchung.

[184]

Auf dieſe Weiſe nun fiel die Einſicht, die
lange vor ihm ſehr viele Auslaͤnder wohl in
groͤßerer Verſtandesklarheit gehabt hatten, in
das Gemuͤth des Deutſchen Mannes, Luther.
An alterthuͤmlicher, und feiner Bildung, an Ge¬
lehrſamkeit, an andern Vorzuͤgen uͤbertrafen
ihn nicht nur Auslaͤnder, ſondern ſogar viele
in ſeiner Nation. Aber ihn ergriff ein all¬
maͤchtiger Antrieb, die Angſt um das ewige
Heil, und dieſer ward das Leben in ſeinem
Leben, und ſezte immerfort das lezte in die
Waage, und gab ihm die Kraft und die Ga¬
ben, die die Nachwelt bewundert. Moͤgen an¬
dere bei der Reformation irdiſche Zwecke ge¬
habt haben, ſie haͤtten nie geſiegt, haͤtte nicht
an ihrer Spitze ein Anfuͤhrer geſtanden, der
durch das Ewige begeiſtert wurde; daß dieſer,
der immerfort das Heil aller unſterblichen See¬
len auf dem Spiel ſtehen ſah, allen Ernſtes
allen Teufeln in der Hoͤlle furchtlos entgegen
gieng, iſt natuͤrlich, und durchaus kein Wun¬
der. Dies nun iſt ein Beleg von Deutſchem
Ernſt und Gemuͤth.

[185]

Daß Luther mit dieſem rein menſchlichen,
und nur durch jeden ſelbſt zu beſorgenden, An¬
liegen an alle, und zunaͤchſt an die Geſammt¬
heit ſeiner Nation ſich wendete, lag, wie ge¬
ſagt, in der Sache. Wie nahm nun ſein Volk
dieſen Antrag auf? Blieb es in ſeiner dumpfen
Ruhe, gefeſſelt an den Boden durch irdiſche
Geſchaͤfte, und ungeſtoͤrt fortgehend den ge¬
wohnten Gang, oder erregte die nicht alltaͤg¬
liche Erſcheinung gewaltiger Begeiſterung bloß
ſein Gelaͤchter? Keinesweges, ſondern es wurde
wie durch ein fortlaufendes Feuer ergriffen von
derſelben Sorge fuͤr das Heil der Seele, und
dieſe Sorge eroͤfnete ſchnell auch ihr Auge der
vollkommnen Klarheit, und ſie nahmen auf im
Fluge das ihnen Dargebotene. War dieſe Be¬
geiſterung nur eine augenblickliche Erhebung der
Einbildungskraft, die im Leben, und gegen
deſſen ernſthafte Kaͤmpfe und Gefahren nicht
Stand hielt? Keinesweges, ſie entbehrten al¬
les, und trugen alle Martern, und kaͤmpften
in blutigen zweifelhaften Kriegen, lediglich
damit ſie nicht wieder unter die Gewalt des
verdammlichen Papſtthums geriethen, ſondern
[186] ihnen und ihren Kindern fort das allein ſeelig¬
machende Licht des Evangeliums ſchiene; und
es erneuten ſich an ihnen in ſpaͤter Zeit alle
Wunder, die das Chriſtenthum bei ſeinem Be¬
ginnen an ſeinen Bekennern darlegte. Alle
Aeußerungen jener Zeit ſind erfuͤllt von dieſer
allgemein verbreiteten Beſorgtheit um die See¬
ligkeit. Sehen Sie hier einen Beleg von der
Eigenthuͤmlichkeit des Deutſchen Volkes. Es
iſt durch Begeiſterung zu jedweder Begeiſte¬
rung, und jedweder Klarheit, leicht zu erheben,
und ſeine Begeiſterung haͤlt aus fuͤr das Leben,
und geſtaltet daſſelbe um.


Auch fruͤher, und anderwaͤrts hatten Re¬
formatoren Haufen des Volks begeiſtert, und
ſie zu Gemeinen verſammelt, und gebildet;
dennoch erhielten dieſe Gemeinen keinen feſten,
und auf dem Boden der bisherigen Ver¬
faſſung gegruͤndeten Beſtand, weil die Volks¬
haͤupter und Fuͤrſten der bisherigen Ver¬
faſſung nicht auf ihre Seite traten. Auch
der Reformation durch Luther ſchien Anfangs
kein guͤnſtigeres Schickſal beſtimmt. Der
weiſe Churfuͤrſt, unter deſſen Augen ſie be¬
[187] gann, ſchien mehr im Sinne des Auslandes
als in dem deutſchen weiſe zu ſeyn; er ſchien
die eigentliche Streitfrage nicht ſonderlich ge¬
faßt zu haben, einem Streite zwiſchen zwei
Moͤnchsorden, wie ihm es ſchien, nicht viel
Gewicht beizulegen, und hoͤchſtens bloß um
den guten Ruf ſeiner neu errichteten Uni¬
verſitaͤt beſorgt zu ſeyn. Aber er hatte Nach¬
folger, die, weit weniger weiſe, denn er, von
derſelben ernſtlichen Sorge fuͤr ihre Seelig¬
keit ergriffen wurden, die in ihren Voͤlkern
lebte, und vermittelſt dieſer Gleichheit mit
ihnen verſchmolzen bis zu gemeinſamen Le¬
ben oder Tod, Sieg oder Untergange.


Sehen Sie hieran einen Beleg zu dem
oben angegebnen Grundzuge der Deutſchen,
als einer Geſammtheit, und zu ihrer durch
die Natur begruͤndeten Verfaſſung. Die
großen National- und Welt-Angelegenheiten
ſind bisher durch freiwillig auftretende Red¬
ner an das Volk gebracht worden, und bei
dieſem durchgegangen. Mochten auch ihre
Fuͤrſten anfangs aus Auslaͤnderei, und aus
Sucht vornehm zu thun und zu glaͤnzen, wie
[188] jene, ſich abſondern von der Nation, und
dieſe verlaſſen oder verrathen, ſo wurden ſie
doch ſpaͤter leicht wieder fortgeriſſen zur Ein¬
ſtimmigkeit mit derſelben, und erbarmten ſich
ihrer Voͤlker. Daß das erſte ſtets der Fall
geweſen ſey, werden wir tiefer unten noch
an andern Belegen darthun; daß das leztere
fortdauernd der Fall bleiben moͤge, koͤnnen
wir nur mit heißer Sehnſucht wuͤnſchen.


Ohnerachtet man nun bekennen muß, daß
in der Angſt jenes Zeitalters um das Heil
der Seelen, eine Dunkelheit und Unklarheit
blieb, indem es nicht darum zu thun war,
den aͤußeren Vermittler zwiſchen Gott und
den Menſchen nur zu veraͤndern, ſondern
gar keines aͤußern Mittlers zu beduͤrfen, und
das Band des Zuſammenhanges in ſich ſel¬
ber zu finden; ſo war es doch vielleicht
nothwendig, daß die religioͤſe Ausbildung der
Menſchen im Ganzen durch dieſen Mittel¬
zuſtand hindurch ginge. Luthern ſelbſt hat
ſein redlicher Eifer noch mehr gegeben, denn
er ſuchte, und ihn weit hinausgefuͤhrt uͤber
ſein Lehrgebaͤude. Nachdem er nur die erſten
[189] Kaͤmpfe der Gewiſſensangſt, die ihm ſein
kuͤhnes Losreißen von dem ganzen bisherigen
Glauben verurſachte, beſtanden hatte, ſind
alle ſeine Aeußerungen voll eines Jubels
und Triumphs uͤber die erlangte Freiheit der
Kinder Gottes, welche die Seeligkeit gewiß
nicht mehr außer ſich und jenſeit des Gra¬
bes ſuchten, ſondern der Ausbruch des un¬
mittelbaren Gefuͤhls derſelben waren. Er iſt
hierin das Vorbild aller kuͤnftigen Zeitalter
geworden, und hat fuͤr uns alle vollendet. —
Sehen Sie auch hier einen Grundzug des
deutſchen Geiſtes. Wenn er nur ſucht, ſo
findet er mehr, als er ſuchte; denn er geraͤth
hinein in den Strom lebendigen Lebens, das
durch ſich ſelbſt fortrinnt, und ihn mit ſich
fortreißt.


Dem Pabſtthume, dieſes nach ſeiner eig¬
nen Geſinnung genommen, und beurtheilt,
geſchahe durch die Weiſe, wie die Reforma¬
tion daſſelbe nahm, ohne Zweifel unrecht.
Die Aeußerungen deſſelben waren wohl groͤ߬
tentheils aus der vorliegenden Sprache blind
herausgeriſſen, aſiatiſch redneriſch uͤbertrei¬
[190] bend, gelten ſollend, was ſie koͤnnten, und
rechnend, daß mehr als der gebuͤhrende Ab¬
zug wohl ohne dies werde gemacht werden,
niemals aber ernſtlich ermeſſen, erwogen, oder
gemeint. Die Reformation nahm mit deut¬
ſchem Ernſte ſie nach ihrem vollen Gewichte;
und ſie hatte recht, daß man Alles alſo neh¬
men ſolle, unrecht, wenn ſie glaubte, jene
haͤtten es alſo genommen, und ſie noch an¬
derer Dinge, denn ihrer natuͤrlichen Flachheit
und Ungruͤndlichkeit, bezuͤchtigte. Ueberhaupt
iſt dies die ſtets ſich gleich bleibende Erſchei¬
nung in jedem Streite des deutſchen Ernſtes
gegen das Ausland, ob dieſes ſich nun außer
Landes oder im Lande befinde, daß das lez¬
tere gar nicht begreifen kann, wie man uͤber
ſo gleichguͤltige Dinge, als Worte und Re¬
densarten ſind, ein ſo großes Weſen erheben
moͤge, und daß ſie, aus deutſchem Munde
es wieder hoͤrend, nicht geſagt haben wollen,
was ſie doch geſagt haben, und ſagen, und
immerfort ſagen werden, und uͤber Verlaͤum¬
dung, die ſie Konſequenzmacherei nennen,
klagen, wenn man ihre Aeußerungen in ih¬
[191] rem buchſtaͤblichen Sinne, und als ernſtlich
gemeint, nimmt, und dieſelben betrachtet als
Beſtandtheile einer folgebeſtaͤndigen Denk-
Reihe, die man nun ruͤkwaͤrts nach ihren
Grundſaͤtzen, und vorwaͤrts nach ihren Fol¬
gen herſtellt; indeß man doch vielleicht ſehr
entfernt iſt, ihnen fuͤr die Perſon klares Be¬
wußtſeyn deſſen, was ſie reden, und Folge¬
beſtaͤndigkeit, beizumeſſen. In jener Anmu¬
thung, man muͤſſe eben jedwedes Ding neh¬
men, wie es gemeint ſey, nicht aber etwa
noch daruͤber hinaus das Recht zu meinen,
und laut zu meinen, in Frage ziehen, ver¬
raͤth ſich immer die noch ſo tief verſteckte
Auslaͤnderei.


Dieſer Ernſt, mit welchem das alte Reli¬
gionslehrgebaͤude genommen wurde, noͤthigte
dieſes ſelbſt zu einem groͤßeren Ernſte, als
es bisher gehabt hatte, und zu neuer Pruͤ¬
fung, Umdeutung, Befeſtigung der alten
Lehre, ſo wie zu groͤßerer Behutſamkeit in
Lehre und Leben fuͤr die Zukunft: und die¬
ſes, ſo wie das zunaͤchſtfolgende, ſey Ihnen
ein Beleg von der Weiſe, wie Deutſchland
[192] auf das uͤbrige Europa immer zuruͤkgewirkt
hat. Hierdurch erhielt fuͤr das allgemeine
die alte Lehre wenigſtens diejenige unſchaͤd¬
liche Wirkſamkeit, die ſie, nachdem ſie nun
einmal nicht aufgegeben werden ſollte, haben
konnte; insbeſondere aber ward ſie fuͤr die
Vertheidiger derſelben Gelegenheit und Auf¬
forderung zu einem gruͤndlicheren und folge¬
gemaͤßeren Nachdenken, als bisher ſtatt
gehabt hatte. Davon, daß die in Deutſch¬
land verbeſſerte Lehre auch in das neulatei¬
niſche Ausland ſich verbreitet, und daſelbſt
denſelben Erfolg hoͤherer Begeiſterung her¬
vorgebracht, wollen wir hier, als von einer
voruͤbergehenden Erſcheinung ſchweigen: wie¬
wohl es immer merkwuͤrdig iſt, daß die neue
Lehre in keinem eigentlich neulateiniſchen
Lande zu einem vom Staate anerkannten
Beſtande gekommen; indem es ſcheint, daß
es deutſcher Gruͤndlichkeit bei den Regieren¬
den, und deutſcher Gutmuͤthigkeit beim Volke,
bedurft habe, um dieſe Lehre vertraͤglich mit
der Obergewalt zu finden, und ſie alſo zu
machen.

In[193]

In einer andern Ruͤkſicht aber, und zwar
nicht auf das Volk, ſondern auf die gebilde¬
ten Staͤnde, hat Deutſchland durch ſeine
Kirchen-Verbeſſerung einen allgemeinen und
dauernden Einfluß auf das Ausland gehabt;
und durch dieſen Einfluß dieſes Ausland
wieder zum Vorgaͤnger fuͤr ſich ſelbſt, und
zu ſeinem eignen Anreger zu neuen Schoͤpfun¬
gen ſich zubereitet. Das freie und ſelbſtthaͤ¬
tige Denken, oder die Philoſophie, war ſchon
in den vorhergehenden Jahrhunderten unter
der Herrſchaft der alten Lehre haͤufig ange¬
regt und geuͤbt worden, keinesweges aber,
um aus ſich ſelbſt Wahrheit hervorzubringen,
ſondern nur, um zu zeigen, daß und auf
welche Weiſe die Lehre der Kirche wahr ſey.
Daſſelbe Geſchaͤft in Beziehung auf ihre
Lehre erhielt zunaͤchſt die Philoſophie auch
bei den deutſchen Proteſtanten, und ward bei
dieſen Dienerin des Evangeliums, ſo wie ſie
bei den Scholaſtikern die der Kirche geweſen
war. Im Auslande, das entweder kein
Evangelium hatte, oder daß daſſelbe nicht
mit unvermiſcht deutſcher Andacht und Tiefe
N[194] des Gemuͤths gefaßt hatte, erhob das durch
den erhaltenen glaͤnzenden Triumph ange¬
feuerte freie Denken ſich leichter, und hoͤher,
ohne die Feſſel eines Glaubens an Ueber¬
ſinnliches; aber es blieb in der ſinnlichen
Feſſel des Glaubens an den natuͤrlichen, ohne
Bildung und Sitte aufgewachſenen Verſtand;
und weit entfernt, daß es in der Vernunft
die Quelle auf ſich ſelbſt beruhender Wahr¬
heit entdeckt haͤtte, wurden fuͤr daſſelbe die
Ausſpruͤche dieſes rohen Verſtandes dasje¬
nige, was fuͤr die Scholaſtiker die Kirche,
fuͤr die erſten proteſtantiſchen Theologen das
Evangelium war; ob ſie wahr ſeyen, dar¬
uͤber regte ſich kein Zweifel, die Frage war
bloß, wie ſie dieſe Wahrheit gegen beſtrei¬
tende Anſpruͤche behaupten koͤnnten.


Indem nun dieſes Denken in das Gebiet
der Vernunft, deren Gegenſtreit bedeutender
geweſen ſeyn wuͤrde, gar nicht hineinkam, ſo
fand es keinen Gegner, außer der hiſtoriſch
vorhandenen Religion, und wurde mit dieſer
leicht fertig, indem es ſie an den Maaßſtab
des vorausgeſezten geſunden Verſtandes hielt,
[195] und ſich dabei klar zeigte, daß ſie demſelben
eben widerſpraͤche; und ſo kam es denn,
daß, ſo wie dieſes alles vollkommen ins
Reine gebracht wurde, im Auslande die Be¬
nennung des Philoſophen und die des Ir¬
religioͤſen und Gotteslaͤugners, gleichbedeu¬
tend wurden, und zu gleicher ehrenvoller
Auszeichnung gereichten.


Die verſuchte gaͤnzliche Erhebung uͤber
allen Glauben an fremdes Anſehen, welche
in dieſen Beſtrebungen des Auslandes das
richtige war, wurde den Deutſchen, von de¬
nen ſie vermittelſt der Kirchen-Verbeſſerung
erſt ausgegangen war, zu neuer Anregung.
Zwar ſagten untergeordnete und unſelbſtſtaͤn¬
dige Koͤpfe unter uns dieſe Lehre des Aus¬
landes eben nach — lieber die des Aus¬
landes, wie es ſcheint, als die eben ſo leicht
zu habende ihrer Landsleute, darum, weil
ihnen das erſte vornehmer duͤnkte — und
dieſe Koͤpfe ſuchten, ſo gut es gehen wollte,
ſich ſelber davon zu uͤberzeugen; wo aber
ſelbſtſtaͤndiger deutſcher Geiſt ſich regte, da
genuͤgte das ſinnliche nicht, ſondern es ent¬
N 2[196] ſtand die Ausgabe das, freilich nicht auf
fremdes Anſehen zu glaubende, Ueberſinn¬
liche in der Vernunft ſelbſt aufzuſuchen, und
ſo erſt eigentliche Philoſophie zu erſchaffen,
indem man, wie es ſeyn ſollte, das freie
Denken zur Quelle unabhaͤngiger Wahrheit
machte. Dahin ſtrebte Leibniz, im Kampfe mit
jener auslaͤndiſchen Philoſophie; dies erreichte
der eigentliche Stifter der neuen deutſchen
Philoſophie, nicht ohne das Geſtaͤndniß, durch
eine Aeußerung des Auslandes, die inzwi¬
ſchen tiefer genommen worden, als ſie ge¬
meint geweſen, angeregt worden zu ſeyn.
Seitdem iſt unter uns die Aufgabe vollſtaͤn¬
dig geloͤßt, und die Philoſophie vollendet wor¬
den, welches man indeſſen ſich begnuͤgen
muß, zu ſagen, bis ein Zeitalter kommt,
das es begreift. Dies vorausgeſezt, ſo waͤre
abermals durch Anregung des durch das
Neuroͤmiſche Ausland hindurch gegangenen
Alterthums im Deutſchen Mutterlande die
Schoͤpfung eines vorher durchaus nicht dage¬
weſenen neuen erfolgt.


Unter den Augen der Zeitgenoſſen hat
[197] das Ausland eine andere Aufgabe der Ver¬
nunft und der Philoſophie an die neue Welt,
die Errichtung des vollkommnen Staats,
leicht, und mit feuriger Kuͤhnheit ergriffen,
und kurz darauf dieſelbe alſo fallen laſſen,
daß es durch ſeinen jetzigen Zuſtand genoͤ¬
thiget iſt, den bloßen Gedanken der Aufgabe
als ein Verbrechen zu verdammen, und alles
anwenden muͤßte, um, wenn es koͤnnte, jene
Beſtrebungen aus den Jahrbuͤchern ſeiner
Geſchichte auszutilgen. Der Grund dieſes
Erfolgs liegt am Tage: Der vernunftge¬
maͤße Staat laͤßt ſich nicht durch kuͤnſtliche
Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe
aufbauen, ſondern die Nation muß zu dem¬
ſelben erſt gebildet, und herauferzogen wer¬
den. Nur diejenige Nation, welche zufoͤr¬
derſt die Aufgabe der Erziehung zum voll¬
kommnen Menſchen, durch die wirkliche Aus¬
uͤbung, geloͤßt haben wird, wird ſodann auch
jene des vollkommnen Staats loͤſen.


Auch die zulezt genannte Aufgabe der Er¬
ziehung iſt ſeit unſrer Kirchen-Verbeſſerung
vom Auslande geiſtvoll, aber im Sinne
[198] ſeiner Philoſophie, mehrmals in Anregung
gebracht worden, und dieſe Anregungen ha¬
ben unter uns fuͤrs erſte Nachtreter und
Uebertreiber gefunden. Bis zu welchem
Punkte endlich in unſern Tagen abermals
deutſches Gemuͤth dieſe Sache gebracht,
werden wir zu ſeiner Zeit ausfuͤhrlicher
berichten.


Sie haben an dem Geſagten eine klare
Ueberſicht der geſammten Bildungsgeſchichte
der neuen Welt, und des ſich immer gleich
bleibenden Verhaͤltniſſes der verſchiedenen
Beſtandtheile der lezten zur erſten. Wahre
Religion, in der Form des Chriſtenthums,
war der Keim der neuen Welt, und ihre
Geſammt-Aufgabe die, dieſe Religion in
die vorhandene Bildung des Alterthums zu
verfloͤßen, und die lezte dadurch zu vergei¬
ſtigen, und zu heiligen. Der erſte Schritt
auf dieſem Wege war, das die Freiheit rau¬
bende aͤußere Anſehen der Form dieſer Re¬
ligion von ihr abzuſcheiden, und auch in
ſie das freie Denken des Alterthums ein¬
zufuͤhren. Es regte an zu dieſem Schritte
[199] das Ausland, der Deutſche that ihn. Der
zweite, der eigentlich die Fortſetzung und
Vollendung des erſten iſt, der, dieſe Reli¬
gion, und mit ihr alle Weisheit in uns ſel¬
ber aufzufinden. Auch ihn vorbereitete das
Ausland, und vollzog der Deutſche. Der
dermalen in der ewigen Zeit an der Tages-
Ordnung ſich befindende Fortſchritt iſt die
vollkommne Erziehung der Nation zum Men¬
ſchen. Ohnedies wird die gewonnene Philo¬
ſophie nie ausgedehnte Verſtaͤndlichkeit, viel¬
weniger noch allgemeine Anwendbarkeit im
Leben finden; ſo wie hinwiederum ohne
Philoſophie die Erziehungskunſt niemals zu
vollſtaͤndiger Klarheit in ſich ſelbſt gelangen
wird. Beide greifen daher in einander, und
ſind, eins ohne das andere, unvollſtaͤndig
und unbrauchbar. Schon allein darum, weil
der Deutſche bisher alle Schritte der Bil¬
dung zur Vollendung gebracht, und er eigent¬
lich dazu aufbewahrt worden iſt in der
neuen Welt, kommt ihm daſſelbe auch mit
der Erziehung zu; wie aber dieſe einmal in
Ordnung gebracht iſt, wird es ſich mit den
[200] uͤbrigen Angelegenheiten der Menſchheit leicht
ergeben.


In dieſem Verhaͤltniſſe alſo hat wirklich
die Deutſche Nation zur Fortbildung des
menſchlichen Geſchlechts in der neuen Zeit
bisher geſtanden. Noch iſt uͤber eine ſchon
zweimal fallen gelaſſene Bemerkung uͤber den
naturgemaͤßen Hergang, den dieſe Nation
hiebei genommen, daß nemlich in Deutſchland
alle Bildung vom Volke ausgegangen, mehr
Licht zu verbreiten. Daß die Angelegenheit
der Kirchen-Verbeſſerung zuerſt an das Volk
gebracht worden, und allein dadurch, daß es
deſſelben Angelegenheit geworden, gelungen
ſey, haben wir ſchon erſehen. Aber es iſt
ferner darzuthun, daß dieſer einzelne Fall
nicht Ausnahme, ſondern daß er die Regel
geweſen.


Die im Mutterlande zuruͤckgebliebenen
Deutſchen hatten alle Tugenden, die ehemals
auf ihrem Boden zu Hauſe waren, beibe¬
halten, Treue, Biederkeit, Ehre, Einfalt;
aber ſie hatten von Bildung zu einem hoͤhern
[201] und geiſtigen Leben nicht mehr erhalten, als
das damalige Chriſtenthum, und ſeine Leh¬
rer, an zerſtreut wohnende Menſchen bringen
konnten. Dies war wenig, und ſie ſtanden
ſo gegen ihre ausgewanderten Stammver¬
wandten zuruͤk, und waren in der That zwar
brav und bieder, aber dennoch halb Barba¬
ren. Es entſtanden unter ihnen indeſſen
Staͤdte, die durch Glieder aus dem Volke
errichtet wurden. In dieſen entwickelte ſich
ſchnell jeder Zweig des gebildeten Lebens zur
ſchoͤnſten Bluͤthe. In ihnen entſtanden,
zwar auf Kleines berechnete, dennoch aber
trefliche buͤrgerliche Verfaſſungen, und Ein¬
richtungen, und von ihnen aus verbreitete
ſich ein Bild von Ordnung und eine Liebe
derſelben erſt uͤber das uͤbrige Land. Ihr
ausgebreiteter Handel half die Welt ent¬
decken. Ihren Bund fuͤrchteten Koͤnige.
Die Denkmaͤler ihrer Baukunſt dauern noch,
haben der Zerſtoͤrung von Jahrhunderten ge¬
trozt, die Nachwelt ſteht bewundernd vor
ihnen, und bekennt ihre eigene Ohnmacht.

[202]

Ich will dieſe Buͤrger der deutſchen
Reichsſtaͤdte des Mittelalters nicht verglei¬
chen mit den andern ihnen gleichzeitigen
Staͤnden, und nicht fragen, was indeſſen
der Adel that, und die Fuͤrſten; aber in
Vergleich mit den uͤbrigen Germaniſchen
Nationen, einige Striche Italiens abgerech¬
net, hinter welchen ſelbſt jedoch in den
ſchoͤnen Kuͤnſten die Deutſchen nicht zuruͤck¬
blieben, in den nuͤzlichen ſie uͤbertrafen, und
ihre Lehrer wurden, — dieſe abgerechnet
waren nun dieſe deutſchen Buͤrger die gebil¬
deten, und jene die Barbaren. Die Ge¬
ſchichte Deutſchlands, deutſcher Macht, deut¬
ſcher Unternehmungen, Erfindungen, Denk¬
male, Geiſtes, iſt in dieſem Zeitraume ledig¬
lich die Geſchichte dieſer Staͤdte, und
alles uͤbrige, als da ſind Laͤnderverpfaͤndun¬
gen, und Wiedereinloͤſungen, und derglei¬
chen, iſt nicht des Erwaͤhnens werth. Auch
iſt dieſer Zeitpunkt der einzige in der
Deutſchen Geſchichte, in der dieſe Nation
glaͤnzend und ruhmvoll, und mit dem Range,
der ihr als Stammvolk gebuͤhrt, daſteht;
[203] ſo wie ihre Bluͤthe durch die Habſucht und
Herrſucht der Fuͤrſten zerſtoͤrt, und ihre Frei¬
heit zertreten wird, ſinkt das Ganze allmaͤh¬
lich immer tiefer herab, und geht entge¬
gen dem gegenwaͤrtigen Zuſtande; wie aber
Deutſchland herabſinkt, ſieht man das uͤbrige
Europa eben alſo ſinken, in Ruͤkſicht deſſen,
was das Weſen betrifft, und nicht den blo¬
ßen aͤußern Schein.


Der entſcheidende Einfluß dieſes in der
That herrſchenden Standes auf die Entwik¬
lung der deutſchen Reichsverfaſſung, auf die
Kirchen-Verbeſſerung, und auf alles, was je¬
mals die deutſche Nation bezeichnete, und
von ihr ausgieng in das Ausland, iſt al¬
lenthalben unverkennbar, und es laͤßt ſich
nachweiſen, daß alles, was noch jezt ehrwuͤr¬
diges iſt unter den Deutſchen, in ſeiner Mitte
entſtanden iſt.


Und mit welchem Geiſte brachte hervor,
und genoß dieſer Deutſche Stand dieſe Bluͤ¬
the? Mit dem Geiſte der Froͤmmigkeit, der
Ehrbarkeit, der Beſcheidenheit, des Gemein¬
[204] ſinnes. Fuͤr ſich ſelbſt bedurften ſie wenig,
fuͤr oͤffentliche Unternehmungen machten ſie
unermeßlichen Aufwand. Selten ſteht irgend¬
wo ein einzelner Name hervor, und zeichnet
ſich aus, weil alle gleichen Sinnes waren,
und gleicher Aufopferung fuͤr das Gemein¬
ſame. Ganz unter denſelben aͤußern Bedin¬
gungen, wie in Deutſchland, waren auch in
Italien freie Staͤdte entſtanden. Man ver¬
gleiche die Geſchichten beider; man halte die
fortwaͤhrenden Unruhen, die innern Zwiſte,
ja Kriege, den beſtaͤndigen Wechſel der Ver¬
faſſungen, und der Herrſcher, in den erſten,
gegen die friedliche Ruhe, und Eintracht in
den leztern. Wie konnte klaͤrer ſich ausſpre¬
chen, daß ein innerlicher Unterſchied in den
Gemuͤthern der beiden Nationen geweſen ſeyn
muͤſſe? Die Deutſche Nation iſt die einzige
unter den Neu-Europaͤiſchen Nationen, die
es an ihrem Buͤrgerſtande ſchon ſeit Jahr¬
hunderten durch die That gezeigt hat, daß
ſie die Republikaniſche Verfaſſung zu ertra¬
gen vermoͤge.

[205]

Unter den einzelnen, und beſondern Mit¬
teln den Deutſchen Geiſt wieder zu heben,
wuͤrde es ein ſehr kraͤftiges ſeyn, wenn wir
eine begeiſternde Geſchichte der Deutſchen aus
dieſem Zeitraume haͤtten, die da National-
und Volks-Buch wuͤrde, ſo wie Bibel, oder
Geſangbuch es ſind, ſo lange, bis wir ſelbſt
wiederum etwas des Aufzeichnens werthes
hervorbraͤchten. Nur muͤßte eine ſolche Ge¬
ſchichte nicht etwa chronikenmaͤßig die Tha¬
ten und Ereigniſſe aufzaͤhlen, ſondern ſie
muͤßte uns, wunderbar ergreifend, und ohne
unſer eigenes Zuthun oder klares Bewußtſeyn,
mitten hinein verſetzen in das Leben jener
Zeit, ſo daß wir ſelbſt mit ihnen zu gehen,
zu ſtehen, zu beſchließen, zu handeln ſchie¬
nen, und dies nicht durch kindiſche und taͤn¬
delnde Erdichtung, wie es ſo viele hiſtoriſche
Romane gethan haben, ſondern durch Wahr¬
heit; und aus dieſem ihren Leben muͤßte ſie
die Thaten und Ereigniſſe, als Belege deſ¬
ſelben, hervorbluͤhen laſſen. Ein ſolches
Werk koͤnnte zwar nur die Frucht von aus¬
gebreiteten Kenntniſſen ſeyn, und von For¬
[206] ſchungen, die vielleicht noch niemals ange¬
ſtellt ſind, aber die Ausſtellung dieſer Kennt¬
niſſe und Forſchungen muͤßte uns der Ver¬
faſſer erſparen, und nur lediglich die gereifte
Frucht uns vorlegen in der gegenwaͤrtigen
Sprache, auf eine jedwedem Deutſchen ohne
Ausnahme verſtaͤndliche Weiſe. Außer jenen
hiſtoriſchen Kenntniſſen wuͤrde ein ſolches
Werk auch noch ein hohes Maaß philoſophi¬
ſchen Geiſtes erfordern, der eben ſo wenig
ſich zur Schau ausſtellte; und vor allem ein
treues, und liebendes Gemuͤth.


Jene Zeit war der jugendliche Traum der
Nation in beſchraͤnkten Kreiſen von kuͤnfti¬
gen Thaten, Kaͤmpfen, und Siegen: und die
Weißagung, was ſie einſt bei vollendeter
Kraft ſeyn wuͤrde. Verfuͤhreriſche Geſell¬
ſchaft, und die Lokkung der Eitelkeit hat die
heranwachſende fortgeriſſen in Kreiſe die nicht
die ihrigen find, und indem ſie auch da glaͤn¬
zen wollte, ſteht ſie da mit Schmach bedeckt,
und ringend ſogar um ihre Fortdauer. Aber
iſt ſie denn wirklich veraltet, und entkraͤftet?
Hat ihr nicht auch ſeitdem immerfort, und
[207] bis auf dieſen Tag, die Quelle des urſpruͤng¬
lichen Lebens fortgequollen, wie keiner andern
Nation? Koͤnnen jene Weißagungen ihres ju¬
gendlichen Lebens, die durch die Beſchaffen¬
heit der uͤbrigen Voͤlker, und durch den Bil¬
dungsplan der ganzen Menſchheit beſtaͤtigt
werden, — koͤnnen ſie unerfuͤllt bleiben?
Nimmermehr. Bringe man dieſe Nation nur
zufoͤrderſt zuruͤk von der falſchen Richtung,
die ſie ergriffen, zeige man ihr in dem Spie¬
gel jener ihrer Jugendtraͤume, ihren wahren
Hang, und ihre wahre Beſtimmung, bis un¬
ter dieſen Betrachtungen ſich ihr die Kraft
entfalte, dieſe ihre Beſtimmung maͤchtig zu
ergreifen. Moͤchte dieſe Aufforderung etwas
dazu beitragen, daß recht bald ein dazu aus¬
geruͤſteter deutſcher Mann dieſe vorlaͤufige
Aufgabe loͤſe!


[208]

Siebente Rede.


Noch tiefere Erfaſſung der Urſpruͤnglich¬
keit, und Deutſchheit eines Volkes.

Es ſind in den vorigen Reden angegeben, und
in der Geſchichte nachgewieſen die Grundzuͤge
der Deutſchen, als eines Urvolks, und als ei¬
nes ſolchen, das das Recht hat, ſich das Volk
ſchlechtweg, im Gegenſatze mit andern von ihm
abgeriſſenen Staͤmmen zu nennen, wie denn
auch das Wort Deutſch in ſeiner eigentlichen
Wortbedeutung das ſo eben geſagte bezeichnet.
Es iſt zweckmaͤßig, daß wir bei dieſem Gegen¬
ſtande noch eine Stunde verweilen, und uns auf
den moͤglichen Einwurf einlaſſen, daß, wenn
dies deutſche Eigenthuͤmlichkeit ſey, man werde
bekennen muͤſſen, daß dermalen unter den Deut¬
ſchen ſelber wenig Deutſches mehr uͤbrig ſey. In¬
dem auch wir dieſe Erſcheinung keinesweges
laͤugnen koͤnnen, ſondern ſie vielmehr anzuerken¬
nen, und in ihren einzelnen Theilen ſie zu uͤberſe¬
hen gedenken, wollen wir mit einer Erklaͤrung
derſelben anheben.

[209]

Das war im ganzen das Verhaͤltniß des
Urvolks der neuen Welt zum Fortgange der
Bildung dieſer Welt, daß das erſtere durch
unvollſtaͤndige und auf der Oberflaͤche verblei¬
bende Beſtrebungen des Auslandes erſt ange¬
regt werde zu tiefern aus ſeiner eignen Mitte
heraus zu entwikelnden Schoͤpfungen. Da
von der Anregung bis zur Schoͤpfung es ohne
Zweifel ſeine Zeit dauert, ſo iſt klar, daß ein
ſolches Verhaͤltniß Zeitraͤume herbei fuͤhren
werde, in welchem das Urvolk faſt ganz mit
dem Auslande verfloſſen, und demſelben gleich
erſcheinen muͤſſe, weil es nemlich gerade im
Zuſtande des bloßen Angeregtſeyns ſich befin¬
det, und die dabei beabſichtigte Schoͤpfung
noch nicht zum Durchbruche gekommen iſt. In
einem ſolchen Zeitraume befindet ſich nun ge¬
rade jezt Deutſchland in Abſicht der großen
Mehrzahl ſeiner gebildeten Bewohner, und
daher ruͤhren die durch das ganze innere We¬
ſen und Leben dieſer Mehrzahl verfloſſenen Er¬
ſcheinungen der Auslaͤnderei. Die Philoſophie,
als freies, von allen Feſſeln des Glaubens an
fremdes Anſehen erledigtes Denken, ſey es, wo¬
durch dermalen das Ausland ſein Mutterland
O[210] anrege, haben wir in der vorigen Rede erſehen.
Wo es nun von dieſer Anregung aus nicht zur
neuen Schoͤpfung gekommen, welches, da die
lezte von der großen Mehrzahl unvernommen
geblieben, bei aͤußerſt wenigen der Fall iſt: da
geſtaltet ſich theils noch jene, ſchon fruͤher be¬
zeichnete Philoſophie des Auslandes ſelber zu
andern und andern Formen; theils bemaͤchtiget
ſich der Geiſt derſelben auch der uͤbrigen an die
Philoſophie zunaͤchſt graͤnzenden Wiſſenſchaf¬
ten, und ſieht an dieſelben aus ſeinem Geſichts¬
punkte; endlich, da der Deutſche ſeinen Ernſt,
und ſein unmittelbares Eingreifen in das Le¬
ben doch niemals ablegen kann, ſo fließt dieſe
Philoſophie ein auf die oͤffentliche Lebensweiſe,
und auf die Grundſaͤtze und Regeln derſelben.
Wir werden dies Stuͤck fuͤr Stuͤck darthun.


Zufoͤrderſt und vor allen Dingen: der
Menſch bildet ſeine wiſſenſchaftliche Anſicht
nicht etwa mit Freiheit und Willkuͤhr, ſo oder
ſo, ſondern ſie wird ihm gebildet durch ſein Le¬
ben, und iſt eigentlich die zur Anſchauung ge¬
wordene innere, und uͤbrigens ihm unbekannte
Wurzel ſeines Lebens ſelbſt. Was du ſo recht
innerlich eigentlich biſt, das tritt heraus vor
[211] dein aͤußeres Auge, und du vermoͤchteſt niemals
etwas anderes zu ſehen. Sollteſt du anders
ſehen, ſo muͤßteſt du erſt anders werden. Nun
iſt das innere Weſen des Auslandes, oder der
Nichturſpruͤnglichkeit, der Glaube an irgend ein
leztes, feſtes, unveraͤnderlich ſtehendes, an
eine Grenze, dieſſeit welcher zwar das freie
Leben ſein Spiel treibe, welche ſelbſt aber es
niemals zu durchbrechen, und durch ſich fluͤßig
zu machen, und ſich in dieſelbe zu verfloͤßen
vermoͤge. Dieſe undurchdringliche Grenze tritt
ihm darum irgendwo nothwendig auch vor die
Augen, und es kann nicht anders denken oder
glauben, außer unter Vorausſetzung einer ſol¬
chen, wenn nicht ſein ganzes Weſen umgewan¬
delt, und ſein Herz ihm aus dem Leibe geriſſen
werden ſoll. Es glaubt nothwendig an den
Tod, als das urſpruͤngliche, und lezte, den
Grundquell aller Dinge, und mit ihnen des
Lebens.


Wir haben hier nur zunaͤchſt anzugeben,
wie dieſer Grundglaube des Auslandes unter
den Deutſchen dermalen ſich ausſpreche.


Er ſpricht ſich aus zufoͤrderſt in der eigent¬
lichen Philoſophie. Die dermalige deutſche
O 2[212] Philoſophie, in wiefern dieſelbe hier der Er¬
waͤhnung werth iſt, will Gruͤndlichkeit und wiſ¬
ſenſchaftliche Form, ohnerachtet ſie dieſelbe nicht
zu erſchwingen vermag, ſie will Einheit, auch
nicht ohne fruͤhern Vorgang des Auslandes, ſie
will Realitaͤt, und Weſen — nicht bloße Er¬
ſcheinung, ſondern eine in der Erſcheinung er¬
ſcheinende Grundlage dieſer Erſcheinung, und
hat in allen dieſen Stuͤcken recht, und uͤbertrift
ſehr weit die herrſchenden Philoſophien des der¬
maligen auswaͤrtigen Auslandes, indem ſie in
der Auslaͤnderei weit gruͤndlicher, und folge¬
beſtaͤndiger iſt, denn jenes. Dieſe der bloßen
Erſcheinung unterzulegende Grundlage iſt ih¬
nen nun, wie ſie ſie auch etwa noch fehlerhafter
weiter beſtimmen moͤgen, immer ein feſtes Seyn,
das da iſt, was es eben iſt, und nichts weiter,
in ſich gefeſſelt, und an ſein eigenes Weſen ge¬
bunden; und ſo tritt denn der Tod, und die
Entfremdung von der Urſpruͤnglichkeit, die in
ihnen ſelbſt ſind, auch heraus vor ihre Augen.
Weil ſie ſelbſt nicht zum Leben ſchlechtweg, aus
ſich ſelber heraus, ſich aufzuſchwingen vermoͤ¬
gen, ſondern fuͤr freien Aufflug ſtets eines Traͤ¬
gers und einer Stuͤtze beduͤrfen, darum kom¬
[213] men ſie auch mit ihrem Denken, als dem Ab¬
bilde ihres Lebens, nicht uͤber dieſen Traͤger
hinaus: das, was nicht Etwas iſt, iſt ihnen
nothwendig Nichts, weil, zwiſchen jenem in ſich
verwachſenen Seyn, und dem Nichts, ihr Auge
nichts weiter ſieht, da ihr Leben da nichts wei¬
ter hat. Ihr Gefuͤhl, worauf auch allein ſie
ſich berufen koͤnnen, erſcheint ihnen als un¬
truͤglich; und ſo jemand dieſen Traͤger nicht
zugiebt, ſo ſind ſie weit entfernt von der Vor¬
ausſetzung, daß er mit dem Leben allein ſich
begnuͤge, ſondern ſie glauben, daß es ihm nur
an Scharfſinn fehle, den Traͤger, der ohne
Zweifel auch ihn trage, zu bemerken, und daß
er der Faͤhigkeit, ſich zu ihren hohen Anſichten
aufzuſchwingen, ermangle. Es iſt darum ver¬
geblich, und unmoͤglich, ſie zu belehren; machen
muͤßte man ſie, und anders machen, wenn man
koͤnnte. In dieſem Theile iſt nun die derma¬
lige deutſche Philoſophie nicht deutſch, ſondern
Auslaͤnderei.


Die wahre in ſich ſelbſt zu Ende gekommene
und uͤber die Erſcheinung hinweg wahrhaft zum
Kerne derſelben durchgedrungene Philoſophie
hingegen geht aus von dem Einen, reinen, goͤttli¬
[214] chen Leben,—als Leben ſchlechtweg, welches es
auch in alle Ewigkeit, und darin immer Eines
bleibt, nicht aber als von dieſem oder jenem
Leben; und ſie ſieht, wie lediglich in der Erſchei¬
nung dieſes Leben unendlich fort ſich ſchließe
und wiederum oͤfne, und erſt dieſem Geſetze
zufolge es zu einem Seyn und zu einem Etwas
uͤberhaupt komme. Ihr entſteht das Seyn,
was jene ſich vorausgeben laͤßt. Und ſo iſt
denn dieſe Philoſophie recht eigentlich nur
deutſch, d. i. urſpruͤnglich; und umgekehrt, ſo
jemand nur ein wahrer Deutſcher wuͤrde, ſo
wuͤrde er nicht anders denn alſo philoſophiren
koͤnnen.


Jenes, obwohl bei der Mehrzahl der deutſch
philoſophirenden herrſchende, dennoch nicht
eigentlich deutſche Denkſyſtem greift, ob es
nun mit Bewußtſeyn als eigentliches philoſo¬
phiſches Lehrgebaͤude aufgeſtellt ſey, oder ob es
nur unbewußt unſerm uͤbrigen Denken zum
Grunde liege, — es greift, ſage ich, ein, in die
uͤbrigen wiſſenſchaftlichen Anſichten der Zeit;
wie denn dies ein Hauptbeſtreben unſrer durch
das Ausland angeregten Zeit iſt, den wiſſen¬
ſchaftlichen Stoff nicht mehr bloß, wie wohl
[215] unſere Vorfahren thaten, in das Gedaͤchtniß
zn faſſen, ſondern denſelben auch ſelbſtdenkend
und philoſophirend zu bearbeiten. In Abſicht
des Beſtrebens uͤberhaupt hat die Zeit recht;
wenn ſie aber, wie dies zu erwarten iſt, in der
Ausfuͤhrung dieſes Philoſophirens von der tod¬
glaͤubigen Philoſophie des Auslandes ausgeht,
wird ſie unrecht haben. Wir wollen hier nur
auf die unſerm ganzen Vorhaben am naͤchſten
liegenden Wiſſenſchaften einen Blick werfen,
und die in ihnen verbreiteten auslaͤndiſchen
Begriffe und Anſichten aufſuchen.


Daß die Errichtung und Regierung der
Staaten als eine freie Kunſt angeſehen werde,
die ihre feſten Regeln habe, darin hat ohne
Zweifel das Ausland, es ſelbſt nach dem Mu¬
ſter des Alterthums, uns zum Vorgaͤnger ge¬
dient. Worein wird nun ein ſolches Ausland,
das ſchon an dem Elemente ſeines Denkens
und Wollens, ſeiner Sprache, einen feſten ge¬
ſchloſſenen, und todten Traͤger hat, und alle,
die ihm hierin folgen, dieſe Staatskunſt ſetzen?
Ohne Zweifel in die Kunſt, eine, gleichfalls feſte
und todte Ordnung der Dinge, zu finden, aus
welchem Tode das lebendige Regen der Geſell¬
[216] ſchaft hervorgehe, und alſo hervorgehe, wie ſie es
beabſichtigt; alles Leben in der Geſellſchaft zu
einem großen und kuͤnſtlichen Druck und Raͤder¬
werke zuſammen zu fuͤgen, in welchem jedes
einzelne durch das Ganze immerfort genoͤthigt
werde, dem Ganzen zu dienen; ein Rechen-
Exempel zu loͤſen aus endlichen und benannten
Groͤßen zu einer nennbaren Summe, aus der
Vorausſetzung, jeder wolle ſein Wohl, zu dem
Zwekke, eben dadurch jeden wider ſeinen Dank
und Willen zu zwingen, das allgemeine Wohl
zu befoͤrdern. Das Ausland hat vielfaͤltig die¬
ſen Grundſatz ausgeſprochen, und Kunſtwerke
jener geſellſchaftlichen Maſchinen-Kunſt gelie¬
fert; das Mutterland hat die Lehre angenom¬
men, und die Anwendung derſelben zu Hervor¬
bringung geſellſchaftlicher Maſchinen weiter
bearbeitet, auch hier, wie immer, umfaſſender,
tiefer, wahrer, ſeine Muſter bei weitem uͤber¬
treffend. Solche Staatskuͤnſtler wiſſen, falls
es etwa mit dem bisherigen Gange der Geſell¬
ſchaft ſtokt, dies nicht anders zu erklaͤren, als
daß etwa eines der Raͤder derſelben ausgelau¬
fen ſeyn moͤge, und kennen kein anderes Hei¬
lungsmittel, denn dies, die ſchadhaften Raͤder
[217] heraus zu heben, und neue einzuſetzen. Je
eingewurzelter Jemand in dieſe mechaniſche An¬
ſicht der Geſellſchaft iſt, je mehr er es verſteht, die¬
ſen Mechanismus zu vereinfachen, indem er
alle Theile der Maſchine ſo gleich als moͤglich
macht, und alle als gleichmaͤßigen Stoff behan¬
delt, fuͤr einen deſto groͤßern Staatskuͤnſtler
gilt er, mit Recht in dieſer unſrer Zeit; — denn
mit den unentſchieden ſchwankenden, und
gar keiner feſten Anſicht faͤhigen iſt man noch
uͤbler daran.


Dieſe Anſicht der Staatskunſt praͤgt durch
ihre eiſerne Folgegemaͤßheit, und durch einen
Anſchein von Erhabenheit, der auf ſie faͤllt,
Achtung ein; auch leiſtet ſie, beſonders wo alles
nach monarchiſcher, und immer reiner werden¬
der monarchiſcher Verfaſſung draͤngt, bis auf
einen gewiſſen Punkt gute Dienſte. Angekom¬
men aber bei dieſem Punkte, ſpringt ihre Ohn¬
macht in die Augen. Ich will nemlich anneh¬
men, daß ihr eurer Maſchine die von euch be¬
abſichtigte Vollkommenheit durchaus verſchafft
haͤttet, und daß in 'ihr jedwedes niedere Glied
unausbleiblich, und unwiderſtehlich gezwungen
werde durch ein hoͤheres, zum Zwingen gezwun¬
[218] genes Glied, und ſofort dis an den Gipfel;
wodurch wird denn nun euer leztes Glied, von
dem aller in der Maſchine vorhandene Zwang
ausgeht, zu ſeinem Zwingen gezwungen? Ihr
ſollt ſchlechthin allen Widerſtand, der aus der
Reibung der Stoffe gegen jene lezte Triebfeder
entſtehen koͤnnte, uͤberwunden, und ihr eine
Kraft gegeben haben, gegen welche alle andere
Kraft in Nichts verſchwinde, was allein ihr
auch durch Mechanismus koͤnnt, und ſollt alſo
die allerkraͤftigſte monarchiſche Verfaſſung er¬
ſchaffen haben; wie wollt ihr denn nun dieſe
Triebfeder ſelbſt in Bewegung bringen, und
ſie zwingen, ohne Ausnahme das Rechte zu
ſehen, und zu wollen? Wie wollt ihr denn in
euer zwar richtig berechnetes und gefuͤgtes, aber
ſtillſtehendes Raͤderwerk das ewig bewegliche
einſetzen? Soll etwa, wie ihr dies auch zuwei¬
len in eurer Verlegenheit aͤußert, das ganze
Werk ſelbſt zuruͤkwirken, und ſeine erſte Trieb¬
feder anregen? Entweder geſchieht dies durch
eine ſelbſt aus der Anregung der Triebfeder
ſtammende Kraft, oder es geſchieht durch eine
ſolche Kraft, die nicht aus ihr ſtammt, ſondern
die in dem Ganzen ſelbſt, unabhaͤngig von der
[219] Triebfeder, ſtatt findet; und ein Drittes iſt
nicht moͤglich. Nehmet ihr das erſte an, ſo
befindet ihr euch in einem alles Denken, und
allen Mechanismus aufhebenden Zirkel; das
ganze Werk kann die Triebfeder zwingen, nur,
in wiefern es ſelbſt von jener gezwungen iſt,
ſie zu zwingen, alſo, in wiefern die Triebfeder,
nur mittelbar, ſich ſelbſt zwingt; zwingt ſie aber
ſich ſelbſt nicht, welchem Mangel wir ja eben
abhelfen wollten, ſo erfolgt uͤberhaupt keine
Bewegung. Nehmt ihr das zweite an, ſo be¬
kennt ihr, daß der Urſprung aller Bewegung in
eurem Werke von einer in eurer Berechnung,
und Anordnung gar nicht eingetretenen und
durch euren Mechanismus gar nicht gebunde¬
nen Kraft ausgehe, die ohne Zweifel, ohne euer
Zuthun, nach ihren eignen euch unbekannten
Geſetzen, wirkt, wie ſie kann. In jedem der
beiden Faͤlle muͤßt ihr euch als Stuͤmper, und
ohnmaͤchtige Praler bekennen.


Dies hat man denn auch gefuͤhlt, und in
dieſem Lehrgebaͤude, das, auf ſeinen Zwang
rechnend, um die uͤbrigen Buͤrger unbeſorgt ſeyn
kann, wenigſtens den Fuͤrſten, von welchem alle
geſellſchaftliche Bewegung ausgeht, durch al¬
[220] lerlei gute Lehre und Unterweiſung erziehen
wollen. Aber, wie will man ſich denn ver¬
ſichern, daß man auf eine der Erziehung zum
Fuͤrſten uͤberhaupt faͤhige Natur treffen werde;
oder, falls man auch dieſes Gluͤk haͤtte, daß
dieſer, den kein Menſch noͤthigen kann, gefaͤl¬
lig, und geneigt ſeyn werde, Zucht annehmen
zu wollen? Eine ſolche Anſicht der Staats¬
kunſt iſt nun, ob ſie auf auslaͤndiſchem oder
deutſchem Boden angetroffen werde, immer Aus¬
laͤnderei. Es iſt jedoch hiebei zur Ehre deut¬
ſchen Gebluͤts, und Gemuͤths anzumerken, daß,
ſo gute Kuͤnſtler wir auch in der bloßen Lehre
dieſer Zwangsberechnungen ſeyn mochten, wir
dennoch, wenn es zur Ausuͤbung kam, durch
das dunkle Gefuͤhl, es muͤſſe nicht alſo ſeyn,
gar ſehr gehemmt wurden, und in dieſem
Stuͤcke gegen das Ausland zuruͤkblieben.
Sollten wir alſo auch genoͤthigt werden, die
uns zugedachte Wohlthat fremder Formen, und
Geſetze anzunehmen, ſo wollen wir uns dabei
wenigſtens nicht uͤber die Gebuͤhr ſchaͤmen, als
ob unſer Witz unfaͤhig geweſen waͤre, dieſe Hoͤ¬
hen der Geſezgebung auch zu erſchwingen.
Da, wenn wir bloß die Feder in der Hand ha¬
[221] ben, wir auch hierin keiner Nation nachſtehen,
ſo moͤchten fuͤr das Leben wir wohl gefuͤhlt ha¬
ben, daß auch dies noch nicht das Rechte ſey,
und ſo lieber das Alte haben ſtehen laſſen wol¬
len, bis das Vollkommne an uns kaͤme, anſtatt
bloß die alte Mode mit einer neuen eben ſo
hinfaͤlligen Mode zu vertauſchen.


Anders die aͤcht deutſche Staatskunſt.
Auch ſie will Feſtigkeit, Sicherheit, und Unab¬
haͤngigkeit von der blinden und ſchwankenden
Natur, und iſt hierin mit dem Auslande ganz
einverſtanden. Nur will ſie nicht, wie dieſe, ein
feſtes und gewiſſes Ding, als das erſte, durch
welches der Geiſt, als das zweite Glied, erſt
gewiß gemacht werde, ſondern ſie will gleich
von vorn herein, und als das allererſte und
einige Glied, einen feſten und gewiſſen Geiſt.
Dieſer iſt fuͤr ſie die aus ſich ſelbſt lebende, und
ewig bewegliche Triebfeder, die das Leben der
Geſellſchaft ordnen und fortbewegen wird. Sie
begreift, daß ſie dieſen Geiſt nicht durch Straf¬
reden an die ſchon verwahrloſte Erwachſenheit,
ſondern nur durch Erziehung des noch unver¬
dorbenen Jugend-Alters hervorbringen koͤnne;
und zwar will ſie mit dieſer Erziehung ſich nicht,
[222] wie das Ausland, an die ſchroffe Spitze, den
Fuͤrſten, ſondern ſie will ſich mit derſelben an
die breite Flaͤche, an die Nation wenden, indem
ja ohne Zweifel auch der Fuͤrſt zu dieſer gehoͤ¬
ren wird. So wie der Staat an den Perſo¬
nen ſeiner erwachſenen Buͤrger die fortgeſezte
Erziehung des Menſchengeſchlechts iſt, ſo muͤſſe,
meint dieſe Staatskunſt, der kuͤnftige Buͤrger
ſelbſt erſt zur Empfaͤnglichkeit jener hoͤher
Erziehung herauferzogen werden. Hierdurch
wird nun dieſe deutſche, und allerneueſte
Staatskunſt wiederum die alleraͤlteſte; denn
auch dieſe bei den Griechen gruͤndete das Buͤr¬
gerthum auf die Erziehung, und bildete Buͤr¬
ger, wie die folgenden Zeitalter ſie nicht wie¬
der geſehen haben. In der Form daſſelbe, in
dem Gehalte mit nicht engherzigem, und aus¬
ſchließendem, ſondern allgemeinem und welt¬
buͤrgerlichem Geiſte, wird hinfuͤhro der Deut¬
ſche thun.


