Pathologie und Therapie
der
psychischen Krankheiten,
für Aerzte und Studirende
Verlag von Adolph Krabbe.
1845.
[[II]]
Maschinendruck von J. Kreuzer in Stuttgart.
[[III]]
Vorwort.
Ich übergebe hier dem ärztlichen Publicum die zusammengefassten
Resultate meiner Beobachtungen und meines Nachdenkens über die Geistes-
krankheiten. Die erfreuliche Beachtung, welche zwei frühere, nur fragmen-
tarische Abhandlungen über diesen Gegenstand gefunden haben, munterten
mich auf, ein ausgearbeitetes Ganzes vorzulegen, in welchem der Leser die
leitenden Gedanken jener Arbeiten wieder erkennen wird, wo aber doch
Alles erweitert, Vieles fester gestellt, Einzelnes auch vor Missverständniss
geschützt werden konnte. — Auch diejenige Auffassung der medicinischen
Wissenschaft wird der Leser hier wieder finden, welche unter bekannten
Umständen den Namen der „physiologischen Medicin“ erhielt und welche
bei mir fast ganz auf dem einfachen Grundsatze beruht, dass man sich über
die Dinge, in welche man practisch eingreifen soll, nicht mit Namen zu
beruhigen, sondern ein wirkliches, inneres Verständniss zu verschaffen hat.
So sollte auch hier hingearbeitet werden auf das Verständniss des „Wesens
der Dinge, hinter welches man durch Nachdenken kommt,“ und die Ergebnisse
zerstreuter Beobachtungen sollten nicht bloss gesammelt, sondern zu einem
Ganzen innerlich vereinigt, vorgetragen werden. Wer den gegenwärtigen
Stand der Psychiatrie kennt, wird die Schwierigkeiten dieses Geschäfts zu
beurtheilen vermögen. Die Anerkennung desselben wird heutzutage dadurch
erschwert, dass sich der Unverstand des Wortes „Hypothesen“ bemächtigt
hat, um Alles, was über seinen Horizont hinausgeht, weil es seiner Natur
nach keines sinnlichen Nachweises mehr fähig ist, zu verdächtigen. Wenn
sich diejenigen, welche die Principien für Nebensache halten und für soge-
nannte Thatsachen und Practiken als den einzigen Inhalt der Wissenschaft
schwärmen, mit einzelnen practischen Fragen der Psychiatrie, z. B. den
forensischen beschäftigen wollten, so würden sie bald erkennen, ob Grund-
sätze oder Facta die Praxis beherrschen.
[IV]Vorwort.
Ich habe dieser Schrift die Form eines Lehrbuchs gegeben, weil ich
glaube, dass der bisherige vollständige Mangel eines solchen viel an der ge-
ringen Verbreitung der Psychiatrie schuldig ist, und es mir hohe Zeit scheint,
dass ein so wichtiger Zweig der Medicin nicht mehr das Geheimniss einiger
Eingeweihten bleibe, sondern zum Gemeingut ärztlicher Bildung werde. Die
Vernachlässigung der Psychiatrie unter den Aerzten und namentlich auf den
Universitäten zeigt täglich ihre traurigen Folgen. Sie kommen zu Tage in
der Beurtheilung und Behandlung der frischen Erkrankungsfälle von Seiten
der Praktiker, in deren Hände die Geisteskranken meistens lange, ehe sie
den Irrenärzten der Anstalten übergeben werden, gelangen. Sie zeigen sich
noch deutlicher bei den forensischen Geschäften der Aerzte. Der Staat,
welcher Niemanden einen Verband ’anlegen lässt, ohne dass er dazu seine
Fähigkeit und practische Uebung nachgewiesen hätte, gestattet es, dass die
subtilsten Fragen über zweifelhafte Gemüthszustände über den Köpfen der
Angeschuldigten weg von Aerzten debattirt werden, welche noch nie eines
Geisteskranken ansichtig geworden sind oder einen solchen zum erstenmale
in dem Augenblicke sehen, wo sie über seinen Seelenzustand und damit
über seine Todeswürdigkeit oder Freisprechung, ein Urtheil abzugeben haben.
Die gänzliche Unsicherheit dieser Urtheile hat dieselbe bei den Juristen, völlig
mit Recht, um ihren Credit gebracht. Es ist aber dieser Entwürdigung der
forensischen Medicin und den unermesslichen practischen Nachtheilen der-
selben nur dadurch abzuhelfen, dass man entweder den Aerzten, so lange
sie keine Gelegenheit zu seiner Erlernung haben, ein Geschäft ganz abnimmt,
das der Natur der Dinge nach doch Niemand Anderes übernehmen kann und
das immer zu den wichtigsten Pflichten ihres Standes gezählt wurde, oder
dass man psychisch-forensische Fragen nur von den wirklichen Irrenärzten
eines Landes beantworten lässt, oder dass man für einen genauen psychia-
trischen Unterricht Sorge trägt, womit nichts Anderes, als die Errichtung
regelmässiger psychiatrischer Cliniken gemeint sein kann.
Ueber die Einrichtung dieser Schrift habe ich nur Weniges zu bemerken.
Die psychologische Analyse des Irreseins, mit deren bisheriger Behandlung
ich in vielen Punkten nicht übereinstimmen konnte und deren eigene Dar-
stellung desshalb eine Hauptaufgabe bildete, machte es nothwendig, Einiges
über das gesunde Seelenleben vorauszuschicken. Es galt hier nicht eine
Psychologie zu schreiben, sondern nur einige Hauptpunkte von unmittelbarer
Anwendung auf die psychische Krankheit hervorzuheben. Ich befand mich
hier an einigen Stellen in der besonderen Lage, eigene Ansichten über den
Zusammenhang der psychischen Erscheinungen unterdrücken zu müssen,
weil sie nicht ohne eine für die nothwendige Kürze dieser Schrift allzu
weitgreifende Auseinandersetzung hätten dargestellt werden können, und
[V]Vorwort.
mich dafür der Formen und Termini einer anerkannten (der Herbart’schen)
Psychologie bedienen zu müssen. Ich werde mich für diese Resignation
ein andermal entschädigen.
Bei Darstellung der einzelnen Formen ging mein Bestreben nicht auf
zersplitternde Vervielfachung der Arten, sondern auf Einfachheit und Deut-
lichkeit in der Darstellung der Hauptformen, unter welche, wie ich glaube,
alle vorkommenden Fälle subsummirt werden können. Wie es die Sache mit
sich brachte, habe ich hier Vieles von Anderen aufnehmen müssen; die
gebräuchliche Eintheilung der Geisteskrankheiten habe ich namentlich an zwei
Stellen verändert, indem ich die psychischen Exaltationszustände in zwei
Formen spaltete, und indem ich die Verrücktheit den Schwächezuständen
anschloss. Beides wurde an seiner Stelle gerechtfertigt. Die den einzelnen
Formen beigegebenen Beispiele, meist sehr abgekürzte Krankheitsgeschichten
aus der Literatur, werden dem, welcher noch keine Geisteskranke beobachten
konnte, wenigstens ein, freilich dürftiges und schwaches Bild solcher Zu-
stände geben.
Für die pathologische Anatomie, wie übrigens für die anderen Ab-
schnitte, wurde die Literatur reichhaltig benützt; aus der Vereinigung der
pathologisch-anatomischen Thatsachen gingen mir einige Schlüsse für die
ganze Lehre von den Gehirnfunctionen hervor, die ich nur andeutete und
deren völlige Bestätigung ich weiteren Untersuchungen überlasse. Das
Studium des Gehirns der Geisteskranken fängt erst recht an; es muss zur
Grundlage aller Untersuchungen werden, und der Geist der anatomischen
Diagnostik wird immer der beste Schild gegen die gesalbte Pectoralpsychiatrie
und gegen das laienhafte Dareinreden derer sein, welche diesen Abschnitt
der Gehirnpathologie zum Schauplatz ihrer moralisirenden Excurse wählen.
Es wurde gesucht, die Therapie enger als bisher mit der Pathologie
zu verbinden und die vorliegenden Thatsachen über das Gelingen der Heilung
in grundsätzliche Gemeinschaft mit dem, was Aetiologie, pathologische
Anatomie und psychologische Analyse ergeben, zu bringen. Das Capitel von
den Irren-Anstalten sollte nur die wesentlichsten Punkte für diejenigen Leser
enthalten, welche erst anfangen, von den hierhergehörigen Fragen Notiz zu
nehmen. Die Anwendung der Lehre von den krankhaften Seelenzuständen
auf die Bedürfnisse der Rechtspflege wurde von der Schrift ausgeschlossen;
die Grundsätze, welche aus den hier vorgetragenen Lehren hervorgehen,
werden sich dem denkenden Leser selbst aufdrängen; ihre vollständige
Ausführung hätte aber viel zu weit geführt, und sie sollen der Gegenstand
besonders zu veröffentlichender Untersuchungen sein.
Weitere Rechtfertigungen ihrer Richtung glaube ich der Schrift nicht
mitgeben zu dürfen. Die Bezeichnung „materialistisch,“ die nicht ausbleiben
[VI]Vorwort.
wird, und die man von jeher der ganzen Medicin, wenn diese sich selbst
treu geblieben ist, zum Vorwurf gemacht hat, kann sie wohl annehmen;
denn es ist einmal so, dass unsere Wissenschaft von der Anatomie und
nicht von Abstractionen ausgeht. Vor einer Verdächtigung dieser An-
schauungsweise werde ich sie zu schützen wissen; den Schwachen aber
sei gesagt, dass die Wunder des Geistes nichts verlieren von ihrer
Schönheit und Welt-bezwingenden Kraft, indem die psychische Seite des
Lebens die ihr gebührende Stelle unter den organischen Naturphänomenen
einnimmt, und dass die wahren und schlimmen Materialisten immer nur die
sind, welche den Geist hassen.
Dagegen möchte ich in Form und Darstellung Manches entschuldigt
wissen; die Bedeutung des Gegenstandes möchte eine künstlerische Sorgfalt
und Ruhe in der Gestaltung des Stoffes fordern, und solche ist schwer zu
erreichen, wo die Zeit von vielfacher anderer Beschäftigung mühsam erübrigt
wird. Uebrigens habe ich in der allmähligen Vollendung dieser Schrift,
ungeachtet ich viele Mängel an ihr wohl erkenne, den reichhaltigsten Genuss
gefunden; ihre Abfassung hat mir um so mehr Vergnügen gemacht, je mehr
sie mich an meine frühere Wirksamkeit als ausübender Irrenarzt in einer
der besten deutschen Anstalten erinnerte, wo meine ersten practischen
Studien in der Psychiatrie den Vortheil hatten, von einem hochverehrten
Freunde, Herrn Hofrath Dr. Zeller in Winnenthal, geleitet zu werden.
Möge auch ihm diese Schrift Anlass zu freundlicher Erinnerung werden.
Tübingen, den 14. August 1845.
W. G.
[[VII]]
Inhalt.
- Seite
- Erstes Buch. Allgemeiner Theil. 1
- Erster Abschnitt. Ueber den Sitz der psychischen Krank-
heiten und die Methode ihres Studiums 1 - Zweiter Abschnitt. Anatomische Vorbemerkungen 10
- Dritter Abschnitt. Physiologisch-pathologische Vorbemer-
kungen über das Seelenleben 17 - Vierter Abschnitt. Die Elementarstörungen der psychischen
Krankheiten 49 - Erstes Capitel. Die geistigen Elementarstörungen 50
- Zweites Capitel. Die sensitiven Elementarstörungen 64
- Drittes Capitel. Die motorischen Elementarstörungen 85
- Fünfter Abschnitt. Das Irresein als Ganzes 87
- Zweites Buch. Die Aetiologie und Pathogenie der psy-
chischen Krankheiten 95 - Erster Abschnitt. Allgemeines über die Ursachen 95
- Zweiter Abschnitt. Die Prädisposition zu psychischen Krank-
heiten 101 - Erstes Capitel. Die allgemeine Prädisposition 103
- Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition 112
- Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krank-
heiten - Erstes Capitel. Wirkungsweise der Ursachen 121
- Zweites Capitel. Psychische Ursachen 126
- Drittes Capitel. Gemischte Ursachen 130
- Viertes Capitel. Somatische Ursachen 134
- Seite
- Drittes Buch. Die Formen der psychischen Krankheiten 150
- Erster Abschnitt. Psychische Depressionszustände 152
- Erstes Capitel. Die Hypochondrie 154
- Zweites Capitel. Die Melancholie 165
- Drittes Capitel. Die Melancholie mit Stumpfsinn 186
- Viertes Capitel. Die Melancholie mit Aeusserung von
Zerstörungstrieben 191 - Fünftes Capitel. Die Melancholie mit anhaltender Wil-
lensaufregung 207 - Zweiter Abschnitt. Psychische Exaltationszustände 209
- Erstes Capitel. Die Tobsucht 214
- Zweites Capitel. Der Wahnsinn 238
- Dritter Abschnitt. Psychische Schwächezustände 253
- Erstes Capitel. Die partielle Verrücktheit 258
- Zweites Capitel. Die Verwirrtheit 275
- Drittes Capitel. Der apathische Blödsinn 279
- Vierter Abschnitt. Von einigen wichtigen Complicationen
des Irreseins 281 - Viertes Buch. Pathologische Anatomie 290
- Erster Abschnitt. Pathologische Anatomie des Gehirns und
seiner Hüllen 292 - Zweiter Abschnitt. Pathologische Anatomie der übrigen
Organe 320 - Fünftes Buch. Heilbarkeit und Heilung der psychischen
Krankheiten 330 - Erster Abschnitt. Prognostik 330
- Zweiter Abschnitt. Therapie 341
- Erstes Capitel. Allgemeine Grundsätze 341
- Zweites Capitel. Somatische Behandlung 352
- Drittes Capitel. Psychische Behandlung 363
- Viertes Capitel. Einzelne Modificationen der Therapie 374
- Fünftes Capitel. Die Irren-Anstalten 382
- Zusatz397
ERSTES BUCH.
Allgemeiner Theil.
Erster Abschnitt.
Ueber den Sitz der psychischen Krankheiten und die Methode ihres
Studiums.
§. 1.
Die vorliegende Schrift beschäftigt sich mit der Lehre von der
Erkenntniss und Heilung der psychischen Krankheiten oder des
Irreseins. Das Irresein selbst, ein anomales Verhalten des Vor-
stellens und Wollens, ist ein Symptom; die Aufstellung der ganzen
Gruppe der psychischen Krankheiten ist aus einer symptomatologischen
Betrachtungsweise hervorgegangen und ihr Bestehen ist nur von einer
solchen aus zu rechtfertigen. Der erste Schritt zum Verständniss der
Symptome ist ihre Localisation. Welchem Organ gehört das Phäno-
men des Irreseins an? — Welches Organ muss also überall und
immer nothwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? — Die
Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der ganzen
Psychiatrie.
Zeigen uns physiologische und pathologische Thatsachen, dass
dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor Allem in
den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns
zu erkennen.
§. 2.
Die Physiologie betrachtet das psychische Leben als eine
besondere Lebensform des Organismus; sie sieht in den psychischen
Acten Functionen bestimmter Organe und sucht jene eben aus dem
Griesinger, psych. Krankhtn. 1
[2]Das Gehirn ist das Organ der psychischen Acte.
Bau dieser zu begreifen. Allbekannte Experimente zeigen nun, wie
zwar das Vonstattengehen der im weiteren Sinne psychischen Thätig-
keiten an das ganze Nervensystem gebunden, wie aber nur das Ge-
hirn, und auch dieses nur in einzelnen seiner Theile, der Sitz des
Vorstellens und Strebens ist. Allerdings kommen sowohl dem Rücken-
marke, als dem Gangliensysteme des Sympathicus nicht bloss Lei-
tungsfunctionen, sondern auch centrale Thätigkeiten der Mittheilung,
Association und Erregung zu (Tonus, Reflexactionen etc.); zu jenen
höheren centralen Thätigkeiten verhalten sie sich aber wieder als
lediglich peripherische. Wohl bieten die Zustände des ganzen Ner-
vensystems, indem sie unmittelbar dem Gehirne sich mittheilen, auch
Elemente zur Erregung und Unterhaltung geistiger Thätigkeiten dar —
von allen peripherischen Nervenausbreitungen aus können Eindrücke
entstehen, welche Anstösse zu Trieben, zu dunkleren oder bewussteren
Vorstellungen und Bestrebungen abgeben können — aber die Samm-
lung und Aufnahme dieser Eindrücke, der von ihnen ausgeübte Ein-
fluss auf grosse zusammengesetzte Bewegungsreihen (auf das Handeln),
jenes Vorstellen und Streben selbst, das von ihnen influencirt wird,
findet nur im Gehirne statt.
Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig
als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirns zu begreifen.
Dennoch lässen sich die gröberen Schemata der psychischen Thätig-
keiten mit Leichtigkeit an den Bau der betreffenden Theile anknüpfen.
Die in der Schädelhöhle liegende Abtheilung des Centralnervensystems
besteht aus Nervenmassen, welche einerseits die sensitiven Rücken-
marksstränge und die centralen Ausbreitungen der höheren Sinnes-
nerven in sich aufnehmen, von denen andererseits die motorischen
Markstränge ausgehen. Dem entsprechend sehen wir, wie alle aus
dem Körper und durch die Sinne centripetal einfallenden Eindrücke
im Gehirne sich sammeln, percipirt, assimilirt werden, die Geistes-
thätigkeit erregen und unterhalten, und wie von hier aus wieder An-
lässe zu neuen, centrifugalen Acten, Beziehungen der Empfindung
und der Geistesthätigkeiten auf die Action der Bewegungsorgane —
Strebungen und motorische Entladungen in die Muskelapparate ent-
stehen. Mit Recht vergleicht man diese Vorgänge mit dem Kreis-
laufe des Bluts und dem Ganzen der leiblichen Assimilationsprocesse.
Wir sehen, wie in der Thierreihe die psychischen Thätigkeiten
um so mannigfaltiger, reicher und einer um so feineren Ausbildung
fähig werden, je mehr das Gehirn an Volum zunimmt und je ver-
wickelter und gestaltenreicher seine Organisation wird. Wir sehen,
[3]Physio-pathologische Gründe.
wie beim Menschen eine mangelhafte Entwicklung des Gehirns con-
stant mit Schwäche der höheren psychischen Acte, des Vorstellens
und Wollens, verbunden ist (Idiotismus), und die Erfahrung an allen
Menschen zeigt uns, wie diese psychischen Thätigkeiten sich wesent-
lich ändern mit der Entwicklung und Umänderung des Gehirns in
den verschiedenen Lebensaltern. Eben in diesen zeitlichen Metamor-
phosen, diesem Weiterschreiten von allmähligem Wachsthum zur ge-
reiften Höhe und zur Wiederabnahme, geht die psychische Thätigkeit
des Gehirns parallel mit allen übrigen organischen Functionen und
erweist sich damit dem Entwicklungsgesetze des Organismus ebenso
wie diese unterworfen.
Man hat bekanntlich schon versucht, einzelne Seiten der psychischen Thä-
tigkeit in andere Parthieen des Nervensystems, als das Gehirn, zu verlegen, z. B.
das Gemüth in den N. sympathicus. Diese Hypothese gieng von psychologischer
Seite aus der genugsam widerlegten Annahme getrennter Seelenvermögen hervor.
Von physio-pathologischer Seite steht sie mit sicheren Lehrsätzen der Empirie
(über die specifischen Energieen der Gewebe) im Widerspruch. Dasselbe in noch
höherem Grade gilt von der Lehre, welche ein unmittelbares Mitwirken aller
Theile des Organismus, (also auch der Knochen, Drüsen etc.) bei den psychischen
Thätigkeiten annimmt, und demgemäss auch das Irresein unmittelbar aus Stö-
rungen solcher peripherischer Organe erklären will.
§. 3.
Die pathologischen Thatsachen zeigen uns so gut wie die
physiologischen, dass nur das Gehirn der Sitz normaler und krank-
hafter geistiger Thätigkeiten sein kann. Die constanten und wesent-
lichen Symptome der Gehirnkrankheiten, mögen sie aus inneren Ur-
sachen oder aus äusseren Verletzungen entstanden sein, bestehen ja
ausser den Anomalieen der Empfindung und Bewegung, bei jeder
schweren Erkrankung eben aus geistigen Störungen (Exaltation oder
Trägheit des Vorstellens, Verlust des Bewusstseins, Delirien etc.), und
die selteneren Wahrnehmungen, wo bei schweren Desorganisationen des
Gehirns und bei Verlust an Gehirnsubstanz keine oder nur unbedeu-
tende Störungen der Geistesthätigkeit sich gezeigt haben sollen, ver-
mögen jene Ergebnisse der alltäglichen Beobachtung nicht zu schwächen.
Eine Anzahl solcher Fälle findet man z. B. bei Longet (Anat. et Physiol.
d. syst. nerv. Par. 1842. I. p. 670.) zusammengestellt. Gegen die meisten dieser
und der anderweitig bekannt gewordenen ähnlichen Beobachtungen erheben sich
wesentliche Bedenken. In fast allen Fällen ist nur die Intelligenz im engeren
Sinne beachtet, die Gemüthsbeschaffenheit und der Willenszustand ganz unberück-
sichtigt geblieben, und auch an die Intelligenz wurden gewöhnlich nur die gering-
sten Anforderungen gemacht — z. B. die Beantwortung einfacher ärztlicher Fra-
gen, um sie für unverletzt zu erklären. In keiner dieser Beobachtungen ist die
1*
[4]Die Geisteskranken sind Gehirnkranke.
Intelligenz nach ihrem ganzen Umfange geprüft worden, und in vielen derselben,
nämlich in allen Hospitalbeobachtungen, war eine Vergleichung des Geistes-
zustandes nach der Erkrankung oder dem Substanzverluste mit dem früheren
schlechterdings unmöglich; alle feineren Abweichungen mussten hier nothwendig
der Beobachtung entgehen. Nimmt man aber auch die Thatsachen als richtig
an, so beweisen sie nichts gegen unseren Satz. Einmal kommt sehr viel auf
den Sitz der Läsion an; nicht alle Theile des Gehirns stehen in gleich nahem
Verhältnisse zu den Geistesthätigkeiten; einzelne stehen vielmehr in viel näherer
Beziehung zur Muskelbewegung (Pons, Thalami etc.). Ferner ist beim Gehirn,
wie bei allen paarigen Organen, die Möglichkeit eines Ersatzes der Function
durch die gesund gebliebene Hälfte in hohem Grade wahrscheinlich. Endlich findet
man auch in andern wichtigen Organen nicht selten beschränktere anatomische
Läsionen ohne auffallende Störung der Function (chron. Magengeschwür, pleurit.
Adhäsionen, Tuberkel etc.), und man hat gleichfalls Substanzverluste (durch
gangränose Losstossung) z. B. in der Lunge oder im Darme beobachtet, wo nach
erfolgter Heilung die Processe der Respiration, der Verdauung wieder ohne auf-
fallende Störung vor sich giengen. Man wird aber schwerlich solcher Thatsachen
wegen den Satz fallen lassen, dass die Lunge das Respirationsorgan sei und dass
die Verdauung im Darme geschehe.
Noch näheren und directeren Beweis für unsern Satz, dass das
Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse
der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel, *) dass
man in der Mehrzahl dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische
Veränderungen im Gehirne selbst oder seinen Hüllen findet, und dass
diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die einzigen
constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsio-
nen findet, vermag diesen Grund nicht zu schwächen. Es verhält sich
hier nicht anders als bei so vielen andern Nerven- und Gehirnkrank-
heiten, der Epilepsie, dem Tetanus etc., deren Sitz im Gehirn oder
Rückenmark, wenn auch in manchen Fällen durch die pathologische
Anatomie nicht ad oculos demonstrirt, doch von Niemanden in Zwei-
fel gezogen wird.
Die Mehrzahl der Geisteskranken bietet aber auch, ausser den
Störungen des Vorstellens und Wollens, noch bedeutende Anomalieen
anderer, dem Gehirne gleichfalls unzweifelhaft angehöriger Functionen
dar. Vor Allem die Hallucinationen, Anomalieen der centralen Sin-
nesthätigkeit, welche zwar nach den Sinnesorganen projicirt und als
peripherisch entstandene empfunden werden, deren Entstehung aber
nothwendig in das Gehirn verlegt werden muss, wie diess z. B. die
Fälle von andauernden Gesichtshallucinationen bei völliger Blindheit
mit Atrophie des N. opticus (Esquirol) unwiderleglich beweisen. Ebenso
[5]Verhältniss des Gehirns zu den psych. Acten.
sehen wir die Bewegung der willkührlichen Muskeln, eine unzweifel-
hafte Gehirnfunction, bei sehr vielen Geisteskranken verändert, theils
als erhöhte Activität und Energie, theils als cataleptische Starrheit,
theils als jene Paralyse, welche gleichen Schritt mit dem Verlauf
einer gewissen Form des Irreseins (des Blödsinns) hält, und noch
viele andere Anomalieen der Gehirnfunctionen (verringerte Empfind-
lichkeit für Schmerz und Temperatur, Schlaflosigkeit, Convulsionen,
Kopfcongestion etc.) werden bei Geisteskranken als mehr accessorische
Phänomene beobachtet, welche zu weiterer Bestätigung einer vorhande-
nen Gehirnaffection dienen mögen.
§. 4.
Indem man durch die Thatsachen genöthigt das Vorstellen und
Wollen in das Gehirn verlegt, sind immer noch verschiedene Vor-
stellungen über das Verhältniss dieser psychischen Acte zum Gehirn,
über das Verhältniss der Seele zur Materie überhaupt möglich. Vom
empirischen Standpunkte aus haben wir vor allem die Thatsache der
Einheit von Leib und Seele festzuhalten und müssen es dem Aprioris-
mus überlassen, die Seele ohne Beziehung auf den Leib, eine leib-
lose Seele, zu untersuchen und sich mit abstracten Betrachtungen
über ihre Immaterialität und Einheit im Gegensatz zur Vielheit der
Materie etc. zu begnügen. Die Hypothesen, die man schon ersonnen
hat, um jene unerklärliche Einheit für die Reflexion fasslicher zu ma-
chen, von jenen feinen Fluidis an, die zwischen Leib und Seele ver-
mitteln sollen, jenen Materien, dünn genug „um gelegentlich für Geist
passiren zu können“ bis zu dem System prästabilirter Harmonie, ver-
möge dessen Leib und Seele niemals auf einander, sondern immer
nur mit einander wirken sollen, diese Hypothesen sind für die em-
pirische Betrachtung gleich unwiderleglich und gleich unannehmbar.
Diese wird vielmehr — auch auf die Gefahr, etwas fast allzu Plattes
zu behaupten — die Seelenthätigkeiten in derjenigen Einheit mit dem
Leibe und namentlich mit dem Gehirne auffassen müssen, welche
zwischen Function und Organ besteht, sie wird das Vorstellen und
Streben in gleicher Weise als die Thätigkeit, die specifische Energie
des Gehirns betrachten müssen, wie sie die Leitung in den Nerven,
die Reflexaction im Rückenmarke etc. als die Functionen dieser Theile
betrachtet, und so wird dieser Betrachtungsweise die Seele die Summe
aller Gehirnzustände sein.
Nicht genug aber ist bei Annahme solcher Betrachtungsweise vor dem ab-
stracten und seichten Materialismus zu warnen, der die allgemeinsten Thatsachen
des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im
[6]Einheit, Erkrankung der Seele.
Gehirne mit Händen greifen lassen. Indem die wahre empirische Auffassung die
Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thä-
tigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen
Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die
Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrüklich fest; sie lässt natürlich auch
die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelen substanz
in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe, die Form
der psychischen Existenz annehme etc. Sie muss ruhig die Zeit erwarten, wo
die Fragen über den Zusammenhang des Inhalts des menschlichen Seelenlebens
mit seiner Form statt zu metaphysischen — zu physiologischen Problemen werden.
Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine
Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinander-
breitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren.
Sie erscheint zunächst als diejenige Einheit, die auch der Thierseele
zukommt, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist,
welche auch ein Eines aus mehren und vielen Tönen sind. Sie er-
scheint aber auch als eine höhere und bewusste Einheit, indem aus
dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes
sich sammelt, das Ich. Freilich ist diese selbst erworbene Einheit
keine ruhende und starre, sondern mit dem Ich setzt sich die Seele
sich selbst — einem Du in ihr — entgegen, und der Fortschritt von
dieser Entzweiung zu immer weiteren und höheren Vereinigungen ist
eben das treibende Moment des menschlichen Seelenlebens.
Ein etwaiger Streit über Materialität oder Immaterialität der psychischen
Processe liesse sich mit unsern gegenwärtigen Begriffen nicht entscheiden, und
fiele zusammen mit der Frage nach den inneren Veränderungen bei der Thätigkeit
des Nervensystems. Alle Vergleichungen mit den Imponderabilien, welche in
einem ähnlichen Verhältnisse zur Materie stehen — auch sie erscheinen als etwas
Immaterielles, werden aber durch materielle Veränderungen hervorgerufen und in
ihren Wirkungen modificirt, und bewirken selbst wieder Veränderungen in der
Materie — sind nur wenig förderlich. Das psychische oder nervöse Agens hat
in der ganzen übrigen Welt nichts wirklich Analoges; die Theorie findet, wie
schon Locke aussprach, dieselben Schwierigkeiten, ob sie die Materie denken las-
sen, oder ob sie die Einwirkung eines Immateriellen auf die Materie begreifen will.
Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psy-
chiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim
Irresein, bei den Anomalieen im Vorstellen und Wollen, die Erkran-
kung auch wirklich die Seele betreffe, ihre einfache, bejahende
Lösung finden. Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der
Seele selbst zu sprechen haben — so wenig überhaupt eine richtige
Pathologie von Krankheiten der Lebens-Processe, der Functionen spricht
— sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte
des Vorstellens und Wollens gestört werden.
[7]Welche Gehirnkrankheiten sind psych. Krankheiten?
§. 5.
Wenn aber alles Irresein auf Gehirnaffection beruht, so gehören
desshalb nicht alle Gehirnkrankheiten zu den Geisteskrankheiten.
Welche Art von Gehirnerkrankung ist es nun, mit der man es bei
dem Irresein zu thun hat? — Vom anatomischen Standpunkte sind
es die allerverschiedensten Erkrankungen, deren Symptomengruppe
man Irresein nennt. Blosse Irritationen ohne merkliche Gewebever-
änderung, Encephalitis der Gehirnrinde, Atrophie des Gehirns, Apo-
plexia intermeningea, einfache Gehirnhyperamieen u. s. w., alle diese
unter sich so ausserordentlich verschiedenen Zustände können Sym-
ptomencomplexe geben, wegen deren man die Kranken in die Irren-
häuser schickt und welche in den psychiatrischen Schriften als
Geisteskrankheiten beschrieben werden. Jeder Versuch, das Irresein
von den acuten oder chronischen Gehirnkrankheiten, wie sie vom
anatomischen Standpunkte aus gebildet sind, z. B. der Meningitis,
Encephalitis etc., zu unterscheiden, wäre das vergeblichste Unter-
nehmen, da ja eben nicht wenige Fälle von Geisteskrankheit selbst
Meningitis, Encephalitis etc. sind. Der Begriff der Geisteskrankheiten
als ein rein symptomatologischer, liegt vielfach ganz innerhalb jener
anatomischen Begriffe und die Objecte beider lassen sich gar nicht
mit einander vergleichen.
Die Gehirnpathologie steht heute noch auf dem Standpunkt, den
die Pathologie der Brustorgane vor Laënnec einnahm. Statt überall
von den Structurveränderungen des Organs ausgehen und das Zu-
standekommen der Symptome in exacter Weise von den Verände-
rungen der Gewebe ableiten zu können, hat sie es häufig genug mit
Symptomencomplexen zu thun, von denen sie den Sitz kaum annähe-
rungsweise und den Mechanismus der Entstehung gar nicht kennt.
Sie muss sich an das Aeussere der Phänomene halten und muss noch
Krankheitsgruppen nach etwas Gemeinsamem und charakteristischem
in den Symptomen, zunächst abgesehen von deren anatomischer
Grundlage, bilden. So die Epilepsie, die Chorea etc.; so auch die
psychischen oder Geisteskrankheiten, unter welchen wir also alle die-
jenigen Gehirnaffectionen zu begreifen haben, bei denen Anomalieen,
Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung
hervorstechendste Symptomengruppe bilden.
Was das Irresein ist, erfährt nur der, der es im Einzelnen studirt; Defi-
nitionen von den Geisteskrankheiten, vom Irresein wären so unmöglich und
zwecklos, wie Definitionen von der Wassersucht und Phtisis, oder wie eine
Definition des russischen Feldzugs. Nur das braucht bemerkt zu werden, dass
[8]Selbständigkeit dieses Theils der Gehirnpathologie.
man unter Geisteskrankheiten, wie unter Krankheiten überhaupt, gewöhnlich Ab-
weichungen vom individuell normalen Zustande versteht. Wir handeln also
nur von den Geisteskrankheiten früher geistig-gesund Gewesener, schlies-
sen demnach die angebornen oder noch vor Entwicklung einer geistigen Indivi-
dualität entstandenen psychischen Hemmungen, den angebornen Blödsinn und Cre-
tinismus, von dieser Schrift aus.
§. 6.
Da das Irresein nur ein Symptomencomplex verschiedener Ge-
hirnkrankheiten ist, so könnte die Frage entstehen, ob seine von den
übrigen Gehirnkrankheiten getrennte und abgesonderte Behandlung
überhaupt zu rechtfertigen sei, ob nicht vielmehr die Psychiatrie auch
äusserlich ganz in der cerebralen Pathologie aufzugehen habe? —
Allein, wenn auch von einer ferneren Zukunft Solches vielleicht zu
erwarten steht, so wäre doch heutzutage jeder Versuch einer der-
artigen völligen Verschmelzung voreilig und völlig unausführbar. Wenn
nur der innere Grundzusammenhang mit der sonstigen Gehirnpatho-
logie stets im Auge behalten, wenn nur hier wie dort eine und die-
selbe richtige, möglichst anatomisch-physiologische Methode befolgt
wird, so wird die Cerebralpathologie von der äusserlich abgesonder-
ten, monographischen Bearbeitung solcher symptomatisch gebildeter
Krankheiten in ihrer inneren Gliederung nicht gestört, sondern nur
gefördert. Um so weniger aber wäre ein solcher Verschmelzungs-
versuch derzeit zulässig, als der Psychiatrie ihre Stellung als Theil
der Gehirnpathologie überhaupt fast noch erobert werden muss, und
als manche praktische Seiten der Psychiatrie (das Irrenanstaltswesen,
das Verhältniss zur gerichtlichen Medicin etc.) ihr einen Umfang und
eine Eigenthümlichkeit geben, die auch inmitten der Cerebralpatho-
logie ihr unter allen Umständen eine grosse Selbstständigkeit erhal-
ten müssen.
§. 7.
Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des
Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium
geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des
Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie
bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle
nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auf-
fassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom aller-
geringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger
sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia,
Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus
[9]Falschheit der poet. und moralist. Auffassungen.
diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von
der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte
auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss,
wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. Ein gleicher, und
wegen des Ernsts, mit dem einzelne solche Versuche auftraten, noch
schwererer Vorwurf trifft die moralistischen Betrachtungsweisen. Nichts
ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung ver-
worfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das
sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die That-
sachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser
Krankheiten; wie könnte es anders sein, da die psychischen Ursachen
auch für die übrigen Gehirn- und Nervenkrankheiten zu den wichtig-
sten und häufigsten gehören? — Der jeweilige Zustand des Vorstel-
lens und Wollens ist wesentlich abhängig, ja zum Theil das noth-
wendige Ergebniss der Summe alles früheren Vorstellens und Wollens,
und damit freilich ist im psychischen Leben selbst eine reichliche
Quelle ursächlicher Momente geöffnet. Aber, während die Sphäre
der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens ent-
halten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Pro-
cesse, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem
ganz andern Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen
Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprüng-
lich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen
ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben
herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die
ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Mög-
lichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann
gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen.
Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geistes-
krankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig. Zum Ueberfluss mag gegen die-
selben an die vielen Fälle rein körperlicher Entstehung der Geisteskrankheiten —
durch Kopfverletzungen, Narcotica etc. — an ihre Erblichkeit — eine Familien-
anlage, die sich oft bei andern Anverwandten als Disposition zu andern schwe-
ren Neurosen, Epilepsie, Hysterie etc. ausspricht — an das Typische, das nicht
selten ihr Verlauf, wie der der übrigen Nervenkrankheiten zeigt, an den oft
beobachteten Wechsel mit andern Krankheiten — mit Intermittens, mit chron.
Spinalirritation — an die Möglichkeit schneller Heilungen, an die Analogie mit
den Traumzuständen etc. erinnert werden. Die beste Widerlegung aber wird die
Einsicht in die thatsächlichen Hergänge selbst abgeben.
[10]
Zweiter Abschnitt.
Anatomische Vorbemerkungen.
§. 8.
An einem andern Orte *) haben wir auf die durchgängig nach-
weisbare pathologische Analogie der Gehirnkrankheiten, auch insofern
sie vorzugsweise psychisch-anomale Symptome geben, mit den Irrita-
tionen und mit den tieferen Substanzerkrankungen des Rückenmarks
aufmerksam gemacht. Diese Vergleichung wird nicht nur durch den
dort gegebenen Nachweis gerechtfertigt, dass dem einen wie dem
andern Abschnitte des Central-Nervensystems dieselben Schemata
krankhafter Thätigkeit zukommen, welche nur nach der ursprünglich
gegebenen Verschiedenheit der Energieen sich sehr verschieden
äussern; die Vergleichung hat zunächst ihre Basis in der normalen
und pathologischen Anatomie, welche uns im Gehirn und Rückenmark
ein einziges, nur künstlich trennbares Ganzes kennen lehrt und uns
in beiden dieselben gröberen Dispositionen, dieselben Elementarge-
webe und auch die nemlichen pathologischen Veränderungen aufzeigt.
Indem wir nun die gröbere Anatomie, die Eintheilung des Gehirns
und Rückenmarks, die Structur und Lagerung seiner Hüllen als be-
kannt voraussetzen, schicken wir nur wenige Bemerkungen über den
Bau und den Zusammenhang des Central-Nervensystems, an welche
sich später physio-pathologische Ergebnisse anknüpfen lassen, und
über die Beurtheilung der gesunden oder kranken Beschaffenheit des
Gehirns voraus.
Gehirn und Rückenmark bilden ein Ganzes, dessen verschiedene
Abschnitte im Wesentlichen denselben elementaren Bau, und einen
gemeinsamen, wenn gleich zu immer höherer Entwicklung fortschrei-
tenden Typus der Organisation **) zeigen.
Wie sich die Wirbelstructur der knöchernen Rückenmarkshüllen
am Schädel in ausgebildeterer Weise, in einer complicirten Mehr-
heit von Knochengebilden wiederholt, so geht auch der Schädel-Ab-
schnitt des centralen Nervensystems in eine verwickelte Vielheit
[11]Die graue Gehirnsubstanz.
von Nerven-Massen auseinander, welche auf den ersten Anblick nach
einem anderen Schema als das Rückenmark gebildet scheinen, in
denen sich aber bei vielen wichtigen Verschiedenheiten doch im
Ganzen die Analogie mit dem Rückenmarke und seinen nächsten
Anhängen durchführen lässt.
Der ursprünglich beim Embryo vorhandene, zuweilen noch beim
Erwachsenen sich findende Canal des Rückenmarks, der ganz von
grauer Substanz eingeschlossen ist, öffnet sich in der Rautengrube,
schliesst sich wieder in der 4ten Hirnhöhle und bildet im Innern
des grossen Gehirns den 3ten und die Seiten-Ventrikel, indem er
im Infundibulum seinen Schlusspunkt findet.
Die graue Substanz des Rückenmarks, welche in der Medulla
oblongata theils an die Oberfläche trat, theils sich in das Corpus
fimbriatum der Oliven und in die Corpora restiformia fortsetzt,
communicirt auch mit dem Corpus rhomboideum des kleinen Gehirns,
dann auf ihrem weiteren Zuge nach vorn mit der grauen Substanz
der Crura cerebri, der Corpora quadrigemina, des Thalamus und Corpus
striatum, und erreicht endlich am Infundibulum oder in der vorderen
perforirten Substanz ihre Endpunkte. So bildet die Fortsetzung der
grauen Rückenmarksubstanz im Innern und an der Basis des Gehirns
ein zusammenhängendes System grauer Züge und Massen. Ein an-
deres System grauer Substanz kommt aber im Gehirne hinzu, nemlich
die Rindensubstanz der Hemisphären, welche aussen die Windungen
überall, mit Ausnahme einer Stelle am Gyrus fornicatus überzieht.
Diese Massen grauer Substanz communiciren direct mit dem ersten
Systeme nur an einer Stelle, an der Substantia perforata, und die
Hauptverbindung ist eine durch die weissen Faserzüge vermittelte; an
der Substanz des Rückenmarks selbst haben sie auch nichts Analoges;
sie bilden die gemeinschaftlichen Endigungsstätten für das System
der fortgesetzten Rückenmarksstränge und für die im Schädel ent-
springenden und nicht aus ihm heraustretenden Fasersysteme.
Einzelne Gehirne zeigen in Bezug auf Menge und Vertheilung
der grauen Substanz feinere Verschiedenheiten (Valentin l. c. p. 244),
welche natürlich jeder Deutung entgehen. Wichtig aber erscheint
die derartige Disposition der grauen Anhäufungen, dass sie fast überall,
mit Ausnahme einzelner Theile, welche wie z. B. das Infundibulum,
rein aus Belegungskugeln zu bestehen scheinen, von stärkeren oder
feineren Primitivfaserzügen durchsetzt und umsponnen werden. Ob
sich in der grauen Substanz des Gehirns auch eigene, von den
weissen Primitivfasern verschiedene (dünne, graue) Fasern finden,
[12]Die weisse Gehirnsubstanz.
wie solche Stilling im Rückenmarke gesehen zu haben behauptet,
bleibt dahingestellt; in der Brücke und der Mittellinie zwischen den
Cruribus cerebri wird ihr Vorkommen von Foville behauptet.
Die Belegungskugeln der grauen Gehirnsubstanz sind zwar denen
des Rückenmarks und der Ganglien höchst ähnlich; sie zeigen aber
eine noch grössere Zartheit, vielleicht auch mannigfaltigere (runde,
geschwänzte, sternförmige) Gestalten, und in verschiedenen Gegenden
des Gehirns constantere Verschiedenheiten ihrer feineren Anordnung
und Lagerung. An einzelnen Stellen (Crura cerebri, Ammonshorn)
sind sie mit Pigment gemischt; an anderen, namentlich in der Sub-
stantia perforata treten neue Formen auf, welche mehr Verschieden-
heiten als Aehnlichkeiten mit den übrigen Belegungskugeln darzubieten
scheinen. Die kugelförmigen Gebilde vollends, aus denen die Hypo-
physen (Zirbel und Hirnanhang) bestehen, entfernen sich sehr be-
trächtlich von den sonst im Nervensysteme vorkommenden Elementar-
Formen.
§. 9.
Die weisse Substanz des Gehirns besteht aus den bekannten,
hellen Primitivfasern, welche meist schmäler als im Rückenmark und
den Nerven sind und deren zusammengesetzte Bündel und Stämme
kein Neurilem mehr haben. Ihre vielfachen, gröberen und feineren
Faserzüge bilden häufig Geflechte, welche zum Theil von den Nerven-
körpern der grauen Substanz ausgefüllt werden. Freie Endigungen
oder Bifurcationen finden sich nicht; die centralen Enden der Fasern
sind unbekannt; die, welche in die graue Rindenschicht eintreten,
zeigen zuweilen schlingenförmige Umbiegungen, aber sie verlieren sich
allmählig in den successiven Schichtungen der Rinde auf eine bisher
nicht näher zu erforschende Art.
Dass ein grosser Theil der weissen Gehirnsubstanz aus unmittel-
baren Fortsetzungen der drei Rückenmarkstränge jeder Seite, welche
aber eine mehrfache Kreuzung eingehen, besteht, ist gewiss: Theile
der Hinter- und Seitenstränge lassen sich z. B. in das kleine Gehirn,
Theile der Vorderstränge in die Corpora quadrigemina, die Haube etc.
mit grösster Leichtigkeit verfolgen, und genauere Untersuchungen
haben sogar gezeigt, dass in jede der grossen ganglienartigen An-
schwellungen aus denen das Gehirn besteht, Fortsetzungen aller drei
Rückenmarkstränge eingehen. Diese Fortsätze bilden aber offenbar
nicht die ganze Masse der weissen Substanz; es kommen neue Faser-
systeme hinzu, und zwar nicht nur die centralen Ausbreitungen der
[13]Ihr Verhältniss zu den Rückenmarksträngen.
Sinnesnerven, welche sich bei ihrem Eintritt in’s Gehirn theilen, in
verschiedene Richtungen hin zerstreuen und mitunter grössere, mem-
branöse Ausbreitungen im Innern zu bilden scheinen, sondern auch
die neuen Fasersysteme der Commissuren, und die Belegungssubstanz.
Es wäre von grosser Wichtigkeit, die Mischungs- und Anlagerungs-
verhältnisse dieser einzelnen Systeme zu den entsprechenden Fort-
setzungen der drei Rückenmarkstränge zu kennen. Nach Foville, des-
sen Untersuchungen übrigens weiterer Bestätigung bedürfen, lassen
sich namentlich im grossen Gehirne zwei grosse, durch die Art ihrer
Lagerung unterschiedene, aber vielfach in einandergeschobene Faser-
gruppirungen nachweisen, deren eine sich an die Vorder-Seitenstränge,
die andere an die Hinterstränge anlegt. Der letzteren, weit überwie-
genden Gruppe würden nicht nur die successiven Anschwellungen
auf der Gehirnaxe, die Corpora quadrigemina, die Thalami und Corpp.
striata mit ihren grauen Kernen, sondern auch das ganze Corpus cal-
losum, das Septum und der Fornix mit seinen Anhängen angehören,
welche alle als ringförmige Bildungen den Faserkegel umfassen, der,
den Vorder- und Seitensträngen angehörig, als abgeplatteter Stamm
durch die grauen Massen des Thalamus und Corpus striatum durch-
tritt und sich in das Innere der grossen Hemisphären verzweigt.
Namentlich aber sollen nach Foville die nervöse Membran der Ventrikel-
oberfläche und indem diese im Ammonshorn sich in die weisse,
äusserste Lamelle der Rindenschicht fortsetzt, die ganze Gehirnober-
fläche mit den Fortsetzungen der Hinterstränge in nächster Verbin-
dung stehen, so dass die Fortsätze und Anhänge der Seiten-Vorderstränge
von ihrem Eintritt in den Thalamus an durchaus im Innern von Hin-
terstrangparthien steckten und nirgends auf die Oberfläche selbst
herausträten. Es wäre diess ein ähnliches Verhalten, wie in der pe-
ripherischen Nervenausbreitung, wo die Oberflächen, die Haut und die
Schleimhäute, gleichfalls überwiegend von Nerven der Hinterstränge
versorgt werden, während die Nerven aus den Vorder-Seitensträngen
sich hauptsächlich zu den unter jenen gelegenen Muskelschichten
ausbreiten.
Nach dieser Ansicht wären das grosse und das kleine Gehirn im
Ganzen als grosse gangliöse Anschwellungen zu betrachten, welche,
wie die Spinalganglien, zunächst den Fortsetzungen der Hinterstränge
angehörten, wobei aber die Fortsetzungen der Vorder-Seitenstränge
nicht nur auf’s innigste in die Bildung dieser Ganglien eingehen, son-
dern in ihnen selbst (der grauen Rinde) entspringen würden. Es
würde nach dieser Betrachtungsweise das grosse Gehirn ein enormes
[14]Kleines und grosses Gehirn.
verschmolzenes Ganglion des N. opticus und olfactorius, das
kleine Gehirn ein ebensolches für den N. acusticus (und quintus)
darstellen. Man kann diese Bezeichnung „Ganglion“ gelten lassen;
eine nähere Bestimmung desselben wird eben dahin führen, dass beide
Gehirne die innere Ausbreitung eines centralen, zum Theil eigenen
Nervensystems bilden, in welchen die unmittelbare Fortsetzung der
Rückenmarkstränge mit neuen Massen grauer Substanz, mit neuen,
[weissen] Fasersystemen, worunter namentlich die centralen Ausbreitun-
gen der Sinnesnerven, aufs innigste combinirt sind, welch letzteres
Verhältniss seine physiologische Bedeutung in dem grossen und wich-
tigen Antheile findet, den die centrale Sinnesthätigkeit an fast allen
unsern psychischen Thätigkeiten nimmt.
§. 10.
So sind im kleinen Gehirn Fortsätze aller drei Stränge in
dem innigen, kaum trennbaren Convolut von Markplatten enthalten,
welche den Kern des Cerebellum und dessen nächste Hüllen bilden,
und dieser Kern selbst ist (nach Foville) umgeben mit einer mem-
branösen Ausbreitung von Nervensubstanz, welche die Innenfläche der
grauen Rinde austapezirt und von Fortsätzen des N. acusticus und
quintus gebildet wird. Beide Nerven sollen auch noch Fortsätze in
die Faserlagen des Kerns selbst schicken, welche im Innern von
der grauen, gefranzten Membran des corpus rhomboideum aus-
gefüttert werden.
Im grossen Gehirn sind gleichfalls Fortsetzungen aller drei
Stränge so zusammengruppirt, dass die Vorder-Seitenparthieen, nach
aussen strahlend, von den erwähnten successiven ringartigen Bildun-
gen umfasst werden und am Ende auf der Höhe, in der Mitte der
Windungen in die graue Gehirnrinde eindringen (dort entspringen?).
Diese graue Rinde zeigt einen geschichteten Bau *); vier bis sechs
Lamellen grauer und weisser Substanz wechseln mit einander ab und
zahlreiche, theils verticale, theils horizontal gelagerte, weisse Pri-
mitivfasern, vielfach unter sich gekreuzt, helfen sie constituiren, deren
äusserste Lage mit der Oberfläche der Ventrikel continuirt. Die
pathologische Anatomie wird uns zeigen, dass die oberflächlichste
Schichte der grauen Rinde der grossen Hemisphären bei Irren sehr
häufig krankhaft verändert ist, dass eine bedeutende Decomposition
[15]Einiges über Untersuchung des Gehirns.
ihrer tieferen Schichten ein gewöhnlicher Befund bei solchen Kran-
ken ist, bei denen der Willenseinfluss auf die Muskeln gleichmässig
geschwächt war, und dass die Ventrikeloberfläche, namentlich im untern
und hintern Horn der Seitenhöhle, an diesen Erkrankungen nicht
selten Theil nimmt.
Die beiden Nerven des grossen Gehirns, des Opticus und Olfac-
torius communiciren mit den Oberflächen der Ventrikel und sind durch
ihre Wurzelausbreitungen mit fast allen Fundamentaltheilen des gros-
sen Gehirns verbunden. Diese Sinnesnerven setzen sich auch mehr-
fach sowohl mit grauer, als weisser Substanz ins Innere fort, wie die
sensitiven Rückenmarksnerven sich bei ihrem Eintritte sowohl zur grauen
als weissen Substanz begeben.
Wie die blinde Endigung der Ventrikel, das Infundibulum, nach
unten zu einen besonderen, nicht näher zu deutenden Anhang, die
Hypophysis hat, so findet sich an der schwachen, blinden Ausbuch-
tung der Ventricularhöhle, welche die Unterfläche der Corpora quadri-
gemina bildet, nach oben zu ein ähnlicher Anhang, die Zirbel. Ihre
gegenseitige Analogie wird erhöht durch die beachtenswerthe Aehn-
lichkeit, welche die Configuration der beiderseitigen Umgebung, dort
in der Corpp. mamillar, hier in den Corpp. quadrigemin zeigt; wäh-
rend aber jene, die Hypophysis, nur mit der grauen Substanz in Ver-
bindung steht, communicirt diese, die Zirbel, nur mit der weissen
Substanz.
§. 11.
Bei der Untersuchung des Gehirns an der Leiche Geisteskran-
ker muss man zuerst den Zustand der Hüllen genau beachten. Am
Schädel muss man nicht nur einzelne Form-Abweichungen, welche
sich leicht abschätzen lassen (auffallende Schiefheit, scoliotische
Krümmung, locale Vorwölbungen oder Einsenkungen etc.), sondern
auch Messungen der einzelnen Durchmesser angeben; man muss die
Dicke und Textur der Kopfknochen, und den Grad der Verwach-
sung der Suturen, welche bei jungen Individuen etwas Krankhaftes
ist, berücksichtigen. An der innern Schädelfläche verdienen beson-
ders etwaige Osteophyte und scharfe Knochenvorsprünge Beachtung,
und es müssen die zum Durchtritt der grossen Gefässe bestimmten
Löcher, so wie die grösseren Venen und die Arterien selbst in Be-
zug auf Enge, Erweiterung oder Entartung speciell untersucht wer-
den. Der Grad der Füllung der Sinus und die Beschaffenheit des
in ihnen enthaltenen Bluts ist anzugeben. Bei Beurtheilung des
[16]Ueber Untersuchung des Gehirns.
Blutgehalts sämtlicher Gehirnhäute (und des Gehirns selbst) ist
immer der Blutgehalt des ganzen übrigen Körpers mit in Rechnung
zu nehmen, indem auch eine beträchtliche Blutmenge im Schädel
bei grösserem allgemeinem Blutreichthum weit geringer anzuschla-
gen ist, als bei entgegengesetztem, anämischem Zustande. — Im
gesunden Gehirne sind die zarten Häute dünn und durchsichtig;
längs des Sinus longitudinalis und der grossen Gefässe ist zwar eine
Trübung bei Erwachsenen und alten Individuen von keiner Bedeu-
tung, in der Jugend dagegen sehr wichtig, indem sie auf vorausge-
gangene längere Hyperämieen schliessen lässt. Dasselbe gilt von den
Pacchionischen Granulationen, dasselbe in vieler Hinsicht auch von
dem Serum-Gehalt der Schädelhöhle, indem auch dieser bei Greisen
durchschnittlich beträchtlicher ist. Die Gehirnhäute lassen sich beim
gesunden, frisch aus dem Schädel genommenen Gehirne leicht ab-
lösen, ohne, ausser ganz dünnen, vereinzelten Flocken, etwas von
der Gehirn-Oberfläche mitzunehmen. Das entgegengesetzte Verhalten
ist pathologisch. — Die Windungen müssen dicht aneinander anliegen
und ihre Oberfläche muss eben, egal sein; das Gegentheil, eine
unebene, höckrige, grubige Oberfläche deutet auf Atrophie einzelner
Windungen, welche bei Greisen gleichfalls weniger zu bedeuten hat,
als in der Jugend. — Die ganze graue Substanz muss, wenn das
Gehirn gesund sein soll, lebhaft von der weissen abstechen; übrigens
darf die innere Schicht der grauen Substanz wohl etwas heller sein,
als die mehr äusseren Schichten. — Die weisse Substanz muss
fester sein als die graue; einzelne Theile, wie Pons und Medulla
oblongata, übertreffen schon im Normalzustande die übrige weisse
Masse an Festigkeit. Ausserdem aber muss die Consistenz überall
eine gleichförmige sein, und partielle Härten und Erweichungen sind
von grösserer Bedeutung, als der Consistenzgrad, die Härte oder
Weichheit des Gehirns im Ganzen. — Immer muss das Gehirn auch
genau gewogen werden, und zwar nicht nur im Ganzen, sondern
man erwartet auch eine besondere Wägung des kleinen Gehirns (mit
anhängender Pons und Medulla oblongata), um es mit dem Gewichte
des grossen Gehirns vergleichen zu können. Es hat ausserdem
Vortheile, auch Messungen der Dicke einzelner Hauptwindungen und
namentlich Messungen der grauen Substanz an verschiedenen Stellen
der Windungen anzugeben. Was sonst zu berücksichtigen wäre, ist
entweder allgemein bekannt oder wird es im 4ten Buche besprochen. —
[17]
Dritter Abschnitt.
Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben.
§. 12.
Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus-
breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken
indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig
wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den
andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge-
hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen
ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn-
hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein-
seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome,
namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken
anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich
oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist
ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen).
In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von
Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran-
ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört,
er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver-
wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei Friedreich, Allg.
Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht
geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen.
§. 13.
Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die-
jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen
(sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in
der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und
die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B.
Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge-
hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung
der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung
und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend
die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde
der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt-
vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes-
krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern
für den Sitz der „Intelligenz“ und des „Willens“ erklärt worden.
Griesinger, psych. Krankhtn. 2
[18]Die psychischen Thätigkeiten.
Allein die Intelligenz ist ein Resultat mehrfaher und sehr complicirter
Acte, bei denen Leitungsprocesse, wie man sie der Analogie nach
den weissen Fasern zuschreibt, kaum entbehrt werden mögen, und
wenn wir auch in dem Wollen einen, der Reflexaction ganz ähnlichen
Process erkennen, so ist die Leitung der Willensimpulse zu den mo-
torischen Rückenmarkssträngen immer auch noch ein psychischer Pro-
cess. Dazu kommt, dass die Ventrikelwandungen offenbar gleichfalls
von der grössten Bedeutung für die Geistesthätigkeiten sind, wie
diess die Beobachtungen bei zu starker Ansammlung und veränderter
Beschaffenheit des Cerebrospinalfluidums, bei oberflächlicher Mace-
ration jener Wandungen — immer ist hier tiefer Blödsinn, ein so-
poröser Zustand etc. vorhanden — und mehrfache pathalog. ana-
tomische Beobachtungen bei Irren*) zeigen. Wenn wir desshalb die
geistigen Processe nicht ausschliesslich auf die graue Gehirnsubstanz
beschränken dürfen, so erscheint es dagegen sehr wahrscheinlich,
dass sämtliche freie Oberflächen des grossen Gehirns, die der
Rindensubstanz sowohl als die Ventrikelwandungen, in einer ganz
besonders nahen Beziehung zu den geistigen Processen stehen, dass
deren normales Vonstattengehen an die Integrität dieser Oberflächen
geknüpft ist und dass es durchschnittlich Erkrankungen dieser Ober-
flächen sind, welche den Symptomencomplex des Irreseins geben.
Wo dagegen, etwas tiefer im Innern der Gehirnsubstanz, Desorgani-
sationen sich finden, da pflegen motorische Störungen selten zu
fehlen, und solche gesellen sich ganz gewöhnlich zu den Geistes-
krankheiten, wenn sich die Läsion von der Oberfläche der Ventrikel
oder der Rinde etwas mehr in die Tiefe ausdehnt. Wir haben aber
(§. 11.) gesehen, dass die freien Oberflächen des grossen Gehirns
einen nahen Connex mit den Hintersträngen und deren Anlagerungen
zeigen, dass dagegen die Fortsetzungen der Vorderseitenstränge die
Oberflächen nirgends zu erreichen scheinen, wenn sie gleich sich
überall von unten her denselben nähern.
§. 14.
Das psychische Leben des Menschen, wie der Thiere, fängt in
den Sinnorganen an, und der stete Fluss, als den wir es wahrneh-
men, tritt in den Bewegungsorganen wieder nach aussen. Dem
Uebergange der sensitiven Erregung auf die motorische liegt das
Schema der Reflexaction, mit oder ohne sensitive Perception, zu
[19]Das Vorstellen.
Grunde. Einfache Formen dieser psychischen Einnahme und Ausgabe
sind in verschiedenen Höhen der Ausbildung bei den Thieren und
beim Kinde zu beobachten. Hier sehen wir das wenig vermittelte,
durch stärkere und klarere Vorstellungen wenig beherrschte Umschla-
gen der sensitiven Eindrücke in motorische Erregungen in dem Triebe
zu lebhafter Beweglichkeit, in dem unmittelbaren Heraussagen und
Heraushandeln nach den momentanen, sinnlichen Empfindungsmotiven.
Zwischen diese beiden Grundacte des psychischen Lebens aber schiebt
sich, von der Empfindung angeregt, immer mehr etwas Anderes,
Drittes ein, das zwar Aehnlichkeit mit der Empfindung und die näch-
sten Beziehungen zu ihr hat, aber nicht mehr sie selbst ist. Es
bildet sich gleichsam ein Seitengebiet, das zwischen Empfinden und
motorischem Impuls in die Mitte tritt, und indem es wächst, an
Reichthum und Ausdehnung zunimmt, wird es allmählich zu einem
starken, in sich selbst vielfach gegliederten Centrum, welches das
Empfinden und Bewegen in vielen Beziehungen beherrscht und inner-
halb dessen das ganze geistige Leben des Menschen spielt. Dieses
Gebiet ist das des Vorstellens.
Alles geistige Geschehen geschieht innerhalb des Vorstellens;
dieses ist die eigentliche Energie des Seelenorgans, und alle die
verschiedenen geistigen Thatsachen, die man früher zum Theil als ver-
schiedene Vermögen bezeichnet hat (Phantasiren, Wollen, Gemüths-
bewegungen etc.), sind nur verschiedene Beziehungen des Vorstellens
auf die Empfindung und Bewegung oder Resultate von Conflicten der
Vorstellungen unter sich selbst.
Was das Vorstellen eigentlich sei, weiss Niemand; aber die For-
men seines Vonstattengehens sind der Beobachtung zugänglich, und
der Ort, wo vorgestellt wird, ist nicht unbekannt. Alles scheint dafür
zu sprechen, dass es, wenigstens das recht klare, deutliche Vorstellen,
Sache des grossen Gehirns ist.
Wir haben das ganze Gehirn kennen gelernt als zwei Ganglien
über den Sinnesnerven, in denen sich die centralen Ausbreitungen
dieser mit neuer Nervensubstanz verbinden. Wir finden nun, dem
entsprechend, bei der Analyse des Vorstellens als ein vor allem
wichtiges Verhältniss das stete Zusammen- und Ineinanderwirken der
geistigen Thätigkeit mit der centralen Sinnesthätigkeit. Nicht nur
wird das Vorstellen durch die Sinneseindrücke beständig geweckt,
erregt und unterhalten, nicht nur wird sehr häufig umgekehrt die
Sinnesthätigkeit vom Vorstellen synergisch in Anspruch genommen
und erregt (Hallucinationen, Illusionen, Phantasie), sondern alles unser
2*
[20]Das Vorstellen und die Empfindung.
Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig
begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab-
geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste
Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge-
schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem
auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des
N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere,
wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven-
trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse
Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern
(z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes
und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für
jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen
Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und
für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben
kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des
Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die Worte.
Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten
des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge-
hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener
als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum
Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind
noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für
die Sprache sehr wichtig.
Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung
desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das
Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab-
zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor-
stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien-
krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver-
stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni-
talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental
nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen
hervorgerufen.*)
§. 15.
Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor-
stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt
uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen
in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen
Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind.
[21]Die Phantasie.
1) Zuvörderst mag an die Gleichheit der allgemeinen Verhältnisse
von Reizung und Reizbarkeit im Vorstellen wie im sinnlichen
Empfinden erinnert werden. Vollkommene Ruhe findet sich bei bei-
den nur im tiefsten Schlafe; die gewöhnliche Ruhe, die z. B. im
Gesichtssinn als Dunkelheit, im Vorstellen als Leerheit erscheint, ist
selbst noch Thätigkeit, ein Innewerden jenes dunkeln Gesichtsfelds,
dieses leeren Vorstellungsraums. Die eigentliche Affection des Vor-
stellenden aber, das, was in der Sinnesempfindung die Farbe, der
Ton, der Geruch etc. ist, ist das jedesmal wirkliche, d. h. das be-
wusste Vorstellen. Wie es nun im Sehen, Hören etc. unendlich
viele gradweise Unterschiede der Stärke und Deutlichkeit gibt, so
gibt es auch in diesem Bewusst-sein des Vorstellens ebenso mannig-
faltige Grade, die als verschiedene Stärke, Deutlichkeit, Klarheit der
Vorstellungen erscheinen.
2) Zur Entwicklung und zum normalen Fortgang des Vorstellens
wie der Sinnesempfindung ist eine stete, mässige, adäquate Reizung
von aussen nothwendig. In den Sinnesthätigkeiten geschieht diese
Reizung durch wirkliche äussere Erregung und das Geschehen im
sensitiven Nervensysteme wird in der sogenannten excentrischen
Erscheinung auch wieder nach den Orten der gewohnten periphe-
rischen Ansprache hinaus verlegt, projicirt. Das Vorstellen dagegen
erhält die Reizungen, durch die es erregt wird und die zu seiner steten
Thätigkeit unentbehrlich sind, niemals unmittelbar von der Aussen-
welt, sondern immer durch die Sinnesempfindungen. Es zeigt sich
nun im Vorstellen eine ähnliche excentrische Erscheinung, eine ähn-
liche Projection, wie beim Empfinden, aber hier nicht nach der Aus-
senfläche oder ausserhalb des Organismus — wir sind uns vielmehr
des Vorstellens immer als eines Vorgangs in unserm Kopfe bewusst —,
sondern auch hier eben in das Gebiet, von dem aus die Anregung
gewöhnlich geschieht, in das der Sinnesempfindung. Diese excen-
trische Projection der Vorstellungen scheint es eben zu sein,
auf welcher die Nothwendigkeit eines steten Eingehens sinnlicher
Bilder in dasselbe beruht. Durch sie wird jenes leise, schwache
Mithalluciniren im centralen Sinnorgane bewerkstelligt, das alles Vor-
stellen begleitet, von dem es eben jenen, für seine Klarheit und
Lebendigkeit so unentbehrlichen, dem einen Menschen karger, dem
andern reichlicher zugemessenen sinnlichen Schatz von Farbe, Bild
und Klang mitbekommt. So gibt sie die Grundlage aller der psychi-
schen Phänomene ab, die man der Phantasie zutheilt, namentlich
auch jener Vorgänge, wo nicht mehr ein leises und blasses, sondern
[22]Das Vorstellen und die Empfindung.
ein höchst deutliches, der objectiven Sinneswahrnehmung in allen Be-
ziehungen gleiches, und wie diese völlig nach aussen verlegtes Thä-
tigsein der Sinnorgane geweckt wird — nämlich der eigentlichen
Hallucinationen. (S. §. 47.)
3) Ein Uebermass einwirkender Reize hat in beiden Gebieten
dieselben Folgen. Ein heftiger, plötzlicher Lichteindruck, ein sehr
starker Schall oder Geruch (z. B. Ammoniakgeruch) gibt eine sehr
intensive, massenhafte Empfindung mit einer blitzartigen Erschütterung
des Sinnes. Seine unmittelbare Lähmung kann die Folge sein, wie
man diess in einzelnen Fällen beim Gesichts- und Gehörsinn, beim
Hautsinn,*) in einem seltenen, von Graves erzählten Falle auch
beim Geruchsinn**) beobachtet hat. Kommt es aber auch nicht zur
Lähmung, so bleibt jedenfalls die Empfänglichkeit der Sinnesnerven
für alle andern schwächern Eindrücke auf einige Zeit vermindert und
auch noch nach erloschener Ursache dauert die angeregte Sinnes-
empfindung eine Zeit lang fort (Fortdauer des Sonnenbilds im Auge,
während man vom Sehen in die Sonne geblendet ist, Fortbrummen
des Kanonenschusses im Ohr etc.). So auch im Vorstellen. Im
Menschen werde durch einen starken Eindruck eine gewaltige Vor-
stellungsmasse gewisser Art plötzlich erregt, so kann auch hier die
Erschütterung in ihrer ersten Stärke schon Lähmung zur Folge haben
(die Fälle von schnellem Tod vom Gehirne aus durch heftige psy-
chische Einwirkungen); wenn aber auch nicht, so wird jedenfalls noch
lange, nachdem der Eindruck vorüber ist, der betreffende Vorstel-
lungscomplex fast die Alleinherrschaft im Bewusstsein haben und für
alles übrige Vorstellen bleibt auf geraume Zeit die Empfänglichkeit
bedeutend verringert. Schon auf diese Weise können erschütternde
Lebensereignisse die Seele veröden und verarmen.
§. 16.
4) Vorstellungen und Sinnesthätigkeiten — auch hier sind die
Verhältnisse wieder am deutlichsten im Gesichtssinn — können indes-
sen nicht unbestimmte Zeit lang ganz in derselben Weise andauern;
es ist vielmehr, als ob das Vorstellende oder Empfindende von dem-
selben Acte bald ermüdet würde, immer ein gewisser Wechsel
nothwendig. Wo zu solchem von aussen kein Anlass geboten ist,
[23]Ideenassociation und Gedächtniss.
da wird, rein subjectiv, ein neues Empfinden oder Vorstellen, von
dem ersten hervorgerufen. Das einfachste derartige Phänomen auf
sensitivem Gebiete ist das der sog. complementären Farben und sub-
jectiven Contrastfarben (das Auftreten von Blau durch gesehenes
Orange, von Violett durch Grün etc.). Im Vorstellen geht dieser
Process nach denselben, in ihrem tieferem Grunde sehr dunkeln Be-
ziehungen des Contrastes und der Aehnlichkeit vor sich. Sobald
eine Vorstellung eine gewisse Zeit gedauert hat, ruft sie eine andere,
ihr ähnliche oder mit ihr contrastirende herauf, womit dann entweder
ganz neue Vorstellungsreihen beginnen oder zu der ersten Vorstel-
lung, welche die herrschende bleibt, zurückgekehrt werden kann.
Sehr auffallend ist diess z. B. an den Erfahrungen, wo mitten unter äusser-
lich motivirten traurigen Vorstellungen andere ganz entgegengesetzte, sehr lächer-
liche, plötzlich auftreten. Die Thatsache der subjectiven Entstehung der Vor-
stellungen ist übrigens eine der allerallgemeinsten im geistigen Leben; aus den
Beobachtungen hierüber sind die sog. Gesetze der Ideenassiociation zu ab-
strahiren. Die Vorstellungen rufen einander sowohl nach ihrem begrifflichen In-
halt, als nach der Aehnlichkeit der in sie eingegangenen Sinnesbilder (Gesichts-
bilder, Klangbilder, Worte) hervor; das letztere sieht man zuweilen bei Geistes-
kranken, namentlich Maniacis, in auffallendster Weise, indem lange Reihen ähn-
lich klingender Worte, ohne Sinn oder nur durch den lockersten Sinn verknüpft,
mit grosser Raschheit gefunden und hergesagt werden.
Auch in andern Sinnen, als im Gesichtssinn, namentlich im Hautsinn, machen
wir, doch mehr in pathologischen Zuständen, die Erfahrung, dass durch eine Em-
pfindung, z. B. einen Schmerz an einer gewissen Stelle, ähnliche Empfindungen,
Kitzel, Schmerz etc. anderer Stellen geweckt werden, und dass solche Mitempfin-
dungen die Neigung annehmen, jene ersten Empfindungen stets zu begleiten.
Insoferne durch die sogenannte Ideenassociation nicht neue Vor-
stellungen entstehen, sondern nur aus dem Schatze des früher da-
gewesenen Vorstellens Einzelnes geweckt und reproducirt wird, nennt
man diesen Process das Gedächtniss. Der nähere Hergang dieser
Reproductionsprocesse ist häufig ganz unfassbar und dunkel; alte Vor-
stellungen tauchen plötzlich auf, ohne dass sich irgend ein Ursprung
aus dem eben vorhergegangenen Vorstellen finden lässt, wie jene
Reproductionen von Sinnesbildern, die Henle unter der Rubrik des
Gedächtnisses in den Sinnen beschrieb, plötzlich, unmotivirt im Ge-
sichtsfelde wieder auftreten.
Da auf dieser centralen Reproduction des Vorstellens alle feineren geistigen
Combinationsprocesse beruhen, so leidet der Verstand bei jeder, etwas bedeuten-
deren Schwächung des Gedächtnisses, grosse Noth. Bei vielen Geisteskranken,
namentlich Blödsinnigen, hat die Unmöglichkeit des richtigen Urtheilens und
Schliessens seinen Grund in dem Erlöschen des Gedächtnisses. Die Vorstellungen
werden um so leichter behalten und reproducirt, je stärker und lebhafter sie
[24]Das Vorstellen und die Empfindung.
anfangs auftraten, je gesunder und activer das Gehirn ist. Alle möglichen Gehirn-
krankheiten können das Gedächtniss stören oder aufheben, und die Beschaffenheit
des letzteren gibt daher bei vielen Irren den Massstab für die Schwere ihrer
Gehirnerkrankung.
§. 17.
5) Zunächst hieran schliesst sich das Verhältniss, dass im Organ
des Vorstellens wie im Sinnorgan die eigenthümliche Energie nicht
nur durch die normalen äusseren Reize, sondern auch durch innere
Reize, anderer Art als das Vorstellen und Empfinden selbst, na-
mentlich durch krankhafte Reize geweckt werden kann. Die Ent-
zündung der Chorioidea hat eine Irritation der Retina zur Folge,
welche sich im Auftreten subjectiver Lichtempfindungen, farbiger
Sonnen, Blitze etc. kund gibt; ebenso können subjective Ton-, Ge-
ruchs-, Geschmacksempfindungen, im Hautsinn Kälte, Brennen, For-
mication etc. durch alle inadäquaten Reize auf den sensitiven Nerv
oder sein Centrum hervorgerufen werden. In derselben Weise äus-
sert sich die Irritation des Gehirns durch innere, organische Reize in
neuen, krankhaften Vorstellungsphänomenen. Wie die Entzündung der
Gefässhaut des Auges anomale Lichterscheinungen, so erzeugen die
Krankheiten der Gefässhaut des Gehirns, der Pia, welche die freien
Oberflächen so innig überzieht und noch in sie eindringt, ihre Hyperä-
mieen und Exsudationsprocesse, auch ein anomales (delirirendes) Vor-
stellen, neue, von innen heraus entstandene Seelenzustände (Gemüths-
bewegungen, Urtheile etc.), was natürlich in noch viel höherem Masse
bei Erkrankungen jener Gehirnsubstanz selbst stattfindet. Aber nicht
nur diese gröberen, offen zu Tage liegenden Erkrankungen erzeu-
gen ein solches anomales Vorstellen; die Gehirnirritation kann offen-
bar auch durch Mittheilung der Nervenzustände aus inneren, ent-
fernteren Organen, z. B. dem Herzen, dem Darm, den Genitalien
entstehen. Eine nahe Beziehung der Nerven der Eingeweide zum
grossen und kleinen Gehirn ist experimentell nachgewiesen (Valentin,
Budge), und wie noch innerhalb der physiologischen Gesundheits-
breite die Zustände der Eingeweide von wesentlichem Einfluss auf
die Stimmung im Ganzen und auf das Auftreten bestimmter Arten
von Vorstellungen sind (am auffallendsten an den Genitalien bemerk-
bar), so werden durch krankhafte Nervenerregungen, die in jenen
Organen ihren Ursprung haben, häufig genug krankhafte Seelenzustände
gesetzt, die oft mit der Hebung des peripherischen Reizes wieder
verschwinden, anderemale aber, einmal entstanden, selbständig fort-
dauern.
[25]Psychischer Schmerz und Lust.
Es kann hier schon erwähnt werden, dass im gesunden, wie im kranken
Leben durch solche organische Erregungen anfangs gewöhnlich nicht gleich neue,
klare und deutliche Vorstellungen veranlasst werden, sondern zuerst jene dunkeln,
unbestimmteren Modificationen im Vorstellen, die man Gemüthsbewegungen nennt.
Namentlich die Schnelligkeit im Ablaufe der Vorstellungen und der Modus ihres
Ineinandergreifens wird abgeändert durch diese Eindrücke aus dem Organismus,
der sich in den Wechsel der Gefühle und Gedanken „bald wie das Schwungrad
einmischt, das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine träge Last,
die sie verzögert oder gar unmöglich macht.“ Lotze hat diese Art organischer
Psychagogie sehr richtig bezeichnet. Die Weiterentwicklung des Organismus,
sagt er, wirkt auf die Seele weit weniger mittelst der Ausbildung bestimmter
Vorstellungen, als vielmehr durch die Hervorbringung gewisser stehender Ge-
müthsstimmungen oder gewisser Eigenthümlichkeiten der Gedankenbewegung,
die dann als unaussprechbare Obersätze den Lebensansichten und Entschlüssen
zu Grunde liegen. „Die im Einzelnen geringen und dunkeln, in ihrer Summation
aber bedeutenden und einflussreichen Sensationen aus den Organen des Körpers
machen sich in der Seele geltend und diese an sich gestaltlose Gemüthsrichtung
kann doch der Grund sein, welcher die übrigen Kräfte des Geistes auf einen
Kreis ihr adäquater, bestimmter Vorstellungen lenkt.“*) Aus diesen Stimmungen
heraus entwickeln sich eben, von den Umständen unterstützt, einzelne bestimmte
Vorstellungen.
Wir werden dasselbe beim Irresein finden; wir werden sehen, wie fast seine
ganze Pathogenie darin besteht, dass aus inneren organischen Ursachen psychi-
sche Verstimmungen entstehen, und wie erst später aus diesen einzelne, der
neuen Stimmung angemessene, irre Vorstellungen, auf deren speciellen Inhalt
dann die mannigfaltigsten Umstände Einfluss haben, hervortreten.
§. 18.
6) Das Vorstellen, wie das Empfinden, kann von Schmerz oder
Lust begleitet sein; diese Vorgänge zeigen auf beiden Gebieten die
grösste Analogie, die um so beachtenswerther ist, da der psychische
Schmerz unter die wichtigsten Fundamentalzustände des Irreseins gehört.
In der Empfindung sowohl als im Vorstellen ist das Wesen des
Schmerzes und der Lust eine Art dunkeln Urtheils, einerseits über die
Förderung, andererseits über die [Beschränkung] und Beeinträchtigung
des Ich.**) Es kann sich dieses Urtheil an ein gerade gegebenes
einzelnes Empfinden oder Vorstellen, das dann eben als ein schmerz-
haftes empfunden wird, knüpfen; es gibt aber auch in der Empfin-
dung, wie im Vorstellen, viel allgemeinere, vagere Zustände von
Unbehaglichkeit, wo jenes dunkle Urtheil nicht ein gewisses einzelnes
[26]Das Vorstellen und die Empfindung.
Empfinden oder Vorstellen, sondern nur den Stand der Dinge im
Empfinden und Vorstellen im Allgemeinen trifft. So die körperlichen
Zustände von allgemeiner Unbehaglichkeit, körperlicher Schwere etc.
ohne localisirten Schmerz, so im Vorstellen die objectlosen Gefühle
der Beklemmung, der Angst etc., aus denen sich übrigens bei län-
gerer Dauer auch wieder einzelne adäquate, schmerzliche Vorstellun-
gen heraus entwickeln.
Psychischer Schmerz kann durch Alles erregt werden, was den
normalen Ablauf und das normale Ineinandergreifen der Vorstellungen,
die das Ich repräsentiren (s. §. 25.), stört und damit die Freiheit
des Ich beschränkt. Ein Uebermass psychischer Reize, das ein un-
geordnetes Gedränge neuer auftretender Vorstellungen weckt, wie
eine allzu grosse Entbehrung derselben (Langeweile, geistige Unem-
pfänglichkeit) kann unangenehme Gefühle erwecken, wie im sensitiven
Nervensystem der Schmerz sowohl durch starke Reize und tumultuari-
sche Eingriffe, als durch Entziehung der gewohnten Reize (Kälte,
Hunger) entstehen kann.
Ob die Störung des normalen Vorstellungsverlaufs insoweit
percipirt wird, dass aus ihr psychischer Schmerz entsteht, ist
schon nach der Individualität sehr verschieden; eine feinere,
beweglichere, geistige Organisation kann da schon grosse Un-
lust empfinden, wo der stumpfere Kopf durchaus unberührt bleibt,
z. B. wenn es nicht gelingen will, die Gründe einer Thatsache zu
begreifen, ein vorliegendes Problem zu lösen. Namentlich viel aber
kommt auf den momentanen Reizzustand des Vorstellungsorgans an,
ob das Vorstellen von Schmerz begleitet wird, oder nicht. Die glei-
chen Dinge machen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Ein-
drücke, andere, wenn wir ein Glas Wein getrunken haben, wenn
wir aus der Oper nach Hause gekommen sind, wenn uns kurz zuvor
etwas Unangenehmes begegnet ist etc. Wie der im neuralgischen
Irritationszustande befindliche Nerv auf die äussere Berührung ganz
anders reagirt, als sonst, und schon durch den gelindesten Eindruck
der Schmerz in ihm geweckt wird, so gibt es Gehirnzustände, wo
jeder psychische Reiz auch einen psychischen Schmerz erweckt und
wo alles Vorstellen schmerzhaft geworden ist. Der jeweilige Reiz-
zustand des Organs ist aber ein Product aus allen früheren Reiz-
zuständen in Verbindung mit den eben jetzt einwirkenden Reizen.
Wo viele und tiefere psychische Schmerzzustände vorausgegangen
sind — sei es nun aus originärer Disposition zu solchen oder aus
widrigen psychischen Eindrücken — da bildet sich allmählig eine
[27]Der psychische Schmerz.
allgemeine, anhaltendere oder vorübergehendere schmerzliche Ver-
stimmung: dem Unglücklichen erscheint alles düster und, wer viel
Widerwärtiges erlebt, verfällt leicht in bleibende traurige, misanthro-
pische Laune. Wir werden sehen, dass das Irresein sehr gewöhnlich
mit einem solchen Zustande anfängt, wo der Mensch von Allem
schmerzliche Eindrücke bekommt und dass diese Gemüthsbeschaffen-
heit nicht selten durch unangenehme Erlebnisse vorbereitet und er-
worben wird. Und es wird uns hiermit schon die Einsicht in eine
wichtige psychische Prädisposition zum Irresein eröffnet, in jene
Impressionabilität, jene Geneigtheit zu leichter und schneller psychi-
scher Schwankung nämlich, bei welcher durch jeden psychischen
Eindruck jene dunkeln Urtheile über das eigene psychische Geschehen
geweckt werden, wo allmählig fast jede Vorstellung zu einer Gemüths-
bewegung wird, wo eben damit das objective Auffassen bedeutend
erschwert und so leicht ein hypochondrischer Subjectivismus und
Egoismus gross gezogen wird.
Denn der psychische Schmerz hat, wie der körperliche, das
Eigenthümliche, dass er sich immer mächtig in den Vordergrund des
Bewusstseins drängt und wenig Anderes neben sich aufkommen lässt;
ja seine höchsten Grade sind, wie die höchsten Grade des Sinnen-
schmerzes von äusserer Anästhesie, so von völliger psychischer Un-
empfänglichkeit für die normalen Reize begleitet. Die Pupille des
geistigen Auges verengert sich und als sein einziges Object kommt
der scharf fixirte geistige Schmerz zum Bewusstsein; wie in der Hy-
perästhesie der Sinne, z. B. des Auges, dieses sich dem sonst auf-
gesuchten Lichtreize entzieht und das Dunkle sucht, so entzieht sich
der von psychischem Schmerz Gequälte dem geistigen Verkehr mit der
Aussenwelt, weil ihm jede psychische Berührung unangenehm ist und
wird in theilnahmlosem Versunkensein noch mehr in sich concentrirt.
Dann ergeben sich noch andere wichtige Folgen aus dem psychischen
Schmerze. Eben wegen dieser Concentration wird das übrige Vor-
stellen langsamer und träger; erfinderisch in der eigenen Qual und
mit ihr stets nach allen Seiten hin beschäftigt, tritt dem Menschen
aus den Kreisen seiner sonstigen Interessen wenig mehr ins Bewusst-
sein, sie sind momentan vergessen, und wenn er daran erinnert wird,
so kann ihm die Unmöglichkeit, jetzt noch den gewohnten Antheil
an ihnen zu nehmen, zum Objecte neuen Schmerzes werden. Es
entwickelt sich, weil jeder psychische Eindruck unangenehm wird,
eine allgemeine Stimmung der Negation und des Verabscheuens,
und an die Stelle von Wohlwollen und Liebe treten die finstern Re-
[28]Der psychische Schmerz.
gungen des Misstrauens und des Hasses. Nun fordert noch das der
menschlichen Seele eingeborene Causalitätsgesetz zum Aufsuchen von
Ursachen für den — von innen heraus entstandenen — geistigen
Schmerz auf; diese werden in der Aussenwelt gesucht, weil der
Mensch gewohnt ist, von dort her die Anstösse zu seinen psychischen
Zuständen zu bekommen; da sie aber nicht wirklich in der Aussen-
welt liegen, so sind die hier sich ergebenden Vorstellungen, Urtheile
und Schlüsse falsch, es sind Delirien. Dieses Aufsuchen von Gründen
für die psychische Verstimmung, diese Erklärungsversuche werden
wir überall als eine vorzügliche Quelle des Deliriums der Geistes-
kranken kennen lernen, und wir werden sehen, dass sich diesem
Forschen nach den Causalmomenten nicht nur Vorstellungen im engern
Sinne, sondern durch Hereintreten der Phantasie, der centralen Er-
regung der Sinnesthätigkeit durch das Vorstellen, auch die vielfachsten
Hallucinationen und Illusionen zu seinen Erklärungsversuchen anbieten.
Der sensitive Schmerz beeinträchtigt immer den Tonus und die
Bewegungen der Muskeln. Wir beobachten bald Scheu vor jeder
Bewegung, instinktive Ruhe des leidenden Theils, bald wirklich er-
schwerte Beweglichkeit, Subparalyse, bald krankhafte Bewegungen,
Contracturen (tetanus) und convulsivische Erschütterungen. Auch das
psychische Leben hat seine motorische Seite (S. den nächsten §.)
und diese wird vom psychischen Schmerze in derselben Weise affi-
cirt. Bald ist das Streben überhaupt vermindert und gehemmt, wir
finden die Kranken willen- und thatenlos, wie der sensitive Schmerz
so oft von central entstandener tiefer Ermüdung begleitet ist; bald
ist es in einer einzigen Richtung krampfhaft festgehalten, bald wird
dieser Zustand durch rapide, aber wenig energische psychische Be-
wegung unterbrochen, bald werden durch den Schmerz solche Aus-
brüche eines heftigen, unzweckmässigen (convulsivischen) Strebens für
die Dauer angeregt. Wie aber in der sog. Muskelempfindung das
Centralorgan von dem Zustand des motorischen Nervensystems wieder
Notiz nimmt, so werden auch diese Zustände der motor. Seite des
psychischen Lebens wieder bewusst; die krankhafte psychische Mat-
tigkeit, die Willenlosigkeit, das einseitige Festgehaltensein und die
convulsivischen Erschütterungen des Strebens werden rückwärts als
eine Art motorischen Schmerzes percipirt, der die Summe des
vorhandenen peinlichen Zustandes noch vermehrt.
Die psychischen Schmerzzustände, Angst, Schrecken, Traurigkeit, Gram etc.,
mögen sie innerlich oder äusserlich motivirt sein, haben auch für den übrigen
Organismus ganz dieselben Folgen, wie der sensitive Schmerz. Der Schlaf bleibt
[29]Das Vorstellen und die Bewegung.
aus, die Ernährung leidet, Abmagerung und allgemeine Erschöpfung stellen sich
ein. Der psych. Schmerz wechselt zuweilen mit sensitiven Neuralgieen, mit sog.
Spinalirritation; anderemale hat er solche zur Folge — namentlich sehr häufig
beobachtet man gleichzeitig den bei der sog. Spinalirritation so gewöhnlichen epi-
gastrischen Schmerz (Vagus-affection?); anderemale ist er mit sensitiver Anästhe-
sie verschiedenen Grads (geringe Empfindlichkeit für Temperatur und äusserlich
erregten körperlichen Schmerz) complicirt.
Die Zustände der psychischen Lust geben durchweg die umgekehrten Resul-
tate; es mag dem denkenden Leser überlassen bleiben, sich ihre Analogieen mit
dem Wesen und den Folgen der angenehmen körperlichen Empfindungen selbst
auszuführen. (S. auch in der Formenlehre das Capitel vom Wahnsinn und die
Aufsätze des Verf. in Roser und Wunderlich, med. Vierteljahrschrift. 1843 u. 1844.)
§. 19.
Wie die eigenthümliche Thätigkeit der grossen Gehirnganglien,
das Vorstellen, in der innigsten Beziehung zur Sinnesthätigkeit steht,
so findet sich auch zwischen den Actionen des motorischen Nerven-
systems, das seine Ursprünge auch in jenen Ganglien hat, und dem
Vorstellen eine sehr enge Verknüpfung. Und diese Relation ist der-
jenigen sehr ähnlich, in welcher die Sinnesempfindung zum Vor-
stellen steht.
Wie nämlich aus unsere Sinnesanschauung schwache, abgeblasste
Reste übrig bleiben und in unsere Vorstellungen constituirend ein-
gehen (§. 14.), so lassen auch die motorische Impulse in die Muskel-
thätigkeit abgeblasste Schemata zurück, welche als Bewegungs-
anschauungen sich mit unserm Vorstellen mischen. Es gibt ein
mittleres Gebiet zwischen dem reinen Vorstellen und zwischen dem
motorischen Nervenreiz, der die Muskeln unmittelbar zur Contraction
veranlasst, ein Gebiet, für das es kein gehörig bezeichnendes Wort
gibt, welches aber die Impulse zu den Reihen der einzelnen Muskel-
bewegungen schon in grösseren Gruppen zusammengeordnet und prä-
formirt enthält. Hier sind die zweckmässigen Bewegungsimpulse in
viele Muskeln, die sich zu den einzelnen Muskelbewegungen wie um-
fassende Ganze, zu unsern eigentlichen Handlungen aber wieder nur
wie einzelne Bruchstücke verhalten, theils nach einer im Voraus
prästabilirten Harmonie, theils nach der durch Uebung und Gewohn-
heit gegebenen Ordnung combinirt. Dieser complicirtere Mechanis-
mus, dessen Sitz nach Experimenten und den pathologisch-anatomi-
schen Thatsachen an den verschiedenen Durchgangspunkten der Fort-
setzungen der Vorderstränge und der Pyramidenstränge durch graue
Substanz schon in der Brücke, dann im kleinen und grossen Gehirn
zu suchen ist, wird einerseits von der Masse der Empfindungsreize,
[30]Das Vorstellen und die Bewegung.
welche ihn an allen jenen Orten treffen, in Bewegung gesetzt und
präsidirt dann jenen instinktiven Bewegungen und Handlungen, die
dem geistigen Gebiete zum Theil ganz entzogen sind, zum Theil in
verschiedenen Höhen dasselbe erreichen und damit seinen fördernden
oder hemmenden Einfluss erleiden. Andrerseits aber mischen sich
die Schemata dieser grösseren Bewegungsimpulse, ideale Reproduc-
tionen derselben, auch in unsere geistigen Prozesse in der Weise
ein, dass sie als wesentliche Bestandtheile in das einzelne Vorstellen
eingehen. Damit aber nimmt das Vorstellen selbst eine motorische,
auf die Muskelbewegung tendirende Richtung an, und es wird da-
durch zum Streben.
Unser Vorstellen erregt unsre willkührlichen Bewegungen niemals in der Art,
dass es einzelne Muskeln zur Contraction auffordert; es weiss vielmehr von
diesen Muskeln gar nichts, sondern kennt nur die inneren, von früheren Be-
wegungsreihen zurückgebliebenen Bilder, die, einmal zu freien Bewegungsimpulsen
geworden, dann ohne weiteres Zuthun des Vorstellens die Muskeln in grösseren
zweckmässig coordinirten Gruppen in Thätigkeit setzen (Gehen, Schreiben etc.).
In den beschränkter localisirten Gehirnkrankheiten, den Krankheiten der Brücke,
des kleinen Gehirns, der thalami, der corpp. striata etc. sehen wir gewöhnlich
Störungen dieses Mechanismus, Aufhebung seines Zusammenhangs mit dem Vor-
stellen, wo dann bald durch den Krankheitsreiz erregte complicirte Bewegungen
(Vorwärtslaufen, Drehbewegungen etc.) unwillkührlich ausgeführt werden, bald,
wegen mechanischer Trennung der Gehirnsubstanz, der Einfluss des Vorstellens
diesen Mechanismus nicht mehr erreichen kann (z. B. Lähmungen einer Körper-
hälfte bei Extravasaten in den corpp. striat.); auch verschiedene Mischungen von
beidem Verhalten kommen zuweilen und zwar auf ganz beschränkten Bewegungs-
gebieten, z. B. dem der Sprachorgane, vor; so z. B. dass die vorgestellten
Worte nicht ausgesprochen werden können, dagegen nicht vorgestellte hergesagt
werden müssen.
§. 20.
Die Einmischung der Bewegungsanschauungen in unser Vorstellen
ist der vermittelnde Process, durch den jede Aeusserung unsers gei-
stigen Lebens hindurch muss. Dass aber dem psychischen Geschehen
in uns überhaupt die Tendenz innewohnt, sich zu äussern, sich in
Bewegung und Handlung darzustellen, diess beruht auf jener allge-
meinsten Grundthatsache, der wir überall im Nervensystem begegnen,
dass nämlich die centripetalen Erregungszustände in den Centralorga-
nen in motorische Impulse umschlagen. In verschiedenen Höhen des
psychischen Lebens sehen wir verschiedene Erfolge aus dieser Ein-
richtung sich ergeben. Im Rückenmarke erregen die noch gar nicht
percipirten centripetalen Eindrücke unzweckmässige oder halb zweck-
mässige Bewegungen einzelner Muskel und Muskelgruppen (einfachste
[31]Die Triebe.
Reflexbewegungen). Alle Sinnorgane sind mit Muskelapparaten ver-
sehen, deren durch den Zustand des Sinnesnerven erregte ganz un-
willkührliche, aber zweckmässige Reflexbewegungen die sinnliche Per-
ception begleiten und wesentlich unterstützen. Auch jener grössere
Mechanismus, der die Bewegungsimpulse zu ganzen Reihen zweck-
mässig combinirter Muskelcontractionen in sich enthält, dem zunächst
die Bewegungen unsers ganzen Körpers im Grossen anvertraut sind,
wird durch sinnliche Empfindungen nach dem einfachen Modus der
Reflexaction in Bewegung gesetzt, und zwar theils unzweckmässig
(z. B. Zusammenfahren nach einem heftigen Sinneseindruck), theils
in zweckmässiger Weise. Bewegungen letzterer Art werden durch
sinnliche Empfindungen theils von aussen her erregt, wie wir in den
grösseren Tactbewegungen nach musikalischen Eindrücken, in den
rasch erfolgenden sog. instinctiven Handlungen nach starken Sinnes-
eindrücken (Abwenden u. dergl.) beobachten. Theils aber auch liegen
die Ursachen der sinnlichen Empfindungen, welche das Handeln er-
regen, in unserem eigenen Körper. Die Empfindungen aus unserm
ganzen Organismus, namentlich aber aus den Eingeweiden, aus dem
Darme, den Genitalien etc. geben als sinnliche Bedürfnisse dem Han-
deln bald leisere, bald impetuosere Anstösse; im Thiere herrschen
sie frei, sie machen den Hauptinhalt seiner psychischen Existenz aus,
sie treiben es auf weite Reisen und bestimmen alle seine grossen
Bewegungsreihen. Im Menschen ist der unmittelbare Uebergang
dieser Empfindungen in Bewegung dem Einwirken der Vorstellungen
in höherem Masse offen gelassen und durch sie treten Pflicht und
Sitte mahnend und regierend zwischen die sinnlichen Triebe. Aber
es gibt Umstände, wo jene ihre Macht verlieren. Geisteskranke, bei
welchen der Einfluss der Vorstellungen auf diese Triebe geschwächt
ist, dagegen vielleicht die sensitiven Anstösse derselben verstärkt
sind, sehen wir oft z. B. den Nahrungstrieb oder den Geschlechts-
trieb mit offenster Rücksichtslosigkeit äussern; manche traurige Bei-
spiele (von Schiffbrüchigen etc.) haben gezeigt, wie der Nahrungs-
trieb, aufs Höchste gesteigert, die Mahnung, welche ethische und
ästhetische Vorstellungen ihm entgegensetzen, trotzig überspringt,
und auch ohne solche Verwilderung, für den Menschen des gesitteten
Lebens, ist es ein wahres Wort, dass Hunger und Liebe die stärk-
sten Motive seines Handelns sind.
Den Drang, das Bedürfniss zur Muskelbewegung, zum Handeln in Folge sol-
cher aus dem Organismus selbst kommender sensitiver Anstösse begreift man
unter dem Namen der (sinnlichen) Triebe; die einfachsten und verständlichsten
[32]Die Triebe.
sind der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb, ganz dunkel und in ihren Ur-
sprüngen unerforscht sind die Kunsttriebe vieler Thiere. Doch sind es immer,
wenigstens beim Menschen, nicht allein die Empfindungen, als solche, sondern
auch dunkle, mit ihnen zusammenhängende, schon von ihnen geweckte Bewegungen
im Vorstellen selbst, die die Grundlage des Triebs geben, Bewegungen, die man
zum Theil als Gefühle bezeichnet, bei denen aber deutliche Vorstellungen der be-
treffenden Objecte ganz fehlen können.
Alle Triebe gehören beim Menschen wesentlich dem Gehirn und nicht dem
peripherischen Nervensystem an. Mögen die Ausgangspunkte der betreffenden
Empfindungen in den entferntesten Theilen des Organismus liegen, nirgends anders
können diese Empfindungen den Mechanismus afficiren, mittelst dessen complicirte
Bewegungen realisirt werden, nirgends anders kann sich ihnen jenes dunkle Vor-
stellen beimischen, als im Gehirn; durch beides aber werden die Empfindungen
erst zu Trieben.
Man spricht auch von geistigen Trieben, Wissenstrieb, Sammeltrieb,
auch Familientrieb, Trieb der Kinderliebe etc.; man meint auch hier das Bedürf-
niss zu gewissen Thätigkeiten, angeregt durch einzelne, stehend gewordene Vor-
stellungsmassen, die aber nicht in ein bestimmtes, deutliches Einzel-Vorstellen
auseinandergehen, sondern ungeschieden, mit der dunkeln Abstractheit des bloss
Empfundenen, [das] Handeln bestimmen.
§. 21.
Durch die Triebe werden mit grösster Leichtigkeit stärkere oder
schwächere, anhaltendere oder vorübergehendere Gemüthsbewegungen
(S. §. 27.) gesetzt, und indem die Triebe und die von ihnen ge-
weckten Gefühle sich dem Vorstellen beimischen, nimmt dieses schon
ein bewegliches, nach aussen drängendes Element in sich auf, be-
kommt zugleich etwas Warmes, Sinnliches, und es ergeben sich aus
diesen Mischungen ganz neue Seelenzustände.
Die Verhältnisse des Verkehrs beider Geschlechter bieten hiefür ein gutes
Beispiel. Das ästhetische Wohlgefallen an einer Individualität anderen Geschlechts
oder die verständige Ueberzeugung von deren Vorzügen werden erst durch die
Einmischung sexueller Empfindungen und Regungen zu dem neuen Seelenzustande,
den man im Ganzen als Liebe bezeichnet, und der mit dem Erlöschen der se-
xuellen Empfindungen auch aufhört.
Es hat nichts Widersinniges, einzelne Orte im Gehirne als Sitze
der sinnlichen Triebe aufzusuchen; es müssten diejenigen sein, wo
gewisse Empfindungsnerven und ihre centralen Ausbreitungen, z. B.
die des Vagus, die der Sexualorgane mit den motor. Apparaten zu-
sammentreffen. Aber es ist bis jetzt weder erwiesen, noch beson-
ders wahrscheinlich, dass diese Orte gerade auf der Gehirnoberfläche
liegen.
Bei Geisteskranken sieht man sehr oft nicht nur den Nahrungs- und Ge-
schlechtstrieb rücksichtslos sich äussern; es kommen auch neue, namentlich dem
[33]Das Wollen.
früheren Leben des Individuums fremd gewesene, stehende Neigungen zu gewissen
Handlungen vor, so z. B. das beständige Sammeln (von allen möglichen Kleinig-
keiten, Federn, Lumpen, Papier etc.), das an die Sammel- und Kunsttriebe man-
cher Thiere erinnert und seinem psychischen Ursprunge nach gleich sonderbar
und räthselhaft, wie diese, ist. Ueberhaupt nimmt das Thun der Geisteskranken
in den Zuständen von Irresein, wo viel äusserlich gehandelt wird, wie in den
maniacalischen Zuständen, einen nach Jakobi’s treffendem Ausdrucke, fast durch-
aus triebartigen Character an, und sehr auffallend ist oft der damit über-
einstimmende Ausdruck der Physionomie, der ganzen Mimik, die häufig lebhaft an
den Habitus und die Geberden einzelner Thierspecies erinnern.
§. 22.
In den Trieben sind es nicht einzelne, distinkte, klare Vorstel-
lungen, sondern es sind Empfindungen und Gefühle, die Bewegungs-
anschauungen erregen und damit das motorische Nervenagens nach
den Muskelgruppen determiniren. Wenn aber die bewussten deut-
lichen Vorstellungen selbst durch eine Einmischung von Bewegungs-
anschauungen eine Beziehung auf die Muskelbewegung erhalten, so
nennt man diesen Vorgang — das Wollen.
Dem deutlichen sinnlichen Vorstellen gesellen sich jene Bewe-
gungsanschauungen zu; aber auch in das Vorstellen, das nur in ab-
stracten Gesamteindrücken, die durch Worte bezeichnet werden, be-
steht (das begriffliche Vorstellen. §. 14.), können Bewegungsbilder
eingehen. Diese sind dann aber gleichfalls nur dunkle Gesamt-
eindrücke aus grossen Summen von Bewegungsanschauungen, die
einzeln noch durchaus nicht geschieden, sondern wie zusammen-
gewickelt darin enthalten sind; soll es zum Ausführen des begrifflichen
Vorstellens kommen, so muss jener Gesamtinhalt in eine Menge ein-
zelner, vorher noch gar nicht zu bestimmender Bewegungsbilder aus-
einandergehen.
So verhält es sich überall, wo Abstractes gewollt wird — tugendhaft sein-
wollen, heirathen-wollen etc., d. h. den Begriff der Tugend, den Begriff der
Ehe realisiren wollen; wo immer dies ein wirkliches Wollen und kein blosses
Darandenken ist, da ist mit dem Begriff eine dunkle Masse noch verschmolzener
Bewegungsanschauungen gemischt, die dann bei der Ausführung in ein sehr man-
nigfaltiges, einzelnes Wollen sich auflösen muss.
Die Vorstellungen gehen in ein Streben und Wollen über nach
einem inneren Zwange, in dem wir auch hier auf dem innerlichsten
Gebiete des Seelenlebens das Fundamentalgesetz der Reflexaction
erkennen. Den Geistesgesunden drängt und treibt es, seine Vor-
stellungen zu äussern, sie in Handlungen zu realisiren und damit
sich ihrer zu entäussern. Ist diess geschehen, so fühlt sich die
Griesinger, psych. Krankhtn. 3
[34]Das Wollen.
Seele erleichtert, befreit; sie hat sich durch die That ihrer Vorstel-
lungen entledigt und ihr Gleichgewicht ist nun wieder hergestellt.
Eine merkwürdige Grundthatsache des psychischen Lebens, die die
innere Erfahrung jedes Menschen kennen muss. Sie zeigt sich ebenso
im Künstler, den seine Idee, der Drang der „ungebornen Welt“
Jahre lang ruhelos beschäftigte, dem aber das vollendete, gelungene
Werk fremd und gleichgültig wird, wie in jenem Unglücklichen, den
der Gedanke einer zu begehenden schweren Unthat in die quälend-
sten inneren Kämpfe versetzte, dem aber mit der Ausführung augen-
blicklich die Ruhe wiederkehrt.
Es gibt auch ein Gedächtniss des Strebens und Wollens, eine Re-
production der Bewegungsanschauungen, die sich unter gewissen Umständen immer
wieder in die Vorstellungen einmischen. Unter den verschiedenen Menschen herrscht
grosse Verschiedenheit in dem Masse der Leichtigkeit und Stärke, mit der die
Bewegungsanschauungen sich geltend machen; Trägheit bis zur Willenlosigkeit.
Alles Streben zusammen, die Triebe und das Wollen, bilden die motorische
Seite der Seelenthätigkeit. Diese Vorgänge haben schon sehr grosse Aehn-
lichkeit mit den Vorgängen im wirklichen, musculo-motorischen Nervensysteme,
während das reine Vorstellen weit mehr Gemeinsames mit dem Geschehen in den
Sinnesnerven hat. Man findet daher beim Streben dieselben Categorieen wieder,
die als allgemeine Ausdrücke gewisse Zustände der Muskelbewegung bezeichnen —
Ermüdung und motorische Lähmung (Willensschwäche und Willenlosigkeit), tonischer
Krampf (einseitig festgehaltenes Streben mit sonstiger Unbeweglichkeit), convul-
sivische Bewegung (krankhaft losgelassene Triebe, Begehrlichkeit, krankhafte
Rastlosigkeit, Projectenmacherei und Thatensucht). Es ist aller Beachtung werth,
dass häufig in Geisteskrankheiten diese motorische Seite des Seelenlebens und die
musculomotorische Thätigkeit in derselben Weise krankhaft verändert sind, dass
also Willenlosigkeit mit allgemeiner motorischer Sub-paralyse, ein krankhaft er-
höhtes Wollen mit verstärkter und lebhafterer Muskelaction zusammen vorkommt
(z. B. in maniacalischen Zuständen); ein andermal springt dieselbe Affection schnell
von einem auf das andere Gebiet über, z. B. dem epileptischen Anfalle von Con-
vulsionen folgt auf dem Fusse ein psychisch convulsivischer Zustand, ein heftiger
Tobanfall. Ebenso wieder hat Rückenmarksschwäche sehr gewöhnlich auch Wil-
lensschwäche, Verzagtheit und geistige Energielosigkeit zur Folge.
§. 23.
Wie aber die Empfindungen und Gefühle um so eher zu Trieben
werden, je stärker sie sind, so entwickelt sich aus den einzelnen
Vorstellungen um so eher ein Wollen, je stärker und anhaltender
sie sich geltend machen; desswegen erzwingen sich die stärksten
Vorstellungen am Ende ihren Uebergang in Handlungen. Glücklicher-
weise aber ist im geistigen Leben dafür gesorgt, dass nicht jede
Vorstellung diesen Grad von Stärke erlangt. Denn nach den Gesetzen
der Ideenassociation treten auch die contrastirenden Vorstellungen
[35]Die Freiheit.
auf (§. 16.), ziehen weitere, ihnen verwandte Vorstellungen nach und
es entsteht im Bewusstsein ein Widerstreit. Die ganze Vorstellungs-
masse, die eben das Ich repräsentirt (S. §. 25.), wird ins Spiel ge-
zogen und gibt am Ende den Ausschlag, indem sie jene erste Vor-
stellung zurückdrängt oder begünstigt. Die Thatsache jenes Wider-
streits im Bewusstsein, der am Ende durch das Ich entschieden wird,
ist die Thatsache der menschlichen Freiheit.
Jede Annahme einer absoluten Freiheit und jedes darauf gegrün-
dete Resultat ist irrig. Die menschliche Freiheit ist stets eine rela-
tive und verschiedene Menschen sind in sehr verschiedenem Masse
frei. Ursprünglich ist der Mensch gar nicht frei; er wird es erst,
indem er eine Masse wohlgeordneter, leicht von einander hervorzu-
rufender Vorstellungen bekommt und indem sich aus diesen ein star-
ker Kern, das Ich, bildet. Zweierlei gehört also überhaupt dazu,
damit das menschliche Handeln frei sei. Einmal eine ungehinderte
Ideenassociation, damit sich um die vorhandenen Vorstellungen, die
eben zum Wollen werden, andere neu entstehende sammeln und
ihnen gegenüber treten können. Zweitens ein gehörig starkes Ich
(§. 25.), das den Ausschlag geben kann, indem sein Vorstellungs-
complex die eine Parthei der streitenden Vorstellungen verstärkt, und
damit die andere zurückdrängt. Bei dem an Vorstellungen Armen und
geistig Trägen geht die Freiheit in der traumartigen Monotonie der
Gewohnheit zu grossem Theile unter. Der geistesschwache Mensch ist
weniger frei, weil seinem vorstellen die lebendige Association fehlt
und opponirende Vorstellungen gar nicht oder nur sehr langsam sich
wecken lassen. Das Kind ist weniger frei, wenn auch sein Vor-
stellen ein sehr thätiges ist, weil sich noch kein starkes Ich gebildet
hat, das eine kräftige, fest geschlossene Vorstellungsmasse in den Streit
senden könnte.
Wenn der Mensch sittliche Motive zur Richtschnur seines Handelns macht,
so kann er diess nur thun, indem er die Masse der auf sein Sittengesetz be-
züglichen Vorstellungen durch vielfache Reproduction und Uebung so mit allem
seinem Vorstellen verknüpft, dass sie bei jeder stärkeren Gedankenbewegung auch
mit ins Bewusstsein heraufgezogen werden; sie bilden alsdann einen wesentlichen
constituirenden Bestandtheil der Vorstellungsmasse seines Ich, und wenn ein Con-
flict im Bewusstsein entsteht, so treten sie nicht nur sogleich hervor, sondern
sie haben auch überall im ganzen Inhalte des Ich etwas auf ihrer Seite. Im
Verbrecher dagegen haben sich die egoistischen und gegen Andere feindseligen
Vorstellungen allmählig so befestigt, dass sie immer leicht herauftreten und das
Ich hat einen Inhalt bekommen, dessen Hauptmasse nach der schlimmen Seite
neigt. Man glaube nicht, dass ein solcher desswegen in jedem einzelnen Falle
böse handeln müsse; auch in ihm ist die [Ideenassociation] thätig und indem sie
3 *
[36]Die Besonnenheit.
die Contraste zu seinen schlimmen Gedanken heraufführt, treten halb erstorbene
Regungen des Gewissens, halb erloschene Bilder und Erinnerungen aus besseren
Zeiten, die in der Jugend erhaltenen Mahnungen zum Guten u. s. w. ins Bewusst-
sein und der Kampf kann hitzig genug werden. Am Ende freilich tritt das Ich
auf die schlimme Seite; tritt es auf die gute, so — ist der Mensch kein Böse-
wicht, sondern ein sittlicher Held, der nach langem Kampfe seine schlimmen Ge-
lüste überwunden hat. Die Stärke der opponirenden, sittlichen Motive kann aber
nie im Voraus geschätzt werden; es gibt keinen absoluten Bösewicht; wohlwollende
Neigungen haben der Zeit nach die Priorität in der menschlichen Natur; sie werden
in keinem Menschenleben vollständig unterdrückt und die Geschichte der Ver-
brechen zeigt, wie oft das kleine Gewicht einer Jugend-Erinnerung, eines alten
Spruches oder Liederverses, der sich in den Gedankengang eindrängt, die unter-
drückten sittlichen Vorstellungen mächtig heranzieht und damit die Schale des
Guten sinken macht. Gäbe es einen Menschen, wie der alte Cenci in Shelley’s
Drama, so könnte bei ihm freilich jedesmal der böse Entschluss als ein mit Noth-
wendigkeit erfolgender vorher gesagt werden; allein es gibt keinen solchen und
kein Geistesgesunder ist zum Verbrechen gezwungen.
§. 24.
Das normale Aufeinanderwirken des Vorstellens, wobei durch die
im Flusse befindlichen Vorstellungen andere contrastirende oder über-
haupt beschränkende geweckt werden und wobei Alles in einem mitt-
leren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im
Bewusstsein ein Streit entstehen kann, bezeichnet man am besten als
den Zustand der Besonnenheit. Man sieht leicht, wie sie eine
der wesentlichsten Bedingungen aller Freiheit ist.
Es gibt nun viele Zustände, wo diese Besonnenheit geschwächt
oder ganz aufgehoben ist. Dies ist mehr oder minder der Fall,
einmal in den Affecten (S. §. 29.), die man noch zum physiologi-
schen Zustande rechnet, dann in fast allen pathologischen Zustän-
den des Gehirns. Die Alcoholintoxication, die sympathischen Gehirn-
reizungen, die meisten, tieferen organischen Erkrankungen seiner
Substanz, besonders alle die Gehirnkrankheiten, mit denen wir es
hier, als mit Geisteskrankheiten zu thun haben, stören das freie Spiel
des Vorstellens, beschränken damit die Besonnenheit oder heben sie
ganz auf. Sie thun diess auf sehr verschiedene Weise. Bald sind
durch die Gehirnaffection einzelne Neigungen und Triebe direct zu
massloser Heftigkeit gesteigert (Geschlechtstrieb, Zerstörungstrieb),
und gehen in Wollen und Handeln über, ohne dass irgend andere
Vorstellungen neben ihnen hätten aufkommen können; bald geht alles
Vorstellen in rapidestem Ablauf durcheinander und in dem Vorstel-
lungsschwindel ist nichts Einzelnes so kräftig und andauernd, dass
auch nur der Anfang eines wirklichen Widerstreits im Bewusstsein
[37]Die Aufhebung der Besonnenheit.
entstehen könnte — Beides sieht man oft in den maniacalischen Zu-
ständen, wo es dann im letzeren Falle oft auf die kleinsten Anstösse
von aussen ankommt, in welcher Weise gehandelt wird. Bald ist das
Vorstellen so träge und das Ich so schwach, dass von dieser Seite
die Voraussetzungen eines inneren Widerstreites fehlen — wie im
Blödsinn. Bald sind durch die Gehirnaffection einzelne falsche Ver-
knüpfungen von Vorstellungen, einzelne irrige Schlüsse so stehend
geworden und haben sich so in die ganze Vorstellungsmasse des Ich
verwebt, dass ihre Contraste gänzlich aus der Seele verdrängt sind,
dass sie sich desshalb in alle Entschlüsse eindrängen und das durch
diese „fixen Ideen“ verfälschte Ich nun immer in ihrem Sinne den
Ausschlag geben muss — diess ist bei den partiell Verrückten, auch
in manchen melancholischen und maniacalischen Zuständen der Fall.
Der Entschluss und die That erfolgen hier oft mit grosser Ruhe und mit
äusserlich zweckmässiger Berechnung und Wahl der Mittel; dennoch
fehlt die innere Besonnenheit, weil die falschen Voraussetzungen
die Stärke zwingender Motive erhalten haben und der Kranke sich
ihrer durchaus nicht entledigen kann.
Hiemit sollen nur Beispiele gegeben, nicht alle Arten aufgezählt sein, in
denen bei Geisteskranken die Besonnenheit aufgehoben wird. Vieles im geistigen
Mechanismus ist noch ganz unbekannt; in manchen Zuständen von Irresein, von
Rausch etc. scheinen ganze grosse Reihen von Vorstellungen, Pflichtgefühl,
ästhetische Ideen etc. dauernd oder momentan vollständig weggenommen, ohne
dass sich andere, starke Vorstellungsmassen nachweisen liessen, durch die jene
vertrieben wären.
Bei allen Geisteskrankheiten leidet die Besonnenheit vor Allem noth, und
eben damit die Freiheit. Dieser Verlust der Freiheit ist natürlich nicht das
Wesen der krankhaften Processe selbst, sondern nur ein für unsern Verstand
abstract ausgedrücktes Resultat der verschiedensten psychischen Störungen, das
niemals die Bedeutung eines diagnostischen Merkmals haben kann. Auch ist
die Besonnenheit bei den Geisteskranken in sehr verschiedenem Grade auf-
gehoben. Es gibt Zustände, die ohne die gröbste Zerreissung des Zusammen-
gehörigen nicht von den Geisteskrankheiten zu trennen sind, z. B. ihre oft lange
währenden, mässigen Anfangsstadien, viele Zustände tieferer Hypochondrie, in
denen ein ziemlich starker Rest von Besonnenheit dem Kranken bleibt. Geistes-
krankheit und völlige Unfreiheit ist also noch keineswegs dasselbe; das ärztliche
Urtheil über solche Zustände darf aber überhaupt nicht die abstracten und gar
nicht streng einzugrenzenden Begriffe des Geisteskrank- oder Geistesgesundseins,
des Frei- oder Unfreiseins im Auge behalten, sondern es muss physiologisch
das concrete Geschehen, die psychischen Hergänge selbst an ihre Quellen ver-
folgen, ihren Zusammenhang auseinanderlegen und ihre Resultate würdigen. Hiezu
ist aber freilich eine in der Regel fehlende psychiatrische Bildung nothwendig.
Die ganze Lehre von der Zurechnungsfähigkeit thut weit besser, ihren Aus-
gangspunkt an den Begriff der Besonnenheit, als an den noch abstracteren und
[38]Das Ich.
schwieriger zugänglichen Begriff der Freiheit anzuknüpfen; ein näheres Eingehen
auf diese Lehren liegt aber nicht in der Tendenz dieser Schrift.
§. 25.
Im Laufe unseres Lebens bilden sich, vermöge der fortschrei-
tenden Verbindung der Vorstellungen, immer mehr zusammenhän-
gende, grosse Vorstellungsmassen. Ihre Eigenthümlichkeit beim ein-
zelnen Menschen wird nicht nur von dem speciellen Inhalt der ein-
zelnen, durch Sinneswahrnehmung und äussere Erlebnisse hervor-
gerufenen Vorstellungen, sondern auch von ihrem habituellen Ver-
hältnisse zu den Trieben und zum Wollen, und von den stehend
gewordenen, hemmenden oder fördernden Einflüssen aus dem ganzen
Organismus bestimmt. Schon das Kind kommt dazu, aus seinen ver-
hältnissmässig noch einfachen Vorstellungsmassen einen Gesammt-
eindruck zu erhalten, den es, sobald das Material gehörig gewachsen
und erstarkt ist, anfängt, mit einem abstracten Ausdrucke, dem Ich
zu bezeichnen.
Das Ich ist eine Abstraction, in der das einzelne bisherige
Empfinden, Denken und Wollen zusammengewickelt enthalten ist,
und die sich im Fortgang der psychischen Prozesse mit einem immer
neuen Inhalte füllt. Aber diese Assimilation des neuen Vorstellens
zu dem vorhandenen Ich geschieht nicht auf einmal, es wächst und
erstarkt sehr allmählig, und das noch Nicht-Assimilirte tritt anfangs
als ein Gegensatz zu dem Ich, als ein Du im Menschen auf.
Nach und nach bleibt es nicht mehr bei einem einzigen solchen
Complexe von Vorstellen und Wollen, der das Ich vorstellt, sondern
es bilden sich mehre solche geschlossene, gegliederte und erstarkte
Vorstellungsmassen; zwei (und nicht nur zwei) Seelen wohnen dann
in des Menschen Brust, und je nach dem Vorherrschen der einen
oder der andern dieser Vorstellungsmassen, die nun alle das Ich
repräsentiren können, wechselt dieses oder wird in sich gespalten.
Hieraus kann sich Widerspruch und Widerstreit im Innern ergeben,
und solcher ergibt sich auch wirklich in jedem denkenden Menschen.
Die Lösung desselben bringen glückliche, harmonische Naturen von
selbst mit, indem sich in allen diesen verschiedenen Vorstellungs-
complexen einige allgemeine, in allen wiederkehrende, wenn auch
nur dunkle und nicht deutlich sagbare Grundanschauungen gemeinsam
entwickeln, wodurch auf allen Gebieten des Denkens und Wollens
eine harmonirende Grundrichtung — als Beispiel solcher verschiedenen
Grundrichtungen mag der Glaube einerseits, der Empirismus andrer-
seits dienen — sich ergibt. Es ist nun die höchste Aufgabe der
[39]Die Metamorphosen des Ich.
Selbstbildung, nicht nur solche gemeinsame feste Grundrichtungen zu
gewinnen, sondern sie allmählig so viel als möglich durch Denken ins
Bewusstsein zu erheben und so in den festen Besitz solcher, der indi-
viduellen Natur adäquater, durchdachter Obersätze alles Denkens und
Wollens zu gelangen.
Unser Ich ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes, je nachdem
Alter, verschiedene Lebenspflichten, Erlebnisse, momentane Erregungen diese oder
jene, dann eben das Ich repräsentirende Vorstellungsmasse mehr entwickelt und
in den Vordergrund gedrängt haben. Wir sind „ein Anderer und doch derselbe.“
Mein Ich als Arzt, mein Ich als Gelehrter, mein sinnliches Ich, mein moralisches
Ich etc. d. h. die Complexe von Vorstellungen, Trieben und Willensrichtungen,
die durch jene Worte bezeichnet werden, können mit einander in Widerspruch
gerathen und der eine zu verschiedenen Zeiten die andern zurückdrängen. Nicht
nur Inconsequenz und Zerfahrenheit des Vorstellens und Wollens, sondern auch —
wegen des beständigen hemmenden Widerspruchs aller übrigen — völlige Energie-
losigkeit auf jeder einzelnen dieser Seiten müsste die Folge sein, wenn nicht
einige wenige, dunklere oder bewusstere Grundrichtungen auf allen diesen Ge-
bieten wiederkehrten.
Eines der deutlichsten und für die Verhältnisse bei Geisteskrankheiten in-
structivsten Beispiele einer Erneuerung und Umgestaltung des Ich geben die
psychischen Ereignisse während der Pubertätsentwicklung. Mit dem Activwerden
bisher ruhender Körpertheile und mit der gänzlichen organischen Revolution in
diesem Lebensalter treten in verhältnissmässig kurzer Zeit grosse Massen neuer
Empfindungen, Triebe, dunklerer oder deutlicher Vorstellungen und Willensimpulse
ins Bewusstsein. Diese durchdringen allmählig die alten Vorstellungskreise und
werden zu constituirenden Bestandtheilen des Ich; dieses wird ebendamit ein
ganz anderes, neues, und die Selbstempfindung erleidet eine durchgreifende Meta-
morphose. Aber freilich, bis es zu dieser Assimilation gekommen ist, kann
diese Durchdringung und Zersetzung des alten Ich kaum ohne mancherlei Drang
im Bewusstsein und ohne tumultuarische Erschütterung desselben, d. h. nicht ohne
mancherlei Gemüthsbewegungen vor sich gehen. Desshalb ist jene Lebensepoche
ganz vorzüglich die Zeit innerlich entspringender, äusserlich unmotivirter Ge-
müthsbewegungen.
§. 26.
Nicht umsonst haben wir dieses Beispiel gewählt, das mit viel-
fachen Analogieen das Irresein schön erläutert. Bei diesem nämlich
entwickeln sich gewöhnlich, gleichfalls von innen heraus, mit der
eintretenden Gehirnkrankheit Massen neuer, dem Individuum bisher
in dieser Weise fremd gewesener Empfindungen, Triebe und Vor-
stellungen (z. B. grosse Angstempfindungen, daran geknüpft die Vor-
stellungen eines begangenen Verbrechens, der Verfolgung). Anfangs
stehen diese dem alten Ich als ein fremdes, oft Staunen und
Schrecken erregendes Du gegenüber. Oft wird ihr Eindringen in die
alten Vorstellungskreise als Inbesitznahme des alten Ich von einer
[40]Die Metamorphose des Ich durch Krankheit.
dunkeln, überwältigenden Macht empfunden und die Thatsache solcher
Besitznahme in phantastischen Bildern bezeichnet. Immer aber ist diese
Duplicität, dieser Widerstreit (des alten Ich) gegen die neuen, nicht
adäquaten Vorstellungsmassen wenigstens von peinlichen Empfindungs-
kämpfen, von affectartigen Zuständen, von heftigen Gemüthsbewegungen
begleitet. Diess schliesst uns den Grund der erfahrungsmäs-
sigen Thatsache auf, dass die ersten Stadien der ungeheuren
Mehrzahl der Geisteskrankheiten in vorwaltenden Gemüths-
leiden, und zwar Gemüthsleiden trauriger Art bestehen.
Wird nun die unmittelbare Ursache des neuen, anomalen Vor-
stellens, die Gehirnaffection, nicht gehoben, so wird jenes fest
und stehend, und indem es allmählig mit den Vorstellungsmassen
des alten Ich überall Verknüpfungen eingeht, indem oft andere
Massen widerstandsfähiger Vorstellungen durch die Gehirnkrankheit
ganz ausgelöscht und verloren gegangen sind, hört dann allerdings
nach und nach der Widerstand des alten Ich, der Streit im Bewusst-
sein auf, und die Stürme der Gemüthsbewegungen legen sich; aber
nun ist durch jene Verknüpfungen, durch jene Aufnahme der anomalen
Vorstellungs- und Willenselemente, eben das Ich selbst verfälscht
und ein ganz anderes geworden. Dann kann der Kranke wieder
ruhig und sein Denken zuweilen formal richtig sein; aber überall in
dasselbe schieben sich jene anomalen, irrigen Vorstellungen, weil sie
überall Verbindungen angeknüpft haben, als unbezwingliche Prämissen
ein; der Kranke ist in keiner Beziehung mehr der Alte, sondern ein
ganz anderer — sein Ich ist ein neues, falsches geworden. Andere-
male scheint es, dass sich sogar mehre unter sich wenig congruente
Massen von Vorstellungen, deren jede das Ich repräsentiren will, bilden,
und es kann damit die Einheit der Person ganz verloren gehen (manche
Blödsinnig-Verrückte). Insoferne die Gemüthsbewegungen in solchen
Zuständen aufgehört haben, kann man diese jetzt mit Recht als ein
bloss falsches Denken, als Verstandeskrankheiten bezeichnen.
Hiermit ist der gewöhnliche Gang der Dinge, von der Entstehung des Irreseins
an bis zu seinem Ende in unheilbarer Verrücktheit, in nuce angegeben. Das
Gesagte gilt natürlich nicht für alle Fälle (z. B. nicht für den primitiven Blöd-
sinn nach Schädelverletzung), und auch da, wo die krankhaften Ereignisse im
Ganzen diesen Gang nehmen, kommen zahlreiche Zwischenvorfälle und Abweichungen
vor. Namentlich wird durch das tiefere Weiterschreiten einer organischen Gehirn-
krankheit (z. B. der chronischen Encephalitis der Gehirnrinde, die mit Atrophie
endigt) der Verlauf so abgeschnitten, dass ein baldiger Blödsinn gar kein neues
Ich aufkommen lässt; oder es erfolgt früher die Genesung oder der Tod. Hierüber
s. die Schilderung der einzelnen Formen.
[41]Das Fühlen.
Indessen bemerke man hier gleich die enorme Wichtigkeit, welche die Be-
schaffenheit des vorhandenen (alten) Ich in diesen Zuständen haben muss. Ein
schwaches Ich wird von dem neuen, anomalen Vorstellen eher überwunden werden,
als ein starkes. Eine langsame, schleichende Durchdringung der alten Vor-
stellungscomplexe durch die neuen wird zwar viel geringere Gemüthsbewegungen
setzen, aber, indem es das Ich auch weniger zum Widerstande auffordert, dasselbe
um so sicherer zersetzen und absorbiren. Die Dauer der Krankheit wird unter
allen Umständen von grösster Wichtigkeit sein. Die neuen Vorstellungsmassen
werden dem Ich um so gefährlicher sein, je mehr sie ihrem Inhalte nach schon
Verwandtschaft mit den alten Vorstellungscomplexen haben; dann wird die Bei-
mischung leichter, aber auch das Resultat eine gegen den früheren Zustand
weniger auffallende Veränderung des Ich sein. Alle diese Sätze werden von der
täglichen Erfahrung aufs bündigste bestätigt.
§. 27.
Ein einfacher, jedem Bewusstsein bekannter Unterschied im Vor-
stellen besteht darin, dass dasselbe bald als ein ruhiges Phantasiren
oder Denken fortgeht, und dass es anderemale von einer stärkeren
Schwankung, von einer allgemeinen psychischen Unruhe begleitet wird.
Im ersten Falle verhalten sich die Vorstellungsmassen, die das Ich
repräsentiren, zu dem eben im Bewusstsein befindlichen Vorstellen
als ruhige Zuschauer; indem sie es appercipiren, werden sie nur
schwach und langsam von ihm verändert, und wenn sich dabei auch
dunkle Urtheile über die Förderung oder Hemmung des Ich ergeben
(Lust oder Unlust), so sind diese von geringer Intensität. Im zweiten
Fall erregt ein lebhafter Vorgang im Bewusstsein, z. B. eine plötzlich
gegebene Vorstellungsmasse oder ein Trieb, der sich heftig geltend
macht, einen tumultuarischen Auftritt. Durch jenen Vorgang nämlich
werden einzelne ruhende Vorstellungshaufen schnell heraufgezogen,
diese bringen andere mit sich, noch andere werden schnell aber
nicht ohne Widerstand zurückgetrieben und das Ich muss dadurch
nothwendig in der Weise lebhafterer Förderung oder Hemmung, leb-
hafterer Lust oder Unlust afficirt werden.
Jene dunkeln Urtheile, psychische Unlust oder Lust (S. §. 18.), geben den
Grundinhalt unserer Gefühle. Ihre Dunkelheit fällt vor allem als ein Unter-
schied des Fühlens vom Vorstellen in die Augen und wir sehen die Gefühle als
solche um so mehr abnehmen, je mehr jene undeutlichen Urtheile in klare Vor-
stellungen auseinandergehen und sich in solche umsetzen. Ein Kunstwerk z. B.
erregt uns anfangs nur ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl von Gefallen
oder Missfallen, dann erheben sich allmählig deutlichere und klarere Vorstellungen,
die sich zu einzeln sagbaren Urtheilen verbinden; während solcher inneren Be-
sprechung wird das Gefühl allmählig schwächer, und wollen wir, nach vollständiger
Beendigung derselben, das Kunstwerk noch weiter rein fühlend geniessen, so kann
diess nur mit momentanem Abstrahiren von unsern deutlichen Urtheilen geschehen.
[42]Das Gemüth.