Derſelbe Geiſt des Auslandes herrſcht bei
der großen Mehrzahl der unſrigen auch in ih¬
rer Anſicht des geſammten Lebens eines Men¬
ſchengeſchlechts, und der Geſchichte, als dem
Bilde jenes Lebens. Eine Nation, die eine
[223] geſchloſſene und erſtorbene Grundlage ihrer
Sprache hat, kann es, wie wir zu einer an¬
dern Zeit gezeigt haben, in allen Rede-Kuͤnſten
nur bis zu einer gewiſſen von jener Grundlage
verſtatteten Stuffe der Ausbildung bringen,
und ſie wird ein goldenes Zeitalter erleben.
Ohne die groͤßte Beſcheidenheit und Selbſtver¬
leugnung kann eine ſolche Nation von dem gan¬
zen Geſchlechte nicht fuͤglich hoͤher denken, denn
ſie ſelbſt ſich kennt; ſie muß daher vorausſetzen,
daß es auch fuͤr dieſes ein leztes, hoͤchſtes, und
niemals zu uͤbertreffendes Ziel der Ausbildung
geben werde. So wie das Thiergeſchlecht der
Biber, oder Bienen noch jetzo alſo baut, wie
es vor Jahrtauſenden gebaut hat, und in die¬
ſem langen Zeitraume in der Kunſt keine Fort¬
ſchritte gemacht hat, eben ſo wird es nach die¬
ſen ſich mit dem Thiergeſchlechte, Menſch ge¬
nannt, in allen Zweigen ſeiner Ausbildung
verhalten. Dieſe Zweige, Triebe, und Faͤhig¬
keiten werden ſich erſchoͤpfend uͤberſehen, ja
vielleicht an ein paar Gliedmaaßen ſogar dem
Auge darlegen laſſen, und die hoͤchſte Entwik¬
lung einer jeden wird angegeben werden koͤn¬
nen. Vielleicht wird das Menſchengeſchlecht
[224] darin noch weit uͤbler daran ſeyn, als das Bi¬
ber- oder Bienengeſchlecht, daß das leztere,
wie es zwar nichts zulernt, dennoch auch in
ſeiner Kunſt nicht zuruͤkkommt, der Menſch
aber, wenn er auch einmal den Gipfel erreichte,
wiederum zuruͤkgeſchleudert wird, und nun
Jahrhunderte oder Tauſende ſich anſtrengen
mag, um wiederum in den Punkt hinein zn
gerathen, in welchem man ihn lieber gleich
haͤtte laſſen ſollen. Dergleichen Scheitel-
Punkte ſeiner Bildung und goldene Zeitalter
wird, dieſen zu Folge, das Menſchengeſchlecht
ohne Zweifel auch ſchon erreicht haben; dieſe
in der Geſchichte aufzuſuchen, und nach ihnen
alle Beſtrebungen der Menſchheit zu beurthei¬
len, und auf ſie ſie zuruͤkzufuͤhren, wird ihr eif¬
rigſtes Beſtreben ſeyn. Nach ihnen iſt die Ge¬
ſchichte laͤngſt fertig, und iſt ſchon mehrmals
fertig geweſen; nach ihnen geſchieht nichts
neues unter der Sonne, denn ſie haben unter
und uͤber der Sonne den Quell des ewigen
Fortlebens ausgetilgt, und laſſen nur den im¬
mer wiederkehrenden Tod ſich wiederholen und
mehrere male ſetzen.


Es iſt bekannt, daß dieſe Philoſophie der
Ge¬[225] Geſchichte vom Auslande aus an uns gekom¬
men iſt, wiewohl ſie dermalen auch in dieſem
verhallet, und faſt ausſchließend deutſches
Eigenthum geworden iſt. Aus dieſer tiefern
Verwandſchaft erfolgt es denn auch, daß dieſe
unſre Geſchichtsphiloſophie die Beſtrebungen
des Auslandes, welches, wenn es auch dieſe
Anſicht der Geſchichte nicht mehr haͤufig aus¬
ſpricht, noch mehr thut, indem es in derſelben
handelt, und abermals ein goldnes Zeitalter
verfertigt, ſo durch und durch zu verſtehen, und
ihnen ſogar weiſſagend den fernern Weg vor¬
zuzeichnen, und ſie ſo aufrichtig zu bewundern
vermag, wie es der deutſch denkende nicht eben
alſo von ſich ruͤhmen kann. Wie koͤnnte er
auch? Goldene Zeitalter in jeder Ruͤkſicht ſind
ihm eine Beſchraͤnktheit der Erſtorbenheit.
Das Gold moͤge zwar das edelſte ſeyn im
Schooße der erſtorbenen Erde, meint er, aber
des lebendigen Geiſtes Stoff ſey jenſeit der
Sonne, und jenſeit aller Sonnen, und ſey
ihre Quelle. Ihm wikelt ſich die Geſchichte,
und mit ihr das Menſchengeſchlecht, nicht ab
nach dem verborgenen und wunderlichen Ge¬
ſetze eines Kreistanzes, ſondern nach ihm macht
der eigentliche und rechte Menſch ſie ſelbſt, nicht
P[226] etwa nur wiederholend das ſchon dageweſene,
ſondern in die Zeit hinein erſchaffend das
durchaus neue. Er erwartet darum niemals
bloße Wiederholung, und wenn ſie doch erfol¬
gen ſollte, Wort fuͤr Wort, wie es im alten
Buche ſteht, ſo bewundert er wenigſtens nicht.


Auf aͤhnliche Weiſe nun verbreitet der er¬
toͤdtende Geiſt des Auslandes, ohne unſer
deutliches Bewußtſeyn, ſich uͤber unſre uͤbrigen
wiſſenſchaftlichen Anſichten, von denen es hin¬
reichen moͤge, die angefuͤhrten Beiſpiele beige¬
bracht zu haben; und zwar erfolgt dies deswegen
alſo, weil wir gerade jezt die vom Auslande fruͤ¬
her erhaltenen Anregungen nach unſrer Weiſe
bearbeiten, und durch einen ſolchen Mittelzu¬
ſtand hindurch gehen. Weil dies zur Sache
gehoͤrte, habe ich dieſe Beiſpiele beigebracht;
nebenbei auch noch darum, damit niemand
glaube, durch Folgeſaͤtze aus den angefuͤhrten
Grundſaͤtzen den hier geaͤußerten Behauptun¬
gen widerſprechen zu koͤnnen. Weit entfernt,
daß etwa jene Grundſaͤtze uns unbekannt ge¬
blieben waͤren, oder daß wir zu der Hoͤhe der¬
ſelben uns nicht aufzuſchwingen vermocht haͤt¬
ten, kennen wir ſie vielmehr recht gut, und
duͤrften vielleicht, wenn wir uͤberfluͤſſige Zeit
[227] haͤtten, faͤhig ſeyn, dieſelben in ihrer ganzen
Folgemaͤßigkeit ruͤkwaͤrts und vorwaͤrts zu ent¬
wikeln; wir werfen ſie nur eben gleich von vorn
herein weg, und ſo auch alles, was aus ihnen
folgt, deſſen mehreres iſt in unſerm hergebrach¬
ten Denken, als der oberflaͤchliche Beobachter
leicht glauben duͤrfte.


Wie in unſre wiſſenſchaftliche Anſicht, eben
ſo fließt dieſer Geiſt des Auslandes auch ein
in unſer gewoͤhnliches Leben, und die Regeln
deſſelben; damit aber dieſes klar, und das
vorhergehende noch klaͤrer werde, iſt es noͤthig,
zufoͤrderſt das Weſen des urſpruͤnglichen Le¬
bens, oder der Freiheit, mit tieferm Blicke zu
durchdringen.


Die Freiheit im Sinne des unentſchiedenen
Schwankens zwiſchen mehreren gleich moͤgli¬
chen genommen, iſt nicht Leben, ſondern nur
Vorhof und Eingang zu wirklichem Leben.
Endlich muß es doch einmal aus dieſem
Schwanken heraus zum Entſchluſſe, und zum
Handeln kommen, und erſt jezt beginnt das
Leben.


Nun erſcheint unmittelbar und auf den er¬
ſten Blik jedweder Willensentſchluß als erſtes,
keinesweges als zweites, und Folge aus einem
P 2[228] erſten, als ſeinem Grunde — als ſchlechthin
durch ſich daſeyend, und ſo daſeyend, wie er
es iſt; welche Bedeutung, als die einzig moͤg¬
liche verſtaͤndige des Worts Freiheit, wir feſt¬
ſetzen wollen. Aber es ſind, in Abſicht auf den
innern Gehalt eines ſolchen Willensentſchluſ¬
ſes, zwei Faͤlle moͤglich; entweder nemlich er¬
ſcheint in ihm nur die Erſcheinung abgetrennt
vom Weſen, und ohne daß das Weſen auf ir¬
gend eine Weiſe in ihrem Erſcheinen eintrete,
oder das Weſen tritt ſelbſt erſcheinend ein in
dieſer Erſcheinung eines Willensentſchluſſes:
und zwar iſt hiebei ſogleich mit anzumerken,
daß das Weſen nur in einem Willensentſchluſſe,
und durchaus in nichts anderem, zur Erſchei¬
nung werden kann, wiewohl umgekehrt es Wil¬
lensentſchluͤſſe geben kann, in denen keineswe¬
ges das Weſen, ſondern nur die bloße Erſchei¬
nung heraustritt. Wir reden zunaͤchſt von
dem letzten Falle.


Die bloße Erſcheinung, bloß als ſolche, iſt
durch ihre Abtrennung, und durch ihren Gegen¬
ſatz mit dem Weſen, ſodann dadurch, daß ſie
faͤhig iſt, ſelbſt auch zu erſcheinen und ſich darzu¬
ſtellen, unabaͤnderlich beſtimmt, und ſie iſt darum
nothwendig alſo, wie ſie eben iſt und ausfaͤllt.
[229] Iſt daher, wie wir vorausſetzen, irgend ein
gegebener Willensentſchluß in ſeinem Inhalte
bloße Erſcheinung, ſo iſt er inſofern in der That
nicht frei, erſtes und urſpruͤngliches, ſondern er
iſt nothwendig, und ein zweites, aus einem
hoͤhern Erſten, dem Geſetze der Erſcheinung
uͤberhaupt, alſo wie es iſt, hervorgehendes Glied.
Da nun, wie auch hier mehrmals erinnert wor¬
den, das Denken des Menſchen denſelben alſo
vor ihn ſelber hinſtellt, wie er wirklich iſt, und im¬
merfort der treue Abdruk und Spiegel ſeines
Innern bleibt, ſo kann ein ſolcher Willens¬
entſchluß, obwohl er auf den erſten Blik, da
er ja ein Willensentſchluß iſt, als frei erſcheint,
dennoch dem wiederholten, und tiefern Denken
keinesweges alſo erſcheinen, ſondern er muß
in dieſem als nothwendig gedacht werden, wie
er es denn wirklich und in der That iſt. Fuͤr
ſolche, deren Willen ſich noch in keinen hoͤhern
Kreis aufgeſchwungen hat, als in den, daß an
ihnen ein Wille bloß erſcheine, iſt der Glaube
an Freiheit allerdings Wahn und Taͤuſchung
eines fluͤchtigen, und auf der Oberflaͤche behan¬
gen bleibenden Anſchauens; im Denken allein,
das ihnen allenthalben nur die Feſſel der ſtren¬
gen Nothwendigkeit zeigt, iſt fuͤr ſie Wahrheit.

[230]

Das erſte Grundgeſez der Erſcheinung,
ſchlechthin als ſolcher, (den Grund anzugeben
unterlaſſen wir um ſo fuͤglicher, da es ander¬
waͤrts zur Gnuͤge geſchehen iſt) iſt dieſes, daß
ſie zerfalle in ein Mannigfaltiges, das in einer
gewiſſen Ruͤkſicht ein unendliches, in einer ge¬
wiſſen andern Ruͤkſicht ein geſchloſſenes Gan¬
zes iſt, in welchem geſchloſſenen Ganzen des
Mannigfaltigen jedes einzelne beſtimmt iſt,
durch alle uͤbrige, und wiederum alle uͤbrige
beſtimmt ſind durch dieſes einzelne. Falls
daher in dem Willensentſchluſſe des Einzelnen
nichts weiter herausbricht in die Erſcheinung,
als die Erſcheinbarkeit, Darſtellbarkeit, und
Sichtbarkeit uͤberhaupt, die in der That die
Sichtbarkeit von Nichts iſt; ſo iſt der Inhalt
eines ſolchen Willensentſchluſſes beſtimmt durch
das geſchloßne Ganze aller moͤglichen Willens¬
entſchluͤſſe dieſes, und aller moͤglichen uͤbrigen
einzelnen Willen, und er enthaͤlt nichts weiter,
und kann nichts weiter enthalten, denn dasje¬
nige, was nach Abziehung aller jener moͤglichen
Willensentſchluͤſſe zu wollen uͤbrig bleibt. Es
iſt darum in der That in ihm nichts ſelbſtſtaͤn¬
diges, urſpruͤngliches, und eigenes, ſondern er
iſt die bloße Folge, als zweites, aus dem all¬
gemeinen Zuſammenhange der ganzen Erſchei¬
[231] nung in ihren einzelnen Theilen, wie er denn
dafuͤr auch ſtets von allen, die auf dieſer Stuffe
der Bildung ſich befanden, dabei aber gruͤnd¬
lich dachten, erkannt worden, und dieſe ihre
Erkenntniß auch mit denſelben Worten, deren
wir uns ſo eben bedienten, ausgeſprochen wor¬
den iſt; alles dieſes aber darum, weil in ihnen
nicht das Weſen, ſondern nur die bloße Erſchei¬
nung eintritt in die Erſcheinung.


Wo dagegen das Weſen ſelber, unmittelbar,
und gleichſam in eigner Perſon, keinesweges
durch einen Stellvertreter, eintritt in der Er¬
ſcheinung eines Willensentſchluſſes, da iſt zwar
alles das oben erwaͤhnte, aus der Erſcheinung,
als einem geſchloſſenen Ganzen erfolgende,
gleichfalls vorhanden, denn die Erſcheinung er¬
ſcheint ja auch hier; aber eine ſolche Erſchei¬
nung geht in dieſem Beſtandtheile nicht auf,
und iſt durch denſelben nicht erſchoͤpft, ſondern
es findet ſich in ihr noch ein Mehreres, ein
anderer, aus jenem Zuſammenhange nicht zu
erklaͤrender, ſondern nach Abzug des erklaͤrba¬
ren uͤbrig bleibender Beſtandtheil. Jener erſte
Beſtandtheil findet auch hier ſtatt, ſagte ich;
jenes Mehr wird ſichtbar, und vermittelſt dieſer
ſeiner Sichtbarkeit, keinesweges vermittelſt ſei¬
nes innern Weſens, tritt es unter das Geſez
[232] und die Bedingungen der Erſichtlichkeit uͤber¬
haupt; aber es iſt noch mehr denn dieſes aus
irgend einem Geſetze hervorgehendes, und
darum nothwendiges, und zweites, und es
iſt in Abſicht dieſes Mehr durch ſich ſelbſt was
es iſt, ein wahrhaftig erſtes, urſpruͤngliches,
und freies, und da es dieſes iſt, erſcheint es
auch alſo dem tiefſten, und in ſich ſelber zu
Ende gekommenen Denken. Das hoͤchſte Ge¬
ſez der Erſichtlichkeit iſt wie geſagt dies, daß
das erſcheinende ſich ſpalte in ein unendliches
Mannigfaltiges. Jenes Mehr wird ſichtbar,
jedesmal als Mehr, denn das nun und eben
jezt aus dem Zuſammenhange der Erſcheinung
hervorgehende, und ſo ins unendliche fort; und
ſo erſcheint denn dieſes Mehr ſelber als ein un¬
endliches. Aber es iſt ja ſonnenklar, daß es
dieſe Unendlichkeit nur dadurch erhaͤlt, daß es
jedesmal ſichtbar, und denkbar, und zu entdek¬
ken iſt, allein durch ſeinen Gegenſaz mit dem
ins Unendliche fort aus dem Zuſammenhange
erfolgenden, und durch ſein Mehrſeyn denn
dies. Abgeſehen aber von dieſem Beduͤrfniſſe
des Denkens deſſelben iſt es ja dieſes Mehr,
denn alles ins unendliche fort ſich darſtellen
moͤgende unendliche, von Anbeginn in reiner
Einfachheit und Unveraͤnderlichkeit, und es
[233] wird in aller Unendlichkeit nicht Mehr, denn
dieſes Mehr, noch wird es minder; und nur
ſeine Erſichtlichkeit, als Mehr denn das Un¬
endliche, — und auf andere Weiſe kann es in ſei¬
ner hoͤchſten Reinheit nicht ſichtbar werden, — er¬
ſchafft das Unendliche, und alles, was in ihm
zu erſcheinen ſcheint. Wo nun dieſes Mehr
wirklich, als ein ſolches erſichtliches Mehr ein¬
tritt, aber es vermag nur in einem Wollen ein¬
zutreten, da tritt das Weſen ſelbſt, das allein
iſt, und allein zu ſeyn vermag, und das da iſt
von ſich und durch ſich, das goͤttliche Weſen, ein
in die Erſcheinung, und macht ſich ſelbſt un¬
mittelbar ſichtbar ; und daſelbſt iſt eben darum
wahre Urſpruͤnglichkeit und Freiheit, und ſo
wird denn auch an ſie geglaubt.


Und ſo findet denn auf die allgemeine Frage,
ob der Menſch frei ſey oder nicht, keine allge¬
meine Antwort ſtatt; denn eben weil der
Menſch frei iſt, in niederm Sinne, weil er bei
unentſchiedenem Schwanken, und Wanken an¬
hebt, kann er frei ſeyn, oder auch nicht frei,
im hoͤhern Sinne des Worts. In der Wirk¬
lichkeit iſt die Weiſe, wie jemand dieſe Frage
beantwortet, der klare Spiegel ſeines wahren
inwendigen Seyns. Wer in der That nicht
mehr iſt, als ein Glied in der Kette der Erſchei¬
[234] nungen, der kann wohl einen Augenblik ſich
frei waͤhnen, aber ſeinem ſtrengern Denken haͤlt
dieſer Wahn nicht Stand; wie er aber ſich ſelbſt
findet, eben alſo denkt er nothwendig ſein gan¬
zes Geſchlecht. Weſſen Leben dagegen ergrif¬
fen iſt von dem wahrhaftigen, und Leben un¬
mittelbar aus Gott geworden iſt, der iſt frei,
und glaubt an Freiheit in ſich und andern.


Wer an ein feſtes beharrliches, und todtes
Seyn glaubt, der glaubt nur darum daran,
weil er in ſich ſelbſt tod iſt; und, nachdem er
einmal tod iſt, kann er nicht anders, denn alſo
glauben, ſobald er nur in ſich ſelbſt klar wird.
Er ſelbſt und ſeine ganze Gattung von Anbe¬
ginn bis ans Ende wird ihm ein zweites, und
eine nothwendige Folge aus irgend einem vor¬
auszuſetzenden erſten Gliede. Dieſe Voraus¬
ſetzung iſt ſein wirkliches, keinesweges ein bloß
gedachtes Denken, ſein wahrer Sinn, der Punkt,
wo ſein Denken unmittelbar ſelbſt Leben iſt; und
iſt ſo die Quelle alles ſeines uͤbrigen Denkens, und
Beurtheilens ſeines Geſchlechts, in ſeiner Ver¬
gangenheit, der Geſchichte, ſeiner Zukunft, den
Erwartungen von ihm, und ſeiner Gegenwart, im
wirklichen Leben an ihm ſelber, und andern.
Wir haben dieſen Glauben an den Tod, im Ge¬
genſatze mit einem urſpruͤnglich lebendigen Volke
[235] Auslaͤnderei genannt. Dieſe Auslaͤnderei wird
ſomit, wenn ſie einmal unter den Deutſchen iſt,
ſich auch im wirklichen Leben derſelben zeigen,
als ruhige Ergebung in die nun einmal unab¬
aͤnderliche Nothwendigkeit ihres Seyns, als
Aufgeben aller Verbeſſerung unſrer ſelbſt oder
andrer durch Freiheit, als Geneigtheit ſich ſelbſt,
und alle, ſo zu verbrauchen, wie ſie ſind, und
aus ihrem Seyn den moͤglichſt groͤßten Vortheil
fuͤr uns ſelbſt zu ziehen; kurz, als das in allen
Lebensregungen immerfort ſich abſpiegelnde Be¬
kenntniß des Glaubens an die allgemeine und
gleichmaͤßige Suͤndhaftigkeit aller, den ich an
einem andern Orte hinlaͤnglich geſchildert habe, *)
welche Schilderung ſelbſt nachzuleſen, auch zu
beurtheilen, in wiefern dieſelbe auf die Gegen¬
wart paſſe, ich Ihnen uͤberlaſſe. Dieſe Denk-
und Handelsweiſe entſteht der inwendigen Er¬
ſtorbenheit, wie oft erinnert worden, nur da¬
durch, daß ſie uͤber ſich ſelbſt klar wird, dage¬
gen ſie, ſo lange ſie im Dunkeln bleibt, den
Glauben an Freiheit, der an ſich wahr, und
nur in Anwendung auf ihr dermaliges Seyn
[236] Wahn iſt, beibehaͤlt. Es erhellet hier deutlich
der Nachtheil der Klarheit bei innerer Schlech¬
tigkeit. So lange dieſe Schlechtigkeit dunkel
bleibt, wird ſie durch die fortdauernde Anfor¬
derung an Freiheit immerfort beunruhigt, ge¬
ſtachelt, und getrieben, und bietet den Verſu¬
chen ſie zu verbeſſern, einen Angriffspunkt dar.
Die Klarheit aber vollendet ſie, und rundet ſie
in ſich ſelbſt ab; ſie fuͤgt ihr die freudige Erge¬
bung, die Ruhe eines guten Gewiſſens, das
Wohlgefallen an ſich ſelber hinzu; es geſchieht
ihnen, wie ſie glauben, ſie ſind von nun an in
der That unverbeſſerlich, und hoͤchſtens, um bei
den Beſſeren den unbarmherzigen Abſcheu gegen
das Schlechte, oder die Ergebung in den Willen
Gottes rege zu erhalten, und außerdem zu
keinem Dinge in der Welt nuͤtze.


Und ſo trete denn endlich in ſeiner vollen¬
deten Klarheit heraus, was wir in unſrer bis¬
herigen Schilderung unter Deutſchen verſtan¬
den haben. Der eigentliche Unterſcheidungs¬
grund liegt darin, ob man an ein abſolut erſtes
und urſpruͤngliches im Menſchen ſelber, an
Freiheit, an unendliche Verbeſſerlichkeit, an
ewiges Fortſchreiten unſers Geſchlechts glaube,
oder ob man an alles dieſes nicht glaube, ja
wohl deutlich einzuſehen, und zu begreifen ver¬
[237] meine, daß das Gegentheil von dieſem allen
ſtatt finde. Alle, die entweder ſelbſt, ſchoͤpfe¬
riſch, und hervorbringend das neue, leben, oder,
die, falls ihnen dies nicht zu Theil geworden
waͤre, das nichtige wenigſtens entſchieden fallen
laſſen, und aufmerkend da ſtehen, ob irgendwo
der Fluß urſpruͤnglichen Lebens ſie ergreifen
werde, oder die, falls ſie auch nicht ſo weit
waren, die Freiheit wenigſtens ahnden, und ſie
nicht haſſen, oder vor ihr erſchrecken, ſondern
ſie lieben: alle dieſe ſind urſpruͤngliche Men¬
ſchen, ſie ſind, wenn ſie als ein Volk betrachtet
werden, ein Urvolk, das Volk ſchlechtweg, Deut¬
ſche. Alle, die ſich darein ergeben ein zweites
zu ſeyn, und abgeſtammtes, und die deutlich
ſich alſo kennen und begreifen, ſind es in der
That, und werden es immer mehr durch dieſen
ihren Glauben, ſie ſind ein Anhang zum Leben,
das vor ihnen, oder neben ihnen, aus eignem
Triebe ſich regte, ein vom Felſen zuruͤktoͤnender
Nachhall einer ſchon verſtummten Stimme, ſie
ſind, als Volk betrachtet, außerhalb des Urvolks,
und fuͤr daſſelbe Fremde, und Auslaͤnder. In
der Nation, die bis auf dieſen Tag ſich das
Volk ſchlechtweg, oder Deutſche nennt, iſt in der
neuen Zeit wenigſtens bis jezt urſpruͤngliches,
an den Tag hervorgebrochen, und Schoͤpferkraft
[238] des neuen hat ſich gezeigt; jezt wird endlich die¬
ſer Nation durch eine in ſich ſelbſt klar gewordene
Philoſophie der Spiegel vorgehalten, in welchem
ſie mit klarem Begriffe erkenne, was ſie bisher
ohne deutliches Bewußtſeyn durch die Natur
ward, und wozu ſie von derſelben beſtimmt iſt;
und es wird ihr der Antrag gemacht, nach die¬
ſem klaren Begriffe, und mit beſonnener und
freier Kunſt, vollendet und ganz, ſich ſelbſt zu
dem zu machen, was ſie ſeyn ſoll, den Bund zu
erneuern, und ihren Kreis zu ſchließen. Der
Grundſaz, nach dem ſie dieſen zu ſchließen hat,
iſt ihr vorgelegt; was an Geiſtigkeit, und Frei¬
heit dieſer Geiſtigkeit glaubt, und die ewige
Fortbildung dieſer Geiſtigkeit durch Freiheit
will, das, wo es auch geboren ſey, und in wel¬
cher Sprache es rede, iſt unſers Geſchlechts, es
gehoͤrt uns an und es wird ſich zu uns thun.
Was an Stillſtand, Ruͤkgang, und Zirkeltanz
glaubt, oder gar eine todte Natur an das Ruder
der Weltregierung ſezt, dieſes, wo auch es ge¬
boren ſey, und welche Sprache es rede, iſt un¬
deutſch, und fremd fuͤr uns, und es iſt zu wuͤn¬
ſchen, daß es je eher je lieber ſich gaͤnzlich von
uns abtrenne.


Und ſo trete denn bei dieſer Gelegenheit,
geſtuͤzt auf das oben uͤber die Freiheit geſagte,
[239] endlich auch einmahl vernehmlich heraus, und
wer noch Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre, was
diejenige Philoſophie, die mit gutem Fuge ſich
die deutſche nennt, eigentlich wolle, und worin
ſie jeder auslaͤndiſchen, und todglaͤubigen Phi¬
loſophie mit ernſter, und unerbittlicher Strenge
ſich entgegenſetze; und zwar trete dieſes heraus
keinesweges darum, damit auch das todte es
verſtehe, was unmoͤglich iſt, ſondern damit es
dieſem ſchwerer werde, ihr die Worte zu ver¬
drehen, und ſich das Anſehn zu geben, als ob es
ſelbſt eben auch ohngefaͤhr daſſelbe wolle und
im Grunde meine. Dieſe deutſche Philoſophie
erhebt ſich wirklich und durch die That ihres
Denkens, keinesweges prahlt ſie es bloß, zu¬
folge einer dunklen Ahndung, daß es ſo ſeyn
muͤſſe, ohne es jedoch bewerkſtelligen zu koͤn¬
nen, — ſie erhebt ſich zu dem unwandelbaren
„Mehr denn alle Unendlichkeit,“ und findet
allem in dieſem das wahrhafte Seyn. Zeit, und
Ewigkeit, und Unendlichkeit erblikt ſie in ihrer
Entſtehung aus dem Erſcheinen und Sichtbar¬
werden jenes Einen, das an ſich ſchlechthin un¬
ſichtbar iſt, und nur in dieſer ſeiner Unſichtbarkeit
erfaßt, richtig erfaßt wird. Schon die Unend¬
lichkeit iſt, nach dieſer Philoſophie, nichts an
ſich, und es kommt ihr durchaus kein wahrhaf¬
[240] tes Seyn zu: ſie iſt lediglich das Mittel, woran
das einzige, das da iſt, und das nur in ſeiner
Unſichtbarkeit iſt, ſichtbar wird, und woraus
ihm ein Bild, ein Schemen und Schatten ſei¬
ner ſelbſt, im Umkreiſe der Bildlichkeit erbaut
wird. Alles, was innerhalb dieſer Unendlich¬
keit der Bilderwelt noch weiter ſichtbar werden
mag, iſt nun vollends ein Nichts des Nichts,
ein Schatten des Schatten, und lediglich das
Mittel, woran jenes erſte Nichts der Unendlich¬
keit und der Zeit ſelber ſichtbar werde, und dem
Gedanken der Aufflug zu dem unbildlichen, und
unſichtbaren Seyn ſich eroͤfne.


Innerhalb dieſes einzig moͤglichen Bildes der
Unendlichkeit tritt nun das unſichtbare unmittel¬
bar heraus nur als freies und urſpruͤngliches
Leben des Sehens; oder als Willens-Entſchluß
eines vernuͤnftigen Weſens, und kann durch¬
aus nicht anders heraustreten und erſcheinen.
Alles als nicht geiſtiges Leben erſcheinende be¬
harrliche Daſeyn iſt nur ein aus dem Sehen
hingeworfener, vielfach durch das Nichts ver¬
mittelter, leerer Schatten, im Gegenſatze mit
welchem, und durch deſſen Erkenntniß als viel¬
fach vermitteltes Nichts, das Sehen ſelbſt ſich
eben erheben ſoll zum Erkennen ſeines eignen
Nichts[241] Nichts und zur Anerkennung des unſichtbaren,
als des einzigen wahren.


In dieſen Schatten von den Schatten der
Schatten bleibt nun jene todtglaͤubige Seyns-
Philoſophie, die wohl gar Natur-Philoſophie
wird, die erſtorbenſte von allen Philoſophien,
behangen, und fuͤrchtet, und betet an ihr eige¬
nes Geſchoͤpf.


Dieſes Beharren nun iſt der Ausdruk ihres
wahren Lebens, und ihrer Liebe, und in dieſem iſt
dieſer Philoſophie zu glauben. Wenn ſie aber noch
weiter ſagt, daß dieſes von ihr als wirklich ſey¬
endes vorausgeſezte Seyn, und das Abſolute,
Eins ſey, und eben daſſelbe, ſo iſt ihr hierin,
ſo vielmal ſie es auch betheuern mag, und
wenn ſie auch manchen Eidſchwur hinzufuͤgte,
nicht zu glauben; ſie weiß dies nicht, ſondern
ſie ſagt es nur auf gutes Gluͤk hin, einer andern
Philoſophie, der ſie dies nicht abzuſtreiten wagt,
es nachbetend. Sollte ſie es wiſſen, ſo muͤßte
ſie nicht von der Zweiheit, die ſie durch jenen
Machtſpruch nur aufhebt, und dennoch ſtehen
laͤßt, als einer unbezweifelten Thatſache ausge¬
hen, ſondern ſie muͤßte von der Einheit ausge¬
hen, [und] aus dieſer die Zweiheit, und mit ihr
alle Mannigfaltigkeit verſtaͤndlich und einleuch¬
Q[242] tend abzuleiten vermoͤgen. Hierzu bedarf es
aber des Denkens, der durchgefuͤhrten, und mit
ſich ſelbſt zu Ende gekommene Reflexion. Die
Kunſt dieſes Denkens hat ſie theils nicht gelernt,
und iſt derſelben uͤberhaupt unfaͤhig, ſie ver¬
mag nur zu ſchwaͤrmen, theils iſt ſie dieſem Den¬
ken feind, und mag es gar nicht verſuchen,
weil ſie dadurch in der geliebten Taͤuſchung ge¬
ſtoͤrt werden wuͤrde.


Dies iſt es nun, worin unſere Philoſophie ſich
jener Philoſophie ernſtlich entgegen ſezt, und
dies haben wir bei dieſer Veranlaſſung einmal
ſo veruehmlich als moͤglich, ausſprechen, und
bezeugen wollen.


[243]

Achte Rede.


Was ein Volk ſei, in der hoͤhern
Bedeutung des Worts, und was
Vaterlandsliebe.

Die vier lezten Reden haben die Frage be¬
antwortet: was iſt der Deutſche im Gegen¬
ſatze mit andern Voͤlkern Germaniſcher Ab¬
kunft? Der Beweiß, der durch dieſes alles
fuͤr das Ganze unſrer Unterſuchung gefuͤhrt
werden ſoll, wird vollendet, wenn wir noch
die Unterſuchung der Frage hinzufuͤgen: was
iſt ein Volk: welche leztere Frage gleich iſt
einer andern, und zugleich mit beantwortet
dieſe andere, oft aufgeworfene, und auf ſehr
verſchiedene Weiſen beantwortete Frage, dieſe:
was iſt Vaterlandsliebe, oder, wie man ſich
O 2[244] richtiger ausdruͤcken wuͤrde, was iſt Liebe des
Einzelnen zu ſeiner Nation?


Sind wir bisher im Gange unſrer Unter¬
ſuchung richtig verfahren, ſo muß hiebei zu¬
gleich erhellen, daß nur der Deutſche — der ur¬
ſpruͤngliche, und nicht in einer willkuͤhrlichen
Satzung erſtorbene Menſch, wahrhaft ein Volk
hat, und auf eins zu rechnen befugt iſt, und daß
nur er der eigentlichen und vernunftgemaͤßen
Liebe zu ſeiner Nation faͤhig iſt.


Wir bahnen uns den Weg zur Loͤſung der
geſtellten Aufgabe durch folgende, fuͤrs erſte
außer dem Zuſammenhange des bisherigen zu
liegen ſcheinende Bemerkung.


Die Religion, wie wir dies ſchon in unſrer
dritten Rede angemerkt haben, vermag durch¬
aus hinweg zu verſetzen uͤber alle Zeit, und
uͤber das ganze gegenwaͤrtige, und ſinnliche
Leben, ohne darum der Rechtlichkeit, Sittlich¬
keit, und Heiligkeit des von dieſem Glauben
ergriffenen Lebens den mindeſten Abbruch zu
thun. Man kann, auch bei der ſichern Ueber¬
zeugung, daß alles unſer Wirken auf dieſer
Erde nicht die mindeſte Spur hinter ſich laſſen,
und nicht die mindeſte Frucht bringen werde,
[245] ja, daß das goͤttliche ſogar verkehrt, und zu
einem Werkzeuge des Boͤſen und noch tieferer
ſittlicher Verderbniß werde gebraucht werden,
dennoch fortfahren in dieſem Wirken, lediglich,
um das in uns ausgebrochene goͤttliche Leben
aufrecht zu erhalten, und in Beziehung auf
eine hoͤhere Ordnung der Dinge in einer kuͤnf¬
tigen Welt, in welcher nichts in Gott geſchehe¬
nes zu Grunde geht. So waren z. B. die
Apoſtel, und uͤberhaupt die erſten Chriſten, durch
ihren Glauben an den Himmel, ſchon im Leben
gaͤnzlich uͤber die Erde hinweggeſezt, und die
Angelegenheiten derſelben, der Staat, irdiſches
Vaterland, und Nation, waren von ihnen ſo
gaͤnzlich aufgegeben, daß ſie dieſelben auch ſogar
ihrer Beachtung nicht mehr wuͤrdigten. So
moͤglich dieſes nun auch iſt, und ſo leicht auch,
dem Glauben, und ſo freudig auch man ſich
darein ergeben muß, wenn es einmal unabaͤn¬
derlich der Wille Gottes iſt, daß wir kein irdi¬
ſches Vaterland mehr haben, und hienieden
ausgeſtoßne, und Knechte ſeyen: ſo iſt dies
dennoch nicht der natuͤrliche Zuſtand, und die
Regel des Weltganges, ſondern es iſt eine
ſeltne Ausnahme; auch iſt es ein ſehr verkehr¬
[246] ter Gebrauch der Religion, der unter andern auch
ſehr haͤufig vom Chriſtenthume gemacht wor¬
den, wenn dieſelbe gleich von vorn herein, und
ohne Ruͤkſicht auf die vorhandenen Umſtaͤnde,
darauf ausgeht, dieſe Zuruͤkziehung von den
Angelegenheiten des Staates, und der Nation,
als wahre religioͤſe Geſinnung zu empfehlen.
In einer ſolchen Lage, wenn ſie wahr und wirk¬
lich iſt, und nicht etwa bloß durch religioͤſe
Schwaͤrmerei herbeigefuͤhrt, verliert das zeit¬
liche Leben alle Selbſtbeſtaͤndigkeit, und es
wird lediglich zu einem Vorhofe des wahren
Lebens, und zu einer ſchweren Pruͤfung, die
man bloß aus Gehorſam, und Ergebung in den
Willen Gottes ertraͤgt, und dann iſt es wahr,
daß, wie es von vielen vorgeſtellt worden, un¬
ſterbliche Geiſter nur zu ihrer Strafe in irdiſche
Leiber, als in Gefaͤngniſſe, eingetaucht ſind.
In der regelmaͤßigen Ordnung der Dinge hin¬
gegen ſoll das irdiſche Leben ſelber wahrhaftig
Leben ſeyn, deſſen man ſich erfreuen, und das
man, freilich in Erwartung eines hoͤhern, dank¬
bar genießen koͤnne; und obwohl es wahr iſt,
daß die Religion auch der Troſt iſt des wider¬
rechtlich zerdruͤckten Sklaven, ſo iſt dennoch
[247] vor allen Dingen dies religioͤſer Sinn, daß
man ſich gegen die Sklaverei ſtemme, und,
ſo man es verhindern kann, die Religion nicht
bis zum bloßen Troſte der Gefangenen herab¬
ſinken laſſe. Dem Tyrannen ſieht es wohl an,
religioͤſe Ergebung zu predigen, und die, de¬
nen er auf Erden kein Plaͤzgen verſtatten will,
an den Himmel zu verweiſen; wir andern
muͤſſen weniger eilen, dieſe von ihm empfohlne
Anſicht der Religion uns anzueignen, und,
falls wir koͤnnen, verhindern, daß man die
Erde zur Hoͤlle mache, um eine deſto groͤßere
Sehnſucht nach dem Himmel zu erregen.


Der natuͤrliche, nur im wahren Falle der
Noth aufzugebende Trieb des Menſchen iſt der,
den Himmel ſchon auf dieſer Erde zu finden,
und ewig dauerndes zu verſtoͤßen in ſein irdi¬
ſches Tagewerk; das unvergaͤngliche im zeitli¬
chen ſelbſt zu pflanzen, und zu erziehen, —
nicht bloß auf eine unbegreifliche Weiſe, und
allein durch die, ſterblichen Augen undurch¬
dringbare Kluft mit dem ewigen zuſammen¬
haͤngend, ſondern auf eine dem ſterblichen
Auge ſelbſt ſichtbare Weiſe.

[248]

Daß ich bei dieſem gemeinfaßlichen Bei¬
ſpiele anhebe: Welcher edeldenkeude will nicht,
und wuͤnſcht nicht, in ſeinen Kindern und wie¬
derum in den Kindern dieſer, ſein eigenes Leben
von neuem, auf eine verbeſſerte Weiſe, zu wie¬
derholen, und in dem Leben derſelben veredelt,
und vervollkommnet, auch auf dieſer Erde, noch
fortzuleben, nachdem er laͤngſt geſtorben iſt;
den Geiſt, den Sinn, und die Sitte, mit denen
er vielleicht in ſeinen Tagen abſchreckend war
fuͤr die Verkehrtheit, und das Verderben, be¬
feſtigend die Rechtſchaffenheit, aufmunternd
die Traͤgheit, erhebend die Niedergeſchlagen¬
heit, der Sterblichkeit zu entreißen, und ſie,
als ſein beſtes Vermaͤchtniß an die Nachwelt,
niederzulegen in den Gemuͤthern ſeiner Hinter¬
laſſenen, damit auch dieſe ſie einſt eben alſo,
verſchoͤnert und vermehrt, wieder niederlegen?
Welcher Edeldenkende will nicht durch Thun
oder Denken, ein Saamenkorn ſtreuen zu unend¬
licher immerfortgehender Vollkommnung ſeines
Geſchlechts, etwas neues, und vorher nie da
geweſenes hineinwerfen in die Zeit, das in ihr
bleibe, und nie verſiegende Quelle werde neuer
Schoͤpfungen; ſeinen Plaz auf dieſer Erde, und
[249] die ihm verliehene kurze Spanne Zeit bezahlen
mit einem auch hienieden ewig dauernden, ſo,
daß er, als dieſer Einzelne, wenn auch nicht ge¬
nannt durch die Geſchichte, (denn Durſt nach
Nachruhm iſt eine veraͤchtliche Eitelkeit) den¬
noch in ſeinem eignen Bewußtſeyn und ſeinem
Glauben offenbare, Denkmale hinterlaſſe, daß
auch Er da geweſen ſey? Welcher Edeldenkende
will das nicht, ſagte ich; aber nur nach den
Beduͤrfniſſen der alſo denkenden, als der Re¬
gel, wie alle ſeyn ſollten, iſt die Welt zu be¬
trachten und einzurichten, und um ihrer willen
allein iſt eine Welt da. Sie ſind der Kern der¬
ſelben, und die anders denkenden ſind, als
ſelbſt nur ein Theil der vergaͤnglichen Welt, ſo
lange ſie alſo denken, auch nur um ihrer wil¬
len da, und muͤſſen ſich nach ihnen bequemen,
ſo lange, bis ſie geworden ſind, wie ſie.


Was koͤnnte es nun ſeyn, das dieſer Auf¬
forderung und dieſem Glauben des Edlen an
die Ewigkeit und Unvergaͤnglichkeit ſeines Wer¬
kes, die Gewaͤhr zu leiſten vermoͤchte? Offenbar
nur eine Ordnung der Dinge, die er fuͤr ſelbſt
ewig, und fuͤr faͤhig, ewiges in ſich aufzuneh¬
men, anzuerkennen vermoͤchte. Eine ſolche
[250] Ordnung aber iſt die, freilich in keinem Be¬
griffe zu erfaſſende, aber dennoch wahrhaft vor¬
handne, beſondere geiſtige Natur der menſchli¬
chen Umgebung, aus welcher er ſelbſt mit allem
ſeinen Denken, und Thun und mit ſeinem
Glauben an die Ewigkeit deſſelben hervorge¬
gangen iſt, das Volk, von welchem er ab¬
ſtammt, und unter welchem er gebildet wurde,
und zu dem, was er jezt iſt, heraufwuchs.
Denn ſo unbezweifelt es auch wahr iſt, daß
ſein Werk, wenn er mit Recht Anſpruch macht
auf deſſen Ewigkeit, keinesweges der bloße Er¬
folg des geiſtigen Naturgeſetzes ſeiner Nation
iſt, und mit dieſem Erfolge rein aufgeht, ſon¬
dern daß es ein Mehreres iſt, denn das, und
inſofern unmittelbar ausſtroͤmt aus dem ur¬
ſpruͤnglichen und goͤttlichen Leben; ſo iſt es
dennoch eben ſo wahr, daß jenes mehrere, ſo¬
gleich bei ſeiner erſten Geſtaltung zu einer ſicht¬
baren Erſcheinung, unter jenes beſondere gei¬
ſtige Naturgeſez ſich gefuͤgt, und nur nach dem¬
ſelben ſich einen ſinnlichen Ausdruk gebildet
hat. Unter daſſelbe Naturgeſetz nun werden,
ſo lange dieſes Volk beſteht, auch alle fernere
Offenbarungen des goͤttlichen in demſelben ein¬
[251] treten, und in ihm ſich geſtalten. Dadurch
aber, daß auch er da war, und ſo wirkte, iſt
ſelbſt dieſes Geſez weiter beſtimmt, und ſeine
Wirkſamkeit iſt ein ſtehender Beſtandtheil deſ¬
ſelben geworden. Auch hiernach wird alles
folgende ſich fuͤgen, und an daſſelbe ſich an¬
ſchließen muͤſſen. Und ſo iſt er denn ſicher, daß
die durch ihn errungene Ausbildung bleibt in
ſeinem Volke, ſo lange dieſes ſelbſt bleibt, und
fortdauernder Beſtimmungsgrund wird aller
fernern Entwiklung deſſelben.


Dies nun iſt in hoͤherer vom Standpunkte
der Anſicht einer geiſtigen Welt uͤberhaupt ge¬
nommener Bedeutung des Worts, ein Volk:
das Ganze der in Geſellſchaft mit einander
fortlebenden, und ſich aus ſich ſelbſt immerfort
natuͤrlich und geiſtig erzeugenden Menſchen,
das insgeſammt unter einem gewiſſen beſon¬
dern Geſetze der Entwiklung des goͤttlichen aus
ihm ſteht. Die Gemeinſamkeit dieſes beſon¬
dern Geſetzes iſt es, was in der ewigen Welt,
und eben darum auch in der zeitlichen, dieſe
Menge zu einem natuͤrlichen, und von ſich ſelbſt
durchdrungenen Ganzen verbindet. Dieſes Ge¬
ſez ſelbſt ſeinem Inhalte nach, kann wohl im
[252] Ganzen erfaßt werden, ſo wie wir es an den
Deutſchen, als einem Urvolke, erfaßt haben;
es kann ſogar durch Erwaͤgung der Erſcheinun¬
gen eines ſolchen Volkes noch naͤher in man¬
chen ſeiner weitern Beſtimmungen begriffen
werden; aber es kann niemals von irgend
einem, der ja ſelbſt immerfort unter deſſelben
ihm unbewußten Einfluſſe bleibt, ganz mit dem
Begriffe durchdrungen werden; obwohl im All¬
gemeinen klar eingeſehen werden kann, daß es
ein ſolches Geſez gebe. Es iſt dieſes Geſez ein
Mehr der Bildlichkeit, daß mit dem Mehr der
unbildlichen Urſpruͤnglichkeit, in der Erſcheinung
unmittelbar verſchmilzt; und ſo ſind denn, in
der Erſcheinung eben, beide nicht wieder zu
trennen. Jenes Geſez beſtimmt durchaus und
vollendet das, was man den National-Cha¬
rakter eines Volks genannt hat; jenes Geſez
der Entwiklung des urſpruͤnglichen, und goͤtt¬
lichen. Es iſt aus dem leztern klar, daß Men¬
ſchen, welche ſo wie wir bisher die Auslaͤnderei
beſchrieben haben, an ein urſpruͤngliches, und
an eine Fortentwiklung deſſelben gar nicht
glauben, ſondern bloß an einen ewigen Kreis¬
lauf des ſcheinbaren Lebens, und welche durch
[253] ihren Glauben werden, wie ſie glauben, im
hoͤhern Sinne gar kein Volk ſind, und da ſie
in der That eigentlich auch nicht da ſind, eben
ſo wenig einen Nationalcharakter zu haben
vermoͤgen.


Der Glaube des edlen Menſchen an die
ewige Fortdauer ſeiner Wirkſamkeit auch auf
dieſer Erde gruͤndet ſich demnach auf die Hof¬
nung der ewigen Fortdauer des Volks, aus
dem er ſelber ſich entwickelt hat, und der Eigen¬
thuͤmlichkeit deſſelben, nach jenem verborgenen
Geſetze; ohne Einmiſchung und Verderbung
durch irgend ein fremdes, und in das Ganze
dieſer Geſezgebung nicht gehoͤriges. Dieſe
Eigenthuͤmlichkeit iſt das ewige, dem er die
Ewigkeit ſeiner ſelbſt und ſeines Fortwirkens
anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge,
in die er ſein ewiges legt; ihre Fortdauer muß
er wollen, denn ſie allein iſt ihm das entbin¬
dende Mittel, wodurch die kurze Spanne ſeines
Lebens hienieden zu fortdauerndem Leben hie¬
nieden ausgedehnt wird. Sein Glaube, und
ſein Streben, unvergaͤngliches zu pflanzen,
ſein Begriff, in welchem er ſein eignes Leben
als ein ewiges Leben erfaßt, iſt das Band,
[254] welches zunaͤchſt ſeine Nation, und vermittelſt
ihrer das ganze Menſchengeſchlecht, innigſt mit
ihm ſelber verknuͤpft, und ihrer aller Beduͤrf¬
niſſe, bis ans Ende der Tage, einfuͤhrt in ſein
erweitertes Herz. Dies iſt ſeine Liebe zu ſei¬
nem Volke, zuvoͤrderſt achtend, vertrauend,
deſſelben ſich freuend, mit der Abſtammung
daraus ſich ehrend. Es iſt goͤttliches in ihm
erſchienen, und das urſpruͤngliche hat daſſelbe
gewuͤrdigt, es zu ſeiner Huͤlle, und zu ſeinem
unmittelbaren Verfloͤßungsmittel in die Welt zu
machen; es wird darum auch ferner goͤttliches
aus ihm hervorbrechen. Sodann thaͤtig, wirk¬
ſam, ſich aufopfernd fuͤr daſſelbe. Das Leben,
bloß als Leben, als Fortſetzen des wechſelnden
Daſeyns, hat fuͤr ihn ja ohne dies nie Werth
gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des
dauernden; aber dieſe Dauer, verſpricht ihm
allein die ſelbſtſtaͤndige Fortdauer ſeiner Na¬
tion; um dieſe zu retten, muß er ſogar ſterben
wollen, damit dieſe lebe, und er in ihr lebe das
einzige Leben, das er von je gemocht hat.


So iſt es. Die Liebe, die wahrhaftig Liebe
ſey, und nicht bloß eine voruͤbergehende Be¬
gehrlichkeit, haftet nie auf vergaͤnglichem, ſon¬
[255] dern ſie erwacht, und entzuͤndet ſich, und ruht
allein in dem ewigen. Nicht einmal ſich ſelbſt
vermag der Menſch zu lieben, es ſey denn, daß
er ſich als ewiges erfaſſe: außerdem vermag
er ſich ſogar nicht zu achten, noch zu billigen.
Noch weniger vermag er etwas außer ſich zu
lieben, außer alſo, daß er es aufnehme in die
Ewigkeit ſeines Glaubens und ſeines Gemuͤths,
und es anknuͤpfe an dieſe. Wer nicht zufoͤr¬
derſt ſich als ewig erblikt, der hat uͤberhaupt
keine Liebe, und kann auch nicht lieben ein
Vaterland, dergleichen es fuͤr ihn nicht giebt.
Wer zwar vielleicht ſein unſichtbares Leben,
nicht aber eben alſo ſein ſichtbares Leben, als
ewig erblikt, der mag wohl einen Himmel ha¬
ben, und in dieſem ſein Vaterland, aber hie¬
nieden hat er kein Vaterland, denn auch die¬
ſes wird nur unter dem Bilde der Ewigkeit,
und zwar der ſichtbaren, und verſinnlichten
Ewigkeit erblikt, und er vermag daher auch
nicht ſein Vaterland zu lieben. Iſt einem ſol¬
chen keins uͤberliefert worden, ſo iſt er zu be¬
klagen; wem Eins uͤberliefert worden iſt, und
in weſſen Gemuͤthe Himmel und Erde, unſicht¬
bares, und ſichtbares ſich durchdringen, und
[256] ſo erſt einen wahren und gediegenen Himmel
erſchaffen, der kaͤmpft bis auf den lezten
Blutstropfen, um den theuren Beſitz unge¬
ſchmaͤlert wiederum zu uͤberliefern an die
Folgezeit.


So iſt es auch von jeher geweſen, ohnerachtet
es nicht von jeher mit dieſer Allgemeinheit, und
mit dieſer Klarheit [ausgeſprochen] worden.
Was begeiſterte die edlen unter den Roͤmern,
deren Geſinnungen und Denkweiſe noch in ih¬
ren Denkmalen unter uns leben, und athmen,
zu Muͤhen und Aufopferungen, zum Dulden und
Tragen fuͤrs Vaterland? Sie ſprechen es ſelbſt
oft und deutlich aus. Ihr feſter Glaube war
es an die ewige Fortdaner ihrer Roma, und
ihre zuverſichtliche Ausſicht, in dieſer Ewigkeit
ſelber ewig mit fortzuleben im Strome der Zeit.
Inwiefern dieſer Glaube Grund hatte, und
ſie ſelbſt, wenn ſie in ſich ſelber vollkommen
klar geweſen waͤren, denſelben gefaßt haben
wuͤrden, hat er ſie auch nicht getaͤuſcht. Bis
auf dieſen Tag lebet das, was wirklich ewig
war in ihrer ewigen Roma, und ſie mit dem¬
ſelben, in unſrer Mitte fort, und wird in ſei¬
nen Folgen fortleben bis ans Ende der Tage.

Volk[257]

Volk und Vaterland in dieſer Bedeutung,
als Traͤger, und Unterpfand der irdiſchen Ewig¬
keit, und als dasjenige, was hienieden ewig
ſeyn kann, liegt weit hinaus uͤber den Staat,
im gewoͤhnlichen Sinne des Worts, — uͤber die
geſellſchaftliche Ordnung, wie dieſelbe im blo¬
ßen klaren Begriffe erfaßt, und nach Anleitung
dieſes Begriffs errichtet und erhalten wird.
Dieſer will gewiſſes Recht, innerlichen Frie¬
den, und daß jeder durch Fleiß ſeinen Unter¬
halt, und die Friſtung ſeines ſinnlichen Daſeyns
finde, ſo lange Gott ſie ihm gewaͤhren will.
Dieſes alles iſt nur Mittel, Bedingung, und
Geruͤſt deſſen, was die Vaterlandsliebe eigent¬
lich will, des Ausbluͤhens des ewigen, und
goͤttlichen in der Welt, immer reiner, voll¬
kommner und getroffener im unendlichen Fort¬
gange. Eben darum muß dieſe Vaterlands¬
liebe den Staat ſelbſt regieren, als durchaus
oberſte, lezte, und unabhaͤngige Behoͤrde, zu¬
foͤrderſt, indem ſie ihn beſchraͤnkt in der Wahl
der Mittel fuͤr ſeinen naͤchſten Zwek, den inner¬
lichen Frieden. Fuͤr dieſen Zwek muß freilich
die natuͤrliche Freiheit des Einzelnen auf man¬
R[258] cherlei Weiſe beſchraͤnkt werden, und wenn
man gar keine andere Ruͤkſicht und Abſicht mit
ihnen haͤtte, denn dieſe, ſo wuͤrde man wohl
thun, dieſelbe ſo eng, als immer moͤglich, zu be¬
ſchraͤnken, alle ihre Regungen unter eine ein¬
foͤrmige Regel zu bringen, und ſie unter im¬
merwaͤhrender Aufſicht zu erhalten. Geſezt
dieſe Strenge waͤre nicht noͤthig, ſo koͤnnte ſie
wenigſtens fuͤr dieſen alleinigen Zwek nicht
ſchaden. Nur die hoͤhere Anſicht des Men¬
ſchengeſchlechts, und der Voͤlker, erweitert dieſe
beſchraͤnkte Berechnung. Freiheit, auch in den
Regungen des aͤußerlichen Lebens, iſt der Bo¬
den, in welchem die hoͤhere Bildung keimt; eine
Geſezgebung, welche dieſe leztere im Auge be¬
haͤlt, wird der erſteren einen moͤglichſt ausge¬
breiteten Kreis laſſen, ſelber auf die Gefahr
hin, daß ein geringerer Grad der einfoͤrmigen
Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regie¬
ren ein wenig ſchwerer, und muͤhſamer werde.


Um dies an einem Beiſpiele zu erlaͤutern:
man hat erlebt, daß Nationen ins Angeſicht
geſagt worden, ſie beduͤrften nicht ſo vieler Frei¬
heit, als etwa manche andere Nation. Dieſe
[259] Rede kann ſogar eine Schonung und Milde¬
rung enthalten, indem man eigentlich ſagen
wollte, ſie koͤnnte ſo viele Freiheit gar nicht er¬
tragen, und nur eine hohe Strenge koͤnne ver¬
hindern, daß ſie ſich nicht unter einander ſelber
aufrieben. Wenn aber die Worte alſo genom¬
men werden, wie ſie geſagt ſind, ſo ſind ſie
wahr unter der Vorausſetzung, daß eine ſolche
Nation des urſpruͤnglichen Lebens, und des
Triebes nach ſolchem, durchaus unfaͤhig ſey.
Eine ſolche Nation, falls eine ſolche, in der
auch nicht wenige edlere eine Ausnahme von
der allgemeinen Regel machten, moͤglich ſeyn
ſollte, beduͤrfte in der That gar keiner Freiheit,
denn dieſe iſt nur fuͤr die hoͤhere uͤber den Staat
hinaus liegenden Zweke; ſie bedarf bloß der
Bezaͤhmung, und Abrichtung, damit die Ein¬
zelnen friedlich neben einander beſtehen, und
damit das Ganze zu einem tuͤchtigen Mittel fuͤr
willkuͤhrlich zu ſetzende außer ihr liegende
Zweke zubereitet werde. Wir koͤnnen unent¬
ſchieden laſſen, ob man irgend einer Nation
dies mit Wahrheit ſagen koͤnne; ſo viel iſt klar,
daß ein urſpruͤngliches Volk der Freiheit be¬
R 2[260] darf, daß dieſe das Unterpfand iſt ſeines Be¬
harrens als urſpruͤnglich, und daß es in ſeiner
Fortdauer einen immer hoͤher ſteigenden Grad
derſelben ohne alle Gefahr ertraͤgt. Und dies
iſt das erſte Stuͤk, in Ruͤkſicht deſſen die Vater¬
landsliebe den Staat ſelbſt regieren muß.


Sodann muß ſie es ſeyn, die den Staat
darin regiert, daß ſie ihm ſelbſt einen hoͤhern
Zwek ſezt, denn den gewoͤhnlichen der Erhal¬
tung des innern Friedens, des Eigenthums,
der perſoͤnlichen Freiheit, des Lebens, und des
Wohlſeyns aller. Fuͤr dieſen hoͤhern Zwek
allein, und in keiner andern Abſicht bringt der
Staat eine bewafnete Macht zuſammen. Wenn
von der Anwendung dieſer die Rede entſteht,
wenn es gilt, alle Zweke des Staats im bloßen
Begriffe, Eigenthum, perſoͤnliche Freiheit,
Leben, und Wohlſeyn, ja die Fortdauer des
Staats ſelbſt, auf das Spiel zu ſetzen; ohne
einen klaren Verſtandesbegriff von der ſichern
Erreichung des beabſichtigten, dergleichen in
Dingen dieſer Art nie moͤglich iſt, urſpruͤnglich
und Gott allein verantwortlich, zu entſcheiden:
dann lebt am Ruder des Staates erſt ein
[261] wahrhaft urſpruͤngliches und erſtes Leben, und
an dieſer Stelle erſt treten ein die wahren Ma¬
jeſtaͤtsrechte der Regierung, gleich Gott um
hoͤhern Lebens willen das niedere Leben daran
zu wagen. In der Erhaltung der hergebrachten
Verfaſſung, der Geſetze, des buͤrgerlichen
Wohlſtandes, iſt gar kein rechtes eigentliches
Leben, und kein urſpruͤnglicher Entſchluß.
Umſtaͤnde, und Lage, laͤngſt vielleicht verſtor¬
bene Geſezgeber, haben dieſe erſchaffen; die fol¬
genden Zeitalter gehen glaͤubig fort auf der an¬
getretenen Bahn, und leben ſo in der That
nicht ein eignes oͤffentliches Leben, ſondern ſie
wiederholen nur ein ehemaliges Leben. Es be¬
darf in ſolchen Zeiten keiner eigentlichen Re¬
gierung. Wenn aber dieſer gleichmaͤßige Fort¬
gang in Gefahr geraͤth, und es nun gilt, uͤber
neue, nie alſo da geweſene Faͤlle zu entſchei¬
den; dann bedarf es eines Lebens, das aus
ſich ſelber lebe. Welcher Geiſt nun iſt es, der
in ſolchen Faͤllen ſich an das Ruder ſtellen
duͤrfe, der mit eigner Sicherheit und Gewißheit,
und ohne unruhiges Hin- und Herſchwanken
zu entſcheiden vermoͤge, der ein unbezweifeltes
[262] Recht habe, jedem, den es treffen mag, ob er
nun ſelbſt es wolle oder nicht, gebietend an¬
zumuthen, und den Widerſtrebenden zu zwin¬
gen, daß er alles, bis auf ſein Leben, in Ge¬
fahr ſetze? Nicht der Geiſt der ruhigen buͤr¬
gerlichen Liebe der Verfaſſung, und der Geſetze,
ſondern die verzehrende Flamme der hoͤheren
Vaterlandsliebe, die die Nation als Huͤlle des
ewigen umfaßt, fuͤr welche der Edle mit Freu¬
den ſich opfert, und der Unedle, der nur um
des erſten willen da iſt, ſich eben opfern ſoll.
Nicht jene buͤrgerliche Liebe der Verfaſſung iſt
es; dieſe vermag dies gar nicht, wenn ſie bei
Verſtande bleibt. Wie es auch ergehen moͤge,
da nicht umſonſt regiert wird, ſo wird ſich im¬
mer ein Regent fuͤr ſie finden. Laſſet den neuen
Regenten ſogar die Sklaverei wollen (und wo
iſt Sklaverei, außer in der Nichtachtung, und
Unterdruͤckung der Eigenthuͤmlichkeit eines ur¬
ſpruͤnglichen Volkes, dergleichen fuͤr jenen
Sinn nicht vorhanden iſt?) — Laſſet ihn auch
die Sklaverei wollen, — da aus dem Leben der
Sklaven, ihrer Menge, ſogar ihrem Wohl¬
ſtande ſich Nutzung ziehen laͤßt, ſo wird, wenn
[265] er nur einigermaßen ein Rechner iſt, die Skla¬
verei unter ihm ertraͤglich ausfallen. Leben
und Unterhalt wenigſtens werden ſie immer fin¬
den. Wofuͤr ſollten ſie denn alſo kaͤmpfen?
Nach jenen beiden iſt es die Ruhe, die ihnen
uͤber alles geht. Dieſe wird durch die Fort¬
dauer des Kampfes nur geſtoͤrt. Sie werden
darum alles anwenden, daß dieſer nur recht
bald ein Ende nehme, ſie werden ſich fuͤgen, ſie
werden nachgeben, und warum ſollten ſie nicht?
Es iſt ihnen ja nie um mehr zu thun geweſen,
und ſie haben vom Leben nie etwas weiteres
gehofft, denn die Fortſetzung der Gewohn¬
heit dazuſeyn unter erleidlichen Bedingungen.
Die Verheißung eines Lebens auch hienieden
uͤber die Dauer des Lebens hienieden hinaus,
— allein dieſe iſt es, die bis zum Tode fuͤrs
Vaterland begeiſtern kann.


So iſt es auch bisher geweſen. Wo da
wirklich regiert worden iſt, wo beſtanden wor¬
den ſind ernſthafte Kaͤmpfe, wo der Sieg er¬
rungen worden iſt gegen gewaltigen Wider¬
ſtand, da iſt es jene Verheißung ewigen Lebens
geweſen, die da regierte, und kaͤmpfte, und
[264] ſiegte. Im Glauben an dieſe Verheißung
kaͤmpften die in dieſen Reden fruͤher erwaͤhn¬
ten deutſchen Proteſtanten. Wußten ſie etwa
nicht, daß auch mit dem alten Glauben Voͤlker
regiert, und in rechtlicher Ordnung zuſammen¬
gehalten werden koͤnnten, und daß man auch
bei dieſem Glauben ſeinen guten Lebensunter¬
halt finden koͤnne? Warum beſchloſſen denn
alſo ihre Fuͤrſten bewafneten Widerſtand, und
warum leiſteten ihn mit Begeiſterung die Voͤl¬
ker? — Der Himmel war es, und die ewige See¬
ligkeit, fuͤr welche ſie willig ihr Blut vergoſſen. —
Aber welche irdiſche Gewalt haͤtte denn auch in
das innere Heiligthum ihres Gemuͤths eindrin¬
gen, und den Glauben, der ihnen ja nun ein¬
mal aufgegangen war, und auf welchen allein
ſie ihrer Seeligkeit Hofnung gruͤndeten, darin
austilgen koͤnnen? Alſo, auch ihre eigne See¬
ligkeit war es nicht, fuͤr die ſie kaͤmpften; dieſer
waren ſie ſchon verſichert: die Seeligkeit ihrer
Kinder, ihrer noch ungebornen Enkel, und aller
noch ungebornen Nachkommenſchaft war es;
auch dieſe ſollten auferzogen werden in derſel¬
ben Lehre, die ihnen als allein heilbringend er¬
[265] ſchienen war, auch dieſe ſollten theilhaftig wer¬
den des Heiles, das fuͤr ſie angebrochen war;
dieſe Hofnung allein war es, die durch den
Feind bedroht wurde, fuͤr ſie, fuͤr eine Ord¬
nung der Dinge, die lange nach ihrem Tode
uͤber ihren Graͤbern bluͤhen ſollte, verſprizten
ſie mit dieſer Freudigkeit ihr Blut. Geben
wir zu, daß ſie ſich ſelbſt nicht ganz klar wa¬
ren, daß ſie in der Bezeichnung des edelſten,
was in ihnen war, mit Worten ſich vergriffen,
und mit dem Munde ihrem Gemuͤthe unrecht
thaten; bekennen wir gern, daß ihr Glaubens¬
bekenntniß nicht das einige, und ausſchließende
Mittel war, des Himmels jenſeits des Grabes
theilhaftig zu werden: ſo iſt doch dies ewig
wahr, daß mehr Himmel dieſſeits des Grabes,
ein muthigeres und froͤhlicheres Emporblicken
von der Erde, und eine freiere Regung des
Geiſtes, durch ihre Aufopferung, in alles Leben
der Folgezeit gekommen iſt, und die Nachkom¬
men ihrer Gegner eben ſo wohl, als wir ſelbſt,
ihre Nachkommen, die Fruͤchte ihrer Muͤhen
bis auf dieſen Tag genießen.


In dieſem Glauben ſezten unſre aͤlteſten
[266] gemeinſamen Vorfahren, das Stammvolk der
neuen Bildung, die von den Roͤmern Germa¬
nier genannten Deutſchen, ſich der herandrin¬
genden Weltherrſchaft der Roͤmer muthig ent¬
gegen. Sahen ſie denn nicht vor Augen den
hoͤhern Flor der Roͤmiſchen Provinzen neben
ſich, die feinern Genuͤſſe in denſelben, dabei
Geſetze, Richterſtuͤhle, Ruthenbuͤndel, und Beile
in Ueberfluß? Waren die Roͤmer nicht bereit¬
willig genug, ſie an allen dieſen Seegnungen
Theil nehmen zu laſſen? Erlebten ſie nicht an
mehrern ihrer eigenen Fuͤrſten, die ſich nur
bedeuten ließen, daß der Krieg gegen ſolche
Wohlthaͤter der Menſchheit Rebellion ſei, Be¬
weiſe der geprieſenen Roͤmiſchen Klemenz, in¬
dem ſie die Nachgiebigen mit Koͤnigstiteln,
mit Anfuͤhrerſtellen in ihren Heeren, mit Roͤ¬
miſchen Opferbinden auszierten, ihnen, wenn
ſie etwa von ihren Landsleuten ausgetrieben
wurden, einen Zufluchtsort, und Unterhalt in
ihren Pflanzſtaͤdten gaben? Hatten ſie keinen
Sinn fuͤr die Vorzuͤge Roͤmiſcher Bildung, z.B.
fuͤr die beſſere Einrichtung ihrer Heere, in denen
ſogar ein Arminius das Kriegshandwerk zu
[267] erlernen nicht verſchmaͤhte? Keine von allen
dieſen Unwiſſenheiten, oder Nichtbeachtungen
iſt ihnen aufzuruͤkken. Ihre Nachkommen ha¬
ben ſogar, ſobald ſie es ohne Verluſt fuͤr ihre
Freiheit konnten, die Bildung derſelben ſich
angeeignet, in wie weit es ohne Verluſt ihrer
Eigenthuͤmlichkeit moͤglich war. Wofuͤr haben
ſie denn alſo mehrere Menſchenalter hindurch
gekaͤmpft im blutigen, immer mit derſelben
Kraft ſich wieder erneuernden Kriege? Ein
Roͤmiſcher Schriftſteller laͤßt es ihre Anfuͤhrer
alſo ausſprechen: „ob ihnen denn etwas ande¬
„res uͤbrig bleibe, als entweder die Freiheit
„zu behaupten, oder zu ſterben, bevor ſie Skla¬
„ven wuͤrden.“ Freiheit war ihnen, daß ſie
eben Deutſche blieben, daß ſie fortfuͤhren ihre
Angelegenheiten ſelbſtſtaͤndig, und urſpruͤng¬
lich, ihrem eignen Geiſte gemaͤß, zu entſcheiden,
und dieſem gleichfalls gemaͤß auch in ihrer
Fortbildung vorwaͤrts zu ruͤkken, und daß ſie
dieſe Selbſtſtaͤndigkeit auch auf ihre Nachkom¬
menſchaft fortpflanzten: Sklaverei hießen ih¬
nen alle jene Segnungen, die ihnen die Roͤ¬
mer antrugen, weil ſie dabei etwas anderes,
[268] denn Deutſche, weil ſie halbe Roͤmer werden
muͤßten. Es verſtehe ſich von ſelbſt, ſezten
ſie voraus, daß jeder, ehe er dies werde, lieber
ſterbe, und daß ein wahrhafter Deutſcher nur
koͤnne leben wollen, um eben Deutſcher zu ſeyn,
und zu bleiben, und die ſeinigen zu eben
ſolchen zu bilden.


Sie ſind nicht alle geſtorben, ſie haben die
Sklaverei nicht geſehen, ſie haben die Freiheit
hinterlaſſen ihren Kindern. Ihrem beharr¬
lichen Widerſtande verdankt es die ganze neue
Welt, daß ſie da iſt, ſo wie ſie da iſt. Waͤre
es den Roͤmern gelungen, auch ſie zu unter¬
jochen, und, wie dies der Roͤmer allenthalben
that, ſie als Nation auszurotten, ſo haͤtte die
ganze Fortentwiklung der Menſchheit eine an¬
dere, und man kann nicht glauben erfreulichere
Richtung genommen. Ihnen verdanken wir,
die naͤchſten Erben ihres Bodens, ihrer Sprache,
und ihrer Geſinnung, daß wir noch Deutſche
ſind, daß der Strom urſpruͤnglichen und ſelbſt¬
ſtaͤndigen Lebens uns noch traͤgt, ihnen verdan¬
ken wir alles, was wir ſeitdem als Nation ge¬
weſen ſind, ihnen, falls es nicht etwa jetzo mit
[269] uns zu Ende iſt, und der lezte von ihnen ab¬
geſtammte Blutstropfen in unſern Adern ver¬
ſiegt iſt, ihnen werden wir verdanken, alles,
was wir noch ferner ſeyn werden. Ihnen
verdanken ſelbſt die uͤbrigen, uns jezt zum
Auslande gewordenen Staͤmme, in ihnen
unſre Bruͤder, ihr Daſeyn; als jene die ewige
Roma beſiegten, war noch keins aller die¬
ſer Voͤlker vorhanden; damals wurde zugleich
auch ihnen die Moͤglichkeit ihrer kuͤnftigen Ent¬
ſtehung mit erkaͤmpft.


Dieſe, und alle andere in der Weltge¬
ſchichte, die ihres Sinnes waren, haben ge¬
ſiegt, weil das Ewige ſie begeiſterte, und ſo
ſiegt immer und nothwendig dieſe Begeiſterung
uͤber den, der nicht begeiſtert iſt. Nicht die
Gewalt der Arme, noch die Tuͤchtigkeit der
Waffen, ſondern die Kraft des Gemuͤths iſt es,
welche Siege erkaͤmpft. Wer ein begrenztes
Ziel ſich ſezt ſeiner Aufopferungen, und ſich
nicht weiter wagen mag, als bis zu einem
gewiſſen Punkte, der giebt den Widerſtand auf,
ſobald die Gefahr ihm an dieſen durchaus
nicht aufzugebenden noch zu entbehrenden
[270] Punkt kommt. Wer gar kein Ziel ſich geſezt
hat, ſondern alles, und das hoͤchſte, was man
hienieden verlieren kann, das Leben, daran
ſezt, giebt den Widerſtand nie auf, und ſiegt,
ſo der Gegner ein begrenzteres Ziel hat, ohne
Zweifel. Ein Volk, das da faͤhig iſt, ſey es
auch nur in ſeinen hoͤchſten Stellvertretern,
und Anfuͤhrern, das Geſicht aus der Geiſter¬
welt, Selbſtſtaͤndigkeit, feſt ins Auge zu faſſen,
und von der Liebe dafuͤr ergriffen zu werden,
wie unſre aͤlteſten Vorfahren, ſiegt gewiß uͤber
ein ſolches, das nur zum Werkzeuge fremder
Herrſchſucht, und zu Unterjochung ſelbſtſtaͤndiger
Voͤlker gebraucht wird, wie die Roͤmiſchen
Heere; denn die erſtern haben alles zu verlie¬
ren, die leztern bloß einiges zu gewinnen.
Ueber die Denkart aber, die den Krieg als ein
Gluͤksſpiel anſieht, um zeitlichen Gewinn oder
Verluſt, und bei der ſchon, ehe ſie das Spiel
anfaͤngt, feſt ſteht, bis zu welcher Summe ſie
auf die Charten ſetzen wolle, ſiegt ſogar eine
Grille. Denken ſie ſich z. B. einen Maho¬
met, — nicht den wirklichen der Geſchichte,
uͤber welchen ich kein Urtheil zu haben bekenne,
[271] ſondern den eines bekannten franzoͤſiſchen Dich¬
ters, — der ſich einmal feſt in den Kopf ge¬
ſezt habe, er ſey eine der ungemeinen Natu¬
ren, die da berufen ſind, das dunkle, das ge¬
meine Erdenvolk zu leiten, und dem, zufolge
dieſer erſten Vorausſetzung, alle ſeine Einfaͤlle,
ſo duͤrftig und ſo beſchraͤnkt ſie auch in der
That ſeyn moͤgen, dieweil es die ſeinigen ſind,
nothwendig erſcheinen muͤſſen, als große und
erhabene und beſeeligende Ideen, und alles,
was denſelben ſich widerſezt, als dunkles ge¬
meines Volk, Feinde ihres eignen Wohls,
uͤbelgeſinnte, und haſſenswuͤrdige; der nun,
um dieſen ſeinen Eigenduͤnkel vor ſich ſelbſt
als goͤttlichen Ruf zu rechtfertigen, und ganz
aufgegangen in dieſem Gedanken mit all ſei¬
nem Leben, alles daran ſetzen muß, und nicht
ruhen kann, bis er alles, das nicht eben ſo
groß von ihm denken will, denn er ſelbſt, zer¬
treten hat, und bis aus der ganzen Mitwelt
ſein eigner Glaube an ſeine goͤttliche Sendung
ihm zuruͤckſtrale; ich will nicht ſagen, wie es
ihm ergehen wuͤrde, falls wirklich ein geiſtiges
Geſicht, das da wahr iſt und klar in ſich ſelbſt,
[272] gegen ihn in die Kampfbahn traͤte, aber jenen
beſchraͤnkten Gluͤksſpielern gewinnt er es ſicher
ab, denn er ſezt alles, gegen ſie, die nicht
alles ſezen; ſie treibt kein Geiſt, ihn aber treibt
allerdings ein ſchwaͤrmeriſcher Geiſt, — der ſei¬
nes gewaltigen und kraͤftigen Eigenduͤnkels.


Aus allem gehet hervor, daß der Staat,
als bloßes Regiment des im gewoͤhnlichen fried¬
lichen Gange fortſchreitenden menſchlichen Le¬
bens, nichts erſtes, und fuͤr ſich ſelbſt ſeyendes,
ſondern daß er bloß das Mittel iſt fuͤr den
hoͤhern Zweck der ewig gleichmaͤßig fortgehen¬
den Ausbildung des rein menſchlichen in dieſer
Nation; daß es allein das Geſicht, und die
Liebe dieſer ewigen Fortbildung iſt, welche im¬
merfort auch in ruhigen Zeitlaͤuften die hoͤhere
Aufſicht uͤber die Staatsverwaltung fuͤhren
ſoll, und welche, wo die Selbſtſtaͤndigkeit des
Volks in Gefahr iſt, allein dieſelbe zu retten
vermag. Bei den Deutſchen, unter denen, als
einem urſpruͤnglichen Volke, dieſe Vaterlands¬
liebe moͤglich, und, wie wir feſt zu wiſſen glau¬
ben, bis jezt auch wirklich war, konnte dieſelbe
bis jezt mit einer hohen Zuverſicht auf die
Sicher¬[273] Sicherheit ihrer wichtigſten Angelegenheit rech¬
nen. Wie nur noch bei den Griechen in der
alten Zeit, war bei ihnen der Staat und die
Nation ſogar von einander geſondert, und
jedes fuͤr ſich dargeſtellt, der erſte in den be¬
ſondern deutſchen Reichen, und Fuͤrſtenthuͤ¬
mern, die lezte ſichtbar im Reichsverbande,
unſichtbar, nicht zufolge eines niedergeſchrie¬
benen aber eines in aller Gemuͤther lebenden
Rechtes geltend, und in ihren Folgen allent¬
halben in das Auge ſpringend, in einer Menge
von Gewohnheiten, und Einrichtungen. So
weit die deutſche Zunge reichte, konnte jeder,
dem im Bezirke derſelben das Licht anbrach,
ſich doppelt betrachten als Buͤrger, theils ſei¬
nes Geburtsſtaates, deſſen Fuͤrſorge er zunaͤchſt
empfohlen war, theils des ganzen gemeinſa¬
men Vaterlandes Deutſcher Nation. Jedem
war es verſtattet, uͤber die ganze Oberflaͤche
dieſes Vaterlandes hin ſich diejenige Bildung,
die am meiſten Verwandſchaft zu ſeinem Geiſte
hatte, oder den demſelben angemeſſenſten Wir¬
kungskreis aufzuſuchen, und das Talent wuchs
nicht hinein in ſeine Stelle, wie ein Baum
S[274] ſondern es war ihm erlaubt, dieſelbe zu ſuchen.
Wer durch die Richtung, die ſeine Bildung
nahm, mit ſeiner naͤchſten Umgebung entzweit
wurde, fand leicht anderwaͤrts willige Auf¬
nahme, fand neue Freunde ſtatt der verlohr¬
nen, fand Zeit und Ruhe, um ſich naͤher zu
erklaͤren, vielleicht die erzuͤrnten ſelbſt zu ge¬
winnen und zu verſoͤhnen, und ſo das Ganze
zu einigen. Kein deutſchgebohrner Fuͤrſt hat
es je uͤber ſich vermocht, ſeinen Unterthanen
das Vaterland innerhalb der Berge, oder
Fluͤſſe, wo er regierte, abzuſtekken, und dieſel¬
ben zu betrachten, als gebunden an die Erd¬
ſcholle. Eine Wahrheit, die an einem Orte
nicht laut werden durfte, durfte es an einem
andern, an welchem vielleicht im Gegentheile
diejenigen verboten waren, die dort erlaubt
wurden; und ſo fand denn, bei manchen Ein¬
ſeitigkeiten und Engherzigkeiten der beſondern
Staaten, dennoch in Deutſchland, dieſes als
ein Ganzes genommen, die hoͤchſte Freiheit
der Erforſchung und der Mittheilung ſtatt, die
jemals ein Volk beſeſſen; und die hoͤhere Bil¬
dung war und blieb allenthalben der Erfolg
[275] aus der Wechſelwirkung der Buͤrger aller deut¬
ſchen Staaten, und dieſe hoͤhere Bildung kam
denn in dieſer Geſtalt auch allmaͤhlig herab
zum groͤßern Volke, das ſomit immer fortfuhr
ſich ſelber durch ſich ſelbſt im Großen, und
Ganzen zu erziehen. Dieſes weſentliche Un¬
terpfand der Fortdauer einer deutſchen Nation,
ſchmaͤlerte, wie geſagt, kein am Ruder der
Regierung ſitzendes deutſches Gemuͤth; und
wenn auch in Abſicht andrer urſpruͤnglichen
Entſcheidungen nicht immer geſchehen ſeyn
ſollte, was die hoͤhere deutſche Vaterlandsliebe
wuͤnſchen mußte, ſo iſt wenigſtens der Angele¬
genheit deſſelben nicht geradezu entgegen ge¬
handelt worden, man hat nicht geſucht, jene
Liebe zu untergraben, ſie auszurotten, und
eine entgegengeſezte Liebe an ihre Stelle zu
bringen.


Wenn nun aber etwa die urſpruͤngliche Lei¬
tung ſowohl jener hoͤhern Bildung, als der
Nationalmacht, die allein fuͤr jene und ihre
Fortdauer als Zwek gebraucht werden darf,
die Verwendung deutſchen Gutes, und deut¬
ſchen Blutes, aus der Botmaͤßigkeit deutſchen
S 2[276] Gemuͤths in eine andere kommen ſollte, was
wuͤrde ſodann nothwendig erfolgen muͤſſen?


Hier iſt der Ort, wo es der in unſrer erſten
Rede in Anſpruch genommenen Geneigtheit,
ſich uͤber die eignen Angelegenheiten nicht taͤu¬
ſchen zu wollen, und des Muthes, die Wahr¬
heit ſehen zu wollen, und ſie ſich zu geſtehen,
vorzuͤglich bedarf; auch iſt es, ſo viel mir be¬
kannt, noch immer erlaubt, in deutſcher
Sprache mit einander vom Vaterlande zu re¬
den, wenigſtens zu ſeufzen, und wir wuͤrden,
glaube ich, nicht wohl thun, wenn wir aus
unſrer eignen Mitte heraus ein ſolches Verbot
verfruͤhten, und dem Muthe, der ohne Zwei¬
fel uͤber das Wagniß ſchon vorher mit ſich zu
Rathe gegangen ſeyn wird, die Feſſel der Zag¬
haftigkeit Einzelner anlegen wollten.


Mahlen Sie ſich alſo die vorausgeſezte
neue Gewalt ſo guͤtig, und ſo wohlwollend vor,
als Sie irgend wollen, machen Sie ſie gut,
wie Gott; werden Sie ihr auch goͤttlichen Ver¬
ſtand einſetzen koͤnnen? Mag ſie alles Ernſtes
das hoͤchſte Gluͤck und Wohlſein aller wollen,
wird das hoͤchſte Wohlſeyn, das ſie zu faſſen
[277] vermag, wohl auch deutſches Wolſeyn ſeyn?
So hoffe ich uͤber den Hauptpunkt, den ich
Ihnen heute vorgetragen, von Ihnen recht wohl
verſtanden worden zu ſeyn, ich hoffe, daß meh¬
rere hiebei gedacht und gefuͤhlt haben: ich
druͤkke nur deutlich aus und ſpreche aus mit
Worten, wie es ihnen von jeher im Gemuͤthe
gelegen; ich hoffe, daß es auch mit den uͤbri¬
gen Deutſchen, die einſt dieſes leſen werden,
ſich alſo verhalten werde; auch haben vor mir
mehrere Deutſche ohngefaͤhr daſſelbe geſagt;
und dem immerfort bezeugten Widerſtreben ge¬
gen eine bloß mechaniſche Einrichtung und Be¬
rechnung des Staats, hat dunkel jene Geſin¬
nung zum Grunde gelegen. Und nun fordre
ich alle, die mit der neuen Literatur des Aus¬
landes bekannt ſind, auf, mir nachzuweiſen,
welcher neuere Weiſe, Dichter, Geſezgeber der¬
ſelben eine dieſem aͤhnliche Ahndung, die das
Menſchengeſchlecht als ein ewig fortſchreiten¬
des betrachte, und alles ſein Regen in der
Zeit nur auf dieſen Fortſchritt beziehe, jemals
verrathen habe; ob irgend einer, ſelbſt in dem
Zeitpunkte, als ſie am kuͤhnſten zu politiſcher
[278] Schoͤpfung ſich emporſchwangen, mehr, als
nur nicht Ungleichheit, inneren Frieden, aͤußern
Nationalruhm, und, wo es aufs hoͤchſte getrie¬
ben wurde, haͤusliche Gluͤkſeeligkeit vom
Staate gefordert habe? Iſt, wie man aus
allen dieſen Anzeigen ſchließen muß, dieſes
ihr hoͤchſtes, ſo werden ſie auch uns keine hoͤ¬
heren Beduͤrfniſſe, und keine hoͤheren Forderun¬
gen an das Leben beimeſſen, und, immer jene
wohlthaͤtigen Geſinnungen gegen uns und die
Abweſenheit alles Eigennutzes, und aller Sucht
mehr ſeyn zu wollen denn wir, vorausgeſezt,
treflich fuͤr uns geſorgt zu haben glauben, wenn
wir alles das finden, was ſie allein als begeh¬
rungswuͤrdig kennen; dasjenige aber, warum
der edlere unter uns allein leben mag, iſt ſodann
ausgetilgt aus dem oͤffentlichen Leben, und das
Volk, das fuͤr die Anregungen des Edleren ſich
ſtets empfaͤnglich gezeigt hat, und welches man
ſogar nach ſeiner Mehrheit zu jenem Adel em¬
porzuheben hoffen durfte, iſt, ſo wie es behan¬
delt wird, wie jene behandelt ſeyn wollen, her¬
abgeſezt unter ſeinen Rang, entwuͤrdigt, aus¬
getilgt aus der Reihe der Dinge, indem es zu¬
ſammenfließt mit dem von niederer Art.

[279]

In wem nun jene hoͤheren Anforderungen
an das Leben, nebſt dem Gefuͤhle ihres goͤtt¬
lichen Rechts, dennoch lebendig und kraͤftig
bleiben, der fuͤhlt mit tiefem Unwillen ſich zu¬
ruͤkgedraͤngt in jene erſten Zeiten des Chriſten¬
thums, zu denen geſagt iſt: „Ihr ſollt nicht
„widerſtreben dem Uebel, ſondern, ſo dir je¬
„mand einen Streich giebt auf den rechten
„Bakken, dem biete den andern auch dar, und
„ſo jemand deinen Rok nehmen will, dem laß
„auch den Mantel;“ mit Recht das lezte, denn
ſo lange er noch einen Mantel an dir ſieht, ſucht
er einen Handel an dich, um dir auch dieſen zu
nehmen, erſt wie du ganz nakkend biſt, entgehſt
du ſeiner Aufmerkſamkeit und haſt vor ihm
Ruhe. Eben ſein hoͤherer Sinn, der ihn ehrt,
macht ihm die Erde zur Hoͤlle, und zum Ekel,
er wuͤnſcht, nicht geboren zu ſeyn, er wuͤnſcht,
daß ſein Auge je eher je lieber ſich dem Anblicke
des Tages verſchließe, unverſiegbare Trauer
bis an das Grab erfaßt ſeine Tage; dem, was
ihm lieb iſt, kann er keine beſſere Gabe wuͤn¬
ſchen, denn einen dumpfen, und genuͤgſamen
Sinn, damit es mit weniger Schmerz einem
[280] ewigen Leben jenſeits des Grabes entgegen
lebe.


Dieſe Vernichtung jeder etwa ins kuͤnftige
unter uns ausbrechenden edlern Regung, und
dieſe Herunterſetzung unſrer ganzen Nation,
durch das einzige, nachdem die andern vergeb¬
lich angewendet worden ſind, noch uͤbrig blei¬
bende Mittel zu verhindern, tragen Ihnen dieſe
Reden an. Sie tragen Ihnen an die wahre
und allmaͤchtige Vaterlandsliebe, in der Er¬
faſſung unſers Volks als eines ewigen, und
als Buͤrgen unſrer eignen Ewigkeit, durch die
Erziehung in aller Gemuͤther recht tief, und
unausloͤſchlich zu begruͤnden. Welche Erzie¬
hung dies vermoͤge, und auf welche Weiſe,
werden wir in den folgenden Reden erſehen.


[281]

Neunte Rede.


An welchen in der Wirklichkeit vorhande¬
nen Punkt die neue National-Erziehung
der Deutſchen anzuknuͤpfen ſey.

Durch unſere lezte Rede ſind mehrere ſchon
in der erſten verſprochene Beweiſe gefuͤhrt, und
vollendet worden. Es ſey dermalen nur davon
die Rede, ſagten wir, und dies ſey die erſte
Aufgabe, das Daſeyn und die Fortdauer des
Deutſchen ſchlechtweg zu retten; alle andere
Unterſchiede ſeyen dem hoͤhern Ueberblicke ver¬
ſchwunden; und es wuͤrde durch jenes den be¬
ſondern Verbindlichkeiten, die etwa jemand zu
haben glaube, kein Eintrag geſchehen. Es iſt,
wenn uns nur der gemachte Unterſchied zwi¬
ſchen Staat, und Nation gegenwaͤrtig bleibt,
klar, daß auch ſchon fruͤher die Angelegenheiten
[282] dieſer beiden niemals in Widerſtreit gerathen
konnten. Die hoͤhere Vaterlandsliebe fuͤr das
gemeinſame Volk der deutſchen Nation mußte
und ſollte ja ohnedies die oberſte Leitung in
jedem beſondern deutſchen Staate fuͤhren;
keiner von ihnen durfte ja dieſe hoͤhere Angele¬
genheit aus den Augen verlieren, ohne alles
edle und tuͤchtige von ſich abwendig zu machen,
und ſo ſeinen eignen Untergang zu beſchleuni¬
gen: je mehr daher jemand von jener hoͤheren
Angelegenheit ergriffen, und belebt war, ein
deſto beſſerer Buͤrger war er auch fuͤr den be¬
ſondern deutſchen Staat, in den ſein unmittel¬
barer Wirkungskreis fiel. Deutſche Staaten
konnten mit deutſchen Staaten in Streit gera¬
then, uͤber beſondere hergebrachte Gerechtſame.
Wer die Fortdauer des hergebrachten Zuſtandes
wollte, und jeder verſtaͤndige ohne Zweifel
mußte um der ferneren Folgen willen dieſe wol¬
len, der mußte wuͤnſchen, daß die gerechte Sache
ſiege, in weſſen Haͤnden ſie auch ſeyn moͤchte.
Hoͤchſtens haͤtte ein beſonderer deutſcher Staat
darauf ausgehen koͤnnen, die ganze deutſche
Nation unter ſeiner Regierung zu vereinigen,
[283] und ſtatt der hergebrachten Voͤlker-Republik
Alleinherrſchaft einzufuͤhren. Wenn es wahr
iſt, wie ich z.B. es allerdings dafuͤr halte, daß
gerade dieſe republikaniſche Verfaſſung bisher
die vorzuͤglichſte Quelle deutſcher Bildung, und
das erſte Sicherungsmittel ihrer Eigenthuͤm¬
lichkeit geweſen, ſo waͤre, falls die vorausge¬
ſezte Einheit der Regierung nicht etwa ſelbſt
die republikaniſche, ſondern die monarchiſche
Form getragen haͤtte, in der es dem Gewalt¬
haber doch moͤglich geweſen waͤre, irgend einen
Sproß urſpruͤnglicher Bildung uͤber den gan¬
zen deutſchen Boden hinweg fuͤr ſeine Lebens¬
zeit zu zerdruͤcken; — wenn dieſes wahr iſt, ſage
ich, ſo waͤre in dieſem Falle es allerdings ein
großes Mißgeſchik fuͤr die Angelegenheit deut¬
ſcher Vaterlandsliebe geweſen, wenn dieſer
Vorſatz gelungen waͤre, und jeder edle uͤber die
ganze Oberflaͤche des gemeinſamen Bodens
hinweg haͤtte dagegen ſich ſtemmen muͤſſen.
Dennoch auch in dieſem ſchlimmſten Falle waͤ¬
ren es doch immer Deutſche geblieben, die uͤber
Deutſche regiert, und ihre Angelegenheiten ur¬
ſpruͤnglich geleitet haͤtten, und wenn auch auf
[284] eine voruͤbergehende Zeit der eigenthuͤmliche
deutſche Geiſt vermißt worden waͤre, ſo waͤre
doch die Hofnung geblieben, daß er wieder er¬
wachen werde, und jedes kraͤftigere Gemuͤth
uͤber den ganzen Boden hinweg haͤtte ſich ver¬
ſprechen koͤnnen, Gehoͤr zu finden, und ſich ver¬
ſtaͤndlich zu machen; es waͤre doch immer eine
deutſche Nation im Daſeyn verblieben, und
haͤtte ſich ſelbſt regiert, und ſie waͤre nicht un¬
tergegangen in einem andern von niederer
Ordnung. Immer bleibt hier das weſentliche
in unſerer Berechnung, daß die deutſche Natio¬
nal-Liebe ſelbſt an dem Ruder des deutſchen
Staats entweder ſitze, oder doch mit ihrem
Einfluſſe dahin gelangen koͤnne. Wenn aber,
zufolge unſrer fruͤhern Vorausſetzung, dieſer
deutſche Staat, — ob er nun als einer oder meh¬
rere erſcheine, thut nichts zur Sache, in der
That iſt es dennoch Einer, — uͤberhaupt aus
deutſcher Leitung in fremde fiele, ſo iſt ſicher,
und das Gegentheil davon waͤre gegen alle
Natur, und ſchlechterdings unmoͤglich, es iſt
ſicher, ſage ich, daß von nun an nicht mehr
deutſche Angelegenheit, ſondern eine fremde
[285] entſcheiden wuͤrde. Wo die geſammte Natio¬
nal-Angelegenheit der Deutſchen bisher ihren
Sitz hatte, und dargeſtellt wurde, am Ruder
des Staats, da waͤre ſie verwieſen. Soll ſie
nun hiemit nicht ganz ausgetilgt ſeyn von der
Erde, ſo muß ihr ein anderer Zufluchtsort be¬
reitet werden, und zwar in dem, was allein
uͤbrig bleibt, bei den Regierten, in den Buͤr¬
gern. Waͤre ſie aber bei dieſen, und ihrer Mehr¬
heit ſchon, ſo waͤren wir in den Fall, uͤber wel¬
chen wir uns dermals berathſchlagen, gar
nicht gekommen; ſie iſt daher nicht bei ihnen,
und muß erſt in ſie hineingebracht werden: das
heißt mit andern Worten, die Mehrheit der
Buͤrger muß zu dieſem vaterlaͤndiſchen Sinne
erzogen werden, und, damit man der Mehr¬
heit ſicher ſey, dieſe Erziehung muß an der All¬
heit verſucht werden. Und ſo iſt denn zugleich,
unumwunden und klar, der gleichfalls ehemals
verſprochene Beweiß gefuͤhrt worden, daß es
ſchlechthin nur die Erziehung, und kein ande¬
res moͤgliches Mittel ſey, das die deutſche
Selbſtſtaͤndigkeit zu retten vermoͤge; und es
waͤre ohne Zweifel nicht unſre Schuld, wenn
[286] man ſelbſt bis jezt noch nicht den eigentlichen
Inhalt, und die Abſicht dieſer unſrer Reden,
und den Sinn, in welchem alle unſere Aeuße¬
rungen zu nehmen ſind, zu faſſen vermoͤchte.


Um es noch kuͤrzer zu faſſen: immer unter
unſrer Vorausſetzung, ſind den unmuͤndigen
ihre vaͤterlichen, und blutsverwandten Vor¬
muͤnder abgegangen, und Herren an ihre
Stelle getreten; ſollen jene unmuͤndige nicht
gar Sklaven werden, ſo muͤſſen ſie eben der
Vormundſchaft entlaſſen, und, damit ſie dieſes
koͤnnen, zu allererſt zur Muͤndigkeit erzogen
werden. Die deutſche Vaterlandsliebe hat
ihren Sitz verloren; ſie ſoll einen andern brei¬
tern, und tiefern erhalten, in welcher ſie in ru¬
higer Verborgenheit ſich begruͤnde und ſtaͤhle,
und zu rechter Zeit in jugendlicher Kraft hervor¬
breche, und auch dem Staate die verlorne
Selbſtſtaͤndigkeit wieder gebe. Wegen des lez¬
tern koͤnnen nun, ſowohl das Ausland als die
kleinlichen und engherzigen Truͤbſeeligkeiten
unter uns ſelbſt, in Ruhe verbleiben; man kann
zu ihrer aller Troſte ſie verſichern, daß ſie es
insgeſammt nicht erleben werden, und daß die
[287] Zeit, die es erleben wird, anders denken wird,
denn ſie.


Ob nun, ſo ſtreng auch die Glieder dieſes
Beweiſes an einander ſchließen moͤgen, der¬
ſelbe auch andere ergreifen, und ſie zur Thaͤ¬
tigkeit aufregen werde, haͤngt zu allererſt davon
ab, ob es ſo etwas, wie wir deutſche Eigen¬
thuͤmlichkeit, und deutſche Vaterlandsliebe
geſchildert haben, uͤberhaupt gebe, und ob
dieſe der Erhaltung und des Strebens dafuͤr
werth ſey, oder nicht. Daß der — auswaͤrtige
oder einheimiſche — Auslaͤnder dieſe Frage mit
Nein beantwortet, verſteht ſich; aber dieſer iſt
auch nicht mit zur Berathſchlagung berufen.
Uebrigens iſt hiebei anzumerken, daß die Ent¬
ſcheidung uͤber dieſe Frage keinesweges auf einer
Beweisfuͤhrung durch Begriffe beruht, welche
hierin zwar klar machen, keinesweges aber uͤber
wirkliches Daſeyn oder Werth Auskunft zu geben
vermoͤgen, ſondern daß die leztern lediglich durch
eines jeglichen unmittelbare Erfahrung an ihm
ſelber bewaͤhrt werden koͤnnen. In einem ſol¬
chen Falle moͤgen Millionen ſagen: es ſey
nicht, ſo kann dadurch niemals mehr geſagt
[288] ſeyn, denn daß es nur in ihnen nicht ſey, kei¬
nesweges, daß es uͤberhaupt nicht ſey, und
wenn ein einziger gegen dieſe Millionen auf¬
tritt und verſichert, daß es ſey, ſo behaͤlt er
gegen ſie alle recht. Nichts verhindert, daß,
da ich nun gerade rede, ich in dem angegebe¬
nen Falle dieſer einzige ſey, der da verſichert,
daß er aus unmittelbarer Erfahrung an ſich
ſelbſt wiſſe, daß es ſo etwas, wie deutſche Va¬
terlandsliebe gebe, daß er den unendlichen
Werth des Gegenſtandes derſelben kenne, daß
dieſe Liebe allein ihn getrieben habe, auf jede
Gefahr zu ſagen, was er geſagt hat, und noch
ſagen wird, indem uns dermalen gar nichts
uͤbrig geblieben iſt, denn das Sagen, und ſo¬
gar dieſes auf alle Weiſe gehemmt und ver¬
kuͤmmert wird. Wer daſſelbe in ſich fuͤhlt, der
wird uͤberzeugt werden; wer es nicht fuͤhlt,
kann nicht uͤberzeugt werden, denn allein auf
jene Vorausſetzung ſtuͤtzt ſich mein Beweis; an
ihm habe ich meine Worte verloren, aber wer
wollte nicht ſo etwas ſo geringfuͤgiges, als
Worte ſind, auf das Spiel ſetzen?


Diejenige beſtimmte Erziehung, von der
wir[289] wir uns die Rettung der deutſchen Nation ver¬
ſprechen, iſt in unſrer zweiten und dritten Rede
im allgemeinen beſchrieben worden. Wir haben
ſie als eine gaͤnzliche Umſchaffung des Men¬
ſchengeſchlechts bezeichnet, und es wird paſ¬
ſend ſeyn, an dieſe Bezeichnung eine wiederholte
Ueberſicht des Ganzen anzuknuͤpfen.


In der Regel galt bisher die Sinnenwelt
fuͤr die rechte eigentliche, wahre, und wirklich
beſtehende Welt, ſie war die erſte, die dem
Zoͤglinge der Erziehung vorgefuͤhrt wurde; von
ihr erſt wurde er zum Denken, und zwar meiſt
zu einem Denken uͤber dieſe, und im Dienſte
derſelben angefuͤhrt. Die neue Erziehung kehrt
dieſe Ordnung geradezu um. Ihr iſt nur die
Welt, die durch das Denken erfaßt wird, die
wahre, und wirklich beſtehende Welt; in dieſe
will ſie ihren Zoͤgling, ſogleich wie ſie mit dem¬
ſelben beginnt, einfuͤhren. An dieſe Welt allein
will ſie ſeine ganze Liebe, und ſein ganzes
Wohlgefallen binden; ſo daß ein Leben allein
in dieſer Welt des Geiſtes bei ihm nothwendig
entſtehe, und hervorkomme. Bisher lebte in
der Mehrheit allein das Fleiſch, die Materie,
die Natur; durch die neue Erziehung ſoll in
T[290] der Mehrheit, ja gar bald in der Allheit, allein
der Geiſt leben, und dieſelbe treiben; der feſte
und gewiſſe Geiſt, von welchem fruͤher, als von
der einzigmoͤglichen Grundlage eines wohlein¬
gerichteten Staats geſprochen worden, ſoll im
allgemeinen erzeugt werden.


Durch eine ſolche Erziehung wird ohne
Zweifel der Zwek, den wir zunaͤchſt uns vor¬
geſezt haben, und von dem unſre Reden aus¬
gegangen ſind, erreicht. Jener zu erzeugende
Geiſt fuͤhrt die hoͤhere Vaterlandsliebe, das
Erfaſſen ſeines irdiſchen Lebens als eines ewi¬
gen, und des Vaterlandes, als des Traͤgers
dieſer Ewigkeit, und, falls er in den Deutſchen
aufgebauet wird, die Liebe fuͤr das deutſche
Vaterland, als einen ſeiner nothwendigen Be¬
ſtandtheile unmittelbar in ſich ſelber; und aus
dieſer Liebe folgt der muthige Vaterlandsver¬
theidiger, und der ruhige und rechtliche Buͤrger
von ſelbſt. Es wird durch eine ſolche Erziehung
ſogar noch mehr erreicht, als dieſer naͤchſte
Zwek; wie das allemal der Fall iſt, wo ein
großes Ziel durch ein durchgreifendes Mittel
gewollt wird; der ganze Menſch wird nach allen
ſeinen Theilen vollendet, in ſich ſelbſt abgerun¬
[291] det, nach außen zu allen ſeinen Zweken in Zeit
und Ewigkeit mit vollkommner Tuͤchtigkeit aus¬
geſtattet. Mit unſrer Geneſung fuͤr Nation
und Vaterland hat die geiſtige Natur unſre
vollkommene Heilung von allen Uebeln, die uns
druͤken, unzertrennlich verknuͤpft.


Mit der ſtumpfen Verwunderung, daß eine
ſolche Welt des bloßen Gedankens behauptet,
und ſogar als die einzig moͤgliche Welt behaupt¬
tet, dagegen die Sinnenwelt ganz weggewor¬
fen werde, ſo wie mit der Ablaͤugnung der
erſtern entweder uͤberhaupt, oder nur der Moͤg¬
lichkeit, daß ſelbſt die Mehrheit des großen
Volks in dieſelbe eingefuͤhrt werden koͤnne,
haben wir es hier nicht mehr zu thun, ſondern
haben dieſelben ſchon fruͤher gaͤnzlich von uns
weggewieſen. Wer noch nicht weiß, daß es
eine Welt des Gedankens gebe, der mag in¬
deſſen anderwaͤrts durch die vorhandenen Mit¬
tel ſich davon belehren, wir haben hier zu
dieſer Belehrung nicht Zeit; wie aber ſogar
die Mehrheit des großen Volks zu derſelben
emporgehoben werden koͤnne, dies wollen wir
eben zeigen.


Indem nun, unſerm eignen wohlbedachten
T 2[292] Sinne nach, der Gedanke einer ſolchen neuen
Erziehung keinesweges als ein bloßes zur Ue¬
bung des Scharfſinns oder der Streitfertigkeit
aufgeſtelltes Bild zu betrachten iſt, ſondern der¬
ſelbe vielmehr zur Stunde ausgeuͤbt, und ins
Leben eingefuͤhrt werden ſoll, ſo kommt uns
zufoͤrderſt zu, anzugeben, an welches in der
wirklichen Welt ſchon vorliegende Glied dieſe
Ausfuͤhrung ſich anknuͤpfen ſolle.


Wir geben auf dieſe Frage zur Antwort:
an den von Johann Heinrich Peſtalozzi er¬
fundenen, vorgeſchlagenen, und unter deſſen
Augen ſchon in gluͤklicher Ausuͤbung befind¬
lichen Unterrichtsgang ſoll ſie ſich anſchließen.
Wir wollen dieſe unſre Entſcheidung tiefer be¬
gruͤnden und naͤher beſtimmen.


Zufoͤrderſt, wir haben die eignen Schriften
des Mannes geleſen, und durchdacht, und aus
dieſen unſern Begriff ſeiner Unterrichts- und
Erziehungskunſt uns gebildet; gar keine Kunde
aber haben wir genommen von dem, was die ge¬
lehrten Neuigkeitsblaͤtter daruͤber berichtet, und
gemeint, und uͤber die Meinungen wieder ge¬
meint haben. Wir merken dies darum an,
um jedem, der uͤber dieſen Gegenſtand gleich¬
[293] falls einen Begriff zu haben begehrt, denſelben
Weg, und die durchgaͤngige Vermeidung des
entgegengeſezten, zu empfehlen. Eben ſo wenig
haben wir bis jezt etwas von der wirklichen
Ausuͤbung ſehen wollen, keinesweges aus
Nichtachtung, ſondern weil wir uns erſt einen
feſten und ſichern Begriff von der wahren Ab¬
ſicht des Erfinders, hinter welcher die Aus¬
uͤbung oft zuruͤckbleiben kann, verſchaffen woll¬
ten, aus dieſem Begriffe aber der Begriff von
der Ausuͤbung und dem nothwendigen Erfolge,
ohne alles Probiren, ſich von ſelbſt ergiebt,
und man, nur mit dieſem ausgeſtattet, die
Ausuͤbung wahrhaftig verſtehen, und richtig
beurtheilen kann. Sollte, wie einige glauben,
auch dieſer Unterrichtsgang ſchon hier und da
in ein blindes empiriſches Zutappen, und in
leere Spielerei, und Schauauslegerei aus¬
geartet ſeyn, ſo iſt meines Erachtens der Grund¬
begriff des Erfinders wenigſtens daran ganz
unſchuldig.


Fuͤr dieſen Grundbegriff nun buͤrgt mir zu¬
erſt die Eigenthuͤmlichkeit des Mannes ſelber,
wie er dieſe in ſeinen Schriften mit der treu¬
ſten und gemuͤthvollſten Offenheit darlegt. An
[294] ihm haͤtte ich eben ſo gut, wie an Luther, oder
falls es noch andere dieſen gleichende gegeben
hat, an irgend einem andern, die Grundzuͤge
des deutſchen Gemuͤths darlegen, und den er¬
freuenden Beweis fuͤhren koͤnnen, daß dieſes
Gemuͤth in ſeiner ganzen wunderwirkenden
Kraft in dem Umkreiſe der deutſchen Zunge noch
bis auf dieſen Tag walte. Auch er hat ein
muͤhvolles Leben hindurch, im Kampfe mit
allen moͤglichen Hinderniſſen, von innen mit
eigner hartnaͤkiger Unklarheit und Unbehol¬
fenheit, und ſelbſt hoͤchſt ſpaͤrlich ausgeſtattet
mit den gewoͤhnlichſten Huͤlfsmitteln der ge¬
lehrten Erziehung, aͤußerlich mit anhalten¬
der Verkennung, gerungen nach einem bloß
geahndeten ihm ſelbſt durchaus unbewu߬
ten Ziele, aufrecht gehalten und getrieben
durch einen unverſiegbaren, und allmaͤch¬
tigen und deutſchen Trieb, die Liebe zu
dem armen verwahrloſten Volke. Dieſe all¬
maͤchtige Liebe hatte ihn, eben ſo wie Luthern,
nur in einer andern und ſeiner Zeit angemeßne¬
ren Beziehung, zu ihrem Werkzeuge gemacht, und
war das Leben geworden in ſeinem Leben, ſie
war der ihm ſelbſt unbekannte feſte und unwan¬
[295] delbare Leitfaden dieſes ſeines Lebens, der es
hindurchfuͤhrte durch alle ihn umgebende Nacht,
und der den Abend deſſelben — denn es war
unmoͤglich daß eine ſolche Liebe unbelohnt von
der Erde abtrete — kroͤnte mit ſeiner wahrhaft
geiſtigen Erfindung, die weit mehr leiſtete,
denn er je mit ſeinen kuͤhnſten Wuͤnſchen be¬
gehrt hatte. Er wollte bloß dem Volke helfen;
aber ſeine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdeh¬
nung genommen, hebt das Volk, hebt allen
Unterſchied zwiſchen dieſem und einem gebilde¬
ten Stande, auf, giebt, ſtatt der geſuchten Volks-
Erziehung, National-Erziehung, und haͤtte
wohl das Vermoͤgen den Voͤlkern, und dem
ganzen Menſchengeſchlechte, aus der Tiefe ſei¬
nes dermaligen Elendes emporzuhelfen.


Dieſer ſein Grundbegriff ſieht in ſeinen
Schriften mit vollkommener Klarheit, und un¬
verkennbarer Beſtimmtheit da. Zufoͤrderſt will
er in Abſicht der Form nicht die bisherige Will¬
kuͤhr und das blinde Herumtappen, ſondern er
will eine feſte und ſicher berechnete Kunſt der
Erziehung, wie auch wir es wollen, und wie
deutſche Gruͤndlichkeit es nothwendig wollen
muß; und er erzaͤhlt ſehr unbefangen, wie
[296] eine franzoͤſiſche Phraſe, daß er nemlich die
Erziehung mechaniſiren wolle, ihm uͤber dieſen
ſeinen Zwek aus dem Traume geholfen habe.
In Abſicht des Inhalts iſt es der erſte Schritt
der von mir beſchriebenen neuen Erziehung,
daß ſie die freie Geiſtesthaͤtigkeit des Zoͤglings,
ſein Denken, in welchem ſpaͤterhin die Welt
ſeiner Liebe ihm aufgehen ſoll, anrege, und
bilde; mit dieſem erſten Schritte beſchaͤftigen
ſich Peſtalozzis Schriften vorzuͤglich, und auf
dieſen Gegenſtand geht unſre Pruͤfung ſeines
Grundbegriffs zu allererſt. In dieſer Ruͤkſicht
iſt nun deſſelben Tadel des bisherigen Unter¬
richts, daß derſelbe den Schuͤler nur in Nebel
und Schatten eingetaucht, und denſelben nie¬
mals zur wirklichen Wahrheit und Realitaͤt
habe gelangen laſſen, gleichbedeutend mit dem
unſrigen, daß dieſer Unterricht nicht vermocht
habe, in das Leben einzugreifen, noch die Wur¬
zel deſſelben zu bilden; und Peſtalozzis dage¬
gen vorgeſchlagenes Huͤlfsmittel, den Zoͤgling
in die unmittelbare Anſchauung einzufuͤhren,
iſt gleichbedeutend mit dem unſrigen, die Gei¬
ſtesthaͤtigkeit deſſelben zum Entwerfen von Bil¬
dern anzuregen, und nur an dieſem freien
[297] Bilden ihn lernen zu laſſen, alles, was er lernt:
denn nur von dem freientworfenen iſt An¬
ſchauung moͤglich. Daß der Erfinder es wirk¬
lich alſo meint, und keinesweges unter An¬
ſchauung jene blindtappende und betaſtende
Wahrnehmung verſteht, beweiſt die nachher
angegebene Ausuͤbung. Gleichfalls ganz rich¬
tig wird dieſer Anregung der Anſchauung des
Zoͤglings durch die Erziehung das allgemeine,
und ſehr tief eingreifende Geſez gegeben, hier¬
in mit dem Anfange und Fortſchritte der zu
entwikelnden Kraͤfte des Kindes genau Schritt
zu halten.