Gefühle können das ruhige Vorstellen begleiten; es kann z. B. das wissen-
schaftliche Denken, wenn die adäquaten Vorstellungen sich förderlich treffen, von
grosser Lust, von dem Gefühle des Gelingens begleitet sein. Aber die Gefühle
sind viel lebhafter, wenn durch eine plötzlich eintretende Veränderung im Be-
wusstsein die dem Ich angehörigen Vorstellungsmassen in heftigere Schwankung
gerathen und das Ich dadurch eine unruhige, rasche Förderung oder Hemmung
erleidet. Dieses Afficirtwerden des Ich nennt man die Affecte; sie sind im ersten
Falle freudiger, im zweiten trauriger Art. In allen Affecten finden sich Gefühle
als wesentliche Bestandtheile, aber nicht alle Gefühle setzen uns in Affect; es gibt
vielmehr dauernde, stabile Gefühle ohne allen Affect (Selbstgefühl, Vaterlands-,
Familiengefühl). *)
Das Gemüth, dem diese Vorgänge als seine, als Gemüthsbewe-
gungen, zugeschrieben werden, hat nun eine ganz wesentliche Be-
ziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben
und dem Wollen. Nicht nur werden durch alle affectartigen Zu-
stände Triebe und Willensimpulse geweckt, um entweder der Hem-
mung entgegenzutreten oder der Förderung zu folgen; sondern die
Beobachtung zeigt auch, dass schon die Entstehung der Affecte weit
leichter von der motorischen Seite des Seelenlebens, als vom blossen
reinen Vorstellen aus geschieht.
Gehemmtes oder gefördertes Streben afficirt das Ich noch viel mehr, als dieselben
Zustände im reinen Vorstellen und die plötzlichsten und tiefsten Erschütterungen
resultiren aus dem plötzlichen Zurückgeworfenwerden der eben flüssigen Strebungen.
Wenn z. B. unser ruhiges, wissenschaftliches Denken durch eine unerwartete
äussere Unterbrechung gehemmt wird, so mögen wir wohl ärgerlich werden;
wenn aber unserm Wollen entgegengetreten wird, unsre, der Ausführung nahen
Plane vernichtet werden, so erregt diess viel heftigere Gemüthsbewegungen,
Zorn, Traurigkeit und dergl. Sehr häufig sieht man, dass contrariirte Plane und
Willensbestimmungen, z. B. eine aufgedrungene Beschäftigung, während das Indi-
viduum mit allen seinen geistigen Kräften nach ganz anderen Seiten strebt, die
Ursache andauernder Gemüthsbewegungen und eines daraus entwickelten Irreseins
werden. — Ein uns bekannter geisteskranker Mann ward es dadurch, dass er
Metzger werden musste, während er Pfarrer werden wollte. Solche Beispiele
finden sich in allen Irrenanstalten.
§. 28.
Die Frage, was das Gemüth und die Gemüthsbewegungen eigent-
lich seien und welche Stellung sie im psychischen Leben einneh-
men, ist für das Verständniss des Irreseins, das ja (§. 26.) so oft
und so lange hauptsächlich in einem Gemüthsleiden besteht, wichtig
genug. — Unser Vorstellen und Streben bewegt sich in stetem
Wechsel immer fort; von einer Gemüthsbewegung aber ist nur da die
Rede, wo die Vorstellungsmasse, die das Ich repräsentirt, stärker
[43]Das Gemüth.
erschüttert wird und in Schwanken geräth, was (§. 27.) niemals ohne
Gefühle geschehen kann. Bei dieser Störung der Gemüthsruhe wird
[nun] nichts anderes gestört, als die gewohnte ruhige Art, wie sich
unser Ich zum eben vorhandenen Vorstellen verhält, wie sich über-
haupt die mehrfachen Massen von Vorstellungen und Strebungen,
die wir in uns finden, zu einander verhalten. Dieses gewohnte,
ruhige Verhältniss ist aber keine absolute Ruhe oder Unthätigkeit,
sondern es ist das Resultat einer mässigen, mittleren Thätigkeit,
welches zugleich das erworbene mittlere Mass psychischer Kraft und
die gewohnte Richtung des psychischen Lebens repräsentirt; es ist
mit Einem Worte der psychische Tonus. *)
Der Rückenmarkstonus, der sich in den Muskeln, dem Zellgewebe etc. als
ein mittlerer, gewohnter Grad von Contraction, auf Seiten der Empfindung als
ein mittlerer Grad von Schmerzempfänglichkeit und Reizbarkeit ausspricht, ist
das Product nicht der einzelnen Empfindung und Bewegung, sondern der, in die
Einheit und Allgemeinheit eines mittleren Reizzustandes untergegangenen Totalität
der Empfindungen und Bewegungsimpulse; er beruht auf einem mittleren Facit
von Erregung, das aus all diesen einzelnen centralen Nerventhätigkeiten zusammen
herausgekommen ist. Dieser mittlere Zustand scheinbarer Ruhe wird als Ganzes
nicht von jeder Empfindung und Bewegung unterbrochen und gestört, aber er wird
es durch alle starken und plötzlichen Empfindungen und Bewegungen (Ermüdung,
Schmerz etc.) Auf beiden Gebieten ist der Tonus natürlich das einemal schwanken-
der und variabler, als zu andern Zeiten, je nach dem Zustande des Organs; zu-
weilen kann jeder kleine Reiz Ermüdung, Schmerz, Convulsionen machen; zuweilen
kann einen die Fliege an der Wand ärgern. Es ist nicht der gewöhnliche Aus-
druck, und es wäre allzuabstract, aber es wäre nicht unrichtig, den Tetanus, die
Convulsionen etc. als Abänderungen des Tonus (einseitige Steigerung, Unter-
brechung etc.) aufzufassen; denn unzweifelhaft leidet der Tonus hier sogleich
unter der vorhandenen Störung. Ebenso ist die auffallendste Störung bei den
parallelen Geisteszuständen (dem psychischen Schmerz, der psychischen Convul-
sion) die Störung des Gemüths, und in diesem Sinn ist überhaupt von den Ge-
müthsleiden und ihrer Primitivität beim Irresein zu sprechen.
Gemüthlich nennen wir den Menschen, dessen Ich nicht allzu-
schwer in Bewegung geräth, wo desshalb angenehme oder unangenehme
Gefühle, Theilnahme, Mitleid, Wohlwollen, Abneigung etc. leicht ent-
stehen. So erfreulich diese Eigenschaft ist, so bringt sie die Gefahr
mit, dass es gerne bei diesen dunkeln Urtheilen, den Gefühlen,
bleibt, dass diese nicht in ein klares Denken auseinandergehen, dass
dieses sogar verlernt wird und der Mensch nach blossen Gefühlen,
aus denen er nicht mehr herauswill, sein Handeln einrichtet und sein
Leben gestaltet. Diess ist das im schlimmen Sinne Gemüthliche. —
[44]Das Gemüth.
Gemüthlos wird der genannt, dessen Ich sehr schwer in der Weise
der Lust oder des Schmerzes afficirt wird, entweder wegen grosser
Schwäche und Stumpfheit aller psychischen Processe (stumpfsinnige,
sehr phlegmatische Menschen), oder weil sich, beim Zusammen-
stosse des Ich mit dem jeweiligen Vorstellen, sogleich deutliche
Urtheile in hellen Vorstellungen, statt der dunkeln Gefühle, ergeben
(Verstandesmenschen). — Gemüthskräftig ist der Mensch, bei dem
sich ein haltbarer psychischer Tonus gebildet hat, der durch jede
psychische Erregung nicht alsbald modificirt wird; angenehme und
unangenehme Erlebnisse fühlt ein solcher wohl, d. h. er begleitet
sie mit dunkeln Urtheilen über Förderung oder Hemmung seines Ich,
aber dieses selbst wird nicht so leicht erschüttert, es kommt nicht
gleich zu allgemeiner psychischer Unruhe, zu Aerger und Verstim-
mung, und in Freude und Schmerz wird Mass gehalten. — Gemüths-
schwäche dagegen ist da vorhanden, wo ausgebreitete, aber energie-
lose Reactionen des Ich leicht hervorzurufen sind; fast jede Vorstel-
lung erregt hier ein Gefühl; Freude und Trauer wechseln ungemein
leicht und Gemüthsbewegungen werden zum Bedürfniss; die abneh-
mende Empfänglichkeit fordert dann oft neue, starke Reize (Lust am
Schauerlichen, Pikant-Schrecklichen) und das Ich kommt fast nur in
Perioden von Erschöpfung und Erschlaffung zur Ruhe.
Man wird sogleich die Identität dieses letzteren Verhaltens mit dem erkennen,
was man auf sensitiv-motorischem Gebiete die reizbare Schwäche nennt, und
als die wichtigste Disposition und als den Grundzustand bei vielen Nervenkrank-
heiten (z. B. den Spinaliritationen) betrachtet. Man nennt ein solches Verhalten
mit Recht Schwäche — denn mit den einzelnen und einseitigen Excitabilitäts-
erhöhungen ist eine absolute Erniedrigung der Kraftgrösse in den Functionen
verbunden. Bei vorhandenen Convulsionen ist doch die willkürliche Muskelbewegung
schwach; bei vorhandenen steten Affecten ist doch das Denken und Wollen schwach
und schlaff. Diese Zustände sind nicht nur sehr häufig miteinander combinirt
(Neigung zu Affecten und erhöhte Convulsibilität vieler Hysterischen), sondern
sie entstehen gleichzeitig auch auf beiden Gebieten oft genug aus denselben Ur-
sachen, haben in ihrem Kreise dieselben Folgen und die Grundsätze ihrer Be-
handlung sind sich durchaus analog.
§. 29.
Von der Art und Weise und von der Leichtigkeit, mit der das
Ich in der Form der Gefühle und Gemüthsbewegungen afficirt wird,
hängt allerdings ein grosser Theil der psychischen Reactionsweisen
des einzelnen Menschen und damit der individuellen Eigenthümlichkeit
ab. Dennoch wäre es sehr irrig, im Gemüthe den eigentlichen festen
Inhalt des Ich, den beharrlichen Kern der Individualität zu suchen.
[45]Die Stimmungen und Affecte.
Das Gemüth bildet vielmehr eben ein wandelbares, labiles Verhält-
niss, das sich bei vielen Menschen fast bei jedem psychischen
Geschehen ändert, das der Bewegung und dem Wechsel durch
äussere Anstösse wie durch die Einflüsse aus dem ganzen Organismus
leicht und auffällig preisgegeben ist. Der feste, beharrliche Kern der
Individualität ist nirgends anders, als in den starken Vorstellungs-
complexen zu suchen, die sich zum Ich combinirt haben. Dieser wird
wohl erschüttert, aber nicht aufgehoben in den Gemüthsbewegungen;
denn was sollte afficirt werden im Affecte, als eben jene Vorstel-
lungscomplexe, das Ich? — Das Ich kann aufgelöst werden und gänz-
lich zerfallen (nicht selten bei tieferen Desorganisationen des Gehirns,
beim Blödsinn), es kann untergehen und ein neues an seine Stelle
treten (Verrücktheit); aber diess ist (§. 26.) eben nur dann der Fall,
wenn die Gemüthsbewegungen, welche die Affection und Auflösung des
alten Ich nothwendig begleiten mussten, sich vollständig gelegt haben.
Die Art und Weise, wie die das Ich repräsentirende Vorstel-
lungsmasse von dem, was im Bewusstsein vorgeht oder sich in das-
selbe eindrängt, afficirt wird, gibt die Art und Weise der Selbst-
empfindung. Mässige und andauerndere Veränderungen der Selbst-
empfindung geben wieder die Grundlage der verschiedenen Gemüths-
stimmungen, plötzlichere und heftigere die Grundlage der Gemüths-
Affecte. Der Inhalt der Selbstempfindung kann nur von zweierlei
Art sein, Lust oder Unlust, jene, wenn die Vorstellungscomplexe des
Ich durch den Vorgang im Bewusstsein in ihrem freien Flusse, ihren
adäquaten Verbindungen und namentlich in ihrem Uebergange in
Strebungen begünstigt und gefördert, diese wenn sie durch ihn zurück-
gedrängt, unterdrückt, gehemmt werden. Von der leisesten Aenderung
der Stimmung bis zum tobendsten Affect ist also immer nur zweierlei
möglich: entweder ein Zustand der Förderung und der Expansion
des Ich, bei dem das Ich sich wohl befindet, sich desshalb affirmativ
zu dem neuen Vorgange im Bewusstsein verhält und ihn festzuhalten
sucht; oder ein Zustand von Hemmung, von Re- und Depression, wo
die Vorstellungscomplexe des Ich, in ihrem Flusse und ihrem Ueber-
gang in Strebung aufgehalten und zurückgeworfen, bald die Flucht
ergreifen, bald beharrlich streitend hereindrängen, wo sich also das
Ich immer negativ gegen jene neuen Vorstellungen verhält. Dem-
nach zerfallen alle Stimmungen und Affecte in zwei grosse Classen,
die expansiven (und zugleich affirmativen) und die depressiven
(und zugleich negativen, mit Verabscheuen verbundenen). Zu jenen
gehören Heiterkeit, Lustigkeit, Freude, Ausgelassenheit, Hoffnung,
[46]Folgen der Affecte.
Muth, Uebermuth etc.; zu diesen Aerger, üble Laune, Niedergeschla-
genheit, Traurigkeit, Kummer, Schaam, Furcht, Schrecken etc.
Diess Verhältniss gibt die Grundlage der Eintheilung für diejenigen Zustände
von Irresein, welche in vorwaltendem Gemüthsleiden bestehen, also für die pri-
mären Formen der Geisteskrankheiten (§. 26). Wir bekommen nämlich zwei
Hauptclassen; in der einen besteht die Hauptstörung in depressiven, negativen
Stimmungen und Affecten — alle melancholischen Zustände; in der andern
besteht sie in expansiven, affirmativen Affecten — der Wahnsinn. — Des Zorns
ist noch nicht Erwähnung gethan; er steht in der Mitte zwischen beiden Classen
von Affecten; seinen Anlässen nach gehört er mehr zur ersten, indem er eine
Beeinträchtigung des Ich voraussetzt, aber es folgt hier auf die Beeinträchtigung
eine heftige Reaction des Ich, eine lebhafte Expansion und Explosion des Vor-
stellens und Strebens, womit der negirte Eindruck meist wieder überwunden und
das Gleichgewicht hergestellt wird. Dem Zorne aber stehen ihren psychologischen
Grundlagen nach die Zustände sehr nahe, die man unter der Tobsucht begreift,
und diese findet auch nosologisch ihre natürliche Stelle zwischen Melancholie und
Wahnsinn.
§. 30.
Ein wichtiger Umstand bei den Affecten, der sie zugleich wie-
der sehr vom ruhigen Vorstellen unterscheidet, ist der, dass in die-
sen Zuständen immer ausser den cerebralen, noch andere organi-
sche Processe ins Spiel gezogen werden. Der Herzschlag, die
Respiration, die Magenverdauung, die Secretionen des Schweisses,
der Galle, des Harnes werden in den Affecten verändert; dem Zor-
nigen schwellen die Venen im Gesichte, es ist zuweilen, als ob
der heftige Affect ihn ersticken wollte; bei dem in Furcht oder
Schrecken Versetzten entstchen schnell wässrige Secretionen; beim
Traurigen wird die Respiration verlangsamt und oberflächlich, und
muss daher zuweilen durch tiefe Athemzüge, Seufzer, unterbrochen
werden u. dergl. m. So setzen die Affecte (und affectartigen Zu-
stände), ursprünglich durch Erregung des Körper-Nervensystems vom
Gehirne aus, körperliche Anomalieen; bei schnell vorübergehendem
Affect und bei vorher gesundem Organismus gleichen sich diese bald
wieder aus; bei schon bestehender körperlicher Krankheit aber und
bei lange fortdauernden Ursachen (z. B. anhaltendem Gram) bilden
sich allmählig viel complicirtere Störungen der organischen Mechanik
aus, denen das blosse Aufhören des Affects nicht alsbald ein Ende
machen kann, und die Störungen können nun durch neue, rückwir-
kende, secundäre Erregung des Gehirns von ihnen aus nicht nur die
vorhandenen Affecte unterhalten und steigern, sondern auch neue
derartige Zustände setzen.
[47]Die Vernunft und ihre Störung.
Denn es ist ein weiterer Erfahrungssatz, dass, wenn durch die
organischen Processe, das Athmen, die Verdauung etc., die psychi-
sche Gehirnthätigkeit influencirt wird, diess zunächst nicht auf dem
Gebiete des klaren Vorstellens, nicht dadurch geschieht, dass wir
neue Gedanken bekommen, sondern vielmehr so, dass zuerst dunkle
Veränderungen der Selbstempfindung und Stimmung, dunkle Urtheile
über das Gefördert- oder Gehemmtsein unserer psychischen Thätig-
keit überhaupt in uns entstehen und damit ein wesentliches Element
affectartiger Zustände uns aufgedrungen wird. (§. 17.)
Beispiele hiefür finden sich fast in allen Krankheiten. Bei Herzkranken sehen
wir sehr häufig Angst, bei Genitalienaffectionen Traurigkeit, bei Krankheiten
des Darms, bei icterischer Blutveränderung mürrische, ängstliche, ärgerliche
Laune, Trägheit des Denkens, allgemeine Verstimmung etc. eintreten; das Gefühl
körperlichen Wohlseins oder körperlicher Krankheit ist überhaupt vom grössten
Einflusse darauf, ob unsre Stimmung muthig und heiter oder niedergeschlagen
und traurig ist. Wirken nun äussere Ursachen Affect-erregend auf uns ein, so
kommt ausserordentlich viel auf diesen schon vorhandenen, habituell oder vorüber-
gehend durch die organischen Zustände erregten Gehirnzustand an, ob der Affect
haftet oder nicht. Bei schon durch körperliche Krankheit Verstimmten haftet
ein äusserlich erregter trauriger Affect weit eher und hat weit nachhaltigere
Folgen, als wenn er in einem Menschen entsteht, der sich eben des besten kör-
perlichen Wohlgefühls und heiterer Stimmung erfreut hatte.
Diese Verhältnisse geben einige der wichtigsten Grundlagen der Pathogenie
des Irreseins. Es liegt in ihnen der Schlüssel zum Verständniss der Prädispo-
sition zu Geisteskrankheiten durch die allerverschiedensten körperlichen Er-
krankungen und der Wirkungsweise der psychischen Ursachen. Diese
erzeugen nemlich (S. das zweite Buch) das Irresein seltener direct, häufiger
secundär, durch Vermittlung anderer Störungen, z. B. in der Weise, dass durch
lange dauernden Gram der kleine Kreislauf eine Modification erleidet, in Folge
deren dann Hyperämie des Gehirns entsteht und diese nun bei dem prädisponirten
Individuum zur nächsten Ursache seines Irreseins wird. Es ist eben das Ge-
schäft der Pathogenie, die Mechanik dieser Vorgänge nach erfahrungsmässigen
Daten auseinanderzulegen.
§. 31.
In den Affecten ist keine ruhige Ueberlegung möglich. Indem
das Ich selbst in Schwankung und Erschütterung gerathen ist, behält
es nicht die nöthige Ruhe, um die Vorgänge im Bewusstsein mit
völliger Hingebung und Aufmerksamkeit zu vernehmen. Den Zu-
stand aber, wo solches Vernehmen möglich ist und wirklich statt-
findet, nennt man die Vernunft. Zu diesem Vernehmen, und eben
desshalb zur Ueberlegung, ist gegenseitige Bestimmbarkeit der Vor-
stellungen, Verweilen und Aufschub, Sammlung und Erwägung erforder-
lich; den contrastirenden Vorstellungen (§. 23.) muss die Möglichkeit
[48]Die Rückbildung des Irreseins.
sich geltend zu machen und dem Ich die nöthige Ruhe gegeben sein.
Diess Alles ist nun auch bei den Geisteskranken nicht der Fall.
Durch die Gehirnaffection werden ihnen Stimmungen und Triebe
aufgedrungen, die zum Ausgangspunkte von Affecten werden; wenn
sich aus diesen wieder falsche Urtheile (fixe Ideen) erheben, so
können sie nicht berichtigt werden und der Kranke kann seine
Täuschung nicht einsehen; anfangs desswegen nicht, weil der anhal-
tende Affect den contrastirenden Vorstellungen nicht die nöthige Ruhe
gönnt, um sich gehörig entwickeln zu können, vielmehr mit seinem
längeren Bestehen immer mehr seine Folgen, die falschen Urtheile,
befestigt und consolidirt werden, später aber desswegen nicht, weil
jene falschen Urtheile integrirende Bestandtheile aller Vorstellungs-
complexe des Ich geworden sind (§. 23.).
Eine Unmöglichkeit, die Falschheit der krankhaften Vorstellungen einzusehen,
ist also bei jeder ausgebildeten Geisteskrankheit vorhanden. Die Sache fällt zum
grössten Theile zusammen mit dem in §. 23. erörterten Verluste der Besonnen-
heit. Eben damit aber haben die Irren auch den Verstand verloren, und
zwar nach Herbarts Ausdrucke, desswegen, weil „ihre Gedanken sich in ihrem
eigenen Zuge durch äussern oder innern Widerspruch gar nicht mehr stören
lassen.“ Auch dem Gesunden gehen allerlei Grillen, falsche Urtheile, thörichte
Gedanken durch den Kopf; aber er vermag sie, wenn er nicht gerade im Zustande
des Affects ist, ruhig zu bestätigen oder zu verwerfen.
Die Genesung vom Irresein erfolgt nun gewöhnlich nur in den
primären, aber allerdings oft eine Reihe von Jahren dauernden Pe-
rioden, wo es hauptsächlich auf affectartigen Zuständen beruht. Indem
durch Beseitigung der Gehirnkrankheit oder ihrer entfernteren organischen
Ursachen die krankhaften Stimmungen und Affecte schwinden, müssen
mit ihnen auch die falschen Urtheile, die auf sie basirt waren, fallen,
und die Vorstellungscomplexe des nun nicht mehr erschütterten Ich
treten unmittelbar in ihre alten Rechte ein. Werden aber erst zu
einer Zeit, wo die falschen Urtheile schon mannigfache Verknüpfungen
mit den Vorstellungscomplexen des Ich eingegangen haben, die orga-
nischen Ursachen der Gehirnkrankheit beseitigt, so kann der Kranke
zwar noch genesen; aber es ist ein langer und sehr allmähliger psy-
chologischer Process, bis durch Stärkung der früheren normalen Ge-
dankenrichtung sich nach und nach die begonnenen Verknüpfungen
der falschen Urtheile mit dem Ich lösen und diese sich ganz zurück-
drängen lassen (manche Reconvalescenten werden erst zu Hause, mit
dem Wiedereintritt in ihre alten Lebensverhältnisse, Geschäfte etc.
ganz gesund). Dann aber, wenn das alte Ich durch die krankhaften,
falschen Vorstellungen nach allen Seiten hin verunreinigt, verdorben
[49]Die Elementarstörungen beim Irresein.
und verfälscht ist, wenn vollends die Vorstellungscomplexe des frühe-
ren Ich so vollständig zurückgedrängt (vergessen) sind, dass ohne
alle Spur von Affect, der Kranke seine ganze Persönlichkeit mit einer
neuen vertauscht hat und von der alten kaum mehr etwas weiss,
dann ist die Heilung so gut wie unmöglich, und nur in den seltensten
Fällen gelingt es, durch Erregung heftiger Gemüthsbewegungen und
mittelst ihrer durch eine Art mechanischer Dressur (Leuret, du traite-
ment moral etc. Par. 1840) ein, immerhin schätzenswerthes Zurück-
drängen der Aeusserung des Irreseins zu erhalten. Auch diess
natürlich nur da, wo das Gehirn noch keine tiefere organische Läsion
erlitten hat; wo solche vorhanden ist, wie in vielen dieser Zustände
und namentlich im secundären Blödsinn, ist keine Hoffnung der Ge-
nesung mehr vorhanden.
Vierter Abschnitt.
Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten.
§. 32.
Vor der Betrachtung der zusammengesetzten Symptomencomplexe,
welche die speciellen Formen der psychischen Krankheiten geben,
sind noch einige allgemeinere Verhältnisse, namentlich aber die ein-
zelnen elementaren Störungen, die in jenen Formen (der Melancholie,
der Manie etc.) sich verschieden gruppirt wiederholen, kurz ins Auge
zu fassen. Und da in den Gehirnkrankheiten, die für uns als psy-
chische Krankheiten in Betracht kommen, es, wie in allen übrigen,
nur drei Reihen wesentlicher Anomalieen gibt, nämlich sensitive,
motorische und geistige (Vorstellungs-) Anomalieen, so bekom-
men wir nach diesen drei Gebieten drei grosse Haufen successiv zu
betrachtender Elementarstörungen, ein Irresein im Vorstellen, ein
Irresein der Sinnesempfindung und ein Irresein der Bewegung.
Die geistigen Störungen sind allerdings die auffallendsten und bedeutendsten
in allen diesen Zuständen (§ 5.); *) aber man möge die sensitiven und motorischen
Griesinger, psych. Krankhtn. 4
[50]Geistesstörungen.
Krankheits-Phänomene ja nicht für Nebendinge halten. Die anomale Sinnes-
thätigkeit spielt eine grosse Rolle im Irresein, und die Störungen dessen, was
man die Phantasie nennt (§. 15.) reichen zu grossem Theile auf ihr Gebiet herüber.
Die motorischen Anomalieen aber, die auf den ersten Blick dem Irresein ganz
fremd zu sein scheinen, gehören gerade, wie sich später ergeben wird, für die
anatomische Diagnostik und für die Prognose zu den allerwichtigsten Punkten.
Erstes Capitel.
Die geistigen Elementarstörungen.*)
§. 33.
Der wesentliche Process beim Irresein, das eigentlich Krankhafte
darin beruht in der Hauptsache darauf, dass gewisse Gehirnzustände,
gewisse Stimmungen, Affecte, Urtheile, Willensimpulse von innen
heraus, durch Krankheit des Seelenorgans entstehen, während im ge-
sunden Zustande unsre Affecte, Urtheile, Willensbestimmungen nur
auf genügende äussere Veranlassungen entstehen und desshalb auch
mit der Aussenwelt in einem gewissen harmonischen Verhältnisse
bleiben. Niemand wundert sich, wenn Jemand, der einen grossen
Verlust erlitten, traurig wird, wenn ein Anderer, dem ein lebhafter
Wunsch erfüllt wurde, eine laute Freude zeigt; aber man hält es mit
Recht für krankhaft, wenn der Mensch ohne alle äussere Motive in
Traurigkeit versinkt oder in laute Fröhlichkeit ausbricht, oder wenn
zwar ein äusserer Anlass gegeben ist, das Individuum aber in ganz
übermässig heftiger und lange andauernder Weise davon afficirt wird,
wenn z. B. ein unbedeutender Vorfall heftigen Zorn erregt, aus dem
der Mensch lange gar nicht mehr herauskommen kann.
Nach demselben Grundsatze beurtheilen wir alle Vorgänge im Nervensystem.
Ermüdung nach einem starken Marsche ist das Normale, anhaltende Müdigkeit
bei steter Ruhe des Körpers ist krankhaft. Frieren durch äussere Kälte ist das
Normale; Frost bei warmer, äusserer Temperatur ist krankhaft. Pelzigsein des
Beins nach einem Druck auf den Nerven ist schon ein leichter Krankheitszustand,
aber man zählt ihn zum verhältnissmässig Normalen gegenüber dem Fall, wo das
Bein durch eine innere Ursache, eine Rückenmarkskrankheit, beständig einge-
schlafen ist. Ebenso ist es krankhaft, wenn zwar ein kleiner Anlass gegeben,
aber die Reaction übermässig heftig ist, wenn Jemand nach wenigen Schritten
schon ermüdet, oder nach einem kühlen Luftzuge in heftigen Frost verfällt etc.
Da aber die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit nirgends feststeht, so
werden manche hierhergehörige, namentlich vorübergehende, Zustände gewöhnlich
[51]Aehnlichkeit mit physiologischen Zuständen.
nicht zu den Krankheiten gerechnet. Ein Glas Wein kann uns aufheitern, ohne
äussere Motive zur Heiterkeit; es wird hier durch das Spirituosum von innen heraus
ein Gehirnzustand, eine expansive Stimmung gesetzt; ein schwaches Analogon des
Irreseins, das aber noch nie Jemand eine Krankheit genannt hat, weil es ohne
heftige Symptome bald wieder vorübergeht.
Auf die Dauer und die Heftigkeit der Phänomene kommt sehr
vieles an, ob wir psychische Zustände als krankhaft beurtheilen. Je-
der Mensch weiss aus eigener Erfahrung, wie zuweilen ohne äussere
psychische Motive eine heitere oder trübe, weiche oder bittere Stim-
mung in uns entstehen kann, Gehirnzustände, die sich gewöhnlich
aus leisen, nur mittelst grosser Aufmerksamkeit erkennbaren Verän-
derungen der organischen Processe ergeben. Diese Stimmungen sind
nicht krankhaft, wenn sie mässig und von kurzer Dauer sind und von
den herrschenden Vorstellungsmassen des Ich kräftig bezwungen wer-
den können; aber sie sind es, wenn sie sich immer und allenthalben
dem Individuum aufdrängen, durch äussere psychische Erregung nicht
mehr gehoben werden und statt von den Vorstellungscomplexen des
Ich gehörig im Schach gehalten zu werden, diese tumultuarisch affi-
ciren und einen andauernden Zustand peinlichen, inneren Kampfes
erregen. Wie mit solchen Stimmungen aber verhält es sich auch
mit einzelnen, distinkten Vorstellungen. Ein bizarrer, närrischer Ge-
danke kann dem vernünftigsten Menschen durch den Kopf gehen;
wenn er nur nicht anhält, sondern durch ein starkes Ich sich bald
wieder in Vergessenheit zurückdrängen lässt, so nennt diess Niemand
krankhaft. Beim Irresein aber haften solche Stimmungen, solche
Gedanken, denn sie werden wegen der Dauer und Stärke der Gehirn-
affection, anhaltend und heftig der Seele aufgedrungen.
§. 34.
Um das Irresein recht zu verstehen, muss man sich in die
Seelenzustände der Irren hineindenken. Aus den psychologischen
Zuständen, welche noch innerhalb der geistigen Gesundheit, also in-
nerhalb unserer Erfahrung liegen, bekommen wir annähernde Begriffe
von dem, was in der kranken Seele vorgeht. Die Phänomene des
Traums, die Vorgänge in den Affecten, in der geistigen Ermüdung etc.,
namentlich aber jene erwähnten, im gesunden Zustande mässigen
Veränderungen der Gemüthslage, die sich spontan, aus leisen körper-
lichen Störungen ergeben, sind hiefür ganz besonders instructiv.
Denn die Beobachtung zeigt, dass wir eben diese Phänomene, einer-
seits die ärgerliche, zum Zorn geneigte, unzufriedene, bittere, anderer-
seits die fröhliche, heitere, ausgelassene Verstimmung sehr häufig,
4*
[52]Gemüthsanomalieen.
aber eben in ganz ungewöhnlicher Steigerung und Andauer, als wich-
tige Elementarphänomene des Irreseins finden, dass sich also eine
Menge solcher Zustände des gesunden Lebens im Irresein wieder-
holen, und desshalb durch die Vergleichung mit jenen wesentlich
aufgehellt werden. — Für andere psychologische Anomalieen der Gei-
steskranken finden wir in unsrer eigenen gesunden Erfahrung nichts
Analoges; wir sind aber eben desshalb ganz ausser Stande, sie zu
verstehen. Wir können uns z. B. durchaus nichts Deutliches darunter
vorstellen, wenn wir Geisteskranke klagen hören, dass ihnen bestän-
dig ihre Gedanken von Andern „gemacht“, oder dass sie ihnen
„abgezogen“ werden, oder wenn wir sehen, wie sie mit einzelnen
Worten, einzelnen Geberden einen ganz besondern Sinn verbinden,
ihnen eine tiefgeheimnissvolle Wichtigkeit beilegen etc. Auch für
den Zerfall des Denkens im Blödsinn möchte selbst die tiefste, gei-
stige Ermüdung noch kein annäherndes Analogon gewähren, und kaum
einzelne Zustände des Schlafs und Traums könnten ein entferntes
Bild davon geben. Wer das Fieberdelirium aus eigener Erfahrung
kennt, hat hierin manche Anhaltspuncte des innern Verständnisses der
Geisteskrankheiten.
In den folgenden §§. wird bei den einzelnen krankhaften Zuständen im Ge-
müthe, im Denken und Streben, jedesmal an die analogen physiologischen Zustände
erinnert werden. Die Scheidung in diese drei Classen geistiger Störungen ist
nur eine äusserliche, die Uebersicht erleichternde; ihr innerer Zusammenhang
muss sich aus den §§. 22—31. ergeben haben.
A. Gemüthsanomalieen.
§. 35.
Die Beobachtung zeigt, dass nicht mit sinnlosen Reden, nicht
mit extravaganten Handlungen, sondern mit krankhaften Gemüthslagen,
mit Anomalieen der Selbstempfindung und der Stimmung und daraus
sich ergebenden affectartigen Zuständen, die bedeutende Mehrzahl
der Geisteskrankheiten beginnt. Und zwar bilden den ersten Anfang
meist die objectlosen Gefühle der Unaufgelegtheit, des Missbehagens,
der Beklemmung und Angst, weil die durch die Gehirnaffection neu
gesetzten Massen von Vorstellungen und Trieben gewöhnlich anfangs
noch höchst dunkel sind und desshalb die Störung im normalen Fort-
gange des Denkens und Wollens und das neue, gegen das Ich herein-
brechende psychische Element erst nur undeutlich gefühlt werden.
Die verminderte Kraft und Energie des Ich, das Zurückgedrängt-
werden seiner Vorstellungscomplexe gibt einen psychisch-schmerzhaften
[53]Traurige Verstimmung.
Zustand unbestimmter Art, eine in ihrer Undeutlichkeit höchst quä-
lende Gefühlsbelästigung; die neu herauftretenden krankhaften Vor-
stellungen und Triebe erzeugen eine Entzweiung der Seele, das Ge-
fühl des Losseins der Persönlichkeit und einer zu erwartenden Ueber-
wältigung des Ich. Der psychische Schmerz erscheint in einer der
bekannten Formen der Unruhe, Angst, Traurigkeit und bringt alle die
oben (§. 18.) erwähnten Folgen einer durchaus veränderten Reaction
gegen die Aussenwelt und einer Störung der motorischen Seelenthä-
tigkeit mit sich. Perversitäten der natürlichen Gefühle, Abneigung
und Hass gegen das früher Geliebte, äussere Gefühllosigkeit, oder
eine sich krankhaft an einen Gegenstand anklammernde Zärtlichkeit,
doch ohne die Tiefe der ruhigen Empfindung und ohne die rechte
Sorgfalt, oft auch schnell und capriciös mit Widerwillen abwechselnd,
sind hier gewöhnliche Erscheinungen. Die gesteigerte Empfindlichkeit
bezieht Alles auf sich, weil sie sich wirklich von Allem unangenehm
berührt fühlt, und in der düstern Beschattung aller An- und Aus-
sichten legt der Mensch alles Gegenwärtige übel aus und sieht in
allem Zukünftigen nur Schlimmes. Misstrauen und Argwohn werden
durch das Gefühl verminderter Widerstandsfähigkeit unterhalten und
durch körperliche Angstempfindungen immer neu geweckt; Alles er-
scheint dem Kranken anders, weil er sich selbst zu jedem psychi-
schen Eindrucke anders verhält, weil er gänzlich anders empfindet,
und er hat die grösste Neigung, seinen Zustand bald einem directen
Einflusse der Aussenwelt zuzuschreiben, sich verfolgt, beeinträchtigt,
bezaubert, von schlimmen, geheimen Einflüssen beherrscht zu glauben,
bald in seinem früheren Leben die Ursachen davon zu suchen und
sich allerlei schwerer Verbrechen, Verworfenheiten und Unthaten an-
zuklagen, deren nothwendige Consequenz sein jetziges Verhalten sei.
Hier kommen nun die mannigfaltigsten Modificationen dieser Grundzustände
vor, bald ein völliges Insichversunkensein, bald laute Verzweiflung, zuweilen
Tücke, selten schmelzende Weichheit, bald anhaltende Selbstquälerei, bald stete
Beziehung der Unzufriedenheit auf die Aussenwelt, bald Lebensüberdruss und
ruhiger Entschluss zum Selbstmord, bald Furcht vor dem Tode, vor Höllenstrafen
und dergl. Sehr häufig hat der Kranke Anfangs das Gefühl des beginnenden Irre-
seins, zuweilen fleht er um Hülfe, und wir selbst haben Kranke iu den Anfangs-
stadien aus weiter Entfernung freiwillig der Irrenanstalt zueilen gesehen.
Die genannten Zustände geben die Grundlage der verschiedenen Formen der
Melancholie; doch kommen sie auch in andern Formen (z. B. der Verrücktheit,
der Tobsucht) vor, und man kann sagen, dass sich die Mehrzahl der Irren höchst
unbehaglich, ja unglücklich fühlt, woher wohl die alte Benennung Morositates
(Sauvages) für alle Geisteskrankheiten rühren mochte. Jenen Zuständen entsprechen
als analoge des gesunden Lebens alle deprimirten Stimmungen und Affecte, Nieder-
[54]Heitere Verstimmung.
geschlagenheit, übermässige Reizbarkeit, habituelle, bittere, unzufriedene, selbst-
quälerische Stimmungen, wie man sie zuweilen bei geistig ausgezeichneten Menschen
beobachtet (J. J. Rousseau), grundlose Eifersucht, Aerger, Furcht, Zorn etc.
§. 36.
Die entgegengesetzten krankhaften Gemüthszustände, mit der Stim-
mung der Heiterkeit, Ausgelassenheit, des Muthwillens, mit erhöhter
geistiger (und gewöhnlich auch leiblicher) Activität sind den expansiven
Affecten höchst analog, und beide haben in der Hauptsache dieselben
nächsten Folgen. Es gibt auch beim Gesunden ein „Närrischwerden
vor Freude“, wo nicht nur das Gefühl der glücklichen Gegenwart alle
Seelenkräfte expandirt, sondern plötzlich auch alle Träume der Zu-
kunft realisirt erscheinen, wo Menschen und Dinge einem näher ge-
kommen sind, wo man Jedermann sein Glück theilen lassen und der
ganzen Welt um den Hals fallen möchte. Es kann dabei sogar schon
zu einer ziemlichen Unordnung und Inconhärenz der Ideen kommen,
und es zeigt jedenfalls keine sehr tiefe Erregung, wenn der Glück-
liche sich gleich schnell besonnen in Alles zurecht zu finden weiss.
Auch beim Gesunden ist mit diesen Gefühlen gewöhnlich ein Trieb
zu äusserer Bewegung, Unruhe, vielem Sprechen und Geschäftigkeit
verbunden. In ähnlicher Weise äussern sich diese Zustände, wenn
sie von innen heraus krankhaft entstehen; sie bilden gewöhnlich
die Grundzustände der Form des sog. Wahnsinns und kommen auch
noch, doch sehr abgeschwächt, in der Verrücktheit und Narrheit vor.
Wir müssen uns, nach unsern Beobachtungen, entschieden der An-
sicht Guislains anschliessen, dass das fröhliche Irresein fast immer
erst secundär, nach vorausgegangenen Depressionszuständen, sich ein-
stellt. Es scheint desshalb auch auf einer tieferen psychischen Er-
krankung zu beruhen, als die letzteren Zustände. Es ist oft, als ob
plötzlich mit einer eingetretenen Veränderung im Zustande des Ge-
hirns die bisher auf der Seele lastenden Hemmnisse vollständig weg-
genommen wären und sich nun, als ein Symptom tieferer Zerrüt-
tung, das Gefühl grosser psychischer Freiheit, glückliche, hoffnungs-
reiche Stimmnngen von selbst erheben könnten. Eine entferntere
Analogie aus dem sensitiv-motorischen Nervensysteme mag die
Beobachtung (Purkinje) bieten, dass, wenn die Extremitäten eine Zeit
lang mit angehängten Gewichten belastet waren, unmittelbar nach
deren Wegnahme eine ungemeine Leichtigkeit der Bewegungen eintritt.
Eine Menge anderer, nicht einzeln aufzählbarer krankhafter Stimmungen und
Gemüthserregungen, bizarre, launische Inclinationen und Abneigungen, sinnliche
und ideal-schwärmerische Verliebtheit, Coquetterie etc. kommen noch vor.
[55]Formell anomales Denken.
Mit dem Auftreten all dieser verschiedenen Gemüthsanomalieen hat sich dann
gewöhnlich das Verhalten des Individuums zur Aussenwelt, sein ganzer Cha-
racter, es haben sich seine Neigungen und Geschmacksrichtungen total verändert.
Der Sanfte kann wild, der Geizige verschwenderisch, der Sittsame obscön, der
Bescheidene eitel und hochmüthig erscheinen etc. Die Umwandlung des Characters
ist gewöhnlich in den Anfangsperioden des Irreseins das auffallendste Zeichen und
gewöhnlich stellt sich das Irresein nur in dem Falle einer sehr langsamen, all-
mähligen Entstehung als die bloss excessive Steigerung der natürlichen Character-
Eigenschaften des Menschen dar. Man darf desshalb aus den Gemüths-Eigenthüm-
lichkeiten des Kranken auf seinen früheren Character nur mit grösster Vorsicht
schliessen; exquisite Bosheit und Tücke z. B. kann bei sonst gutgearteten, wohl-
wollenden Menschen Jahre lang während der Dauer der Krankheit anhalten und
mit der Genesung schnell und spurlos dem alten Character wieder weichen.
B. Anomalieen des Denkens.
§. 37.
Wir können auf dem Gebiete des deutlichen Vorstellens, des
Urtheilens und Schliessens zur leichteren Uebersicht zweierlei Ab-
normitäten unterscheiden, einmal ein krankhaftes Verhalten des Vor-
stellens in formaler Beziehung, sodann eine Abnormität der Vor-
stellungen in Bezug auf ihren (falschen) Inhalt. Beide Verhältnisse
hängen aufs innigste zusammen, in der Weise, dass gewisse formale
Abweichungen, z. B. ein allzurascher Ablauf, eine zu grosse Lang-
samkeit im Vorstellen, schon durch die Gefühle, von denen sie noth-
wendig begleitet sind, wieder einzelne Grundinhalte der Vorstellungen
an die Hand geben oder begünstigen, z. B. die mässige Steigerung
des Vorstellens, wo die Combinationen mit erhöhter Leichtigkeit von
statten gehen, ist sehr häufig von falschen Urtheilen, die sich aus dem
Gefühle geistiger Freiheit und geistigen Wohlseins ergeben, begleitet.*)
a. Formale Abweichungen.
Zu grosse Langsamkeit des Denkens rührt entweder von
einer Unterdrückung durch heftigen psychischen Schmerz, der das
Bewusstsein ganz füllt und nichts Anderes neben sich aufkommen
lässt, oder von wirklicher Schwäche, namentlich von dem Verluste
des Gedächtnisses her. In beiden Fällen, so verschieden sie ihrem
inneren Grunde nach sind, beobachtet man Armuth und Einförmigkeit
im Vorstellen; der Zug der Gedanken scheint mitunter stille zu stehen,
einzelne Worte, Redensarten, Bewegungen, die Stunden lang wieder-
holt werden, zeigen das Beharren einzelner Vorstellungen; oft ist ein
Stocken der Rede, eine grosse Unsicherheit in der Verknüpfung der
[56]Die Verworrenheit.
Gedanken und Schüchternheit im Urtheilen bemerklich. Dieser Zu-
stand findet sich vorzüglich in der Melancholie und im Blödsinn.
Eine erhöhte Production und ein beschleunigter Ablauf
der Gedanken kann in mässigeren Graden die geistige Combination
erleichtern; man sieht dann zuweilen sonst eben nicht geistreiche
Menschen scharfsinniger und witziger werden, namentlich stellt sich
zuweilen der gelungene Ausdruck feineren Spottes gegen die Um-
gebung, leichte Versification und dergl. ein. Indessen hört man nur
wenig Kluges von den Irren. Denn gerade in diesen Zuständen, wo
der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten
wird, stellt sich gewöhnlich sehr bald Unordnung und Verworren-
heit ein. Wenn nämlich grosse Mengen von Vorstellungen im Ge-
hirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar
lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und
Ereignisse, Worte, Lieder u. dergl. mit der Frische der ersten In-
tuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von
einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbin-
dungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit
der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemüthszustände
gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideen-
jagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen,
und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da die Ele-
mente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich —
wenigstens noch geistreicher als seine Umgebung ausnimmt.
Diese letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht
vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft grössere geistige Leb-
haftigkeit, und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres
Zeichen des nahenden Tobanfalls war, wenn der Kranke witzig wurde.
Verworrenheit der Gedanken entsteht übrigens nicht allein auf die ange-
gebene Art, durch eine Ueberfüllung des Bewusstseins. Es gibt auch eine ver-
wirrte Incohärenz im Denken und Reden, die den Gedankensprüngen und Ellipsen
des Affects, z. B. des Zorns, entspricht, und wieder eine andere, die aus gänz-
lichem Zerfall und tiefer Zerrüttung der psychischen Processe hervorgeht. Der
psychologische Mechanismus dieser letzteren Zustände ist im Einzelnen noch sehr
dunkel, es scheint uns, dass die Incohärenz häufig darauf beruht, dass sich die
Vorstellungen nicht sowohl nach ihrem (ähnlichen oder contrastirenden) Inhalt,
sondern mehr nach den äusseren Aehnlichkeiten des Wortklangs hervorrufen.
Vielleicht hat eine mangelnde Zusammenwirkung beider Gehirnhälften grossen An-
theil an der Verworrenheit überhaupt.
Für die in diesem §. erwähnten krankhaften Beschaffenheiten des Denkens
finden sich viele physiologische Analogieen, theils in der zähen Hartnäckigkeit, mit
der uns unangenehme Vorstellungen verfolgen können, in der Wortkargheit, in
[57]Die Störungen des Gedächtnisses.
der Einschüchterung des Urtheils durch ein widriges Ereigniss, auch in dem
s. g. Schmollen, theils in der Confusion der Ideen durch Furcht; für die zweite
Reihe in der Schwatzhaftigkeit ohne wahren Gedankeninhalt, in der innerlichen
Verwirrung, die durch copiose, gleichzeitige Aufnahme vieler Ideen dann ent-
stehen kann, wenn noch keine gemeinsame Punkte und leitende Richtungen in
ihnen aufzufinden sind, oder wieder in der Incohärenz der Traumbilder.
Was noch besonders das Gedächtniss betrifft, so findet sich
ein höchst verschiedenes Verhalten desselben bei den Irren. Mitunter
ist es vollständig treu, sowohl für die Ereignisse des früheren Lebens,
als für die während der Krankheit. Eine krankhafte Erhöhung des-
selben ward im vorigen §. erwähnt. Viel häufiger aber ist eine
Schwächung desselben in verschiedenen Modalitäten. Namentlich die
Form des Blödsinns zeichnet sich in der Weise durch Schwäche des
Gedächtnisses aus, dass das eben jetzt Geschehende schnell, oft von
einem Augenblicke zum andern vergessen wird, während es oft an
Erinnerungen aus dem früheren Leben nicht fehlt, die sogar den
Stoff zu einem ziemlich geordneten Gespräche geben können. An-
deremale ist gerade der Inhalt des vergangenen Lebens entweder
(selten) völlig aus der Tafel der Erinnerung weggewischt oder (öfter)
wenigstens in eine solche Ferne gerückt, so undeutlich und dem In-
dividuum so fremd geworden, dass es denselben kaum mehr als sein
Erlebniss anerkennen kann; hier wird dann oft die eigene, wirkliche
Existenz erst von den Tagen der Erkrankung an datirt und das Frühere
entweder einer fremden Persönlichkeit oder wenigstens einem früheren
ganz anderen Zustande (einem Scheinleben) zugeschrieben. Dieser
völlige Abfall vom früheren Ich beruht freilich nicht allein auf Ge-
dächtnissmangel, sondern wird gewöhnlich durch besondere sensitive
Anomalieen (§. 43.) mit hervorgebracht und beharrlich gemacht; aber das
Verschwinden ganzer Massen früherer Vorstellungen begünstigt ausser-
ordentlich die consequente, innere Durchführung eines solchen Wahns. *)
Der vom Irresein Genesene erinnert sich in der Regel der Er-
eignisse während seiner Krankheit und kann oft mit wunderbarer Treue
und Schärfe die kleinsten Vorkommnisse in der Aussenwelt und das
feinere Detail seiner Motive und seiner Stimmung während der Krank-
heit angeben. Er weiss oft noch jeden Blick, jedes Wort, jede
Mienenveränderung seiner Besucher zu schildern — eine beiläufige
Aufforderung an die Umgebung der Irren zu einer steten, strengen
Achtsamkeit auf sich selbst, zur Gerechtigkeit und Milde, wenn es
[58]Falsche Vorstellungen. Wahnideen.
solcher Mahnung noch bedürfte! — Ein solches Verhalten kommt
namentlich bei Genesenen nach schwermüthigen und mässigeren tob-
süchtigen Zuständen vor, weniger nach der Form des Wahnsinns, aus
dem der Kranke gewöhnlich viel verworrenere Erinnerungen behält.
Die Angabe eines Genesenen, von allen Vorgängen während des Irre-
seins gar nichts mehr zu wissen, ist mit Vorsicht aufzunehmen, da
auch genaue Erinnerungen oft aus Scham verschwiegen werden.
b. Falscher Inhalt der Gedanken. Wahnideen.
Mit dem Auftreten falscher Urtheile, die nicht mehr berichtigt
werden können, wirklicher Delirien, wird die Geisteskrankheit, wenn
sie anfangs nur ein Irresein in Gefühlen und Affecten war, zum Irre-
sein der Intelligenz. Der falsche, d. h. mit der Aussenwelt und den
früheren Erlebnissen des Individuums nicht mehr congruente Inhalt
der Gedanken ergibt sich Anfangs ganz gewöhnlich auf die Weise,
dass der Kranke, nach dem Causalitätsgesetze, seine Stimmungen
und krankhaften Affecte sich zu erklären sucht (§. 18. 35.).
Die allerverschiedensten äusseren Anlässe und Ereignisse und alle
möglichen Erinnerungen seines eigenen Lebens können das mannig-
faltigste Material dieser Erklärungsversuche abgeben, und der Zufall,
die Bildungsstufe und die Lebensansichten des Individuums haben
hier den grössten Einfluss. Dieselbe Stimmung, z. B. die in dem
Abergläubischen den Wahn der Verhexung erregt, kann einem Andern
die Ideen einer Verfolgung durch Freimaurer, einer Beeinträchtigung
durch geheime magnetische Manipulationen u. dergl. suppeditiren. Von
ganz besonderem Einflusse sowohl auf die Bildung solcher Wahnideen
überhaupt, als auf ihren speciellen Inhalt sind alle Hallucinationen;
sie sind so häufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so
constantes Material für Erklärungen dar, dass wir erfahrungsgemäss
in ihnen den gewöhnlichen Ursprung der Wahnideen finden müssen
(z. B. ein Gesichtshallucinant, der feurige Erscheinungen hat, glaubt
sich in der Hölle; ein Geruchshallucinant glaubt sich überall von
Leichen, deren Ausdünstung er zu riechen glaubt, umgeben, baut
darauf weitere Schlüsse etc.).
Auch in den Wahnideen sind besonders zwei grosse Unterschiede
ihres Inhalts bemerklich, glückliche, erhabene, glänzende Einbildungen
und wieder düstere, traurige und schmerzliche falsche Conceptionen.
Die ersteren gehen aus den expansiven Affecten und aus heiteren,
Glück verkündenden Hallucinationen, die letzteren aus den deprimirten
[59]Ihre Entstehung.
Gemüthszuständen und finstern, Unheil bringenden Hallucinationen,
z. B. Schimpf- und Spottreden, die der Kranke immer hört, Teufels-
fratzen, die er sieht, u. dergl. hervor.
Die falschen Vorstellungen und Schlüsse, die zu Erklärungs-
versuchen werden, entwickeln sich ganz von selbst nach dem Cau-
salitätsgesetze in der kranken Seele; es braucht von Seiten des In-
dividuums kein Besinnen auf eine Erklärung, noch weniger werden
solche Schlüsse nach der langweiligen Form des Syllogismus gebildet.
Anfangs sind sie noch schwebend, das Ich appercipirt sie, es kann
vor ihnen erschrecken und mit ihnen kämpfen; allmählig aber, bei
steter Wiederholung, drängen sie die entgegenstehenden Vorstellungen
zurück und knüpfen Verbindungen mit den verwandten Vorstellungs-
massen des Ich an; dann sind sie zu dessen Bestandtheile geworden
und der Kranke kann sich ihrer nicht, oder nur etwa durch einen
Wechsel mit andern ähnlichen, falschen Vorstellungen entschlagen.
Die förderlichen, heitern und glücklichen Wahnideen werden natür-
lich viel leichter und vollständiger in das Ich aufgenommen, es gibt
ihnen früher, nach kürzerem Widerstande nach und es entsteht dann
zuweilen ein halbbewusstes Hineinphantasiren in eine Welt glück-
licher Träume.
Nicht alle falschen Ideen haben indessen die Bedeutung der
Erklärungsversuche; viele entstehen mit der zufälligen Abruptheit der
Hallucinationen oder jener sonderbaren, bizarren Gedanken, die sich
selbst dem Gesunden mitten in den Kreis seiner ernstesten Beschäf-
tigungen eindrängen können; ob sie haften, hängt von der jeweiligen
Stimmung des Kranken und davon ab, ob sie in den vorhandenen
Vorstellungen mehr oder weniger Material zu Verbindungen finden.
Man wird bei gehöriger Aufmerksamkeit, sehr häufig finden, dass auch
solche Wahnideen bei den Geisteskranken gewöhnlich mit Hallucina-
tionen im Zusammenhange stehen.
Von „fixen“ Ideen sollte nur da gesprochen werden, wo sich die falschen
Urtheile vollständig und bleibend fixirt haben, nemlich bei den partiell Verrükten.
In der Melancholie, der Tobsucht, dem Wahnsinn, wechseln sie sehr häufig. Alle
falschen Urtheile der Geisteskranken zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich
auf das Subject selbst beziehen oder wenigstens aus falschen, auf das Subject
bezüglichen, Ideen sich herausgebildet haben; sie unterscheiden sich dadurch,
wenn auch nicht vollständig, doch zu grossem Theile, von den Irrthümern des
Gesunden über objective Verhältnisse. Ein Geisteskranker kann z. B. alle Juden
für verdammt halten, aber nur, weil er sich von ihnen beeinträchtigt glaubt oder
weil er ihnen diese Strafe dictirt hat; er kann an die Existenz einer Brücke
von der Erde zum Monde glauben, aber nur weil er darauf wandeln will, oder
weil er mit deren Construction einen Beweis seiner Schöpferkraft gegeben hat etc.
[60]Allgemeinheit und Partialität des Wahns.
Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch-
tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt
ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer
zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre
ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die
ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen.
Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche
Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein partiales oder ein all-
gemeines ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be-
achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da
der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der
letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen
nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu
wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz
irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige
beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber völlig
geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der
Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen
könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere
Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be-
steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin,
dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee hat, sondern vielmehr
darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt äussert.
Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke,
in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum
andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie-
len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern
noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte.
Die Aufstellung einer Classe der Monomanie*) (gegenüber der Manie), die
sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf
das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono-
manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich
des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt
und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen.
Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel-
punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen
eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen-
sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön-
[61]Willensstörungen.
lichkeit geworden ist, bald eher mit dem Herrschen gewisser Leidenschaften,
z. B. der Liebe, der Eifersucht, dem Stolz, der Genussucht, dem Geiz etc., die in
ihren höheren Graden, wenn sie Alles Andere aus der Seele verdrängen, ebenso
das geistige Leben veröden, von denen mehrere auch in ihrem Ausdrucke z. B.
äusserliche Zerstreutheit bei innerlicher Concentration, Ziererei und Lust an äusserem
Prunk, mannigfache Aehnlichkeit mit den entsprechenden Formen des Irreseins haben.
C. Anomalieen des Wollens.
§. 41.
Auch die motorische Seite des Seelenlebens zeigt bei den Gei-
steskranken schwere und mannigfaltige Abweichungen vom mittleren
Zustande der Gesundheit, sowohl auf demjenigen innerlichen Gebiete,
wo deutliches Vorstellen zum bewussten Wollen wird, als auf dem,
wo ein undeutlicheres, aber deshalb nicht unkräftigeres Streben (Trieb)
durch sensitive Eindrücke und dunkle Gemüthsbewegungen erregt wird.
In ersterer Beziehung stehen sich als Extreme die Willenlosig-
keit und das erhöhte, bis zum Schrankenlosen gesteigerte Wollen
entgegen. — Die Willensschwäche kann aus der Unmöglichkeit, sich
zu entschliessen, hervorgehen und diese in Trägheit des Vorstellens
oder dem Mangel eines gehörig kräftigen Ich, das mit seinen Vor-
stellungsmassen eine schwebende Vorstellung zum Streben determi-
nirte, ihren Grund haben. Diese Zustände äussern sich als höchste
Bedenklichkeit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, die gewohnten Willens-
impulse, z. B. zu den habituellen Geschäften, aufzubringen und sind
in den ersten, melancholischen Stadien des Irreseins sehr häufig.
Andrerseits entsteht Willenlosigkeit (im Blödsinn) aus der Abwesen-
heit klarer Vorstellungen überhaupt; mit dem Denken nimmt auch
das Wollen ein Ende.
Die Willenssteigerung äussert sich als grosse Begehrlichkeit, als
Thatenlust, als Sucht, Plane zu machen, alle Vorstellungen in Be-
strebungen zu realisiren, auch als herrischer Eigensinn und gewalt-
thätiges, heftiges Begehren in bestimmten Richtungen, ähnlich den
consequenten, starken Willensrichtungen der Leidenschaft. Sie er-
scheint — in ersterer Beziehung — entweder als häufige Aeusserung
schwächlicher Velléitäten, oder sie ist wirklich begründet auf ein
Gefühl erhöhter körperlicher und psychischer Kraft, grösserer Rüstig-
keit und auf ein krankhaft erhöhtes Selbstgefühl. Das letztere ist
ganz besonders in der Form des sog. Wahnsinns der Fall.
Ueberhaupt aber bringen jedesmal die krankhaften Gemüths-
bewegungen den ihnen entsprechenden Zustand des Strebens mit
sich, und dieses ist um so klarer und bestimmter, um so mehr
[62]Krankhafte Triebe.
eigentlicher krankhafter Wille, je deutlichere Wahnvorstellungen sich
aus den Affecten oder Hallucinationen ergeben haben.
Unter den krankhaften Trieben ist zuerst der heftige Trieb
zum Muskelgebrauche, zu körperlicher Bewegung überhaupt zu
erwähnen, wie er sich, namentlich in tobsüchtigen Zuständen, als
anhaltendes Bedürfniss des unruhigen Hin- und Hertreibens, des Um-
sichschlagens, des Schreiens etc. äussert — ein Verhalten, das oft
genug zu Beeinträchtigung und Zerstörung der Umgebung des Kranken
führt, ohne dass es diesem gerade um diesen bestimmten Zweck zu
thun wäre. Der Kranke sucht und findet Erleichterung seines inner-
lichen Drucks und seiner Gefühlsbelästigung, indem er sie nach aussen
wirft (§. 22.); und es reihen sich hieran die Zustände, wo heftige
Angstgefühle oder einzelne schreckliche Vorstellungen den Kranken
zu einzelnen bestimmten Unthaten treiben. So heftig kann
dieser Drang nach irgend einem Ende, irgend einer Entscheidung
seines qualvollen Zustandes sein, dass hier gar nicht selten Hand-
lungen, die der Kranke im höchsten Grade verabscheut, aus dem
Gefühle, dass nur in ihnen noch Rettung und Beruhigung für ihn zu
finden sei, begangen werden. Untersucht man indessen, wie man
es muss, die einzelnen bekannt gewordenen Fälle, wo Geisteskranke
in gefährlichen und verbrecherischen Thaten (Mord, Selbstmord, Brand-
stiftung, Diebstahl) ihr Irresein äusserten, näher nach ihren Motiven,
so fällt die grosse Verschiedenheit ihrer psychologischen Grundlagen
in die Augen; man fühlt alsbald das Ungenügende, solche Fälle, je
nach der Art der begangenen Handlungen, einem besondern Mord-,
Brand-, Selbstmordtriebe etc. zuzutheilen und das Bedürfniss, sie
nach den psychisch-krankhaften Grundzuständen, aus denen sie her-
vorgehen, getrennt zu beurtheilen. So fallen dann die einzelnen der-
artigen Willensrichtungen bald melancholischen, bald maniacalischen,
bald verrückten Motiven zu und wir haben sie bei der Einzelbetrach-
tung dieser Formen wiederzufinden.
In solchen Neigungen, Unheil zu stiften, die Kleider zu zerreissen, die Möbel
zu zerbrechen, werthvolle Dinge zu verstecken, Anderes zu stehlen etc., wie auch
in vielen anderen bizarren Handlungen harmloser Art, (z. B. dem beständigen Aus-
ziehen der Kleider) werden die Kranken gewöhnlich von bewussten Motiven geleitet
und man darf diese Handlungen nur in den seltensten Fällen für rein automatiseh
halten. Entweder sind es Hallucinationen, die ihnen solches anbefehlen, oder das
Bestreben, sich durch eine auffallende, kecke That Ruhe vor innerer Beängstigung
zu verschaffen, oder eigentliche Wahnideen. Zeller (Bemerkungen zu Guislain
p. 490) berichtet eine Anzahl solcher Fälle mit den von den Kranken angegebenen
Motiven. „Ein Kranker schlug bei uns alle Fenster hinaus, welche er erreichen
[63]Krankhafte Triebe.
konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur
Verstopfung von Mauslöchern zu bekommen; ein Anderer, um die Gelegenheit zu
benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein Anderer
zerriss in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln;
ein Anderer hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden, und setzte ihn dann
in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammen-
geschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme,
erwiederte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren
wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Aesthetik er-
langen.“ — In solchen Fällen muss man indessen den Kranken, die mit der An-
gabe ihrer wirklichen Motive oft äusserst zurückhaltend sind, nicht zu sehr
vertrauen, und manches solche Beispiel erinnert an die Scene in Shakespeare, wo
der durch Fragen in Verlegenheit gesetzte Fallstaff immer bei der Antwort bleibt
„in Steifleinen.“
Bei den verbrecherischen Handlungen der Irren ist es der genauesten Be-
achtung werth, ob der Kranke auch schon im gesunden Leben einen ähnlichen
Hang (z. B. zum Stehlen) gezeigt hat, der nur jetzt, bei aufgehobener Besonnen-
heit, unverhüllt ans Licht tritt, oder ob die Lust dazu, erst während des Irreseins
entstanden und mit der Genesung dann auch wieder verschwindend, wirklich aus
krankhaften Gemüthsbewegungen und Wahnideen hervorging. (S. Jakobi über
Stehlsucht in Jakobi und Nasses Zeitschrift. 1837. 1. Heft. p. 179.)
Aus der Aeusserung solcher Neigungen, aus dem freien Hervortreten von
Lüsten, die sonst verhüllt werden, aus einzelnen krankhaften Trieben ist sehr
Vieles von der Bizarrerie herzuleiten, die das Benehmen der meisten Geisteskranken
zeigt. Jene haben ihre Analogieen im gesunden Leben theils in jenen sonderbaren
Gewohnheiten und grillenhaften Handlungen, die zuweilen sogar als curiose An-
hängsel an grosse, innerlich stets lebhaft beschäftigte Intelligenzen vorkommen,
(z. B. den Stoff zu manchen Gelehrten-Anecdoten abgeben) theils aber in den
Willensrichtungen und Handlungsweisen der Leidenschaft und des Affects. Hier
ist im Einzelnen Stoff zu unzähligen Vergleichungen und man findet bei den
Dichtern, welche die affectvollen Zustände des Subjects zum Gegenstande haben,
eine Menge beispielsweiser Analogieen. Wenn der Schwermüthige z. B. den Trieb
hat, hinaus, fort zu wollen, im Freien herumzuschweifen, weil es ihm daheim zu
enge ist und er von äusserer Unruhe und Unstetheit Linderung seines inneren
Schmerzzustandes erwartet, so kommt dasselbe beim reellen psychischen Schmerze
vor, wo es das Individuum hinaus ins Freie oder gar in ferne Länder, in die
Welt, ins Leben hinaustreibt, um in äusserer Unruhe und Umherschweifen die
innere Ruhe wieder herzustellen. Eichendorff hat diese Stimmung in einem be-
kannten Liede gut ausgedrückt (in dem Verse: Ich möcht’ als Spielmann reisen etc.
Ich möcht’ als Reiter fliegen etc.); andere Beispiele könnte man in dem Wander-
triebe moderner schmerzzerissener Touristen finden.
[64]
Zweites Capitel.
Die sensitiven Elementarstörungen.
§. 42.
Unter den für das Irresein so bedeutungsvollen Empfindungs-
Anomalieen ist zuerst der verschiedenen Art zu gedenken, wie sich
das allgemeine Krankheitsgefühl verhält. In der grossen Mehr-
zahl der Fälle fehlt es bei den Geisteskranken vollständig, die mei-
sten derselben wollen desshalb auch nicht krank sein und protestiren
oft gegen eine ärztliche Behandlung. Ja, in nicht wenigen Fällen
schwerer psychischer Erkrankung ist statt eines Krankheitsgefühls viel-
mehr ein Gefühl erhöhten Wohlseins, erhöhter Körperkraft und Rüstigkeit
vorhanden; solche Kranke (Maniaci) werden häufig bei jedem Zweifel an
ihrer vollständigen Gesundheit ärgerlich und aufgebracht, und berufen
sich gerne auf ihren vortrefflichen — krankhaft erhöhten — Appetit,
um ihr vollständiges Wohlsein zu beweisen. — Diesen Mangel an
Krankheitsgefühl beobachten wir bei einer Menge von Gehirnaffectionen,
zuweilen nach Kopfverletzungen, ganz gewöhnlich in der acuten Me-
ningitis und dem typhösen Gehirnleiden. Auf der Höhe der Krank-
heit erhält man hier auf die betreffenden Fragen meist die Antwort,
dass es ganz gut gehe, zuweilen sogar die Versicherung, dass man
sich sehr täusche, das Individuum für krank zu halten, während dann
mit dem Nachlass der Gefahr und allgemeiner Milderung der Sym-
ptome ein starkes Krankheitsgefühl, die tiefste Abgeschlagenheit und
Ermüdung sich einstellen. Solche pflegen denn auch in der Recon-
valescenz aus jenen Formen des Irreseins nicht zu fehlen.
Es gibt dagegen andere Zustände von Irresein, wo es an dem
Krankheitsgefühle nicht nur nicht fehlt, sondern dasselbe, im Ver-
hältnisse zu den objectiven Symptomen, vielmehr ganz ungewöhn-
lich intensiv erscheint. Der Kranke wird dadurch über den ob-
jectiven Thatbestand seines körperlichen Befindens getäuscht und er
delirirt in falschen Vorstellungen schwerer eigener Erkrankung. So
bildet ein unverhältnissmässig starkes oder anhaltendes Krankheits-
gefühl eine der Grundlagen der hypochondrischen Zustände, und es
ist für dieselben charakteristisch, dass es gewöhnlich nicht bei dem
allgemeinen Eindrucke körperlichen Missbehagens bleibt, sondern mit
der abwechselnden Richtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen
Organe in jedem derselben unangenehme Empfindungen geweckt wer-
den. Ganz denselben Zustand der nervösen Centralorgane finden wir
in acuter Weise, in den Anfangsstadien der meisten schweren Fieber,
[65]Alterationen des Gemeingefühls.
nur mit dem Unterschiede, dass es hier an Zeit für das Fixiren der
Aufmerksamkeit fehlt und dass bald durch schwere, objective Sym-
ptome das Krankheitsgefühl gerechtfertigt wird.
§. 43.
Zahlreiche weitere Anomalieen des Gemeingefühls
schliessen sich an die eben bemerkten an. Einmal jene umfassen-
den, ausgebreiteten Umänderungen der körperlichen Selbstempfindung,
welche gewöhnlich zugleich mit tiefgreifenden psychischen Leiden
(§. 38.) den Wahn einer verwandelten Persönlichkeit begründen: die
Kranken halten sich, mit Aufgeben ihrer früheren Person, bald für
Thiere (Wölfe, Ochsen etc.), bald für historische Individuen (Napoleon),
bald wird der ganze Körper für todt oder wenigstens für einen frem-
den, dem Kranken nicht wirklich angehörigen Leib gehalten, bald
soll er gar aus unbelebten Substanzen, aus Holz, Glas, Wachs, But-
ter etc. bestehen. Anderemale wird nur ausserordentliche Schwere
des ganzen Körpers gefühlt, oder es ist dem Kranken, als ob sein
leiblicher Umfang ungemein vergrössert wäre, u. dergl. m.
Sodann kommen diese Anomalieen des Gemeingefühls local, auf
einzelne Theile des Organismus beschränkt, vor; es ist dem Kranken,
als ob ihm einzelne Glieder fehlten oder diese wenigstens dem Or-
ganismus nicht mehr in der alten Weise angehörten, als ob er keinen
Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas
wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich
gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen
der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein.
Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken
jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin-
dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürztwerden
aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände beobachtet.
Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge-
meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich
hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit
nachweisbarer Anästhesie des Organs offenbar zusammen; anderemale
aber ist die peripherische Empfindlichkeit der Hautoberfläche voll-
ständig erhalten, und es mögen dunkle Veränderungen der Muskel-
empfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle
zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun
die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemäch-
tigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ur-
Griesinger, psych. Krankhtn. 5
[66]Beispiele von Alterationen des Gemeingefühls.
sprungs zu sein, und die Grundlage dieses Wahns mag auf dem ge-
bieterischen Auftreten gewisser Triebe und Eigenthümlichkeiten ein-
zelner Thiergattungen, z. B. der Grausamkeit und Wildheit des Wolfs,
beruhen; immer aber wird auch hier eine tiefe Abweichung von dem
normalen leiblichen Gemeingefühle zur völligen Ausbildung der Wahn-
Metamorphose erforderlich sein.
Leuret (Fragm. psychol. sur la folie. Par. 1834. p. 101) hat einige ältere
Beispiele dieser sogenannten Lycanthropie zusammengestellt und mit Fällen aus
der neuesten Zeit, wo Geisteskranke in den Wäldern herumirrten und in wildem
Mordtriebe Kinder zerrissen und verzehrten, auf interessante Weise zusammen-
gestellt. Wier erzählt noch aus dem J. 1541 das Beispiel eines Mannes aus
Padua, der sich in einen Wolf verwandelt glaubte und auf dem Felde die Vor-
übergehenden anfiel und tödtete. „Ich bin wirklich ein Wolf,“ sagte er, „und
dass meine Haut nicht der eines Wolfs gleicht, kommt nur daher, dass sie um-
gekehrt ist und die Haare nach innen stehen.“ Um sich hievon zu überzeugen
machte man allenthalben Incisionen und schnitt ihm Beine und Arme ab, so dass
er an seinen Wunden starb.
Die Beispiele, wo sich Geisteskranke für todt hielten und ihren Leib nicht
als den eigenen anerkannten, sind zahlreich. Esquirol erzählt von einer Frau,
welche glaubte, ihren Körper habe der Teufel geholt: die Hautfläche war voll-
kommen unempfindlich. Ebenso in folgendem Falle von Foville: Ein Soldat hält
sich für todt seit der Schlacht bei Austerlitz, in der er schwer verwundet wurde.
Fragt man nach seinem Befinden, so antwortet er: Sie fragen, wie es dem Vater
Lambert gehe; aber es gibt keinen Vater Lambert mehr, eine Kanonenkugel bei
Austerlitz hat ihn mitgenommen. Was Sie hier sehen, ist nicht er, das ist
bloss eine nachgemachte, schlechte Maschine; machen Sie doch eine andere.“
Wenn er von sich selbst spricht, sagt er niemals ich, sondern immer das.
Die Haut ist unempfindlich und es kamen mehrmals Anfälle mehrtägiger Unbeweg-
lichkeit und Empfindungslosigkeit vor.
Ein junger Epileptischer, der auch zahlreiche Hallucinationen des Geruchs und
Geschmacks hat, fühlt manchmal eine so ausserordentliche Schwere des ganzen
Körpers, das er sich kaum aufrichten kann, anderemale eine solche Leichtigkeit,
als ob er sich vom Boden entfernte und aufflöge; mitunter scheinen ihm sein
Leib und seine Glieder so enorm vergrössert, dass es ihm unmöglich dünkt,
durch eine Thüre durchzukommen. *)
Auch für solche Zustände gibt es Analoga in den acuten Krankheiten. Ein
befreundeter Arzt hat uns mehrmals erzählt, wie er, schon bei ganz leichten
fieberhaften Affectionen, jedesmal die Empfindung einer bedeutenden Vergrösserung
aller Glieder habe.
Ein Reconvalescent von einem Fieber glaubte aus zwei Individuen zu be-
stehen, deren eines im Bette liege, während das andere herumgehe; ungeachtet
er keinen Appetit hatte, ass er doch viel, weil er zwei Leiber ernähren müsse.
(Leuret l. c. p. 95.)
Bei Kranken mit sensitiver Lähmung einer Körperhälfte wird zuweilen der
Wahn beobachtet, es liege eine andere Person oder gar eine Leiche neben ihnen
[67]Die Anästhesieen.
im Bette (Bouillaud, traité de l’encéphalite. Paris 1825. p. 64). Solche falsche
Urtheile gehören bereits zu den — alsbald zu betrachtenden — sog. Illusionen;
weitere Beispiele finden sich im §. 55.
§. 44.
Von den Anästhesieen der Geisteskranken ist noch näher zu
sprechen. Die verringerte oder ganz aufgehobene Empfindlichkeit der
Haut für Temperatur- und Schmerzeindrücke ist zwar nicht sehr häufig,
noch viel weniger allgemein bei den Irren — man wird im Gegen-
theil bei Einzelnen eine übermässige Schmerzempfänglichkeit finden
(Esquirol erzählt einen solchen Fall) und man wird in den Irren-
anstalten Winters bemerken, wie, mit ganz wenigen Ausnahmen, die
Kranken stets die Wärme suchen. Doch kommen Fälle vorübergehen-
der und anhaltenderer Hautanästhesie (wie schon im vorigen §. an
einzelnen Beispielen gezeigt) vor, am meisten in melancholischen
und blödsinnigen Zuständen, und eine genaue Durchprüfung der Haut-
empfindlichkeit an den verschiedenen Körpertheilen sollte nie unter-
lassen werden.
Rochoux berichtete neuerlich (Sitzung der Académie de médecine vom
22. Decbr. 1840) einen Unglücksfall, der durch Anästhesie des Kranken entstand.
Ein Geisteskranker in Bicêtre brachte, während Niemand im Zimmer war, seinen
Kopf an das rothglühende Eisen des Ofens und seine Arme mitten in die innere
Gluth. Erst der heftige Gestank zog Leute herbei; der Kranke war ganz gleich-
gültig und gab durchaus kein Zeichen von Schmerz, ungeachtet die Arme bis auf
die Knochen verbrannt waren.
Ueber eine ganz andere Art von Anästhesie, die weit mehr den
geistigen, innerlichsten Act beim Empfinden betrifft, hören wir zu-
weilen Geisteskranke, namentlich Melancholische klagen. „Ich sehe,
ich höre, ich fühle,“ sagen solche Kranke, „aber die Gegenstände
gelangen nicht bis zu mir, ich kann die Empfindung nicht aufnehmen,
es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt“ etc.
Man findet bei solchen Kranken zuweilen eine Verminderung der pe-
ripherischen Hautsensibilität, so dass ihnen die Gegenstände etwas
undeutlicher, auch rauh, wollig erscheinen; aber, wenn diess auch
immer dabei wäre, würde es zur Deutung jenes Phänomens nicht
ausreichen. Jene Abweichungen in der Perception der Empfindungen
erinnern vielmehr an die Umänderung, die überhaupt unser geistiges
Verhältniss zur Sinnenwelt theils in den verschiedenen Lebensaltern,
theils in den Affecten und leidenschaftlichen Zuständen erleidet. Im
kindlichen Alter fühlen wir uns der Welt der sinnlichen Erscheinung
näher, wir leben unmittelbar mit und in ihr, ein nahes Band eines
5*
[68]Hallucinationen und Illusionen.
lebendigen Zusammenhangs verknüpft uns mit ihr. Mit der Reife
der Reflexion lockert sich dieses Band, die Wärme des Interesses
erkaltet, die Dinge sehen uns anders an und wir verhalten uns frem-
der zur Aussenwelt, wenn wir gleich sie besser kennen gelernt haben.
Die Freude, überhaupt die expansiven Affecte, nähern uns der Sin-
nenwelt wieder, Alles macht wieder einen lebhafteren Eindruck, und
mit der schnellen, unmittelbaren Rückkehr der wärmsten Receptivität
für alles Sinnliche *) übt so die Freude eine unmittelbar verjüngende
Wirkung aus. In den schmerzlichen Affecten verhält es sich um-
gekehrt; die Aussenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötz-
lich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieb-
lingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir
von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns
noch mehr zur Entfremdung von den Aussendingen und zur inneren
Vereinsamung bestimmt. Diesen letzteren Zuständen möchten wir,
als ihnen nahe stehend, jene Klagen der Melancholischen analog fin-
den, bei denen ihre Intensität, ihre psychische Unmotivirtheit und
ihre Andauer den Kranken zu lauter Klage über solche Veränderung
seiner Receptivität drängt.
Mehre Beispiele dieser Zustände sind im Capitel von der Melancholie zu ver-
gleichen. Sie haben in anderer Beziehung auch wieder ihre Analogie in der
Mattigkeit der Sinneseindrücke beim Einschlafen.
§. 45.
Die allgemeinsten und wichtigsten sensitiven Anomalieen in gei-
steskranken Zuständen sind aber die Hallucinationen und Illu-
sionen, oder die Sinnesdelirien. Unter Hallucinationen versteht man
subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden
und dadurch scheinbare Objectivität und Realität bekommen; Illusionen
nennt man falsche Deutungen äusserer Objecte. Es ist eine Hallu-
cination, wenn ich menschliche Gestalten sehe, während in der That
kein Mensch in der Nähe ist, oder eine Stimme höre, wo nicht ge-
sprochen wurde; es ist eine Illusion, wenn ich eine glänzende Wolke,
die eben am Himmel ist, für einen feurigen Wagen halte, oder wenn
ich in einem Unbekannten, der in mein Zimmer tritt, einen alten
Freund zu erblicken glaube. Den Hallucinationen entspricht gar nichts
Aeusseres, sie sind falsche Empfindungen; die Illusionen sind falsche
Urtheile, falsche Auslegungen eines peripherisch Empfundenen.
[69]Realität dieser Empfindungen.
Der Anlass zu dieser Empfindung braucht auch nicht nothwendig
in der Aussenwelt, er kann auch im eigenen Organismus liegen.
So werden die falschen Deutungen, welchen peripherische (neural-
gische, rheumatische) Schmerzen unterworfen werden, zu den Illu-
sionen gerechnet, z. B. der Wahn, schwanger zu sein, der aus un-
gewohnten Abdominal-Empfindungen hervorgeht, oder jener Fall von
Esquirol *), wo ein Kranker Schmerzen im Knie hat und nun mit der
Faust darauf schlägt, indem er immer ausruft: „Warte, Bösewicht,
du sollst mir nicht entgehen.“
Die genauere Unterscheidung der Hallucinationen und Illusionen rührt von
Esquirol her; sie verdient beibehalten zu werden, wenn sie gleich nicht ganz
scharf durchzuführen ist. Namentlich im Geschmacksinn und im Hautsinn ist die
Unterscheidung oft nicht möglich. Die Literatur über die Sinnesdelirien ist sehr
reichhaltig. Esquirol, mehre Aufsätze im Dictionnaire des sciences médicales,
in besonderen Abdrücken und in seinen „Geisteskrankheiten“. Müller, über
phantast. Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lélut, über folie sensoriale.
Gazette méd. 1833. Bird, thatsächliche Bemerkungen über Sinnestäuschungen.
Friedreichs Magazin. Heft 17. 1831. Dietz, über die Quelle der Sinnes-
täuschungen. ibidem. Heft 3. 1832. Leuret, fragmens psychologiques. Par.
1834. Bottex, sur les hallucinations. Lyon 1836. Marc, Geisteskrankheiten,
übersetzt von Ideler. I. 1843. Hagen, die Sinnestäuschungen. Leipzig 1837.
Baillarger, in Archiv. génér. 1842. 3. Patterson, annal. med. psycholog.
Mars. 1844. Ausserdem die Schriften von Arnold, Reil, Haslam, Hoffbauer, Neu-
mann, Friedreich, Jessen, Archambault in Ellis traité p. 180 seqq. etc.; Sino-
gowitz, die Geistesstörungen. Berlin 1843.
§. 46.
Hallucinationen kommen in allen Sinnen, dem Gesicht, Gehör, dem
Geruch, Geschmack und der Hautempfindung vor. Bei den einzelnen
Kranken sind bald diese, bald jene, häufig mehre, zuweilen alle diese
verschiedenen Sinnesthätigkeiten zugleich befallen. Die Hallucinationen
sind wirkliche Empfindungen, keine Einbildungen; der Kranke sieht, hört,
riecht dabei wirklich, er glaubt nicht bloss zu sehen oder zu hören,
und will man das Sinnendelirium mit Vernunftgründen bekämpfen, so
erhält man gewöhnlich Antworten, wie sie Leuret von einem seiner
Kranken bekam (Fragmens. p. 203): „Ich höre Stimmen, weil — ich
sie höre; wie sie entstehen, weiss ich nicht, aber sie sind für mich
eben so deutlich, wie Ihre eigene Stimme; soll ich an die Wirklich-
keit Ihrer Reden glauben, so müssen Sie mich auch an die Wirklich-
keit jener Reden glauben lassen, denn beide sind für mich in glei-
cher Weise fühlbar.“ So haben für das Urtheil des Hallucinanten
[70]Entstehung und Sitz
seine subjectiven Sinnesanschauungen gewöhnlich dieselbe Realität,
wie die objectiv von der Aussenwelt dargebotenen, und eben in die-
sem Umstande liegt zu grossem Theil die Wichtigkeit und Gefährlich-
keit dieser Phänomene. Wir sind gewohnt unsern Sinnen zu trauen
und Das für das Wahrste zu halten, was wir selbst sehen oder
tasten; Derjenige, dem falsche Sinnesperceptionen untergeschoben
werden, dem dadurch das Material seines Vorstellens und Combi-
nirens verfälscht wird, tritt eben damit in eine neue Welt des Scheins
und der Lüge ein; ihre Unterscheidung von der objectiven Wirklich-
keit, nach der sich sein Denken und Handeln richten soll, steht fast
niemals (vgl. §. 48.) bei ihm und kann ihm gewöhnlich auch von
fremdem Verstande nicht aufgenöthigt werden; er muss der Täu-
schung folgen, weil sie für ihn sinnliche Ueberzeugungskraft hat, und
nicht nur die aberwitzigsten, tollsten Ideen werden in ihm durch jene
geweckt und unterhalten, sondern häufig genug sind auch die gefähr-
lichsten Unthaten Folgen der Hallucinationen.
Die Hallucinanten können in jedem Augenblick durch Stimmen oder Visionen
zu Gewaltthaten an sich oder Anderen angetrieben werden, z. B. zu Mord in
Folge eines gehörten göttlichen Befehls, zu Rachehandlungen für gehörte Schimpf-
worte etc. Die Mehrzahl der von Geisteskranken begangenen Verbrechen beruht
auch auf Hallucinationen, was bei der ausserordentlichen Häufigkeit dieses Phä-
nomens — nach Esquirol kommt es bei 80 unter 100 Kranken vor, wir möchten
das Verhältniss fast noch höher taxiren — nicht zu verwundern ist.
§. 47.
Das Zustandekommen subjectiver Sinnesthätigkeiten ist an sich
nichts Ungewöhnliches. Wir wissen aus der Physiologie, dass die
Sinnesnerven auf alle Reize in der ihnen einwohnenden Energie
reagiren, dass die gedrückte oder congestionirte Retina Licht-, der
gereizte Hörnerv Schallempfindungen gibt etc. Werden wir dem-
gemäss die Hallucinationen als einfache Producte der Reizung der
betreffenden peripherischen Nervenausbreitungen zu betrachten haben?
— Diess ist unmöglich, einmal und hauptsächlich, weil Hallucinationen
bei Aufhebung der peripherischen Sinnesthätigkeit vorkommen, *) so-
[71]der Hallucinationen.
dann, weil nach bisher bekannten Thatsachen durch alle jene unmit-
telbaren Reize auf den Nerven in der Retina zwar Lichtflecke, feu-
rige Kugeln, Farbenbilder u. dergl., aber keine bestimmten, compli-
cirten Gestalten (Menschen, Häuser, Bäume etc.), im Ohr zwar Sau-
sen, höhere oder tiefere Töne, aber keine geformten Worte oder
Melodieen erzeugt werden können. Zu letzterem gehört etwas Wei-
teres, nämlich das Mitwirken des Vorstellens, dem allein solche For-
men, aus früheren Eindrücken behalten oder neu erzeugt, zukommen
können. Jene Projection des Vorstellens, durch welche die entspre-
chenden sinnlichen Bilder in dasselbe eingehen, haben wir (§. 15.)
als Thätigkeit der Phantasie kennen gelernt; während aber in der
Regel diese Acte darin bestehen, dass nur vorgestellte Abgrenzungen
und Formen im Seh- oder Gehörfeld entstehen und wir ebendamit
nur sehr schwache und abgeblasste Bilder erhalten, so werden hier,
durch mannigfaltige Uebergänge der Stärke und Lebendigkeit vermittelt,
vom Vorstellen so starke Sinnesthätigkeiten geweckt, dass nun das
Eingebildete wirklich leuchtend und farbig, klingend und melodisch
wird. Der Sitz aller dieser Vorgänge, der Sitz der Phantasie ist
nicht die Retina oder die Gehörnervenausbreitung, sondern das Gehirn
selbst und in demselben ohne Zweifel die centralen Ausbreitungen
der Sinnesnerven. So müssen wir, im Einklange mit den wichtigen
Beobachtungen von Esquirol, die Hallucinationen als cerebale Vor-
gänge betrachten.
Indessen ist damit die Sache keineswegs erschöpft. Es gibt
nämlich eine Anzahl anderer Thatsachen, welche — ganz besonders
deutlich bei den Gesichtshallucinationen — darauf hindeuten, dass
die peripherischen Ausbreitungen der betreffenden Nerven, wo solche
unverletzt sind, sich beim Sinnendelirium durchaus nicht unthätig
verhalten. Einmal scheinen krankhafte Vorgänge im Auge, welche
die Retina mitafficiren, ursprüngliche Anlässe zur Erzeugung von Hal-
lucinationen (oder vielmehr Illusionen, die sich dann aber nicht deut-
lich von jenen trennen lassen) zu geben. So namentlich in den
*)
[72]Entstehung und Sitz
Fällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge-
sichtshallucinationen beobachtet wurden, *) wo es scheint, als ob
jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder,
welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials
bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu
äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts-
hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin-
den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin,
den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann.
Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel-
tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu-
cination doppelt gesehen wurde.
Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines
Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen
leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der
Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen,
blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach
1—2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde
später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel-
lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg,
als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er seine Augen schief
stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse. Er
trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand
im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht,
dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64—73.
Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind
in ziemlicher Anzahl bekannt. „Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen
des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen
hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört
auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem“ (Esquirol). Reil
(Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in
ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht
zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus-
rief: Ich bin geheilt! — Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem
Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). — „D., 75 Jahre alt, geistig
gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die
ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck-
[73]der Hallucinationen.
bilder, bald monstruose Spinnen, die nach ihm greifen, um sein Blut zu saugen,
bald Soldaten mit Hellebarden etc. Es wird ein Aderlass am Fuss gemacht; die
Hallucinationen mit hartnäckiger Schlaflosigkeit dauern fort. Man legt eine Binde
über die Augen, sogleich hören sie auf und kehren zurück, sobald die Binde
weggenommen wird, bis sie der Kranke eine Nacht und einen Theil des Tages
ununterbrochen beibehält. Nun sah er die Phantome nur noch in langen Zwi-
schenräumen und nach einigen Tagen verschwanden sie gänzlich; seither blieb
der Mann gesund.“ (Bulletin de thérapeutique. 1842.) Auch Nicoiai’s Visionen
verschwanden zuweilen durch Verschliessen der Augen. *)
Man könnte diese Fälle, welche den Hallucinationen bei Blinden widerspre-
chen, als Illusionen auffassen, womit freilich das physiologische Verständniss
derselben nicht viel gefördert ist. Man kann sie als ein central provocirtes Mit-
halluciniren der Retinafläche nach einem von der Phantasie gegebenen Schema
ansehen, was zwar seine Schwierigkeiten hat, aber auch dadurch unterstützt wird,
dass durch die Gesichtsphantasmen hindurch die umgebenden Gegenstände oft wie
durch einen Schleier durchgesehen werden. Dass es Vorstellungen sind,
welche der Sinnesthätigkeit Form und Gestalt geben, zeigt besonders der Um-
stand, dass einzelne Beobachter Hallucinationen willkührlich hervorrufen konnten,
d. h. dass vorher als bewusst vorhandene und lebhaft festgehaltene Vorstellungen
erkennbar erst die Sinnesthätigkeit erregten. (Vgl. Mayer, Physiologie der Ner-
venfaser. Tübing. 1843. p. 237. seqq.). Einzelne Forscher haben die Ansicht
bestritten, dass die Phantasie die Hallucinationen erzeuge, indem sie auf den
Unterschied aufmerksam machten, der zwischen ihnen und den blossen Einbil-
dungen bestehe (Leuret, Hagen); dieser Einwand fällt, indem wir (§. 15.) die
phantastischen Vorgänge als eine, nur verschieden starke Mitthätigkeit der inneren
Sinnesnervenausbreitungen betrachten. Vgl. Müller. l. c. I. 5. — Auch Lélut
(l. c.) nennt die Hallucinationen ganz mit Recht vollkommene Umgestaltungen
eines Gedankens in meistens äussere Sinneseindrücke, und sehr bezeichnend ist
die Antwort, die ein Melancholischer Esquirol’n gab, der ihm über den Irrthum
bei seinen Gehörshallucinationen Bemerkungen machte: „Mitten in dieser Unter-
redung sagte er zu mir: Denken Sie manchmal? — Ohne Zweifel. — Nun
gut, Sie denken ganz leise, und ich, ich denke laut.“ **)
Einen interessanten Uebergang jenes dunkeln, blassen Mithallucinirens der
inneren Sinne, welches das Vorstellen im gewöhnlichen Zustande begleitet, zu
den Hallucinationen mit objectiver Deutlickheit haben wir bei einem Kranken
beobachtet, der, ausserordentlich reich an Visionen und sie mit Liebe pflegend,
oft davon sprach, wie manche seiner Erscheinungen nur in Umrissen ohne alle
Farbe, andere in dunklen Schattenbildern, noch andere in lebhaften, den äusser-
lich gegebenen vollständig gleichenden farbigen Bildern bestehen.
§. 48.
Auf solchen leichteren Unterschieden in der Stärke und Deut-
lichkeit der falschen Perceptionen, verglichen mit den objectiven
Sinneswahrnehmungen, mag zum Theil das verschiedene Ver-
[74]Hallucinationen Geistesgesunder.
halten des Individuums zu seinen Hallucinationen beruhen.
Noch mehr Einfluss hierauf aber hat einestheils die Beschaffenheit
der Gehirnfunctionen im Ganzen, insoferne sie einen grösseren oder
niedereren Grad von Besonnenheit zulassen, anderntheils namentlich die
Bildungsstufe und die Lebensansichten, die das Subject früher hatte.
Hallucinationen kommen durchaus nicht bloss in geistes-
kranken Zuständen vor. Dass der Traum, — auf den wir unten
noch einmal zurückkommen —, der Rausch, der Schwindel und ana-
loge Zustände Sinnesphantasmen vorführen, ist bekannt. Aber auch
abgesehen hievon sind Hallucinationen bei Nicht-Irren durchaus
nichts Seltenes. Der allbekannte Fall von Nicolai, die schon er-
wähnte, von Bonnet erzählte Thatsache, mehre der Fälle von Patter-
son, alle religiösen Visionen u. dergl. sind Beispiele hiefür. Nichts
wäre irriger, als einen Menschen desswegen, weil er Hallucinationen
hat, für geisteskrank halten zu wollen. Die vielfältigsten Erfahrungen
zeigen vielmehr, dass gerade im Leben geistig hochstehender und
ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung und
Gemüthsart, namentlich aber von sinnlich warmer und kräftiger Phan-
tasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden. Tasso, der in
Manso’s Gegenwart jenes lange Zwiegespräch mit seinem Schutzgeist
führte, Göthe’s bekannte (hechtgraue) Selbstvision und seine phan-
tastisch sprossenden idealen Blumen, Walter-Scotts Erscheinung,
die ihm seinen verstorbenen Freund Byron in den Falten eines Vor-
hangs vorführte, Jean-Pauls zum Fenster herabsehender kindlicher
Mädchenkopf, *)Benvenuto-Cellini’s Sonnenvision mögen als Bei-
spiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza**), Pascal***)
hatten Hallucinationen, Van-Helmont sah seine eigene Seele als
ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral†) erzählt von sich
selbst ein Gesichts-, Leuret aus eigener Erfahrung ein Gehörsphan-
tasma; ††) und nach unsern individuellen Beobachtungen sind wir
geneigt, sie auch bei geistig wenig hervorragenden Menschen als nicht
ganz seltene, aber häufig übersehene Phänomene zu betrachten. †††)
[75]Verschiedenes Verhalten zu den Hallucinationen.
Zu solchen Hallucinationen nun verhält sich der Gesunde ent-
weder ruhig betrachtend, indem er sie als subjectiv entstanden an-
erkennt (Nicolai, etc.); oder er glaubt an ihre Realität, indem ent-
weder seiner Reflexion die Prämissen fehlen, nach denen diese Phä-
nomene beurtheilt sein wollen, indem Aberglaube, Trägheit des
Denkens, Lust am Wunderbaren die richtige Auffassung trüben und
hemmen, oder gewisse Stimmungen, Leidenschaften und Affecte,
Furcht, Zorn, Freude u. dergl. die Besonnenheit und die ruhige
Betrachtung überhaupt aufheben, oder auch, indem Hallucinationen
mehrer Sinne, des Gesichts, Gehörs, des Hautsinns, sich unterstützen
und so die Mittel zur Berichtigung des einen Irrthums selbst ver-
fälscht werden.
Hallucinationen allein, auch wenn sie für wahr gehalten wer-
den, genügen noch durchaus nicht, um geisteskrank zu sein; hiezu ist
weiter eine allgemeine, tiefe psychische Verstimmung, oder es sind
ausgebildete Wahnvorstellungen erforderlich. Aber für wahrgehaltene
Hallucinationen sind allerdings ein sehr naher Schritt zum Irresein,
und besonders da, wo schon eine krankhafte Verstimmung besteht,
in den noch mässigen Anfangsstadien des Irreseins, haften und zün-
den die Hallucinationen so leicht, dass sie dann sehr häufig für Ur-
sachen der ganzen Krankheit gehalten werden. Nach unserer Be-
trachtungsweise möchten wir ihnen nur in seltenen Fällen diese Stel-
lung anweisen, wir glauben vielmehr die Hallucinationen schon als
Symptome der, wenn gleich oft noch mässigen Gehirnreizung, an-
sehen zu müssen. Jedenfalls aber ist die Thatsache richtig, dass
sie sehr häufig gerade in der ersten Periode des Irreseins auftreten
und dass mit ihnen, mit der Verfälschung der Aussenwelt, der Kranke
häufig erst anfängt, wirklich zu deliriren.
Von den Geisteskranken werden die Hallucinationen fast immer
für Realitäten gehalten; doch geben sie in einzelnen Fällen, nament-
lich im Anfang, deren krankhafte Natur zu. Man hört wohl auch zu-
weilen den Ausdruck; der Kranke wisse wohl, dass das kein gewöhn-
liches Hören oder Sehen sei, es sei ein geistiges Hören *) u. dergl.,
†††)
[76]Beispiele von Hallucinationen.
oder der Kranke beklagt sich bitter, dass ihm durch fremde Bosheit,
durch eingenommene Medicamente u. dergl. solche schlimme Erschei-
nungen „gemacht“ werden, womit er auf seine Weise die Ueberwäl-
tigung durch ein psychisches Ereigniss, das seinem Ich noch als
fremdes gegenüber steht, ausdrückt. Die merkwürdigsten Fälle aber
sind die, wo der Kranke sogar die subjective Entstehung der Hallu-
cinationen anzugeben weiss, aber sie doch für reell hält. Einzelne
geben an, die Stimmen gehen in ihrem Kopfe vor sich; *) anderemale
und nicht ganz selten ist es dem Kranken, als entstehen die Stimmen
im Epigastrium, und als werde von dort aus, freilich nicht auf ge-
wöhnliche, sondern eine ganz neue Weise zu ihm gesprochen. **)
Bei allen diesen Angaben kommt sehr viel auf die grössere oder
geringere Fähigkeit des Individuums, sich zu beobachten und sich
Rechenschaft von seinen Seelenzuständen zu geben, an.
Wir wollen noch einige Beispiele von Hallucinationen bei Nicht-Irren
anführen. (Patterson l. c.)
Herr H. las eines Tages in Commines Geschichte von Burgund. Nach dem
Fenster aufblickend gewahrte er auf einem Stuhle am Fenster einen Schädel; er
wollte läuten und sich erkundigen, wer denselben hergebracht habe, gieng aber
vorher darauf zu, um ihn zu untersuchen. Als er mit der Hand darnach griff,
war er verschwunden. H. erschrack dann fast bis zur Ohnmacht. Vierzehn
Tage darauf sah H. in einem Hörsaale der Universität Edinburg wieder den
Schädel auf einem Pulte liegen, so dass er zu seinem Nachbar sagte: Zu was
mag wohl der Professor heute einen Schädel brauchen? — Ein andermal hatte
H. der Section eines Jugendfreundes beigewohnt. Drei Monate nachher wollte
er eben zu Bette gehen, als er auf seinem Tisch eine Einladung zum Leichen-
begängniss der Mutter jenes Freundes fand. Kaum hatte er das Licht gelöscht,
so fühlte er sich am Arm unterhalb der Schulter gepackt und diesen stark an
die Seite gedrückt. Er suchte sich loszumachen und rief: Lasst meinen Arm.
Nun hörte er eine deutliche Stimme: Fürchtet Euch nicht. Er erwiederte sogleich:
Erlaubt, dass ich ein Licht anzünde. Dann ward der Arm losgelassen, H. stand
auf, empfand aber heftigen Schwindel und grosse Schwäche. Als er Licht ge-
macht hatte, sah er an der Thüre das Gesicht jenes Jugendfreundes, doch nicht
vollständig deutlich, als ob ein Schleier darüber läge. Die Gestalt wich zurück,
je mehr H. sich ihr näherte, dieser verfolgte sie die Treppe hinab, bis an die
Hausthüre, wo er aus Schwindel niedersank. Später trat ein heftiger Schmerz
über den Augenbraunen, Fieber und Schlaflosigkeit ein.
[77]Beispiele von Hallucinationen.
Ein Südländer, im kräftigsten Alter und vollkommen gesund, besuchte eines
Tages einen Nachbar. Als er zur Eingangsthüre hereingetreten war, schlüpfte
die Gestalt einer weissgekleideten Frau an ihm vorüber; sogleich darauf eine
zweite und dieser folgte eine dritte. Als er mit der Hand nach dieser griff, ver-
schwand sie. — Kurz darauf gieng der Mann durch einen Park; er sah hier
mehre Esel weiden; er wollte einem davon auf den Rücken klopfen, und war sehr
bestürzt, nichts zu erfassen. Sie zeigten sich noch vor seinen Augen und er
wiederholte mehrmals vergeblich den Versuch, sie zu berühren.
Folgender Fall bietet ein vortreffliches Beispiel zahlreicher Hallucinationen
und Illusionen einer Geisteskranken und zeigt sehr schön die Entstehungs-
weise der falschen Vorstellungen aus ihnen (Bergmann, Bemerkungen einer irre
gewesenen Person über ihren geisteskranken Zustand. Friedreichs Archiv für
Psychologie. 1834. Heft I. p. 15 seqq.). Die Kranke erzählt selbst:
Einmal war ein Gewitter. „Wie war das Unwetter aber so verschieden von
allen, die ich vor- und nachher gesehen habe! Die heraufsteigenden Wolken
schienen mir Meereswogen zu sein, die von Schevelingen aus dem Meere herauf
bis an die Wolken sich erhoben und oben in den Lüften mit einander kriegten,
während eine feindliche Flotte am Ufer mit den Einwohnern einen Kampf auf
Tod und Leben begann, denn diess war der entscheidende Moment für Hollands
Wohlfahrt, die mir schon ganz zerstört schien. Ich hörte keine Donner, sah
keine Blitze, sondern förmliche Feuerschlünde sich öffnen und laute Canonaden
auf einander folgen etc. — Als ich später meine Wäsche und Kleider aus dem
Koffer leerte, sah ich deren eine ausserordentliche Menge und auch ein Tisch-
gedeck, das doch in C. zurückgeblieben war. Als nun am andern Tage viele
Sachen fehlten, die ich mir einbildete, in den Händen gehabt zu haben, glaubte
ich bestohlen zu sein etc. Eines Abends lag ich im Bett und schaute wachend
immer nach meiner Aufwärterin, dem vermeintlichen Gespenste; da fieng das
Talglicht sehr stark zu laufen an, ich sah den Talg jedoch nicht von dem Lichte,
sondern aus einem Loche in der Wand laufen, und zwar in solcher Menge, wie
ein durchbrechender Strom, wesshalb ich denn mit Geschrei behauptete, man
wolle mich ersticken. Hierauf fiel ich in den Wahn, dass man die Luft ver-
giften wolle, und von dem Augenblicke an hatte ich in der Nase einen süsslich-
widrigen Geruch, allen Speisen schmeckte ichs an und bildete mir ein, das
Fleisch, welches man brachte, sei Menschenfleisch etc. Die Gebäude, welche
ich aus meinem Zimmer sehen konnte, zeigten mir eine kleine irdene Rauch-
pfeife, welche oben aus dem Schornsteine ganz sichtbar hervorragte, und daher
in mir die schreckliche Ide erzeugte, es sei diese Pfeifenröhre das einzige Luft-
loch, wesshalb alle Menschen, welche hineingiengen, von mir so angesehen wur-
den, als wolle man sie darin ersticken,“ u. dergl. m.
§. 49.
Was die näheren Umstände betrifft, unter denen die Hallu-
cinationen vorkommen, so sind hier besonders folgende Momente
zu berücksichtigen.
1) Oertliche Krankheiten des betreffenden Sinnorgans können zur
Quelle von Sinnesdelirien werden; es ist daher in dieser Beziehung
stets eine genaue Untersuchung des Kranken nothwendig.
[78]Ursachen der Hallucinationen.
2) Alle tiefen Erschöpfungszustände auf geistiger oder leiblicher
Seite scheinen das Auftreten der Hallucinationen zu begünstigen. Wie
die strenge Ascese aus religiösen Motiven in früheren Jahrhunderten
zahlreiche Hallucinationen hervorbrachte, so sehen wir heute noch
ganz besonders häufig nach Exaninitionen, langem Fasten, sexueller
Erschöpfung, tiefer, geistiger Ermüdung etc., Sinnendelirien auftreten.
Ganz besonders werden diese durch gleichzeitige psychische Concen-
tration, durch inbrünstig festgehaltene abergläubische Vorstellungen
befördert (Benvenuto-Cellini. Viele Teufels- und religiöse Visionen).
3) Die krankhaften affectartigen Zustände, aus denen das Irresein
so häufig besteht, rufen Hallucinationen und Illusionen in der-
selben Weise hervor, wie die analogen Zustände, Furcht, Schrecken
etc. beim Gesunden die Sinneswahrnehmung trüben und neue falsche
Sinnesbilder wecken.
4) Ein besonders wichtiges Verhältniss ist das Entstehen der
Hallucinationen zwischen Schlaf und Wachen. Ihr Vorkommen unter
diesen Umständen bei Gesunden ist bekannt und besonders J. Müllers
Beschreibung dieser Vorgänge aus eigener Erfahrung häufig physio-
logisch besprochen. *) Die Beobachtung zeigt, dass sie auch bei
Geisteskranken sehr häufig während des Einschlafens entstehen, und
dass namentlich ihr erster Anfang sich oft in diese Zeit datiren lässt. **)
Wenn sie unter diesen Umständen, in der Anfangsperiode des Irre-
seins, längere Zeit gedauert haben, werden sie häufig anhaltend,
kommen nun auch bei völligem Wachen und erregen Delirien; in
einzelnen seltenen Fällen sah man aber einen Manieanfall schon am
ersten Tage den zwischen Schlaf und Wachen aufgetretenen Hallu-
cinationen folgen. Wie aber bei den zu Hallucinationen Disponirten
zuweilen schon das blosse Schliessen der Augen genügt, um solche
hervorzurufen (Göthe und J. Müller erzählen dieses von sich selbst ***),
so fand man zuweilen auch bei Geisteskranken, dass das einfache
Niederschlagen der Augendeckel die Hallucinationen erscheinen liess
(Baillarger l. c.) — Fälle, die den im §. 47. mitgetheilten, wo die
Gesichtsphantasmen durch Schliessen der Augen verschwanden, gegen-
überstehen und von Neuem an die grosse Mannigfaltigkeit in den
verwickelten Phänomenen der Hallucinationen erinnern.
[79]Inhalt der Hallucinationen.
§. 50.
Der Inhalt der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der
Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung; *)
auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung
ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz
indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf-
worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That
auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä-
tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect
(Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan-
tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig:
die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese
Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen,
auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb-
ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu-
cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist
als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit
eingehen.
In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor
dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu-
cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei-
zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den
Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc.
vorführen.
Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen
nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer-
wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc.,
sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische
Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach
unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan-
zen Heerden, Pferde, Hunde, „eine Million Ochsen“ u. dergl. gesehen
würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der
Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse
Specifität.
Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen.
Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan-
[80]Gesichtshallucinationen.
tasie und der höchste Inhalt des menschlichen Gemüths findet am
liebsten in selbsterzeugten Bildern seine Bestätigung. Bei Geistes-
kranken sind Stimmen vom Himmel, bald Menschenopfer heischend,
bald messianische Sendungen dem armen Wahnsinnigen verkündend,
ausserordentlich häufig; ihr näherer Inhalt wechselt nach der Bildungs-
stufe, und es kommt hier viel darauf an, ob sich der Mensch früher
mehr an die Apocalypse oder an Tiedges Urania, an Byrons Engel
oder an Eschenmaiers Teufel hielt. Im Allgemeinen ist unser Jahr-
hundert der Anerkennung einer Realität der geisteskranken Visionen
von Seiten Anderer nicht günstig; doch kam noch in unsern Zeiten
(1816) der Fall vor, dass ein Hallucinant nicht nur bei der Volks-
masse für einen Inspirirten galt, sondern sogar von einem Erzbischoff
und einem Polizeiminister für einen göttlichen Gesandten gehalten
wurde, und als solcher mit einem König (Louis XVIII.) über Staats-
angelegenheiten conferirte.
S. die Geschichte des Bauern Martin, bei Leuret. l. c. p. 171. Während
er sein Feld düngte, erschien ihm eine Gestalt, die ihn aufforderte, den König
von Gefahren für seine Person, von Staatscomplotten u. dergl. zu unterrichten.
Pinel erklärte, nachdem die Sache in Paris das grösste Aufsehen gemacht, Martin
leide an intermittirender Manie mit Hallucinationen; er ward nach Charenton ge-
bracht; aber auch dort fand er Gläubige, und sogar unter den Aerzten! —
Wir geben im Folgenden weitere Beispiele von Hallucinationen und Illusionen
der Irren nach den einzelnen Sinnen. *)
§. 51.
Gesichtssinn. Die einfachsten Fälle sind die, wo die Kran-
ken Feuer- oder Lichtmassen sehen. Je nach Umständen, nach der
schon gegebenen Richtung der Vorstellungen wird diese Erscheinung
verschieden ausgelegt; Einige glauben sich im Himmel und sehen die
Herrlichkeit Gottes leuchtend geoffenbart, Andere wähnen sich von
den Flammen der Hölle umgeben. Ein Mädchen sah während ihrer
Menstruation ihr elterliches Haus (wirklich) abbrennen; sie wird als-
bald rasend, will sich in das Feuer stürzen, erkennt Niemanden mehr
und glaubt selbst zu brennen. Ins Krankenhaus gebracht, erfüllt sie
dieses mit entsetzlichem Feuergeschrei, indem sie selbst Flammen-
qualen zu erleiden und ihre Eltern diesen preisgegeben glaubt. Sie
raste und tobte fort, und schrie beständig: „Seht, wie Alles brennt;
alle Stadtspritzen können das Feuer nicht löschen, das uns Alle
[81]Gesichts-Gehörshallucinationen.
verzehren muss!“ — Sie starb nach vier Wochen, und — Feuer!
Feuer! waren noch ihre letzten Worte. *)
Ein gewisser P. hat tausenderlei Visionen. Gottes Sohn erscheint
ihm manchmal, er sieht ihn auf Wolken getragen, von Engeln um-
geben, ein Kreuz in der Hand. Er vertraut ihm seine Befehle, aber
nicht durch Worte, sondern durch Zeichen, die in der Luft er-
scheinen. Er zeichnet die Gestalten, die er in der Luft sieht; es
sind bald geometrische Figuren, bald Thiere, bald Wirthschaftssachen,
Blumen und musicalische Instrumente, bald sind es bizarre Figuren,
denen nichts ähnlich sieht, etc. (Esquirol.)
Ein Anderer schreibt: „Ich sah mehrmals Gott den Vater, der
die Güte hatte, mit mir zu sprechen — er gieng in verschiedene
Höhlen, wo er mehre ungeheure Thiere tödtete und Löcher zugraben
liess, aus denen man, wie ich glaube, falsche Orakel gab. Ich sah
mehremal im Himmel Johannes den Täufer in einem Wagen mit
sieben Pferden, etc. **)
Ein Herr, der von hypochondrischer Melancholie befallen war,
schlug unaufhörlich mit seinem Stock auf die Möbel seines Zimmers.
Je schneller er gieng, desto mehr schlug er. Ich erfuhr später,
dass er den Schatten, der von den Möbeln auf den Fussboden fiel
und den er selbst warf, für Ratten hielt. Je mehr er gieng, desto
mehr glaubte er, dass die Ratten sich vermehrt hätten. ***)
Der Sitz der Gesichtshallucinationen muss die innere Ausbreitung der Seh-
nerven sein. Die anatomischen Thatsachen sind dürftig; bei Scctionen muss die
Oberfläche der thalami, der corpp. quadrigemina und ihrer Umgebung besonders
berücksichtigt werden. In einem Falle von Bright (Guys hosp. rep. 1837) †) fand
sich bei einem Kranken, der nach zwei apoplectischen Anfällen an Gesichtshalluci-
nationen gelitten hatte, ein ½″ grosser, bis an die Oberfläche dringender Heerd
im corpus genicul. infer.
§. 52.
Gehörsinn. Die Gehörsphantasmen sind nicht ganz so häufig,
wie die des Gesichts; am meisten beobachtet man sie bei Schwer-
müthigen und Verrückten; bei jenen sind sie zuweilen Anlässe zu
tobsüchtigem Ausbruch. Sie weisen meist auf eine schwerere, weni-
ger heilbare Gehirnaffection hin, und werden zudem oft sehr lange
Griesinger, psych. Krankhtn. 6
[82]Gehörs-Geruchs-Hallucinationen.
verborgen gehalten, bis sich einzelne Wahnvorstellungen vollkommen
fixirt haben. Man will sie besonders häufig in Verbindung mit Unter-
leibs- und Genitalienkrankheiten beobachtet haben; die anatomische
Deutung würde dieser Thatsache, wenn sie genau erwiesen würde,
entgegenkommen (Zusammenhang im Cerebellum). Man findet bei
den Gehörshallucinanten auch meistens noch viel abentheuerlichere
Gespinste von Unsinn, als die übrigen Phantasmen erzeugen, und
solche Kranke zeigen oft das sonderbarste, grillenhafteste Benehmen.
Sie antworten ihren Stimmen mit freundlichen oder drohenden Ge-
berden oder Worten, oft werden sie plötzlich ruhig und aufmerksam
gespannt, um zu horchen, und man sieht sie die bizarrsten und
gefährlichsten Handlungen begehen, die ihnen jene Stimmen anbefehlen.
„Ein junger Mann hatte seit sechs Monaten, nach einem Anfall hitziger
Manie, kein Wort gesprochen, keine willkührliche Bewegung ausgeführt, als
er eine volle Flasche ergriff und sie dem Wärter an den Kopf warf. Er blieb
unbeweglich und schweigsam und genas nach einigen Monaten. Ich fragte ihn, wess-
halb er mit der Flasche geworfen hätte? — Weil ich, erwiederte er, eine Stimme
hörte, die mir sagte: Wenn du Einen tödtest, wirst du gerettet werden. Ich
hatte den Mann, den ich treffen wollte, nicht getödtet, also konnte sich mein
Schicksal nicht ändern, ich blieb schweigend und unbeweglich; übrigens wieder-
holte dieselbe Stimme ohne Unterlass: Rührst du dich, so bist du des Todes.
Diese Drohung war die Ursache meiner Unbeweglichkeit.“ (Esquirol.) Vgl. auch
bei diesem Beobachter den bekannten Fall des französischen Präfecten. l. c. I. p. 96.
Anderemale hören die Kranken himmlische Harmonieen, Sphären-
klang, Conzerte; häufig sind es Schimpfworte, Anklagen, lose Reden und
Unanständigkeiten, über die sich weibliche Kranke oft aufs Bitterste
beklagen. Bei den Gehörsillusionen werden vorhandene Geräusche
im Sinne der herrschenden Stimmung oder Wahnvorstellung travestirt,
z. B. ein Geräusch auf der Treppe wird den Gerichtsdienern zu-
geschrieben, welche den Kranken verhaften sollen u. dergl. m. *)
Die Ursprungsstelle dieser krankhaften Gehörsphänomene wird man am wahr-
scheinlichsten in den 4ten Ventrikel und seine Umgebung zu verlegen haben, unge-
achtet an anatomischen Gründen für eine solche Hypothese nicht viel vorliegt **).
In einigen Fällen konnten Gehörsphantasmen durch Verstopfen des äusseren Gehörs-
gangs sistirt werden; anderemale fand man sie bei Tauben. (S. oben.)
§. 53.
Geruchsinn. In diesem Sinne sind die Hallucinationen sel-
tener, als in den vorhin betrachteten, sie scheinen auch mehr den
[83]Geruchs-Geschmackshallucinationen.
Anfangsstadien des Irreseins anzugehören. Fast immer sind es wid-
rige Gerüche, die die Kranken percipiren, Schwefelgeruch, Kohlen-
dampf, aashafter Gestank u. dergl. Der Wahn, in einer vergifteten
Atmosphäre zu leben, von Leichen umgeben zu sein u. dergl., ist
die häufige Folge dieser Hallucinationen. Leuret (l. c. p. 198) er-
zählt den Fall einer Frau, welche die entsetzlichen Gerüche, die sie
empfand, der Fäulniss gemordeter Leichen in den Souterrains der
Salpetrière zuschrieb; äusserlich dargebotene Gerüche unterschied sie
wohl und ward von ihnen wie früher afficirt. Wir haben einen ganz
ähnlichen Fall bei einem jungen Manne gesehen.
Sinogowitz*) erzählt folgendes interessante Beispiel eines Irre-
seins, das zum grössten Theile auf Geruchsphantasmen beruhte:
K., ein früher lebenslustiger und geselliger Mann, war seit einem Jahre all-
mählig nachdenklich, schweigsam, reizbar, menschenscheu geworden, gebrauchte
oft heimlich Arzneien und zeigte immer deutlicheren Argwohn gegen seine Um-
gebung. Endlich erklärte er öffentlich: „Ich fühle mich in hohem Grade krank,
durch eine, mein Innerstes zerstörende Fäulniss körperlich ganz zerrüttet. Meine
Umgebung behandelt mich desshalb mit Hohn und Verachtung und meidet meine
Nähe, weil ich einen verpestenden Geruch verbreite.“ Er führte ein einsames,
trauriges Leben, sein Wahn befestigte sich immer mehr, und er erklärte sich seine
Krankheit durch Ansteckung mit Rotzgift. Er reiste in eine fremde Stadt und
begab sich auf einen Spaziergang, um die Begegnenden zu prüfen, ob sie sich
auch mit Abscheu wegen seines übeln Geruchs von ihm abwenden würden. Als
zufällig ein Vorübergehender sein Taschentuch gebrauchte und ihn dabei ansah,
fuhr K. ihn heftig an, nannte ihn einen hartherzigen Spötter, einen lieblosen
Menschenverächter und gab ihm eine Ohrfeige. Er ward nun als geisteskrank
erkannt; man fand, dass er für äussere Gerüche unempfindlich war; er gab an,
nur seinen eigenen, dem Pferdeurin ähnlichen Gestank zu riechen und klagte
auch über dergleichen Geschmacksempfindungen. Der Kranke trieb dabei rück-
haltslos Onanie, fing bald an, über anhaltenden dumpfen Kopfschmerz zu klagen
und abzumagern, und ward endlich blödsinnig.
Geschmacksinn. In diesem Sinne sind wirkliche Halluci-
nationen von den Illusionen, der falschen Beurtheilung wirklicher
objectiver (durch Zungenbeleg, Anomalieen der Mundsäfte entstan-
dener) Geschmackseindrücke nicht zu unterscheiden. Auch hier sind
es gewöhnlich sehr unangenehme Geschmacksempfindungen, über
welche die Kranken klagen. Sie behaupten, Alles schmecke wider-
lich, metallisch, scharf, faulig, sandig, erdig u. dergl., und gründen
hierauf den Wahn einer Vergiftung, Hass gegen ihre Umgebung und
häufig den, wegen der baldigen übeln Folgen für den Organismus
immer so bedenklichen Entschluss der Nahrungsverweigerung. —
6*
[84]Illusionen des Hautsinne.
Sehr selten sind die Fälle, wo Geisteskranke in angenehmen Ge-
schmacksempfindungen, dem vermeintlichen Genusse von Delicatessen,
deliriren.
Esquirol spricht von solchen Fällen; der einzige, von Leuret angeführte Fall
(p. 197) dürfte kaum als Beispiel hiefür gelten können.
§. 54.
In der Haut und den Eingeweiden lassen sich Hallucinationen
und Illusionen nicht mehr unterscheiden, oder vielmehr — die hier-
her gehörigen Erscheinungen, sofern sie nicht (§. 44.) auf Anästhesie
beruhen, sind durchweg als Illusionen zu betrachten, indem die spe-
cifische Anomalie eben in der falschen Auslegung von Empfin-
dungen, wie sie auch beim Gesunden oder in den verschiedensten
Krankheitszuständen vorkommen, besteht. Der Anfang dieser Illusionen
besteht darin, dass gewisse schmerzhafte Empfindungen von dem
Kranken auf phantastische Weise mit analogen Vorgängen nur ver-
glichen werden. So sagen die Hypochondristen anfangs nur, es
sei ihnen, als ob Schlangen in der Haut liefen, Frösche im Unter-
leibe wären, als ob in der Brusthöhle ein Vogel pfiffe, oder — eine
Aeusserung, die wir neuerlichst vernahmen — ein junger Hund im
Kopfe Wasser schlürfte. Aber die anfangs bildliche Vergleichung
wird bei starkem und anhaltendem Fortbestehen jener Empfindungen,
unter dem Einfluss äusserlich begünstigender Umstände und innerlich
zunehmender Verstimmung, nach deren Grund sich das Individuum
bald ernstlicher umsieht, zum ausgebildeten Wahn; es entstehen dann
aus anomalen Hautsensationen oder einem krankhaften Muskelspiel
fixe Ideen, in denen jene Sensationen entweder einer innerlichen
phantastischen Ursache (Spinnen, Grillen und andere Thiere im Kör-
per, Besessensein einzelner Organe von einem bösen Geiste u. dgl.)
oder äusseren Einwirkungen beeinträchtigender Art (fremden Magne-
tiseurs, boshaften physicalischen Versuchen etc.) im Ernste zugeschrie-
ben werden. So sieht man dann aus einzelnen Schmerzen in der
Haut den Wahn, gestochen oder geprügelt zu werden, am Arme ge-
fasst oder angebunden zu sein, aus anomalen Abdominalsensationen
die Idee, dass der Teufel, das jüngste Gericht, die Kreuzigung Christi *)
[85]Motorische Störungen.
u. dergl. im Unterleibe des Kranken vorgehe, entstehen. — Alle
Theile des Körpers können zum Ausgangspunkt solcher Wahnideen
werden. Ein junger Mann gab uns an, er habe gefühlt, wie der
Teufel, rauh und borstig, ihm in den Hals gefahren sei (globus hy-
stericus?); ein Anderer (bei Sinogowitz) verstopfte sich Nachts die
Nasenlöcher, weil ihm bösartige Würmer in die Nase kröchen; eine
Frauensperson, von der Bergmann erzählt, sah in ihrer Brust ein feu-
riges, rundes Wesen sich stets im Kreise herumdrehen u. dergl. m.
Eine besondere Beachtung verdienen die sexuellen Illusionen,
indem aus geschlechtlichen normalen oder anomalen Sensationen bei
männlichen Kranken häufig der Wahn, von Andern zur Onanie an-
getrieben zu werden, bei weiblichen der Wahn der Schwangerschaft,
der geschlechtlichen Vereinigung mit einem imaginären Geliebten,
des Umgangs mit dem Teufel etc. sich herausbilden, indem jene
Sensationen überhaupt zur häufigen Quelle des sexualen Wahnsinns,
mag er sich in der Form weinerlicher Sentimentalität oder heraus-
fordernder Nymphomanie äussern, werden.
Sehr gewöhnlich sind nun Hallucinationen und Illusionen der
einzelnen Sinne miteinander verbunden und die angeführten Schriften
(Hagen, Esquirol, Leuret, Bottex) sind reich an Beispielen, in denen
gleichzeitige falsche Perceptionen aller Sinne die wichtigsten und
auffallendsten Phänomene des Irreseins darstellten. In practischer
Beziehung kann nicht genug darauf gedrungen werden, dass diese
Wahnideen der Sinne gehörig ausgeforscht werden, dass ihren etwa
erreichbaren organischen Bedingungen nachgegangen und diesen bei
Construction des Heilplans eine vorzügliche Berücksichtigung ein-
geräumt werde. In dieser Beziehung möchten wir — ein bisher
ganz übersehener Punkt — bei den Hallucinationen der drei oberen
Sinne namentlich auch Aufmerksamkeit auf die Zustände ihres Hülfs-
nerven, der N. quintus, empfehlen; in mehren Fällen schienen uns
Gehörs- und Gesichtsphantasmen von neuralgischen Leiden dieses
Nerven geweckt zu werden.
Drittes Capitel.
Die motorischen Elementarstörungen.
§. 55.
Leichte, unbedeutendere Störungen der Muskelbewegung sind bei
der Mehrzahl der Geisteskranken nachweisbar, veränderte Intonation
[86]Motorische Störungen.
der Stimme, Trägheit oder excessive Raschheit der Muskelbewegung
u. dergl. Auch höhere Grade von allgemeiner Straffheit und Rigi-
dität der Muskeln sieht man nicht selten, und Schwerbeweglichkeit
des ganzen Körpers, mit Einschluss der Sprachorgane, bis zur bild-
säulenartigen, cataleptischen Erstarrung ist namentlich den sog. ex-
tatischen Zuständen eigen, bei denen zugleich die äussere Sinnes-
thätigkeit mehr weniger aufgehoben ist (meist mit gleichzeitigen Hal-
lucinationen) und der Kranke innerlich entweder in unaussprechliche
mystische Freuden, in Entzücken versunken ist, oder sich im Zu-
stande eines heftigen, schmerzlichen Affectes befindet. Solche all-
gemeine, mässige und kurzdauernde Muskelstarrheit kann in den
leichtesten, heilbarsten Formen des Irreseins vorkommen und ver-
schlimmert die Prognose nicht; doch sah man in einzelnen Fällen
Stummheit zurückbleiben (Guislain). Von weit üblerer Bedeutung
sind einestheils die localen, zeitweise von Lähmung unterbrochenen
Contracturen, andererseits die partiellen oder ausgebreiteten convul-
sivischen Zustände. Das anhaltende, automatische Grimaçiren, der
während der Krankheit entstandene Strabismus, übermässige Con-
tractur, Erweiterung, Ungleichheit der Pupillen, schmerzhafte Krämpfe
der Halsmuskeln, jene unordentlichen krampfhaften Bewegungen der
Extremitäten, welche den Kranken oft zu sonderbarer Ungleichheit
des Gangs oder zu Bocksprüngen veranlassen, alle diese Phänomene
sind von übler Bedeutung und ihre Permanenz zeigt in der Regel
den Uebergang in Unheilbarkeit an. Ebenso sind ein anhaltenderes
Zittern, Zähneknirschen, die choreaartigen Erscheinungen bei erwach-
senen Geisteskranken, die automatischen Bewegungen im Kreise, das
gezwungene Rückwärtsgehen u. dergl. wenigstens in der Mehrzahl der
Fälle die Zeichen der Ausbildung einer schwereren organischen Ge-
hirnkrankheit, wenn wir gleich, auf einzelne Beobachtungen von er-
folgter Heilung nach solchen Zuständen gestützt, die Möglichkeit der
Entstehung dieser Phänomene aus blosser nervöser Irritation zugeben
müssen. Die schlimmsten, leider nur allzuhäufigen, motorischen Ano-
malieen bei Geisteskranken sind aber die epileptischen und allgemein-
paralytischen Zustände, denen wir indessen, wegen ihrer besonderen
Wichtigkeit, unten (s. d. Complicationen des Irreseins) eine eigene
Erörterung widmen.
[87]
Fünfter Abschnitt.
Ueber das Irresein als Ganzes.
§. 57.
Was über das Irresein als Ganzes, seinen Verlauf, seine En-
digungsweisen etc. zu sagen wäre, das kann sich — bei der ausser-
ordentlichen Verschiedenheit der hier obwaltenden Verhältnisse —
nur aus dem Studium der Einzelformen ergeben. Dagegen scheint
uns das allgemeine Verständniss der psychischen Krankheitsprocesse
wesentlich gefördert zu werden durch Betrachtung ihrer Analogieen
mit einigen verwandten Zuständen, namentlich mit dem Traum und
dem febrilen Delirium. *)
Auf die grosse Aehnlichkeit des Irreseins mit Traumzu-
ständen könnte uns schon die einfache und so sehr häufige Versicherung
der Genesenen hinleiten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit jetzt
eben wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, viel häufiger wie ein
schwerer und düsterer, vorkomme, dass Einzelnen auch während des
Irreseins ihr früheres, gesundes Leben nur den Eindruck vergangener
Träume gemacht habe. **)
Freilich fehlen bei den Geisteskranken die Hauptmerkmale des
Schlafs, das Verschlossensein der äussern Sinne, die Aufhebung des
Bewusstseins der Aussenwelt und des Willenseinflusses auf die Mus-
keln, welche wir gewohnt sind, als Bedingungen unserer Träume
anzusehen. Allein einerseits ist es bekannt, dass man um so eher
träumt, je unvollständiger eben der Schlaf ist, und dass es Schlaf-
zustände gibt, wo ein ziemlicher, ja ein dem wachen Verhalten fast
gleich kommender Einfluss auf die Muskeln möglich ist (Sprechen
im Schlaf, Kutschiren der schlafenden Postillons, Nachtwandler). An-
dererseits finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische
Zustände — eben jene Mattigkeit der Sinneseindrücke, die nicht
mehr in der alten Weise zum Individuum gelangen (§. 44.), jene
Verminderung des Willenseinflusses auf die Muskeln, die sich in
grosser Trägheit der Bewegung, sogar in cataleptischem Beibehalten
[88]Analogie des Irreseins
gezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) — welche, in Verbindung
mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb-
haft an das Verhalten des beginnenden Schlafs erinnern.
In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich
an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen,
namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre-
chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und
jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum-
vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. — Eben die Mittelzustände zwischen
Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen
ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben
der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht
der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig,
torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke
verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen,
das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich
halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben
Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo-
torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von
Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der
sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be-
schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein-
schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre-
werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der
Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf-
losigkeit.
§. 57.
Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung,
seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche
ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens
herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände
erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge-
fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und
Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt,
das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein
präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird
im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und
ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der
Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte
Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem
Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn
sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec-
tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.
[89]mit Traumzuständen.
Im Traum geschieht diess ganz besonders mit körperlichen Empfindungen.