Dagegen haben die geſammten Mißgriffe
dieſes Peſtalozziſchen Unterrichts-Plans in
Ausdruͤken und Vorſchlaͤgen die Eine gemein¬
ſchaftliche Quelle, daß der duͤrftige und be¬
grenzte Zwek, auf welchen anfangs ausgegan¬
gen wurde, aͤußerſt vernachlaͤſſigten Kindern
aus dem Volke, unter der Vorausſetzung, daß
das Ganze bliebe, ſo wie es iſt, die nothduͤrf¬
tigſte Huͤlfe zu leiſten, von einer Seite, und
von der andern, das zu einem weit hoͤhern
Zweke fuͤhrende Mittel, in Vermengung und
Widerſtreit mit einander gerathen; und man
[298] wird vor allem Irthume geſichert, und erhaͤlt
einen mit ſich vollkommen uͤbereinſtimmenden
Begriff, wenn man das erſtere, und alles, was
aus deſſen Beachtung gefolgt iſt, fallen laͤßt,
und ſich bloß an das leztere haͤlt, und es fol¬
gegemaͤß durchfuͤhrt. Ohne Zweifel entſtand
lediglich aus dem Wunſche, jene Kinder der
aͤußerſten Armuth ſobald als moͤglich aus der
Schule zum Broderwerb zu entlaſſen, und den¬
noch ſie mit einem Mittel zu verſehen, wodurch
ſie den abgebrochenen Unterricht nachholen
koͤnnten, in Peſtalozzis liebendem Gemuͤthe die
Ueberſchaͤtzung des Leſens und Schreibens, die
Aufſtellung dieſer beinahe als Ziel und Gipfel
des Volksunterrichts, ſein unbefangener Glaube
an die Ausſage der abgelaufenen Jahrtauſende,
daß dieſes die beſten Huͤlfsmittel der Belehrung
ſeyen; da er ja außerdem gefunden haben
wuͤrde, daß gerade dieſes Leſen und Schreiben
bisher die eigentlichen Werkzeuge geweſen, um
die Menſchen in Nebel und Schatten einzuhuͤl¬
len, und ſie uͤberklug zu machen: daher auch
ruͤhren ohne Zweifel mehrere andere mit ſeinem
Grundſatze der unmittelbaren Anſchauung im
Widerſpruche ſtehende Vorſchlaͤge, und beſon¬
[299] ders ſeine durchaus irrige Anſicht der Sprache,
als eines Mittels unſer Geſchlecht von dunkler
Anſchauung zu deutlichen Begriffen zu erheben.
Wir unſres Orts haben nicht von Erziehung
des Volks im Gegenſatze hoͤherer Staͤnde ge¬
redet, indem wir Volk in dieſem Sinne, nie¬
dern und gemeinen Poͤbel, gar nicht laͤnger ha¬
ben wollen, noch er fuͤr die deutſchen Natio¬
nalangelegenheiten ferner ertragen werden
kann, ſondern wir haben von Nationalerzie¬
hung geredet. Soll es jemals zu dieſer kom¬
men, ſo muß der armſeelige Wunſch, daß die
Erziehung doch ja recht bald vollendet ſeyn,
und das Kind wieder hinter die Arbeit geſtellt
werden moͤge, gar nicht mehr zu Odem kom¬
men, ſondern ſogleich an der Schwelle der Be¬
rathung uͤber dieſe Angelegenheit abgelegt wer¬
den. Zwar wird meines Erachtens dieſe Er¬
ziehung nicht koſtſpielig ſeyn, die Anſtalten
werden guten Theils ſich ſelbſt erhalten koͤn¬
nen, und es wird der Arbeit kein Eintrag ge¬
ſchehen; und ich werde meine Gedanken hier¬
uͤber zu ſeiner Zeit darlegen: aber wenn dies
auch nicht ſo waͤre, ſo muß unbedingt und auf
jede Gefahr der Zoͤgling in der Erziehung ſo
[300] lange bleiben, bis ſie vollendet iſt, und vollen¬
det ſeyn kann; jene halbe Erziehung iſt um
nichts beſſer, denn gar keine; ſie laͤßt es eben
beim Alten, und wenn man dies will, ſo er¬
ſpare man ſich lieber auch das Halbe, und er¬
klaͤre gleich von vorn herein geradezu, daß man
nicht wolle, daß der Menſchheit geholfen werde.
Unter jener Vorausſetzung nun kann in der
bloßen National-Erziehung, ſo lange dieſelbe
dauert, Leſen und Schreiben zu nichts nuͤtzen,
wohl aber kann es ſehr ſchaͤdlich werden, in¬
dem es von der unmittelbaren Anſchauung zum
bloßen Zeichen, und von der Aufmerkſamkeit,
die da weiß, daß ſie nichts faſſe, wenn ſie es
nicht jezt und zur Stelle faßt, zur Zerſtreutheit,
die ſich ihres Niederſchreibens troͤſtet, und ir¬
gend einmal vom Papiere lernen will, was ſie
wahrſcheinlich nie lernen wird, und uͤberhaupt
zu der den Umgang mit Buchſtaben ſo oft be¬
gleitenden Traͤumerei leichtlich verleiten koͤnnte,
ſo wie es dieſes auch bisher gethan hat. Erſt
am voͤlligen Schluſſe der Erziehung, und als
das lezte Geſchenk derſelben mit auf den Weg,
koͤnnten dieſe Kuͤnſte mitgetheilt, und der Zoͤg¬
ling geleitet werden durch Zergliederung der
[301] Sprache, die er ſchon laͤngſt vollkommen be¬
ſizt, die Buchſtaben zu erfinden und zu ge¬
brauchen; welches ihm bei der uͤbrigen Bil¬
dung, die er ſchon erlangt hat, ein Spiel ſeyn
wuͤrde.


So in der bloßen, und allgemeinen Na¬
tional-Erziehung. Etwas anderes iſt es mit
dem kuͤnftigen Gelehrten. Dieſer ſoll einſt
nicht bloß uͤber das allgemeingeltende ſich aus¬
ſprechen, wie es ihm ums Herz iſt, ſondern er
ſoll auch in einſamen Nachdenken die verbor¬
gene, und ihm ſelber unbewußte eigenthuͤmliche
Tiefe ſeines Gemuͤths in das Licht der Sprache er¬
heben, und er muß darum fruͤher an der Schrift
das Werkzeug dieſes einſamen und dennoch
lauten Denkens in die Haͤnde bekommen, und
bilden lernen; doch wird auch mit ihm weniger
zu eilen ſeyn, als es bisher geſchehen. Es
wird dies zu ſeiner Zeit bei der Unterſcheidung
der bloßen National-Erziehung von der ge¬
lehrten deutlicher erhellen.


In Gemaͤßheit dieſer Anſicht iſt alles, was
der Erfinder uͤber Schall und Wort, als Ent¬
wiklungsmittel der geiſtigen Kraft ſpricht, zu
berichtigen, und zu beſchraͤnken. In das Ein¬
[302] zelne zu gehen, erlaubt mir nicht der Plan die¬
ſer Reden. Nur noch die folgende tief in das
Ganze greifende Bemerkung. Die Grundlage
ſeiner Entwiklung aller Erkenntniß enthaͤlt ſein
Buch fuͤr Muͤtter; indem er unter andern gar
ſehr auf haͤusliche Erziehung rechnet. Was
zufoͤrderſt dieſe, die haͤusliche Erziehung, ſelbſt
anbelangt, ſo wollen wir zwar mit ihm keines¬
weges uͤber die Hofnungen, die er ſich von den
Muͤttern macht, ſtreiten; was aber unſern hoͤ¬
hern Begriff einer National-Erziehung anbe¬
langt, ſo ſind wir feſt uͤberzeugt, daß dieſe, be¬
ſonders bei den arbeitenden Staͤnden, im Hauſe
der Eltern, und uͤberhaupt ohne gaͤnzliche Ab¬
ſonderung der Kinder von ihnen, durchaus
weder angefangen, noch fortgeſetzt, oder voll¬
endet werden kann. Der Druk, die Angſt um
das taͤgliche Auskommen, die kleinliche Ge¬
nauigkeit, und Gewinnſucht, die ſich hierzu¬
fuͤgt, wuͤrde die Kinder nothwendig anſtecken,
herabziehen, und ſie verhindern, einen freien
Aufflug in die Welt des Gedankens zu nehmen.
Dies iſt auch eine der Vorausſetzungen, die bei
der Ausfuͤhrung unſers Plans unbedingt iſt,
und auf keine Weiſe zu erlaſſen. Was daraus
[303] wird, wenn die Menſchheit im Ganzen in jedem
folgenden Zeitalter ſich alſo wiederholt, wie
ſie im vorhergehenden war, haben wir nun zur
Genuͤge erſehen; ſoll eine gaͤnzliche Umbildung
mit derſelben vorgenommen werden, ſo muß
ſie einmal ganz losgeriſſen werden von ſich ſel¬
ber, und ein trennender Einſchnitt gemacht
werden in ihr hergebrachtes Fortleben. Erſt
nachdem ein Geſchlecht durch die neue Erziehung
hindurch gegangen ſeyn wird, wird ſich berath¬
ſchlagen laſſen, welchen Theil von der National-
Erziehung man dem Hauſe anvertrauen wolle.
— Dies nun abgerechnet, und das Peſtaloz¬
ziſche Buch fuͤr die Muͤtter lediglich als erſte
Grundlage des Unterrichts betrachtet, iſt auch
der Inhalt deſſelben, der Koͤrper des Kindes,
ein vollkommner Mißgriff. Er geht von dem
ſehr richtigen Satze aus, der erſte Gegenſtand
der Erkenntniß des Kindes muͤſſe das Kind
ſelbſt ſeyn, aber iſt denn der Koͤrper des Kindes
das Kind ſelbſt? waͤre, wenn es doch ein menſch¬
licher Koͤrper ſeyn ſollte, der Koͤrper der Mut¬
ter ihm nicht weit naͤher, und ſichtbarer? und
wie kann doch das Kind eine anſchauliche Er¬
kenntnis von ſeinem Koͤrper bekommen, ohne
[304] zuerſt gelernt zu haben, denſelben zu gebrau¬
chen? Jene Kenntniß iſt keine Erkenntniß, ſon¬
dern ein bloßes Auswendiglernen von willkuͤhr¬
lichen Wortzeichen, das durch die Ueberſchaͤz¬
zung des Redens herbei gefuͤhrt wird. Die
wahre Grundlage des Unterrichts und der Er¬
kenntniß waͤre, um es in der Peſtalozziſchen
Sprache zu bezeichnen, ein ABC der Empfin¬
dungen. Wie das Kind anfaͤngt, Sprachtoͤne
zu vernehmen, und ſelbſt nothduͤrftig zu bilden,
muͤßte es geleitet werden, ſich vollkommen deut¬
lich zu machen, ob es hungere, oder ſchlaͤfrig
ſey, ob es die mit dem oder dem Ausdrucke
bezeichnete ihm gegenwaͤrtige Empfindung ſehe,
oder ob es vielmehr dieſelbe hoͤre, u. ſ. f. oder
ob es wohl gar etwas bloß hinzudenke; wie die
verſchiedenen durch beſondere Woͤrter bezeich¬
neten Eindruͤcke auf denſelben Sinn, z. B die
Farben, die Schalle der verſchiedenen Koͤrper
u. ſ. f. verſchieden ſeyen, und in welchen Ab¬
ſtufungen; alles dies in richtiger, und das Em¬
pfindungsvermoͤgen ſelbſt regelmaͤßig entwik¬
kelnder Folge. Hiedurch erhaͤlt das Kind erſt
ein Ich, das es im freien, und beſonnenen
Begriffe abſondert, und mit demſelben durch¬
dringt,[305] dringt, und gleich bei ſeinem Erwachen ins Le¬
ben wird dem Leben ein geiſtiges Auge einge¬
ſetzt, das von nun an wohl nicht wieder von
demſelben laſſen wird. Hiedurch erhalten auch
fuͤr die nachfolgenden Uebungen der Anſchau¬
ung die an ſich leeren Formen des Maaßes und
der Zahl ihren deutlich erkannten innern Ge¬
halt, der bei der Peſtalozziſchen Verfahrungs¬
weiſe doch nur durch dunklen Hang und Zwang
ihnen hinzugeſetzt werden kann. Es kommt in
den Peſtalozziſchen Schriften ein in dieſer Ruͤk¬
ſicht merkwuͤrdiges Geſtaͤndniß eines ſeiner Leh¬
rer vor, der in dieſes Verfahren eingeweiht,
anfing nur noch ausgeleerte geometriſche Koͤr¬
per zu erblicken. So muͤßte es allen Zoͤglingen
dieſes Verfahrens ergehen, wenn nicht unver¬
merkt die geiſtige Natur dagegen ſicherte. Hier
auch, bei dieſem deutlichen Erfaſſen deſſen,
was eigentlich empfunden wird, iſt der Ort, wo,
zwar nicht das Sprachzeichen, aber das Reden
ſelbſt, und das Beduͤrfniß ſich fuͤr andere aus¬
zuſprechen, den Menſchen bildet, und ihn aus
der Dunkelheit und Verworrenheit zur Klar¬
heit und Beſtimmtheit erhebt. Auf das zuerſt
zum Bewußtſeyn erwachende Kind dringen alle
U[306] Eindruͤcke der daſſelbe umgebenden Natur zu¬
gleich ein, und vermiſchen ſich zu einem dum¬
pfen Chaos, in welchem nichts einzelnes aus
dem allgemeinen Gewuͤhl hervorſteht. Wie ſoll
es jemals herauskommen aus dieſer Dumpf¬
heit? Es bedarf der Huͤlfe anderer; es kann
dieſe Huͤlfe auf keine andere Weiſe an ſich brin¬
gen, denn dadurch, daß es ſein Beduͤrfniß be¬
ſtimmt ausſpreche, mit den Unterſcheidungen
von aͤhnlichen Beduͤrfniſſen, die ſchon in der
Sprache niedergelegt ſind. Es wird genoͤthigt,
nach Anleitung jener Unterſcheidungen, mit Zu¬
ruͤckziehung und Sammlung auf ſich zu mer¬
ken, das, was es wirklich fuͤhlt, zu vergleichen,
und zu unterſcheiden von anderem, das es wohl
auch kennt, aber gegenwaͤrtig nicht fuͤhlt. Hier¬
durch ſondert ſich erſt ab in ihm ein beſonne¬
nes, und freies Ich. Dieſen Weg nun, den
Noth, und Natur mit uns anhebt, ſoll die Er¬
ziehung mit beſonnener und freier Kunſt fort¬
ſetzen.


Im Felde der objektiven Erkenntniß, die
auf aͤußere Gegenſtaͤnde geht, fuͤgt die Be¬
kanntſchaft mit dem Wortzeichen der Deutlich¬
keit und Beſtimmtheit der innern Erkenntniß
[307] fuͤr den Erkennenden ſelbſt durchaus nichts hin¬
zu, ſondern ſie erhebt dieſelbe bloß in den voͤl¬
lig verſchiedenen Kreis der Mittheilbarkeit fuͤr
andere. Die Klarheit jener Erkenntniß beruht
gaͤnzlich auf der Anſchauung, und dasjenige,
was man nach Belieben in allen ſeinen Thei¬
len, gerade ſo wie es wirklich iſt, in der Ein¬
bildungskraft wieder erzeugen kann, iſt voll¬
kommen erkannt, ob man nun dazu ein Wort
habe, oder nicht. Wir ſind ſogar der Ueberzeu¬
gung, daß jene Vollendung der Anſchauung, der
Bekanntſchaft mit dem Wortzeichen, vorausge¬
hen muͤſſe, und daß der umgekehrte Weg gerade
in jene Schatten- und Nebel-Welt, und zu dem
fruͤhen Maulbrauchen, welche beide Peſtaloz¬
zi'n mit Recht ſo verhaßt ſind, fuͤhre, ja, daß
der, der nur je eher je lieber das Wort wiſſen
will, und der ſeine Erkenntniſſe fuͤr vermehrt
haͤlt, ſo bald er es weiß, eben in jener Nebel¬
welt lebt, und bloß um deren Erweiterung be¬
kuͤmmert iſt. Des Erfinders Denkgebaͤude im
Ganzen erfaſſend, glaube ich, daß es gerade
dieſes ABC der Empfindung war, was er, als
erſte Grundlage der geiſtigen Entwiklung, und
als Inhalt ſeines Buchs der Muͤtter, anſtrebte,
U 2[308] und was ihm dunkel, bei allen ſeinen Aeuße¬
rungen uͤber die Sprache, vorſchwebte, und daß
allein der Mangel an philoſophiſchen Studien
ihn verhinderte, in dieſem Punkte ſich ſelber
vollkommen klar zu werden.


Dieſe Entwiklung nun des erkennenden
Subjekts ſelbſt, an der Empfindung, vorausge¬
ſezt, und der National-Erziehung, die wir be¬
abſichtigen, als allererſte Grundlage unterge¬
legt, iſt das Peſtalozziſche A B C der Anſchauung,
die Lehre von den Zahl- und Maaß-Verhaͤlt¬
niſſen, die vollkommen zwekmaͤßige, und vor¬
trefliche Folge. An dieſe Anſchauung kann
ein beliebiger Theil der Sinnenwelt geknuͤpft
werden, ſie kann eingefuͤhrt werden in das Ge¬
biet der Mathematik, ſo lange, bis an dieſen
Voruͤbungen der Zoͤgling hinlaͤnglich gebildet
ſey, um zur Entwerfung einer geſellſchaftlichen
Ordnung der Menſchen, und zur Liebe dieſer
Ordnung, als dem zweiten und weſentlichen
Schritte ſeiner Bildung, angefuͤhrt zu werden.


Noch iſt, gleich beim erſten Theile der Erzie¬
hung ein anderer von Peſtalozzi gleichfalls in
Anregung gebrachter Gegenſtand nicht zu uͤber¬
gehen; die Entwiklung der koͤrperlichen Fertig¬
[309] keit des Zoͤglings, die mit der geiſtigen noth¬
wendig Hand in Hand gehend fortſchreiten
muß. Erfordert ein ABC der Kunſt, d.h.
des koͤrperlichen Koͤnnens. Seine hervor¬
ſtechendſten Aeußerungen hieruͤber ſind fol¬
gende: „Schlagen, Tragen, Werfen, Stoßen,
„Ziehen, Drehen, Ringen, Schwingen u. ſ. f.
„ſeien die einfachſten Uebungen der Kraft. Es
„gebe eine naturgemaͤße Stuffenfolge von den
„Anfaͤngen in dieſen Uebungen bis zu ihrer
„vollendeten Kunſt, d.i. bis zum hoͤchſten Grade
„des Nerventaktes, der Schlag und Stoß,
„Schwung und Wurf, in hundertfachen Ab¬
„wechſelungen ſichere, und Hand und Fuß
„gewiß mache.“ Alles kommt hiebei auf die
naturgemaͤße Stuffenfolge an, und es reicht
nicht hin, daß man mit blinder Willkuͤhr hin¬
eingreife, und irgend eine Uebung einfuͤhre, da¬
mit doch von uns geſagt werden koͤnne, wir
haͤtten auch, etwa wie die Griechen, koͤrperliche
Erziehung. In dieſer Ruͤckſicht iſt nun noch alles
zu thun, denn Peſtalozzi hat kein ABC der
Kunſt geliefert. Dieſes muͤßte erſt geliefert
werden, und zwar bedarf es dazu eines Man¬
nes, der, in der Anatomie des menſchlichen
Koͤrpers, und in der wiſſenſchaftlichen Mecha¬
[310] nik auf gleiche Weiſe zu Hauſe, mit dieſen
Kenntniſſen ein hohes Maaß philoſophiſchen
Geiſtes verbaͤnde, und der auf dieſe Weiſe faͤhig
waͤre, in allſeitiger Vollendung diejenige Ma¬
ſchine zu finden, zu der der menſchliche Koͤrper
angelegt iſt, und anzugeben, wie dieſe Ma¬
ſchine allmaͤhlig, alſo daß jeder Schritt in der
einzig moͤglichen richtigen Folge geſchaͤhe, durch
jeden alle kuͤnftigen vorbereitet, und erleichtert,
und dabei die Geſundheit, und Schoͤnheit des
Koͤrpers, und die Kraft des Geiſtes nicht nur
nicht gefaͤhrdet, ſondern ſogar geſtaͤrkt und
erhoͤht wuͤrde, wie, ſage ich, auf dieſe Weiſe
dieſe Maſchine aus jedem geſunden menſchlichen
Koͤrper entwikelt werden koͤnne. Die Unerla߬
lichkeit dieſes Beſtandtheils fuͤr eine Erziehung,
die den ganzen Menſchen zu bilden verſpricht,
und die beſonders fuͤr eine Nation ſich be¬
ſtimmt, welche ihre Selbſtſtaͤndigkeit, wieder her¬
ſtellen, und fernerhin erhalten ſoll, faͤllt ohne
weitere Erinnerung in die Augen.


Was fuͤr naͤhere Beſtimmung unſers Be¬
griffs von deutſcher National-Erziehung noch
ferner zu ſagen iſt, behalten wir vor der naͤchſt¬
kuͤnftigen Rede.


[311]

Zehnte Rede.


Zur naͤhern Beſtimmung der deutſchen
National-Erziehung.

Die Anfuͤhrung des Zoͤglings, zuerſt ſeine
Empfindungen, ſodann ſeine Anſchauungen ſich
klar zu machen, mit welcher eine folgegemaͤße
Kunſtbildung ſeines Koͤrpers Hand in Hand
gehen muß, iſt der erſte Haupttheil der neuen
deutſchen National-Erziehung. Was die Bil¬
dung der Anſchauung betrift, haben wir eine
zwekmaͤßige Anleitung von Peſtalozzi; die noch
ermangelnde zur Bildung des Empfindungs-
Vermoͤgens wird derſelbe Mann, und ſeine
Mitarbeiter, die zur Loͤſung dieſer Aufgabe zu¬
naͤchſt berufen ſind, leicht geben koͤnnen. Eine
Anweiſung zur folgegemaͤßen Ausbildung der
koͤrperlichen Kraft fehlt noch: es iſt angegeben,
was zu Loͤſung dieſer Aufgabe erfordert werde,
[312] und es iſt zu hoffen, daß, wenn die Nation
Begierde nach dieſer Loͤſung bezeugen ſollte,
dieſelbe ſich finden werde. Dieſer ganze Theil
der Erziehung iſt nur Mittel und Voruͤbung zu
dem zweiten weſentlichen Theile derſelben, der
buͤrgerlichen und religioͤſen Erziehung. Was hier¬
uͤber im allgemeinen zu ſagen dermalen Noth
thut, iſt in unſrer zweiten, und dritten Rede ſchon
beigebracht, und wir haben in dieſer Ruͤkſicht
nichts hinzuzuſetzen. Eine beſtimmte Anwei¬
ſung zur Kunſt dieſer Erziehung zu geben iſt, —
immer wie ſich verſteht in Berathung und Ruͤk¬
ſprache mit der Peſtalozziſchen eigentlichen Er¬
ziehungskunſt — die Sache derſelben Philo¬
ſophie, die eine deutſche National-Erziehung
uͤberhaupt in Vorſchlag bringt; und dieſe Phi¬
loſophie wird, wenn nur erſt das Beduͤrfniß
einer ſolchen Anweiſung durch vollendete Aus¬
uͤbung des erſten Theils eintritt, nicht ſaͤumen,
dieſelbe zu liefern. Wie es moͤglich ſeyn werde,
daß jedweder Zoͤgling, auch aus dem niedrig¬
ſten Stande gebohren, indem der Stand der
Geburt wahrhaftig keinen Unterſchied in den
Anlagen macht, den Unterricht uͤber dieſe Ge¬
genſtaͤnde, der allerdings, wenn man ſo will,
[313] die allertiefſte Metaphyſik enthaͤlt, und die
Ausbeute der abgezogenſten Spekulation iſt,
und welche zu faſſen dermalen ſogar Ge¬
lehrten und ſelbſt ſpekulirenden Koͤpfen ſo
unmoͤglich faͤllt, faſſen, und ſogar leicht faſſen
werde; daruͤber ermuͤde man ſich nur vor¬
laͤufig nicht im Hin- und Herzweifeln: wenn
man nur in Abſicht der erſten Schritte folgen
will, ſo wird dies ſpaͤterhin die Erfahrung leh¬
ren. Nur darum, weil unſre Zeit uͤberhaupt
in der Welt der leeren Begriffe gefeſſelt, und
an keiner Stelle in die Welt der wahrhaftigen
Realitaͤt, und Anſchauung hineingekommen iſt,
iſt es ihr nicht anzumuthen, daß ſie gerade bei
der allerhoͤchſten und geiſtigſten Anſchauung,
und nachdem ſie ſchon uͤber alles Maaß klug
iſt, das Anſchauen anfange. Ihr muß die
Philoſophie anmuthen ihre bisherige Welt auf¬
zugeben, und eine ganz andere ſich zu verſchaf¬
fen, und es iſt kein Wunder, wenn eine ſolche
Anmuthung ohne Erfolg bleibt. Der Zoͤgling
unſrer Erziehung aber iſt gleich von Anbeginn
an einheimiſch geworden in der Welt der An¬
ſchauung, und hat niemals eine andere geſe¬
hen; er ſoll ſeine Welt nicht veraͤndern, ſon¬
[314] dern ſie nur ſteigern, und dieſes ergiebt ſich
von ſelbſt. Jene Erziehung iſt zugleich, wie
wir ſchon oben darauf deuteten, die einzig
moͤgliche Erziehung fuͤr Philoſophie, und das
einige Mittel, dieſe leztere allgemein zu machen.


Mit dieſer buͤrgerlichen, und religioͤſen Er¬
ziehung nun iſt die Erziehung beſchloſſen, und
der Zoͤgling zu entlaſſen, und ſo waͤren wir
denn fuͤrs erſte in Abſicht des Inhalts der
vorgeſchlagenen Erziehung im Reinen.


Es muͤſſe niemals das Erkenntnißvermoͤgen
des Zoͤglings angeregt werden, ohne daß die
Liebe fuͤr den erkannten Gegenſtand es zugleich
werde, indem außerdem die Erkenntniß todt,
und eben ſo niemals die Liebe, ohne daß ſie
der Erkenntniß klar werde, indem außerdem
die Liebe blind bleibe: iſt einer der Hauptgrund¬
ſaͤtze der von uns vorgeſchlagnen Erziehung, mit
welchem auch Peſtalozzi ſeinem ganzen Denk¬
gebaͤude zufolge einverſtanden ſeyn muß. Die
Anregung und Entwiklung dieſer Liebe nun
knuͤpft ſich an den folgegemaͤßen Lehrgang am
Faden der Empfindung, und der Anſchauung,
von ſelbſt, und kommt, ohne allen unſern Vor¬
ſatz, oder Zuthun. Das Kind hat einen na¬
[315] tuͤrlichen Trieb nach Klarheit, und Ordnung;
dieſer wird in jenem Lehrgange immerfort be¬
friedigt, und erfuͤllt ſo das Kind mit Freude
und Luſt; mitten in der Befriedigung aber
wird er, durch die neuen Dunkelheiten, die
nun zum Vorſchein kommen, wiederum ange¬
regt, und ſo ferner befriediget, und ſo geht das
Leben hin in Liebe, und Luſt am Lernen. Dies
iſt die Liebe, wodurch jeder einzelne an die
Welt des Gedankens geknuͤpft wird, das Band
der Sinnen- und Geiſterwelt uͤberhaupt. Durch
dieſe Liebe entſteht, in dieſer Erziehung ſicher
und berechnet, ſo wie bisher durch das Ohn¬
gefaͤhr, bei wenigen vorzuͤglich beguͤnſtigten
Koͤpfen, die leichte Entwiklung des Erkennt¬
nißvermoͤgens, und die gluͤckliche Bearbeitung
der Felder der Wiſſenſchaft.


Noch aber giebt es eine andere Liebe, die¬
jenige, welche den Menſchen an den Menſchen
bindet, und alle Einzelne zu einer einigen Ver¬
nunftgemeine der gleichen Geſinnung verbindet.
Wie jene die Erkenntniß, ſo bildet dieſe das
handelnde Leben, und treibt an, das erkannte
in ſich und andern darzuſtellen. Da es fuͤr
unſern eigentlichen Zwek wenig helfen wuͤrde,
[316] bloß die Gelehrten-Erziehung zu verbeſſern,
und die von uns beabſichtigte National-Erzie¬
hung zunaͤchſt nicht darauf ausgeht, Gelehrte,
ſondern eben Menſchen zu bilden, ſo iſt klar,
daß neben jener erſten auch die Entwiklung der
zweiten Liebe unerlaͤßliche Pflicht dieſer Er¬
ziehung iſt.


Peſtalozzi redet *)von dieſem Gegenſtande
mit herzerhebender Begeiſterung; dennoch aber
muͤſſen wir bekennen, daß alles dieſes uns nicht
im mindeſten klar geſchienen hat, und am
allerwenigſten ſo klar, daß es einer kunſt¬
maͤßigen Entwiklung jener Liebe zur Grundlage
dienen koͤnne. Es iſt darum noͤthig, daß wir
unſre eigenen Gedanken zu einer ſolchen Grund¬
lage mittheilen.


Die gewoͤhnliche Annahme, daß der Menſch
von Natur ſelbſtſuͤchtig ſey, und auch das
Kind mit dieſer Selbſtſucht gebohren werde,
und daß es allein die Erziehung ſey, die dem¬
[317] ſelben eine ſittliche Triebfeder einpflanze, gruͤn¬
det ſich auf eine ſehr oberflaͤchliche Beobach¬
tung, und iſt durchaus falſch. Da aus nichts
ſich nicht etwas machen laͤßt, die noch ſo weit
fortgeſezte Entwiklung eines Grundtriebes aber
ihn doch niemals zu dem Gegentheile von ſich
ſelbſt machen kann; wie ſollte doch die Erzie¬
hung vermoͤgen, jemals Sittlichkeit in das Kind
hineinzubringen, wenn dieſe nicht urſpruͤng¬
lich, und vor aller Erziehung vorher in dem¬
ſelben waͤre? So iſt ſie es denn auch wirklich,
in allen menſchlichen Kindern, die zur Welt ge¬
bohren werden; die Aufgabe iſt bloß die ur¬
ſpruͤnglichſte, und reinſte Geſtalt, in der ſie
zum Vorſchein kommt, zu ergruͤnden.


Durchgefuͤhrte Spekulation ſowohl, als die
geſammte Beobachtung ſtimmen uͤberein, daß
dieſe urſpruͤnglichſte, und reinſte Geſtalt der
Trieb nach Achtung ſey, und daß dieſem Triebe
erſt das ſittliche, als einzig moͤglicher Gegen¬
ſtand der Achtung, das Rechte, und Gute,
die Wahrhaftigkeit, die Kraft der Selbſtbeherr¬
ſchung, in der Erkenntniß aufgehe. Beim
Kinde zeigt ſich dieſer Trieb zuerſt als Trieb
auch geachtet zu werden, von dem, was ihm
[318] die hoͤchſte Achtung einſtoͤßt; und es richtet ſich
dieſer Trieb, zum ſichern Beweiſe, daß keines¬
weges aus der Selbſtſucht die Liebe ſtamme, in
der Regel weit ſtaͤrker, und entſchiedener auf
den ernſteren, oͤfter abweſenden, und nicht un¬
mittelbar als Wohlthaͤter erſcheinenden Vater,
denn auf die mit ihrer Wohlthaͤtigkeit ſtets
gegenwaͤrtige Mutter. Von dieſem will das
Kind bemerkt ſeyn, es will ſeinen Beifall ha¬
ben; nur inwiefern dieſer mit ihm zufrieden
iſt, iſt es ſelbſt mit ſich zufrieden: dies iſt die
natuͤrliche Liebe des Kindes zum Vater; keines¬
weges als zum Pfleger ſeines ſinnlichen Wohl¬
ſeyns, ſondern als zu dem Spiegel, aus wel¬
chem ihm ſein eigner Werth oder Unwerth ent¬
gegenſtralt; an dieſe Liebe kann nun der Va¬
ter ſelbſt ſchweren Gehorſam, und jede Selbſt¬
verlaͤugnung leicht anknuͤpfen; fuͤr den Lohn
ſeines herzlichen Beifalls gehorcht es mit Freu¬
den. Wiederum iſt dies die Liebe, die es vom
Vater begehrt, daß dieſer bemerke ſein Beſtre¬
ben, gut zu ſeyn, und es anerkenne, daß er ſich
merken laſſe, es mache ihm Freude, wenn er bil¬
ligen koͤnne, und thue ihm herzlich wehe, wenn
er mißbilligen muͤſſe, er wuͤnſche nichts mehr,
[319] als immer mit demſelben zufrieden ſeyn zu
koͤnnen, und alle ſeine Forderungen an daſſelbe
haben nur die Abſicht, das Kind ſelbſt immer
beſſer und achtungswuͤrdiger zu machen; deren
Anblik wiederum die Liebe des Kindes fort¬
dauernd belebt, und verſtaͤrkt, und ihm zu allen
ſeinen fernern Beſtrebungen neue Kraft giebt.
Dagegen wird dieſe Liebe ertoͤdtet durch Nicht¬
beachtung, oder anhaltendes unbilliges Verken¬
nen, ganz beſonders aber erzeugt ſogar Haß,
wenn man in der Behandlung deſſelben Eigen¬
nuͤzigkeit blicken laͤßt, und z. B. einen durch
die Unvorſichtigkeit deſſelben verurſachten Ver¬
luſt als ein Hauptverbrechen behandelt. Es
ſieht ſich ſodann als ein bloßes Werkzeug be¬
trachtet, und dies empoͤrt ſein zwar dunkles,
aber dennoch nicht abweſendes Gefuͤhl, daß es
durch ſich ſelbſt einen Werth haben muͤſſe.


Um dies an einem Beiſpiele zu belegen.
Was iſt es doch, daß dem Schmerze der Zuͤch¬
tigung beim Kinde noch die Schaam hinzufuͤgt,
und was iſt dieſe Schaam? Offenbar iſt ſie
das Gefuͤhl der Selbſtverachtung, die es ſich
zufuͤgen muß, da ihm das Mißfallen ſeiner
Eltern, und Erzieher bezeugt wird. Daher
[320] denn auch in einem Zuſammenhange, wo die
Beſtrafung von keiner Schaam begleitet wird,
es mit der Erziehung zu Ende iſt, und die Be¬
ſtrafung erſcheint als eine Gewaltthaͤtigkeit,
uͤber die der Zoͤgling mit hohem Sinne ſich hin¬
wegſezt, und ihrer ſpottet.


Dies alſo iſt das Band, was die Menſchen
zur Einheit des Sinnes verknuͤpft, und deſſen
Entwiklung ein Hauptbeſtandtheil der Erzie¬
hung zum Menſchen iſt, — keinesweges ſinnliche
Liebe, ſondern Trieb zu gegenſeitiger Achtung.
Dieſer Trieb geſtaltet ſich auf eine doppelte
Weiſe: im Kinde, ausgehend von unbedingter
Achtung fuͤr die erwachſene Menſchheit außer
ſich, zu dem Triebe, von dieſer geachtet zu
werden, und an ihrer wirklichen Achtung, als
ſeinem Maaßſtabe, abzunehmen, inwiefern es
auch ſelbſt ſich achten duͤrfe. Dieſes ſich Ver¬
trauen auf einen fremden, und außer uns be¬
findlichen Maaßſtab der Selbſtachtung iſt auch
der eigenthuͤmliche Grundzug der Kindheit, und
Unmuͤndigkeit, auf deſſen Vorhandenſeyn ganz
allein die Moͤglichkeit aller Belehrung, und
aller Erziehung der nachwachſenden Jugend
zu vollendeten Menſchen ſich gruͤndet. Der
[321] muͤndige Menſch hat den Maaßſtab ſeiner
Selbſtſchaͤtzung in ihm ſelber, und will von
andern geachtet ſeyn, nur inwiefern ſie ſelbſt
erſt ſeiner Achtung ſich wuͤrdig gemacht haben;
und bei ihm nimmt dieſer Trieb die Geſtalt des
Verlangens an, andere achten zu koͤnnen, und
achtungswuͤrdiges außer ſich hervorzubringen.
Wenn es nicht einen ſolchen Grundtrieb im
Menſchen gaͤbe, woher kaͤme doch die Erſchei¬
nung, daß es dem auch nur ertraͤglich guten
Menſchen wehe thut, die Menſchen ſchlechter
zu finden, als er ſie ſich dachte, und daß es
ihn tief ſchmerzt, ſie verachten zu muͤſſen; da
es ja der Selbſtſucht im Gegentheile wohl thun
muͤßte, uͤber andere ſich hochmuͤthig erheben zu
koͤnnen? Dieſen lezten Grundzug der Muͤn¬
digkeit nun ſoll der Erzieher darſtellen, ſo wie
auf den erſten bei dem Zoͤglinge ſicher zu rech¬
nen iſt. Der Zweck der Erziehung in dieſer
Ruͤkſicht iſt es eben, die Muͤndigkeit, in dem von
uns angegebenen Sinne, hervorzubringen, und
nur, nachdem dieſer Zwek erreicht iſt, iſt die
Erziehung wirklich vollendet, und zu Ende ge¬
bracht. Bisher ſind viele Menſchen ihr gan¬
zes Leben hindurch Kinder geblieben; diejeni¬
X[322] gen, welche zu ihrer Zufriedenheit des Beifalls
der Umgebung bedurften, und nichts rechtes
geleiſtet zu haben glaubten, als wenn ſie dieſer
gefielen. Ihnen hat man entgegengeſezt, als
ſtarke und kraͤftige Charaktere, die wenigen,
die uͤber fremdes Urtheil ſich zu erheben, und
ſich ſelbſt zu genuͤgen vermochten, und hat dieſe
in der Regel gehaßt, indeß man jene zwar
nicht achtete, aber dennoch ſie liebenswuͤrdig
fand.


Die Grundlage aller ſittlichen Erziehung
iſt es, daß man wiſſe, es ſey ein ſolcher Trieb
im Kinde, und ihn feſtiglich vorausſetze, ſo¬
dann, daß man ihn in ſeiner Erſcheinung er¬
kenne, und ihn durch zwekmaͤßige Aufregung,
und durch Darreichung eines Stoffs, woran er
ſich befriedige, allmaͤhlich immer mehr entwikle.
Die allererſte Regel, daß man ihn auf den ihm
allein angemeſſenen Gegenſtand richte, auf das
ſittliche, keinesweges aber etwa in einem ihm
fremdartigen Stoffe ihn abfinde. Das Lernen
z.B. fuͤhrt ſeinen Reiz, und ſeine Belohnung in
ſich ſelber; hoͤchſtens koͤnnte angeſtrengter Fleiß,
als eine Uebung der Selbſtuͤberwindung, Bei¬
fall verdienen; aber dieſer freie, und uͤber die
[323] Forderung hinaus gehende Fleiß wird wenig¬
ſtens in der bloßen, allgemeinen National-Er¬
ziehung kaum eine Stelle finden. Daß da¬
her der Zoͤgling lerne, was er ſoll, muß be¬
trachtet werden, als etwas, das ſich eben von
ſelbſt verſteht, und wovon nicht weiter geredet
wird; ſelbſt das ſchnellere, und beſſere Lernen
des faͤhigern Kopfs muß betrachtet werden eben
als ein bloßes Naturereigniß, das ihm ſelber
zu keinem Lobe oder Auszeichnung dient, am
allerwenigſten aber andere Maͤngel verdekt.
Nur im ſittlichen ſoll dieſem Triebe ſein Wir¬
kungskreis angewieſen werden; aber die Wur¬
zel aller Sittlichkeit iſt die Selbſtbeherrſchung,
die Selbſtuͤberwindung, die Unterordnung ſei¬
ner ſelbſtſuͤchtigen Triebe unter den Begriff des
Ganzen. Nur durch dieſe, und ſchlechthin
durch nichts anderes, ſey es dem Zoͤglinge
moͤglich, den Beifall des Erziehers zu erhalten,
deſſen fuͤr ſeine eigne Zufriedenheit zu beduͤr¬
fen er von ſeiner geiſtigen Natur angewieſen,
und durch die Erziehung gewoͤhnt iſt. Es
giebt, wie wir ſchon in unſrer zweiten Rede er¬
innert haben, zwei ſehr verſchiedene Weiſen
jener Unterordnung des perſoͤnlichen Selbſt un¬
X 2[324] ter das Ganze. Zufoͤrderſt diejenige, die
ſchlechthin ſeyn muß, und keinem in keinem
Stuͤcke erlaſſen werden kann, die Unterwerfung
unter das, um der bloßen Ordnung des Gan¬
zen willen entworfene, Geſez der Verfaſſung.
Wer gegen dieſes ſich nicht vergeht, den trift
nur nicht Mißfallen, keinesweges aber wird
ihm Beifall zu Theil; ſo wie den, der ſich
dagegen verginge, wirkliches Mißfallen und
Tadel treffen wuͤrde, der, da wo oͤffentlich ge¬
fehlt worden, auch oͤffentlich ergehen muͤßte,
und, wo er fruchtlos bliebe, ſogar durch hin¬
zugefuͤgte Strafe geſchaͤrft werden koͤnnte.
Sodann giebt es eine Unterordnung des Ein¬
zelnen unter das Ganze, die nicht gefordert,
ſondern nur freiwillig geleiſtet werden kann:
daß man durch eigne Aufopferung den Wohl¬
ſtand deſſelben ſteigere, und vermehre. Um
das Verhaͤltniß der bloßen Geſezmaͤßigkeit, und
dieſer hoͤhern Tugend, zu einander den Zoͤglin¬
gen gleich von Jugend auf recht einzupraͤgen,
wird es zwekmaͤßig ſeyn, nur demjenigen, ge¬
gen den einen gewiſſen Zeitraum hindurch in
der erſten Ruͤkſicht keine Klage geweſen, ſolche
freiwillige Aufopferungen, gleichſam als den
[325] Lohn der Geſezmaͤßigkeit, zu geſtatten, dem aber,
der in Regelmaͤßigkeit und Ordnung ſeiner
ſelbſt noch nicht ganz ſicher iſt, die Erlaubniß
dazu zu verſagen. Die Gegenſtaͤnde ſolcher
freiwilligen Leiſtungen ſind im allgemeinen
ſchon oben angezeigt, und werden tiefer unten
ſich noch naͤher ergeben. Dieſer Art der Auf¬
opferung werde zu Theil thaͤtige Billigung,
wirkliche Anerkennung ihrer Verdienſtlichkeit,
keinesweges zwar oͤffentlich, als Lob, was das
Gemuͤth verderben, und eitel machen, und es
von der Selbſtſtaͤndigkeit ableiten koͤnnte, ſon¬
dern in geheim und mit dem Zoͤglinge allein.
Dieſe Anerkennung ſoll nichts mehr ſeyn, als
das eigne, dem Zoͤglinge auch aͤußerlich darge¬
ſtellte, gute Gewiſſen deſſelben, und die Beſtaͤ¬
tigung ſeiner Zufriedenheit mit ſich ſelbſt, ſei¬
ner Selbſtachtung, und die Ermunterung, ſich
auch ferner zu vertrauen. Die hiebei beabſich¬
tigten Vortheile wuͤrde folgende Einrichtung
vortreflich befoͤrdern. Wo mehrere Erzieher
und Erzieherinnen ſind, wie wir denn dies als
die Regel vorausſetzen, da waͤhle jedes Kind,
frei, und ſo wie ſein Vertrauen und ſein Gefuͤhl
daſſelbe treibt, einen darunter zum beſondern
[326] Freunde, und gleichſam Gewiſſens-Rathe.
Bei dieſem ſuche es Rath, in allen Faͤllen, wo
es ihm ſchwer wird, recht zu thun; er helfe
ihm durch freundliche Zuſprache nach; er ſey
der Vertraute der freiwilligen Leiſtungen, die
es uͤbernimmt; und er ſey endlich derjenige, der
das trefliche mit ſeinem Beifalle kroͤnt. In
den Perſonen dieſer Gewiſſensraͤthe nun muͤßte
die Erziehung, jedem einzelnen nach ſeiner
Weiſe, folgegemaͤß zu immer groͤßerer Staͤrke
in der Selbſtuͤberwindung, und Selbſtbeherr¬
ſchung, emporhelfen; und ſo wird allmaͤhlig
Feſtigkeit, und Selbſtſtaͤndigkeit entſtehen,
durch deren Erzeugung die Erziehung ſich ſelbſt
abſchließt, und fuͤr die Zukunft aufhebt. Durch
eignes Thun und Handeln ſchließt ſich uns
am klaͤrſten der Umfang der ſittlichen Welt auf,
und wem ſie alſo aufgegangen iſt, dem iſt ſie
wahrhaftig aufgegangen. Ein ſolcher weiß
nun ſelbſt, was in ihr enthalten iſt, und be¬
darf keines fremden Zeugniſſes mehr uͤber ſich,
ſondern vermag es, ſelbſt ein richtiges Ge¬
richt uͤber ſich zu halten, und iſt von nun an
muͤndig.


Wir haben durch das ſo eben geſagte, eine
[327] Luͤcke, die in unſerm bisherigen Vortrage blieb,
geſchloſſen, und unſern Vorſchlag erſt wahr¬
haftig ausfuͤhrbar gemacht. Das Wohlgefal¬
len am Rechten und Guten um ſein ſelbſt wil¬
len, ſoll durch die neue Erziehung an die Stelle
der bisher gebrauchten ſinnlichen Hofnung oder
Furcht geſezt werden, und dieſes Wohlgefallen
ſoll, als einzig vorhandene Triebfeder, alles
kuͤnftige Leben in Bewegung ſetzen: Dies iſt die
Hauptſache unſers Vorſchlags. Die erſte hie¬
bei ſich aufdringende Frage iſt: aber, wie ſoll
denn nun jenes Wohlgefallen ſelbſt erzeugt wer¬
den? Erzeugt werden, im eigentlichen Sinne
des Worts, kann es nun wohl nicht; denn der
Menſch vermag nicht aus Nichts Etwas zu
machen. Es muß, wenn unſer Vorſchlag irgend
ausfuͤhrbar ſeyn ſoll, dieſes Wohlgefallen ur¬
ſpruͤnglich vorhanden ſeyn, und ſchlechthin in
allen Menſchen ohne Ausnahme vorhanden
ſeyn, und ihnen angebohren werden. So ver¬
haͤlt es ſich denn auch wirklich. Das Kind
ohne alle Ausnahme will recht, und gut ſeyn,
keinesweges will es, ſo wie ein junges Thier,
bloß wohl ſeyn. Die Liebe iſt der Grundbe¬
ſtandtheil des Menſchen; dieſe iſt da, ſo wie
[328] der Menſch da iſt, ganz und vollendet, und
es kann ihr nichts hinzugefuͤgt werden; denn
dieſe liegt hinaus uͤber die fortwachſende Er¬
ſcheinung des ſinnlichen Lebens, und iſt unabhaͤn¬
gig von ihm. Nur die Erkenntniß iſt es, woran
ſich dieſes ſinnliche Leben knuͤpft, und welche
mit demſelben entſteht, und fortwaͤchſt. Dieſe
entwikelt ſich nur langſam, und allmaͤhlig, im
Fortlaufe der Zeit. Wie ſoll nun, ſo lange,
bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des
Rechten und Guten entſtehe, an welches das
treibende Wohlgefallen ſich knuͤpfen koͤnne, jene
angebohrne Liebe uͤber die Zeiten der Unwiſſen¬
heit hinwegkommen, ſich entwikeln, und uͤben?
Die vernuͤnftige Natur hat ohne alles unſer
Zuthun der Schwierigkeit abgeholfen. Das
dem Kinde in ſeinem Innern abgehende Be¬
wußtſeyn ſtellt ſich ihm aͤußerlich und verkoͤr¬
pert dar an dem Urtheile der erwachſenen Welt.
Bis in ihm ſelbſt ein verſtaͤndiger Richter ſich
entwikle, wird es durch einen Naturtrieb an
dieſe verwieſen, und ſo ihm ein Gewiſſen
außer ihm gegeben, bis in ihm ſelber ſich eins
erzeuge. Dieſe bis jetzt wenig bekannte Wahr¬
heit ſoll die neue Erziehung anerkennen, und
[329] ſie ſoll die ohne ihr Zuthun vorhandene Liebe
auf das Rechte leiten. Bis jezt iſt in der Re¬
gel dieſe Unbefangenheit und dieſe kindliche
Glaͤubigkeit der Unmuͤndigen an die hoͤhere
Vollkommenheit der Erwachſenen zum Verder¬
ben derſelben gebraucht worden; ihre Unſchuld
gerade, und ihr natuͤrlicher Glauben an uns,
machte es uns moͤglich, ihnen ſtatt des Guten,
das ſie innerlich wollten, unſer Verderbniß, das
ſie verabſcheut haben wuͤrden, wenn ſie es
zu erkennen vermocht haͤtten, einzupflanzen,
noch ehe ſie Gutes, und Boͤſes unterſcheiden
konnten.


Dies iſt eben die allergroͤßte Vergehung,
die unſrer Zeit zur Laſt faͤllt; und es wird hier¬
durch auch die taͤglich ſich darbietende Erſchei¬
nung erklaͤrt, daß in der Regel der Menſch um
ſo ſchlechter, ſelbſtſuͤchtiger, fuͤr alle guten Re¬
gungen erſtorbener, und zu jedem rechten Werke
untauglicher wird, je mehrere Jahre er zaͤhlt,
und um je weiter daher er ſich von den erſten
Tagen ſeiner Unſchuld, die fuͤrs erſte noch im¬
mer in einigen Ahnungen des Guten leiſe nach¬
klingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner
bewieſen, daß das gegenwaͤrtige Geſchlecht,
[330] wenn es nicht einen durchaus trennenden Ab¬
ſchnitt in ſein Fortleben macht, eine noch ver¬
dorbnere Nachkommenſchaft, und dieſe eine
abermals verdorbnere, nothwendig hinterlaſſen
werde. Von ſolchen ſagt ein verehrungswuͤr¬
diger Lehrer des Menſchengeſchlechts mit tref¬
fender Wahrheit, daß es beſſer ſey, wenn
ihnen bei Zeiten ein Muͤhlſtein an den Hals ge¬
haͤngt wuͤrde, und ſie erſaͤuft wuͤrden im Meere,
da wo es am tiefſten iſt. Es iſt eine abge¬
ſchmakte Verlaͤumdung der menſchlichen Natur,
daß der Menſch als Suͤnder gebohren werde;
waͤre dies wahr, wie koͤnnte doch jemals an
ihn auch nur ein Begriff von Suͤnde kommen,
der ja nur im Gegenſatze mit einer Nichtſuͤnde
moͤglich iſt? Er lebt ſich zum Suͤnder; und
das bisherige menſchliche Leben war in der Re¬
gel eine im ſteigenden Fortſchritte begriffene
Entwiklung der Suͤndhaftigkeit.


Das Geſagte zeigt in einem neuen Lichte
die Nothwendigkeit, ohne Verzug Anſtalt zu
einer wirklichen Erziehung zu machen. Koͤnnte
nur die nachwachſende Jugend ohne alle Be¬
ruͤhrung mit den Erwachſenen und voͤllig ohne
Erziehung aufwachſen, ſo moͤchte man ja im¬
[331] mer den Verſuch machen, was ſich hieraus er¬
geben wuͤrde. Aber, wenn wir ſie auch nur
in unſrer Geſellſchaft laſſen, macht ihre Erzie¬
hung, ohne allen unſern Wunſch oder Willen,
ſich von ſelbſt; ſie ſelbſt erziehen ſich an uns:
unſre Weiſe zu ſeyn dringt ſich ihnen auf, als
ihr Muſter, ſie eifern uns nach, auch ohne
daß wir es verlangen, und ſie begehren nichts
anderes, denn alſo zu werden, wie wir ſind.
Nun aber ſind wir in der Regel und nach der
großen Mehrheit genommen, durchaus verkehrt,
theils ohne es zu wiſſen, und indem wir ſelbſt,
eben ſo unbefangen wie unſre Kinder, unſere
Verkehrtheit fuͤr das rechte halten; oder, wenn
wir es auch wuͤßten, wie vermoͤchten wir doch
in der Geſellſchaft unſrer Kinder ploͤzlich das,
was ein langes Leben uns zur zweiten Natur
gemacht hat, abzulegen, und unſern ganzen
alten Sinn und Geiſt mit einem neuen zu ver¬
tauſchen? In der Beruͤhrung mit uns muͤſſen
ſie verderben, dies iſt unvermeidlich; haben
wir einen Funken Liebe fuͤr ſie, ſo muͤſſen wir
ſie entfernen aus unſerm verpeſtenden Dunſt¬
kreiſe, und einen reinern Aufenthalt fuͤr ſie er¬
richten. Wir muͤſſen ſie in die Geſellſchaft von
[332] Maͤnnern bringen, welche, wie es auch uͤbri¬
gens um ſie ſtehen moͤge, dennoch durch anhal¬
tende Uebung, und Gewoͤhnung wenigſtens die
Fertigkeit ſich erworben haben, ſich zu beſinnen,
daß Kinder ſie beobachten, und das Vermoͤgen,
wenigſtens ſo lange ſich zuſammenzunehmen,
und die Kenntniß, wie man vor Kindern er¬
ſcheinen muß; wir muͤſſen aus dieſer Geſell¬
ſchaft in die unſrige ſie nicht eher wieder zuruͤk¬
laſſen, bis ſie unſer ganzes Verderben gehoͤrig
verabſcheuen gelernt haben, und vor aller An¬
ſtekung dadurch voͤllig geſichert ſind.


So viel haben wir uͤber die Erziehung zur
Sittlichkeit im allgemeinen hier beizubringen
fuͤr noͤthig erachtet.


Daß die Kinder in gaͤnzlicher Abſonderung
von den Erwachſenen mit ihren Lehrern und
Vorſtehern allein zuſammenleben ſollen, iſt
mehrmals erinnert. Es verſteht ſich ohne un¬
ſer beſonderes Bemerken, daß beiden Geſchlech¬
tern dieſe Erziehung auf dieſelbe Weiſe zu Theil
werden muͤſſe. Eine Abſonderung dieſer Ge¬
ſchlechter in beſondere Anſtalten fuͤr Knaben,
und Maͤdchen, wuͤrde zwekwidrig ſeyn, und
mehrere Hauptſtuͤke der Erziehung zum voll¬
[333] kommnen Menſchen aufheben. Die Gegen¬
ſtaͤnde des Unterrichts ſind fuͤr beide Geſchlech¬
ter gleich; der in den Arbeiten ſtatt findende
Unterſchied kann, auch bei Gemeinſchaftlichkeit
der uͤbrigen Erziehung, leicht beobachtet werden.
Die kleinere Geſellſchaft, in der ſie zu Menſchen
gebildet werden, muß, eben ſo wie die groͤßere,
in die ſie einſt als vollendete Menſchen eintreten
ſollen, aus einer Vereinigung beider Geſchlechter
beſtehen; beide muͤſſen erſt gegenſeitig in ein¬
ander die gemeinſame Menſchheit anerkennen,
und lieben lernen, und Freunde haben, und
Freundinnen, ehe ſich ihre Aufmerkſamkeit auf
den Geſchlechtsunterſchied richtet, und ſie Gat¬
ten, und Gattinnen werden. Auch muß das
Verhaͤltniß der beiden Geſchlechter zu einander
im Ganzen, ſtarkmuͤthiger Schutz von der einen,
liebevoller Beiſtand von der andern Seite, in
der Erziehungsanſtalt dargeſtellt, und in den
Zoͤglingen gebildet werden.


Wenn es zur Ausfuͤhrung unſers Vorſchlags
kommen ſollte, wuͤrde das erſte Geſchaͤft ſeyn,
ein Geſez fuͤr die innere Verfaſſung dieſer
Erziehungsanſtalten zu entwerfen. Wenn der
von uns aufgeſtellte Grundbegriff nur gehoͤrig
[334] durchdrungen iſt, ſo iſt dies eine ſehr leichte
Arbeit, und wir wollen uns hier dabei nicht
aufhalten.


Ein Haupt Erforderniß dieſer neuen Natio¬
nal-Erziehung iſt es, daß in ihr Lernen, und Ar¬
beiten vereinigt ſey, daß die Anſtalt durch ſich
ſelbſt ſich zu erhalten den Zoͤglingen wenigſtens
ſcheine, und daß jeder in dem Bewußtſeyn erhal¬
ten werde, zu dieſem Zweke nach aller ſeiner Kraft
beizutragen. Dies wird, durchaus noch ohne
alle Beziehung auf den Zwek der aͤußern Aus¬
fuͤhrbarkeit, und der Sparſamkeit hiebei, die
man unſerm Vorſchlage ohne Zweifel anmu¬
then wird, ſchon unmittelbar durch die Auf¬
gabe der Erziehung ſelbſt gefordert; theils
darum, weil alle, die bloß durch die allgemeine
National-Erziehung hindurch gehen, zu den ar¬
beitenden Staͤnden beſtimmt ſind, und zu deren
Erziehung die Bildung zum tuͤchtigen Arbeiter
ohne Zweifel gehoͤrt; beſonders aber darum,
weil das gegruͤndete Vertrauen, daß man ſich
ſtets durch eigne Kraft werde durch die Welt
bringen koͤnnen, und fuͤr ſeinen Unterhalt kei¬
ner fremden Wohlthaͤtigkeit beduͤrfe, zur per¬
ſoͤnlichen Selbſtſtaͤndigkeit des Menſchen ge¬
[335] hoͤrt, und die ſittliche, weit mehr als man bis
jetzt zu glauben ſcheint, bedingt. Dieſe Bil¬
dung wuͤrde einen andern, bis jetzt auch in der
Regel dem blinden Ohngefaͤhr Preis gegebenen
Theil der Erziehung abgeben, den man die
wirthſchaftliche Erziehung nennen koͤnnte, und
der keinesweges aus der duͤrftigen, und be¬
ſchraͤnkten Anſicht, uͤber welche einige unter
Benennung der Oekonomie ſpotten, ſondern
aus dem hoͤhern ſittlichen Standpunkte ange¬
ſehen werden muß. Unſere Zeit ſtellt es oft
als einen uͤber alle Gegenrede erhabenen Grund¬
ſatz auf, daß man eben ſchmeicheln, kriechen,
ſich zu allem gebrauchen laſſen muͤſſe, wenn
man leben wolle, und daß es auf keine andere
Weiſe angehe. Sie beſinnt ſich nicht, daß,
wenn man ſie auch mit dem heroiſchen, aber
durchaus wahren Gegenſpruche verſchonen
wollte, daß wenn es ſo iſt, ſie eben nicht leben,
ſondern ſterben ſolle, noch die Bemerkung uͤbrig
bleibt, daß ſie haͤtte lernen ſollen, mit Eh¬
ren leben zu koͤnnen. Man erkundige ſich nur
naͤher nach den Perſonen, die durch ehrloſes
Betragen ſich auszeichnen; immer wird man
finden, daß ſie nicht arbeiten gelernt haben,
[336] oder die Arbeit ſcheuen, und daß ſie noch uͤber¬
dies uͤble Wirthſchafter ſind. Darum ſoll der
Zoͤgling unſrer Erziehung an Arbeitſamkeit ge¬
woͤhnt werden, damit er der Verſuchung zur
Unrechtlichkeit durch Nahrungsſorgen uͤberho¬
ben ſey, und tief, und als allererſter Grundſatz
der Ehre, ſoll es in ſein Gemuͤth gepraͤgt wer¬
den, daß es ſchaͤndlich ſey, ſeinen Lebensunter¬
halt einem andern, denn ſeiner Arbeit ver¬
danken zu wollen.