Eine verschränkte Lage im Bette, ein Druck auf den Arm oder die Brust werden
Anlass zu Geschichten von Gefesseltsein, von Gefahr, von Abgründen, bevor-
stehender Hinrichtung etc.; ein Luftzug, der uns anweht, erregt die Bilder einer
Seefahrt und lange Geschichten, die sich weiter daraus spinnen; heftige körper-
liche Angstempfindungen aus Respirationsdruck erregen bald das Phantasma eines
aufsitzenden Ungeheuers, bald dramatisirte Geschichten eines von uns begangenen
schweren Verbrechens, gegen die doch unser wirkliches Ich, dem keine solchen
Gedanken angehören, lebhaft protestirt, und dergl. All dieses steht dem wachen
Traume des Schwermüthigen sehr nahe und bei beiden Zuständen kann das auf-
geführte Puppenspiel als solches nicht erkannt werden, wegen mangelnder Beson-
nenheit, wegen Zurückdrängung, ja theilweiser Auflösung des Ich und weil die
Berichtigung durch die Sinne, hier durch ihr Verschlossensein, dort durch ihre
falschen Bilder (Hallucinationen) unmöglich ist. Heermann erzählt, wie er mit
Colikschmerzen eingeschlafen und es ihm nun geträumt, sein Unterleib sei geöff-
net und es werde an ihm der N. sympathicus präparirt; wir haben (§. 55.) Bei-
spiele ähnlicher Auslegungen abnormer Sensationen von wachenden Geistes-
kranken angeführt.
Der Träumende, wie der Irre, nehmen Alles, das Abentheuerlichste und Bi-
zarrste, als Möglichkeiten ohne besonderes Staunen hin, und der platteste Unsinn
wird zur unzweifelhaften Wahrheit, wenn die Vorstellungsmassen, die ihn berich-
tigen könnten, ruhend bleiben. Man kann von der Lösung eines wissenschaft-
lichen Problems träumen — endlich hat man es gefunden, man ist von Freude
und dem Gefühl des glücklichsten Gelingens erfüllt; man erwacht und findet einen
ganz ordinären, falschen Gedanken. So gibt es Geisteskranke, die plötzlich das
perpetuum mobile, oder eine mechanische Idee, die die ganze Oberfläche der
Erde ändern muss, und anderes dergleichen erfunden haben; sie sind von Ent-
zücken über solche Entdeckungen erfüllt; was sie uns aber demonstriren, ist
Unsinn, und sie können, nach ihrer Genesung, gar nicht begreifen, wie sie so
plumpe Irrthümer nicht alsbald durchschauen konnten.
§. 58.
Die sehr angenehmen, entzückten, lichtvollen Träume kommen
sehr selten bei Gesunden, am häufigsten bei tieferer körperlicher
oder geistiger Erschöpfung vor, und wir sehen hier oft, wie eben
die während des Wachens unterdrückten Vorstellungen sich in herr-
schenden Traumbildern heraufdrängen. Dem von körperlichen und
geistigen Leiden Gequälten bringt der Traum ein imaginäres Wohl-
sein und Glück; der hungrige Trenk träumte in seinem Gefängnisse
oft von splendiden Gastmählern; der Bettler träumt sich reich; wer
eben durch den Tod eine theure Person verloren hat, träumt gerne
von der innigsten, bleibenden Vereinigung mit ihr u. dergl. m. So
heben sich denn nun auch bei den Geisteskranken von dem dunkeln
Grunde der krankhaft schmerzlichen Affecte, beim Versinken in einen
noch tieferen Traumzustand, die zurückgedrängten, entgegengesetzten
[90]Analogie des Irreseins mit Traum.
Vorstellungen und Gefühle, die lichten Bilder von Glück, Grösse,
Erhabenheit, Reichthum u. dergl. hervor, und sobald, ohne Genesung,
durch Umänderung des Gehirnzustands der Druck der schmerzlichen
Empfindungen weggenommen ist, springt das frühere psychische Elend
gerne in den Jubel der maniacalischen Selbstüberhebung um. So
sieht man denn namentlich auch, wie der vermeintliche Besitz und
die imaginäre Erfüllung von Gütern und Wünschen, deren Verwei-
gerung oder Vernichtung eben den psychischen Grund des Irreseins
abgab, so häufig den Hauptinhalt des Deliriums der Geisteskranken
ausmachen, wie die Frau, die ein theures Kind verloren, in Mutter-
freuden delirirt, der, welcher Vermögensverluste erlitten hat, sich
für ausserordentlich reich hält, das betrogene Mädchen sich zärtlich
geliebt von einem treuen Liebhaber wähnt, u. dergl.
Eine Menge weiterer Phänomene des Traums und des Irreseins gehen sich
parallel. So fehlt zuweilen den Geisteskranken wie den Träumenden jedes Zeit-
mass; Minuten werden zu Stunden, wie wir im Traume Jahre in einer Viertel-
stunde durchleben, und Ereignisse, zu deren wirklichem Geschehen Monate er-
fordert würden, scheinen dem Kranken in kürzesten Fristen vorgegangen zu sein.
— In beiderlei Zuständen spielen Muskelempfindungen — ausgelegt als Wahn zu
fliegen, zu stürzen etc. — und Sinneshallucinationen die Hauptrolle, und die letz-
teren dienen namentlich dazu, gewisse Situationen auszudrücken, die von einer
herrschenden Grundstimmung als die entsprechenden gefordert werden, während
die Vorstellungsmassen des Ich, die Ordnung in diese chaotischen Vorgänge
bringen könnten, theils ausgewischt oder zerstoben sind, theils in schmerzlichem
Kampfe mit dem neuen Inhalte des Seelenlebens liegen, oder von diesem nach be-
stimmten Richtungen gewaltsam fortgerissen werden.
Von grossem Interesse sind die selteneren Fälle, wo ein intermittirendes
Irresein an die Stelle des normalen Schlafes trat und dabei einen zwischen wah-
rem Traum und Nachtwandeln stehenden Character zeigte. Guislain (die Phreno-
pathieen, übers. von Wunderlich, p. 80) erzählt einen solchen Fall und hat überhaupt
die Verwandtschaft der Geisteskrankheit mit Traumzuständen gebührend gewürdigt.
Auch gehören hierher die Fälle, wo ein plötzlich eintretender wacher Traum-
zustand das gewöhnliche Tageswachen unterbricht, das nach seinem Aufhören
wieder an derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen Paroxis-
men unterworfen: plötzlich in der Mitte einer Unterhaltung brach sie ab und
fieng an von etwas ganz Anderem zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die
erste Unterhaltung an der Phrase, ja, an dem Worte, wo sie stehen geblieben,
wieder auf, und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle. Eine Dame
aus dem Staate New-York wurde von einem plötzlichen Delirium befallen, während
sie an einer kostbaren Stickerei arbeitete; sie blieb sieben Jahre krank, und
genas nun ebenso schnell wieder. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf und ar-
beitete mit derselben Ruhe weiter, wie wenn sie nur eine Stunde von der Arbeit
sich entfernt hätte. (?) Prichard, Annal. medicopsychol. I. 1843. p. 336.
[91]und somnambülen Zuständen.
§. 59.
Eine besondere Aehnlichkeit haben manche Zustände von Irresein
mit den bei chronischen Nervenkrankheiten, meist in Zuständen tieferer
Zerrüttung, vorkommenden sog. magnetischen Schlafzuständen.
Das ausserordentliche Wohlgetühl in ihren höheren Graden, jene unbe-
schreiblichen Empfindungen, die nicht mehr von dieser Welt zu sein
scheinen, finden sich wieder in der grossen Leichtigkeit und Behaglich-
keit mancher maniacalischer Zustände und in dem seligen Versunken-
sein mancher Irren in Wohlgefühle, die sie nicht mehr zu beschrei-
ben vermögen und für die sie gleichfalls das Bild einer Vereinigung mit
dem Göttlichen wählen. Jene neue Wortsprache, die sich einzelne
Somnambüle als eine vermeintliche Sprache des Geisterreichs bilden,
jene Neigung, sich mit der Construction des Weltalls und überhaupt
mit den letzten Problemen des menschlichen Denkens mystisch zu be-
schäftigen, bis auf das affectirte Hochdeutschreden bei Ungebildeten
hinaus — all dieses findet sich bei manchen Verrückten in denselben
Combinationen wieder.
Es scheint auch, dass die magnetische Exaltation, wie die wachende mania-
calische, sich fast immer aus vorausgegangenen Schmerzzuständen entwickelt,
und eine antagonistische Ueberhebung theils über das körperliche und geistige
Leiden im Wachen, theils — nach unserer Beobachtung — über dunkle Traum-
zustände mit alpartigen Visionen, welche die erste Periode des magnetischen
Zustandes bilden, darstellt. Die weitere Bestätigung des letzteren Verhältnisses
wäre für die Analogie im Verlaufe beider Reihen krankhafter Zustände sehr
wichtig. Auch den Somnambülen wird ihre — nach allen Erfahrungen so ausser-
ordentlich dürftige — Weisheit meistens durch Vermittlung von (Gehörs- und
Gesichts-) Hallucinationen mitgetheilt; es gelten für diese magnetischen Zustände
die meisten aus den vorigen §§. bekannten Analogieen mit den übrigen Traum-
zuständen; namentlich auch Rückerinnerung des magnetischen Traums wird nicht
so selten, als von Einigen angegeben wird, gefunden.
Wenn nun auch nicht alle irren Zustände den Character des Traumartigen in
gleichem Masse an sich haben, wenn einige, namentlich mehr secundäre Formen,
wie die partielle Verrücktheit, alle Zeichen eines vollen Wachens, eines äusser-
lich besonnenen Verkehrs mit der Welt darbieten, so könnte immer noch gefragt
werden, ob solches Wachen, in dem zuweilen der Kranke von seinem ganzen
früheren Leben sich losgesagt, oder dasselbe ganz vergessen hat, in dem er
äusserlich in der Scheinwelt seiner Hallucinationen, innerlich in ein Traumnetz
von Wahnvorstellungen eingesponnen lebt — ob solches Wachen in der That
nicht mehr Aehnlichkeit mit manchen, das Tagesleben unvollständig deckenden
magnetischen Zuständen habe, als mit dem Wachen, das wir aus unserer Erfah-
rung als das gesunde kennen.
§. 60.
Wie aber das Irresein bald oberflächlicheren, bald tieferen, bald
[92]Das Erwachen vom Irresein.
qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so
zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum,
wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück-
kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung
dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu-
rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor-
stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und
unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die
schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich
nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem
peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs,
der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf-
tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden
des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene
behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste
gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver-
stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch-
greifende Aenderung seines Charakters.
Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen,
wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber
es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige
sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine
neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache
seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen.
Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz vor dem
Tode die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung
des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei
Maniacis vor, *) etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in
den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo
schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die
kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt
haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen
Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar.
Brierre de Boismont**) erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem
22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem
Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an zwei und fünfzig Jahre
[93]Verhältniss des Irreseins zum Fieber-Delirium.
lang so gut als Nichts sprach und mit Brummen und Hin- und Herschwanken
des Körpers jene Thierspecies nachzuahmen schien. Einige Wochen vor sei-
nem Tode, als sich Diarrhoe und Oedeme einstellten, fieng er an zu antworten,
und sein Verstand zeigte sich zwar sehr beschränkt, aber die Beziehungen seiner
Vorstellungen zu einander waren richtig und geordnet.
In Fällen, wo die Gehirnaffection secundär durch Krankheiten anderer, innerer
Organe entstand und unterhalten wurde, und noch in bloss nervöser Irritation
oder leichteren Hyperämieen besteht, ist eine solche psychische Besserung vor
dem Tode noch am ehesten zu erwarten und einer Erklärung am zugänglichsten.
Die Besserung muss nicht immer mit einer gleichzeitig merklichen körperlichen
Verschlimmerung zusammenfallen; es kommen Fälle vor, wo man den Kranken
für genesend hält und er dann schnell durch plötzlichen Tod weggerafft wird.
Es ist seltener, dass das Irresein kurz vor dem Tode eine viel schlimmere Ge-
stalt annimmt; doch sieht man bei Maniacis Todesfälle in einer bis ans Ende
gesteigerten Raserei.
§. 61.
Auch das acute, fieberhafte Delirium, von welchem das Irre-
sein in keiner Weise specifisch verschieden ist, besteht in lebhaften
Träumen während des Wachens oder Halb-Wachens. Auch in diesen
Träumen beobachtet man oft, wie die mannigfaltigen Hallucinationen
und falschen Vorstellungen nur Ausdrücke einer herrschenden, bald
mehr stationären, bald mehr wechselnden Grundstimmung sind und
so durch die Einheit der herrschenden Gefühle zusammengehalten
werden; auch hier wird dann der besondere Inhalt der einzelnen
Phantasiebilder und falschen Vorstellungen gewöhnlich durch zufällige
Umstände (körperliche Bedürfnisse, die Tapete an der Wand, auf-
tauchende Erinnerungen etc.) bestimmt. Nach unsern Wahrnehmun-
gen lassen sich in den Delirien Fieberkranker dieselben psychischen
Grundverschiedenheiten nachweisen, nach denen auch die Geistes-
krankheiten in einzelne Hauptformen zerfallen — es gibt ein melan-
cholisches und ein maniacalisches, ein verrücktes (in einzelnen Wahn-
ideen ohne lebhafte Gemüthsbewegung sich bewegendes) und ein
blödsinniges Fieberdelirium.
Wenn gleich sich gewöhnlich das acute Delirium vom Irresein
durch seine kürzere Dauer, durch seinen symptomatischen Charakter,
durch die Anwesenheit eines höheren Grades von Fieber äusserlich
unterscheidet, so sind beide Processe doch sowohl ihrem Wesen
nach — nervöse Reizung des Gehirns, wahrscheinlich besonders sei-
ner Oberflächen, Hyperämie oder Gehirnentzündung an diesen Stellen
— und in Bezug auf ihre Ursachen — sympathische Reizung von
andern Organen aus, Gemüthsaffecte, anämische Zustände, Alcohol-
missbrauch u. dergl. — dasselbe; es gibt sehr kurz dauernde, tran-
[94]Irresein und Fieberdelirium.
sitorische Manieen, es gibt ein Irresein, das von Fieber begleitet ist,
und nicht selten hat die Gehirnaffection auch bei Geisteskranken eine
symptomatische Bedeutung. So kann man mit Recht die psychische
Störung bei den Irren ein (in der Regel chronisches) Delirium nennen,
und man hat keinen Grund, den Ansichten von Georget und Burrows
über die specifische Verschiedenheit des fieberhaften Irreredens und
der Geisteskrankheiten beizustimmen.
Vgl. Georget, über die Verrücktheit, übersetzt von Heinroth. Leipz. 1821.
p. 127 seqq. Burrows, commentaries on insanity. Lond. 1828. Jakobi, Beob-
achtungen über die mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830.
p. 146 seqq.
[[95]]
ZWEITES BUCH.
Die Aetiologie und Pathogenie der psychischen
Krankheiten.
Erster Abschnitt.
Allgemeines über die Ursachen des Irreseins.
§. 62.
Unter Ursachen versteht man in der Psychiatrie wie in der
übrigen Pathologie die mannigfaltigsten Classen von Momenten,
denen man einen Einfluss auf die Entstehung der Krankheit zu-
schreibt, die aber zu dieser selbst in höchst verschiedenen Ver-
hältnissen stehen. Einestheils begreift man unter den Ursachen alle
jene äusseren Umstände (Nationalität, Klima, Jahreszeiten etc.),
unter denen man Irresein überhaupt bald häufiger, bald seltener
vorkommen sieht; anderntheils meint man damit gewisse äussere
Schädlichkeiten (Sonnenhitze, Kopfverletzungen etc.), nach deren
Einwirkung die Krankheit häufiger entsteht; endlich umfasst das Ge-
biet der Ursachen jene inneren, dem Organismus selbst an-
gehörigen Momente (erbliche Disposition, vorausgegangene Krank-
heiten oder überhaupt anderweitige Störungen des organischen Me-
chanismus, z. B. Krankheiten der Lunge, Genitalien etc.), denen er-
fahrungsmässig ein Einfluss auf das Irrewerden zukommt. Bei sehr
vielen dieser Momente ist der nähere Zusammenhang zwischen ihnen
und der ihnen zugeschriebenen Wirkung, der Weg, auf dem sich
aus ihnen eben Geisteskrankheit entwickelt, kaum oder gar nicht ein-
zusehen — der Schluss post hoc ergo propter hoc beruht dann auf
einer bloss empirischen (statistischen) Kenntniss davon, dass gerade
[96]Allgemeines über die Aetiologie
diese bestimmten Umstände (z. B. die erbliche Disposition) ganz un-
gewöhnlich häufig mit dem Irrewerden zusammentreffen oder ihm
vorangehen. Bei andern dieser sog. Ursachen ist ihre Wirkungsweise,
die Art, wie in Folge ihrer die Krankheit zu Stande kommt, fasslicher,
und es ist eben gegenüber der Aetiologie im engern Sinne, welche
nur empirisch die bekannten ursächlichen Momente aufzuzählen weiss,
das Geschäft der Pathogenie, den physiologischen Zusammenhang
zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu machen, das einzelne
mechanische Geschehen darzulegen, mittelst dessen durch ein ge-
gebenes Moment, z. B. ein Uebermass deprimirender Affecte, eine
Herzkrankeit etc., am Ende das Irresein zu Wege kommt.
§. 63.
Für die practisch-ärztliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Aetio-
logie und namentlich die Pathogenie von ungemeiner Wichtigkeit.
Denn wenn auch der alte Satz: sublata causa tollitur effectus, hier
wie in der übrigen Medicin, bei vollständig ausgebildeter und ein-
gewurzelter Krankheit keine Bestätigung mehr findet, und wenn
gleich die Beseitigung mancher entfernteren Ursachen nicht in der
Macht des Arztes steht, so sieht man doch, wie namentlich
das beginnende Irresein schon durch Entfernung einzelner unter
den gewöhnlich vielfältigen, zusammenwirkenden Ursachen mit Erfolg
bekämpft werden kann, und es bieten namentlich alle die mannig-
faltigen Durchgangspunkte der Erkrankung, alle die organischen Stö-
rungen, welche die Pathogenie als Mittelglieder zwischen äusseren
Ursachen und zwischen der ausgebildeten Gehirnkrankheit als deren
letztem Resultate nachweist, die erfolgreichsten Angriffspunkte für die
Therapie dar. Ebenso aber kann das Irresein auch theoretisch ohne
Kenntniss seiner Ursachen und seines Zustandekommens in den ein-
zelnen Fällen gar nicht begriffen werden, und so sind die ätiologi-
schen Fragen in den Vordergrund der ganzen Psychiatrie gestellt.
Im concreten Falle entnehmen wir die ätiologischen Momente
aus der Anamnese, und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und
genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruiren. Sie hat sich hier
zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bis-
herigen Umgebung der Kranken, seiner Angehörigen etc. über die
Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder —
was so häufig geschieht — theils schon entschiedene Symptome des
beginnenden Irreseins, theils nur die letzten zufälligen Impulse seines
deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf
[97]und über die Anamnese.
sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichen
oder geistigen Ereignissen, die dem Irresein näher vorangiengen,
begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo
der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher
vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnesti-
sche Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen
Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja
schon bei früheren Generationen — Familienanlage — anfangen, die
körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die
Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau ver-
folgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhält-
niss der Anlagen und angebornen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre
Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Indivi-
duums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äussern Schick-
sale und die Art seines psychischen Verhaltens zu ihnen treu und
einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer
Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine
Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten mög-
lich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu
fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben,
nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar
ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vor-
bereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit
ihres Eintritts erkennen. Und all dieses ist eben von höchster Be-
deutung für die Therapie, welche der Anamnese die Indicationen
bald zur Tilgung inveterirter chronischer Krankheitsprocesse, bald zur
Entfernung gewisser psychischer Ursachen entnimmt, und welche
einen tieferen Blick in den Charakter des Individuums braucht, um
alle in demselben liegenden Ressourçen zur Unterstützung einer activen
Therapie benützen zu können.
Die Ansichten der Umgebungen eines Kranken über die Aetiologie sind häufiger
irrig als richtig, fast immer wenigstens einseitig. Von Laien und Aerzten werden
auch Symptome des beginnenden, sogar zuweilen des schon weit gediehenen Irre-
seins für Ursachen gehalten. Im Beginn der psychischen Erkrankung kann z. B.
— symptomatisch — ein lebhafter Hang zu spirituösen Getränken oder ein stärkerer
Geschlechtsreiz, der zu Excessen oder Onanie führt, auftreten; es kann die schon
vorhandene Gemüthsaufregung zu übereilten Verbindungen, zu gewagten Geschäfts-
Unternehmungen, zu religiösen Anfechtungen und Betrachtungen Anlass geben,
und man begeht dann oft den Fehler, die Krankheit der Trunksucht, der unglück-
lichen Liebe, den missglückten Speculationen, der Religion etc. zuzuschreiben.
So kommt es auch sehr oft vor, dass von den Umgebungen oder unkundigen
Aerzten ein Irresein als frisch entstanden betrachtet und gewissen neuerlichen
Griesinger, psych. Krankhtn. 7
[98]Zusammengesetztheit der Ursachen.
Vorfällen zugeschrieben wird, das sich bei näherer Untersuchung als ein schon
viele Jahre bestandenes und ganz eingewurzeltes zeigt. Schon Pinel erzählt den
Fall einer Kranken, die angeblich 9 Monate an Irresein leiden sollte, in der That
aber schon 15 Jahre lang geisteskrank war.
Die deutsche Psychiatrie hat das Verdienst, immer die Aetiologie und Patho-
genie des Irreseins tiefer und richtiger aufgefasst und glücklicher bearbeitet zu
haben, als die französischen Schulen. Während diese noch bis in die neueste
Zeit (Moreau de Jonnès, Brierre, Parchappe) bei ihren ganz abstract gehaltenen
Tabellen psychischer und moralischer Ursachen stehen bleiben, in denen Trunk-
sucht, Epilepsie, Ehrgeiz, Prostitútion, Politik, Vermögensverlust und dergl. als
gleichwerthige Categorieen von Ursachen neben einander stehen, haben die deutschen
Irrenärzte (Heinroth und Ideler von psychischer Seite, Bergmann, Flemming,
Jakobi, Jessen, Nasse, Zeller und A. theils mit vorzüglicher Berücksichtigung
der somatischen Ursachen, theils allseitig) schon seit langer Zeit auf genaues
Individualisiren in Bezug auf die Ursachen des einzelnen Falls gedrungen, und
es hat sich bei uns immer mehr eine Betrachtungsweise festgestellt, welche die
sorgfältige Berücksichtigung aller Momente in ihrem Zusammenhange und Zu-
sammenwirken auf die Entwickelung des Krankheitszustandes fordert.
§. 64.
Ein näheres Eingehen in die Aetiologie des Irreseins zeigt näm-
lich alsbald, wie es in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle
nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex
mehrer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente
war, unter deren Einflusse die Krankheit endlich zu Stande kam.
Nicht selten wird der Keim des Erkrankens schon in jenen frühen
Lebensperioden gelegt, wo sich die Anfänge des Charakters bilden;
wächst er durch Erziehung und äussere Erlebnisse, oder trotz ihnen,
so ist es nur selten, dass der excedirende Stand der psychischen
Irritabilität ganz von selbst allmählig und durch kaum merkliche Zwi-
schenstufen den Grad auffallender psychischer Functionsstörung er-
reicht; viel häufiger sind es mehre, mannigfaltige psychische Eindrücke
und körperliche Störungen, unter deren successiver Einwirkung oder
ungünstigem Zusammentreffen sich die Krankheit ausbildet, und sie
ist dann nicht einem einzelnen dieser Momente, sondern nur ihrer
Totalität zuzuschreiben. So sieht man in den concreten Fällen z. B.
langwierige Trunksucht und einen sehr heftigen Affect, anderemale
erbliche Disposition, häuslichen Unfrieden und eine Herzkrankheit,
dann wieder Wochenbett und einen heftigen Aerger oder Schrecken,
oder unglückliche Liebe und beginnende Tuberculose, kurz gewöhnlich
mehre verschiedene üble Einwirkungen auf den Organismus oder schon
begründete Krankheitszustände — oft noch weit vielfacher und compli-
cirter als in diesen Beispielen — als Ursachen des Irreseins auftreten.
[99]Cautelen bei Schätzung der Ursachen.
Hier liegt nun eben die Schwierigkeit in der richtigen Werthschätzung des
Einflusses, den jedes einzelne dieser Momente auf die Krankheitsentstehung hatte,
hier gilt es, sich den Blick ungetrübt von systematischer Prävention für diese
oder jene Theorie, und von einseitiger Bevorzugung einer oder gewisser Reihen
von Ursachen, z. B. der somatischen oder wieder der psychischen, rein zu er-
halten. Das Urtheil darf sich nur durch die vorliegenden, genau untersuchten
Thatsachen leiten lassen; wo empirische Data über die Ursachen in einem be-
stimmten Falle fehlen, dürfen sie nicht durch Hypothesen ersetzt werden, und die
Wichtigkeit der einzelnen vorliegenden Momente ist nach den sonstigen Grundsätzen
einer rationellen Pathologie zu schätzen.
Ein ursächlicher Einfluss ist bei denjenigen Momenten natürlich am sichersten
anzunehmen, deren Wirkungsweise sich im Einzelnen verfolgen und deren Effect
sich daher als ein physiologisch nothwendiger begreifen lässt, oder, wo diess auch
nicht der Fall ist, bei denen, welche wenigstens durch eine umfassende Statistik fest-
gestellt sind. Ein vorausgegangenes unbedeutendes Magenleiden, eine leichte Hämorr-
hoidal-Anschwellung oder gar eine — rechtmässiger Weise — schnell geheilte Krätze
werden z. B. nicht unter den Ursachen aufzuführen sein, da keinerlei Statistik
für sie spricht, keinerlei Zusammenhang zwischen ihnen und dem Irresein nach
Schwere und Art der Erkrankung ersichtlich ist. Dagegen erscheinen z. B. die
vorhandenen Herzaffectionen als wichtige ursächliche Momente, da sie den Kreis-
lauf im Gehirne beeinträchtigen; deprimirende Affecte würden als solche erscheinen,
wenn man auch nichts von ihrer Wirkungsweise wüsste, weil sie — statistisch
erwiesener Massen — so ausserordentlich häufig dem Irrewerden vorangehen;
die Möglichkeit der Entstehung einer Geisteskrankheit durch Wurmreiz im Darm
(Taenia) kann nicht abgewiesen werden, weil man auch andere schwere Gehirn-
krankheiten (Epilepsie) durch sie entstehen sieht etc. Man darf nie vergessen,
dass etwas, um Ursache zu sein, auch wirklich der vermeintlichen Wirkung
vorangegangen sein muss; man darf z. B. nicht, wenn sich erst gleichzeitig
mit dem beginnenden Irresein schwerere Verdauungsstörungen zeigen, auf ein
chronisches Unterleibsleiden als Ursache des Irreseins schliessen. In einzelnen
Fällen fehlt es vollends an allen ätiologischen Anhaltspunkten, und das Irresein
entsteht allmählig, wie viele andere chronische Krankheiten, aus ganz unbekannten
Einflüssen; nichts wäre falscher, als hier imaginäre somatische Ursachen zu
supponiren und solchen Vermuthungen einen Einfluss auf den Heilplan zu gestatten.
§. 65.
Es ergibt sich aus einer grösseren Vergleichung, dass die Aetio-
logie der Geisteskrankheiten im Allgemeinen keine andere ist, als
die Aetiologie aller übrigen Gehirn- und Nervenkrankheiten. Nament-
lich die Aetiologie der Epilepsie (auch der Apoplexie) und der chro-
nischen Spinalirritationen bietet sehr instructive Analogieen sowohl
was Prädisposition, als nächste erregende Ursachen betrifft, dar.
Abgesehen von den prädisponirenden Momenten (Lebensalter, Er-
blichkeit, gewisse Erziehungsfehler etc.) lassen sich bei allen diesen
Krankheiten namentlich zwei Wege der Erkrankung erkennen. Ein-
mal ihre (protopathische) Entstehung aus direct auf das Gehirn
7 *
[100]Idiopathische und sympathische Entstehung.
wirkenden Einflüssen — Erschütterung, Verwundung, Ueberan-
strengung des Gehirns und des ganzen Nervensystems, Narcotica,
psychische Ueberreizung durch Affecte und dergleichen; sodann eine
(deuteropathische) Entstehung der Gehirnkrankheit in Folge ander-
weitiger, im Organismus vorgegangener krankhafter Veränderungen,
durch welche die Gehirnfunctionen beeinträchtigt werden. Diese
Krankheitszustände nun scheinen auf das Gehirn hauptsächlich wieder
in zweierlei Weise zu wirken, einmal indem sie habituelle Gehirn-
hyperämieen erzeugen oder begünstigen (z. B. die Herzkrankheiten),
zweitens durch nervöse Reizung des Gehirns, welche man sich kaum
anders als durch Mittheilung und Uebertragung eines peripherischen
Irritationszustandes einzelner Nervenparthieen auf das Centralorgan
geschehend vorstellen kann (peripherische Nervenverletzung, Einfluss
der Sexualorgane etc.). Als eine dritte Categorie möchte sich hieran
die mangelhafte Ernährung und Erregung des Gehirns durch eine
dyscrasische Blutmischung anschliessen (anämische Zustände).
Dennoch lässt sich der Unterschied einer protopathischen und deuteropathischen
Entstehung des Irreseins für die concreten Fälle nicht durchführen. Sowohl dess-
wegen nicht, weil gewöhnlich mehrere schädliche Einflüsse, die auf verschiedene
Weise einwirken, zusammentreffen, als darum nicht, weil einzelne ätiologische
Momente, namentlich die so wichtigen depressiven Affecte, nicht nur in ver-
schiedenen Fällen, sondern auch gleichzeitig in demselben Individuum theils
primitiv theils aber auch durch Setzung weiterer chronischer Veränderungen
in anderen Organen, und allgemeine Zerrüttung der Constitution, wieder secundär
auf einem Umwege das Gehirn beeinträchtigen können. Hiemit ist auch schon
ausgesprochen, dass alles, was nervöse Reizung des Gehirns und alles, was
Hyperämie in der Schädelhöhle zu erzeugen im Stande ist, auch ein Moment zur
Entstehung des Irreseins werden kann. Ausserdem aber sind noch alle die Um-
stände, unter denen Nutritionsanomalieen des Gehirns (auch ohne zu Grunde liegende
Hyperämie) sich bilden (z. B. Atrophie, Tuberculose), als wichtige Ursachen an-
zusehen. Bei Betrachtung der einzelnen Classen ätiologischer Momente ist die
Wirkungsweise derselben näher anzugeben; wir behalten bei ihrer Aufzählung
die gebräuchliche Eintheilung in prädisponirende Momente und in eigentliche
Ursachen (nicht ganz richtig erregende oder Gelegenheitsursachen) bei, ungeachtet
einzelne der zu erwähnenden Einflüsse (z. B. Menstruationsstörungen, psychische
Einflüsse) bald disponirend, bald erregend wirken können. Was dieser ganzen
Eintheilung, die indessen die bequemste Uebersicht gewährt, an wissenschaftlicher
Schärfe abgeht, kann durch Sorgfalt in der Einzel-Analyse ersetzt werden.
[101]
Zweiter Abschnitt.
Die Prädisposition zu psychischen Krankheiten.
§. 66.
Erwägt man die ausserordentliche Häufigkeit aller der schädlichen
Einflüsse, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben wer-
den und ihre doch verhältnissmässig seltene Entstehung aus densel-
ben, so wird man mit Nothwendigkeit zur Annahme geführt, dass
es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen
Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete,
dass eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krank-
heiten den — zuweilen wenig intensiven — erregenden Ursachen
entgegenkommen müsse. In der That ist man beim jetzigen Zustande
der Wissenschaft bei den meisten Krankheiten des Nervensystems zu
einer solchen Annahme genöthigt. Unzählig sind die Fälle von Ver-
letzung, und nur selten folgt auf sie Tetanus; eine Menge Kinder
leiden an Würmern, und nur wenige verfallen in convulsivische Zu-
stände; viele Menschen leben unter Umständen, denen eine kräftige
Wirkung auf die Ausbildung psychischer Krankheiten zuerkannt werden
muss, und nur wenige unter ihnen werden wirklich geisteskrank.
Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine — nicht
näher zu bestimmende — besondere Disposition des Nervensystems
annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz
unbekannte Sache. Genauere Untersuchungen gestatten hier aber
doch zuweilen eine Einsicht in die näheren Verhältnisse dieser Dis-
position. Man weiss z. B. dass Tetanus in heissen Ländern leichter
auf Verletzungen folgt, als in unserm Klima, dass sein Zustande-
kommen durch gleichzeitige Erkältungen oder psychische Reize be-
günstigt wird und dergl., und so sind auch für das Irresein eine
Reihe von Momenten bekannt, denen erfahrungsmässig ein vorbereiten-
der und begünstigender Einfluss auf seine Entstehung zugeschrieben
werden muss. Es hat nun die Lehre von der Prädisposition zu den
Geisteskrankheiten einestheils jene entfernteren, im Grossen wir-
kenden, nur statistisch erweisbaren, und in ihren einzelnen Wir-
kungsarten ganz unerforschlichen Verhältnisse der Nationalität, des
Klimas, der Jahreszeiten, des Geschlechts, Lebensalters, der allgemeinen
Standesunterschiede zu betrachten und deren Bedeutung für die
Entstehung dieser Krankheiten zu würdigen. Andrerseits ist, neben
dieser allgemeinen, auch die individuelle Prädisposition, und zwar
[102]Zahl der Irren
die angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche
in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen-
thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt.
Erstes Capitel.
Die allgemeine Prädisposition.
§. 67.
1) Nationalität. Der Begriff der Nationalität enthält in sich
eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das
Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung
seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad
der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die
früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles
wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten,
die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht
fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen-
sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht
möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent-
stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati-
stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins
unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses
Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei-
nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige
Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft
durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich
durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu-
stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre-
tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden
auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die
einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der in den Anstal-
ten verpflegten Irren beschränkt.
Unter den deutschen Ländern existiren genauere Zählungen
von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der
preussischen Rheinprovinz war das Verhältniss der Irren zur Be-
völkerung (a. 1828) = 1 : 1027; in Westphalen (a. 1836) = 1 :
1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1 : 846;
in Schlesien (a. 1830) = 1 : 1200; in der Provinz Sachsen
[103]in verschiedenen Ländern.
(a. 1836) = 1 : 968. In Würtemberg*) kam (a. 1832) 1 Geistes-
kranker (mit Ausschluss der Blödsinnigen) auf 1500 Einwohner; in
Baden**) (a. 1838) mit Inbegriff der Blödsinnigen 1 : 1278, ohne
sie 1 : 2810, nach einer Zahl von a. 1842 aber im Ganzen 1 : 1123
Einwohner.
Ueber die Zahl der Irren in Frankreich***) lauten die Angaben
sehr verschieden. Aus einem Durchschnitt von acht jährlichen offi-
ciellen Zählungen der Kranken in und ausser den Anstalten ergab
sich die Zahl von 18,350 Irren, also 1 : 1900. Die Documente hier-
über scheinen aber sehr unvollständig zu sein und Piérquin und Brierre
nehmen 30—32,000 Irre an, wo sich dann ein Verhältniss von
1 : 1000 ergeben würde. Jedenfalls ist die Vertheilung sehr ungleich;
in Paris und den umliegenden Departements kommt bei Annahme der
officiellen Zahl 1 Irrer auf 673, in den armen Südwestdepartements
1 auf 6366 Einwohner. †) — In Belgien††) ergab die Zählung von
a. 1835 das Verhältniss von 1,22 : 1000; Guislain hält aber die gefundene
Zahl nur für ⅗ der wirklich vorhandenen Irren. — In England und
Wales†††) ist das Verhältniss der in den Anstalten verpflegten Irren
zur Bevölkerung nach den neuesten Berichten = 1 : 980; das Ver-
hältniss aller Irren zur Population wird von Piérquin = 1 : 783, von
Hitch für Wales allein = 1 : 500 geschätzt; ja in einer Grafschaft
von Wales (Merioneth) kommt sogar 1 Kranker auf 388 Einwohner. 1)
In Schottland ergibt sich nach früheren Angaben das Verhältniss
1 : 573, nach Julius (6000 Irre bei einer Bevölkerung von drittehalb
Millionen) = 1 : 417; in Irland nach Piérquin = 1 : 911. — In
Norwegen soll 1 Kranker auf 550 Einw. kommen; 2) unter den Ge-
zählten ist übrigens ein Drittheil Idioten.
[104]Zahl der Irren.
Ueber Italien existiren keine umfassenderen, zuverlässigen Be-
richte. Brierre’s Schätzungen ergeben 1 : 4879 Einwohner. Esquirol
nahm a. 1834 ein Verhältniss von 1 : 3785 an. Auch diess ist ge-
wiss noch viel zu niedrig. In der Provinz Padua kommt nach Lip-
pich *) schon 1 (in den Anstalten verpflegter) Kranker auf 1900 Einw.
Von Spanien fehlen alle genaueren Angaben. Dass in Por-
tugal die Zahl der [Irren] nicht unbeträchtlich sein muss, zeigt der
Bericht von Marchant; **) derselbe fand auf der Insel Madeira in der
Stadt Funchal 1 : 2667 Einwohner.
Dieselbe Unmöglichkeit einer auch nur annähernd richtigen Schät-
zung herrscht im Durchschnitt für die orientalischen Länder. In
Malta ***) kam (a. 1836) 1 Fall auf 7—800 Einwohner, in Smyrna
unter den dort lebenden Griechen 1 auf 1000. Dieses Verhältniss
ist nicht ohne Interesse, insoferne es, ungeachtet der grossen Ver-
schiedenheit des Climas, doch an den Orten, wo europäische Civili-
sation herrscht, eine den sonstigen europäischen Ländern gleiche Pro-
portion zeigt. In Nubien, in Sennaar, in Abyssinien sollen sich
(ibid. p. 126) nur hier und da einzelne Blödsinnige finden.
Unter den Vereinigten Staaten betrug a. 1825 die Zahl der
Irren im Staate New-York = 1 : 7—800; eine neuere Zählung (a. 1841)
gab so colossale Zahlen, dass z. B. im Staate Maine 1 Geisteskranker
auf 14 Einwohner käme, was gewiss unrichtig ist. †)
§. 68.
Aus den Widersprüchen und der Dürftigkeit dieser Statistiken
erhellt von selbst, wie es zur Lösung der neuerlich vielfach bespro-
chenen und vieldeutigen Frage, ob der Fortschritt der Civili-
sation die Zahl solcher Erkrankungen vermehre, fast an den ersten
Elementen fehle. Manches kann hier wohl a priori zugegeben wer-
den. Die Steigerung der Industrie, der Künste und Wissenschaften
setzt auch eine allgemeine Steigerung der cerebralen Thätigkeiten vor-
aus; die immer weitere Entfernung von einfachen Sitten, die Ver-
breitung der feineren, geistigen und leiblichen Genüsse bringt früher
unbekannte Neigungen und Leidenschaften mit sich; die allgemeine
liberale Erziehung weckt unter der Masse einen höher strebenden
[105]Einfluss der Civilisation.
Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische,
politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die
Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste
ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der
Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft,
kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wich-
tigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüths-
aufregungen kennen lernen werden. Die Anhäufung der Menschen
in den grossen Städten mit all ihren demoralisirenden Einflüssen —
man rechnet in Paris 63,000 Menschen, welche sich auf unehrliche
Weise auf Kosten der Gesellschaft fortbringen, und in London gibt
es Tausende von Kindern, die sich schon dem Verbrechen und der
Prostitution ergeben —, die häufigere Ehelosigkeit, das vielfach ver-
änderte Verhalten zur Religion mögen als mitwirkende Momente an-
erkannt werden. Immer aber sind die Thatsachen, welche zu oberst
den Vergleichungen zu Grunde gelegt werden müssten, nämlich die
Seltenheit der Geisteskrankheiten in wenig civilisirten Ländern und
ihre geringere Häufigkeit in unsern Gegenden zu früheren Zeiten,
nicht genügend durch Zahlen constatirt, und der Antheil, den die
Zunahme der Bevölkerung und die vermehrte, aus einer besseren
Kenntniss hervorgehende Aufmerksamkeit auf das Irresein an der wahren
oder scheinbaren Vermehrung der Geisteskranken hat, lässt sich nicht von
dem jener complicirten Einflüsse, die man unter Civilisation versteht,
scheiden. Mag aber auch bei einem Ueberschlage im Grossen der
höheren Cultur unserer Tage hier ein schlimmer Einfluss zuzuerkennen
sein, so hat die moderne Gesellschaft in den civilisirten Ländern da-
für auch Mittel und Wege zur Wiedergenesung vom Irresein eröffnet,
welche den früheren Jahrhunderten und den ungesitteten Ländern
fremd sind — die Irrenanstalten, und die neueste Zeit zeigt einzelne
grosse Massregeln moralischer Selbsthülfe von Seiten des Volks, wie
namentlich die Mässigkeitsvereine, welche roheren Ländern und Zei-
ten fehlen und mit denen ganz unzweifelhaft eine der allerhäufigsten
Ursachen der Geisteskrankheiten — Esquirol und Prichard nehmen
für die Hälfte der brittischen Irren Trunksucht als Ursache an —
wesentlich vermindert wird.
Man schätzt, dass sich die Zahl der Irren in England in den letzten 20 Jahren
mehr als verdreifacht habe *). In diesem Verhältnisse hat natürlich weder die
Bevölkerung, noch viel weniger die Civilisation zugenommen, und da zudem die
Zeiten verhältnissmässig ruhig waren, so lässt sich ein so auffallendes Resultat
[106]Einfluss des Geschlechts
wohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von
Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren
Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst
für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung
der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten
und bei der Tuberculose erlebte.
Ob Manufactur- oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt- oder Landleben erheb-
lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden
Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder
Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen
zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein-
wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder
wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen.
§. 69.
2) Geschlecht. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge-
schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls
auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich
machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen,
denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch
hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren-
anstalten basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der
Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren
Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner
der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen,
sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen
und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die
Zusammenstellungen von Fuchs*) nach den Zählungen in sehr vielen
Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100 : 75
ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer
grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme.
Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um
ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B.
die Anstalten zur Siegburg **) und Winnenthal, ***) erstere in 18
Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer,
251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement
St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835—43, genau die gleiche Zahl
von beiden Geschlechtern aufnahm. †)
[107]auf das Irresein.
Aus allen solchen Zahlen folgt aber nichts für die wirkliche
grössere Häufigkeit des Irreseins bei einem oder dem andern Ge-
schlecht. Die Schätzung Esquirols, die sich auf 70,000 Kranke aller
Länder erstreckte, freilich ohne desshalb an Festigkeit der Basis zu
gewinnen, wies eine ganz unbedeutende Mehrzahl auf Seiten des
weiblichen Geschlechtes aus. Für England, Norwegen, Dänemark,
Russland und Nordamerika, ebenso für die preussischen Provinzen
Westphalen und Sachsen, für die südlichen Departements von Frank-
reich ergeben die bisherigen Zählungen im Ganzen mehr Männer als
Weiber, während dagegen in den nördlichen französischen Provinzen
und in den Niederlanden die Zahl der Weiber vorherrschen soll und
auch die Zählung in Würtemberg ein Vorherrschen des weiblichen
Geschlechts (505 Männer, 582 Weiber) nachwies. *) Alle diese An-
gaben **) bedürfen weiterer Bestätigungen und lassen keine Schlüsse zu.
Gleich unzulässig wäre ein Versuch, aus der Häufigkeit und Bedeutsamkeit
einiger, dem weiblichen Geschlechte speciell zukommender Ursachen apriorische
Folgerungen zu ziehen; denn die Menstruationsstörungen, die Schwangerschaft,
das Wochenbett gehören zwar unzweifelhaft unter die Verhältnisse, welche häufig
zu Ursachen des Irreseins werden, aber es stehen ihnen auf Seiten des männ-
lichen Geschlechts eine Reihe anderer diesen besonders eigenthümlicher Momente,
vor allem die hier weit häufigere Trunksucht, die geistigen Anstrengungen, die
Kämpfe des Ehrgeizes, die Gemüthsbewegungen und Erschöpfungen, welche das
Geschäftsleben mit sich bringt, entgegen — ursächliche Verhältnisse, durch
welche gewiss jener eigenthümliche Einfluss der sexuellen Processe auf die Ent-
stehung des Irreseins im Grossen und Ganzen genugsam aufgewogen wird. Mit
den banalen Floskeln von grösserer Zartheit, Reizbarkeit, Gefühligkeit des Weibes
aber wird Niemand eine derartige Frage im Ernste lösen wollen.
Was den Einfluss der Ehe oder des ehelosen Lebens betrifft,
so stimmen die verschiedenen Angaben ***) darin überein, dass unter
den unverheiratheten Männern die Erkrankungen häufiger seien, dass
dagegen unter den Weibern mehr verehlichte Personen erkranken,
eine Thatsache, welche sich wohl allein aus dem Heirathen des
weiblichen Geschlechts in einem früheren Lebensalter erklären lässt.
Auch unter den verwittweten Kranken prädominirt das weibliche Ge-
schlecht, vielleicht wegen seiner hülf- und schutzloseren Lage unter
diesen Umständen. Mit Recht aber macht Zeller †) darauf aufmerk-
sam, dass, wenn zwar der ehelose Stand mehr Veranlassung zu
[108]Einfluss des Lebensalters
Seelenstörung darzubieten scheine, doch in nicht wenigen Fällen
gerade in der ehelichen Verbindung und den daraus erwachsenden
Missständen die Hauptquelle der Erkrankung gesucht werden muss.
§. 70.
3) Lebensalter. Keine Lebensepoche gewährt eine absolute
Immunität gegen Geisteskrankheiten, aber sämtliche Statistiken stimmen
darin überein, dass gewisse Altersstufen besonders und sehr über-
wiegend disponiren.
Im Kindesalter (unter 16 Jahren) ist das Irresein zwar selten,
an der Realität seines Vorkommens — und zwar nicht nur des Blöd-
sinns, sondern aller Formen der Geisteskrankheiten — ist aber nicht
im Geringsten zu zweifeln. Haslam, Perfect, Esquirol, Spurzheim,
Guislain, *) Zeller, **) wir selbst haben Fälle von Kindern, die an
ausgesprochener Manie in einem Alter von 6, 7, 9, 10, 12, 13 Jahren
litten, beobachtet; Foville ***) erzählt zwei derartige Fälle, Jördens †)
berichtet über den merkwürdigen Fall eines Knaben, der durch kleine
Glassplitter, die in seine Fusssohlen eingedrungen waren, tobsüchtig
ward und es bis zur Entfernung der Splitter blieb. Stolz ††) erzählt
einen sehr interessanten Fall von Manie eines 7jährigen Kindes mit
Sprachlosigkeit (und schwerer Degeneration der vordern Gehirnlappen).
Auch melancholische Zustände kommen vor (Zeller l. c.), und
vor Allem die Selbstmorde im kindlichen Alter haben nach Caspers
Angaben †††) auf eine traurige Weise in neueren Zeiten zugenommen.
Im Sommer 1843 kamen kurz nach einander bei und in der Stadt
Brandeis 4 Selbstmordfälle 11- und 12jähriger Kinder vor, 1) in Nort-
hampton stürzte sich vor Kurzem ein 13jähriges Mädchen ins Wasser,
nachdem sie von ihrem Vater gezankt worden war, 2) und es liessen
sich derartige Fälle noch in ziemlicher Menge aufführen. 3)
Die Fälle wirklicher Geisteskrankheit bei Kindern scheinen theils
auf einer excessiven originären, oder durch zweckwidrige Behandlung
[109]auf psychische Erkrankung.
geweckten und unterhaltenen Reizbarkeit des Gehirns, theils auch
auf tieferen organischen Erkrankungen, theils auf consensueller Gehirn-
reizung von den Genitalien aus (Onanie, Annäherung und Eintritt der
Pubertät) zu beruhen. Nicht selten sind gleichzeitige choreaartige
Erscheinungen; auch somnambüle Zustände bilden zuweilen Wechsel-
und Uebergangsformen zu diesem Irresein der Kinder.
Schon weit häufiger als im Kindesalter werden die Geisteskrank-
heiten vom 16ten bis 25ten Lebensjahr. Aber die ausserordentliche
Mehrzahl aller Fälle fällt in die Periode der höchsten Reife, in die
Zeit der leiblichen Fortpflanzung und der geistigen Productivität, der
Ehe und des eigentlichen bürgerlichen Lebens, zwischen 25 und 50
Jahre. Auch hier sind die vorliegenden Angaben nicht ganz genügend
zu einer präciseren Entscheidung der Frage, indem die grösseren
Berechnungen *) nach dem Lebensalter der in die Irrenanstalten
aufgenommenen Kranken angestellt wurden, mit dem das Alter
der wirklichen Erkrankung natürlich gar nicht übereinzustimmen
braucht, oder indem man nur zählte, wie viele Geisteskranke einzelner
Altersclassen überhaupt in einem Lande vorhanden sind. **) Wäre es
erlaubt, eine verhältnissmässig sehr kleine aber sehr sorgfältig behan-
delte Statistik zu Grunde zu legen ***) so würde das häufigste Alter
der Erkrankung zwischen 20 bis 30 Jahre, dann zunächst zwischen
30 bis 40, und schon in sehr verminderter Proportion zwischen 40 bis
50 fallen. Namentlich für das männliche Geschlecht gibt Zeller †)
den Zeitraum von 20 bis 30, für das weibliche den von 30 bis 40
als die Epochen der häufigsten Erkrankung an, und erklärt die Differenz
daraus, dass in der letzteren Periode für das weibliche Geschlecht
die welkende Blüthe und die mit ihr schwindenden Hoffnungen auf
Lebensglück an der grösseren Zahl der Erkrankungen Schuld sei.
Die weiter beobachtete Mehrheit der Erkrankung unter den Weibern
vom 40 bis 50ten Lebensjahre möchte mit den Vorgängen der In-
volution zusammenhängen; auch nach dem 50ten Jahre fällt noch
die Mehrzahl der Erkrankung auf Seite der Weiber. Im Allgemeinen
nimmt wohl die Disposition vom 50ten Jahre an ab; aber bis an die
letzten Grenzen der menschlichen Lebensdauer währt eine, gegen
das mittlere Alter nicht eben ausserordentlich verminderte Geneigtheit
[110]Einfluss des Standes.
zu psychischer Erkrankung fort, ja der senile Blödsinn möchte bei
einer genaueren Statistik ein wieder stark vermehrtes Verhältniss für
die letzten möglichen Lebensjahre hervorbringen.
Doch ist der senile Blödsinn keineswegs die einzige Form des Irreseins in
diesen Jahren. Esquirol sah 2 Weiber, eine 80, die andere 84 Jahre alt, von
Tobsucht genesen; Burrows erzählt einen Fall von Schwermuth und Selbstmord
bei einem Vierundachtziger, wir selbst haben einen frischen Fall von Schwer-
muth im 80ten Jahre behandelt und könnten noch mehrere andere dergleichen
Fälle anführen.
4) Ob die Standesunterschiede einen wesentlichen Einfluss
auf die Entstehung von Geisteskrankheiten haben, lässt sich, wie Fuchs
(l. c. p. 102) mit Recht bemerkt, wieder nicht durch Berechnungen
nach den Aufnahmen in den öffentlichen Anstalten bestimmen, da in
diese natürlich weit mehr Kranke aus niederen Ständen eintreten. Als
einzige, hier etwa brauchbare Notiz ist uns die Angabe von Julius *)
bekannt, dass sich in England und Wales 8500 arme und nur 12 bis
1300 bemittelte Geisteskranke in den öffentlichen und Privatanstalten
befinden. Bedenkt man, dass es weit mehr arme als wohlhabende
Menschen gibt, so könnte man hiernach die beiderseitige Erkrankungs-
fähigkeit etwa gleich schätzen; doch ist es die gewöhnliche An-
nahme, dass in den besseren Classen der Gesellschaft — oder
vielmehr in den reicheren, — Geisteskrankheiten seltener vor-
kommen, als in den ärmeren. Es scheint eben, dass das Moment,
das auf der einen Seite durch grössere directe Excitation der cere-
bralen Thätigkeiten vergrössernd wirkt, auf der andern überwogen
wird durch Elend, Hunger und Trunksucht, während die mächtigen
Leidenschaften, Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht etc., in allen Schichten
der Gesellschaft gleich häufig und ursprünglich gleich mächtig, auch
bei geringerer Bildung der Intelligenz unaufgehaltener und zerstören-
der wirken.
Ueber eine besondere Disposition, die durch einzelne Berufs- und Be-
schäftigungsarten gegeben wäre, ist lediglich nichts zu sagen, als was die
obigen Bemerkungen schon enthalten, dass wahrscheinlich die Menschenclassen,
die in harter manueller Arbeit ein mühsames und bedrängtes Leben hinbringen,
von dieser, wie wohl von jeder andern Krankheit, öfter befallen werden, als
diejenigen, welche die weniger erschöpfenden geistigen oder gar keine Arbeiten
verrichten. Sollten sich dann in einzelnen Berufsarten hier oder dort, unter
Matrosen, Taglöhnern, Bauern etc. oder unter Kaufleuten, Beamten, Offizieren etc.
noch weitere merkliche Uebergewichte zeigen, **) so wären diese erst mit den Ver-
[111]Einfluss der Jahreszeiten.
hältnisszahlen dieser Gewerbe und Berufsarten zur Masse der Population über-
haupt zu vergleichen und auch von da wäre noch weit zu dem Schlusse, dass es
gerade das Gewerbe selbst sei, was die Disposition begründe. Denn einzelne
Berufsarten bringen gewisse Classen von Schädlichkeiten nicht mit Nothwendig-
keit und als solche, sondern mehr gelegenheitlich und für das Individuum will-
kürlich mit sich; z. B. die Küfer und Matrosen sind durch Neigung zum Trunk
dem Delirium tremens ungewöhnlich häufig unterworfen. Freilich gibt es wieder
gewisse andere Lebenslagen, in denen eine Masse verderblicher, gesundheit-
zerstörender Einzeleinflüsse mit Nothwendigkeit gegeben ist, z. B. in der Gefangen-
schaft *) Gewissensbisse, Sehnsucht, Concentration auf wenige Gedankenkreise,
schlechte Nahrung und Luft, Mangel an Bewegung etc., in der weiblichen Prosti-
tution Elend, Verlassenheit, Trunk, empörte Leidenschaften, siphilitische Contagion etc.
5) Den auch vielfach besprochenen Einfluss der Jahreszeiten
auf die Entstehung des Irreseins erwähnen wir nur, um wieder auf
die Trüglichkeit mancher statistischer Angaben aufmerksam zu machen.
Daraus, dass nach Esquirols Tabellen in den Sommermonaten (Mai bis
Juli) am meisten, im Frühling und Herbst weniger und im Winter
die wenigsten Aufnahmen in einige Irrenanstalten stattfanden, hat
man auf die häufigere Entstehung des Irreseins im Sommer geschlossen.
Mit grösstem Unrecht; denn welche Irrenanstalt der Welt wäre so
glücklich, eine Mehrzahl von Fällen, die erst 2, höchstens 3 Monate
alt sind, zu bekommen **)? — Zwischen Erkrankung und Zeit der Auf-
nahme gibt es auch nicht das geringste beständigere Verhältniss und
es bleibt der subjectivsten Vermuthung freigestellt, wann diese in
den Sommermonaten mehraufgenommenen Fälle entstanden sein
mögen, ob nicht das unbequemere Reisen im Winter die Aufnahmen
verringere und dergl. m. Auch von einem Einfluss der Jahreszeiten
auf die einzelnen Formen des Irreseins sprechen die Statistiker;
Esquirol behauptet und Jakobi ***) erweist an 181 Fällen, dass in den
Wintermonaten der Ausbruch der Tobsucht am seltensten geschieht,
und dass der Sommer und besonders der Frühling eine Mehrzahl
von Erkrankungen in dieser Form darbieten.
[112]Individuelle Prädisposition.
Was endlich der Einfluss des Mondes, wenn auch nicht auf
Erzeugung, doch auf Steigerung und Abänderung des Irreseins in seinem
Verlaufe hetrifft, so wird derselbe von der grossen Mehrzahl der
Irrenärzte geläugnet, und es hiesse jeder pathologischen Untersuchung
Hohn sprechen, wenn z. B. die periodische Wiederkehr von Tobsucht-
anfällen, desswegen weil sie mit gewissen regelmässigen Veränder-
ungen am Himmel zusammentrifft, dem Einfluss der Gestirne zuge-
schrieben würde. Desshalb soll aber eine Einwirkung des Mond-
lichts auf die Geisteskranken nicht geläugnet werden. Schon die Ge-
dankenbewegung des Gesunden kann durch dasselbe eigenthümlich afficirt
werden, z. B. in der Form jener sehnsüchtigen, elegischen Stimmungen,
welche den geläufigen Vorwurf einer mondsüchtigen Poesie bilden; bei
Geisteskranken, die von so manchen sinnlichen Eindrücken stärker
und anders erregt werden, als Gesunde, mag bei mangelndem Schlaf
der Anblick des vollen, glänzenden Mondes, der unbestimmten Be-
leuchtung, der vorüberhuschenden Wolkenschatten, verbunden mit der
Stille der Nacht oder den confusen Tönen, welche Nachts durch die
Irrenanstalten ziehen, wohl noch grössere Eindrücke, lebhaftere Ge-
müthsbewegungen, Anlässe zu mancherlei Hallucinationen und dergl.
setzen. In der That hat der kluge Esquirol die Unruhe, die man
bei mehreren Kranken regelmässig zur Zeit des Vollmonds bemerkte,
durch herabgelassene Gardinen beseitigt.
Zweites Capitel.
Die individuelle Prädisposition.
§. 71.
1) Erblichkeit. Die statistischen Untersuchungen bekräftigen
aufs entschiedenste die allgemeine Ansicht der Laien und Aerzte,
dass dem Irrewerden in einer grossen Zahl von Fällen eine angeborne
Anlage zu Grunde liege. Im Einzelnen differiren aber die Angaben
nach den individuellen Erfahrungen, zum Theil auch nach den Men-
schenklassen und den Orten, auf die sich die Untersuchung bezog,
sehr bedeutend. Das enorme Verhältniss, das Burrows angibt (Erb-
lichkeit in 6/7 der Fälle), wird durch keine Statistik erwiesen; Esqui-
rol *) fand sie bei den Armen in mehr als ¼, bei den Reichen in
[113]Erblichkeit des Irreseins.
etwa ⅗ der Fälle; Jessen *) nimmt sie zu ⅓ an; Bergmann **)
fand nach der kleineren Statistik eines Jahres directe Erblichkeit in ⅕,
directe und indirecte zusammen in ⅓ der Fälle. Dagegen wurde
von Jakobi ***) unter 220 Fällen (von Tobsucht) nur in etwa 1/9, dann
unter den Kranken von Bicêtre und der Salpetrière (8272 Fälle) nur
in 1/11, und von Lautard im Marseiller Irrenhaus nur in etwa 1/15
der Erkrankungen Erblichkeit constatirt. †)
Diese bedeutenden Differenzen mögen von dem Vorherrschen einzelner Um-
stände herrühren, die als überhaupt wichtige Punkte näher zu beachten sind.
1) Die angeborne Anlage ist da häufiger, wo die Heirathen immer unter
einem kleineren Kreise von Familien oder gar in den Familien selbst geschehen;
dagegen erlischt die Transmission eher bei fortgesetzter Kreuzung mit fremdem
Blut. Der erstere Umstand zeigt sich deutlich unter den höheren Ständen ein-
zelner Länder, auch unter der israelitischen Bevölkerung, besonders auffallend
unter den englischen Quäkern. In dem Irrenhause bei York, das für diese reli-
giöse Secte bestimmt ist, liess sich directe Erblichkeit bei ⅓ der Kranken,
indirecte (Geisteskrankheit von Seitenverwandten) bei einem weiteren Sechstheil,
also beides zusammen in der Hälfte der Fälle nachweisen. ††)
2) Es entstehen weitere bedeutende Differenzen der Angaben dadurch, dass
das einemal nur die Fälle gezählt wurden, wo die Eltern oder Grosseltern geistes-
krank waren, anderemal die Annahme einer Familienanlage auch auf das Irresein
der näheren Seitenverwandten (Oheime, blutsverwandten Vettern) sich gründete.
Das letztere erscheint als das Richtigere, wenn man bedenkt, wie es fast immer,
ausser der erblichen Disposition, noch weiterer Ursachen zum Ausbruch des Irre-
seins bedarf, wie daher die vorhandene Anlage, aus Mangel solcher weiterer
Momente, gerade bei den nächsten Anverwandten ruhend bleiben, ihr Vorhanden-
sein aber sich an nahen Seitenverwandten deutlich erweisen kann.
3) Man thut Recht, die Familienanlage zu Geisteskrankheiten nicht abgesondert
für sich allein, sondern als Anlage zu schweren Gehirn- und Nervenkrankheiten
überhaupt aufzufassen. Man sieht nicht ganz selten, dass in einer Familie ein-
zelne Mitglieder an Irresein, andere an Epilepsie, an schwerer Spinalirritation,
Hysterie, Neuralgieen und dergl. leiden. Rush z. B. †††) erzählt den Fall eines
Mechanikers, der 2mal Anfälle von Irresein hatte, wovon der letzte sein Leben
endigte. Alle seine 6 Kinder litten an Kopfweh, allein keines zeigte je eine Spur
von Verrücktheit.
4) Auch in denjenigen Fällen ist eine ursprüngliche anomale Disposition nicht
zu läugnen, wo die Eltern oder eines derselben zwar auch nicht an Irresein litten,
aber eine auffallende Ueberspanntheit oder Bizarrerie des Characters und der
Griesinger, psych. Krankhin. 8
[114]Nähere Verhältnisse der
Neigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer
Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn
der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen
Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch
bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer-
muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt-
heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren
ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass
Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so
häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem
Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen
kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver-
brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein-
ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln.
Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann
und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen
durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen
3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere
Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel-
mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von
einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins
Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging.
Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie
durch eine Mésalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines
periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr
Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen
endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der
dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass
man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der
M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue
einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen,
einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. *)
Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder
an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir
könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen
anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der
cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu
Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen
und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der
Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen.
Esquirol nahm an, und Baillarger **) hat durch eine 453 Fälle
umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter — und zwar
[115]Fortpflanzung des Irreseins.
um ⅓ häufiger — von der Mutter, als vom Vater, auf die Kinder
forterbt; er fand zugleich, dass bei geisteskranker Mutter eher mehre
Kinder befallen werden, dass die Forterbung der Disposition auf die
Söhne von der Mutter und vom Vater fast gleich oft geschieht, dass
dagegen die Töchter ihre Anlage noch einmal so oft von der Mutter
als vom Vater erben. Hieraus geht hervor, dass durch Irresein der
Mutter die Kinder überhaupt mehr gefährdet sind, als durch Irresein
des Vaters, und dass es die Kinder weiblichen Geschiechts sind,
welche jener ungünstige Einfluss vorzugsweise trifft.
Viele Erfahrungen zeigen weiter, dass Kinder, welche geboren
wurden, ehe bei ihren Eltern die Geisteskrankheit zum Ausbruch kam,
seltener erkranken, als solche, welche erst nach dem Ausbruche des
Irreseins gezeugt wurden. Zuweilen indessen kommen auch Fälle
vor, wo die Kinder zuerst, vor den Eltern erkranken, indem eben
eine Menge den Ausbruch begünstigender Ursachen bei jenen
zusammentrifft, während diese durch ein glücklicheres Geschick
bis in ein höheres Alter solchen weiteren ursächlichen Einflüssen
entgingen.
Wiewohl man sich die erbliche Anlage allerdings zunächst und
hauptsächlich als eine das Gesamt-Nervensystem und namentlich das
Gehirn betreffende vorstellen muss, so hat doch die deutsche soma-
tische Schule *) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es auch
angeerbte Dispositionen zu anderartigen, primär das Nervensystem
nicht befallenden Erkrankungen gibt, welche zu deuteropathischer
Affection des Gehirns in Form von Seelenstörung Anlass geben mögen.
Wir möchten hierher namentlich die Tuberculose der Lungen, über-
haupt die chronischen Brustkrankheiten, andrerseits vielleicht einzelne
Genitalien-Affectionen rechnen.
Vergleicht man übrigens die vorliegenden Thatsachen über die
Heredität des Irreseins mit der Erblichkeit anderer Krankheiten, z. B.
der Phtisis, so findet man hier dieselben bedeutenden Differenzen
der Angaben **), welche vielleicht gerade auf nahezu gleiche Ver-
hältnisszahlen der Heredität beider Anlagen hindeuten.
8 *
[116]Einfluss der Erziehung.
§. 72.
2) Erziehung. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor-
stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für
sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die
Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des
Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind
auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt,
die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition,
als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen-
thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes
das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver-
kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von
Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har-
monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem
Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter
gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy-
chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit
und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt
noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das
Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener
günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent-
wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.
Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu-
frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität
aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge-
hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit
gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte
Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des
Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein
kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an-
haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent-
wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und
die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein
schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum
gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit
ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem
Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden,
ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden.
Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach-
[117]Einfluss der Constitution.
giebigkeit von Seiten der Eltern, welche die eigensinnige und zügel-
lose Entwickelung aller Neigungen und Lüste zulässt; früher oder
später ist dann ein schroffer Zusammenstoss mit dem Leben unver-
meidlich, und heftige Leidenschaften und Affecte mit ihren gesund-
heitsstörenden Einwirkungen können nicht ausbleiben.
Vgl. den im folgenden Buche erwähnten, von Pinel erzählten Fall. (Traité de
l’aliénation mentale. p. 159.)
§. 73.
3) Psychische und somatische Constitution. Das Urtheil
über die leibliche Constitution gründet sich gewöhnlich auf einige
auffallender wahrnehmbare, anatomische Verschiedenheiten unter den
Individuen, namentlich in Bezug auf Entwickelung des Muskelsystems.
Wir müssen darauf verzichten, in Verschiedenheiten dieser Verhält-
nisse etwas zu Geisteskrankheiten Disponirendes aufzufinden, denn die
tägliche Beobachtung zeigt, dass muskelstarke und schwächliche, ebenso
wieder trockene und feuchte Constitutionen so ziemlich in gleicher
Anzahl von Irresein befallen werden.
Dagegen gibt es eine andere, anatomisch durchaus nicht, sondern
nur physiologisch erkennbare, primitive oder erworbene Constitution,
welche wesentlich zu Geisteskrankheiten disponirt. Es ist diess die
sogenannte nervöse Constitution, jenes Verhalten der Central-
Organe, welches man im Allgemeinen als ein Missverhältniss der
Reaction zu den einwirkenden Reizen bezeichnen kann. Dieses Ver-
halten kann sich nun in einzelnen Abtheilungen des Central-Nerven-
systems, entweder mehr im Rückenmark oder mehr im Gehirn äussern,
sehr häufig thut es sich in allen nervösen Acten zugleich kund. Im
sensitiven Nervensystem bemerkt man Hyperästhesieen verschiedener Art,
grosse Empfindlichkeit für Temperatureindrücke, spontanen Wechsel
der Kälte- und Hitzesensation, besonders aber das Auftreten zahl-
reicher Mitempfindungen und ein sehr leichtes Entstehen von Schmerz.
Die motorisch-nervösen Acte zeichnen sich aus durch Abnehmen der
ganzen Kraftgrösse, leichte Erschöpfbarkeit, durch Neigung zu rascheren,
ausgebreiteteren, aber weniger energischen Bewegungen, durch erhöhte
Convulsibilität. Auf geistigem Gebiete bemerken wir entsprechend den
beiden analogen Zuständen der Empfindung und Bewegung, einer-
seits die grössere psychische Empfindlichkeit, die leichtere Neigung
zum psychischen Schmerz, den Zustand, wo jeder Gedanke auch zu
einer Gemüthsbewegung wird, daher den raschen und leichten Wechsel
der Selbstempfindung und der Stimmungen, andrerseits Schwäche und
[118]Die nervöse Constitution.
Inconsequenz des Wollens, Energielosigkeit des ganzen Strebens mit
hastigen und wechselnden Begehrungen. Die Intelligenz selbst zeigt
dann oft die gleiche Beschaffenheit; es sind diess jene zuweilen leb-
haften, schillernden Köpfe, denen es aber an Tiefe und Ausdauer
fehlt, die nichts geistig durchführen, weil sie sich zu allem als Dilet-
lanten verhalten, bei lebhafter Phantasie jene mittelmässigen, aber
baroken Musiker und Poeten oder jene missrathenen Universalgenies,
die bei einer gewissen Raschheit und Vielfältigkeit des Denkens nie
Sammlung und Ruhe zu etwas Tüchtigem finden konnten. Erkranken
solche Menschen am Ende an Irresein, so findet man darin eine
Bestätigung des Satzes, dass, nur wer einen rechten Verstand gehabt
habe, ihn verlieren könne, während in der That eine wirklich kräftige
Entwickelung und Durchbildung der Intelligenz das Irrewerden keines-
wegs begünstigt, sondern ihm entschieden hinderlich ist.
Auf psychischem Gebiete nun sind die nächsten Folgen, die äusseren Erschei-
nungsweisen der zu hohen Reizbarkeit, der reizbaren Schwäche, (Vgl. p. 44.) —
sehr verschieden; viele dieser Erscheinungen lassen sich aber zunächst auf eine
grössere Geneigtheit zu psychischem Schmerz zurückführen; bei der grösseren Aus-
breitung der Erschütterungskreise wird das psychische Gleichgewicht eher gestört,
das Ich leichter afficirt, daher überhaupt die leichtere Angegriffenheit und grössere
Kränkbarkeit solcher Individuen, welche sich nun bald ungeduldig aufbrausend,
unduldsam gegen Widerspruch, aggressiv gegen Andere verhalten, bald, den
psychischen Eindrücken ausweichend, sich spröde in sich selbst zurückziehen,
und unfähig, ihre Gemüthsinteressen durch die That zu befriedigen, die Wolke
der Phantasie umarmen, in deren Besitz ihnen dann die Welt gemein erscheint
und sie sich zu gut und edel für dieselbe dünken. So kommen verschiedene
Aeusserungsweisen derselben Grundzustände heraus, die indessen im Allgemeinen
darin übereinstimmen, dass das Missverhältniss der Reaction zu den Einwirkungen
bei höherem Grade als Ueberspanntheit und Uebertriebenheit erscheint, durch die
das Individuum mit seinen Launen und oft unerwartet wechselnden Reactionsweisen
aus der Linie tritt und in der Welt für ein Original, einen Sonderling gilt.
Solche Menschen zeigen zuweilen ängstliche Scrupulositäten und kleinliche Pe-
danterie (nicht ganz selten mit mechanischem Talent verbunden); anderemale
Leichtsinn, Unordnungen, Unbestimmtheiten des Denkens und Handelns, bald Kälte
und Apathie, bald excentrische Heiterkeit, bald Unentschlossenheit, bald Verwe-
genheit, höchsten Eigensinn oder stete Veränderlichkeit, Niedergeschlagenheit
oder Enthusiasmus, immer aber bei aller Mannigfaltigkeit der Charaktere und der
Bildungsstufen allzuheftige, andersartige und wegen des Widerspruchs mit dem
Verhalten des Durchschnitts-Menschen, grillenhaft erscheinende Reactionsweisen.
§. 74.
Solche psychische Dispositionen kommen unzweifelhaft angeboren,
und namentlich angeerbt, sozusagen häufig eben als Träger der Here-
dität des Irreseins, vor, und geben sich dann schon frühe, im Kreise
[119]Ihre Entstehungsweise.
des kindlichen Seelenlebens, durch sonderbare Geschmacksrichtungen,
heftige Empfindlickheit, durch Flüchtigkeit der Neigungen und des
Lernens kund, so dass solche Individuen nicht selten von Anbeginn
an zu Gegenständen der Verlegenheit und Betrübniss ihrer Eltern
und Lehrer, zuweilen freilich auch zu Gegenständen einer unver-
ständigen Bewunderung werden. Manche unsrer, auf Selbstgeständ-
nissen Kranker und Genesener beruhenden Beobachtungen stimmen
mit der Angabe von Fodéré *) überein, dass mit solchen Dispositionen
häufig eine zu frühzeitige Entwickelung des Geschlechtstriebs und
daraus spontan entwickelte Onanie, auch frühe Hämorrhoidalkrankheit
zusammentreffen.
So zweifelhaft es sein mag, ob diese Momente sich gerade als ursäch-
liche zu jenen psychischen Eigenthümlichkeiten verhalten, so ist es immerhin
der grössten Beachtung werth, dass man auch, wo solche angeborene Disposi-
tionen fehlen, im späteren Alter im Gefolge örtlicher Genitalienkrankheiten ausser-
ordentlich häufig sich dieselben psychischen Anomalieen entwickeln sieht, **) und
es braucht kaum daran erinnert zu werden, wie die sogenannte Hysterie, welche
jenes Verhalten der nervösen Processe zunächst im Spinal-, ausserordentlich
häufig aber auch im Cerebral-System zeigt, so häufig auf Unordnungen der
sexuellen Processe beruht.
Auch andere Erkrankungen, namentlich alle bedeutenden Säfte-
verluste, und die daraus folgenden anämischen und Erschöpfungs-
zustände sind oft als Ursachen der erworbenen nervösen Constitution
erkennbar; anderemale scheint es, dass aus localen Hyperästhesieen,
indem hier dieser, dort jener Nerv lange Reizungen auszuhalten hatte ***),
sich solche chronische Reizungszustände der Centralorgane — wie
im Tetanus acute — entwickeln. Es mögen dann locale Heerde und
Ausgangspunkte des Leidens in den Centralorganen bestehen, die
freilich niemals anatomisch nachweisbar sein werden, vielleicht aber
durch die Spinalempfindlichkeit einzelner Stellen, durch Kopfschmerzen
(Affectionen des Quintus) und dergl. annäherungsweise ihren Sitz
verrathen.
In ähnlicher Weise mögen die widrigen psychischen Eindrücke,
Schrecken, Kummer etc., denen wir so häufig als Ursachen der ner-
vösen Constitution begegnen, durch aufgedrungene, plötzliche oder
[120]Die nervöse Constitution.
anhaltende Reizung grösserer oder kleinerer Abschnitte des Gehirns
wirken, sofern sie nicht (s. unten §. 78) erst durch Umwege deutero-
pathische Gehirnaffectionen veranlassen.
Die Fälle sind verhältnissmässig selten, aber nicht zu läugnen,
wo in ganz langsamer, allmähliger Entwickelung solche psychische
Anomalieen ohne weiter nachweisbare schädliche Einflüsse in ent-
schiedenes Irresein übergehen; weit gewöhnlicher bildet die nervöse
Constitution nur eine Disposition, zu der noch etwas anderes, eine
wirkliche Ursache, sei es eine weitere körperliche Erkrankung oder
ein psychisches Moment hinzutreten muss, damit die leichte Störbarkeit
zur wirklichen Störung, die mässigeren psychischen Abweichungen
zu tieferem Irresein, zu einer wirklichen Gehirnkrankheit werden.
Nach dem in diesen beiden §§. Gesagten können wir von einer weiteren
Besprechung der sogenannten Temperamente, insofern sie etwa zu Geistes-
krankheiten disponiren sollen, abstehen. Wir so wenig als manche andere
geschätzte Forscher (Gall, Georget, Lotze u. A.) vermögen diesen 4 Categorieen,
ursprünglich aus der dunkelsten Humoralpathologie hervorgegangen und niemals
zu empirischem Nachweis oder nur der mindesten practischen Brauchbarkeit ge-
bracht, irgend einen Werth beizulegen.
Ausser den angeführten Umständen muss man nun eine Menge schwererer,
chronischer Krankheiten als somatisch prädisponirende Momente betrachten. Wie
bemerkt entstehen die Geisteskrankheiten gewöhnlich unter dem Einflusse mehr-
facher, zusammenwirkender ungünstiger Verhältnisse; dass im einzelnen Falle
gerade hier, unter gewissen gegebenen Umständen eine solche Gehirnkrankheit
ausbricht, darauf kann eine früher vorhandene Beeinträchtigung des allgemeinen
Gesundheitszustandes durch eine chronische anderweitige Krankheit nicht ohne
Einfluss sein. Nur davor muss gewarnt werden, nicht ohne den nöthigen patho-
logischen Erweis auf einzelne leichte oder missdeutete Symptome hin, schwere,
chronische Allgemeinkrankheiten zu hypostasiren, weil solche Annahmen so häufig
zu überflüssigen und gewaltthätigen Arzneikuren führen. Es wäre eine Wieder-
holung der ganzen speciellen Pathologie, wenn hier alle diese Erkrankungen
aufgezählt werden sollten; die hauptsächlichsten werden unter den somatischen
Ursachen mit näherer Besprechung ihrer Wirkungsweise bei Erzeugung des Irre-
seins erwähnt werden; hier soll nur nochmals an die innere Untrennbarkeit der
disponirenden und der im engeren Sinne ursächlichen Momente erinnert werden.
Dass ein früher schon einmal bestandenes, aber geheiltes Irresein zu einem
neuen Erkranken disponire, wird keiner weiteren Erörterung bedürfen. Ueber
Rückfälle S. das Capitel von der Prognose.
[121]
Dritter Abschnitt.
Die Ursachen der psychischen Krankheiten.
Erstes Kapitel.
Wirkungsweisen der Ursachen.
§. 75.
Obwohl die Geisteskrankheiten in der Mehrzahl der Fälle aus
einem Zusammenwirken mehrerer, zum Theil vieler ungünstiger Um-
stände entstehen, so erscheinen doch gewöhnlich einige unter diesen
Momenten so besonders wichtig und wirksam, dass man sie näher
als die besondere Ursache bezeichnen muss, oder es kommen Fälle
von Erkrankung vor, die man nur der Einwirkung eines einzigen un-
günstigen Verhältnisses zuschreiben kann. Bei der Besprechung dieser
näheren Ursachen haben wir theils gewisse äussere Schädlichkeiten,
theils die widrigen Einflüsse gesundheitszerstörender Gewohnheiten,
theils gewisse abnorme organische Zustände selbst zu würdigen, welche
zunächst solche Erkrankungen des Gehirns einleiten können. Der
Weg, auf dem sie wirken, ist ein doppelter: einmal durch eine, (statio-
när werdende) nervöse Irritation des Gehirns, sodann durch
Entwickelung von Hyperämieen in der Schädelhöhle. Nament-
lich die letztere Entstehungsweise erscheint uns als eine ungemein
wichtige, insoferne die pathologische Anatomie zeigt, dass Hyperämieen
des Gehirns, namentlich der Gehirnrinde und der Pia, den allerge-
wöhnlichsten Leichenbefund in den frischeren Fällen von Geistes-
krankheit ausmachen, und als wir desshalb ohne allen Zweifel in diesen
Hyperæmieen ausserordentlich oft den nächsten organischen Grund
der psychischen Anomalieen zu erkennen haben.
Nicht so freilich, als ob jede Gehirnhyperämie bei jedem Menschen auch
unmittelbar und nothwendig ein Irresein zur Folge haben müsste — die clinische
Beobachtung zeigt uns oft genug habituelle Kopfcongestionen ohne diesen Sym-
ptomencomplex; sondern diess ist unsere, aus den Thatsachen sich ergebende
Ansicht, dass die Ausbildung einer Gehirnhyperämie da diese Symptome hervor-
bringt, wo sie in einem schon disponirten, sei es durch Heredität, durch vor-
ausgegangene langwierige und schlimme psychische Eindrücke, durch eine weniger
adäquate Ernährung, kurz auf irgend welche Weise zu dieser Art krankhafter
Reaction geneigt gewordenen Gehirne auftritt. Insofern bilden die Kopfcongestionen
die wichtigsten näheren Ursachen des Ausbruchs; sie setzen anderseits, wenn
sie lange in mässigeren Graden anhalten, langsam ausgebildete Dispositionen,
die erst mit dem Hinzutreten eines neuen schädlichen Moments, z. B. eines stärkeren
psychischen Eindrucks, zu wahrem Irresein werden. Namentlich der Missbrauch
der spirituösen Getränke scheint oft in letzterer Weise zu wirken.
[122]Die Gehirnhyperämie und
Die Möglichkeit wahrer Gehirnhyperämie überhaupt, welche bekanntlich von
einzelnen Pathologen (Abercrombie) *) in Zweifel gezogen worden ist, halten wir für
genügend durch directe anatomische Beobachtung erwiesen; bei jeder wirklichen
Vermehrung des Blutgehalts wird dann allerdings entweder eine mässige Com-
pression der Gehirnsubstanz oder einiges Zurückweichen der Cerebrospinalflüssig-
keit aus dem Schädel in den Wirbelcanal eintreten müssen. Dagegen stimmen
wir Abercombie darin ganz bei, dass es Blut stagnationen, auch ohne wirkliche
Vermehrung der ganzen im Schädel circulirenden Blutmasse, gebe, welche aus
vermindertem arteriellem Impetus hervorgehen. Bei einer bedeutenden Schwäche
der Herzcentractionen, bei Verknöcherung der Gehirnarterien, wo deren Elasticität
das Fortrücken der Blutwelle nicht mehr unterstützt, fliesst das Blut langsamer,
als sonst, durch das Gehirn, es nimmt desshalb eine venösere Beschaffenheit an,
und es kann diese nicht ohne Einfluss auf die Functionen bleiben. Es ist keine
unwahrscheinliche Hypothese, dass auf solchen Verhältnissen, daneben auf Ab-
weichungen in der Statik (und der chemischen Constitution) des Cerebrospinalflui-
dums, manche Anomalieen der Gehirnthätigkeit beruhen mögen, welche man
aus Mangel an handgreiflichen anatomischen Veränderungen derzeit noch als
nervöse Irritationen betrachten muss.
§. 76.
Was die nähere Entstehungsweise dieser Gehirnhyperämieen
betrifft, so sind sie
1) sogenannte active. Leider ist hier im Gehirn, so wenig
als in andern Organen, der Mechanismus der activen Hyperämieen
gehörig verständlich und die mehr oder weniger hypothetischen
Annahmen einer vermehrten Attraction des Bluts durch das Gewebe,
einer (wahrscheinlicheren) Erschlaffung der Haargefässwandungen etc.
können die Sache nicht ganz erschöpfen. Eine wahrhaft active, d. h.
wirklich durch einen vermehrten Zustrom a tergo gesetzte Gehirnhyper-
ämie sehen wir eigentlich nur bei der Hypertrophie des linken
Herzventrikels, besonders bei gleichzeitiger Verengerung der abstei-
genden Aorta.
2) Weit fasslicher in ihrer Entstehungsweise und ohne Zweifel
auch weit häufiger, als die active Hyperämie des Gehirns, ist bei den
Geisteskranken die s. g. passive, venöse Hyperämie. Zahlreiche
Beobachter, als deren Repräsentanten wir vor Allem Guislain **) nennen,
haben längst darauf aufmerksam gemacht, wie die Kopfcongestion
der Irren in der Mehrzahl der Fälle keine „entzündliche“ sei, sondern
[123]und deren nächsten Ursachen.
in der Anfüllung auch der grösseren Gefässe mit einem dunkeln
Blut, in einer „Verstopfung“ langsameren Verlaufs bestehe, welche
am Ende in „chronische, passive Entzündung“ übergehe. Guislain
hat auch einige, damit zusammenhängende, äusserlich am Lebenden
wahrnehmbare Erscheinungen naturgetreu geschildert, das Vorspringen
der Temporal- und Halsvenen, die bläuliche, bleiartige, oft dunkel-
bräunliche Färbung des Gesichts, namentlich in der Umgebung der
Augen und der Nasenspitze, welche sich in so vielen Fällen zeigt
und in der Reconvalescenz, ja schon in den Intermissionen wieder
verschwindet, die zuweilen vorhandene Röthung und Ecchymosirung
der Conjunctiva, kurz die äusseren Zeichen einer allgemeinen ven-
ösen Hyperämie des Kopfes.
Wie entstehen nun diese venösen Hyperämieen? — Wir halten
sie im Durchschnitt für mechanische, d. h. durch ein gehindertes
Rückfliessen des venösen Blutes bedingte. — Schon am Schädel selbst
können sich mechanische Hindernisse für die Entleerung der Sinus
bilden. *) In der Mehrzahl der Fälle aber mag das Hinderniss tiefer
unten, in den Respirations- oder Circulationsorganen liegen. Wir
erinnern vor Allem an das unzweifelhaft häufige Vorkommen der or-
ganischen Herzkrankheiten bei den Irren, und an den mit Recht (Nasse,
Jakobi) für die Pathogenie des Irreseins hoch angeschlagenen Einfluss
der nervösen Herzirritation, welche gleichfalls Unregelmässigkeit im
Kreislauf zufolge hat. Wir erinnern an den häufigen Zusammenhang
des Irreseins mit Krankheiten der Respirationsorgane, namentlich mit
Tuberculose (Esquirol, Bergmann etc.). Wir gehen aber noch weiter
und sind der Ansicht, dass in sehr vielen Fällen das Irresein aus
mechanischen Hyperämieen entsteht, die ohne tiefere Erkrankung der
Brustorgane auf verlangsamter, unvollständiger, behinderter Respiration,
Ueberfüllung des rechten Herzens und unvollständiger Entleerung der
Jugularvenen beruhen.
Es ist bekannt, dass bei der Inspiration das Venenblut in die
ausgedehnte Brusthöhle gezogen wird und in grösserer Quantität in das
rechte Herz einströmt, dass umgekehrt bei gehemmter Inspiration die
Jugularvenen anschwellen. Wenn es Umstände giebt, welche längere
Zeit, anhaltend fort, eine geschwächte Respiration setzen, so dass
das Ein- und Ausathmen sowohl seltener, als namentlich die Ausdeh-
nung der Brust bei der Inspiration unvollständiger geschieht, so muss
[124]Die venöse Hyperämie,
zunächst durch die mangelhafte Ausdehnung des Brustraums sich allmäh-
lig ein Ueberschuss von Blut in den Venen, namentlich auch in den
Jugularvenen und rückwärts von ihnen, bilden- Trotz des verminderten
Zuflusses von Venenblut in die Brusthöhle kann sich, wenn die Re-
spiration sehr schwach oder die Herzcontraction weniger energisch und
vollständig (die Blutwelle, der Puls klein) ist, dabei Ueberfüllung des
rechten Herzens ergeben und diese den Abfluss des venösen Blutes
aus den Jugularen noch weiter verlangsamen: dann muss sich mit
Nothwendigkeit auch eine venöse Stase in der Schädelhöhle ausbilden.
Giebt es nun wirklich Umstände, unter denen die Respiration
eine solche anhaltende Verlangsamung und Schwächung erleidet? Es
gibt nicht nur solche, sondern sie sind sehr häufig und sie sind, wenn
gleich bisher nicht nach ihrer angegebenen Wirkung gedeutet, doch
von allen Irrenärzten als ausserordentlich wichtige Ursachen der Geistes-
krankheiten anerkannt. Es sind diess nämlich die Zustände der an-
haltenden, depressiven Verstimmung, des dauernden Seelen-
schmerzes. Man beobachte die Wirkungen des Kummers, des Grams,
auf die genannten Processe, man sehe, wie die Respiration langsam,
oberflächlich, selten wird, wie sich bald Oppression auf der Brust
einstellt, der durch nothwendig gewordene, einzelne tiefe Inspirationen
(Seufzer) nicht vollständig abgeholfen wird, man bemerke dabei die
Kleinheit und oft die Verlangsamung, sogar Irregularität des Pulses,
das dunklere, ältere Aussehen des Individuums, die blauen Ringe um
die Augen, den dumpfen Druck im Kopf, über den oft geklagt wird
— und man hat einen Complex von Phänomenen, welche die un-
mittelbare Modification des Athmens und des Kreislaufs vom Gehirne
aus und die schnelle Rückwirkung auf dieses Organ offen zeigen.
Es bedarf kaum der Erinnerung, wie aus der Respirationsbehinderung
jene Angstgefühle, die wir so häufig im Beginn des Irreseins auf-
treten sehen, sich bald und nothwendig erheben müssen.
Die Schwächung der Respiration selbst durch den depressiven Affect wird
man sich als eine Affection des Vagus oder vielmehr seiner Centralenden zu
denken haben. Nach Durchschneidung der Vagi verlangsamt sich nemlich sogleich
(nicht erst bei Annäherung des Todes) die Zahl der Respirationen, *) und die
Thiere zeigen dabei eine Angst und Unruhe, die mit der Grösse der Verletzung
in keinem Verhältnisse steht.
Der angegebene Zusammenhang erläutert aufs beste den längst empirisch
bekannten häufigen Nutzen der Aderlässe in dem ersten Anfangsstadium des
[125]von der Lunge aus entstanden.
Irreseins. Später kann die Berücksichtigung dieses Verhältnisses allein den
Aderlass nicht mehr indiciren, denn einmal ist es bekannt, wie überhaupt schon
habituell gewordene Stasen durch Blutentziehung sehr selten geheilt werden
können, dann aber haben diese mechanischen Hyperämieen oft bei längerer Dauer
weitere Folgen derselben Art, wie die „entzündlichen“, nemlich Macerations-, Er-
weichungs-Processe, seröse (Oedeme) serösplastische (zu Verklebungen der
Hirnhäute führende) Exsudationen, welche vollends dem Aderlass nicht mehr
weichen können.
Nicht nur die langsamer und anhaltender wirkenden, sondern auch die acu [...]
verlaufenden Zustände von Seelenschmerz machen Kopfcongestion, so namentlich
der Zorn und der acute Zustand von Betrübniss, in dem wir das Individuum gerne
den schweren Kopf mit den Händen stützen sehen. Es ist sehr wahrscheinlich,
dass auch diese Hyperämieen mechanische, in Folge einer Respirations- und
Circulationsstörung sind. Wir haben vor kurzem wieder ein auffallendes Beispiel
solcher Wirkungen des depressiven Affects beobachtet. Ein vollblütiger, junger
Mann hatte mit den besten Hoffnungen eine Dienstprüfung angetreten, die indessen
nicht den gewünschten Erfolg hatte. Er erfuhr diess am Abend; bis dahin ganz
wohl und heiter, verfiel er sogleich in grosse Depression, die Nacht war gänzlich
schlaflos, er konnte nicht im Bette bleiben, sondern brachte den grössten Theil
der Nacht am offenen Fenster zu, wobei ihm leichte Delirien, eine Bilderjagd vor-
kamen; bald stellte sich heftiger Kopfschmerz und Uebelsein ein. Am andern
Morgen war der Kopf ganz dunkelroth und sehr heiss, die Augen injicirt, der
Puls klein, schnell und sehr ungleich; dabei starkes Kopfweh, Agitation,
Zungenbeleg und Brechneigung. Aderlass von 1 ℔. Auf denselben schnelle
Besserung aller Symptome, der Kranke gab gleich als ihm selbst auffallend an,
wie ihm jetzt nach dem Aderlasse plötzlich Alles durchaus nicht
mehr so schwer und traurig erscheine, wie vorher, und war jetzt erst
für Zuspruch empfänglich. Nachmittags spontanes Nasenbluten, darauf völlige
Herstellung.
Wiewohl wir nun geneigt sind, diese Wirkungsweise der depressiven Ge-
müthszustände, nemlich die Setzung einer mechanischen Gehirnhyperämie, für die
wichtigste zu halten, so ist es doch nicht unsere Ansicht, dass jene Zustände
immer und nur auf diese Weise wirken. Es ist vielmehr kein Zweifel, dass
sie eine ganz directe irritirende Folge für das Gehirn haben und dass auf diesem
primären Wege ein Irresein, so gut wie eine Epilepsie, entstehen kann. In
andern Fällen mag die chronische Verdauungsstörung, die oft jene Gemüths-
Zustände begleitet, einen anämischen Zustand bedingen, und dieser ein Causal-
Moment der Gehirnirritation abgeben. Die Auffindung des pathogenetischen
Mechanismus im Einzelfalle ist eben die Aufgabe des kundigen und rationellen
Arztes, und es ist gewiss, dass hier noch Vieles, ja vielleicht das Meiste, zu
entdecken ist.
[126]
Zweites Kapitel.
Psychische Ursachen.
§. 77.
Wir haben nun die hauptsächlichsten nähern Ursachen der Geistes-
krankheiten einzeln zu besprechen. Bei ihrer grossen Mannigfaltig-
keit, bei der Verschiedenheit ihrer, dazu oft wenig bekannten, Wirkungs-
weisen entziehen sie sich einer logisch scharfen Anordnung, und wir
wollen sie gruppenweise, nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ge-
ordnet, neben einanderstellen.
Die psychischen Ursachen halten wir für die häufigsten und
ergiebigsten Quellen des Irreseins, sowohl was die Vorbereitung als
namentlich und hauptsächlich die unmittelbare Erregung der Krankheit
betrifft; bekennen indessen, dass sich diese Ansicht nicht sowohl auf
Zählungen, *) sondern auf den Gesamteindruck vieler Beobachtungen
stützt. Unter diesen psychischen Ursachen sind vor allem die voraus-
gegangenen leidenschaftlichen und affectartigen Zustände zu verstehen,
denn es ist eine entschiedene Thatsache, dass die rein intellectuelle
Ueberanstrengung, ohne begleitende Gemüthsaffection und ohne ander-
weitige starke Ursachen, (z. B. sinnliche Excesse, durch Excitantia
künstlich erregte Schlaflosigkeit) nur in den seltensten Fällen zum
Irrewerden führt.
Solches ist dagegen von den anhaltenderen oder heftigeren Ge-
müthsbewegungen unzweifelhaft, und es kommen unter ihnen ganz
besonders die unangenehmen, widrigen und depressiven Gemüths-
zustände in Betracht, während die übermässige Freude allein den
Irrenhäusern noch ausserordentlich wenige, vielleicht gar keine Kranke
übergeben hat. Pinel, das Muster eines Irrenarztes für alle Zeiten,
war so sehr von dieser Wahrheit überzeugt, dass er immer an einen
neuen Kranken zuerst die Frage richtete: haben Sie Verdruss,
Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten? **) — und heute noch, so selten
als damals bekommt man auf diese Frage eine negative Antwort. Im
Einzelnen können diese schmerzhaften Gemüthszustände nach ihrer Art
[127]Die Affecte als Ursachen.
und nach ihren äusserlich gegebenen Motiven die allerverschiedensten
sein; bald ist es ein plötzlich erregter Zorn, Schrecken *) oder Kummer
über eine Beleidigung, einen Vermögensverlust, eine rohe Beeinträchtigung
der Schamhaftigkeit, einen schnellen Todesfall u. dergl., bald sind es die
langsam an der Seele nagenden Folgen des zurückgewiesenen Ehr-
geizes, der Reue über eigene unrechtmässige Handlungen, des Haus-
kreuzes, der unglücklichen Liebe, der Eifersucht, der Verkennung, des
gezwungenen Verweilens in inadäquaten Verhältnissen oder jedes
anderen verletzten Gemüthsinteresses; immer sind es Einwirkungen,
welche durch eine intensive Störung der Vorstellungscomplexe des
Ich einen traurigen Zwiespalt im Bewusstsein setzen, und immer
sehen wir da die stärksten Wirkungen, wo eine lange Concentration
der Wünsche und Hoffnungen auf einen Gegenstand stattgefunden,
wo sich der Mensch in gewisse Zustände ganz hineingelebt hatte und
wo nun mit gewaltsamer Hemmung dieser Interessen, den Vor-
stellungen ihr Uebergang in Strebungen abgeschnitten wird, und damit
ein Riss in das Ich und ein heftiger innerer Kampf entsteht.
Der Effect solcher Gemüthsbewegungen für Erzeugung des Irreseins ist nach
der Stärke des ersten Stosses, der längeren oder kürzeren Dauer, ganz besonders
aber nach der vorhandenen individuellen Disposition zu beurtheilen; denn auch
die grössere oder mindere Heftigkeit des ersten Eindrucks, das schnellere Wieder-
aufhören oder der längere Nachhall des Affects hängt zum grossen Theile von
jener Disposition ab. In manchen Fällen ist es aber schon ein Zeichen dieser
(im §. 73 näher geschilderten) psychischen Eigenthümlichkeit, dass überhaupt
solche lange und heftige Zustände von Leidenschaft oder Verstimmung auf-
kommen konnten und die eigene originäre Reizbarkeit und Leidenschaftlichkeit des
Individuums, die schon vorhandene Disposition zu Affecten und zu einer baldigen
Trübung der Besonnenheit war es denn selbst, die sich in seiner Vergangenheit
oft als Quelle eines bis in die zarte Kindheit zurückreichenden psychischen
Siechthums, oft als der Grund der späteren Handlungsweisen und Erlebnisse
des Kranken nachweisen lässt, die sich ebenso gut in unordentlichem Lebens-
wandel, in Müssiggang, Lust an Modethorheiten und Genusssucht, in politischer
Ueberspannung, wie in religiöser Schwärmerei und ascetischer Selbstquälerei
oder in misslichen Lösungen von Freundschafts- oder Liebes-Verhältnissen,
und endlich in dem moralischen Banquerott eines in Thorheiten vergeudeten
Lebens kund thun konnte. Denn auf den näheren Inhalt, den die Gemüthsbewegung
durch ihre äusseren Ursachen erhält, kommt am Ende wenig an; jedes Geschlecht,
jeder Stand, jedes Individuum holt sich seine geistigen Wunden auf dem Kampf-
platze, den ihm die Natur und die äussern Umstände angewiesen haben, und
[128]Wirkungsweise der
Jeder hat wieder einen andern Punkt, auf dem er am verletzlichsten ist, eine
andere Sphäre, von der am leichtesten heftige Erschütterungen ausgehen, der
eine sein Geld, der andere seine äussere Werthschätzung, der dritte seine
Gefühle, seinen Glauben, sein Wissen, seine Familie und dergl. m. — Nicht nur
aber Gemüthsaffecte und Leidenschaften, sondern namentlich auch die ihnen folgenden
Erschöpfungszustände des Gefühls sehen wir häufig dem Irresein vorangehen.
Wo nicht eine starke Intelligenz die Blasirtheit, die erworbene geistige Kälte
und Interesselosigkeit zu beherrschen vermag, da endigen jene Seelenzustände,
wo Alles kalt und schaal, das Herz erstorben, die Welt leer geworden ist,
ganz gewöhnlich in Melancholie, Selbstmord oder tieferem Irresein.
§. 78.
Die Wirkungsweise dieser psychischen Ursachen ist nun ent-
weder eine directe oder indirecte.
Im ersten Falle werden die Gemüthsbewegungen, überhaupt die
vorausgegangenen psychischen Ereignisse unmittelbar zum Ausgangs-
punkte der Geisteskrankheit, indem sie einen intensiven Irritations-
zustand des Gehirns setzen, der nun andauert. So kann z. B. der
Schrecken, der namentlich der weiblichen Organisation gefährlich ist,
unmittelbar zu einem Irresein Anlass geben, das denn auch die
Hauptcharacktere der physiologischen Effecte des Schreckens, jenen
halb krampfhaften, halb paralytischen Zustand von Erstarrung des
Denkens und Wollens, Jahre lang beibehalten kann. *) Anderemale
werden lange fortdauernde mässigere psychische Verstimmungen, fort-
gesetzter Aerger, Gram, Kummer durch directe Ueberreizung des
Gehirns stationär und gehen, allmählig gesteigert, unmittelbar in das
erste Stadium des Irreseins über, wobei dieses auch häufig den
Einzelcharacter dieser Arten des psychischen Schmerzes beibehält.
Da nun auch, (nach dem vorigen §.) eben die frühere geistige Prä-
disposition im concreten Falle sich häufig nicht von den näheren
psychischen Ursachen scheiden lässt, so sind auch die Fälle hieher-
zuzählen, wo längst vorhandene geistige Bizarrerieen, die dem Indi-
viduum schon lange das Prädicat eines halbnärrischen, eines grillen-
haften Candidaten des Irrenhauses zugezogen, nach und nach ohne
erkennbare weitere Ursache in ein wirkliches Irresein übergehen.
Häufiger entsteht das Irresein indirect, mittelbar, auf einem pa-
thologischen Umwege aus den psychischen Ursachen, so nemlich, dass
diese zuerst anderweitige Abweichungen von den normalen organischen
[129]psychischen Ursachen.
Processen zu Wege bringen, aus denen dann erst die Gehirnkrank-
heit als ein secundäres Resultat hervorgeht. Man bedenke den schon
§. 30. festgestellten Punkt, dass es eben im Wesen der Gemüths-
bewegungen liegt, die Thätigkeiten der Circulations-, der Respirations-,
der Verdauungsorgane in Mitleidenschaft zu ziehen und man wird
alsbald erkennen, wie sich bei Fortdauer, bei grosser Heftigkeit
der Verstimmungen und Affecte leicht bedeutendere Störungen dieser
Functionen ergeben müssen, denen eben diejenigen Individuen
am ehesten ausgesetzt sind, welche (vermöge angeborner oder er-
worbener Disposition) zu Gemüthsbewegungen auf verhältnissmässig
geringe Anlässe am geneigtesten sind. Sehr häufig nun entsteht die
Gehirnkrankheit erst dann, wenn sich nach längeren Schwankungen
eine anderweitige tiefere pathologische Veränderung allmählig aus-
gebildet und consolidirt hat; wir sehen gar nicht selten, wie z. B.
nach einem widrigen Ereigniss, das zunächst allerdings die cerebralen
Processe in Unordnung brachte, der Mensch geistig wieder beruhigter
wird, aber nun zu kränkeln, an verschiedenen andern Organen zu leiden
anfängt, und nun erst nach Jahren, mit der immer zunehmenden
Verschlechterung der ganzen Constitution, mit vollendeter Ausbildung
anderweitiger chronischer Krankheiten, sich Seelenstörung einstellt.
Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber
innerlich verschlossenen psychischen Schmerzzuständen; jene ver-
schluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit
Lächeln, mit Hochmuth und Lüge bedeckt geblieben sind, geben sich
fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung schwererer chroni-
scher Krankheiten kund, denen dann erst secundär die Gehirnaffection
folgt. Wir sehen, wie unter solchen Umständen der Mensch anfängt,
abzumagern, wie die Verdauung schlecht, die Darmfunction geschwächt
wird, wie sich Schlaflosigkeit, Palpitation, Hüsteln, allerlei Sensibili-
tätsanomalieen, mässige Kopfcongestionen, ein mürrisches, hypochondri-
sches Wesen einstellen; wir sehen namentlich beim weiblichen Ge-
schlecht Menostasie oder Unregelmässigkeit der Periode, Neuralgieen und
den Symptomencomplex der Hysterie auftreten; wir sehen, wie Krankheits-
anlagen, die bisher geschlummert hatten, Tuberculose, chronische Herz-
krankheiten und dergl. nun geweckt oder rasch gesteigert werden, und wie
erst aus diesen pathologischen Mittelgliedern zwischen erster Ursache und
letztem Resultat sich als solches endlich Geisteskrankheiten ergeben.
Es erklären sich alle diese Verhältnisse aus dem Einflusse der Nerven-Centra
auf die ganze Oeconomie, und es ist begreiflich, dass derartige Folgen der Ge-
müthsbewegungen in den Lebens-Perioden am häufigsten und gefährlichsten sind,
Griesinger, psych. Krankhtn. 9
[130]Der Missbrauch der geistigen Getränke
wo gerade der Organismus den meisten Aufwand zu seiner normalen Entwicklung
und Weiterbildung zu machen hat und wo er überhaupt am erkrankungsfähigsten
ist, in der Pubertätszeit, in der Schwangerschaft, dem Wochenbett, der clim-
acterischen Periode etc.
Drittes Capitel.
Gemischte Ursachen.
§. 79.
1) Die Trunksucht steht zwischen den psychischen und soma-
tischen Ursachen in der Mitte; ihre Wirkungen gehören, wie zu
den mächtigsten, (Halloran fand unter 747 Fällen bei mehr als
einem Fünftheil diese Ursache, Prichard und Esquirol schreiben
sogar die Hälfte der Erkrankungen in England der Trunksucht
zu, Jakobi und viele andere Beobachter fanden auch in Deutsch-
land und andern Ländern die Zahl sehr bedeutend, Rush gibt sie
als bei einem Drittheil der Kranken des Pensylvania-Hospitals an,
Bergmann in Hannover etwa zu einem Sechstel,) — so auch zu
den complicirtesten. Einestheils nemlich wirkt das Uebermass der
Spirituosa rein somatisch theils direct, durch Ueberreizung und
Ernährungs-Veränderung (Schrumpfen der albuminösen Gebilde durch
den Alcohol?) des Gehirns, durch Entwicklung chronischer Stasen
in der Schädelhöhle, theils indirect, durch Ausbildung des Säufer-
scorbuts, der fettigen Entartung der Leber, der schwereren Magen-
krankheiten, damit durch völlige Zerrüttung der Constitution. Andern-
theils aber führt die Trunksucht auch wichtige psychische Ursachen
herbei, theils in jenen Aufregungen, tollen Streichen, Händeln,
Raufereien, denen der Trunkenbold sich leicht aussetzt, theils in
den traurigen psychischen Eindrücken, die ihm die gewöhnlichen
Folgen der Trunksucht, häuslicher Unfriede, Ruin der Geschäfte,
Untergang des Familienlebens, äussere Geringschätzung allmählig
aufdringen müssen. Als ein drittes Moment endlich ist der Umstand
wohl zu beachten, dass in vielen Fällen die Trunksucht selbst
schon die Folge solcher Eindrücke, des häuslichen Kummers, des
Grams, des Aergers und Verdrusses ist, für die eben in der
Flasche Ersatz und Erleichterung gesucht wird, wo es denn, beim
gemeinsamen Fortwirken zweier so wichtigen Ursachen, gewöhnlich
am schnellsten zur Ausbildung des Irreseins kommt.
[131]als Ursache des Irreseins.
Diese letzteren Fälle scheinen namentlich die Entstehung der gewöhnlichen,
mehr chronischen Geisteskrankheiten zu begünstigen, während es zur Entstehung
des s. g. Delirium tremens weit weniger der Mitwirkung solcher widriger
psychischer Einflüsse — wo sie vorhanden sind, ist desshalb ihre Wirkung nicht
gering anzuschlagen — zu bedürfen scheint. Die leztere Form entsteht auch
sehr häufig unter Umständen, welche bei Säufern eine plötzliche gezwungene Ent-
haltsamkeit und schwächende Behandlung nothwendig machten; sie bildet namentlich
eine unangenehme Complication der acuten Krankheiten (Pmeumonie) der Säufer,
während unsers Wissens eine Ausbildung eines mehr chronischen Irreseins niemals
dadurch beobachtet wird, dass, sei es freiwillig oder gezwungen, die Gewohnheit
des Trinkens plötzlich unterbrochen wird.
Dass jeder höhere Grad von Berauschung, als ein traumartiger Zustand mit
zahlreichen Illusionen und Hallucinationen, schon an und für sich ein wirkliches
Irresein darstellt, versteht sich von selbst; zuweilen sieht man, wie einzelne Indi-
viduen, schon nach verhältnissmässig geringem Genuss des Spirituosa, jedesmal
nicht gerade in tiefe Berauschung, sondern bei wohl erhaltenem Bewusstsein, in
grosse Neigung zu ganz extravaganten, tollen und närrischen Streichen gerathen:
ein Umstand, der wohl als ein Zeichen von Prädisposition zu Geisteskrankheit zu
betrachten ist. Mitunter brechen bei Betrunkenen plötzliche convulsivische Zu-
stände, ähnlich epileptischen Anfällen aus, denen bald ein Zustand von Gedanken-
losigkeit und ruhigem Delirium, bald Ausbrüche heftiger Raserei folgen, was
man die convulsivische Form des Rausches genannt hat. *)
Der Gewohnheitssäufer, bei dem es schon weit gekommen ist, zeigt übrigens
auch, wenn er gerade nicht betrunken ist, viele Merkmale, die auf ein fort-
dauerndes chronisches Gehirnleiden hinweisen und die ihn den Geisteskranken
sehr nähern, wie denn auch sein Zustand ganz allmählig in Irresein, namentlich
Blödsinn übergehen kann und im Gehirne des habituellen Säufers sich, wie bei
vielen Irren die Resultate passiver Stasen, die chronisch entstandenen Trübungen
und Verdickungen der zarten Hirnhäute, constant vorfinden. Der durch Gewohnheit
unterhaltene Trieb ist im Säufer so mächtig, die Vorstellungen, die ihm entge-
gentreten könnten, sind so schwach und damit der Wille so lahm geworden, dass
er, obwohl er weiss, wie er sich entehrt und verächtlich macht, wie er seine
Gesundheit untergräbt, seinen häuslichen Frieden zerstört, sein Geschäft zerrüttet,
doch jeden Tag wieder den vielleicht gefassten guten Vorsatz hintansetzt. Die
Eingenommenheit, der Schwindel, die Stumpfheit der Sinne, die Muskelschwäche,
die Magenbeschwerden, an denen er leidet, werden durch den jedesmaligen Ge-
nuss momentan beschwichtigt, und gerade dadurch, dass jeden Tag wieder solchen
Leiden abzuhelfen ist, scheint sich die Trunksucht häufig zu befestigen. Wie
aber tiefere psychische Erregungen sehr häufig noch im Stande sind, den er-
schlafften Willen wieder aufzurichten, wie einerseits Beschämung, Reue, das
erweckte Bewusstsein des Ekels und Abscheus, den der Trunkenbold erregt,
andrerseits die Aussicht auf sittliche und bürgerliche Rehabilitation zu geistigen
Triebfedern einer völligen Rückkehr werden können, das zeigt das grosse Bei-
spiel der Mässigkeitsvereine, wo der geschwächte Wille des Einzelnen in der
9 *
[132]Elend und Entbehrungen.
Ermunterung durch dss Beispiel Vieler, in der Macht der öffentlichen Sittlichkeit
und des erwachten öffentlichen Gewissens Kraft und Stütze findet. *)
Die Trunksucht ist natürlich beim männlichen Geschlechte eine viel wichtigere
und häufigere Ursache des Irreseins, als bei den Weibern; doch kommen auch
hier, nicht nur unter dem Pöbel oder in der Classe der Prostituirten — wo ohne-
diess der Säufer-Wahnsinn nicht eben selten ist,— sondern auch in den höheren
Ständen bei hysterischen Weibern, namentlich in den climacterischen Jahren,
Beispiele von Trunksucht und daraus entstandenem Irresein vor. Sutton erzählt
einen Fall, wo bei einer Frau nach einem übermässigem Gebrauch von Lavendel-
tinctur gegen Schlaflosigkeit das Delirium tremeus ausbrach.
Die eigentliche sogenannte Dipsomanie oder periodische, intermittirende
Trunksucht, gehört nicht zu den Ursachen, sondern ist vielmehr selbst Symptom eines
periodischen Irreseins. Man hat nemlich einzelne Fälle beobachtet — und auch wir
kennen einen solchen — wo von Zeit zu Zeit anfangs unter allerlei nervösen Symp-
tomen, Kopfschmerz, grosser Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ekel, nagenden
Empfindungen in der Magengegend sich grosse, geistige Verstimmung, allgemeines
Missbehagen, ein Zustand mässiger Schwermuth einstellen, wo dann nach kurzer
Zeit der Kranke unruhig wird, anfängt in Wirthshäusern herumzulaufen, und sich,
meist mehrere Tage anhaltend fort, stark betrinkt. Der Rausch steigert sich
nun gewöhnlich zu einem maniacalischen Anfall, aus dem dann der Kranke bald
schnell bald erst später in tiefer Apathie erwacht und nun oft lange einen wahren
Abscheu gegen Spirituosa zeigt. Gewöhnlich wiederholen sich solche Anfälle.
Bei ihrer Beurtheilung ist namentlich auf die An- oder Abwesenheit eines vor-
ausgegangenen Stadium melancholicum und auf den Umstand zu achten, ob der
Kranke sonst durchaus mässig lebt oder auch Neigung zum Trunke zeigt. Im
letztern Falle ist die Entstehung des Sauf-Raptus aus Krankheit immer im
höchsten Grade problematisch. **)
§. 80.
2) Eine in ähnlicher Weise complicirte, zugleich direct psychische
und somatische Wirkung, wie die Trunksucht, übt überhaupt das in
äusserer Unruhe und Sturm, in Unordnung und Liederlichkeit
hingebrachte Leben aus, und Elend und Entbehrungen schliessen
sich hieran als höchst wichtige und häufig allein nachweisbare Ur-
sachen an. Wie häufig ergibt sich bei Betrachtung der Antecedentien
der Irren, ein regelloses, in wechselnden Abentheuern, unstetem Treiben
und sonderbaren Verwicklungen hingegangenes Leben, voll Glücks-
wechsel, Strapazen, Elend und Ausschweifungen, voll von Verhältnissen,
die eine reiche Quelle von Conflicten mit der Welt, von Gemüths-
aufregungen und inneren Bedrängnissen werden mussten. Wie häufig
[133]Sexuelle Excesse und Onanie.
sind es die Entbehrungen, die die Armuth mit sich bringt, die
zu Seelenschmerz und Verzweiflung führen, in denen der Mensch das
Elend der Verhältnisse kaum mehr zu überschauen, dem Jammer nicht
mehr Stand zu halten vermag, und nun in Melancholie, Selbstmord,
oder tieferes Irresein versinkt. Wie aber alsdann nicht nur diese
psychischen Einflüsse, sondern auch die gleichzeitige schlechte Er-
nährung, der Hunger, die Kälte, die körperliche Ueberanstrengung
als direct somatische Krankheitsursachen hoch anzuschlagen sind, so
treffen auch gewöhnlich bei dem unordentlichen und regellosen Leben,
sei es ein selbstverschuldetes, oder (wie z. B. bei den Anstrengungen
der Feldzüge, den Kriegsstrapazen) ein gezwungenes, diese beiderlei
schädlichen Einflüsse zusammen.
3) Eine ähnliche, doppelt verderbliche Wirkung haben die sexuel-
len Excesse durch die häufig damit verbundene psychische Aufregung
und durch die körperliche Erschöpfung, und ebenso verhält es sich
mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache
des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degra-
dation abgiebt. *) Ohne die Säfteentziehung und die directe Ein-
wirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rücken-
mark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den
traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schäd-
licheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen.
Jenes Kämpfen gegen einen Trieb, der schon übermächtig geworden,
jenes stete Unterliegen, jener verborgen gehaltene Zwiespalt zwischen
Scham, Reue, gutem Vorsatz und zwischen dem gebieterischen Reize
halten wir, nach nicht wenigen Geständnissen von Onanisten, für
unbedingt wichtiger, als das erste, direct somatische Moment. Der
Antheil, den beide Wirkungsweisen haben, lässt sich im einzelnen
Falle nicht ausscheiden; der Effect der Onanie scheint aber überhaupt
um so grösser, in je früherem Lebensalter durch sie die Constitution
verschlechtert wird, je mehr sie von jenen schmerzlichen Gemüths-
bewegungen begleitet ist und je mehr sie zur Ursache localer Er-
krankung der Genitalien (§. 86.) wird. Wo diese 3 Momente fehlen,
hat die Masturbation meist keine schwereren Folgen.
[134]Die somatischen Ursachen.
Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten,
dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta-
dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten
Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum-
treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom,
nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da,
wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er-
scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer
schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems
anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange
vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit
Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119)
mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes-
krankheiten zusammentrifft.
Viertes Kapitel.
Somatische Ursachen.
§. 81.
Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage,
ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent-
stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge-
hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in
Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau
de Jonnès einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits *) ge-
führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche
Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je
unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind **)
und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank-
heiten getrennt wird ***). — Es ist keine Frage, dass das Irresein
in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass
andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente
weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten
führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann
[135]Nervenkrankheiten.
häufig, doch nicht gerade immer, nachweisen; sie kündigt sich
oft, ausser den oben aufgeführten Erscheinungen, durch leichtes
Entstehen von Delirien, schon bei mässigen acuten Erkrankungen an.
Bei dergleichen Individuen kann denn nun auch, entschiedenermassen,
jede bedeutendere körperliche Erkrankung durch secundäre Gehirn-
affection Anlass zum Irresein werden; umgekehrt aber wirken die
somatischen Ursachen nicht nur in dieser Weise Krankheits-erregend
bei schon anderweitig Disponirten, sondern durch sie selbst werden
auch wieder Dispositionen erzeugt, die dann oft erst durch psychische
Ursachen in die Krankheit selbst übergehen.
Diese somatischen Ursachen bestehen theils in noch physiologi-
schen Zuständen, welche überhaupt eine leichtere Erkrankbarkeit setzen
(z. B. Wochenbett), theils schon ausgebildeten, acuten, oder mehr
noch chronischen Krankheitszuständen (z. B. Tuberculose), theils in
gewissen äusseren Beeinträchtigungen und Schädlichkeiten (z. B. Kopf-
verletzung). Wir beginnen ihre Aufzählung mit denen, welche direct
vom Nervensystem aus wirken.
§. 82.
1) Entstehung des Irreseins durch andere Nervenkrank-
heiten. Alle Erkrankungen des Gehirns, auch wenn sie anfangs
durchaus nicht den Character der Geisteskrankheiten haben, können
im weiteren Verlaufe zu solchen werden. Die acute Meningitis
darf sich nur als chronische, d. h. in dem Liegenbleiben, den Meta-
morphosen und weiteren Folgen ihrer Exsudate, festsetzen, um un-
mittelbar als Geisteskrankheit zu erscheinen. Die verschiedenen Er-
krankungen des Gehirns, welche der Epilepsie zu Grunde liegen,
sind theils von Anbeginn an mit entschiedenster Geistesstörung ver-
bunden — intermittirende Anfälle der letzteren können sogar den inter-
mittirenden Convulsionen vorangehen — theils kann das Fortschreiten
jener Krankheitsprocesse (entweder so, dass sich die ursprünglich im
Innern gelegene Affection, z. B. die chronische Entzündung, nach
den Oberflächen ausdehnt, oder durch consecutive Atrophie des Ge-
hirns etc.) ein, erst nach langem Bestehen der Epilepsie beginnendes
Irresein erzeugen *) Aehnlich verhält es sich mit den apoplecti-
schen Heerden: sie können neben den Lähmungen etc. ein Irresein
(fast immer in der Form des Blödsinns, doch auch der Manie) theils
primär, von Anbeginn an, theils erst durch jene secundären Degenera-
[136]Kopfverletzungen.
tionen, die das Gehirn durch ihre Anwesenheit erleidet, zur Folge
haben; mitunter ist die geistige Störung eine sehr begrenzte, betrifft
z. B. nur die Reproduction einzelner Vorstellungsreihen, kann sich
aber von hier aus zu allgemeiner tieferer Geistesschwäche ausbreiten.
Von grosser Wichtigkeit sind anerkanntermassen alle schweren
Kopfverletzungen, mögen sie nun in Knochenbrüchen, Blutextra-
vasaten, Verlust an Gehirnsubstanz etc., oder in blosser Erschütterung
bestehen. Während die schwersten unter ihnen meistens schon im
Beginn und mit der Erholung des Kranken ihre geisteszerrüttenden
Folgen (Blödsinn, Blödsinn mit Manie und dergl.) erkennen lassen,
stellen sich diese in andern Fällen oft erst viel später, 1, 2, 6, sogar
10 Jahre nach der Verletzung ein. Gewöhnlich mögen es hier kleine,
liegengebliebene, in eingedicktem Zustand lange unschädlich ge-
tragene Eiterheerde, oder kleine apoplectische Cysten, sein, um welche
sich später, aus irgend einer Ursache, eine nun allmählig um sich
greifende Entzündung der Häute oder der Gehirnsubstanz einstellt; an-
dere male ist es die langsame Bildung einer Exostose, einer Geschwulst,
oder eine schleichende Caries des Schädels, von der aus sich Hyperä-
mieen und exsudative Processe weiter verbreiten. Zuweilen aber
lässt sich auch nichts Solches wahrnehmen; ohne anatomische Ent-
artungen scheinen einzelne Fälle von Erschütterung im Gehirne
solche Folgen zurücklassen zu können, dass es noch nach Jahren
eine leichte Erkrankungsfähigkeit behält, aus welcher dann nach den
mässigsten weiteren (z. B. psychischen) Ursachen sich das Irresein ergibt.
Es ist wenigstens durchaus nicht selten, dass man von den Angehörigen der
Kranken bei näheren Nachfragen frühere, oft wieder in Vergessenheit gerathene,
derartige Ereignisse erfährt, einen schweren Sturz vom Pferde, einen Fall oder
Stoss an den Kopf, dem längere Betäubung folgte und dergl.; *) zuweilen fällt es
nun erst der Umgebung auf, dass sich von dort an sogleich leise Veränderungen
des Charakters an dem Kranken zeigten, leichte Aergerlichkeit, Neigung zum
Zorn etc., die aber wenig beachtet wurden und in ihrer wahren Bedeutung, als
Vorläufer eines Irreseins, kaum mit dessen Ausbruche anerkannt werden.
An jene durch langsame Knochenkrankheit in Folge von Verletzung entstan-
denen Fälle schliesst sich das Irresein durch Caries des Schädels aus inneren
Ursachen, namentlich durch Caries des Felsenbeins, innere Ohrentzün-
dung etc. an, welche sich eben am Ende auf die Meningen verbreitet. Jacobi**)
[137]Nervenverletzungen
hat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung
oder Besserung zu.
Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die
Insolation erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn-
hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des
Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis *) erzählt
2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der
andere mit Blödsinn endigte.
Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo
das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss-
mässig unbedeutenden peripherischen Nervenverletzung (über-
haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener
Erkrankung der (Sinnes-) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent-
stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz
ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz-
splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen
Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus **) beobachtet;
so berichtet Foville ***) von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er-
krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen
Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der
(schon p. 108) angeführte Fall von Jördens †), wo ein Knabe durch
kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward,
und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die
von Zeller ††) erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf-
wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen †††). Indem
diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während
der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch
entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks-
leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die
verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden,
Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend.
Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend
fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus;
[138]Spinalneurosen.
in ersterer Beziehung z. B. jener merkwürdige Fall von Esquirol (die
Geisteskrankheiten, v. Bernhard. I. p. 153.), wo nach einem starken
Geruchseindrucke die Manie ausbrach; in zweiter Reihe z. B. die
Irritation von den Gedärmen aus durch Tänia und andere Entozoen,
vielleicht der Pruritus chronicus.
§. 83.
Früher bestandene Spinalneurosen können zu wichtigen Ur-
sachen des Irreseins werden, mögen sie in Zuständen ausgebildeter
Hysterie oder nur in beschränkteren Krampf- oder neuralgischen
Leiden bestehen. Geisteskrankheiten scheinen hier ebenso durch all-
mählige Ausbreitung über grössere Parthieen der Nervencentra, — ein
Fall, in dem sich manche Hysterische befinden — als durch rasches
Umspringen von einer Stelle zur andern entstehen zu können; im
letztern Falle können Irresein und andere nervöse Beschwerden oft,
sogar periodisch, miteinander wechseln. So erzählt Brodie *) von einer
Dame, die ein Jahr lang an anhaltendem Krampf des M. sternocleido-
mastoideus litt; plötzlich hörte er auf und sie verfiel in Schwermuth;
dieser Zustand dauerte wieder ein Jahr lang; worauf sie sich psychisch
erholte und der Krampf des Muskels zurückkehrte, der nun mehrere
Jahre anhielt; in einem andern Falle von Brodie wechselte ein neural-
gischer Zustand der Wirbelsäule mit wahrem Irresein.
Auch unter denjenigen Fällen, wo die Erkrankung von den Schrift-
stellern der Gicht zugeschrieben wird, mögen nicht wenige sein, die
auf einer Verwechslung der vagen, wandernden Spinalneuralgieen mit
jenem dyscrasischen Leiden beruhten. Die wichtigsten, hierher-
gehörigen Zustände aber, die zu Ursachen von Geisteskrankheit werden
können, sind die Wechselfieber. **). Von Sydenham bis heute wurden
nicht wenige solche Fälle, welche mit dem Processe der Intermittens
zusammenhängen, beobachtet, unter denen jedoch ein verschiedenes
Verhalten zu jenem Processe unterschieden werden kann- In der
einen — kleinsten — Reihe von Fällen verhält sich die Sache so,
dass an Orten, wo Wechselfieber endemisch sind, einzelne Individuen
[139]Wechselfieber als Ursachen.
statt von der gewöhnlichen intermittirenden Neurose, gleich von vorn
herein von einem intermittirenden Gehirnleiden befallen werden, das
sich in regelmässigen (tertianen, quartanen) Anfällen von Irresein aus-
spricht, (sogen. Intermittens larvata). Hier ist also nicht ein be-
standenes Wechselfieber, sondern die endemische Wechselfieber-
Ursache, auch die Ursache des Irreseins. — Anderemale treten nach
längerem oder kürzerem Verlauf eines gewöhnlichen Wechselfiebers,
statt der bisherigen Frost- und Hitzeparoxismen, nun — gleichsam
durch einen Umsprung der Affection — intermittirende Paroxismen
von Irresein auf (heftige Anfälle von Tobsucht mit Wuth, auch rasche
Selbstmorde im Anfall), Zustände, welche mit Rücktreten der ent-
schiedenen Periodicität, nicht selten den remittirenden und anhalten-
den Typus annehmen und in chronische Geisteskrankheiten übergehen.
— Endlich drittens, und zwar am häufigsten, tritt das Irresein als
Nachkrankheit eines beseitigten Wechselfiebers, entweder früher in
der Reconvalescenzperiode, oder erst Monate, sogar Jahre lang nach
dem Aufhören der Intermittens, auf. Namentlich sind es sehr lange
dauernde, und schwere (besonders Quartan-) Fieber, von denen
Störungen zurückbleiben, welche Irresein erzeugen können. Offenbar
sind diese Störungen nicht immer dieselben. Schon die heftige Er-
schütterung des Gesamtnervensystems während der Anfälle kann eine
bedeutungsvolle Disposition zu leichten späteren Erkrankungen setzen,
die nur unbedeutender, neuer Ursachen zur wirklichen Krankheits-
entstehung bedarf. Es kann sich ferner, in Folge der Gehirnhyperä-
mie während der Anfälle, eine Neigung zu chronischem Bestehen oder
leichtem Eintreten solcher Hyperämieen ausbilden; endlich — und
diess Verhältniss möchten wir für das gewöhnlichere halten — die
von dem Wechselfieber her rückgebliebenen Anschwellungen der Milz
und der Leber erzeugen Störungen in der venösen Circulation, wo-
durch nicht nur mechanische Hyperämieen, sondern auch Oedeme
verschiedener Theile gegeben werden. Diese können ebensowohl in
der Schädelhöhle, wie (häufiger) in den untern Extremitäten sich ein-
stellen und es spricht für die Ausbildung des Irreseins eben auf diesem
Wege der Umstand, dass gewöhnlich diejenige Form desselben ent-
steht, welche häufig auf Gehirnödem (mag dasselbe auch aus andern
Ursachen enstanden sein) beruht (Melancholie mit Stupor).
Ein viertes, hier zu erwähnendes, wenn gleich nicht zu den Ursachen gehö-
riges Verhältniss besteht darin, dass statt eines bestehenden (chronischen) Irre-
seins Anfälle von Intermittens kommen, und mit diesen die Krankheit aufhört
(sogen. critische Bedeutung der Wechselfieber). Jakobi hat 3 solche Fälle mit-
[140]Blutveränderungen
getheilt. — Wie als sogen. Wechselfieberlarven Paroxismen von Irresein
vorkommen, so auch andere schwere, intermittirende Neurosen, Paralysen, Epi-
lepsieähnliche, tetanische Zustände (Vgl. Mongellaz, l. c.). Ebenso sind Fälle
bekannt, wo als Nachkrankheiten der Intermittens anderartige, bedenkliche
Nervenleiden auftreten (Gliederzittern, subparalytische und paralytische Zustände) *).
Weiter schliessen sich an diese Nachkrankheiten der intermittirenden Fieber auch
die üblen Folgen der schweren anhaltenden Fieber, namentlich eines über-
standenen Typhus an. Alle Beobachter stimmen in Bezug auf die Wichtigkeit
dieses Verhältnisses überein (Jakobi z. B. schreibt bei ⅛ seiner Tobsüchtigen
die Erkrankung den Folgezuständen typhoser Fieber zu), und wenn sich gleich in
manchen Fällen durchaus nicht bestimmen lässt, ob jene Erkrankungen in wah-
rem Typhus bestanden, so finden sich allerdings unverhältnissmässig oft unter
den Antecedentien der Irren schwere fieberhafte Erkrankungen mit Delirien,
Stupor etc. vor. Solche Fieber mögen durch directe Beeinträchtigung des Central-
Nervensystems ebenso, als durch den ihnen oft lange folgenden anämischen,
cachectischen Zustand zu Krankheitsursachen werden.
§. 84.
2) Auch Blutalterationen — im weiteren Sinn dyscrasische Zu-
stände — können unzweifelhaft zu Ursachen des Irreseins werden.
Vor Allem gehören hierher alle Zustände von Exaninition und allge-
meiner Anämie, wie sich solche nach langem Hunger und Elend,
nach selbsterzwungenem Fasten (religiöser Ascese in früheren Zeiten)
nach grossen Blutverlusten (z. B. bei der Geburt), nach zu lange fort-
gesetzter Lactation und dergl. bilden und ebenso sehr häufig zu Ur-
sachen anderer hartnäckiger Neurosen, namentlich Spinalirritationen,
werden.
Für so bedeutsam wir diese Zustände halten, und so sehr wir demgemäss
die „asthenische Natur“ sehr vieler Geisteskrankheiten anerkennen, so ist es
uns doch auffallend, dass kaum Fälle von Entstehung wirklichen Irreseins bei
eigentlich Chlorotischen, wo Anämie, Menostasie, allerlei psychische Ursachen so
oft zusammentreffen, bekannt sind. — Dass mit jenen allgemein anämischen Zu-
ständen hartnäckige locale Hyperämieen, namentlich in der Schädelhöhle, sehr
wohl gleichzeitig bestehen können, braucht nur für diejenigen bemerkt zu werden,
in deren medicinischem Denken die Vorstellungen Hyperämie und Blutentziehung
einen unlöslichen Bund geschlossen haben.