Peſtalozzi will waͤhrend des Lernens zugleich
allerlei Handarbeiten treiben laſſen. Indem
wir die Moͤglichkeit dieſer Vereinigung unter
der von ihm angegebenen Bedingung, daß das
Kind die Handarbeit ſchon vollkommen fertig
koͤnne, nicht leugnen wollen, ſcheint uns den¬
noch dieſer Vorſchlag aus der Duͤrftigkeit des
erſten Zweks hervorzugehen. Der Unterricht
muß meines Erachtens, als ſo heilig und
ehrwuͤrdig dargeſtellt werden, daß er der ganzen
Aufmerkſamkeit und Sammlung beduͤrfe, und
nicht neben einem andern Geſchaͤfte empfangen
werden koͤnne. Sollen in Jahreszeiten, welche
die Zoͤglinge ohnedies ins Zimmer einſchließen,
in den Arbeitsſtunden dergleichen Arbeiten, als
da[337] da iſt Stricken, Spinnen u. dergl. getrieben
werden, ſo wird es, damit der Geiſt in Thaͤ¬
tigkeit bleibe, ſehr zwekmaͤßig ſeyn, gemein¬
ſchaftliche Geiſtesuͤbungen unter Aufſicht damit
zu verknuͤpfen; dennoch iſt jetzt die Arbeit die
Hauptſache, und dieſe Uebungen ſind nicht zu
betrachten als Unterricht, ſondern bloß als ein
erheiterndes Spiel.


Alle Arbeiten dieſer niedern Art muͤſſen
uͤberhaupt nur als Nebenſache, keinesweges als
die Hauptarbeit, vorgeſtellt werden. Dieſe
Hauptarbeit iſt die Ausuͤbung des Acker- und
Gartenbau's, der Viehzucht, und derjenigen
Handwerke, deren ſie in ihrem kleinen Staate
beduͤrfen. Es verſteht ſich, daß der Antheil
hieran, der einem zugemuthet wird, mit der
koͤrperlichen Kraft ſeines Alters in Gleichge¬
wicht zu bringen, und die abgehende Kraft
durch neu zu erfindende Maſchinen, und Werk¬
zeuge zu erſetzen iſt. Die Hauptruͤkſicht hiebei
iſt die, daß ſie, ſo weit moͤglich, in ſeinen
Gruͤnden verſtehen muͤſſen, was ſie treiben,
daß ſie die zu ihren Geſchaͤften noͤthigen Kennt¬
niſſe von der Erzeugung der Pflanzen, von den
Eigenſchaften, und Beduͤrfniſſen des thieriſchen
Y[338] Koͤrpers, von den Geſetzen der Mechanik, ſchon
erhalten haben. Auf dieſe Art wird theils ihre
Erziehung ſchon ein folgegemaͤßer Unterricht
uͤber die Gewerbe, die ſie kuͤnftig zu treiben
haben, und es wird der denkende und verſtaͤn¬
dige Landwirth in unmittelbarer Anſchauung
gebildet, theils wird ſchon jetzt ihre mechaniſche
Arbeit veredelt, und vergeiſtiget, ſie iſt in eben
dem Grade Beleg in der freien Anſchauung
deſſen, was ſie begriffen haben, als ſie Arbeit
um den Unterhalt iſt, und auch in Geſellſchaft
mit dem Thiere und der Erdſcholle bleiben ſie
dennoch im Umkreiſe der geiſtigen Welt, und
ſinken nicht herab zu den leztern.


Das Grundgeſez dieſes kleinen Wirth¬
ſchaftsſtaates ſey dieſes, daß in ihm kein Arti¬
kel zu Speiſe, Kleidung, u.ſ.w. noch, ſo weit
dies moͤglich iſt, irgend ein Werkzeug, gebraucht
werden duͤrfe, das nicht in ihm ſelbſt erzeugt,
und verfertiget ſey. Bedarf dieſe Haushaltung
einer Unterſtuͤtzung von außen, ſo werden ihr
die Gegenſtaͤnde in Natur, aber keine anderer
Art, als die ſie auch ſelbſt hat, gereicht, und
zwar, ohne daß die Zoͤglinge erfahren, daß
ihre eigne Ausbeute vermehrt worden, oder,
[339] daß ſie, wo das leztere zwekmaͤßig iſt, es nur
als Darlehn erhalten, und es zu beſtimmter
Zeit wieder zuruͤk erſtatten. Fuͤr dieſe Selbſt¬
ſtaͤndigkeit, und Selbſtgenuͤgſamkeit des Gan¬
zen arbeite nun jeder einzelne aus aller ſeiner
Kraft, ohne daß er doch mit demſelben ab¬
rechne, oder fuͤr ſich auf irgend ein Eigenthum
Anſpruch mache. Jeder wiſſe, daß er ſich dem
Ganzen ganz ſchuldig iſt, und genieße nur,
oder darbe, wenn es ſich ſo fuͤgt, mit dem
Ganzen. Dadurch wird die ehrgemaͤße Selbſt¬
ſtaͤndigkeit des Staats, und der Familie, in
die er einſt treten ſoll, und das Verhaͤltniß ih¬
rer einzelnen Glieder zu ihnen, der lebendigen
Anſchauung dargeſtellt, und wurzelt unaus¬
tilgbar ein in ſein Gemuͤth.


Hier, bei dieſer Anfuͤhrung zur mechaniſchen
Arbeit iſt der Ort, wo die in der allgemeinen
National-Erziehung liegende und auf ſie ge¬
ſtuͤzte Gelehrten-Erziehung von der erſtern ſich
abſondert, und wo von derſelben zu ſprechen
iſt. Die in der allgemeinen National-Erzie¬
hung liegende Gelehrten-Erziehung, habe ich
geſagt. Ob es nicht auch fernerhin jedem, der
eigenes Vermoͤgen genug zu haben glaubt, um
Y 2[340] zu ſtudiren, oder der ſich aus irgend einem
Grunde zu den bisherigen hoͤhern Staͤnden
rechnet, frei ſtehen werde, den bisher uͤblichen
Weg der Gelehrten-Erziehung zu beſchreiten,
laſſe ich dahin geſtellt ſeyn: wie, wenn es nur
einmal zur National-Erziehung kommen ſollte,
die Mehrheit dieſer Gelehrten, ich will nicht
ſagen gegen den in der neuen Schule gebilde¬
ten Gelehrten, ſondern ſogar gegen den aus
ihr hervorgehenden gemeinen Mann, mit ihrer
erkauften Gelehrſamkeit, beſtehen werde, wird
die Erfahrung lehren: ich aber will jetzt nicht
davon, ſondern von der Gelehrten-Erziehung
in der neuen Weiſe reden.


In den Grundſaͤtzen derſelben muß auch
der kuͤnftige Gelehrte durch die allgemeine Na¬
tional-Erziehung hindurch gegangen ſeyn, und
den erſten Theil derſelben, die Entwiklung der
Erkenntniß an Empfindung, Anſchauung, und
dem, was an die leztere geknuͤpft wird, voll¬
ſtaͤndig, und klar erhalten haben. Nur dem
Knaben, der eine vorzuͤgliche Gabe zum Ler¬
nen, und eine hervorſtechende Hinneigung nach
der Welt der Begriffe zeigt, kann die neue Na¬
tional-Erziehung erlauben, dieſen Stand zu er¬
[341] greifen; jedem aber, der dieſe Eigenſchaften
zeigt, wird ſie es ohne Ausnahme, und ohne
Ruͤkſicht auf einen vorgeblichen Unterſchied der
Geburt, erlauben muͤſſen; denn der Gelehrte iſt
es keinesweges zu ſeiner eignen Bequemlichkeit,
und jedes Talent dazu iſt ein ſchaͤzbares Eigen¬
thum der Nation, das ihr nicht entriſſen wer¬
den darf.


Der Ungelehrte iſt beſtimmt, das Menſchen¬
geſchlecht auf dem Standpunkte der Ausbil¬
dung, die es errungen hat, durch ſich ſelbſt zu
erhalten, der Gelehrte, nach einem klaren Be¬
griffe, und mit beſonnener Kunſt, daſſelbe wei¬
ter zu bringen. Der leztere muß mit ſeinem
Begriffe der Gegenwart immer voraus ſeyn,
die Zukunft erfaſſen, und dieſelbe in die Gegen¬
wart zu kuͤnftiger Entwiklung hinein zu pflan¬
zen vermoͤgen. Dazu bedarf es einer kla¬
ren Ueberſicht des bisherigen Weltzuſtandes,
einer freien Fertigkeit im reinen und von der
Erſcheinung unabhaͤngigen Denken, und,
damit er ſich mittheilen koͤnne, des Beſitzes
der Sprache bis in ihre lebendige und ſchoͤpfe¬
riſche Wurzel hinein. Alles dieſes erfordert
geiſtige Selbſtthaͤtigkeit ohne alle fremde Lei¬
[342] tung, und einſames Nachdenken, in welchem
darum der kuͤnftige Gelehrte, von der Stunde an,
da ſein Beruf entſchieden iſt, geuͤbt werden
muß, keinesweges bloß, wie beim Ungelehrten,
ein Denken unter dem Auge des ſtets gegen¬
waͤrtigen Lehrers; es erfordert eine Menge
Huͤlfskenntniſſe, die dem Ungelehrten fuͤr ſeine
Beſtimmung durchaus unbrauchbar ſind. Die
Arbeit des Gelehrten, und das Tagwerk ſeines
Lebens, wird eben jenes einſame Nachdenken
ſeyn; zu dieſer Arbeit iſt er nun ſogleich anzu¬
fuͤhren, die andere mechaniſche Arbeit ihm da¬
gegen zu erlaſſen. Indeß alſo die Erziehung
des kuͤnftigen Gelehrten zum Menſchen uͤber¬
haupt mit der allgemeinen National-Erziehung
wie bisher fortginge, und er dem dahin ein¬
ſchlagenden Unterrichte mit allen uͤbrigen bei¬
wohnte, wuͤrden ihm nur diejenigen Stunden,
die fuͤr die andern Arbeitsſtunden ſind, gleich¬
falls zu Lehrſtunden gemacht werden muͤſſen
in demjenigen, was ſein einſtiger Beruf eigen¬
thuͤmlich erfordert; und dieſes waͤre der ganze
Unterſchied. Die allgemeinen Kenntniſſe des
Akerbaues, andrer mechaniſchen Kuͤnſte, und
der Handgriffe dabei, die ſchon dem bloßen
[343] Menſchen anzumuthen ſind, wird er ohne Zwei¬
fel ſchon bei ſeinem Durchgange durch die erſte
Klaſſe gelernt haben, oder dieſe Kenntniſſe waͤ¬
ren, falls dies nicht der Fall ſeyn ſollte, nach¬
zuholen. Daß er, weit weniger denn irgend
ein anderer, von den eingefuͤhrten koͤrperlichen
Uebungen losgeſprochen werden koͤnne, verſteht
ſich von ſelbſt. Die beſondern Lehrgegenſtaͤnde
aber, die in den gelehrten Unterricht fallen
wuͤrden, ſo wie den dabei zu beobachtenden
Lehrgang noch anzugeben, liegt außerhalb des
Planes dieſer Reden.


[344]

Eilfte Rede.


Wem die Ausfuͤhrung dieſes Erziehungs-
Planes anheim fallen werde.

Der Plan der neuen deutſchen National-Er¬
ziehung iſt fuͤr unſern Zwek hinreichend dar¬
gelegt. Die naͤchſte Frage, die ſich nun auf¬
dringt, iſt die: wer ſoll ſich an die Spitze der
Ausfuͤhrung dieſes Plans ſtellen, auf wen iſt
dabei zu rechnen, und auf wen haben wir ge¬
gerechnet?


Wir haben dieſe Erziehung als die hoͤchſte,
und dermalen ſich einzig aufdringende Angele¬
genheit der deutſchen Vaterlandsliebe aufge¬
ſtellt, und wollen an dieſem Bande die Ver¬
beſſerung und Umſchaffung des geſammten
Menſchengeſchlechts zuerſt in die Welt einfuͤh¬
ren. Jene Vaterlandsliebe aber ſoll zunaͤchſt
den deutſchen Staat, allenthalben wo Deutſche
[345] regiert werden, begeiſtern, und den Vorſitz
haben, und die treibende Kraft ſeyn bei allen
ſeinen Beſchluͤſſen. Der Staat alſo waͤre es,
auf welchen wir zuerſt unſere erwartenden
Blicke zu richten haͤtten.


Wird dieſer unſere Hoffnungen erfuͤllen?
Welches ſind die Erwartungen, die wir, immer
wie ſich verſteht, auf keinen beſondern Staat,
ſondern auf ganz Deutſchland ſehend, nach
dem bisherigen von ihm faſſen koͤnnen.


Im neuern Europa iſt die Erziehung ausge¬
gangen nicht eigentlich vom Staate, ſondern
von derjenigen Gewalt, von der die Staaten
meiſtens auch die ihrige hatten, von dem himm¬
liſchgeiſtigen Reiche der Kirche. Dieſe betrachtete
ſich nicht ſowohl als ein Beſtandtheil des irdi¬
ſchen Gemein-Weſens, ſondern vielmehr als
eine demſelben ganz fremde Pflanzſtatt aus dem
Himmel, die abgeſandt ſey, dieſem auswaͤrti¬
gen Staate allenthalben, wo ſie Wurzel faſſen
konnte, Buͤrger anzuwerben; ihre Erziehung
ging auf nichts anders, denn daß die Menſchen
in der andern Welt keinesweges verdammt,
ſondern ſeelig wuͤrden. Durch die Reforma¬
tion wurde dieſe kirchliche Gewalt, die uͤbrigens
[346] fortfuhr ſich eben ſo anzuſehen, wie bisher,
mit der weltlichen Macht, mit der ſie bisher
gar oft ſogar im Widerſtreite gelegen hatte,
nur vereinigt; dies war der ganze Unterſchied,
der in dieſer Ruͤckſicht aus jener Begebenheit
erfolgte. Es blieb daher auch die alte Anſicht
des Erziehungsweſens. Auch in den neue¬
ſten Zeiten, und bis auf dieſen Tag, iſt die
Bildung der vermoͤgendern Staͤnde betrach¬
tet worden, als eine Privat-Angelegenheit
der Eltern, die ſie nach eignem Gefallen ein¬
richten moͤchten, und die Kinder dieſer wurden
in der Regel nur dazu angefuͤhrt, daß ſie ſich
ſelbſt einſt nuͤzlich wuͤrden; die einzige oͤffent¬
liche Erziehung aber, die des Volks, war ledig¬
lich Erziehung zur Seeligkeit im Himmel; die
Hauptſache war ein wenig Chriſtenthum, und
Leſen, und falls es zu erſchwingen war,
Schreiben, alles um des Chriſtenthums willen.
Alle andere Entwicklung der Menſchen wurde
dem ohngefaͤhren und blind wirkenden Ein¬
fluſſe der Geſellſchaft, in welcher ſie aufwuch¬
ſen, und dem wirklichen Leben ſelbſt, uͤberlaſſen
Sogar die Anſtalten zur gelehrten Erziehung,
waren vorzuͤglich auf die Bildung von Geiſtli¬
[347] chen berechnet; dies war die Haupt-Fakultaͤt,
zu der die uͤbrigen nur den Anhang bildeten,
und meiſtens auch nur den Abgang von jener
abgetreten erhielten.


So lange diejenigen, die an der Spitze des
Regiments ſtanden, uͤber den eigentlichen Zweck
deſſelben im Dunkeln blieben, und ſelbſt fuͤr
ihre eigne Perſon ergriffen waren von jener ge¬
wiſſenhaften Sorge fuͤr ihre und anderer See¬
ligkeit, konnte man auf ihren Eifer fuͤr dieſe
Art der oͤffentlichen Erziehung, und auf ihre
ernſtlichen Bemuͤhungen dafuͤr, ſicher rechnen.
Sobald ſie aber uͤber den erſten ins Klare ka¬
men, und begriffen, daß der Wirkungskreis
des Staates innerhalb der ſichtbaren Welt
liege, ſo mußte ihnen einleuchten, daß jene
Sorge fuͤr die ewige Seeligkeit ihrer Untertha¬
nen ihnen nicht zur Laſt fallen koͤnne, und daß,
wer da ſeelig werden wolle, ſelbſt ſehen moͤge,
wie er es mache. Sie glaubten von nun an
genug zu thun, wenn ſie nur die aus gottſeli¬
gern Zeiten herruͤhrenden Stiftungen und An¬
ſtalten ihrer erſten Beſtimmung fernerhin
uͤberließen; ſo wenig angemeſſen und ausrei¬
reichend dieſelben auch fuͤr die ganz veraͤnder¬
[348] ten Zeiten ſeyn mochten, ihnen mit Erſparung
an ihren anderweitigen Zwecken ſelbſt zuzule¬
gen, hielten ſie ſich nicht fuͤr verbunden, thaͤ¬
tig einzugreifen, und das zweckmaͤßige neue
an die Stelle des veralteten, und unbrauch¬
baren zu ſetzen, nicht fuͤr berechtigt, und auf
alle Vorſchlaͤge dieſer Art war die ſtets fertige
Antwort: hierzu habe der Staat kein Geld.
Wurde ja einmal eine Ausnahme von dieſer
Regel gemacht, ſo geſchah es zum Vortheile
der hoͤhern Lehranſtalten, die einen Glanz
weit umher verbreiten, und ihren Befoͤrderern
Ruhm bereiten; die Bildung derjenigen Klaſ¬
ſe aber, die der eigentliche Boden des Men¬
ſchengeſchlechts iſt, aus welcher die hoͤhere
Bildung ſich immerfort ergaͤnzt, und auf wel¬
che die leztere fortdauernd zuruͤckwirken muß,
die des Volks, blieb unbeachtet, und befindet
ſich, ſeit der Reformation, bis auf dieſen Tag,
im Zuſtande des ſteigenden Verfalles.


Sollen wir nun fuͤr die Zukunft, und von
Stund an, fuͤr unſre Angelegenheit vom Staa¬
te eine beſſere Hoffnung faßen koͤnnen, ſo waͤre
noͤthig, daß derſelbe den Grundbegriff vom
Zwecke der Erziehung, den er bisher gehabt
[349] zu haben ſcheint, mit einem ganz andern ver¬
tauſchte; daß er einſehe, er habe mit ſeiner
bisherigen Ablehnung der Sorge fuͤr die ewige
Seeligkeit ſeiner Mitbuͤrger vollkommen recht,
indem es fuͤr dieſe Seeligkeit gar keiner beſon¬
dern Bildung beduͤrfe, und eine ſolche Pflanz¬
ſchule fuͤr den Himmel, wie die Kirche, deren
Gewalt zulezt ihm uͤbertragen worden, gar
nicht ſtatt finde, aller tuͤchtigen Bildung nur
im Wege ſtehe, und des Dienſtes entlaſſen
werden muͤße; daß es dagegen gar ſehr beduͤr¬
fe der Bildung fuͤr das Leben auf der Erde,
und daß aus der gruͤndlichen Erziehung fuͤr
dieſes, ſich die fuͤr den Himmel, als eine leichte
Zugabe, von ſelbſt ergebe. Der Staat ſcheint
bisher, je aufgeklaͤrter er zu ſeyn meinte, deſto
feſter geglaubt zu haben, daß er, auch ohne
alle Religion und Sittlichkeit ſeiner Buͤrger,
durch die bloße Zwangsanſtalt, ſeinen eigent¬
lichen Zweck erreichen koͤnne, und daß in Ab¬
ſicht jener, dieſe es halten moͤchten, wie ſie
koͤnnten. Moͤchte er aus den neuen Erfahrun¬
gen wenigſtens dies gelernt haben, daß er das
nicht vermag, und daß er gerade durch den
Mangel der Religion und der Sittlichkeit da¬
[350] hin gekommen iſt, wo er ſich dermalen befin¬
det.


Moͤchte man ihn, in Abſicht ſeines Zwei¬
fels, ob er auch wohl das Vermoͤgen habe,
den Aufwand einer National-Erziehung zu
beſtreiten, uͤberzeugen koͤnnen, daß er durch
dieſe einzige Ausgabe, ſeine meiſten uͤbrigen
auf die wirthſchaftlichſte Weiſe beſorgen, und
daß, wenn er dieſe nur uͤbernimmt, er bald
nur dieſe einzige Hauptausgabe haben werde.
Bis jetzt iſt der bei weitem groͤßte Theil der
Einkuͤnfte des Staats auf die Unterhaltung
ſtehender Heere gewendet worden. Den Er¬
folg dieſer Verwendung haben wir geſehen;
dies reicht hin; denn tiefer in die beſondern
Gruͤnde dieſes Erfolgs, aus der Einrichtung
dieſer Heere, hinein zu gehen, liegt außerhalb
unſers Plans. Dagegen wuͤrde der Staat,
der die von uns vorgeſchlagene National-Er¬
ziehung allgemein einfuͤhrte, von dem Augen¬
blicke an, da ein Geſchlecht der nachgewachſe¬
nen Jugend durch ſie hindurch gegangen waͤre,
gar keines beſondern Heeres beduͤrfen, ſon¬
dern er haͤtte an ihnen ein Heer, wie es noch
keine Zeit geſehen. Jeder einzelne iſt zu je¬
[351] dem moͤglichen Gebrauche ſeiner koͤrperlichen
Kraft vollkommen geuͤbt, und begreift ſie auf
der Stelle, zu Ertragung jeder Anſtrengung,
und Muͤhſeeligkeit gewoͤhnt, ſein in unmittel¬
barer Anſchauung aufgewachſener Geiſt iſt
immer gegenwaͤrtig, und bei ſich ſelbſt, in ſei¬
nem Gemuͤthe lebt die Liebe des Ganzen, deſſen
Mitglied er iſt, des Staats, und des Vater¬
landes, und vernichtet jede andere ſelbſtiſche
Regung. Der Staat kann ſie rufen, und ſie
unter die Waffen ſtellen, ſo bald er will, und
kann ſicher ſeyn, daß kein Feind ſie ſchlaͤgt. Ein
andrer Theil der Sorgfalt und der Ausgaben
in weiſe regierten Staaten, ging bisher auf
die Verbeſſerung der Staatswirthſchaft, im
ausgedehnteſten Sinne, und in allen ihren
Zweigen, und es iſt hierbei, durch die Unge¬
lehrigkeit, und Unbehuͤlflichkeit der niedern
Staͤnde, manche Sorgfalt und mancher Auf¬
wand vergebens gemacht worden, und die
Sache hat allenthalben nur geringen Fortgang
gehabt. Durch unſere Erziehung erhaͤlt der
Staat arbeitende Staͤnde, die des Nachden¬
kens uͤber ihr Geſchaͤft von Jugend auf gewohnt
ſind, und die ſchon ſich ſelbſt durch ſich ſelbſt
[352] zu helfen Vermoͤgen und Neigung haben; ver¬
mag nun noch uͤberdies der Staat ihnen auf
eine zweckmaͤßige Weiſe unter die Arme zu
greifen, ſo werden ſie ihn auf das halbe Wort
verſtehen, und ſeine Belehrung ſehr dankbar
aufnehmen. Alle Zweige der Haushaltung
werden, ohne viele Muͤhe in kurzer Zeit einen
Flor gewinnen, den auch noch keine Zeit ge¬
ſehen hat, und dem Staate wird, wenn er ja
rechnen will, und wenn er etwa bis dahin
nebenbei auch noch den wahren Grundwerth
der Dinge kennen lernen ſollte, ſeine erſte Aus¬
lage tauſendfaͤltige Zinſen tragen. Bisher hat
der Staat fuͤr Gerichts- und Policey-Anſtal¬
ten vieles thun muͤßen, und doch niemals ge¬
nug fuͤr ſie thun koͤnnen; Zucht- und Verbeſſe¬
rungs-Haͤuſer haben ihm Ausgaben gemacht,
die Armenanſtalten endlich erforderten, je
mehr auf ſie gewendet wurde, einen um ſo
groͤßern Aufwand, und erſchienen, in der
ganzen bisherigen Lage, eigentlich als Anſtal¬
ten Arme zu machen. Die erſtern werden in
einem Staate, der die neue Erziehung allge¬
mein macht, ſehr verringert werden, die lez¬
tern gaͤnzlich wegfallen. Fruͤhe Zucht ſichert
vor[353] vor der ſpaͤtern ſehr mißlichen Zucht und Ver¬
beſſerung; Arme aber giebt es unter einem alſo
erzognen Volke gar nicht.


Moͤchte der Staat, und alle, die denſel¬
ben berathen, es wagen, ſeine eigentliche der¬
malige Lage ins Auge zu faſſen, und ſie ſich
zu geſtehen; moͤchte er lebendig einſehen, daß
ihm durchaus kein anderer Wirkungskreis
uͤbrig gelaſſen iſt, in welchem er als ein wirk¬
licher Staat, urſpruͤnglich und ſelbſtſtaͤndig,
ſich bewegen, und etwas beſchließen koͤnne,
außer dieſem, der Erziehung der kommenden
Geſchlechter; daß, wenn er nicht uͤberhaupt
nichts thun will, er nur noch dieſes thun kann;
daß man aber auch dieſes Verdienſt ihm un¬
geſchmaͤlert und unbeneidet uͤberlaſſen werde.
Daß wir es nicht mehr vermoͤgen, thaͤtigen
Widerſtand zu leiſten, iſt, als in die Augen
ſpringend, und von jedermann zugeſtanden,
ſchon fruͤher von uns vorausgeſezt worden.
Wie koͤnnen wir nun die Fortdauer unſers da¬
durch verwirkten Daſeyns, gegen den Vor¬
wurf der Feigheit, und einer unwuͤrdigen Lie¬
be zum Leben, rechtfertigen? Auf keine an¬
Z[354] dere Weiſe, als wenn wir uns entſchließen,
nicht fuͤr uns ſelbſt zu leben, und dieſes durch
die That darthun; wenn wir uns zum Saa¬
menkorne einer wuͤrdigern Nachkommenſchaft
machen, und lediglich um dieſerwillen uns ſo
lange erhalten wollen, bis wir ſie hingeſtellt
haben. Jenes erſten Lebenszweks verluſtig,
was koͤnnten wir denn noch anderes thun? Un¬
ſere Verfaſſungen wird man uns machen, un¬
ſere Buͤndniſſe, und die Anwendung unſerer
Streitkraͤfte wird man uns anzeigen, ein Ge¬
ſezbuch wird man uns leihen, ſelbſt Gericht,
und Urtheilsſpruch, und die Ausuͤbung derſel¬
ben, wird man uns zuweilen abnehmen; mit
dieſen Sorgen werden wir auf die naͤchſte Zu¬
kunft verſchont bleiben. Bloß an die Erzie¬
hung hat man nicht gedacht; ſuchen wir ein
Geſchaͤft, ſo laßt uns dieſes ergreifen! Es iſt
zu erwarten, daß man in demſelben uns un¬
geſtoͤrt laſſen werde. Ich hoffe, — vielleicht
taͤuſche ich mich ſelbſt darin, aber da ich nur
um dieſer Hoffnung willen noch leben mag, ſo
kann ich es nicht laſſen, zu hoffen; — ich hof¬
fe, daß ich einige Deutſche uͤberzeugen, und
[355] ſie zur Einſicht bringen werde, daß es allein
die Erziehung ſey, die uns retten koͤnne von
allen Uebeln, die uns druͤcken. Ich rechne
beſonders darauf, daß die Noth uns zum
Aufmerken, und zum ernſten Nachdenken ge¬
neigter gemacht habe. Das Ausland hat an¬
dern Troſt, und andere Mittel; es iſt nicht
zu erwarten, daß es dieſem Gedanken, falls er
je an daſſelbe kommen ſollte, einige Aufmerk¬
ſamkeit ſchenken, oder einigen Glauben bei¬
meſſen werde; ich hoffe vielmehr, daß es zu
einer reichen Quelle von Beluſtigung, fuͤr die
Leſer ihrer Journale gedeihen werde, wenn ſie
je erfahren, daß ſich jemand von der Erzie¬
hung ſo große Dinge verſpreche.


Moͤge der Staat und diejenigen, die den¬
ſelben berathen, ſich nicht laͤßiger machen laſ¬
ſen, in Ergreifung dieſer Aufgabe, durch die
Betrachtung, daß der gehoffte Erfolg in der
Entfernung liege. Wollte man unter den man¬
nigfaltigen, und hoͤchſt verwickelten Gruͤnden,
die unſer dermaliges Schickſal zur Folge ge¬
habt haben, das, was allein und eigenthuͤm¬
lich den Regierungen zur Laſt faͤllt, abſondern,
Z 2[356] ſo wuͤrde ſich finden, daß dieſe, die vor allen
andern verbunden ſind, die Zukunft ins Auge
zu faſſen, und zu beherrſchen, beim Andrange
der großen Zeitbegebenheiten auf ſie immer nur
geſucht, ſich aus der unmittelbar gegenwaͤrti¬
gen Verlegenheit zu ziehen, ſo gut ſie es ver¬
mocht; in Abſicht der Zukunft aber nicht auf
ihre Gegenwart, ſondern auf irgend einen
Gluͤckszufall, der den ſtetigen Faden der Urſa¬
chen und Wirkungen abſchneiden ſollte, gerech¬
net haben. Aber dergleichen Hofnungen ſind
betruͤglich. Eine treibende Kraft, die man
einmal in die Zeit hinein kommen laſſen, treibt
fort, und vollendet ihren Weg, und, nach¬
dem einmal die erſte Nachlaͤſſigkeit begangen
worden, kann die zu ſpaͤt kommende Beſin¬
nung ſie nicht aufhalten. Des erſten Falles,
bloß die Gegenwart zu bedenken, hat fuͤrs
naͤchſte unſer Schickſal uns uͤberhoben; die
Gegenwart iſt nicht mehr unſer. Moͤgen wir
nur nicht den zweiten beibehalten, eine beſſere
Zukunft von irgend etwas anderem zu hoffen,
denn von uns ſelber. Zwar kann keinen unter
uns, der zum Leben noch etwas mehr bedarf,
[357] denn Nahrung, die Gegenwart uͤber die Pflicht
zu leben troͤſten; die Hoffnung einer beſſern
Zukunft allein iſt das Element, in dem wir
noch athmen koͤnnen. Aber nur der Traͤumer
kann dieſe Hoffnung auf etwas anderes gruͤn¬
den, denn auf ein ſolches, das er ſelbſt fuͤr
die Entwicklung einer Zukunft, in die Gegen¬
wart zulegen vermag. Vergoͤnnen diejenigen,
die uͤber uns regieren, daß wir eben ſo gut
auch von ihnen denken, als wir unter uns von
einander denken, und als der Beſſere ſich fuͤhlt;
ſtellen ſie ſich an die Spitze des, auch uns
ganz klaren Geſchaͤfts, damit wir noch vor un¬
ſern Augen dasjenige entſtehen ſehen, was die,
dem deutſchen Namen vor unſern Augen zu¬
gefuͤgte Schmach, einſt von unſerm Andenken
abwaſchen wird!


Uebernimmt der Staat die ihm angetra¬
gene Aufgabe, ſo wird er dieſe Erziehung all¬
gemein machen, uͤber die ganze Oberflaͤche ſei¬
nes Gebiets, fuͤr jeden ſeiner nachgebornen
Buͤrger, ohne alle Ausnahme; auch iſt es
allein dieſe Allgemeinheit, zu der wir des
Staats beduͤrfen, indem zu einzelnen Anfaͤn¬
[358] gen und Verſuchen, hier und da, auch wohl
das Vermoͤgen von wohlgeſinnten Privatper¬
ſonen hinreichen wuͤrde. Nun iſt allerdings
nicht zu erwarten, daß die Eltern allgemein
willig ſeyn werden, ſich von ihren Kindern zu
trennen, und ſie dieſer neuen Erziehung, von
der es ſchwer ſeyn wird ihnen einen Begriff
beizubringen, zu uͤberlaſſen; ſondern es iſt
nach der bisherigen Erfahrung darauf zu rech¬
nen, daß jeder, der noch etwa das Vermoͤgen
zu haben glaubt, ſeine Kinder im Hauſe zu
naͤhren, gegen die oͤffentliche Erziehung, und
beſonders gegen eine ſo ſcharf trennende, und ſo
lange dauernde oͤffentliche Erziehung, ſich ſetzen
wird. In ſolchen Faͤllen iſt man nun, bei zu
erwartender Widerſezlichkeit, von den Staats¬
maͤnnern bisher gewohnt, daß ſie den Vor¬
ſchlag mit der Antwort abweiſen: der Staat
habe nicht das Recht, fuͤr dieſen Zwek Zwang
anzuwenden. Indem ſie nun warten wollen,
bis die Menſchen im allgemeinen den guten
Willen haben, ohne Erziehung aber es niemals
zu allgemeinem guten Willen kommen kann,
ſo ſind ſie dadurch gegen alle Verbeſſerung ge¬
[359] ſchuͤzt, und koͤnnen hoffen, daß es beim Alten
bleiben wird, bis an das Ende der Tage. In¬
wiefern dies nun etwa ſolche ſind, welche ent¬
weder uͤberhaupt die Erziehung fuͤr einen ent¬
behrlichen Luxus halten, in Ruͤckſicht deſſen
man ſich ſo ſpaͤrlich einrichten muͤſſe, als moͤg¬
lich, oder, die in unſerm Vorſchlage nur ei¬
nen neuen wagenden Verſuch mit der Menſch¬
heit erblicken, der da gelingen koͤnne, oder auch
nicht, iſt ihre Gewiſſenhaftigkeit zu loben; ſol¬
chen, die von der Bewunderung des bisherigen
Zuſtandes der oͤffentlichen Bildung, und von
dem Entzuͤcken, zu welcher Vollkommenheit
dieſelbe unter ihrer Leitung emporgewachſen
ſey, eingenommen ſind, laͤßt ſich nun vollends
gar nicht anmuthen, daß ſie auf etwas, das
ſie nicht auch ſchon wiſſen, eingehen ſollten;
mit dieſen insgeſammt iſt fuͤr unſern Zweck
nichts zu thun, und es waͤre zu beklagen,
wenn die Entſcheidung uͤber dieſe Angelegen¬
heit ihnen anheim fallen ſollte. Moͤchten ſich
aber Staatsmaͤnner finden, und hiebei zu Ra¬
the gezogen werden, welche vor allen Dingen,
durch ein tiefes und gruͤndliches Studium der
[360] Philoſophie und der Wiſſenſchaft uͤberhaupt,
ſich ſelbſt Erziehung gegeben haben, denen es
ein rechter Ernſt iſt mit ihrem Geſchaͤfte, die ei¬
nen feſten Begriff vom Menſchen und ſeiner
Beſtimmung beſitzen, die da faͤhig ſind, die
Gegenwart zu verſtehen, und zu begreifen, was
eigentlich der Menſchheit dermalen unausbleib¬
lich Noth thut; haͤtten dieſe aus jenen Vorbe¬
griffen etwa ſelbſt eingeſehen, daß nur Erzie¬
hung vor der, außerdem unaufhaltſam uͤber
uns hereinbrechenden, Barbarei und Verwilde¬
rung uns retten koͤnne, ſchwebte ihnen ein Bild
vor von dem neuen Menſchengeſchlechte, das
durch dieſe Erziehung entſtehen wuͤrde, waͤren
ſie ſelbſt innig uͤberzeugt von der Unfehlbarkeit
und Untruͤglichkeit der vorgeſchlagenen Mittel;
ſo ließe von ſolchen ſich auch erwarten, daß ſie
zugleich begriffen, der Staat, als hoͤchſter
Verweſer der [menſchlichen] Angelegenheiten,
und als der Gott und ſeinem Gewiſſen allein
verantwortliche Vormund der Unmuͤndigen,
habe das vollkommene Recht, die lezteren zu
ihrem Heile auch zu zwingen. Wo giebt es
denn dermalen einen Staat, der da zweifle,
[361] ob er auch wohl das Recht habe, ſeine Unter¬
thanen zu Kriegsdienſten zu zwingen, und den
Eltern fuͤr dieſen Behuf die Kinder wegzuneh¬
men, ob nun eins von beiden, oder beide, wol¬
len, oder nicht wollen? Und dennoch iſt dieſer
Zwang, zu Ergreifung einer dauernden Le¬
bensart wider den eignen Willen, weit bedenk¬
licher, und haͤufig von den nachtheiligſten Fol¬
gen fuͤr den ſittlichen Zuſtand, und fuͤr Ge¬
ſundheit und Leben der Gezwungenen; da hin¬
gegen derjenige Zwang, von dem wir reden,
nach vollendeter Erziehung, die ganze perſoͤn¬
liche Freiheit zuruͤck giebt, und gar keine an¬
dern, denn die heilbringendſten Folgen haben
kann. Wohl hat man fruͤher auch die Ergrei¬
fung der Kriegsdienſte dem freien Willen uͤber¬
laſſen; nachdem ſich aber gefunden, daß dieſer
fuͤr den beabſichtigten Zweck nicht ausreichend
war, hat man kein Bedenken getragen, ihm
durch Zwang nachzuhelfen; darum, weil die
Sache uns wichtig genug war, und die Noth
den Zwang gebot. Moͤchten nur euch in dieſer
Ruͤckſicht uns die Augen aufgehen uͤber unſere
Noth, und der Gegenſtand uns gleichfalls
[362] wichtig werden, ſo wuͤrde jene Bedenklichkeit
von ſelbſt wegfallen; da zumal es nur in dem
erſten Geſchlechte des Zwanges beduͤrfen, und
derſelbe in den folgenden, ſelber durch dieſe
Erziehung hindurch gegangenen, hinweg faͤllt,
auch jener erſte Zwang zum Kriegsdienſte da¬
durch aufgehoben wird, indem die alſo erzoge¬
nen alle gleich willig ſind, die Waffen fuͤr das
Vaterland zu fuͤhren. Will man ja, um An¬
fangs des Geſchreies nicht zu viel zu haben,
dieſen Zwang zur oͤffentlichen National-Erzie¬
hung, auf dieſelbe Weiſe beſchraͤnken, wie bis¬
her der Zwang zum Kriegsdienſte beſchraͤnkt ge¬
weſen, und die von den leztern befreiten Staͤn¬
de auch von jenem ausnehmen, ſo iſt dies
von keinen bedeutenden nachtheiligen Folgen.
Die verſtaͤndigen Eltern unter den ausgenom¬
menen werden freiwillig ihre Kinder dieſer
Erziehung uͤbergeben; die, gegen das ganze
unbedeutende Anzahl der Kinder unverſtaͤndi¬
ger Eltern aus dieſen Staͤnden, mag immer
auf die bisherige Weiſe aufwachſen, und in
das zu erzeugende beſſere Zeitalter hineinrei¬
chen, brauchbar, lediglich als ein merkwuͤrdi¬
[363] ges Andenken der alten Zeit, und um die neue
zur lebhaften Erkenntniß ihres hoͤheren Gluͤcks
anzufeuern.


Soll nun dieſe Erziehung National-Er¬
ziehung der Deutſchen ſchlechtweg ſeyn, und
ſoll die große Mehrheit aller, die die deutſche
Sprache reden, keinesweges aber etwa nur
die Buͤrgerſchaft, dieſes oder jenes beſonderen
deutſchen Staates, daſtehen, als ein neues
Menſchengeſchlecht, ſo muͤſſen alle deutſche
Staaten, jeder fuͤr ſich, und unabhaͤngig von
allen andern, dieſe Aufgabe ergreifen. Die
Sprache, in der dieſe Angelegenheit zuerſt in
Anregung gebracht worden, in der die Huͤlfs¬
mittel verfaßt ſind, und ferner werden verfaßt
werden, in der die Lehrer geuͤbt werden, der
durch alles dieſes hindurchgehende Eine Gang
der Sinnbildlichkeit, iſt allen Deutſchen ge¬
meinſam. Ich kann mir kaum denken, wie,
und mit welchen Umwandlungen, dieſe Bil¬
dungsmittel insgeſammt, beſonders in derje¬
nigen Ausdehnung, die wir dem Plane gege¬
ben haben, in irgend eine Sprache des Aus¬
landes uͤbertragen werden koͤnnten, alſo, daß
[364] es nicht als fremdes und uͤberſeztes Ding, ſon¬
dern als einheimiſch, und aus dem eignen Le¬
ben ihrer Sprache hervorgehend, erſchiene.
Fuͤr alle Deutſchen iſt dieſe Schwierigkeit auf
die gleiche Weiſe gehoben; fuͤr ſie iſt die Sache
fertig, und ſie duͤrfen nur dieſelbe ergreifen.


Wohl uns hiebei, daß es noch verſchie¬
dene und von einander abgetrennte deutſche
Staaten giebt! Was ſo oft zn unſerem Nach¬
theile gereicht iſt, kann bei dieſer wichtigen Na¬
tionalangelegenheit vielleicht zu unſerm Vor¬
theile dienen. Vielleicht kann Nacheiferung
der mehreren, und die Begirde, einander
zuvor zu kommen, bewirken, was die ru¬
hige Selbſtgenuͤgſamkeit des Einzelnen nicht
hervorgebracht haͤtte; denn es iſt klar, daß
derjenige unter allen deutſchen Staaten, der
in dieſer Sache den Anfang machen wird,
an Achtung, an Liebe, an Dankbarkeit des
Ganzen fuͤr ihn, den Vorrang gewinnen wird,
daß er daſtehen wird als der hoͤchſte Wohlthaͤ¬
ter, und der eigentliche Stifter der Nation.
Er wird den uͤbrigen Muth machen, ihnen ein
belehrendes Beiſpiel geben, und ihr Muſter
[365] werden; er wird Bedenklichkeiten, in denen
die andern haͤngen blieben, beſeitigen; aus
ſeinem Schooße werden die Lehrbuͤcher, und
die erſten Lehrer ausgehen, und den andern
geliehen werden; und wer nach ihm der zweite
ſeyn wird, wird den zweiten Ruhm erwerben.
Zum erfreulichen Zeugniſſe, daß unter den
Deutſchen ein Sinn fuͤr das hoͤhere noch nie
ganz ausgeſtorben, haben bisher mehrere deut¬
ſche Staͤmme und Staaten mit einander um
den Ruhm groͤßerer Bildung geſtritten; dieſe
haben ausgedehntere Preßfreiheit, freiere Hin¬
wegſetzung uͤber die hergebrachte Meinung,
andere beſſer eingerichtete Schulen und Univer¬
ſitaͤten, andere ehemaligen Ruhm, und Ver¬
dienſte, andere etwas anders fuͤr ſich ange¬
fuͤhrt, und der Streit hat nicht entſchieden
werden koͤnnen. Bei der gegenwaͤrtigen Ver¬
anlaſſung wird er es werden. Diejenige Bil¬
dung allein, die da ſtrebt, und die es wagt,
ſich allgemein zu machen, und alle Menſchen
ohne Unterſchied zu erfaſſen, iſt ein wirkliches
Beſtandtheil des Lebens; und iſt ihrer ſelbſt
ſicher. Jede andere iſt eine fremde Zuthat,
[366] die man bloß zum Prunk anlegt, und die man
nicht einmal mit recht gutem Gewiſſen an
ſich traͤgt. Es wird ſich bei dieſer Gelegenheit
verrathen muͤſſen, wo etwa die Bildung, de¬
ren man ſich ruͤhmt, nur bei wenigen Perſonen
des Mittelſtandes ſtatt findet, die dieſelbe in
Schriften darlegen, dergleichen Maͤnner alle
deutſche Staaten aufzuweiſen haben; und wo
hingegen dieſelbe auch zu den hoͤhern Staͤnden,
welche den Staat berathen, hinaufgeſtiegen
ſey. Es wird ſich ſodann auch zeigen, wie man
den hier und da gezeigten Eifer fuͤr die Errich¬
tung und den Flor hoͤherer Lehranſtalten zu
beurtheilen habe, und ob demſelben reine Liebe
zur Menſchenbildung, die ja wohl jedweden
Zweig, und beſonders die allererſte Grundlage
derſelben, mit dem gleichen Eifer ergreifen
wuͤrde, oder ob ihm bloß Sucht zu glaͤnzen,
und vielleicht duͤrftige Finanzſpekulationen,
zu Grunde gelegen haben.


Welcher deutſche Staat in Ausfuͤhrung
dieſes Vorſchlags der erſte ſeyn wird, der wird
den groͤßten Ruhm davon haben, ſagte ich.
[367] Aber ferner, es wird dieſer deutſche Staat
nicht lange allein ſtehen, ſondern ohne allen
Zweifel bald Nachfolger und Nacheiferer fin¬
den. Daß nur der Anfang gemacht werde,
iſt die Hauptſache. Waͤre es auch nichts an¬
deres, ſo wird Ehrgefuͤhl, Eiferſucht, die Be¬
gierde, auch zu haben, was ein Anderer hat,
und, wo moͤglich, es noch beſſer zu haben, ei¬
nen nach dem andern treiben, dem Beiſpiele
zu folgen. Auch werden ſodann die oben von
uns beigebrachten Betrachtungen uͤber den eig¬
nen Vortheil des Staats, die vielleicht derma¬
len manchem zweifelhaft vorkommen duͤrften,
in der lebendigen Anſchauung bewaͤhrt, ein¬
leuchtender werden.


Waͤre zu erwarten, daß ſogleich jezt und
von Stund an alle deutſche Staaten ernſtliche
Anſtalt machten, jenen Plan auszufuͤhren, ſo
koͤnnte ſchon nach fuͤnf und zwanzig Jahren
das beſſere Geſchlecht, deſſen wir beduͤrfen, da¬
ſtehen, und wer hoffen duͤrfte, noch ſo lange
zu leben, koͤnnte hoffen, es mit ſeinen Augen
zu ſehen.

[368]

Sollte aber, wie wir denn freilich auch
auf dieſen Fall rechnen muͤſſen, unter allen
dermalen beſtehenden deutſchen Staaten, kein
einziger ſeyn, der unter ſeinen hoͤchſten Bera¬
thern einen Mann haͤtte, der da faͤhig waͤre,
alles, das oben vorausgeſezte, einzuſehen,
und davon ergriffen zu werden, und in wel¬
chem die Mehrheit der Berather, dieſem einen
ſich wenigſtens nicht widerſetzte; ſo wuͤrde frei¬
lich dieſe Angelegenheit wohlgeſinnten Privat¬
perſonen anheim fallen, und es waͤre nun von
dieſen zu wuͤnſchen, daß ſie einen Anfang mit
der vorgeſchlagenen neuen Erziehung machten.
Zufoͤrderſt haben wir hiebei im Auge große
Gutsbeſitzer, die auf ihren Landguͤtern derglei¬
chen Erziehungsanſtalten fuͤr die Kinder ihrer
Unterthanen errichten koͤnnten. Es gereicht
Deutſchland zum Ruhme, und zur ſehr ehren¬
vollen Auszeichnung vor den uͤbrigen Nationen
des neuern Europa, daß es unter dem genann¬
ten Stande, immerfort hier und da mehrere
gegeben hat, die ſichs zum ernſtlichen Geſchaͤfte
machten, fuͤr den Unterricht und die Bildung
der Kinder auf ihren Beſitzungen zu ſorgen,
und[369] und die gern das Beſte, was ſie wußten, dafuͤr
thun wollten. Es iſt von dieſen zu hoffen, daß
ſie auch jezt geneigt ſeyn werden, uͤber das
vollkommene, das ihnen angetragen wird,
ſich zu belehren, und das groͤßere, und durch¬
greifende eben ſo gern zu thun, als ſie bisher
das kleinere und unvollſtaͤndige thaten. Wohl
mag hier und da die Einſicht dazu beigetragen
haben, daß es vortheilhafter fuͤr ſie ſelbſt ſey,
gebildete Unterthanen zu haben, denn unge¬
bildete. Wo etwa der Staat durch Aufhebung
des Verhaͤltniſſes der Unterthaͤnigkeit, dieſen
lezten Antrieb weggenommen hat, — moͤge
er da deſto ernſtlicher ſeine unerlaßliche Pflicht
bedenken, nicht zugleich das einzige Gute,
das bei wohldenkenden an dieſes Verhaͤltniß
geknuͤpft wurde, mit aufzuheben, und moͤge
er in dieſem Falle ja nicht verſaͤumen, zu thun,
was ohnedies ſeine Schuldigkeit iſt, nachdem
er diejenigen, die es freiwillig ſtatt ſeiner tha¬
ten, deſſen erledigt hat. Wir richten ferner
in Abſicht der Staͤdte, hiebei unſre Augen auf
freiwillige Verbindungen gutgeſinnter Buͤrger
fuͤr dieſen Zweck. Der Hang zur Wohlthaͤtig¬
keit iſt noch immer, ſo weit ich habe bliken
A a[370] koͤnnen, unter keinem Druke der Noth, in
deutſchen Gemuͤthern erloſchen. Durch eine
Anzahl von Maͤngeln in unſern Einrichtungen,
die ſich insgeſammt unter der Einheit der ver¬
nachlaͤßigten Erziehung wuͤrden zuſammenfaſ¬
ſen laſſen, hilft dieſe Wohlthaͤtigkeit der Noth
dennoch ſelten ab, ſondern ſcheint oft ſie noch
zu vermehren. Moͤchte man jenen treflichen
Hang endlich vorzuͤglich auf diejenige Wohl¬
that richten, die aller Noth, und aller fernern
Wohlthaͤtigkeit ein Ende macht, auf die Wohl¬
that der Erziehung. — Noch aber beduͤrfen
wir, und rechnen wir auf eine Wohlthat, und
Aufopferung anderer Art, die nicht in Geben,
ſondern in Thun und Leiſten beſteht. Moͤchten
angehende Gelehrte, denen es ihre Lage ver¬
ſtattet, den Zeitraum, der ihnen zwiſchen der
Univerſitaͤt, und ihrer Anſtellung in einem oͤf¬
fentlichen Amte, uͤbrig bleibt, dem Geſchaͤfte,
uͤber dieſe Lehrweiſe an dieſen Anſtalten ſich zu
belehren, und an denſelben ſelbſt zu lehren,
widmen! Abgerechnet, daß ſie ſich hierdurch
hoͤchſt verdient um das Ganze machen werden,
kann man ihnen noch uͤberdies verſichern, daß
ſie ſelbſt den allerhoͤchſten Gewinn davon tra¬
[371] gen werden. Ihre geſammten Kenntniſſe, die
ſie aus dem gewoͤhnlichen Univerſitaͤts-Unter¬
richte oft ſo erſtorben mit hinweg tragen, wer¬
den im Elemente der allgemeinen Anſchaung,
in welches ſie hier hinein kommen, Klarheit
und Lebendigkeit erhalten, ſie werden lernen,
dieſelben mit Fertigkeit wiederzugeben, und zu
gebrauchen, ſie werden ſich, da im Kinde die
ganze Fuͤlle der Menſchheit unſchuldig und of¬
fen da liegt, einen Schatz von der wahren
Menſchenkenntniß, die allein dieſen Namen
verdient, erwerben, ſie werden zu der großen
Kunſt des Lebens und Wirkens angeleitet wer¬
den, zu welcher in der Regel die hohe Schule
keine Anweiſung giebt.


Laͤßt der Staat die ihm angetragene Auf¬
gabe liegen, ſo iſt es fuͤr die Privatperſonen,
welche dieſelbe aufnehmen, ein deſto groͤßerer
Ruhm. Fern ſey es von uns, der Zukunft
durch Muthmaaßungen vorzugreifen, oder den
Ton des Zweifels und des Mangels an Ver¬
trauen ſelber anzuheben; worauf unſere Wuͤn¬
ſche zunaͤchſt gehen, haben wir deutlich ausge¬
ſprochen; nur dies ſey uns erlaubt anzumer¬
ken, daß, wenn es wirklich alſo kommen ſoll¬
A a 2[372] te, daß der Staat und die Fuͤrſten die Sache
Privatperſonen uͤberließen, dies dem bisheri¬
gen, ſchon oben angemerkten, und mit Bei¬
ſpielen belegten Gange der deutſchen Entwik¬
lung und Bildung gemaͤß ſeyn, und dieſer bis
ans Ende ſich gleich bleiben wuͤrde. Auch in
dieſem Falle wuͤrde der Staat zu ſeiner Zeit
nachfolgen, fuͤrs erſte wie ein Einzelner, der
den auf ſeinen Theil fallenden Beitrag eben
auch leiſten will, bis er ſich etwa ſpaͤter be¬
ſinnt, daß er kein Theil, ſondern das Ganze
ſey, und daß das Ganze zu beſorgen er ſo
Pflicht als Recht habe. Von Stund an fallen
alle ſelbſtſtaͤndige Bemuͤhungen der Privatper¬
ſonen weg, und unterordnen ſich dem allgemei¬
nen Plane des Staats.


Sollte die Angelegenheit dieſen Gang neh¬
men, ſo wird es mit der beabſichtigten Verbeſ¬
ſerung unſers Geſchlechts freilich nur lang¬
ſam, und ohne eine ſichere und feſte Ueber¬
ſicht und moͤgliche Berechnung des Ganzen,
vorwaͤrts ſchreiten. Aber laſſe man ſich ja da¬
durch nicht abhalten, einen Anfang zu machen!
Es liegt in der Natur der Sache ſelbſt, daß ſie
niemals untergehen koͤnne, ſondern, nur ein¬
[375] mal ins Werk geſezt, durch ſich ſelbſt fortlebe,
und immer weiter um ſich greifend ſich verbrei¬
te. Jeder, der durch dieſe Bildung hindurch¬
gegangen iſt, wird ein Zeuge fuͤr ſie, und ein
eifriger Verbreiter; jeder wird den Lohn der
erhaltnen Lehre dadurch abtragen, daß er ſelbſt
wieder Lehrer wird, und ſo viele Schuͤler, die
einſt auch wieder Lehrer werden, macht, als
er kann; und dies geht nothwendig ſo lange
fort, bis das Ganze ohne alle Ausnahme er¬
griffen ſey.


Im Falle der Staat ſich mit der Sache
nicht befaſſen ſollte, ſo haben Privatunterneh¬
mungen zu befuͤrchten, daß alle nur irgend
vermoͤgende Eltern, ihre Kinder dieſer Erzie¬
hung nicht uͤberlaſſen werden. Wende man
ſich ſodann in Gottes Namen und mit voller
Zuverſicht an die armen Verwaiſten, an die
im Elende auf den Straßen herumliegenden,
an Alles, was die erwachſene Menſchheit aus¬
geſtoßen und weggeworfen hat! So wie bis¬
her, beſonders in denjenigen deutſchen Staa¬
ten, in denen die Froͤmmigkeit der Vorfahren,
die oͤffentlichen Erziehungsanſtalten ſehr ver¬
mehrt und reichlich ausgeſtattet hatte, eine
[374] Menge von Eltern den ihrigen den Unterricht
angedeihen ließen, weil ſie dabei zugleich, wie
bei keinem andern Gewerbe, den Unterhalt
fanden; ſo laßt es uns, nothgedrungen, um¬
kehren, und Brod geben, denen, denen kein
anderer es giebt, damit ſie mit dem Brode zu¬
gleich auch Geiſtesbildung annehmen. Be¬
fuͤchten wir nicht, daß die Armſeeligkeit, und
die Verwilderung ihres vorigen Zuſtandes un¬
ſerer Abſicht hinderlich ſeyn werde! Reißen wir
ſie nur ploͤzlich und gaͤnzlich heraus aus dem¬
ſelben, und bringen ſie in eine durchaus neue
Welt; laſſen wir nichts an ihnen, das ſie an das
alte erinnern koͤnnte, ſo werden ſie ihrer ſelbſt
vergeſſen, und daſtehen, als neue ſo eben erſt
erſchaffene Weſen. Daß in dieſe friſche und
reine Tafel nur das Gute eingegraben werde,
dafuͤr muß unſer Unterrichtsgang buͤrgen, und
unſre Hausordnung. Es wird ein fuͤr alle
Nachwelt warnendes Zeugniß ſeyn, uͤber unſre
Zeit, wenn gerade diejenigen, die ſie ausgeſto¬
ßen hat, durch dieſe Ausſtoßung allein das
Vorrecht erhalten, ein beſſeres Geſchlecht an¬
zuheben ; wenn dieſe den Kindern derer, die
mit ihnen nicht zuſammen ſeyn mochten, die
[375] beſeeligende Bildung bringen, und wenn ſie
die Stammvaͤter werden unſrer kuͤnftigen
Helden, Weiſen, Geſezgeber, Heilande der
Menſchheit.