Weiter ist hier die constitutionelle Siphilis, gemeinhin als Blut-
alteration aufgefasst, zu erwähnen. Sie kann niemals in anderer Weise,
als durch schwerere Vegetationskrankheiten, durch Caries des Schädels
oder des innern Ohrs, durch Exostose am Cranium und dergl. zu einer
entfernteren Ursache von Geisteskrankheiten werden, ist aber eben
in dieser Beziehung aufs ernstlichste zu berücksichtigen. — Eine eben
[141]als Ursachen.
so häufige als wichtige Ursache bildet jene, in neuerer Zeit als
Atherosis bezeichnete dyscrasische Disposition zu dem eigenthüm-
lichen Erkranken der Arterien, das mit Verkalkung der Gefässwan-
dungen endigt. Einestheils setzt diese Erkrankung, wenn sie die
Arterien in der Schädelhöhle befällt, bedeutende unmittelbare Circu-
lationsstörungen im Gehirn, namentlich eine Verlangsamung des
Kreislaufs in ihm; andrerseits kommen eben hier gleichzeitig die
schwersten organischen Herzkrankheiten vor, deren übler Einfluss
bekannt ist.
Auch mit diesem Verhältnisse fällt die von den Schriftstellern als Ursache der
Geisteskrankheiten aufgeführte Gicht zum Theil zusammen. — Die Cholämie ist
zwar von sehr bedeutendem Einflusse auf die psychischen Thätigkeiten, namentlich
sieht man Angst, Neigung zum Zorn und Zank, Gleichgültigkeit, bösartige
Launen, später auch Delirien, beim acuten Icterus auftreten; indessen wüssten
wir nicht, dass wirkliches Irresein hieraus zurückgeblieben oder sich entschieden
als Folge chronischer Gelbsucht gebildet hätte. — Die Tuberculose wird im
folgenden §. besprochen. — Was das Pellagra betrifft, welchem in Oberitalien
etwa die Hälfte der Geisteskranken angehören soll, so wird man, bei den grossen
Meinungsverschiedenheiten, die über diese Krankheit unter den Aerzten jener
Gegenden selbst herrschen, einen Arzt, der dasselbe nicht selbst beobachtet hat, *)
von einer näheren Besprechung desselben dispensiren.
§. 85.
3) Unter den Erkrankungen der Eingeweide, welche eine
secundäre Gehirnaffection mit dem Symptomencomplex des Irreseins
setzen können, stehen oben an die Brustkrankheiten und unter
ihnen wieder alle Erkrankungen des Herzens. **) Ungleiche Blut-
vertheilung und ungleiche Schnelligkeit der Strömung in verschiedenen
Organen sind ihre directen Folgen, aus denen sich rasch verlaufende
[142]Brustkrankheiten.
oder dauernde Hyperämieen, Oedeme etc. im Gehirn, wie in den
übrigen Organen ergeben. — Eine eben so grosse Bedeutung schreiben
wir den Lungenkrankheiten, besonders der häufigsten unter ihnen,
der Tuberculose, in Uebereinstimmung mit Esquirol *), Bergmann **)
und vielen andern Beobachtern, zu. Vielfache Erfahrungen zeigen
hier ein doppeltes Verhältniss.
In der einen — und nach unsern Erfahrungen grösseren —
Reihe von Fällen bilden sich Geisteskrankheiten aus mit dem Beginn
oder doch in den ersten Stadien der Lungentuberculose, welche dann
meist noch nicht erkannt wird, und sich für den weniger aufmerk-
samen Beobachter auch später, von den Symptomen der Geistes-
Krankheit überdeckt, kaum durch den zunehmenden Marasmus und
das hectische Fieber kund gibt. In andern Fällen bricht das Irre-
sein erst in der späteren Periode der Phtisis confirmata, als Schwer-
muth, häufiger in der Form von maniacalischen Paroxismen aus. Die
Folgen für den Gehirnkreislauf, die sich aus der Behinderung der
Respiration ergeben, und eine veränderte Statik des Cerebrospinal-
fluidums erscheinen, nach dem oben Gesagten, als wichtige
pathogenetische Momente; in andern Fällen mag eine gleichzeitige
Gehirnreizung durch schleichende tuberculose Meningitis das Irre-
sein hervorrufen.
Beispiele von Manie bei Phtisischen s. bei Castel (Nasses Zeitschrift 1819.
p. 421.), Wallach (Caspers Wochenschr. 1844. Nro. 3.) Meding (ibidem. 1845.
Nro. 1.) etc.
Von grossem Interesse sind jene Fälle von Irresein (meist acute
Manieen), welche während des Verlaufs der Pneumonie ausbrechen,
zuweilen im Anfang derselben, häufiger in der Zeit der abnehmenden
Krankheit, gegen die Reconvalescenz hin; sie sind meist von kurzer
Dauer, giengen aber auch schon in chronisches Irresein über, so dass
solche Kranke der Irrenanstalt übergeben werden mussten. ***) Wie
weit in solchen Fällen das ursprüngliche Hinderniss der Respiration,
[143]Unterleibskrankheiten.
wie weit etwa ein deplaçirtes Oedem, wie weit namentlich die durch
ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie
zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor-
liegenden Daten nicht weiter verfolgen.
Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise
bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne;
nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un-
reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der
Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem
Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor
gewarnt werden, dass nicht — wie es schon häufig genug geschah
— aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den
Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon
verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho-
logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana-
tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber-
und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig,
dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch-
gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die
schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf
das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den
deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal-
störungen *) in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn-
Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie
werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung
derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als Folgen der schon vor-
handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen,
andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf-
fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen.
Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des
Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue
unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich
[144]Haut-Nieren-Genitalienkrankheiten.
erinnern, dass, so lange die genauere anatomische Diagnose im ein-
zelnen Falle nicht gemacht ist, sowohl dem ätiologischen Urtheile,
als einer rationellen Therapie jeder sichere Anhaltspunkt entgeht. In
Bezug auf die Casuistik von Fällen nun, wo bei Irren nach dem Tode
Alterationen der Unterleibs-Eingeweide gefunden wurden, müssen wir
auf die reichhaltige Literatur über diesen Gegenstand (z. B. die Schrift
von Buzorini und die Reihe Bonner, unter Nasses Präsidium ausge-
arbeiteter Dissertationen) verweisen, noch einmal daran erinnernd,
dass ein bloss gleichzeitiges Vorkommen ohne alle Einsicht in den
Mechanismus der reciproquen Wirkung nicht genügt, jene Alterationen
als Ursachen des Irreseins zu betrachten.
Das Pellagra bietet ein auffallendes Beispiel des Zusammenvorkommens von
Irresein mit einer Hautkrankheit. Aber jene stets wiederholten Angaben von
Entstehung des Irreseins aus unterdrückten Ausschlägen, in Folge schnell ge-
heilter und vertrokneter Hautulcerationen etc. sind mit grosser Vorsicht und
Critik zu betrachten. Oft sind es die psychischen Ursachen, noch öfter schon
der Beginn des Irreseins selbst, unter deren Einfluss solche äussere Krankheiten
eine Aenderung des Verlaufs erleiden, und am wenigsten darf als von einer
Ursache des Irreseins von der Unterdrückung solcher Exantheme die Rede sein,
die, wie die Krätze, aus rein äusseren Ursachen entstehen.
Der Nierenkrankheiten und der Anomalieen im Chemismus der Urin-
secretion sei hier nur gedacht, um vielleicht genauere Untersuchungen bei den
Irren in dieser Beziehung anzuregen. Es ist bekannt, dass acute und chronische
Nierenkrankheiten, namentlich der Morbus Brightii, nicht selten unter bedeuten-
den Gehirnsymptomen verlaufen; *) einzelne Fälle (Rayer, mal. de reins I. 1839.
p. 523. Friedreich, allg. Pathologie etc. p. 402) von Irresein sind auch bekannt ge-
worden, wo solches offenbar in einem gewissen Zusammenhange mit einem Nieren-
leiden stand; und es fordern die Bemerkungen von Golding-Bird, **) welcher bei
dem Auftreten der Oxalate im Urin constant tiefe geistige Depression beobachtet
hat, zu grösserer Beachtung dieser Secretion auf, als ihr bisher in den Irren-
anstalten geschenkt wurde.
§. 86.
4) Von grosser Bedeutung bei beiden Geschlechtern sind die
krankmachenden Einflüsse, welche vom Genitaliensystem ausgehen.
Nur ausnahmsweise kommen Fälle vor, wo sexuelle Nichtbefrie-
digung und Abstinenz als Hauptursache betrachtet werden muss;
eine Mitwirkung dieses Verhältnisses ist aber, namentlich beim weib-
lichen Geschlecht, nicht selten und namentlich vermag dasselbe dem
aus irgend welchem Grunde ausgebrochenen Irresein einen gewissen
besonderen Anstrich zu geben, indem der lange, zurückgedrängte
[145]Genitalienkrankheiten.
Trieb sich nun gerne in der Form des verliebten und sexuellen
Wahnsinns, bald im idealen Gewande, bald in nackter Lüsternheit,
äussert.
Beim männlichen Geschlechte sind alle jene sexuellen
Derangements, welche man unter dem Namen der unwillkürlichen
Samenverluste, der Pollutio diurna etc. begreift, von grosser
Wichtigkeit. Diese Anomalieen bei denen offenbar in den wenigsten
Fällen der Verlust der spermatischen Flüssigkeit die Hauptsache ist,
beruhen, wie von Lallemand gezeigt wurde, häufig auf localen Er-
krankungen der Urethralschleimhaut, der Samenbläschen etc., in andern
Fällen geht die Störung offenbar vom Nervensystem aus; gewöhnlich
geht ihnen längere Zeit gesteigerter Sexualreiz (übermässige Pollu-
tionen), weniger als ihre Ursache, denn als Zeichen der schon be-
stehenden Irritation voraus; einmal ausgebildet äussern sie sich in
bedeutender Herabsetzung der sexuellen Empfindungen, Abnahme der
Erection, Impotenz, verbunden mit allen möglichen sensitiven und
psychischen Dysästhesieen, deren Gruppe theils eine wahre männliche
Hysterie, theils einen tief hypochondrischen Zustand darstellt.
Durch die Schrift von Lallemand *) veranlasst, haben wir, bei einer
Anzahl männlicher Geisteskranken unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt ge-
richtet — eine kitzliche Untersuchung, da die Kranken in dieser Beziehung ge-
wöhnlich misstrauisch und ihre Angaben unzuverlässig sind und es grosser Vor-
sicht bedarf, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diese Verhältnisse zu
determiniren. Nur bei Einem Kranken gelang es uns, entschiedene Pollutio diurna
(bei der Stuhlentleerung) microscopisch festzustellen; aber so viel hat sich uns
mit völliger Sicherheit ergeben, dass bei einer unerwartet grossen Anzahl eine,
dem Kranken meist sehr fühlbare, Abnahme der sexuellen Empfindungen und des
Geschlechtstriebs, zuweilen auch wirkliche Impotenz, der Ausbildung des Irre-
seins längere Zeit vorausging, wobei es sich freilich fast niemals näher entschei-
den liess, ob solche die Folgen oft vorausgegangener sexueller Excesse und
Missbräuche, oder derjenigen widrigen Gemüthsaffecte, die eben auch zu Ur-
sachen des Irreseins wurden, ob sie die ersten Symptome des melancholischen
Stadiums selbst waren oder von localen Erkrankungen der Genitalien herrührten.
In 2 Fällen, wo das letztere entschieden schien, haben wir die von Lallemand
empfohlene Cauterisation der pars prostatica urethrae vorgenommen, in dem einen
Falle ohne irgend bemerkbaren Einfluss auf die Krankheit, in dem andern besei-
tigte die Operation verschiedene unangenehme Empfindungen in den Genitalien,
worüber der Kranke sehr geklagt hatte **) (Gefühle von beständigem Aus- und
Griesinger, psych. Krankhtn. 10
[146]Krankheitsursachen aus
Einströmen, von Hitze etc.), ohne auf das Irresein einen schnellen günstigen
Erfolg zu äussern.
Beim weiblichen Geschlechte übt die Menstruation und
jede Art ihrer Störung grossen Einfluss auf die Ausbildung und den
Verlauf der Geisteskrankheiten aus. Die einfachsten, aber auch sel-
tensten Fälle sind die, wo bei zuvor gesunden Personen nach
einer schnellen Cessation oder Unterdrückung der Periode acute leb-
hafte Gehirnhyperämie entsteht und unmittelbar damit Geistesver-
wirrung ausbricht. Viel häufiger geht zwar allerdings eine Stockung
der Menses dem Irresein voraus, steht aber mit diesem in keinem
so directen Verhältnisse, sondern ist selbst als Folge der anhalten-
den Gemüthsdepression, als Theilerscheinung eines bestehenden anä-
mischen Zustands, einer andern chronischen Krankheit oder überhaupt
einer Verschlechterung der Constitution zu betrachten, und diese Ver-
hältnisse stellen an sich schon wichtigere Ursachen dar, als die Meno-
stasie. Ebenso kann der zu profuse Monatsfluss durch Anämie und
allgemeine Herabsetzung der Ernährung zur Ursache des Irreseins,
wie jeder andern Neurose werden. — Häufig aber zeigen sich Un-
regelmässigkeiten der Menstruation erst mit dem Beginn des Irreseins
so gut als sie in jeder andern chronischen Krankheit eintreten können,
wie man denn auch bei der Genesung vom Irresein so oft beobachten
kann, dass dieselbe nicht auf den Wiedereintritt der Periode, sondern
dass umgekehrt die Rückkehr der Menstruation auf die bereits zu-
standegekommene Beseitigung des Gehirnleidens folgt. Dauert die
Menstruation während der Geisteskrankheit fort, was oft ohne die
geringste Störung der Fall ist, so wird nicht selten bei ihrem jedes-
maligen Eintritt vermehrte Exaltation, überhaupt allseitige Steigerung
der Geistesstörung beobachtet. In seltenen Fällen hat man nur perio-
disches Irresein während der Menstruation jedesmal mit mehrwöchent-
lichen vollständigem lucidum intervallum beobachtet.
Die Localkrankheiten des uterus, der ovarien, der vagina
(Cysten und andern Desorganisationen, chronische Entzündungen etc.)
haben gewöhnlich erst in Folge ausgebildeter Hysterie ein aus dieser
allmählig entwickeltes Irresein zur Folge, das oft in seinem allge-
meinen Character (Ueberspanntheit zärtlicher Gefühle, Sentimentalität,
Lascivität) oder in einzelnen falschen Gedankenbildungen (z. B. dem
Wahn, schwanger zu sein) deutlich auf seinen Ursprung hinweist.
[147]dem weiblichen Geschlechtsleben.
§. 87.
Die Schwangerschaft, noch mehr der Puerperalzustand
und die Lactation geben aber unter allen Einflüssen aus dem weib-
lichen Geschlechtssysteme die wichtigsten Ursachen des Irreseins ab.
Unter ihnen hat die Schwangerschaft am seltensten ausgebildetes
Irresein in der Form tiefer Schwermuth oder Manie, häufiger einen
nur milden und mässigen psychischen Depressionszustand, der sich
aber oft genug sichtlich als erstes Stadium zu der späteren Puerperal-
Manie verhällt, zur Folge. Die directen psychischen Einflüsse, nament-
lich die gemischten Gemüthsbewegungen, die eine erstmalige Schwanger-
schaft begleiten, können hier von Bedeutung bei vorher Disponirten
sein; aber von viel wichtigerem pathogenetischem Moment scheint
uns die allmählig zunehmende Beeinträchtigung der Respiration durch
das Hinaufgeschobenwerden des Zwerchfells zu sein, welche leicht
Störungen im kleinen Kreislauf und eben damit Störungen der Blutcircu-
lation im Kopfe zur Folge haben kann. Dass eine (subinflammatorische)
Hyperämie der dura mater und der Innenfläche des Schädels in der
Schwangerschaft ganz gewöhnlich, und schon in ihren früheren Perio-
den, zu Wege kommt, diess zeigt die sogen. puerperale Osteophyt-
bildung *) und wir wagen, die definitive Aufklärung dieses Punktes
der pathologischen Anatomie überlassend, die Vermuthung, dass jene
Hyperämieen mechanische, von Circulationsstörung im Thorax her-
rührende seien, wofür wir die Thatsache anführen können, dass die
den puerperalen am meisten gleichenden Schädelosteophyte bei Männern
vorzugsweise mit gleichzeitigen chronischen Brustkrankheiten (Phtisis)
vorkommen.
Schon während der Geburt und von da an im ganzen Verlauf
des Puerperiums können schwere psychische Störungen auftreten,
deren Zusammenfassung als Puerperal-Wahnsinn indessen unzweckmässig
erscheint, da sie in Bezug auf Entstehungsweise und Form weder
etwas vom sonstigen Irresein auf characteristische Weise Distinktes,
noch unter sich gemeinschaftlich Eigenthümliches haben. Vielmehr
ist in practischer Beziehung gerade eine genauere Scheidung dieser
Fälle erforderlich.
Jene Zustände von grosser Aufregung und Tobsucht, die in der
letzten Periode des Geburtsacts selbst vorkommen, und sich meist
in grosser Feindseligkeit gegen das Kind, (Tödtung desselben) äussern,
10*
[148]Wochenbett und Lactation als Ursachen.
dauern niemals länger als einige Stunden oder einen Tag, und man
hat sich nur in gerichtlicher Beziehung ihr wirkliches Vorkommen
zu merken.
Unter den später, aber immer noch am liebsten in den ersten
14 Tagen nach der Geburt, ausbrechenden Seelenstörungen sind
nun die einen als das symptomatische Delirium anderer, schwerer
Puerperalkrankheiten, namentlich der Endometritis, der Phlebitis und
Pyämie, der consecutiven Endocarditis (Kiwisch) etc. zu betrachten —
Fälle, bei denen die Gehirnaffection theils dem übeln Einflusse des
eitriginficirten Blutes, theils deutlicher Kopfcongestion zugeschrieben
werden muss, wo die Seelenstörung zwar zunächst die (bedenkliche)
Prognose der Hauptkrankheit theilt, im Ganzen mit dieser steht oder
fällt, aber doch in einzelnen Fällen, bei erfolgender Genesung von
dem Kindbettfieber, längere Zeit fortdauern kann.
In einer weiteren Reihe von Fällen dagegen entwickelt sich ein
Irresein ohne anderweitige, schwere Puerperalkrankheit, ein von Anfang
an selbständiges Gehirnleiden, entweder in Form der Schwermuth,
namentlich des Raptus melancholicus, oder, besonders wenn schon in
der Schwangerschaft ein psychischer Depressionszustand vorausgegangen,
sogleich in der Form der heitern Aufregung und häufig der nympho-
manischen Ausgelassenheit. Diess hauptsächlich sind die Fälle, die
später zu einem dauernden Irresein von übrigens im Ganzen nicht
ungünstiger Prognose werden. Sie kommen vorzugsweise bei schon
prädisponirten Individuen vor, unter dem Einflusse aller möglichen
determinirender Ursachen, von denen die widrigen Gemüthsaffecte *)
einerseits, die Anämie durch starke Säfteverluste bei der Geburt,
durch Operationen etc. andrerseits offenbar die wichtigsten sind.
Vgl. Esquirol, die Geisteskrankheiten. I. cap. 5. Schneider, über Mania
lactea, in Nasses Zeitschr. für Anthrop. 1823. p. 163. Neumann, Krankheiten
des Vorstellungsvermögens. 1822. cap. 14. Kiwisch v. Rotterau, die Krankheiten der
Wöchnerinnen. II. 1841. p. 228. Helm, Monographie der Puerperalkrankheiten.
1840. §. 28. 46. 53. 75. Sinogowitz, die Geistesstörungen. 1843. §. 25.
Was endlich die Lactation betrifft, so ist die Schwächung
der Constitution durch ein zu langes Säugen als Ursache der ver-
schiedensten schweren Neurosen (Spinalirritationen) in allen mög-
lichen Formen anerkannt, und es sind nun namentlich tiefere oder
anhaltende Gemüthsbewegungen, psychische Prädisposition etc, unter
[149]Schluss der Aetiologie.
deren Zutritt gerade diese Form von Gehirnaffection, das Irresein
unter solchen Umständen entsteht.
Und so mögen sich im Einzelnen dieser Aufzählungen die
allgemeinen Sätze erwiesen haben, dass alle Herabsetzungen der
Ernährung, alle wahren Schwächezustände, dass ferner alle Um-
stände, durch welche das Nervensystem überreizt wird, alle, welche
Congestionen nach den Centralorganen begünstigen, alle überhaupt,
welche die Ausbildung und Fixirung der nervösen Constitution zur
Folge haben, zu Ursachen des Irreseins werden können. Wir
werden diese Sätze bei der Therapie der Geisteskrankheiten wie-
derfinden.
[[150]]
DRITTES BUCH.
Die Formen der psychischen Krankheiten.
§. 88.
Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen,
d. h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränder-
ungen des Gehirns ist derzeit nicht möglich (§. 5.); sondern, wie
die ganze Classe der Geisteskrankheiten nur eine symptomatologisch
gebildete ist, so lassen sich als ihre verschiedenen Arten zunächst
nur verschiedene Symptomencomplexe, verschiedene Formen des
Irreseins angeben. Statt des anatomischen Eintheilungsprincips müssen
wir das functionelle, physiologische festhalten, und dieses wird hier,
da die Störungen des Vorstellens und Strebens die hauptsächlichsten
und auffallendsten sind, zum psychologischen. Nach der Art und
Weise der psychischen Anomalie ist also das Irresein einzutheilen;
während es nun aber die Aufgabe des clinischen Unterrichts ist, die
Mannigfaltigkeit der psychischen Störungen in den concreten Er-
krankungsfällen hervorzuheben und zu analysiren, muss sich die
Nosologie mit der Aufstellung weniger Hauptgruppen psychischer
Störungen, weniger psychisch-anomaler Grundzustände begnügen,
die sich aus der Uebereinstimmung sehr vieler Fälle in gewissen
characteristischen Merkmalen ergeben und auf die sich daher alle
Mannigfaltigkeit des einzelnen Erkrankens zurückführen lässt. Diese
Grundzustände und ihre äussere Erscheinung haben wir hauptsächlich
hier zu schildern, und wenn dabei die Varietäten und die Uebergänge
der einzelnen Formen in einander freilich wohl beachtet werden müssen,
so kann diess doch niemals in erschöpfendem Detail geschehen; eben
[151]Eintheilung der Geisteskrankheiten.
jenes Flüssige der (normalen und anomalen) psychischen Erscheinungen,
auf welchem die Varietäten, Mittelzustände und Uebergänge beruhen,
bildet den interessantesten Vorwurf clinischer Erörterung, lässt sich
aber in den kurzen Expositionen eines Lehrbuchs nicht fixiren.
Zwei grosse Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben
sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten
Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nemlich beruht dasselbe
auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten
und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze
psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modifi-
cationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen
des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht mehr) von dem
Herrschen eines affectartigen Zustandes herrühren, sondern ein,
ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches
Denken und Wollen (meist mit dem herrschenden Character psychi-
scher Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass
die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der
ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe
vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Aus-
gänge der ersteren, bei nicht geheilter Gehirnkrankheit auftreten.
Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe, bei einer grösseren
Durchschnittsbetrachtung, wieder eine gewisse bestimmte Aufeinan-
derfolge der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt
sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in dessen ver-
schiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses
erkennt, welcher zwar durch die mannigfachsten intercurrirenden patholo-
gischen Ereignisse modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann,
im Ganzen aber einen stetig sucessiven Verlauf einhält, der bis zum
gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann. Mittelst dieser —
von Zeller *) am deutlichsten ausgesprochenen — Erkenntniss ist es uns
denn möglich, von dem Wege der Symptomatologie her auch den,
immer in den Vordergrund zu stellenden, Aufgaben der anatomisch-
pathologischen Auffassung und Diagnostik der Geisteskrankheiten näher
als bisher zu rücken. Denn auch die pathologische Anatomie weist
für eine Mehrzahl von Fällen einen gewissen Krankheitsprocess (auf
den Gehirnoberflächen) nach, der sich allmählig an und für sich
und in seinen Producten fixirt und der am Ende zu den schwersten,
anatomischen Alterationen der Gehirnsubstanz fortschreiten kann. So
[152]Allgemeines über
treffen endlich der einfach symptomatologische, der psychologisch-
analytische, und der anatomische Weg der Untersuchung auch in
dem practisch-bedeutsamen Resultate zusammen, dass das Irresein fast
nur innerhalb jener ersten Gruppe primitiver (affectartiger) geistiger
Anomalieen eine heilbare, mit der Ausbildung der der zweiten Reihe
angehörigen, secundären Störungen aber eine unheilbare Krank-
heit ist. Jene erste Reihe enthält die Formen der Schwermuth, der
Tobsucht und des Wahnsinns; die zweite Reihe die Formen der
Verrücktheit und des Blödsinns.
Erster Abschnitt.
Die psychischen Depressionszustände.
Die Schwermuth oder Melancholie.
§. 89.
Das Grundleiden bei allen diesen Krankheitsformen besteht in
dem krankhaften (§. 33.) Herrschen eines peinlichen, depressiven,
negativen Affects, in einem psychisch-schmerzhaften Zustande. Dieser
kann Anfangs, in der reinsten, primitivsten Form der Schwermuth, in
der Art der objectlosen Gefühle von Beklemmung, Angst, Nieder-
geschlagenheit, Traurigkeit andauern, meistens aber geht solche dunkle,
abstracte Gefühlsbelästigung bald in ein einzelnes, concretes, schmerz-
liches Vorstellen aus einander, es erheben sich der Stimmung entspre-
chende, äusserlich unmotivirte (falsche) Vorstellungen und Urtheile,
wahre Delirien von peinlichem, schmerzlichem Inhalt, während gleich-
zeitig das Vorstellen auch formal-abnorm, in seinem freien Flusse
gehemmt, verlangsamt, träge, das Denken monotoner und leerer
wird. Die psychische Reaction gegen die Aussenwelt ist entweder
geschwächt und abgestumpft (psychische Anästhesie, Gleichgültigkeit
bis zum Stumpfsinn), oder in der Weise gesteigert, dass alle psychi-
schen Impressionen schmerzhaft werden (psychische Hyperästhesie),
und sehr häufig kommen Mischungen und Wechsel dieser beiden
Reactionsweisen vor. Vielfache Störungen auf der motorischen Seite
des Seelenlebens schliessen sich weiter hieran; ihre Verschiedenheiten
begründen namentlich die Unterscheidung mehrer Hauptformen me-
lancholischer Zustände: bald ist das Streben direct herabgesetzt und
geschwächt, bald krampfhaft gehemmt (Energielosigkeit, Willenlosig-
[153]die Schwermuth.
keit), bald treten einzelne Triebe und Willensimpulse, denen Stoff
und Inhalt durch die negative Stimmung gegeben ist, auf, bald end-
lich erregt ein höheres Mass des psychischen Schmerzes ausgebreitete,
motorische Impulse von unzweckmässigem, convulsivischem Character,
die sich als höchste Unruhe äussern, mit deren Andauern und wei-
terer Steigerung indessen die melancholischen Zustände einen ganz
andern Character annehmen und in eine andere Form — die Tob-
sucht — übergehen.
Die Beobachtung zeigt, dass die ungemeine Mehrzahl aller psy-
chischen Erkrankungen mit solchen Zuständen tiefer Gemüthsverstimmung
in der Weise eines depressiven, traurigen Affects anfängt. Guislain
hat diese Thatsachen am sorgfältigsten erhoben und am stärksten
premirt; auch wir konnten, mit Ausnahme einiger nach Kopfver-
letzung oder acuter Meningitis entstandener Fälle, immer einen Zu-
stand von Schwermuth als den primären, als den Ausgangspunkt des
weitern Irreseins eruiren, und wir nehmen desshalb keinen Anstand,
von einen Stadium melancholicum als der ersten Periode der
Geisteskrankheiten zu sprechen. Allerdings dauert dasselbe oft nur
kurz, es gibt z. B. Fälle von Manie, denen nur einige Tage lang
grosse Angst, Unruhe, ein Zustand von Verzweiflung vorausgehen;
anderemal wird ein Jahre lang dauerndes melancholisches Stadium
wegen seiner milden Form und zeitweiser Remissionen verkannt;
endlich kommen Fälle vor, wo einem ersten Erkranken in der Form
der Schwermuth eine mehrjährige Periode freien Intervalls folgt, und
nun bei einem zweiten Krankheitsanfall das Stadium der Melancholie
fehlt (Zeller). — Die Melancholie, die das Irresein einleitet, stellt
sich zuweilen als die unmittelbare Fortsetzung objectiv begründeter
schmerzlicher Affecte (psychischer Ursachen des Irreseins) dar, z. B.
der Eifersucht, wo sie sich denn vom Seelenschmerze des Gesunden
eben durch ihr Uebermass und ihr ungewöhnlich langes, von äusseren
Einwirkungen immer unabhängiger und selbstständiger gewordenes
Bestehen unterscheidet. In andern Fällen entsteht die Melancholie
ohne alle psychische Anlässe, am häufigsten aber zwar aus solchen,
aber nicht als ihre directe Fortsetzung, sondern erst nachdem die-
selben mannichfache Störungen der Circulation und Ernährung ver-
anlasst oder die ganze Constitution untergraben haben.
[154]
Erstes Capitel.
Die Hypochondrie.
§. 90.
Die hypochondrischen Zustände stellen die mildeste, mässigste
Form des Irreseins dar, und haben manche Eigenthümlichkeiten, die
sie von den andern Formen der Schwermuth wesentlich unterschei-
den. Denn während sie allerdings mit diesen den Classencharacter
der niedergeschlagenen, traurigen, depressiven Gemüthsverstimmung,
der verminderten Energie des Willens und eines jener Stimmung
entsprechenden Deliriums theilen, so differiren sie auf characteri-
stische Weise dadurch, dass hier die Gemüthsdepression aus einem
starken, körperlichen Krankheitsgefühle hervorgeht, das die
Aufmerksamkeit beständig lebhaft in Anspruch nimmt, dass sich dess-
halb die falschen Urtheile fast ausschliesslich auf den Gesundheits-
zustand des Subjects beziehen, und dasselbe nun in Besorgnissen
eigener schwerer Erkrankung, in ungegründeten und bizarren An-
sichten über die Art und Weise und die Gefährlichkeit dieser seiner
Krankheit delirirt. Jenes körperliche Gefühl des Krankseins ist bald
ein dunkles und allgemeines, bald ist es in einzelne, anomale Sen-
sationen auseinandergegangen; es beruht häufig auf Irritation der
Nervencentra von peripherischen, oft sehr versteckten und dunkeln
Erkrankungen der Eingeweide aus, aber es wird auch central,
durch direct psychische Ursachen hervorgerufen (Lesen medicinischer
Schriften, ansteckender Umgang mit Hypochondristen). Immer wer-
den diese krankhaften Empfindungen durch die Richtung der Auf-
merksamkeit auf sie gesteigert, und bei einigermassen ausgebildetem
Zustande können solche durch die Richtung des Vorstellens auf dieses
oder jenes Organ geweckt, deplaçirt und in jedem Theile des Or-
ganismus neu hervorgerufen werden. — Was den geistigen Antheil
an der Krankheit betrifft, so ist, ungeachtet der Gemüthsverstimmung
und der falschen Vorstellungen, doch die äussere Besonnenheit ge-
wöhnlich lange erhalten, die anomalen Empfindungen und Vorstel-
lungen werden logisch zusammenhängend und consequent verarbeitet,
und mit Gründen, welche doch innerhalb des Bereichs der Möglich-
keit liegen, gerechtfertigt. Eben durch diesen Mangel eigentlicher
Verstandesverwirrung erscheint die Hypochondrie wesentlich als
schwermüthige Folie raisonnante*), deren entsprechenden
[155]Symptomatologie der Hypochondrie.
Gegensatz — die gewöhnlich sogenannte (wahnsinnige) Folie raison-
nante — wir bei den psychischen Exaltationszuständen finden werden.
Dem denkenden und kundigen Leser wird die eigene Einzeldurchführung dieser
Analogie, welche eine das Verständniss fördernde Parallele zwischen beiden
Grundformen krankhafter Gemüthszustände, an die Hand gibt, empfohlen. —
Dass übrigens der Hypochondrie ihre Stelle wirklich nirgends anders als unter
den psychischen Krankheiten, zu denen sie schon von Sauvages und Cullen,
wie von Pinel, Georget und Falret gezählt wurden, gebührt, wird sich aus der
folgenden Symptomotologie von selbst ergeben.
§. 91.
Symptome. Die Stimmung der Kranken fängt an, sich ohne
äussere Motive zu verändern; sie werden niedergeschlagen, verdrossen,
besorgt, mürrisch, zeigen grössere Empfindlichkeit, die Neigung,
Alles auf sich zu beziehen, und fühlen sich leicht von Allem be-
lästigt und ermüdet. Anfangs wechselt dieser Zustand mit Remis-
sionen und die Paroxismen erscheinen als ärgerliche, unruhige, miss-
trauische Laune oder als psychische Kälte, die sich bis zum Lebens-
überdrusse, als Angst, die sich zur Verzweiflung mit Unmöglichkeit,
sich äusserlich zu beherrschen, steigern kann. — Von einem un-
bestimmten, aber lebhaften Krankheitsgefühle wird der Kranke auf
dunkle Weise belästigt und beunruhigt; alle Provinzen des sensi-
tiven Nervensystems können zum Sitze krankhafter, oft sehr schmerz-
licher Empfindungen (Formication, Kälte und Hitze, Fortkriechen eines
fremden Körpers, Leerheit, Abgestorbensein, Stechen, Zerreissen etc.)
werden, und auch die höheren Sinne zeigen oft vermehrte Empfind-
lichkeit oder grössere Stumpfheit und wirkliche Hallucinationen. Alle
diese anomalen Empfindungen drängen sich stets lebhaft ins Bewusst-
sein, wecken und unterhalten beständig ein Vorstellen, das sich auf
die Erkrankung, auf ihre verschiedenen möglichen Arten und auf die
Heilung bezieht; alle Sensationen werden belauscht und im Sinne der
herrschenden trüben und ängstlichen Stimmung ernsthaft commentirt
und analysirt; es wird aus ihnen auf das Vorhandensein schwerer,
gefährlicher Krankheiten geschlossen, und häufig werden solche Ver-
muthungen in einer Uebertriebenheit, deren sich der Kranke halb
bewusst ist, und in möglichst drastischen und pittoresken Worten
geäussert. Der Kranke, der dabei ganz unbedeutende objective
Symptome darbieten kann, spricht von Apoplexie, von Halbtod, von
Vertrocknung oder Versteinerung des Herzens; seine Nerven sind
glühende Kohlen, sein Blut ist siedendes Oel etc., und gerne wer-
den die schwersten, oder ganz neue, noch nie dagewesene Krank-
[156]Symptomatologie
heiten angenommen, indem eben die Schwere und Gefährlichkeit der
Krankheit im Verhältniss zur Grösse der Gefühlsbelästigung stehen
soll. Mit der Orts- und Qualitätsveränderung der krankhaften Sensa-
tionen wechseln denn auch die Vorstellungen über den Sitz und die
Art der Krankheit und der Kranke glaubt successiv mit allen Leiden,
die seine Pathologie kennt, behaftet zu sein. So sehr diese Vor-
stellungen wahre Delirien, so falsch und bloss eingebildet sie sind,
so wenig sind diess die Empfindungen, die die Basis jener Urtheile
bilden und zu denen sich diese selbst wesentlich nur als Erklä-
rungsversuche verhalten.
Wir finden also hier gleich denselben Ursprung, dieselbe objective Grund-
losigkeit und subjective Begründung der irrigen Vorstellungen, wie bei den an-
deren Formen der Schwermuth und eines noch tieferen Irreseins. Man nehme
dem Hypochonder sein Krankheitsgefühl, so wird er keine imaginäre Krankheiten
mehr haben wollen; man nehme aber auch dem in anderer Weise Schwermüthigen
seine Angstgefühle, so wird er sich z. B. nicht mehr von Feinden verfolgt glauben.
Auch hier sind die abnormen Gefühle, aus denen erst das Delirium hervorgeht,
ebenso reell, [und] auch hier findet sich, wenigstens Anfangs, dieselbe geringe
Haltbarkeit und derselbe schnelle Wechsel der irrigen Vorstellungen, wie bei
der Hypochondrie.
§. 92.
Diesen seinen Leiden, mit denen sich der Hypochonder immer
lebhaft beschäftigt, sucht er auf jede mögliche Weise beizukommen.
Er untersucht häufig seinen Puls, seine Zunge, seine Excretionen,
und findet oft bei diesen Untersuchungen Motive der Furcht oder der
Hoffnung, von denen er, auch wenn es das Unsauberste betrifft, mit
einer Art Wollust Jedermann unterhält. Der heftige Wunsch, zu
genesen, lässt ihn häufig mit den Aerzten und den eigenen Heil-
planen wechseln, er erholt sich Rath in medicinischen Schriften,
und ändert nun oft die bisherigen Ansichten über seine Krankheit,
indem er Alles, was er liest oder hört, auf sich anwendet; die Er-
wähnung einer Krankheit genügt, um ihm die Vorstellung, dass er
selbst daran leide, hervorzurufen und er erhält nun, durch diese
Vorstellungen angeregt, neue secundär entstehende anomale Empfin-
dungen aus den betreffenden Organen *).
Nicht immer aber sind es bloss gewöhnliche, körperliche Krankheiten,
mit denen, als Gegenständen seiner Besorgniss, der Hypochonder
sich beschäftigt; häufig entgeht ihm selbst der grosse psychische An-
[157]der Hypochondrie.
theil an seinem Leiden nicht, und die Veränderung seiner ganzen
Persönlichkeit, das Befangensein in den kranken Empfindungen und
Vorstellungen, namentlich aber eine gewisse (§. 44. schon erwähnte)
Anomalie, besonders im geistigen Antheil an der Sinnesempfindung,
wobei diese, obwohl wie sonst percipirt, doch nicht mehr dieselben
Eindrücke erregt — machen oft den Hauptgegenstand seiner Klage aus.
Dieses letztere, sehr merkwürdige Verhalten, das die Kranken selbst Mühe
haben zu beschreiben, das auch wir in mehren Fällen als das hervorstechendste
und lästigste Symptom beobachtet haben, ist in folgendem Brief einer Kranken
Esquirols, so gut es sein kann, ausgedrückt:
„Noch immer leide ich beständig, und habe keine Minute von Wohlbefinden
und keine menschliche Empfindung; umgeben von Allem, was das Leben glücklich
und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfin-
dung; beide sind physich unmöglich für mich geworden … In allem, in den zärt-
lichsten Liebkosungen meiner Kinder, finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie
mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses
grässliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Exi-
stenz ist unvollständig, die Thätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens
sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nemlich die Empfindung, welche
ihnen angehörte — und die Freude, die ihnen folgt … jeder meiner Sinne,
jeder Theil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann
mir keine Empfindung mehr verschaffen; die Unmöglichkeit scheint von
einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der
Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche;
denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegen-
stände, die ich berühre . . . . ich fühle wohl die Veränderung der
Temperatur auf der Haut, aber die innere Empfindung der Luft beim Ath-
men habe ich nicht mehr . . . . Meine Augen sehen, mein Geist nimmt
es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vor-
handen etc.“
Auch die psychische Veränderung nach der Seite des Willens
ist in den meisten Fällen auffallend genug; die Kranken werden muth-
los, bedenklich, unentschlossen, in den höheren Graden völlig willenlos.
„Ich möchte mich wohl entschliessen, ich möchte wohl ausdauern,
aber es hängt nicht mehr von mir ab, es zu wollen; ich fühle,
wenn ich wollen könnte, so könnte ich mich dieser verzweifelten
Lage entziehen, aber ich muss mich meinen Wehgefühlen überlassen,
ich fühle mich unfähig zu Allem, der kleinste Widerstand scheint
mir unüberwindlich etc.“ Diess sind Aeusserungen, die man in den
höheren Graden der Hypochondrie, wie in allen übrigen Formen der
Schwermuth häufig genug hören kann. *) Auch die Intelligenz
[158]Symptomatologie
leidet bei weiter vorgeschrittener Krankheit nicht nur in der Weise
jenes irrigen Vorstellens, sondern die anhaltende Gedankenrichtung
auf den eigenen Zustand und die möglichen Mittel, ihm abzuhelfen,
gibt auch dem Vorstellen eine gewisse Monotonie, und bei der
herrschenden Präoccupation des Bewusstseins wird Alles, was nicht
zu jenem Kreise von Vorstellungen gehört, interesselos, gleichgültig
und erlischt bald aus der Erinnerung, daher sich solche Kranke oft
höchst zerstreut und vergesslich zeigen. Bei grosser Redseligkeit
über das Thema der eigenen Krankheit vermindert sich in anderer
Beziehung die Neigung zur Mittheilung, und das sind niemals schwere
Fälle von Hypochondrie, wo die Kranken noch liebenswürdige und
unterhaltende Gesellschafter sein können. Wohl aber kann Verstand
und Scharfsinn, der sich wirklich oft schon in feinen Combinationen
über das Lieblingsthema der Erkrankung zeigt, auch in Bezug auf
objective Verhältnisse bestehen bleiben, und erst in den äussersten
Graden der Hypochondrie zeigt sich eine wirkliche Abnahme der
Intelligenz, eine Art finsteren und grämlichen Blödsinns, wobei die
Kranken fast zu jeder geistigen Thätigkeit unfähig geworden sind.
Mit der Summe dieser psychischen Störungen, die sämmtlich den Character
der Depression haben, weist sich die Hypochondrie eben als eine Form der
Schwermuth aus. Und wenn auch die hypochondrischen Zustände durchschnittlich
in dem eigenthümlichen Stoffe des irrigen Vorstellens und in der bei weitem
grösseren Möglichkeit der Selbstbeherrschung eine gewisse Specifität an sich
haben, so ist doch schon jene herrschende Neigung, Alles in Beziehung, in Ver-
gleichung mit sich zu bringen, die Beschränkung des Vorstellens auf das eigene
Ich, jener krankhafte Egoismus ein wesentlicher, das Insichgekehrtsein der
melancholischen Zustände überhaupt bezeichnender Zug. Die höheren Grade der
Hypochondrie gehen auch ganz allmählig, theils durch Steigerung der Angst-
gefühle, theils durch das Fixiren einzelner Erklärungsversuche, nicht nur in
wahre Melancholie, sondern sogar in melancholische Verrücktheit (Wahn, unter
geheimen Einflüssen zu stehen, durch feindliche Machinationen beeinträchtigt,
magnetisirt zu werden etc.) über. Auch jenes grössere Mass von Selbstbeherr-
schung innerhalb der Hypochondrie schwindet oft schon während jeder Exacer-
bation; könnten die Aerzte diese Paroxismen so frei beobachten, wie man diess
bei den schweren Fällen in den Irrenanstalten zu jeder Zeit thun kann, so würde
ihnen jeder Zweifel über die psychisch-krankhafte Natur der Hypochondrie
schwinden.
§. 93.
Ausser diesen psychischen Störungen und den angegebenen Em-
pfindungs-Anomalieen können bei den Hypochondern die mannigfal-
tigsten Krankheitssymptome in allen Organen vorkommen, und es ist
jene alte Vergleichung der Hypochondrie, als einer chronischen, das
[159]der Hypochondrie.
ganze Nervensystem betreffenden Störung mit dem Fieber als dem
allgemeinsten acuten Krankheitszustand (Hoffmann) nicht unpassend.
Namentlich häufig leidet die Verdauung, die Zunge wird belegt, der
Appetit übermässig oder vermindert, der Stuhl angehalten und die
Verdauung ist oft von stärkerer Gasentwickelung begleitet, wodurch
Spannung in den Hypochondrien, und mit dem Heraufdrängen des
Zwerchfells Beengung entsteht. Hämorrhoiden sind häufig, ebenso
Abdominalpulsation, Herzklopfen, Kopfcongestionen, Kopfschmerz, un-
ruhiger Schlaf, zuweilen Steigerung, öfter bedeutende Verminderung
des Geschlechtstriebs; sehr häufig ist eine schleimige Expectoration
aus dem Larynx und Schlund. In vielen Fällen lässt es sich nicht
entscheiden, ob und in wie weit die höchst verschiedenen Symptome
solchen primären Störungen der Eingeweide angehören, unter deren
Einfluss sich die Hypochondrie gebildet hat, in wie weit sie dagegen
centralen Ursprungs im Nervensysteme sind. Immer hat der Arzt
eine genaue Untersuchung aller zugänglichen Organe vorzunehmen;
nicht selten stellen sich erst im Verlauf der Krankheit allmählig er-
kennbare Erkrankungen eines Eingeweides heraus, die sich schon in
ihren dunkeln Anfängen als Ursachen zu der Hypochondrie verhalten
haben mögen.
Die Hypochondrie entsteht nemlich offenbar auf zweierlei Wegen.
Einmal als secundäre Cerebrospinalirritation, in Folge von inneren,
aber allerdings oft leichten Erkrankungen (des Darms, der Leber, der
Genitalien; vielleicht der Nieren), die mehr ein intensives Krank-
heitsgefühl, als localisirte Schmerzen setzen; namentlich ist hier
genaue Aufmerksamkeit auf die Zustände des Uro-Genitalsystems zu
empfehlen, um so mehr, je häufiger hier vorhandene Störungen über-
sehen werden und je schädlicher solchen Kranken, die freilich oft
dabei an angehaltenem Stuhle leiden, die gebräuchliche Behandlungs-
weise mit reichlichen Abführmitteln ist.
Andrerseits kann die Hypochondrie unzweifelhaft auf direct psy-
chischem Wege entstehen, indem durch äussere Veranlassung das
Vorstellen anhaltend auf den eigenen Gesundheitszustand im Allge-
meinen oder speciell auf einzelne Organe determinirt wird und
dadurch erst krankhafte Empfindungen geweckt werden. Solches
beobachtet man beim Lesen medicinischer Bücher, beim steten Um-
gang mit Hypochondristen, in Zeiten grosser Epidemieen, wie der
Cholera etc. Diese Fälle sind indessen die leichteren, und auch
selten gegen die, sehr frequente Entstehung der Hypochondrie aus
indirecten psychischen Anlässen, so nemlich, dass depresive Affecte,
[160]Verlauf und Ausgänge der Hypochondrie.
übertriebene geistige Anstrengung etc. erst Störungen der Verdauung,
der Circulation, der Secretionen hervorrufen, welche zur Quelle der
Krankheitsgefühle werden.
Hypochondrische Zustände kommen fast niemals in der Kindheit,
zuweilen aber schon in der Pubertäts-Periode vor. Sie sind bei
Männern häufiger als bei Weibern; doch kann man auch bei letzterem
Geschlecht nicht selten characteristische und weit gediehene Fälle
beobachten. — Der Verlauf ist im Allgemeinen sehr langwierig; doch
kommen Remissionen vor. Wir haben die Hypochondrie, wie die
intermittirende Manie, in fast regelmässigen Zeitepochen mit mehr-
jährigen freien Zwischenräumen auftreten sehen. Ein andermal haben
wir in einem schweren Fall (weiblichen Geschlechts) eine fast voll-
ständige Remission mit dem Eintritt einer spontanen heftigen, mit
Reissen in der ganzen Wirbelsäule verbundenen Diarrhoe beobachtet.
Während des sehr chronischen Verlaufs der Hypochondrie kann
die Ernährung und das Aussehen des Kranken oft lange gut bleiben;
mit der Ausbildung einer organischen Erkrankung der Eingeweide
tritt der Kranke in eine Periode eines meist längeren, körperlichen Siech-
thums (mit Abmagerung, Verfärbung der Haut, grösserer Schwäche etc.),
und erliegt am Ende der Degeneration eines innern Organs. Zuweilen
stellen sich auch apoplectische, paralytische Zustände ein, oder es
bildet sich allmählig eine andere Form von Irresein, namentlich Ver-
rücktheit mit dem Character der Depression, aus.
Die Genesung kommt nicht ganz selten auf psychischem Wege
zu Stande, aber auch durch Beseitigung körperlicher Ursachen; auch
mit dem Auftreten von Gichtanfällen und Wechselfieber hat man ein
Aufhören der hypochondrischen Verstimmung beobachtet.
Beispiele einfacherer nnd complicirter Fälle von Hypochondrie
von verschiedener Entstehung, Aeusserungsweise und Ausgängen.
I) Einfachster Fall von Hypochondrie mit (psychischer) Heilung.
Mlle. H., 21 Jahre alt, von sehr starker Constitution, regelmässig, aber sparsam
menstruirt, an habitueller Obstipation leidend, verliert auf einmal ihre gewöhnliche
Heiterkeit, und zieht sich in völlige Einsamkeit zurück. Umsonst wird sie um die
Ursachen gefragt ein ganzes Jahr lang. Endlich gesteht die Kranke von selbst
unter Erröthen ihrem Arzte den Grund ihrer Traurigkeit; sie hat in der rechten
Hüfte beständig eine lästige Empfindung, auf welche ihre Gedanken anhaltend
gerichtet sind. In dieser Gegend findet sich bei der Untersuchung Nichts; die
Kranke äussert, unter vielen Thränen, bald werde sie sterben, sie fühle mit
Bestimmtheit wie ihre Eingeweide durch die halboffene Bauchdecke heraustreten
wollen. Der Arzt bekämpft diese Idee nicht direct, er erklärt, die Muskulatur
sei hier allerdings etwas gewichen, diess sei nichts seltenes, und es genüge
[161]Beispiele von Hypochondrie.
völlig, die Schwäche der Bauchdecken durch einen passenden Gürtel zu unter-
stützen. Mit dem Tragen dieses Gürtels verschwanden alle diese Beängstigungen,
und merkwürdigerweise zugleich die Verstopfung, die lange hartnäckig bestan-
den hatte.
(Bulletin de Thérapeutique. 1842. p. 201 seqq.)
II. Nervöses Temperament. Hepatitis. Hypochondrie. Tod. „Hr.
M. war von erregbarem, nervösem Temperament. Gutmüthig, lebhaft, von reg-
samer Phantasie, betrieb er eifrig seine Handelsgeschäfte. Er heirathete im
31ten Jahre: Alles war ihm bisher förderlich und glücklich gegangen; Schmerz-
liches hatte er bald mit Kraft und Muth ertragen, bald aber hatten ihn auch
Kleinigkeiten lebhaft afficirt und er konnte dann des Geringsten nicht los werden.
Ein Jahr nach seiner Heirath ward er von einer heftigen acuten Leberent-
zündung befallen. Die Leber ragte 4 Querfinger unter den falschen Rippen vor
(18 Blutegel ad anum). Die Entzündung zertheilte sich, aber mit Abnehmen der
Lebergeschwulst wuchs die Empfindlichkeit des Kranken, ein Nichts brachte ihn
in Ungeduld und Alles war ihm nur ein Gegenstand der Unruhe und des Leidens.
Finstere Besorgnisse über seine Krankheit, Vorstellungen von Obstructionen und
Krebs und einer Zukunft voll Leiden nahmen ihn ein. Dennoch war die Gene-
sung vollständig, nur eine grosse nervöse Empfindlichkeit, ein Hang zur Ueber-
treibung und zu Veränderlichkeit der Stimmung blieb zurück; Heiterkeit wech-
selte mit Zorn und Aerger ohne Motive. Der Einfluss der Temperatur schien
bedeutend; in den düstern Stimmungen hatte er Schmerzen in fast allen Theilen
des Körpers, je nachdem er seine Aufmerksamkeit dahinrichtete, im rechten
Hypochondrium war ein fast permanenter Schmerz, die Verdauung wurde oft
gestört und es zeigte sich Pulsation im Epigastrium; dann glaubte er sich von einer
tödtlichen Gastritis befallen. Ein Kitzel im Schlund mit trockenem Hüsteln oder
dem Aufräuspern von etwas Schleim erweckte ihm den Gedanken an Lungen-
schwindsucht, und veranlasste ihn, [medicinische] Schriften zu lesen, und er fühlte
sich nun von jeder Krankheit befallen, über welche er las. Dennoch liess er sich
nicht selten von der Ungegründetheit seiner Ansichten überzeugen und hatte oft
Monate lang Zeiten grösserer Ruhe.
Im J. 1831 überstand der Kranke ein schweres Schleimfieber mit grosser
nervöser Aufregung und heftigen Schmerzen in der rechten Schulter; schon
genesen gab er stärkere und häufigere Schmerzen an. Darauf Badecuren und
Reisen. Einige Besserung, von neuen Leiden und Befürchtungen stets unter-
brochen; die Abmagerung nahm zu.
Schmerzen in der Lendengegend, Brennen in der Urethra und Blase erweckte
ihm die Idee eines Blasencatarrhs oder Blasensteins; in der That wurden griesige
Concremente entleert. Von jetzt an beruhigte sich seine Phantasie nicht mehr.
Stets beschäftigt mit seinen Leiden, steigerte er sie durch Aufmerksamkeit und
Analyse; seine Stimmung wurde immer reizbarer, er war fast keinen Augenblick
ruhig, bald überliess er sich einer Art von Wuth und Verzweiflung, bald gab er
sich finsterer Niedergeschlagenheit hin, und malte sich sein nahes Ende durch
eine der 5 Krankheiten, die er abwechselnd zu haben meinte, aus. Sein Cha-
racter wurde bizarr und phantastisch, Nichts behagte ihm, Alles empörte ihn,
die eifrigste Pflege nahm er übel auf und konnte dann wieder sein Unglück be-
weinen, also zu sein; er bat dann seine Frau um Verzeihung für sein Unrecht,
Griesinger, psych. Krankhtn. 11
[162]Beispiele von
schloss, dass sie ihn nicht mehr lieben könne und zog neuen Kummer aus diesem
Gedanken.
Nun zog er sich von seinen Geschäften zurück. In steter Beobachtung seiner
Leiden steigerte er die nervöse Reizbarkeit, durch die sie entstanden, immer
höher. Er consultirte alle Aerzte, deren er habhaft werden konnte, der Wunsch,
zu genesen machte, dass er begierig nach jeder Verordnung griff, die bald er-
kannte Wirkungslosigheit der Mittel erregte ihm neuen Schmerz, mit dem Schwin-
den solcher Hoffnungen, mit diesen Täuschungen seiner Einbildungskraft stei-
gerte sich die nervöse Exaltation, und Kräfte und Ernährung nahmen ab. Von
einem neuen Schleimfieber, dass ihn A. 1834 befiel und während dessen seine
Stimmung unerträglich war, erholte er sich ohne Besscrung des nervösen Lei-
dens. Von allen seinen Ideen grausam gequält, setzte er sich ernsthaft in den
Kopf, einen Blasenstein zu haben, und vergeblich waren die Demonstrationen
des Gegentheils. Er blieb dabei und liess einen berühmten Lithotriteur aus
Paris kommen; mehre Untersuchungen brachten die heftigste Reizung der Urethra,
mit starker Entzündung hervor, und Hr. M. starb nach wenigen Tagen. Die
Section wurde nicht gemacht.“
(Brachet, de l’hypochondrie, Par. 1844. p. 29 seqq.)
III. Zerrüttung der Constitution und Hypochondrie aus psychi-
schen Ursachen. Heilung durch Befriedigung einer Leidenschaft.
„Frau ***, 26 Jahre alt, physisch und psychisch von gleich lebhafter Empfindung,
war Mutter von 3 Kindern. Ihre Gesundheit war gut, als die Bemühungen und
Aufmerksamkeiten eines Hausfreundes Zugang zu ihrem Herzen fanden. Von dem
Gedanken an ihre Pflichten erfüllt, leistete sie der Verführung Widerstand
und hielt das Geheimniss einer heftigen Neigung tief in sich verborgen.
Dieser Zwang störte allmählig ihre Gesundheit; sie fieng an, an Herzklopfen,
einer Empfindung von Völle der Brust und unbestimmten krankhaften Erschei-
nungen zu leiden. Der Appetit verlor sich, die Magengegend ward empfindlich
und es zeigten sich Stiche auf der Brust. Zu diesen wirklichen Empfin-
dungen gesellten sich die sonderbarsten und traurigsten Vorstellungen über
ihre Gesundheit. Sie glaubte bald an einem Aneurisma, bald einem Magen-
krebse, bald, und am häufigsten, an Lungenschwindsucht zu leiden. In der That
stellten sieh Beengung, Husten mit reichlichem Auswurf, beständigen Fieber-
bewegungen, nächtlichem Schweisse ein; die Aerzte glaubten an Tuberculose und
schickten die Kranke nach dem Süden. Auf dieser Reise consultirte sie mich;
ich fand ihren physischen Zustand ebenso tief heruntergekommen, als ihre Ein-
bildungskraft ernstlich erkrankt. Ihre Leidon waren, nach ihrer Angabe, fürch-
terlich; spitzige, rothglühende Eisen drangen ihr ins Fleisch, eine Faser um die
andere wurde wie mit Zangen zerrissen, während die Kranke auf der andern
Seite über die Brustorgane selbst nur wenig klagte. — Nach einem sechsmonat-
lichen Aufenthalte im südlichen Frankreich war sie weder körperlich noch geistig
gebessert. Die Lungenaffection schien nicht vorgeschritten zu sein, aber ihre
Stimmung und Phantasie war noch weit mehr verdüstert; sie zeigte noch weit
grössere Neigung, Alles in schlimmem Sinne auszulegen, und bei ihrer Rückkehr
nach Paris verschimmerte sich ihr Zustand noch mehr. — Dort sieht sie den
Gegenstand ihrer Neigung wieder — sie unterliegt, verlässt ihre Familie und
entflieht mit ihrem Verführer.
[163]Hypochondrie.
Sechs Monate darauf sah ich sie wieder. Sie war nicht mehr zu erkennen.
Schönheit, Jugendfrische und Fülle waren an die Stelle eines dem Marasmus
nahen Zustandes getreten, weder Husten, noch Auswurf, noch Herzklopfen, noch
Magenleiden, noch Schmerzen, noch eingebildete Krankheiten waren mehr vor-
handen. Die Befriedigung der Leidenschaft hatte die Gesundheit hergestellt und
die schwarzen Gedanken der Hypochondrie zerstreut.“
(Brachet, traité de l’hypochondrie. Par. 1844. p. 69 seqq.)
IV. Hypochondrisches Irresein auf psychischem Wege entstan-
den, und durch Aberglauben genährt. Heilung auf psychischem Wege.
A. M. Kraft, eine fleissige und thätige, aber sehr einfältige Frau, beschädigte
sich durch einen Fall den Arm; ein consultirter Hirte erklärte: „die Adern
des Arms seien zu sehr in Unordnung gerathen, als dass er sie gänzlich heilen
könne;“ als nun auch die Hülfe eines Arztes fruchtlos blieb, kam die Kranke
auf die Idee, es möchte ihr im Arm eine Ader gebrochen sein und sie würde
wegen der ihr nun fehlenden Ader nie wieder etwas verrichten können.
Dieser traurige Gedanke verfolgte sie beständig; in der unglücklichsten
Stimmung klagte sie ihren Freunden ihr Schicksal, man gab ihr den Rath, auf
die Stelle, wo die Ader gelitten habe, einen Froschschenkel zu legen und diesen
später in den Strom zu werfen. Als sie aber diess gethan, spürte sie von der
Stunde an das Rauschen des Stroms im Kopfe. Ihre traurige und missmuthige
Stimmung erreichte jetzt den höchsten Grad; sie glaubte, alle ihre Leiden seien
eine Strafe Gottes, weil sie in ihrer Kindheit nicht genug gebetet habe, und
verfluchte ihren Vater, dass er sie nicht genug und strenger dazu angehalten
habe; um aber ihren Fehler gut zu machen, betete sie Tag und Nacht.
Ihr 23jähriger Sohn, ein Leser ascetischer Schriften und von musterhaftem
Lebenswandel, unterstützte und pflegte seine Mutter so eifrig, dass seine Freunde,
um seine eigene Gesundheit besorgt, ihn zur Erholung in heitere Gesellschaft
zu bringen suchten. Aeusserst schüchtern, wurde er daselbst von einem mun-
tern Mädchen mit Gewalt am Arme gefasst, um ihn zum Sitzen zu nöthigen.
Der Arm schmerzte ihn, als er nach Hause kam, und die Mutter brachte ihm
unter Wehklagen den Gedanken bei, es werde ihm gegangen sein wie ihr, auch
er werde eine Ader zerbrochen haben. Wirklich war am andern Morgen der
Schmerz viel stärker, der jnnge Mann glaubte den Arm weniger gebrauchen zu
können; diess ward von Tag zu Tag schlimmer, er hörte auf zu arbeiten und
versicherte, es müsse ihm eine Ader im Arme fehlen; denn es sei ihm unmög-
lich, das Geringste damit zu verrichten. Das ganze Geschäft von Mutter und
Sohn bestand nun in Beten.
Bei fortdauerndem Grübeln über seinen Zustand fiel letzterem ein, wegen des
Zusammenhangs der Adern beider Arme, werde wohl auch der andere Arm mit-
leiden — augenblicklich konnte er nun auch diesen Arm nicht mehr bewegen,
und innerhalb eines Jahrs verfiel er nun in solche Apathie, dass man ihn an-
und auskleiden und füttern musste. Auch bei der Mutter steigerte sich der
Zustand von Melancholie mit religiösen Ideen, sie glaubte, so oft sie Feuer
anzünde, zünde sie sich selbst die Hölle an etc., und ihr Missmuth nahm so
überhand, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Der Sohn liess sich von
dem Vorsatze, zu verhungern, nur durch Zuspruch eines Geistlichen abbringen.
Ich fand beide Leute bei ihrem einzigen Geschäfte, dem Beten; der junge
11 *
[164]Beispiele hypochondrischen
Mensch hielt beide Arme mit steif gestreckten Händen und Fingern gerade herab
und von einander. Er klagte, dass er mir seine Hand nicht geben könne, weil
ihm eine Ader am Arme fehle. Er gab nun die Stelle näher an, und nach ge-
nauer Untersuchung sagte ich ihm, dass allerdings daselbst eine Ader fehle, gab
ihm aber das zuversichtliche Versprechen, ihm zu helfen.
Ich lief nun mit den Fingern mehremale in der angegebenen Richtung schnell
auf und ab, hielt an dem langen Nagel des Daumens plötzlich stille und schnitt
in Eile den Nagel mit einer Portion Fleisch ab, so dass es blutete, und fieng
nun an mit beiden Händen den Arm heftig zu streichen, indem ich laut rief:
Mit Gottes Hülfe, es ist gelungen, die Ader ist wieder da! — Zu seiner Ueber-
zeugung, dass die Ader schon in Thätigkeit sei, wurde ihm das fliessende Blut
gezeigt. Er musste sogleich einige Bewegungen machen.
Da aber seine Mutter einwendete, die Heilung ihres Sohnes sei noch nicht
möglich, da er noch das Zeichen der Verdammniss trage (nämlich schwarzen
Schmutz auf der Brust), so wurde dieser alsbald abgerieben und die Haut ge-
reinigt. Der Sohn gab jetzt, nach weiterem religiösen Zuspruch, den Umste-
henden die Hände, kleidete sich selbst aus und an und fieng am folgenden Tage
mit Korndreschen seine Arbeit wieder an. Auch die Mutter, als sie sich von
dem wirklichen Bestand der Heilung überzeugte, fieng wieder an in alter Weise
fleissig zu sein, und beide sind körperlich und geistig genesen.
(Berlyn, in Nasse, Zeitschrift für psych. Aerzte. II. 1819. p. 363 seqq.)
V. Herzkrankheit. Hypochondrisches Irresein. Mehre fingirte
Operationen ohne entscheidenden Erfolg. Fieberhafter Zustand. Hei-
lung. Rückfall. „Lucie M., 50 Jahre alt, ohne erbliche Disposition zum Irresein,
im 14ten Jahre chlorotisch, im 22ten Jahr verheirathet (2 Abortus und 8 regelmässige
Geburten); während der zweiten Schwangerschaft heftige Kopfschmerzen mit
Schwindel und Delirien, die erst mit der Geburt ganz aufhören; seit 20 Mo-
naten nicht mehr menstruirt. — Im Decbr. 1839 wird sie von allgemeinem Uebel-
befinden befallen, mit Stichen in der Magengegend, Klopfen im ganzen Körper
und Nervenzufällen. Während ihres Aufenthalts im Hospital erinnerte sich die
Kranke plötzlich, aus einem Brunnen getrunken zu haben, in dem 3 Spinnen
waren. Von dort an ist sie überzeugt, diese verschluckt zu haben, und sie ver-
fällt in die heftigste Agitation, wesshalb sie am 11. Febr. 1840 in die Irren-
anstalt von Tours gebracht wird.
Sie gibt Formication und Beissen in allen Theilen an, Stiche und Klopfen
in der Brust, dem Magen und Unterleib, den Gliedern; Ohrensausen, Schlaf-
losigkeit, Schwindel, sonderbare Träume. Ihr Gedankengang ist geordnet, ihre
Antworten richtig; sobald sie sich aber dem Gegenstand ihres Delirium über-
lässt, wird sie aufgeregt, und spricht dann nicht nur von Spinnen, welche sie
innerlich verzehren, sondern vom Teufel, von Schlangen und Thieren aller Art,
welche an ihr nagen. Leichte Hypertrophie des Herzens mit Blasen beim ersten
Ton; harter Puls (calmirende Mittel, Digitalis). Beständige Unruhe und Ver-
zweiflung an der Möglichkeit der Heilung (Gummigutt). In die dadurch erregten
Stühle werden heimlich 3 Spinnen gebracht, welche die Kranke selbst entdeckt,
aber sogleich einwendet, diess seien die Alten, sie haben aber Junge zurück-
gelassen, welche sie im Bauche fühle. Derselbe Kunstgriff wurde zweimal wieder-
holt, aber die Kranke versicherte, die Spinnen vermehren sich unaufhörlich, sie
[165]Irreseins.
seien jetzt vom Kopf bis zu den Füssen in ihr. Jeder Versuch, sie von dem
Ungrund des Wahns zu überzeugen, wird mit Schelten und Drohungen erwiedert.
Nun wird ihr der Vorschlag einer Operation gemacht, durch welche alle Spinnen
unfehlbar entfernt werden müssen. Sie nimmt ihn mit Freuden an, seufzt nach
der Stunde der Operation und spricht von ihrer Heilung mit Hoffnung und Ver-
trauen. Die Operation wird mit einiger Feierlichkeit, um auf die Phantasie der
Kranken einen Eindruck zu machen, in Gegenwart vieler Aerzte vorgenommen,
und besteht in einer leichten Incision in die Haut des Rückens; man lässt einige
in Bereitschaft gehaltene Spinnen über das Bett laufen und gibt an, solche aus-
gezogen zu haben; sie sagt, sie fühle das Ausziehen wohl und freut sich sehr
über dieses Resultat. Diese kleinen Einschnitte werden nun sehr häufig in allen
Gegenden des Körpers wiederholt; während dieses Zeitraums bekommt die Kranke
ein intermittirendes Fieber (Chinin, Antispasmodica), ist immer sehr aufgeregt,
fühlt unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper, verfolgt den Arzt mit steten
Bitten neuer Operationen; einmal stürzt sie sich, ohne Schaden zu nehmen, zum
Fenster hinaus, ein anderesmal machte sie Strangulationsversuche. Endlich wird
ihr erklärt, dass jetzt keine Spinnen mehr vorhanden seien, und um sie davon
zu überzeugen, werden zwei neue Incisionen, die Schlundsonde und Laxanzen
angewandt. Am 9. September noch wollte sie aus der Anwesenheit der Spinnen
mehre physiologische Phänomene, das Heben und Sinken des Larynx, den Arte-
rienschlag etc. erklären, liess sich aber alsbald überzeugen, dass diese Erschei-
nungen bei allen Menschen vorkommen. Nun trat ein fieberhafter Zustand ein
mit Kopfschmerzen und Ohrensausen, und am 18. September waren alle Symptome
verschwunden. Die Kranke ist völlig ruhig, heiter, dankbar, und wird in der
Küche beschäftigt. Die unvorsichtig gegebene Nachricht vom Tode ihres Mannes
betrübt sie sehr, stört aber ihre geistige Gesundheit in keiner Weise. — Allein
in dem nächsten, sehr harten Winter, in den dürftigsten Umständen lebend, mit
Kälte und Nahrungssorgen kämpfend, erlitt sie einen Rückfall, mit heftigen
Palpitationen, Agitation, Tobsucht und Selbstmordversuchen. Die Kranke wurde
nun nicht mehr nach ihren Wahnideen behandelt, sondern genas allmählig unter
einsamer Pflege, Begiessungen, Douchen, narcotischen und auf den Darm ablei-
tenden Mitteln.
(Charcellay, annales médieo-psychologiques. II. 1843. p. 485 seqq.)
Zweites Capitel.
Die Melancholie im engern Sinne.
§. 94.
Anomalieen der Selbst-Empfindung, der Triebe und
des Wollens. Nachdem in manchen Fällen längere oder kürzere
Zeit ein Zustand geistigen und körperlichen unbestimmten Uebel-
befindens, oft mit hypochondrischer Verstimmung, mit Niedergeschla-
genheit und Unruhe, manchmal mit Empfindung der Gefahr, irre zu
werden, vorausgegangen ist, wird immer mehr ein psychisch-schmerz-
[166]Symptomatologie der Schwermuth.
hafter Zustand herrschend, welcher an sich andauert, aber noch durch
jeden psychischen Eindruck von aussen verstärkt wird. Diess ist die
wesentliche Seelenstörung in der Melancholie, und dieses psychische
Wehethun besteht für die Kranken selbst in einem Gefühl von tiefem
geistigem Unwohlsein, von Unfähigkeit zum Handeln, von Unter-
drückung aller Kraft, von Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, in
einer totalen Herabstimmung des Selbstgefühls. Sobald dieser Zu-
stand des Sensoriums einen gewissen Grad erreicht hat, ergeben sich
aus ihm die wichtigsten und ausgedehntesten Folgen für das ganze
Verhalten des Kranken.
Die Stimmung nimmt einen durchaus negativen Character (des
Verabscheuens) an. Indem jeder, auch der leichteste und früher
adäquateste Eindruck Schmerz erregt, können sich die Kranken über
Nichts, auch das Angenehmste nicht mehr freuen, sondern werden
von Allem unangenehm afficirt, und finden in allem Aeusseren stets
neue Motive des Schmerzes. Alles ist ihnen widerwärtig geworden,
sie zeigen sich reizbar, ärgerlich, verstimmt durch jede Kleinigkeit,
und reagiren dagegen entweder mit steten Aeusserungen der Un-
zufriedenheit, oder, und diess ist der häufigere Fall, sie suchen
jedem psychischen Eindrucke von Aussen zu entgehen, indem sie
sich scheu aus der Gesellschaft der Menschen zurückziehen, und
völlig geschäftlos und müssig die Einsamkeit aufsuchen. Die Stim-
mung des allgemeinen Widerwillens und Negirens spricht sich meistens
zunächst aus als Abneigung gegen die Umgebung, gegen Familie,
Freunde, Angehörige, welche oft zu wahrem Hasse sich steigert, als
eine totale, unangenehme Veränderung des Charakters.
Ein solcher, aber ganz chronischer Zustand habitueller Gemüths-
verstimmung und übler Laune mit Hang zu allgemeiner Negation, Arg-
wohn etc. findet sich nicht ganz selten unter den scheinbar Gesunden
(namentlich weiblichen Geschlechts) und wird sehr selten als ein krank-
hafter erkannt, obwohl er sich von anderweitig entstandenen üblen Cha-
ractereigenschaften des Gesunden durch die nicht seltene Entstehung
aus nachzuweisenden Krankheiten, durch mannigfache psychisch nicht
begründete Remissionen und durch ein dem Kranken selbst zuweilen
sich aufdrängendes Gefühl, wider besseres Wissen und Wollen feind-
lich, negativ sich verhalten zu müssen und zu der bleibenden Miss-
stimmung eigentlich nicht berechtigt zu sein, unterscheidet.
Nicht selten findet sich in der einfachen Melancholie ein Zu-
stand des Sensoriums, durchaus analog dem bei der Hypochondrie
geschilderten (p. 157), wobei die Gegenstände der Aussenwelt,
[167]Gemüths-Störungen.
sofern sie durch die Sinneseindrücke zum Bewusstsein kommen, zwar
richtig aufgefasst und unterschieden werden, aber einen von dem
sonst gewohnten wesentlich anderen Eindruck hervorbringen, von dem
nur verständigere und gebildetere Kranke Rechenschaft geben. „Es
scheint freilich,“ sagen solche Melancholische, „dass Alles um mich
noch ebenso ist, wie früher, aber es muss doch auch anders geworden
sein; es hat noch die alten Formen, es sieht wohl Alles noch eben
so aus, aber es ist doch wieder mit Allem eine grosse Veränderung
vor sich gegangen etc.“ Diese Verwechslung des subjectiv verän-
derten Verhältnisses des Kranken zur Welt mit deren objectivem
Anderssein ist der Anfang eines Traumzustandes, in dessen höchsten
Graden es dem Kranken zu Muthe ist, als sei die reale Welt ganz
versunken, untergegangen oder ausgestorben und nur eine Schein-
und Schattenwelt übrig geblieben, in der er zur eigenen Qual fort-
zuexistiren habe.
Im Anfange fühlt der Kranke sehr wohl die Veränderung seines
psychischen Seins, aller seiner Neigungen und Affecte; er sucht sie
zuweilen noch zu verbergen und die Fragen über den Grund seines
sonderbaren Verhaltens ermüden und ärgern ihn dann. Er fühlt, wie
sein früherer Antheil an dem sonst Werthen und Hochgehaltenen in
Gleichgültigkeit und tiefer Abneigung allmählig untergeht, er klagt
selbst über die Unnatürlichkeit und Verkehrtheit seiner Empfindungen
und wenn sein Pessimismus sich an den Aussendingen im Aufsuchen
schlimmer Seiten erschöpft hat, wird ihm das eben zum Gegenstand
neuer Schmerzen und Klagen, dass er sich über Nichts mehr freuen
kann, sondern Alles negiren muss. Die ungewohnten Eindrücke von
der Anssenwelt erregen ihm Staunen, Kummer, Entsetzen; er fühlt
sich herausgetreten aus der früheren Gemeinschaft mit den Menschen,
und diess Gefühl der Isolirtheit und der exceptionellen Stellung, in
der er sich befindet, begünstigt einerseits noch die Beschränkung
aller Ideen auf die Verhältnisse der eigenen Person und die Be-
ziehung von Allem auf sich, andererseits geht aus diesem Gefühle
der Isolation Misstrauen gegen Alles, Argwohn, Angst und Besorgniss
vor allen möglichen Unfällen, zuweilen eine feindliche, angreifende
Stimmung gegen die Welt, häufiger ein wehrloses, ohnmächtiges Zu-
rückziehen und Versinken in sich selbst hervor.
Die Empfindung der veränderten eigenen Persönlichkeit, das
Dunkle und Unklare der unbestimmten Gefühlsbelästigung ist Anfangs
für den Kranken das Drückendste. Wohl steht er zuweilen im Be-
ginn durch das Geständniss, dass seine Furcht absurd, dass einzelne
[168]Symptomatologie der Schwermuth.
ängstliche Vorstellungen, die sich aufdringen, falsch seien, eben mit
dem Bewusstsein seines Zustandes innerlich über demselben; aber
da er fühlt, wie es ihm unmöglich ist, anders zu fühlen, zu denken,
zu handeln, wie er des Widerstandes unfähig und dieser unnütz ist,
so erhält er von dieser Ueberwältigung des Ich (§. 26.) die Em-
pfindung des Beherrschtwerdens, des widerstandlosen Hingegebenseins
an fremdartige Einflüsse, dem später die Vorstellungen des Heimfalls
an finstre Mächte, einer geheimen Leitung der Gedanken, des Be-
sessenseins etc. entsprechen.
Die Hemmung der Strebung, welche mit zur Grundstörung der
Melancholie gehört, äussert sich als Unthätigkeit, Verlassen jeden
Geschäfts, stetem Zweifel und Schwanken, Unentschlossenheit, Willen-
losigkeit. In den höheren Graden spricht sich diess als eine wahre
Erstarrung und Stumpfheit, indem kein Eindruck mehr Willensreaction
hervorruft, in den mässigeren Graden als Langsamkeit, Einförmigkeit,
Zaudern in Bewegung und Handlung, Gefühl von Unfähigkeit zur
kleinsten geistigen Arbeit, sobald sie wirklich nach aussen treten soll,
Liegenbleiben im Bette etc. aus.
Häufig sind Gefühle von Beängstigung, welche oft vom Epigastrium,
und der Herzgegend auszugehen und nach oben zu steigen scheinen.
„Hier“, so sagen viele dieser Kranken und deuten dabei auf die Magen-
grube, „hier sitzt es wie ein Stein, wäre es doch hier weg! etc.“
Diese Angstgefühle steigern sich mitunter zu einem unerträglichen Zu-
stand, einer Verzweiflung, welche dann meistens in Tobsucht-Aus-
brüche übergeht. Ausserdem erscheinen diese Zustände äusserlich
in mannigfacher Gestalt je nach dem früheren Character des Kranken,
nach den psychischen Ursachen, nach begleitenden körperlichen Ano-
malieen etc., bald unter der Mimik des Grams und Kummers, als
stummer Trübsinn, in sich gekehrtes, finstres, passives, verschlossenes
Wesen, bald als laute Selbstanklage, mit Weinen, Händeringen und
höchster Unruhe, bald als krankhafter Eigensinn und hartnäckige Wider-
spenstigkeit, bald als gegen sich selbst gerichteter Zerstörungstrieb.
Einmal äussert sich der Melancholische mit Allem unzufrieden,
findet Alles schlecht und mangelhaft, dann ist ihm wieder alles Aeussere
gleichgültig, da er von seinem Gefühle des eigenen Unglücks und
Leidens ganz in Anspruch genommen ist, oder er äussert wohl auch,
„dass für ihn Alles zu gut sei und dass einem so schlechten Ge-
schöpfe, wie er es sei, nicht verächtlich und geringschätzend genug
begegnet werden könne.“
Alle diese Veränderungen in der Stimmung der Melancholischen
[169]Verstandes-Störungen.
sind im ersten Anfang meist objectlos und beruhen nicht auf einzelnen
bestimmten irrigen Vorstellungen, daher ist der Kranke im Beginn
auch nicht fähig, Rechenschaft üher den Grund seines Affects zu
geben. „Ich fürchte mich.“ — Warum? — Ich weiss es nicht, aber
ich fürchte mich.“ (Esquirol), so sprechen solche Kranke, und es
lässt sich damit gleich erwaretn, was die Beobachtung vollkommen
bestätigt, wie Zuspruch, Zärtlichkeit, Raisonnement keinen Einfluss
auf den durch die Gehirnkrankheit gesetzten depressiven Affect
haben können und wie die Vorstellungen, welche aus diesen Affecten
heraus entstehen, eine innere subjective Begründung und damit einen
Character von Unwiderleglichkeit haben müssen, der sie für Vernunft-
gründe unzugänglich macht und höchstens den Wechsel einer trau-
rigen Vorstellung mit einer andern gestattet.
§. 95.
Anomalieen des Vorstellens. Die schmerzliche Concentration
unterdrückt die Lebhaftigkeit und den gesunden Wechsel des Vor-
stellens. Wenige Gedanken beschäftigen den Kranken anhaltend, und
er äussert fast nur monotone Klagen über sich selbst, die mit ihm
vorgegangene Veränderung, über einzelne Ereignisse aus der Zeit der
beginnenden Erkrankung etc. Die Neigung zu geistiger Mittheilung
ist meist sehr vermindert; der Kranke verstummt oft vollständig oder
seine Rede wird schüchtern, stockend, leise, abgebrochen. Ein von
uns beobachteter Melancholischer brachte mehre Jahre in absolutem
Stillschweigen zu und äusserte die herrschende Stimmung nur in
seiner Angst und Trauer ausdrückenden Physionomie und in zeitweisem
heftigen Weinen und Händeringen. In andern Fällen geht Wehklagen,
Stöhnen, Bitten, Flehen in lautem, ununterbrochenem Strome, aber
stets desselben Inhalts fort.
Neben dieser formalen Störung treten nun der Stimmung ent-
sprechende falsche Gedankeninhalte und Urtheile auf. Der Kranke
fühlt sich z. B. in einem Zustande von Seelenangst, wie ihn der
Verbrecher nach einer schweren That empfinden muss, es ist ihm
zu Muthe, wie wenn er selbst ein Verbrechen begangen hätte und
er kann dieses Gedankens nicht mehr Herr werden. Da er aber in
seiner Erinnerung kein wirkliches Verbrechen findet, so hält er sich
an irgend ein unbedeutendes Ereigniss, wo er einen kleinen Fehler,
eine kleine Unvorsichtigkeit begangen oder auch nicht einmal be-
gangen hat, und macht so irgend welchen Vorfall zum Mittelpunkt
des Deliriums, indem er in ihm allen Grund seines jetzigen Zustandes
[170]Symptomatologie der Schwermuth.
und fernerer Befürchtungen findet. Oder er fühlt sich ruhelos, von
unbestimmter Qual herumgetrieben, es ist ihm, wie einem von Feinden
Verfolgten; bald hält er sich wirklich für verfolgt, von Feinden, ge-
heimen Complotten, Spionen umgeben, und da er Alles auf sich
bezieht, findet diess Delirium in jedem geringfügigen Umstande Nahrung.
Oder der Kranke, der früher religiöse Vorstellungen nährte, fühlt,
wie auch zu diesem Kreise von Anschauungen sein ganzes Verhalten
sich geändert hat, wie ihm der Zustand von Angst und Unruhe jede
Gemüthssammlung unmöglich macht, wie er daher nicht mehr beten
kann oder wenn er es versucht, auch hier von finstern, negativen
Vorstellungen belästigt wird, wie er von der Kirche so gut als von
allem Uebrigen nur widrige Eindrücke erhält; so erscheint er sich in
seiner Ausnahmsstellung als ein Verworfener, unmittelbar von Gott
Verstossener, dem Teufel und der ewigen Verdammniss Uebergebener
und bald erheben sich die Vorstellungen eigener Verschuldung, viel-
facher Sünden, vernachlässigter Pflichten etc., wo es dann vom Zufalle
abhängt, auf welchem Gedanken gerade der Kranke ruhen bleibt, um
ihn als halb oder ganz fixirten stets zu wiederholen.
Einen wesentlichen Character haben eben alle diese melancho-
lischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht- und
Ueberwältigtwerdens. Aber man sieht leicht ein, wie mannigfaltig ihr
specieller Inhalt nach der Bildungsstufe und dem Character, nach früheren
Erlebnissen und nach zufälligen Eindrücken bei den einzelnen Kranken
sein muss. Dasselbe Gefühl des Sich-selbst-verlorenhabens, des Hin-
gegebenseins an fremdartige, bizarre Empfindungen und Vorstellungen
das dem abergläubischen Bauer die Vorstellung des Behextseins er-
weckt, kann beim Gebildeteren z. B. die Idee hervorrufen, unter geheimen
Einflüssen anderer Menschen, unter Beeinträchtigungen durch Electricität,
Magnetismus, Chemie etc. zu leiden. Dem Einen ist es, als seien seine
liebsten Güter, Kinder, Verwandte, oder sein Vermögen für ihn zu Grunde
gegangen, er glaubt es und fürchtet nun mit seiner ganzen Familie aus
vollständigem Mangel verhungern zu müssen. Ein Anderer hält sich
für ruinirt in seinen Geschäften, für abgesetzt von seinem Amte, für
verwickelt in die schwersten Criminal-Untersuchungen, klagt sich an,
seine Familie an den Bettelstab gebracht, dem Elend preisgegeben
zu haben etc. Ein Andermal ist es dem Kranken, wenn er so die
Umwandlung seiner ganzen Empfindungsweise und die Unmöglichkeit
fühlt, das gewohnte Mass humanen Antheils an der Welt und
menschlicher Beschäftigung festzuhalten, als könne er selbst gar kein
Mensch mehr sein, als müsse er zum Thier geworden, ja in ein
[171]Verstandes-Sinnes-Störungen.
Thier verwandelt sein. Wie der Wechsel der Lebens-Anschauungen
und der Sitten überhaupt dem Irresein verschiedene Ausdrücke und
Färbungen gibt, während die Empfindungsweisen an sich natürlich
immer dieselben sind und die allgemeinen Beziehungen der Liebe,
der Familien-Anhänglichkeit, der Freundschaft etc. für alle Zeitalter
als gleich bedeutende Stoffe der Gemüthsinteressen bestehen bleiben,
so hat auch das Delirium der Melancholischen zu verschiedenen Zei-
ten verschiedene Ausdrücke gehabt. Es sind aber immer dieselben
Grundstörungen der Selbstempfindung, ob der Schwermüthige im Alter-
thume die Furcht äusserte, Atlas möchte, seiner Last müde, das
Himmelsgewölbe herunter fallen lassen, ob er im Mittelalter mit
Hexen, Gespenstern und Wehrwölfen zu thun hatte, ob er in der
Gegenwart sich vor der Polizei fürchtet, oder sich mit dem Wahne
grosser verunglückter Speculationen und beeinträchtigter Geldinteressen
beschäftigen mag.
Die Entstehungsweise dieser Delirien ist also die bereits mehr-
fach erwähnte. Der Kranke fühlt seine traurige Verstimmung; er ist
gewohnt, dass Traurigkeit nur auf widrige Anlässe in ihm entsteht;
das Causalitätsgesetz heischt auch hier Grund und Ursache, und ehe
er sich nach solchen ausdrücklich gefragt hat, tauchen schon als
Antwort allerlei finstre Gedanken, trübe Ahnungen und Befürchtungen
auf, über denen er so lange brütet und grübelt, bis einzelne Vor-
stellungen stark und bleibend genug geworden sind, um sich, wenigstens
zeitenweise zu fixiren. So haben diese Delirien wieder den wesent-
lichen Character von Erklärungsversuchen für den eigenen Zustand.
§. 96.
Anomalieen der Sinnesempfindung und Bewegung be-
gleiten häufig diese geistigen Störungen, theils die §. 43 erwähnten
Empfindungen von Leerheit, Abgestorbensein des Kopfs, der Glieder,
ja des ganzen Körpers, theils widrige Empfindungen auf der ganzen
Hautoberfläche, die den Wahn des Electrisirtwerdens erregen, theils
Hyperästhesie des Gesichts und Gehörs (Zittern, Zusammenfahren beim
kleinsten Geräusche, vielleicht eine Grundlage der sog. Panphobie).
Das eigentliche Irresein der Sinne, die Hallucinationen und
Illusionen haben ganz den Character und das Gepräge der schmerz-
lichen Gemüthsverstimmung. Der Kranke sieht die Zurüstungen zu
seiner Hinrichtung, er hört die Gerichtsdiener, die ihn abholen wollen;
er sieht sich von den Flammen der Hölle umgeben; Abgründe schei-
nen sich vor seinen Füssen zu öffnen; Gespenster kommen, ihm das
[172]Symptomatologie der Schwermuth.
Gericht anzukündigen; Stimmen verfolgen ihn, die ihn verspotten und
beschimpfen etc. etc. Eine junge Melancholische, die wir beobach-
teten, sah sich aus dem Spiegel einen Schweinskopf entgegenstarren,
und glaubte sich von da an eine Zeit lang in ein solches Thier ver-
wandelt. Am häufigsten und mannigfaltigsten sind die Hallucinationen
in derjenigen schwereren Form der Melancholie, welche mit völliger
Insich-versunkenheit und theilweisen Schwinden des Bewusstseins der
Aussenwelt verbunden ist (s. unten Melancholie mit Stupor). Auch
im Geruchs- und Geschmackssinn kommen Hallucinationen ziemlich
häufig vor; die letzteren, namentlich als widrige, metallische Ge-
schmäcke liegen oft dem Wahn, vergiftet, oder durch eine gewisse
Speise verhext worden zu sein, zu Grunde. Die subjectiven widrigen
Gerüche erwecken die Vorstellung, von Leichnamen umgeben zu sein,
selbst in Verwesung überzugehen etc.
Mit dem Auftreten und Zunehmen der Hallucinationen reagirt
der Kranke erst vollends auf imaginäre Verhältnisse und wird dadurch
der realen Welt immer mehr entfremdet. Oft werden die Hallucina-
tionen zum Gegenstand neuer Erklärungen, und die trübsten und
abgeschmacktesten Ideen von einer Gespensterwelt, von unter der Erde
angebrachten Maschinen, die auf den Kranken einwirken etc., haben
ihren Ursprung in diesen, oft lange oder während der ganzen Krank-
heit gar nicht geäusserten Sinnesanomalieen.
Die Bewegungen der Melancholischen tragen durchaus
das Gepräge des herrschenden schmerzlichen Affects. Meistens sind
sie träge, langsam, unterdrückt, der Kranke bleibt gerne im Bette
liegen, steht oder sitzt Tage lang in einem Winkel, ohne von seiner
Umgebung Notiz zu nehmen. Oft ist die ganze Stellung und Haltung
des Kranken starr, unbeweglich, bis zur statuenartigen Fixität. Die
Glieder sind dabei entweder steif und leisten den Versuchen ihnen
eine andere Lage zu geben, ziemlichen Widerstand, oder sie sind
biegsam, beweglich und behalten oft die ihnen gegebene Stellung
bei (cataleptische Zustände). Die Gesichtsmuskeln sind oft in an-
haltender einseitiger Contractur, die Züge unveränderlich, gespannt,
die Stirne gerunzelt, die Mundwinkel herabgezogen; diess, noch
verbunden mit der meist graueren, livideren Hautfärbung, gibt den
Melancholischen fast immer ein älteres Aussehen. Der Blick ist
oft zur Erde gesenkt, anderemale das Auge starr geöffnet, mit dem
Ausdruck des Schmerzes, der peinigenden Spannung oder des
Staunens.
Ein wesentlich anderes Verhalten zeigen die Bewegungen in der
[173]Körperliche Störungen.
Form der Melancholie, wo sich die innere Angst auch in körperlicher
Unruhe äussert. Die Kranken treiben sich dann unstet umher, oft
weinend und händeringend; oft zeigen sie Neigung im Freien herum-
zuirren, an entfernte Orte, zu Verwandten, Freunden zu laufen (Me-
lancholia errabunda). Dabei werden oft die Hände gerungen, auch
wohl die Arme in drehenden und zappelnden Bewegungen hin und
hergeworfen. Mit Recht findet man in diesen beiden Aeusserungs-
weisen des krankhaften psychischen Schmerzes die Analoga zu den
Erscheinungen des peinlichen Affects bei Gesunden, einerseits zu
dem Starrwerden vor Schrecken und Bestürzung, andrerseits zu der
körperlichen Unruhe und Aufregung (Herumlaufen, Gänge ins Freie etc.),
welche man in solchen Gemüthslagen beobachtet.
Die ausserdem vorhandenen Störungen des körperlichen Befindens
sind begreiflich ohne allen Werth für die Diagnose des Irreseins überhaupt oder
einer bestimmten Form desselben, von um so grösserem dagegen für die Aetio-
logie und Therapie. Sie sind nicht constant, und stehen zu dem Irresein in
einem verschiedenen Verhältnisse. Bald sind sie Symptome schon früher be-
standener Krankheiten, welche das Ihrige zur Entstehung der Gehirnkrankheit
beitrugen (z. B. die Herzaffectionen), bald zufällige Complicationen, bald Fol-
gen (Nebensymptome) der Gehirnkrankheit selbst. Zu den letzteren gehört na-
mentlich:
1) Der Mangel oder die Verminderung des Schlafes, so dass die Kranken
entweder ganz schlaflos bleiben, oder sich von ihrem Schlummer so wenig
erquickt fühlen, dass sie behaupten, wach geblieben zu sein (eine Art inneres
Fortwachen bei eingeschlafener Sinnesthätigkeit). Schwere, widrige Träume
sind häufig und die Hallucinationen entstehen nicht selten in den Zeiten des
Uebergangs von Schlaf zum Wachen.
2) Schmerzhafte Empfindungen im Kopfe, Hitze, Druck, Schwere, Ein-
genommenheit, Gefühl von Leere, von Wasser etc. im Schädel, wandernde
Schmerzen in verschiedenen Theilen, der Brust, der Wirbelsäule, der Magen-
grube etc., Unempfindlichkeit einzelner Hautstellen, Gefühle als ob ihnen ein-
zelne Glieder nicht mehr angehörten, eine wesentliche Herabsetzung der sexuellen
Empfindungen und daher fast constante Verminderung des Geschlechtstriebs sind
die Hauptsymptome einer veränderten Action der sensitiven Nerven.
3) Sehr häufig leidet die Verdauung und wie bei fast allen Gehirnkrank-
heiten, tritt gerne Verstopfung ein. Hieraus können sich einige Missgriffe in der
Aetiologie, die Annahme hypothetischer Stockungen und Infarkten ergeben,
während schon die so ganz gewöhnliche Beobachtung, wie bei den traurigen
Affecten des Gesunden so leicht secundäre Störungen in der Function des Darm-
canals auftreten, auf das richtige Verhältniss hinweisen. — Oft findet man die
Zunge belegt und den Appetit abnorm, entweder mangelnd, oder, und zwar häu-
figer vermehrt, indem das Gefühl der Sättigung zu fehlen scheint. Eine auf-
fallende Gefrässigkeit und Naschhaftigkeit der Kranken bildet oft einen sonder-
baren, beinahe lächerlichen Contrast mit ihrer traurigen Verstimmung; man sieht
sie z. B. grosse Stücke Kuchen mit Hast hinunterschlingen, dabei aber stets
[174]Körperliche Störungen bei Schwermüthigen.
über ihre vielen Sünden, den Verlust ihrer Seligkeit oder alles zeitliche Unglück
fortjammern.
Die Verweigerung der Nahrung, welche bei den Melancholischen zuweilen
vorkommt, und bei der längeren Dauer und Hartnäckigkeit wegen der anzuwen-
denden Zwangsmittel und der dennoch höchst mangelhaften Ernährung eine un-
angenehme Complication bildet, geht häufig aus der Furcht vor Vergiftung her-
vor; anderemal ist es ein Versuch des Selbstmords durch Verhungern oder es
liegen dieser Enthaltsamkeit die Vorstellungen einer Art von Sühne durch Hun-
gern, von Versündigung durch den Genuss von Nahrung, Hallucinationen, Stim-
men, welche den Kranken geboten haben zu fasten etc. zu Grunde. Schwerere
Erkrankungen der Darmschleimhaut, namentlich die acuten ausgebreiteten Catarrhe,
scheinen zuweilen jene Vorstellungen zu wecken und zu unterhalten.
4) Die Ernährung des Körpers leidet häufig Noth. Die Kranken magern ab,
die Haut verliert ihren Turgor und ihre Frische, wird welk und häufig trocken.
Ein ähnliches Verhalten zeigt sich in Folge trauriger Affecte bei Gesunden; doch
hat man mit Recht darauf aufmerksam gemacht, wie die Gemüthsverstimmung
der Schwermüthigen durchaus nicht eine so tiefe Zerrüttung des ganzen Orga-
nismus zur Folge hat, wie sie durch gleich schwere und langwierige Affecte bei
Gesunden sicher eintreten würde. Es wird diess besonders dem Umstande zuzu-
schreiben sein, dass diese Kranken doch in der Mehrzahl der Fälle weit mehr
Nahrung zu sich nehmen und besser verdauen, als diess bei tiefen Gemüths-
affecten des gesunden Lebens der Fall ist; sobald sie dagegen, z. B. bei Ver-
weigerung freiwilliger Speise-Aufnahme nur nothdürftig genährt werden, so
tritt schnell ein acuter Marasmus, oft mit schweren, tödtlichen Localleiden
(Brand der Lungen) auf.
5) Die Respiration ist häufig verlangsamt, unvollständig und schwer; der
Brustbeklemmung sucht der Kranke durch Seufzen Luft zu machen. Palpitationen
sind sehr häufig und die Angstempfindungen des Kranken gehen oft vom Herzen
aus. Schon oben ist dieser Circulationsstörungen und ihrer für die Entwicklung
und Unterhaltung der Gehirnkrankheit sehr wichtigen Bedeutung gedacht worden.
Der Puls kann von der verschiedensten Beschaffenheit sein; oft ist er klein und
selten; Hände und Füsse sind oft anhaltend kalt, namentlich bei den ganz un-
beweglichen Kranken.
6) Störungen der Menstruation, Fehlen, Unregelmässigkeit derselben sind
häufig genug; in manchen Fällen sieht man mit ihrem Wiedereintritt die Krank-
heit aufhören, in anderen bleibt sie ungestört, oder der Zustand verschlimmert
sich sogar.
7) Anomalieen der Harnabsonderung mögen häufiger sein, als man gewöhnlich
vermuthet. In zwei sonst ganz verschiedenen Fällen von Melancholie haben
wir reichliche, lange andauernde Abscheidungen von Phosphaten beobachtet, was
an dasselbe Vorkommen bei manchen Spinalneurosen erinnert. Ausserdem wäre
der Harn besonders auf Kleesäure und auf Spermatozoen zu untersuchen.
Chronische Krankheiten der Eingeweide, Lungentuberculose, Hautkrank-
heiten, chronische Darmcatarrhe etc. bilden sich oft während der Schwermuth
aus oder machen schleichend ihren Verlauf weiter. Wenn der Tod erfolgt, so
ist es gewöhnlich durch eine dieser Krankheiten; nur in der Form der Melan-
cholie, welche auf Oedem des Gehirns beruht (s. unten), ist die Gehirnkrankheit
selbst schwer genug, um (durch Compression) zum Tode zu führen.
[175]Verlauf der Schwermuth.
§. 97.
Der Verlauf der einfacheren Formen der Melancholie ist oft
sehr acut, da z. B. wo ein ganz kurzes Stadium schmerzlicher Ge-
müthsverstimmung mit tiefer Angst der Entwicklung der Manie, nament-
lich auch der intermittirenden, vorausgeht. In der Regel aber ist der
Verlauf der Schwermuth chronisch, mit Remissionen, seltener mit voll-
ständigen Intermissionen von verschiedener Dauer. Einmal haben wir
bei einer tief Melancholischen (Vorstellungen gänzlichen Vermögensver-
lustes, verhungern zu müssen etc.) ein vollständiges lucidum intervallum,
kaum eine Viertelstunde andauernd, ohne alle bemerkbare äussere
Veranlassung entstehen, und ebenso plötzlich wieder verschwinden
sehen. Die Remissionen sind natürlich im Beginn der Schwermuth
und wieder bei Annäherung an die Reconvalescenz am häufigsten.
Uebergänge in Manie und Wechsel dieser Form mit der Schwer-
muth sind sehr gewöhnlich; nicht selten besteht die ganze Krankheit
aus einem Cyclus beider Formen, welche oft ganz regelmässig ab-
wechseln. Andere Beobachter und wir selbst haben Fälle gesehen,
wo zu einer gewissen Jahreszeit, z. B. im Winter, tiefe Schwermuth
sich einstellt, und diese im Frühling in Manie übergeht, welche im
Herbst allmählig wieder zur Melancholie herabsinkt. — Ein sehr
mässiger Grad von Melancholie mit bedeutenden Remissionen kann
viele Jahre lang bestehen; solche Kranke kommen selten und nur
bei Exacerbationen oder intercurrirenden Anfällen von Tobsucht, in
die Irren-Anstalten; sie können sich meist in ihren gewohnten Ver-
hältnissen erhalten, und sind die Qual ihrer Umgebung und der
Gegenstand vielseitiger schiefer Beurtheilung von Seiten der Aerzte
und Laien.
Die anhaltende Form der Schwermuth von noch mässiger Inten-
sität dauert gewöhnlich bei einer, nur nicht positiv unzweckmässigen
Behandlung, ein halbes Jahr bis zu einem Jahr. Es ist durch eine
grosse Anzahl von Beobachtungen als unzweifelhaft zu betrachten,
dass intercurrirende acute, wie auch neu sich entwicklende chronische
Krankheiten oft von günstigem Einflusse auf die Melancholie sind, so
dass diese mit dem Auftreten jener aufhört. Zu jenen gehört z. B.
die Salivation, die Entwicklung von Exanthemen, von intermittirenden
Fiebern, zu diesen die Tuberculose. Um so weniger aber wollen sich
diese Thatsachen den Begriffen der alten Crisenlehre fügen, als es
eben nicht selten Neurosen ohne palpable Ausscheidungen sind (Spi-
[176]Ausgänge der Schwermuth.
nalirritation, heftige Zahnschmerzen etc.) mit deren Eintritt die Gehirn-
krankheit sich mässigt oder aufhört. *)
Gewiss ebenso häufig aber, als das Verschwinden der Melan-
cholie beim Eintritt anderer Krankheiten, beobachtet man dabei ihr
Fortbestehen und sogar ihre Steigerung; oder das Irresein nimmt mit
dem Zurücktreten der Schwermuth nur eine andere Form an. So
sahen wir bei einem jungen Manne, der mehre Jahre in tiefer Schwer-
muth mit nur schwachen Remissionen zugebracht hatte, wie mit dem
Eintritt eines heftigen Catarrhs mit Lungenblutungen, den ersten
Zeichen einer dann rasch verlaufenden Lungentuberculose, mit gleich-
zeitiger bedeutender Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule, die Schwermuth
nachliess und sich dafür eine ebenso krankhafte Begehrlichkeit und
unruhige Heiterkeit einstellte.
Die Genesung erfolgt meist allmählig, unter successiver Abnahme
der Verstimmung, Rückkehr früherer Neigungen und Eigenthümlich-
keiten, oft unter gleichzeitiger oder vorausgehender Zunahme des
Körpervolums.
Ausser dem häufigen Uebergange in eine der maniacalischen Formen
kann bei längerer Dauer sowohl die einfache, als namentlich die mit Stupor
verbundene Melancholie auch in einen psychischen Schwächezustand, einen
mässigeren oder höheren Grad von wahrem Blödsinn übergehen, wohl
immer unter Entwicklung organischer Alterationen in der Schädelhöhle.
Während alsdann die Körper-Ernährung wieder zunimmt, in der Phy-
sionomie aber meist ein Ausdruck plumper Verzerrung stehend wird, er-
löschen allmählig die traurigen Affecte, während sämtliche psychische
Thätigkeiten ihre Energie bleibend verloren kaben. Nicht selten ent-
wickeln sich auch Zustände annähernder oder ausgebildeter Verrückt-
heit, wobei einzelne fixirte, traurige Wahnvorstellungen, namentlich
jene Hallucinationen, durch welche bei dem Kranken der Wahn der
Vergiftung, der Complotte, des Electrisirtwerdens etc. entstanden und
unterhalten worden ist, in fürderhin unheilbarer Weise fortdauern.
Solche Kranke, an Verrücktheit, psychischen Schwächezuständen mit
Residuen der Melancholie (und Manie) leidend, meist mit mannig-
fachen Exacerbationen in Form eines oder des andern primären Zu-
standes (Apathie wechselnd mit Turbulenz, oberflächliche Traurigkeit
wechselnd mit gleich wenig tiefer Freude etc.) bilden die Mehrzahl
der chronischen Formen in den Irrenhäusern; wir werden sie bei
der Verrücktheit und dem Blödsinn näher betrachten. Anfangs bleibt
[177]Beispiele von Schwermuth.
oft der Zustand lange stationär in der Form der Schwermuth und
zeigt leichte Schwankungen der Besserung und Verschlimmerung;
in diesem Zeitraum ist das Urtheil über die Heilbarkeit ausserordent-
lich schwierig; hat aber ein solcher Zustand von Apathie mit dem
Ausdrucke der Schwermuth einmal 3 bis 4 Jahre ohne Intermission
gedauert, so sind Genesungen nur noch höchst selten.
Beispiele der einfacheren Formen der Schwermuth mit Ausgang
in Genesung.
VI. Hypochondrie. Tiefe Schwermuth. Febris intermittens.
Genesung. N. N., Pfarrer, 43 Jahre alt, von kräftiger Constitution, wird im
August 1825 in Siegburg aufgenommen, nachdem er im März d. J. erkrankt war.
Die Hauptsymptome hatten bisher in einem Ausdrucke grosser Angst und Unruhe,
stierem misstrauischem Blick, blasser Gesichtsfarbe, kurzer Respiration, kleinem
und sehnellem Pulse bestanden. Er hatte sich einer scheusslichen Lebensweise
und grober Vergehungen angeklagt, in einzelnen lichten Augenblicken übrigens
seinen Zustand richtiger beurtheilt (Aderlässe, Vesicatore, Nitrum, Brechmittel,
Gebrauch eines Stahlbrunnens.).
Bei der Aufnahme scheuer unstäter Blick, Ausdruck von Angst und Ver-
zweiflung, voller Bauch, träger Stuhl, erdfahle Gesichtsfarbe, Aeusserungen,
dass er sogleich zerrissen, zermalmt, in Stücken gehauen werden würde. (Wein-
steinsalze mit Schwefel, leichte geistige Beschäftigung.)
Im September war der Kranke allmählig ruhiger geworden und zeigte sich
weniger geneigt seine traurigen Gefühle zu äussern. Bald klagte er über Mattig-
keit, Kopfschmerzen und es traten nun Anfälle von intermittirendem Fieber in
tertianem Typus auf. An den Fiebertagen glaubte er jedesmal bis zum Eintritt
des Schweisses, er werde nun sterben und wiederholte diess jeden Augenblick
mit dem schrecklichsten Ausdruck von Angst in Blick und Gebärden. Jede Vor-
stellung, dass er an den vorhergehenden Fiebertagen dasselbe gesagt und ge-
glaubt, wies es mit den Worten zurück: Heute ist es ganz anders, ich muss
heute sterben. (Brechweinstein mit Salmiak.) Später kamen die Fieberanfälle
täglich und die Todesfurcht wurde geringer. Endlich hörten jene von selbst
ganz auf und damit verloren sich auch die zwar früher schon etwas geminderten,
aber bis dahin immer noch häufig wiederholten Aeusserungen, die sich auf be-
gangene unversöhnbare Missethaten und die zeitlichen und ewigen Strafgerichte,
die ihm desshalb bevorstünden, bezogen, und nur eine hypochondrische Selbst-
quälerei und übermässige Aengstlichkeit in Bezug auf den körperlichen Gesund-
heitszustand blieb einige Zeit noch zurück; der Puls wurde regelmässig, ein mit
den letzten Anfällen des Wechselfiebers entstandenes Oedem der Beine und das
fahle Ansehen der Haut verloren sich; er beschäftigte sich freiwillig und em-
pfänglich mit geistigen Arbeiten, wurde heiter und froh und verliess in Januar
1826 völlig genesen die Anstalt.
Folgende Aeusserungen über die Entstehung seiner Krankheit schrieb der
Wiedergenesene nieder: „Von früher Jugend an war bei mir ein hypochondrischer
Zustand vorhanden; schon ehe ich die Universität bezog, glaubte ich, ich hätte
die Auszehrung und Versicherungen der Aerzte vom Gegentheil waren fruchtlos.
Manche widrige Vorfälle flössten mir Misstrauen gegen die Menschen ein und
Griesinger, psych. Krankhtn. 12
[178]Beispiele von
als ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheilt
war, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger
Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten.
Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während
ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den
schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer-
hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man-
gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod
eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die
Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti-
gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von
schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost
durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer-
hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten
auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es
mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem
Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn
zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. Dieser Gedanke entstand bei mir
nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf
einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen
Zustand. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu
Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich
aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und
ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung,
ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde
von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss
erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als
mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte,
hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen-
sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein
Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um
mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in
kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung
dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender
als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten
Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke
glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte
gewöhnlich nur grössere Traurigkeit — — Meinen Zustand gegen Ende der
Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren
Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein
Traum gewesen ist. — —“
(Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie
der mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 441 seqq.)
VII. Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua-
tion. Ein 19jähriges Mädchen, deren Mutter in einem Anfalle tiefer Schwer-
muth durch Selbstmord starb, gesund und fröhlichen Gemüths, vom 15ten Jahre
an regelmässig menstruirt, vom 16ten an fluor albus leidend, später durch ein
von den Umständen nicht begünstigtes Liebesverhältniss und andere Ereignisse
[179]Schwermuth.
gemüthlich afficirt, erkrankte plötzlich im August 1825. Man nahm eine gewisse
Albernheit an ihr wahr; sie lachte öfter ohne Anlass, machte allerlei kurzweilige
Streiche und zeigte Verwirrtheit in Reden und Handlungen. Blick, Gesichtszüge
und Bewegungen waren lebhaft und hastig, der Unterleib aufgetrieben, der Stuhl-
gang träge, die Menstruation sparsam. Nach einigen Monaten trat in Bezug auf
die Seelenstörung eine vollkommene Intermission ein, aber nach 6 Wochen zeigte
sich das Irresein von Neuem unter einer andern Gestalt.
Die Kranke schien schwermüthig beängstigt, sass entweder in Gedanken
verloren, stumm und bewegungslos da, oder weinte und seufzte, indem sie oft
dazwischen ausrief: welch ein Unglück, was habe ich denn gethan! Sie ver-
weigerte die Nahrung, ihre Gestalt verfiel, die früher blühende Farbe wurde
erdfahl, die Gesichtszüge verzerrt und die Kräfte schwanden. Der Unterleib war
hart und aufgetrieben, der Stuhl sparsam und trocken, die Menstruation hörte ganz
auf und der fluor albus war anhaltend. Nach einiger Zeit kehrte einige Esslust
wieder, die Kranke ging an die Hühnertröge, oder suchte sich sonst rohe und
unreine Nahrung zusammen, die sie heimlich verzehrte, sie nahm dabei etwas
an Kräften und Masse zu, hatte aber ein gedunsenes livides Aussehen. Nachdem
seit dem Wiedereintritt der Seelenstörung ohne ärzliche Hülfe 8 Monate ver-
flossen waren, ward das Mädchen im August 1826 in Siegburg aufgenommen.
Ausser etwas scrophulösem Habitus und dem längst bestandenen fluor albus war
kein Symptom körperlicher Krankheit zu bemerken. Ihre Bewegungen sind ohne
Energie, ihre Haltung hängend, dabei weint sie den ganzen Tag über unablässig
und zwar mit so heftigem Schluchzen und eigentlichem Heulen, dass man jeden
Augenblick glauben sollte, es wäre ihr etwas Ungeheures begegnet. Während
der Nächte schläft sie meistens ruhig; zur Annahme der Nahrungsmittel lässt
sie sich etwas nöthigen. Die Seelenstörung bei der Kranken gibt sich jetzt
hauptsächlich durch die sie ausschliessend beherrschende Gemüthsstimmung kund,
welche alle ihre Vorstellungen beherrscht und ihre Willensthätigkeit lähmt, ohne
dass sich hievon abgesehen Verstandesverwirrung oder eine bestimmte krankhafte
Richtung des Begehrungsvermögens offenbart. Die gestörte Verdauung, die Auf-
treibung und Festigkeit des Unterleibs nebst der Amenorrhöe und dem fluor albus
schienen die wichtigsten therapeutischen Indicationen zu geben. (Milde, regel-
mässige Kost, Bäder, Beschäftigung.) Eine Reconvalescentin nimmt sich der
Kranken mit mütterlicher Sorgfalt an und diese gewinnt Zutrauen zu ihr und
wird folgsam.
Zu Ende September tritt die Menstruation sparsam ein, der Unterleib bleibt
aber aufgetrieben und fest. (tart. borax. c. flor. sulph. Fontanelle an beide Ober-
arme.) Die Kranke wird allmälig ruhiger, weint weniger, isst ungenöthigt. Nach
drei Wochen kehrt die Menstruation zurück, der Unterleib verliert seine Auf-
getriebenheit und Härte, der Stuhl wird regelmässig, die Verzerrtheit der Züge
schwindet, der Gesichtsausdruck wird heiterer und nach nochmals wiedergekehrter
Menstruation am 10. Nov. war alle Traurigkeit und alles Weinen wie wegge-
zaubert. Beschäftigung war ihr eine Lust; der fluor albus war allmälig ganz
verschwunden, ihre Gesundheit befestigte sich immer mehr und sie ward im
April 1827 glücklich wieder genesen entlassen.
(Jakobi, Beobachtungen über die mit Irresein verbundenen Krankheiten. 1830. p. 198 seqq.)
VIII. Melancholie mit Neigung zum Selbstmord und Halluci-
nationen. Wahrscheinlich pollutio diurna. Heilung durch Caute-
12 *
[180]Beispiele von Schwermuth.
risation der Urethra. Emil G., 23 Jahre alt, zeigte früher schöne Geistes-
anlagen und war im 21. Jahre Advocat geworden. Seine Haltung ist gebeugt, der
Körper mager, die Muskeln schlaff, die Haut ohne Colorit, das Gesicht ausdrucks-
los, der Blick matt, zur Erde gesenkt, die Stimme schwach, das Benehmen sehr
schüchtern, die untern Extremitäten in beständiger Bewegung. — Während seine
mündliche Unterredung höchst dürftig und linkisch ist, gibt der Kranke schrift-
lich folgende klare Bemerkungen über seinen Zustand:
„Nachdem der Kranke vom 12ten Jahre an Onanie getrieben, trat im 19ten
die Veränderung seines Characters ein: zuerst allmählig ein psychischer Ekel
vor Allem, eine tiefe, allgemeine Langeweile; während er bis dahin nur die
lichte Seite des Lebens bemerkt hatte, sah er von jetzt an alles von der trüben
Seite an. Bald trat der Gedanke des Selbstmords auf. Nach einem Jahre trat
dieser zurück, dafür hielt sich jetzt der Kranke für den Gegenstand des
Spottes bei Andern. Er glaubte, man mache sich überall über seine Phy-
sionomie und seine Manieren lustig, und mehrmals hörte er, sowohl auf der
Strasse, als im Zimmer bei Verwandten und Freunden, an ihn gerichtete
Schimpfworte. Endlich glaubte er, dass Jedermann ihn beleidige; wenn Je-
mand hustet, räuspert, lacht, die Hand zum Munde oder ein Sacktuch vor das
Gesicht bringt, so macht ihm diess die peinlichsten Empfindungen, bald zor-
nigen Affect, bald eine tiefe Niedergeschlagenheit mit unwillkührlichem Thränen-
erguss. Er ist für Alles gleichgültig und immer auf diese seine Ideen con-
centrirt; er sucht die Einsamkeit und die Gesellschaft thut ihm wehe. Er gibt
zu, dass er vielleicht Hallucinationen hatte, aber er ist doch überzeugt, dass
diese Ideen nicht ohne Grund sind, dass sein Gesichtsausdruck etwas Befrem-
dendes habe, dass man in ihm seine Furcht, die Gedanken, die ihn beun-
ruhigen, lesen könne.
Er fühlt Schwere des Kopfes, eine Art Druck auf das Gehirn; er ist
schwach, muthlos, beständig schläfrig und stumpf; jede Bewegung ermüdet
ihn und er hat doch beständig Bedürfniss seine Stelle zu verändern. Er fühlt
sich gealtert; seit einigen Monaten nimmt die Niedergeschlagenheit zu: seit
fünf Jahren macht ihm nichts mehr Freude, Alles drückt
und belästigt ihn, er ist ängstlich, schüchtern, verlegen, unfähig
zu handeln und zu sprechen. „Der Geist des Lebens hat sich aus mir zu-
rückgezogen.“
Seit 9 Monaten hat der Kranke völlig der Onanie entsagt und dennoch ver-
schlimmerte sich sein Zustand von Tag zu Tag.
Dabei hartnäckige Verstopfung, völliger Mangel aller Erectionen und alles
Geschlechtstriebs; etwa 1—2 Pollutionen in einem Monat. Im Urin beständig ein
reichlicher, flockiger, einer dicken Gerstenabkochung ähnlicher Bodensatz; schnelle
Zersetzung des Urins. Nach jedem Stuhl an der Mündung der Harnröhre eine
klebrige Flüssigkeit, wie dickes Gummiwasser. Häufige Urinentleerung, Empfind-
lichkeit der Samenstränge, der Hoden und besonders der Urethralschleimhaut,
Röthe der Urethramündung. Cauterisation des Blasenhalses und der pars prostatica
Urethrae; allmählige Besserung nach 4 Wochen, durch laue und langdauernde
Bäder sehr unterstützt. Kurz darauf völlige Heilung mit der Herstellung der
Potenz.
(Lallemand, des pertes séminales. I. p. 357.)
[181]Varietätcn der Schwermuth.
§. 98.
Die Aeusserungsweisen des psychischen Schmerzes in der Schwer-
muth sind so verschiedenartig und mannigfaltig, dass man von jeher
aus den Hauptunterschieden hierin einzelne Arten und Varie-
täten der Melancholie bildete.
Insoferne sich die Differenz nur auf die Art und den Gegen-
stand des Deliriums, welcher häufig mit den hervorstechendsten
psychischen Krankheitsursachen zusammenfällt, bezieht, ist die Auf-
stellung solcher Varietäten von nur mässigem Werth; in dieser Hin-
sicht sind hauptsächlich folgende Unterformen zu erwähnen.
1) Melancholia religiosa wurde die Aeusserungsweise der
Schwermuth genannt, wo sich das Delirium vorzugsweise um reli-
giöse Vorstellungen, den Wahn schwerer Versündigung, die Furcht
vor Höllenstrafen, das Verworfensein vor Gott etc. drehte. Es ist
häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die
innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder
dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der
Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern
häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es ist hier
die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig
geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht
vor Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer
trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie
lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und
schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen,
damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen
kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den
Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der
schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten.
Ebenso verhält es sich natürlich auch bei der interessanten Form
der Schwermuth, wo sich das Gefühl des Beherrscht- und Ueber-
wältigtseins (p. 170), in der Vorstellung des Besessenseins von
Dämonen ausspricht, die sogenannte Dämono-Melancholie, welche
in allen Ländern (namentlich auch in Frankreich nicht selten *) vor-
kommt, deren sich aber in neuerer Zeit in unserm Vaterlande theils
ein baroker Humor, theils der krasseste Aberglaube zu vielfachem
Missbrauche bemächtigt haben.
[182]Dämono-Melancholie. Besessensein.
Bei dieser Form nimmt die von dem Kranken hypostasirte fremde,
feindliche Macht, durch welche er sich beherrscht glaubt, nach dem in
Ort und Zeit liegenden Aberglauben verschiedene dämonische Gestalten
an (Teufel, Gespenster etc.) denen wohl auch bei gleichzeitigen aus
einzelnen Körpertheilen entstehenden anomalen Sensationen, von dem
Kranken zuweilen ein beschränkter Sitz, bald in einer ganzen Körper-
hälfte, bald im Kopf, der Brust, dem Rücken etc. angewiesen wird. Nicht
selten sind dabei Convulsionen der willkührlichen Muskeln, Krämpfe
des Larynx, wodurch die Stimme auffallend verändert wird, Anästhesieen
einzelner Hautparthieen und Hallucinationen des Gesichts und Gehörs
vorhanden. Zuweilen begleitet dieses Delirium intermittirende Paroxis-
men heftiger Krämpfe (offenbare Analoga epileptischer oder hysterischer
Anfälle), die durch vollständig freie lucida intervalla geschieden werden.
Diese Formen der religiösen Schwermuth sind sorgfältig zu unterscheiden
von jenem, auch in religiösen Vorstellungen sich bewegenden, aber freudigen,
kühnen, mit Exaltation verbundenen Irresein, wobei die Kranken entweder Gott
selbst zu sein oder in inniger Verbindung mit Gott, den Engeln, dem Himmel zu
stehen behaupten. Wir werden diese, dem psychologischen Hergange nach von
der Schwermuth total verschiedenen Zustände unter den Exaltationsformen des
Näheren besprechen.
Beispiele von Besessensein.
IX. Tuberculose. Psychische Ursachen. Wahn vom Teufel
besessen zu sein. Tod. A. D., 46 Jahre alt, Dienstmädchen, sehr nervös,
hatte in frühern Jahren mehrfachen Kummer in Liebesverhältnissen erlitten und
war schon einmal melancholisch geworden; die Menses cessirten, sie hatte mehre
Keuschheitsgelübde gethan, diese wieder gebrochen, sich dann für verdammt ge-
halten; zuletzt glaubt sie sich in der Gewalt von Dämonen und empfindet alle
Qualen der Hölle und der Verzweiflung. Sie wird im März 1813 in die Salpe-
trière geschickt. Sie ist ausserordentlich mager, ihre Haut erdfarben, ihr Ge-
sicht convulsivisch verzerrt; sie verweigert die Nahrung, ist schlaflos; der Kopf
ist schwer, im Innern sehr brennend, äusserlich wie mit einem Stricke zusam-
mengezogen. Sie leidet an sehr schmerzhaften Zusammenziehungen der Kehle,
rollt die Haut des Halses unaufhörlich mit ihren Fingern, drängt sie nach dem
Brustbein hin, und versichert, dass der Teufel sie ziehe, zusammenschnüre und
am Schlingen hindere. Die Bauchmuskeln sind sehr gespannt, der Stuhl ver-
stopft, an Hand und Fuss eine scrophulose Anschwellung. Der Teufel hat
ihr eine Schnur vom Brustbein bis zu den Genitalien gezogen, wodurch sie
verhindert wird, aufrecht zu stehen. Der Dämon ist in ihrem Körper, brennt,
kneift sie, beisst ihr ins Herz und zerreisst ihr die Eingeweide. Sie ist von
Flammen umgeben und mitten im Feuer der Hölle, ihre Qualen sind unerhört,
schreklich, ewig, sie ist verdammt und der Himmel kann kein Erbarmen mit
ihr haben.
Im April nahmen die Kräfte ab; sie sieht Niemanden, der sich ihr nähert,
der Tag kommt ihr nur als ein Schein vor, in dem Gespenster und Dämonen
[183]Beispiele.
herumirren, die ihr Betragen tadeln, ihr drohen, sie misshandeln. Sie verwei-
gert alle Tröstungen, sie bedarf einer übernatürlichen Macht; sie verflucht den
Teufel, der sie brennt und martert und verflucht Gott, der sie in die Hölle ge-
stürzt hat. Im Mai Marasmus; Respirationsbeschwerden, Oedem der Beine, un-
regelmässige Fröste; im Juni Durchfälle, schwarzer Zungenbeleg; die Kranke
seufzt viel, hat noch dasselbe Delirium und die feste Ueberzeugung nicht zu
sterben. Tod am 22. Juni. Section. Der Schädel dick, injicirt, der sichel-
förmige Fortsatz der dura gerippt (reticulé) und nach vorn zerrissen; das Gehirn
weich, die graue Substanz blass; viel Serum in den Ventikeln. Allgemeine Tu-
berculose. Verwachsung des Herzens mit dem Pericardium.
(Esquirol, die Geisteskrankheiten v. B. I. p. 285.)
X. Krampfanfälle mit Wahn der Besitznahme und Verviel-
fachung der Persönlickeit, bei einem Kinde, von kurzer Dauer. *)
Margarethe B., 11 Jahre alt, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christ-
liches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829 ohne vorher unwohl gewesen
zu sein, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen
Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten,
war das Kind nicht beim Bewusstsein, sie verdrehte die Augen, machte Gri-
massen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag, den
21. Jan. an liess sich auch wiederholt eine tiefe Bassstimme vernehmen, mit den
Worten: „für dich betet man recht!“ Sobald das Mädchen wieder zu sich kam,
war sie müde und erschöpft, wusste aber von allem Vorgefallenen Nichts und
sagte nur, sie habe geträumt. — Am 22. Januar Abends fing eine andere, von
der obigen Bassstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu
lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Crisis dauerte, d. h.
halbe, ganze und auch mehre Stunden und wurde nur zuweilen von jener Bass-
stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augen-
scheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens ver-
schiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben
aufs genaueste, sich dasselbe objectivirend und in der dritten Person von ihr
redend. In den Aeusserungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste
Verwirrtheit und Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz,
die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wies.
Was aber diesen Aeusserungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische,
oder vielmehr unmoralische Character derselben; Stolz, Arroganz, Spott, Hass
gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in derselben kund. —
„Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland, mich müsst ihr anbeten,“ hörte
man jene Stimme zuerst sagen, und nachher oft wiederholen. Spott über alles
Heilige, Lästerung gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Un-
wille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach
wiederholtes, grimmiges Wüthen und Toben beim Anblick eines Betenden, oder
auch nur bei gefalteten Händen — das Alles konnte man als Symptome einer
fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es
wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel
[184]Melancholia metamorphosis.
nennend. Sobald dieser Dämon sich hören liess, veränderten sich auch die Ge-
sichtszüge des Mädchens sogleich höchst auffallend und es trat jedesmal ein
wahrhaft dämonischer Blick ein, von dem man in der Messiade, auf dem Bilde,
wo der Teufel Jesu einen Stein bietet, eine Idee bekommt.
Am 26. Januar, Mittags 11 Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen
im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon
vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das
Aufhören dieser Zufälle. Das Letzte, was gehört wurde, war eine Stimme
aus dem Munde des Mädchens: „Fahre aus, du unsauberer Geist, aus diesem
Kinde! Weisst du nicht, dass dieses Kind mein Liebstes ist?“ dann erwachte sie
zum Bewusstsein. Am 31. Januar stellte sich derselbe Zustand mit denselben
Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehre neue Stimmen hinzu,
bis die Zahl dieser, von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils
nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war,
von denen sich jede als die Stimme eines besondern Individuums geltend machte,
und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde.
Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u. s. w. erreichte in
dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des
Bewusstseins, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an
die Vorfälle im Paroxismus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden
seltener und kürzer. Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Januar als
Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und
ähnlich dem ersten Male, liessen sich den 9. Februar Mittags 11 Uhr, nachdem
jene Stimme wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte, aus dem Munde des
Mädchens die Worte hören: „Fahre aus, du unsauberer Geist! das ist ein
Zeichen der letzten Zeit!“ Das Mädchen erwachte und ist seither gesund
geblieben. (Kerner, Geschichten Besessener. Stuttg. 1834. p. 104.)
§. 99.
2) Nicht eben selten kommt bei den Schwermüthigen der Wahn
vor, der eigenen Persönlichkeit verlustig geworden und verwandelt zu
sein — Melancholia metamorphosis. Schon oben ist der auf allge-
meinen und partialen Dys- oder Anästhesieen beruhenden Vorstellungen,
gestorben zu sein, Glieder aus Holz etc. zu haben, und ebenso des
aus Hallucinationen hervorgehenden Wahns einer Verwandlung in ein
hässliches Thier etc. Erwähnung geschehen. Von fast noch grösserem
psychologischem und pathologischem Interesse sind die Fälle, wo die
Kranken ihr Geschlecht verwandelt glauben, Männer sich für Weiber,
Weiber für Männer halten. Es gehört dieser Wahn allerdings nicht
specifisch der Schwermuth an, kann sich aber während ihres Be-
stehens ausbilden, und scheint in manchen Fällen durch Erkrankung
der Genitalien selbst, mit der die sexuellen Empfindungen untergehen,
hervorgerufen zu werden.
So erzählt Lallemand von einem Kranken, der sich für ein Weib hielt und
Briefe an einen imaginären Liebhaber schrieb; die Section wies Vergrösserung
[185]Nostalgie.
und Verhärtung der Prostata, Abscesse in derselben, Obliteration der ductus
ejaculatorii mit Erweiterung des Samenbläschen und des vas deferens nach (des
pertes séminales. I. p. 64).
Einige Fälle von Wahn der Geschlechtsumänderung erzählt Leuret (Frag-
ments, p. 114 seqq.). Diese Fälle sind im Ganzen nicht häufig; um so häufiger
findet man in den französischen Anstalten, z. B. in der Salpetrière den Wahn,
dass die umgebenden weiblichen Kranken Männer seien.
3) Eine weitere Unterart ist die Melancholie, welche sich durch
Sehnsucht nach der Heimath und durch das Vorherrschen der auf
die Rückkehr nach Hause bezüglichen Vorstellungen characterisirt,
— das Heimweh. Eine ähnliche Affection bildet sich auch
in den Gefängnissen bei mangelnder Beschäftigung, oft unter Mit-
wirkung von schlechter Nahrung, Feuchtigkeit und Onanie aus. Die
nostalgische Melancholie kommt zuweilen mit auffallender Kopfcon-
gestion, ja wirklicher Gehirn-Entzündung vor (Larrey); auch in dieser
Form treten entsprechende Hallucinationen (Gesichte der Heimath-
gegenden etc.) auf. Nicht selten werden von Menschen, welche an
mässigeren oder höheren Graden von Heimweh leiden, gewaltthätige
Handlungen begangen, (namentlich Tödtung kleiner Kinder und Brand-
stiftung durch Dienstboten), die noch öfter aus evident selbstsüchtigen
Motiven, namentlich dem Bestreben, aus einer aufgedrungenen unange-
nehmen Lage wegzukommen, als aus dem, auch sonst unwillkühr-
lich auftretenden Drange der Melancholischen, sich durch die
Verübung einer auffallenden Unthat eine Art von Erleichterung zu
verschaffen, hervorgehen.
Von grösserer Wichtigkeit ist die Aufstellung von verschiedenen
Arten der Melancholie, nach dem verschiedenen Verhalten der
motorischen Seite des Seelenlebens, des Wollens und Han-
delns. Die bisher betrachteten Zustände können nemlich nach zwei
verschiedenen, zum Theil entgegengesetzten Seiten hin wichtige Modifi-
cationen erleiden; einerseits können sie sich zu einem Zustande noch
tieferen Insichversunkenseins mit völliger Willenlosigkeit oder viel-
mehr krampfhaft, tetanisch festgehaltener Strebung fortentwickeln;
andrerseits treten in ihnen neue, der negativen Allgemeinstimmung ent-
sprechende Triebe und Willenserregungen auf, die entweder nur
in einzelnen, sporadischen Gewaltthaten, oder in einer anhaltenden
äusseren Unruhe und Aufregung explodiren, wo dann wieder mit dem
letzteren Verhalten die Schwermuth in die Form der Tobsucht übergeht.