Fuͤr die erſte Errichtung bedarf es zufoͤrderſt
tauglicher Lehrer und Erzieher. Dergleichen
hat die Peſtalozziſche Schule gebildet, und iſt
ſtets erboͤtig, mehrere zu bilden. Ein Haupt¬
augenmerk wird anfangs ſeyn, daß jede An¬
ſtalt der Art ſich zugleich betrachte als eine
Pflanzſchule fuͤr Lehrer, und daß außer den
ſchon fertigen Lehrern um dieſe herum ſich eine
Menge junger Maͤnner verſammle, die das
Lehren lernen, und ausuͤben zu gleicher Zeit,
und in der Ausuͤbung es immer beſſer lernen.
Dies wird auch, falls dieſe Anſtalten anfangs
mit der Duͤrftigkeit zu ringen haben ſollten, die
Erhaltung der Lehrer ſehr erleichtern. Die
meiſten ſind doch in der Abſicht gegenwaͤrtig,
um ſelbſt zu lernen; dafuͤr moͤgen ſie denn auch
ohne anderweitige Entſchaͤdigung das Gelernte
eine Zeitlang zum Vortheil der Anſtalt, wo
ſie es lernten, anwenden.


Ferner bedarf eine ſolche Anſtalt Dach und
Fach, die erſte Ausſtattung, und ein hinlaͤng¬
[376] liches Stuͤk Land. Daß im weitern Fortgange
dieſer Einrichtungen, wenn die verhaͤltnißmaͤßige
Menge von ſchon herangewachſener Jugend in
den Jahren, wo ſie nach der bisherigen Einrich¬
tung als Dienſtboten nicht bloß ihren Unterhalt,
ſondern zugleich auch ein Jahrlohn erwerben,
ſich in dieſen Anſtalten befinden wird, dieſe die
ſchwaͤchere Jugend uͤbertragen, und bei der
ohnedies nothwendigen Arbeitſamkeit, und
weiſen Wirthſchaft, dieſe Anſtalten ſich groͤßten¬
theils ſelbſt werden erhalten koͤnnen, ſcheint
einzuleuchten. Fuͤrs erſte, ſo lange die erſtge¬
nannte Art der Zoͤglinge noch nicht vorhanden
iſt, duͤrften dieſelben groͤßerer Zuſchuͤſſe beduͤr¬
fen. Es iſt zu hoffen, daß man ſich zu Beitraͤ¬
gen, deren Ende man abſieht, williger finden
werde. Sparſamkeit, die dem Zwecke Eintrag
thut, bleibe fern von uns; und ehe wir dieſe
uns erlauben, iſt es weit beſſer, daß wir gar
nichts thun.


Und ſo halte ich denn dafuͤr, daß, bloß guten
Willen vorausgeſezt, bei der Ausfuͤhrung dieſes
Plans keine Schwierigkeit iſt, die nicht durch
Vereinigung mehrerer, und durch die Richtung
aller ihrer Kraͤfte auf dieſen einigen Zwek,
leichtlich ſollte uͤberwunden werden koͤnnen.


[377]

Zwoͤlfte Rede.


Ueber die Mittel, uns bis zur Erreichung
unſers Hauptzweks aufrecht zu erhalten.

Diejenige Erziehung, die wir den Deutſchen
zu ihrer kuͤnftigen National-Erziehung vor¬
ſchlagen, iſt nun ſattſam beſchrieben. Wird
das Geſchlecht, das durch dieſelbe gebildet iſt,
nur einmal daſtehen, dieſes lediglich durch
ſeinen Geſchmak am rechten und guten, und
ſchlechthin durch nichts anderes, getriebene,
dieſes mit einem Verſtande, der fuͤr ſeinen
Standpunkt ausreichend, das rechte allemal
ſicher erkennt, verſehene, dieſes mit jeder gei¬
ſtigen und koͤrperlichen Kraft, das gewollte alle¬
mal durchzuſetzen, ausgeruͤſtete Geſchlecht, ſo
wird alles, was wir mit unſern kuͤhnſten Wuͤn¬
ſchen begehren koͤnnen, aus dem Daſeyn deſ¬
[378] ſelben von ſelbſt ſich ergeben, und aus ihm
natuͤrlich hervorwachſen. Dieſe Zeit bedarf
unſerer Vorſchriften ſo wenig, daß wir viel¬
mehr von derſelben zu lernen haben wuͤrden.


Da inzwiſchen dieſes Geſchlecht noch nicht
gegenwaͤrtig iſt, ſondern erſt herauferzogen
werden ſoll, und, wenn auch alles uͤber unſer
Erwarten trefflich gehen ſollte, wir dennoch
eines betraͤchtlichen Zwiſchenraums beduͤrfen
werden, um in jene Zeit hinuͤber zu kommen,
ſo entſteht die naͤherliegende Frage, wie ſollen
wir uns auch nur durch dieſen Zwiſchenraum
hindurch bringen? Wie ſollen wir, da wir
nichts beſſeres koͤnnen, uns erhalten, wenig¬
ſtens als den Boden, auf dem die Verbeſſe¬
rung vorgehen, und als den Ausgangspunkt
an welchen dieſelbe ſich anknuͤpfen koͤnne? Wie
ſollen wir verhindern, daß, wenn einſt das alſo
gebildete Geſchlecht aus ſeiner Abſonderung
hervor unter uns traͤte, es nicht an uns eine
Wirklichkeit vor ſich finde, die nicht die min¬
deſte Verwandſchaft habe zu der Ordnung der
Dinge, welche es als das rechte begriffen,
und in welcher niemand daſſelbe verſtehe, oder
den mindeſten Wunſch und Beduͤrfniß einer
[379] ſolchen Ordnung der Dinge hege, ſondern das
vorhandene als das ganz natuͤrliche, und das
einzig moͤgliche anſehe? Wuͤrden nicht dieſe
eine andere Welt in Buſen tragenden gar bald
irre werden, und wuͤrde ſo nicht die neue Bil¬
dung eben ſo unnuͤtz fuͤr die Verbeſſerung des
wirklichen Lebens verhallen, wie die bisherige
Bildung verhallt iſt?


Geht die Mehrheit in ihrer bisherigen Un¬
achtſamkeit, Gedankenloſigkeit und Zerſtreut¬
heit ſo ferner hin, ſo iſt gerade dieſes, als
das nothwendig ſich ergebende, zu erwarten.
Wer ſich, ohne Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt,
gehen laͤßt, und von den Umſtaͤnden ſich ge¬
ſtalten, wie ſie wollen, der gewoͤhnt ſich bald
an jede moͤgliche Ordnung der Dinge. So ſehr
auch ſein Auge durch etwas beleidiget werden
mochte, als er es das erſtemal erblikte, laßt
es nur taͤglich auf dieſelbe Weiſe wiederkehren,
ſo gewoͤhnt er ſich daran, und findet es ſpaͤter¬
hin natuͤrlich, und als eben ſo ſeyn muͤſſend,
gewinnt es zulezt gar lieb, und es wuͤrde ihm
mit der Herſtellung des erſtern beſſern Zuſtan¬
des wenig gedient ſeyn, weil dieſer ihn aus
ſeiner nun einmal gewohnten Weiſe zu ſeyn
[380] herausriſſe. Auf dieſe Weiſe gewoͤhnt man
ſich ſogar an Sklaverei, wenn nur unſre ſinn¬
liche Fortdauer dabei ungekraͤnkt bleibt, und
gewinnt ſie mit der Zeit lieb; und dies iſt
eben das gefaͤhrlichſte an der Unterworfenheit,
daß ſie fuͤr alle wahre Ehre abſtumpft, und
ſodann ihre ſehr erfreuliche Seite hat fuͤr den
Traͤgen, indem ſie ihn mancher Sorge und
manches Selbſtdenkens uͤberhebt.


Laßt uns auf der Hut ſeyn gegen dieſe
Ueberraſchung der Suͤßigkeit des Dienens,
denn dieſe raubt ſogar unſern Nachkommen die
Hoffnung kuͤnftiger Befreiung. Wird unſer
aͤußeres Wirken in hemmende Feſſeln geſchla¬
gen, laßt uns deſto kuͤhner unſern Geiſt erhe¬
ben zum Gedanken der Freiheit, zum Leben in
dieſem Gedanken, zum Wuͤnſchen und Begehren
nur dieſes einigen. Laßt die Freiheit auf eini¬
ge Zeit verſchwinden aus der ſichtbaren Welt;
geben wir ihr eine Zuflucht im innerſten unſrer
Gedanken, ſo lange, bis um uns herum die
neue Welt emporwachſe, die da Kraft habe,
dieſe Gedanken auch aͤußerlich darzuſtellen.
Machen wir uns mit demjenigen, was ohne
Zweifel unſerm Ermeſſen frei bleiben muß, mit
[381] unſerm Gemuͤthe, zum Vorbilde, zur Weiſſa¬
gung, zum Buͤrgen desjenigen, was nach uns
Wirklichkeit werden wird. Laſſen wir nur
nicht mit unſerm Koͤrper zugleich auch unſern
Geiſt niedergebeugt und unterworfen, und in
die Gefangenſchaft gebracht werden!


Fragt man mich, wie dies zu erreichen ſey,
ſo iſt darauf die einzige alles in ſich faſſende
Antwort dieſe: wir muͤſſen eben zur Stelle
werden, was wir ohnedies ſeyn ſollten, Deut¬
ſche. Wir ſollen unſern Geiſt nicht unterwer¬
fen: ſo muͤſſen wir eben vor allen Dingen ei¬
nen Geiſt uns anſchaffen, und einen feſten und
gewiſſen Geiſt; wir muͤſſen ernſt werden in allen
Dingen, und nicht fortfahren bloß leichtſinni¬
ger Weiſe und nur zum Scherze dazuſeyn; wir
muͤſſen uns haltbare und unerſchuͤtterliche
Grundſaͤtze bilden, die allem unſern uͤbrigen
Denken, und unſerm Handeln zur feſten
Richtſchnur dienen, Leben und Denken muß
bei uns aus einem Stuͤcke ſeyn, und ein ſich
durchdringendes und gediegenes Ganzes; wir
muͤſſen in beiden der Natur und der Wahrheit
gemaͤß werden, und die fremden Kunſtſtuͤcke
von uns werfen; wir muͤſſen, um es mit ei¬
[382] nem Worte zu ſagen, uns Charakter anſchaf¬
fen; denn Charakter haben, und deutſch
ſeyn, iſt ohne Zweifel gleichbedeutend, und
die Sache hat in unſrer Sprache keinen beſon¬
dern Namen, weil ſie eben, ohne alle unſer
Wiſſen und Beſinnung, aus unſerm Seyn un¬
mittelbar hervorgehen ſoll.


Wir muͤſſen zufoͤrderſt uͤber die großen Er¬
eigniſſe unſrer Tage, ihre Beziehung auf uns,
und das, was wir von ihnen zu erwarten ha¬
ben, mit eigner Bewegung unſrer Gedanken
nachdenken, und uns eine klare, und feſte An¬
ſicht von allen dieſen Gegenſtaͤnden, und ein
entſchiednes und unwandelbares Ja oder Nein
uͤber die hieherfallenden Fragen, verſchaffen;
jeder, der den mindeſten Anſpruch auf Bil¬
dung macht, ſoll das. Das thieriſche Leben
des Menſchen laͤuft in allen Zeitaltern ab
nach denſelben Geſetzen, und hierin iſt alle Zeit
ſich gleich. Verſchiedene Zeiten ſind da nur
fuͤr den Verſtand, und nur derjenige, der ſie
mit den Begriffe durchdringt, lebt ſie mit, und
iſt da zu dieſer ſeiner Zeit; ein andres Leben
iſt nur ein Thier- und Pflanzenleben. Alles,
was da geſchieht, unvernommen an ſich vor¬
[383] uͤbergehen zu laſſen, gegen deſſen Andrang
wohl gar gefliſſentlich Auge und Ohr zu ver¬
ſtopfen, ſich dieſer Gedankenloſigkeit wohl gar
noch als großer Weisheit zu ruͤhmen, mag an¬
ſtaͤndig ſeyn einem Felſen, an den die Meeres¬
wellen ſchlagen, ohne daß er es fuͤhlt, oder
einem Baumſtamme, den Stuͤrme hin und her
reiſſen, ohne daß er es bemerkt, keinesweges
aber einem denkenden Weſen. — Selbſt das
Schweben in hoͤhern Kreiſen des Denkens
ſpricht nicht los von dieſer allgemeinen Ver¬
bindlichkeit, ſeine Zeit zu verſtehen. Alles
hoͤhere muß eingreifen wollen auf ſeine Weiſe
in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahr¬
haftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der
leztern; lebte er nicht auch in dieſer, ſo waͤre
dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht
lebte, ſondern in ihm nur traͤumte. Jene
Achtloſigkeit auf das, was unter unſern Au¬
gen vorgeht, und die kuͤnſtliche Ableitung der
allenfalls entſtandenen Aufmerkſamkeit auf an¬
dere Gegenſtaͤnde, waͤre das erwuͤnſchteſte, was
einem Feinde unſrer Selbſtſtaͤndigkeit begegnen
koͤnnte. Iſt er ſicher, daß wir uns bei keinem
Dinge etwas denken, ſo kann er eben, wie
[384] mit lebloſen Werkzeugen, alles mit uns vor¬
nehmen, was er will; die Gedankenloſigkeit
eben iſt es, die ſich an Alles gewoͤhnt, wo
aber der klare, und umfaſſende Gedanke, und
in dieſem, das Bild deſſen, was da ſeyn ſollte,
immerfort wachſam bleibt, da kommt es zu
keiner Gewoͤhnung.


Dieſe Reden haben zunaͤchſt Sie eingela¬
den, und ſie werden einladen die ganze deut¬
ſche Nation, in wie weit es dermalen moͤglich
iſt, dieſelbe durch den Buͤcherdruck um ſich zu
verſammlen, bei ſich ſelbſt eine feſte Entſchei¬
dung zu faſſen, und innerlich mit ſich einig zu
werden uͤber folgende Fragen: 1) ob es wahr
ſey, oder nicht wahr, daß es eine deutſche
Nation gebe, und daß deren Fortdauer in ih¬
rem eigenthuͤmlichen und ſelbſtſtaͤndigen Weſen
dermalen in Gefahr ſey. 2) ob es der Muͤhe
werth ſey, oder nicht werth ſey, dieſelbe zu
erhalten. 3) ob es irgend ein ſicheres und
durchgreifendes Mittel dieſer Erhaltung gebe,
und welches dieſes Mittel ſey.


Vorher war die hergebrachte Sitte unter
uns dieſe, daß, wenn irgend ein ernſthaftes
Wort, muͤndlich, oder im Drucke, ſich verneh¬
men[385] men ließ, das taͤgliche Geſchwaͤz ſich deſſelben
bemaͤchtigte, und es in einen ſpaßhaften Un¬
terhaltungsſtoff ſeiner druͤkenden Langeweile
verwandelte. Zunaͤchſt um mich herum habe
ich dermalen nicht, ſo wie ehemals, bemerkt,
daß man von meinen gegenwaͤrtigen Vortraͤ¬
gen denſelben Gebrauch gemacht haͤtte; von
dem zeitigen Tone aber der geſelligen Zuſam¬
menkuͤnfte auf dem Boden des Buͤcherdrucks,
ich meine die Litteraturzeitungen, und anderes
Journalweſen, habe ich keine Kunde genom¬
men, und weiß nicht, ob von dieſem ſich
Scherz oder Ernſt erwarten laſſen. Wie dies
ſich verhalten moͤge, meine Abſicht wenigſtens
iſt es nicht geweſen, zu ſcherzen, und den be¬
kannten Witz, den unſer Zeitalter beſizt, wie¬
der in den Gang zu bringen.


Tiefer unter uns eingewurzelt, faſt zur
andern Natur geworden, und das Gegentheil
beinahe unerhoͤrt, war unter den Deutſchen
die Sitte, daß man alles, was auf die Bahn
gebracht wurde, betrachtete, als eine Auffor¬
derung an jeden, der einen Mund haͤtte, nur
geſchwind und auf der Stelle ſein Wort auch
dazu zu geben, und uns zu berichten, ob er
B b[386] auch derſelben Meinung ſey, oder nicht; nach
welcher Abſtimmung denn die ganze Sache
vorbei ſey, und das oͤffentliche Geſpraͤch zu
einem neuen Gegenſtande eilen muͤſſe. Auf
dieſe Weiſe hatte ſich aller literariſche Verkehr
unter den Deutſchen verwandelt, ſo wie die
Echo der alten Fabel, in einen bloßen reinen
Laut, ohne allen Leib, und koͤrperlichen Ge¬
halt. Wie in den bekannten ſchlechten Geſell¬
ſchaften des perſoͤnlichen Verkehrs, ſo kam es
auch in dieſer nur darauf an, daß die Men¬
ſchenſtimme fort halle, und daß jeder ohne
Stocken ſie aufnehme, und ſie dem Nachbar
zuwerfe, keinesweges aber darauf, was da
ertoͤnte. Was iſt Charakterloſigkeit und Un¬
deutſchheit, wenn es das nicht iſt? Auch dies
iſt nicht meine Abſicht geweſen, dieſer Sitte
zu huldigen, und nur das oͤffentliche Geſpraͤch
rege zu erhalten. Ich habe, eben auch, indem
ich etwas anderes wollte, meinen perſoͤnlichen
Antheil zu dieſer oͤffentlichen Unterhaltung
ſchon vorlaͤngſt hinlaͤnglich abgetragen, und
man koͤnnte mich endlich davon losſprechen.
Ich will nicht gerade auf der Stelle wiſſen,
wie dieſer oder jener uͤber die in Anregung ge¬
[387] brachten Fragen denke, d. h. wie er bisher
daruͤber gedacht, oder auch nicht gedacht habe.
Er ſoll es bei ſich ſelbſt uͤberlegen, und durch¬
denken, ſo lange bis ſein Urtheil fertig iſt, und
vollkommen klar, und ſoll ſich die noͤthige Zeit
dazu nehmen, und gehen ihm etwa die gehoͤri¬
gen Vorkenntniſſe, und der ganze Grad der
Bildung, der zu einem Urtheile in dieſen Ange¬
legenheiten erfordert wird, noch ab, ſo ſoll er
ſich auch dazu die Zeit nehmen, ſich dieſelben
zu erwerben Hat nun einer auf dieſe Weiſe
ſein Urtheil fertig, und klar, ſo wird nicht ge¬
rade verlangt, daß er es auch oͤffentlich ab¬
gebe; ſollte daſſelbe mit dem hier geſagten
uͤbereinſtimmen, ſo iſt dieſes eben ſchon ge¬
ſagt, und es bedarf nicht eines zweiten Sa¬
gens, nur wer etwas anderes, und beſſeres
ſagen kann, iſt aufgefordert zu reden; dage¬
gen aber ſoll es jeder in jedem Falle nach ſeiner
Weiſe und Lage wirklich leben und treiben.


Am allerwenigſten endlich iſt es meine Ab¬
ſicht geweſen, an dieſen Reden unſern deutſchen
Meiſtern in Lehre und Schrift eine Schreibe¬
uͤbung vorzulegen, damit ſie dieſelbe verbeſ¬
ſern, und ich bei dieſer Gelegenheit erfahre,
B b 2[388] was ſich etwa von mir hoffen laͤßt. Auch in
dieſer Ruͤckſicht iſt guter Lehre und Rathes
ſchon ſattſam an mich gewendet worden, und
es muͤßte ſich ſchon jezt gezeigt haben, wenn
Beſſerung zu erwarten waͤre.


Nein, das war zunaͤchſt meine Abſicht,
aus dem Schwarme von Fragen und Unter¬
ſuchungen, und aus dem Heere widerſprechen¬
der Meinungen uͤber dieſelben, in welchem die
gebildeten unter uns bisher herumgeworfen
worden ſind, ſo viele derſelben ich koͤnnte, auf
einen Punkt zu fuͤhren, bei welchem ſie ſich
ſelbſt Stand hielten, und zwar auf denjeni¬
gen, der uns am allernaͤchſten liegt, den unſerer
eignen gemeinſchaftlichen Angelegenheiten; in
dieſem einigen Punkte ſie zu einer feſten Mei¬
nung, bei der es nun unverruͤckt bleibe, und
zu einer Klahrheit, in der ſie wirklich ſich zu¬
recht finden, zu bringen; ſo viel anderes auch
zwiſchen ihnen ſtreitig ſeyn moͤge, wenigſtens
uͤber dieſes Eine ſie zur Einmuͤthigkeit des Sin¬
nes zu verbinden; auf dieſe Weiſe endlich ei¬
nen feſten Grundzug des Deutſchen hervorzu¬
bringen, den, daß er es gewuͤrdigt habe, ſich
uͤber die Angelegenheit der Deutſchen eine Mei¬
[389][nung] zu bilden; dagegen derjenige, der uͤber
dieſen Gegenſtand nichts hoͤren, und nichts
denken moͤchte, von nun an mit Recht angeſehen
werden koͤnnte, als nicht zu uns gehoͤrend.


Die Erzeugung einer ſolchen feſten Mei¬
nung, und die Vereinigung, und das gegen¬
ſeitige ſich Verſtehen mehrerer, uͤber dieſen Ge¬
genſtand, wird, ſo wie es unmittelbar die Ret¬
tung iſt unſers Charakters aus der unſerer un¬
wuͤrdigen Zerfloſſenheit, zugleich auch ein kraͤf¬
tiges Mittel werden, unſern Hauptzwek, die
Einfuͤhrung der neuen National-Erziehung,
zu erreichen. Beſonders darum, weil wir ſel¬
ber, ſo wohl jeder mit ſich, als alle unterein¬
ander, niemals einig waren, heute dieſes, und
morgen etwas anderes wollten, und jeder an¬
ders hineinſchrie in das dumpfe Geraͤuſch, ſind
auch unſre Regierungen, die allerdings, und oft
mehr als rathſam war, auf uns hoͤrten, irre
gemacht worden, und haben hin und her ge¬
ſchwankt, eben ſo wie unſre Meinung. Soll
endlich einmal ein feſter und gewiſſer Gang in
die gemeinſamen Angelegenheiten kommen;
was verhindert, daß wir zunaͤchſt bei uns ſelbſt
anfangen, und das Beiſpiel der Entſchieden¬
[390] heit und Feſtigkeit geben? Laſſe ſich nur ein¬
mal eine uͤbereinſtimmende und ſich gleichblei¬
bende Meinung hoͤren, laſſe ein entſchiedenes und
als allgemein ſich ankuͤndigendes Beduͤrfniß ſich
vernehmen, das der National-Erziehung, wie
wir vorausſetzen; ich halte dafuͤr, unſre Regie¬
rungen werden uns hoͤren, ſie werden uns
helfen, wenn wir die Neigung zeigen, uns
helfen zu laſſen. Wenigſtens wuͤrden wir im
entgegengeſezten Falle ſodann erſt das Recht
haben, uns uͤber ſie zu beklagen; dermalen,
da unſre Regierungen ohngefaͤhr alſo ſind, wie
wir ſie wollen, ſteht uns das Klagen uͤbel an.


Ob es ein ſicheres und durchgreifendes
Mittel gebe zur Erhaltung der deutſchen Na¬
tion, und welches dieſes Mittel ſey, iſt die
bedeutendſte unter den Fragen, die ich dieſer
Nation zur Entſcheidung vorgelegt habe. Ich
habe dieſe Frage beantwortet, und die Gruͤn¬
de meiner Art der Beantwortung dargelegt,
keinesweges um das Endurtheil vorzuſchreiben,
was zu nichts helfen koͤnnte, indem jeder der
in dieſer Sache Hand anlegen ſoll, in ſeinem
eignen Innern durch eigne Thaͤtigkeit ſich uͤber¬
zeugt haben muß, ſondern nur, um zum eig¬
[391] nen Nachdenken und Urtheilen anzuregen. Ich
muß von nun an jeden ſich ſelbſt uͤberlaſſen.
Nur warnen kann ich noch, daß man durch
ſeichte und oberflaͤchliche Gedanken, die auch
uͤber dieſen Gegenſtand ſich im Umlaufe befin¬
den, ſich nicht taͤuſchen, vom tiefern Nachden¬
ken ſich nicht abhalten, und durch nichtige
Vertroͤſtungen ſich nicht abfinden laſſe.


Wir haben z. B. ſchon lange vor den lezten
Ereigniſſen, gleichſam auf den Vorrath, hoͤ¬
ren muͤſſen, und es iſt uns ſeitdem haͤufig wie¬
derholt worden, daß, wenn auch unſre poli¬
tiſche Selbſtaͤndigkeit verloren ſey, wir dennoch
unſre Sprache behielten, und unſre Litteratur,
und in dieſen immer eine Nation blieben, und
damit uͤber alles andere uns leichtlich troͤſten
koͤnnten.


Worauf gruͤndet ſich denn zufoͤrderſt die
Hoffnung, daß wir auch ohne politiſche Selbſt¬
ſtaͤndigkeit dennoch unſre Sprache behalten
werden? Jene, die alſo ſagen, ſchreiben doch
wohl nicht ihrem Zureden und ihren Ermahnun¬
gen, auf Kind und Kindeskind hinaus, und
auf alle kuͤnftigen Jahrhunderte, dieſe wun¬
derwirkende Kraft zu? Was von den jeztle¬
[392] benden und gemachten Maͤnnern ſich gewoͤhnt
hat, in deutſcher Sprache zu reden, zu ſchrei¬
ben, zu leſen, wird ohne Zweifel alſo fortfah¬
ren; aber was wird das naͤchſtkuͤnftige Ge¬
ſchlecht thun, und was erſt das dritte? Wel¬
ches Gegengewicht gedenken wir denn in dieſe
Geſchlechter hineinzulegen, das ihrer Begierde,
demjenigen, bei welchem aller Glanz iſt, und
das alle Beguͤnſtigungen austheilt, auch durch
Sprache und Schrift zu gefallen, die Waage
halte? Haben wir denn niemals von einer
Sprache gehoͤrt, welche die erſte der Welt iſt,
ohnerachtet bekannt wird, daß die erſten Wer¬
ke in derſelben noch zu ſchreiben ſind, und ſe¬
hen wir nicht ſchon jezt unter unſern Augen,
daß Schriften, durch deren Inhalt man zu ge¬
fallen hofft, in ihr erſcheinen? Man beruft
ſich auf das Beiſpiel zweier andern Sprachen,
eine der alten, eine der neuen Welt, welche,
ohnerachtet des politiſchen Unterganges der
Voͤlker, die ſie redeten, dennoch als lebendige
Sprachen fortgedauert. Ich will in die Weiſe
dieſer Fortdauer nicht einmal hineingehen; ſo
viel aber iſt auf den erſten Blik klar, daß bei¬
de Sprachen etwas in ſich hatten, das die
[393] unſrige nicht hat, wodurch ſie vor den Ueber¬
windern Gnade fanden, welche die unſrige
niemals finden kann. Haͤtten dieſe Vertroͤſter
beſſer um ſich geſchaut, ſo wuͤrden ſie ein an¬
deres, unſeres Erachtens hier durchaus paſſen¬
des Beiſpiel gefunden haben, das der wendi¬
ſchen Sprache. Auch dieſe dauert ſeit der Rei¬
he von Jahrhunderten, daß das Volk derſel¬
ben ſeine Freiheit verloren hat, noch immer
fort, in den aͤrmlichen Huͤtten des an die
Scholle gebundenen Leibeignen naͤmlich, da¬
mit er in ihr, unverſtanden von ſeinem Be¬
druͤcker, ſein Schikſal beklagen koͤnne.


Oder ſetze man den Fall, daß unſre Spra¬
che lebendig und eine Schriftſtellerſprache blei¬
be, und ſo ihre Litteratur behalte; was kann
denn das fuͤr eine Litteratur ſeyn, die Litte¬
ratur eines Volkes ohne politiſche Selbſtſtaͤn¬
digkeit? Was will denn der vernuͤnftige
Schriftſteller, und was kann er wollen?
Nichts anderes, denn eingreifen in das allge¬
meine und oͤffentliche Leben, und daſſelbe nach
ſeinem Bilde geſtalten und umſchaffen; und
wenn er dies nicht will, ſo iſt alles ſein Reden
[394] leerer Laut, zum Kitzel muͤßiger Ohren. Er
will urſpruͤnglich und aus der Wurzel des gei¬
ſtigen Lebens heraus denken, fuͤr diejenigen,
die eben ſo urſpruͤnglich wirken, d. i. regieren.
Er kann deswegen nur in einer ſolchen Spra¬
che ſchreiben, in der auch die Regierenden den¬
ken, in einer Sprache, in der regiert wird,
in der eines Volkes, das einen ſelbſtſtaͤndigen
Staat ausmacht. Was wollen denn zulezt
alle unſre Bemuͤhungen ſelbſt um die abgezo¬
genſten Wiſſenſchaften? Laſſet ſeyn, der naͤch¬
ſte Zwek dieſer Bemuͤhungen ſei der, die Wiſſen¬
ſchaft fortzupflanzen von Geſchlecht zu Ge¬
ſchlecht, und in der Welt zu erhalten; warum
ſoll ſie denn auch erhalten werden? Offenbar
nur, um zu rechter Zeit das allgemeine Leben,
und die ganze menſchliche Ordnung der Dinge
zu geſtalten. Dies iſt ihr lezter Zwek; mit¬
telbar dient ſonach, ſey es auch erſt in einer
ſpaͤtern Zukunft, jede wiſſenſchaftliche Beſtre¬
bung dem Staate. Giebt ſie dieſen Zwek auf,
ſo iſt auch ihre Wuͤrde, und ihre Selbſtſtaͤndig¬
keit verloren. Wer aber dieſen Zwek hat, der
muß ſchreiben in der Sprache des herrſchenden
Volkes.

[395]

Wie es ohne Zweifel wahr iſt, daß allent¬
halben, wo eine beſondere Sprache angetroffen
wird, auch eine beſondere Nation vorhanden
iſt, die das Recht hat, ſelbſtſtaͤndig ihre Ange¬
legenheiten zu beſorgen, und ſich ſelber zu re¬
gieren; ſo kann man umgekehrt ſagen, daß,
wie ein Volk aufgehoͤrt hat, ſich ſelbſt zu re¬
gieren, es eben auch ſchuldig ſey, ſeine Spra¬
che aufzugeben, und mit den Ueberwindern zu¬
ſammen zu fließen, damit Einheit, innerer
Friede, und die gaͤnzliche Vergeſſenheit der
Verhaͤltniſſe, die nicht mehr ſind, entſtehe.
Ein nur halbverſtaͤndiger Anfuͤhrer einer ſol¬
chen Miſchung muß hierauf dringen, und wir
koͤnnen uns ſicher darauf verlaſſen, daß in un¬
ſerm Falle darauf gedrungen werden wird. Bis
dieſe Verſchmelzung erfolgt ſey, wird es Ueber¬
ſetzungen der verſtatteten Schulbuͤcher in die
Sprache der Barbaren geben, d. i. derjenigen,
die zu ungeſchikt ſind, die Sprache des herr¬
ſchenden Volkes zu lernen, und die eben da¬
durch von allem Einfluſſe auf die oͤffentlichen
Angelegenheiten ſich ausſchließen, und ſich zur
lebenslaͤnglichen Unterwuͤrfigkeit verdammen;
auch wird es dieſen, die zur Stummheit uͤber
[396] die wirkichen Begebenheiten ſich ſelbſt verur¬
theilt haben, verſtattet werden, an erdichte¬
ten Welthaͤndeln ihre Redefertigkeit zu uͤben,
oder ehemalige und alte Formen ſich ſelber
nachzuahmen, wo man fuͤr das erſte an der
zum Beiſpiel angefuͤhrten alten, fuͤr das lezte¬
re an der neuen Sprache, die Belege aufſuchen
mag. Eine ſolche Litteratur moͤchten wir viel¬
leicht noch auf einige Zeit behalten, und mit
derſelben mag ſich troͤſten der, der keinen beſ¬
ſern Troſt hat; daß aber auch ſolche, die wohl
faͤhig waͤren, ſich zu ermannen, die Wahrheit
zu ſehen, und aufgeſchrekt zu werden durch ih¬
ren Anblik zu Entſchluß und That, durch ſol¬
chen nichtigen Troſt, mit welchem einem Fein¬
de unſrer Selbſtſtaͤndigkeit recht eigentlich ge¬
dient ſeyn wuͤrde, in dem traͤgen Schlummer
erhalten werden, dieſes moͤchte ich verhindern,
wenn ich es koͤnnte.


Man verheißt uns alſo die Fortdauer einer
deutſchen Litteratur auf die kuͤnftigen Geſchlech¬
ter. Um die Hoffnungen die wir hieruͤber faſ¬
ſen koͤnnen, naͤher zu beurtheilen, wuͤrde es
ſehr zutraͤglich ſeyn, ſich umzuſehen, ob wir
denn auch nur bis auf dieſen Augenblik eine
[397] deutſche Litteratur im wahren Sinne des Wor¬
tes noch haben. Das edelſte Vorrecht und
das heiligſte Amt des Schriftſtellers iſt dies,
ſeine Nation zu verſammlen, und mit ihr uͤber
ihre wichtigſten Angelegenheiten zu berathſchla¬
gen; ganz beſonders aber iſt dies von jeher
das ausſchlieſſende Amt des Schriftſtellers ge¬
weſen in Deutſchland, indem dieſes in meh¬
rere abgeſonderte Staaten zertrennt war, und
als gemeinſames Ganzes faſt nur durch das
Werkzeug des Schriftſtellers, durch Sprache
und Schrift, zuſammen gehalten wurde; am
eigentlichſten und dringendſten wird es ſein
Amt in dieſer Zeit, nachdem das lezte aͤuſſere
Band, das die Deutſchen vereinigte, die
Reichsverfaſſung, auch zerriſſen iſt. Sollte es
ſich nun etwa zeigen — wir ſprechen hieran
nicht etwa aus, was wir wuͤßten, oder be¬
fuͤrchteten, ſondern nur einen moͤglichen Fall,
auf den wir jedoch ebenfalls im voraus Be¬
dacht nehmen muͤſſen — ſollte es ſich, ſage ich,
etwa zeigen, daß ſchon jetzo Diener beſonderer
Staaten von Angſt, Furcht, und Schreken ſo
eingenommen waͤren, daß ſie ſolchen, eine Nation
eben noch als daſeyend vorausſetzenden, und an
[398] dieſelbe ſich wendenden Stimmen, zuerſt das
Lautwerden, oder durch Verbote die Verbrei¬
tung verſagten; ſo waͤre dies ein Beweis, daß
wir ſchon jezt keine deutſche Schriftſtellerei
mehr haͤtten, und wir wuͤßten, wie wir mit
den Ausſichten auf eine kuͤnftige Litteratur da¬
ran waͤren.


Was koͤnnte es doch ſeyn, daß dieſe fuͤrch¬
teten? Etwa, daß dieſer und jener derglei¬
chen Stimmen nicht gern hoͤren werde? Sie
wuͤrden fuͤr ihre zarte Beſorgtheit wenigſtens
die Zeit uͤbel gewaͤhlt haben. Schmaͤhungen
und Herabwuͤrdigungen des Vaterlaͤndiſchen,
abgeſchmackte Lobpreiſungen des Auslaͤndiſchen,
koͤnnen ſie ja doch nicht verhindern; ſeyn ſie
doch nicht ſo ſtrenge gegen ein dazwiſchen toͤ¬
nendes vaterlaͤndiſches Wort! Es iſt wohl
moͤglich, daß nicht alle alles gleich gern hoͤren;
aber dafuͤr koͤnnen wir zur Zeit nicht ſorgen,
uns treibt die Noth, und wir muͤſſen eben ſa¬
gen, was dieſe zu ſagen gebietet. Wir ringen
ums Leben; wollen ſie, daß wir unſre Schritte
abmeſſen, damit nicht etwa durch den erregten
Staub irgend ein Staatskleid beſtaͤubt werde?
Wir gehen unter in den Fluthen; ſollen wir
[399] nicht um Huͤlfe rufen, damit nicht irgend ein
ſchwachnerviger Nachbar erſchrekt werde?


Wer ſind denn diejenigen, die es nicht gern
hoͤren koͤnnten, und unter welcher Bedingung
koͤnnten ſie es denn nicht gern hoͤren? Allent¬
halben iſt es nur die Unklarheit und die Fin¬
ſterniß, die da ſchrekt. Jedes Schrekbild ver¬
ſchwindet, wenn man es feſt ins Auge faßt
Laſſet uns mit derſelben Unbefangenheit und
Unumwundenheit, mit der wir bisher jeden in
dieſe Vortraͤge fallenden Gegenſtand zerlegt
haben, auch dieſem Schrekniſſe unter die Au¬
gen treten.


Man nimmt an, entweder, daß das We¬
ſen, dem dermalen die Leitung eines großen
Theils der Weltangelegenheiten anheim gefal¬
len iſt, ein wahrhaft großes Gemuͤth ſey, oder
man nimmt das Gegentheil an, und ein drit¬
tes iſt nicht moͤglich. Im erſten Falle, worauf
beruht denn alle menſchliche Groͤße, auſſer auf
der Selbſtſtaͤndigkeit und Urſpruͤnglichkeit der
Porſon, und daß ſie nicht ſey ein erkuͤnſteltes
Gemaͤchte ihres Zeitalters, ſondern ein Ge¬
waͤchs aus der ewigen und urſpruͤnglichen Gei¬
ſterwelt, ganz ſo wie es iſt, hervorgewachſen,
[400] daß ihr eine neue und eigenthuͤmliche Anſicht
des Weltganzen aufgegangen ſey, und daß ſie
feſten Willen habe, und eiſerne Kraft, dieſe
ihre Anſicht einzufuͤhren in die Wirklichkeit?
Aber es iſt ſchlechthin unmoͤglich, daß ein ſol¬
ches Gemuͤth nicht auch außer ſich, an Voͤl¬
kern und Einzelnen, ehre, was in ſeinem In¬
nern ſeine eigne Groͤße ausmacht, die Selbſt¬
ſtaͤndigkeit, die Feſtigkeit, die Eigenthuͤmlich¬
keil des Daſeyns. So gewiß es ſich in ſeiner
Groͤße fuͤhlt, und derſelben vertraut, ver¬
ſchmaͤht es uͤber armſeeligen Knechtsſinn zu
herrſchen, und groß zu ſeyn unter Zwergen;
es verſchmaͤht den Gedanken, daß es die
Menſchen erſt herabwuͤrdigen muͤſſe, um uͤber
ſie zu gebieten: es iſt gedruͤckt durch den Anblik
des daſſelbe umgebenden Verderbens, es thut
ihm weh, die Menſchen nicht achten zu koͤnnen;
Alles aber, was ſein verbruͤdertes Geſchlecht
erhebt, veredelt, in ein wuͤrdigeres Licht ſezt,
thut wohl ſeinem ſelbſt edlen Geiſte, und iſt
ſein hoͤchſter Genuß. Ein ſolches Gemuͤth ſoll¬
te ungern vernehmen, daß die Erſchuͤtterungen,
die die Zeiten herbei gefuͤhrt haben, benuzt
werden, um eine alte ehrwuͤrdige Nation, den
Stamm[401] Stamm der mehreſten Voͤlker des neuen Euro¬
pa, und die Bildnerin aller, aus dem tiefen
Schlummer aufzuregen, und dieſelbe zu bewe¬
gen, daß ſie ein ſicheres Verwahrungsmittel
ergreifen, um ſich zu erheben aus dem Verder¬
ben, welches dieſelbe zugleich ſichert, nie wieder
herabzuſinken, und mit ſich ſelbſt zugleich
alle uͤbrige Voͤlker zu erheben? Es wird
hier nicht angeregt zu ruheſtoͤrenden Auf¬
tritten; es wird vielmehr vor dieſen, als
ſicher zum Verderben fuͤhrend, gewarnt, es
wird eine feſte unwandelbare Grundlage an¬
gegeben, worauf endlich in einem Volke der
Welt die hoͤchſte, reinſte, und noch niemals
alſo unter den Menſchen geweſene Sittlichkeit
aufgebaut, fuͤr alle folgende Zeiten geſichert,
und von da aus uͤber alle andere Voͤlker ver¬
breitet werde; es wird eine Umſchaffung des
Menſchengeſchlechts angegeben aus irdiſchen
und ſinnlichen Geſchoͤpfen, zu reinen und ed¬
len Geiſtern. Durch einen ſolchen Vorſchlag,
meint man, koͤnne ein Geiſt, der ſelbſt rein iſt,
und edel und groß, oder irgend jemand, der
nach ihm ſich bildet, beleidiget werden?

C c[402]

Was wuͤrden dagegen diejenigen, welche
dieſe Furcht hegten, und dieſelbe durch ihr Han¬
deln zugeſtaͤnden, annehmen, und laut vor
aller Welt bekennen, daß ſie es annehmen? Sie
wuͤrden bekennen, daß ſie glaubten, daß ein
menſchenfeindliches, und ein ſehr kleines und
niedriges Princip uͤber uns herrſche, dem jede
Regung ſelbſtſtaͤndiger Kraft bange mache, der
von Sittlichkeit, Religion, Veredlung der
Gemuͤther nicht ohne Angſt hoͤren koͤnne, in¬
dem allein in der Herabwuͤrdigung der Men¬
ſchen, in ihrer Dumpfheit, und ihren Laſtern,
fuͤr ihn Heil ſey, [und] Hoffnung, ſich zu erhalten.
Mit dieſem ihren Glauben, der unſern andern
Uebeln noch die druͤckende Schmach hinzufuͤgen
wuͤrde, von einem ſolchen beherſcht zu ſeyn,
ſollen wir nun ohne weiteres, und ohne die
vorhergegangene einleuchtende Beweißfuͤhrung,
einverſtanden ſeyn, und in demſelben handeln?


Den ſchlimmſten Fall geſezt, daß ſie recht
haͤtten, keinesweges aber wir, die wir
das erſtere durch unſere That annehmen,
ſoll denn nun wirklich, einem zu gefal¬
len, dem damit gedient iſt, und ihnen zu ge¬
[403] fallen, die ſich fuͤrchten, das Menſchenge¬
ſchlecht herabgewuͤrdiget werden, und verſin¬
ken, und ſoll keinem, dem ſein Herz es gebie¬
tet, erlaubt ſeyn, ſie vor dem Verfalle zu
warnen! Geſezt, daß ſie nicht bloß recht haͤt¬
ten, ſondern daß man ſich auch noch entſchlieſ¬
ſen ſollte, im Angeſichte der Mitwelt und der
Nachwelt ihnen recht zu geben, und das eben
hingelegte Urtheil uͤber ſich ſelbſt laut auszu¬
ſprechen, was waͤre denn nun das hoͤchſte und
lezte, das fuͤr den unwillkommnen Warner dar¬
aus erfolgen koͤnnte? Kennen ſie etwas hoͤhe¬
res, denn den Tod? Dieſer erwartet uns oh¬
ne dies alle, und es haben vom Anbeginn der
Menſchheit an edle um geringerer Angelegen¬
heiten willen — denn wo gab es jemals eine
hoͤhere, als die gegenwaͤrtige? — der Gefahr
deſſelben getrozt. Wer hat das Recht zwiſchen
ein Unternehmen, das auf dieſe Gefahr begon¬
nen iſt, zu treten?


Sollte es, wie ich nicht hoffe, ſolche unter
uns Deutſchen geben, ſo wuͤrden dieſe unge¬
beten, ohne Dank, und, wie ich hoffe, zuruͤck¬
gewieſen, ihren Hals dem Joche der geiſtigen
C c 2[404] Knechtſchaft darbieten; ſie wuͤrden, bitter
ſchmaͤhend, indem ſie ſtaatsklug zu ſchmeicheln
glauben, weil ſie nicht wiſſen, wie wahrer
Groͤße zu Muthe iſt, und die Gedanken der¬
ſelben nach denen ihrer eignen Kleinheit meſſen,
ſie wuͤrden die Litteratur, mit der ſie nichts
anderes anzufangen wiſſen, gebrauchen, um
durch die Abſchlachtung derſelben als Opfer¬
thier ihren Hof zu machen. Wir dagegen prei¬
ſen durch die That unſers Vertrauens und un¬
ſers Muthes, weit mehr, denn Worte es je
vermoͤchten, die Groͤße des Gemuͤthes, bei
dem die Gewalt iſt. Ueber das ganze Gebiet
der ganzen deutſchen Zunge hinweg, wo irgend
hin unſere Stimme frei und unaufgehalten er¬
toͤnt, ruft ſie durch ihr bloßes Daſeyn den
Deutſchen zu: niemand will eure Unterdruͤk¬
kung, euren Knechtsſinn, eure ſklaviſche Un¬
terwuͤrfigkeit, ſondern eure Selbſtſtaͤndigkeit,
eure wahre Freiheit, eure Erhebung und Ver¬
edlung will man, denn man hindert nicht, daß
man ſich oͤffentlich mit euch daruͤber berath¬
ſchlage, und euch das unfehlbare Mittel dazu
zeige. Findet dieſe Stimme Gehoͤr, und den
[405] beabſichtigten Erfolg, ſo ſezt ſie ein Denkmal
dieſer Groͤße, und unſers Glaubens an dieſel¬
be, ein in den Fortlauf der Jahrhunderte,
welches keine Zeit zu zerſtoͤren vermag, ſondern
das mit jedem neuen Geſchlechte hoͤher waͤchſt,
und ſich weiterverbreitet. Wer darf ſich gegen den
Verſuch ſetzen ein ſolches Denkmal zu errichten?


Anſtatt alſo mit der zukuͤnftigen Bluͤthe
unſrer Litteratur uͤber unſre verlorne Selbſt¬
ſtaͤndigkeit uns zu troͤſten, und von der Aufſu¬
chung eines Mittels, dieſelbe wieder herzu¬
ſtellen, uns durch dergleichen Troſt abhalten
zu laſſen, wollen wir lieber wiſſen, ob dieje¬
nigen Deutſchen, denen eine Art von Bevor¬
mundung der Litteratur zugefallen iſt, den
uͤbrigen ſelbſt ſchreibenden oder leſenden Deut¬
ſchen, eine Litteratur im wahren Sinne des
Wors noch bis dieſen Tag erlauben, und ob
ſie dafuͤr halten, daß eine ſolche Litteratur der¬
malen in Deutſchlaud noch erlaubt ſey, oder
nicht; wie ſie aber wirklich daruͤber denken,
das wird ſich demnaͤchſt entſcheiden muͤſſen.


Nach allem iſt das naͤchſte, was wir zu thun
haben, um bis zur voͤlligen und gruͤndlichen
[406] Verbeſſerung unſers Stammes uns auch nur
aufzubehalten, dies, daß wir uns Charakter
anſchaffen, und dieſen zunaͤchſt dadurch bewaͤh¬
ren, daß wir uns durch eignes Nachdenken
eine feſte Meinung bilden uͤber unſere wahre
Lage, und uͤber das ſichere Mittel dieſelbe zu
verbeſſern. Die Richtigkeit des Troſtes aus
der Fortdauer unſrer Sprache, und Litteratur
iſt gezeigt. Noch aber giebt es andere, in
dieſen Reden noch nicht erwaͤhnte Vorſpiege¬
lungen, welche die Bildung einer ſolchen fe¬
ſten Meinung verhindern. Es iſt zwekmaͤßig,
daß wir auch auf dieſe Ruͤkſicht nehmen; je¬
doch behalten wir dieſes Geſchaͤft vor der naͤch¬
ſten Stunde.


[407]

Inhaltsanzeige
der
dreizehnten Rede
*).


Fortſetzung der angefangenen Betrachtung.

Es ſeye noch ein mehreres von nichtigen Ge¬
danken, und taͤuſchenden Lehrgebaͤuden uͤber
die Angelegenheiten der Voͤlker unter uns im
Umlaufe, welches die Deutſchen verhindere,
eine ihrer Eigenthuͤmlichkeit gemaͤße feſte An¬
ſicht uͤber ihre gegenwaͤrtige Lage zu faſſen,
aͤußerten wir am Ende unſerer vorigen Rede.
Da dieſe Traumbilder gerade jezt mit groͤßerem
Eifer zur oͤffentlichen Verehrung herumgeboten
werden, und, nachdem ſo vieles andere wan¬
kend geworden, von manchem lediglich zur
[408] Ausfuͤllung der entſtandenen leeren Stellen
aufgefaßt werden koͤnnten, ſo ſcheint es zur
Sache zu gehoͤren, dieſelben mit groͤßerem
Ernſte, als außerdem ihre Wichtigkeit verdie¬
nen duͤrfte, einer Pruͤfung zu unterwerfen.


Zufoͤrderſt und vor allen Dingen — Die
erſten, urſpruͤnglichen, und wahrhaft natuͤr¬
lichen Grenzen der Staaten ſind ohne Zweifel
ihre innern Grenzen. Was dieſelbe Sprache
redet, das iſt ſchon vor aller menſchlichen Kunſt
vorher durch die bloße Natur mit einer Menge
von unſichtbaren Banden an einander geknuͤpft;
es verſteht ſich unter einander, und iſt faͤhig,
ſich immerfort klaͤrer zu verſtaͤndigen, es gehoͤrt
zuſammen, und iſt natuͤrlich Eins, und ein
unzertrennliches Ganzes. Ein ſolches kann
kein Volk anderer Abkunft und Sprache in ſich
aufnehmen und mit ſich vermiſchen wollen,
ohne wenigſtens fuͤrs erſte ſich zu verwirren,
und den gleichmaͤßigen Fortgang ſeiner Bil¬
dung maͤchtig zu ſtoͤren. Aus dieſer innern,
durch die geiſtige Natur des Menſchen ſelbſt
gezogenen Grenze ergiebt ſich erſt die aͤußere Be¬
grenzung der Wohnſitze, als die Folge von
[409] jener, und in der natuͤrlichen Anſicht der Dinge
ſind keinesweges die Menſchen, welche inner¬
halb gewiſſer Berge und Fluͤſſe wohnen, um
deswillen Ein Volk, ſondern umgekehrt wohnen
die Menſchen beiſammen, und wenn ihr Gluͤk
es ſo gefuͤgt hat, durch Fluͤſſe und Berge ge¬
dekt, weil ſie ſchon fruͤher durch ein weit hoͤhe¬
res Naturgeſez Ein Volk waren.


So ſaß die deutſche Nation, durch gemein¬
ſchaftliche Sprache und Denkart ſattſam unter
ſich vereinigt, und ſcharf genug abgeſchnitten
von den andern Voͤlkern, in der Mitte von
Europa da, als ſcheidender Wall nicht ver¬
wandter Staͤmme, zahlreich und tapfer genug,
um ihre Grenzen gegen jeden fremden Anfall zu
ſchuͤtzen, ſich ſelbſt uͤberlaſſen durch ihre ganze
Denkart wenig geneigt, Kunde von den be¬
nachbarten Voͤlkerſchaften zu nehmen, in der¬
ſelben Angelegenheiten ſich zu miſchen, und
durch Beunruhigungen ſie zur Feindſeligkeit
aufzureizen. Im Verlaufe der Zeiten bewahrte
ſie ihr guͤnſtiges Geſchik vor dem unmittelba¬
ren Antheile am Raube der andern Welten;
dieſer Begebenheit, durch welche vor allen
[410] andern die Weiſe der Fortentwiklung der
neuern Weltgeſchichte, die Schikſale der Voͤl¬
ker, und der groͤßte Theil ihrer Begriffe und
Meinungen, begruͤndet worden ſind. Seit die¬
ſer Begebenheit erſt zertheilte ſich das chriſt¬
liche Europa, das vorher, auch ohne ſein eige¬
nes deutliches Bewußtſeyn, Eins geweſen war,
und als ſolches in gemeinſchaftlichen Unterneh¬
mungen ſich gezeigt hatte, in mehrere abgeſon¬
derte Theile; ſeit jener Begebenheit erſt war
eine gemeinſchaftliche Beute aufgeſtellt, nach
der jeder auf die gleiche Weiſe begehrte, weil
alle ſie auf die gleiche Weiſe brauchen konnten,
und die jeder mit Eiferſucht in den Haͤnden
des andern erblikte; erſt nun war ein Grund
vorhanden zu geheimer Feindſchaft und Kriegs¬
luſt Aller gegen Alle. Auch wurde es nun erſt
zum Gewinne fuͤr Voͤlker, Voͤlker auch anderer
Abkunft und Sprachen durch Eroberung, oder,
wenn dies nicht moͤglich waͤre, durch Buͤnd¬
niſſe, ſich einzuverleiben, und ihre Kraͤfte ſich
zuzueignen. Ein der Natur treu gebliebnes
Volk kann, wenn ſeine Wohnſitze ihm zu enge
werden, dieſelben durch Eroberung des benach¬
[411] barten Bodens erweitern wollen, um mehr
Raum zu gewinnen, und es wird ſodann die
fruͤhern Bewohner vertreiben; es kann einen
rauhen und unfruchtbaren Himmelsſtrich gegen
einen mildern und geſegnetern vertauſchen
wollen, und es wird in dieſem Falle abermals
die fruͤhern Beſitzer austreiben; es kann, wenn
es auch ausartet, bloße Raubzuͤge unterneh¬
men, auf denen es, ohne des Bodens oder der
Bewohner zu begehren, bloß alles Brauchba¬
ren ſich bemaͤchtigt, und die ausgeleerten Laͤn¬
der wieder verlaͤßt; es kann endlich die fruͤhern
Bewohner des eroberten Bodens, als eine
gleichfalls brauchbare Sache, wie Sklaven der
Einzelnen unter ſich vertheilen: aber daß es
die fremde Voͤlkerſchaft, ſo wie dieſelbe beſteht,
als Beſtandtheile des Staats ſich anfuͤge, da¬
bei hat es nicht den geringſten Gewinn, und
es wird niemals in Verſuchung kommen, dies
zu thun. Iſt aber der Fall der, daß einem
gleich ſtarken, oder wohl noch ſtaͤrkern Neben¬
buhler eine reizende gemeinſchaftliche Beute
abgekaͤmpft werden ſoll, ſo ſteht die Rechnung
anders. Wie auch uͤbrigens ſonſt das uͤber¬
[412] wundne Volk zu uns paſſen moͤge, ſo ſind we¬
nigſtens ſeine Faͤuſte zur Bekaͤmpfung des von
uns zu beraubenden Gegners brauchbar, und
jederman iſt uns, als eine Vermehrung der
oͤffentlichen Steitkraft, willkommen. So nun
irgend einem Weiſen, der Friede und Ruhe ge¬
wuͤnſcht haͤtte, uͤber dieſe Lage der Dinge die
Augen klar aufgegangen waͤren, wovon haͤtte
derſelbe Ruhe erwarten koͤnnen? Offenbar
nicht von der natuͤrlichen Beſchraͤnkung der
menſchlichen Habſucht dadurch, das das Ueber¬
fluͤſſige keinem nuͤtze; denn eine Beute, wodurch
alle verſucht werden, war vorhanden: und
eben ſo wenig haͤtte er ſie erwarten koͤnnen von
dem ſich ſelbſt eine Grenze ſetzenden Willen,
denn unter ſolchen, von denen jedweder alles
an ſich reißt, was er vermag, muß der ſich
ſelbſt Beſchraͤnkende nothwendig zu Grunde
gehen. Keiner will mit dem andern theilen,
was er dermalen zu eigen beſizt; jeder will
dem andern das ſeinige rauben, wenn er irgend
kann. Ruht einer, ſo geſchieht dies nur dar¬
um, weil er ſich nicht fuͤr ſtark genug haͤlt,
Streit anzufangen; er wird ihn ſicher anfan¬
[413] gen, ſobald er die erforderliche Staͤrke in ſich
verſpuͤrt. Somit iſt das einzige Mittel die
Ruhe zu erhalten dieſes, daß niemals einer zu
der Macht gelange, dieſelbe ſtoͤren zu koͤnnen,
und daß jedweder wiſſe, es ſey auf der andern
Seite gerade ſo viel Kraft zum Widerſtande,
als auf ſeiner Seite ſey zum Angriffe; daß
alſo ein Gleichgewicht, und Gegengewicht der
geſammten Macht entſtehe, wodurch allein,
nachdem alle andere Mittel verſchwunden ſind,
jeder in ſeinem gegenwaͤrtigen Beſizſtande, und
alle in Ruhe, erhalten werden. Dieſe beiden
Stuͤke demnach: einen Raub, auf den kein ein¬
ziger einiges Recht habe, alle aber nach ihm
die gleiche Begierde, ſodann die allgemeine,
immerfort thaͤtig ſich regende wirkliche Raub¬
ſucht, ſezt jenes bekannte Syſtem eines Gleich¬
gewichts der Macht in Europa voraus; und
unter dieſen Vorausſetzungen wuͤrde dieſes
Gleichgewicht freilich das einzige Mittel ſeyn
die Ruhe zu erhalten, wenn nur erſt das zweite
Mittel gefunden waͤre, jenes Gleichgewicht
hervorzubringen, und es aus einem leeren
Gedanken in ein wirkliches Ding zu ver¬
wandeln.