Wir können demgemäss als Hauptarten der Schwermuth folgende
Formen aufstellen:
[186]Hauptformen der Melancholie.
- 1) Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie
mit Stumpfsinn (von den französischen Schriftstellern, Georget,
Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden
Namen der Stupidité bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen
nach richtig erkannt *). - 2) Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören-
der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten,
theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils
gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs-
trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören). - 3) Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung,
im Uebergange zur Tobsucht.
Drittes Capitel.
Die Schwermuth mit Stumpfsinn.
§. 100.
Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In-
sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar-
stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym-
ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen
anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern
auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd-
sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen
Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse.
Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die
Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich
verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast
unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer
allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung;
nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange-
hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der
Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten
Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traité de pathol.
cérébrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII.), bald allgemeine Anästhesie
[187]Schwermuth mit Stumpfsinn.
der Hautoberfläche und ebenso ein Zustand der höheren Sinnorgane
vorhanden, wobei die Gesichts- und Gehör-Eindrücke ganz undeutlich,
confus, oft nur wie aus der Ferne percipirt werden; vielleicht eine
Steigerung jener oben (§. 44. §. 92.) mehrfach erwähnten cerebralen
Parese der Empfindung.
Dabei haben die Kranken meistens ebenso das Bewusstsein von
Zeit und Ort als das Gefühl ihrer körperlichen Bedürfnisse verloren;
sie sind höchst unreinlich, man muss sie füttern, ankleiden, zu Bette
bringen etc. Gewöhnlich magern sie dabei sehr ab, es bildet
sich schnell Marasmus aus und der Tod ist in dieser Form der
Schwermuth nicht eben selten.
Wie verhält sich nun aber das innere psychische Leben bei
solchen Kranken? — Die Genesenen geben in den exquisiten Fällen
hierüber die merkwürdigsten Aufschlüsse. Weit entfernt von der
psychischen Leerheit des Blödsinns hört in der Mehrzahl der Fälle
das Vorstellen nicht auf, lebhaft thätig zu sein. Aber der durch
die erwähnte Anomalie der Sinnesperception seiner realen Umgebung
entrückte Kranke lebt in einer imaginären Welt. Die Wirklichkeit ist
ihm untergegangen, wie vor ihm versunken, Alles um ihn her ist ver-
wandelt. Eine schreckliche innere Angst ist der Grundzustand, der
ihn zum Ersticken quält, und aus ihm gehen die Vorstellungen alles
in jedem Augenblicke drohenden Unglücks, des Einstürzens der Häuser,
des Untergangs der Welt, einer allgemeinen Vernichtung eben so wohl,
als einzelne Wahnideen schwerster, eigener Verschuldung, Verworfen-
heit etc. hervor.
Der Kranke kann nicht wollen, und fühlt desshalb die Unmög-
lichkeit, sich dem Schrecklichen, was von allen Seiten auf ihn ein-
dringt, zu entziehen. Er kann später meistens nicht sagen, warum
er zu dem geringsten Willensacte unfähig war, warum er nicht ant-
wortete, nicht einmal schreien konnte; Esquirol (Geisteskrankheiten von
Bernhard. II. p. 125) hat uns jedoch den merkwürdigen Ausspruch eines
solchen Genesenen aufbewahrt: „Dieser Mangel an Activität kommt
daher, weil meine Empfindungen zu schwach sind, um auf meinen
Willen einen Einfluss auszuüben.“ — Es zeigt sich aber die Willen-
losigkeit am deutlichsten in der vollständigen Passivität, Unthätigkeit
und Unbeweglichkeit der Kranken, wiewohl auch hier intercurrirende
Zustände grösserer Activität zuweilen vorkommen, in derselben Weise
wie manche Kranke auch zwischendurch ein kurzes Bewusstsein,
einen Schimmer der wirklichen Welt bekommen können.
Meistens verbinden sich mit dieser äusseren Unempfindlichkeit,
[188]Die Schwermuth
der Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium
Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke
hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit
dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln,
Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge-
wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu,
wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in
einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz
der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und
die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles
Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen,
die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele).
In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich-
keit mit einem Halbschlaf- und Traumzustande. Die Entstehung der
schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet
dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer,
widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem
abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden
diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen
Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich
nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen,
lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich
zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn
seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu-
stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen.
§. 101.
Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer-
muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen
und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es
mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften
Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken,
dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit
und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von
Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses
seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so,
wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu-
stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern
vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu
Tage kommen.
[189]mit Stumpfsinn.
Daher konnte es auch ausgezeichneten Beobachtern (Esquirol,
Georget, Ellis *) begegnen, diese Zustände als Blödsinn aufzufassen,
und die von Etoc-Demazy (1833) aufgefundene, von Sc. Pinel (1840.
1844.) aber allzusehr verallgemeinerte Thatsache, dass bei nicht
Wenigen dieser Kranken ein Gehirn-Oedem, also Gehirndruck,
sich findet, war dieser Betrachtungsweise nicht ungünstig. Doch ist
einerseits das Gehirn-Oedem nicht constant, andrerseits werden die
obigen, den Berichten der Genesenen selbst entnommenen Angaben
hinreichen, den innern Unterschied dieser Form von Melancholie
von dem Blödsinn ins Licht zu setzen. Jene verhält sich zu diesem
wie in den sensitiven Nerven vorübergehend verminderte Empfindung
der äussern Eindrücke mit Schmerz und neuen anomalen Empfindungen
zur dauernden völligen Anästhesie. Wie aber jener Zustand theils
auf derselben Ursache (Druck) beruhen kann, wie dieser, theils nicht
selten nur diesem voran und bald in ihn übergeht, so kann auch
diese Form der Schwermuth als melancholischer Stumpfsinn bei längerer
Dauer in wirkliche dauernde Schwäche des psychischen Lebens mit
Aufhören des schmerzlichen Affects, in Blödsinn übergehen.
Zur äusseren Unterscheidung beider Zustände dient, ausser der
schon erwähnten Rücksicht auf den Gesichtsausdruck und namentlich
den Blick der Kranken, theils eine in manchen Fällen primitive und
sehr rasche Entstehung, theils das nicht selten vorkommende Ver-
weigern der Nahrung und die zuweilen gemachten Selbstmordver-
suche, welche beide bei Blödsinnigen nicht leicht vorkommen.
Wenn diese Zustände nicht in Blödsinn übergehen, so währen
sie in der angegebenen Weise selten länger als einige Monate; viele
Kranke genesen, und zwar meistens schnell, in der Form eines Er-
wachens aus Träumen; Drastica und Vesicatore zeigen oft einen
evidenten Nutzen. Der Tod erfolgt manchmal unter Zunahme der
Erscheinungen des Gehirndrucks, (sehr langsamen Puls etc.) manch-
mal als Ausgang eines allmählig gesteigerten, auf intensem Darm-
catarrh oder Lungenphtise beruhenden Marasmus; einmal sahen wir
ihn durch Selbstmord erfolgen. Ueber das Gehirn-Oedem und seine
wahrscheinliche Entstehungsweise s. die pathologische Anatomie.
Beispiele.
XI. Schwermuth mit Stumpfsinn nach F. intermittens. Gene-
sung. B., 25 Jahre, Beamter, kommt nach Charenton am 12. August 1833. —
Früher ein Anfall von Wahnsinn im 15ten, ein anderer im 22ten Jahre, der
[190]Beispiele von
erste von sechs Wochen, letzterer von 14 Tagen. — B. litt sechs Wochen an
einem intermittirenden Fieber, in dessen Reconvalescenz plötzlich, ohne bekannte
Ursache, nach mehrtägigem heftigem Kopfweh, dieser Anfall ausbrach. Symptome
einer Gehirnentzündung, mehrmals im Verlauf von drei Wochen Convulsionen;
mehre Selbstmordversuche. — Blasse Gesichtsfarbe, starre, weit offene, meist
zur Erde gerichtete Augen, ausdruckslose, stumpfe Physionomie; B. bleibt den
ganzen Tag auf demselben Fleck sitzen und scheint aller seiner Umgebung ganz
fremd. Auf mehrmalige laute Fragen antwortet er langsam und leise einzelne
Sylben. Beim Gehen hält er sich an der Wand, an den Menschen und geht
sehr langsam; er widerstrebt, wenn er ins Bad geführt werden soll. Das Ge-
dächtniss scheint ganz erloschen; man muss den Kranken füttern; er ist höchst
unreinlich. Die Empfindung ist stumpf, der Schlaf lang, der Appetit sehr stark. —
Esquirol lässt ein Vesicator in Nacken setzen. B. klagt über den Schmerz
desselben und fängt jetzt an sich zu bessern. Seine Antworten sind länger
und lauter, er gibt an, er könne seine Ideen nicht entwickeln, es hindere ihn
etwas daran. Physionomie und Unreinlickheit bleiben wie zuvor. Manchmal
bricht er in lautes Lachen aus beim Anblick eines mit einer leinenen Blouse be-
kleideten Kranken. Am 15. Oct. wird die Besserung deutlicher. B. ist reinlich,
und fängt nun an zu musiciren. Im Decbr. völlige Herstellung, lebhafte Physio-
nomie, er zeigt eine schön entwickelte Intelligenz. — B. vergleicht den Zustand,
in dem er drei Monate lang war, mit einem langen Traum. Alles um ihn hatte
sich verändert; er glaubte an eine Art allgemeiner Vernichtung; die Erde zitterte
und that sich unter seinen Schritten auf, er war jeden Augenblick in Gefahr in
einen Abgrund zu stürzen. Er hielt sich an den umgebenden Personen, um diese
vor dem Sturz in Abgründe zu bewahren, welche ihm wie Vulcancrater er-
schienen. Das Badezimmer hielt er für die Hölle und die Badewannen für Bar-
ken. Das Vesicator hielt er für das Brandmal der Galeerensclaven, und sich da-
durch für auf immer entehrt. Die umgebenden Personen hielt er für wiedererstan-
dene Todte. Er sah seinen Bruder mitten in Qualen, er hörte der Hülferuf seiner
Verwandten, die man erwürgte, und jeder Schrei war wie ein Dolchstich für ihn.
Von allen Seiten ging Gewehrfeuer los, Kugeln durchbohrten seinen Leib, ohne
ihn zu verwunden. Alles in seinem Kopf war Chaos, Confusion, Verwirrung.
Er unterschied nicht mehr Tag und Nacht, die Monate schienen ihm Jahre etc.
All dieses Unheils klagte er sich selbst an und desshalb suchte er sich zu
tödten. Je mehr er litt, um so zufriedener war er, denn er hielt sein Leiden
für die gerechte Strafe seiner Verbrechen. Im Beginn seiner Besserung trug
ein Brief seines Bruders viel dazu bei, ihm richtige Ansichten über seine Lage
zu verschaffen. (Baillarger, l. c.)
XII. Intermittirende Schwermuth während der Periode. An-
haltende Schwermuth mit Stumpfsinn. Genesung. Frau M., 44 Jahre,
tritt am 24. October 1842 in die Salpetrière. Selbstmordversuch während der
Menstruation; schnelle Rückkehr der Besinnung und völliges Wohlbefinden zu
Anfang des Novembers; die Kranke tritt aus, kurz darauf neues Delirium, am 25.
November Rückkehr in die Salpetrière. Neuer Selbstmordversuch während der Men-
struation. — Die Kranke ist ruhig, unbeschäftigt; traurige, etwas stumpfe Phy-
sionomie, unstäter Blick. Langsame, kurze Antworten, sie kann sich nicht zu-
recht finden, weder Tage noch Monate mehr zählen, nichts klar denken; schwerer,
müder Kopf. Traurigkeit, ohne dass sie angeben kann, warum; sie glaubt, viel
[191]Melancholie mit Stumpfsinn.
Unheil angerichtet zu haben, weiss aber nicht, welches. Alles um sie her ist
verändert. Ohrensausen, Gehörshallucinationen, beim Einschlafen sieht sie
Schatten, Gesichter etc.; plötzliches Aufschrecken; Verstopfung, ziemlich Ap-
petit. Puls 100, Haut nicht heiss. — Laxanzen, Ermunterung zur Arbeit, Zwang
zum Spaziergang und Gesellschaft, Bäder, Besserung. — Am 27. Decbr. Wieder-
kehr der Regeln ohne Selbstmordversuch und ohne Verschlimmerung. Nach ihrem
Aufhören schnelle Besserung, freiwilliger Antheil an häuslichen Geschäften, Ge-
sprächigkeit. Am 6. Jan. wird sie ganz verständig gefunden, und gibt Fol-
gendes an: Während der Delirien sah sie Feuer um sich und brannte selbst,
ohne Schmerz zu empfinden, sie roch hässliche Gerüche, die Speisen hatten keinen
Geschmack für sie. Die Nächte schienen ihr doppelt so lang als gewöhnlich.
Sie hörte Stimmen um sich her, ohne die Worte unterscheiden zu können. Zuerst
glaubte sie sich in einem Gefängniss, und hielt die Kranken (Weiber) für ver-
kleidete Männer. Des Morgens sah sie die Gegenstände klarer, als Abends.
Ganz im Anfang glaubte sie, man werde sie in Kessel voll siedenden Wassers
werfen, sie hörte es sieden und glaubte zu hören, wie man Kohlen nachlegte.
Ursache des Selbstmords war die völlige Umkehrung aller Dinge um sie, für
deren Ursache sie sich hielt; sie hielt sich für Schuld an allen Beschwerden
und Klagen der Kranken um sie herum, und hielt es desshalb für das Beste, zu
sterben. (Baillarger, l. c.)
Viertes Capitel.
Die Schwermuth mit Aeusserung von Zerstörungstrieben.
§. 102.
In diesen Zuständen erheben sich aus dem affectartigen Grund-
zustande der Verstimmung, der Angst, überhaupt des psychischen
Schmerzes, gewisse Triebe und Willensrichtungen, welche in äusseren
Handlungen realisirt werden, sämmtlich von negativem, finsterm, feind-
lichem, zerstörendem Character. Die negirenden Vorstellungen und
Gefühle, die hier zu Bestrebungen werden, die Thaten, die aus ihnen
hervorgehen, können theils gegen die eigene Person, theils gegen
andere Menschen, theils gegen leblose Gegenstände gerichtet sein;
je nach der Verschiedenheit der äusseren Handlung hat man diese
Fälle als verschiedene Monomanieen (Mord-, Selbstmord-, Brand-
stiftungs-Monomanie etc.) beschrieben. (Vgl. p. 62.)
A. Der Selbstmord.
Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des
Selbstmords gehört der Psychiatrie an; denn — was auch einzelne
[192]Der Selbstmord.
Autoritäten sagen mögen *) — er ist nicht immer das Symptom oder
Ergebniss einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die
Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Ver-
hältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äusserlich nachweis-
baren psychischen Ursachen steht (§. 33.). Wenn ein feinfühlender
Mensch sich tödtet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen,
mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes
nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend,
in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem
Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Be-
rechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt
kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten — der
Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz der Selbstvernich-
tung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke, und die That
wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt.
Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit
selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf
ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch
häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zu-
stande mässiger, aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der
auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt.
Die Disposition zum leichten Eintritt solcher psychischen Schmerz-
zustände, die meist mit Erschöpfung, Kälte und Abstumpfung der
Gemüths-Reaction zusammenfallen, ist ganz dieselbe, wie die Dispo-
sition zu Geisteskrankheiten. Sind jene einmal eingetreten, so haften
und herrschen sie freilich am ehesten da, wo ein schwaches Ich
der Stimmung nur geringen Widerstand leistet (p. 41), erscheinen
also oft wesentlich als Ergebnisse bestehender Characterschwäche;
aber sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung von innen heraus
(§. 33.), durch den Mangel genügender psychischer Anlässe zu der
That, oft durch deutliches Auftreten im Gefolge körperlicher Krank-
heit, durch periodische, psychisch unmotivirte Exacerbationen, zu-
weilen durch nachweisbare Erblichkeit, ganz wesentlich von dem
Lebensüberdrusse, der das directe Ergebniss genügender psychischer
Ursachen ist. Wo solche Verstimmungen das ganze psychische Leben
beherrschen, da treten dem von selbst entstandenen oder äusserlich
[193]Modificationen desselben.
dargebotenen *) Gedanken des Selbstmords entweder gar keine hem-
mende oder beschränkende Vorstellungen und Triebe entgegen, oder
solche werden doch bald an jenem abgenützt und erschöpft, der in
steter Wiederholung und mit der Hartnäckigkeit aller andern derartigen
melancholischen Stimmungen sich immer wieder dem Ich aufdringt.
Je unbedeutender also die äusseren Motive der That sind, je mehr
sich im früheren Leben Ursachen oder schon einzelne Symptome
beginnender Seelenstörung nachweisen lassen, je ungewöhnlicher
ferner und je grausamer die angewandten Mittel der Ausführung sind **),
um so eher hat man Grund, die That als Ergebniss einer krank-
haften Verstimmung zu betrachten.
Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb
zum Selbstmord, als eine Form des Raptus melancholicus, mit Um-
neblung des Bewusstseins und allen Zeichen grosser Exaltation auf-
treten (Fall XIII.). Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum
freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne eine
Spur von Delirium vor; bei näherer Untersuchung findet man alsdann
sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie,
von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging,
dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit, wie früher zu denken
und zu wollen, über allgemeine Ermattung mit vagen Symptomen körper-
lichen Uebelbefindens, namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten.
Mehr chronisch ist gewöhnlich der Lebensüberdruss, der als Spleen
aus Blasirtheit auftritt, jene allgemeine Erschöpfung und Verödung
des psychischen Lebens, die sich mehr als durch irgend eine andere
Ursache, in Folge sexueller Erschöpfung einstellt, und der ganz ent-
schieden durchaus nicht selten locale, organische Erkrankungen der
Genitalien zu Grunde liegen ***); auch ohne solche kommen ähnliche
Verstimmungen bei Onanisten vor, und es scheint fast, als ob schon
leichtere Störungen in der Geschlechts-Entwicklung nicht nur jene
sehnsüchtig-hypochondrischen Seelenzustände, die nicht selten in der
Pubertätsepoche auftreten, sondern bei einzelnen Individuen alsbald
den Trieb zur Selbstentleibung wecken könnten.
Der Selbstmord kommt in allen Lebensaltern, vom 7. Jahre an,
vor. Seine Erblichkeit und sein Alterniren mit anderen Formen des
Irreseins in verschiedenen Generationen ist bereits (§. 71.) erwähnt.
Griesinger, psych. Krankhtn. 13
[194]Statistisches über den Selbstmord.
Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht.
Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende,
stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach-
gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz-
ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent-
liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. — Bekannt ist die nicht
seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche
von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis
zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den
p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen.
In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen
zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an
Anderen complicirten Fälle vor.
In dem Jahrzehend von 1827—37 betrug die Zahl der Selbstmorde in
Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1 : 20,660 Einw.)
waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1 : 14,338 Einwohner)
gestiegen. *) Archambault **) versichert übrigens, dass diese Zunahme eine
scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta-
tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit-
theil (offenbares) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank-
reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl
von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst-
entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu-
striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen
gegen Personen vorfallen. ***) Dass übrigens der Selbstmord auch unter den
Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt,
häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs
nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift,
geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und
schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil-
deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. †) Die Ausführung der meisten Selbst-
morde fällt in die Morgenstunden; ††) vielleicht deutet diess darauf hin, dass die
letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt.
§. 103.
Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst-
mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer-
muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann
aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess
[195]Nähere Motive des Selbstmords bei Irren.
einer allgemeinen, unbestimmten Angstempfindung, dem der Kranke
durch jedes Mittel zu entgehen strebt; ein anderesmal verfällt er,
indem er die Veränderung aller seiner Gefühle ins Widrige und
Schreckliche, seine Ueberwältigung von traurigen und argen Vor-
stellungen fühlt, in Verzweiflung über eine solche Unterjochung und
hält sich eines vermeintlich ganz schlecht, verworfen und ruchlos
gewordenen Lebens für fernerhin unwerth. Oder es kommt zu jenen
dunkeln Vorstellungen allgemeiner Nichtexistenz, Vernichtung der
Welt und damit auch der Nothwendigkeit der Selhstvernichtung. Viel-
leicht am häufigsten aber sind es Hallucinationen, in denen sich die
tiefe Verstimmung und die noch dunkeln Vorstellungen der Selbst-
zerstörung sinnlich projiciren und nun dem Kranken, scheinbar von
aussen, mit der Stärke und Wahrheit objectiver Anschauungen zu-
kommen (Stimmen „tödte dich! tödte dich!“ unmittelbare Befehle
Gottes durch Gesichtshallucinationen etc.). Solche Antriebe kommen
bei Melancholischen manchmal plötzlich und vorübergehend (einige
Stunden, einige Tage dauernd) vor; mitunter tritt mit der — miss-
glückten — Ausführung eine wesentliche Erleichterung und Remission
ein, wie man in andern Fällen nach krankhaft motivirten Verletzungen
und Unthaten an anderen Personen, die intensive Gefühlsbelästigung,
die vorausging, aufhören und den Thäter sich vollständig beruhigen
sieht. Einzelne Melancholische ergreifen listig den passenden Moment,
um ihren längst feststehenden, aber wohl verborgenen Entschluss
auszuführen; andere äussern offen, man möchte fast sagen, scham-
los, ihren Hang, sich zu ermorden, und suchen ihn Wochen, Monate
lang, durch jedes Mittel, mit Gewalt, oft vor den Augen der An-
wesenden zu befriedigen.
Auch in anderen Formen des Irreseins, ausser der Melancholie,
kommen Antriebe zu freiwilligem Tode vor; sie beruhen dann seltener
auf Lebensüberdruss, als vielmehr auf allerlei, im engern Sinn wahn-
sinnigen Ideen, den Märtyrertod für die Menschheit zu sterben, das
Paradies, das in glänzenden Visionen vor ihnen offen liegt, zu be-
treten etc.; doch treten zuweilen auch bei Verrückten noch inter-
currente Anfälle von Neigung zur Selbstzerstörung aus intensivstem
Lebensüberdruss als eine Form des Raptus melancholicus oder maniacus
auf. Die Anstalt Winnenthal enthielt lange einen schwachsinnig-
verrückten Kranken (Ideen, Kaiser von China zu sein und dergl.), der
von Zeit zu Zeit plötzlich, unter bedeutender Kopfcongestion, vom
tiefsten Lebensüberdrusse befallen ward und nur durch anhaltende äus-
sere Beschränkung von dem beständig intendirten Vorhaben des Selbst-
13 *
[196]Beispiele von
mords gerettet werden konnte; ein solcher Anfall dauerte 5 bis 6 Tage,
verlor sich dann vollständig und Blutentziehungen am Kopfe schienen
jedesmal wesentlich zu seiner Abkürzung und Milderung beizutragen.
— Vom Selbstmorde auszuschliessen sind die Fälle, wo Geisteskranke
sich unabsichtlich, ohne sterben zu wollen, den Tod geben, wenn
z. B. ein Maniacus im Delirium das Fenster für die Thüre hält und
hinausgehen will, wenn ein Anderer aus dem Fenster springt, weil
„ihm Gott gesagt hatte, geh’ zum Fenster, du wirst wie ein Vogel
fliegen“ *), oder wenn ein Wahnsinniger die Mission der allgemeinen
Menschenbekehrung haben will, und sich zum Beweise für die Wirk-
lichkeit seiner Sendung und für seine Unverwundbarkeit von einer
Brücke herabstürzt und ertrinkt **). Diess sind keine Selbstmorde;
diese Kranken wollten sich nicht tödten. —
XIII. Plötzlich auftretender Raptus zum Selbtmord mit
Umneblung des Bewusstseins und ohne Rückerinnerung.
Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bis-
her in glücklichen Verhältnissen und ausser einigem hysterischen Kopfschmerz
und Dysmennorrhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem
Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil
selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren
sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an
ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz ver-
schwunden war, sitzt sie Nachmittags 3½ Uhr anscheinend heiter auf dem Flur
ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste
Veranlassung springt sie auf und ruft: „Ich muss mich ersäufen,
ich muss mich ersäufen“ rennt darauf fort und gerade zu dem nicht
weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch
ohne Zögerung hineinstürzt. Sie wurde sogleich wieder aus dem Wasser gezo-
gen und, dem Scheine nach schon todt, in ihr Haus getragen. Ein schnell
herbeigeeilter Arzt rief sie zwar bald wieder in das Leben zurück, doch blieb
sie stumm und starrte mit offenen, fest auf einen Punkt gerichteten Augen vor
sich hin, ohne auf das, was um sie vorgieng, weiter zu achten. Ich sah sie erst
am 27. Juli Abends. Sie hatte während dieser seit dem Anfalle verflossenen
Tage zwar Alles ruhig mit sich vornehmen lassen. auch Arzneien niedergeschluckt,
dennoch aber kein Wort gesprochen, weder gegessen noch getrunken, nicht ge-
schlafen und keine Theilnahme an irgend etwas bewiesen. Als ich spät Abends
zu ihr kam, lag sie im Bette und seufzte beständig. Auf meine Anrede fuhr sie
zusammen und rief meinen Namen aus. Es wurde Licht gebracht und da sie
mich erblickte, fragte sie: „Mein Gott, wo bin ich, und was ist mit
mir vorgefallen?“ worauf sie heftig zu weinen anfieng. Ich beruhigte sie;
nachdem sie ihren Mann noch wieder erkannt und mit ihm gesprochen und nach
ihren Kindern gefragt hatte, schlief sie ein und ruhte ungestört bis zum Morgen.
[197]Selbstmordtrieb.
Nach dem Erwachen hatte sie sogleich heiter nach allem gefragt und mit
Erstaunen von ihrem Versuch sich zu ertränken und von der Gefahr, in die sie
dadurch gekommen war, gehört. Bei meinem Eintritte Morgens fragte sie mich
lachend, was ich wohl von ihr gedacht und gesagt habe und begehrte zu wissen,
wie sie zu dem thörichten Einfalle sich ertränken zu wollen habe kommen
können, ohne selbst weiter etwas davon zu wissen, oder irgend einen Grund
dafür angeben zu können. — Sie ist seither ungeachtet mehrerer Wochenbetten,
manchen Unruhen und Schrecken niemals wieder von einem ähnlichen Gedanken
befallen worden, und abgerechnet ihre hysterischen Beschwerden und den be-
schwerlichen Monatsfluss, immer gesund, heiter und lebenslustig geblieben.
(Mende in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821.)
XIV. Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Halluci-
nationen. Ein junger Mann, der ein sehr grosses Vermögen besass, hatte sich
der Onanie ergeben, befand sich jedoch vollkommen wohl. Er hatte keine andere
Ursache zum Kummer, als die Rückerinnerung an die Revolution, deren Prin-
cipien er missbilligte, und hatte schon mehrmals versucht sich das Leben zu
nehmen und zwar mit Pistolen, da er sich durch nichts Anderes tödten wollte.
Er befand sich zwei Jahre lang unter meiner Aufsicht, hatte während dieser Zeit
nicht einen Augenblick irre gesprochen, sondern war heiter, liebenswürdig, sehr
unterrichtet und sagte mir manchmal: „Geben Sie mir eine Pistole!“
Warum wollen Sie sich denn tödten? „Weil ich mich langweile.“ Erst nach
zwei Jahren gestand er mir, dass er seit langer Zeit Hallucinationen des Gehörs
und Gesichts habe. Er glaubte von Polizeiagenten verfolgt zu sein, die er immer
hörte und sah, selbst mitten durch die Mauern seines Zimmers, die, wie er hinzu-
fügte, aus zwei doppelten verschiebbaren Brettwänden bestanden, damit man Alles
sehen und hören könne, was er thue und was er sage.
(Esquirol, übersetzt von Bernhard. I. p. 322.)
XV. Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch
heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung. N., ein Schnei-
der, 31 Jahre alt, verfiel durch Onanie in tiefe Entkräftung und musste sich
später wiederholten Mercurialcuren unterwerfen. Beim Ausbruch der Cholera im
Jahre 1831 wurde er durch das Gerücht, dass man die Kranken mit Zangen aus
ihren Wohnungen ziehe und sie auch ausserdem äusserst grausam behandle,
dergestalt mit Entsetzen erfüllt, dass er in Ohnmacht fiel und mit der Cholera
behaftet zu sein glaubte. Er konnte Anfangs vor Angst nicht arbeiten, des
Nachts nicht schlafen und gerieth bei der Vorstellung, dass auch er einer so
schrecklichen Behandlung sich werde unterwerfen müssen, ganz ausser sich; ja
er brachte die Nächte bei Bekannten zu, weil er fürchtete in ein Choleralazareth
abgeholt zu werden. Bei der Arbeit wurde er aus Angst von Gliederzittern be-
fallen, welches er für einen Vorläufer der Cholera um so mehr hielt, da er
hörte, dass die Furcht dazu disponire. Der Appetit verging ihm und er scheute
sich viel zu essen, weil die Menge der Speisen und die meisten Arten derselben
ihm schädlich seien, ja er schwächte durch vieles Hungern seine Verdauung
sehr. Unaufhörlich von Furcht gequält schlief er wenig, träumte viel von Er-
mordungen, Leichenzügen; bei Tage wagte er nicht auszugehen aus Furcht vor
der Krankheit und vor der Polizei. Diese Pein versetzte ihn in eine so reizbare
Gemüthstimmung, dass er durch den Anblick des Schlachtviehes sehr gerührt
wurde, weil er sich vorstellte wie demselben das Messer an die Kehle gesetzt
[198]Beispiele von Selbstmordtrieb.
werde. Als er sich endlich etwas von dieser Angst erholt hatte, hörte er eines
Tags einen Schuss fallen, worüber er heftig erschrak, weil er glaubte, dass
sich jemand entleibt habe. An dem nämlichen Abend erfuhr er, dass in der
Nachbarschaft jemand sich den Hals abgeschnitten habe. Seine Angst erreichte
nun wieder einen hohen Grad, so dass er des Nachts nicht schlafen konnte,
indem er stets daran dachte, wie der Selbstmörder zu seiner That gekommen
sei, welche Theile des Körpers er durchschnitten habe. Vergeblich bemühte er
sich diese Vorstellungen zu verbannen, welche durch die entfernteste Ver-
anlassung aufs Neue hervorgerufen wurden, z. B. durch einige kopflose Bild-
säulen im königlichen Museum, welche ihm das Bild von Enthaupteten vorspie-
gelten. Wenn er ein Messer liegen sah, war es ihm, als müsse er sich den
Hals abschneiden, trotz seines Abscheues davor und seiner Liebe zum Leben.
Hatte er ein Messer in der Hand, so zitterte er, warf es weg, oder legte es
unter den Teller, um es nicht zu sehen. Unaufhörlich dachte er an gewaltsame
Todesarten; sah er einen Strick, so kam ihm der Gedanke des Erhängens in
den Sinn; ging er über eine Brücke, so war es ihm, als müsste er ins Wasser
springen, daher er sie nie am Geländer, sondern in der Mitte mit schnellem
Laufe passirte, um nicht bei langsamen Gehen wider Willen fortgerissen zu
werden; stand er an einem Fenster, so fühlte er einen Antrieb hinauszuspringen
und wich voll Entsetzen zurück. Man rieth ihm Messer und Pistolen zu ergreifen,
um sich an den Anblick zu gewöhnen, aber er konnte es vor Angst nicht über
sich gewinnen. Nachdem die Angst ihn lange gefoltert hatte und zuletzt auf den
höchsten Grad gestiegen war, willigte er selbst gerne ein, sich in die Charité
aufnehmen zu lassen. Auch hier dauerte sein Zustand noch lange Zeit; endlich
gelang aber seine vollständige Heilung durch anhaltende körperliche Arbeit und
durch Sturzbäder. (Ideler. Mare, übersetzt von Ideler. I. p. 196.)
XVI. Selbstmord aus Angst und Hallucinationen. Ein früherer
Militär, 38 Jahre alt, bricht beide Beine, welche ihm beide amputirt werden;
er wird finster und verfällt in einen Anfall von Manie; er hört Stimmen, die ihn
ohne Unterlass beleidigen, verfolgen, mit dem Tode durch Erschiessen bedrohen;
darauf erfolgen Antworten, die er an die Stimmen richtet. Dieser Zustand von
Hallucinationen und Angst dauert 10 Monate, ungeachtet aller möglichen Mittel;
der Kranke concentrirt sich immer mehr auf seine falschen Empfindungen … er
verweigert hartnäckig die Nahrung, um sich diesen Qualen zu
entziehen … die Stimmen fordern ihn auf nicht mehr zu essen ....
Man muss ihn mit Gewalt ernähren … je elender er wird, um so stärker
scheinen die Stimmen zu werden, endlich stirbt er an Erschöpfung.
(Sc. Pinel, pathol. cérébr. Par. 1844. p. 212.)
XVII. „Ich behandle gegenwärtig ein Mädchen, die durch einen heftigen
Sturz auf das os sacrum einen Vorfall der Gebärmutter erlitt und plötzlich von
einer tiefen Traurigkeit, mit den sonderbarsten Verirrungen der Vorstellungen
und einer Neigung zum Selbstmord befallen wurde, so oft durch irgend eine
Anstrengung der Hals des uterus an der Mündung der vagina sich zeigte, oder
durch sie heraustrat. Der Gebrauch eines Pessariums liess diese merkwürdigen
Anomalieen verschwinden.“
(Guislain, Phrenopathien, übersetzt von Wunderlich. 1838. p. 282.)
[199]Dritte Form der Schwermuth.
B. Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und
Verletzung Anderer.
§. 104.
Direct und unmittelbar an die schwermüthigen Antriebe zur Selbst-
vernichtung schliessen sich die krankhaft entstandenen Triebe zur
Zerstörung und Verletzung anderer Menschen oder lebloser Objecte
an. Nicht nur kommen beide häufig zusammen vor, nicht nur haben
die hierhergehörigen Gewaltthaten gegen Andere, insoferne sie häufig
gerade an dem dem Kranken Liebsten und Theuersten begangen
werden, alsdann ihrer inneren Begründung nach die wesentliche Be-
deutung einer Selbstverletzung und Selbstverstümmlung; beide
beruhen auch überhaupt auf demselben Grundzustande der krank-
haften negativen Affecte, und bei beiden wiederholen sich die ein-
zelnen Verschiedenheiten der näheren, krankhaften Motivirung.
Was zuerst die psychische Begründung solcher Gewaltthaten bei
früher schon entschieden Schwermüthigen betrifft, so gehen
solche Antriebe zum Theil aus einem wirklichen Delirium des Vor-
stellens oder der Sinnesperception hervor. Hierher gehören die Fälle,
wo die Kranken sich von Anderen verfolgt oder überhaupt beein-
trächtigt glauben *), wo sie vorhandene Gehörs-Hallucinationen von
angreifendem, beschimpfendem Inhalt gewissen Personen zuschreiben,
und an solchen dann wirkliche Rachehandlungen begehen. Diesen
stehen jene Gewaltthaten sehr nahe, die auf der entschieden melan-
cholischen Vorstellung beruhen, dass Alles in der Welt durchaus
schlecht, verworfen und verloren sei, dass z. B. die unschuldigen
Kinder dem Elend dieser Welt am Besten durch einen frühen (ge-
waltsamen) Tod entzogen würden, oder dass — ungeachtet kein Grund
zu solcher Besorgniss vorliegt — alle Mittel zur weiteren Existenz er-
schöpft seien, und Alles demnächst in Hunger und Elend zu Grunde gehen
müsse etc. Derlei dunklere oder bewusstere Vorstellungen projiciren
sich nicht selten in Hallucinationen, die direct zum Mord (von Kindern,
Gatten etc.) auffordern, und es schliessen sich an sie jene Gehörs-
hallucinationen fanatisch-religiösen Inhalts (Stimmen Gottes, vom
Himmel etc.) an, welche dem Kranken eine Nachahmung des Opfers
[200]Schwermuth mit Mord-
Abrahams und dergl. befehlen. Solchen liegt der dunkle Gedanke
der Nothwendigkeit eines fremden, den Kranken selbst aber wesentlich
mitbetreffenden, Sühnopfers für — imaginäre — eigene, schwere Ver-
brechen zu Grunde, während in andern Fällen eine solche Unthat
von dem Kranken, der sich selbst für einen verworfenen Bösewicht
hält, in der Absicht begangen wird, sich die vermeintlich wohlver-
diente Todesstrafe zuzuziehen.
Für sehr viele dieser und der zum folgenden §. gehörigen Fälle
ist ein, schon beim Selbstmord (p. 195) erwähnter Umstand sehr wichtig
und characteristisch, nemlich die Befreiung des Individuums von seinem
schmerzlichen Affect und seinen schrecklichen Vorstellungen dadurch,
dass die That vollbracht, ihm objectiv geworden ist (p. 34), jene
Erleichterung und Beruhigung, welche der Kranke durch die Ent-
äusserung seiner Stimmung mit dem Vollbringen der That gewinnt,
das, was man auch schon die critische Bedeutung solcher Thaten
genannt hat. In folgenden, noch sehr einfachen Fällen sind ver-
schiedene Modificationen einer derartigen Erleichterung krankhafter,
schlimmer Neigungen zu erkennen; ganz Aehnliches kommt oft nach der
wirklichen Ausführung von Mordthaten aus melancholischen Motiven vor.
XIX. Ein Fall von Melancholie zeigte einen Character, der nicht ungewöhn-
lich ist und der in höheren Graden und bei voller Ausbildung eine Form „mora-
lischer Manie“ abgibt. Die Patientin, eine verheirathete Frau, 45 Jahre alt,
war in Folge von ängstlicher Gemüthsart in einen Zustand tiefer Schwermuth mit
beständiger Angst verfallen. Sie gab an, wo sie immer von einem Verbrechen
höre oder lese, fühle sie eine heftige Versuchung es auch zu begehen, aber
zugleich auch eine obenso heftige Furcht vor der Ausführung; unmöglich könne
sie alle die grässlichen Dinge angeben, die ihr durch den Kopf gehen. Sie
setzte bei, dass jede Gewaltthätigkeit, in Rede oder That, die sie
an ihren Kindern oder ihrer Umgebung verübe, ihr eine bedeu-
tende Erleichterung verschaffe, und dass sie nun die grösste
Mühe habe, sich zu beherrschen. Die Kranke genas unter dem
Gebrauch verdünnter Schwefelsäure, Opiumtinctur, Digitalis, Quassia-Jnfus und
eröffnenden Mitteln.
(Guy; Kings-College annual. reports. 1841. Lond. Med. Gaz. Septbr. 1842.)
XX. Ein Kranker, der an Fissura ani und Spermatorrhoe mit vorüber-
gehenden Kopfcongestionen leidet, verfällt nach [und] nach in Melancholie. „Er
verabscheute den Selbstmord und ein böser Genius schien ihn beständig dazu zu
treiben; der Anblick von spitzigen Körpern oder Schiessgewehren machte ihn
zittern und erweckte in ihm einen Trieb zu tödten, von dem er sich
nur befreien konnte, indem er sich einen heftigen Schmerz
erregte, z. B. einen Theil seines Körpers heftig kneipte.“
Die Zuvorkommenheit seiner Umgebung erwiederte er mit Grobheit. „Er verab-
scheute das Böse und fühlte sich wider Willen dazu getrieben:
[201]und Zerstörungstrieben.
so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte,
zu quälen und dann weinen zu sehen.“
(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)
§. 105.
Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb
(Nro. XIII), kommen auch bei bisher wirklich oder scheinbar
Gesunden plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene
Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in
denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm
in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle,
ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in
ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan-
cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte
darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung
nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst,
und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer
epileptischer Anfälle beobachtet hat *).
Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung,
und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene
Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz
schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen
Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord
befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu
unterscheiden.
Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis-
her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen
Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle
Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau-
riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten
Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der
ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen
freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur
Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich
dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der
Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können
dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder
versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum
wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn
[202]Beispiele von Schwermuth
gedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber-
ging. Anderemale aber — zum Glück hier seltener — unterliegt das
Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten
Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der
gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung,
der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um
jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat
erscheint.
XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von
einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan-
gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe
zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott
um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich
niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein
Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor-
steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin-
den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel-
cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter
machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess
eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen
zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf
kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war.
Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen
habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren
gegangen. (Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.)
XXII. Catharine Olhaver, auf einem Dorfe, als das dritte eheliche Kind
armer Eltern, im Jahr 1788 geboren, hatte frühe von der Brust genommen wer-
den müssen, weil die Mutter, wie der Säugling eben erst in die sechste Woche
seines Alters getreten war, von einem heftigen hitzigen Fieber befallen worden.
Diese Krankheit begann, ehe noch andere Erscheinungen derselben eingetreten
waren, mit dem Vorsatz, den Säugling zu ermorden. Um dies ins Werk zu
setzen, trennte sie eine Seite ihres Oberbettes auf, und gedachte das Kind in
dieses hinein zu stecken, damit es in den Federn ersticke und zugleich darin
verborgen bleibe. Sie wurde an der Ausführung dieses Vorsatzes gehindert,
worauf sich sogleich das Fieber in seiner ganzen Heftigkeit äusserte und meh-
rere Wochen hindurch anhielt. Nach der Genesung wusste diese Frau sich ihrer
bösen Absicht nicht mehr zu erinnern, und verpflegte das Kind mit mütterlicher
Sorgfalt. Sie lebt noch und hat nie wieder ähnliche Anfälle gehabt.
Ohngeachtet einer ärmlichen Erziehung, wuchs Catharine gesund haran; sie
soll zuweilen an Würmern gelitten haben. Der Monatsfluss stellte sich erst spät
ein, war jedoch hernach beständig regelmässig. Ihr erster Umgang mit einem
Manne hatte Schwangerschaft zur Folge. Am 21. Januar 1821 gebar sie leicht
und glücklich einen gesunden Knaben, den sie anfangs selber nährte. Bald nach
ihrer Entbindung traf sie nach heftigem Aerger ein Anfall von Epilepsie,
der sich hernach aber nicht wieder einstellte. Als ihr Kind sechs Wochen alt
war, übernahm sie einen Ammendienst, in dem sie sich sehr wohl betrug, sich
[203]mit Mordtrieben.
stets ruhigen Gemüths, heiter und verträglich zeigte; auch das Kind, das sie
zärtlich liebte, gedieh sehr wohl bei ihr, nur einmal wurde sie von einem hef-
tigen Aerger und Schmerz ergriffen, als sie sechs Wochen nach dem Antritte
ihres Dienstes den Tod ihres Kindes erfuhr. Doch erloschen diese Eindrücke bald
wieder, ihre gleichmüthige Heiterkeit kehrte zurück und sie wandte ihre ganze
mütterliche Zärtlichkeit nun noch in höherem Grade auf den Säugling, den sie
nährte. Am Ende der 32sten Woche nach ihrer Entbindung stellte sich der
Monatsfluss wieder bei ihr ein, dem ein kurzes Uebelbefinden voranging. Beide
kehrten hernach regelmässig um die vierte Woche wieder. Von jetzt an griff
sie die Ernährung des Kindes sichtlich an, sie wurde bleicher und magerer, auch
das Kind fieng an zu erkranken, anfangs an Intermittens, später an krampf-
haftem Husten.
Freitag und Sonnabend, den 20. und 21. October, litt die Amme an heftigen
Leibschmerzen, die auch am Sonntag, wiewohl schwächer fortdauerten. Dabei
fühlte sie öfters ein gewisses Wühlen im Magen und eine Beängstigung, die
indessen vorübergehend waren. Am Sonntag Abend, da sie mit den beiden
jüngsten Kindern allein im Zimmer ist, steigt ihr mit Einemmale, indem sie ein
Messer auf dem Tische liegen sieht, der Gedanke auf, sie müsse mit diesem
Messer dem Säugling, den sie auf dem Schoose bat, den Hals abschneiden.
Ihrer Angabe nach, fühlte sie im Magen ein besonderes Gewühl, oder wie sie
sich ausdrückte, ein Kluckern; vom Magen aus steigt es ihr heiss zum Kopf; es ist,
als ob ihr eine Stimme zuriefe, sie müsse das Kind ermorden. Sie entsetzt sich
selbst vor diesem Gedanken, legt schnell das Kind aufs Bett, läuft mit dem
Messer in die Küche, wo sie es wegwirft und die Köchin bittet mit ihr hinaus-
zukommen und bei ihr zu bleiben, weil sie böse Gedanken hätte. Da aber diese
ihr antwortet, dass sie ihre Arbeit nicht verlassen könne und bald darauf aus-
geht, so bleibt sie wieder mit den Kindern allein. Immer noch steigt ihr der-
selbe Gedanke wieder auf, und um sich von ihm los zu machen, fängt sie laut
an zu singen, tanzt mit den Kindern im Zimmer umher und bringt sie endlich zu
Bette. Als darauf die Köchin wieder nach Hause kommt, fordert sie diese auf
bei den Kindern zu bleiben und sie, die Amme, an ihrer Stelle ausgehen zu
lassen. Da aber diese nichts davon wissen will und bald darauf wirklich fort-
geht, legt sie sich zu Bette, schläft ein wenig ein, erwacht aber plötzlich mit
einer neuen, fast unwiderstehlichen Anwandlung das Kind, dessen Wiege vor
ihrem Bette steht, zu ermorden. Zum Glück öffnet sich in diesem Augenblick
die Thür und ihre Dienstherrschaft kommt nach Hause; das beruhigt sie wieder
etwas, weil die Mutter des Kinds und deren Schwägerin in demselben Zimmer
schlafen; aber sie schläft die ganze Nacht wenig und sehr unruhig, bis etwa
um drei Uhr jener Mordgedanke so heftig wird, dass sie laut anfängt zu rufen,
um die Anwesenden zu wecken. Sie klagt nun, dass sie sich sehr unwohl fühle
und von bösen Gedanken geplagt werde, ohne jedoch darüber näher sich auszu-
lassen. Dabei spricht sie zuweilen wie in Geistesabwesenheit zu sich selbst;
bald ruft sie laut: „O Gott, welche schrekliche, scheussliche Gedanken,“ bald —
„Das ist ja lächerlich, abscheulich, entsetzlich,“ bald fragt sie ängstlich nach
dem Kinde, ob es auch bei der Mutter sei und ruft ihm liebkosend und zärtlich
zu, bis sie endlich, nachdem ihr Chamillenthee gegeben worden, sich etwas beruhigt
und gegen sechs Uhr einschläft. Am folgenden Tag fühlt sie sich matt und an-
gegriffen und immer noch wird sie von denselben Anwandlungen geplagt. Dabei
[204]Schwermuth mit Mord-
sitzt sie immer stumm, in sich gekehrt, oft mit stierem und wildem Blick und
mit ungewöhnlicher Röthe im Gesichte, ohne sich, wie sie sonst immer pflegte,
mit dem Kinde besonders abzugeben, es umherzutragen, es zu liebkosen und ihm
zu schmeicheln. Endlich um fünf Uhr Nachmittags, nachdem sie dreimal von der
unterdessen verordneten Arznei eingenommen hatte, fühlt sie [Beruhigung] und
Erleichterung. Nur einmal noch, in der Nacht vom Montag auf den Dienstag
wandelt sie jene Mordlust wieder an; sie springt aber schnell aus dem Bette
und nimmt Arznei, wornach sie sich beruhigt fühlt. Seitdem ist sie von allen
ähnlichen Anwandlungen frei geblieben. Am Dienstag gestand sie Alles unter
vielen Thränen.
Der Anfall traf nicht mit der Menstruation zusammen, nicht die kleinste
veranlassende Ursache konnte aufgefunden werden. Die Arzneien bestanden
aus Potio Riveri, Brechmittel, Valeriana etc. Das Kind starb im November, die
Amme hatte es während seiner letzten Lebenszeit mit dem stillen Ausdruck des
tiefsten Schmerzes in den Armen gehalten und verfiel als es endlich gestorben
war in die grösste Verzweiflung, die indessen bald vorüberging und einer ruhi-
geren Trauer Platz machte.
(Mende, in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821. 2tes Vierteljahrsheft. p. 274.)
XXIII. Die Frau eines Schuhmachers besuchte mich eines Tages wegen
eines Leidens über das sie verzweifeln will; sie zeigt alle Merkmale geistiger
und körperlicher Gesundheit, aber sie klagt unaufhörlich durch den Gedanken
belästigt zu werden, ihre vier Kinder umzubringen, welche sie doch, wie sie
sagt, mehr liebt als sich selbst. Sie fürchtet einen schlimmen Streich zu machen,
sie ist in Verzweiflung, sie will sich zum Fenster hinausstürzen; sie fühlt einen
unwiderstehlichen Drang ohne Gründe dazu zu haben und verfällt dadurch in ein
allgemeines Zittern. Gegen andere Kinder fühlt sie keine solche schlimme Gelüste,
nur ihre eigenen muss sie fliehen und aus Furcht zu unterliegen, verbirgt sie sorg-
fältig alle Werkzeuge, die ihr in die Hände fallen können. Sie steigt bestän-
dig Treppen auf und ab, um durch Bewegung und Ermüdung jene Gedanken zu
vertreiben; dieser Mordtrieb währt etwa ein Vierteljahr und hört dann von selbst
wieder auf mit der Rückkehr der Menses.
(Georget, Discussion médico-légale sur la solie. 1826.)
Für die blutdürstigen Grillen dieser Art mag allerdings *) die Ge-
danken-Entstehung nach dem Gesetze des Contrastes (§. 16.) fast den
einzigen Anknüpfungspunkt an die Vorgänge des gesunden Seelen-
lebens bieten, wiewohl es von der Thatsache, dass in dem Glück-
lichen der Gedanke der Noth und des Elends, in dem Liebenden
der Gedanke der Untreue, in dem auf steiler Höhe Steheuden der
Gedanke eines tiefen Sturzes leicht entstehen kann, noch weit ist zu
diesen, das Handeln provocirenden, fix und anhaltend nach Aussen
drängenden Vorstellungen.
Etwas deutlicher in ihrer psychologischen Motivirung sind die
[205]und Zerstörungstrieben.
Fälle zweiter Reihe, wo solche Impulse in schon längst verdüsterten, inner-
lich vereinsamten, menschenfeindlichen Seelen entstehen. Je mehr ein
krankhafter Zustand von Insichgekehrtsein mit negativem Affect habituell
wird und sich fixirt, um so mehr tritt der Mensch innerlich heraus
aus der Gemeinschaft freundlicher und wohlwollender Regungen, die
die Menschen untereinander verbindet und er kann fortschreitend
zu einem Standpunkt kommen, der fast ausserhalb der Menschlichkeit
und ihrer Interessen liegt. Gegen die Welt, die durchaus wider-
wärtig, finster und gräulich geworden ist, mag sich hier wohl die
Stimmung des bittersten Grolles entwickeln, es mögen hier wohl
Antriebe zu dunkeln Thaten auftauchen, in denen der Mensch gleich-
sam alle die eingebildeten Kränkungen und Leiden, die Widerwärtig-
keit aller Eindrücke, deren Quelle er statt in sich, immer in der
Aussenwelt sucht, dieser in Einer eclatanten Unthat heimgibt. Auch
hier werden oft nahestehende Personen, die momentan einen ver-
stärkten Hass des Kranken auf sich zogen, zu Opfern solcher An-
triebe; häufiger aber sind es hier gleichgültige Menschen, als ob es dem
feindlichen Sinne des Kranken überhaupt um einen Repräsentanten
der verhassten Gattung zu thun wäre, und die unschuldigen Reize
eines Kindes, die Schönheit einer Frau können hier manchmal zu
Herausforderungen für jene blutgierige Stimmung werden.
Der vielbesprochene Fall der Henriette Cornier gehört in diese Categorie
(S. Marc. II. p. 48. 41). Beispiele solcher Zustände, schon im frühen Kindes-
alter entwickelt, s. bei Marc. I. p. 66. Esquirol, l. c. II. p. 61. Ebenso vgl.
die zwei Fälle von Lallemand, l. c. III. p. 185—186. — In vielen dieser Fälle
lassen sich mannigfache körperliche Störungen, theils von erfahrungsmässigem
Einflusse auf die Erzeugung einer Gehirnaffection, theils schon weitere Symptome
einer solchen, nachweisen, anhaltende oder vorübergehende Kopfcongestion, Stö-
rungen der Menstruation, Onanie und Krankheiten der Sexualorgane, Angstem-
pfindungen, die von der Herzgrube aufsteigen, Umneblung der Gesichtsobjecte,
allgemeines Unwohlsein, Mattigkeit, Stuhlverstopfung etc. Eine Anweisung zur
forensischen Beurtheilung solcher Fälle gehört nicht hierher; es versteht sich,
dass sich solche nur auf wissenschaftliche Gründe, hervorgehend aus der
genauesten Ermittlung der psychologischen und organischen Genesis solcher
Antriebe, stützen darf. So jämmerlich es ist, wenn häufig die Lehre von den
krankhaften Antrieben zum letzten Auskunftsmittel in der Vertheidigung schlechter
Sachen gemacht wird, so wenig die ärztlichen Gutachten — nach Idelers Aus-
drucke — jenen italiänischen Kirchen gleichen dürfen, in denen jeder Bandit ein
sicheres Asyl findet, so sehr muss die Medicin in diesen Dingen ihre Rechte
wahren; möchte sie doch nie, im Conflict mit den gangbaren Meinungen und mit
Ansichten, die nur auf vollständiger Unkenntniss des kranken Seelenlebens be-
ruhen, die Waffen ihrer wissenschaftlichen Gründe strecken! —
[206]Schwermuth mit Neigung zum Zerstören.
§. 106.
An die eben besprochenen Antriebe reihen sich die krankhaften
Neigungen zur Zerstörung lebloser Objecte bei Schwermüthigen
an, die sich an Allem, was den Kranken umgibt, äussern können.
Die Fälle, wo die That in Brandstiftung besteht, wurden als eine eigene
Monomanie, die s. g. Pyromanie beschrieben und erörtert — eine
äusserliche Art der Zusammenstellung (Vgl. p. 62), die wenigstens
den Vortheil einer vorläufigen Fixirung des Gegenstandes hatte. *)
Wenn man unter den bekannt gewordenen Beobachtungen hier-
über alle die, unstreitig die Mehrzahl bildenden Fälle ausschliesst,
wo offenbar egoistische Motive **) die Hand des Brandstifters leiteten,
so bleibt allerdings noch eine Anzahl anderer übrig, wo die That des
Feueranlegens in entschieden schwermüthigem (namentlich nostal-
gischem) Zustande, oft unter Begleitung auffallender und wichtiger
körperlicher Störungen — besonders Störungen der sexuellen Ent-
wicklung — begangen ward. Der krankhafte Antrieb entwickelt sich
hier ebenso, wie bei den im vorigen §. betrachteten Mordimpulsen.
Die innere Angst, die allgemeine Verstörung durch den krankhaft
gesetzten Affect treibt dazu, nicht etwa, wie schon gesagt wurde
(Masius), durch den Anblick einer grossen Flamme jene Angst zu
dämpfen, sondern nur überhaupt durch irgend eine äussere That
von negativem, zerstörenden Character, sich der Verstimmung zu ent-
äussern und damit zur Ruhe zu gelangen. Die specielle Richtung
dieses Triebs auf Brandlegung kommt eben daher, dass sich den
Individuen, bei denen er bisher ausschliesslich beobachtet wurde,
nemlich jungen Leuten, namentlich jungen, weiblichen Dienstboten,
das Feuer, mit dem sie auch sonst viel umzugehen haben, als nächstes
Mittel zur Befriedigung jenes Antriebs darbietet, als ein Mittel, das
leicht anzuwenden ist und weder Thatkraft noch Entschlossenheit bedarf,
Es gibt übrigens Fälle von Brandstiftung durch Geisteskranke, der ganz
andere krankhafte Motive zu Grund liegen. Jonathan Martin, der die Cathedrale
von York anzündete, war kein Schwermüthiger, sondern offenbar ein chronisch
Verrückter, der durch Hallucinationen veranlasst, „das Haus des Herrn von
unwürdigen Priestern reinigen“ wollte. Es ist eine nothwendige, üble Folge
[207]Schwermuth im Uebergang zur Tobsucht.
jenes äusserlichen Zusammenstellens, wenn dieser Fall eben auch (wieder von
Sc. Pinel, pathol. cérébr. p. 328) unter der „Pyromanie“ aufgeführt wird.
XXIV. Schwermuth mit ruhiger Neigung zum Zerstören. Marie
Z., etwa 30 Jahre alt, von einem von Natur eigensinnigen Character, wurde in
Folge von häuslichem Kummer geisteskrank. Sie glaubte sich verloren und zu
Höllenstrafen verdammt. Nachdem sie Selbstmord versucht hatte, kam sie in
unsere Anstalt mit bläulicher Haut am Halse und noch die Spuren des Stricks
an sich tragend, mit dem sie sich hatte hängen wollen. Während ihres Aufent-
haltes im Spital überliess sie sich stets der grössten Verzweiflung; sie sass von
Morgen bis zum Abend an ihrem Bette, den Kopf auf ihre Hand gestützt und
antwortete nur mit einzelnen Sylben. Zuweilen unterhielt sie sich ziemlich lange
über eine fürchterliche Strafe, die ihrer warte. Eines Tags verschaffte sie sich
eine Scheere und durchlöcherte eine Matraze und ihre Haube mit einer Menge
kleiner Einschnitte, und diess ohne die geringste Spur von Verdruss oder Zorn;
sie versicherte mich ganz treuherzig, diese Begierde in ihre Kleider hineinzu-
schneiden, sei ein Trieb, dem sie nicht widerstehen könne. — Nach zwei Jahren
genas sie vollständig. —
(Guislain, Phrenopathieen. Uebersetzt von Wunderlich. 1838. p. 279.)
Fünftes Capitel.
Schwermuth mit anhaltender Willensaufregung.
In den beiden letzten Abtheilungen sind Zustände erörtert worden,
wo der krankhafte Affect sich in einzelnen Impulsen zu Werken der
Zerstörung äussert. Je allgemeiner, ausgebreiteter und je anhaltender nun
die motorische Seite des Seelenlebens von dem psychischen Schmerze
miterregt wird, je vager und permanenter die krankhafte Willensauf-
regung wird, um so weniger rechnet man diese Zustände mehr zur
Schwermuth — um so mehr gehören sie der Form der Tobsucht
an. Es ist unnöthig und unmöglich, alle Mittelformen zu schildern,
durch die solcher Uebergang der Schwermuth in die maniacalische Auf-
regung geschieht; die ausgeprägtere Form wird eben in dem nächsten
Abschnitte dargestellt werden.
Wichtig aber ist es zu wissen, dass es solche Zustände von
negativem Affect und anhaltender Willenserregung von mässiger In-
tensität und sehr chronischem Verlaufe gibt, welche als habituelle
Charactereigenthümlichkeiten fortbestehen und sich an die oben (p. 166)
erörterten Zustände milder chronischer Schwermuth als deren active
Form anschliessen. Einzelne dieser Fälle sind als Gemüthswahnsinn,
als Mania sine delirio, als folie raisonnante, moral insanity (Prichard)
von den Schriftstellern aufgeführt. — Diese Zustände kommen als
[208]Chronische Form von Schwermuth mit Willensaufregung.
angeborne und erworbene vor; sie bestehen in einer anhaltenden oder
auf jeden leichten Anlass eintretenden Stimmung von Unzufriedenheit
und Bitterkeit, in einem beständig negativen Verhalten zur Aussen-
welt, deren Eindrücke immer oder doch sehr leicht als widrige em-
pfunden werden, und in anhaltender Willensreaction im Sinne der
feindlichen zornigen Stimmung. Sie werden meist nicht oder doch
sehr lange nicht als krankhafte Zustände erkannt, wenn der Kranke
sein feindseliges und unbesonnenes Thun mit logisch richtigen Reden
zu rechtfertigen und sich zu verstellen weiss, bis endlich einmal der
Zustand sich zu einem heftigeren Manie-Anfalle steigert und damit
über seine Natur der Umgebung die Augen aufgehen.
XXV. Habitueller negativer Affect mit Neigung zu Gewalt-
thätigkeit, ohne Störung des Verstandes. Ein einziger Sohn, der
unter den Augen einer schwachen und nachsichtigen Mutter erzogen ward,
gewöhnte sich allen seinen Launen, allen Regungen eines unruhigen und hef-
tigen Temperaments nachzugeben. Mit den Jahren nahm die Gewaltthätigkeit
seiner Neigungen zu, und das Geld, das man ihm verschwenderisch zu Gebot
stellte, schien ihm jedes Hinderniss seiner höchsten Willensmeinungen weg-
zuräumen. Findet er wirklichen Widerstand, so wird er heftig und auf-
geregt; er greift keck an, sucht mit Gewalt zu herrschen und lebt beständig
in Streit und Händeln. Aergert er sich über irgend ein Thier, einen Hund,
ein Schaf, ein Pferd, so bringt er es auf der Stelle um; nimmt er an
einer Gesellschaft, einem Feste Antheil, so erzürnt er sich und fängt eine Schlä-
gerei an. Andererseits ganz vernünftig, wenn er ruhig ist, und Besitzer eines
bedeutenden Gutes, verwaltet er dieses mit richtigem Verstand, erfüllt seine son-
stigen Pflichten in der Gesellschaft und erweist den Armen manche Wohlthaten.
Seine unglückliche Händelsucht hatte ihm bisher nur Wunden, Processe, Geld-
strafen eingetragen, bis ein öffentlich gewordener Unfall seinem gewaltthätigen
Treiben ein Ende machte: er gerieth eines Tags in Zorn gegen eine Frau,
welche ihn mit Worten angriff, und warf sie in einen Brunnen. Die Sache kam
vor Gericht, und auf eine Menge von Zeugenaussagen, welche die Verirrungen
seiner Zornsucht schilderten, ward eine Einsperrung im Irrenhause von Bicêtre
über ihn verhängt. (Pinel, traité de l’alienation. p. 159.)
[209]
Zweiter Abschnitt.
Die psychischen Exaltationszustände.
Die Manie.
§. 107.
Während die reinsten und exquisitesten Formen der Melancholie
sich als Zustände von Depression der Selbstempfindung und des
Selbstvertrauens, von Concentration auf einen traurigen Affect, von
krankhaftem Insichsein, in den höchsten Graden sogar mit Un-
fähigkeit zu jeder Kraftäusserung darstellten, haben wir gesehen, wie
in den zuletzt betrachteten Formen immer mehr und mehr krank-
hafte Antriebe zu Willensäusserungen die affectvolle Stimmung be-
gleiteten. Die Möglichkeit, den Affect durch Handlungen zu äussern
und sich seiner damit zu entäussern, zeigte schon das Freierwerden
der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung an; je stärker
und anhaltender solche Impulse werden, in je grösserem Umfange
und in je selbständigerer Weise das Streben wieder frei wird, um so
mehr ergeben sich Zustände anhaltender Aufgeregtheit und
Exaltation des Wollens, mit der sich dann auch leicht Erhöhung
der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens verbindet.
Wir begreifen diese Zustände, welche man (Jessen) mit Recht
im Gegensatze zur Melancholie als ein krankhaftes Aussersich-
sein bezeichnet hat, unter dem Namen der Manie (Tollheit), und
sie zerfallen für uns wieder in zwei verschiedene, übrigens enge mit
einander zusammenhängende, nicht selten in einander übergehende,
noch häufiger wie fragmentarisch unter sich gemischte Zustände oder
Formen, die Tobsucht und den Wahnsinn (sensu strictiori).
Das Grundleiden in den maniacalischen Zuständen besteht nem-
lich in einer Störung der motorischen Seite des Seelenlebens, der
Strebung, und zwar von der Art, dass dieselbe frei, losgelassen,
ungebunden gesteigert sich zeigt, und dass eben damit das Individuum
das Bedürfniss erhöhter Kraftäusserung empfindet. Aus diesem Trieb
zu vermehrter psychischer Bewegung von innen nach aussen, aus
dieser vermehrten Energie und dem erweiterten Umfang der Strebungen,
aus dieser Ausschweifung des Wollens, welche den Mittelpunkt der
maniacalischen Störungen ausmachen, ergeben sich als von einem
gemeinsamen Ursprunge diese beiden, in ihrem Wesen und in ihrer
reinen Aeusserungsweise bald sehr verschiedenen Formen. Einmal nem-
lich kann sich dieses Bedürfniss grosser psychischer Kraftäusserung
Griesinger, psych. Krankhtn. 14
[210]Allgemeines über die
unmittelbar durch fortlaufenden Impuls in die motorischen Organe nach
aussen werfen, gleichsam dahin explodiren, wodurch denn ein Zustand
grosser äusserer Unruhe, anhaltender Muskelbewegung (Sprache, Mimik,
Bewegung des Körpers im Ganzen) in Sprechen, Schreien, Lärmen,
Tanzen, Springen, Toben etc. und damit die Form der sogenannten
Tobsucht gesetzt wird.
Oder es kann, indem mit der freieren Entwicklung der Kraft
des Wollens als deren unmittelbares Ergebniss eine übermüthige
Stimmung, eine erhöhte Selbstempfindung und daraus eine anhaltende
Selbstüberschätzung sich entwickelt, zu Erklärungsversuchen dieser
Stimmung, zu Wahnideen kommen, welche nun das geistige Leben
beherrschen, und die erhöhte Willensthätigkeit in ihren Dienst nehmen.
Dann es ist dem Kranken nicht mehr nur überhaupt um Kraft-
äusserung zu thun, sondern die Aufgeregtheit der motorischen Seite
des Seelenlebens wird dann zum ausschweifenden Wollen im
Sinne bestimmter Wahnvorstellungen, meist mit viel grösserer
äusserer Ruhe. — Sobald sich ein solcher Zustand, mit bestehenden
aus übermüthiger Selbstüberschätzung hervorgegangenen Wahnideen
nur irgend etwas fixirt hat, so begründet er eine unendlich viel
tiefere psychische Störung, als die blosse Tobsucht. Denn während
bei der letzteren der Kranke einestheils mit der Aeusserung seiner
erhöhten Triebe sich derselben auch entäussert, anderntheils über-
haupt, wie alsbald gezeigt werden wird, in der reinen Form der Tob-
sucht der ganze krankhafte Process auf einem relativ äusseren Gebiete
des Seelenlebens, ohne Beeinträchtigung des Innersten der Indivi-
dualität, abgespielt wird, gehört es wesentlich zum Character dieser
zweiten Form der Manie, die wir Wahnsinn nennen, dass Wahnideen,
falsche Gedankenbildungen, welche aus Selbstüberschätzung ent-
sprungen sind, und sich daher nur auf das eigene Selbst des Kranken
beziehen, auftreten und andauern, mit deren An- und Aufnahme
unmittelbar das Ich selbst, das Innerste der Individualität alienirt und
verfälscht wird.
So verschieden sich aber diese beiden Zustände in ihren Extremen
gegen einander ausnehmen, so ergiebt doch die Beobachtung, dass
sehr häufig in der Tobsucht selbst solche Wahnvorstellungen der
Selbstüberhebung vorkommen, die alsdann freilich nicht in ontolo-
gischer Anschauungsweise als „Bruchstücke von Wahnsinn,“ einer
vermeintlich ganz andern Krankheit, dort einfach vorgemerkt, sondern,
die in dem Processe ihres Zustandekommens aus dem psychischen
Grundzustande begriffen sein wollen. Es ist nemlich an sich klar,
[211]maniacalischen Formen.
wie sich auch während des unmittelbaren Nach-Aussenwerfens der
krankhaften Willensimpulse durch Muskelbewegung unendlich häufig
die übermüthige Verstimmung, der Zustand der Selbstüberschätzung
ergeben muss, und wie es demgemäss auch leicht zum darauf ge-
gründeten Aufbau erklärender Wahnvorstellungen kommen kann, und
man kann denn in der Beobachtung der Tobsüchtigen täglich sehen,
wie bei ihnen solche grossartige Vorstellungen bald bloss durch-
blicken bald auch mit grosser Energie geäussert werden. Allein glück-
licherweise liegt in den ausgebildeten Zuständen von Tobsucht etwas,
was das Fixirtwerden solcher Wahnideen hindert. Die Vorstellungen
nehmen nemlich an dem Tumulte und der Präcipitation, in welche
von der motorischen Seite her das Seelenleben gesetzt worden ist,
Antheil, sie werden durch Hastigkeit verworren und jagen so schnell
vorüber, dass keine bleiben und dauern kann. Wo dagegen kein
solch hastiges Vorüberfliehen ist, wo dabei schon die gehobene
Stimmung, noch mehr die Wahnvorstellungen selbst sich dem Ich
in einer Weise aufdrängen, dass sie zu wesentlichen, ja zu Haupt-
bestandtheilen desselben, nicht nur subjective Wahrheit für die Kranken,
sondern die beherrschenden Elemente seines ganzen Seelenlebens
werden, da nennt man diess Wahnsinn.
Der Unterschied der Tobsucht von dem Wahnsinn, wie er sich
in reinen, exquisiten Fällen darbietet, besteht also hauptsächlich in
der verschiedenen Richtung, welche die ursprüngliche Störung nimmt,
in der verschiedenen Art, wie das Vorstellen überhaupt krankhaft
verändert, und wie das Ich afficirt wird. Bei der Tobsucht geht der
verstärkte Impuls des Wollens unmittelbar als Trieb durch Muskel-
bewegung nach aussen; im Wahnsinn ist es nur ein innerlich aus-
schweifendes Wollen, wobei die Selbstempfindung freierer Thatkraft
durch eine Rückwirkung zu exaltirten falschen Vorstellungen wird,
und wo es dann jenem Wollen, wenn es sich äussert, nicht um
blosse Bewegung und Entladung durch diese Bewegung, sondern
vielmehr um die Realisirung gewisser Plane zu thun ist, welche aus
jenen falschen Vorstellungen hervorgehen. Dieser Irrthum in den
Vorstellungen besteht eben in festen, aus Selbstüberschätzung ent-
sprungenen Wahnideen in Bezug auf die eigene Persönlichkeit,
während die Störung des Vorstellens in der Tobsucht hauptsächlich
in delirienartiger Verwirrung in Folge der Präcipitation aller psychischen
Processe besteht.
Endlich werden wir denn noch einen dritten Zustand mehr schein-
barer als wirklicher psychischer Exaltation zu betrachten haben, welcher
14*
[212]Verhältniss der Manie
immer nur aus dem Wahnsinne sich herausbildet, und darin
besteht, dass die Anomalie der psychischen Selbstempfindung, der
übermüthige Affect, welcher zu den irrigen Gedankenbildungen als
zu seinen Erklärungsversuchen ursprünglich Anlass gab, zwar zurücktritt
oder völlig erlischt, dass aber die falschen Gedankenbildungen selbst,
die exaltirten Ideen über den Werth der eigenen Persönlichkeit,
losgelöst von dem Boden, auf dem sie entstanden, fortdauern, und
nun als für immer bleibende Verstandesirrthümer, das ganze psychische
Leben der Kranken beherrschen. Wir werden indessen diese Zu-
stände als die der exaltirten Verrücktheit am passendsten erst
im dritten Abschnitte erörtern.
§. 108.
Es ist schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, wie
in der Mehrzahl der Fälle melancholische Zustände den maniacalischen
voraus und diese aus jenen hervorgehen. Man kann auch häufig dem
Entwicklungsgange der Krankheit in der Weise folgen, dass man bei
Schwermüthigen von Tag zu Tag eine Steigerung des schmerzlichen
Affects und der Angst wahrnimmt, welche zuerst nur in grosse
äussere Unruhe und nun immer zulegend in die vollendetste Tob-
sucht übergeht. Hier hat offenbar der vorhandene Schmerzzustand
den convulsivischen Zustand hervorgerufen, und man kann diess auf
die passendste Weise theils mit den wirklichen Convulsionen, die
einer sehr lebhaften körperlich unangenehmen Empfindung folgen,
theils mit jenen Muskelcontractionen, welche instinctiv als Reactionen
gegen heftige Schmerzen aufgeboten werden (Beissen, Fäusteballen etc.)
vergleichen.
Man darf nicht glauben, dass deshalb das Wesen der Tobsucht
nur in der ungezügelt freigewordenen Aeusserung des negativen
Affects der Schwermuth bestünde. Denn obwohl sich dieser nicht
selten in einzelnen convulsivischen Tobanfällen und einzelnen Werken
der Zerstörung nach aussen Bahn bricht — Zustände, die wir
oben als Raptus melancholicus erwähnt haben — wiewohl ferner
häufig genug die Schwermuth während der ganzen maniacalischen
Periode wie ein dunkler Hintergrund durch die ausgelassenste
Selbstüberhebung durchblickt und namentlich zeitenweise wieder
vorherrschend werden kann, so gewinnt doch mit der einmal frei
gewordenen motorischen Exaltation die Tobsucht bei auch nur
einiger Dauer eine von der früheren Schwermuth unabhängige Selbst-
ständigkeit, und das Explodiren der Strebung geht dann in Einem
[213]zur Schwermuth.
fort, ohne dass es durch schwermüthigen Affect immer neu angeregt
zu werden brauchte, ja die Stimmung selbst ändert sich häufig in
ihr Gegentheil um, und wird heiter, lustig und übermüthig.
Auch die Zerstörungswerke, die wilden Angriffe und lärmend
vollzogenen Unthaten der Tobsüchtigen sind durchaus nicht immer
in wahrem, negativem Affect, in einer auch nur momentan feind-
seligen Absicht begründet; das Thun dieser Kranken ist vielmehr
grösstentheils das Ergebniss eines blind sich äussernden Triebes zu
handeln, eines Bedürfnisses, durch Wollen die Aussenwelt zu ver-
ändern. Im Zerstören findet der Trieb die beste Gelegenheit sich
zu äussern, weil es leichter ist als das Schaffen und weil zum Schaffen
Besonnenheit und Sorgfalt gehören, von denen beim Tobsüchtigen
nicht die Rede sein kann. Der Trieb will schnell befriedigt sein,
dem langsameren Einflusse ordnender Vorstellungen eilt er convul-
sivisch voraus; da seine Wirkung eine sichtbare sein soll, so greift
er demolirend ein, und es kann sich dann das Ziel, welches nur
das Ende der Thätigkeit bezeichnen sollte, als der Zweck des Thuns
darstellen. Man sieht etwas ähnliches beim Kinde, das sein Spiel-
werk zerstört, um sein Bedürfniss, es durch Wollen zu verändern,
zu befriedigen, oder bei den Knaben, welche den Trieb zu Kraft-
äusserung durch Angriffe auf einander und Balgereien bethätigen.
Gerade so demolirt und verwüstet der Tobsüchtige oft unter lautem
Lachen und in der ausgelassensten Laune. Vollends ganz entschieden
und deutlich aber erhellt der Unterschied des Thuns in der Manie
von dem Thun des Schwermüthigen in der Form des Wahnsinns, die
ihrem innern Grunde nach mit der Tobsucht so eng zusammenhängt.
Hier nemlich will der Kranke meistens wirklich schaffen und zwar
Ungeheures leisten, gestalten, hervorbringen, und er kann hiezu sogar
mit einer gewissen Besonnenheit Anstalt treffen, weil hier die psychi-
schen Processe nicht mit der Hast, Unruhe und Verworrenheit der
Tobsucht vor sich gehen, sondern es Zeit dazu gibt, dass der Trieb
zu Kraftäusserung von einer festen, grossen, ordnenden, aber freilich
falschen Vorstellung beherrscht werden kann, in deren Dienste er
nun wirken muss.
Wenn die Manie und namentlich die Tobsucht aus der Schwermuth in an-
gegebener Weise hervorgeht, so ist hierbei an eine absichtliche psychische That
von Seiten des Kranken nicht zu denken, das Ganze ist, wie aus dem bisheri-
gen erhellen mag, überhaupt nicht als ein psychologischer Process, der auf
dem innersten Gebiete des Seelenlebens spielt, zu betrachten. Es ist vielmehr
eine Aenderung der krankhaft gesetzten Stimmung, die mit dem Kranken
ohne sein Zuthun vorgeht, und die man sich nur aus einer Aenderung in der
[214]Die Tobsucht.
Art und Weise der Gehirnerkrankung erklären kann. So lange es noch bei
dieser blossen Aenderung der Stimmung bleibt, spielt der Process auf einem re-
lativ äusseren, peripherischen Gebiete des Seelenlebens, wobei der Kranke oft
das Bewusstsein der ihm, d. h. seinem noch unbetheiligten Ich aufgedrungenen,
ihm zugemutheten, von ihm nicht zu hindernden, psychischen Anomalieen hat, ein
Bewusstsein, mit dem er gleichsam gegen die einbrechende Tobsucht protestirt.
Ueberhaupt bedarf es zum Zustandekommen der Tobsucht gar nicht immer
eines leidenschaftlichen oder affectiven (schwermüthigen) Anstosses. Abgesehen
von den durch acute Meningitis hervorgerufenen maniacalischen Zuständen, sieht
man auch in andern Delirien, z. B. der Typhuskranken, mit der weiterschreiten-
den Gehirnstörung die äussere Unruhe, das Fort- und Hinauswollen, die moto-
rischen Impulse zuweilen allerdings aus zu Grunde liegender Angst oder aus
Hallucinationen, anderemale aber ohne alle affective Anlässe auftreten, als ob mit
dem tieferen Zerfall des psychischen Lebens die Bewegungsantriebe anfiengen,
von selbst abzulaufen.
Aehnlich scheint es sich in manchen Fällen chronischer Tobsucht zu ver-
halten. Doch zeigt die Beobachtung deutlich, wie in dem vorausgegangenen Be-
fallensein des Gehirns in der Weise eines psychischen Schmerzzustandes, ein
zur Manie im höchsten Grade disponirendes Moment liegen muss. Das Entstehen
der Manie aus der Schwermuth ist die Regel, und schon wurde der merkwürdi-
gen Fälle Erwähnung gethan, wo nach längst erfolgter Genesung von Schwer-
muth der zweite Anfall von Irresein sogleich in der Form der Manie ausbricht. *)
Erstes Capitel.
Die Tobsucht.
§. 109.
Wie eben bemerkt, ist es selten, dass die Tobsucht ohne alle
vorhergegangene Erscheinungen andern Irreseins auftritt. Längst sind
in der Mehrzahl der Fälle die Neigungen, die Affecte, die Gewohn-
heiten des Kranken verändert, und zwar gewöhnlich in der bei der
Schwermuth erörterten Weise. Dieses vorausgehende Stadium melan-
cholicum, das übrigens zuweilen sehr kurzdauernd und mässig sein
kann, ist es, welches man auch schon die Incubations-Periode der
Tobsucht genannt hat. Der Schwermüthige zeigt allmählig grössere
äussere Unruhe, es ist ihm nirgends wohl, er läuft herum, irrt wohl
im Freien, auf dem Felde umher, oder er geht bei Freunden und
Bekannten, oft an weit entfernten Orten, herum, mit der dunkeln Em-
pfindung, Hülfe zu suchen. Er äussert sein trauriges Delirium, wo
[215]Ihr Beginn.
solches vorhanden, lauter und redseliger, seine Stimme wird wieder
kräftiger, er wird im Ganzen lebhafter. Besonders zeigt er gewöhnlich
einen noch gefrässigeren Appetit, klagt auch nicht selten über unan-
genehme Empfindungen in der Magengrube, über Beklemmung, welche
ihn ebenso beunruhigen und herumtreiben. Kranke, die schon einmal
einen Anfall gehabt haben, sagen jetzt manchmal selbst, sie werden
einen Rückfall erleiden, und bitten für sie zu sorgen und sie aus ihrer
gewohnten Umgebung zu entfernen. Eine Neigung zu geistigen Getränken
zeigt sich häufig, und indem sie der Kranke im Uebermasse befriedigt,
hat es häufig das Ansehen, als wolle er durch die alcoholische
Steigerung seinen aufgeregten Zustand festhalten und noch höher
schrauben, was ihm denn auch nur allzubald gelingt. Mit der gesteiger
ten Beweglichkeit und dem Triebe nach aussen stellen sich neue
Vorstellungen und Empfindungen ein, welche den Kranken anfangs
in Erstaunen und Schrecken setzen, aber bald völlig die Ober-
herrschaft bekommen. Anfangs konnte er sie noch verbergen, bald
entschlüpfen sie ihm und treten in Rede und That heraus.
Zugleich mit solchen psychischen Symptomen treten in dieser
ersten Periode gewöhnlich entschiedene Zeichen von Störungen der
Circulation, Verdauung und Ernährung auf. Anfangs Krankheitsgefühl,
grosse Abgeschlagenheit, Kopf-, Zahn-, Bauchschmerzen; Schlaflosig-
keit, aufregende Träume, Hallucinationen der Sinne, Schwindel, rothes
oder ganz blasses Gesicht; Abmagerung, gelbe Hautfarbe; grosse Ge-
frässigkeit, Zungenbeleg, Stuhlverstopfung; Palpitationen, vermehrte
Pulsfrequenz, überhaupt ein fieberhafter Zustand; Aufhören der Men-
struation, nicht selten Erhöhung des Geschlechtstriebs. Die Züge
werden entstellt, oft zeigt sich leichtes Zittern des Körpers, die
Empfindung für Temperaturunterschiede und körperlichen Schmerz
wird stumpfer. Bei vollständig ausgebrochener Tobsucht tritt auch
das Krankheitsgefühl ganz zurück und der Kranke behauptet sich ganz
wohl zu befinden.
Wir wollen nun den Zustand in seiner ausgebildeten Form näher
betrachten, müssen aber zuvor bemerken, dass bei der grossen Mannig-
faltigkeit und der verschiedenen Aeusserungsweise der Tobsucht hier
Reihen von Erscheinungen angegeben werden müssen, welche man
nicht alle bei einem und demselben Individuum beisammen erwarten darf.
§. 110.
1) Anomalieen der Stimmung, der Triebe und des
Wollens. Die Grundstörung der Tobsucht, die Irritation auf der
[216]Symptomatologie der Tobsucht.
motorischen Seite des Seelenlebens äussert sich zunächst in dieser
Sphäre als ein hoher Grad von psychischer Aufgeregtheit mit un-
ruhigem, rastlosem, ungestümem Thun und Treiben. Der Trieb zu
anhaltender Bewegung und Handlung, die Nothwendigkeit, allen In-
halt der psychischen Vorgänge augenblicklich und hastig nach aussen
zu werfen, treibt bald bloss zu harmlosem Herumtreiben, Tanzen,
Sprechen, Singen, Schreien, Lachen, Weinen etc., bald zu rastloser,
unzweckmässiger Geschäftigkeit, welche nach momentanen Einfällen
plötzlich und ungeduldig alles Aeussere verändern will, bald zu der
Neigung, alles Lebendige und Leblose zu verletzen, welche zu Aus-
brüchen des blindesten Wüthens und Rasens steigen kann. Während
aber dieses dreiste und gewaltthätige Streben sich an Alles wagt,
mit Heftigkeit gegen jedes Hinderniss anstürmt und ohne Erwägung
der Folgen sich in zwecklosen und ausschweifenden Handlungen Luft
macht, zeigt sich doch bei vielen Kranken eine gewisse Feigheit bei
energischem und bestimmtem Entgegentreten, oder richtiger ein Zu-
stand von Angst, der zuweilen aus der früheren Periode zurückge-
blieben ist, und wie er zur Tobsucht Anlass gab, sie dann auch noch
fortzuerhalten scheint. Dabei keinerlei gesunde Handlungen, kein Ver-
folgen vernünftiger Lebenszwecke, keine Sorge für die Familie oder
für die eigene Existenz, keine Möglichkeit, sich äusserlich für ver-
ständige Zwecke bestimmen zu lassen; Gleichgültigkeit gegen Alles,
was nicht gerade mit der leidenschaftlichen Erregtheit in Conflict
kommt, völlige Vernachlässigung des Aeusseren, Aufhören aller Rück-
sichten der Decenz, der Schamhaftigkeit und Reinlichkeit.
Der concrete psychische Inhalt, welcher sich mit solchem Unge-
stüm äussert, besteht entweder nur in gewissen, nicht selten schnell
wechselnden Stimmungen oder in gewissen stehender gewordenen Ge-
fühlen und dunkeln Vorstellungsmassen, welche sich als einzelne geson-
derte Triebe darstellen. So kann durch krankhafte Steigerung der sexuellen
Empfindungen und Gefühle, die wieder auf einem Localleiden, einem
Pruritus Pudendi, einer Krankheit des ovariums etc. beruhen kann,
eine krankhafte Lascivität mit schamloser Nacktheit hervortreten und in
brutalster Weise Befriedigung suchen. Es kann die Lust am Besitze
als eine anhaltende Neigung, alles mögliche zu sammeln und auf-
zuhäufen, als krankhafte Stehlsucht sich äussern. Es kann die Lust
am lauten Sprechen, an der rhythmischen Gestaltung der Rede, am
Lärm, an geistigen Getränken, an Befriedigung des Speisebedürfnisses,
eine besondere Lust an Blutvergiessen etc. sich in jener ungestümen
und gewaltthätigen Weise äussern wollen, und es ergeben sich dem-
[217]Gemüths-Störungen.
nach fixere oder wandelbarere Zustände, die man nach dem Vor-
herrschen der einzelnen Triebe Nymphomanie, Stehlsucht, Sprechsucht,
Versesucht, Saufsucht, Fresssucht, Mordsucht etc. genannt hat.
Ebenso verschieden sind die allgemeineren Anomalieen der
Selbstempfindung, die krankhaften Stimmungen, welche sich in
dem exaltirten Thun des Kranken äussern. Bald ist die Stimmung
traurig, ängstlich, bitter, zornig, trotzig und wild, und der Kranke
zeigt beständig Lust zu schaden, zu beleidigen, ein anspruch-
volles verletzendes Benehmen oder wirkliche Bosheit und Tücke,
bald wieder — und diess ebenso häufig als das vorige, — ist die
Stimmung heiter, launig, lustig, muthwillig, ausgelassen: die krank-
hafte Steigerung der Selbstempfindung äussert sich als eine über-
spannte Fröhlichkeit, als Gefühl von Freiheit und Glück, als unge-
wöhnliche Zufriedenheit mit Allem und aufdringliche Zuneigung zu
den Menschen.
Diese Stimmungen wechseln häufig mit einander ab; unmotivirte
Uebergänge von Lustigkeit zu Trauer, von Trotz zu Verzagtheit, von
Gleichgültigkeit zu heftiger Reaction und grimmiger Ereiferung, von
Begehrlichkeit zu Zufriedenheit, von Angst zu blinder Zuversicht und
Frechheit kommen bei Tobsüchtigen unendlich häufig vor, und nur
selten und niemals auf lange Zeit gelingt es durch äussere psychische
Anregung in diese wechselvolle Bewegtheit einige Ruhe und Still-
stand zu bringen.
Zuweilen, namentlich im Beginn, klagt der Kranke selbst über
die Nöthigung zu seinem ungestümen Thun und Treiben, und kann
dann wohl auch vorübergehend durch Anreden oder einen stärkeren
psychischen Eindruck in demselben gehemmt und zu momentaner Be-
sonnenheit gebracht werden; anderemale hat es den Anschein, als ob er mit
einem dunkeln Halbbewusstsein sich der einmal eingeleiteten Exalta-
tion preisgebe und den Inhalt seines Seelenlebens in ihr aufgehen
lassen wolle; es ist dann, wie wenn er sich in der jetzigen Freiheit
und Schrankenlosigkeit seines Wollens für dessen peinliche Hemmung
während der Schwermuthsperiode schadlos halten wollte.
Mit Recht macht Jakobi auf das durchaus Triebartige aufmerksam,
was dieses Verhalten der Tobsüchtigen an sich hat. Nicht ein eigentliches
Wollen, d. h. ein Uebergang herrschender, voll bewusster Vorstellungen in
Strebung mit Bewusstsein gewisser Zwecke und Mittel, und eben so wenig ein
Zustand tieferer Leidenschaft ist es, was dieses Thun in Bewegung setzt; son-
dern das geräuschvoll ablaufende Rad der losgebundenen psychischen Bewegung
nimmt nur Empfindungen, die dunkeln Bewegungen im Vorstellen, die man
Gefühle nennt, oberflächliche Affecte, excedirende Stimmungen und die unzäh-
[218]Symptomatologie der Tobsucht.
ligen, momentanen, zufälligen Sinneserregungen als Treibendes und nach aussen
zu Werfendes mit sich. Der Kranke steht anfangs innerlich noch über dem
Tumulte, und merkwürdiger Weise sagen einzelne derartige Kranke zuweilen, wenn
man ihrer Ungebühr entgegentritt, nicht ohne einige Ironie: es sei ihnen Alles
erlaubt, da sie ja Narren seien. Auch die Wuth des Tobsüchtigen steht zwar dem
Affecte des Zornes ausserordentlich nahe, aber sie ist anders psychisch motivirt;
nicht eine regelmässige Folge von Gemüthseindrücken, Vorstellungen, Urtheilen
hat sie hervorgerufen; sie kann ganz spontan entstehen oder durch zufällige
Eindrücke auf die Sinnorgane, durch das Mondlicht, das durch das Fenster
fällt, durch Töne, Farben, den Anblick von Menschen und Dingen, die gar keine
Beziehung zu dem Kranken haben, geweckt werden.
Kaum braucht bemerkt zu werden, dass man aus den Aeusserungen gewisser
Triebe und Stimmungen in der Tobsucht durchaus nicht auf ähnliche Neigungen
und ein ähnliches psychisches Verhalten des Individuums im gesunden Zustande
schliessen darf. Denn wiewohl man zuweilen gewisse psychische Eigenheiten
des gesunden Lebens auch in dem Benehmen und Handeln der Tobsucht sich
wieder darstellen sieht (z. B. Starrköpfigkeit, Eigensinn etc.), so ist es doch
eine ausgemachte Thatsache, dass unendlich oft in diesen Zuständen der ganze
Character des Kranken in sein Gegentheil sich umändert, dass der früher Ernste
ausgelassen, der Heitere ernst, der Keusche obscön, der Nüchterne ein Säufer
wird etc. Doch geht aus den Aeusserungen der Tobsüchtigen zuweilen wenig-
stens eine unerwartete frühere Bekanntschaft mit den Objecten einzelner Triebe
hervor, z. B. wenn ein äusserlich sittsames Mädchen schmutzige Zoten aus-
spricht, die nicht erst während der Tobsucht zu ihrer Kenntniss gekommen sein
können.
Es gibt schwächere Grade von Tobsucht, wo das Hervortreten solcher ein-
zelner Triebe und ihre rücksichtslose Befriedigung, wegen der gleichzeitigen sehr
mässigen Störung der Intelligenz, noch als ein physiologischer, in freiwilliger
Hingabe an unsittliche Neigungen begründeter Zustand fälschlich betrachtet wer-
den kann (Stehlsucht, Nymphomanie, Saufsucht etc.). Ihre krankhafte Natur
zeigt sich indessen in der Unwillkührlichkeit, worüber der Kranke oft selbst
klagt und dem Triebartigen in ihrer Aeusserung, ferner in dem anfallsweisen
Vorkommen, den zuweilen eintretenden lucidis intervallis, in den zugleich mit dem
Anfalle eintretenden körperlichen Störungen, nebstdem in dem zuweilen voraus-
gegangenen Depressionsstadium. Häufig steigern sich übrigens solche Zustände
bald weiter zu vollendeter, unzweifelhafter Tobsucht.
§. 111.
2) Anomalieen des Vorstellens. Die erste und hauptsäch-
lichste Veränderung im Vorstellen bei der Tobsucht besteht in einer
den Anomalieen der Stimmung und des Strebens analogen Gereizt-
heit und quantitativen Exaltation, einem rascheren Flusse der Gedanken.
In seinen mässigsten Graden erscheint diess Verhältniss als eine Stei-
gerung der gesunden Denkfähigkeit. Die vermehrte Bildung und
rasche Aufeinanderfolge führt einen Strom längst eingeschlafener
Erinnerungen wieder neu und lebhaft herauf, — eine Erhöhung des
[219]Verstandes-Störungen.
Gedächtnisses, die man z. B. in der Weise beobachtet hat, dass Tob-
süchtige während der Krankheit lange Lieder vollständig hersagen
konnten, während sie vorher und nach ihrer Genesung hiezu nicht
mehr fähig waren. Auch ergeben sich nun zuweilen Gedanken,
Combinationen und Urtheile, die über den gesunden Horizont des
Kranken hinausgehen, er äussert oft, je nach der Stimmung und nach
äusseren Anlässen launige Vergleichungen, *) beissenden Witz, eine
ungewöhnliche Beredtsamkeit und fällt mit grosser Sicherheit kecke
Urtheile, welche mit scharfer Beobachtung der dazu gehörigen Mo-
mente gebildet sind.
Doch geschieht solches nur in der Minderzahl der Fälle. Mei-
stens ist von Anfang an oder doch sehr bald die quantitative Stei-
gerung und Exaltation dieser Seite des Seelenlebens so gross, dass
daraus eine rastlos sich drängende Aufeinanderfolge vereinzelter Vor-
stellungen sich ergibt, welche dann in keinem inneren Zusammen-
hange unter sich stehen, sondern höchstens durch äussere zufällige
Veranlassungen an einander gereiht sind, und indem sie rasch
und im grössten Wechsel das Bewusstsein passiren, nur zu höchst
lockeren und oberflächlichen Combinationen zusammentreten oder
einen ganz fragmentarischen Character behalten. Diese wegen der
wilden Hast, mit welcher der Process vollzogen wird, ganz unvoll-
ständig ausgebildeten Vorstellungen tragen die Färbung des Affects,
von dem der Kranke eben beherrscht wird, und sind bald hei-
teren, übermüthigen, ausgelassenen, bald finstern, drohenden Inhalts.
Sie werden theils durch die eben percipirten Sinneseindrücke ange-
regt und in ihrem besondern Stoffe bestimmt und diese Eindrücke
selbst werden oft durch Hallucinationen und Illusionen verfälscht,
oder, ähnlich wie in manchen Delirien, durch eine nur theilweise
Auffassung und Beachtung, unvollständig und unrichtig percipirt.
Anderntheils bietet sich dem Vorstellen aus dem innern im Ein-
zelnen unfassbaren Triebwerke der Ideen-Association ein uner-
messlicher Stoff von Bildern, Worten, Zahlen, Phrasen, welche oft
isolirt, verbindungslos auftauchen, oft in ihrer Vereinzelung unab-
lässig wiederholt, geschrieen, gesungen, anderemale zu Sentenzen,
Phrasen und Reden zusammengeflickt werden, die der Kranke mit
dem Ausdrucke des eben herrschenden Affects vorträgt. In einzelnen
Fällen tritt das musicalische Element der Sprache in einer Neigung
[220]Symptomatologie der Tobsucht.
zu rhythmischem Ausdruck, zu Assonanzen und zum Reim hervor,
der Kranke spricht dann anhaltend in Versen, *) bei denen es sich
freilich nicht von Poesie, sondern nur von planlos zusammengeron-
nenen Bildern und Klängen, von „gereimten Delirien“ handelt.
So stellt sich als die hauptsächlichste Anomalie des Vorstellens
in der ausgeprägten Tobsucht eine Verworrenheit der Vorstellun-
gen heraus, welche sich als nothwendige Folge aus der Uebereilung
aller geistigen Processe, aus der Unmöglichkeit einer vollständigen
Ausbildung der einzelnen Vorstellungen, aus dem schnellen Wechsel
der Stimmungen und aus dem Phantasiren in den Sinnorganen ergibt.
Weder fixe, bleibende Wahnbildungen sind diesen Zuständen
eigen, noch werden sie durch ein leidenschaftliches Vorstellen, die
aus dem gesunden Leben herübergenommen wäre, beherrscht,
obgleich es manchmal so scheinen mag, wenn sich dem Kranken
Trümmer psychischer Eindrücke z. B. aus der ersten Zeit seines Er-
krankens häufig aufdrängen, und er dann anhaltend mit gewissen
psychischen Ursachen seines Irreseins leidenschaftlich beschäftigt
scheint. Auch hier zeigt die Möglichkeit des schnellen Wechsels und
der oberflächliche Character der ganzen Alienation, dass nicht von
stetigen, dominirenden Vorstellungen, wie sie einem tief leidenschaft-
lichen Zustande eigen sind, die Rede ist.
Damit aber soll nicht gesagt werden, dass nicht vorüber-
gehende Wahnvorstellungen und falsche Gedankenbildungen in der
Tobsucht vorkommen können. Solche sind vielmehr sehr häufig.
Sie bestehen einmal in Reihen falscher Urtheile über die Aussenwelt,
wie solche aus den verworrenen, halb ausgebildet sich drängenden
und bei ihrem raschen Ablaufe oft gleichsam Bruchstücke zurücklas-
senden Vorstellungen und falschen Sinneseindrücken sich nothwendig
ergeben müssen. Dann aber und schon von viel wichtigerer Bedeu-
tung kommen Wahnvorstellungen vor, welche auch hier wieder wesent-
lich die Bedeutung von Erklärungsversuchen für die krankhafte
Stimmung haben und sich daher nur auf das eigene Ich beziehen.
[221]Verstandes-Störungen.
Die übermüthige, freche, lustige, ausgelassene, gesteigerte Stimmung,
das Gefühl der Freiheit im Streben, der Fülle im Vorstellen ruft
nach dem Denkgesetze der Causalität Vorstellungen von Grösse, Er-
habenheit, von grossem Reichthum, einer grossen psychischen oder
geistigen Macht etc. hervor, welcher ja unter sonstigen Umständen allein
in dieser Weise das Denken und Streben frei gegeben ist. Die exaltirte
Stimmung der Freiheit und Kraft muss doch einen Grund haben; es muss
ihr etwas im Ich entsprechen, das Ich muss momentan ein Anderes ge-
worden sein, und dieses Anderssein kann nur mit einem Bilde, zu dem
jeder augenblickliche Einfall sich brauchen lässt, ausgedrückt werden.
Der Kranke kann sich nun Napoleon, Messias, Gott, kurz überhaupt etwas
Grosses nennen; er kann behaupten, alle Wissenschaften zu verstehen,
über alle Schätze der Welt zu gebieten etc.; er kann auch ganz
sinnlose Bezeichnungen wählen, er kann z. B. in einem Athem sagen:
Ich bin Napoleon, ich bin dieser Stuhl, ich bin Sie u. dergl.; ent-
weder fühlt er hier eine Unvollständigkeit, auszudrücken, wie es ihm
eigentlich wirklich zu Muthe ist und sucht dieser durch Häufung
von Bildern abzuhelfen, oder er sucht damit dunkel eine grossartige
Allgegenwart, eine Art Sein in Allem geltend zu machen, wie solches
seiner exaltirten Stimmung wohl ansteht.
Aber — und diess unterscheidet eben diese Wahnvorstellungen
von denen der folgenden Form — keine derselben bleibt fix; jede
momentane Erregung bringt wieder neue Bilder und Vorstellungen,
mit deren Auftreten die alten vergessen werden, die Stimmung selbst
ist wechselnd, mit dem Aufhören der einen wird auch ihre Erklä-
rung unnöthig, die Wahnideen haben gar keine Zeit, sich durch An-
ziehen verwandter Vorstellungen auszubreiten und zu befestigen. Der
Kranke äussert auch oft diese Ideen zwar laut und lärmend genug,
aber doch nicht im Tone tiefer Ueberzeugung, ja er kann wohl selbst
darüber lachen. Es verhält sich dabei ungefähr wie bei Kindern, die
Comödie spielen, und indem sie sich in der geforderten Stimmung
ganz aufgehen lassen, sich für Augenblicke wirklich für den Helden
halten, dabei aber immerhin wissen, dass sie diess von den Zu-
schauern doch nicht ganz im Ernste verlangen können.
Es ist einer besonderen Beachtung werth, wie sich in vielen Fällen von
Tobsucht, abgesehen von den erwähnten Störungen, die Intelligenz in grossem
Umfange wenig versehrt zeigt, wie sich namentlich keine wirkliche Schwäche
und Abnahme derselben kund thut. Oft ist ungeachtet einer grossen Verworren-
heit nicht nur das Gedächtniss für die Vergangenheit treu, sondern auch wird in
manchen Fällen Alles aus der kranken Periode selbst wohl behalten. Nicht sel-
ten kann der Kranke durch eine erinnernde Ansprache momentan aus der Faselei
[222]Symptomatologie der Tobsucht.
herausgezogen und zu richtigen Antworten über Dinge seines früheren Lebens,
zum Erzählen von Geschichten etc. vermocht werden; er versteht oft alles Acussere
so wohl, hat [auch] zuweilen noch so viel Gewalt über sich, dass er durch eine
freundliche Anrede, durch eine Drohung oder einen Scherz, ja durch eine Aeusse-
rung von Vertrauen in ihn veranlasst werden kann, sich momentan zu beruhigen.
Die Verkehrtheiten des Urtheils rühren, wo sie nicht gerade in den erwähnten
Erklärungsversuchen für die Stimmung bestehen, nur von einer Unterdrückung,
gleichsam von Mangel an Zeit, die flüchtig vorübereilenden incohärenten Vor-
stellungen gehörig zu verbinden, zuweilen auch von dem beharrlichen Aufsteigen
gewisser einzelner Vorstellungsreihen, welche für den Kranken als bestimmte
Thatsachen sich geltend machen, her. So haben wir für die Tobsucht auch auf
der Seite des krankhaft veränderten Vorstellens, wie auf der Seite des Strebens,
denselben allgemeinen Character eines nicht sehr tiefen, mehr oberflächlichen
geistigen Leidens, und es zeigt sich diess noch ganz besonders in der Möglichkeit
plötzlich eintretender lucida intervalla, ja einer ganz schnellen vollständigen Ge-
nesung nach Jahrelanger Dauer, wobei der Kranke zwar noch geistig sehr er-
müdet, aber doch sogleich ganz im Besitze des früheren Umfangs seiner Intelli-
genz, in jeder Beziehung geistig ganz der Alte sein kann. Er kann dann oft
genau Rechenschaft über sein Verhalten während der Tobsucht geben, und man
kann dann manchmal Aeusserungen hören, wie die eines Kranken bei Jakobi
„es sei aber auch schrecklich, wenn einem die Gedanken so im Kopfe
zusammenlaufen.“ *)
§. 112.
3) Anomalieen der Sinnesthätigkeit und der Bewegung.
Hallucinationen des Gesichts, des Gehörs, auch des Haut- und
Geruchsinns kommen häufig vor und zuweilen wird durch sie eine
Steigerung der Tobsucht veranlasst; doch sind sie gewöhnlich von
nur untergeordneter Bedeutung, weil auch diese Phantasmen meist
bald wieder in der flüchtigen Eile der psychischen Processe unter-
gehen und der Kranke ihnen keine dauernde Aufmerksamkeit schenken
kann. Noch viel häufiger sind Illusionen der Sinne, falsche Ausle-
gungen der Ergebnisse der Sinnesperception, so dass der Kranke
z. B. einen Fremden für einen alten Bekannten oder eine andere
bestimmte Person fälschlich hält, dass er bei einem gleichgültigen
Geräusche meint, sich rufen zu hören etc. — falsche Urtheile, welche
hier gewöhnlich aus dem Nichtbeachten einzelner Theile der Sinnes-
eindrücke und dem Verweilen auf andern Bruchstücken derselben, auf
oberflächlichen Aehnlichkeiten, wie in vielen Fieberdelirien sich ergeben.
Auch eine zu grosse Empfindlichkeit für Gehör- und Gesichts-
eindrücke wird zuweilen beobachtet, und die Pupille wird hier und
da erweitert oder verengert getroffen.
[223]Sinnes- Bewegungs-Anomalieen.
Was die Bewegungsorgane betrifft, so ist meist während der
Tobsucht ein anhaltender Impuls zu Contractionen vieler Muskeln zu
erkennen; die Körperbewegungen und namentlich die Sprachwerk-
zeuge nehmen an der psychischen Exaltation Antheil; jene sind leb-
haft, schnell, energisch, indem in Rede, Geschrei, Gesticulation und
Handlung Alles sogleich nach aussen treten muss; Blick und
Mienen sind oft lebhaft, gespannt, verzerrt. Viel ist von der ausser-
ordentlichen Stärke, von einer wirklichen Erhöhung der Muskel-
kraft bei den Tobsüchtigen gesagt worden (Esquirol, Pinel, Ideler etc.).
In der grossen Mehrzahl der Fälle findet sich nichts Solches, die
Kranken zeigen sich so wenig stärker als im gesunden Zustande,
dass ein einziger geschickter Wärter sie wohl bändigen kann, und es
entsteht der Anschein von Steigerung der Körperkraft gewöhnlich nur
aus der Rücksichtslosigkeit, mit der der Kranke in den einzelnen
Ausbrüchen seine Muskeln wirken lässt. Dagegen ist es richtig und
allerdings auffallend, wie die Kranken oft in Einem fort einen sehr
lange andauernden Aufwand von Muskelkraft machen, dessen der
Gesunde nicht fähig wäre. Man sieht solche zuweilen Wochen und
Monate lang bei spärlichem Schlafe anhaltend aufs Gewaltsamste
forttoben, und es scheint hier die Möglichkeit einer so enormen
Muskelanstrengung nur dadurch erklärt werden zu können, dass dem
Kranken durch eine Anomalie der Muskelempfindung das Gefühl
der Ermüdung fehlt. Man sieht nemlich, wie die Kranken auch
bei sehr gesunkener Ernährung sich immer für sehr kräftig halten
und erklären und ihrem Körper Alles zutrauen, während doch eben
die häufige starke Abmagerung und die mit dem Ende des Anfalls
eintretende grosse Ermattung hinlänglich zeigen, wie der Organismus
diese Anstrengungen nicht ungestraft erträgt.
Auch wirkliche Convulsionen kommen in den Bewegungsorganen
mitunter vor, Zähneknirschen, Zuckungen des Gesichts oder ver-
breitete Convulsionen, letztere theils im Wachen, theils in hin und
wieder beobachteten, vorübergehenden ohnmachtähnlichen und exsta-
tischen Zuständen. Seltener noch sind partielle Lähmungen im Zu-
sammenhange mit der Tobsucht; dagegen gibt sich nicht selten der
Beginn der allgemeinen Paralyse während einer mässig und schwach
verlaufenden Tobsucht schon in den unsichern Bewegungen der
Zunge kund.
Von weiteren Symptomen ist bei Tobsüchtigen eine Störung des Schlafes
sehr gewöhnlieh, in manchen Fällen lange andauernde vollständige Schlaflosigkeit;
von einem ruhigen Schlafe darf übrigens für den Verlauf der Tobsucht nicht zu
[224]Körperliche Störungen bei Tobsüchtigen.
viel erwartet werden, da man zuweilen eben nach den ruhigsten Nächten die
heftigsten Exacerbationen eintreten, andrerseits aber auch die Reconvalescenten
zuweilen noch geraume Zeit an Schlaflosigkeit leiden sieht.
Empfindungsanomalieen der verschiedensten Art können bei Tobsüch-
tigen vorkommen, Kopfschmerz, Schwindel, Hitze, Auraartige Empfindungen,
welche von der Brust aufsteigen, anomale Hautsensationen, Schmerzen in den
Gliedern, wirkliche oder scheinbare (durch Gleichgültigkeit erzeugte) Unempfind-
lichkeit für Kälte und Wärme, letzteres weit seltener, als gewöhnlich angegeben
wird (§. 44).
Auffallend tritt in vielen Fällen eine Steigerung des Appetits hervor
und diese Gefrässigkeit richtet sich oft auf nicht essbare und unverdauliche Dinge.
Es scheint dieser Gefrässigkeit ein Mangel des Gefühls der Sättigung zu Grunde
zu liegen, da sie sich keineswegs nach dem Grade des körperlichen Kraftaufwandes
richtet. Eine tiefere Perversität des Geschmacks und den Mangel der Ekel-
empfindung scheint das zuweilen beobachtete Fressen der eigenen Excremente an-
zudeuten.
Eine Steigerung des Geschlechtstriebs bildet in einzelnen Fällen den
Mittelpunkt der krankhaften Vorstellungen und Bestrebungen, in andern beob-
achtet man solche nur accessorisch und mässig, sehr oft fehlt sie ganz. Sie
äussert sich in obscönen Reden und Schreibereien, in Angriffen, Entblössungen,
Onanie etc. und scheint im Ganzen häufiger bei weiblichen Kranken vorzu-
kommen. Störung und Ausbleiben der Menstruation findet sich in der
grossen Mehrzahl der Fälle; ihr Wiedereintritt hat oft gar keinen, oft einen
steigernden Einfluss auf die psychischen Symptome; anderemale trifft er mit der
Genesung zusammen.
Veränderungen in den Circulations- und Verdauungsorganen
sind nicht constant. So wichtig, wo sich solche finden, deren genaue Berück-
sichtigung für die Stellung der Indicationen im einzelnen Falle ist, so wenig
können sie für die Tobsucht selbst diagnostischen Werth haben. Denn man fin-
det den Puls bald von normaler Frequenz und Völle, selten verlangsamt, am
häufigsten etwas beschleunigt und eher klein als voll; nervöse Palpitationen und
die bekannten Zeichen der chronischen organischen Herzkrankheiten kommen
hier, wie überhaupt bei den Geisteskranken verhältnissmässig häufig vor. Auch
auffallende, mitunter sehr starke Kopfcongestionen, mit lebhafter Röthe und
Hitze des Kopfes sind nicht selten; nur ausnahmsweise ist das Gesicht blass,
zuweilen bläulich gefärbt, und das Auge zeigt sich zuweilen injicirt.
Oft ist die Zunge belegt und die Speichelsecretion übermässig stark, über
Durst klagt der Kranke selten, ausser wenn er bei vorwaltender Neigung zu
geistigen Getränken solche fordert. Sehr häufig ist der Stuhlgang unregelmässig,
angehalten und fest, wie diess bei Gehirnkrankheiten überhaupt fast gewöhnlich
vorkommt.
Die meisten Tobsüchtigen erscheinen abgemagert, ungeachtet des vermehrten
Appetits. Dieses Sinken der Ernährung ist sehr häufig schon vorausgegangenen
krankhaften Zuständen, Anämie, fieberhaften Krankheiten, der Schwermuth selbst
zuzuschreiben; unzweifelhaft aber kann solche Abmagerung auch durch den ge-
steigerten Verbrauch und die Schlaflosigkeit in der Tobsucht selbst eintreten;
zuweilen ist sie auch die Folge einer Tuberculose oder einer andern derartigen
tieferen Erkrankung, wie denn überhaupt in allen diesen accessorischen Symptomen
[225]Vorkommen und Verlauf der Tobsucht.
unzählige Verschiedenheiten beobachtet werden nach vorausgegangenen oder gleich-
zeitigen anderweitigen Erkrankungen, welche nicht immer und nothwendig in
einem nahen Nexus mit der Gehirnkrankheit stehen müssen.
§. 113.
Was das Vorkommen und den Verlauf der tobsüchtigen
Zustände betrifft, so beobachtet man solche theils als reine für sich
bestehende Form, wie wir sie bisher betrachtet haben, theils sieht
man Anfälle von Tobsucht vorübergehend bei Individuen auftreten,
welche schon früher in tieferer Weise psychisch erkrankt waren, na-
mentlich in allen den verschiedenen Formen des Blödsinns. Es mischen
sich hier immer die Charactere dieser chronischeren Affectionen,
namentlich die Schwäche der Intelligenz, mit den Symptomen der
acut verlaufenden Paroxismen; solche haben die Bedeutung convul-
sivischer Zustände, welche sich zuweilen während des Verlaufs von
Lähmungen einstellen.
Auch bei Epileptischen sind Anfälle von Tobsucht nicht selten
und zeichnen sich hier oft durch einen hohen Grad von blinder Wuth
und Wildheit aus. Sie folgen mitunter unmittelbar auf den epileptischen
Anfall, als ob der Reiz zu stürmischer motorischer Entladung nur auf
andere Theile des Gehirns umgesprungen wäre.
Zum Ausbruch der Tobsucht scheinen mehr die anämischen als
die plethorischen Zustände zu disponiren; übermässige Blutverluste,
(z. B. im Wochenbette, durch profuse Menses, durch unzweckmässig
gehäufte Venäsectionen), Erschöpfungszustände nach Typhus, nach
einem rasch geschehenen Tuberkelabsatze, nach weit getriebenen
Excessen sind in vielen Fällen als evidente, nähere oder entferntere
Ursachen, zu erkennen. Die acute Meningitis der Erwachsenen ist
oft von einem Delirium begleitet, das in allen Beziehungen der Tob-
sucht gleich ist, und es entwickelt sich zuweilen aus dieser Krank-
heit später Manie in langwierigerer Form.
Im Verlaufe der Tobsucht wird gewöhnlich ein Wechsel von
Remission und Exacerbation, nicht selten werden sogar völlig freie
Intermissionen beobachtet. So hat man Fälle, wo die Kranken Monate
lang nur in andertägigem Rhythmus, mit völlig freien Zwischentagen,
tobsüchtig waren — ein den rhythmischen Spinalirritationen durchaus
analoges Verhalten der Gehirnkrankheit. — Sehr oft sieht man zur
Zeit der Menstruation eine Exacerbation eintreten, anderemale zeigen
sich heftigere Paroxismen und Remissionen ohne alle bekannte Ver-
anlassung, vielleicht durch Veränderungen, welche in anderweitigen
chronischen Krankheitszuständen, welche die Tobsucht begleiten,
Griesinger, psych. Krankhtn. 15
[226]Verlauf der Tobsucht.
vorgehen; namentlich kommen auch völlig freie lucida intervalla bis-
weilen ganz plötzlich und unerwartet zum Vorschein.
Mit den Anfällen von Tobsucht wechseln oft Zustände von Me-
lancholie; zuweilen findet sich ein regelmässiger (z. B. in bestimmten
Jahreszeiten eintretender) Wechsel beider Formen. Anderemale sieht
man Anfälle von Tobsucht nach regelmässigen oder unregelmässigen
völlig freien Zwischenräumen, alle 1, 2, 3 Jahre etc. eintreten —
eine üble Form wahrer psychischer Epilepsie, die mit der gewöhn-
lichen habituell gewordenen Epilepsie die schlimme Prognose theilt.
Die einzelnen Paroxismen der Tobsucht dauern bald nur einige
Stunden, bald Monate lang; häufig zeigt sich nach den ersten Wochen
eine auffallende Remission. Es scheint manchmal, als ob der Paroxis-
mus der Tobsucht eine Art Ausgleichung und Lösung für den vorher
vorhandenen Schwermuthszustand bilde, in derselben Weise wie man
bei Epileptischen und Hysterischen mannigfache lästige, schmerzhafte
Empfindungen, die dem Anfalle vorausgehen, mit diesem verschwinden
sieht. (S. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 89). Die schwächeren
und durch Remissionen gemässigten Grade können viele Jahre lang
fortdauern.
Es ist vielfach constatirt, dass während des Verlaufs der Tob-
sucht die Symptome anderartiger schwerer Erkrankungen oft auffallend
zurücktreten, namentlich der Kranke nur sehr wenig oder gar nicht
über Schmerz klagt, bei Lungentuberculose wenig hustet, viel sprechen
und schreien kann etc. Es ist diess nicht als ein wahres Sistirt-
werden solcher organischer Erkrankungen zu betrachten; diese machen
vielmehr ihren Verlauf mit Zerstörung der Organe weiter, wie diess
die objectiven Symptome zeigen; allein eine ähnliche Empfindungs-
anomalie, wie die Abnahme des Ermüdungs- und des Sättigungs-
gefühls, verbunden mit der Absorbtion der Aufmerksamkeit in den
Delirien, lässt den Kranken subjectiv nur wenig afficirt werden.
Tobsüchtige können plötzlich genesen oder dieser günstige Aus-
gang erfolgt unter allmähliger, langsamer Abnahme der Symptome.
Auch hier sieht man zuweilen, wie das Aufhören der Tobsucht mit
dem Eintritt eines anderweitigen, neuen Erkrankens zusammenfällt,
z. B. mit Anfällen von intermittirendem Fieber, mit Darmblutungen,
mit Durchfällen, Hautkrankheiten, Entwicklung vieler Furunkel etc.
Auch wir haben in einzelnen Fällen solche sogenannte critische Er-
scheinungen beobachtet; meistens aber fehlen sie und wir können
den Ausspruch Esquirols, der an dem Bestande der Heilung da zweifeln
will, wo dieselbe nicht von merklichen Crisen begleitet sei, durchaus
[227]Prognose der Tobsucht.
nicht begründet finden. Auch hier ist die Rückkehr der früheren
Neigungen und Gewohnheiten des Kranken und seines unbefangenen
Benehmens nebst der Anerkennung der überstandenen Krankheit als
solcher das zuverlässigste Zeichen der Genesung. Die Bemerkung
Jessens, dass da Rückfälle sehr zu besorgen seien, wo der (äusser-
lich beruhigte) Kranke sich ungewöhnlich wohl fühlt und mit lauter
Freude von seiner völligen Genesung spricht, haben wir auffallend
bestätigt gefunden. — Auch die völlig Genesenen bleiben indessen
immer in hohem Grade dem Wiedereintritte von Tobsucht-Anfällen
ausgesetzt. —
Das Urtheil über die Heilbarkeit der einzelnen Fälle richtet
sich hauptsächlich nach dem Zeichen einer mehr oder weniger zu
muthmassenden organischen Erkrankung des Gehirns. Diejenigen sind
als absolut unheilbar zu betrachten, wo schon die ersten, wenn auch
noch so leisen, Symptome der allgemeinen Paralyse (s. diese) be-
merklich sind, und ebenso sind alle Erscheinungen von anhaltendem
Krampf oder Lähmung in den Extremitäten, im Bereiche des N.
facialis und an der Pupille sehr verdächtig; solche Symptome, wenn
sie anders nicht bloss ganz vorübergehend, z. B. bei einer transi-
torischen, aber heftigen Kopfcongestion auftreten, scheinen eine per-
manentere Ausbreitung der krankhaften Processe auf die an der Basis
oder im Centrum des Gehirns gelegenen Theile anzuzeigen. Es ist
nemlich eben durch die in der Tobsucht so ungemein häufigen Ge-
hirnhyperämieen *) Veranlassung zu Bildung von Exsudaten und deren
weiteren Metamorphosen gegeben; je länger die Krankheit währt, je
weniger sie durch lucida intervalla und Remissionen unterbrochen
sind, je stärker die Hyperämie ist, um so mehr hat man solches zu
befürchten. Auch hier erfolgen die bei weitem meisten Genesungen
innerhalb Jahresfrist vom Anfang der Krankheit; es kommen indessen
Fälle vor, wo nach 6 bis 7jähriger Dauer mit durchgreifenden, con-
stitutionellen Aenderungen im Organismus der Kranke noch von der
Tobsucht genest. Eine grosse Heftigkeit und Wildheit in den ein-
zelnen Anfällen hat an sich so wenig eine schlimme Bedeutung für die
Heilung der ganzen Krankheit, als z. B. ein heftiger hysterischer Anfall
eine schlimme Prognose für die Heilbarkeit des Leidens überhaupt gibt.
Die periodisch intermittirende Tobsucht ist nach den übereinstimmenden
bisherigen Erfahrungen als durchschnittlich unheilbar zu betrachten.
Dass übrigens die Prognose in vielen Fällen weit weniger von
15*
[228]Beispiele
der Gehirnkrankheit selbst, als von gleichzeitig vorhandenen abnormen
localen oder Allgemeinleiden, z. B. einer vorhandenen Tuberculose,
einem hohen Grade von Anämie, einer hydropischen oder scorbu-
tischen Blutbeschaffenheit etc. abhängt, bedarf keiner weiteren Aus-
einandersetzung. Nicht selten verfallen die Reconvalescenten von der
Tobsucht in einen Zustand tiefer körperlicher und psychischer Er-
mattung, welcher sich erst im weiteren Verlaufe von dem Uebergang
in Blödsinn mit Sicherheit unterscheiden lässt, oder die Krankheit
geht wieder mit einem kurzen Stadium melancholicum zu Ende.
Wenn der Kranke nicht genest, so kann sich mit der grösseren
äusseren Beruhigung die Form des Wahnsinns ausbilden oder er ver-
fällt in einen chronischen, secundären psychischen Schwächezustand,
eine der verschiedenen Formen blödsinniger Abstumpfung mit oder
ohne zeitweise Agitation.
Der Tod kann in Folge des Gehirnleidens in der Tobsucht selbst,
durch heftige Gehirnhyperämie, seltener durch Extravasat, apoplectisch
erfolgen; viel häufiger sterben die Kranken an acuten oder chronischen
Erkrankungen anderer Organe, an Pneumonie, Pleuritis, heftigen
Darmcatarrhen, Phtisis etc. Unglücksfälle, das Hinausspringen des
Kranken aus dem Fenster etc. werden in dieser Form des Irreseins
auch nicht selten Ursachen des Todes.
XXVI. Einfache Tobsucht mit geschlechtlicher Aufregung und
Stehlsucht. Genesung. Gottfried Demons, 22 Jahre alt, etwas schwäch-
lich, in der Kindheit häufig mit Kopfausschlägen behaftet, von eigensinnigem
Character und geringer Geistesbildung, dessen Grossmutter, mütterlicher Seite,
sieben Jahre lang an Seelenstörung gelitten hatte, wurde im 19ten Jahre von
melancholischer Verstimmung befallen, welche nach drei Monaten unter dem Ge-
brauche ärztlicher Mittel wieder verschwand. Im 21ten Jahre hatte er kurze Zeit
an hartnäckiger Stuhlverhaltung mit Erbrechen gelitten. Im Mai 1811 zeigte er
sich eines Tags bei der Erzählung eines Reisenden von den Leiden, welche
derselbe erduldet, auffallend wehmüthig ergriffen. Am folgenden Tage klagte er
über Unwohlsein und Uebelkeit, wesshalb er ein Brechmittel erhielt und zwei
Tage später verfiel er in eine Seelenstörung mit anhaltendem Rasen und sinn-
losen Reden. (Grosse Gaben Brechweinstein und Abführmittel.) In den nächsten
14 Tagen traten wiederholt mehrstündige lucida intervalla ein, worauf aber immer
wieder neue heftige Anfälle von Raserei folgten. Indessen milderten sich diese
allmählig und gegen die Mitte Juni trat ein Zustand ein, in welchem der Kranke
bei immer seltener werdenden Tobsuchtanfällen, vom Morgen bis zum Abend un-
unterbrochen sinnlos schwatzte, während der Nächte aber eines mehrstündigen
ruhigen Schlafes genoss. Der Puls war ruhig, das Gesicht eingefallen, die Ess-
lust vermehrt und die Oeffnung träge; mitunter wurden schwache zuckende Be-
wegungen an den Gliedmassen wahrgenommen.
Vier Wochen nach dem Eintritte der Seelenstörung wird der Kranke nach
[229]von Tobsucht.
Siegburg gebracht und zeigt sich dort in den ersten zehn Tagen anhaltend to-
bend und durchaus verwirrt, auch zu gefährlichen Angriffen auf seine Umgebung-
geneigt. Doch tobte er gewöhnlich nur bei Tage, während er die Nächte mehren-
theils ruhig schlafend zubrachte. Ungeachtet der anhaltend heftigen Bewegung
während der maniacalischen Aufregung stieg der Puls nie über 75 bis 80
Schläge. Die Temperatur war durchgehends von normaler Beschaffenheit, die
Zunge bei häufigem Spucken rein und feucht, der Stuhlgang träge und fest.
Gegen Ende Juli nahm die Heftigkeit der maniacalischen Zufälle wieder ab, ob-
wohl der Kranke noch anhaltend in einem gewissen Zustande von Aufregung
und ausserordentlicher Verwirrtheit beharrte, den ganzen Tag lang unaufhaltsam,
ohne allen Zusammenhang der Vorstellungen und ohne Aeusserung irgend eines
obherrschenden Wahnes faselte, jetzt auch höchst unreinlich war, mit thierischer
Gier die ihm vorgesetzten Speisen verschlang u. s. w. Dennoch wurden die
Nächte mehrentheils ruhig schlafend zugebracht, und Puls und Temperatur be-
hielten die angegebene Beschaffenheit. (Aq. Amygdal. conc. Extract. Belladonn.
vier Wochen lang, dann Digitalis mit Sal amarum vom Anfang October bis Ende
December.) Die Frequenz des Pulses sank während dieser Mittel mitunter bis
zu 50 Schlägen, er wurde an den Carotiden oft voller und gespannter als früher,
während sich zugleich eine Neigung zu Nasenblutung zeigte. Daneben verrieth
der Kranke eine bedeutende, früher nicht bemerkte geschlechtliche Aufregung,
so dass er jedem Frauenzimmer, dessen er ansichtig wurde, nachlief und sich
nicht minder auf das Schamloseste der Selbstbefleckung hingab. Uebrigens war
sein Zustand in psychischer Beziehung fast unverändert, nur dass er von dem
Ende des Octobers an etwas weniger Verstandesverwirrtheit, auf der andern
Seite [aber] mehr Gemüthsverkehrtheit und zumal eine ihm in seinem gesunden
Zustande durchaus fremde Neigung zum Stehlen zeigte. Dann trat zuweilen wieder
eine lebhaftere, tobsüchtige Aufregung hervor, welche von Neuem die Anwen-
dung der Zwangsjacke und ähnlicher Beschränkungsmittel, zur Verhütung ge-
waltthätiger Handlungen, erheischte.
Es ward nun der Gebrauch aller jener Arzneien bei Seite gesetzt und der
Kranke erhielt vom Ende Januar an andertägig Sturzbäder von 20 Eimern kal-
ten Wassers auf den Kopf und von acht zu acht Tagen drei Blutegel an die
Nase. Nun besserte sich sein Zustand auffallend; schon Ende Februar gab er
besonnene Antworten auf einfache Fragen, die Anfälle tobsüchtiger Aufregung
schwanden ganz, nicht minder die oben erwähnte Ausartung des Geschlechts-
triebs und die Neigung zum Stehlen; sehr bald trat ein durchaus verständiges
und gesittetes Betragen ein, mit völligem Normalwerden aller körperlichen Func-
tionen. Entlassung zu Ende Juli, ein Jahr nach seiner Aufnahme.
(Jacobi, die Hauptformen der Seelenstörungen. I. 1844. p. 81.)
XXVII. Psychische Ursachen. Tobsucht mit Spottsucht und
Nymphomanie (Prurigo pudendi.) Genesung. Katharine T., 39 Jahre
alt, ohne erbliche Disposition zum Irresein, bisher gesund, hatte als Mädchen
einen tief religiösen Sinn und ein verliebtes Temperament gezeigt. Sie hatte
einen nahen Verwandten nach vorhergegangener Schwängerung durch denselben
geheirathet; dieser ihr Mann starb vor 1½ Jahren. Bei einem grossen Ver-
mögen hatte er viel Geld auf Güter geliehen und diese oft durch öffentlichen
Zwangsverkauf an sich gebracht. Hiedurch ward er sehr verhasst und die Leute
erzählten nach seinem Tode, sie hätten ihn auf den angekauften Ackern in
[230]Beispiele
glühender Gestalt herumspazieren sehen. Die C. T. erschrack heftig, als sie diess
hörte, sie glaubte fest an die Erzählung, verfiel zuerst in Unruhe und Angst,
beschäftigte sich mit dem ihr einmal beigebrachten Gedanken, ihre Ehe sei we-
gen der nahen Verwandtschaft nur ein Concubinat gewesen, und die jetzige Geister-
erscheinung sei die Strafe dafür, sowie mit Vorstellungen von unrechtlich er-
worbenem Eigenthum und dem Plane dasselbe zurückzugeben; sie prüfte selbst
die Papiere, und das ganze Vermögen ihres Mannes nach der Art, wie es erwor-
ben war, vor dem Richterstuhle ihres Gewissens; sie fand alle Beweise des recht-
lichen Erwerbes, aber dennoch keine Beruhigung; die Anschauung ihres in glü-
hender Gestalt aus dem Grabe zurückgekehrten Mannes blieb ihr andauernd und
lebhaft, sie wurde still, stumm und kalt gegen alle Menschen, blieb den stieren
Blick auf einen Punct geheftet sitzen und hörte und sah nichts als ihr von Angst
gequältes Inneres. So blieb sie ungefähr zwei Monate lang, als man plötzlich an
ihr ein unruhiges Herumrennen, womit sie das Haus durchlief, bemerkte, und sie
eine Reise zu ihren Freunden nach Riedelheim zu machen begehrte. Dort
angekommen, ergoss sie sich in einen Strom höflicher Bewillkommnungsreden
in rein deutscher ihr ungewöhnlicher Mundart; in der ersten Nacht aber fieng
sie an Feuerlärm zu machen, verfiel in die fürchterlichste Wuth, zerriss ihre
Kleider und schrie heftig. (Kalte Umschläge, Blutegel, Klystiere etc.)
Ich ward nun zu Rathe gezogen. Als ich mit ihrem Nachbar, einem be-
schränkten Komplimentenmacher, der eine sehr grosse Nase hatte, zu ihr ins
Zimmer trat, kam sie freundlich auf mich zu und fragte nach meinem Befinden,
indem sie sich tief verneigte. Hierauf drehte sie sich einigemal schnell auf dem
linken Fusse um und lachte aus voller Kehle. Der Nachbar machte ihr bemerk-
lich, es sei unschicklich in Gegenwart des Doctors sich so zu benehmen. Flegel,
erwiederte sie, bitte den Doctor, dass er dir zum Verstand helfe; dann erst wirst
du mit deiner langen Nase riechen können, wo Bartel den Most holt. Sie schrie,
schimpfte, kratzte und biss nach ihm; als er sich entfernt, sprang sie mit grosser
Fertigkeit auf den Ofen, von dort auf das abgerundete Fussstück des Bettes und
tanzte darauf, gleich einer Seiltänzerin. Sie sang, weinte und lachte abwech-
selnd; ihr fast beständiges Geschwätz bestand aus unzusammenhängenden zerris-
senen Gedanken, die sich nur im Feuer der Wuth zum Sinne gestalteten und
als passende Satyre hervortraten. In ihrer Zimmerthüre hatte sie eine Ritze,
wodurch sie auf die Strasse sehen konnte. Ueber alle, die vorbeigingen, machte
sie böse, aber wahre Bemerkungen, indem sie von denselben entweder die
schlimmste Seite ihres Characters oder irgend ein lächerliches Moment ihrer
Lebensgeschichte mit beissendem Spotte hervorhob. — Zuweilen lief sie aus einer
Ecke des Zimmers in die andere, als fürchtete sie sich vor etwas; zuweilen
machte sie schnelle und kräftige Bewegungen mit dem rechten Arme, als fechte
sie mit Gespenstern und war überhaupt keinen Augenblick ruhig. Ihr Gesicht
war blass, aber wann sie wüthete, ward es roth. Die Stirnader schwoll lang-
sam in der Dicke eines Federkiels auf, Blut drang in die weisse Augenhaut, die
Lippen rötheten sich, ihre Mienen wurden drohend, alle Muskeln spannten sich
an, sie zerriss ihre Kleider, zerschlug die Fenster, zerkratzte die Wände und
ihre Sprache eilte um den wilden Flug der Gedanken zu verkürzen. Sie zeigte
grosse Essbegierde und verschlang gleichsam blind was man ihr gab; dass Be-
dürfniss der Stuhl- und Urinausleerung verrichtete sie ohne einen Begriff von
Schamhaftigkeit.
[231]von Tobsucht.
In der Nacht schlief sie nur einige Stunden, mit dem ersten Sonnenstrahl
aber war sie wieder in heftiger Bewegung. Die Periode war regelmässig; vor
derselben waren die Wuthanfälle heftiger.
Man bemerkte an ihr eine unruhige lauschende Neugierde und ein bewunderns-
würdiges Gelingen in der Zusammenstellung des Mannigfaltigen an den Gegen-
ständen zu Bildern von ästhetischer Deutlichkeit und Zweckmässigkeit. Alles was
Einheit der Association der Vorstellungen hatte, war beissender Spott; ihren Auf-
wärter nannte sie Monsieur Robespierre, und setzte hinzu: heisst im deutschen,
Herr Henkersknecht. Von zusammenhängenden Gedanken sprang sie schnell zur
chaotischen Aufeinanderhäufung von Wörtern ohne Sinn über; aus der allge-
meinen Verwirrung sprühete zuweilen noch ein schwacher, schnell vergänglicher
Funke der Kinderliebe empor.
So blieb sie mehrere Monate bis ich ihre Behandlung wieder übernahm. Ich
fand sie jetzt in folgendem Zustande: Ausser dem Gesicht und Gehör waren die
übrigen Sinnesthätigkeiten erloschen; sie litt in hohem Grade am Nymphomanie.
Reibungen an den Genitalien, Fluchen über den nicht befriedigten Trieb, Suchen
der Männer und ein geiler Blick bildeten eine widerliche Gruppe von Erschei-
nungen, die man ohne Abscheu nicht betrachten konnte.
Ich liess sie auf einsamen Wegen Spaziergänge machen und gab ihr in
einem starken Anfalle der Wuth 50 Tropfen der Aqua Amygd. amar. concentr.
Das Toben liess auf der Stelle nach, sie sank auf einen hinter ihr liegenden
Strohsack und wurde ganz still. Zwei Stunden nachher aber begann der Furor
uterinus wieder, wobei sie in jedem Manne einen alten Liebhaber zn erblicken
glaubte. (Aqu. Amygd. 3mal täglich 50 Tropfen bis auf 3mal 150 Tropfen ge-
stiegen.) Der Tastsinn und der Geschmack schien zurückzukehren, sie äusserte
wieder eine, obwohl unvollkommene Vorstellung von ihren Kindern, während jeder
alte Liebhaber ihrer Einbildungskraft immer lebendig gegenwärtig war. Die Wuth-
anfälle wurden kürzer und seltener, sie schlief mehr und verhielt sich ruhiger
im Bette. Erinnerungen an interessante Punkte ihres Lebens liessen sich er-
wecken. Noch immer zeigte das Suchen lächerlicher Widersprüche in Persön-
lichkeiten einen bevorstehenden Wuthanfall bei ihr an, und man konnte sicher
auf einen rechnen, wenn sie witzig wurde. Sie zerriss nichts mehr, sondern
liebte es, sich hübsch anzuziehen, fing an auf Reinlichkeit und Anstand zu sehen
und liess sich in diesen Beziehungen durch Zuspruch und leichte Drohung leiten.
Wie beim Kinde, so musste hier die geistige Entwicklung von der tiefsten Stufe
an in empirischen Progressionen wiedergeboren werden.
Indessen hörten die Anfälle des wüthenden Wahnsinns noch nicht ganz auf.
Zwischen den Gaben des Aqu. Amygd. und gewöhnlich zwei Stunden nach jeder
Gabe, erschien ein Anfall mit heftigem Drange zum Beischlaf. Nun wurden 14
Tage nach jeder monatlichen Periode Aderlässe von 10 Unzen gemacht; die
Wuthanfälle wurden damit seltener und sie fing an über das Jucken und Bren-
nen der Geschlechtstheile, die sie garstig nannte, zu klagen. Nun wurde die
Kranke zur Arbeit allmählig angehalten. Die religiösen Empfindungen kehrten
durch Beispiel geweckt wieder und die Kranke genas nach einjähriger Dauer
des Wahnsinns.
(Velten in Nasse, Zeitschrift für psychische Aerzte. 1820. p. 709.)
XXVIII. Zwei Anfälle von Tobsucht, jedesmal nach starken
Geruchseindrücken, während des Wochenbetts und des Stillens.
[232]Beispiele von Tobsucht.
Ein dritter Anfall nach einer Frühgeburt. Genesung. R., 34 Jahre
alt, wurde am 10. Novbr. 1813 ins Hospital aufgenommen. Sie ist von sanftem
aber sehr lebhaftem Character, von hohem Wuchs, ihre Haare sind kastanien-
braun, ihre Augen gross und braun, ihre Physionomie bewegt. Im 16ten Jahre
stellte sich ohne Beschwerde die Menstruation ein. Im 24ten Jahre verhei-
rathete sich R.
Im 26ten Jahre kommt am dritten Tage nach ihrer ersten [Entbindung] eine
Frau zu ihr, die sich mit Moschus parfümirt hatte; sogleich fängt sie an zu
deliriren, indessen fährt sie fort ihr Kind, das im dritten Jahre starb, zu nähren.
Dieser erste Anfall characterisirte sich durch Manie mit Wuth, dauerte nur
zwei Monate und hörte plötzlich nach einem lebhaften Schrecken auf. Seit diesem
Anfall blieb die Frau sehr reizbar, alle Frühling wird sie ohne Delirium exaltirt
und die Exaltation vergeht nur durch den Gebrauch der Antispasmodica.
Im 30ten Jahre geht R., während sie ihr einjähriges Kind stillt, in den Laden
eines Mannes, wo sich Malerfarben befanden; der Geruch derselben bringt sogleich
das Delirium hervor, welches sich während fünf Tagen vermehrt, und welchem
Manie mit Wuth folgt. Am 4. August 1809 wurde sie in die Salpetrière auf-
genommen. Die Remission ist sehr merklich. R. ist ruhig und scheint ver-
ständig, ihr Mann wünscht ihren Austritt und sie wird am folgenden 12. October
entlassen. Am zweiten Tage nach ihrem Austritt kehrt das Delirium, die Wuth
zurück. Die Menstruation wird unterdrückt, der Leib aufgetrieben. Sie kehrt
ins Hospital zurück und beruhigt sich gegen den Winter. Im December erscheint
die Menstruation wieder und R. verlässt das Hospital im Juni 1811.
Im 34ten Jahre, am 1. November 1813, eine frühzeitige Entbindung; Blut-
verlust aus dem Uterus, am andern Morgen grosse Gesprächigkeit. Am 3. Novbr.
Manie, Wuth. Die Kranke wird nach dem Hospital geführt. Bei ihrer Ankunft
sind ihre Augen umherirrend, das Gesicht ist bleich, allgemeines Delirium, Manie,
Wuth. Drei Tage darauf ist sie ruhig und erkennt, dass sie im Hospitale ist.
Am 16. November. Die Menstruation fehlt, die Kranke sieht ihren Mann mit
Interesse; sie ist traurig, aber ihre Antworten sind richtig. (Warme Bäder.) Am
28. Fieber, gastrische Beschwerden (Brechmittel), reichliche Ausleerung. Seit
dieser Zeit sind die Ideen folgerechter; R. ist ruhig, arbeitet, kehrt allmählig
zur Vernunft zurück.
Am 21. December geht R. gänzlich geheilt aus dem Hospital, obwohl die
Menstruation noch nicht wiedergekehrt ist.
(Esquirol, die Geisteskrankheiten, übersetzt von Bernhard. I. 1838. p. 152.)
XXIX. Statt früherer epileptischer Anfälle Paroxismen von
Wuth mit Mordversuchen. Ein Bauer in Krumbach in Schwaben geboren,
von Eltern abstammend, die sich nicht der besten Gesundheit erfreuten, 27 Jahre
alt, unverheirathet, litt seit seinem achten Jahre häufig an epileptischen Anfällen.
Seit zwei Jahren hatte seine Krankheit ihren Character verändert, ohne dass
man den Grund dieser Veränderung ermitteln konnte; statt der epileptischen An-
fälle wurde dieser Mensch von dem unwiderstehlichen Hang zum Morden befallen.
Er fühlt die Annäherung seines Anfalls mehrere Stunden, zuweilen schon einen
Tag vor seinem Eintritt. Im Augenblick dieses Vorgefühls verlangt er heftig
gebunden, in Ketten gelegt zu werden, um ihn zu verhindern ein Verbrechen zu
begehen. „Wenn mich diess erfasst,“ sagt er, „so muss ich tödten, erwürgen,
und wäre es auch nur ein Kind.“ Seine Mutter und sein Vater, die er übrigens
[233]Modificationen der Tobsucht.
zärtlich liebt, würden in diesen Anfällen die ersten Opfer seiner Mordsucht sein.
„Meine Mutter,“ ruft er mit einer schrecklichen Stimme, „rette dich, oder ich
bringe dich um!“
Vor dem Anfalle klagt er über grosse Müdigkeit, kann jedoch nicht schlafen;
er fühlt sich sehr niedergeschlagen und empfindet leichte convulsivische Bewe-
gungen in den Gliedern. Während der Anfälle bewahrt er die Empfindung seiner
eigenen Existenz; er weiss vollständig, dass, indem er einen Mord begeht, er
sich eines Verbrechens schuldig macht. Hat man ihn ausser Stand gesetzt zu
schaden, so verzerrt er sein Gesicht, singt, spricht in Versen. Der Anfall
dauert einen bis zwei Tage; endet er, so ruft er aus: „Bindet mich los! Ach,
ich habe sehr gelitten, aber ich bin glücklich durchgekommen, da ich Niemanden
getödtet habe.“ (Esquirol von Bernhard. II. p. 371.)
§. 114.
Die von den Schriftstellern aufgeführten verschiedenen Arten
der Tobsucht näher zu beschreiben, wäre von keinem besonderen
Interesse. Sie sind, wie wir zum Theil schon oben erwähnten, theils
nach den verschiedenen Trieben und Neigungen, welche sich in exal-
tirter Weise äussern (Nymphomanie, Mania saltans, Furor poëticus etc.),
theils nach verschiedenen Anlässen und Ursachen der Krankheit (Mania
puerperalis, parturientium, potatorum etc.) aufgestellt. Was nament-
lich die letztere Form, das Delirium tremens, betrifft, so besteht
es in allen ausgebildeten Fällen aus einem gewöhnlich mässigeren
Grade von Tobsucht, dem gleichfalls fast immer ein kurzes Stadium
melancholicum vorausgeht und wobei Zittern der Extremitäten, an-
haltende Schlaflosigkeit, und copiose Schweisse gewöhnlich zugleich
vorhanden sind. Ein Zustand von Angst dauert häufig während der
ganzen tobsüchtigen Periode fort und unterhält die Aufregung; sehr
gewöhnlich sind dabei Hallucinationen des Gesichtssinns der verschie-
densten Art, namentlich häufig bestehen sie in Phantasmen von Thier-
gestalten, Mäusen, Pferden, Vögeln etc.; doch bewegt sich das
Delirium auch in vielfältigen anderen Illusionen und Phantasmen von
vorherrschend traurigem, ängstlichem Inhalt.
Von grosser practischer Wichtigkeit sind die häufigen Zustände
unvollständig ausgebildeter Tobsucht, welche zwar in der Mehr-
zahl der Fälle nur ein dieser letzteren oder dem Wahnsinne voraus-
gehendes erstes Exaltationsstadium darstellen, zuweilen aber ohne
weitere Entwicklung stehen bleiben und dann mit Recht als eine
besondere Form des Irreseins mit dem Character der Exaltation
angesehen werden. Wir haben ihrer zum Theil schon oben er-
wähnt als der verhältnissmässig milden Aeusserungsweise bestimmter
Neigungen und Triebe, während der Kranke noch keine auffallende
[234]Unvollständig entwickelte Formen der
Störung der Intelligenz zeigt. Häufig zeigt sich aber auch eine allge-
meine, nicht auf eine bestimmte Reihe von Objecten concentrirte
Steigerung des Wollens, und solche äussert sich als eine ungewöhn-
liche und unstete Thätigkeit und Geschäftigkeit, als ein grosser Eifer,
immer etwas Neues anzufangen, als ein Bedürfniss, die Aussenwelt
nach excentrischen Projecten zu verändern und umzugestalten. Solche
Kranke haben immer etwas zu thun, Speculationen zu machen, zu
kaufen oder zu verkaufen, zu verschenken, zu bauen etc.; Alles,
was sie sehen oder was ihnen einfällt, wollen sie auch haben und
besitzen, und sie verschleudern damit oft in kurzer Zeit hedeutende
Summen. Ihr Benehmen zeigt gewöhnlich Eitelkeit, die Sucht sich
geltend zu machen und Aufsehen zu erregen, Dreistigkeit und Arro-
ganz. Die Stimmung wechselt meist schnell zwischen fröhlicher,
ausgelassener Laune, zwischen Depression und wieder heftigem,
zornigem Aufbrausen, letzteres besonders, wenn ihrem Thun ent-
gegengetreten und ihre Eitelkeit verletzt wird. — Die Kranken sprechen
meist viel, laut und hastig, doch ohne eigentliches Delirium. Der
Inhalt der Reden zeigt eine übertriebene Meinung von der eigenen
Person, keineswegs noch etwa den Wahn einer andern ausgezeich-
neten Persönlichkeit, sondern nur die Neigung, sich selbst, den
eigenen Fähigkeiten und Leistungen, seinem Vermögen, seinen körper-
lichen Kräften, seiner Gesundheit oder Wohlgestalt möglichst viel
zuzutrauen. Die hohe Meinung, die der Kranke von sich hat, über-
trägt er nicht selten auf Alles, was ihm gehört, und es genügt ihm,
dass etwas in seinen Besitz gekommen ist, um ihm ausserordentliche
Eigenschaften zuzuschreiben.
Man erkennt in dieser, nach eigenen Beobachtungen in Ueber-
einstimmung mit Jessen *) gegebenen Schilderung einen Zustand
mässiger Exaltation, der bei einer nach aussen gerichteten Explosion
des Strebens zur Tobsucht, bei mehr innerlicher Steigerung und Bildung
fixer Wahnvorstellungen zum ausgebildeten Wahnsinn wird. Je entfernter
der Zustand noch von einer dieser deutlich characterisirten Formen ist,
je weniger namentlich der Kranke delirirt, je eher er noch sein krank-
haftes Treiben mit Gründen zu rechtfertigen vermag, welche noch
im Bereiche der Möglichkeit liegen und sich noch nicht als ent-
schieden wahnwitzig darstellen, um so leichter wird der Zustand als ein
krankhafter verkannt und mit der Hingabe des Gesunden an Launen
und thörichte Neigungen verwechselt. Er fällt alsdann unter den Begriff
der Folie raisonnante und constituirt deren maniacalische Form.
[235]Tobsucht. Folie raisonnante. Moria.
Bleibt der Zustand auf der beschriebenen Stufe der Entwicklung
stehen, so kann er entweder mit Genesung (nach kürzerer Dauer)
endigen oder er kann in einen psychischen Schwächezustand über-
gehen, in welchem die vorherrschende fröhliche, selbstzufriedene und
selbstgefällige Laune sich fixirt hat und sich in schwächlichem,
thörichtem Thun und Treiben, Lachen, Tanzen etc., in kindischen
Spielen, in Aufbewahren werthloser Dinge, denen aber der Delirirende
einen übertriebenen Werth beilegt und dergl. äussert. Für diese
Form des Blödsinns dürfte es am zweckmässigsten sein, den Namen
der Moria, Narrheit, beizubehalten.
Der folgende Fall bietet ein Beispiel eines solchen anfallsweise eintretenden,
einfachen und schwachen Exaltationszustandes ohne Weiterentwicklung zu aus-
gebildeter Tobsucht oder zu Wahnsinn.
XXX. Johann Reiberg, 37 Jahre alt, kräftig, ohne erbliche Disposition zum
Irresein, hatte als guter Landwirth in glücklichen äusseren Umständen gelebt.
Im 20ten Jahre hatte er zum ersten Mal einen Anfall von Seelenstörung erlitten,
der sechs Wochen anhielt; diesem ähnliche Anfälle wiederholten sich in der Folge
noch sieben Mal nach einer zwei- bis dreijährigen Zwischenzeit.
Der Hergang war dabei jedesmal im Allgemeinen folgender: Erst ward der
Kranke für eine kurze Zeit trübsinnig und niedergeschlagen, worauf bald eine
immer wachsende Aufregung folgte, die sich aber auch bei den höchsten Graden,
die sie erreichte, nur durch eine Steigerung der Lebhaftigkeit in seinem gewöhn-
lichen Treiben offenbarte. Seine Pferde- und Hundeliebhaberei und seine Lust an
der Jagd trat noch weit lebhafter als sonst hervor und zugleich war seine Thä-
tigkeit in der Landwirthschaft übermässig. Er war dann im höchsten Grade unter-
nehmend, vielgeschäftig, rastlos in Allem, was er ergriff, vom frühsten Morgen
bis zum späten Abend die schwersten Feldarbeiten selbst betreibend, legte dabei
aber auch ein übermässiges Selbstvertrauen, eine Neigung zu Zornausbrüchen
und zugleich eine in etwas geschwächte Urtheilskraft an den Tag, war übrigens
abgeschlossen, mied die Gemeinschaft mit seinen Hausgenossen und erwies sich
gegen sie ungewöhnlich abstossend und unartig. Die Nächte brachte er in diesen
Zeiten meist schlaflos zu, ohne doch desshalb für seine überspannte Thätigkeit
über Tage weniger rüstig zu sein. Die Esslust war ebenfalls gesteigert und
während er ausser diesen Anfällen im Genusse von geistigen Getränken sehr
mässig war, zeigte er jetzt eine grosse Neigung zu denselben, ohne sich indessen
darin zu berauschen. Nie kam in diesen Krankheitsanfällen eigentliche Verstan-
deszerrüttung vor, wenn sich auch vorübergehend einige Mal flüchtige Wahn-
vorstellungen bemerklich machten. In sämmtlichen Anfällen offenbarte sich das
Irresein vorzugsweise nur durch eine Gereiztheit aller Seelenverrichtungen, und
vor Allem durch etwas entschieden Triebartiges in den Aeusserungen der Willens-
thätigkeit und des Begehrungsvermögens. Hatte dieser Zustand im Verlaufe von
vier bis fünf Wochen dann seine Höhe erreicht, so sank die Aufregung bald
wieder, machte aber ihren Uebergang zu der normalen psychischen Stimmung stets
nur mittelst einer mehrtägigen Periode von Niedergeschlagenheit nnd Abspan-
nung, ähnlich derjenigen, womit der Krankheitsanfall einzutreten pflegte.
[236]Beispiel maniacalischer Folie raisonnante.
Der Befallene selbst hatte von diesen Zuständen, auch schon während ihres
Verlaufs, das Gefühl, als von etwas durchaus Krankhaftem, und zeigte sich nach
deren Entfernung, zumal als sie oft wiederkehrten, jedesmals niedergeschlagen
und besorgt, äusserte auch mehrmals den Wunsch in der hiesigen Anstalt einer
Kur desshalb unterworfen zu werden und sprach endlich, nachdem der vorletzte
Anfall stärker und hartnäckiger als die früheren gewesen, gegen die Seinigen
das bestimmte Begehren aus, dass man ihn beim Wiedereintritt der Krankheit,
sei es auch dann wider seinen Willen, hieher bringen sollte, was denn auch im
Septemper 1829 statt fand. Bei seiner Hierherkunft hatte übrigens der Anfall
seinen Höhepunkt beinahe erreicht, und es währte nicht lange bis das Stadium
der Abnahme und sofort auch die gewöhnliche Niedergeschlagenheit eintrat, und
dann der gesunde Zustand sich wieder herstellte.
Welche ursächlichen Momente solcher stets vorhandenen, von Zeit zu Zeit
aber einen ungewöhnlichen Grad erreichenden krankhaften Erhöhung und Ver-
stimmung der Reizbarkeit dos Gehirns und des gesammten Nervensystems zu
Grunde lagen, hierüber schien eine genügende Aufklärung kaum zu hoffen. Wider
Erwarten fand es sich, dass dieser so kräftige und in der angestrengtesten Thä-
tigkeit lebende Mann, von seinen Knabenjahren bis zu seinem gegenwärtigen
vollen Mannesalter, der Selbstbefleckung anhaltend im höchsten Grade ergeben
gewesen war. Stets dabei von Gewissensbissen gefoltert, selbst durch die Sorge
geängstigt, dass die Anfälle von Geisteskrankheit, der er unterlag, in diesem
Laster ihren Ursprung haben möchten, immer neue Vorsätze fassend, demselben
zu entsagen, und nach kurzen Perioden einer standhaften Behauptung dieser
Vorsätze immer wieder zu neuem Treubruch verleitet, immer durch seine Schwäche
zur Verzweiflung getrieben und immer gleich unvermögend die Kraft zu andauern-
der Entsagung in sich aufzubieten, immer im Bestreben diesem grauenvollen
Abgrund zu entfliehen und immer von Neuem sich an denselben gebannt fühlend,
litt seine Seele nicht minder wie sein Körper von diesen zerrüttenden Einflüssen,
und der bleibende, bald mehr, bald weniger gesteigerte krankhafte Zustand seines
Gehirns und das vermöge der individuellen Beschaffenheit seines Organismus da-
durch bedingte periodische Auftreten der oben geschilderten tobsüchtigen Auf-
regung war ohne Zweifel die Folge davon.
Die Behandlung bestand in spärlicher Kost, kühlen Bädern mit kalter Douche,
in psychischen und beschränkenden Mitteln, welche der Kranke durch eigenen
Willen unterstützte. So gelang es ihn wenigstens mehrere Monate von der Selbst-
befleckung frei zu halten.
(Jakobi, die Hauptformen der Seelenstörungen. I. 1844. Nro. 1.)
§. 115.
Es übrigt noch hier am Schlusse der Betrachtung der Tobsucht
die sogenannte Mania sine delirio kurz zu besprechen, eine patho-
logische Categorie, welche von Pinel — man darf sagen, zum Unglück
der Wissenschaft — aufgestellt wurde. Denn so wahr und ver-
dienstlich die Bemerkung war, welche Pinel aus seinen Beobachtungen
abstrahirte, dass die gewaltthätigen Triebe und Handlungen der Tob-
süchtigen nicht immer in verkehrten Vorstellungen begründet
[237]Mania sine delirio.
seien — heutzutage ist man der Ansicht, dass diess ursprünglich
überhaupt nicht der Fall sei — so verwirrend war es schon, dass
er die von ihm geschaffene Benennung zwei verschiedenen psychisch-
krankhaften Zuständen beilegte, nemlich einerseits periodischen, wahren
Wuthanfällen mit wenig hervorstechendem Delirium, andrerseits und
hauptsächlich jenen mässigen im vorigen §. erwähnten psychischen
Exaltationszuständen, wobei die Kranken thörichte Handlungen und
ein verkehrtes Benehmen zeigen, dabei aber im Stande sind, durch
ein noch innerhalb der Grenzen der Möglichkeit liegendes, an sich
cohärentes Raisonnement dieselben zu rechtfertigen und zu erklären,
d. h. der Folie raisonnante. Von Pinels Nachfolgern wurden noch
andere Zustände, z. B. die oben von uns als mässige Grade von
Schwermuth mit Gewaltthaten beschriebenen, ferner sogar gewalt-
thätige Ausbrüche in Folge bisher verborgener fixer Ideen, letztere
auch nicht mit einem Schein von Recht, unter den einmal gegebenen
Namen subsummirt.
Erwägt man näher, welchen maniacalischen Zuständen die Be-
zeichnung Mania sine delirio überhaupt zukommen könne, so steht
vor Allem fest, dass in keinem einzigen Falle von Manie das be-
wusste Vorstellen, die Intelligenz gar keine Störung erleidet. Auch
in den allerschwächsten Graden der Manie nimmt das Vorstellen,
wenn auch nur in der Weise einer Steigerung in der Lebhaftigkeit
und Raschheit des Vorstellens, meist aber bald in der Weise der
Verworrenheit an der allgemeinen Exaltation Antheil; in allen Wuth-
anfällen vollends ist von einem klaren, ruhigen Vorstellen, wie beim
Gesunden, gar keine Rede. Es ist wahr, dass Tobsüchtige zuweilen
durch Anreden auf kurze Zeit zur Besinnung gebracht und zu rich-
tigen Antworten vermocht werden können, allein diess zeigt nur,
wie Jessen *) bemerkt, die Möglichkeit momentaner Remissionen und
Intermissionen, „denn der Kranke tobt nicht, während er verständig
spricht, und er spricht nicht verständig in demselben Augenblicke,
in welchem er tobt.“ Von der Abwesenheit eines Deliriums kann
auch bei jenen, oben geschilderten krankhaften Antrieben zu Gewalt-
that nicht gesprochen werden, denn jene, mit den äusseren psychi-
schen Anlässen gar nicht congruirenden, nur durch eine krankhafte
Stimmung erweckten Mordgedanken sind an und für sich schon deli-
rirende Vorstellungen, wie eben auch in der Mania furibunda, wie schon
in jedem heftigen Affect, z. B. Zorn, neue der krankhaften Stimmung
entsprechende Vorstellungen, Urtheile und Vorsätze entstehen.
[238]Symptomatologie des Wahnsinns.
Diejenigen Zustände, in welchen noch am wenigsten Verworren-
heit und Wahnvorstellungen auftreten, in welchen noch am meisten
formal logische Cohärenz im Vorstellen zu erkennen ist, sind eben
die im vorigen §. geschilderten, milden, meist aber nur den Beginn
heftigerer Manie einleitenden Exaltationszustände. Für diese, die
Folie raisonnante, mag man denn, wie Pinel diess zum Theil that, den
Namen der Mania sine delirio gebrauchen. Da es aber in den con-
creten Fällen nicht darauf ankommt, vorliegende Zustände unter ge-
wisse Namen zu subsummiren, sondern vielmehr eine psychologische
Würdigung des psychisch-krankhaften Grundzustandes, der Momente,
aus denen er sich entwickelt hat und seiner Folgen in ihrem noth-
wendigen inneren Zusammenhange, dem Arzte obliegt, so möchte es
am gerathensten sein, den dunkeln, die Curiosität der Rechtsgelehrten
und sonstigen Laien herausfordernden Namen ganz fallen zu lassen.
Zweites Capitel.
Der Wahnsinn.
§. 116.
Wir begreifen unter diesem Namen Exaltationszustände, deren
Character in affirmativem, expansivem Affect mit anhaltender Selbst-
überschätzung und daraus hervorgehenden, ausschweifenden und fixeren
Wahnvorstellungen besteht.
Es ist die Form, welche Heinroth zum grössten Theile als Ecstasis
paranoica beschrieben, Jessen als Schwärmerei (und zum Theil Aberwitz)
bezeichnet hat. Mit den von Jakobi als Wahnsinn bezeichneten Zuständen
stimmt unsere Form nur zum Theil überein, da derselbe auch die Melancholie
mit Wahnvorstellungen darunter versteht. *) Die meisten französischen Irrenärzte
nennen diese Zustände Monomanie (aigue) d’ambition, d’orgueil, de vanité,
auch (nach Rush) Amenomanie.
Wir verweisen vor Allem auf das über die Exaltationszustände im Allge-
meinen und das im §. 111. Gesagte, wodurch wir in Stand gesetzt sind, hier
durch eine kürzere Schilderung und Erörterung der krankhaften Phänomene dem
Bedürfnisse des Lesers zu genügen.
Die Anomalieen der Selbstempfindung, der Triebe und
des Wollens in dieser Form des Irreseins gruppiren sich sämmtlich
[239]Gemüths-Störungen.
um ein Centrum, das gesteigerte Selbstgefühl des Kranken. Dasselbe
ist psychisch begründet. Indem nemlich die Fähigkeit zu wollen,
welche während des melancholischen Stadiums geschwächt oder ganz
unterdrückt war, nicht nur wiedergekehrt ist, sondern das Streben
noch exaltirt (äusserlich in der Weise einer übertriebenen Activität)
sich geltend macht, indem zugleich mit dieser Freiheit der Impulse
zum Handeln eine grössere Leichtigkeit des Denkens, eine mühelose
Abundanz in der Ideenbildung dem Kranken fühlbar wird, ergibt sich
ihm eine Stimmung hoher Zufriedenheit mit sich selbst. Der Kranke
erfreut sich eines grossen, geistigen (und körperlichen) Wohlbefindens,
er fühlt sich reicher und freier; jede Anstrengung ist ihm leicht
geworden, er hält sich desshalb nicht nur für durchaus gesund und
weist jeden Zweifel daran mit Entrüstung ab, sondern er gibt häufig
an, sich noch nie in seinem Leben so wohl und so glücklich be-
funden zu haben. Die exaltirte Selbstempfindung äussert sich als
gehobene Stimmung, als heitere Laune, zuweilen mit schwärmerischem
Schwelgen in sublimen Gefühlen, sie äussert sich ferner als ein grosses
Selbstvertrauen in zuversichtlichem, dreistem, eitlem, übermüthigem
Benehmen, wobei der Kranke bald mehr ein oberflächlich selbst-
gefälliges, affectirtes Betragen, bald mehr einen tiefsitzenden Hoch-
muth und Stolz und den Hang, sich auf jede Weise Geltung zu ver-
schaffen zeigt. Dieser affirmative Affect ist anhaltend, wechselt nicht
so, wie in der Tobsucht, mit allen möglichen andern Stimmungen,
ohne äussere Motive. Durch solche aber wird er allerdings momentan
leicht unterbrochen; der Kranke zeigt sich reizbar und heftig und
wenn der Bestimmtheit seiner Behauptungen oder dem Ausschweifen-
den seines Thuns durch Einwendungen oder äusseren Zwang entgegen-
getreten wird, so sucht er, alsbald ungeduldig, unwillig und zornig
geworden, sein Thun und Meinen zu vertheidigen und will nichts
an sich herankommen lassen, was seine gehobene Stimmung beein-
trächtigen könnte.
Die gesteigerte Action des Strebens zeigt sich in dem Bedürfniss
erhöhter excentrischer Thätigkeit, namentlich aber in zahlreichen aus-
schweifenden Planen und Projecten, deren Ausführung dem Kranken,
welcher sich selbst Alles zutraut, möglich und leicht erscheint.
Hierin liegt die grösste Aehnlichkeit, aber auch eine grosse Ver-
schiedenheit mit dem Verhalten des Tobsüchtigen. Denn wie diesem,
so kommt es auch dem Wahnsinnigen, zuerst und hauptsächlich auf
Kraftäusserung überhaupt an; allein in der Tobsucht gibt diess Be-
dürfniss einer Explosion auf der motorischen Seite des Seelenlebens
[240]Symptomatologie des Wahnsinns.
unmittelbar zu (häufig stürmischen) Muskelbewegungen Anlass, in
denen es sich entladet — daher eben das Triebartige, nur äusser-
lich Exaltirte dieser Zustände; je mehr dagegen auf das exaltirte
Wollen geordnete Reihen krankhafter Vorstellungen und Urtheile ein-
wirken können, je mehr jener Fluss nach aussen nicht bloss von einem
dunkeln stürmischen Bedürfnisse, sondern von bewussten Gedanken
bewegt wird, je mehr Planmässiges desshalb in das kranke Wollen
überhaupt kommt, um so mehr hat man den Zustand als von der
Tobsucht verschiedenen, als Wahnsinn aufzufassen.
Am deutlichsten zeigt sich solcher Unterschied, wenn, wie auch hier nicht
selten vorkommt, gleichfalls einzelne Gruppen von Empfindungen und dunklen
Vorstellungen mit besonderer Lebhaftigkeit auftreten und als Triebe nach aussen
drängen, z. B. der Geschlechtstrieb. Der sexuell exaltirte rein Tobsüchtige sucht
seinen Trieb auf die nächste, beste Weise zu befriedigen, er macht auf jedes
weibliche Wesen, das ihm in den Weg kommt, Angriffe, oder die Nymphoma-
nische erlässt an jeden Besucher schamlose Forderungen. In diesen Zuständen
dagegen wird der gesteigerte Geschlechtstrieb erst, ehe er zur Handlungen deter-
minirt, durch neu dazu gekommene Vorstellungen und Urtheile (und zwar von
krankhaft exaltirter Beschaffenheit) bestimmt, der Kranke will ihn dann nur im
Sinne seiner Selbstüberschätzung und gewisser Wahnvorstellungen befriedigen;
er macht nur Prinzessinnen und vornehmen Damen seine Anträge, *) die weibliche
Kranke spielt imaginäre Liebesabentheuer mit Fürsten und Königen u. dergl.
Die Aufregung des Wahnsinnigen tritt also nicht so unmittelbar nach aussen,
das Streben wird von klar bewussten Vorstellungen und Urtheilen geleitet, ver-
liert dadurch das Triebartige und wird zum wirklichen kranken Wollen. Bei
weit grösserer, zuweilen bei vollständiger, äusserer Ruhe ist eine weit tiefere,
innere Unvernunft vorhanden, als in der Tobsucht, weil eben aus der allgemeinen
Exaltation sich für die Intelligenz hier bald Folgen ergeben, welche die letzten
Prämissen eines gesunden Seelenlebens aufheben.
Anomalieen des Vorstellens. Auch hier ist zunächst eine
rein formale Steigerung in der Lebendigkeit und Schnelligkeit dieser
Processe zu bemerken, welche sich in dem Reichthume an Vor-
stellungen, dessen sich der Kranke innerlich erfreut, in den
lebhaften Reden und in dem häufigen Wechsel der Objecte, auf
welche sich das kranke Wollen richtet, zu erkennen gibt. Doch ver-
hält es sich so gewöhnlich nur im Anfang, während später einzelne
wenige Wahnvorstellungen ausschliesslich herrschen und ohne leben-
digen Wechsel mit andern, das Streben bestimmen.
Eine weitere Anomalie des Vorstellens ist eine innerliche Stei-
gerung, eine Uebertriebenheit der Vorstellungen in Bezug auf ihren
Inhalt, sich kundgebend in der Neigung, in grossen hochtrabenden
[241]Verstandes-Störungen.
Worten, möglichst glänzenden Bildern, möglichst hohen Zahlen (Tau-
sende, Millionen etc.) zu reden, und insofern solche übertriebene Vor-
stellungen als Bestrebungen sich geltend machen, gehören eben hie-
her, ihrem Inhalte nach, die so mannigfaltigen, excentrischen
Plane solcher Kranken. Sie sind natürlich nach den früheren Er-
lebnissen, nach Stand und Beschäftigung, nach der Bildungstufe des
Kranken sehr verschieden. Der Handwerker will sein Geschäft ins
Ungeheure vergrössern, der Militär will mit grossen Armeen operiren,
Feldzüge anfangen, Eroberungen machen; ein Anderer macht Projecte
zu unmöglichen mechanischen Erfindungen, z. B. dem Perpetuum
mobile, Andere haben Plane zu Befahrung von Land und Meer auf
neu erfundenen Eisenbahnen oder zu Dampfschiff-Entreprisen in petto,
welche alle Meere der Welt beherrschen sollen, oder es sind grosse
Reiseprojecte, grosse Bauplane (Schlösser, Städte etc.), welche den
Kranken ganz erfüllen. Andere wollen auf dem Gebiete der Ideen
wirken, umfassende wissenschaftliche Gedanken, grosse humanistische,
religiöse und a. dergl. Zwecke realisiren, als Apostel auftreten, als
Wohlthäter der ganzen Menschheit ihr allgemeines Glück und Frieden
bringen etc., Alles das verschieden, theils nach zufälligen äusseren
Einwirkungen, theils je nachdem der Kranke früher vorzugsweise
realistische Tendenzen oder ideale Lebenszwecke verfolgte. Immer
aber zeichnen sich diese Ideen einmal durch einen Character hoher
Activität (gegenüber den auf der Idee des Beherrschtwerdens und
Leidens beruhenden Vorstellungen der Schwermüthigen), zweitens
durch ihre phantastische Uebertriebenheit aus.
Mit diesen Vorstellungen aufs engste zusammenhängend, gleich
ihnen aus gesteigerter Selbstempfindung und Ueberschätzung der
eigenen Kraft hervorgehend, ergeben sich nun weiter falsche Vor-
stellungen und Urtheile in Bezug auf das eigene Ich und dessen
Stellung zur Welt. Ganz besonders häufig ist hier der Wahn einer
ausgezeichneten Persönlichkeit, einer übermenschlichen Macht,
eines unerschöpflichen Besitzes, hohen Standes, vornehmer Abkunft etc.
Hierher gehören diese in den Irrenhäusern so häufigen Generale,
Napoleons, Millionäre, Weltreformatoren, Götter und Heroen, die
zahlreichen weiblichen Kranken, die von Königen geliebt werden,
die Kranken, die sich eines besonderen Verhältnisses zu und eines
nahen, innigen Umgangs mit dem Göttlichen rühmen u. s. w. Aber
alle diese Kranken gehören hierher nur insoferne und solange, als
diese Vorstellungen auf einer noch wirklich vorhandenen erhöhten
Griesinger, psych. Krankhtn. 16
[242]Symptomatologie des Wahnsinns.
Selbstempfindung beruhen, zu der sie sich auch hier wieder als
Erklärungsversuche verhalten.
Denn eine solche Bedeutung haben ursprünglich diese falschen Urtheile; der
Wahn, Napoleon zu sein z. B. will ursprünglich sagen, dass sich der Kranke
so thatkräftig fühlt, sich so sehr zutraut, Alles Grosse zu vollbringen, Allem
mit gehobener geistiger und physischer Macht so zu genügen, wie er es in seiner
eigenen früheren Persönlichkeit niemals auch nur von weitem vermocht hätte
und wie solches nur den seltenen grossen historischen Persönlichkeiten möglich ist.
Später wird häufig dieser affirmative Affect selbst schwächer, oder er erlischt
ganz und der Wahn bleibt doch zurück. Je mehr die gehobene Stimmung, das,
was ursprünglich mit dem Wahne erklärt werden sollte, schwindet, je mehr
desshalb der noch vorhandene Wahn zu einem blossen Worte wird, das für den
Kranken selbst keinen tieferen Sinn mehr hat, um so mehr tritt der Kranke in
einen anderen Zustand, in den der exaltirten Verrücktheit über.
So lange aber jene exaltirte Stimmung noch dauert und zu Erklärungsver-
suchen herausfordert, so lange kann man oft den Fortgang dieser Steigerung in
den Wahnvorstellungen sehr instructiv beobachten. Ein Kranker z. B., der
früher gemeiner Soldat war, äussert zuerst nur die Idee, Offizier zu sein,
nach einigen Tagen ist er General, bald der erste Feldherr des Jahrhunderts,
und wenn ihm diess noch nicht genügte, wenn auch diese Worte noch nicht hin-
reichen, um die Kraft, Freiheit und Wonne, die er in sich fühlt, zu bezeichnen,
so wird er Herr der ganzen Welt, Messias, Schöpfer, Gott, kurz er nimmt die
höchsten und letzten Ausdrücke seines Ideenkreises zur Bezeichnung seiner
imaginären Grösse zu Hülfe.
Auch hier aber wäre es im höchsten Grade irrig zu glauben, als ob etwa
der Kranke sich dieses Erklärens als solchen bewusst wäre, als ob er etwa
ruhig darüber nachdächte, was der Grund seiner Stimmung sein möchte. Keines-
wegs; plötzlich, in dämonischer Weise, steigen die Vorstellungen, durch die
Stimmung hervorgerufen, in ihm auf, und während er anfangs darüber, vielleicht
freudig, erschrocken oder schüchtern und zaghaft mit ihrer Aeusserung zurück-
halten kann, so dringen sie sich ihm doch so fix und beharrlich auf, dass er
bald an ihrer Realität keinen Zweifel mehr haben kann und ihnen zu Liebe nun
oft auf seine ganze geistige Vergangenheit verzichten, sein früheres Ich aufgeben
und dem Zeugniss der Sinne Trotz bieten muss.
Nicht ganz selten stellt sich, sobald diese Zustände einmal einen gewissen
Höhepunkt der Ausbildung erreicht haben, schon eine gewisse Schwäche der
psychischen Proeesse (zuerst meist als Abnahme des Gedächtnisses und Zer-
streutheit) ein. Damit aber hört der Kranke doch nicht auf zu phantasiren, nament-
lich über sein hohes Wohlgefühl; es ist aber dann oft, als ob er das hohe
Ross der Prahlerei und die Stelzen der Affectirtheit nur bestiege, um damit
sich selbst (und Andere) über die schon leise fühlbare, unaufhaltsam hereindrin-
gende Schwäche des Blödsinns zu täuschen, um durch eine Art krankhafter Arro-
ganz eine beginnende Leere und Blösse — freilich auch wieder nicht mit be-
wusster Absichtlichkeit — zuzudecken. Während dann allmählig die erwähnte
Störung des Vorstellens zu verschwommenen, faselnden Phantasieen in gross-
artigen Worten oder Zahlen wird, so ist es früher, bei noch energischer Acti-
vität der psychischen Processe, die Regel, dass einzelne dieser Wahnvorstel-
[243]Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.
lungen sich vollständig fixiren. Einzelne feste, consequente, beharrliche Gedanken-
bildungen drängen sich dann anhaltend in den Vordergrund des Bewusstseins,
beherrschen das ganze Denken und werden vorzugsweise in Rede und That geäussert,
woraus denn der Anschein eines nur partiellen Befallenseins des Seelenlebens
entstehen kann, während doch die eigentlichen Grundlagen eines vernünftigen
Bewusstseins, die normale Selbstempfindung und die richtige Ansicht von der eigenen
Persönlichkeit und deren Stellung zur Welt, durchgreifend alienirt und zer-
rüttet sind.
Von diesen fixen Ideen, welche den höchsten Grad subjectiver Gewissheit
für den Kranken haben, lässt er sich natürlich weder durch äussern Augenschein,
noch durch Gründe abbringen; nur Anfangs kommen zuweilen Remissionen vor,
in denen der Kranke manchmal für einige Zeit das Irrige seines Wahns auf
vorgelegte Gründe oder äussere Beweismittel hin zugibt, während er sich doch
dabei innerlich durchaus nicht von der Falschheit desselben überzeugen kann.
§. 117.
Anomalieen der Sinnesthätigkeiten, der Bewegungen
und des Benehmens. Hallucinationen und Illusionen, welche der
herrschenden Stimmung entsprechen, sind hier nicht selten, und sie
sind von viel schlimmerem Effect als in der Tobsucht. Dort werden
sie bald wieder vergessen, hier haften sie und nähren und verstärken
wesentlich die Wahnvorstellungen. Der Kranke sieht z. B. einen
Engel, der ihm eine Botschaft, vom Himmel bringt, er hört Stimmen,
welche ihn zu bestimmten Thaten auffordern, oder ihm ganz unver-
ständlichen Unsinn als göttliche Geheimnisse mittheilen; werthlose
Besitzthümer erscheinen ihm als Pretiosen und dergl. m.
Die Bewegungen der Wahnsinnigen zeigen durchaus nicht die
äussere Aufregung und stürmische Heftigkeit, wie die der rein Tob-
süchtigen. Es ist weit mehr äussere Ruhe vorhanden und die Auf-
regung meist eine äusserlich motivirte. Eine Unsicherheit der Muskel-
actionen komm tauch hier als erstes, an ein trauriges Ende mahnendes
Symptom einer beginnenden allgemeinen Paralyse nicht selten vor.
Entsprechend den bisher erörterten Störungen ist nun das Aeussere
und das Benehmen dieser Kranken. Einige treten auf mit der Mimik
des Stolzes, der Kraft, andere kommen dem Beobachter wie wortge-
schwollene Theaterhelden vor, noch andere zeigen ein in feinerer Weise
affectirtes, gnädiges, herablassendes Benehmen. Einzelne schmücken
sich phantastisch, Andere, namentlich Weiber, kleiden sich nur mit
ungewöhnlicher Eleganz, noch andere vernachlässigen ihr Aeusseres,
über ihren ausschweifenden Planen Alles vergessend. Die Kranken
befehlen gerne und wollen ungeduldig ihre Befehle schnell befolgt
wissen, sie sind begehrlich, freigebig und verschwenderisch; je nach
16*
[244]Vorkommen und
der Verschiedenheit der herrschenden Wahnvorstellungen machen sie
verschiedene Anstalten zur Realisirung derselben, es werden Schreiben,
Requisitionen, Proclamationen erlassen, grosse Einkäufe gemacht,
gnädige Handbillets ausgefertigt, Orden und Titel mit freigebiger
Hand ausgetheilt, es wird an weitläufigen Rechnungen und Bauplanen,
oder an Schriften und Broschüren zur Reform der Welt gearbeitet etc.
Einzelne Kranke sind äusserlich ganz ruhig, ihre Reden und ihr
Benehmen zeigen eine hohe, stille Freudigkeit, eine Art innerer,
verzückter Schwelgerei in Gefühlen; es sind damit meist Vorstel-
lungen einer innigen mystischen Verbindung mit dem Göttlichen,
messianische Ideen und dergl. mit (verborgen gehaltenen) Hallucinationen
— Engelsgestalten, Stimmen vom Himmel etc. — verbunden. Es ist
diess die schwächlichere, sentimentale Form des Wahnsinns, wie
solche namentlich bei Onanisten vorkommt. Auch hier aber kann
die schwärmerische Freudigkeit, wenn man dem Kranken entgegen-
tritt, durch heftige Zornausbrüche, oft mit Drohungen vor göttlichem
Gericht und feierlichen Prophezeihungen demnächst eintretender
schwerer Strafen, unterbrochen werden. Bei Weibern kommen ähn-
liche Zustände innerlicher Verzückung vor, deren Objecte sexuelle
Empfindungen und ideale Liebesverhältnisse sind, auch hier oft mit
zahlreichen, aber wohl verborgenen Hallucinationen.
Je nach dem Vorherrschen einzelner fixer Ideen oder auf Wahnvorstellungen
beruhender Bestrebungen hat man auch hier besondere Formen unterschieden und
benannt, Theomanie, Erotomanie etc.
Die übrigen Symptome haben, wiewohl auch hier die Gehirnkrankheit von
den zahlreichsten und mannigfaltigsten Störungen des Befindens begleitet sein
kann, doch nichts Characteristisches und die grösste Aehnlichkeit mit dem Ver-
halten bei Tobsüchtigen. Anfangs, bei acutem Auftreten, werden nicht selten
fieberhafte Zustände, später häufig Schlaflosigkeit, Verstopfung, Steigerung des
Geschlechtstriebs beobachtet.
§. 118.
Die Form des Wahnsinns entwickelt sich ganz, wie die Tob-
sucht, vorzugsweise aus einem vorausgegangenen Stadium melan-
cholicum. Anfangs ist der Exaltationszustand oft längere Zeit zwischen
beiden Formen unbestimmt; mit dem Fixirtwerden einzelner Wahn-
vorstellungen tritt der Kranke in einen wesentlich neuen Zustand
ein und es ist dieser, der confirmirte Wahnsinn, (aus oben gegebenen
Gründen) als eine weit schwerere Affection zu betrachten, denn die
Tobsucht. Je ruhiger der Kranke in seinem äusseren Benehmen
allmählig wieder wird, je mehr der Wechsel falscher Vorstellungen
[245]Verlauf des Wahnsinns.
zurücktritt und sich nur einzelne wenige, aber bleibende fixiren, je
mehr in der früheren Individualität des Kranken schon Eigenthüm-
lichkeiten lagen, welche eine baldige Durchdringung und Verfälschung
des Ich von ihnen begünstigen, um so weniger ist eine Rückkehr
aus dieser Traumwelt zu erwarten.
Im Verlaufe dieser Zustände treten mehr scheinbare, als wahre
Remissionen ein, sie bestehen mehr in äusserer Beruhigung, als in
innerem Nachlass, in einer stilleren Beschäftigung mit dem Delirium;
völlige Intermissionen kommen nur da vor, wo der Zustand noch
zwischen Tobsucht nnd Wahnsinn schwankt.
Der Kranke kann genesen; dann fällt es ihm oft wie Schuppen
von den Augen, er erwacht wie aus einem Traum und kann dann
nicht begreifen, warum ein einfaches Raisonnement in Bezug auf
seinen Wahn, das ihm jetzt ganz klar ist, während der Krankheit
durchaus keinen Eindruck auf ihn machen konnte. Jetzt ist er em-
pfänglich für Gründe, und es ist hier wirklich oft nöthig, dem Ver-
ständniss des Reconvalescenten durch Erklärungen und demonstratio
ad oculos nachzuhelfen, um die Wahnvorstellungen, die noch hier
und da auftauchen, aber von dem Kranken schon als Irrthümer er-
kannt werden, ganz zu entkräften. Ein völlig fixer exaltirter Wahn,
wenn er einmal über ein halbes Jahr gedauert hat, verschwindet
nicht leicht wieder; doch kommen auch hier einzelne Fälle vor, wo
nach mehrjähriger Dauer namentlich unter Entwicklung anderweitiger
Krankheitsprocesse der Wahnsinn allmählig verschwindet. Alle Zeichen
beginnender psychischer Schwäche, Abnahme des Gedächtnisses, neu
auftretende Verworrenheit etc. zeigen Unheilbarkeit an.
Genest der Kranke nicht, so bleibt er niemals sein ganzes künftiges
Lehen in dem Zustande hoher gemüthlicher Exaltation, der dem Wahn-
sinn eigen ist; der affirmative Affect, die gehobene Stimmung selbst
erlöschen vielmehr und es bleiben nur deren Producte, die fixen
Wahnvorstellungen zurück, mit Wiederkehr änsserer Ruhe und eines
besseren körperlichen Befindens. Oder der Kranke verfällt sogleich,
indem sich tiefere anatomische Läsionen in der Schädelhöhle gebildet
haben, in allmählig weiter schreitenden Blödsinn.
§. 119.
Von hohem Interesse ist die grosse Aehnlichkeit im Grundzustande,
den Aeusserungen und Ausgängen der maniacalischen Formen mit
den entsprechenden Verhältnissen der Alcoholnarcose, der Trunken-
heit. Schon in den Vorläufern beginnt oft diese Aehnlichkeit. Es gibt
[246]Analogie der Manie mit der Trunkenheit.
Trinker, bei welchen der Wein zuerst die Wirkung hat, dass sie
still, in sich gekehrt und verschlossen werden — ein übrigens
schwaches Analogon des vorausgegangenen melancholischen Stadiums.
Die wesentliche Wirkung der alcoholischen Getränke aber ist
eine Gereiztheit, eine Spannung aller psychischen Processe mit be-
sonders erleichtertem und freierem Streben. Anfangs ist die Gedanken-
folge rascher, die Farben der Phantasie sind lebendiger, die Rede
gefällt sich in schlagenden und überraschenden Wendungen, die Ideen
finden sich wie von selbst zusammen, das Sprechen geht leichter
und die Muskelwirkung ist energischer — diesem Verhalten entspricht
gewöhnlich die Stimmung der Heiterkeit, der psychischen Lust und
Kraft. — Später lässt sich der Angetrunkene ganz gehen; in Rede
und Handlung wird der Inhalt der präcipitirt vorüberlaufenden Vor-
stellungen unmittelbar und unmodificirt nach Aussen geworfen; früher
verborgen gehaltene Gedanken entschlüpfen ihm unwillkührlich, oder
er gefällt sich darin, Ideen von Selbstüberschätzung preiszugeben;
er zeigt Furchtlosigkeit, Muth, ein erhöhtes Selbstvertrauen, das
nicht selten zur Unverschämtheit wird, er renommirt gerne, er
wird freigebig und verschwenderisch, indem er sich selbst reicher
erscheint, als er ist, und häufig treten auch hier einzelne Neigungen
und Triebe mit besonderer Stärke und Rücksichtslosigkeit auf, z. B.
der Geschlechtstrieb, die Neigung zu metrischer Gestaltung der Rede,
zum Sprechen in fremden Sprachen (namentlich französisch), zum
Singen, Schreien, zu Raufereien etc. Er ist sehr reizbar, und wie
der Wahnsinnige, nimmt er nichts übler auf, als für krank (betrunken)
gehalten zu werden. Die Stimmung kann wechseln mit oder ohne
äussere Motive; zuweilen drängen sich dem Betrunkenen unwillkühr-
lich traurige Gedanken auf und er fängt an heftig zu weinen, bald
ist er zärtlich und sentimental, bald drängt das Bedürfniss gesteigerter
Kraftäusserung zu unbesonnenen, gefährlichen Thaten, zum Umsich-
schlagen und einem mässigen Toben. In diesem Zustande macht
oft eine stärkere psychische Erregung noch so viel Eindruck auf ihn,
dass er momentan zu sich kommen, ja dass der Rausch plötzlich
durch eine solche abgeschnitten werden kann.
Später tritt eine immer grössere Verworrenheit ein, es kommen
Hallucinationen und Illusionen vor, der Betrunkene wiederholt mecha-
nisch das früher Gesagte, das Gedächtniss nimmt ab und er ist zu
neuen Gedankenbildungen nicht mehr fähig, kurz er verfällt in einen
blödsinnigen Zustand. Und nun — man bemerke die auffallende
Aehnlichkeit mit dem Beginn der allgemeinen Paralyse — wird auch
[247]Beispiele von Wahnsinn.
zuerst die Sprache lallend, die Zungenbewegung unregelmässig, dann
nimmt die Energie der willkührlichen Muskeln gleichförmig ab, die
Beine tragen den Körper nicht mehr und es tritt ein Zustand von
Adynamie ein, ähnlich dem Verhalten des Nervensystems in einem
schweren Typhus oder in der allgemeinen Paralyse mit Blödsinn.
Denselben Gang im Grossen, nur viel langsamer nehmen die
Phänomene bei dem Irren, der aus einem anfänglichen Zustande von
Exaltation der Empfindungen und Affecte, der Gedanken und des
Willens mit dem Fortschritte der Gehirn-Erkrankung allmählig in
einen Zustand psychischer Schwäche mit Verlust der Herrschaft über
die Sprache und über sämmtliche willkührliche Bewegungen verfällt.
Beispiele von Wahnsinn.
XXXI. Kopfcongestionen. Schwermuth. Wahnsinn mit dem
Ausgange in Blödsinn. O., Officier, war in seiner Jugend gesund gewesen
und eine kräftige Constitution hatte vielen jugendlichen Ausschweifungen ohne
bemerkliche üble Folgen Trotz geboten. Er war immer reizbar, heftig, leicht-
sinnig, in seinen Reden unstet, so dass er, wenn er z. B. Geschichten erzählte, leicht
aus einer in eine andere überging, ohne die angefangene zu vollenden. Lange
Zeit lebte er sorglos dahin, allmählig stellten sich hypochondrische Beschwerden,
langwierige Stuhlverhaltung, blinde Hämorrhoiden mit trüber Stimmung ein und
diese änderte sich nicht durch günstige und willkommene äussere Verhältnisse.
Er erlitt einen Sturz mit dem Pferde mit starker Contusion am Kopfe und Quet-
schung am Schenkel und musste drei Monate lang in einer horizontalen Lage
verharren. Die mit der Hämorrhoidalkrankheit verbundenen Congestionen nach
dem Kopfe nahmen nun so zu, dass er häufigen Anfällen von Schwindel und Betäu-
bung unterworfen war und Dienstgeschäfte nur mit Anstrengung versehen konnte.
Dabei voller und langsamer Puls, gespannter Unterleib, roth aufgedunsenes
Gesicht, heftige Rücken- und Kopfschmerzen, Müdigkeit, schmerzhaftes Urin-
lassen und Verstopfung. Zugleich war er in steter ängstlicher Seelenspannung,
rang oft verzweiflungsvoll die Hände, verweigerte längere Zeit die Annahme von
Nahrungsmitteln und Getränk, fürchtete wegen Dienstvernachlässigung und grossen
Schulden, beide gleich imaginär, seines Dienstes entsetzt und gerichtlich verfolgt
zu werden u. dergl. Nach zwei Monaten besserte sich diess wieder, und nach
zwei weiteren Monaten zeigten sich die Seelenkräfte ganz frei.
Als ihn aber sein Arzt zu Anfang Novembers wieder besuchte, fand er den
sonst ängstlich genauen Mann in einer andern reich möblirten Wohnung mit
grossen neuen Anschaffungen beschäftigt, und bemerkte an ihm eine ungewöhn-
liche Volubilität der Zunge und Agitation des ganzen Körpers. Schon am andern
Morgen folgte die höchste wahnsinnige Exaltation. Er stand eben im Begriff, die
ihm beinahe unbekannte Tochter eines Offiziers vom höchsten Range zu besuchen,
um ihr Heirathsanträge zu machen. Schon hatte er einen neuen Wagen und
Pferde gekauft, um mit seiner Geliebten eine Reise durch ganz Europa zu unter-
nehmen; er war geadelt und eine Standeserhöhung folgte der andern auf dem
Fusse, er floss über von Wonnegefühl und von Begierde die ganze Welt zu
beglücken. Als diess Beginnen gehemmt wurde, kam es zu Wuthausbrüchen.
[248]Beispiele
Zu Ende November Aufnahme in Siegburg. Einige Verengerung der Pu-
pille, Unreinlichkeit, Anschwellung der Mastdarmgefässe, Schmerzen in den
Gelenken, Kopfcongestionen, frequenter Puls. Grosse Reizbarkeit und Zornmü-
thigkeit, Wahnvorstellungen vom Besitz ausserordentlichen Ansehens und hohen
Standes, übernatürlicher Kräfte, unerschöpflicher Reichthümer. Jeden Augenblick
verschenkt er die grössten Summen, tausend und zwanzig Millionen Louisd’or;
später behauptet er, er sei Gott der Vater; fragt man ihn aber, wer sein
Vater gewesen, so erwiedert er: Steuerrath, und es ist vergeblich, ihn auf das
Abgeschmackte dieser Zusammensetzung aufmerksam zu machen. Ein andermal
ist er im Himmel gewesen und hat dort eine wunderschöne Venus gesehen, und
am folgenden Tage war es schon ein Kreis von vielen hundert Venus, in deren
Mitte er sich daselbst befunden. Durch Gas wollte er alle Zimmer der Anstalt
zu unermesslichen Räumen erweitern, die Menschen zu ungeheuren Riesen ver-
grössern, die Todten auferwecken, namentlich aber mittelst tausenden von Luft-
ballons Armeen von tausend Millionen Regimentern durch die Luft transportiren.
Dabei schrieb er Contributionen aus, erliess Briefe, worin er über angebliche
Misshandlungen klagte und seinen General bat Siegburg zu stürmen u. dergl.
Nach zehnmonatlichem Aufenthalte in der Anstalt wiederholte Schwindel-
anfälle, allmählig die Symptome der allgemeinen Lähmung mit zunehmendem
Blödsinn; Schlaganfälle; Tod.
(Jakobi, Beobachtungen etc. 1. 1830. p. 372.)
XXXII. Wahnsinn mit Endigung in Blödsinn. J. U., 43 Jahre alt,
früher Offizier, hatte in seinem Benehmen schon längere Zeit eine gewisse Ha-
stigkeit, Unruhe und Reizbarkeit gezeigt. Im Winter 1824, während er noch
pünktlich seine Geschäfte verrichtete, fing er an sich mehr auf sein Zimmer zu-
rückzuziehen, diesem eine etwas phantastische Einrichtung zu geben und hier
kleinen Druck bei stärkerm Lampenlichte durch ein grosses Brennglas zu lesen.
Im Frühling deutlichere Aufregung des Gemüths, im Juli Vorstellungen von dem
Besitze ungeheurer Reichthümer und grossen Ansehens. Bald hielt er sich für
den Fürsten von Neufschatel, glaubte daneben ein grosser Maler zu sein, beschäf-
tigte sich den ganzen Tag mit Zeichnen und Illuminiren von Landschaften, wie
man solche von fünf- bis sechsjährigen Kindern verfertigen sieht und zeigte die-
selben den Anwesenden als grosse Meisterwerke vor.
Wenige Tage darauf Aufnahme in Siegburg. Enge Pupille, tiefer Eindruck
an der Nasenwurzel in Folge einer vor 25 Jahren erhaltenen schweren Ver-
letzung durch einen Sturz im Wagen, hastig stotternde Sprache, täglich mehrere
Stühle, der Puls weich, 95 bis 100 (Bad mit kaltem Regenbad), darauf starkes
Zittern; Abends ein Epilepsie-ähnlicher Anfall, darauf grosse Unruhe, heftiges
Herzklopfen und Beklemmung, starke Anschwellung der Hautvenen (Aderlass).
Am andern Morgen war er ruhiger, sehr heiter, spazirte unablässig umher;
seine früheren Lebensverhältnisse waren ihm ganz aus dem Gedächtniss [ent-
schwunden]. Später grössere Aufregung; er fängt an den Kopf mit seinem Urin
zu waschen und entschuldigt diess mit dem Beispiel der Hottentoten; er begehrt
oft, dass angespannt oder seine Reitpferde vorgeführt werden sollen und schlägt
den Wärter, wenn es nicht geschieht. Zuweilen schreit und brüllt er vor Wuth,
wenn man ihn an allerlei Unarten hindert. Gespanntere Züge, starrer Blick,
rötherer heisserer Kopf, etwas Schlaf in der Nacht (Bäder, Sal amar. c. tart.
stib. Aderlass, völlige Absonderung, sparsamere Kost, Tinct. digit., später Blut-
[249]von Wahnsinn.
egel und Kalomel). Zuweilen reibt sich der Kranke den Kopf mit seinem Kothe
ein, legt grossen Werth auf einen Haufen Kieselsteine, die er für Edelsteine
ausgibt, hält sich für bestimmt in einem prächtigen Aufzuge als Gesandter nach
Mexico zu gehen u. dergl.
Allmählig wird er indessen ruhiger, der Puls wird langsam, die Temperatur
normal, es bildet sich ein Abscess am After, der wieder heilt, er frägt, wie er
hiehergekommen sei und kann sich seiner Herreise und Ankunft durchaus nicht
erinnern. Er behauptet, dass seine Tochter, welche achtzehn Jahre alt sei, den
Sohn des ersten Bankiers an seinem Wohnorte heirathen werde und scheint
nur wenig betroffen, als man ihn zum Eingeständniss brachte, dass seine Tochter
erst vier und ihr angeblicher Bräutigam fünf Jahre zählte. Er schreibt nach
Hause, dass seine Frau, seine Schwäger und Schwiegereltern von dem Teufel in
die Hölle geworfen seien, dass Gott ihm den Stand des Londoner Curses geoffenbart
habe, dass seine Uhr und Uniform nach Mexico geschickt worden sei u. dergl.
Später äusserte er wieder, er sei der Fürst von Neufschatel und werde
nächstens den Heiligengeistorden erhalten. Durch meine Bemühungen, ihn auf
das Ungereimte dieses Vorgebens aufmerksam zu machen, liess er sich nicht
stören. Als ich ihm aber später auf seine Bitte, dass ich ihn doch nächstens
zu einem gemeinschaftlichen Freunde mit nach Bonn nehmen möchte, erwiederte,
dass ich nicht Zeuge davon sein möchte, wenn er sich durch Aeusserungen, wie
die vorhin erwähnten, vor jenem Manne comprommitire, sagte er mit Lebhaftigkeit,
er werde sich wohl hüten vor diesem dergleichen zu reden. Dann aber schrieb
er am folgenden Tage heimlich an seinen Commis und bat ihn dringend, ihm
doch zu sagen, ob er denn nicht der Fürst von Neufschatel sei, zugleich ihm
aber das Zeitungsblatt zu senden, in welchem die Nachricht von seiner Er-
nennung stehe. Daneben gab er Auftrag, ihm ein neues Haus für 75,000 Gulden
zu kaufen und dergl.
Nach mannigfachem Wechsel grösserer Ruhe und Besonnenheit mit neuen
Aeusserungen von Wahnsinn wurde der Kranke unter dem Gebrauch von Digita-
lis, Aqu. amygd. am., Blutegeln etc. ein halbes Jahr lang anhaltend frei von auf-
fallendem Irresein. Aber er verfiel in eine Herabstimmung und Erschlaffung der
intellectuellen Kräfte und des Gemüths; acht Tage nach seiner Entlassung kehrte
die Krankheit in ganz ähnlicher Weise wie zuerst zurück und U. musste später
einer Pflegeanstalt übergeben werden.
(Jakobi, Beebachtungen etc. I. 1830. p. 295.)
XXXIII. Schwermuth. Eine Gewaltthat in Folge einer melan-
cholischen Wahnvorstellung. Später Wahnsinn. A., 30 Jahre alt,
von sehr lebhaftem Character, war stets sehr heiter, und hatte von der frühesten
Jugend an immer seinen Willen gehabt. Er war sehr chrgeizig, und wollte im-
mer gern für eine ausgezeichnete Person gelten. Er liebt sehr die heftigen Be-
wegungen, wie die Jagd und Waffenübungen, und ist unglücklich, wenn er nicht
grossen Luxus machen kann.
Von seiner Geburt bis zum 5ten Jahre litt er an Convulsionen, in seinem
6ten Jahre an einer acuten Gehirnentzündung, die nach 10 Tagen geheilt wurde.
In seinem zwölften Jahre zeigte sich ein Leistenbruch, später litt er an Hals-
bräune, wozu sich Delirium gesellte. Während seiner Kinderjahre war er häufig
dem Schrecken ausgesetzt, da er damals gerade in der Vendée lebte. Seit dieser
[250]Beispiele
Zeit wurde er häufig aufs fürchterlichste erschreckt, jedoch ward seine Constitu-
tion zur Zeit der Pubertät kräftiger.
Nachdem A. lange Zeit eifrig und besonders auch des Nachts studirt hatte,
glaubt er, dass man ihm sein Leben verkürzen wolle, und fühlt schon die trau-
rigen Wirkungen des Giftes. Er fürchtet Alle, die sich ihm nähern, mit Aus-
nahme seiner Eltern, die zu demselben Schicksale, wie er, verdammt sind. Er
glaubt mit Dolchen und Pistolen Bewaffnete zu sehen, die ihn tödten wollen.
Manchmal fängt er an, heftig zu lachen, und wenn man ihn nach der Ursache
fragt, so antwortet er, dass er Stimmen höre, die ihn zum Lachen bringen. Er
fürchtet, dass man ihn für einen Narren hält, denn er hört jeden Augenblick, wie
die Stimmen um ihn: „Narr! Narr!“ ausrufen, und er fragt seine Eltern oft, ob
seine Augen nicht starr und verwirrt sind.
Eines Tages war er in einem Gasthofe zu D., wo er sich einen Barbier
bestellt hatte, der ihn rasiren sollte. Dieser bückt sich, um etwas aufzuheben,
A. hält ihn für einen Räuber, zieht die Pistole und schiesst ihn durch den Arm.
In Folge dieses Wuthanfalls nimmt A. fünf Tage keine Nahrung zu sich und
legt sich nicht zu Bette. Nach dieser Zeit kehrt der Schlaf wieder und der
Kranke ist, obgleich er noch immer Furcht hat, dennoch ruhiger und verständiger.
Jetzt wird er meiner Behandlung anvertraut. Das Gesicht des Kranken ist
sehr bewegt und belebt, sein Gang ist stolz, hochmüthig. In den ersten Tagen
will er gar nichts essen, nicht haben, dass man ihn rasire; er schläft nicht und
ist ungeachtet der lange fortgesetzten warmen Bäder sehr verstopft.
A. behauptet wegen seines Talents der erste Mensch der Welt zu sein, dass
man desshalb Anschläge auf sein Leben mache, weil man fürchte, dass er das
Weltall beherrschen wolle. Er ist Apollo und Cäsar und verlangt, dass alle
Welt ihm gehorchen soll; er ist in Verzweiflung, dass man die höchste Vernunft
mit der Narrheit verwechsle, und schreibt desshalb an alle Männer, die eine hohe
Stellung in der Welt einnehmen und selbst an den König. Jeden Augenblick
erwartet er die Befehle, die ihn in Freiheit setzen sollen, und droht mir mit allen
Strafen, sobald er frei sein wird. Er antwortet mit Unwillen auf alle Fragen,
die man an ihn richtet und sehr oft antwortet er gar nicht.
Es war nicht möglich, diesen Kranken zu überzeugen, dass er das Spiel-
werk seiner verwirrten Einbildungskraft sei, und dass sein Zustand der Hülfe
des Arztes bedürfe. Man will, sagte er, mir den Kopf mit Arzneimitteln verdrehen,
aber mein Kopf ist sehr stark und es wird nicht gelingen.
Mit Güte setzt man gar nichts bei ihm durch; will man irgend etwas anwen-
den, so muss man zum Zwange seine Zuflucht nehmen. Manche Augenblicke ist
der Kranke ruhig, liebenswürdig, unterhält sich angenehm, und man bemerkt
nicht die geringste Störung. Die Functionen des organischen Lebens sind nicht
im Geringsten gestört.
(Esquirol, Geisteskrankheiten von Bernhard. II. p. 8.)
XXXIV. Selbstschilderung eines Wahnsinnigen von seinem
Zustande. (Verschiedenartige exaltirte Stimmungen erregen den
wechselnden Wahn ausgezeichneter Persönlichkeiten.) Ein armer
Pfarrer, den die allzustrenge Beobachtung seiner Gelübde geisteskrank gemacht,
erzählt Folgendes von seiner Krankheit.
„Ich war in ein Haus gegangen, wohin mich meine Pflicht rief; beim Ein-
tritt in den Saal fielen meine Blicke auf zwei weibliche Personen. und diese
[251]von Wahnsinn.
machten auf meine Augen und meine Phantasie einen so lebhaften Eindruck, dass
sie wie erleuchtet und wie electrisirt erschienen: ich kannte den Grund eines so
sonderbaren Eindrucks nicht, schrieb ihn dem bösen Geiste zu und entfernte mich.
Ich wurde etwas ruhiger; aber während des Tages, da ich noch mehreren
Frauenzimmern begegnete, erfuhr ich dieselbe Verwirrung und dieselben Illusio-
nen. Am andern Tag trat ich eine Reise an; mehrmals kam es mir vor, als ob
der Wagen umschlagen wollte. Unterwegs erregten mir einige weibliche Per-
sonen wieder dieselbe Verwirrung und Illusion. Beim Mittagessen schien mir
Alles, Wein und Speisen, wie verwirrt, und wie wenn es sich herumdrehte.
Nun war ich überzeugt, dass der Geist der Verzauberung und der Illusion
mir überall folge, stand plötzlich auf und machte dem Wirthe Vorwürfe, den ich
auch mit im Spiele glaubte, und setzte mich schnell wieder in den Wagen.
Erinnerungen aus meiner früheren Lectüre bestärkten mich in meiner Ansicht,
vom Teufel besessen zu sein, und ich beschloss, ihn durch Fasten, Beten und
Exorcismen zu bekämpfen … Meine Lebhaftigkeit verwandelte sich in eine krie-
gerische Wuth, alle Erinnerungen an die Krieger, deren Geschichte mich in der
Kindheit am lebhaftesten berührt hatte, stiegen in mir auf. Meine Phantasie
trug mich in die Schlachten und Stürme, deren Geschichte ich gelesen; ich wollte
diese verschiedenen Charactere darstellen, bald Alexander, bald Achilles, bald
Heinrich IV. Mit dem ersteren hatte ich mich so assimilirt, dass ich sein Ge-
sicht, seinen Namen zu haben, es selbst zu sein glaubte; ich stritt um Kranikus,
ich siegte bei Arbela, ich belagerte Tyrus, und erstieg stürmend seine Wälle.
Das Bild der Tyrier, welche der Sieger am Meeresufer an Kreuze schlagen
lässt, stieg in meiner Phantasie auf. Bei diesem Anblick befiel mich Entrüstung
und Entsetzen, ich verabscheute den Character des macedonischen Helden und
wollte kein solches Ungeheuer mehr sein; über die traurigen Opfer seiner Grau-
samkeit befiel mich ein Mitleid und eine Wehmuth, wie wenn ich sie vor mir
gehabt hätte.
In einem zweiten Anfall kriegerischer Wuth lieh mir meine Phantasie den
Character des Achilles. Es schien mir, ich gürte seine Waffen um, seine Stimme,
sein Muth waren mir gegeben, ich forderte die Trojaner mit Schimpfreden heraus.
Dann wie es mir schien die Heere vor mir her treibend und vernichtend sah ich
mich plötzlich vor Priams Palaste. Ich erschien mir nun als Pyrrhus, fasste
und vereinigte die vier Säulen meines Bettes und warf sie gewaltsam gegen
meine Zimmerthür, die aus ihren Angeln ging. In höchster Freude, von dem
Stoss und dem Lärm begeistert, schrie ich: Troja ist gefallen! Priams Palast
steht nicht mehr!
Nun ward ich gebunden und schreckliche Bilder drängten sich vor mir. Ein
stinkender brenzlicher Geruch nach Eisen und Erz belästigte mich lange; ich
schritt durch die Ruinen des alten Roms etc. etc.
Als ich ruhiger und nun in Freiheit gesetzt wurde, empfand ich ein unbe-
schreibliches Glück; mir schien die ganze Natur, bisher gefangen, ihre Bande
gebrochen zu haben und nun mit mir der reizenden Freiheit zu geniessen …
Ich nahm den Character eines friedlichen Königs an; ich glaubte in meinen
Staaten alle Künste und Wissenschaften gedeihen zu lassen und selbst Malerei,
Sculptur, Architectur, Geometrie etc. zu verstehen. Mein Blick war so richtig,
meine Hand so sicher, dass ich die Plane mit dem nächsten besten Instrument
auf dem Boden oder die Wand mit merkwürdiger Genauigkeit zeichnen konnte.
[252]Beispiele von Wahnsinn.
Die Laune, die mich beherrschte, gab meinen Sinnen eine Lebendigkeit,
meinem Geist eine Schärfe und meiner Seele eine Grösse und Erhabenheit, die
etwas Ausserordentliches aus mir machten. Es war mir, als lese ich in den
Herzen der Menschen, die mir nahten, ihr Character entwickelte sich mir mit
überraschender Klarheit und da mich keine Rücksichten abhielten, so äusserte
ich Alles scharf und richtig.
Man wird sich vielleicht wundern, dass ich mich so vieler Umstände so wohl
erinnere, aber meine Phantasie war so thätig und lebhaft, dass alle Gegenstände
sich mit Feuerzeichen darin malten oder vielmehr sich eingruben …
(Leuret, Fragmens etc. Paris 1834. p. 282.)
XXXV. Anfälle von Wahnsinn, in der Art eines überspannten
Geschlechtstriebes. Besonnene Selbstvertheidigung des Kran-
ken (Folie raisonnante mit wahnsinnigem Anstrich). Ein gewisser
D. wurde in Paris mehrmals verhaftet und achtmal in Irrenhäuser gebracht, jedes-
mal wegen derselben Veranlassung. Er wurde nämlich jedesmal betroffen, indem
er den vornehmsten Damen Briefe schmutzigen Inhalts schrieb oder sich in deren
Wagen oder in ihr Haus eindrängte. Briefe und Schriften voll empörender Ob-
scönität, welche den Titel Heldengedichte führen und unzusammenhängende Vor-
stellungen, bizarre Ideen, Associationen, lächerliche Wortspiele enthalten, richtete
er an Madame Bonaparte, an Mademoiselle Beauharnais, an viele andere Her-
zoginnen, Ladys und Prinzessinnen. Seine Liebeserklärungen bestanden in den
Ausdrücken der ekelhaftesten Wollust und in der garstigsten Schilderung der Lust,
welche er vorgeblich in den Armen jener Personen genossen habe.
Dabei benahm er sich äusserlich so ruhig und besonnen und schweifte so
wenig von der Rede ab, dass über sein Irresein mehrmals die grössten Zweifel
entstanden. Marc, Esquirol, Ferrus erwiesen indessen in einem hierüber ausge-
stellten Gutachten die Realität des Irreseins. Jedesmal wusste er die ihm schuld-
gegebenen Vergehen mit der grössten Zuversichtlichkeit zu läugnen, sein Beneh-
men zu beschönigen, und sich als einen ganz unschuldiger und widerrechtlicher
Weise Verhafteten darzustellen. Einmal machte er folgende Reclamation.
„Vor fünf Wochen wurde ich willkührlich verhaftet und bin noch in dem
Gefängniss La Force eingesperrt, ohne alle Rücksicht auf die scandalöse Verletzung
der Menschenrechte eines Ehrenmannes, welcher wegen seiner stets bewiesenen
Loyalität und Vernunft und wegen seines unbescholtenen Lebenswandels in allen
Verhältnissen wohl bekannt ist.
„Ich lustwandelte um jene Zeit an einem Mittwoche allein in den Elysäischen
Feldern zwischen 2 und 3 Uhr, als es durch ein mit meinem Loose verknüpftes
Missgeschick sich fügte, dass auch Madame ** daselbst sich ergieng, welches
sie, wie ich glaube, ausserdem fast niemals zu thun pflegt. Sie war blos von
einem Stallmeister, einem Officier und einer Dame begleitet. Kaum hatte ich sie
bemerkt, als ich mich in eine sehr ehrerbietige Entfernung nach einer Seitenallee
der Hauptallee zurückzog, in welcher sie sich befand. Daher war ich stets über
50 Schritte von ihr während ihrer Promenade entfernt, welche etwa eine Viertel-
stunde währte, obgleich die Vorübergehenden sie nicht zu belästigen schienen,
als dieselben sie beim Spazieren umringten, und sich um sie beim Einsteigen in
den Wagen am Ende der Elysäischen Felder zur Seite des Platzes Ludwigs XVI.
gruppirten. Was mich betrifft, so befand ich mich zuletzt über hundert Schritte
von ihr entfernt.
[253]Die psychischen Schwächezustände.
„Wie sehr musste es mich daher befremden, dass der Stallmeister, anstatt
in den Wagen zu steigen, in Begleitung des Officiers gerade auf mich zuging,
auf mich, der ich ganz allein und weit entfernt mich befand! Ich konnte nicht
glauben, dass er mir auf öffentlicher Strasse einen hinterlistigen Streich spielen
werde, und dennoch that er es; er trat auf mich zu, in der Hand ein Papier
haltend, welches einem noch versiegelten Briefe glich, und beschuldigte mich,
dasselbe so eben inmitten der den Wagen umringenden Menge der Madame **
überreicht zu haben, mit dem Hinzufügen, dass der Brief beleidigenden Inhalts
und von meiner Hand unterzeichnet sei. Ich erwiderte ihm, dass ich nicht
verstünde, was er mir sagte, dass ich den Herrn Officier zum Zeugen nähme,
mich nicht in der Gruppe befunden zu haben, und dass ich demselben weder ein
Papier noch einen Brief eingehändigt habe, welches dieser auch bestätigte. Daher
erklärte ich ihm, dass ich ihn nur für einen Verläumder halten könne. — Dessen-
ungeachtet forderte er den Officier auf, mich zu verhaften; letzterer verweigerte
diess anfangs, und fügte sich erst seinem Ansinnen, nachdem zwischen ihnen
ein Wortwechsel stattgefunden hatte. Ich glaubte nicht, mich gegen eine so
willkührliche und scandalöse Verhaftung zur Wehre setzen zu dürfen, es für meine
Pflicht haltend, mich im Vertrauen auf die Loyalität der Regierung zu unter-
werfen, um so mehr, als die von jeher bekannte Loyalität meines Characters
mir stets den Sieg über jedes Complott verschaffen muss, welches gegen meine
Person geschmiedet werden könnte. etc.“
Diese Zuversichtlichkeit, sagt Marc, kann entweder aus einem wirklichen
Vergessen der Anfälle von Irresein entspringen, oder er findet das systematische
Läugnen seinen Interessen dienlich.
(Marc, die Geisteskrankheiten etc. von Ideler. I. p. 23.)
Dritter Abschnitt.
Die psychischen Schwächezustände.
§. 120.
Wir begreifen unter diesem Capitel eine Reihe krankhafter Seelen-
zustände, welche bei grossen Verschiedenheiten im Einzelnen, doch
zusammen eine natürliche Gruppe bilden. Schon dadurch stehen sie
sich alle sehr nahe, dass sie (mit wenigen, bald zu bezeichnenden
Ausnahmen) kein primäres, sondern ein consecutives Irresein bilden,
dass sie als Reste und Residuen der bisher betrachteten Formen,
wenn diese nicht geheilt werden, zurückbleiben. Ferner dadurch,
dass hier das psychische Grundleiden nicht mehr, wie in der Schwer-
muth und Manie, in herrschenden Affecten beruht, welche secundär
das richtige Vorstellen beeinträchtigen, sondern die Störungen der
Intelligenz an sich selbst, bei zurückgetretenen oder ganz abwesenden
[254]Allgemeines über die psychischen Schwächezustände.
Affecten, die Grund-Anomalie bilden (§. 26.). Diese Störung der
Intelligenz trägt entweder ganz offen den entschiedenen Character
der Schwäche an sich, der sich beim eigentlichen Blödsinn in
der Energielosigkeit des Vorstellens, dem Mangel der normalen Ge-
danken-Reproduction (Verlust des Gedächtnisses) und jeder gesunden
Combination äussert und bis zum gänzlichen Auseinanderfallen des
geistigen Lebens gehen kann, womit zugleich Schwäche auf der moto-
rischen Seite des Seelenlebens, Energielosigkeit oder völliger Verlust
des Willens und Gemüthsschwäche, ein stumpfes Beharren des psy-
chischen Tonus aus Mangel an Reactionsfähigkeit oder ein Wechsel
nur oberflächlicher Reactionen gegeben ist. Oder jener Character psy-
chischer Schwäche ist gewissermassen verdeckt durch das Herrschen
einzelner Wahn-Vorstellungen, in deren starrem Festhalten der ganze
Rest psychischer Kraft aufgeht, hinter denen aber im Bewusstsein
nur eine leere Oede liegt. Aus dieser Leere erheben sich keine
Vorstellungen mehr, die den Wahn anfechten und umstossen könnten;
ungeachtet er nicht mehr von einem herrschenden Affecte gehalten
und getragen wird, bleibt der Wahn hier fix wegen Lückenhaftigkeiten
des Denkens, die dann gewöhnlich nicht bloss das eng umgrenzte
Gebiet der fixen Wahn-Vorstellungen betreffen, sondern nur Theil-
Erscheinungen einer allgemeinen Herabsetzung und Verödung aller
psychischen Processe sind. Insoferne glauben wir die partielle Ver-
rücktheit zu den psychischen Schwächezuständen zählen zu müssen.
Alle diese Zustände zeigen nicht mehr die Wandelbarkeit der
bisherigen Formen und jene Activität des krankhaften Processes, in
der sich so sichtbar das Schema des thätigen, gesunden Seelenlebens,
geistige Verarbeitung und Combination (namentlich nach dem Causa-
litäts-Gesetze) erkennen liess. Die falschen Vorstellungen beruhen viel-
mehr hier, sofern sie nicht eben aus einer früheren Periode herüber
genommen sind, zum grössten Theile auf Zusammenhangslosigkeit und
Schwäche des Denkens, oder in der partiellen Verrücktheit auf affect-
losen Hallucinationen und auf einer immer weiter durchdringenden
Ausbreitung der früher gebildeten Wahn-Vorstellungen über den ganzen
möglichen Inhalt des Vorstellens. Alle diese krankhaften Zustände sind
(wieder mit wenigen Ausnahmen), wo sie nicht durch den Tod ab-
gekürzt werden, von sehr chronischem Verlauf und gemeinhin nur
nach einer Seite hin noch einer Veränderung und eines Wechsels
fähig, nemlich insoferne die psychische Schwäche immer tiefer wird.
Doch bleiben sie oft lange Reihen von Jahren gänzlich stationär;
einer vollständigen Heilung sind sie nicht mehr fähig.
[255]Primäres Vorkommen psychischer Schwäche.
§. 121.
Wir bekommen also hier zwei grössere Gruppen von Zuständen,
die Verrücktheit und den Blödsinn. In Bezug auf die erstere
verweisen wir auf die folgende nähere Schilderung derselben; in der
Form des Blödsinns unterscheiden wir wieder zwei Abtheilungen, die
eine mit Verworrenheit, aber noch grösserer, wenn gleich nur ober-
flächlicher Thätigkeit des Vorstellens, gewöhnlich auch mit einiger
äusseren Agitation, (die Verwirrtheit, Démence), die andere mit
höchster Trägheit des Vorstellens bis zu völligem Aufhören desselben
und mit äusserer, apathischer Ruhe (den apathischen Blödsinn.) Ueberall
haben wir dabei nur den erworbenen Blödsinn im Auge, d. h.
denjenigen, welcher bei Menschen vorkommt, welche früher geistes-
gesund waren, und wir schliessen als nicht zu dieser Erörterung
gehörig, den angeborenen oder in den ersten Lebens-Perioden ent-
standenen Blödsinn, die verschiedenen Grade des Idiotismus (vom
tiefsten Cretinismus bis zur einfachen Albernheit) aus.
Solcher erworbene Blödsinn nun, als eigene Form des Irreseins
betrachtet, kann allerdings primär, d. h. ohne dass ihm eine andere
Form psychischer Krankheit oder eine anderweitige schwere Gehirn-
krankheit vorausgegangen wäre, entstehen, z. B. als Geistesschwäche
des hohen Alters oder einer frühzeitigen Decrepidität, oder bei lang-
samer Entwicklung von Geschwülsten in der Schädelhöhle etc. Was
indessen die Fälle betrifft, welche von vielen Schriftstellern als acut
entstandener, heilbarer, primärer Blödsinn beschrieben werden, so
gehört gewiss deren grosse Mehrzahl zur Melancholie mit Stupor,
bei deren Beschreibung schon auf die leichte Verwechslung mit wirk-
licher psychischer Schwäche und auf die Unterscheidungsmerkmale
beider aufmerksam gemacht wurde. (§. 101.) Doch kommen unzweifel-
haft theils Mittelzustände zwischen melancholischem Stumpfsinn und
wirklichem Blödsinn, theils entschiedene Fälle primären, acuten und
heilbaren Blödsinns vor und wir wollen diess ausdrücklich durch An-
führung eines interessanten Beispiels bekräftigen, eines Falles, wo
der Blödsinn höchst wahrscheinlich durch Gehirn-Oedem in Folge
eines Druckes auf die Hals-Venen entstand.
XXXVI. Mehrwöchentlicher blödsinniger Zustand ohne
Rückerinnerung desselben nach einem Strangulations-
versuche. Ein 25jähriger kräftiger Gefangener erhängt sich; fast unmittelbar
nach Abnahme des Körpers zeigen sich Lebensäusserungen, das Bewusstsein
kehrt zurück; Patient gibt, anscheinend ganz ruhig und vernünftig, die Geschichte
seines Lebens und seine Motive (Lebensüberdruss) an. Am folgenden Tage ist
[256]Secundäres Vorkommen des Blödsinns.
er still und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte rollende
Augen, Krämpfe der Schläfe, der Kaumuskeln und der Augen, Greifen nach dem
Kopf, starres, lebloses Gesicht, wie eine Bildsäule. Kein sinnlicher Eindruck
scheint percipirt zu werden, nur sehr starker Schall bewirkt leichte Zuckungen
der Gesichtsmuskeln, er geht herum und isst, ohne Empfinden oder Begehren aus-
zudrücken. Nach 3 Wochen wird Patient in eine Heilanstalt gebracht, und nach
einigen weiteren Wochen erwacht er. Er erinnert sich vollkommen der Zeit
und Umstände, die dem Hängen vorangegangen waren, bis zum Eintritt der Be-
wusstlosigkeit, und beschreibt den lebhaften Kampf seiner Gefühle zwischen Ent-
schluss und Ausführung, und die Empfindungen im Momente des Hängens, Ohren-
singen und Augenfunkeln. Von diesem Augenblicke an ist alle Erinnerung seiner
persönlichen Existenz bis zur Stunde seines Erwachens in der Heilanstalt ver-
schwunden; auch die Wiederbelebung nach dem Hängen und der mehrstündige
Besitz des Bewusstseins war ihm ganz unbewusst. Das zweite Wiedererwachen
erfolgte plötzlich; eines Tages im Hofraume erwachte in ihm die Vorstellung von
den ihn umgebenden Gebäuden, welche Erinnerungen anderer ähnlicher Gegen-
stände in ihm weckte. Von jetzt an regelten sich schnell die Geistesthätigkeiten
und die Gesundheit. —
(Meding. In Siebenhaar, Magazin für die Staatsarzneikunde. I. 1842.)
Unendlich viel häufiger entsteht der erworbene Blödsinn con-
secutiv, d. h. nachdem ihm die Symptome einer andern schweren
Gehirn-Krankheit (Epilepsie, acute Meningitis, typhöses Gehirn-
Leiden etc.), und ganz besonders, nachdem ihm andere Formen
des Irreseins vorausgegangen sind. Er bildet den endlichen traurigen
Ausgang aller ungeheilt gebliebenen Geisteskrankheiten, der Melan-
cholie, der Manie und der Verrücktheit, und merkwürdigerweise geht
auch dem senilen Blödsinn nicht selten eine Periode der Exaltation,
ein kurzes Stadium maniacum voraus, das sich durch grosse psychische
Reizbarkeit, durch einen neu erwachenden Hang zur Thätigkeit,
durch wieder eintretenden Geschlechtstrieb (Heirathenwollen etc.) und
Neigung zu spirituosen Getränken characterisirt; diesem folgt dann ent-
weder ein schneller psychischer Collapsus oder solche kürzere Exal-
tations-Perioden wechseln mehreremale mit der eintretenden Schwäche.
Auch in der Reconvalescenz-Periode namentlich von heftiger Tobsucht
stellt sich nicht selten ein Zustand tiefer psychischer Schwäche ein;
er verhält sich zum wahren Blödsinn, wie eine starke, lange dauernde
Ermüdung zur wirklichen Paralyse.
Nicht ganz selten, wiewohl bis jetzt wenig beachtet, ist ein
Seelenzustand mit dem Character mässiger Schwäche, welcher zu-
weilen, nach scheinbarer Genesung aus andern Formen, z. B. aus
der Manie eintritt und dann für immer zurückbleibt. Bei den so
Genesenen ist wieder völlige Gemüthsruhe eingetreten, sie können
auch wieder formal richtig denken und urtheilen, das Gedächtniss
[257]Mildeste Form der Schwächezustände.
ist kaum oder gar nicht versehrt, ihre Reden sind ganz zusammen-
hängend und verständig. Dennoch sind sie nicht mehr die früheren
Menschen; es ist als ob von ihrer geistigen Individualität gerade das
Beste und Werthvollste abgestreift wäre, das feinere sittliche und
ästhetische Gefühl, das sie früher hatten, das Interesse für den
höheren geistigen Gehalt des Lebens, die Schönheit und der Adel
der menschlichen Natur. Ihr Denken und Streben bewegt sich von
nun an in einem beschränkten Kreis, und zwar in der Sphäre der
unmitelbaren Bedürfnisse und Sorgen des sinnlichen Daseins, und
während sie in diesem Kreise verständig, mit ziemlicher Lebhaftig-
keit, vielleicht mit mässigem Witze schalten, ist ihnen jeder geistige,
ideale Gehalt des Lebens und jede darauf zielende Betrachtung und
Bestrebung fremd geworden. Man könnte sie für ganz gesund halten,
— da es ja Menschen genug gibt, die solcher Art von Hause aus
sind — wenn man nicht ihr früheres Leben kennen, und wenn nicht
in manchen Fällen eine auffallende Umänderung der Physionomie
und des ganzen Habitus zum Stumpfen, Blöden, leise Thier-ähnlichen
auf eine durchgreifende Umwandlung hindeuten würde. Sie sind nun
ferner brauchbar zu einfachen, mechanischen Beschäftigungen, in
denen sie Sorgfalt und Verstand zeigen können, sie selbst verlangen
nichts weiter mehr, als das, was zur Befriedigung einfacher, sinn-
licher Bedürfnisse genügt. Lässt man solche Genesene aus dem
Irrenhause ins Leben zurückkehren, so sind sie in grosser Gefahr
neuen, schwereren Irreseins oder eines allmähligen Fortschritts der
geistigen Stumpfheit. In den Pflege-Anstalten führen sie oft viele
Jahre lang ein relativ gesundes, ruhiges und arbeitsames Leben.
Man hat solche Zustände als die allermildeste Form des Blöd-
sinns zu betrachten. In allen höheren Graden fällt natürlich jeder
Schein von Reconvalescenz weg und die zunehmende Abstumpfung
bleibt nicht auf die feineren und delicateren psychischen Gebiete
beschränkt. Häufig nimmt nun das ganze geistige Leben den Character
wieder an, den es in der Kindheit hatte, wobei am auffallendsten die
Fähigkeit zu allem abstracten Denken verloren gegangen, in manchen
Formen dagegen (namentlich der Verwirrtheit) eine gewisse ober-
flächliche und zusammenhangslose Lebendigkeit und Beweglichkeit
des Vorstellens zurückgeblieben ist. Der Mangel aller Tiefe — weil
eben nur relativ wenige und beschränkte Massen von Vorstellungen
vorhanden sind, welche zu durchdringen wären — die Freude an
Tand und Spielwerk, das zum Stoffe für ein oberflächliches Phanta-
siren wird, und das nackte, durch keine Reflexion gehinderte Hervortreten
Griesinger, psych. Krankhtn. 17
[258]Symptomatologie der Verrücktheit.
der eben vorhandenen Stimmung (Lachen, Herumhüpfen, Weinen etc.)
haben viele dieser Zustände mit dem Kindes-Alter gemein. So sind
auch viele dieser Kranken wie hülfsbedürftige Kinder zu behandeln
und zu leiten, können noch durch Milde oder Strenge zu leichteren,
mechanischen Arbeiten angehalten und durch methodische Ordnung
und Zucht in den Aeusserungen ihrer Verworrenheit beschränkt und
vor tieferem Versinken oft noch lange Zeit bewahrt werden.
Diese Kranken, die Verrückten und Blödsinnigen, bilden die
grosse Majorität aller Irren, namentlich sind die Pflege-Anstalten für
chronische Fälle fast ausschliesslich von ihnen bevölkert. Wenn nur
die psychologische Kenntniss dieser Zustände in irgend annäherndem
Verhältnisse stünde zu der vielfachen Gelegenheit sie zu beobachten!
Aber die individuellen Verschiedenheiten sind hier noch grösser,
als bei den vorigen Formen, sie sind nicht zu zählen und nicht
zu beschreiben. Man muss sich mit Aufstellung und Schilderung einiger
Haupttypen begnügen.
Erstes Capitel.
Die partielle Verrücktheit.
§. 122.
Wir begreifen hierunter jene secundären Zustände von Irresein,
wo auch mit bedeutender Abnahme und nach gänzlichem Erlöschen
des ursprünglichen krankhaften Affects das Individuum nicht genesen,
sondern in der Weise erkrankt geblieben ist, dass es nun am auf-
fallendsten in einzelnen fixen Wahn-Vorstellungen, die mit besonderer
Vorliebe gepflegt und stets wiederholt geäussert werden, delirirt, —
immer also eine secundäre, aus der Melancholie oder Manie heraus-
gebildete Krankheit. Wir halten den von Esquirol eingeführten, von
ihm aber in wesentlich anderem Sinne gebrauchten Namen der Mo-
nomanie (§. 40.), wenn er überhaupt für eine besondere Form der
Geisteskrankheiten beibehalten werden soll, für vorzugsweise geeignet
zur Bezeichnung dieser Zustände. Das Studium der psychischen Vor-
gänge bei diesen Kranken scheint uns bis jetzt auffallend vernach-
lässigt und das Bild der Krankheit durch anecdotenartige Auffassung
vielfach getrübt und verfälscht. Wir wollen versuchen, das zu schil-
dern, was uns die Beobachtung ergab.
Anomalieen der Selbstempfindung, der Triebe und des
Wollens. Der Uebergang der Melancholie und Manie mit Wahn-
[259]Gemüths-Störungen.
Vorstellungen in diese Zustände geschieht immer allmählig. Oft sehr
langsam, mit Schwankungen von mehrjähriger Dauer tritt der Zustand
negativen oder affirmativen Affects, in dem sich die Kranken befanden,
zurück, ein ganz chronischer Zustand abgeschwächter melancholischer
oder maniacalischer Gemüths-Erregung bleibt aber oft lange bestehen,
und erst spät erlischt auch dieser gänzlich, mit Zurücklassung einzelner
Wahn-Vorstellungen. Mit dem Schwächerwerden des Affects stellt
sich die äussere Besonnenheit allmählig wieder her; an die Stelle
der oft früher vorhandenen Verworrenheit des Vorstellens, der ge-
hemmten Spannung oder der convulsivischen Erschütterung und Los-
gelassenheit des Strebens tritt wieder ein gleichmässigerer Fluss der
psychischen Thätigkeit. Allmählig stellt sich ein äusseres Gleich-
gewicht ganz oder fast ganz wieder her, indem mit dem Erlöschen der
Affecte das Gemüth sich vollständig beruhigt hat.
Aber diess ist nun nicht mehr das Gleichgewicht des früheren,
gesunden Lebens. Es hat sich allmählig ein neuer mittlerer Stand
des psychischen Tonus, ein neues Gemüth und ein neuer Character
gebildet; die Kranken sind jetzt — nicht etwa die vorigen Menschen
plus einige Irrthümer oder eine einzige Wahn-Vorstellung; sie sind
durch und durch andere geworden. Diese durchgreifende Veränderung,
welche natürlich da am deutlichsten sich zeigt, wo der allgemeine
melancholische Schmerzzustand, die allgemeine maniacalische Exal-
tation nunmehr gänzlich erloschen ist, besteht wesentlich in Ab-
stumpfung und Schwäche aller psychischen Reactionen, in Gemüths-
leere, Gleichgültigkeit und verminderter Energie des Willens. Keiner
dieser Kranken ist derselben Theilnahme an der Aussenwelt, der-
selben Liebe und desselben Hasses mehr fähig, wie früher; Freunde
und Verwandte können sterben, das Liebste, was der Kranke früher
hatte, kann zu Grunde gehen, das froheste Ereigniss kann seiner
Familie wiederfahren — er wird höchstens in ganz oberflächliche
unangenehme oder angenehme Erregung gerathen, oder er wird über
die Sache, wie über eine unwillkommene Störung, schnell hinweg-
gehen oder er wird gar nicht darauf reagiren. Nur von Einer Seite
kann der psychische Tonus noch immer schnell bestimmt und ver-
ändert, können Gemüths-Affecte und Willensreactionen noch immer
schnell hervorgerufen werden: man berühre ernstlich den fixen Wahn,
man trete seiner Aeusserung mit Raisonnement, seiner Geltendmachung
mit Gewalt entgegen, sogleich wird der Kranke zornig, heftig werden;
man schmeichle dem Wahne, und er wird sich freuen.
17 *
[260]Symptomatologie der Verrücktheit.
Die Möglichkeit affectvoller Zustände ist also nicht aufgehoben,
aber nur Eine Gruppe von Vorstellungen ist noch mächtig genug,
um solche entstehen zu lassen. Die vorherrschende Stimmung ist
zwar im Ganzen eine der Wahn-Vorstellung entsprechende, doch
schon in abgeschwächtem Masse, und in den höheren Graden der
Verrücktheit herrscht oft eine so völlige Gleichgültigkeit, dass der
Kranke sich beharrlich fort, ohne alle Spur von Gemüthserhebung
für den Beherrscher der Welt, den Besitzer aller irdischen und
himmlischen Dinge, für Gott etc. zu erklären vermag. Die psychische
Reaction auf alle andern Erregungen, als die mit dem Wahne in
Connex stehenden, scheint desswegen überhaupt so schwach zu sein,
weil einmal das vorstellen, so weit es sich nicht auf den Wahn be-
zieht, im Ganzen seine Energie eingebüsst und eine tiefere Ab-
stumpfung erlitten hat, sodann weil häufig viele Vorstellungsmassen, die
dem früheren Leben des Kranken angehört hatten, nun völlig ausgelöscht,
vergessen sind oder von dem Kranken gar nicht mehr als seine eigenen an-
erkannt werden. Es ist derselbe Umstand, der auch auf dem Gebiete
der Intelligenz selbst dem Kranken nicht erlaubt, das Irrige seines
Wahns einzusehen. Denn nicht so verhält es sich hier, wie im ge-
sunden Leben, wenn eine herrschende Idee, ein treibender Gedanke
die übrigen Vorstellungen momentan verdunkelt und niederhält. Hier
ist immer noch die Möglichkeit der entgegengesetzten Vorstellungen,
des Zweifels, des Schwankens vorhanden. Dem Verrückten aber,
ungeachtet er nicht mehr im Zustande des Affects sich befindet,
welcher früher die Erkenntniss des Irrthums unmöglich machte, unge-
achtet er in der That mit dem ihm gebliebenen Reste zuweilen
formal richtig raisonnirt, ist gar keine Möglichkeit des Zweifels an
seinem Wahne mehr gegeben. Dass sich die fixen Vorstellungen in
ihrem Zuge gar nicht mehr stören lassen, kommt jetzt daher, dass
ihnen gar kein Gegengewicht, gar kein innerer Widerspruch mehr
entgegentritt, und diess scheint ebenso sehr auf einer allgemeinen
Abschwächung des früher möglichen Vorstellens, als auf der Aus-
löschung einzelner Reihen gesunder Vorstellungen zu beruhen. So
mag der Grund der Unmöglichkeit, den Wahn als solchen einzusehen,
und wieder die allgemeine Gleichgültigkeit und verminderte psychische
Reaction auf denselben psychischen Mängeln begründet zu sein.
In ähnlicher Weise verhält sich die Sache auf der motorischen
Seite des Seelenlebens. So lange noch leise melancholische und
maniacalische Gemüths-Erregungen übrig sind, hat das Streben im
Allgemeinen den Character dieser Zustände, und es werden dann
[261]Gemüths-Verstandes-Störungen.
theils ein einseitiges Festgehaltensein in Einer negativen Richtung
(z. B. anhaltende Neigung zu ruhigem Zerstören lebloser Dinge, Klei-
derzerzupfen, Papierzerreissen etc.), theils eine unruhige Geschäftig-
keit im Sinne der Wahn-Vorstellungen, theils vorübergehende tob-
süchtige Anfälle beobachtet. Später aber tritt auch auf der Seite
des Strebens ein mittlerer oder höherer Grad allgemeiner Schwäche
ein; Einzelne können von früher her gewohnte, mechanische Beschäfti-
gungen fortsetzen, wie z. B. Prof. Titel, der sich für den römischen
Kaiser hielt, ein Collegienheft noch ablesen; oder sie können leichte,
manuelle Arbeiten verrichten; aber es ist keine Rede mehr von einem
Bedürfnisse gesunder Thätigkeit und sogar das der Wahn-Vorstellung ent-
sprechende Treiben, das Briefe-Schreiben, Proclamationen-Erlassen etc.
wird immer energieloser und seichter, und in den höchsten Graden
bleibt nur noch die schwächlichste Geschäftigkeit, das Handthieren
mit Kieselsteinen, Lumpen, Papier etc. übrig.
Allerlei grillenhafte Neigungen, wie solche auch innerhalb der früher
abgehandelten Formen vorkommen, beobachtet man ganz besonders bei
den partiell Verrückten, wo sie zu fixen Gewohnheiten werden. Einige
suchen sich immer mit Wasser zu thun zu machen, andere wollen immer
die Schuhe ausziehen, andere zeigen eine besondere Vorliebe für ein-
zelne Orte oder Winkel, wo sie sich immer aufhalten; Einige wollen gar
nicht sprechen, andere schreien, singen, declamiren gern oder wollen
immer die Wand bemalen; Andere lieben es sich mit Stroh, mit
Fetzen und Lumpen auffallend zu putzen, Andere wollen die Nägel
beständig wachsen lassen, noch Andere verüben immer boshafte
Streiche, machen immer sonderbare Geberden etc. Oft hat dieses Treiben
einen besonderen, geheimen Sinn für den Kranken oder es geht
überhaupt aus einzelnen mit dem Wahne zusammenhängenden Stim-
mungen hervor; anderemale ist es rein automatisch, der Verrückte
weiss selbst keinen Grund dafür anzugeben und wird zornig, wenn
man solchen wissen will, in derselben Weise, wie der Gesunde
ärgerlich wird, wenn man ihn um den Grund von grillenhaften Ge-
wohnheiten (Nägelkauen, allerlei unnöthigen Bewegungen mit den
Händen etc.) fragt.
§. 123.
Unter den Anomalieen des Denkens bei den partiell Ver-
rückten fällt zuerst eine formale Veränderung, nemlich eben ein bald
mässiger, bald höherer Grad von Schwäche des Denkens auf, mit
[262]Symptomatologie der Verrücktheit.
dem, wenigstens sehr häufig gleichzeitigen Verluste (Vergessensein)
grösserer Gedankenkreise, die früher dem gesunden Leben angehörten.
Schon aus diesen Gründen ist den Kranken kein freies Erkennen,
keine gesunde geistige Conception mehr vergönnt. Einzelne können
wohl noch ziemlich geordnete Gespräche führen, doch gewöhnlich nur
solche, die sich in geläufigen Phrasen abmachen lassen; sobald es
an wirkliches, abstractes Denken gehen soll, so zeigt sich bald die
Unmöglichkeit, den Gegenstand zu durchdringen. Wahrer Scharfsinn
kommt niemals vor bei partiell Verrückten, wenn man nicht jeweilige
baroke Gedankenverbindungen, die in ihrer abrupten Zufälligkeit wohl
hin und wieder etwas Ueberraschendes haben können, so nennen
will. Meist kann der Kranke keine Vorstellung, die nicht eng mit
dem vorzugsweise herrschenden Wahne verbunden ist, auch nur
einigermassen fixiren; er schweift vom Thema ab und kehrt gewöhn-
lich beim Schreiben noch mehr als beim Sprechen offener oder ver-
steckter zu jenem Kreise des Denkens zurück, der für ihn allein
noch der wirkliche, reale ist. In den höheren Graden aber wird
diese Schwäche des Vorstellens zu wirklicher Verworrenheit, einem
zufälligen, sinn- und zusammenhangslosen Aufsteigen von Bildern
und Gedanken, die nur locker durch die Einheit der fixen Ideen
zusammengehalten werden, womit übrigens die Form der partiellen
Verrücktheit in die der allgemeinen Verrücktheit übergeht.
Wie die einzelnen Wahn-Vorstellungen in der Schwermuth
oder Manie entstanden sind, haben wir oben gesehen und ihr Inhalt
ist der dort schon kennen gelernte. Immer beziehen sie sich auf
die eigene Persönlichkeit des Kranken, auf seine Stellung zur Welt
oder zum Göttlichen. Aber in Bezug auf ihren Inhalt zeigen sie
eine wesentliche Verschiedenheit.
Einmal sind es exaltirte, maniacalische Vorstellungen von activer
Art, von Erhebung des Subjects und Beherrschung der Objectivität:
Götter, Personen der Drei-Einigkeit, Staatsreformatoren, Könige, grosse
Gelehrte, Propheten, Abgesandte Gottes, Erfinder des perpetuum mobile,
Beherrscher der Natur, die das Siegel aller Geheimnisse erbrochen
und die Elemente aller Dinge durchdrungen haben etc.
Oder die Wahn-Vorstellungen beziehen sich auf ein Leiden, auf
ein Beherrschtsein durch die Objectivität. Die Kranken glauben sich
verfolgt, von Complotten umgeben, von geheimen Feinden mittelst
Electricität gequält, von den Freimaurern beeinträchtigt, vom Teufel
besessen, zu ewigen Qualen verdammt, ihrer liebsten Güter beraubt etc.
Oder sie hegen fixe Wahn-Vorstellungen über den eigenen Körper,
[263]Verstandes-Störungen.
sie sind völlig leblos, todt, haben Beine von Glas, von Butter,
beherbergen fremde Wesen in ihrem Leibe etc.
Aus dem verschiedenen Character dieser Ideen ergibt sich der
Unterschied einer partiellen Verrücktheit mit activem, exaltirtem
(S. p. 212) und einer solchen mit passivem, deprimirtem Wahn.
Je beschränkter der Kreis dieser Wahn-Vorstellungen ist, um
so mehr erscheinen sie bei oberflächlicher Betrachtung als blosse,
oft nicht einmal sehr bedeutende Verstandes-Irrthümer. Allein, wie
sehr würde sich ein solcher Irrthum auch im besten Falle von dem
aus mangelhafter Erkenntniss hervorgehenden Irrthume des Gesunden
unterscheiden! — Eine lange Reihe psychischer Störungen musste
ihm vorausgehen, aus Zuständen von Affect hat er sich innerlich
herausgebildet, die ganze Persönlichkeit des Kranken ist mit ihm
identificirt, er kann ihn weder freiwillig ablegen noch durch Raisonne-
ment desselben entledigt werden, und damit der Wahn in dieser
milden Form des Irrthums fortbestehen kann, musste nicht nur jene
lange Reile affectartiger Zustände ablaufen, in denen er sich bildete,
es musste auch eine Lückenhaftigkeit des Denkens übrig bleiben,
die sein Be[s]tehen sichert.
Ueberha[u]pt aber besteht das partielle Delirium der Verrücktheit
nicht sowohl darin, dass der Kranke nur über Einen Gegenstand falsch
denkt, sondern vielmehr darin, dass er eine einzige falsche Haupt-
Idee immer wieder vorzugsweise äussert, weil diese sich immer auf-
drängt. Sein falsches Denken ist viel ausgedehnter, der Wahn, der sich
auf dem practischen Gebiete affectartig erschütterter Gemüthsinteressen
gebildet hat, durchdringt nicht nur das nächste Gebiet der Subjectivität,
wo er die Taxirung der eigenen Persönlichkeit und ihrer Stellung zur
Welt verwirrt, sondern er wirkt sich auch in alles theoretische Vor-
stellen des Kranken ein und verfälscht ihm allmählig alle Gedanken-
kreise. Denn zu den Wahne bringt er unwillkührlich Alles in Be-
ziehung, von ihm aus urtheilt er, und so kann es gar nicht fehlen,
dass er im besten Falle (z. B. bei einem bloss hypochondrischen Wahn)
wenigstens eine ihm früher ganz fremde Verschrobenheit der Gefühle und
Lebens-Ansichten zeigt. Bei irgend wichtigeren Wahn-Vorstellungen über
die eigene Persönlichket aber wird die ganze Welt-Auschauung des
Kranken total verrückt; von einem falschen Centrum aus und mit
falschen Prämissen wird Alles combinirt, und wo noch am meisten
formal logische Ordnung und Methode in diesem Irresein ist, da
kommt es sehr häufig zu einem umfassenden — übrigens zuweilen
sorgfältig verborgen gehaltenen — Systeme von Unsinn, in welchem
[264]Symptomatologie der Verrücktheit.
oft alle Verhältnisse des menschlichen Verkehrs, alle sittlichen Be-
ziehungen, ja die ganze innere und äussere Einrichtung des Univer-
sums in geheimnissvollem Galimathias ihren Ausdruck finden sollen.
Manchmal genügt dem Kranken die gewöhnliche Sprache gar nicht
mehr und er bildet sich, wenigstens für die Wahn-Vorstellungen,
eine ganz eigene Sprache, die er ebenso, wie die Somnambülen die
ihrige, für die Ursprache, die Sprache des Himmels etc. erklärt, und je
mehr dabei noch die Sinnesempfindung durch Hallucinationen verdorben
und die innere Anschauung durch Verworrenheit und Schwäche un-
deutlich und verschoben wird, um so mehr gehen diese Zustände in
die Form der allgemeinen Verrücktheit oder der Verwirrtheit über.
Jene vorstechenden Wahn-Vorstellungen lassen sich in ihrer Entstehung immer
auf ein Stadium melancholicum oder maniacum, oft auf marquirtere Ereignisse
während desselben zurückführen. Besteht die fixe Idee in dem Wahre einer
neuen ausgezeichneten Persönlichkeit, so ist ihr Verhalten zu einem dagegen
gerichteten Raisonnement sehr merkwürdig. Meist geben die Kranken noch Rechen-
schaft über ihr früheres Leben, zuweilen geben sie sogar an, sie seien geisteskrank
gewesen (gewiss aber nur vom Hörensagen; und sie verstehen dann darunter nur
das Stadium melancholicum), oft erzählen sie die näheren Umstände ihrer Verwand-
lung (namentlich Hallucinationen), aber gewöhnlich sehr undeutlich; bemerken sie,
dass im Gespräche sich eine Anfechtung der fixen Ideen zusammenziehen will, so
wenden sie sich gewöhnlich still und unwillig ab, werden wirklich Argumente gegen sie
geäussert, so fangen sie an zu schelten und heftig zu werden, und man hat meist
wieder für lange Zeit ihr Vertrauen verloren. Einigen dieser Franken erscheint
ihre wahre, frühere Persönlichkeit wie eine verstorbene (p. 6[0]); sie reden von
ihr wie von einer dritten Person, und oft reichen nur noch wage Erinnerungen
herüber aus dem Dunkel, in dem das alte Ich verdämmert und versunken ist.
Man sieht aus dem Bisherigen, wie mannigfach die intelectuellen Störungen
bei diesen Kranken sind, oder vielmehr wie ihrem innern Wesen nach ver-
schiedene Residuen und Folgezustände melancholischer und maniacalischer Zustände
unter dem Begriffe der Verrücktheit überhaupt zusammeng[e]fasst sind. Nur sorg-
fältige neue psychologische Krankheits-Geschichten und Analysen können hier
weiteres Licht bringen.
Zahlreiche Beispiele unten werden übrigens zur Orientirung in dieser Form dienen.
§. 124.
Hallucinationen und Illusionen aller Sinnorgane sind in keiner
Form des Irreseins so häufig, wie bei den Verrückten und in sehr vielen
Fällen nähren und unterhalten sie vorzüglich das Delirium. Oft conversirt
der Kranke oder zankt anhaltend mit den gehörten Stimmen und geräth in
zornige Aufregung; oft findet er in einer heit[e]ren Gesichtsillusion sein
ganzes Glück, wie jene verrückte Mutter, die in einem zerbrochenen,
mit Lumpen bedeckten Kruge ihr geliebtes, verlorenes Kind sah und
seiner viele Jahre lang mit der grössten Zärtlichkeit pflegte.
[265]Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.
Die Bewegungen, das Aeussere und das Benehmen dieser
Kranken zeigt, auch in den mildesten Formen, immer eine gewisse
Verschrobenheit und Verzerrtheit. Die Physionomie erscheint meist
alt und verwittert, mit stumpferem oder von dem herrschenden Wahne
gefordertem Ausdruck. Die meisten zeigen besondere Bizarrerieen in
ihrem Benehmen; Einige gestikuliren beständig oder bewegen Hände
und Kopf in pedantischem Gleichmas, Andere stehen oft wie in Ver-
zückung stille, um Hallucinationen zu lauschen, Andere gehen unab-
lässig an einem bestimmten Lieblingsplatze auf und ab, wie Thiere
in einem Käfig, und sprechen oder brummen dabei Worte, Reime
oder Melodieen. Einige halten sich immer in den dunkelsten Räumen
auf, die sie finden können, wenden den Vorübergehenden sogleich
den Rücken zu und werden bei jeder Störung heftig. Andere be-
schäftigen sich anhaltend mit Sammeln von Bruchstücken aller Art,
Lumpen, Steinchen, Schnecken etc., denen sie einen hohen Werth
zuschreiben; noch Andere schmücken sich phantastisch mit allem,
was ihnen in die Hände kommt.
Gewöhnlich stellt sich mit dem Ablauf der melancholischen oder
maniacalischen Periode wieder eine Vermehrung des Körpervolums
und ein Zustand körperlichen Wohlbefindens ein, und jede Irren-
Pflege-Anstalt enthält solche Kranke, die schon viele Jahrzehende
in mittlerem Wohlsein fortleben und ein hohes Alter erreichen.
Intermissionen oder Remissionen kommen hier nicht mehr vor
und es scheint nach den bisherigen Erfahrungen niemals mehr eine
vollständige Heilung dieser Zustände möglich zu sein. Dagegen ist
es durch neuere Beobachtungen (Leuret) unzweifelhaft, dass eine
energische, methodische Behandlung Einzelne dieser Kranken so
zum Zurückhalten und zur Unterdrückung ihres Wahnes und zur
Ablegung bizarrer Gewohnheiten veranlassen kann, dass sie wieder
in höherem Masse zur Ausübung von Geschäften brauchbar werden
können. Ueberlässt man diese Kranken sich selbst, so befestigen
sie sich immer mehr in ihren Wahn-Vorstellungen, diese breiten
sich allmählig über immer weitere Kreise des Denkens aus, und die
Kranken verfallen endlich in Verwirrtheit oder apathischen Blödsinn.
XXXVII. Ein Verrückter und ein Wahnsinniger. Im Jahre
1824 befand sich seit etwa 8 Jahren in der Charité-Irrenanstalt zu Berlin ein
junger Mann, mehr Gegenstand der Aufsicht und Pflege, als ärztlicher Behand-
lung, der in den Gängen und Zimmern umherschritt, an Allem Theil zu nehmen
schien, aber eigentlich nichts beachtete, sondern Alles mit stolzem Hohn und
scheinbarer Zerstreutheit belächelte, über Alles, wenn er gefragt wurde, mit der
selbstgefälligsten Genügsamkeit und schroffer Zuversichtlichkeit absprach, weil
[266]Beispiele von
er, und das war eben das unzerstörbare Bollwerk seines Egoismus, Alles war,
wusste, konnte und besass. Kein Stand überragte den seinigen, kein Wissen
erlangte das seine, sein Vermögen glich seinem Wissen und war seinem wahn-
sinnigen Stande angemessen. Dieses Bewusstsein der Hoheit, Weisheit, Macht
und des Vermögens regte sich in allen seinen Geberden und brach sich Bahn in
allen seinen Bewegungen. Es wäre einem talentvollen und geübten Schauspieler
schwerlich gelungen, eine stolzere, mächtiger erscheinende Hoheit durch Geberden
auszudrücken, wie sie diesem jungen Manne in seinem Zwillichkleide, in seiner
gewohnten Stellung neben einem Holzkasten eigenthümlich war, und diess aus
dem einfachen Grunde, weil wohl nicht leicht ein Sterblicher in dem Maase von
diesen Gefühlen und diesem Bewusstsein erfasst und durchdrungen war, als eben
dieser unglückliche junge Mann. — Er soll vor seinem Eintritt in die Irrenanstalt,
in Folge einer Prüfung, zu welcher er sich mit dem rastlosesten Eifer vorbe-
reitet und in derselben nicht genügt hatte, schweigsam geworden, in Trübsinn
und darauf in den gegenwärtigen Geisteszustand verfallen sein. Eine häufige Ent-
stehungsweise fixer Wahnvorstellungen. Aehnliches begegnet demjenigen, der
durch unglückliche Speculation in die tiefste Armuth geräth, im Geiste durch
jene Anstrengungen erschöpft, diese nicht erträgt, zum Wahnsinn sich verwirrt,
und plötzlich als ein Crösus vor seinen bekümmerten Verwandten auftritt.
Diesem hier mit wenigen Zügen bezeichneten, mir genau bekannten Kranken,
führte ich einen andern zu, der vor einigen Tagen in die Heilanstalt aufgenom-
men war, und theile zuvor das Wenige mit, was mir über ihn bekannt geworden
war: S., ein Mann, etwa 30 Jahre alt, wohlhabend durch ein gewinnreiches
Geschäft und angeerbtes Vermögen, leichten Sinnes von Jugend auf, von beweg-
lichem Gemüth, dem regellosen Leben seit einigen Jahren ergeben, durch Ver-
gnügungen zerstreut, durch Missbrauch geistiger Getränke häufig überreizt und
geschwächt, war geisteskrank geworden. Rasch auf einander folgende Genüsse
aller Art und rastlose Zerstreuungen schienen eine also schon vorgebildete Dis-
position zum Geistesleiden zur andauernden Erscheinung gebracht zu haben. S.
gab auf die einleitenden Fragen nachstehende Antworten: „Ich bin Oberst, Ge-
neral-Flügel-Adjutant, — ein ausgezeichneter Billardspieler und ein ausserordent-
lich gewandter Kunstreiter, — bin neulich im Circus mitgeritten, und habe durch
meine Kunstfertigkeit, Gewandtheit, Stärke und bewundernswürdigste Eleganz in
der Führung der wildesten Pferde Alle verdunkelt. Ich bin sehr reich — ich
lade Sie zu mir ein, — will mich hier etwas zerstreuen und aufheitern. Der
Mensch, den Sie mir hier gegeben haben, man nennt ihn hier Wärter, gefällt
mir, er hat mich auch im Circus reiten gesehen u. s. f.“ Auf diese Aeusserun-
gen erwiderte ich: „Morgen werde ich Sie einem Manne, welcher hier lebt,
vorstellen, der gewiss Interesse für Sie hegen wird, dessen Bekanntschaft Ihnen
vielleicht auch nützlich werden kann.“ — S. erwiederte schnell: „Das ist mir lieb,
ich habe gern viele Freunde und bin allen Menschen sehr gut.“
H. stand im stolzen Selbstgefühl vertieft auf dem Flur am Holzkasten, als
ich ihm den Herrn S. mit den Worten zuführte: „Es wird Ihnen vielleicht in-
teressant sein, dieses Herrn Bekanntschaft zu machen.“ H. trat stolz gegen S.
vor, nahm Stellung, mass ihn mit zurückgeworfenem Kopfe einige Augenblicke,
und fragte: „Wer sind Sie?“ — S. „Ich bin Kaiserl. Königl. Russischer Oberst
und General-Flügel-Adjutant.“ — H. „Es ist mir nicht unangenehm, Sie hier
kennen zu lernen; gern will ich mich nach Ihrer Qualität für Sie interessiren,
[267]partieller Verrücktheit.
versichere Sie unterdessen meiner Protection, da ich als Feldmarschall mit der
Organisation der Land- und Seemacht des russischen Reichs in meinen Musse-
stunden mich zu zerstreuen suche.“ — S., niedergedrückt von dem gewaltigen
Hochmuth des Sprechers, blickte mit scheuer Verlegenheit umher, während ihn
H. musternd überschaute, indem er im Vollgefühl seines masslosen Uebergewichts
vor ihm stand. — „Haben sie sonst noch eine Qualification, die ich benutzen
könnte?“ — Ja, Herr Feldmarschall, (rief S. mit wiedererwachender Zuversicht-
lichkeit, sich vertraulich dem H. nähernd), ich bin bei den Kunstreitern als erster,
bewundernswürdigster Forçereiter mitgeritten. — Da warf sich H. in die Brust,
schien um Zolle grösser, durchbohrte den harmlosen Menschen mit einem Blick
concentrischer Verachtung, rief, ihm den Rücken zuwendend: — „Gemeiner Pos-
senreisser, bezahlter Geck, — verdorbenes Subject, in ein Narrenhaus gehörig“, —
und ging mit scharfgemessenen Schritten davon, nahm wieder seine gewohnte
Stellung am Holzkasten ein und beschoss unsern gemüthlichen S. mit Blicken,
welche diesen bis zur tiefsten Befangenheit niederschlugen. — Ich führte den S.
fort mit der halbleisen Aeusserung: „Aber wie konnten Sie vor diesem Manne
solchen Unsinn aussprechen? — S. „Ich bin ja eigentlich nicht mitgeritten, ich
dachte nur so viel daran, wie es gar herrlich wäre, so reiten zu können. Gerne
möchte ich es dem Herrn sagen, dass ich nicht mitgeritten bin; führen Sie mich
doch gleich zu ihm.“ — Ich erwiderte: Sie haben es damit für immer bei dem
Herrn verdorben, Sie haben sich, das fühlen Sie gewiss, mit solchen Aeusserungen
in ein falsches Licht gestellt; unterlassen Sie dergleichen künftig, da Sie nun
wohl deutlich genug bemerkt haben, welche tiefe Verachtung Ihnen eine so un-
überlegte Prahlerei zugezogen hat. — S. „Aber ich bin doch Oberst und Flügel-
Adjutant.“ — Ich antwortete: das ist etwas Anderes und wird sich später er-
mitteln, aber bei diesem Manne haben Sie für immer diejenige Achtung verloren,
mit der er einen jeden anständigen, die Wahrheit liebenden Fremden zu behandeln
pflegt. Hüten Sie sich, dass es Ihnen mit den Andern hier nicht eben so ergeht. —
Der Wärter spazierte mit dem Kranken fort und theilte mir später mit, wie S.
in dem Sinne des mit mir gehaltenen Gesprächs fortfuhr, seine Idee, Kunstreiter
zu sein, aufgab, aber immer noch für einen Obersten anerkannt sein wollte. —
Der Kranke, seit ungefähr 4 Monaten in diesem Gemüthszustande, genas in
einigen Monaten ganz, nachdem die eine seiner wahnsinnigen Lieblings-Ideen
bei dem erwähnten ersten Zusammentreffen mit H. sogleich tief erschüttert und
in ihrer Fortbildung für immer gestört war. — H. vermied ihn, stand ihm niemals
Rede und begegnete ihm immer mit stummer Verachtung. — S. war bei einer
solchen Begegnung sichtlich befangen, als schämte er sich noch immer seiner
Aeusserungen gegen ihn; nur erst mit der Wiederkehr seiner freien Persönlichkeit
verlor sich diese Befangenheit. S. zeigte später allmählig mehr Gemüthsruhe in
der Nähe des H. und schien zulezt ein tiefes Mitleid, bei ersichtlicher Anhäng-
lichkeit, für diesen Unglücklichen zu fühlen. S. verliess genesend die Anstalt,
vergeblich reichte er, wie in dankbarer Erinnerung, dem H. die Hand, die dieser
verächtlich zurückwies und sich wie gewöhnlich mit gemessenen Schritten ent-
fernte, um in den Regionen eines krankhaft gesteigerten Selbstgefühls fortzu-
schwärmen. H. blieb ein unheilbares Mitglied der Irrengesellschaft, aber S. ver-
dankte offenbar seinem Einfluss während der beschriebenen Confrontation den
ersten Schritt zu seiner Herstellung. —
(Sinogowitz, die Geistes-Störungen etc. 1843. p. 22.)
[268]Beispiele von
XXXVIII. Vieljährige Verrücktheit. Grillenhaft erscheinende,
aber mit dem Hauptwahne innerlich verbundene Gewohnheiten. Die
B. war zu der Zeit, als ich sie beobachtete, etwa 65 Jahre alt und, so viel man
wusste, seit ihrem 16ten Lebensjahre in Irrenanstalten. In ihren Gesten zeigte
diese Kranke noch immer Spuren einer besseren Erziehung. Ob sie noch lebende
Angehörige hatte, blieb mir unbekannt, da sie Niemand besuchte und mir son-
stige Nachrichten fehlten. Ihr früher dunkelblondes, noch immer reiches Haar,
war meistens ergraut; ihre Stirn, etwas vorgewölbt, hatte viele Querfalten; ihr
Auge, tief liegend, umschattet, von lichtblauer Farbe, war sehr beweglich, im
Affect lebhaft glänzend; ihr Gang war gewöhnlich langsam und ohne bestimmte
Richtung, da sie immer, so als suche sie etwas, sich in bald grösseren, bald
kleineren Halbkreisen bewegte. Sie begrüsste Niemanden erwiederte keinen Gruss,
und es geschah nur sehr selten, dass sie, von einer ihr noch nicht bekannten
Person begrüsst, aufblickte, den Grüssenden genau betrachtete, dann den Blick
schnell wegwandte und zuweilen einige unverständliche Worte murmelte. Sonst
erwiederte sie jede an sie gerichtete Anrede mit einigen gewichtigen Schimpf-
worten, die sie gewöhnlich, sich allen weiteren Mittheilungen entziehend, mit
dem Todesurtheil: „Er soll verbrannt werden,“ beschloss. Sollte sie gehorchen,
so gab es jedesmal heftigere Scenen, die nur die Umgebung störten. Man überliess
daher die alte unheilbare Kranke sich selbst, ohne auf ihr, sonst unschädliches
Treiben zu achten, da sie ungestört Niemand beleidigte, jede Annäherung sorgsam
mied, nur mit sehr dringenden Angelegenheiten beschäftigt schien und sich aus
verjährter Gewohnheit in die lange bestehende Hausordnung fügte. Sie schrieb
öfter Briefe, die nur aus Anfangsbuchstaben bestanden, immer auf grossem Bo-
genformat, und versah sie mit der Aufschrift an die mächtigsten Monarchen der
Welt und zugleich an deren Frauen. Einige Bogen recht grosses Papierformat
und ein Paar Schreibfedern nahm sie immer mit der Geberde gütiger Herablassung
an, obgleich sie niemals dafür dankte und den Geber gewöhnlich sogleich verliess.