[414]

Aber waren denn auch jene Vorausſetzun¬
gen allgemein, und ohne alle Ausnahme, zu
machen. War nicht im Mittelpunkte von Eu¬
ropa die uͤbermaͤchtige deutſche Nation rein
geblieben von dieſer Beute, und von der An¬
ſteckung mit der Luſt darnach, und faſt ohne
Vermoͤgen, Anſpruch auf dieſelbe zu machen?
Waͤre nur dieſe zu Einem gemeinſchaftlichen
Willen, und Einer gemeinſchaftlichen Kraft
vereinigt geblieben; haͤtten doch dann die uͤbri¬
gen Europaͤer ſich morden moͤgen in allen Mee¬
ren, und auf allen Inſeln und Kuͤſten: in der
Mitte von Europa haͤtte der feſte Wall der
Deutſchen ſie verhindert an einander zu kom¬
men, — hier waͤre Friede geblieben, und die
Deutſchen haͤtten ſich, und mit ſich zugleich
einen Theil der uͤbrigen Europaͤiſchen Voͤlker,
in Ruhe und Wohlſtand erhalten.


Es war dem nur den naͤchſten Augenblik
berechnenden Eigennutze des Auslandes nicht
gemaͤß, daß es alſo bliebe. Sie fanden die
deutſche Tapferkeit brauchbar, um durch ſie ihre
Kriege zu fuͤhren, und die Haͤnde derſelben, um
mit ihnen ihren Nebenbuhlern die Beute zu
[415] entreißen; es mußte ein Mittel gefunden wer¬
den, um dieſen Zwek zu erreichen, und die
auslaͤndiſche Schlauheit ſiegte leicht uͤber die
deutſche Unbefangenheit und Verdachtloſigkeit.
Das Ausland war es, welches zuerſt der uͤber
Religionsſtreitigkeiten entſtandenen Entzweiung
der Gemuͤther in Deutſchland ſich bediente,
um dieſen Inbegrif des geſammten chriſtlichen
Europa im Kleinen aus der innig verwachſe¬
nen Einheit eben ſo in abgeſonderte und fuͤr
ſich beſtehende Theile kuͤnſtlich zu zertrennen, wie
erſt jenes, uͤber einen gemeinſamen Raub, ſich na¬
tuͤrlich zertrennt hatte; das Ausland wußte dieſe
alſo entſtandenen beſondern Staaten im Schooße
der Einen Nation, die keinen Feind hatte, denn
das Ausland ſelbſt, und keine Angelegenheit,
denn die gemeinſame, gegen die Verfuͤhrungen
und die Hinterliſt dieſes mit vereinigter Kraft
ſich zu ſetzen, — es wußte dieſe einander gegen¬
ſeitig vorzuſtellen, als natuͤrliche Feinde, gegen
die jeder immerfort auf der Hut ſeyn muͤſſe, ſich
ſelbſt dagegen darzuſtellen als die natuͤrlichen
Verbuͤndeten gegen dieſe von den eignen Lands¬
leuten drohende Gefahr; als die Verbuͤndeten,
[416] mit denen allein ſie ſelbſt ſtaͤnden, oder fielen,
und die ſie daher gleichfalls in ihren Unterneh¬
mungen mit aller ihrer Macht unterſtuͤtzen
muͤßten. Nur durch dieſes kuͤnſtliche Bin¬
dungsmittel wurden alle Zwiſte, die uͤber ir¬
gend einen Gegenſtand in der alten oder neuen
Welt ſich entſpinnen mochten, zu eignen Zwi¬
ſten der deutſchen Staͤmme unter einander;
jeder aus irgend einem Grunde entſtandene
Krieg mußte auf deutſchem Boden und mit
deutſchem Blute ausgefochten werden, jede
Verruͤkung des Gleichgewichts in derjenigen
Nation, der der ganze Urquell dieſer Verhaͤlt¬
niſſe fremd war, ausgeglichen werden, und
die deutſchen Staaten, deren abgeſondertes Da¬
ſeyn ſchon gegen alle Natur und Vernunft ſtritt,
mußten, damit ſie doch etwas waͤren, zu Zu¬
lagen gemacht werden zu den Hauptgewichten
in der Wage des Europaͤiſchen Gleichgewichts,
deren Zuge ſie blind und willenlos folgten. So
wie man in manchem auslaͤndiſchen Staate die
Buͤrger bezeichnet dadurch, daß ſie von dieſer
oder einer andern fremden Parthey ſeyen, und
fuͤr dieſes oder jenes auswaͤrtige Buͤndniß
ſtim¬[417] ſtimmten, ſolche aber, die von der vaterlaͤn¬
diſchen Parthey ſeyen, nicht nahmhaft zu
machen weiß; ſo waren die Deutſchen ſchon
laͤngſt nur fuͤr irgend eine fremde Parthey,
und man traf ſelten auf einen, der die Partey
der Deutſchen gehalten, und gemeint haͤtte,
daß dieſes Land ſich mit ſich ſelbſt verbuͤnden
ſollte.


Dies alſo iſt der wahre Urſprung und die
Bedeutung, dies der Erfolg fuͤr Deutſchland und
fuͤr die Welt von dem beruͤchtigten Lehrgebaͤude
eines kuͤnſtlich zu erhaltenden Gleichgewichts
der Macht unter den Europaͤiſchen Staaten.
Waͤre das chriſtliche Europa Eins geblieben,
wie es ſollte, und wie es urſpruͤnglich war, ſo
haͤtte man nie Veranlaſſung gehabt, einen ſol¬
chen Gedanken zu erzeugen; das Eine ruht
auf ſich ſelbſt, und traͤgt ſich ſelbſt, und
zertheilt ſich nicht in ſtreitende Kraͤfte, die
mit einander in ein Gleichgewicht gebracht
werden muͤßten; nur fuͤr das unrechtlich
gewordene, und zertheilte Europa erhielt
jener Gedanke eine nothduͤrftige Bedeutung.
Zu dieſem unrechtlich gewordenen, und zer¬
D d[418] theilten Europa gehoͤrte Deutſchland nicht.
Waͤre nur wenigſtens dieſes Eins geblieben,
ſo haͤtte es auf ſich ſelbſt geruht im Mittel¬
punkte der gebildeten Erde, ſo wie die Sonne im
Mittelpunkte der Welt; es haͤtte ſich in Ruhe
erhalten, und durch ſich ſeine naͤchſte Umge¬
bung, und haͤtte, ohne alle kuͤnſtliche Vorkeh¬
rung, durch ſein bloßes natuͤrliches Daſeyn,
allem das Gleichgewicht gegeben. Nur der
Trug des Auslandes miſchte daſſelbe in ſeine
Unrechtlichkeit und ſeine Zwiſte, und brachte
ihm jenen hinterliſtigen Begriff bei, als eins
der wirkſamſten Mittel, daſſelbe uͤber ſeinen
wahren Vortheil zu taͤuſchen, und es in der
Taͤuſchung zu erhalten. Dieſer Zweck iſt nun
hinlaͤnglich erreicht, und der beabſichtigte Er¬
folg liegt vollendet da vor unſern Augen. Koͤn¬
nen wir nun auch dieſen nicht aufheben; warum
ſollen wir nicht wenigſtens die Quelle deſſelben
in unſerm eignen Verſtande, der faſt noch das
einzige iſt, das unſrer Botmaͤßigkeit uͤberlaſſen
geblieben, austilgen? Warum ſoll das alte
Traumbild noch immer uns vor die Augen
geſtellt werden, nachdem das Uebel uns aus
[419] dem Schlafe gewekt hat? Warum ſollen wir
nicht wenigſtens jezt die Wahrheit ſehen, und
das einzige Mittel, das uns haͤtte retten koͤn¬
nen, erblicken — ob vielleicht unſre Nachkommen
thun moͤchten, was wir einſehen; ſo wie wir
jezo leiden, weil unſre Vaͤter traͤumten. Laſ¬
ſet uns begreifen, daß der Gedanke eines kuͤnſt¬
lich zu erhaltenden Gleichgewichts zwar fuͤr
das Ausland ein troͤſtender Traum ſeyn konnte
bei der Schuld und dem Uebel, welche daſſelbe
druͤkten; daß er aber, als ein durchaus auslaͤn¬
diſches Erzeugniß, niemals in dem Gemuͤthe
eines Deutſchen haͤtte Wurzel faſſen, und die
Deutſchen niemals in die Lage haͤtten kommen
ſollen, daß er bei ihnen Wurzel faſſen gekonnt
haͤtte; daß wir wenigſtens jezt in ſeiner Nich¬
tigkeit ihn durchdringen, und daß wir einſehen
muͤſſen, daß nicht bei ihm, ſondern allein bei der
Einigkeit der Deutſchen unter ſich ſelber, das
allgemeine Heil zu finden ſey.


Eben ſo fremd iſt dem Deutſchen die in
unſern Tagen ſo haͤufig gepredigte Freiheit der
Meere; ob nun wirklich dieſe Freiheit, oder
ob bloß das Vermoͤgen, daß man ſelbſt alle
D d 2[420] anderen von derſelben ausſchließen koͤnne, be¬
abſichtiget werde. Jahrhunderte hindurch,
waͤhrend des Wetteifers aller andern Nationen,
hat der Deutſche wenig Begierde gezeigt, an
derſelben in einem ausgedehnten Maaße Theil
zu nehmen, und er wird es nie. Auch bedarf
er derſelben nicht. Sein reichlich ausgeſtatte¬
tes Land, und ſein Fleiß gewaͤhrt ihm alles,
deſſen der gebildete Menſch zum Leben bedarf;
an Kunſtfertigkeit, daſſelbe fuͤr den Zwek zu
verarbeiten, gebricht es ihm auch nicht: und
um den einigen wahrhaften Gewinn, den der
Welthandel mit ſich fuͤhrt, die Erweiterung der
wiſſenſchaftlichen Kenntniß der Erde und ihrer
Bewohner, an ſich zu bringen, wird es ſein
eigner wiſſenſchaftlicher Geiſt ihm nicht an einem
Tauſchmittel fehlen laſſen. — O moͤchte doch
nur den Deutſchen ſein guͤnſtiges Geſchik eben
ſo vor dem mittelbaren Antheile an der Beute
der andern Welten bewahrt haben, wie es ihm
vor dem unmittelbaren bewahrte! Moͤchte
Leichtglaͤubigkeit, und die Sucht, auch fein
und vornehm zu leben, wie die andern Voͤlker,
uns nicht die entbehrlichen Waaren, die in
[421] fremden Welten erzeugt werden, zum Beduͤrf¬
niſſe gemacht haben; moͤchten wir in Abſicht
der weniger entbehrlichen lieber unſerm freien
Mitbuͤrger ertraͤgliche Bedingungen haben
machen, als von dem Schweiße und Blute
eines armen Sklaven jenſeit der Meere Ge¬
winn ziehen wollen; ſo haͤtten wir wenigſtens
nicht ſelbſt den Vorwand geliefert zu unſerm
dermaligen Schikſale, und wuͤrden nicht be¬
kriegt, als Abkaͤufer, und zu Grunde gerichtet,
als ein Marktplaz. Faſt vor einem Jahr¬
zehend, ehe irgend jemand vorausſehen konnte,
was ſeitdem ſich ereignet, iſt den Deutſchen
gerathen worden, vom Welthandel ſich unab¬
haͤngig zu machen, nnd als Handelsſtaat ſich
zu ſchließen. Dieſer Vorſchlag verſtieß gegen
unſere Gewoͤhnungen, beſonders aber gegen
unſre abgoͤttiſche Verehrung der ausgepraͤgten
Metalle, und wurde leidenſchaftlich angefein¬
det, und bei Seite geſchoben. Seitdem lernen
wir, durch fremde Gewalt genoͤthigt, und mit
Unehre, das, und noch weit mehr, entbehren,
was wir damals mit Freiheit, und zu unſerer
hoͤchſten Ehre nicht entbehren zu koͤnnen ver¬
[422] ſicherten. Moͤchten wir dieſe Gelegenheit, da
der Genuß wenigſtens uns nicht beſticht, ergrei¬
fen, um auf immer unſre Begriffe zu berichti¬
gen! Moͤchten wir endlich einſehen, daß alle
jene ſchwindelnden Lehrgebaͤude uͤber Welt¬
handel, und Fabrikation fuͤr die Welt, zwar fuͤr
den Auslaͤnder paſſen, und gerade unter die
Waffen deſſelben gehoͤren, womit er von jeher
uns bekriegt hat, daß ſie aber bei den Deut¬
ſchen keine Anwendung haben, und daß, naͤchſt
der Einigkeit dieſer unter ſich ſelber, ihre innere
Selbſtſtaͤndigkeit und Handels-Unabhaͤngigkeit
das zweite Mittel iſt ihres Heils, und durch ſie,
des Heils von Europa.


Wage man es endlich auch noch das Traum¬
bild einer Univerſal-Monarchie, das an die
Stelle des ſeit einiger Zeit immer unglaublicher
werdenden Gleichgewichts der oͤffentlichen Ver¬
ehrung dargeboten zu werden anfaͤngt, in ſei¬
ner Haſſenswuͤrdigkeit und Vernunftloſigkeit
zu erblicken! Die geiſtige Natur vermochte das
Weſen der Menſchheit nur in hoͤchſt mannigfal¬
tigen Abſtufungen an Einzelnen, und an der
Einzelnheit im Großen, und Ganzen, an Voͤl¬
[423] kern, darzuſtellen. Nur wie jedes dieſer lez¬
ten, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, ſeiner Eigenheit ge¬
maͤß, und in jedem derſelben, jeder Einzelne
jener gemeinſamen, ſo wie ſeiner beſondern
Eigenheit gemaͤß, ſich entwickelt, und geſtaltet,
tritt die Erſcheinung der Gottheit in ihrem
eigentlichen Spiegel heraus, ſo wie ſie ſoll; und
nur der, der entweder ohne alle Ahnung fuͤr
Geſezmaͤßigkeit, und goͤttliche Ordnung, oder
ein verſtockter Feind derſelben waͤre, koͤnnte
einen Eingriff in jenes hoͤchſte Geſez der Gei¬
ſterwelt wagen wollen. Nur in den unſicht¬
baren, und den eignen Augen verborgenen Ei¬
genthuͤmlichkeiten der Nationen, als demjeni¬
gen, wodurch ſie mit der Quelle urſpruͤnglichen
Lebens zuſammen haͤngen, liegt die Buͤrgſchaft
ihrer gegenwaͤrtigen und zukuͤnftigen Wuͤrde,
Tugend, Verdienſtes; werden dieſe durch Ver¬
miſchung und Verreibung abgeſtumpft, ſo ent¬
ſteht Abtrennung von der geiſtigen Natur, aus
dieſer Flachheit, aus dieſer die Verſchmelzung al¬
ler zu dem gleichmaͤßigen und an einander han¬
genden Verderben. Sollen wir es den Schrift¬
ſtellern, die uͤber alle unſre Uebel uns mit der
[424] Ausſicht troͤſten, daß wir dafuͤr auch Unter¬
thanen der beginnenden neuen Univerſal-Mo¬
narchie ſeyn werden, glauben, daß irgend je¬
mand eine ſolche Zerreibung aller Keime des
Menſchlichen in der Menſchheit beſchloſſen ha¬
be, um den zerfließenden Teig in irgend eine
Form zu druͤcken; und daß eine ſo ungeheure
Rohheit oder Feindſeligkeit gegen das menſch¬
liche Geſchlecht in unſerm Zeitalter moͤglich ſey.
Oder wenn wir uns auch entſchließen wollten,
dieſes durchaus unglaubliche fuͤrs erſte zu glau¬
ben, durch welches Werkzeug ſoll denn ferner
ein ſolcher Plan ausgefuͤhrt werden; welche
Art von Volk ſoll es denn ſeyn, die bei dem
gegenwaͤrtigen Bildungszuſtande von Europa
fuͤr irgend einen neuen Univerſal-Monarchen
die Welt erobere? Schon ſeit einer Reihe von
Jahrhunderten haben die Voͤlker Europens
aufgehoͤrt, Wilde zu ſeyn, und einer zerſtoͤ¬
renden Thaͤtigkeit um ihrer ſelbſt willen ſich zu
freuen. Alle ſuchen hinter dem Kriege einen
endlichen Frieden; hinter der Anſtrengung die
Ruhe, hinter der Verwirrung die Ordnung;
und alle wollen ihre Laufbahn mit dem Frieden
[425] eines haͤuslichen und ſtillen Lebens gekroͤnt
ſehen. Auf eine Zeitlang mag ſelbſt ein nur
vorgebildeter National-Vortheil ſie zum Kriege
begeiſtern; wenn die Aufforderung immer auf
dieſelbe Weiſe zuruͤkkehrt, verſchwindet das
Traumbild, und die Fieberkraft, die daſſelbe
gegeben hat; die Sehnſucht nach ruhiger Ord¬
nung kehrt zuruͤk, und die Frage: fuͤr welchen
Zwek thue und trage ich denn nun dies alles,
erhebt ſich. Dieſe Gefuͤhle alle muͤßte zuvoͤr¬
derſt ein Welt-Eroberer unſrer Zeit austilgen,
und in dieſes Zeitalter, das durch ſeine Natur
ein Volk von Wilden nicht giebt, mit beſonne¬
ner Kunſt eins hineinbilden. Aber noch mehr.
Dem von Jugend auf an einen gebildeten An¬
bau der Laͤnder, an Wohlſtand, und Ordnung
gewoͤhnten Auge, thut, wenn man den Men¬
ſchen nur ein wenig zur Ruhe kommen laͤßt, der
Anblik derſelben allenthalben, wo er ihn an¬
trift, wohl, indem er ihm den Hintergrund ſei¬
ner eignen, doch niemals ganz auszurottenden
Sehnſucht, darſtellt, und es ſchmerzt ihn ſelbſt,
denſelben zerſtoͤren zu muͤſſen. Auch gegen die¬
ſes dem geſellſchaftlichen Menſchen tief einge¬
[426] praͤgte Wohlwollen, und gegen die Wehmuth
uͤber die Uebel, die der Krieger uͤber die erober¬
ten Laͤnder bringt, muß ein Gegengewicht ge¬
funden werden. Es giebt kein anderes, denn
die Raubſucht. Wird es zum herrſchenden An¬
triebe des Kriegers, ſich einen Schaz zu machen,
und wird er gewoͤhnt, bei Verheerung bluͤhen¬
der Laͤnder an nichts anderes mehr zu denken,
denn daran, was er fuͤr ſeine Perſon bei dem all¬
gemeinen Elende gewinnen koͤnne, ſo iſt zu er¬
warten, daß die Gefuͤhle des Mitleids, und des
Erbarmens in ihm verſtummen. Außer je¬
ner barbariſchen Rohheit muͤßte demnach ein
Welt-Eroberer unſrer Zeit die Seinigen auch
noch zur kuͤhlen und beſonnenen Raubſucht bil¬
den; er muͤßte Erpreſſungen nicht beſtrafen,
ſondern vielmehr aufmuntern. Auch muͤßte
die Schande, die natuͤrlich auf der Sache ruht,
erſt wegfallen, und Rauben muͤßte fuͤr ein eh¬
renvolles Zeichen eines feinen Verſtandes gel¬
ten, zu den Grosthaten gezaͤhlt werden, und
den Weg zu allen Ehren und Wuͤrden bahnen.
Wo iſt eine Nation im neuern Europa alſo ehr¬
los, daß man ſie auf dieſe Weiſe abrichten.
[427] koͤnnte? Oder ſetzet, daß ihm ſelbſt dieſe Umbil¬
dung gelaͤnge, ſo wird nun gerade durch ſein
Mittel die Erreichung ſeines Zweks vereitelt
werden. Ein ſolches Volk erblikt von nun an
in eroberten Menſchen, Laͤndern, und Kunſter¬
zeugungen nichts mehr, denn ein Mittel, in
hoͤchſter Eil Geld zu machen, um weiter zu ge¬
hen, und abermals Geld zu machen; es er¬
preßt ſchnell, und wirft das Ausgeſogene weg auf
jedes moͤgliche Schikſal; es haut ab den Baum,
zu deſſen Fruͤchten es gelangen will: wer
mit ſolchen Werkzeugen handelt, dem werden
alle Kuͤnſte der Verfuͤhrung, der Ueberredung,
und des Truges vereitelt; nur aus der Entfer¬
nung koͤnnen ſie taͤuſchen, wie man ſie in der
Naͤhe erblikt, faͤllt die thieriſche Rohheit, und
die ſchamloſe und freche Raubſucht ſelbſt dem
Bloͤdſinnigſten in die Augen, und der Abſcheu
des ganzen menſchlichen Geſchlechts erklaͤrt ſich
laut. Mit ſolchen kann man die Erde zwar
auspluͤndern und wuͤſte machen, und ſie zu
einem dumpfen Chaos zerreiben, nimmer¬
mehr aber ſie zu einer Univerſal-Monarchie
ordnen.

[428]

Die genannten Gedanken, und alle Gedan¬
ken dieſer Art ſind Erzengniſſe eines bloß mit
ſich ſelber ſpielenden, und in ſeinem Geſpinnſte
zuweilen auch haͤngen bleibenden Denkens, un¬
werth deutſcher Gruͤndlichkeit und Ernſtes.
Hoͤchſtens ſind einige dieſer Bilder, wie z. B.
das eines politiſchen Gleichgewichts, taugliche
Huͤlfslinien, um in einem ausgedehnten und
verworrenen Mannigfaltigen der Erſcheinung
ſich zurecht zu finden, und es zu ordnen; aber
an das natuͤrliche Vorhandenſeyn dieſer Dinge
zu glauben, oder ihre Verwirklichung anzuſtre¬
ben, iſt eben ſo, als ob jemand die Pole, die
Mittagslinie, die Wendekreiſe, durch die ſeine
Betrachtung auf der Erde ſich zurecht findet,
an der wirklichen Erdkugel ausgedruͤkt und be¬
zeichnet aufſuchte. Moͤchte es Sitte werden
in unſerer Nation, nicht bloß zum Scherze und
gleichſam verſuchend, was dabei herauskom¬
men werde, zu denken, ſondern alſo, als ob
wahr ſeyn ſolle, und wirklich gelten im Leben,
was wir denken, ſo wird es uͤberfluͤßig werden,
vor ſolchen Truggeſtalten einer urſpruͤglich aus¬
laͤndiſchen, und die Deutſchen bloß beruͤckenden
Staatsklugheit, zu warnen.

[429]

Dieſe Gruͤndlichkeit, Ernſt und Gewicht
unſrer Denkweiſe wird, wenn wir ſie einmal
beſitzen, auch hervorbrechen in unſerm Leben.
Beſiegt ſind wir; ob wir nun zugleich auch ver¬
achtet, und mit Recht verachtet ſeyn wollen,
ob wir zu allem andern Verluſte auch noch die
Ehre verlieren wollen, das wird noch immer
von uns abhaͤngen. Der Kampf mit den Waf¬
fen iſt beſchloſſen; es erbebt ſich, ſo wir es
wollen, der neue Kampf der Grundſaͤtze, der
Sitten, des Charakters.


Geben wir unſern Gaͤſten ein Bild treuer
Anhaͤnglichkeit an Vaterland und Freunde, un¬
beſtechlicher Rechtſchaffenheit, und Pflichtliebe,
aller buͤrgerlichen, und haͤuslichen Tugenden,
als freundliches Gaſtgeſchenk mit in ihre Hei¬
math, zu der ſie doch wohl endlich einmal zu¬
ruͤkkehren werden. Huͤten wir uns, ſie zur
Verachtung gegen uns einzuladen; durch nichts
aber wuͤrden wir es ſicherer, als wenn wir ſie
entweder uͤbermaͤßig fuͤrchteten, oder unſre
Weiſe dazuſeyn aufzugeben, und in der ihri¬
gen ihnen aͤhnlich zu werden ſtrebten. Fern
zwar ſey von uns die Ungebuͤhr, daß der Ein¬
[430] zelne die Einzelnen herausfordere, und reize;
uͤbrigens aber wird es die ſicherſte Maaßregel
ſeyn, allenthalben Unſern Weg alſo fortzuge¬
hen, als ob wir mit uns ſelber allein waͤren,
und durchaus kein Verhaͤltniß anzuknuͤpfen,
das uns die Nothwendigkeit nicht ſchlechthin
auflegt; Und das ſicherſte Mittel hierzu wird
ſeyn, daß jeder ſich mit dem begnuͤge, was die
alten vaterlaͤndiſchen Verhaͤltniſſe ihm zu leiſten
vermoͤgen, die gemeinſchaftliche Laſt nach ſei¬
nen Kraͤften mit trage, jede Beguͤnſtigung
aber durch das Ausland fuͤr eine entehrende
Schmach halte. Leider iſt es beinahe allge¬
meine europaͤiſche, und ſo auch deutſche Sitte
geworden, daß man im Falle der Wahl lieber
ſich wegwerfen, denn als das erſcheinen wolle,
was man imponirend nennt, und es duͤrfte viel¬
leicht das ganze Lehrgebaͤude der angenomme¬
nen guten Lebensart auf die Einheit jenes
Grundſatzes ſich zuruͤckfuͤhren laſſen. Moͤchten
wir Deutſche bei der gegenwaͤrtigen Veran¬
laſſung lieber gegen dieſe Lebensart, denn ge¬
gen etwas hoͤheres verſtoßen! Moͤchten wir,
obwohl dies ein ſolcher Verſtoß ſeyn duͤrfte,
[431] bleiben, ſo wie wir ſind, ja, wenn wir es ver¬
moͤchten, noch ſtaͤrker und entſchiedener werden,
alſo wie wir ſeyn ſollen! Moͤchten wir der
Ausſtellungen, die man uns zu machen pflegt,
daß es uns gar ſehr an Schnelligkeit und leich¬
ter Fertigkeit gebreche, und daß wir uͤber allem
zu ernſt, zu ſchwer, und zu gewichtig werden,
uns ſo wenig ſchaͤmen, daß wir uns vielmehr
beſtrebten, ſie immer mit groͤßerem Rechte, und
in weiterer Ausdehnung zu verdienen. Es be¬
feſtige uns in dieſem Entſchluße die leicht zu er¬
langende Ueberzeugung, daß wir mit aller
unſrer Muͤhe dennoch niemals jenen recht ſeyn
werden, wenn wir nicht ganz aufhoͤren wir ſel¬
ber zu ſeyn, was dem uͤberhaupt gar nicht
mehr da ſeyn gleich gilt. Es giebt nemlich
Voͤlker, welche, indem ſie ſelbſt ihre Eigen¬
thuͤmlichkeit beibehalten, und dieſelbe geehrt
wiſſen wollen, auch den andern Voͤlkern die
ihrigen zugeſtehen, und ſie ihnen goͤnnen, und
verſtatten; zu dieſen gehoͤren ohne Zweifel die
Deutſchen, und es iſt dieſer Zug in ihrem gan¬
zen vergangenen, und gegenwaͤrtigen Weltleben
ſo tief begruͤndet, daß ſie ſehr oft, um gerecht
[432] zu ſeyn ſowohl gegen das gleichzeitige Ausland
als gegen das Alterthum, ungerecht geweſen
ſind gegen ſich ſelbſt. Wiederum giebt es an¬
dere Voͤlker, denen ihr eng in ſich ſelbſt ver¬
wachſenes Selbſt niemals die Freiheit geſtat¬
tet, ſich zu kalter und ruhiger Betrachtung des
fremden abzuſondern, und die daher zu glauben
genoͤthigt ſind, es gebe nur eine einzige moͤgliche
Weiſe als gebildeter Menſch zu beſtehen, und
dies ſey jedesmal die, welche in dieſem Zeit¬
punkte gerade ihnen irgend ein Zufall angewor¬
fen; alle uͤbrige Menſchen in der Welt haͤtten
keine andere Beſtimmung, denn alſo zu wer¬
den, wie ſie ſind, und ſie haͤtten ihnen den
groͤßten Dank abzuſtatten, wenn ſie die Muͤhe
uͤber ſich nehmen wollten, ſie alſo zu bilden.
Zwiſchen Voͤlkern der erſten Art findet eine der
Ausbildung zum Menſchen uͤberhaupt hoͤchſt
wohlthaͤtige Wechſelwirkung der gegenſeitigen
Bildung und Erziehung ſtatt, und eine Durch¬
dringung, bei welcher dennoch jeder, mit dem
guten Willen des andern, ſich ſelbſt gleich bleibt.
Voͤlker von der zweiten Art vermoͤgen nichts
zu bilden, denn ſie vermoͤgen nichts in ſeinem
vor¬[433] vorhandenen Seyn anzufaſſen; ſie wollen nur
alles Beſtehende vernichten, und außer ſich al¬
lenthalben eine leere Staͤtte hervorbringen, in
der ſie nur immer die eigne Geſtalt wiederholen
koͤnnen; ſelbſt ihr anfaͤngliches ſcheinbares Hin¬
eingehen in fremde Sitte, iſt nur die gutmuͤ¬
thige Herablaſſung des Erziehers zum jezt noch
ſchwachen, aber gute Hofnung gebenden Lehr¬
linge; ſelbſt die Geſtalten der vollendeten Vor¬
welt gefallen ihnen nicht, bis ſie dieſelben in
ihr Gewand gehuͤllt haben, und ſie wuͤrden,
wenn ſie koͤnnten, dieſelben aus den Graͤbern
aufwecken, um ſie nach ihrer Weiſe zu erziehen.
Fern zwar bleibe von mir die Vermeſſenheit,
irgend eine vorhandene Nation im Ganzen und
ohne Ausnahme, jener Beſchraͤnktheit zu be¬
ſchuldigen. Laßt uns vielmehr annehmen, daß
auch hier diejenigen, die ſich nicht aͤußern, die
beſſern ſind. Soll man aber die, die unter uns
erſchienen ſind, und ſich geaͤußert haben, nach
dieſen ihren Aeußerungen beurtheilen, ſo ſcheint
zu folgen, daß ſie in die geſchilderte Klaſſe zu
ſetzen ſind. Eine ſolche Aeußerung ſcheint eines
Beleges zu beduͤrfen, und ich fuͤhre, von den
Ee[434] uͤbrigen Ausfluͤſſen dieſes Geiſtes, die vor den
Augen von Europa liegen, ſchweigend, nur
den einigen Umſtand an, den folgenden: —
Wir haben mit einander Krieg gefuͤhrt; wir
unſers Theils ſind die Ueberwundenen, jene die
Sieger; dies iſt wahr, und wird zugeſtanden.
Damit nun koͤnnten jene ohne Zweifel ſich be¬
gnuͤgen. Ob nun etwa jemand unter uns fort¬
fuͤhre, dafuͤr zu halten, wir haͤtten dennoch die
gerechte Sache fuͤr uns gehabt, und den Sieg
verdient, und es ſey zu beklagen, daß er nicht
uns zu Theile geworden; waͤre denn dies ſo
uͤbel, und koͤnnten es uns denn jene, die ja
von ihrer Seite gleichfalls denken moͤgen, was
ſie wollen, ſo ſehr verargen? Aber nein, jenes
zu denken, ſollen wir uns nicht unterſtehen.
Wir ſollen zugleich erkennen, welch' ein Unrecht
es ſey, jemals anders zu wollen, denn ſie, und
ihnen zu widerſtehen; wir ſollen unſre Nieder¬
lagen als das heilſamſte Ereigniß fuͤr uns ſelbſt,
und ſie, als unſre groͤßten Wohlthaͤter, ſegnen.
Anders kann es ja nicht ſeyn, und man hat
dieſe Hofnung zu unſerm guten Verſtande. —
Doch was ſpreche ich laͤnger aus, was beinahe
[435] vor zweitauſend Jahren mit vieler Genauig¬
keit z. B. in den Geſchichtsbuͤchern des Tacitus,
ausgeſprochen worden iſt? Jene Anſicht der
Roͤmer von dem Verhaͤltniſſe der bekriegten
Barbaren gegen ſie, welche Anſicht bei dieſen
denn doch auf einen einige Entſchuldigung verdie¬
nenden Schein ſich gruͤndete, daß es verbreche¬
riſche Rebellion, und Auflehnung gegen goͤtt¬
liche und menſchliche Geſetze ſey, ihnen Wi¬
derſtand zu leiſten, und daß ihre Waffen den
Voͤlkern nichts anders zu bringen vermoͤchten,
denn Seegen, und ihre Ketten nichts anders,
denn Ehre — dieſe Anſicht iſt es, die man
in dieſen Tagen von uns genommen, und mit
ſehr vieler Gutmuͤthigkeit uns ſelbſt angemuthet,
und bei uns vorausgeſezt hat. Ich gebe der¬
gleichen Aeußerungen nicht fuͤr uͤbermuͤthigen
Hohn aus; ich kann begreifen, wie man bei
großem Eigenduͤnkel und Beſchraͤnktheit im
Ernſte alſo glauben, und dem Gegentheile ehr¬
lich denſelben Glauben zutrauen koͤnne, wie ich
denn z. B. dafuͤr halte, daß die Roͤmer wirklich
ſo glaubten; aber ich gebe nur zu bedenken,
ob diejenigen unter uns, denen es unmoͤglich
Ee 2[436] faͤllt, jemals zu jenem Glauben ſich zu be¬
kehren, auf irgend eine Ausgleichung rechnen
koͤnnen.


Tief veraͤchtlich machen wir uns dem Aus¬
lande, wenn wir vor den Ohren deſſelben uns,
einer den andern, deutſche Staͤmme, Staͤnde,
Perſonen, uͤber unſer gemeinſchaftliches Schik¬
ſal anklagen, und einander gegenſeitige bittere,
und leidenſchaftliche Vorwuͤrfe machen. Zu¬
foͤrderſt ſind alle Anklagen dieſer Art groͤßten¬
theils unbillig, ungerecht, ungegruͤndet. Welche
Urſachen es ſind, die Deutſchlands leztes Schik¬
ſal herbeigefuͤhrt haben, haben wir oben ange¬
geben; dieſe ſind ſeit Jahrhunderten bei allen
deutſchen Staͤmmen ohne Ausnahme auf die
gleiche Weiſe einheimiſch geweſen; die lezten
Ereigniſſe ſind nicht die Folgen irgend eines
beſondern Fehltrittes eines einzelnen Stammes,
oder ſeiner Regierung, ſie haben ſich lange ge¬
nug vorbereitet, und haͤtten, wenn es bloß auf
die in uns ſelbſt liegenden Gruͤnde angekommen
waͤre, ſchon vor langem uns eben ſowohl tref¬
fen koͤnnen. Hierin iſt die Schuld oder Un¬
ſchuld aller wohl gleich groß, und die Berech¬
[437] nung iſt nicht wohl mehr moͤglich. Bei der
Herbeieilung des endlichen Erfolgs hat ſich
gefunden, daß die einzelnen deutſchen Staaten
nicht einmal ſich ſelbſt, ihre Kraͤfte, und ihre
wahre Lage, kannten; wie koͤnnte denn irgend
einer ſich anmaaßen, aus ſich ſelbſt herauszu¬
treten, und uͤber fremde Schuld ein auf gruͤnd¬
liche Kenntniß ſich ſtuͤtzendes Endurtheil zu
faͤllen?


Mag es ſeyn, daß uͤber alle Staͤmme des
deutſchen Vaterlandes hinweg einen gewiſſen
Stand ein gegruͤndeterer Vorwurf trift, nicht,
weil er eben auch nicht mehr eingeſehen oder
vermocht, als die andern alle, was eine ge¬
meinſchaftliche Schuld iſt, ſondern weil er ſich
das Anſehen gegeben, als ob er mehr einſaͤhe,
und vermoͤchte, und alle uͤbrigen von der Ver¬
waltung der Staaten verdraͤngt. Waͤre nun
auch ein ſolcher Vorwurf gegruͤndet; wer ſoll
ihn ausſprechen, und wozu iſt es noͤthig, daß
er gerade jezt lauter, und bitterer denn je, aus¬
geſprochen, und verhandelt werde? Wir ſe¬
hen, daß Schriftſteller es thun. Haben dieſe
nun ehemals, als bei jenem Stande noch alle
[438] Macht und alles Anſehen, mit der ſtillſchwei¬
genden Einwilligung der entſchiedenen Mehr¬
heit des uͤbrigen Menſchengeſchlechts, ſich be¬
fand, eben alſo geredet, wie ſie jetzo reden;
wer kann es ihnen verdenken, daß ſie an ihre
durch die Erfahrung ſehr beſtaͤtigte ehemalige
Rede erinnern? Wir hoͤren auch, daß ſie ein¬
zelne genannte Perſonen, die ehemals an der
Spitze der Geſchaͤfte ſtanden, vor das Volks¬
gericht fuͤhren, ihre Untauglichkeit, ihre Traͤg¬
heit, ihren boͤſen Willen darlegen, und klar
darthun, daß aus ſolchen Urſachen nothwendig
ſolche Wirkungen hervorgehen mußten. Ha¬
ben ſie ſchon ehemals, als bei den Angeklag¬
ten noch die Gewalt war, und die aus ihrer
Verwaltung nothwendig erfolgen muͤſſenden
Uebel noch abzuwenden waren, eben daſſelbe
eingeſehen, was ſie jezt einſehen, und es eben
ſo laut ausgeſprochen; haben ſie ſchon damals
ihre Schuldigen mit derſelben Kraft angeklagt,
und kein Mittel unverſucht gelaſſen, das Va¬
terland aus ihren Haͤnden zu erretten, und ſind
ſie bloß nicht gehoͤrt worden; ſo thun ſie ſehr
recht, an ihre damals verſchmaͤhte Warnung zu
[439] erinnern. Haben ſie aber etwa ihre dermalige
Weisheit nur aus dem Erfolge gezogen, aus
welchem ſeitdem alles Volk mit ihnen eben
dieſelbe gezogen hat, warum ſagen jezt eben
ſie, was alle andern nun eben ſowohl wiſſen?
Oder haben ſie vielleicht gar damals aus Ge¬
winnſucht geſchmeichelt, oder aus Furcht ge¬
ſchwiegen, vor dem Stande, und den Perſonen,
uͤber die jezt, nachdem ſie die Gewalt verlohren
haben, ungemaͤßigt ihre Strafrede hereinbricht;
o ſo vergeſſen ſie kuͤnftig nicht unter den Quel¬
len unſrer Uebel neben dem Adel, und den un¬
tauglichen Miniſtern und Feldherren, auch noch
die politiſchen Schriftſteller anzufuͤhren, die erſt
nach gegebnem Erfolge wiſſen, was da haͤtte
geſchehen ſollen, ſo wie der Poͤbel auch; und die
den Gewalthabern ſchmeicheln, die Gefallenen
aber ſchadenfroh verhoͤhnen!


Oder ruͤgen ſie etwa die Irrthuͤmer der
Vergangenheit, die freilich durch alle ihre
Ruͤge nicht vernichtet werden kann, nur darum,
damit man ſie in der Zukunft nicht wieder be¬
gehe; und iſt es bloß ihr Eifer, eine gruͤndliche
Verbeſſerung der menſchlichen Verhaͤltniſſe zu
[440] bewirken, der ſie uͤber die Ruͤkſichten der Klug¬
heit und des Anſtandes ſo kuͤhn hinweg ſezt?
Gern moͤchten wir ihnen dieſen guten Willen
zutrauen, wenn nur die Gruͤndlichkeit der Ein¬
ſicht, und des Verſtandes ſie berechtigte, in
dieſem Fache guten Willen zu haben. Nicht
ſowohl die einzelnen Perſonen, die von ohnge¬
faͤhr auf den hoͤchſten Plaͤtzen ſich befunden ha¬
ben, ſondern die Verbindung und Verwikkelung
des Ganzen der ganze Geiſt der Zeit, die Irr¬
thuͤmer, die Unwiſſenheit, Seichtigkeit, Ver¬
zagtheit, und der von dieſen unabtrennliche
unſichere Schritt, die geſammten Sitten der
Zeit ſind es, die unſere Uebel herbei gefuͤhrt
haben; und ſo ſind es denn weit weniger die
Perſonen, welche gehandelt haben, denn die
Plaͤtze, und jederman, und die heftigen Tad¬
ler ſelbſt, koͤnnen mit hoher Wahrſcheinlichkeit
annehmen, daß ſie, an demſelben Platze ſich be¬
findend, durch die Umgebungen ohngefaͤhr zu
demſelben Ziele wuͤrden hingedraͤngt worden
ſeyn. Traͤume man weniger von uͤberlegter
Bosheit und Verrath! Unverſtand und Traͤg¬
heit reichen faſt allenthalben aus, um die Bege¬
[441] benheiten zu erklaͤren; und dies iſt eine Schuld,
von der keiner ohne tiefe Selbſtpruͤfung ſich
ganz losſprechen ſollte; da zumal, wo in der
ganzen Maſſe ſich ein ſehr hohes Maaß von
Kraft der Traͤgheit befindet, dem Einzelnen,
der da durchdringen ſollte, ein ſehr hoher Grad
von Kraft der Thaͤtigkeit beiwohnen muͤßte.
Werden daher auch die Fehler der Einzelnen
noch ſo ſcharf ausgezeichnet, ſo iſt dadurch der
Grund des Uebels noch keinesweges entdekt,
noch wird er dadurch, daß dieſe Fehler in der
Zukunft vermieden werden, gehoben. Blei¬
ben die Menſchen fehlerhaft, ſo koͤnnen ſie nicht
anders, denn Fehler machen, und wenn ſie
auch die ihrer Vorgaͤnger fliehen, ſo werden in
dem unendlichen Raume der Fehlerhaftigkeit
gar leicht ſich neue finden. Nur eine gaͤnzliche
Umſchaffung, nur das Beginnen eines ganz
neuen Geiſtes, kann uns helfen. Werden ſie
auf deſſelben Entwiklung mit hinarbeiten, dann
wollen wir ihnen neben dem Ruhme des guten
Willens auch noch den des rechten und heil¬
bringenden Verſtandes gern zugeſtehen.

[442]

Dieſe gegenſeitigen Vorwuͤrfe ſind, ſo wie ſie
ungerecht ſind, und unnuͤz, zugleich aͤußerſt un¬
klug, und muͤſſen uns tief herabſetzen in den
Augen des Auslandes, dem wir zum Ueberfluſſe
die Kunde derſelben auf alle Weiſe erleichtern,
und aufdringen. Wenn wir nicht muͤde wer¬
den, ihnen vorzuerzaͤhlen, wie verworren und
abgeſchmakt alle Dinge bei uns geweſen ſeyen,
und in welchem hohen Grade wir elend regiert
worden; muͤſſen ſie nicht glauben, daß, wie auch
irgend ſie ſich gegen uns betragen moͤchten, ſie
doch noch immer viel zu gut fuͤr uns ſeyen, und
niemals uns zu ſchlecht werden koͤnnten? Muͤſ¬
ſen ſie nicht glauben, daß wir, bei unſrer gro¬
ßen Ungeſchiktheit und Unbeholfenheit, mit dem
demuͤthigſten Danke jedwedes Ding aufzuneh¬
men haben, das ſie aus dem reichen Schatze
ihrer Regierungs-Verwaltungs- und Geſezge¬
bungs-Kunſt uns ſchon dargereicht haben, oder
noch fuͤr die Zukunft uns zudenken? Bedarf es
von unſrer Seite dieſer Unterſtuͤtzung ihrer ohne
dies nicht unvortheilhaften Meinung von ſich
ſelbſt, und der geringfuͤgigen von uns? Werden
nicht dadurch gewiſſe Aeußerungen, die man
[443] außerdem fuͤr bittern Hohn halten muͤßte, als,
daß ſie erſt deutſchen Laͤndern, die vorher kein
Vaterland gehabt haͤtten, eins braͤchten, oder,
daß ſie eine ſklaviſche Abhaͤngigkeit der Perſo¬
nen als ſolcher von andern Perſonen, die bei
uns geſezlich geweſen waͤre, abſchafften, zur
Wiederholung unſrer eignen Ausſpruͤche, und
zum Nachhalle unſrer eignen Schmeichelworte?
Es iſt eine Schmach, die wir Deutſchen mit
keinem der andern Europaͤiſchen Voͤlker, die
in den uͤbrigen Schikſalen uns gleich geworden
ſind, theilen, daß wir, ſobald nur fremde Waf¬
fen unter uns geboten, gleich als ob wir ſchon
lange auf dieſen Augenblik gewartet haͤtten, und
uns ſchnell, ehe die Zeit voruͤber ginge, eine
Guͤte thun wollten, in Schmaͤhungen uns er¬
goſſen uͤber unſre Regierungen, unſre Gewalt¬
haber, denen wir vorher auf eine geſchmakloſe
Weiſe geſchmeichelt hatten, und uͤber alles Va¬
terlaͤndiſche.


Wie wenden wir andern, die wir unſchul¬
dig ſind, die Schmach ab von unſerm Haupte,
und laſſen die Schuldigen allein ſtehen? Es
giebt ein Mittel. Es werden von dem Augen¬
[444] blike an keine Schmaͤhſchriften mehr gedrukt
werden, ſobald man ſicher iſt, daß keine mehr
gekauft werden, und ſobald die Verfaſſer und
Verleger derſelben nicht mehr auf Leſer rechnen
koͤnnen, die durch Muͤßiggang, leere Neugier,
und Schwazſucht, oder durch die Schaden¬
freude, gedemuͤthigt zu ſehen, was ihnen einſt
das ſchmerzhafte Gefuͤhl der Achtung einfloͤßte,
angelokt werden. Gebe jeder, der die Schmach
fuͤhlt, eine ihm zum Leſen dargebotene Schmaͤh¬
ſchrift mit der gebuͤhrenden Verachtung zuruͤk;
thue er es, obwohl er glaubt, er ſey der einzige,
der alſo handelt, bis es Sitte unter uns wird,
daß jeder Ehrenmann alſo thut; und wir wer¬
den, ohne gewaltſame Buͤcherverbote, gar bald
dieſes ſchmachvollen Theils unſrer Literatur
erledigt werden.


Am allertiefſten endlich erniedriget es uns
vor dem Auslande, wenn wir uns darauf le¬
gen, demſelben zu ſchmeicheln. Ein Theil von
uns hat ſchon fruͤher ſich ſattſam veraͤchtlich,
laͤcherlich und ekelhaft gemacht, indem ſie den
vaterlaͤndiſchen Gewalthabern bei jeder Gele¬
genheit groben Weihrauch darbrachten, und
[445] weder Vernunft, noch Anſtand, gute Sitte und
Geſchmak, verſchonten, wo ſie glaubten, eine
Schmeichelrede anbringen zu koͤnnen. Dieſe
Sitte iſt binnen der Zeit abgekommen, und
dieſe Lobeserhebungen haben ſich zum Theil in
Scheltworte verwandelt. Wir gaben indeſſen
unſern Weihrauchwolken, gleichſam damit wir
nicht aus der Uebung kaͤmen, eine andere Rich¬
tung, nach der Seite hin, wo jezt die Gewalt
iſt. Schon das erſte, ſowohl die Schmeichelei
ſelbſt, als daß ſie nicht verbeten wurde, mußte
jeden ernſthaft denkenden Deutſchen ſchmerzen;
doch blieb die Sache unter uns. Wollen wir
jezt auch das Ausland zum Zeugen machen die¬
ſer unſrer niedrigen Sucht, ſo wie zugleich der
großen Ungeſchiklichkeit, mit welcher wir uns
derſelben entledigen, und ſo der Verachtung un¬
ſrer Niedrigkeit auch noch den laͤcherlichen An¬
blik unſrer Ungelenkigkeit hinzufuͤgen? Es fehlt
nns nemlich in dieſer Verrichtung an aller dem
Auslaͤnder eignen Feinheit; um doch ja nicht
uͤberhoͤrt zu werden, werden wir plump und
uͤbertreibend, und heben mit Vergoͤtterungen,
und Verſetzungen unter die Geſtirne gleich an.
[446] Dazu kommt, daß es bei uns das Anſehen hat,
als ob es vorzuͤglich das Schrecken und die
Furcht ſeye, die unſre Lobeserhebungen uns
auspreſſen; aber es iſt kein Gegenſtand laͤcher¬
licher, denn ein Furchtſamer, der die Schoͤnheit
und Anmuth desjenigen lobpreiſt, was er in
der That fuͤr ein Ungeheuer haͤlt, das er durch
dieſe Schmeichelei nur beſtechen will, ihn nicht
zu verſchlingen.


Oder ſind vielleicht dieſe Lobpreiſungen nicht
Schmeichelei, ſondern der wahrhafte Ausdruk
der Verehrung und Bewunderung, die ſie dem
großen Genie, das nach ihnen die Angelegen¬
heiten der Menſchen leitet, zu zollen genoͤthigt
ſind? Wie wenig kennen ſie auch hier das
Gepraͤge der wahren Groͤße! Darin iſt dieſelbe
in allen Zeitaltern und unter allen Voͤlkern ſich
gleich geweſen, daß ſie nicht eitel war, ſo wie
umgekehrt von jeher ſicherlich klein war, und
niedrig, was Eitelkeit zeigte. Der wahrhaften
auf ſich ſelber ruhenden Groͤße gefallen nicht
Bildſaͤulen von der Mitwelt errichtet, oder der
Beiname des Großen, und der ſchreiende Bei¬
fall und die Lobreiſungen der Menge; vielmehr
[447] weiſet ſie dieſe Dinge mit gebuͤhrender Verach¬
tung von ſich weg, und erwartet ihr Urtheil
uͤber ſich, zunaͤchſt von dem eignen Richter in
ihrem Innern, und das laute von der richten¬
den Nachwelt. Auch hat mit derſelben immer
der Zug ſich beiſammen gefunden, daß ſie das
dunkle, und raͤthſelhafte Verhaͤngniß ehrt, und
ſcheut, des ſtets rollenden Rades des Geſchiks
eingedenk bleibt, und ſich nicht groß oder ſeelig
preiſen laͤßt vor ihrem Ende. Alſo ſind jene
Lobredner im Widerſpruche mit ſich ſelbſt, und
machen durch die That ihrer Worte den Inhalt
derſelben zur Luͤge. Hielten ſie den Gegenſtand
ihrer vorgegebenen Verehrung wirklich fuͤr groß;
ſo wuͤrden ſie ſich beſcheiden, daß er uͤber ihren
Beifall und ihr Lob erhaben ſey, und ihn durch
ehrfurchtsvolles Stillſchweigen ehren. Indem
ſie ſich ein Geſchaͤft daraus machen, ihn zu lo¬
ben; ſo zeigen ſie dadurch, daß ſie ihn in der
That fuͤr klein und niedrig halten, und fuͤr ſo
eitel, daß ihre Lobpreiſungen ihm gefallen koͤnn¬
ten, und daß ſie dadurch irgend ein Uebel von
ſich zu wenden, oder irgend ein Gut ſich zu ver¬
ſchaffen vermoͤchten.

[448]

Jener begeiſterte Ausruf: welch' ein erhabe¬
nes Genie, welch' eine tiefe Weisheit, welch'
ein umfaſſender Plan! — was ſagt er denn
nun zulezt aus, wenn man ihn recht ins Auge
faßt? Er ſagt aus, daß das Genie ſo groß ſey,
daß auch wir es vollkommen begreifen, die
Weisheit ſo tief, daß auch wir ſie durchſchauen,
der Plan ſo umfaſſend, daß auch wir ihn voll¬
ſtaͤndig nachzubilden vermoͤgen. Er ſagt dem¬
nach aus, daß der Gelobte ohngefaͤhr von dem¬
ſelben Maaße der Groͤße ſey, wie der Lobende,
jedoch nicht ganz, indem ja der lezte den erſten
vollkommen verſteht, und uͤberſieht, und ſonach
uͤber demſelben ſteht, und, falls er ſich nur
recht anſtrengte, wohl noch etwas groͤßeres lei¬
ſten koͤnnte. Man muß eine ſehr gute Mei¬
nung von ſich ſelbſt haben, wenn man glaubt,
daß man alſo auf eine gefaͤllige Weiſe ſeinen
Hof machen koͤnne; und der Gelobte muß eine
ſehr geringe von ſich haben, wenn er ſolche
Huldigungen mit Wohlgefallen aufnimmt.


Nein, biedere, ernſte, geſezte, deutſche Maͤn¬
ner und Landsleute, fern bleibe ein ſolcher Un¬
[449] verſtand von unſerm Geiſte, und eine ſolche Be¬
ſudelung von unſrer zum Ausdrucke des Wah¬
ren, gebildeten Sprache! Ueberlaſſen wir es dem
Auslande, bei jeder neuen Erscheinung mit Erſtau¬
nen aufzujauchzen; in jedem Jahrzehende ſich ei¬
nen neuen Maaßſtab der Groͤße zu erzeugen, und
neue Goͤtter zu erſchaffen; und Gotteslaͤſterun¬
gen zu reden, um Menſchen zu preiſen. Unſer
Maaßſtab der Groͤße bleibe der alte: daß groß
ſey nur dasjenige, was der Ideen, die immer
nur Heil uͤber die Voͤlker bringen, faͤhig ſey,
und von ihnen begeiſtert; uͤber die lebenden
Menſchen aber laßt uns das Urtheil der richten¬
den Nachwelt uͤberlaſſen!


F f[450]

Anmerkung zu S. 407.


Nachdem ich eine Reihe von Wochen die Hand¬
ſchrift dieſer dreizehnten Rede, die bei meiner Cen¬
ſurbehoͤrde eingereicht war, zuruͤkerwartet hatte, er¬
halte ich endlich ſtatt derſelben das folgende Schrei¬
ben:


„Das Manuſcript der dreizehnten Rede des
„Herrn Profeſſor Fichte iſt, nachdem derſelben
„ſchon das Imprimatur ertheilt worden, durch ir¬
„gend einen Zufall verlohren gegangen, und hat
„aller Bemuͤhungen ohnerachtet nicht wieder auf¬
„gefunden werden koͤnnen.


„Um nun den Verleger ꝛc. Reimer beim Abdruck
„nicht aufzuhalten, erſuche ich des Herrn Profeſſor
„Fichte Wohlgebohrn dieſe Rede aus Ihren Hef¬
„ten zu ergaͤnzen, und mir zum Imprimatur zuzu¬
„ſchicken.



v. Scheve.“

Das, was dieſes Schreiben unter Heften verſte¬
hen mag, halte ich nicht, und was etwa bei der Aus¬
arbeitung des Textes auf Nebenblaͤttern angelegt und
vorbereitet war, wurde bei einer in dieſer Zeit vor¬
gefallenen Veraͤnderung der Wohnung den Flam¬
men uͤbergeben. Ich war darum genoͤthiget, darauf
zu beſtehen, daß die Handſchrift, die verlohren ſeyn —
[451] nicht ſollte, wieder herbeigeſchafft wuͤrde. Dieſes iſt,
wie man verſichert hat, auch durch das ſorgfaͤltig¬
ſte Nachſuchen nicht moͤglich geweſen; es iſt wenig¬
ſtens nicht geſchehen, und ich habe die Luͤke ausfuͤl¬
len muͤſſen, wie ich gekonnt.


Indem ich zu meiner eigenen Rechtfertigung ge¬
noͤthigt bin, dieſen Vorfall zur Kunde des auswaͤr¬
tigen Publikums zu bringen, bitte ich jedoch daſſelbe,
zu glauben, daß die Erſcheinungen, die man ſowohl in
dem Vorfalle ſelbſt, als in dem obenſtehenden Schrei¬
ben daruͤber, finden duͤrfte, allhier bei uns keineswe¬
ges allgemeine Sitte ſind, ſondern daß dieſer Vorfall
nur eine hoͤchſt ſeltene, und vielleicht nie alſo da ge¬
weſene Ausnahme macht, und daß ſich erwarten laͤßt,
es werden Vorkehrungen getroffen werden, damit
ein ſolcher Fall nicht wieder eintreten koͤnne.