Aus einem ziemlich starken Convolut ihrer Briefe entnahm ich, nicht ohne Mühe,
über ihre Vorstellungen Folgendes: Die alte B. hielt sich für eine Königin,
Tochter der Sonne und nahe Verwandte und Freundin aller Monarchen. Sie hoffte,
in einer goldenen Kutsche, mit sechs Pferden bespannt, abgeholt zu werden. An
den Beherrscher der hohen Pforte und seine Gemahlin waren die meisten Briefe
gerichtet. Die Briefe an die Monarchen, die sie fast regelmässig drei bis viermal
jährlich schrieb (denn ausserdem schrieb sie auch an Strafbehörden der Erde und
an die allgemeine Scharfrichterei der Welt), erhielten gewöhnlich Gesuche und
bestimmte Befehle, diejenigen verbrennen zu lassen, die sie in ihren Beschäf-
tigungen mehrmals, und vielleicht mit Absicht, gestört hatten. War ihr der
Name und Stand eines also Verurtheilten unbekannt, so gab sie eine so genaue
Beschreibung der erwähnten Person, nach ihrer Kleidung und ihren Gewohnheiten,
dass der Bezeichnete wohl zu erkennen war, damit die hohen Monarchen nur
keinen Fehlgriff begehen sollten. War Jemand in einem solchen Schreiben von
ihr zum Verbrennen verurtheilt, so wiederholte sie diesem jedesmal ihr Urtheil,
wenn er sie ansah oder anredete. Begnadigung war von ihr nicht mehr zu
erlangen. Diese Kranke war, wie schon erwähnt, eine Sammlerin von unge-
wöhnlicher Ausdauer. Nur an strengen Winter- und Regentagen unterliess sie
dieses Sammeln, wenn aber die Sonne schien, war sie während der Erholungs-
stunden im Irrengarten am thätigsten. In ihr Geschäft ganz vertieft, sammelte
[269]partieller Verrücktheit.
sie kleine bunte Steine, todte glänzende Käfer, Fliegen, einzelne kleine Blätter,
kleine Stückchen vom Baumzweigen, bunte Federchen, bunte Läppchen, glänzende
Glasstückchen u. dgl. Hatte sie eine so reiche Sammlung gemacht, dann verliess
sie, wenn die Freistunde endete, strahlenden Auges den Platz, suchte rasch ihr
Zimmer, um ihre Schätze zu verbergen. Mit einiger List, auch mit offenem
Widerstande, wenn man sie hindern wollte, suchte sie sich den nächsten Spa-
ziergängen im Freien zu entziehen, um wo möglich in ihrem Zimmer allein sein
zu können. In dieser Einsamkeit fand ich Gelegenheit, sie unbemerkt zu beob-
achten, und kann von dem, was ich hier sah, nicht ohne Rührung erzählen. —
Sie öffnete ein Fenster an der Sonnenseite und sah einige Augenblicke in die
Sonne, dann holte sie aus allen Taschen ihrer Kleidung und aus den Verstecken
in ihrem Lager ihre Schätze hervor, breitete sie vor sich auf dem Fenster aus
und betrachtete sie eine Zeit lang, in tiefes Nachdenken verloren, dann band sie
diese bunten Kleinigkeiten, an grünen, gelben, rothen und weissen Fäden befestigt,
zwischen den Eisenstangen vor dem Fenster so an, dass sie in bunter Reihe
sich schwebend erhielten. War dies bunte Gewebe vollendet, dann öffnete sie die
dem Fenster gegenüberstehende Thür und schaffte so einen Luftzug. Wenn nun
durch diesen die leicht befestigten Blättchen, Federchen, Läppchen und Fliegen
in Schwingung kamen, dann blickte die greisenhafte Gestalt mit freudeglänzenden
Augen bald in diese, bald in die Sonne, und bewegte sich, vor Freude weinend,
aber lautlos, bald einige Schritte zurück, bald wieder vortretend, einem Kinde
ähnlich, das über sein Spielzeug entzückt wird. Doch die Zeit verstrich, bald
verkündete das zunehmende Lärmen die Annäherung der vom Irrengarten Wie-
derkehrenden; schnell und vorsichtig, nichts störend, packte sie Alles wieder ein,
und wenn ihre Stubengenossinnen wieder eintraten, war Alles spurlos verschwunden.
Als ich während meiner wiederholten Beobachtungen mich ihr näherte (denn sie
war so vertieft darin, dass sie meine Annäherung nicht bemerkte) und schweigend
neben ihr stand, duldete sie meine Nähe, ohne zu schimpfen, und sah mich mit
freudetrunkenen Augen an. Schweigend zog ich mich zurück und konnte später
noch einige Male Zeuge dieser Scene sein, obgleich ich in ihren Briefen zum
Verbrennen schon verurtheilt war.
Auf meine Veranlassung ward es untersagt, die Unglückliche in ihren Feier-
stunden zu belästigen; denn es hat kein Mensch das Recht, seinen Nebenmenschen
ohne alle erweislich nützliche Absicht in seinem Glück zu stören. Also zehrte
diese alte Frau ungestört an dem dürftigen Sparpfennig ihrer Freude, bis zu
ihrem nach einigen Jahren erfolgten Tode. Sie war mehr als 50 Jahre im Irren-
hause, Niemand hatte ihren Wahnsinn geheilt, aber oft war sie von ihrer wech-
selnden Umgebung aufgeregt worden.
(Sinogowitz, die Geistes-Störungen, Berl. 1843. p. 35.)
XXXIX. Verrücktheit mit dem Character der Depression. Ge-
hörshallucinationen. Eine Verrückte, Namens Clemence, glaubt fremde
Gedanken zu hören; sie glaubt auch, dass andere Menschen ihre Gedanken hören.
Ich blieb in ihrer Nähe stehen; bald sah ich ihre Züge den Ausdruck der Unruhe
und Angst annehmen, dann blieb sie wieder ruhig, wie wenn sie horchte und bald
zeigte die Bewegung in ihren Zügen von Neuem eine innerliche Aufregung. Ich
ging 100 Schritte weiter, ohne zu sprechen, scheinbar ohne sie zu beachten, sie
folgte mir und setzte ihre Pantomime fort. Ich stand wieder stille und fixirte sie
mit unbeweglichem Gesicht und ohne auch nur Neugierde zu verrathen. Sie fuhr
[270]Beispiele von
in ihrer stummen Unterredung fort, denn ich sah wohl, dass sie mit mir sprach,
und ungeachtet ich so ruhig als möglich blieb, so hörte sie Einwendungen und
Vorwürfe, denen sie entgegnete. So sahen wir uns fast eine halbe Stunde lang
gegenseitig an, als sie einige Worte murmelte, die ich nicht verstand; ich bot ihr
mein Schreibheft an, auf das sie Folgendes schrieb.
„Clemence, in die Salpetrière geführt und unbekannt mit allem, was hier vor-
gegangen ist, denn ich habe keine solche Pein verdient dafür, dass ich nur so
wenig Glück verdiente. Ich schwöre, dass ich nie Jemanden bestohlen oder
beraubt habe, dass ich von Niemanden die Kostbarkeiten, das Geld, die in meinem
Zimmer sind, entlehnt, dass ich nie in die Lotterie gesetzt habe, dass ich mit
Vertrauen gekommen bin und überall hin mit Ehren gehen kann, dass ich sah,
wie sich die Mühle drehte“ ....
Sie gab mir mein Heft zurück und fuhr fort wie früher. Endlich sagte sie
zu mir: „Aber, mein Herr, warum sprechen Sie nicht laut mit mir? — Ich weiss
es nicht. — Gar nichts, mein Herr, wenn man nichts sagt. — Ich bin nie in
einem schlechten Hause gewesen. — Ich weiss nicht, was Sie mir wieder sagen
wollen. — Wenn man mich mit Physik eingeschläfert hat, so weiss ich nicht
was das ist, ich habe doppelte Nächte zugebracht. — Nein, mein Herr, ach nie,
nie bin ich ihm ungetreu gewesen. — Wenn Sie mir doch antworten wollten.“
„Welchen Unterschied finden Sie in meinen Antworten, je nachdem ich die
Lippe bewege oder nicht bewege?“
„Ich finde, dass Sie sich frei aussprechen und ich höre lieber reden. — Ich
höre Ihre Gedanken und ich weiss nicht warum: — Nein, mein Herr, niemals
habe ich meine Hände in Blut getaucht, ich habe nie einen Mord begangen. —
Ja, mein Herr, ich liebe ihn noch.“
„Wie geht es denn zu, dass Sie meine Gedanken hören?“
„Ich glaube, es geschieht durch die Physik, dass ich so sprechen höre. —
Auch wenn Niemand da ist, höre ich reden.“
„Sagt man Ihnen immer nur traurige Dinge?“
„Niemals höre ich etwas Angenehmes. — Sie sollen sehen, ob mein Benehmen
nicht immer dasselbe sein wird.“
„Seit wann sind Sie verheirathet?“
„Ich kann es nicht genau sagen.“
„Erinnern sie sich des Tags, des Monats, ob es im Sommer oder im Winter war?“
„Nein; ich habe es vergessen durch das Geschäft, das man mit mir macht,
durch die Bäder und das Fasten. Ich glaube schwanger zu sein. Ich habe viel-
leicht Schlangen, aber mein Mann ist keine Schlange. — Ich fand mich entführt,
der König von Frankreich ist gekommen, ich habe eine Krone gemacht, und
gesagt: Wenn ich eine Dornenkrone verdient habe, so will ich sie wohl tragen.
— Ich weiss nicht wie ich auf die Erde zurück kam, es war mir, wie wenn unter
mir alles zusammensänke.“ (Leuret, fragmens psychol. p. 153.)
XL. Verrücktheit. Untergang der Persönlichkeit. Halluci-
nationen aller Sinne. Eine Kranke auf Parisets Abtheilung, 56 Jahre alt
und von anscheinend gutem Befinden, hat seit 1827 das Bewusstsein ihrer Indi-
vidualität verloren und hält sich für eine ganz andere Frau als sie früher war.
Dieser Glaube scheint an eine Veränderung ihrer Empfindungsweise geknüpft und
besonders an zahlreiche mannigfaltige und unaufhörliche Hallucinationen. Sie
[271]partieller Verrücktheit.
spricht von sich selbst immer in der dritten Person und mit der Phrase „die
Person von mir.“
Wenn man ihr nicht zu nahe kommt, ihr Bett, ihren Stuhl, ihre Kleider etc.
nicht berührt, so kann man leicht mit ihr conversiren. Sie beantwortet dann
alles sanft und höflich.
„Wie befinden Sie sich Madame?“
„Die Person von mir ist keine Dame, heissen Sie mich Mademoiselle,
wenn’s beliebt.“
„Ich weiss Ihren Namen nicht, sagen Sie ihn mir.“
„Die Person von mir hat keinen Namen: sie wünscht, dass Sie nicht
schreiben möchten.“
„Ich möchte doch wissen, wie Sie heissen, oder vielmehr, wie Sie früher
hiessen?“
„Ich verstehe, was Sie fragen wollen. Ich hiess Catharina X., man muss
nicht mehr von dem Vergangenen reden. Die Person von mir hat ihren Namen
verloren, sie hat ihn hergegeben, als sie in das Hospital eintrat.“
„Welches ist Ihr Alter?“
„Die Person von mir hat kein Alter.“
„Aber diese Catharina X, von der Sie eben gesprochen haben, wie alt ist sie?“
„Ich weiss nicht. Sie ist geboren Anno 1779 von Marie … und von Jacob …
wohnhaft …, getauft in Paris etc.“
„Wenn Sie nicht die Person sind, von der Sie reden, so sind Sie vielleicht
zwei Personen in einer einzigen.“
„Nein, die Person von mir kennt diejenige nicht, die Anno 1779 geboren
ist. Vielleicht ist es diese Frau dort unten.“
„Leben Ihre Verwandten noch?“
„Die Person von mir ist allein und sehr allein, sie hat keine Verwandte
und hat niemals solche gehabt.“
„Und die Verwandten der Person, die Sie vorhin genannt haben?“
„Man sagt, sie leben immer noch, sie nannten sich meinen Vater und
meine Mutter und ich glaubte es bis Anno 1827; ich habe immer meine
Pflichten gegen sie erfüllt bis zu jener Zeit.“
„Sie sind also ihr Kind? Ihre Art zu sprechen zeigt, dass Sie es glauben.“
„Die Person von mir ist Niemandes Kind. Der Ursprung der Person von
mir ist unbekannt: sie hat keine Erinnerung der Vergangenheit. Die Frau, von
der Sie reden, ist vielleicht die, für welche man dieses Kleid gemacht hat (sie
deutet auf das Kleid, das sie anhat), sie war verheirathet, sie hatte mehrere
Kinder. (Nun erzählt sie weitläufige und sehr genaue Details über ihr Leben,
wobei sie immer am Jahr 1827 aufhört.)
„Was haben Sie gethan und was ist Ihnen begegnet, seit Sie die Person
von sich sind?“
„Die Person von mir wohnte in der Verpflegungs-Anstalt von … Man machte
und macht mit ihr physische und metaphysische Versuche. Diese Arbeit war ihr
unbekannt vor 1827. Hier kommt eine Unsichtbare herab und vermischt ihre
Stimme mit der meinigen. Die Person von mir will nichts davon und schickt
sie sanft zurück.“
„Wie sind die Unsichtbaren, von denen Sie sprechen?“
„Sie sind klein, unfassbar, wenig geformt.“
[272]Beispiele von
„Wie sind sie gekleidet?“
„In Blousen.“
„Was für eine Sprache sprechen sie?“
„Französisch: Wenn Sie eine andere Sprache sprächen, würde Sie die
Person von mir nicht verstehen.“
„Ist es denn gewiss, dass Sie sie sehen?“
„Ganz sicher, die Person von mir sieht sie, aber metaphysisch, in der Un-
sichtbarkeit, niemals materiell, denn sonst wären sie nicht unsichtbar.“
„Haben Sie zuweilen Gerüche?“
„Eine weibliche Composition, eine Unsichtbare, hat mir schon üble Gerüche
geschickt.“
„Fühlen Sie zuweilen die Unsichtbaren an Ihrem Körper?“
„Die Person von mir fühlt sie und ärgert sich sehr darüber; sie haben ihr
alle möglichen Unanständigkniten angethan.“
„Haben Sie guten Appetit?“
„Die Person von mir isst, sie hat Brod und Wasser; das Brod ist so gut
als man wünschen kann; sie verlangt nichts weiter etc.“
„Beten Sie zuweilen?“
„Die Person von mir kannte die Religion vor 1827; sie kennt sie jetzt
nicht mehr.“
„Was halten Sie von den Frauen, welche mit Ihnen diesen Saal bewohnen?“
„Die Person von mir glaubt, dass sie den Verstand verloren haben, wenigstens
die Mehrzahl.“ (Leuret, Fragmens psychol. p. 121.)
XLI. Verrücktheit mit dem Character der Exaltation. Eine Frau,
die sich gegenwärtig in der Salpetrière befindet, ist zu gleicher Zeit Gott, Jesus
Christus und die heilige Jungfrau. Mit Bändern geputzt, auf dem Kopfe einen
Federbusch und Papierblumen, geht sie glücklich in den Höfen des Hospitals
umher. Sie hat mir gesagt, wer ihre Eltern waren, und mir Dinge erzählt von
denen sie während ihrer ersten Lebensjahre Zeuge war. Wir hatten folgende
Unterhaltung mit einander.
„Seit wann sind Sie Gott?“
„Drei Jahre nach meiner Hochzeit: eines Tages wollte ich zum Fenster
hinausspringen, aber ich fühlte mich zurückgehalten.“
„Von wem?“
„Von Gott.“
„Sie sind Gott, Sie haben sich also selbst zurückgehalten.“
„Ja wohl und am andern Tag bin ich zur Beichte gegangen.“
„Sie waren also damals noch nicht Gott?“
„Nein, ich fühlte mich noch nicht als solcher.“
„Jesus Christus war ein Mann und Sie sind eine Frau, Sie sind also wohl
nicht Jesus Christus?“
„Ah! Aha! Mein Herr, das ist ein Geheimniss, ich weiss nicht mehr davon,
ich bin die Jungfrau Maria.“
„Es scheint mir, Sie haben keinen Grund sich für Gott zu halten.“
„Ich werde alle diejenigen strafen, die mich beleidigt haben.“
„Gott von seiner Höhe kann nicht herunter kommen, um mich zu rächen.“
„Erzürnen Sie sich nicht: Sie sind Gott, nicht wahr?“
„Ja, mein Herr.“
[273]partieller Verrücktheit.
„Sind Sie freiwillig hier?“
„Nein, ich war auf einer Wallfarth und man hat mich verhaftet und mich
in dieses Hospital gebracht.“
„Warum verlassen Sie es denn nicht, da Sie doch Gott sind?“
„Ich kann nicht: es steht mir nicht zu gegen die Autoritäten aufzutreten.
Der Herr Staatsprocurator erlaubt mir nicht zu gehen. Wir werden einen grossen
Krieg bekommen, einen Bürgerkrieg; ich habe an Louis Philipp geschrieben,
dass er noch zwei Jahre König sein werde. Ich habe einen Bruder, der vier
Söhne hat, welche Königslehrlinge sind.“
(Leuret, fragmens psychologiques. 1834. p. 323.)
XLII. Systematisch ausgearbeiteter und dramatisirter Wahn
körperlicher und geistiger Beeinträchtigung. Hallucinationen
aller Sinne, besonders des Hautsinns. Möglichkeit, den Wahn
vollständig zu verbergen. Haslam erzählt in seiner kleinen Schrift „Illu-
strations of madness. Lond. 1810“ die Geschichte eines gewissen Matthews, der
im J. 1797 zu Folge eines richterlichen Erkenntnisses in das Bethlamhospital
aufgenommen, im J. 1798 in die Abtheilung der Unheilbaren versetzt wurde.
Dort blieb er mehrere Jahre, sich bald für das Automat gewisser auf ihn wirken-
der Personen, bald für den Weltkaiser haltend. Im J. 1809 trugen seine Ver-
wandten, welche seinem Aufenthalte in Bethlam entgegen waren, auf seine Ent-
lassung an und veranlassten die DD. Clutterbuk und Birkbett seinen Seelenzustand
näher zu prüfen. Diese bezeugten, nachdem sie den Kranken viermal besucht,
mit einem Eide, Hr. Matthews sei bei völlig gesunden Geisteskräften.
Nun ward eine neue Commission von acht Aerzten niedergesetzt, welche nach
einer langen Prüfung das ebenfalls eidlich erhärtete Zeugniss abgab, der Mensch
sei in hohem Grade verrückt.
Und in der That, er war es. Er hegte nemlich den festen im Einzelnen
höchst ausgearbeiteten und dramatisirten Wahn, dass eine Bande böser Menschen,
von einem Zimmer in der Nähe der Stadtmauer aus, durch magnetische
Strömungen auf mancherlei Weise auf ihn einwirke. Er sieht und
hört diese Personen, und kann sie desshalb genau beschreiben. Es sind ihrer
sieben, vier männliche und drei weibliche. Das Haupt darunter ist einer Namens
Bill, auch der König genannt; er ist 64 bis 65 Jahre alt; seine Gedanken sind
stets auf Böses gerichtet; nie sah man ihn lächeln. Der zweite heisst Jack,
der Schulmeister, der sich jedoch auch selbst den Registrator nennt, etwa 60
Jahre alt, schlank von Körperbau. Die dritte Person ist Sir Archy, 55 Jahre
alt, mit einem Rock von schmutziger Farbe und mit Beinkleidern, welche die
Knöpfe nach alter Weise zwischen den Beinen haben; er führt stets schlüpfrige,
höhnische Reden, und zwar in einem Provincialaccent. Der vierte heisst Middle-
Man, 57 Jahre alt, mit einer Habichts-Physionomie ohne Blatternarben, trägt
einen blauen Rock und eine schlichte Weste; er sitzt immer grinsend da. Die
erste der weiblichen Personen ist Augusta, 36 Jahre alt, von mittlerer Grösse
und durch die Schärfe ihrer Gesichtszüge ausgezeichnet. Sie trägt sich schwarz,
wie eine Kaufmannsfrau vom Lande, mit ungepuderten Haaren. Die zweite weib-
liche Person, Charlotte, ist eine röthliche Brünette, vom Ansehen einer Französin.
Die letzte weibliche Person ist sehr ungewöhnlicher Art; sie scheint keinen christ-
lichen Namen zu haben; sondern die Uebrigen nennen sie bloss die Handschuhfrau,
Griesinger, psych. Krankhtn. 18
[274]Beispiele partieller Verrücktheit.
weil sie stets baumwollene Klapphandschuhe trägt, und zwar diess, wie Sir
Archy trocken behauptet, damit man nicht sehe, dass sie die Krätze habe etc.
Die Einwirkungen, welche diese imaginären Personen mittelst einer compli-
cirten, von dem Kranken ausführlich beschriebenen und abgebildeten Maschine
auf ihn ausüben, sind nun verschiedener Art. Der Kranke führt eine Menge dieser
verschiedenen Qualen (Hallucinationen) unter eigenen Benennungen auf.
Flüssigkeitshemmung — eine Zusammenschnürung an den Fasern der
Zungenwurzel, wodurch die Sprache ins Stocken gebracht wird. Abschneiden
der Seele vom Gefühl — eine Ausbreitung der magnetischen und dabei ge-
rinnenden Strömung von der Nasenwurzel aus unter die Grundfläche des Gehirns,
gleich einem über diese ausgebreiteten Schleier, so dass die Gefühle des Herzens
ausser Zusammenhang mit den Operationen des Verstandes gesetzt werden. Dra-
chensteigen — wie Knaben einen papiernen Drachen steigen lassen, so treiben
jene Bösewichter, vermittelst ihrer Künste, irgend eine besondere Vorstellung
in das Gehirn des von ihnen Angegriffenen, die sich daselbst dann Stunden lang
hin und herbewegt. Wie dann auch der auf solche Weise Angegriffene von der
ihm aufgedrungenen Vorstellung los zu werden und auf irgend eine andere über-
zugehen wünsche, er ist es nicht im Stande; er muss seine Aufmerksamkeit,
mit Ausschluss aller andern Vorstellungen, auf die ihm zugeführte richten. Dabei
ist er sich jedoch, während der ganzen Zeit, bewusst, dass die Vorstellung ihm
fremd, ihm von Aussen aufgedrängt sei. Niederbinden — eine Fesselung des
Urtheils der angegriffenen Personen in der Beurtheilung ihrer Gedanken. Bomben-
bersten — eine der schrecklichsten Einwirkungsarten. Die im Gehirn und in
den Nerven vorhandene Lebensflüssigkeit, der in den Blutgefässen auf und nieder-
steigende Dunst, das Gas im Magen und in den Gedärmen werden höchst ver-
dünnt und brennbar gemacht, was dann eine sehr schmerzhafte Ausdehnung durch
den ganzen Körper verursacht. Während die angegriffene Person auf diese Weise
leidet, lassen die Bösewichter eine kräftige Ladung der electrischen Batterie,
deren sie sich zu dieser Einwirkungsweise bedienen, auf sie los, die dann eine
schreckliche Erschütterung bewirkt und den ganzen Körper zerreisst. Im Kopfe
tritt ein furchtbares Krachen ein, und es ist ein Wunder, wenn die starke Er-
schütterung nicht augenblicklich den Tod herbeiführt etc. etc.
Selbst während des Schlafs wird M. durch Traumbereitungen gequält. Die
Bösewichter haben seltsam gestaltete Puppen von verschiedener Art; wenn sie
diese eine Zeit lang anhaltend ansehen, so können sie das Bild solcher Gestalten
während des Traums in seine Seele werfen etc.
Die Stoffe, deren sich die Bande zu ihren Zubereitungen bedient, sind nach
M. von verschiedener Art — Samenflüssigkeit von Männern und Frauen, Aus-
flüsse von Kupfer, Schwefel, die Dämpfe von Vitriol und Scheidewasser, von
Nachtschatten und Niesswurz; Ausflüsse von Hunden, menschliches Gas, Kröten-
gift, Dämpfe von Arsenik etc.
(S. die weiteren ausführlichen Mittheilungen des Kranken und die von ihm
gegebene Abbildung der Maschine in Nasse, Zeitschrift f. ps. A. 1818. I.)
[275]
Zweites Capitel.
Die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit (Démence.)
§. 125.
Unter den psychischen Schwächezuständen ohne das auffallende
Herrschen eines Einzel-Wahns begreifen wir — im Gegensatz zum
apathischen Blödsinn — diejenigen unter der Benennung der Ver-
wirrtheit, wo die Kranken noch einige äussere Lebendigkeit und Be-
weglichkeit sowohl in Rede als Benehmen zeigen, welche dann eben
auch auf einige noch vorhandene Mannigfaltigkeit und Activität des
Vorstellens und Strebens hinweist. Auch hier gibt es unendliche
Verschiedenheiten in der Aeusserungsweise der psychischen Schwäche;
noch am meisten Characteristisches haben die zahlreichen Fälle, welche
in ihrem äusseren Verhalten noch eine sichtbare Aehnlichkeit mit der
Manie darbieten. Diese Aehnlichkeit kann freilich immer nur eine
äussere und oberflächliche sein.
Denn in allen diesen Fällen besteht die Grundstörung in einer
allgemeinen Schwäche der psychischen Thätigkeiten. Von Seiten des
Gemüths äussert sich diese in der zunehmenden Unfähigkeit der
Kranken zu jedem tieferen Affect mit unregelmässigem Wechsel ganz
oberflächlicher Gemüthsbewegungen oder anhaltender völliger Gleich-
gültigkeit. Hass und wirkliche Liebe sind gleich unmöglich bei diesen
Kranken; Entbehrungen kennen sie kaum oder gar nicht und über
angenehme Ereignisse können sie sich kaum oder gar nicht mehr
freuen. Kommt auch zuweilen eine augenblickliche, turbulente Auf-
wallung vor, so ist sie doch weder von starken Vorstellungen noch
von einem energischen Gefühls- oder Willensacte getragen, die Gleich-
gültigkeit kehrt schnell zurück, und diese Gleichgültigkeit ist es auch,
welche die Gefühlsreactionen auf die Aussenwelt qualitativ abnorm
erscheinen lässt (Fortlachen, Fortspielen auch bei den traurigsten
Anlässen etc.). Verschiedenheiten in der herrschenden Grundstimmung
kommen immerhin vor. Einige dieser Kranken äussern anhaltend eine
heitere Stimmung, Lachen, Tanzen, Singen und zeigen in Geberden und
Rede Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und dreiste Zuversicht (Moria S. p. 235).
Andere zeigen ein ängstliches Wesen, weinen viel und bieten die
Mimik der Trauer und Besorgniss dar. Noch Andere zeigen eine
Neigung zu boshaften Streichen, zu Schadenfreude etc. Aber diese
Stimmungen sind weder äusserlich (wie beim Gesunden) noch inner-
lich (wie beim Maniacus und Melancholischen) psychisch motivirt,
18 *
[276]Symptomatologie
sind ganz oberflächlich, können ohne allen Grund mit einander wechseln
und äussern sich durchaus in schwächlicher, kindischer, läppischer
Weise. Bei aller Unbekümmertheit und bei der Abwesenheit jeder
wirklichen Begierde kommen ebenso doch unordentliche psychische
Bewegungen und ein zweckloses, zuweilen extravagantes Treiben vor,
dessen Sinn der Kranke selbst nicht mehr versteht, und die Willens-
reaction, wo noch solche vorhanden ist, hat durchaus den Character
des Flüchtigen und Schwankenden.
§. 126.
Während schon von dieser Seite Alles auf Schwäche, Ohnmacht
und Erschlaffung hinweist, zeigt sich derselbe Character, fast in noch
höherem Masse, auf dem Gebiete des Vorstellens, wie denn schon
oben der Zusammenhang jener Gemüthsschwäche mit der Schwäche
des Vorstellens besprochen wurde. Diese äussert sich vor Allem als
Verlust des Gedächtnisses, und die Reproduction der Vorstellungen
ist hauptsächlich in der Art beeinträchtigt, dass das näher Liegende,
das jetzt, während des Blödsinns vorgestellte immer augenblicklich
wieder vergessen wird, während nicht selten frühere, an Ereignisse
längst vergangener Lebens-Perioden geknüpfte Vorstellungen leichter
reproducirt werden; doch haben Manche dieser Kranken auch ihr
früheres Leben und ihren eigenen Namen ganz vergessen. Da alle
Operationen des Vorstellens durchaus energielos vor sich gehen, so
werden von dem jetzt Vorgestellten keine Eindrücke mehr festgehalten;
damit aber ist die Fähigkeit, mehrere Vorstellungen mit einander zu
vergleichen, ein Gemeinsames aus ihnen zu abstrahiren, zu urtheilen
und zu schliessen, verloren gegangen, und alles Vorstellen zu einem
zusammenhangslosen Spiele flüchtig auftauchender und wieder ver-
gehender Bilder und Worte herabgesunken. Es ist eine unnütze und
sterile Activität der Intelligenz, die sich in disparaten, isolirten und
lückenhaften Vorstellungen ergeht, aber unfähig ist, sie zum Urtheil
zu verbinden. Hieraus ergibt sich also einerseits die Unmöglichkeit
jeder Abstraction, andererseits auch eine äusserliche Verworrenheit
in den aus zufällig gegenwärtigen Sinneseindrücken hervorgegangenen
oder nach dem ganz äusserlichen Zusammenhange zufälliger Aehn-
lichkeiten (namentlich z. B. der Asonnanz) associirten Bildern und Vor-
stellungen. Daher der Mangel aller Logik, der unregelmässige Wechsel
unzusammenhängender Vorstellungen, das sinnlose, papageienartige
Wiederholen von Worten und Phrasen aus Gewohnheit und nach zu-
fälligen Aehnlichkeiten der Laute, die incohärenten und widersinnigen
[277]der Verwirrtheit.
Antworten. Oft glaubt man noch bei solchen Kranken eine Anstrengung
des Gedächtnisses, des Urtheils, der Aufmerksamkeit zu gewahren,
die aber machtlos und vergeblich ist; oft bemerkt man im Einzelnen
ihres Gesprächs, welche Mittelglieder zwischen den disparaten Vor-
stellungen fehlen und welches die Uebergänge sein sollten, über welche
die Ideensprünge weghüpfen, ja man erhält zuweilen von dem mit-
leidswerthen Kranken den Eindruck, als fühle noch Etwas in ihm
mit leisem Schmerze die Unmöglichkeit, sich in diesen auseinander-
gefallenen Trümmern des psychischen Lebens zurecht zu finden.
Eigentliche fixe Ideen, consequent ausgebildete Wahnvorstellungen
treten hier nicht mehr neu auf, die von früher vorhandenen derartigen
Gedankenbildungen werden mit der zunehmenden Schwäche lockerer,
und der Kranke kann so wenig fest an sie glauben, als er über-
haupt irgend etwas mit Energie festhalten kann. Doch hält gerade
die Reproduction der in der maniacalischen Aufregung entstandenen
Vorstellungen oft lange Stand, und man findet eben die Uebertrieben-
heiten des Wahnsinns hier so häufig wieder in dem sinnlosen Wieder-
holen grosser Zahlen, ungeheurer und abentheuerlicher Bilder der
eigenen Grösse und des eigenen Besitzes (Tausende von Millionen,
Diamanten, Welten etc.), was aber Alles für den Kranken zum blossen
Spiel von Worten, bei denen er sich fast nichts mehr denken kann,
geworden ist.
§. 127.
Die Sinnorgane können normal functioniren, so dass die Kranken
zwar gut sehen, hören etc. aber die Verarbeitung und Umänderung
der Sinneseindrücke zu adäquaten Vorstellungen im Gehirn nicht mehr
recht von statten geht; oder — und zwar gewöhnlich — es sind
Hallucinationen vorhanden, welche mit den Vorstellungen den Character
der Verworrenheit, Zufälligkeit und Abruptheit theilen.
Die Muskelbewegungen sind in sehr vielen Fällen durch be-
ginnende oder weiterschreitende allgemeine Lähmung beschränkt. Wo
diess nicht der Fall ist, werden die Körperbewegungen oft unruhig
und unstet, doch plump und ohne vielen Wechsel ausgeführt und
die Körperstellung wird oft schwerfällig und unbehülflich. Die Kranken
laufen zuweilen beständig umher, wie wenn sie etwas suchen wollten,
oder sie treiben sich, tanzend, hüpfend, mit den Händen gestiku-
lirend herum und machen bizarre, automatische Bewegungen. Ihre
Haltung und Geberden drücken entweder vollständige Nullität oder nur
die oberflächlichsten Affecte aus und auch hier kommen mannigfaltige
[278]Die Verwirrtheit. Beispiel.
kindische und grillenhafte Gewohnheiten vor, Kehrichtsammeln, be-
ständiges Liegenbleiben im Bette, Freude an Spielwerk und lächer-
lichem Putz etc. Zuweilen kommt eine launische Weigerung zu essen,
unter andern Aeusserungen kindischer Widersetzlichkeit vor; häufiger
sieht man eine behagliche Gefrässigkeit, oft ein sinnloses Hinunter-
schlingen der ekelhaftesten Dinge. Sehr viele dieser, lange in den
Irrenhäusern eingeschlossenen Kranken treiben noch Onanie, und man
erhält zuweilen aus ihren Reden dunkle Andeutungen von bedeu-
tenden Störungen der sexuellen Functionen, welche zu weiteren Un-
tersuchungen über diesen Punkt auffordern.
Die Physionomie ist meist alt und plump, der Blick leer, und
das Aeussere der Kranken durch Vernachlässigung und Schmutz ab-
stossend geworden. Das körperliche Befinden kann gut, oder es
können die verschiedensten chronischen oder acuten Erkrankungen
vorhanden sein; nicht selten ist Neigung zum Fettwerden zugegen.
Von freien Intermissionen ist im Verlauf der Verwirrtheit keine
Rede mehr. Remissionen kommen in der Weise vor, dass ruhigere
und etwas besonnenere Zustände mit den Zeiten grösserer Turbulenz
und Agitation abwechseln. Der Verlauf dieser Zustände ist ein zu
immer tieferer Schwäche fortschreitender, am schnellsten bei der
Complication mit Paralyse, sonst mit Jahre langen Stillständen. Hei-
lung tritt niemals mehr ein.
XLIII. Uebergang der Verrücktheit in völlige Verwirrtheit.
Julie hat nur noch einen Gedanken und noch dazu einen unsinnigen; sie hält
sich für den Allmächtigen; sie spricht zwar auch von andern Dingen, aber ihre
Reden sind ohne Folge und Zusammenhang, und sie hat fast keine Gewohnheit
eines geordneten Lebens mehr behalten. Es ist noch kein vollständiger Verlust,
sondern nur eine beträchtliche Schwäche aller geistigen Fähigkeiten, wie man
aus dem folgenden Gespräche ersehen kann.
„Wie heissen Sie, Madame?“
„Ich heisse Ich, mein Name. Sie sind mir ein Feld schuldig. Ich bin wahr-
haftig der Allmächtige. Mein Verstand ist zugeschnitten worden um eine Schürze
daraus zu machen.“
„Wie alt sind Sie?“
„Ich bin 14 Jahre alt.“ (Sie zählt wenigstens 30 Jahre.)
„Wie viel machen 45 und 3?“
„Das macht 48. Nun! mir hat man auch mein Gold und meinen Schmuck gestohlen.“
„Wer hat sie Ihnen genommen?“
„Fragen Sie Ihre Gedanken: Ich mache nicht das Cürassierweib. Ich bin
der Allmächtige.“
„Seit wann sind Sie der Allmächtige?“
„Immer, immer. Ich bin immer der Allmächtige gewesen.“
„Aber der Allmächtige hat einen Bart und Sie haben keinen?“
[279]Höchste Grade des Blödsinns.
„Doch, hier ist er ja“ (sie zeigt an ihre Haare.)
Diese Kranke merkt selten auf etwas und ihre Aufmerksamkeit ist nie an-
haltend; sie hat kein Gedächtniss für das Alte und sehr wenig für die Gegen-
wart, sie ist nur noch der einfachsten Verrichtungen fähig, ihr Bett zu machen,
sich anzukleiden, ihr Essen zu holen. Sie weiss den Namen von keiner der
Personen ihrer Umgebung, mit denen sie doch schon mehrere Jahre zusammen
lebt. In einem Momente geht sie von Lachen zu Zänkereien über etc.
(Leuret, fragmens psychol. Par. 1834. p. 34.)
Drittes Capitel.
Der apathische Blödsinn.
§. 128.
Theils als Ausgänge der zuletzt betrachteten Form, theils ohne
dass die lautere und agitirtere Aeusserungsweise des Blödsinns voraus-
gegangen wäre, kommen als äusserste Grade psychischer Verkommen-
heit noch tiefere und ausgebreitetere Zustände von Seelen-Läh-
mung vor.
Die Unfähigkeit, mehrere Vorstellungen zusammen zu fassen und
zu vergleichen, nimmt hier immer mehr zu, und an die Stelle der
bei den vorigen Formen noch möglichen Mannigfaltigkeit abrupter,
unzusammenhängender Vorstellungen tritt allmählig eine fast gänzliche
Abwesenheit von Bildern und Gedanken. Die Sinneseindrücke werden
nicht mehr verarbeitet, es wird nichts weiter mehr aus ihnen gebildet;
das Gedächtniss ist beinahe vollständig erloschen, so dass nicht nur
von einem Augenblicke zum andern Alles vergessen wird, sondern
auch aus dem früheren Leben der eigenen Person fast keine Erin-
nerung geblieben ist. Auch die Sprache ist oft zum grössten Theile
vergessen, so dass die Kranken im besten Falle noch einige ge-
läufige, höchst beschränkte Ausdrücke halb zweckmässig anbringen
können, häufiger die zurückgebliebenen Worte nur ganz automatisch
wiederholen, oder, des Wortes selbst gar nicht mehr mächtig, nur
noch Bruchstücke früher gewohnter Laute hervorbringen. Mit diesem
höchsten Grade von Stumpfheit der Phantasie und dieser Nullität der
Intelligenz geht gleichen Schritt die tiefste Schwäche des Willens.
Nichts mehr kann der Kranke aus eigenem Antriebe thun, er muss
sich vielmehr völlig passiv durch fremde Impulse, kaum noch durch
Reste früherer Gewohnheiten bestimmen lassen; oft ist er nicht mehr
fähig, für seine einfachsten Bedürfnisse zu sorgen, er muss gefüttert
werden, verirrt sich jeden Augenblick in seinem eigenen Zimmer
[280]Der apathische Blödsinn.
und seine Unkenntniss jeder Gefahr legt Anderen die Pflicht auf, ihn
vor Unglücksfällen zu bewahren. Sein Benehmen ist unverändert,
gleichförmig, bald scheinbar in sich gekehrt, schüchtern, träge, laut-
los und bewegungslos, bald werden automatische Bewegungen, Hin-
und Herwiegen des Körpers, Händereiben, Murmeln, Lallen etc. ohne
Sinn und Zweck ausgeführt. Diese Geberden sind leblos, die Ge-
sichtszüge ganz erschlafft, oder staunend, oder ohne Motiv scheinbar
aufmerksam, und das leere Hinstarren oder Lächeln zeigt, dass
keine Vorstellungen mehr da sind, welche der Kranke auszudrücken
hätte. Doch kommen zuweilen noch schwache Aeusserungen von
Lust und Unlust und von Affecten vor, von gewohnter oder auch
zuweilen von wenig motivirter, bizarrer Zuneigung zu einzelnen Per-
sonen, von Schamgefühl, von kindischer Schadenfreude, von Aengst-
lichkeit (Verstecken) etc.; in einzelnen besseren Stunden kehren wohl
auch Anklänge aus dem früheren Leben, mehr Empfänglichkeit und
Theilnahme für die Aussenwelt und ein lebhafteres Gefühl für freund-
liche Behandlung zurück, und es liegt in dem Uebrigbleiben solcher
Spuren von Selbstempfindung und Gefühl wohl Aufforderung genug
dazu, die menschliche Natur auch in ihrer tiefsten Versunkenheit
noch an diesen Unglücklichen zu achten, deren stumme, unverständ-
liche Geberde so oft, ihnen selbst unbewusst, eine finstere Ver-
gangenheit anklagt.
Tiefe Störungen in den motorischen und sensitiven Thätigkeiten
des Gehirns begleiten ausserordentlich häufig diesen traurigen Seelen-
zustand, namentlich die allgemeine Paralyse der Bewegung und oft
auch der Empfindung, so z. B. dass solche Kranke oft ohne alle
Perception die tiefsten und ausgebreitetsten Verbrennungen erleiden
können. Die Ernährung kann dabei oft längere Zeit unbeeinträchtigt
sein, so dass die Kranken fett bleiben, mit gefrässigem Appetit essen etc.;
auch der Schlaf ist oft wohlerhalten, fest und lang.
Der einzige, für diese Zustände mögliche Ausgang ist der Tod.
Die Kranken erliegen entweder den apoplectischen Anfällen, welche
im Verlauf der allgemeinen Paralyse vorkommen, oder den wässrigen
Ergüssen im Gehirn, der Atrophie desselben etc. oder anderweitigen
chronischen oder acuten Krankheiten, Pneumonie, Lungenbrand,
Tuberculose, Darmcatarrh. Einzelne sterben bei Mangel an genauer
Aufsicht, an den Folgen einer Urinstagnation in der Blase oder der
Fäcesanhäufung im Darm, oder an Unglücksfällen, Verbrennungen,
Ersticken durch grosse Bissen und dergl.
[281]
Dritter Abschnitt.
Von einigen wichtigen Complicationen des Irreseins.
§. 129.
Die bisher erörterten, namentlich die zuletzt betrachteten Formen
psychischer Anomalieen sind zuweilen von schweren Störungen nament-
lich gewissen schweren Nervensymptomen begleitet, die — obwohl
mit der Gehirnkrankheit, die auch das Irresein ergibt, zunächst und
unmittelbar zusammenhängend — doch solche Wichtigkeit, zum Theil
auch eine solche Art von Selbständigkeit zeigen, dass sie als Compli-
cationen der Geisteskrankheiten erscheinen. Wir wollen also hierunter
nicht alle Erkrankungen verstehen, an denen die Irren leiden können;
diese sind unzählig, da man bis jetzt kaum Ausschliessungsverhält-
nisse der Gehirnkrankheiten kennt. Auch die hin und wieder ge-
äusserte Meinung, dass Geisteskranke von epidemischen Krankheiten
frei bleiben sollen, ward schon zu Pinels Zeit durch ein tödtliches
typhöses Fieber, das in den Irren-Abtheilungen, wie in den übrigen
Räumen des Hospitals herrschte, und neuerdings wieder in Paris
durch die Cholera auffallend widerlegt. Sämmtliche Störungen, welche
die specielle Pathologie kennt, kommen bei Irren vor; hier kann es
sich nur von Aufzählung und Erörterung derjenigen Complicationen
handeln, welche in ganz directem Zusammenhang mit dem Irresein
stehen, jener schweren Störungen der Bewegung und Empfindung,
welche, selbst Symptome einer schweren Erkrankung des Gehirns,
ganz in die Geschichte des Irreseins selbst gehören und hier nur
durch das Bedürfniss einer ausführlicheren Betrachtung von derselben
äusserlich getrennt werden.
§. 130.
Unter diesen Störungen verdient die sogenannte allgemeine
(unvollständige) Paralyse wegen ihrer Häufigkeit, der Eigenthüm-
lichkeit ihres Verlaufs und ihrer höchst traurigen Prognose die meiste
Aufmerksamkeit. Sie ist bis jetzt ausschliesslich von französischen
Aerzten (Esquirol, Calmeil, Bayle, Delaye, Foville, Sc. Pinel etc.)
genauer studirt worden, mit deren Schilderung im Wesentlichen unsere
Beobachtungen übereinstimmen.
Diese Paralyse kommt niemals bei Geistesgesunden vor, d. h.
sie beruht auf einer Gehirnkrankheit, welche immer schwer genug
ist, um ein tieferes Irresein unter ihren Symptomen zu haben. Die
[282]Die allgemeine Paralyse der Irren.
psychische Störung tritt entweder gleichzeitig mit der Störung der
Bewegung auf, oder — bei weitem das häufigste — jene besteht
schon längere Zeit (zuweilen sehr lange, 15 bis 20 Jahre), ehe sich
die ersten Spuren der Paralyse zeigen, oder — sehr selten — die
paralytischen Erscheinungen gehen kurze Zeit dem Irresein voraus.
Dasjenige Organ, dessen Bewegungen immer zuerst eine Un-
regelmässigkeit zeigen, ist die Zunge. Der Kranke fängt an, mit
Anstrengung zu sprechen, etwas ungenau zu articuliren, und zu stottern.
Die Zunge ist dabei nicht schief gestellt, wohl aber sieht man sie
beim Ausstrecken zuweilen krampfhafte Bewegungen machen. Dieses
erste Symptom, das Stottern, ist schon von ausserordentlicher Wich-
tigkeit; sobald es bei einem Geisteskranken bemerkt wird, ist er fast
mit Gewissheit als verloren zu betrachten. *) Denn, während solche
Kranke häufig ganz wohlgenährt und blühend aussehen, keine Spur
von Fieber haben, und ihr eigenes Wohlbefinden gewöhnlich nicht
genug rühmen können, entwickelt sich nun allmählig eine Reihe der
allerbedenklichsten Symptome. Gleichzeitig mit dem Stottern, häufiger
erst bald darauf bemerkt man eine Veränderung im Gange der Kranken,
sie heben die Beine nicht gehörig, gehen steif, kommen unwillkühr-
lich von ihrem Wege etwas seitwärts ab, und straucheln leicht bei
jeder Unebenheit des Bodens, z. B. an einer Treppe. Doch gehen
sie noch gerne und viel umher; Einzelne empfinden sogar einen be-
ständigen Trieb zu ruheloser Ortsveränderung; sie machen Spazier-
gänge und der Ungeübte bemerkt wenig Auffallendes, so lange sie
auf ebenem Terrain gehen. Die Arme sind noch längere Zeit rüstig.
Allmählig aber, während die Articulation der Worte immer unbe-
stimmter wird und man schon zuweilen errathen muss, was der Kranke
sagen will, wird der Gang schwankend, wie der eines Betrunkenen,
die Füsse werden nachgeschleppt, die Kniee scheinen einsinken zu
wollen, der Kranke muss sich an der Mauer halten, stolpert jeden
Augenblick und fällt manchmal zu Boden, auch die Arme und Hände
werden nun etwas steif, die Gegenstände werden wie krampfhaft fest-
gehalten und alle feineren, Präcision erfordernden Bewegungen
(Schreiben, Nähen, Clavierspielen etc.) werden nach und nach un-
möglich. Liegend kann der Kranke die Beine, wie die Arme frei
bewegen, aber diese Bewegungen geschehen langsamer und starrer
als sonst. Mit fortschreitender Krankheit kann er sich nicht mehr
aufrecht erhalten, statt der Sprache hat er nur noch confuse und
[283]Symptomatologie.
unbestimmte Töne, selbst sitzend oder liegend kann er die Beine
kaum mehr heben und strecken, während dagegen den Armen und
Händen immer noch eine freiere Beweglichkeit bleibt.
Was die Sensibilität betrifft, so bleiben die höheren Sinne meist
bis zur letzten Periode ohne auffallende Beeinträchtigung; erst nach
längerer Dauer der Affection nehmen Geruch und Geschmack ab, der
Kranke kann z. B. Wasser und Wein nicht mehr von einander unter-
scheiden. Die Hautsensibilität zeigt zuweilen ein sehr merkwürdiges
Verhalten. Während sie nemlich im Ganzen mit dem Beginn der
Lähmung stumpfer zu werden scheint und später in einzelnen Fällen
fast erloschen ist (so dass man den Kranken lebhaft kneipen kann,
ohne dass er Zeichen von Schmerz gibt), so kommen mitunter vor-
übergehende Zustände höchster Hyperästhesie der Hautoberfläche vor,
bei welchen leise Berührungen die ausgebreitetsten Reflexbewegungen,
Convulsionen aller willkührlichen Muskeln erregen, ein Zustand, der
mit dem Verhalten der mit Strychnin vergifteten Thiere die grösste
Aehnlichkeit zeigt. In einem besonders exquisiten Falle der Art
konnten wir diese Hauthyperästhesie in den nächsten Stunden, welche
einem Anfalle von Convulsionen folgten, genau beobachten.
Nicht selten nemlich kommen bei diesen Kranken unter den
Erscheinungen heftiger Kopfcongestion plötzliche Anfälle von Bewusst-
losigkeit, gewöhnlich mit ausgebreiteten, Epilepsieähnlichen Convul-
sionen vor, welche meist, wenn einmal eingetreten, sich häufig wie-
derholen, in denen der Kranke zuweilen stirbt, von denen er sich
aber gewöhnlich wieder bald erholt. Wenn diess auch geschieht, so
bemerkt man doch in der Regel nach jedem solchen Anfall eine
Zunahme der Paralyse und der psychischen Abstumpfung; nicht selten
bleiben auch nach dem Anfall Contracturen einzelner Glieder, des
Vorderarms, der Finger oder der Beine zurück.
§. 131.
Die psychischen Störungen bei diesen Kranken haben im Anfang
der Paralyse nicht immer denselben Character. Die Lähmung kann —
und diess ist das seltenste — bei melancholischen Irren eintreten *)
und der Kranke die melancholische Grundlage des Deliriums längere
Zeit festhalten. Bei weitem häufiger fällt der Beginn der Paralyse
mit einem psychischen Exaltationszustande zusammen, mit dem vagen
[284]Die allgemeine Paralyse der Irren.
Delirium der Tobsucht oder mit dem Auftreten der, oben beim Wahn-
sinn bezeichneten fixen Ideen von Erhebung der eigenen Persönlich-
keit, mit jener, eben wegen ihres häufigen Zusammenvorkommens mit
Paralyse mit Recht prognostisch so verrufenen Monomanie des gran-
deurs. Immer aber, und zuweilen nach einem ganz kurzen Stadium
maniacum, tritt mit dem Beginn der Paralyse in den psychischen
Erscheinungen der Character einer tieferen Schwäche auf; die Kranken
verlieren das Gedächtniss, die Fähigkeit zu geistiger Combination,
jeden Sinn für ernstere Zwecke, vernachlässigen sich vollständig,
werden im höchsten Grade unreinlich etc. Von nun an hält gemein-
hin der Blödsinn ganz gleichen Schritt mit der Paralyse, wird jedoch
bei einzelnen Kranken zuweilen durch tobsüchtige Anfälle, Geschrei
mit Wuth und Sucht zum Zerstören, in der Erscheinung modificirt.
Einzelne Kranke äussern noch sehr lange fort und ohne mehr wirk-
lichen Sinn damit zu verbinden, jene Uebertriebenheiten vom Besitz
von Provinzen, Reichen, Welten, Millionen etc., jene Häufungen von
Zahlen, Grössen, Herrlichkeiten, verschieden modificirt nach der
Bildungsstufe des Kranken. Der eine *) besitzt tausend Millionen
Milliarden, Alles in der Welt gehört ihm, er hat Alles erschaffen etc.
Ein Anderer baut die herrlichsten Schlösser, hat Italien gekauft, Asien
erobert und vernichtet, die Brücke, die in den Mond führt, zer-
stört, die Chinesen nach Paris geführt, er selbst ist 800 Fuss hoch etc.
Andere machen 100 Stunden in einem Tag, 100 herrliche Tragödien,
1000 Gedichte in derselben Zeit, haben einen Kopf von Gold und
Diamanten, goldene Pferde und Schlösser etc.
In der letzten Periode dieser Affection aber gehen auch diese
Ideen unter; der Kranke ist im letzten Grade von Abstumpfung und
Verdumpfung so wenig mehr irgend einer ganzen Vorstellung, wie
eines vollständigen Wortes fähig; er ist zu jeder Auffassung und Per-
ception seiner Umgebung unmächtig; selbst die ursprünglichsten
Instinkte, wie das Verlangen nach Nahrung, erlöschen und der Kranke
muss nicht nur gefüttert, die Nahrung muss ihm oft noch im Munde
vorwärts geschoben werden.
Der Appetit, die Verdauung und Ernährung sind anfangs und
noch lange während des Verlaufs vollständig erhalten; die Kranken
essen dann viel und gierig, ihr Aussehen ist oft gut, und es findet oft
ziemlich starke Fettbildung statt, nur eine auffallende Trockenheit
der Haut mit starker Abstossung der Epidermis war uns in einzelnen
[285]Ihr Vorkommen und Verlauf.
Fällen, bei geschwächter Sensibilität der Haut, auffallend. Erst in
der letzten Periode werden die Kranken gewöhnlich mager; es kommen
Brandschorfe auf der Haut, namentlich des Rückens, oft mit grossen
Abscessen und weit greifenden Eiterungen, Infiltration der Extremitäten
und die Kranken erliegen einem hectischen Fieber, das in manchen
Fällen mit Eiteraufnahme, in andern mit acuten oder chronischen
Darmcatarrhen, begleitet von profuser Diarrhöe und Ulceration des
Darms, anderemale mit allgemeiner Tuberculose zusammenhängt.
Einzelne sterben auch an Pneumonie, an Unglücksfällen etc.
§. 132.
Diese Paralyse der Geisteskranken kommt nach allen bekannt
gewordenen Erfahrungen unendlich viel häufiger bei Männern als bei
Weibern vor. Bei Calmeil kam auf 15 geisteskranke Männer ein
Paralytischer, unter den Weibern eine auf 50; *) nach Bayle kam
Paralyse in Charenton bei den Männern 8mal häufiger als bei den
Weibern vor **) und Foville***) zählte unter 334 Irren 31 Para-
lytische, darunter 22 Männer und 9 Weiber. Die Ursachen dieses
Verhältnisses sind dunkel; es liesse sich vermuthen, dass die bei den
Männern viel häufigeren Excesse in spirituosen Getränken das Gehirn
zu solchen Affectionen prädisponirten (s. oben p. 246); andrer-
seits glaubt Lallemand †), dass bei manchen dieser Kranken die Para-
lyse in Folge von Spermatorrhöe entstehe und unter deren Ein-
flusse fortschreite. Dass die Kranken, welche nach vorausgegangenen
Excessen in Irresein verfallen, eher zur Paralyse geneigt sind, wird
allgemein angenommen; man schreibt es zu grossem Theile diesem
Umstande zu, dass in Frankreich unter den Paralytischen so viele
frühere Militärs gefunden werden. — Auch das Clima scheint von
Einfluss auf die Häufigkeit der Paralyse zu sein; sie ist in südlichen
Ländern (z. B. schon in Südfrankreich) seltener als im Norden.
Die Dauer der Paralyse ist von einigen Monaten bis zu höchstens
drei Jahren. In ihren Familien verpflegt, leben die Kranken länger,
als in den Irrenanstalten, da ihre Verpflegung in den höheren Graden
dieselbe Mühe und Sorgfalt in Anspruch nimmt, wie die eines Neu-
gebornen. Der Verlauf der Affection wird nicht nur durch die er-
wähnten Anfälle von Kopfcongestion zum Nachtheil des Kranken unter-
[286]Die allgemeine Paralyse der Irren.
brochen; häufig sieht man auch, ohne bemerkbare Ursache, von einem
Tag zum andern die Krankheit sich bedeutend verschlimmern.
Einzelne Beispiele von Genesung oder wenigstens längerer be-
deutender Besserung — nie ohne dringende Gefahr der Recidive —
sind bekannt geworden; Esquirol hat 3, Calmeil 2, Bayle 6 Fälle der
Art beobachtet; die ungeheure Mehrzahl der Kranken stirbt in der
angegebenen Zeit. Dagegen kommen vorübergehende Besserungen,
welche zu fast vollständigen Intermissionen werden können, aber
leider gewöhnlich nicht lange dauern, weniger selten vor.
Aus den vielfachen sorgfältigen und interessanten Untersuchun-
gen über den Zustand des Gehirns bei der allgemeinen Paralyse (S.
das Capitel der patholog. Anatomie) müssen wir den Schluss ziehen,
dass ihr durchaus nicht immer eine und dieselbe Alteration zu Grunde
liegt. Auch hier, wie bei den übrigen Krankheiten des Nervensy-
stems, erzeugen sehr verschiedene Texturveränderungen dieselben
grösseren Symptomencomplexe. Nur die gewöhnliche Apoplexie —
Gehirnzerreissung durch ein Blutextravasat — ist niemals die Ur-
sache dieser Form von Lähmung; dagegen scheinen während der
Anfälle von Kopfcongestion und Bewusstlosigkeit sehr häufig stär-
kere oder mässigere Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea zu
erfolgen, welche sich später entweder encystiren oder, bei geringerer
Blutmenge, ganz dünne, lockere, leicht zu übersehende Pseudomem-
branen, wie Anflüge auf der Innenseite der dura mater über der Con-
vexität der Hemisphären darstellen.
Ein Punkt in der Geschichte der Paralyse, wie wir sie aus
eigenen Beobachtungen kennen, scheint uns bis jetzt von den Bearbeitern
derselben zu wenig beachtet, nemlich die im ersten Anfang weit
mehr krampfhafte als lähmungsartige Natur der Affection. In mehren
Fällen haben wir uns deutlich davon überzeugt, wie die ersten Stö-
rungen des Sprechens nicht auf einer verminderten Beweglichkeit,
sondern einem krampfhaften Herumwerfen der Zunge beruhten und
wie ebenso das erschwerte Gehen anfangs mit Steifheit der Beine,
Rigidität und vorübergehendem Zittern der Muskeln verbunden war.
So häufig stimmt in diesem Zeitraume der unordentliche, convulsivische
Character des Strebens und Wollens mit dieser Natur der motori-
schen Affection überein, während später allerdings beide, nebst
der ganzen übrigen psychischen Thätigkeit, in totaler Paralyse unter-
gehen.
[287]Die Epilepsie als Complication des Irreseins.
§. 133.
Als eine zweite wichtige Complication des Irreseins ist die
Epilepsie zu erwähnen. Die vielfältigen Berührungs- und Ueber-
gangs-Punkte der motorischen Krampfformen, welche man unter die-
sem Namen begreift, zu den tieferen Störungen der psychischen
Thätigkeit zeigen sich theils in den Erscheinungen vor, während und
nach den epileptischen Anfällen, theils in dem ganzen Krankheits-
verlauf der Epilepsie.
Auffallendere psychische Störungen kommen nicht selten vor
dem Anfalle vor, bald eine rauschartige Verwirrung und Umneblung
des Bewusstseins, bald tiefe, traurige Verstimmung, höchst peinliche,
ärgerliche Laune, bald unmittelbar vor dem Anfall heftige Hallucinationen
aller Sinne.
Während des Anfalls ist in den gewöhnlichen Fällen das psy-
chische Leben in der Bewusstlosigkeit völlig untergegangen. We-
nigstens erinnert sich der Kranke keines psychischen Actes aus dieser
Zeit, wenn gleich jener Gesichts-Ausdruck von starrem, entsetztem
Staunen, den der Kranke so oft zeigt, den Gedanken eines schreck-
lichen Seelenleidens erwecken könnte. Es gibt aber wirklich epileptische
Zustände, wo sich das Verhalten der psychischen Störung während
der Anfälle constatiren lässt. Es kommen nemlich, von vielen guten
Beobachtern notirt, theils als Vorläufer der intermittirenden Krämpfe,
theils abwechselnd mit solchen, Anfälle vor, welche entweder ganz
ohne oder doch mit sehr beschränkter Störung der Bewegung (z. B.
Zuckungen einzelner Gesichtsmuskeln, Schlingbewegungen *), Relaxation
der Arm-Muskeln etc.) hauptsächlich in einer psychischen Anomalie
bestehen. Es ist ein plötzliches Verdämmern oder Aufhören des
Bewusstseins der Aussenwelt; die Augen werden starr, der Kranke
murmelt, wenn er im Gespräche war, zuweilen das letztvorgebrachte
Wort weiter; dann kommt er wieder zu sich, bemerkt seine Geistes-
abwesenheit, versucht zuweilen sie zu verbergen, oder fährt im Ge-
spräche an dem Wort, wo er stehen geblieben, fort. Solche Kranke
haben nachher ihren Zustand beschrieben als einen grossen geistigen
Schmerz mit tiefer Verworrenheit und Depression, wie in einem
schweren Traum; sie hatten ein Gefühl von Gewissensangst oder wie
[288]Die Epilepsie als Complication.
von einem überwältigenden Unglück, ohne dass sie einen Grund
dafür finden konnten *).
Unmittelbar nach dem Anfalle zeigt die psychische Thätigkeit
oft die auffallendsten Störungen. Der Kranke spricht zuweilen längere
Zeit unzusammenhängend wie ein Blödsinniger, und es stellt sich
mitunter die Intelligenz erst nach einigen Tagen wieder bis zu ihrem
früheren Verhalten her. Noch viel wichtiger aber sind jene, dem
Krampfanfalle auf dem Fusse folgenden Paroxismen von Tobsucht,
die sich oft durch einen so hohen Grad von blinder Wuth und
Wildheit, ein so tolles Dreinschlagen, wie es bei andern Maniacis
kaum jemals vorkommt, auszeichnen.
Eine sehr grosse Anzahl Epileptischer ist aber auch während
der krampffreien Zeiten geisteskrank. Um zu erkennen, in wel-
chem Umfange dies der Fall ist, darf man die Epilepsie nicht nach
den vereinzelten Fällen der Privatpraxis, sondern man muss sie nach
den Daten studiren, welche sich der Beobachtung in den grösseren
für solche Kranke bestimmten Anstalten ergeben. So waren z. B.
unter 385 von Esquirol **) beobachteten epileptischen Frauen 46 hy-
sterische, wovon viele an Hypochondrie, an maniacalischen Anfällen
litten, 30 weitere Maniacae, 12 mit Monomanie behaftete, 8 Idioten,
145 Blödsinnige (darunter 16 beständig blödsinnig, die anderen nur
kürzere oder längere Zeit nach dem Anfall); 50 waren gedächtniss-
schwach oder hegten exaltirte Ideen. 60 Kranke (also nur ⅕)
waren ohne Störung der Intelligenz, aber die meisten reizbar, eigen-
sinnig, zum Zorne geneigt. Die letztere Characterveränderung, eine
vorherrschend misstrauische, unzufriedene, neidische, zänkische, mi-
santhropische Gemüthsverstimmung, zuweilen auch eine wahre Me-
lancholie mit Hang zum Selbstmord tritt bei einer Menge Epileptischer
ein; sie mag zum grossen Theil aus dem Gefühl ihrer exceptionellen
und traurigen Lage, aus dem allmähligen Innewerden des moralischen
Todes, zu dem sie durch ihre Krankheit verurtheilt werden, entspringen.
Die wichtigste andauernde psychische Störung bei Epileptischen
ist der Blödsinn. Im Durchschnitt tritt er um so früher ein, je öfter
die Anfälle kommen. Das Gedächtniss nimmt ab, das Vorstellen
wird träge, die Phantasie verliert ihren Farbenreichthum, ihre Innigkeit
[289]Krämpfe und Neuralgieen als Complicationen.
und Wärme, und das Gemüth vertrocknet. Die Physionomie und
der Habitus verändern sich, der Kranke bekommt dicke Lippen,
grobe Züge und einen hässlichen Gesichtssausdruck. Mit dem Seltener-
und Schwächerwerden der Anfälle kann auch wieder eine Erhebung
der psychischen Fähigkeiten eintreten; aber, bei der seltenen gründ-
lichen Heilung der Epilepsie, ist doch ein endlicher Verfall in Blöd-
sinn das traurige Schicksal einer grossen Menge dieser Kranken.
Das Vorhandensein dieser intermittirenden Krampfformen bei
Geisteskranken ist denn auch von hauptsächlicher Wichtigkeit für die
Prognose. Epileptisch-blödsinnige sind als ganz unheilbar, die andern
Formen des Irreseins mit Epilepsie complicirt, als nur in den seltensten
Ausnahmsfällen heilbar zu betrachten. Einzelne, ausschliesslich für
heilbare Fälle bestimmte Irrenanstalten schliessen desshalb auch alle
mit Epilepsie behaftete Geisteskranke von der Aufnahme aus.
§. 134.
Noch manche andere krankhafte Erscheinungen im mo-
torischen Nervensysteme können das Irresein compliciren. Bald
vorübergehend verbreitete convulsivische Zustände, ähnlich dem
hysterischen Anfall oder hervorgehend aus heftiger Kopfcongestion
oder acuter Meningitis; bald chronischer verlaufende allgemeinere
Krampfformen, choreaartige Bewegungen, Drehen, Rückwärts- oder
im Kreise Gehen u. dgl.; bald clonische Krämpfe, auf einzelne Mus-
kelgruppen beschränkt, z. B. beständiges krampfhaftes Kopfnicken oder
ein convulsivisches Lüpfen der Beine beim Gehen etc.; bald Con-
tracturen mit oder ohne darauf folgende Lähmung einzelner Muskel-
parthieen, namentlich der Extremitäten, Strabismus etc. — Es ist
von ihnen mit Erwähnung ihrer übeln prognostischen Bedeutung schon
p. 86 gehandelt worden.
Eine ähnliche, schlimme Bedeutung scheinen die bisher viel zu
wenig beachteten, vagen Neuralgieen zu haben, die man, als
herumziehende Schmerzen in allen Theilen des Organismus, durchaus
nicht selten beim Uebergang der Krankheit in einen unheilbaren
Schwächezustand beobachtet. Eben ihre Häufigkeit unter diesen Um-
ständen veranlasst uns, sie für centralen Ursprungs, für eng zusam-
menhängend mit dem Irresein, und namentlich mit den in diesem
Zeitraume gewöhnlich eintretenden, dauernden Texturerkrankungen
innerhalb der Schädelhöhle zu halten. Sie stehen oft jenen leichte-
ren Hautneuralgien, die zu dem Wahne des Electrisirtwerdens Anlass
Griesinger, psych. Krankhtn. 19
[290]Fieber als Complication.
geben, sehr nahe, und dürfen durchaus nicht unter die öde Benen-
nung „rheumatischer“ Schmerzen subsummirt werden.
Endlich ist als eine häufige, mit der Gehirnkrankheit in nächstem
Connexe stehende, Complication die Gruppe der Fiebersym-
ptome zu erwähnen, die so oft den ersten Eintritt des Irreseins
begleitet. Frösteln, Hitze, Müdigkeit, Gliederreissen, Durst, Zungen-
beleg, Störung des Appetits, des Stuhls und der Urinsecretion, Em-
pfindlichkeit des Epigastriums, Trockenheit der Haut, rasche Abma-
gerung kommen sehr häufig in der Zeit vor, wo die Symptome der
Gehirnerkrankung anfangen, deutlich zu werden. Gewöhnlich nehmen
sie nach einigen Wochen oder Tagen wieder ab, von selbst oder
auf den Gebrauch einfacher Mittel, und das Irresein verläuft von jetzt
an fieberlos. Nicht selten werden diese Zustände wegen der noch
gering hervortretenden Gehirnsymptome, als gastrische, rheumatische,
catarrhalische Fieber aufgefasst, welche der Entwicklung der Geistes-
krankheit vorausgegangen seien, aus denen sich diese erst, etwa
gar wegen mangelnder Crisen „entwickelt“ habe. Oder es werden
Zungenbeleg, Appetitlosigkeit und Verstopfung als Zeichen einer
schweren Unterleibskrankheit angesehen, welche nun wohl als Ursache
des Irreseins angesprochen wird. Es genügt in diesen Beziehungen,
an eine recht unbefangene Beurtheilung und physiologische Analyse
der Erscheinungen und an die Analogie mit den übrigen Gehirn-
krankheiten zu erinnern.
[[291]]
VIERTES BUCH.
Die pathologische Anatomie der psychischen
Krankheiten.
§. 135.
Wer in den Krankheiten nicht blosse Symptome sieht, sondern
anomale Zustände der Organe, aus denen die Symptome sich ergeben,
der wird mit uns darin übereinstimmen, dass die Würdigung der
Leichenbefunde bei den Irren zu den wichtigsten Geschäften der
Psychiatrie gehört. In der That, hier in der pathologischen Ana-
tomie soll uns endlich Aufschluss darüber werden, welche Er-
krankungen es denn eigentlich sind, deren Symptome wir
bisher theils einzeln für sich, theils in ihrer Combination zu be-
stimmten Krankheitsformen kennen gelernt haben; hier sollen endlich
der wahren, d. h. der anatomischen Diagnose am Lebenden die
richtigen Grundlagen gegeben werden. Für uns sind die Leichen-
öffnungen kein Geschäft, von dem man bloss hinterher, wenn der
Kranke gestorben ist, die Befriedigung einer oft abentheuerlichen
Neugierde erwartet, für uns ist die pathologische Anatomie keine
Sammlung von Curiositäten, auch kein blosses trockenes Register der
von den Beobachtern vorgefundenen Anomalieen. Wir haben nicht
nur den Werth der An- oder Abwesenheit solcher Alterationen im
Ganzen und im Einzelnen zu erörtern, nicht nur ihren engen Zu-
sammenhang mit der Pathogenie festzuhalten, durch den erst der
todte Befund selbst sein Leben und seine Bedeutung für den leben-
den Kranken bekommt, wir haben auch zu untersuchen, ob uns nicht
19 *
[292]Ueber die An- und Abwesenheit
die gewissenhafte Prüfung der pathologisch-anatomischen Thatsachen
den Fortschritt zu Schlüssen umfassenderer Art gestatten wird, ob sich
nicht gewisse Grundthatsachen herausstellen werden, welche ein
grösseres Licht auf die innere Natur, auf das Wesen dieser Krank-
heiten, wie auf die ganze Physiologie und Pathologie des Gehirns
zu werfen vermöchten. Täuschen wir uns nicht, so ist dieser Theil
unserer Untersuchung nicht ganz ohne Resultate geblieben.
Erster Abschnitt.
Pathologische Anatomie des Gehirns und seiner Hüllen.
§. 136.
Die anatomischen Veränderungen, welche dem Irresein selbst
entsprechen, d. h. welche während des Lebens die psychischen Ano-
malieen geben, darf man natürlich nirgends anders als am Kopfe,
im Gehirn und seinen Hüllen suchen. — Nach den gegenwärtig vor-
liegenden Daten ist es nun ein constatirtes Factum, dass man in
manchen Leichen irregewesener Personen keine Anomalie in diesen
Theilen findet. Wenn man die grosse Menge unzuverlässiger
Berichte und die Fälle eliminirt, wo vor dem Tode das Irresein wieder
aufhörte, so bleibt eine Anzahl von Fällen, sorgfältigen Special-
Beobachtern (z. B. Parchappe) angehörig, übrig, wo die Kopfhöhle
und ihr ganzer Inhalt überall die normalen Verhältnisse zeigte.
Wir sind der pathologischen Anatomie ebenso dankbar für die
Constatirung dieser Thatsache, wie für die Auffindung anatomischer
Störungen. Denn da wir dennoch in allen Fällen von Irresein eine
Erkrankung des Gehirns anzunehmen haben, *) so wird uns durch
diese negativen Befunde einerseits die wichtige Analogie von Gehirn-
Störungen ohne anatomische Veränderung mit den gleichfalls ohne
anatomische Läsion des Gewebes einhergehenden Spinalirritationen
und peripherischen Nerven-Affectionen an die Hand gegeben, andrer-
seits werden damit der Prognose und Therapie tröstliche Voraus-
setzungen gewonnen.
Um aber aus diesen Fällen, wo anatomische Alterationen fehlen,
keine irrigen Schlüsse zu ziehen, muss man sich vor Allem erinnern,
[293]anatomischer Veränderungen.
dass dieselben nach den übereinstimmenden Beobachtungen der neueren,
sorgfältigen Beobachter immerhin die entschiedene Minderzahl bilden.
Man muss ihre Zahl nicht nach den Berichten derjenigen Irrenärzte
schätzen, welche, vortreffliche Administratoren oder Moralisten, keine
Zeit gehabt haben, sich mit dem Bau des Gehirns und seinen patho-
logischen Veränderungen bekannt zu machen, welche das Gehirn nur
grob, mit Messer und Gabel zu zerschneiden wissen und freilich
immer Nichts finden. Man muss bedenken, wie leicht manche feinere,
aber desshalb doch sehr wichtige Alterationen z. B. die feinen pseu-
domembranösen Anflüge auf der Innenfläche der Dura, kleine Schädel-
osteophyte, Nüançen der Färbung und Consistenz der grauen Sub-
stanz etc. einer nur gewöhnlichen Aufmerksamkeit entgehen, und man
darf die urtheilenden Berichte über die normale oder anomale Be-
schaffenheit des Organs überhaupt nur von Seiten derer annehmen,
welche durch den ganzen Geist ihrer Schriften zeigen, dass sie mit
der pathologischen Anatomie vertraut sind, dass sie dieselbe über-
haupt anerkennen und dass sie wissen, was man zu suchen, auf
was man zu achten hat. Je mehr in neuester Zeit durch Auffindung
noch unbekannter anatomischer Störungen im Gehirn und durch eine
genauere anatomische und logische Zergliederung der früher bekannten
(Rokitansky, Durand-Fardel, Bennet, Kasloff etc.) die pathologische Ana-
tomie des Gehirns gefördert worden ist, um so sicherer ist anzu-
nehmen, dass in den älteren Beobachtungen manches Wichtige über-
sehen worden ist, um so mehr aber auch ist von einer noch gründlicheren
und genaueren Untersuchung in Zukunft zu erwarten.
Nicht nur diese negative Befunde aber, sondern ebensosehr ihre
theoretische Verwendung und die aus ihnen gezogenen Schlüsse,
sind mit der achtsamsten Critik aufzunehmen. Sollte man es glauben,
dass noch heute einzelne verdienstvolle Irrenärzte mit der zeitweisen
Abwesenheit anatomischer Alterationen in den Leichen überhaupt deren
Werth entkräften und die Folgerung machen wollen, dass die ana-
tomischen Läsionen desswegen auch da, wo sie vorhanden sind, nicht
die nächste Ursache der geistigen Anomalieen sein können, weil ja
diese zuweilen ohne solche anatomische Veränderung vorkommen? —
Nicht anders, als ob man schliessen wollte: weil zuweilen Husten
und Dyspnoe ohne anatomische Veränderung der Lungen vorkommt,
so können bei der Pneumonie diese Symptome nicht die Ergebnisse
der palpabeln Erkrankung der Lunge sein; weil es Krämpfe, Con-
tracturen, Lähmungen ohne Substanzveränderung des Rückenmarks
[294]Die negativen Leichen-Befunde.
gibt, so können bei der Rückenmarksentzündung die Krämpfe, Con-
tracturen etc. nicht die unmittelbar resultirende Erscheinung dieser
Entzündung sein; sie müssen vielmehr eine andere, noch unbekannte
Ursache haben! — So auffallende Missverständnisse bedürfen keiner
weiteren Widerlegung.
Die glaubwürdigen Sectionsberichte nun, in welchen eine ganz
normale Beschaffenheit des Gehirns angegeben ist, gehören ihrer
Mehrzahl nach Fällen von nicht complicirtem frischerem Irresein, in
den Formen der Schwermuth und der Manie an, während im Durch-
schnitt die anatomischen Alterationen um so häufiger werden, je
länger die Geisteskrankheit gedauert hat, je mehr sie Symptome eines
psychischen Schwächezustandes, namentlich eines tieferen Blödsinns
darbot, je mehr sie endlich mit Paralyse complicirt war. Doch lie-
gen einerseits Fälle bedeutender acut entstandener anatomischer Ver-
änderungen für die frischesten Fälle primären Irreseins (z. B. die
Tobsucht der acuten Meningitis) vor, andererseits wieder immerhin
noch nicht wenige Sectionsberichte von Abwesenheit aller anatomi-
schen Störung, welche chronischen Fällen von Verrücktheit und
ziemlich weit gediehenem Blödsinn entsprechen; ja sogar von der
schwersten Affection, welche die Psychiatrie kennt, dem paralytischen
Blödsinn, bei dem auch durchschnittlich weit die meisten und con-
stantesten Läsionen gefunden werden, sind einzelne Fälle bekannt
geworden, wo nichts Anomales mit den gewöhnlichen Hülfsmitteln
zu entdecken war (Lélut, annales med.-psychol. 1843. I. p. 179, und
Rech, bei Lélut, Inductions sur la valeur etc. Par. 1836. p. 98).
Im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft muss man die letzteren
Fälle entweder als seltene Einzelbeobachtungen, wie in manchen andern
Gebieten der Pathologie, vorläufig ganz ausserhalb des Bereichs theore-
tischer Verwendung lassen, oder man muss sie für Beweise annehmen,
dass auch die tiefste Schwäche der psychischen Processe und der
motorischen Actionen ohne Texturveränderung des Organs eintreten
könne — wofür denn auch das Rückenmark zahlreiche Analogieen
liefert —; diese Fälle sind es aber vor allem, für welche von einer
zukünftigen noch genaueren Untersuchung sehr wahrscheinlich wei-
tere Aufschlüsse zu erwarten sind.
Als Beispiele der grossen Differenzen unter den Beobachtern in Bezug auf
die Zahl kranker und gesunder Gehirne bei den Irren mögen folgende Zahlen
angeführt werden. Der berühmte Pinel fand unter 261 Sectionen nur 68, Es-
quirol unter 277 nur 77mal Veränderungen des Gehirns (Sc. Pinel, recherches
[295]Die Specifität der Alterationen.
sur les causes physiques etc. Par. 1826. p. 9), Chiarugi unter 100 Fällen
95, Parchappe in 160 Fällen uncomplicirter Geisteskrankheit 152mal (Traité
de la folie. Docum. nécrosc. Par. 1841. p. 46. 141), Webster in 72 Fällen
(Med. Chir. Transact. Vol. XXVI. 1843. und Annal. med. psych. Mai 1844. p. 445)
jedesmal Läsionen in der Schädelhöhle. Lélut fand solche unter 20 Fällen
acuter Manie nur 3mal, in der Manie chronique und Démence simple in mehr
als der Hälfte der Fälle (Inductions sur la valeur des altérations de l’encéphale.
Par. 1836. p. 63. 76.) — Es ist von Interesse, hiemit die anatomische Statistik
für einen schweren Symptomencomplex vom Rückenmarke, für den Tetanus, zu
vergleichen. Wallis (de Tetano disquis, arithmeticae. Diss. Hal. 1837. p. 24)
fand bei einer Zusammenstellung von 38 Sectionen an Tetanus Gestorbener 14
mal Zeichen von Entzündung der Nervenheerde (mit Erweichung, Verhärtung,
Entfärbung); weitere 11 Fälle geben „Entzündung ohne Degeneration“ (Hyperä-
mie); die 13 übrigen boten in den Centralorganen nichts Abnormes dar.
§. 137.
Man kann nach den neueren Untersuchungen als festgestellte
Thatsache betrachten, dass die Mehrzahl der Leichenöffnungen irrer
Personen anatomische Veränderungen in der Schädelhöhle nachweist.
Gibt es nun irgend eine specifische Läsion für das Irresein? —
Meint man darunter eine Läsion, welche überall, wo das Irresein
das Product anatomischer Veränderungen ist, auch jedesmal in glei-
cher Weise vorhanden sein müsse, so ist diese Frage nicht nur zu
verneinen, sondern als eine a priori sinnlose zu bezeichnen. Denn
schon das einfachste pathologische Raisonnement muss ergeben, dass
die so ausserordentlich verschiedenen pathologischen Seelenerschei-
nungen, die man unter den Formen der Schwermuth, des Blödsinns
etc. begreift, unmöglich immer eine und dieselbe Veränderung des
Organs zur Grundlage haben können. Noch nie hat man es auch
nur für möglich gehalten, dass in den Rückenmarkskrankheiten den
mannigfaltigen Symptomen gestörter Empfindung und Bewegung immer
eine und dieselbe anatomische Abweichung zu Grunde liege; es muss
eben so klar sein, dass die mannigfaltigen Anomalieen der Selbstem-
pfindung, des Denkens und Wollens auf sehr verschiedenen Läsionen
des betreffenden Organs nicht nur beruhen können, sondern beruhen
müssen. Stellt man dagegen die Frage nach der Specifität der ana-
tomischen Läsionen umgekehrt, fragt man, ob es nicht anatomische
Veränderungen gebe, mit deren Vorhandensein auch immer nothwendig
eine auffallende Störung der psychischen Thätigkeiten, eine Geistes-
krankheit gegeben sei, so ist diese Frage zu bejahen. Ja, es gibt
substantielle Erkrankungen des Gehirns, welche immer Irresein zum
[296]Der Sitz der anatomischen Veränderungen.
Symptom haben. Noch nie hat man eine diffuse, über sehr viele
Windungen verbreitete Entzündung der grauen Rindenschichte ohne
eminente Geistesstörung beobachtet; noch nie hat man eine ausge-
breitete Meningitis auf der convexen Seite, noch nie ein starkes Ge-
hirnödem der grossen Hemisphären, noch nie eine höher gediehene
beiderseitige Atrophie der Windungen, noch nie tiefere Alterationen
der Ventrikel-Oberfläche in einiger Ausdehnung ohne psychische Störung,
namentlich Geistesschwäche, verlaufen sehen. Und wir glauben schon
hier, am Eingange der pathologisch-anatomischen Erörterung als Re-
sultat aus den im folgenden anzugebenden, in den verschiedensten
Ländern, unter den verschiedensten Umständen gemachten Beobach-
tungen, den Satz aussprechen zu dürfen, dem wir ein nicht geringes
theoretisches Interesse vindiciren: die bei weitem wichtigsten
und constantesten anatomischen Läsionen bei den Irren
finden sich auf den Gehirnoberflächen; wir haben desshalb
das Irresein, da wo es von Structurveränderung des Gehirns abhängt,
im Durchschnitte als eine, im Einzelnen übrigens wieder verschieden-
artige Erkrankung der äussersten Gehirnperipherie, wor-
unter wir*)ebenso gut die innere Ventrikeloberfläche,
als die graue Rindenschicht des grossen und kleinen Ge-
hirns verstehen, zu betrachten, wobei es sich von selbst versteht,
dass unter dieser [Erkrankung] der Gehirnperipherie auch alle von
ihr in keiner Weise zu trennenden Alterationen der zunächst
jene Oberfläche überziehenden Häute mit einbegriffen sind.
Unter den einzelnen Abschnitten der grauen Rindenschicht der Win-
dungen findet man die Erkrankung besonders häufig an den vordern
und mittlern (obern) Theilen der grossen Hemisphären; es stimmen
hiermit die besten wundärztlichen Beobachtungen **) überein, welche
bei Verletzung der vorderen und oberen Theile der Hemisphären
am constantesten und reinsten Aberration und Schwäche der geisti-
gen Thätigkeit ergeben. In Larrey’s Fällen hatte namentlich die
Verletzung einiger seitlicher und nach vorn gelegener Windungen
bald ausgebreiteten, bald partiellen Gedächtnissverlust zur Folge, wie
denn auch Bouillaud’s Beobachtungen ***) von Verlust der Sprache
[297]Ob sie Folgen des Irreseins seien?
bei Läsion der Vorderlappen ohne Zweifel auf das erloschene Wort-
gedächtniss zu beziehen sind.
§. 138.
Der Mangel an constanten, immer gleichen anatomischen Ver-
änderungen und ihr nicht selten gänzliches Fehlen haben zu der
unter vielen Aerzten verbreiteten Behauptung Anlass gegeben, dass
die Gehirnalterationen bei Geisteskranken nicht die nächsten organi-
schen Bedingungen und Ursachen eben jener Symptome von Irresein,
dass sie vielmehr nur die Folgen der Seelenstörung seien.
Andere geben zwar zu, dass jene tieferen Organveränderungen (z. B.
die Atrophie), welche man so oft bei Blödsinnigen findet, allerdings
in derselben Weise der psychischen Schwäche zu Grunde liegen, wie
z. B. die Atrophie der Retina und des Opticus manchen Blindheiten;
sie läugnen aber, dass die andern Formen des Irreseins, Schwermuth,
Manie etc. von den vorhandenen (leichteren) anatomischen Störungen
abzuleiten seien, eben wegen der Inconstanz dieser Läsionen.
Die näheren Umstände freilich, die organischen Hergänge, durch
deren Vermittlung jene Folgen aus dem Symptomencomplex des
Irreseins sich ergeben sollen, hat man dabei so gut wie allgemein
anzugeben, ja auch nur anzudeuten vergessen, und es nimmt sich jene
Behauptung fast mehr wie ein letzter Zufluchtsort vor materialistischen
Anschauungsweisen, als wie ein Resultat wissenschaftlicher Untersu-
chung, sie nimmt sich fast ebenso instanzlos aus, wie etwa die Be-
hauptung, der Darmcatarrh, den man in den Leichen finde, sei nicht
die Ursache, sondern die Folge der vorhandenen Diarrhoe gewesen.
Wir indessen vermögen dem für manche Fälle Richtigen, was in
jenem Satze liegt, nicht nur seinen gehörigen Platz anzuweisen, son-
dern auch die erklärenden Anhaltspunkte für dasselbe zu bieten.
Alles nemlich, was oben (im zweiten Buch) über den Einfluss der
Affecte auf Erzeugung von Gehirnkrankheit gesagt ist, findet auch
seine Anwendung auf die krankhaften Affecte der Schwermuth,
der Manie etc., und es unterliegt keinem Zweifel, dass das Bestehen
dieser Seelenzustände Gehirnhyperämieen mit allen ihren Folgen ver-
anlassen kann. Nur müssen diese substantiellen Erkrankungen offenbar
unendlich oft durch die Krankheitsursache selbst schon, nicht erst
durch die Krankheit gesetzt sein; es ist ja oben in extenso gezeigt
worden, wie viele dieser Ursachen das Irresein durch Gehirnhyperämie
erzeugen, und es bietet die gewöhnliche, aus äusseren Ursachen
[298]Pathologische Anatomie
entstandene Meningitis der Erwachsenen das einfachste Beispiel psy-
chischer Alteration aus Hyperämie und Exsudationen, die wenigstens
hier gewiss nicht die Folgen des Deliriums sind, dar. Ueberhaupt,
wird einmal für den Blödsinn das richtige Verhältniss, dass die psy-
chischen Symptome der Ausdruck der jeweiligen Gehirnbeschaffenheit
seien, angenommen, so kann es auch für die andern Formen nicht
abgewiesen werden. Jene dem Blödsinn angehörigen Alterationen
(Atrophie, Verhärtung etc.) sind ja fast durchaus nur die Reste und
Folgen früherer, (namentlich entzündlicher) jetzt erloschener Processe,
welche diese Läsionen nur als letztes Resultat gesetzt haben. Sollten
die Krankheitsprocesse selbst, durch die sie entstanden, ganz symptomlos
verlaufen sein? Und wenn nicht, wo anders sollen wir ihre Symptome
suchen, als eben in den melancholischen, maniacalischen Erscheinun-
gen, welche dem Eintritt der psychischen Schwäche vorausgingen? —
Wenn man einmal zugibt, dass die Atrophie der Retina Blindheit
macht, wird man nicht auch zugeben, dass die Retinitis (oder viel-
mehr Chorioiditis), welche ihr vorausging, auch in derselben Weise
die Ursache der vorausgegangenen subjectiven Farbenphantasmen, der
Symptome der Retinairritation war?
Im Folgenden sollen zuerst die bei Geisteskranken vorkommenden anatomi-
schen Läsionen des Gehirns und seiner Hüllen einzeln nach anatomischer Ord-
nung erörtert werden, wie sie sich aus den neueren Untersuchungen ergeben und
erst später soll, resümirend, untersucht werden, welche Zustände der Organe
in der Schädelhöhle den einzelnen Formen des Irreseins am häufigsten entsprechen.
Die älteren pathologisch-anatomischen Untersuchungen von Bonet und Mor-
gagni, und die Resultate von Hallers historischen Studien finden sich zusam-
mengestellt bei Arnold (Beobachtungen etc.; übers. von Ackermann. II. 1788.
p. 2—48); ebenso sind die Schriften von Meckel, Chiarugi, Burdach,
Greding und Portal besonders zu vergleichen. Parchappe (Recherches sur
l’Encéphale. 2ème Mém. 1838.) hat die wichtigsten der älteren und die neueren
Beobachtungen namentlich seiner Landsleute gut zusammengestellt. —
A. Der Schädel.
§. 139.
Die Gestalt des Schädels bietet, wenn wir, wie dies im
Folgenden immer geschieht, vom angebornen Idiotismus absehen,
nicht viel Characteristisches. Man findet bekanntlich bei einer Menge
immer geistesgesund gewesener Individuen unregelmässige Schädel-
formen, bald die schief von vorn nach hinten verschobene, bald
die eigentlich scoliotische Form. Die Angabe, dass solche Unregel-
mässigkeiten höheren Grades bei den Geisteskranken in verhältniss-
[299]der Schädelknochen.
mässig grösserer Menge vorkommen (Foville), steht ziemlich vereinzelt.
Schon von grösserer Wichtigkeit scheint die künstliche Deformation
des Schädels zu sein, auf welche derselbe Arzt mehrfach aufmerksam
gemacht hat *). In mehren französischen Provinzen, namentlich in
der Normandie und in der Gascogne herrscht der Gebrauch, die
Kopfbedeckungen der Neugebornen mit Rollbinden um den Kopf zu
befestigen, wodurch diese Köpfe leicht eine lange, spitzige, cylindri-
sche Form annehmen. In diesen Gegenden ist die Hirnentzündung
bei den Kindern und das Irresein bei den Erwachsenen ungewöhn-
lich häufig, wie dies Esquirol, der sich oft über die grosse Menge
Geisteskranker in seiner Heimath (der Gascogne) wunderte, und die
Statistiken der gegenwärtig dort ausübenden Irrenärzte bestätigen.
Es versteht sich, dass diese Schädelformation weit nicht in allen
Fällen zum Irresein Anlass gibt, aber sie scheint nach diesen Beob-
achtungen eine Prädisposition zu Gehirnkrankheiten zu geben, wie
ein schlecht geformter Thorax mit Recht das Zeichen einer Prädis-
position zu Brustkrankheiten gilt. — Was die Dicke und Textur
der Kopfknochen betrifft, so haben fast alle Beobachter die Häu-
figkeit der Schädelanomalieen in diesen Beziehungen bei den Gei-
steskranken erkannt. Schon Greding fand — übereinstimmend mit
den Neueren — unter 216 Sectionen 167 Individuen mit Verdickung,
38 mit anomaler Dünnheit dieser Knochen. Diese Massenzunahme,
Hyperostose des Schädels ist entweder mit einem reichlichen Gehalt
an diploëtischer Substanz, oder noch viel häufiger mit Sclerose des
Knochens verbunden. Sie ist am hänfigsten das endliche Product
einer von Zeit zu Zeit wiederholten, acuten, oder auch einer chroni-
schen Entzündung, deren immer wieder verknöchernde Exsudate eine
Reihe successiver neuer Knochenschichten ansetzen. Da die Hype-
rostose auf Kosten des Schädelraums und der zum Austritt der Blut-
gefässe bestimmten Löcher und Spalten geschieht, so kann es nicht
fehlen, dass dadurch eine Störung der Circulation innerhalb der
Schädelhöhle und partiellere oder allgemeinere Hyperämieen gesetzt
werden. Dies wird ganz besonders durch die in neuester Zeit bekannt
gewordene Entdeckung von Kasloff**) bestätigt. Dieser Arzt fand
in 21 Fällen von Selbstmord bei Wahnsinnigen eine beträchtliche
Verengerung des foramen lacerum posterius, meist nur auf
Einer Seite, bis zu einer spaltenartigen Verwachsung. Die knöcherne
[300]Pathologische Anatomie
Vertiefung, welche für den Bulbus der vena jugularis bestimmt ist, war
beinahe bis zur völligen Ausgleichung mit der Fläche des Felsenbeins
verschwunden; die Verengerung war, unabhängig vom Hinterhaupts-
bein, durch stärkere Entwicklung der Knochensubstanz am hintern
Rand des Felsenbeins erfolgt; die innere Schädelfläche enthielt dabei
manchmal ein feines, poröses Osteophyt; der canalis caroticus war
nicht verengert, wohl aber häufig das foramen condyloideum; die
Emissaria waren bedeutend erweitert, oder es hatten sich auch neue
Löcher gebildet. Die entsprechende Vena jugularis interna war bis
auf die Hälfte oder ein Viertel ihrer Dicke zusammengeschrumpft,
die Sinus, welche mit ihr zunächst communiciren, seichter und
schmäler als gewöhnlich; nothwendig muss sich hieraus, wenig-
stens so lange, bis der venöse Collateralkreislauf entsprechend regu-
lirt ist, eine beträchtliche mechanische Hyperämie des Schädelinhalts
ergeben. Mit derartiger local verstärkter Massenzunahme der Knochen
dürfte mitunter die Entstehung des Irreseins, welches sich längere
Zeit nach einer Kopfverletzung ausbildet, zusammenhängen; wie wir
es denn auch für erlaubt halten, die hierhergehörige Erzeugung des
puerperalen Osteophyts mit den während der Schwangerschaft
häufigen Zuständen schwermüthiger Verstimmung und ihren weiteren
psychischen Folgen in Verbindung zu bringen (Vgl. p. 147).
Da mit diesen Hyperostosen des Schädels gewöhnlich zugleich
die Schädelnähte verschwinden (Rokitansky, patholog. Anat. II. p.
236), so stimmt es mit jenen Beobachtungen aufs Auffallendste überein,
wenn frühere, durchaus unbefangene Forscher nach ihren Erfahrungen
in einer zu frühzeitigen Verwachsung der Suturen eine wichtige
Prädisposition zu Melancholie und Selbstmord erkennen konnten
(Larrey, Clinique. I. p. 329).
In noch manchen andern Fällen deuten bei Irren, wie auch bei
Epileptischen Osteophytbildungen auf der Innenfläche des Schädels
von nadelförmigen, gegossenen, stalactitischen *) Gestalten auf einen
erloschenen umschriebeneren Entzündungsprocess hin, dessen Exsu-
date hier verknöchert liegen geblieben sind, und dieselbe Bedeutung
haben die häufig bei Irren vorfindigen, bald inselförmigen, bald aus-
gedehnten anomalen Adhäsionen der dura mater an der Innenfläche
des Schädels.
Ausserdem kommen an der Dura Mater kaum erhebliche Verän-
[301]des Schädels, der Gehirnhäute.
derungen vor, als jezuweilen Verdickung und eine von dem Volum
und der Consistenz ihres Inhalts abhängige straffere Spannung oder
grössere Schlaffheit. Die pathologischen Veränderungen auf ihrer
inneren Oberfläche gehören dem sogenannten Parietalblatt der Arach-
noidea an.
Bei diesen Aussenwerken des Gehirns ist noch der Zustand der
grösseren Gefässe in der Schädelhöhle zu erwähnen. Jener
Zustand von atheromatöser Entartung und Ossification der grösseren
Arterien, wobei die Ringfaserhaut morsch geworden ist und das Ge-
hirn oft, wie von steifen Drähten durchzogen, erscheint *), kommt in
zahlreichen Sectionen Geisteskranker zur Beobachtung. Es lässt auf
einen ähnlichen Zustand der der Untersuchung nicht mehr zugäng-
lichen, feinsten Gefässe schliessen; seines häufigen Zusammenkommens
mit Herzkrankheiten und seiner circulationstörenden Wirkung ist schon
oben (p. 122, 141) Erwähnung geschehen. Larrey (l. c. p. 330)
hat diese Ossificationen sowohl öfters bei Nostalgischen, als auch in
andern Fällen tiefer Melancholie **) beobachtet.
Wir sahen in 2 Fällen solche, sehr weit gediehene Arterien-
Entartung gleichfalls bei tief Schwermüthigen mit livider Gesichtsfärbung,
namentlich beidemale einer dunkelblauen Färbung der Nasenspitze zu-
sammentreffen, und es sind andere ähnliche Fälle, ohne eigene
Beobachtung, zu unsrer Kenntniss gekommen.
B. Die Arachnoidea.
§. 140.
Einer der allerhäufigsten Befunde bei Geisteskranken ist die
Trübung, Verdickung und Hypertrophie der Arachnoidea; es
gibt keine Form des Irreseins, wo sie nicht nach längerem Bestehen
derselben beobachtet worden wäre; besonders gewöhnlich ist sie,
neben andern tieferen Läsionen, nach dem paralytischen Blödsinn.
Sie ist anzusehen als Ergebniss vorausgegangener, andauernderer Hy-
perämie und entzündlicher Stase, und kommt desshalb mit Vermehrung
der auf denselben Hergängen beruhenden Pacchionischen Granulationen
unter allen den Umständen vor, wo habituelle Kopfcongestion während
des Lebens bestand, namentlich bei Schnapstrinkern, welche denn
freilich auch selten genug als Geistesgesunde anzusehen sind.
[302]Pathologische Anatomie
Frühere, entzündliche Exsudate der Arachnoidea können ver-
knöchern und man findet solche Knochenconcremente mit zackiger,
rauher Oberfläche nicht ganz selten in der Arachnoidea der vordern
Grosshirnlappen; andrerseits geben solche Exsudate zu anomalen Ad-
häsionen an die Pia und die Gehirnrinde und an die Dura und den
Schädel, öfters mit einer durchdringenden Verschmelzung aller dieser
häutigen Schichten Anlass.
Als Zeichen acuter, frischer Krankheitsprocesse kommen die
Hyperämie der Arachnoidea, besonders in der ecchymotischen
Form häufig vor; ihre Betrachtung gehört aber zur Hyperämie der
Pia Mater. Was den Inhalt des Arachnoidalsackes betrifft, so ist
ein vermehrter Erguss seröser Flüssigkeit in denselben häufig,
theils als Folge häufig wiederkehrender habitueller Hyperämieen und
einer Varicosität der Blutgefässe, theils als secundäres Ergebniss der
Gehirnatrophie, aufzufinden; immer mit gleichzeitiger Verdickung der
Häute und Infiltration der Pia.
Von ganz besonderer Wichtigkeit aber sind die so frequenten spon-
tanen Hämorrhagieen in den Sack der Arachnoidea, welche von
allen Beobachtern, zwar vorzugsweise bei Paralytisch-Blödsinnigen, doch
in seltenen Fällen auch nach acuten oder chronischen Manieen (Lélut,
Parchappe) gefunden wurden. Bei den Paralytischen scheinen sie
besonders in den hier so häufigen Anfällen von Kopfcongestion mit
Bewusstlosigkeit zu entstehen; doch ist ihre Diagnose während des
Lebens durchaus unsicher, da sie einestheils bei geringem Umfang
symptomlos verlaufen, anderntheils ihre Symptome — die der Com-
pression — sich mit den ganz ähnlichen der Atrophie und Encepha-
litis vermischen, drittens endlich der Gehirndruck auch auf andern
Ursachen beruhen kann.
Diese Blutergüsse kommen fast immer auf der convexen Seite der Hemi-
sphären vor; da sie meist ziemlich lange getragen werden, so findet man sie
gewöhnlich in Zuständen von Transformation, welche in einzelnen Fällen zur Ver-
kennung ihrer wahren Natur verleiten können.
Bei einer beträchtlicheren Menge des Extravasats findet man, wie wir
diess selbst in einem ausgesuchten Falle beobachten konnten, unter der dura mater
eine grosse, schwappende Cyste, an die genannte Haut locker angeklebt, an der dem
Visceralblatte der Arachnoidea zugewandten Seite fast frei. Von den Kanten des
Sackes breitet sich oft noch eine dünne, rostbraune Membran weiter aus, die end-
lich in einem dünnen Anflug ausläuft (Rokitansky). Der Sack enthält eine
je nach dem Alter des Extravasates dunkelbraune, dickliche oder mehr
hell-seröse Flüssigkeit. Er hat Compression und Atrophie der betreffenden Hemi-
sphäre, mit Verengerung des Ventrikels, oft mit grösserer Dichtigkeit der Ge-
[303]der Gehirnhäute.
hirnsubstanz, ausserdem mechanische Hyperämie und Infiltration der Meningen zur
Folge. — Die Bildung der organisirten Cystenwandungen scheint ebensowohl aus
der peripherischen Schichte des geronnenen Faserstoffs selbst als aus dem fibri-
nosen Exsudute einer im Umkreis des Blutcoagulums erst secundär entstandenen
Entzündung hervorgehen zu können.
Anders verhält sich die Sache bei einer nur unbedeutenden Quantität
des ergossenen Blutes. Diese geringen Ergüsse hinterlassen nach Aufsaugung
des flüssigen Antheils nur dünne, anfangs noch rostbraune und gelbe, später fast
ganz entfärbte Lamellen von geronnenem Faserstoff. In frischer Bildung beob-
achtet, bestehen sie aus einem Maschenwerke röthlicher Fäden, oft nur von
Spinnwebendicke, und noch mit kleinen Blutheerden vermischt; später erblassen
sie; eine Stratification in ihnen zeigt zuweilen ihren Ursprung aus mehren, suc-
cessiven Ergüssen, und der letzte, noch frischeste Erguss die hämorrhagische
Natur des Ganzen an. In geringster Menge und nach geschehener Transformation
bilden diese Blutergüsse endlich nur einen Anflug auf der Innenfläche der dura
mater, welcher leicht überschen oder irrig (als entzündliches Exsudat) gedeutet
werden kann.
Diese Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea constituiren die, namentlich
von französischen Irrenärzten — Calmeil *), Bayle **), Lélut ***), Boudet, Baillar-
ger, Aubanel †) — vielfach bearbeiteten, sogenannten Pseudomembranen der
Arachnoidea, womit indessen die Möglichkeit eines Vorkommens von rein
entzündlichen Pseudomembranen im Sacke der Arachnoidea nicht in Abrede ge-
zogen wird. Von jenen unterscheidet sich die Hämmorrhagie unter die Arach-
noidea wesentlich durch eine Verbreitung des Bluts, das sich mit dem Cerebrospi-
nalfluiduum mischt, in die Ventrikel und in den Rückenmarkscanal, durch das be-
ständige Fehlen der Pseudomembranen und durch eine weit schnellere Tödtlichkeit.
C. Die Pia Mater und die Gehirn-Rinde.
§. 141.
Die pathologischen Zustände beider sind so intim verbunden,
dass sie nothwendig eine beide zugleich zusammenfassende Abhand-
lung erfordern.
Was zuerst die Hyperämie der zarten Hirnhaut und der angren-
zenden Rindenschichten betrifft, so können wir nach eigener Erfah-
rung mit der Mehrzahl der Beobachter in dem Satze übereinstimmen,
dass dieselbe bei weitem der häufigste Befund in den Leichen Geistes-
kranker sei. Sie ist meist um so weniger mit anderweitigen Altera-
tionen verbunden, je frischer das Irresein war, in chronischen Fällen
[304]Pathologische Anatomie
dagegen findet man oft nur noch ihre Producte oder es sind doch
andere Störungen (Atrophie etc.) überwiegend mit ihr complicirt. Sie
ist um so wichtiger, als sie die Grundlage und den Ausgangspunkt
für die vielfach hier vorkommenden Entzündungsprocesse und deren
Resultate, ebenso für Blutaustritte u. dergl. abgiebt.
Dass diese Hyperämieen nicht, wie es von einseitigen Entzün-
dungspathologen schon geschehen ist, ohne weiteres für Entzündung
angesprochen werden dürfen, bedarf keiner Auseinandersetzung. Wir
halten sie vielmehr, wie oben bemerkt, in vielen Fällen für eine
mechanische, „venöse“ (Guislain) Hyperämie (in Folge von Herzkrankheiten,
Lungenkrankheiten, functionellen Abweichungen in der Herzthätigkeit und
Respiration, Verengerung der Schädellöcher etc.). Es ist unzwei-
felhaft, dass diese Hyperämieen in sehr vielen Fällen Exsudate ver-
schiedener Art (seröse, serös-plastische, albuminöse, selten eitrige *))
liefern, und damit unmittelbar zu Entzündungsprocessen werden oder
wenigstens durch ihr Product (z. B. andauernde seröse Infiltration)
dieselben Folgen, wie verschiedene Entzündungsproducte (Druck) für
das Gehirn haben.
Unter den neueren Beobachtern ist das Vorkommen der Hype-
rämie der Pia und der Gehirnrinde von anatomischer Seite besonders
von Parchappe**) studirt worden. Er fand sie unter 38 Fällen
acuten, frischen Irreseins (Formen der Melancholie und Manie)
36mal, besonders häufig (29mal) in der Form der Ecchymose unter
der Arachnoidea, d. h. partiellen, plattenweisen Hyperämieen, welche der
Pia und Arachnoidea gemeinschaftlich angehören, und im Centrum
gleichförmig rothe, an der Peripherie aus punktirten und baumför-
migen Injectionen bestehende Flecke darstellen; unter diesen Fällen
wieder 33mal mit punktirter Injection der Gehirnoberfläche selbst,
17mal mit Erweichung, 15mal mit rother Färbung dieser grauen Substanz.
Er fand dagegen die Hyperämie der Pia und der Gehirnrinde
unter 122 Fällen chronischen Irreseins (im Mittel nach einer
Dauer von 8 Jahren; verschleppte Formen von Manie und Melancholie
und psychische Schwächezustände) nur noch 59mal, darunter 18mal
unter der Form der Ecchymose, hierunter wieder 7mal mit Injection,
5mal mit rother Färbung der Corticalsubstanz, 5mal mit Erweichung
derselben.
[305]der zarten Häute und der Gehirnoberfläche.
Die rasch entstandcne Hyperämie der Pia, wie die des Gehirns
selbst, kann an sich schnell tödtlich werden (Apoplexia vascularis).
Ihre Ausgänge und Folgen bei längerer Dauer bestehen in der Ver-
dickung und Verdichtung beider Häute, in bleibender Infiltration,
Oedem der Pia und in Varicosität ihrer Gefässe. Diese Befunde
sind denn auch ausserordentlich häufig bei Geisteskranken; aber sie
haben immer bei gleichzeitiger Atrophie der Windungen einen nur
untergeordneten Werth, da sie hier immer die erst secundären Fol-
gen dieses Gehirnzustandes (Hyperämie, seröse Ergüsse etc. ex vacuo)
sein können.
In der grauen Rindensubstanz zeigt sich die Hyperämie sehr
häufig als eine verschieden nüancirte rothe Färbung, mitunter in
ganz acuten Fällen von der dunkeln Röthe einer Erysipelas (Foville),
oder als fleckige, marmorirte, streifige Färbungen mit einzelnen dun-
kelrothen, feinen Flecken (sehr kleinen Blutextravasaten), Anfangs
wohl auch mit Volums-Zunahme, Schwellung und vermehrter Consistenz;
sie geht leicht genug in wirkliche Entzündung über.
§. 142.
Die Entzündung der Pia selbst setzt nur eine rascher oder
langsamer sich bildende Verdickung nebst Verwachsung der Häute unter
sich, an der grauen Corticalsubstanz aber die gewöhnliche Folge der
Entzündung im Nervengewebe, die Erweichung, und die secundä-
ren Umwandlungen des erweichten Gewebes, an beiden zusammen,
die wichtige Verwachsung der Pia mit der Gehirnoberfläche,
und es gehören diese Ausgänge einer Meningo-cerebritis zu den
gewöhnlicheren Befunden in späteren Zeiträumen des Irreseins.
Frische derartige Zustände sind theils nach Formen, die der
Schwermuth angehören, theils nach der acuten Manie beobachtet
worden. Larrey fand *) bei einer grossen Anzahl Nostalgischer
Entzündung der dünnen Hirnhäute und der Oberfläche des Gehirns
an seinen vordern Lappen mit zerstreuten Eiterpunkten. Sc. Pinel
gibt als den häufigsten Leichenbefund bei den plötzlichen Todesfällen
in der acuten Tobsucht eine starke Hyperämie der Corticalsubstanz,
namentlich ihrer mittleren Schichten, mit (entzündlicher) hefenfarbiger
Griesinger, psych. Krankhtn. 20
[306]Pathologische Anatomie
oder violetter Erweichung und Decomposition des Gewebes, an *),
aus der eben, wenn der Kranke am Leben bleibt, später eine noch
schwerere Alteration, Verhärtung mit Schwinden des Gewebes (Blöd-
sinn) hervorgeht.
Solche entzündliche Erweichungen der grauen Substanz sind
zuweilen um so schwerer zu erkennen, wenn sie mit kaum bemerk-
licher Röthe verlaufen (Rokitansky, II. p. 811), wo denn die blosse
Lockerung zu einem gleichförmigen Brei das einzige Zeichen der
Entzündung ist. Viele Beobachter haben die einzelnen Schichten der
grauen Rinde abgesondert erkrankt gefunden, Sc. Pinel Röthung
der Mittelschicht in der Manie, Baillarger Röthung der Innenfläche
der 4 innern Schichten oder der 3 grauen Strata **). Am häufigsten
ist die Inflammation der oberflächlichsten Schichte, verbunden mit
der Pia; die alsdann mit der Corticalsubstanz verwachsene Membran
nimmt nun beim Abziehen die ihr anhängenden obersten Schichten
mitunter bis zu einer ziemlichen Tiefe mit, so dass eine ungleiche,
blutende, gerissene Oherfläche zurückbleibt. Wiewohl diese Adhäsion
und superficielle Erweichung, die besonders die Windungen der obern,
convexen, auch der innern, einander zugewandten Fläche der Hemi-
sphären oder auch das Ammonshorn betrifft, hin und wieder bei einfa-
chem chronischem Irresein vorkommt, so ist sie doch bei weitem
am häufigsten im paralytischen Blödsinn und bildet eine der wichtig-
sten organischen Grundlagen dieser Affection. Calmeil fand sie in
dieser Form als die häufigste und constanteste Läsion, und Par-
chappe ***) sah unter 86 Fällen eine tiefere und ausgebreitetere
Erweichung der Gehirnrinde ganz besonders in ihrer mittleren Schicht
niemals, und die Adhäsion der Pia an derselben nur 9mal fehlen.
Diese entzündlichen Erweichungen gehen nun später hier wie im
übrigen Nervengewebe in einen Zustand von Atrophie und Scle-
rosirung über. Vor allem ist es wieder die oberflächlichste Schicht,
welche zuerst atrophisirt und erhärtet, und nun als eine schwielige,
verdichtete Haut mit der gleichfalls tendinös verdichteten Pia cohärirt;
dabei erbleicht das atrophische Gewebe auffallend. In den mittleren
Schichten dauert die Erweichung indessen noch fort, und dann kann
die oberste Schichte für sich als eine cohärente ziemlich consistente
[307]der Gehirnsubstanz.
Membran mit Hinterlassung einer rauhen, breiig weichen Oberfläche
abgezogen werden, etwa wie die Haut von einem gebratenen Apfel.
Ist die Erweichung der Mittelschichte nur mässig, so kann in diesen
Fällen irrthümlich auf ihr völliges Fehlen geschlossen werden, wenn
die Induration nicht beachtet und nicht in Rechnung gezogen wird,
dass auch diese ursprünglich aus Erweichung hervorging; die Atrophie
der Rindensubstanz durch ein solches Schrumpfen — analog der
Verschrumpfung vieler andern Theile in Folge der Entzündung, (Nar-
bengewebe) — kann so beträchtlich werden, dass sie bis auf ein
Minimum gänzlich verloren gegangen ist. (Vgl. den folgenden §.)
Alle diese Störungen gehören dem Blödsinn und zwar vorzugs-
weise dem paralytischen Blödsinn an.
D. Die Gehirnsubstanz selbst.
§. 143.
Volum und Consistenz des Gehirns. In einzelnen Fällen
wird bei Irren, wie bei Epileptischen, ein hypertrophisches Ge-
hirn gefunden. Das Schädeldach kann alsdann, wenn es abgenommen
worden, nicht mehr aufgepasst werden, die Häute sind dünn und
trocken, die Ventrikel enge, die Windungen platt. — Solche Fälle,
wie der, welchen Larrey (Clinique. I. p. 347) erzählt, wo bei einem
früher Nostalgischen, später Gelähmten, eine bedeutende Schwellung
und Turgescenz des Gehirns mit entzündlichen Exsudaten der Arach-
noidea und einem kleinen Abscess im Cerebellum zugleich vorhanden
war, gehören übrigens nicht zur wahren Hypertrophie. Die Geschwulst
des Gehirns ist hier vielmehr die Folge von Hyperämie und Oedem.
Wahre Hypertrophie dagegen scheinen die vier Fälle von paralyti-
schem Blödsinn zu sein, welche Sc. Pinel (Pathol. cerebr. p. 369)
beschreibt. Die Vergrösserung betraf nur die Marksubstanz, diese
war sehr fest, blendend weiss, sehr elastisch und hatte an Volum
sehr zugenommen, während meistens die graue Rindensubstanz zu-
gleich atrophisch war.
Ein bei weitem häufigeres Ergebniss der Leichenöffnungen ist
die Atrophie des Gehirns, und zwar seiner Windungen. Sie scheint
primitiv aufzutreten als seniler oder frühzeitiger Marasmus des Gehirns
und ist dann die Grundlage eines Irreseins, das von vorn herein den
Character geistiger Schwäche hat. Oder sie ist in den Windungen,
namentlich ihrer Corticalsubstanz, die Folge früherer Texturerkrankung,
der Entzündung, langwieriger Hyperämieen, des Druckes durch ein
20*
[308]Pathologische Anatomie
Blutextravasat oder Exsudat, in gleicher Weise, wie die Lungenspitze
unter einer Pseudomembran, das Herz unter einem starken pericar-
ditischen Exsudate (durch Compression und Verödung des Capillar-
gefässapparats) atrophisirt.
Die Windungen sind dünner, aber nicht selten ganz ungleich
geschwunden, so dass sie, namentlich im Vordertheil der Hemisphären,
eine hüglige Fläche bilden; namentlich ist die graue Substanz be-
deutend reducirt, oft bräunlich, hefengelb, fahl entfärbt, zuweilen
lockerer, häufiger zu einem resistenteren Gewebe geschrumpft. Die
weisse Substanz ist dabei oft schmutzig weiss, lederartig zähe, auf
Durchschnitten sich runzelnd; zuweilen zeigt sie jenen porösen, fein-
löcherigen Zustand, jenes siebartige Aussehen, wie es an der sub-
stantia perforata im normalen Gehirn vorkommt, welches Folge chro-
nischer Congestion und Erweiterung der grösseren Gehirngefässe in
dem atrophisirten Gehirn ist (état criblé Durand-Fardels). Der leere
Raum in der Schädelhöhle wird theils durch Einsinken oder Hyper-
trophie des Schädels, theils durch Massezunahme der innern Hirn-
häute, besonders ein starkes Oedem der Pia, welche zuweilen über einer
atrophischen Windung wie ein hängender, schlotternder Beutel daliegt
(Rokitansky. II. p. 728), durch Wassererguss in den Sack der Arach-
noidea, theils namentlich durch Erweiterung und wässrige Anfüllung
der Ventrikel ersetzt. Auch zu blutigen Ergüssen gibt das Vacuum
nicht selten Anlass — manche Apoplexieen in der Arachnoidea mögen
darauf beruhen.
Diese ausgebreiteteren oder umschriebeneren Atrophieen kommen
sehr häufig als Grundlage des secundären Blödsinns, nach früheren
Exaltationszuständen, nach mehrmaligem Delirium tremens etc. vor.
Unter den 122 Fällen chronischen Irreseins von Parchappe *) fand
sich der Schwund der Windungen in der vollen Hälfte, unter den
38 Fällen frischen Irreseins nur ein einzigesmal **). Sehr häufig
ist sie begreiflicherweise auch beim paralytischen Blödsinn; einzelne
Beobachter (z. B. Lélut) haben sogar hier, wie uns scheint mit Un-
recht, das Hauptgewicht auf sie gelegt.
Die wichtigste, acute Anomalie der Consistenz ist die schon er-
wähnte Erweichung der Corticalsubstanz, auf Entzündung, wohl auch
blutiger Infiltration beruhend; häufig ihre Mittelschicht einnehmend
mit Verwachsung, Verhärtung, körniger Granulation und Erbleichung
[309]der Gehirnsubstanz.
der oberflächlichsten Lamelle. Mitunter ist es ein Zustand völligen
Zerflossenseins, zuweilen von ziemlich beschränktem Umfange, nicht
selten in der Corticalsubstanz des Ammonshorns.
Als eine chronische Anomalie der Consistenz ist besonders er-
wähnenswerth die ausgedehnte Verhärtung der weissen Substanz,
gewöhnlich mit Atrophie der Hemisphäre. Die Marksubstanz hat dann
die Consistenz eines hartgesottenen Eis; man findet zuweilen beim
Einschneiden einen Widerstand wie beim Zerschneiden von Caoutchouc;
die Färbung ist gewöhnlich schmutzig weiss, bleigrau, ohne Blutpunkte,
und die Faserung ist trotz der grösseren Härte des Gehirns undeut-
licher. Bei der grossen Ausdehnung, in welcher diese Induration oft
(durch ein ganzes Gehirn) vorkommt, ist es nicht möglich, sie für
das Ergebniss einer Entzündung zu halten. Mitunter finden sich in
ihr die Spuren alter apoplectischer Heerde, mit Serum gefüllte Höh-
len, welche dem Durchschnitt das Ansehen eines löcherigen Käses
geben sollen. Diese Verhärtung gehört durchaus den verschiedenen
Formen des Blödsinns an.
§. 144.
Blutgehal. Eine allgemeine Hyperämie des ganzen Gehirns
kommt in frischen Fällen von Irresein häufig vor, und ihre höheren
Grade werden als Ursache schneller Todesfälle in der acuten Manie
zuweilen zu betrachten sein; sie ist aber im Ganzen seltener als
die auf die Pia und die Corticalsubstanz der Gehirnconvexität beschränkte
Hyperämie. Ihre Häufigkeit nimmt ab mit der längeren Dauer der
Krankheit und der Blutgehalt wird namentlich innerhalb des atrophi-
schen Gehirns in der Regel verringert; doch ist wahre Anämie des
Gehirns und der Häute in allen Formen des Irreseins eine Seltenheit
(bei Parchappe in den 285 Fällen der 2 ersten Bücher nur 4mal *).
Ueber die Entstehung der Hyperämie gilt das oben Gesagte. Sie
beschränkt sich oft genug auf einzelne Abschnitte, deren höhere Grade
in der weissen Substanz als marmorirte Flecke von Rosa, Violett,
Lila-Farbe erscheinen, und zu Exsudaten und Entzündungsheerden
Anlass geben können. Weitere Folgen der Hyperämie sind das Ge-
hirnödem und die blutigen Ergüsse in die Gehirnsubstanz. Ueber
[310]Pathologische Anatomie
die Häufigkeit der letzteren bei den Geisteskranken stimmen die An-
gaben nicht überein. Esquirol, Georget, Guislain, Jakobi fanden sie
sehr selten; Webster dagegen fand unter 72 Sectionen 13mal Blut-
erguss in das Gehirn *); wir selbst haben solche in der acuten Manie
erfolgen sehen. So viel ist gewiss, dass die Spuren kleiner, alter
apoplectischer Heerde nicht zu den Seltenheiten gehören, und dass
eine blutige Apoplexie hinreichen kann, durch den Gehirnriss, die
Compression, die nachfolgende Entzündung und Sclerosirung des
Umkreises unheilbaren Blödsinn herbeizuführen.
Serumgehalt. (Oedem des Gehirns). Das Gehirnödem bei
Geisteskranken hat besonders seit der Schrift von Etoc-Demazy **)
weitere Beachtung gefunden. Ohne andere wesentliche Störungen
kommt das acute Gehirnödem nach den bisherigen Beobachtungen
(von Etoc selbst, von Sc. Pinel, Pathol. cérébr. p. 228 seqq. u. A.) in
der ausgeprägten Form der Melancholie mit Stupor und Un-
beweglichkeit (§. 100. 101.) vor, und es ist durchaus wahrschein-
lich, dass alsdann die durch die seröse Infiltration gesetzte Gehirn-
compression der Hauptgruppe jener Symptome zu Grunde liege. Doch
muss man sich hüten, sein Vorhandensein in allen diesen Fällen
anzunehmen, da auch diese Läsion in einigen, den Symptomen nach
durchaus gleichen Zuständen an der Leiche vermisst wurde.
Dieses Oedem besteht in einer serösen Infiltration des Gehirns,
vor allem der grossen Hemisphären; ein geringer Grad, der indessen
keinerlei characteristische Symptome geben dürfte, ist nur an einer
ungewöhnlichen Feuchtigkeit der Hirnsubstanz und dem serösen Glanz
der Durchschnittsfläche erkennbar; in höheren Graden ist das Gewebe
stark durchfeuchtet, dabei weicher, teigig und die Marksubstanz von
matt weisser Farbe. Die graue Substanz namentlich erscheint oft
wie angelaufen, schwammig, und lässt auf der Schnittfläche Serum-
tröpfchen aussickern. Das Gehirn erscheint dabei comprimirt, die
Windungen abgeplattet, fest an einander gepresst, die Ventrikel verengt
und fast leer. Es ist kein Zweifel, dass ein höherer Grad dieses
Oedems an sich durch allgemeine Erweichung der Substanz und na-
mentlich durch Druck tödtlich werden kann, und es entsprechen dem
letzteren Zustande in den übrigens nicht besonders häufigen tödtlichen
Fällen die Symptome vollständig.
[311]der Gehirnsubstanz, der Ventrikel.
Man kann dieses acute Gehirnödem als eine accidentelle Folge
der Hyperämieen ansehen. Ohne Zweifel entsteht es, wie die Oedeme
anderer Theile, am häufigsten aus mechanischen Stasen, und wir
vermuthen, dass die mechanischen Hyperämieen, welche in anomaler
Herz- und Lungen-Action ihren Grund haben, besonders aber die
Circulationshemmungen, welche durch krankhafte Processe am Schädel
bedingt werden (§. 139.), seine hauptsächlichsten Ursachen sein mögen,
deren Wirkung durch eine seröse Blutbeschaffenheit wesentlich unter-
stützt werden muss.
Ein chronisches Gehirnödem, verbunden mit der schon er-
wähnten serösen Infiltration der Pia, kann als secundäre, untergeord-
nete Störung in dem atrophischen Gehirne der Blödsinnigen (ex vacuo)
vorkommen
E. Die Ventrikel und die inneren Theile.
§. 145.
Die einfache Erweiterung der Ventrikel, wobei sie nur mit
klarem Serum gefüllt sind, ist gewöhnlich secundär und gehört na-
mentlich der Gehirnatrophie an. — Von weit höherem Interesse sind
auf der ausgedehnten Ventrikeloberfläche und an den zarten Theilen
im Innern des Gehirns jene häufigen anatomischen Veränderungen,
welche auf eine Entstehung aus denselben subinflammatorischen und
exsudativen Processen hinweisen, wie solche auch auf der Peripherie
der grauen Rinde vorkommen. Die partielle Verengerung und Ver-
kürzung der Ventrikel, namentlich die Verschliessung des Un-
terhorns durch Adhäsionen des Ependyma wird schon von Esquirol
als ein nicht seltener Befund, von Ferrus *) als beim paralytischen
Blödsinn vorkommend erwähnt; die Versperrung und Verwachsung
des Hinterhorns dagegen ward von Bergmann **), wie er sagt in
mehren hundert Fällen von chronischer Verrücktheit, also so häufig
gefunden, dass er sie zu den eigentlichen pathologischen Ursachen dieser
Form rechnet; vollständige Verwachsung des Fornix mit dem hintern
[312]Pathologische Anatomie
obern Theil des Sehhügels (mit Hydrops der Ventrikel und chroni-
scher Infiltration der Haut) fand Engel *) bei einem an Delirium
tremens Gestorbenen. Von besonderem Interesse scheinen uns die
Beobachtungen von Bergmann **) über die Alterationen, namentlich das
Schwinden jener oberflächlichen Fasergebilde, welche die äusserste
Schicht der Gehirnsubstanz in den. Ventrikeln (namentlich im vierten
und im Aquaeduct) darbietet, wenn wir gleich die Aehnlichkeit dieser
Gebilde mit vegetabilischen Formen, mit musikalischen Instrumenten
etc. wie auch die von jenem trefflichen Beobachter angedeutete fun-
ctionelle Bestimmung derselben höchst problematisch finden.
Durchaus nicht selten finden sich, ohne Zweifel als Producte
abgelaufener Exsudativprocesse, sandförmige, papillöse, schimmelartige
Excrescenzen und Granulationen der Ventrikeloberfläche (Bergmann,
Holscher’s Annalen l. c. p. 551, 553 etc.) mitunter auch aufgelöthete,
zuweilen mit Knochenmaterie besetzte Plättchen und Pseudomembranen
in den Ventrikeln, letztere namentlich bei Paralytisch-Blödsinnigen ***).
Die sogenannten Hydatiden des Gefässplexus sind zu häufig, um
für eine wesentliche Alteration gelten zu können; eine eichelgrosse
freie Hydatide im rechten Seitenventrikel (neben Ecchymosen der
Gehirnoberfläche) fand Devaux †) nach nostalgischer Melancholie mit
heftigem Kopfschmerz, eine Bildung ziemlich grosser Crystalle von
Doppelphosphat in beiden Plexus chorioidei, Bergmann bei einer gei-
stesschwachen Maniaca ††).
Frische, namentlich weisse Erweichungen der Ventrikelober
fläche findet man zuweilen als Todesursache in acuten Fällen; ihre
chronische Verhärtung begleitet oft die Ventrikelerweiterung im
atrophischen Gehirn (paralytischer Blödsinn).
Was die Hypophysen†††) betrifft, so war wiederum von
Bergmann schon in dessen früheren Arbeiten ††††) eine bedeutende
Verdickung und luxurirende Wucherung der Gefässplexus um die
Zirbel, zum Theil neben einer fast allgemeinen Hypertrophie der
innern Gefässhaut, neben einem Besatze mit Granulationen, einer
[313]der Gehirnsubstanz.
Verwachsung der Zirbel mit dem Gefässplexus an der untern Seite
des Balkens und dergl. als ein häufiger Befund constatirt worden; in
neuester Zeit *) hat dieser Beobachter nach seinen zahlreichen
Untersuchungen die abnorme Gefässumwucherung, Versetzung und
Verwachsung der Zirbel als eine der constantesten Alterationen bei
chronisch Verrückten den pathologischen Ursachen dieser Form des
Irreseins beigezählt.
Auch die so selten mit gehöriger Genauigkeit untersuchte Glan-
dula pituitaria liefert bei Irren, wie bei Epileptischen, einzelne
Beispiele pathologischer Veränderung: Amelung **) fand sie nach
Wahnsinn mit fixen Ideen und Neigung zum Selbstmord in eine dünne,
eiterartige Materie verwandelt; F. Arnold ***) (in dem unten erwähn-
ten Fall eines paralytischen Irren) beobachtete Vereiterung ihres hin-
teren Lappens.
Das kleine Gehirn hat bis jetzt eine verhältnissmässig geringere
Beachtung gefunden; doch beziehen sich Bergmann’s Beobachtungen
über die Ventrikeloberfläche — Granulation im vierten Ventrikel etc.,
einmal auch Verwachsung des Hintersegels mit den Mandeln (Holscher’s
Annal. l. c. p. 510) — noch zu grossem Theile auf das Cerebellum,
und Foville gibt an, häufige Verwachsungen der Pia mit seiner Ober-
fläche bei einer gewissen Constanz der Symptome während des Lebens
gefunden zu haben †). Ausserdem finden sich auch einzelne seltenere
Wahrnehmungen von Erkrankung des kleinen Gehirns bei Paralytisch-
Blödsinnigen von Arnold (l. c.), Stolz ††) (missfarbiges, teigig erweichtes,
mit einem dünnen bräunlichen Brei überzogenes Cerebellum), Lélut †††)
(nussgrosse Geschwulst in der linken Hemisphäre neben Hyperämie,
serösem Erguss und leichten Adhäsionen an das grosse Gehirn) etc.
[314]Pathologische Anatomie.
Wir theilen in Folgendem den von Arnold beschriebenen und einen von uns
beobachteten Fall mit, zugleich als Beispiele des mannigfaltigen Zusammen-
vorkommens der einzeln angeführten Läsionen.
Bei einem nach früheren Feldzügen und Excessen aller Art zuerst in Schwer-
muth, dann in Wahnsinn und Paralyse Verfallenen fand sich der Schädel blut-
reich; eine ausgebreitete Pseudomembran an der Innenfläche der Dura; Injection
der Pia; Vereiterung des hintern Lappens der Glandula pituitaria: Granulation
der Plexus chorioidei und des Septum; Verwachsung des Pes hippocampi beider
Seiten mit der Decke des Cornu descendeus. In den vordern Lappen zwischen
der grauen und weissen Substanz eine rosige Zwischensubstanz; auf den Vier-
hügeln fest anhängende Gefässe. Durchgängige (ödematöse?) Erweichung des
ganzen kleinen Gehirns, am stärksten am hintern Theil des obern Wurms; ober-
flächliche Adhäsion desselben mit der Pia, deren Gefässe von Blut strotzen; am
gezahnten Körper eine rosige Zwischensubstanz; bedeutende Granulationen auf
dem Boden der vierten Kammer. Verknöcherungen der Gehirn- und der Körper-
arterien; Herzerweiterung.