Ff 2[452]

Vierzehnte Rede.


Beſchluß des Ganzen.

Die Reden, welche ich hierdurch beſchließe,
haben freilich ihre laute Stimme zunaͤchſt an
Sie gerichtet, aber ſie haben im Auge gehabt
die ganze deutſche Nation, und ſie haben in
ihrer Abſicht alles, was, ſo weit die deutſche
Zunge reicht, faͤhig waͤre, dieſelben zu ver¬
ſtehen, um ſich herum verſammlet, in den
Raum, in dem Sie ſichtbarlich athmen. Waͤre
es mir gelungen, in irgend eine Bruſt, die
hier unter meinem Auge geſchlagen hat, einen
Funken zu werfen, der da fortglimme, und das
Leben ergreife, ſo iſt es nicht meine Abſicht,
[453] daß dieſe allein und einſam bleiben, ſondern
ich moͤchte, uͤber den ganzen gemeinſamen Bo¬
den hinweg, aͤhnliche Geſinnungen und Ent¬
ſchluͤſſe zu ihnen ſammlen, und an die ihrigen
anknuͤpfen, ſo daß uͤber den vaterlaͤndiſchen
Boden hinweg, bis an deſſen ferneſte Graͤnzen,
aus dieſem Mittelpunkte heraus, eine einzige
fortfließende und zuſammenhaͤngende Flamme
vaterlaͤndiſcher Denkart ſich verbreite und ent¬
zuͤnde. Nicht zum Zeitvertreibe muͤßiger Oh¬
ren und Augen haben ſie ſich dieſem Zeitalter
beſtimmt, ſondern ich will endlich einmal wiſ¬
ſen, und jeder Gleichgeſinnte ſoll es mit mir
wiſſen, ob auch außer uns etwas iſt, daß unſe¬
rer Denkart verwandt iſt. Jeder Deutſche,
der noch glaubt, Glied einer Nation zu ſeyn,
der groß und edel von ihr denkt, auf ſie
hofft, fuͤr ſie wagt, duldet und traͤgt, ſoll
endlich herausgeriſſen werden aus der Unſicher¬
heit ſeines Glaubens; er ſoll klar ſehen, ob er
recht habe, oder nur ein Thor und Schwaͤr¬
mer ſey, er ſoll von nun an, entweder mit
ſicherem und freudigen Bewußtſeyn ſeinen Weg
fortſetzen, oder mit ruͤſtiger Entſchloſſenheit
[454] Verzicht thun auf ein Vaterland hienieden,
und ſich allein mit dem himmliſchen troͤſten.
Ihnen, nicht als dieſen und dieſen Perſonen
in unſerm taͤglichen und beſchraͤnkten Leben,
ſondern als Stellvertretern der Nation, und
hindurch durch Ihre Gehoͤrswerkzeuge, der gan¬
zen Nation, rufen dieſe Reden alſo zu:


Es ſind Jahrhunderte herabgeſunken, ſeit¬
dem ihr nicht alſo zuſammen berufen worden
ſeyd, wie heute; in ſolcher Anzahl; in einer
ſo großen, ſo dringenden, ſo gemeinſchaftli¬
chen Angelegenheit; ſo durchaus als Nation,
und Deutſche. Auch wird es euch niemals
wiederum alſo geboten werden. Merket ihr
jetzo nicht auf, und gehet in euch, laſſet ihr
auch dieſe Reden wieder als einen leeren Kuͤtzel
der Ohren, oder als ein wunderliches Unge¬
thuͤm an euch voruͤber gehen, ſo wird kein
Menſch mehr auf euch rechnen. Endlich ein¬
mal hoͤret, endlich einmal beſinnt euch. Geht
nur dieſes mal nicht von der Stelle, ohne ei¬
nen feſten Entſchluß gefaßt zu haben; und jed¬
weder, der dieſe Stimme vernimmt, faſſe die¬
ſen Entſchluß bei ſich ſelbſt, und fuͤr ſich ſelbſt,
[455] gleich als ob er allein da ſey, und alles allein
thun muͤſſe. Wenn recht viele einzelne ſo
denken, ſo wird bald ein großes Ganzes da¬
ſtehen, das in eine einige eng verbundene
Kraft zuſammenfließe. Wenn dagegen jedwe¬
der, ſich ſelbſt ausſchließend, auf die uͤbrigen
hofft, und den andern die Sache uͤberlaͤßt;
ſo giebt es gar keine anderen, und alle zuſam¬
men bleiben, ſo wie ſie vorher waren. — Faſ¬
ſet ihn auf der Stelle, dieſen Entſchluß. Sa¬
get nicht, laß uns noch ein wenig ruhen, noch
ein wenig ſchlafen und traͤumen, bis etwa die
Beſſerung von ſelber komme. Sie wird nie¬
mals von ſelbſt kommen. Wer, nachdem er
einmal das Geſtern verſaͤumt hat, das noch
bequemer geweſen waͤre zur Beſinnung, ſelbſt
heute noch nicht wollen kann, der wird es
morgen noch weniger koͤnnen. Jeder Verzug
macht uns nur noch traͤger, und wiegt uns nur
noch tiefer ein in die freundliche Gewoͤhnung
an unſern elenden Zuſtand. Auch koͤnnen die
aͤußern Antriebe zur Beſinnung niemals ſtaͤr¬
ker und dringender werden. Wen dieſe Ge¬
genwart nicht aufregt, der hat ſicher alles Ge¬
[456] fuͤhl verloren. — Ihr ſeyd zuſammen beru¬
fen, einen lezten und feſten Entſchluß, und
Beſchluß, zu faſſen; keinesweges etwa zu ei¬
nem Befehle, einem Auftrage, einer Anmu¬
thung, an Andere, ſondern zu einer Anmuthung
an euch ſelber. Eine Entſchließung ſollt ihr
faſſen, die jedweder nur durch ſich ſelbſt und
in ſeiner eignen Perſon ausfuͤhren kann Es
reicht hiebei nicht hin jenes muͤßige Vorſatz¬
nehmen, jenes Wollen, irgend einmal zu wol¬
len, jenes traͤge Sichbeſcheiden, daß man ſich
darein ergeben wolle, wenn man etwa einmal
von ſelber beſſer wuͤrde; ſondern es wird von
euch gefordert ein ſolcher Entſchluß, der zu¬
gleich unmittelbar Leben ſey, und inwendige
That, und der da ohne Wanken oder Erkaͤl¬
tung fortdaure und fortwalte, bis er am Ziele
ſey.


Oder iſt vielleicht in euch die Wurzel, aus
der ein ſolcher in das Leben eingreifender Ent¬
ſchluß allein hervorwachſen kann, voͤllig aus¬
gerottet und verſchwunden? Iſt wirklich und
in der That euer ganzes Weſen verduͤnnet, und
zerfloſſen zu einem hohlen Schatten, ohne
[457] Saft und Blut, und eigene Bewegkraft; und
zu einem Traume, in welchem zwar bunte
Geſichter ſich erzeugen, und geſchaͤftig einander
durchkreuzen, der Leib aber todtaͤhnlich und
erſtarrt daliegen bleibt? Es iſt dem Zeitalter
ſeit langem unter die Augen geſagt, und in
jeder Einkleidung ihm wiederholt worden, daß
man ohngefaͤhr alſo von ihm denke. Seine
Wortfuͤhrer haben geglaubt, daß man dadurch
nur ſchmaͤhen wolle, und haben ſich fuͤr aufge¬
fordert gehalten, auch von ihrer Seite wieder¬
um zuruͤck zu ſchmaͤhen, wodurch die Sache
wieder in ihre natuͤrliche Ordnung komme.
Im uͤbrigen hat nicht die mindeſte Aenderung
oder Beſſerung ſich ſpuͤren laſſen. Habt ihr es
vernommen, iſt es faͤhig geweſen, euch zu
entruͤſten; nun, ſo ſtrafet doch diejenigen, die
ſo von euch denken und reden, geradezu durch
eure That der Luͤge: zeiget euch anders vor
aller Welt Augen, und jene ſind vor aller Welt
Augen der Unwahrheit uͤberwieſen. Vielleicht,
daß ſie gerade in der Abſicht, von euch alſo
widerlegt zu werden, und weil ſie an jedem
andern Mittel, euch aufzuregen, verzweifelten,
[458] alſo hart von euch geredet haben. Wie viel
beſſer haͤtten ſie es ſodann mit euch gemeint,
als diejenigen, die euch ſchmeicheln, damit ihr
erhalten werdet in der traͤgen Ruhe, und in
der nichts achtenden Gedankenloſigkeit!


So ſchwach und ſo kraftlos ihr auch immer
ſeyn moͤget, man hat in dieſer Zeit euch die
klare und ruhige Beſinnung ſo leicht gemacht,
als ſie vorher niemals war. Das, was eigent¬
lich in die Verworrenheit uͤber unſre Lage, in
unſre Gedankenloſigkeit, in unſer blindes
Gehenlaſſen, uns ſtuͤrzte, wir die ſuͤße Selbſt¬
zufriedenheit mit uns, und unſrer Weiſe da zu
ſeyn. Es war bisher gegangen, und ging
eben ſo fort; wer uns zum Nachdenken auffor¬
derte, dem zeigten wir, ſtatt einer andern
Widerlegung, triumphirend unſer Daſeyn und
Fortbeſtehen, das ſich ohne alles unſer Nach¬
denken ergab. Es ging aber nur darum, weil
wir nicht auf die Probe geſtellt wurden. Wir
ſind ſeitdem durch ſie hindurch gegangen. Seit
dieſer Zeit ſollten doch wohl die Taͤuſchungen,
die Blendwerke, der falſche Troſt, durch die
wir alle uns gegenſeitig verwirrten, zuſam¬
[459] men geſtuͤrzt ſeyn? — Die angebornen Vor¬
urtheile, welche, ohne von hier oder da aus¬
zugehen, wie ein natuͤrlicher Nebel uͤber alle
ſich verbreiteten, und alle in dieſelbe Daͤmme¬
rung einhuͤllen, ſollten doch wohl nun ver¬
ſchwunden ſeyn? Jene Daͤmmerung haͤlt nicht
mehr unſre Augen; ſie kann uns aber auch
nicht ferner zur Entſchuldigung dienen. Jezt
ſtehen wir da, rein, leer, ausgezogen von
allen fremden Huͤllen und Umhaͤngen, bloß als
das, was wir ſelbſt ſind. Jezt muß es ſich
zeigen, was dieſes Selbſt iſt, oder nicht iſt.


Es duͤrfte Jemand unter euch hervortreten,
und mich fragen: was giebt gerade Dir, dem
einzigen unter allen deutſchen Maͤnnern und
Schriftſtellern, den beſondern Auftrag, Beruf,
und das Vorrecht, uns zu verſammeln und
auf uns einzudringen? haͤtte nicht jeder unter
den tauſenden der Schriftſteller Deutſchlands,
eben daſſelbe Recht dazu, wie du; von denen
keiner es thut, ſondern du allein dich hervor¬
draͤngſt? Ich antworte, daß allerdings jeder
daſſelbe Recht gehabt haͤtte, wie ich, und daß
ich gerade darum es thue, weil keiner unter ih¬
[460] nen es vor mir gethan hat; und daß ich ſchwei¬
gen wuͤrde, wenn ein anderer es fruͤher gethan
haͤtte. Dies war der erſte Schritt zu dem Ziele
einer durchgreifenden Verbeſſerung; irgend ei¬
ner mußte ihn thun. Ich war der, der es zu¬
erſt lebendig einſah; darum wurde ich der, der
es zuerſt that. Es wird nach dieſem irgend
ein anderer Schritt der zweite ſeyn; dieſen zu
thun haben jezt alle daſſelbe Recht; wirklich
thun aber wird ihn abermals nur ein einzelner.
Einer muß immer der erſte ſeyn, und wer es
ſeyn kann, der ſey es eben!


Ohne Sorge uͤber dieſen Umſtand verweilet
ein wenig mit eurem Blicke bei der Betrach¬
tung, auf die wir ſchon fruͤher euch gefuͤhrt
haben, in welchem beneidenswuͤrdigen Zu¬
ſtande Deutſchland ſeyn wuͤrde, und in wel¬
chem die Welt, wenn das erſtere das Gluͤck
ſeiner Lage zu benutzen, und ſeinen Vortheil
zu erkennen gewußt haͤtte. Heftet darauf euer
Auge auf das, was beide nunmehro ſind; und
laſſet euch durchdringen von dem Schmerz und
dem Unwillen, der jeden Edlen hiebei erfaſſen
muß. Kehret dann zuruͤck zu euch ſelbſt, und
[461] ſehet, daß Ihr es ſeyd, die die Zeit von den
Irrthuͤmern der Vorwelt losſprechen, von de¬
ren Augen ſie den Nebel hinweg nehmen will,
wenn ihr es zulaßt; daß es Euch verliehen iſt,
wie keinem Geſchlechte vor Euch, das Geſche¬
hene ungeſchehen zu machen, und den nicht
ehrenvollen Zwiſchenraum auszutilgen aus
dem Geſchichtsbuche der Deutſchen.


Laſſet vor euch voruͤbergehen die verſchie¬
denen Zuſtaͤnde, zwiſchen denen ihr eine Wahl
zu treffen habt. Gehet ihr ferner ſo hin in
eurer Dumpfheit und Achtloſigkeit, ſo erwar¬
ten euch zunaͤchſt alle Uebel der Knechtſchaft,
Entbehrungen, Demuͤthigungen, der Hohn
und Uebermuth des Ueberwinders; ihr werdet
herumgeſtoßen werden in allen Winkeln, weil
ihr allenthalben nicht recht, und im Wege ſeyd,
ſo lange, bis ihr, durch Aufopferung eurer
Nationalitaͤt und Sprache, euch irgend ein un¬
tergeordnetes Plaͤtzchen erkauft, und bis auf
dieſe Weiſe allmaͤhlich euer Volk ausloͤſcht.
Wenn ihr euch dagegen ermannt zum Aufmer¬
ken, ſo findet ihr zufoͤrderſt eine ertraͤgliche
und ehrenvolle Fortdauer, und ſehet noch, un¬
[462] ter euch, und um euch herum, ein Geſchlecht
aufbluͤhen, das euch und den Deutſchen das
ruͤhmlichſte Andenken verſpricht. Ihr ſehet
im Geiſte durch dieſes Geſchlecht den deutſchen
Namen zum glorreichſten unter allen Voͤlkern
erheben, ihr ſehet dieſe Nation als Wieder¬
gebaͤhrerin und Wiederherſtellerin der Welt.


Es haͤngt von euch ab, ob ihr das Ende
ſeyn wollt, und die lezten, eines nicht achtungs¬
wuͤrdigen, und bei der Nachwelt gewiß ſogar
uͤber die Gebuͤhr verachteten Geſchlechtes, bei
deſſen Geſchichte die Nachkommen, falls es
naͤmlich in der Barbarei, die da beginnen wird,
zu einer Geſchichte kommen kann, ſich freuen
werden, wenn es mit ihnen zu Ende iſt, und
das Schickſal preiſen werden, daß es gerecht
ſey; oder, ob ihr der Anfang ſeyn wollt, und
der Entwiklungspunkt einer neuen, uͤber alle
eure Vorſtellungen herrlichen Zeit, und dieje¬
nigen, von denen an die Nachkommenſchaft die
Jahre ihres Heils zaͤhle. Bedenket, daß ihr
die lezten ſeyd, in deren Gewalt dieſe große
Veraͤnderung ſieht. Ihr habt doch noch die
Deutſchen als Eins nennen hoͤren, ihr habt
[463] ein ſichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich,
und einen Reichsverband, geſehen, oder da¬
von vernommen, unter euch haben noch von
Zeit zu Zeit Stimmen ſich hoͤren laſſen, die
von dieſer hoͤhern Vaterlandsliebe begeiſtert
waren. Was nach euch kommt, wird ſich an
andere Vorſtellungen gewoͤhnen, es wird
fremde Formen, und einen andern Geſchaͤfts-
und Lebensgang, annehmen; und wie lange
wird es noch dauern, daß keiner mehr lebe,
der Deutſche geſehen, oder von ihnen gehoͤrt
habe?


Was von euch gefordert wird, iſt nicht
viel. Ihr ſollt es nur uͤber euch erhalten,
euch auf kurze Zeit zuſammen zu nehmen, und
zu denken, uͤber das, was euch unmittelbar
und offenbar vor den Augen liegt. Daruͤber
nur ſollt ihr euch eine feſte Meinung bilden,
derſelben treu bleiben, und ſie in eurer naͤch¬
ſten Umgebung auch aͤußern und ausſprechen.
Es iſt die Vorausſetzung, es iſt unſre ſichere
Ueberzeugung, daß der Erfolg dieſes Denkens
bei euch allen auf die gleiche Weiſe ausfallen wer¬
de; und daß, wenn ihr nur wirklich denket, und
[464] nicht hingeht in der bisherigen Achtloſigkeit, ihr
uͤbereinſtimmend denken werdet, daß, wenn ihr
nur uͤberhaupt Geiſt euch anſchaffet, und nicht
in dem bloßen Pflanzenleben verharren bleibt,
die Einmuͤthigkeit, und Eintracht des Geiſtes,
von ſelbſt kommen werde. Iſt es aber einmal
dazu gekommen, ſo wird alles uͤbrige, was uns
noͤthig iſt, ſich von ſelbſt ergeben.


Dieſes Denken aber wird denn auch in der
That gefordert, von jedem unter euch, der da
noch denken kann, uͤber etwas, offen vor ſeinen
Augen liegendes, in ſeiner eignen Perſon. Ihr
habt Zeit dazu; der Augenblick will euch nicht
uͤbertaͤuben, und uͤberraſchen; die Akten der
mit euch gepflogenen Unterhandlungen bleiben
unter euren Augen liegen. Legt ſie nicht aus
den Haͤnden, bis ihr einig geworden ſeyd mit
euch ſelbſt. Laſſet, o laſſet euch ja nicht laͤſ¬
ſig machen durch das Verlaſſen auf andere,
oder auf irgend etwas, das außerhalb eurer
ſelbſt liegt; noch durch die unverſtaͤndige Weis¬
heit der Zeit, daß die Zeitalter ſich ſelbſt ma¬
chen, ohne alles menſchliche Zuthun, vermit¬
telſt irgend einer unbekannten Kraft. Dieſe
Reden[465] Reden ſind nicht muͤde geworden, euch einzu¬
ſchaͤrfen, daß euch durchaus nichts helfen kann,
denn ihr euch ſelber, und ſie finden noͤthig, es
bis auf den lezten Augenblik zu wiederholen.
Wohl moͤgen Regen, und Than, und unfrucht¬
bare oder fruchtbare Jahre, gemacht werden,
durch eine uns unbekannte, und nicht unter
unſrer Gewalt ſtehende Macht; aber die ganz
eigenthuͤmliche Zeit der Menſchen, die menſch¬
lichen Verhaͤltniſſe, machen nur die Menſchen
ſich ſelber, und ſchlechthin keine außer ihnen
befindliche Macht. Nur wenn ſie alle insge¬
ſammt gleich blind und unwiſſend ſind, fallen
ſie dieſer verborgenen Macht anheim: aber es
ſteht bei ihnen, nicht blind und unwiſſend zu
ſeyn. Zwar in welchem hoͤhern oder niedern
Grade es uns uͤbel gehen wird, dies mag
abhaͤngen theils von jener unbekannten Macht,
ganz beſonders aber von dem Verſtande, und
dem guten Willen derer, denen wir unterwor¬
fen ſind. Ob aber jemals es uns wieder wohl
gehen ſoll, dies haͤngt ganz allein von uns ab,
und es wird ſicherlich nie wieder irgend ein
Wohlſeyn an uns kommen, wenn wir nicht
G g[466] ſelbſt es uns verſchaffen: und insbeſondre,
wenn nicht jeder Einzelne unter uns in ſeiner
Weiſe thut und wirket, als ob er allein ſey,
und als ob lediglich auf ihm das Heil der kuͤnf¬
tigen Geſchlechter beruhe.


Dies iſts, was ihr zu thun habt; dies ohne
Saͤumen zu thun, beſchwoͤren euch dieſe Reden.


Sie beſchwoͤren euch Juͤnglinge. Ich, der
ich ſchon ſeit geraumer Zeit aufgehoͤrt habe, zu
euch zu gehoͤren, halte dafuͤr, und habe es
auch in dieſen Reden ausgeſprochen, daß ihr
noch faͤhiger ſeyd eines jeglichen uͤber das ge¬
meine hinausliegenden Gedankens, und erreg¬
barer fuͤr jedes gute, und tuͤchtige, weil euer
Alter noch naͤher liegt den Jahren der kindli¬
chen Unſchuld, und der Natur. Ganz anders
ſieht dieſen Grundzug an euch an die Mehrheit
der aͤltern Welt. Dieſe klaget euch an der
Anmaßung, des vorſchnellen, vermeſſenen, und
eure Kraͤfte uͤberfliegenden Urtheils, der Recht¬
haberei, der Neuerungsſucht. Jedoch laͤchelt
ſie nur gutmuͤthig dieſer eurer Fehler. Alles
dieſes, meint ſie, ſey begruͤndet lediglich durch
[467] euren Mangel an Kenntniß der Welt, d. h. des
allgemeinen menſchlichen Verderbens, denn fuͤr
etwas anders an der Welt haben ſie nicht Au¬
gen. Jezt nur, weil ihr gleichgeſinnte Gehuͤl¬
fen zu finden hoſtet, und den grimmigen und
hartnaͤckigen Widerſtand, den man euren Ent¬
wuͤrfen des Beſſern entgegen ſetzen werde, nicht
kenntet, haͤttet ihr Muth. Wenn nur das
jugendliche Feuer eurer Einbildungskraft ein¬
mal verflogen ſeyn werde, wenn ihr nur die
allgemeine Selbſtſucht, Traͤgheit und Arbeits¬
ſcheu, wahrnehmen wuͤrdet, wenn ihr nur die
Suͤßigkeit des Fortgehens in dem gewohnten
Geleiſe ſelbſt einmal recht wuͤrdet geſchmeckt
haben, ſo werde euch die Luſt, beſſer und kluͤ¬
ger ſeyn zu wollen, denn die andern alle, ſchon
vergehen. Sie greifen dieſe gute Hofnung
von euch nicht etwa aus der Luft; ſie haben
dieſelbe an ihrer eigenen Perſon beſtaͤtigt gefun¬
den. Sie muͤſſen bekennen, daß ſie in den
Tagen ihrer unverſtaͤndigen Jugend eben ſo
von Weltverbeſſerung getraͤumet haben, wie
ihr jetzt; dennoch ſeyen ſie bei zunehmender
Reife ſo zahm, und ruhig geworden, wie ihr
G g 2[468] ſie jezo ſaͤhet. Ich glaube ihnen; ich habe
ſelbſt ſchon in meiner nicht ſehr langwierigen
Erfahrung erlebt, daß Juͤnglinge, die erſt an¬
dere Hofnung erregten, dennoch ſpaͤterhin jenen
wohlmeinenden Erwartungen dieſes reifen
Alters vollkommen entſprachen. Thut dies
nicht laͤnger, Juͤnglinge, denn wie koͤnnte ſonſt
jemals ein beſſeres Geſchlecht beginnen? Der
Schmelz der Jugend zwar wird von euch ab¬
fallen, und die Flamme eurer Einbildungskraft
wird aufhoͤren, ſich aus ſich ſelber zu ernaͤhren;
aber faſſet dieſe Flamme, und verdichtet ſie
durch klares Denken, macht euch zu eigen die
Kunſt dieſes Denkens, und ihr werdet die
ſchoͤnſte Ausſtattung des Menſchen, den Cha¬
rakter, noch zur Zugabe bekommen. An jenem
klaren Denken erhaltet ihr die Quelle der ewi¬
gen Jugendbluͤthe; wie auch euer Koͤrper al¬
tere, oder eure Knie wanken, euer Geiſt wird
in ſtets erneuerter Friſchheit ſich wiedergebaͤh¬
ren, und euer Charakter feſt ſtehen, und ohne
Wandel. Ergreift ſogleich die ſich hier euch dar¬
bietende Gelegenheit; denkt klar, uͤber den
euch zur Berathung vorgelegten Gegenſtand;
[469] die Klarheit, die in Einem Punkte fuͤr euch an¬
gebrochen iſt, wird ſich allmaͤhlig auch uͤber alle
uͤbrige verbreiten.


Dieſe Reden beſchwoͤren euch Alte. So
wie ihr eben gehoͤrt habt, denkt man von euch,
und ſagt es euch unter die Augen; und der
Redner ſezt in ſeiner eignen Perſon freimuͤthig
hinzu, daß, die freilich auch nicht ſelten vor¬
kommenden, und um ſo verehrungswuͤrdigern
Ausnahmen abgerechnet, in Abſicht der großen
Mehrheit unter euch man vollkommen recht
hat. Gehe man durch die Geſchichte der lez¬
ten zwei oder drei Jahrzehende; alles außer
ihr ſelbſt ſtimmt uͤberein, ſogar ihr ſelbſt, jeder
in dem Fache, das ihn nicht unmittelbar trift,
ſtimmt mit uͤberein, daß, immer die Ausnah¬
men abgerechnet, und nur auf die Mehrheit
geſehen, in allen Zweigen, in der Wiſſenſchaft,
ſo wie in den Geſchaͤften des Lebens, die groͤ¬
ßere Untauglichkeit und Selbſtſucht ſich bei
dem hoͤheren Alter gefunden habe. Die ganze
Mitwelt hat es mit angeſehen, daß jeder, der
das beſſere und vollkommnere wollte, außer
dem Kampfe mit ſeiner eigenen Unklarheit, und
[470] den uͤbrigen Umgebungen, noch den ſchwerſten
Kampf mit euch zu fuͤhren hatte; daß ihr des
feſten Vorſatzes waret, es muͤſſe nichts auf¬
kommen, was ihr nicht eben ſo gemacht und
gewußt haͤttet; daß ihr jede Regung des Den¬
kens fuͤr eine Beſchimpfung eures Verſtandes
anſahet; und daß ihr keine Kraft ungebraucht
ließet, um in dieſer Bekaͤmpfung des Beſſeren
zu ſiegen, wie ihr denn gewoͤhnlich auch wirk¬
lich ſiegtet. So waret ihr die aufhaltende
Kraft aller Verbeſſerungen, welche die guͤtige
Natur aus ihrem ſtets jugendlichen Schooße
uns darbot, ſo lange, bis ihr verſammelt wur¬
det zu dem Staube, der ihr ſchon vorher waret,
und das folgende Geſchlecht, im Kriege mit
euch, euch gleich geworden war, und eure
bisherige Verrichtung uͤbernahm. Ihr duͤrft
nur auch jezt handeln, wie ihr bisher bei allen
Antraͤgen zur Verbeſſerung gehandelt habt,
ihr duͤrft nur wiederum eure eitle Ehre, daß
zwiſchen Himmel und Erde nichts ſeyn ſolle,
das ihr nicht ſchon erforſcht haͤttet, dem ge¬
meinſamen Wohle vorziehen, ſo ſeyd ihr durch
dieſen lezten Kampf alles fernern Kaͤmpfens
[471] uͤberhoben, es wird keine Verbeſſerung erfol¬
gen, ſondern Verſchlimmerung auf Verſchlim¬
merung, ſo daß ihr noch manche Freude erle¬
ben koͤnnt.


Man wolle nicht glauben, daß ich das Al¬
ter als Alter verachte, und herabſetze. Wird
nur durch Freiheit die Quelle des urſpruͤngli¬
chen Lebens und ſeiner Fortbewegung aufge¬
nommen in das Leben, ſo waͤchſt die Klarheit,
und mit ihr die Kraft, ſo lange das Leben dau¬
ert. Ein ſolches Leben lebt ſich beſſer, die
Schlacken der irdiſchen Abkunft fallen immer
mehr ab, und es veredelt ſich herauf zum ewi¬
gen Leben, und bluͤht ihm entgegen. Die Er¬
fahrung eines ſolchen Alters ſoͤhnt nicht aus
mit dem Boͤſen, ſondern ſie macht nur die
Mittel klarer, und die Kunſt gewandter, um
daſſelbe ſiegreich zu bekaͤmpfen. Die Ver¬
ſchlimmerung durch zunehmendes Alter iſt le¬
diglich die Schuld unſrer Zeit, und allenthal¬
ben, wo die Geſellſchaft ſehr verdorben iſt,
muß daſſelbe erfolgen. Nicht die Natur iſt
es, die uns verdirbt, dieſe erzeugt uns
in Unſchuld, die Geſellſchaft iſts. Wer nun
[472] der Einwirkung derſelben einmal ſich uͤber¬
giebt, der muß natuͤrlich immer ſchlechter
werden, je laͤnger er dieſem Einfluſſe ausge¬
ſetzt iſt. Es waͤre der Muͤhe werth, die Ge¬
ſchichte anderer ſehr verdorbener Zeitalter in
dieſer Ruͤckſicht zu unterſuchen, und zu ſehen
ob nicht z. B. auch unter der Regierung der
roͤmiſchen Imperatoren, das, was einmal
ſchlecht war, mit zunehmendem Alter immer
ſchlechter geworden.


Euch Alte ſonach und Erfahrne, die ihr
die Ausnahme macht, euch zufoͤrderſt beſchwoͤ¬
ren dieſe Reden, beſtaͤtigt, beſtaͤrkt, berathet
in dieſer Angelegenheit die juͤngere Welt, die
ehrfurchtsvoll ihre Blicke nach euch richtet.
Euch andere aber, die ihr in der Regel ſeyd,
beſchwoͤren ſie: helfen ſollt ihr nicht, ſtoͤret
nur dieſes einzigemal nicht, ſtellt euch nicht
wieder, wie bisher immer, in den Weg mit
eurer Weisheit und euren tauſend Bedenklich¬
keiten. Dieſe Sache, ſo wie jede vernuͤnftige
Sache in der Welt, iſt nicht tauſendfach, ſon¬
dern einfach, welches auch unter die tauſend
Dinge gehoͤrt, die ihr nicht wißt. Wenn eure
[473] Weisheit retten koͤnnte, ſo wuͤrde ſie uns ja
fruͤher gerettet haben, denn ihr ſeyd es ja, die
uns bisher berathen haben. Dies iſt nun,
ſo wie alles andere, vergeben, und ſoll euch
nicht weiter vorgeruͤckt werden. Lernt nur
endlich einmal euch ſelbſt erkennen, und ſchwei¬
get.


Dieſe Reden beſchwoͤren euch Geſchaͤfts¬
maͤnner. Mit wenigen Ausnahmen waret
ihr bisher dem abgezogenen Denken und aller
Wiſſenſchaft, die fuͤr ſich ſelbſt etwas zu ſeyn
begehrte, von Herzen feind, obwohl ihr euch die
Miene gabet, als ob ihr dieſes alles nur vor¬
nehm verachtetet; ihr hieltet die Maͤnner, die
dergleichen trieben, und ihre Vorſchlaͤge, ſo weit
von euch weg, als ihr irgend konntet; und der
Vorwurf des Wahnſinnes, oder der Rath,
ſie ins Tollhaus zu ſchiken, war der Dank,
auf den ſie bei euch am gewoͤhnlichſten rechnen
konnten. Dieſe hinwiederum getrauten ſich
zwar nicht uͤber euch mit derſelben Freimuͤ¬
thigkeit ſich zu aͤuſſern, weil ſie von euch ab¬
hingen, aber ihres innern Herzens wahrhafte
Meinung war die, daß ihr mit wenigen Aus¬
[474] nahmen ſeichte Schwaͤzer ſeyet und aufgebla¬
ſene Prahler, Halbgelehrte, die durch die
Schule nur hindurch gelaufen, blinde Zutap¬
per, und Fortſchleicher im alten Geleiſe, und
die ſonſt nichts wollten oder koͤnnten. Straft
ſie durch die That der Luͤge, und ergreifet
hierzu die jetzt euch dargebotene Gelegenheit;
legt ab jene Verachtung fuͤr gruͤndliches Den¬
ken und Wiſſenſchaft, laßt euch bedeuten, und
hoͤret und lernet, was ihr nicht wißt; außer¬
dem behalten eure Anklaͤger Recht.


Dieſe Reden beſchwoͤren euch Denker, Ge¬
lehrte, Schriftſteller, die ihr dieſes Namens
noch werth ſeyd. Jener Tadel der Geſchaͤfts¬
maͤnner an euch war in gewiſſem Sinne nicht
ungerecht. Ihr ginget oft zu unbeſorgt im
Gebiete des bloßen Denkens fort, ohne euch
um die wirkliche Welt zu bekuͤmmern, und
nachzuſehen, wie jenes an dieſe angeknuͤpft
werden koͤnne; ihr beſchriebet euch eure eigene
Welt, und ließet die wirkliche zu verachtet und
verſchmaͤhet auf der Seite liegen. Zwar muß
alle Anordnung und Geſtaltung des wirklichen
Lebens ausgehen vom hoͤheren ordnenden Be¬
[475] griffe, und das Fortgehen im gewohnten Geleiſe
thuts ihm nicht; dies iſt eine ewige Wahrheit,
und druͤckt in Gottes Namen mit unverhohl¬
ner Verachtung jeglichen nieder, der es wagt,
ſich mit den Geſchaͤften zu befaſſen, ohne die¬
ſes zu wiſſen. Zwiſchen dem Begriffe jedoch,
und der Einfuͤhrung deſſelben in jedwedes be¬
ſondere Leben, liegt eine große Kluft. Dieſe
Kluft auszufuͤllen iſt ſowohl das Werk des
Geſchaͤftsmanns, der freilich ſchon vorher ſo
viel gelernt haben ſoll, um euch zu verſtehen,
als auch das eurige, die ihr uͤber der Gedan¬
kenwelt das Leben nicht vergeſſen ſollt. Hier
treft ihr beide zuſammen. Statt uͤber die
Kluft hinuͤber einander ſcheel anzuſehen, und
herabzuwuͤrdigen, beeifere ſich vielmehr jeder
Theil von ſeiner Seite dieſelbe auszufuͤllen,
und ſo den Weg zur Vereinigung zu bahnen.
Begreift es doch endlich, daß ihr Beide unter¬
einander euch alſo nothwendig ſeyd, wie Kopf
und Arm ſich nothwendig ſind.


Dieſe Reden beſchwoͤren noch in andern
Ruͤckſichten euch Denker, Gelehrte, Schrift¬
ſteller, die ihr dieſes Namens noch werth ſeyd.
[476] Eure Klagen uͤber die allgemeine Seichtigkeit,
Gedankenloſigkeit, und Verfloſſenheit, uͤber den
Klugduͤnkel, und das unverſiegbare Geſchwaͤz,
uͤber die Verachtung des Ernſtes und der
Gruͤndlichkeit in allen Staͤnden moͤgen wahr
ſeyn, wie ſie es denn ſind. Aber welcher
Stand iſt es denn, der dieſe Staͤnde insge¬
ſammt erzogen hat, der ihnen alles wiſſen¬
ſchaftliche in ein Spiel verwandelt, und
von der fruͤhſten Jugend an zu jenem Klug¬
duͤnkel und jenem Geſchwaͤze ſie angefuͤhrt
hat? Wer iſt es denn, der auch die der
Schule entwachſenen Geſchlechter noch immer¬
fort erzieht? Der in die Augen fallendſte
Grund der Dumpfheit des Zeitalters iſt der,
daß es ſich dumpf geleſen hat, an den Schrif¬
ten, die ihr geſchrieben habt. Warum laßt ihr
dennoch immerforr euch ſo angelegen ſeyn,
dieſes muͤßige Volk zu unterhalten, ohnerach¬
tet ihr wißt, daß es nichts gelernt hat, und
nichts lernen will; nennt es Publikum, ſchmei¬
chelt ihm als eurem Richter, hezt es auf gegen
eure Mitbewerber, und ſucht dieſen blinden
und verworrnen Haufen durch jedes Mittel
[477] auf eure Seite zu bringen; gebt endlich ſelbſt
in euren Recenſier Anſtalten [und] Journalen
ihm ſo Stoff wie Beiſpiel ſeiner vorſchnellen
Urtheilerei, indem ihr da eben ſo ohne Zuſam¬
menhang, und ſo aus freier Hand in den Tag
hinein urtheilt, meiſt eben ſo abgeſchmackt,
wie es auch der lezte eurer Leſer koͤnnte?
Denkt ihr nicht alle ſo, giebt es unter euch
noch beſſer geſinnte, warum vereinigen ſich
denn nicht dieſe beſſergeſinnten, um dem Un¬
heile ein Ende zu machen? Was ins beſon¬
dere jene Geſchaͤftsmaͤnner anbelangt; dieſe
ſind bei euch durch die Schule gelaufen, ihr
ſagt es ſelbſt. Warum habt ihr denn dieſen
ihren Durchgang nicht wenigſtens dazu be¬
nuzt, um ihnen einige ſtumme Achtung fuͤr die
Wiſſenſchaften einzufloͤßen, und beſonders
dem hochgebornen Juͤnglinge den Eigenduͤnkel
bei Zeiten zu brechen, und ihm zu zeigen,
daß Stand und Geburt, in Sachen des Den¬
kens, nichts foͤrdert? Habt ihr ihm vielleicht
ſchon damals geſchmeichelt, und ihn ungebuͤhr¬
lich hervorgehoben, ſo traget nun, was ihr
ſelbſt veranlaßt habt!

[478]

Sie wollen euch entſchuldigen, dieſe Reden,
mit der Vorausſetzung, daß ihr die Wichtig¬
keit eures Geſchaͤfts nicht begriffen haͤttet; ſie
beſchwoͤren euch, daß ihr euch von Stund an
bekannt macht mit dieſer Wichtigkeit, und es
nicht laͤnger, als ein bloßes Gewerbe treibt.
Lernt euch ſelbſt achten, und zeigt in eurem
Handeln, daß ihr es thut, und die Welt wird
euch achten. Die erſte Probe davon werdet
ihr ablegen durch den Einfluß, den ihr auf
die angetragene Entſchließung euch geben, und
durch die Weiſe, wie ihr euch dabei benehmen
werdet.


Dieſe Reden beſchwoͤren euch Fuͤrſten Deutſch¬
lands. Diejenigen, die euch gegenuͤber ſo thun,
als ob man euch gar nichts ſagen duͤrfte, oder zu
ſagen haͤtte, ſind veraͤchtliche Schmeichler, ſie
ſind arge Verlaͤumder eurer ſelbſt; weiſet ſie
weit weg von euch. Die Wahrheit iſt, daß
ihr eben ſo unwiſſend geboren werdet, als wir
andern alle, und daß ihr hoͤren muͤßt, und
lernen, gleichwie auch wir, wenn ihr heraus¬
kommen ſollt aus dieſer natuͤrlichen Unwiſſen¬
heit. Euer Antheil an der Herbeifuͤhrung des
[479] Schikſals, das euch zugleich mit euren Voͤl¬
kern betroffen hat, iſt hier auf die mildeſte,
und wie wir glauben, auf die allein gerechte,
und billige Weiſe, dargelegt worden, und ihr
koͤnnt euch, falls ihr nicht etwa nur Schmei¬
chelei, niemals aber Wahrheit hoͤren wollt,
uͤber dieſe Reden nicht beklagen. Dies alles
ſey vergeſſen, ſo wie wir andern alle auch wuͤn¬
ſchen, daß unſer Antheil an der Schuld ver¬
geſſen werde. Jezt beginnt, ſo wie fuͤr uns
alle, alſo auch fuͤr euch, ein neues Leben.
Moͤchte doch dieſe Stimme durch alle die Um¬
gebungen hindurch, die euch unzugaͤnglich zu
machen pflegen, bis zu euch dringen! Mit ſtol¬
zem Selbſtgefuͤhl darf ſie euch ſagen: ihr be¬
herrſchet Voͤlker, treu, bildſam, des Gluͤks
wuͤrdig, wie keiner Zeit, und keiner Nation
Fuͤrſten ſie beherrſcht haben. Sie haben Sinn
fuͤr die Freiheit und ſind derſelben faͤhig; aber
ſie ſind euch gefolgt in den blutigen Krieg ge¬
gen das, was ihnen Freiheit ſchien, weil ihr es
ſo wolltet. Einige unter euch haben ſpaͤterhin
anders gewollt, und ſie ſind euch gefolgt in
das, was ihnen ein Ausrottungskrieg ſcheinen
[480] mußte gegen einen der lezten Reſte deutſcher
Unabhaͤngigkeit, und Selbſtſtaͤndigkeit; auch
weil ihr es ſo wolltet. Sie dulden und tragen
ſeitdem die druͤckende Laſt gemeinſamer Uebel;
und ſie hoͤren nicht auf, euch treu zu ſeyn, mit
inniger Ergebung an euch zu hangen, und euch
zu lieben, als ihre ihnen von Gott verliehene
Vormuͤnder. Moͤchtet ihr ſie doch, unbemerkt
von ihnen, beobachten koͤnnen; moͤchtet ihr
doch, frei von den Umgebungen, die nicht im¬
mer die ſchoͤnſte Seite der Menſchheit euch
darbieten, herabſteigen koͤnnen in die Haͤuſer
des Buͤrgers, in die Huͤtten des Landmanns,
und dem ſtillen, und verborgenen Leben dieſer
Staͤnde, zu denen die in den hoͤhern Staͤnden
ſeltner gewordene Treue und Biederkeit ihre
Zuflucht genommen zu haben ſcheint, betrach¬
tend folgen koͤnnen; gewiß, o gewiß wuͤrde euch
der Entſchluß ergreifen, ernſtlicher denn jemals
nachzudenken, wie ihnen geholfen werden
koͤnne. Dieſe Reden haben euch ein Mittel
der Huͤlfe vorgeſchlagen, das ſie fuͤr ſicher,
durchgreifend, und entſcheidend halten. Laſſet
eure Raͤthe ſich berathſchlagen, ob ſie es auch
ſo[481] ſo finden, oder ob ſie ein beſſeres wiſſen, nur,
daß es eben ſo entſcheidend ſey. Die Ueberzeu¬
gung aber, daß etwas geſchehen muͤſſe, und auf
der Stelle geſchehen muͤſſe, und etwas durch¬
greifendes und entſcheidendes geſchehen muͤſſe,
und daß die Zeit der halben Maßregeln, und
der Hinhaltungsmittel, voruͤber ſey; dieſe Ueber¬
zeugung moͤchten ſie gern, wenn ſie koͤnnten,
bei euch ſelbſt hervorbringen, indem ſie zu
eurem Biederſinne noch das meiſte Vertrauen
hegen.


Euch Deutſche insgeſammt, welchen Plaz
in der Geſellſchaft ihr einnehmen moͤget, be¬
ſchwoͤren dieſe Reden, daß jeder unter euch,
der da denken kann, zuvoͤrderſt denke uͤber den
angeregten Gegenſtand, und daß jeder dafuͤr
thue, was gerade ihm an ſeinem Platze am
naͤchſten liegt.


Es vereinigen ſich mit dieſen Reden, und
beſchwoͤren euch eure Vorfahren. Denket,
daß in meine Stimme ſich miſchen die Stimmen
eurer Ahnen aus der grauen Vorwelt, die mit
H h[482] ihren Leibern ſich entgegen geſtemmt haben der
heranſtroͤmenden Roͤmiſchen Weltherrſchaft, die
mit ihrem Blute erkaͤmpft haben die Unabhaͤn¬
gigkeit der Berge, Ebenen, und Stroͤme, welche
unter euch den Fremden zur Beute geworden
ſind. Sie rufen euch zu: vertretet uns, uͤber¬
liefert unſer Andenken eben ſo ehrenvoll und
unbeſcholten der Nachwelt, wie es auf euch ge¬
kommen iſt, und wie ihr euch deſſen, und der
Abſtammung von uns, geruͤhmt habt. Bis
jezt galt unſer Widerſtand fuͤr edel, und groß,
und weiſe, wir ſchienen die Eingeweihten zu ſeyn,
und die Begeiſterten, des goͤttlichen Weltplans.
Gehet mit euch unſer Geſchlecht aus, ſo ver¬
wandelt ſich unſre Ehre in Schimpf, und un¬
ſre Weisheit in Thorheit. Denn ſollte der deut¬
ſche Stamm einmal untergehen in das Roͤmer¬
thum, ſo war es beſſer, daß es in das alte ge¬
ſchaͤhe, denn in ein neues. Wir ſtanden je¬
nem, und beſiegten es; ihr ſeyd verſtaͤubt wor¬
den vor dieſem. Auch ſollt ihr nun, nachdem
einmal die Sachen alſo ſtehen, ſie nicht beſie¬
gen mit leiblichen Waffen; nur euer Geiſt ſoll
[483] ſich ihnen gegen uͤber erheben, und aufrecht
ſtehen. Euch iſt das groͤßere Geſchik zu Theil
worden, uͤberhaupt das Reich des Geiſtes und
der Vernunft, zu begruͤnden, und die rohe koͤr¬
perliche Gewalt insgeſammt, als beherrſchen¬
des der Welt, zu vernichten. Werdet ihr dies
thun, dann ſeyd ihr wuͤrdig der Abkunft von
uns.


Auch miſchen in dieſe Stimmen ſich die
Geiſter eurer ſpaͤtern Vorfahren, die da fielen
im heiligen Kampfe fuͤr Religions- und Glau¬
bens-Freiheit. Rettet auch unſere Ehre, rufen
ſie euch zu. Uns war nicht ganz klar, wofuͤr
wir ſtritten; außer dem rechtmaͤßigen Ent¬
ſchluſſe, in Sachen des Gewiſſens durch aͤußere
Gewalt uns nicht gebieten zu laſſen, trieb uns
noch ein hoͤherer Geiſt, der uns niemals ſich
ganz enthuͤllte. Euch iſt er enthuͤllt, dieſer
Geiſt, falls ihr eine Sehkraft habt fuͤr die
Geiſterwelt, und blikt euch an mit hohen klaren
Augen. Das bunte und verworrene Gemiſch
der ſinnlichen und geiſtigen Antriebe durch ein¬
H 2[484] ander ſoll uͤberhaupt der Weltherrſchaft entſezt
werden, und der Geiſt allein, rein, und aus¬
gezogen von allen ſinnlichen Antrieben, ſoll an
das Ruder der menſchlichen Angelegenheiten
treten. Damit dieſem Geiſte die Freiheit
werde, ſich zu entwickeln, und zu einem ſelbſt¬
ſtaͤndigen Daſeyn empor zu wachſen, dafuͤr
floß unſer Blut. An euch iſts, dieſem Opfer
ſeine Bedeutung und ſeine Rechtfertigung zu
geben, indem ihr dieſen Geiſt einſezt in die
ihm beſtimmte Weltherrſchaft. Erfolgt nicht
dieſes, als das lezte, worauf alle bisherige
Entwickelung unſrer Nation zielte, ſo werden
auch unſre Kaͤmpfe zum voruͤberrauſchenden
leeren Poſſenſpiele, und die von uns erfochtene
Geiſtes- und Gewiſſensfreiheit iſt ein leeres
Wort, wenn es von nun an uͤberhaupt nicht
laͤnger Geiſt oder Gewiſſen geben ſoll.


Es beſchwoͤren euch eure noch ungebohrne
Nachkommen. Ihr ruͤhmt euch eurer Vorfah¬
ren, rufen ſie euch zu, und ſchließt mit Stolz
euch an an eine edle Reihe. Sorget, daß bei euch
[485] die Kette nicht abreiße: machet, daß auch wir
uns eurer ruͤhmen koͤnnen, und durch euch, als
untadeliches Mittelglied hindurch, uns anſchlieſ¬
ſen an dieſelbe glorreiche Reihe. Veranlaſſet
nicht, daß wir uns der Abkunft von euch ſchaͤ¬
men muͤſſen, als einer niedern, barbariſchen,
ſklaviſchen, daß wir unſre Abſtammung verber¬
gen, oder einen fremden Namen, und eine
fremde Abkunft erluͤgen muͤſſen, um nicht ſogleich,
ohne weitere Pruͤfung, weggeworfen und zertre¬
ten zu werden. Wie das naͤchſte Geſchlecht, das
von euch ausgehen wird, ſeyn wird, alſo wird
euer Andenken ausfallen in der Geſchichte;
ehrenvoll, wenn dieſes ehrenvoll fuͤr euch zeugt:
ſogar uͤber die Gebuͤhr ſchmaͤhlich, wenn ihr
keine laute Nachkommenſchaft habt, und der
Sieger eure Geſchichte macht. Noch niemals
hat ein Sieger Neigung, oder Kunde genug
gehabt, um die Ueberwundenen gerecht zu be¬
urtheilen. Je mehr er ſie herabwuͤrdigt, deſto
gerechter ſteht er ſelbſt da. Wer kann wiſſen,
welche Grosthaten, welche trefliche Einrichtun¬
gen, welche edle Sitten, manches Volkes der
[486] Vorwelt, in Vergeſſenheit gerathen ſind, weil
die Nachkommen unterjocht wurden, und der
Ueberwinder, ſeinen Zwecken gemaͤß, unwider¬
ſprochen, Bericht uͤber ſie erſtattete.


Es beſchwoͤret euch ſelbſt das Ausland, in
wiefern daſſelbe nur noch im mindeſten ſich
ſelbſt verſteht, und noch ein Auge hat fuͤr ſei¬
nen wahren Vortheil. Ja, es giebt noch
unter allen Voͤlkern Gemuͤther, die noch im¬
mer nicht glauben koͤnnen, daß die großen
Verheißungen eines Reichs des Rechts, der
Vernunft, und der Wahrheit, an das Menſchen¬
geſchlecht, eitel und ein leeres Trugbild ſeyen,
und die daher annehmen, daß die gegenwaͤr¬
tige eiſerne Zeit nur ein Durchgang ſey zu ei¬
nem beſſern Zuſtande. Dieſe, und in ihnen
die geſammte neuere Menſchheit, rechnet auf
euch. Ein großer Theil derſelben ſtammt ab
von uns, die uͤbrigen haben von uns Religion
und jedwede Bildung erhalten. Jene beſchwoͤ¬
ren uns bei dem gemeinſamen vaterlaͤndiſchen
Boden, auch ihrer Wiege, den ſie uns frei
[487] hinterlaſſen haben; dieſe bei der Bildung, die
ſie von uns, als Unterpfand eines hoͤhern
Gluͤcks, bekommen haben, — uns ſelbſt auch
fuͤr ſie, und um ihrer willen zu erhalten, ſo wie
wir immer geweſen ſind, aus dem Zuſammen¬
hange des neu entſproſſenen Geſchlechts nicht
dieſes ihm ſo wichtige Glied herausreißen zu
laſſen, damit, wenn ſie einſt unſers Rathes,
unſers Beiſpiels, unſrer Mitwirkung gegen das
wahre Ziel des Erdenlebens hin beduͤrfen, ſie
uns nicht ſchmerzlich vermiſſen.


Alle Zeitalter, alle Weiſe und Gute, die
jemals auf dieſer Erde geathmet haben, alle
ihre Gedanken und Ahnungen eines hoͤhern,
miſchen ſich in dieſe Stimmen, und umringen
euch, und heben flehende Haͤnde zu euch auf;
ſelbſt, wenn man ſo ſagen darf, die Vorſeh¬
ung, und der goͤttliche Weltplan bei Erſchaffung
eines Menſchengeſchlechts, der ja nur da iſt,
um von Menſchen gedacht, und durch Menſchen
in die Wirklichkeit eingefuͤhrt zu werden, be¬
ſchwoͤret euch, ſeine Ehre und ſein Daſeyn zu
[488] retten. Ob jene, die da glaubten, es muͤſſe
immer beſſer werden mit der Menſchheit, und
die Gedanken einer Ordnung und einer Wuͤrde
derſelben ſeyen kein leere Traͤume, ſondern die
Weiſſagung und das Unterpfand der einſtigen
Wirklichkeit, Recht behalten ſollen, oder dieje¬
nigen, die in ihrem Thier- und Pflanzen-Le¬
ben hinſchlummern, und jedes Auffluges in
hoͤhere Welten ſpotten — daruͤber ein leztes
Endurtheil zu begruͤnden, iſt euch anheim ge¬
fallen. Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit
und Groͤße, ſo wie mit ihren Maͤngeln, iſt ver¬
ſunken, durch die eigne Unwuͤrde, und durch die
Gewalt eurer Vaͤter. Iſt in dem, was in
dieſen Reden dargelegt worden, Wahrheit,
ſo ſeyd unter allen neuren Voͤlkern ihr es, in
denen der Keim der menſchlichen Vervollkomm¬
nung am entſchiedenſten liegt, und denen
der Vorſchritt in der Entwiklung derſelben
aufgetragen iſt. Gehet ihr in dieſer eu¬
rer Weſenheit zu Grunde, ſo gehet mit euch
zugleich alle Hofnung des geſammten Men¬
ſchengeſchlechts, auf Rettung aus der Tiefe
[489] ſeiner Uebel zu Grunde. Hoffet nicht, und
troͤſtet euch nicht, mit der aus der Luft gegrif¬
fenen, auf bloße Wiederholung der ſchon ein¬
getretenen Faͤlle rechnenden Meinung, daß ein
zweitesmal, nach Untergang der alten Bildung,
eine neue, auf den Truͤmmern der erſten, aus
einer halb barbariſchen Nation, hervorgehen
werde. In der alten Zeit war ein ſolches
Volk, mit allen Erforderniſſen zu dieſer Beſtim¬
mung ausgeſtattet, vorhanden, und war dem
Volke der Bildung recht wohl bekannt, nnd
iſt von ihnen beſchrieben; und dieſe ſelbſt, wenn
ſie den Fall ihres Unterganges zu ſetzen ver¬
mocht haͤtten, wuͤrden an dieſem Volke das
Mittel der Wiederherſtellung haben entdeken
koͤnnen. Auch uns iſt die geſammte Oberflaͤche
der Erde recht wohl bekannt, und alle die Voͤl¬
ker, die auf derſelben leben. Kennen wir denn
nun ein ſolches, dem Stammvolke der neuen
Welt aͤhnliches Volk, von welchem die gleichen
Erwartungen ſich faſſen ließen? Ich denke, jeder,
der nur nicht bloß ſchwaͤrmeriſch meint und
hofft, ſondern gruͤndlich unterſuchend denkt,
[490] werde dieſe Frage mit Nein beantworten muͤſ¬
ſen. Es iſt daher kein Ausweg: wenn ihr
verſinkt, ſo verſinkt die ganze Menſchheit mit,
ohne Hofnung einer einſtigen Wiederherſtel¬
lung.


Dies war es, E. V. was ich Ihnen, als
meinen Stellvertretern der Nation, und durch
Sie der geſammten Nation, am Schluſſe die¬
ſer Reden noch einſchaͤrfen wollte, und ſollte.

[]

Appendix A

Folgende den Sinn ſtoͤrende Druckfehler
bittet man zu verbeſſern:


S.81. Z. 5. von unten, nach Geſezmaͤßigkeit, ein
Komma.


S. 129. Z. 3. v. u. ſt demſelben l. m. derſelben.


S. 161. Z. 5. ſt. wurden l. m. wuͤrden, und ſt. ehe¬
maligen l m ehemaligem.


S. 222 Z. 9. ſt. hoͤher l. m. hoͤheren.


S. 231. lezte Z. nach Weſens ein Komma.


S. 242. Z. 3. ſt. gekommene l. m. gekommenen.


S. 315. Z. 12. faͤllt nach Ohngefaͤhr, das Komma
weg.


S. 320. Z. 8. v. u. faͤllt vor Vertrauen, ſich weg.


S. 374. Z. 8. l. m. befuͤrchten.


Die uͤbrigen weniger bedeutenden Fehler moͤge der
Leſer guͤtigſt entſchuldigen.

[][][][][][]
Notes
*)
M. ſ. die Anweiſung zum ſeeligen Leben;
11te Vorleſung.
*)
Anſichten, Erfahrungen und Mittel
zur Befoͤrderung einer der Menſchen¬
natur angemeſſenen Erziehungsweiſe
.
Leipzig 1807, bei Graͤff.
*)
Warum von dieſer Rede nur die Inhaltsanzeige,
nicht aber die Rede ſelbſt geliefert werde, dar¬
uͤber ſehe man die am Ende dieſer Anzeige be¬
findliche Anmerkung.

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CC-BY-4.0
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Fichte, Johann Gottlieb. Reden an die deutsche Nation. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj75.0