Im Juli 1844 starb in der hiesigen Clinik an Lungenödem und Herzkrankheit
ein 73jähriger Mann, früher Soldat, Branntweintrinker und Gänsehirt in einem be-
nachbarten Dorfe. Er hatte an entschiedenem Irresein gelitten, doch können wir
hierüber nichts Näheres mittheilen, als dass er sich für einen General hielt, die
Gänseheerden als Armeen behandelte, mit denen er operirte, und eine phantastische
Uniform trug. Er hatte während seines Aufenthalts in der Clinik Incohärenz der
Ideen gezeigt und seine letzten Tage in Halbschlummer mit leichten Delirien zu-
gebracht. — Wenige, aber grosse Pachion. Granulationen. Auf der Convexität
der Windungen des grossen Gehirns die Häute zart, keine Atrophie der Win-
dungen; auf den Durchschnittsflächen des grossen Gehirns fast überall ein fein-
löcheriges Ansehen. Die Ventrikel collabirt; im rechten nichts Abnormes; im
linken Seitenventrikel einige Klümpchen eines gelatinös-albuminös aussehenden
Exsudats, sein hinteres Horn ist um einige Linien kürzer, als das des rechten
Ventrikels, sein unteres Horn schon oben verengert, weiter unten vollständig
verklebt und verschlossen; gleichfalls auf der linken Seite waren zwei Windun-
gen der Insula ziemlich atrophisch. — Die Meningen des Cerebellum verdickt und
an vielen Stellen, besonders um die Mandeln, ebenso in den Zwischenräumen der
Blätter mit zahlreichen, in erbsengrossen Häufchen sitzenden, den frischen pac-
chionischen ganz ähnlichen Granulationen bedeckt.
§. 146.
Beim Ueberblicke über die erwähnten anatomischen Läsionen
des Gehirns mag es vielleicht auffallen, die schweren Degenerationen
dieses Organs durch pseudoplastische Neubildungen (Krebs, Geschwülste
auf der basis cranii, grosse Gehirntuberkel, Acephalocystensäcke u.
dergl.) zu vermissen. In der That finden sich solche nur selten bei
den Kranken der Irrenhäuser. Nicht als ob sie nicht im Stande
wären, die tiefsten psychischen Anomalieen hervorzubringen — im
späteren Krankheitsverlauf solcher Fälle ist vielmehr ein tiefer Blöd-
[315]Ueber einzelne tiefere Entartungen.
sinn *) das gewöhnliche und in den früheren Stadien fehlt es sehr
selten an melancholischer Verstimmung oder maniacalischer Erregung.
Aber die auffälligsten Symptome sind gewöhnlich nicht diese, sondern
vielmehr von Anbeginn an schwere motorische Störungen (Epilepsie,
Lähmungen etc.), um so constanter, je mehr jene Krankheitsprocesse
die Gehirnsubstanz auch nur in einiger Tiefe befallen, neben denen
man die vorhandene psychische Verstimmung, den Gedächtnissverlust
etc. als accessorische, weniger zu beachtende Symptome ansieht und
ebendesshalb (p. 7) die Krankheit nicht zu den Geisteskrankheiten zählt.
In diesem Verhältniss und seinen nächsten Consequenzen liegt die
einfache Auflösung des speciösen Widerspruchs, der von Einzelnen
der pathologisch-anatomischen Betrachtungsweise zugeschoben wurde,
dass ganz leichte anatomische Veränderungen des Gehirns einen Effect
(Irresein) haben sollen, den gerade die schwersten und tiefsten Al-
terationen nicht haben. Indessen liegen immerhin solche seltenere
Wahrnehmungen tieferer Alteration der Gehirnsubstanz aus den Leichen
der Irren vor. Beispielsweise kann an einen Fall von Romberg **),
wo sich nach Tobsucht mit Wahnsinn, ohne Lähmung, 4 Hydati-
den auf der Gehirn-Oberfläche, sämmtlich mehrere Linien tief in
die Corticalsubstanz eindringend, neben Pseudomembranen der Arach-
noidea fanden, ebenso an die vorhin erwähnten Fälle von Stolz und
Lélut erinnert werden. — Gerade weil die anatomischen Alterationen
bei Irren in der Regel feinere, nur durch genaue Untersuchung auf-
findbare sind, wird so oft bei den Sectionen die Erwartung der mit
der Sache wenig vertrauten Aerzte getäuscht, und eben die in der
Casuistik allenthalben zum Vorschein kommende ungenaue Beobachtung
macht das Einzelstudium der pathologischen Anatomie des Irreseins
so ermüdend und verwirrend. Vieles dürfen wir hier von der Zu-
kunft hoffen, und namentlich versprechen wir uns durch die zuge-
sagte Publication der Bergmann’schen und Foville’schen ausgedehnten
Untersuchungen viele neue und interessante Beiträge ***). Auch jetzt
[316]Pathologische Anatomie des acuten,
aber ist unseres Erachtens kein Grund vorhanden, jenem resignirenden
Ausspruche beizupflichten, den Esquirol gegen das Ende seiner ruhm-
vollen Laufbahn (a. 1835) that: dass die Sectionen ohne Nutzen ge-
wesen seien für die Feststellung der materiellen Bedingungen des
Irreseins; schon jetzt lassen sich ihnen für die Theorie, für Diagnose,
Prognose und Therapie wichtige Folgerungen entnehmen. Indem
wir in Folgendem von seltenen und vereinzelten Wahrnehmungen ganz
absehen, und nur die grösseren, constatirten Ergebnisse, die negativen
so gut als die positiven im Auge behalten, wollen wir versuchen, die
verschiedenen Zustände psychischer Krankheit mit den ihnen am
häufigsten entsprechenden anatomischen Ergebnisse resümirend zu-
sammenzuhalten. Wir theilen zu diesem Behufe die Fälle von Irresein
in drei Categorien, 1) acute, frische Fälle in der Form der Melancholie
und Manie, 2) chronische Fälle verschleppter, abgeschwächter Melan-
cholie und Manie, Verrücktheit und Blödsinn. 3) Paralytischer Blödsinn.
§. 147.
I. Acutes Irresein.
1) Da eine ziemliche Anzahl dieser Fälle dem Ansehen nach
ganz gesunde Gehirne auf den Sectionstisch liefert, so muss beim
gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft angenommen werden, dass
sie ziemlich oft auf einer bloss nervösen Cerebral-Irritation beruhen.
2) Da die Hyperämie des ganzen Gehirns und besonders die
einfachen und ecchymosirten Hyperämieen der zarten Gehirnhäute
und der grauen Rinde mit ihren nächsten Folgen die häufigste Läsion
abgeben, welche sich findet, so ist dieser Zustand für sehr viele Fälle
als die anatomische Grundlage der Symptome anzusehen.
3) Diese Hyperämie ist häufig von Verdickung und Trübung
der zarten Hirnhäute, dem Resultat einer chronischen Stase begleitet.
Dieses Ergebniss mag oft aus denselben Ursachen wie jene Hyperämie
selbst hervorgehen, oft aber mag sie das Resultat lange früher vor-
ausgegangener congestionirender Momente (s. g. Ursachen des Irreseins,
Trunksucht, andauernde Affecte, Herzkrankheiten etc.) sein. Diese
Alteration selbst hat begreiflich keine eigenen psychischen Symptome.
4) Durchgreifende, constante Unterschiede zwischen Melancholie
und Manie gibt es von anatomischer Seite nicht; aber die Störungen
für beide Formen sind desshalb doch nicht ganz die gleichen.
[317]des chronischen Irreseins.
5) Die Melancholie hat noch häufiger als die Manie gar keine
anatomischen Läsionen *); wo sie solche hat, bestehen sie noch häufiger
als in der Manie in blosser Hyperämie, und wo sie nicht in blosser
Hyperämie bestehen, ist es vorzugsweise das Gehirnödem, das der
Melancholie mit Stupor zukommt und unseres Wissens nie in der
Manie beobachtet worden ist.
6) Die Manie zeigt seltener als die Melancholie gar keine Stö-
rungen, oder blosse Hyperämieen; die Hyperämieen sind oft tiefer
und intensiver (erysipelatose Färbung der ganzen grauen Rinde) und
viel häufiger entwickelt sich aus ihnen ein Exsudations- und Mace-
rationsprocess, der die Corticalsubstanz, gewöhnlich nur in abgeson-
derten Schichten, bald die mittleren, bald die äussersten, erweicht.
Dem schnellen Eintritt einer solchen ausgebreiteteren Erweichung
entspricht dann der blödsinnige Collapsus vor dem Tode; aber den
heftigen Hyperämieen, durch welche die Erweichung zu Stande kam,
entsprachen wahrscheinlich die maniacalischen Symptome.
II. Chronisches Irresein.
1) Die Fälle, wo alle anatomische Störung fehlt, sind seltener,
ebenso die blossen Hyperämieen; sehr häufig aber wieder die Ver-
dickung der zarten Häute.
2) Sehrviele Fälle zeigen Läsionen, welche der vorigen Categorie
so gut wie ganz fehlen, nemlich die Atrophie des Gehirns, namentlich
der Windungen, die Entfärbung der Corticalsubstanz, die ausgedehnte
und durchdringende grössere Härte des Gehirns.
3) Hier kommt auch schon an der oberflächlichen Corticalschicht
weit weniger die Erweichung, sondern vielmehr eine schwerere Störung,
die oberflächliche hautförmige Verhärtung und die Verwachsung mit
der Pia vor; beide allerdings meist nicht sehr ausgebreitet, denn
ausgedehnte und rasch erfolgende Entzündungsprocesse hätten schon
während des Stadiums der Erweichung zum Tod geführt.
4) In diesen Zuständen, vielleicht aber auch schon in den acuten
Stadien, müssen auch leichte oberflächliche Entzündungen auf den
Ventrikelwandungen durchaus gewöhnlich sein, da Bergmann ihre
Verengerung und Verwachsung bei den chronisch Verrückten so häufig
fand. Die Hyperämie scheint nach demselben Beobachter in den
inneren Parthieen, namentlich um die Zirbel, stärker und dauernder
zu werden.
[318]Pathologische Anatomie des paralytischen Blödsinns.
5) Die Läsionen, welche dem acuten Irresein vorzugsweise
zukommen, finden sich in diesen chronischen Formen nur selten,
und die hier häufigsten stellen sich als Folgezustände und letzte
Resultate jener hyperämischen und leicht entzündlichen Processe
heraus, wie sich die Symptome der chronischen Formen als abge-
schwächte Reste der acuten und als wahre Schwächezustände aus-
weisen. Auch hier, wie in der inneren, umschriebenen Encephalitis
oder in der Myelitis entspricht dem ersten hyperämischen und in
Exsudation erst übergehenden Stadium eine Irritationsperiode, dem
Stadium der fix gewordenen Degeneration oder gar einer geschehenen
Decomposition des Gewebes ein Stadium der Lähmung (des Blödsinns).
6) Jene erwähnte Atrophie des Gehirns, welche sich in so vielen
Fällen schon vom blossen Ansehen ergibt, ist aber in Wahrheit noch
viel öfter vorhanden. Die genauen Wägungen des Gehirns von
Parchappe*) ergaben eine Gewichtabnahme des Gehirns im Mittel
für die entschiedene Mehrzahl der Fälle und ein sehr merkwürdiges
Fortschreiten dieser Volumsverminderung in geradem Verhältniss zu
der Tiefe und Intensität der psychischen Schwäche **).
III. Paralytischer Blödsinn.
1) Auch hier sind noch einzelne Fälle von Abwesenheit jeder
Läsion angegeben; sie sind indessen in ihrer vollständigen Isolirtheit
verdächtig.
2) Die sehr grosse Mehrzahl dieser Fälle bietet nach den besten
Beobachtern übereinstimmend (Calmeil, Bayle, Parchappe ***), Sc. Pinel)
als die häufigsten Läsionen eine tiefe Erweichung und Decomposition
der grauen Rindensubstanz mit festen Adhäsionen der Pia an der-
selben dar, so häufig übrigens (nach Delaye, Foville und Parchappe)
mit gleichzeitiger ausgedehnter Verhärtung der weissen Substanz,
dass die Frage, welche dieser beiden Alterationen speciell die nächste
Ursache der Lähmung sei, noch offen bleiben muss.
3) Neben jener Erweichung findet sich häufig genug ein weiterer
[319]Resumé der pathologischen Anatomie des Gehirns.
Folgezustand derselben, nemlich die Verhärtung auf der oberflächlichen
Schichte der Rinde.
4) Die Atrophie des Gehirns, namentlich der Windungen ist
dabei sehr häufig, nebst ihren weiteren Folgen, der reichlichen serösen
Infiltration der Meningen ex vacuo, der Erweiterung der Ventrikel etc.
Vielleicht ist gleichfalls die Verminderung des Schädelinhalts Schuld
an den hier sehr häufigen Blutergüssen (Cysten und Pseudomembranen)
im Sacke der Arachnoidea.
5) Auch in diesen Fällen scheint nicht selten gleichzeitig mit
den pathologischen Vorgängen auf der grauen Rindenoberfläche auch
die innere Ventrikeloberfläche krankhaft afficirt zu sein; dies wird
bewiesen durch die nicht selten vorfindige Verhärtung der Ventrikel-
wandungen und die vorhandenen Granulationen und pseudomembranösen
Producte auf derselben.
Aus dem Bisherigen dürften sich folgende allgemeine Schlüsse
ergeben:
a) Das Irresein kann sowohl in seinen acuten als chronischen
Formen das Ergebniss einer blos nervösen Irritation sein.
b) Häufiger aber ist es dies nicht, sondern vielmehr Symptom
anatomischer Läsionen, und zwar hyperämischer und exsudativer Processe,
welche meistens zuerst in der Pia und der Gehirnrinde auftreten, in
verschiedene Tiefen der Gehirnsubstanz eindringen, und wenn sie
nicht rückgängig werden, mit incurabler Destruction des Gewebes,
Atrophie und Verhärtung der Gehirnsubstanz endigen, denen die
Symptomengruppe des Blödsinns entspricht.
c) Wie von der oberflächlichen Pia und der äusseren Gehirn-
rinde, so scheint in vielen Fällen ein hyperämischer und leicht ent-
zündlicher Process auf der Pia der Ventrikel und der innern Gehirn-
oberfläche vor sich zu gehen. Es ist bis jetzt unmöglich, die Symptome
dieser und der vorigen Läsionen irgendwie zu unterscheiden.
d) Die Symptomatologie ist noch nicht so weit, um im einzelnen
Falle die An- oder Abwesenheit anatomischer Störungen sicher diagno-
sticiren zu können; aber die gegebenen Expositionen bieten Grundlagen
für einen annähernden Calcul der Wahrscheinlichkeitsdiagnose, auf
den man in gleicher Weise bei vielen andern Krankheiten (z. B. des
Unterleibs) beschränkt ist.
e) Für das anatomisch-diagnostische Urtheil so gut, wie für das
prognostische, ist die An- oder Abwesenheit schwerer motorischen Störun-
gen, namentlich der Paralyse, das zuerst zu berücksichtigende Moment.
[320]
Zweiter Abschnitt.
Pathologische Anatomie der übrigen Organe.
§. 148.
Wir haben uns hier nur auf die in practischer Beziehung wich-
tigsten oder theoretisch interessantesten pathologischen Veränderungen
der übrigen Organe zu beschränken, einmal, insofern sie am häufigsten
zu Todesursachen bei Irren werden und überhaupt grösseren clinischen
Werth haben, andrerseits so weit sie überhaupt in einer gewissen
Regelmässigkeit mit jenen Gehirnkrankheiten zusammentreffen, oder
so weit sie mit diesen in einem einsichtlichen pathologischen Zu-
sammenhange stehen. So wichtig alle solche Veränderungen dem
Arzte sein müssen, so mannigfaltige Missverständnisse sind auch
durch ihre einseitige Hervorhebung der Theorie des Irreseins erwachsen.
Hatte man irgend einmal gelesen, dass bei einem Irren sich eine
kranke Milz oder eine verhärtete Leber gefunden, so sollten nur derlei
Erkrankungen ohne Weiteres als „körperliche Bedingungen der Geistes-
krankheiten“ angenommen werden, und es ward aus allenthalben
zusammengerafften Notizen eine Lehre von der „psychischen Bedeutung“
der Eingeweide aufgebaut, welche von der Beobachtung alle Tage
widerlegt wird. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass Geisteskranke
an allen, in jeder Hinsicht gleichen acuten oder chronischen Krank-
heiten sterben können wie die übrigen Menschen, und die nachfol-
genden Bemerkungen können nur zur Ergänzung der betreffenden
§§. der Aetiologie benützt werden.
Eine erste und wichtige, hierher gehörige Frage wäre die, ob
gewisse Blutbeschaffenheiten, wie sie sich aus dem Ansehen
des (während des Lebens gelassenen oder) in der Leiche vorfindigen
Blutes oder aus gewissen Erscheinungen am Lebenden mit Sicherheit
erschliessen lassen, bei Geisteskranken besonders häufig vorkommen —,
eine an sich nicht unwahrscheinliche Vermuthung, da nach neueren
Untersuchungen manche acute Affectionen des Gehirns und seiner
Häute eine der beim Typhus beobachteten Crase ganz ähnliche Blut-
beschaffenheit zu erzeugen vermögen *). Allein auch hierüber darf
man bei der Mehrzahl der Irrenärzte kaum zerstreute und dürftige
Notizen erwarten, da so viele dieser Aerzte über den Discussionen
[321]Anomalieen der Blutmasse. Ohren-Entzündung.
um Fenster und Thüren, Speisekarten und Wascheinrichtungen ihrer
Anstalten keine Zeit zu strengeren pathologischen Untersuchungen
finden können. — Dass anämische Zustände durchaus nicht selten
sind, dass sie mitunter dem Irresein vorausgehend, in einem offenbar
ätiologischen Verhältnisse zu ihm, wie zu andern Gehirnkrankheiten
stehen können, ist schon oben erwähnt (p. 140). Es ist uns aber auch
wahrscheinlich, dass es secundäre anämische Zustände in pathogene-
tischem Zusammenhange mit Geisteskrankheiten gibt; ganz besonders
beim paralytischen Blödsinn tritt nach unserer eigenen Beobachtung
nicht ganz selten ein solcher ein, mit wachsweisser Entfärbung der
allgemeinen Decken und auffallender Gedunsenheit, ähnlich wie in
der Chlorose. Wir sind geneigt, diese mehr chronischen Vorgänge
jener interessanten Beobachtung Rokitansky’s anzureihen, welcher
in Folge von Gehirnerschütterung und traumatischer Erkrankung des
Gehirns eine bei bestehender Körperfülle sehr auffallende Consumtion
der Blutmasse (Anämie) beobachtete (Patholog. Anatomie. II. p. 778).
Eine directe Bestätigung finden wir in der von Thore (Annales med.-
psychol. Juli 1844. p. 40) gegebenen Notiz, dass das aus der Ader
gelassene Blut bei den Paralytisch-Blödsinnigen — sogar bei Pneu-
monie — im Durchschnitt eine seröse Beschaffenheit und einen
consistenzlosen Blutkuchen zeigte.
Doch sind in Bezug auf solche Blutveränderungen immer dieje-
nigen schädlichen Momente sorgfältig in Anschlag zu bringen, welche
der Aufenthalt in einzelnen grossen Irrenanstalten mit sich bringt —
schlechte Ernährung, Mangel an Bewegung, Anhäufung vieler in enge
Räume zusammengepackter Kranken etc. Hierdurch vor Allem scheinen
jene leichteren oder schwereren scorbutischen Affectionen bedingt zu
werden, die in einzelnen französischen Irrenanstalten, wie auch in
Gefängnissen, auf Schiffen etc. zur beständigen Plage der Kranken
und zu einer nicht seltenen Todesursache werden.
§. 149.
Unter den bei Geisteskranken häufiger vorkommenden Local-
affectionen haben wir zuerst der bekannten Erkrankung des äusseren
Ohrs zu erwähnen, die gewöhnlich unter dem Namen des Erysipels
des äusseren Ohrs aufgeführt wird. Die Haut der Ohrmuschel
schwillt an, wird glatt, gespannt und zeigt eine undeutliche Fluctuation;
das ganze Ohr wird dicker, blauroth, heiss und schmerzhaft. Beim
Einschnitt findet man eine mit halb gestocktem, halb wässrigem
Blut gefüllte Höhle, welche sich nach der Eröffnung bald wieder
Griesinger, psych. Krankhtn. 21
[322]Pathologische Anatomie
füllt. Zuweilen entleert sich auch die Höhle durch entstandene Risse
von selbst. (S. Bird, Gräfe und Walther’s Journal. 1833. 19. Bd. Hft. 4.)
Meist wird nach wenigen Wochen die Geschwulst und Röthe geringer,
es bleibt eine stärkere oder mässigere Verdickung der befallenen
Stelle zurück — Belhomme wollte den Knorpel hypertrophisch, Cossy
(Archives générales etc. 1842. XV. p. 290) eine Knorpellamelle neuer
Bildung gefunden haben — der oft später ein Schrumpfen und eine
bleibende Missstaltung der Ohrmuschel folgt. Dass diese Erkrankung,
wie in neuerer Zeit angegeben wurde, immer als Folge zufälliger
Verletzungen (Anstossen des Kopfs an die Bettpfosten, Zerren
am Ohr als disciplinarische Massregel grausamer Wärter etc.) vor-
komme, ist uns nicht wahrscheinlich, da sie wenigstens vorzugsweise
häufig in einem gewissen Stadium des Irreseins, nämlich dem Uebergang
der Manie in den Blödsinn, vorkommt, (Neumann, die Krankheiten
des Menschen. IV. Band. 2te Ausgabe. 1838. p. 219) desshalb auch
im Durchschnitt sehr ungern gesehen wird. Die näheren Bedingungen
der Entstehung dieser Affection scheinen uns derzeit ganz dunkel,
und wir vermögen in der allerdings merkwürdigen Formähnlichkeit des
äussern Ohrs mit den Schädel-Umrissen (Foville, Anat. d. syst. nerv.
Atlas. Pl. XXIII. fig. 5. Text p. 640) keinerlei Schlüssel zur Aufklärung
dieses Verhältnisses zu finden.
§. 150.
Unter den übrigen organischen Alterationen, welche man in den
Leichen der Irren findet, stehen wegen ihrer ausserordentlichen cli-
nischen Wichtigkeit und häufigen Tödtlichkeit die Veränderungen der
Brustorgane oben an.
I. Abnormitäten der Respirationsorgane. Unter diesen
sind die wichtigsten die Pneumonie, der Lungenbrand und die Tu-
berculose. Der Lungenhepatisation erliegen eine Menge Geistes-
kranker, am meisten die heruntergekommenen, deteriorirten Constitu-
tionen, namentlich viele Paralytisch-Blödsinnige. Calmeil fand sie
in einem Fünftel, Aubanel und Thore in einem Siebentel der Todesfälle.
Wie man es in Spitälern für Greise beobachtet, so kommen auch
bei den Irren, namentlich in der kalten Jahreszeit, viele schnelle
Todesfälle an dieser Krankheit vor. Wer bei solchen Kranken während
des Lebens das ältere Compendienbild der Pneumonie erwarten
wollte, würde sich sehr täuschen. Frost wird selten beobachtet und
ebenso selten Husten, Auswurf oder Schmerzen, Dyspnoe dagegen
ist meist in höherem oder geringerem Grade vorhanden; das
[323]der Brustorgane.
Einzige, was die Diagnose sichert, ist natürlich die Anwesenheit der
physicalischen Zeichen. Daher ist es, sobald überhaupt ein Geistes-
kranker Zeichen eines neuen Unwohlseins gibt, den Appetit verliert,
Durst, Zungenbeleg und eine grössere Pulsfrequenz zeigt, immer die
erste, unverbrüchliche Regel, die Brust genau durch Percussion und
Auscultation zu untersuchen. — Der Verlauf der Pneumonie ist,
besonders bei den Paralytischen, gewöhnlich rapid und die Therapie
noch unglücklicher, als bei der Pneumonie der Greise. — In anato-
mischer Beziehung haben diese Fälle natürlich nichts Eigenthümliches.
Die Lungengangrän, die man auch schon zuweilen in Ge-
fängnissen plötzlich in grösserer Häufigkeit vorkommen sah, (S. Mosing,
Lungenbrand als Epidemie. Oestreich. Jahrb. April und Mai 1844.)
ist in ihrem Vorkommen bei Geisteskranken erst seit Guislains Arbeiten
näher gekannt und gewürdigt. (Mémoire sur la gangrène des poumons
chez les aliénés. Gaz. medic. 1836. und in den Phrenopathieen.)
Guislain beobachtete die Lungengangrän fast ausschliesslich bei Kranken,
welche die Nahrung verweigert hatten und an Inanition gestorben
waren, bei diesen aber auch sehr häufig (9mal unter 13 solchen
Todesfällen). Er hält bei diesen Kranken, deren Einige 20 bis 60
Tage, fast blos Wasser trinkend, gelebt hatten, die Blutverarmung,
eine Art scorbutischen Zustands, für den primitiven Zustand und
auch für die eigentliche Ursache der Gangrän; eine dunkle, ziegel-
rothe, braunrothe, später cyanotische Färbung der Wangen erwies
sich ihm als ein wichtiges Zeichen während des Lebens. Es waren
meist Kranke, welche eine Herabsetzung der allgemeinen Sensibilität,
Gleichgültigkeit gegen Kälte, Hitze und Schmerz zeigten, lange in
die Sonne sehen konnten, ohne zu blinzeln u. dergl. Weder Brust-
schmerz, noch Husten, noch Dyspnoe oder Fieber waren vorhanden,
der Puls war meist etwas verlangsamt — andere Beobachter (Thore)
fanden ihn beschleunigt — und die Hauttemperatur gesunken; während
doch bei Nicht-Irren der Lungenbrand gewöhnlich mit sehr heftigen
Symptomen verläuft. Es scheint sowohl der umschriebene als der
diffuse Brand vorzukommen; 7mal in den 9 Fällen Guislains war die
linke Lunge ergriffen; in keinem Falle war die, dem Symptom der
Nahrungsverweigerung von Einzelnen vindicirte Gastritis vorhanden. —
Auch andere Beobachter haben die Lungengangrän gefunden; in 2
Fällen von Ferrus (Gazette medic. 1836. p. 715) war daraus Pneumo-
thorax entstanden; Calmeil, Webster und Thore sahen sie gleichfalls.
So viel geht aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit hervor, dass
die Krankheit durchaus nicht auf die Fälle von Nahrungsverweigerung
21 *
[324]Pathologische Anatomie
bei Melancholischen beschränkt ist, sondern namentlich auch bei
Paralytisch-Blödsinnigen, welche gierig essen, vorkommt (Thore, des
maladies incidentes des aliénés. Annal. med.-psycholog. Septbr. 1844.
p. 182 seqq.) und wir halten die Ansicht Foville’s, dass die Krankheit
mitunter durch Absorbtion von Brandjauche aus einem Decubitus
entstehe, für gegründet. — Die Diagnose ist, wo nicht brandig stin-
kender Athem und Auswurf vorhanden sind, ausserordentlich misslich,
bei kleinen Brandheerden auch einer präcisen, physicalischen Diagnostik
unerreichbar.
XLIV. Schwermuth nach psychischen Eindrücken. Speisever-
weigerung Tod. Gangraena pulmonum. Während unserer letzten po-
litischen Unruhen ward eine 54jährige Dame von empfindlichem Charakter, die
bis daher ein ruhiges Leben geführt hatte, lebhaft betroffen von dem Anblick
einiger Bewaffneter, die sich unter ihrem Fenster schlugen. Der heftigen Er-
schütterung folgt schnell eine Geistesverwirrung, und mehrere Tage vergehen,
bis man bemerkt, dass sie keine Speise zu sich nimmt. Drei, fünf, neun Tage
verstrichen unter Zureden ihrer Familie; man richtet tausend Fragen an sie, man
bietet ihr alle möglichen Gerichte an, aber nichts kann ihren Widerwillen besiegen.
Ein herbeigerufener Arzt lässt 15 Blutegel an die Magengrube setzen. Der tiefe
Verfall ihrer Züge, ihre Abmagerung, ihre Melancholie, die immer schwerer ge-
worden, machten die Familie besorgt, und sie trat in unsere Anstalt am 4. Februar
1831. — Ich erkannte eine Speiseverweigerung schon an ihrer Gesichtsfarbe:
meine Nachfragen ergaben, dass Madame B. innerhalb der letzten 4 Wochen nur
einige Milchsuppen und etwas leichte Fleischbrühe zu sich genommen. Das Ge-
sicht hatte eine ziegelrothe Färbung, an den Wangen, der Nasenspitze, den Ohr-
läppchen braun; die Pupille war erweitert und das Weisse des Auges war glän-
zend mit einem Stich ins Blaue; die Haare, die nach der Aussage der Ver-
wandten immer geschmeidig gewesen, waren seit einigen Tagen ausserordentlich
trocken und zeigten eine Verfärbung, die man auch an der Iris wahrzunehmen glaubte.
Nur mit Mühe kann man ihr einige Löffel voll Fleischbrühe beibringen; die
Kranke, welche ausserordentlich stark ist, wehrt sich kräftig gegen die Diener
und die Melancholie geht in Manie über. Die Abmagerung macht entsetzliche
Fortschritte; das Gesicht wird braun, die Lippen werden etwas livid, und bald
zeigen Hände und Füsse, besonders an den Phalangen ein wahrhaft cyanotisches
Aussehen. Die Kranke weist die Nahrung immer hartnäckiger zurück; sie wird
starr, und bald tritt ein extatischer Zustand zu den Symptomen der Schwermuth.
Kaum gelingt es von Zeit zu Zeit, ihr eine Tasse Milch oder Bouillon heizu-
bringen, und um ihren Widerstand zu besiegen, nimmt man seine Zuflucht zum
Drehstuhl, aber ohne Erfolg.
Ihr Athem wird unerträglich stinkend; der Auswurf war braun mit hellrothen
Streifen; er ward nach einigen Tagen copios, aber nicht wirklich eiterig, sondern
jauchig. Das Gesicht war nun so verfallen, dass die Kranke von hohem Alter
zu sein schien. Ihr Leben erlosch langsam; von Zeit zu Zeit hatte sie etwas
Nahrung zu sich genommen und in den letzten Tagen nahm sie alle Speisen, die
man ihr anbot.
[325]der Brustorgane.
Bei der Leichenöffnung fand sich am Gehirn und an den Gehirnhäuten keine
bemerkbare Veränderung. Die Unterleibseingeweide zeigten keine Spur von Ent-
zündung, der Magen durchaus keine Injection; er war nicht einmal zusammen-
gezogen. Die Gallenblase war mit einer sehr schwarzen Galle gefüllt, und die
Milz und die Blutgefässe des Gekröses enthielten ein Blut, dessen ausserordent-
lich dunkle Färbung mir den Ausspruch des berühmten Haller hierüber bestätigte.
Als ich nach Oeffnung der Brusthöhle die linke Lunge aufhob, drangen meine
Finger in deren Substanz ein, und ein unerträglicher Gestank aus diesem Risse
nöthigte mich, einen Augenblick die Untersuchung zu unterbrechen. An ihrer
hintern Seite, am obern Lappen zeigte die herausgenommene Lunge eine ganz
schwarze, mit grünen und braunen Flecken übersäte Oberfläche. Ein Einschnitt
in diesen Theil zeigte mir eine ausserordentliche Zerreisslichkeit des Gewebes.
Eine blutige, schwarze, stinkende Brühe, ähnlich der Flüssigkeit in einem bran-
digen Glied, war in das Lungengewebe ergossen; hie und da mit einigen eitrigen
Flocken. Beim Schaben mit dem Skalpell bedeckte sich die Klinge mit einer
braunen, klebrigen und faulen Masse; lividrothe Streifen durchzogen das Gewebe
nach allen Richtungen; innen setzte sich die Zersetzung buchtig in die Lunge
fort. Das ganze brandige Stück hatte ungefähr die Ausdehnung einer abgeplat-
teten Kugel von 5 Zoll Durchmesser. Die Bronchien waren mit einer röthlichen,
schäumenden und stinkenden Flüssigkeit gefüllt; die rechte Lunge war gesund.
(Guislain, Mémoire sur la gangrène des poumons chez les aliénés. Ga-
zette medicale. 1836. p. 341.)
Die Häufigkeit der Lungenphthise unter den Geisteskranken
wird von Lorry bis heute von den Beobachtern bestätigt, wiewohl
es allerdings an dem strengen statistischen Beweise dafür gebricht,
dass ihre Frequenz wirklich ansehnlich grösser sei, als unter andern
ähnlichen Verhältnissen (Zusammenleben in Anstalten etc.).
Esquirol gibt über ein Drittheil seiner Melancholischen als
phthisisch an; Calmeil fand Tuberculose in ⅖, Webster in ¼, Sc.
Pinel in ⅙ der angestellten Sectionen; in einzelnen Anstalten, z. B.
in Bicêtre, wird ihr seltenes Vorkommen ausdrücklich bemerkt.
(Thore, l. c.)
Nicht nur ihrer Tödtlichkeit wegen ist die Lungentuberculose bei
Geisteskranken wichtig; sie ist sicher auch von wesentlichem pa-
thogenetischem Moment. Man sieht ihre Entwicklung häufig dem
Irresein vorangehen; namentlich scheint die Störung der Circulation
und Respiration, die sich aus stärkeren oder rascheren Tuberkelab-
sätzen oder aus der Zerstörung der Lunge ergibt, wesentlich zur
Entstehung der Gehirnkrankheit Anlass zu geben (Vgl. p. 142).
Der Verlauf dieser Tuberculosen zeigt zuweilen manches Abwei-
chende vom Gewöhnlichen, namentlich mitunter einen auffallenden
Wechsel in der Intensität der Symptome der Lungen- und der Ge-
hirnstörung, so dass mit der scheinbaren Besserung auf der einen
[326]Pathologische Anatomie
Seite eine Verschlimmerung auf der andern zusammenfällt. Indessen
ist dieser Wechsel nicht nur durchaus inconstant, sondern auch ge-
wöhnlich bloss scheinbar; die subjectiven Symptome des Lungen-
leidens treten bei tieferer psychischer Störung und dadurch ganz
abgewandter Aufmerksamkeit zurück, während der Process — wie die
objectiven, physicalischen Zeichen beweisen — seine Zerstörungen
ausdehnt.
Ebenso unrichtig ist die Angabe, dass das Delirium der tuber-
culosen Irren irgend welchen specifischen Charakter habe.
Alle übrigen Alterationen der Respirationsorgane kommen auch
bei Geisteskranken vor. Die Pleuritis wurde von Sc. Pinel 7mal unter
135, von Thore 8mal unter 76 Sectionen beobachtet, die Lungen-
apoplexie (?) von Jessen *) 6mal etc. Lungenhypostase macht auch
hier den häufigen Beschluss eines langen Krankenlagers etc. Alle
diese Affectionen aber sind hauptsächlich nur bemerkenswerth in Betreff
der Aufmerksamkeit, welche ihre Diagnose während des Lebens erheischt.
2) Abnormitäten des Herzens. Bedenkt man einerseits
das so gewöhnliche Vorkommen heftiger und dauernder Angstempfin-
dungen bei Herzkranken, andrerseits die im Verlaufe dieser Krank-
heiten häufigen Gehirncongestionen (theils activ, bei Hypertrophie des
linken Ventrikels, theils mechanisch, vom rechten Herzen aus), so
hat es nichts Auffallendes, wenn die Beobachter über die grosse
Häufigkeit der Herzkrankheiten bei Geisteskranken übereinstimmen.
Nasse hat solche Fälle aus der älteren Literatur zusammengestellt **);
die neueren Beobachter differiren zwar sehr in den Zahlenverhält-
nissen (Esquirol fand sie nur bei 1/15 seiner Melancholischen, Webster
bei ⅛, Bayle bei ⅙, Calmeil und Thore ***) fast bei ⅓, Foville †)
sogar bei ⅘ ihrer Sectionen), hegen aber keinen Zweifel an der
Wichtigkeit dieser Alterationen; die Bedeutung dieser organischen
Erkrankungen sowohl als der functionellen Abweichungen in der Herz-
thätigkeit scheint auch uns (s. oben p. 141) sehr hoch anzu-
schlagen. Unter den anatomischen Läsionen finden sich nach den
obigen Beobachtern nur sehr wenige frische, als Todesursache zu
betrachtende, vielmehr fast durchaus die bekannten chronischen Klap-
penveränderungen mit den Resultaten der Insufficienz und Stenose der
[327]der Unterleibs-Organe.
Mündungen, ausgedehnte pericarditische Verwachsungen, die Hypertro-
phieen, Erweiterungen der verschiedenen Herzabschnitte, der Aorta etc.
Sie während des Lebens näher zu erkennen, ist begreiflicherweise
nur nach den Regeln einer genauen physicalischen Diagnostik möglich.
§. 151.
3) Abnormitäten in den Unterleibsorganen. Unter den
acuten, organischen Erkrankungen, an denen die Irren sterben, ist
nächst der Pneumonie die Enteritis am häufigsten und wichtigsten.
Sie besteht in einem oft rasch entstandenen und ebenso rasch ver-
laufenden Catarrh eines grösseren Abschnitts des Darms, häufig mit
Folliculargeschwüren, oder in einem exsudativen Processe mit Locke-
rung, Maceration und ausgedehnter Erweichung der Schleimhaut,
welche sich wie ein blutiger Brei abstreifen lässt (das Letztere vor-
zugsweise im Ileum). Jene Catarrhe sind die Grundlage der colliquativen
Diarrhöen, deren Eintritt bei heruntergekommenen, geschwächten Kran-
ken mit Recht so gefürchtet, gegen welche die Therapie so vergeblich
aufgeboten wird; den Erweichungsprocess des Ileum haben wir auch
ohne Diarrhöe verlaufen sehen. Durch diese Krankheiten werden
besonders die Paralytisch-Blödsinnigen, aber auch nicht wenige Me-
lancholische und Maniaci hingerafft. Ihre Ursachen sind durchaus
dunkel; in manchen Anstalten mag der Missbrauch der Purganzen zu
ihrer grössern Häufigkeit beitragen. Ihre Diagnose ist schwierig;
Appetitlosigkeit, schneller Verfall der Kräfte und Diarrhöe sind immer
noch die constantesten Erscheinungen. Ihr häufiges Vorkommen macht
eine sorgfältige Betrachtung des durch den Stuhl Entleerten unter
allen etwas verdächtigen Umständen zur Pflicht.
Verengerung des Dickdarms ist besonders von Bergmann*)
als ein häufiger und wichtiger Leichenbefund angegeben worden.
Manche dieser Fälle mögen indessen nichts Krankhaftes, sondern
nur jener so häufig vorfindige Zustand von Zusammengezogensein des
Dickdarms gewesen sein, wie man ihn in einer überaus grossen An-
zahl von Leichen findet; Andere mögen vielleicht die Ergebnisse einer
Schrumpfung des Darms nach längeren catarrhalischen Processen ge-
wesen sein. Verstopfung, Gefühl von Schwere und Härte im Bauch,
auch Erbrechen kamen während des Lebens vor; der psychische
Zustand soll sich durch vorwaltende hypochondrische und melancho-
lische Ideen (Wahn, ein Thier im Bauch zu haben, Unruhe, Argwohn,
Wahn eines begangenen Verbrechens) ausgezeichnet haben.
[328]Pathologische Anatomie
Die veränderte Lage des Colon ward besonders von Esquirol
(Journal de médec. 1820. Bd. 62. 63. und im ersten Band der Geistes-
krankheiten, und Bergmann l. c.) als häufig bei Geisteskranken vor-
kommend gewürdigt. Die Sache besteht meist darin, dass das Quer-
colon, in seiner Mitte oder mit seiner linken Hälfte bis in die Regio
hypogastrica, hinter die Symphysis oder selbst ins Becken herabge-
sunken ist und dann wieder steil gegen die Milz heraufsteigt. Sie
soll besonders bei Melancholischen vorkommen, und als Ursache der
ziehenden, spannenden Bauchschmerzen, woran diese Kranken zu-
weilen leiden, gelten. Ihr nicht seltenes Vorkommen bei Nicht-Irren
steht ausser Zweifel; ihre Ursache ist nicht gehörig bekannt; der
Darm wird meist leer und sonst von normaler Beschaffenheit gefunden.
Die Meisten sehen sie als eine ursprüngliche regelwidrige Länge des
Dickdarms an; Georget *) will sie von Erschlaffung des Peritoneum
herleiten.
Als weitere Störungen in der Bauchhöhle sind zu erwähnen: in
erster Reihe die Hypertrophie der Gangliennerven, welche in einzelnen
Fällen gefunden wurde, so von Rokitansky (II. p. 871) „beträchtliche
Volumsvermehrung der centralen Bauchganglien in einem Fall von
eminenter Hypochondriasis neben allgemeiner Tabes;“ dann Anomalieen
der Eingeweide: der Vorfall des Mastdarms, den Bergmann oft bei
Blödsinnigen mit sehr träger Darmfunction entstehen sah; der Magen-
krebs (Esquirol sah ihn bei einer Frau, welche glaubte, ein Thier
im Magen zu haben), die alten peritonitischen Adhäsionen und Darm-
Verwachsungen, wo gleichfalls die dunkeln, schmerzhaften Empfin-
dungen den Stoff zu einzelnen Delirien abgeben können (eine derartige
Kranke Esquirol’s gab an, den Pontius Pilatus, alle Personen der
ganzen Bibel und ein Concil von Päpsten, eine Andere, mehre Teufel
im Bauche zu haben) etc. Die fremden Körper im Darmcanal, z. B.
Kieselsteine in einzelnen Beispielen in unglaublicher Menge verschlun-
gen, verschluckte ganze Löffel und dgl.; die organischen Erkrankun-
gen der Leber, des Pancreas (das letztere von Jessen häufig erkrankt
gefunden, namentlich bei Kranken, die viel salivirten) **); die Entozoen
des Darms, zuweilen an ganz ungewohnten Orten ***); Krankheiten
[329]der Unterleibs-Organe.
der Mesenterialdrüsen (Bonet will bei einer Irren, die drei Frösche
im Unterleib zu haben meinte, an derselben Stelle drei scirrhöse
Drüsen gefunden haben) etc. Endlich sind als wichtige Anomalieen
die Erkrankungen (Prolapsus, Hypertrophieen, krebsige, hydatitöse De-
generationen etc.) der männlichen und weiblichen Genitalien, gleichfalls
in einem oft sichtbaren Zusammenhange mit dem Inhalt des Deliriums
zu erwähnen *). — Solcherlei Fälle, freilich nicht immer mit der
nöthigen Critik und pathologischen Genauigkeit erzählt, hat sowohl
die ältere als neuere psychiatrische Literatur in grosser Anzahl auf-
zuweisen **); ausser ihres theoretischen Interesses fordern sie vor
Allem den practischen Irrenarzt zu einer möglichst genauen Durch-
forschung aller der Diagnose überhaupt zugänglichen Organe auf.
[[330]]
FÜNFTES BUCH.
Die Heilbarkeit und Heilung der psychischen
Krankheiten.
Erster Abschnitt.
Prognostik.
§. 152.
Zweierlei Fragen kommen bei der Prognose der psychischen
Krankheiten in Betracht, einmal, ob der vorhandene Krankheitszustand
das Leben gefährdet, zweitens, ob und in wie weit bei Fortdauer des
Lebens eine Genesung von der psychischen Störung zu hoffen sei.
Die Beantwortung der ersten Frage hängt oft mehr von der
Anwesenheit anderweitiger, nach bekannten Regeln zu beurtheilender
Krankheitsprocesse (Tuberculose, Darmcatarrhe etc.), als von dem
Stande der Gehirnkrankheit ab. — Unter diesen Gehirnkrankheiten
selbst aber stehen an Gefährlichkeit oben an die tieferen Degeneratio-
nen in der Schädelhöhle mit dem Symptomencomplexe des paralytischen
Blödsinns (vergl. p. 285); sie gestatten höchstens eine noch ein- bis
dreijährige, oft bei weitem nicht so lange Lebensdauer. — Von
ungünstiger Prognose sind weiter jene ausgebreiteten und intensen
Gehirnhyperämieen, welche der Tobsucht zuweilen permanent zu
Grunde liegen, noch öfter intercurrirend während derselben auftreten;
sie können sich schnell zu acuter Erweichung der Rindensubstanz
steigern oder auch seröse Ergüsse, Blutextravasate u. dgl. mit schnellem
[331]Lethalität der psychischen Krankheiten.
tödtlichem Ausgange setzen. — Auch das Gehirnödem, namentlich
das schnell entstandene oder sehr lange fortdauernde kann zur Todes-
ursache werden; ebenso gehört in den melancholischen Zuständen
eine lange andauernde Nahrungsverweigerung (§. 174) zu den lebens-
gefährlichen Ereignissen. Ueberhaupt ist die Gefahr eines tödtlichen
Ausgangs weit grösser in den ersten Stadien, innerhalb der Formen
der frischen Manie und Melancholie, als in jenen Zuständen chronisch
gewordener Irritation oder mässiger, aber unheilbarer anatomischer
Veränderung des Gehirns, welche die Formen der chronisch fixir-
ten, verschleppten Manie oder Schwermuth mit dem Character
geistiger Schwäche oder die Form der Verrücktheit abgeben; diese
abgelaufenen, nur in ihren Residuen fortwirkenden Processe gestatten
an sich nicht nur eine noch lange Lebensdauer, es ist bei ihnen
auch gewöhnlich eine gegen die frühere Zeit der Erkrankung auffal-
lende Besserung des Allgemeinbefindens mit Zunahme der Ernährung
bemerklich; jede Pflege-Anstalt enthält solche schon seit vielen Jahr-
zehnten in ihr lebende Bewohner.
Eine Vergleichung der Mortalitätstatistiken in den verschiedenen Irrenan-
stalten könnte nur bei ausführlicher Erörterung aller Momente ihrer Verschie-
denheiten von einigem Interesse sein.
Die reinen Heilanstalten weisen immer eine grössere Sterblichkeit auf, als
die Pflege-Anstalten; denn die Mehrzahl der Todesfälle unter den Irren erfolgt
in den ersten 12—18 Monaten der Krankheit; das frische, acute Gehirnleiden,
die anderweitigen schweren Erkrankungen, als deren spätere Complication das Irre-
sein auftreten kann, die in dieser Periode häufige Tobsucht, der oft frühe Beginn
der allgemeinen Paralyse begründen diese Thatsache. Häufigeres Vorkommen
dieser Complication vermag die Mortalitätstatistik in verschiedenen Ländern und
Anstalten am meisten zu modificiren; sie ist es auch, welche im Durchschnitt
eine grössere Sterblichkeit unter den Männern als unter den Weibern verursacht.
Bedlam, wo zwar kein über ein Jahr alter Fall, aber auch kein Epileptischer
oder Paralytischer, ja kein Tobsüchtiger aufgenommen wird (Julius l. c.) und
wo kein Kranker über ein Jahr lang verbleibt, hat eine Mortalität von 6—9
Procent, St. Yon, eine gemischte Anstalt, von über 7, Winnenthal, eine fast reine
Heilanstalt von 11, Hanwell von 12, die englischen Armenanstalten von 27 *),
die Antiquaille in Lyon **) von 30 Procenten. Es wäre ermüdend und unaus-
führbar, hier die einzelnen Umstände abzuschätzen, welche die bedeutenden Diffe-
renzen dieser Beispiels halber angeführten Zahlen begründen.
[332]Prognose nach
§. 153.
Das Urtheil über die zweite prognostische Frage, die nach der
Heilbarkeit des Irreseins bei vorausgesetzter Lebenser-
haltung, wird durch weit mehr besondere Umstände bestimmt und
erfordert weit mehr psychiatrische Specialkenntniss und Erfahrung.
Die Statistik der Irrenanstalten ergibt auch hier allerdings einige
wichtige Momente, in sofern sich in ihr eine Reihe von Erfahrungs-
sätzen mit entscheidender Uebereinstimmung herausstellt (z. B. die
Unheilbarkeit des secundären Blödsinns, der Einfluss der Krankheits-
dauer auf die Prognose etc.); allein viele statistische Angaben über
Heilungsverhältnisse sind von zweifelhafter Glaubwürdigkeit — das
Wort „genesen“ scheint nicht überall in demselben Sinne gebraucht
zu werden — und keine Statistik vermag die complicirten Verhältnisse
zur Anschauung zu bringen, welche in den concreten Fällen das Ur-
theil über die Heilbarkeit bestimmen.
Ein erstes, und wohl das wichtigste Moment für die Genesungs
fähigkeit ist die Form des Irreseins oder (pag. 151) das Stadium
der Krankheit. Als ganz unheilbar sind zu betrachten alle Zustände
von secundärem Blödsinn (mit welchem indessen weder die Melan-
cholie mit Stumpfsinn noch eine vorübergehende tiefe geistige Ab-
spannung nach der Tobsucht zu verwechseln ist). Ebenso wenig
einer radicalen Heilung, wohl aber zuweilen noch einiger Besserung
fähig ist die partielle Verrücktheit, mag nun das beruhigte falsche Denken,
der wahre Verstandesirrthum zu einem umfassenden, vielgliedrigen
Systeme von Unsinn ausgearbeitet sein oder mag er sich in nur
wenigen Wahnideen, scheinbar vielleicht nur einem Seitengebiete des
innern Lebens angehörend äussern. Denn auch bei den letzteren
beruht ihre Fixität (p. 263) auf totaler Umänderung der ganzen psy-
chischen Individualität, welche es dem Kranken unmöglich macht, mit
dem Wahne innerlich entschieden zu brechen, aus der Verschobenheit
seiner ganzen Anschauungsweise sein altes Ich wieder auszulösen
und wieder der Nämliche wie früher zu werden. Auch eine wesent-
liche Besserung, welche hier nur in Zurückdrängung der Aeusserung
des Wahns, in Gewöhnung an äussere Ordnung und Haltung und an
eine wenigstens mechanische Pflichterfüllung bestehen kann, vermag
hier nur durch ein lange fortgesetztes consequentes, in manchen
Fällen nur durch ein dem Kranken unablässig energisch zusetzendes
Verfahren erreicht zu werden.
Unter den primären Formen der Melancholie und Manie ist die
erstere als das eigentlich primitive Anfangsstadium nach unsern mit
[333]der Form der Krankheit.
denen Flemming’s übereinstimmenden Beobachtungen die günstigere.
Wenn dagegen viele andere Irrenärzte (Jessen, Ideler, Falret, Ferrus,
Haslam, Rush etc.) die Manie, namentlich die Tobsucht durchgängig
für die heilbarste Form des Irreseins erklären, so kann sich dies
nur auf die Ergebnisse in den Irrenanstalten beziehen, welchen
selten leichte, sondern meist nur schwere und veraltete, und dann
allerdings an Heilbarkeit hinter der Tobsucht zurückstehende Fälle
von Schwermuth übergeben werden, während natürlich schon für die
leichteren Fälle der Exaltationszustände die Hülfe der Anstalten ge-
sucht wird. Viele Zustände mässiger Schwermuth werden, zur rechten
Zeit behandelt, ausser den Anstalten glücklich gehoben; für die chroni-
schen protrahirteren Zustände von Melancholie und Manie aber muss
der Unterschied in der Prognose um so geringer ausfallen, je häufiger
hier eben ein oft rascher Wechsel beider Formen, ein stetes Schwanken
zwischen Depression und Exaltation vorkommt.
Innerhalb der primären Formen ist ein Zustand vager, objectloser
Affecte, seien es traurige oder heitere, und vagen allgemeinen De-
liriums immer günstiger als das Auftreten und Beharren festerer dem
Affecte entsprungener Wahn-Ideen. Eben desshalb steht die Form
des Wahnsinns an Heilbarkeit schon weit hinter der Tobsucht zurück;
auch in der Schwermuth ist die Fixirung einzelner Erklärungsversuche
entschieden ungünstig, namentlich diejenigen werden hier gerne festge-
halten und leiten später einen Zustand von Verrücktheit ein, welche
sich auf ein Beherrschtwerden durch die Aussenwelt, eine Beein-
trächtigung durch Andere etc. beziehen, während der Kranke weit
eher geneigt ist, die Wahnvorstellungen, mit denen er den Grund
seines Zustandes in sich selbst (z. B. einem imaginären Verbrechen)
suchte, wieder fallen zu lassen (Zeller).
Bei diesem aus der Krankheitsform geschöpften prognostischen
Urtheile ist immer das Wichtigste die Bestimmung, ob man noch
lebendige, flüssige, psychische Krankheitsprocesse, oder nur beharrende
Residuen schon abgelaufener, erloschener Processe vor sich hat. Da
nun die Manie offenbar die Acme aller Stadien und Formen darstellt,
so ist für die grosse Mehrzahl der Fälle als practische Regel der
Satz aufzustellen, dass, wenn ein Stadium maniacum mit nunmehriger
völliger Beruhigung, aber ohne entschieden günstige Entscheidung
abgelaufen ist, der Kranke sich in der grössten Gefahr der Unheil-
barkeit befindet. Besonders schwierig ist übrigens die Prognose in
den Zeiten des Uebergangs der primären Formen zur Verrücktheit
und Schwäche, welcher oft unter langen Schwankungen zwischen
[334]Prognose nach Dauer
Besserung und Verschlimmerung geschieht. Hier ist eines Theils
das Aufhören aller Störungen des körperlichen Befindens, namentlich
mit Fettwerden, andererseits sind alle permanenteren Bewegungs- und
Sensibilitäts-Anomalieen (Krämpfe, Pupillenerweiterung, Verlust des
Geruchs, Geschmacks, Kothfressen, fixes Sehen in die Sonne, hart-
näckige vage Gliederschmerzen) als entschieden ungünstige Zeichen
zu betrachten, während der Mangel an Wiederkehr gesunder Neigun-
gen, eines gesunden Triebs zur Beschäftigung, die ohne Gemüths-
exaltation andauernde Sucht zu phantastischer Uebertreibung u. dgl.,
das Beharren des Leidens von geistiger Seite anzeigen.
§. 154.
Die Krankheitsdauer ist nach übereinstimmenden Erfahrun-
gen für die Prognose wichtiger als bei irgend einem andern Leiden.
In dieser Beziehung kann wohl in einzelnen Zahlenangaben, im
Grundsatze aber selbst keine Differenz mehr stattfinden. Es genasen
z. B. in Winnenthal *) von den im ersten Halbjahr der Krankheit
Aufgenommenen 68, nach zweijähriger Dauer 18, nach 4- und mehr-
jähriger Dauer nur noch 11 Procent, in der Retreat **) in den ersten
3 Monaten 80, vom 3.—12. Monat 46 Procent; Jessen ***) heilte
von frischen, d. h. vor der Aufnahme in die Anstalt nicht länger
als ein Jahr bestandenen Fällen 66, von älteren Fällen 12 Procent;
Esquirol schätzt, dass nach 3jähriger Dauer nur noch 1/30 der Kranken
geheilt werde†). So müssen, wenn nicht innerhalb Jahresfrist ein
sichtbarer Schritt zur Besserung geschieht, die Hoffnungen auf voll-
ständige Genesung schon trübe werden, wenn es gleich nicht an
Beispielen fehlt, wo Irre nach 7, 10, ja nach 20jähriger Dauer
der Krankheit noch genasen, wie man dies zuweilen bei einzelnen
Kranken der Pflege-Anstalten beobachtet; namentlich beim weiblichen
Geschlecht darf vom Eintritt der climacterischen Periode manchmal
noch ein günstiger Einfluss erwartet werden ††).
Was die prognostischen Zeichen aus dem Krankheitsverlauf
und der Art der Gruppirung der Symptome betrifft, so ist eine aus-
[335]und Verlauf der Krankheit.
gesprochene Periodicität der Anfälle mit grösseren freien Zwischen-
räumen entschieden ungünstig. Gewöhnlich werden bei jenen Kranken,
welche anfangs alle Jahre, alle drei, sogar alle 7 Jahre in Irresein
verfallen, mit der Zeit die lucida intervalla kürzer, die Recidiven
immer länger und schwerer, und es wird mit jedem Anfalle die
Prognose trauriger. — Bei den anhaltenden Fällen lässt im Durch-
schnitt — doch nicht ohne Ausnahme — eine allmählige langsame
Entwicklung der Krankheit auch einen langsameren Verlauf und
schwerere Heilbarkeit erwarten; andern Theils aber sind auch die
langsam vorschreitenden Genesungen gewöhnlich haltbarer als die
plötzlich erfolgenden. — Ein unregelmässiger Wechsel auch stürmi-
scher Erscheinungen gilt immer für günstiger, als ein langes Beharren
in Einer Symptomengruppe, z. B. in steter heftiger Tobsucht, steter,
wenn auch nur mässiger fröhlicher Aufregung, steter Gefrässigkeit
oder anhaltendem Widerwillen gegen Speisen etc. — Als günstige
Zeichen bei Maniacis gelten die Rückkehr einer depressiven Stimmung,
z. B. vieles Weinen, indem eine wiederkehrende Schwermuthsperiode
zuweilen die Genesung einleitet, ebenso überall die Rückkehr der
Decenz, der früheren Neigungen und Liebhabereien (zu Arbeit, zu
Musik etc.), die unversehrte Erhaltung des Gedächtnisses, das Ver-
langen, die Angehörigen wieder zu sehen u. dgl. m. — Ein voll-
ständiges leibliches Wohlbefinden, von welchem freilich nur nach
umfassender und genauer Untersuchung aller Organe die Rede sein
kann, bei fortdauernder psychischer Störung wird mit Recht als ein
schlimmes Zeichen betrachtet; andererseits sieht man den Wieder-
eintritt früherer, aber während der Krankheit verschwundener körperli-
cher Beschwerden, theils nervöser (Zahnschmerzen, Kopfschmerzen etc.)
theils secretorischer Art (Oedeme, Blutungen) zuweilen, doch im
Ganzen nicht häufig mit entschiedener Besserung des geistigen Be-
findens, ja mit schneller Heilung zusammentreffen. Alle Remissionen
und allmählig länger dauernden Intermissionen sind natürlich günstig.
Das beste prognostische Zeichen aus den Symptomen aber ist das
Bewusstwerden der inneren Störung, das Gefühl krank zu sein, und
das Auftreten einer Reaction des (alten) Ich gegen die psychische
Störung, welche als ein krankhaft Aufgedrungenes bewusst wird;
wiewohl auch dann noch — wie Jacobi mit Recht bemerkt — es
an Kraft zur Durchführung dieser Reaction fehlen, und der zeitweise
Schimmer der Selbstbesinnung wieder in neuem Dunkel erlöschen
kann.
[336]Prognose nach
§. 155.
Auch einige der im 2. Buche erörterten ätiologischen Mo-
mente sind von prognostischer Bedeutung. Es ist entschieden, dass
das Irresein im jugendlichen Alter häufiger gehoben werden kann als
im vorgerückten; doch sieht man zuweilen frische Erkrankungsfälle auch
im 50sten bis 60sten Lebensjahre und später wieder genesen, und nur
der senile Blödsinn bietet hier eine absolut traurige Prognose dar. —
Die im Durchschnitt angenommene *) grössere Heilbarkeit des Irreseins
beim weiblichen Geschlecht ist wohl in erster Reihe der grösseren
Seltenheit der allgemeinen Paralyse zuzuschreiben; Jessen **) hat
besonders für die älteren Fälle günstigere Heilungsverhältnisse
bei den Weibern erhalten, wonach es scheint, dass bei den Männern
im Duchschnitt ein unheilbarer Zustand früher eintrete. — Gegen
die Fälle erblichen Irreseins besteht beinahe überall ein höchst un-
günstiges prognostisches Vorurtheil, welches bei der vorweg präsu-
mirten Unheilbarkeit oft die Versäumung der nothwendigen therapeu-
tischen Massregeln zur Folge hat. Es ist aber durch viele Genesun-
gen in solchen Fällen constatirt, dass durch Erblichkeit an sich noch
durchaus keine Unheilbarkeit begründet wird; doch sind bei solchen
Genesenen Rückfälle allerdings eher zu erwarten. — Die Anlage und
Ausbildung der Charactereigenthümlichkeiten, das Mass psychischer
Widerstandsfähigkeit, die leichtere oder schwierigere Hingabe an die
Krankheit wie an die heilenden Einflüsse gehören zu den bedeutend-
sten Momenten für die Prognose. Ganz schlimm sind die allmählig
entwickelten Erkrankungen bei Individuen, die sich schon von Jugend
an durch excessive Launenhaftigkeit, durch grillenhafte Geschmacks-
und excentrische Geistesrichtung bemerklich gemacht haben; gleich-
falls ungünstig sind die nach langen schmerzlichen Seelenbewegungen
entstandenen Fälle, nach vieljährigem Kummer, langem Schwanken
zwischen Hoffnung, erschütterndem Zweifel und endlicher Versagung,
nach intensen Leidenschaften, auf deren Stürme innerliche Verödung
folgte; jene tieferen Wunden heilen nicht ohne grosse geistige Sub-
stanzverluste, oft folgt ihnen eine wahre Zerrüttung der psychischen
Constitution und es stehen die hiehergehörigen Fälle an Heilbarkeit
denen weit nach, die aus einer plötzlichen Seelenerschütterung,
Schrecken u. dgl. entstanden sind.
Die nach Kopfverletzungen, nach acuter Meningitis, nach blutiger
[337]Ursachen und äusseren Umständen.
Apoplexie und länger bestandener Epilepsie auftretenden Geistes-
krankheiten sind, namentlich die beiden letzteren fast ganz unheilbar;
gleichfalls für schlimm gelten die nach typhösen Fiebern sich ent-
wickelnden Fälle. — Ganz traurig ist auch die Prognose bei dem
Irresein der alten Säufer, welches frühzeitig den Character geistiger
Schwäche trägt; die früher aus mässiger Trunksucht entstandenen
Fälle gehören zu den heilbaren, übrigens mit ausserordentlicher Ge-
neigtheit zu Rückfällen. — Onanisten und durch sexuelle Excesse
Erschöpfte bieten, wenn eine Reparation des Allgemeinbefindens,
eine erfolgreiche Behandlung etwa bestehender Localkrankheiten und
vor Allem ein entschiedenes Aufgeben jener Ursache zu erlangen
ist, im Anfang eine nicht ganz ungünstige Prognose; unheilbar da-
gegen sind solche zum Wahnsinn vorgeschrittene Fälle, namentlich
die, wo sich der Wahn einer nahen Vereinigung mit dem Ueberir-
dischen in höchst schmutziger und verrückter Weise mit dem Hange
zur Selbstbefleckung combinirt hat.
Von grossem prognostischem Einflusse sind auch die äusseren
Umstände und Verhältnisse des Kranken. Wo Dürftigkeit oder sonstige
Ungunst des Schicksals jede wirksame Massregel hemmt, wo Eigensinn
und Vorurtheil der Umgebung ein wirksames Eingreifen zur rechten
Zeit unmöglich macht, wo die Entfernung aus der Lebenslage, in der
die psychische Störung entstand und immer neue Nahrung findet,
nicht thunlich ist, da mache man sich keine Illusionen über die Ge-
nesungsfähigkeit, da hoffe man nichts von der Natur, deren Heilkraft
es am Ende doch noch gut machen werde.
§. 156.
Der Ueberblick über die Heilbarkeitsverhältnisse des Irreseins
ergibt im Ganzen tröstliche Resultate. Nach der Statistik der Irren-
anstalten gestatten die frisch ausgebrochenen Geisteskrankheiten eine
weit günstigere Prognose, als die meisten anderen Hirnaffectionen.
Wenn man indessen — wie man es sollte — unter „Genesung“ eben die
totale Beseitigung der Gehirnkrankheit, die völlige Rückkehr zum
früheren geistigen Verhalten, den Wiedereintritt des ganzen früheren
Umfangs der Intelligenz, der ganzen Kraft des Characters verstehen
will, so muss man ein solches Resultat allerdings nicht eben besonders
häufig erwarten. Weit zahlreicher sind die Fälle, wo zwar die Haupt-
symptome des Irreseins verschwinden, das Individuum aber theils
eine leise geistige Schwäche, theils eine andauernde hohe psychische
Reizbarkeit, theils einzelne Ties und Bizarrerieen zurückbehält, mit
Griesinger, psych. Krankhtn. 22
[338]Criterien der
denen es indessen in einfache Lebensverhältnisse zurückkehren und
sehr oft seinen Geschäften wieder nachgehen kann. In dieser Be-
ziehung ist eine Scheidung der mit günstigem Erfolg behandelten
Fälle in genesene und gebesserte — wie solche in einzelnen
guten Anstalten (z. B. Winnenthal) längst geschieht — der Irren-
statistik nicht genug zu empfehlen.
Es versteht sich, dass auch unter solcher Besserung nicht bloss eine
äusserliche Beruhigung, sondern eine wesentlich den ganzen Krankheitsverlauf
hemmende Umänderung gemeint sein kann. Es wäre z. B. ganz unzulässig, einen
Maniacus, der allmählig verrückt wurde, und nun allerdings äusserlich ruhig und
gefahrlos wird, auch in Privatverhältnissen bewahrt werden kann, desshalb für
gebessert erklären zu wollen — ein solcher ist vielmehr im Ganzen wesentlich
verschlimmert und kann nur als ein fürderhin Unheilbarer entlassen werden.
§. 157.
Als Criterien einer wirklichen Rückkehr der geistigen Ge-
sundheit können nicht der blosse Rücktritt der auffallenden Sym-
ptome, das Verschwinden der Aufregung und der Wahnäusserungen
gelten: der Kranke kann sich äusserlich beruhigen, auch manche falsche
Urtheile wohl verbergen lernen, welche er dennoch innerlich gleich
festhält; ja es kann sich dies sogar mit einer auffallenden Besserung
des Allgemeinbefindens auf eine täuschende Weise verbinden. Das
wichtigste Merkmal wahrer Genesung ist vielmehr erst die entschie-
dene [Anerkennung] der Krankheit als solcher von Seiten des Gene-
senden, die klare Einsicht in die Abnormität des nun abgelaufenen
Zustandes, der völlige Bruch mit allen demselben angehörigen Wahn-
ideen und die immer unbefangenere Würdigung der eigenen Lage
nach allen Seiten hin. Hiermit muss sich noch die Rückkehr der
früheren Neigungen und der Gewohnheiten des gesunden Lebens,
eines Bedürfnisses zu gesunder Thätigkeit, des Interesses für die
früheren Lebenskreise, der während der Krankheit so oft in Hass
verwandelten Zuneigung zu Familie und Freunden verbinden. Denn
wie das Irresein mit Gemüthsverstimmung und affectartigen Zuständen
begann, so ist auch beim endlichen Ablauf desselben diese Seite
des psychischen Lebens besonders zu beachten. Wo längst die In-
telligenz als unversehrt erscheint, wo aber noch krankhafte Abneigung
gegen einzelne Personen, oder ein unbestimmter verbissener Grimm
und Zorn oder nur eine hohe gemüthliche Reizbarkeit übrig bleibt,
welche noch schnell in leicht entstandenen Affecten explodirt, wo der
Kranke eine Berührung der früher erkrankten Seiten nicht ertragen
[339]geistigen Genesung.
kann, also jede Erinnerung an die Krankheit sorgfältig meidet, wo
überhaupt noch etwas Fremdartiges in der Gefühlsweise, dem Be-
nehmen, dem Blick des Kranken zurückbleibt, da ist von völliger
Herstellung noch keine Rede. Die Grundlage dieser ist vielmehr
auch eine völlige Gemüthsberuhigung; von seiner Krankheit spricht
der wirklich Genesene mit den ihm näher Stehenden, namentlich
mit dem Arzte, unbefangen als von etwas ihm jetzt ganz fremd Ge-
wordenen; er zeigt fast immer Dankbarkeit und Vertrauen, aber keine
lärmende geräuschvolle Freude über seine Genesung, und legt seine
Entlassung aus der Irrenanstalt ohne drängende Forderungen in die
Hand des Arztes. —
Diejenigen Genesungen sind im Durchschnitt sicherer, welche
allmählig, mit stetig fortschreitendem Bewusstwerden der inneren
Störung zu Stande kamen, als die sehr schnellen, plötzlichen Besse-
rungen, wenn sie auch noch so vollständig erscheinen. Andrerseits
können von psychischer Seite die günstigsten Zeichen vollständiger
Genesung vorhanden sein, während dagegen anderweitige Erkrankun-
gen, denen ein wesentlicher Einfluss auf die Ausbildung der Gehirn-
krankheit zukam (Tuberculose, Genitalienkrankheiten etc.) ungeheilt
fortbestehen. In diesem Falle darf zwar der Ausspruch, dass der
Kranke völlig vom Irresein genesen sei, nicht auf die gänzliche Wie-
derherstellung der körperlichen Gesundheit warten; aber es muss
wenigstens die grosse Gefahr neuer, nochmaliger Gehirnerkrankung
fest im Auge behalten werden. — Bei all dem braucht es auch noch
eine gewisse Dauer des psychischen Wohlbefindens, um Genesung vom
blossen lucidum intervallum zu unterscheiden, ganz wie wir den
Epileptischen auch nach monatelangem Aufhören der Anfälle noch nicht
für genesen erklären, sondern erst von einer längeren Zeit die völlige
Bestätigung des günstigen Urtheils erwarten.
Einzelne Beobachter (Esquirol) sind geneigt nur diejenigen Fälle von Gene-
sung für hinlänglich sicher zu halten, welche unter palpabeln Crisen erfolgen;
Andere (Jessen, Neumann, wir selbst) haben solche Crisen überhaupt nur selten
gefunden. Es soll nicht geläugnet werden, dass jene constitutionellen Umände-
rungen, welche die Genesung von einer so schweren Krankheit häufig begleiten
müssen, sich auch zuweilen durch profuse oder qualitativ veränderte Excretionen,
durch Hauteruptionen etc. *) kundgeben können, und dass insofern jenen Ereignissen,
wenn sie mit geistiger Besserung zusammentreffen, eine günstige Bedeutung zu-
komme. Sie erscheinen übrigens öfter als Folgen, denn als Ursachen der Ge-
nesung, und durch ihr häufiges gänzliches Fehlen wird die Esquirol’sche An-
sicht genügend widerlegt.
22*
[340]Ueber Rückfälle der Genesenen.
§. 158.
Die durchschnittliche Haltbarkeit der Genesung muss nach
der Zahl der Rückfälle beurtheilt werden. Jakobi zählte auf 100
Herstellungen etwa 25 Wiederaufnahmen, Parchappe auf 498 Genesene
164 Recidive; Farr berechnet aus 5846 in den englischen Grafschafts-
Anstalten Genesenen 1200 (über ¼), Julius gibt für die Retreat bei
York die officielle Zahl von 31 Recidiven auf 100 Herstellungen an
(hält aber das Verhältniss in Wahrheit für viel höher) *), und man
wird durchschnittlich annehmen können, dass etwa ¼ der Genesenen
später noch einmal erkranke. Im ersten und zweiten Jahr nach der
Herstellung sind die Recidive bei weitem am häufigsten, was sich aus
der oft lange zurückbleibenden höheren psychischen Reizbarkeit und
leichteren körperlichen Erkrankbarkeit nach einer so schweren Störung,
mitunter auch aus einer offenbar zu frühzeitigen Entlassung aus den
Anstalten leicht erklärt. Man bedenke auch, wie selten bei den
meisten chronischen Krankheiten die völligen, dauernden Genesungen
sind, wie schwierig es ist, gewisse, von frühester Jugend her beste-
hende constitutionelle Ursachen zu heben, deren stetes Fortwirken
immer neue Erkrankungen in der einmal gewohnten pathologischen
Richtung zur Folge hat. Man schreibe es nicht der Unmacht der
Kunst oder einem gerade für diese Krankheitsformen prädestinirten
Unheile zu, wenn die Genesenen wieder erkranken, welche sich der
ganzen Einwirkung Gesundheitszerrüttender Momente von Neuem
aussetzen, die schon an ihrer erstmaligen Krankheit Schuld waren.
Dem Genesenen, der zur Gewohnheit der Trunksucht, zum Elend, zu
überanstrengender Beschäftigung, zu den Ursachen heftiger Leiden-
schaften und Affecte zurückkehrt, können Recidive fast sicher voraus-
gesagt werden, und namentlich die Säufer kann man aus den Irren-
Anstalten fast jedesmal nur mit der unerfreulichen Aussicht auf baldiges
Wiedersehen entlassen. — Im Ganzen aber zeigt der Ueberblick über
die Prognose des Irreseins weit tröstlichere Resultate, als es die ge-
wöhnliche Ansicht der Aerzte und Laien ist; namentlich wird man
die Prognose des frisch ausgebrochenen Irreseins für bedeutend günstiger
als die der meisten übrigen Gehirnkrankheiten, ganz besonders als
die der epileptischen Zustände, halten dürfen.
[341]
Zweiter Abschnitt.
Therapie.
Erstes Capitel.
Allgemeine Grundsätze.
§. 159.
Auch die Therapie der psychischen Krankheiten hat in reichlichem
Masse die Macht theoretischer Voraussetzungen und den wechselnden
Einfluss einseitiger Systeme erfahren. Die alte Humoralpathologie ent-
leerte — und entleert zum Theil heute noch — schwarze Galle; die
Erregungstheorie suchte — und sucht — den Organismus im Ganzen
auf- oder abzuschrauben; die zur Entzündungspathologie eingeengte
Localisationslehre erklärt trotz des Widerspruchs mit der täglichen
Erfahrung die gewöhnliche Antiphlogose für die Grundlage ihrer
Therapie und ein ganz eigener Anhang wurde noch der Irrenbehand-
lung in den moralisirenden frömmelnden Auffassungen der psychischen
Therapie zu Theil. In Einem Grundsatze aber hat sich doch die
ganze neuere Psychiatrie zusammengefunden, in dem Grundsatze der
Humanität in der Irrenbehandlung im Gegensatze zu jener alten
Rohheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprocessen und
Scheiterhaufen verfolgte, bald — und noch im günstigeren Falle —
mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von
der ärztlichen Kunst wie von anderer menschlicher Hülfe Verlassenen
willkührlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte. Zwar
allerdings die immer mehr durchdringende Erkenntniss des Irreseins
als einer Krankheit, zunächst aber und hauptsächlich der eigent-
liche Philanthropismus, der den Irren ihre Rechte vom Standpunkte
der allgemeinen Menschenrechte vindicirte, war es, der es durchsetzte,
dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie
Schutz und Hülfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande
ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke
der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden. Der
Blick auf jene Zeit, und vor Allem auf die grossen Bestrebungen
Pinel’s ist wohlthuend und erhebend für Jeden; wenn aber wir, wir
Aerzte von dem Humanitätsprincip unsere Praxis beherrschen lassen,
so thun wir diess zunächst wegen seiner empirischen Erfolge für
Erreichung unseres ersten und einzigen Zweckes, der Krankenheilung,
Erfolge, deren unvergleichlich günstiger Contrast mit dem früheren
Verfahren keiner weiteren Nachweisung bedarf. Nicht der Glanz eines
[342]Einheit der psychischen
abstracten philanthropischen Princips, sondern die practische Nütz-
lichkeit, die Successe der in seinem Sinne geführten Behandlung am
Bette des Kranken, in der Zelle des Tobenden müssen uns leiten.
Eben desshalb aber dürfen wir jene humanistischen Grundsätze auch
nur insoweit als Regeln anerkennen, als sie unsere Zwecke fördern,
und müssen uns erinnern, dass nicht dasjenige Verfahren mit Irren
das humane ist, welches dem individuellen Gefühle des Arztes oder
des Kranken wohlthut, sondern das, welches ihn heilt. Der
Grundsatz der practischen Nützlichkeit muss uns allein leiten; eine Zeit,
welche die allgemeine Anerkennung und Durchführung jener humanen
Principien als feststehende Errungenschaft besitzt, soll nicht im En-
thusiasmus einseitig werden, und die Psychiatrie soll nicht aus dem
Ernste einer Beobachtungswissenschaft heraus in süssliche Sentimen-
talität, die kaum den Laien besticht, gerathen. Solche Auswüchse
aber wollen sich gegenwärtig zeigen, und es ist bei manchen jetzt
lebhaft controversirten Fragen nothwendig, an die ersten richtigen
Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu erinnern.
§. 160.
Zunächst auch von der Thatsache des empirisch constatirten
Erfolges ist auszugehen, indem für die psychische und somati-
sche Heilmethode eine absolut gleiche Berechtigung in Anspruch
genommen wird. Beide Wege der Einwirkung auf die Kranken
sind immer instinctiv verbunden worden; auch die einseitigste mo-
ralistische Auffassung vermochte niemals den Nutzen zweckmässiger
Arzneien, Bäder etc. zu bestreiten, während ebenso die tägliche
Beobachtung zeigen musste, wie fast keine Genesung ohne psychische
Mittel (bestehen sie auch nur in Arbeit, Ordnung etc.) consolidirt
werden kann. Trotz der Unabweislichkeit dieser practischen Forderung
aber ward es der Wissenschaft durch theoretische Voraussetzungen
schwer gemacht, das Resultat der Erfahrung, das Bedürfniss eines
unausgesetzten Zusammenwirkens psychischer und somatischer
Therapie im Grunde seiner Nothwendigkeit zu erkennen. „Declina-
tionen des Denkvermögens,“ so ward ironisch gefragt *), „sollen durch
Verdünnung eines atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stocken-
der Säfte im Pfortadersysteme berichtigt, Seelenschmerz mit Niesewurz,
[343]und somatischen Behandlung.
und verkehrte Gedankenspiele mit Clystierspritzen bekämpft werden?“
Die Somatiker dagegen machten für sich den Einfluss der körperli-
chen Zustände auf das geistige Leben geltend; sie beriefen sich auf
ihre Krankheitsgeschichten, in denen ja ganz deutlich durch Digitalis,
Campher etc. das Irresein geheilt worden sei, und wie meistens in
solchen Fallen, sollte sich die Wissenschaft, die doch vor Allem auf
Einheit und Consequenz der Principien dringt, endlich mit der ecclec-
tischen Concession beider Partheien begnügen, dass eben die eine oder
die andere Seite der Therapie für einzelne dringlichere Zufälle zu
einer den hauptsächlichen Heilplan unterstützenden Hülfsbehandlung
werden müsse. So bliebe bei den Einen der psychischen, bei den
Andern der somatischen Therapie neben der Consequenz des grund-
sätzlichen Heilplans nur eine untergeordnete und dürftige Rolle; zum
Verständniss der nothwendigen gleichen Berechtigung beider aber
dient vor Allem die Erinnerung, dass alle normalen und anomalen
psychischen Acte cerebrale Processe sind, und dass die Gehirnthätigkeit
ebenso gut direct durch unmittelbare Einwirkung, durch Hervorrufen
von Stimmungen, Gemüthsbewegungen und Gedanken, als durch Ver-
minderung der Blutmenge im Schädel, durch eine veränderte Ernährung
des Gehirns, durch Narcotica und Reizmittel modificirt werden kann.
Dass dem Irresein, wie den übrigen Gehirnkrankheiten empirisch
erprobte Arzneimittel entgegengesetzt werden, bedarf keiner Recht-
fertigung; der häufige Erfolg der psychischen Behandlung auch da,
wo sichtbare leibliche Störungen zur Entstehung des Irreseins con-
currirten, erklärt sich aus dem Einfluss des Gehirns auf die übrigen
organischen Processe, der uns in der directen Hervorrufung von
Seelenzuständen auch eines der wichtigsten Mittel an die Hand gibt,
indirect Störungen des leiblichen Lebens, der Circulation, der Ver-
dauung etc. günstig zu modificiren. Schwere Desorganisation des
Gehirns (z. B. Blödsinn mit Paralyse) macht allerdings alles psychische
Einwirken unmöglich; aber wir wissen, dass das Irresein im Anfang
sehr häufig in nur functionellen Abweichungen besteht, und auch
leichtere anatomische Veränderungen machen die Erfolge psychischer
Behandlung durchaus nicht unmöglich, denn die Organe sind fähig,
sich nach den ihnen angemutheten Functionen bis zu einem gewissen
Grade zu accommodiren und die neuere Zeit hat in manchen glück-
lichen Heilversuchen am Idiotismus gezeigt, wie auch bei entschieden
mangelhaftem Gehirn eine geschickte Benutzung der vorhandenen
Ressourçen noch eine relativ schöne Entwicklung des Geistes mög-
lich macht. — Auf diesem Standpunkte hat es einen Sinn, von einer
[344]Allgemeine Therapie.
wahrhaft persönlichen, die leibliche und geistige Natur des Menschen
zugleich fassenden Behandlung zu sprechen, und wenn im Einzelnen
der folgenden Abhandlung psychische und somatische Behandlung
äusserlich auseinander gehalten wird, so kann der Punkt ihrer inner-
lichen Vereinigung keinen Augenblick mehr dunkel sein.
§. 161.
Wenn die Therapie dieser Krankheiten — namentlich die so
matische — zum grössten Theile mit den Grundsätzen und den
Verfahrungsweisen der sonst gebräuchlichen Therapie zusammenstimmt,
so stellen sich auf unserem Gebiete auch einige besondere Forde-
rungen an jedes vernünftige ärztliche Einwirken mit ganz besonderer
Deutlichkeit und Dringlichkeit heraus. Nirgends ist das Bedürfniss
strengen Individualisirens grösser, als in der Irrenbehandlung,
nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendiger, dass nicht
eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht,
sondern ein tobsüchtig Gewordener das Object unserer Behandlung
sei. In jedem einzelnen Falle will der immer wieder andersartige
Zusammenhang der Erkrankungsmomente eruirt, mit allen Mitteln
anatomischer Diagnostik und pathologischer Analyse aufgehellt sein
und es wird hier noch ein Eingehen in die geistige Seite der Indi-
vidualität gefordert, wie solches in der sonstigen Praxis kaum ver-
langt wird. Hieraus ergibt sich einerseits die practische Regel, dass
kein Fall — dringende Hülfe gegen schnelle Zufälle ausgenommen
— in thätige Behandlung genommen werden sollte, dessen Anamnese
und Entstehung nicht durchschaut wird, und bei dem jene schon
p. 97 als die ersten Acte ärztlicher Wirksamkeit an Geisteskranken
bezeichneten Forderungen nicht erfüllt sind; es geht hieraus aber
auch eine Mannigfaltigkeit der practischen Irrenbehandlung hervor,
welche in den Büchern gar nicht einzeln exponirt werden kann, für
welche sich hier nur die allgemeinen Grundsätze aufstellen und an-
geben lassen. — Auch die Nothwendigkeit, gegen solche chronische
Krankheiten möglichst frühzeitig, beim ersten Beginn und noch
vor vollständiger Ausbildung der Erkrankung alsbald kräftig einzu-
schreiten, drängt sich in der Irrentherapie ungewöhnlich lebhaft auf;
schon die über Prognose gegebenen Bemerkungen (§. 154.) müssen
diesen Punkt genügend festgestellt haben. Andrerseits aber ist bei
schon ausgebrochener Krankheit auch vor nichts mehr zu warnen,
als vor ungeduldiger Vielgeschäftigkeit in der Therapie. Man muss
sich erinnern, dass der gewöhnliche Verlauf dieser Krankheiten auch
[345]Causal-Indication.
im günstigen Falle im Durchschnitt ein sehr langsamer ist, dass
man hier nach Monaten, ja nach Jahren zu rechnen hat; man muss
warten können und die günstigen Zeitpunkte, die oft erst spät ein-
treten, zu ergreifen wissen. Man muss sich hüten, jedem einzelnen
Symptom, jeder einzelnen Aeusserung der kranken Stimmung und
des irrenden Vorstellens besonders entgegentreten zu wollen, und
indem man den Kranken stets genau beobachtet und strenge überwacht,
kann man in vielen Fällen ohne alles stürmische Eingreifen bei ganz
einfacher Behandlung einen spontanen günstigen Ausgang erwarten.
§. 162.
Denn die Beobachtung zeigt, dass sehr viele Fälle frischer Er-
krankung ohne viele positive Behandlung, durch ein Verfahren, das
sich auf Abhaltung aller schädlichen Einflüsse beschränkt, von
selbst in Genesung übergehen. In dieser Beziehung bietet sich zu-
nächst die causale Indication, die möglichste Beseitigung der
Momente, durch deren Zusammenwirken die Krankheit entstanden ist,
dar, und wenn hier die Aetiologie allerdings eine Anzahl wichtiger
Ursachen aufweist, deren Entfernung niemals in der Hand des Arztes
liegt (vgl. das zweite Buch), so genügt es doch oft, Eines der schäd-
lichen Momente, seien es anderweitige Erkrankungen oder ungünstige
psychische Einflüsse, zu beseitigen, um ihre gegenseitige Verkettung,
aus der die Krankheit entstand, dauernd zu lösen. Man wird sich
daher immer zuerst nach Mitteln und Wegen umzusehen haben, um
den Kranken den Einflüssen zu entziehen, welche an seiner Erkran-
kung Schuld waren. Das Verfahren zu diesem Ende ist verschieden
genug. Die Beseitigung der körperlichen Ursachen (§. 81—87) hat
nichts von sonstiger Behandlung dieser Zustände Abweichendes; eine
vorzügliche Aufmerksamkeit dabei ist auf Alles, was Kopfcongestion
setzen kann, und wieder auf alle Momente zu richten, welche, sei
es durch directe Ueberreizung, sei es durch Herabsetzung der allge-
meinen Ernährung und Körperkraft zu Ursachen nervöser Irritations-
zustände werden können. — Die Beseitigung der psychischen Ursa-
chen besteht zum grössten Theile nur darin, dass ihr Weiterwirken
gehindert, dass ihnen der Kranke für jetzt entzogen wird. Diess
kann gewöhnlich nur geschehen durch eine radicale Umänderung
seiner ganzen äusseren Lage, durch Entfernung aus den bisherigen
Lebensverhältnissen; diess um so mehr, wenn der Kranke in ihnen
immer noch stets neue Anlässe zu Verstimmung und widrigen Affecten
findet, aber auch da, wo er selbst sich ihrer schädlichen Einwirkung
[346]Prophylaxis. Ruhe und
durchaus nicht bewusst ist, muss er um jeden Preis der steten Wie-
derholung der Eindrücke, welche die Erkrankung erzeugten, entzo-
gen werden. Zu grossem Theile fällt diess mit der wichtigen Indi-
cation einer sorgfältigen Regulirung der Verhältnisse von Ruhe und
Thätigkeit des Gehirns (s. den folgenden §.), einem der Schlüssel
zum Verständnisse der ganzen Irrentherapie, zusammen.
Die Prophylaxis der Geisteskrankheiten ist selten der Gegenstand ärztli-
cher Berathung. Eine Verhütung derselben könnte schon dadurch erreicht werden,
dass Heirathen unter den Mitgliedern einer zum Irrewerden auffallend disponirten
Familie vermieden würden. In Bezug auf individuelle Prophylaxis kommt es bei
Personen, welche man für disponirt zum Irrewerden halten muss, vorzugsweise
auf eine wohlgeordnete psychische und leibliche Diätetik an. Schon in der Er-
ziehung müsste alle Ueberanstrengung des Gehirns vermieden, dagegen die Aus-
bildung und Uebung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; Alles,
was ein Vorherrschen der Phantasie und eine zu frühe Entwicklung des Ge-
schlechtstriebes veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer
so viel als möglich für die einfachsten, geordnetsten äusseren Lebensverhältnisse,
für Vermeidung anhaltender Leidenschaften etc. gesorgt werden. Damit sind aber,
wie Flemming mit Recht bemerkt, nicht abstracte Ermahnungen zum „Weisesein“
gemeint, welche nur geringen Stand halten, wenn sich stürmische Bewegungen
aus der in der Tiefe erschütterten Seele erheben, sondern die Kraft zum Wider-
stande gegen Leidensehaft und Seelenschmerz beruht vor Allem auch auf einer
kräftigen, widerstandsfähigen Organisation, also auf Erhaltung der ganzen leiblichen
Gesundheit, auf sorgfältiger unverdrossener Beseitigung aller zum Chronischen
tendirenden Erkrankungen, und die Mittel hiezu, wenn gleich zum grössten Theile
diätetischer Art, müssen in den einzelnen Fällen sehr verschieden ausfallen.
§. 163.
Wie bei allen andern Organen ein gehörig regulirtes Mass von
Ruhe und Thätigkeit zu den wichtigsten Heilmitteln gehört, so
auch bei diesen Krankheiten des Gehirns. Für alle frischen acuten
Erkrankungsfälle ist das erste Erforderniss eine absolute Ruhe des
Gehirns, die Abhaltung der meisten, auch sonst gewohnten, noch mehr
natürlich aller stärkeren oder positiv schädlichen Reize. Der Erkran-
kende sucht auch instinctiv diese Ruhe, er entzieht sich jedem leb-
hafteren psychischen Eindruck, jedem Lärm, jedem anstrengenderen
Gespräch — lauter Dinge, die ihm jetzt schmerzhaft werden, und
sucht die Einsamkeit. So ist hier jeder Versuch vergehlich oder
schädlich, dem beginnenden Versinken in Melancholie etwa äussere,
besonders rauschende, lärmende Zerstreuungen entgegenzusetzen, von
denen der Kranke jetzt nur peinliche Eindrücke erhält; noch schäd-
licher ist es, wenn dem Kranken mit eindringlichem Zureden, Aus-
fragen, Ermahnungen zugesetzt wird; schon die früher gewöhnte, ja
[347]Thätigkeit des Gehirns.
zum Bedürfniss gewordene geistige Thätigkeit wirkt jetzt meist
irritirend, und nur ein Rückzug aus dem gewohnten Lebenskreise,
Einsamkeit und vollständige Ruhe des Gehirns kann solchen Kranken,
die von Allem viel zu heftig psychisch berührt werden, wohl thun.
Je nach der Beschaffenheit des Falles und den äusseren Umständen
kann dieser Indication durch blosse Versetzung in stille, friedliche
und zugleich wohlthuend ansprechende Aussenverhältnisse, anderemale
muss ihr durch strengste Abschliessung von allem Verkehr, ja sogar
durch Abhaltung aller Ton- und Lichteindrücke genügt werden, —
das letztere besonders in frischen Exaltationszuständen, zuweilen auch
im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Wie aber nach Ab-
lauf der acuten Periode bei den meisten Krankheiten ein Zeitraum
eintritt, wo das erkrankte Organ allmählig wieder in Thätigkeit treten
soll und wo es nur durch rückkehrende wohlgeleitete Functionirung
seine frühere normale Kraft wieder gewinnen kann, so kommen auch
hier Zeiten, wo weitere tiefe Ruhe schädlich wäre, und wo dem
psychischen Leben, um es vor Stillstand und Versinken zu bewahren,
eine neue kräftige Thätigkeit nach der normalen Richtung Noth thut.
Beim schon Genesenden stellt sich ein solches Bedürfniss von selbst
ein; aber in sehr vielen Fällen muss es, am Ende der acuten Periode
und bei eingetretener äusserlicher Beruhigung, erst geweckt, ja ener-
gisch aufgerüttelt werden. Aus Gewohnheit fährt oft der Kranke
fort, sich gegen die gesunde psychische Erregung, noch mehr gegen
gesunde Selbstthätigkeit zu sträuben, während er doch erst durch
den Wiedergebrauch und die Uebung seiner Kräfte wieder die alte
Stärke und gesunde Richtung erlangen kann, und manche Kranke
genesen nicht, weil in dieser, oft kurzen und immer wohl zu be-
nützenden Zeit, ein energisches Einschreiten versäumt wurde. Denn
wenn bei einzelnen solchen Kranken diese Indication schon durch
angenehme Sinneseindrücke, durch Besuche, Wiedereintritt in die
Gesellschaft, leichte Beschäftigung etc. erfüllt werden kann, so bedarf
es hier bei Andern oft des Zwanges, um sie aus ihrem psychischen
Torpor herauszureissen, und der ganze Umfang der psychischen Therapie
ist besonders in solchen Fällen aufzuwenden. Bei Besprechung dieser
(im 3ten und 4ten Capitel) das Nähere hievon.
Es besteht hier wieder eine auffallende Uebereinstimmung der Heilgrund-
sätze mit dem Verfahren, welches sich in den Spinalaffectionen als nützlich er-
wiesen hat. In allen acuten, frischen Spinalirritationen (namentlich allen Fieber-
zuständen) lassen wir sorgfältig die von dem Kranken selbst instinctiv gesuchte
Ruhe beobachten. In vielen chronischen Rückenmarksirritationen dagegen scho-
[348]Vortheile der Versetzung
nen wir das vorhandene Schwächegefühl nicht; wir wissen vielmehr, wie nur mit
Ueberwindung desselben, indem der Kranke, oft anfangs halbgezwungen die Mus-
culatur in allmähliger Steigerung wieder übt und anstrengt, die normale Inner-
vation wieder eingeleitet und hergestellt wird. Brodie hat mehrfach bei der Be-
handlung der neuralgischen und subparalytischen Zustände der Extremitäten hier-
auf aufmerksam gemacht.
§. 164.
Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, dass den genannten
Indicationen (§. 163. §. 162.) meist nur durch eine radicale Umän-
derung aller Aussenverhältnisse, [durch] gänzliche Entfernung des
Kranken von seinen gewohnten Umgebungen, durch die Versetzung zu
völlig andersartigen und neuen Eindrücken entsprochen werden kann.
Nur selten genügt hiezu ein blosser Wechsel des Wohn-
orts, etwa ein Landaufenthalt in einfachen, ansprechenden Um-
gebungen. Grössere Reisen, in den mässigeren Zuständen von Hy-
pochondrie oft von grossem Nutzen, aber immer nur bei Wenigen
anwendbar, sind bei allem ausgebrochenem tieferem Irresein durch-
aus unzulässig. Sie vermehren gewöhnlich die Aufregung; es sind
uns die bedenklichsten Verlegenheiten und die gefährlichsten Auftritte
bekannt, welche der Ausbruch der Manie auf solchen „Vergnügungsreisen“
zur Folge hatte, und mit Recht hat man auch an den alten Ausspruch
erinnert, dass durch Flucht und Ortswechsel der Mensch doch sich
selbst, den inneren Gründen seiner Gefühlsbelästigung, kaum entrinne. —
Dagegen ist nun die Versetzung in Verhältnisse, die speciell
für die Verpflegung solcher Kranken eingerichtet sind, in eine
gute Irrenanstalt, die in der grossen Mehrzahl der Fälle am
dringendsten indicirte Massregel. Sie dient vor Allem zum
Schutze des Kranken. Denn nirgends in den gewöhnlichen Lebens-
verhältnissen ist dieser vor Zudringlichkeit, vor einer auch beim
besten Willen meistens höchst unzweckmässigen Einwirkung seiner
Umgebungen geschützt, nirgends findet er jene Schonung, welche
aus einer klaren Einsicht in seinen Zustand hervorgeht; der immer
zunehmenden Verstimmung setzen die Angehörigen des Kranken, als
ob sich ihr dieser noch freiwillig entziehen könnte, meistens allerlei
Zureden, gewöhnlichen Trost oder sogenannte Vernunftgründe entgegen,
wenn sein Zustand nicht gar für Verstellung gehalten und mit derber
Zurechtweisung gestraft wird; Niemand unter den Gesunden versteht
den Kranken, Nachgiebigkeit und Strenge werden am unrechten Platze
angewandt, das Misstrauen wächst unter solcher Behandlung, und es
kommt zu unangenehmen Scenen und Kämpfen, welche nicht nur den
[349]in die Irren-Anstalt.
Kranken im höchsten Grade irritiren, sondern deren Erinnerung auch
dem Genesenden noch die Rückkehr des alten Verhältnisses zu seiner
Umgebung erschwert. Am meisten natürlich da, wo in dem Familienleben
selbst eine Quelle der Erkrankung lag, ist eine sofortige gänzliche
Entfernung aus demselben erste Bedingung; aber auch wo diess nicht
der Fall ist, wird oft erst durch die unzweckmässige Behandlung, die
der Erkrankte von Seiten seiner nächsten Umgebung erhält, Abnei-
gung und Feindschaft gegen sie in ihm geweckt, und dadurch die
vollständige Isolirung gefodert. Mit dieser aber soll auch die ganze
Ideenrichtung des Kranken rasch unterbrochen und umgeändert, durch
neue Eindrücke, neue Gemüthsbewegungen soll der Hingabe an die
immer mächtiger werdende krankhafte Verstimmung entgegengetreten
werden. Wie günstig in dieser Beziehung die Versetzung in eine
Anstalt wirkt, zeigt sich in manchen Fällen darin, dass der blosse Ein-
druck dieser Versetzung genügt, um die Krankheit zu brechen, dass
bei einzelnen bis dahin höchst schwierig zu behandelnden Kranken
von der Stunde ihrer Aufnahme an nicht nur vollständige Ruhe ein-
tritt, sondern sogar die entschiedenste Reconvalescenz beginnt, wäh-
rend bei der grossen Mehrzahl die erste Zeit ihres Aufenthalts in
der Anstalt wenigstens durch eine auffallende Remission bezeichnet
wird. Hier allein, im Irrenhause, findet der Kranke, der nicht mehr
in die Welt der Gesunden taugt, Alles beisammen, was sein Leiden
erfordert, einen mit der Behandlung solcher Zustände genau vertrauten
Arzt, geübte Wärter, eine ganze Umgebung, welche consequent und
den Umständen angemessen zu handeln weiss, ein Asyl, wo sein
krankes Thun und Treiben vor zudringlichen Blicken geschützt ist,
wo ihm die nöthige Ueberwachung geräuschlos zu Theil wird, wo
ihm aber auch gewöhnlich ein weit höheres Mass von Freiheit, als
unter allen andern Umständen gegeben werden kann. Hier kann er
sich im Nothfalle ausweinen oder austoben, meist aber wird seine
äussere Unruhe und die laute Aeusserung seiner krankhaften Triebe
hier schon durch das Beispiel der übrigen Kranken, durch den herr-
schenden Geist des Friedens und der Ordnung wesentlich beschränkt;
er wird in die ruhige Bewegung des ganzen Hauses von selbst hin-
eingezogen, etwaigem Widerstande tritt weit weniger directer Zwang,
als das eigene Gefühl der Unterwerfung unter die imponirende Ge-
walt des Ganzen entgegen; er findet hier Schonung und Aufmerk-
samkeit, die Sprache der Vernunft und des Wohlwollens, er fühlt,
dass er seinem Zustande gemäss wirklich als ein Kranker behandelt
wird, aber er bemerkt auch, dass Widersetzlichkeit hier nicht fruchten
[350]Indicationen zur Versetzung
würde, er lernt bald sich den ärztlichen Anforderungen fügen und
sieht wie die Art seiner Behandlung, das Mass von Freiheit und Ge-
nuss, das ihm zu Theil werden kann, von dem Grade seiner Fassung
und von seinem eigenen Verhalten abhängt. So findet er hier we-
sentliche Hülfen der Selbstbeherrschung, er lernt wieder aus sich
heraustreten, während gleichzeitig den Bedürfnissen der somatischen
Behandlung durch eine seinem Zustand angemessene Diät, durch
Bäder, Bewegung im Freien, Arzneien etc. umfassend und beharrlich
genügt werden kann. So bekommt der Kranke das Bewusstsein einer
verständigen, milden aber consequenten Leitung, er fasst wieder
Vertrauen und Hoffnung, das Beispiel der Genesenden und Recon-
valescenten erweckt ihm die eigene Zuversicht der Herstellung, und
meist legt er auch dann, wann wieder die gesunde Sehnsucht einer
Rückkehr nach Hause sich einstellt, den Zeitpunkt seiner Entlassung
vertrauensvoll in die Hände des Arztes.
§. 165.
Die meisten Genesenen segnen ihren Eintritt in die Anstalt, und
die Vortheile dieser Versetzung, von Esquirol zuerst auf’s eindring-
lichste geltend gemacht, sind seither nicht nur in der Psychiatrie zu
einem durch tausendfache Erfahrung bestätigten Grundsatze geworden,
sie werden auch immer mehr vom Gros der Aerzte und von den
Laien selbst anerkannt. Doch ist diese Versetzung, welche einerseits
bei bestehender Indication nicht frühe genug geschehen kann (§. 154),
andrersetis aber doch nicht ohne wichtige Folgen für die spätere
bürgerliche Existenz des Kranken ist, immer ein wohl zu überlegender
Schritt. Die erste und dringendste Indication gibt immer ein Zu-
stand des Kranken, wo er sich selbst oder Andern gefährlich werden
kann, also der Ausbruch der Tobsucht oder dringende Zeichen ihrer
Annäherung, ebenso der Hang zum Selbstmord, dem in Privatver-
hältnissen fast nie sicher begegnet werden kann. In die Irrenanstalt
gehören ferner alle Wahnsinnigen, alle Verrückten und alle unruhigen
Blödsinnigen; auch der beginnende stille Blödsinn, unter dem sich
oft etwas Anderes versteckt, findet dort noch am ehesten eine richtige
Beurtheilung und Behandlung; der secundäre, apathische und der pa-
ralytische Blödsinn dagegen gestattet, wo eine recht sorgfältige Verpfle-
gung stattfinden kann, den Aufenthalt in Privatverhältnissen. Schwierig
ist die Stellung der Indication nur zuweilen bei der Schwermuth.
Was wir von der Versetzung von Hypochondristen in die Anstalt ge-
sehen haben, stimmt uns eher dagegen als dafür zu sprechen; erst
[351]in die Irrenanstalt.
da, wo die Selbstbeherrschung ganz unmöglich geworden wäre, dürfte
hier die Massregel indicirt sein. Auch die einfache Schwermuth in-
dicirt noch nicht gleich in den ersten Wochen den Eintritt in die
Anstalt; so lange sie auf einem sehr milden Grade, noch mit Schwan-
kungen zum Besseren, bleibt, ist hier eine sonstige Veränderung der
Aussenverhältnisse, ein Landaufenthalt etc. passender; hat dagegen
die Melancholie schon einige Monate gleichförmig fortgedauert, nimmt
sie immer zu, entwickeln sich Wahnvorstellungen, die auch nur einige
Beharrlichkeit haben, sind Hallucinationen beunruhigender Art vor-
handen, wendet sich der Zustand zu stumpfsinniger Versunkenheit
oder zur Aeusserung negativer Triebe, so ist nicht länger mit der
Versetzung zu zögern. — Indessen hängt die Indication zu der Mass-
regel in vielen Fällen weniger von der Form und Art der Krankheit,
als von den Aussenverhältnissen und dem Character des Kranken ab;
sie ist aber immer um so nothwendiger, je weniger dem Kranken
in der Familie Alles das zu Theil werden kann, was sein Zustand
fordert, je mehr er in Privatverhältnissen zu Widerstand gegen die
nothwendigen Massregeln sich geneigt zeigt.
Das Vorurtheil, dass die Vernunft des Kranken durch die Umgebung mit an-
deren Irren nur noch tiefer leiden werde, zeugt von gänzlicher Unkenntniss der
Sache. In jeder wohlgeordneten Anstalt findet eine zweckmässige Scheidung der
Kranken statt, so dass der Einzelne immer nur mit Wenigen, zu seiner Gesell-
schaft Passenden, der frisch Erkrankte z. B. mit den Verkommenen und Versun-
kenen, deren Eindruck auf ihn allerdings ein sehr übler sein könnte, niemals
zusammentrifft. Die einzelnen Kranken, die unter sich in Berührung kommen,
verhalten sich auch beim besten Vernehmen doch ziemlich gleichgültig gegen
einander, indem Jeder fast nur mit sich selbst beschäftigt ist; Viele bemerken
das Irresein der Anderen und werden durch die gleiche Behandlung, die auch
ihnen selbst zu Theil wird, auf ihren eigenen Zustand aufmerksam. Von positiv
günstigstem Einflusse auf die neuen Kranken aber ist es, dass sie durch das
Beispiel ihrer Umgebung in die Ordnung und Bewegung der Anstalt von selbst
hineingeleitet werden, dass sie von den Anderen Unterwerfung unter das Ganze
lernen und aus den in ihrer Umgebung geschehenden Genesungen und Entlassun-
gen selbst Motive, sich zu beruhigen und wieder zu hoffen, schöpfen.
Alles Weitere über die Irrenanstalten s. im fünften Capitel.
[352]
Zweites Capitel.
Somatische Behandlung.
§. 166.
Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung
daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht
positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke
an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen, gegen die
Tobsucht, die Melancholie etc., wird sein Gegengewicht in der Er-
wägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den
anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen
sind, welche die Symptome des Irreseins geben. Gegenstand der somati-
schen Therapie sind zunächst die noch fortbestehenden Krankheitspro-
cesse, welche die Entwicklung der Gehirnkrankheit einleiteten mit haupt-
sächlicher Rücksicht auf Circulations- und Respirationsorgane, auf die
Genitalien und auf die Darmschleimhaut. Die Behandlung der hier
aufgefundenen Affectionen hat keine besonderen Eigenthümlichkeiten.
Man hüte sich einerseits vor einer nicht genügend begründeten, durch
theoretische Voraussetzungen suggerirten Annahme solcher Störungen,
um nicht Gefahr zu laufen, nur seine eigenen Hypothesen zu be-
kämpfen. Man beachte aber auch andererseits, wie bei Geisteskranken
die Auffindung körperlicher Störungen oft ausserordentlich erschwert
ist, in so ferne viele Kranke sich wenig oder gar nicht über ihre
Empfindungen aussprechen, und eben wegen der Gehirnaffection manche
sonst gewohnte, namentlich subjective Symptome (z. B. bei Phthisis,
Pneumonie) ganz fehlen. Um so sorgfältiger ist natürlich eben die
objective Diagnose zu üben. Wo sich in pathogenetischer Beziehung
keine rationellen Indicationen ergeben, ist ausschliesslich der gegen-
wärtige Krankheitszustand des Gehirns Gegenstand der somatischen
Behandlung, und es wird je nach der wahrscheinlicher oder sicherer
anzunehmenden Gehirnirritation, Gehirnhyperämie, Gehirnentzündung
direct gegen diese Zustände in durchaus ähnlicher Weise, wie gegen
die entsprechenden Zustände des Rückenmarks verfahren.
Bei dem Gebrauch von Arzneien wird nicht selten das verbreitete
Vorurtheil dem Kranken schädlich, dass es bei Irren immer bedeutend
grösserer Arzneidosen bedürfe, als in sonstigen Krankheiten. In vielen
Fällen sieht man gar nichts dergleichen; in anderen ist die Toleranz
nur [scheinbar] stärker, indem der Kranke manche widrige Wirkungen
(z. B. Ekel) verschweigt, im Sturme des Deliriums nicht beachtet
oder aus krankhaftem Eigensinn sie ohne Klagen erträgt, während
[353]Blutentziehungen. Aderlass.
die Wirkung auf die Organe, z. B. die Erosion der Magenschleimhaut
durch grosse Gaben Tartarus emeticus keineswegs ausbleibt; nur in
wenigen Fällen braucht man ungewöhnlich hohe Gaben von einzelnen
Mitteln, namentlich Purganzen und Narcoticis; da hierin grosse indi-
viduelle Verschiedenheiten vorkommen und sich der Erfolg nicht a
priori schätzen lässt, so müssen immer zuerst mässige Gaben ver-
sucht, und von diesen — allerdings zuweilen rasch — der Uebergang
zu den stärkeren gemacht werden.
Im Allgemeinen ist eine active somatische Behandlung weit nothwendiger in
den frischen, als in den alten verschleppten Zuständen von Irresein. Die letzteren
Fälle, wo so häufig das leibliche Befinden gar keine Störung zeigt, geben dann
weder bestimmtere Indicationen zu Arzneimitteln, noch hat sich deren empirische
versuchsweise Anwendung nur im Geringsten nützlich gezeigt. Doch gibt es
Fälle, wo es auch ohne alle rationelle Indicationen vortheilhaft ist, dem Kranken
Arzneien, natürlich nur durchaus indifferenter Art, zu verabreichen, um ihm zu
zeigen, dass er wirklich als krank betrachtet wird, um seine Hoffnung zu er-
halten und ihm eine stete ärztliche Fürsorge zu beweisen. Hier dienen die
Arzneien als psychische Mittel; so z. B. bei sehr misstrauischen Kranken, welche
die Irrenanstalt für ein Staatsgefängniss, einen Ort für Verbrecher und dergleichen
erklären, hei Hypochondristen etc. — Unter den Mitteln der somatischen Therapie
sollen im Folgenden nicht alle aufgeführt werden, welche überhaupt einmal in-
dicirt sein können, sondern nur diejenigen, welche mit directem Bezuge auf die
Gehirnkrankheit theils sich entschieden nützlich zeigen, theils der Art der Symp-
tome nach als besonders indicirt erscheinen könnten.
§. 167.
Die Anwendung der Blutentziehungen, zu denen von jeher
theils apriorische Entzündungstheorieen, theils pathologischanatomische
Resultate, theils die oft so stürmischen Symptome an sich schon hin-
geleitet haben, ist von der neueren Zeit bedeutend beschränkt worden
und Jedermann ist darüber einig, dass die Indication des Aderlasses
nicht aus dem Delirium an sich oder irgend einer Form desselben,
sei es auch die activste, aufgeregteste, wüthendste, entnommen werden
darf. Zustände von allgemeinem Sinken der Ernährung und von
Anämie, nicht nur nach Blutverlusten, sexuellen Excessen etc., sondern
ebenso häufig auch nach lange dauernden psychischen Schmerzzu-
ständen gehören ja häufig zu den ätiologischen Momenten des Irreseins,
namentlich auch in der Form der Tobsucht. Diese Fälle, und ihnen
zunächst sich anschliessend die aus habitueller Trunksucht entstandenen,
contraindiciren die Aderlässe. Werden solche hier dennoch angestellt,
so folgt ihnen gewöhnlich alsbald eine Steigerung aller Symptome;
namentlich bricht hier gerne bei bisher noch Schwermüthigen die
Griesinger, psych. Krankhtn. 23
[354]Indicationen zur Blutentziehung.
heftigste Tobsucht aus. Indicirt dagegen ist die Venäsection in dem
Aufregungszustande der acuten Meningitis (um so mehr je stärker
das Fieber ist), bei entschiedener allgemeiner Plethora, bei den acut
entstandenen Unregelmässigkeiten des kleinen Kreislaufs, wie solche
nach heftigen plötzlichen Gemüthsbewegungen unter stürmischer un-
regelmässiger Herzbewegung und Kopfcongestion mit den Symptomen
psychischer Alteration rasch auftreten. Dass der Aderlass in manchen
Fällen, wo das Irresein bald nach einer Kopfverletzung sich zeigt, in
intercurrirenden Entzündungen innerer Organe (Pneumonie), in allen
schnellen und heftigen Congestionen einen Theil der hier indicirten
strengen antiphlogistischen Behandlung ausmachen muss, versteht
sich von selbst.
Ueber die Anwendung der VS. herrschten immer verschiedene Ansichten und
vielfache Debatten *). Im alten Bedlam machte man früher allen Kranken im
Sommer mehrere Aderlässe, und die höchst verfehlte, ergiebigste Anwendung dieses
Mittels war in Frankreich im vorigen Jahrhundert als „Traitement de l’Hotel-
Dieu“ bekannt. Willis, Chiarugi, namentlich aber Pinel erklärten sich nachdrüklich
gegen den allzuhäufigen, ohne Distinction vorgenommenen Gebrauch des Mittels,
Hill, Esquirol, Burrows und die meisten deutschen Aerzte schlossen sich ihnen
an. Der Hauptvertheidiger grosser Venäsectionen war Rush (Untersuchungen über
die Seelenkrankeiten, übersetzt von König, Leipzig 1825, p. 149 seqq.) namentlich für
die Manie; Haslam, Foville und A. wandten ihn häufig in gemässigteren Graden
an. Es ist beachtenswerth, dass unter 200 Kranken, denen Haslam in Bedlam
zur Ader liess, das Blut nur 6mal eine Kruste zeigte (Rush l. c. p. 150).
Manche nur halbwahre Indicationen für ihn wurden von Einzelnen aufgestellt, so
das jugendliche Alter, die frische Erkrankung, das starke Klopfen der Kopfarterien,
welches doch (M. Hall) gerade auch beim Delirium aus Anämie vorkommt; auch
die mässige Kopfcongestion (warmer Kopf, rothe Augen etc.) erheischt die VS.
an sich noch nicht, da sie häufig bei allgemein gesunkener Ernährung vorkommt.
Von weit ausgedehnterer Anwendung als die Venäsection sind die
örtlichen Blutentziehungen durch Schröpfköpfe und Blutegel. Schon
in der acuten Meningitis bewirken sie sicherer und unmittelbarer die
Entleerung des Gehirns; ihre auch in chronischen Zuständen häufig
nützliche Anwendung ist derjenigen in den chronischen Rückenmarks-
leiden, die auch so oft durch Blutegel, niemals durch Aderlässe
gebessert werden, analog. Bei allen stärkeren Kopfcongestionen sieht
man oft eine überraschend schnelle und günstige Wirkung auf das
Irresein, und wenn diese auch selten eine ganz nachhaltige ist, so
kann das Mittel doch häufig wiederholt, mitunter mit sehr gutem
Erfolg längere Zeit fort in regelmässigen Zeitperioden applicirt werden.
[355]Blutentziehungen. Kälte.
Immer sind es nur Hyperämieen, welche damit gehoben werden
können; dass die wahren chronisch-meningitischen und encephaliti-
schen Processe so wenig als andere chronische Entzündungen durch
Blutentziehungen zu beseitigen sind, darüber wird man sich bei
einiger Einsicht in die hier stattfindenden Vorgänge nicht verwundern.
Schröpfköpfe können auf den geschorenen Kopf oder in Nacken, Blut-
egel sollen wo möglich in die Nähe von Emissarien applicirt werden,
hinter dem Ohr, an der Nasen-Schleimhaut, deren Venen mit dem
Längenblutleiter communiciren etc. Beim weiblichen Geschlecht kön-
nen Blutentziehungen an den Genitalien nöthig werden; die Blutent-
ziehungen am After gegen Kopfcongestionen sind ein unsicheres,
diese zuweilen steigerndes Mittel.
§. 168.
Zur Beseitigung der Gehirnhyperämie findet auch die Kälte
ausgedehnte und vortheilhafte Anwendung — aber nicht in der Form
jener massenhaften kalten Sturzbäder, mit welchen die Practiker so
gerne frisch erkrankte Tobsüchtige zu beruhigen suchen, und die
doch so gewöhnlich nur die Aufregung steigern, und selbst die Kopf-
congestionen erhöhen. Zeller (und in neuerer Zeit Jacobi) haben
sich nachdrücklich über die Fruchtlosigkeit dieses Verfahrens geäussert;
wir selbst haben solche Fälle gesehen, wo die Sturzbäder mehrfach
mit jedesmal sichtlicher Verschlimmerung angewandt worden waren.
Nur im melancholischen Stumpfsinn dürften sie zuweilen mit Erfolg
gebraucht werden; die eigentliche Douche vollends mit anhaltendem,
heftig auffallendem Strahl ist kaum je als Kur-, sondern als ein blosses
Straf- und Zwangsmittel der psychischen Therapie anzuwenden. —
Nützlich dagegen ist die Application der Eismütze oder doch der
kalten Umschläge, welche die Kranken oft selbst eifrig wiederholen,
in vielen Exaltationszuständen mit heissem Kopf, klopfenden Hals-
arterien etc.; und besonders passend ist die Application der Kälte
auf den Kopf während allgemeiner lauer Bäder, entweder als Um-
schlag, oder als mildes Regenbad, als langsame Begiessung aus sehr
mässiger Höhe. Die grosse Ruhe in den nächsten Stunden nach
einem solchen Bade und die dem Kranken selbst oft auffallende
Erleichterung kann eine täglich mehrmalige Anwendung indiciren, mit
welcher man der Agitation, sobald sie sich wieder steigern will, jedes-
mal zuvorzukommen sucht. Insolation, Kopfverletzung, drohende Apo-
plexie machen die Anwendung der Kälte auf den Kopf besonders
dringlich. —
23*
[356]Bäder und Hautreize.
Wie in manchen acuten, besonders aber in den meisten chro-
nischen Rückenmarksaffectionen Bäder mit Vortheil gebraucht werden,
so auch bei vielen unserer Gehirnkrankheiten. Seltener, namentlich
bei jüngeren Individuen weiblichen Geschlechts, bei Hysterischen sind
die kalten Bäder indicirt; von allgemeinster und nützlichster Anwen-
dung dagegen sind die lauen Bäder sowohl in den älteren, als
namentlich in den frischen Fällen; ausser ihrer reinigenden und er-
frischenden Wirkung kommt ihnen, wie es scheint, ebenso durch die
gleichförmige mässige Erregung aller Hautnerven, als durch die Ver-
langsamung und Regulirung der Respiration und des Herzschlags ein
ausgezeichneter beruhigender Effect in diesen Krankheiten zu. Oft
führen sie allein den lange vermissten Schlaf herbei, oft scheinen sie
die Fixirung der Gehirnhyperämie zu verhindern, und da sich die
Kranken meist gerne zu diesem Mittel verstehen, so dürfte sich gegen
seinen Gebrauch — ausser Phthisis, und namentlich ausser der be-
ginnenden oder schon bestehenden allgemeinen Paralyse — kaum
irgend eine Contraindication ergeben. Nach Umständen sind Zusätze
von Schwefel, Eisen, aromatischen Pflanzen und dergl. passend. Fuss-
bäder endlich unterstützen in manchen Fällen das vom Kopfe ablei-
tende Verfahren.
Von der methodischen Anwendung des kalten Wassers in der Art der soge-
nannten Hydrotherapie halten wir nur das reichliche Wassertrinken, namentlich
in den Exaltationszuständen für einigermassen nützlich. Auch die Hypochondrie
wird bei Priessnitzischer Methode vielleicht zuweilen momentan gebessert; weit
häufiger scheint sie durch so heftige, meistens unbesonnen instituirte Curen
verschlimmert zu werden.
§. 169.
Auch die Hautreize und sogenannten Ableitungsmittel werden
häufig am unrechten Orte gebraucht. Die Vesicatore sind in den
gewöhnlichen Fällen unnütz, auf den Kopf selbst gesetzt vermehren
sie häufig die Irritation; bei Melancholisch-Stumpfsinnigen dagegen
können sie oft, am besten im Nacken, mit Erfolg angewandt werden
(Resorption eines Gehirnödems?). Bei sexueller Reizung und bei
Onanisten sind sie immer zu vermeiden. — Auch die Salben und
Pflaster von Tartarus emeticus, von Einzelnen in der übertriebensten
Weise, bis zur Necrosirung der Schädelknochen gebraucht, findet
eine vortheilhafte Anwendung gleichfalls nur in einzelnen melancho-
lischen Formen. Auch sie werden im Nacken oder an noch ent-
fernteren Stellen applicirt, und dürfen nur bis zu mässiger Eiterung
[357]Narcotica.
fortgesetzt werden; ihre Hauptwirkung scheint eine psychische, indem
der andauernde lebhafte Schmerz, der sich immer dem Bewusstsein
aufdrängt, den Zug der krankhaften Ideen unterbricht und das Ver-
weilen auf ihnen hindert. — Vom Haarseil könnte besonders in ein-
zelnen Fällen nach Kopfverletzung passend Gebrauch gemacht werden;
Moxa und Glüheisen — das letztere namentlich häufig, aber ohne
Erfolg, bei Paralytisch-Blödsinnigen angewandt — entbehren jeder
festen Indication und sind fast ganz verlassen worden. — Alle
diese tieferen Hautreize sind nicht nur in Zuständen hoher acuter
Exaltation durchaus unpassend, sie sind es auch bei sinnlosen Kran-
ken, welche die gereizte Hautfläche oft heftiger Reibung oder der
Kälte aussetzen; bedeutende erisypelatöse Entzündungen können hier
entstehen, bei einzelnen adynamischen Zuständen kann Gangrän
eintreten — Gefahren, welche hier durch den problematischen Nutzen
dieser Applicationen weit nicht aufgewogen werden.
§. 170.
Von einer directen Einwirkung auf die Gehirnfunction durch
Narcotica könnte man a priori Bedeutendes erwarten. Doch wird
man alsbald die Indication zu diesen Mitteln beschränken müssen,
wenn man erwägt, wie häufig das Irresein das lange vorbereitete,
allmählig festgewurzelte Resultat zusammengesetzter Einwirkungen ist,
wie häufig es auf anatomischen Veränderungen beruht und wie die
meisten und eben die kräftigsten Narcotica sich nur zu vorüberge-
hender Anwendung eignen. Die Beobachtung zeigt auch wie diese
Mittel wohl niemals für sich allein zur Heilung, sondern mehr mo-
mentan zur Hebung und Milderung einzelner Symptome dienen.
Die gebräuchlichste und empfehlenswertheste dieser Arzneien ist
die Digitalis. Bekannt ist ihre entschiedene Wirksamkeit im De-
lirium tremens, und ebenso günstig wirkt sie auch bei vielen andern
Tobsüchtigen. Wenn sie zunächst durch Unregelmässigkeiten der
Circulation, stürmischen Herzstoss, grosse Pulsfrequenz und durch
Structurveränderungen des Herzens indicirt ist — unter diesen Um-
ständen ebenso gut bei Melancholischen als Maniacis — so wird doch
die empirische Anwendung des Mittels auch in den Fällen, wo keine
Störung der Herzthätigkeit zu bemerken ist, oft durch günstige
Erfolge gerechtfertigt. Die Digitalis hat den Vortheil, in längerer
Anwendung fortgegeben werden zu können, und wird passend in
einzelnen Fällen mit Tartarus emeticus, mit Elix. acid. H., mit diu
retischen Mitteln verbunden; man beginnt mit mässigen Dosen; die
[358]Narcotica.
zuweilen auch von uns beobachtete Beschleunigung des Pulses in der
ersten Zeit der Anwendung geht bald in Verlangsamung über, und
es ist in einzelnen Fällen passend, durch empirisch zu findende Dosen
den Puls längere Zeit hindurch auf einer gleichen, etwas unter dem
Normal stehenden Frequenz zu erhalten; zu den grossen Gaben,
welche auch leicht Erbrechen erregen, sollte nur allmählig und vor-
sichtig gestiegen werden. Zustände sexueller Aufregung beschränken
wesentlich den Gebrauch der Digitalis; wie andere Diuretica scheint
sie dieselbe zu erhöhen, ja zuweilen erst hervorzurufen.
Die Blausäure (Aqua laurocerasi, Aqua amygdal. amar.) ist
zuweilen, namentlich frühe im Beginn der Krankheit, bei mässiger
Exaltation, melancholischer Angst etc. anwendbar. Ihre beruhigende
Wirkung schien uns beim weiblichen Geschlechte sicherer. Die
Datura, in früheren Zeiten vielfach empfohlen, ward neuerdings
wieder speciell gegen Gesichts- und besonders Gehörshallucinationen
mit einigem Erfolge angewandt (Moreau, Billod). Gegen die Hallu-
cinationen der Verrückten und Verwirrten leistet sie nicht das Ge-
ringste, auch sonst wurden zahlreiche Erfahrungen seiner Erfolglo-
sigkeit gemacht; doch scheinen uns Versuche mit diesem Mittel
passend in den Fällen, wo gleich beim Ausbruch des Irreseins die
wegen ihrer unmittelbaren psychischen Effecte so ungünstigen Ge-
hörshallucinationen das Hauptsymptom ausmachen. Das Mittel muss
dann in etwas grösseren Gaben, bis zum Eintritt von Intoxications-
symptomen gegeben werden. *) Die Belladonna, derzeit wenig
gebraucht, könnte gleichfalls bei vorwaltenden Hallucinationen der
zwei oberen Sinne versucht werden; sie entbehrt noch mehr der
empirisch festgestellten Indicationen, und beide letztgenannte Mittel
sind bei vorhandener Gehirnhyperämie contraindicirt. Das Opium
und seine Präparate können immer nur von vorübergehender An-
wendung sein. In einzelnen Fällen beginnender Krankheit, nach
vorausgegangener langer Schlaflosigkeit und bei trauriger Aufregung,
auch bei plötzlichen Anfällen von heftiger Agitation mit Sinnestäuschun-
gen, will man auf längeren festen Schlaf, durch Opium hervorgerufen,
ebenso wie im Delirium tremens Genesung beobachtet haben. Seiner
etwaigen Anwendung werden häufig ausleerende Mittel vorangehen
müssen; man gibt dann eine volle Dose, am besten Pulv. Dower.
oder Morphium. Sehr fehlerhaft wäre der Gebrauch des Opiums bei
[359]Narcotica. Purgantia.
chronischer Schlaflosigkeit der Irren; laue Bäder, namentlich aber
viele Bewegung im Freien und Arbeit sind hier die Schlaf machenden
Mittel. — Das Chinin ist bei regelmässig intermittirenden Formen
von Nutzen und kann mit Vortheil auch zur Beseitigung einzelner
neuralgischer Zustände, welche oft von wesentlichem Einfluss auf
Erzeugung von Wahnvorstellungen sind, gebraucht werden. Von ein-
zelnen bisher ungebrauchten Mitteln (Brucin, Hachich etc.) lassen
sich durch vorsichtige Versuche noch einige Bereicherungen der
Therapie erwarten.
Die Spirituosa sind im Allgemeinen bei Irren, namentlich in
allen frischen Fällen ganz zu vermeiden und auch in der Recon-
valescenz nur mit grosser Vorsicht zu gestatten; bei sehr herunter
gekommenen früheren Schnapstrinkern kommen übrigens Zustände
tieferer Geistesschwäche mit serösen Infiltrationen der Extremitäten
vor, wo sich der Gebrauch eines kräftigen Weins nützlich gezeigt hat.
Tabak wird von den Irren viel gebraucht — freilich nur zum Schnupfen
und Rauchen. Bekannt ist die grosse Vorliebe vieler, namentlich chronisch
Kranker, für den Reiz des Schnupftabacks und eine mit Bonhommie gebotene
Prise kann den Irren, der eben im Zuge ist, sich in heftigen Scheltworten zu
vereifern, oft am besten unterbrechen und zur Aufmerksamkeit auf sich selbst
und zur Ruhe bringen. Zuweilen werden wohl auch geschärfte Schnupftabacke,
um eine blutige Secretion auf der Nasenschleimhaut hervorzurufen, mit Nutzen
angewandt. Das Rauchen fördert den leichten Fluss der Gedanken und eine
gleichmässige Stimmung; bei früherer Gewohnheit ist die wiederkehrende Lust
dazu zu beachten und zu befördern; denn auch solchen an sich unbedeutenden,
kleinen Gewohnheiten kann der Geist Hülfen entnehmen um sich selbst, den frü-
heren Inhalt und die frühere Art der Gedankenrichtung wieder zu finden.
§. 171.
Die auf den Darmkanal wirkenden Mittel gehören zu den
ältesten und auch heute noch am häufigsten gebrauchten. Ausser
ihrer rationellen Indication bei trägem Stuhl, der in diesen Krankheiten
so häufig ist, werden sie mit Vortheil in allen frischen mit Kopf-
congestion verbundenen Fällen, und als Hauptmittel in den acut
entzündlichen Zuständen des Gehirns gegeben. Hier passen die
stark und schnell wirkenden Purganzen (Crotonöl u. dergl.); für eine
mässigere Anwendung werden Senna, Rheum, Salze, wohl auch
Gratiola u. dergl. in ziemlich willkürlicher Auswahl benützt. Der
längere Fortgebrauch der milden Laxanzen (der weinsteinsauren,
schwefelsauren, kohlensauren Natron- und Kali-Verbindungen, zuweilen
als Mineralwasser) zeigt sich in diesen Fällen manchmal nützlich,
auch ohne Infarcten aufzulösen. Oft wird übrigens bei entschiedenem
[360]Emetica. Kampher etc.
Hämorrhoidalleiden habituelle Trägheit des Stuhls besser durch kühle
Klystiere als durch Laxanzen beseitigt; gerade in den hypochon-
drischen Zuständen, wo die Abführmittel am meisten gebraucht
werden, erweisen sie sich oft schädlich; die Drastica sind bei vor-
handener chronischer Erkrankung der Genitalien durchaus zu ver-
meiden, und der längere Fortgebrauch aller stärkeren Abführmittel
kann zur Ursache schwerer Darmcatarrhe werden.
Emetica werden theils bei erkennbarer Störung der Magen-
verdauung, zuweilen auch, namentlich bei Melancholischen mehr
wegen des damit verbundenen psychischen Eindruckes angewendet.
Die sogenannte Ekelkur mittelst kleiner Gaben von Tartarus emeticus
kann durch den anhaltenden widrigen Eindruck auf das Gemeingefühl
die Stimmung wesentlich modificiren, und den psychischen Schmerz,
indem ihm eine körperlich widrige Empfindung substituirt wird,
unterbrechen; ebenso kann der Tobsüchtige durch die Ermattung,
welche die Folge dieses Mittels ist, beruhigt werden; festere Indi-
cationen hiezu gibt es übrigens nicht, die Eckelkur ist nur noch in
Einzelfällen im Gebrauch, und es ist nachdrücklich vor den enormen
Gaben Tartarus emeticus (Gr. 12—20) die von Einzelnen angewandt
wurden, zu warnen. Nicht nur Pustulation des Mundes und der
Speiseröhre, umschriebene Gastritis, sondern auch ein schneller
paralytischer Collapsus kann die Folge so roher Eingriffe sein. —
Wurmmittel mögen je zuweilen Anwendung finden, hauptsächlich
bei den psychischen Störungen des kindlichen Alters.
§. 172.
Aus der Classe der irritirenden Mitteln von speciellerer Einwir-
kung auf das Nervensystem wurde namentlich der Campher vielfach
angewandt. *) Einzelne Erfahrungen können auch noch zu ferneren
Versuchen mit ihm einladen; bestimmtere Indicationen dürfte er in
Zuständen sexueller Aufregung, wie solche namentlich auch beim
Ausbruch des Irreseins im Puerperium vorkommen, finden; er muss
hier in etwas stärkeren Gaben gereicht werden. — Die Versuche
mit Moschus, Phosphor, Arnica etc. das Gehirn „beleben“ zu wollen,
deuten einen ungewöhnlich hohen Grad therapeutischer Illusionen
an; des letztgenannten Mittels kann man sich vielleicht, in Ver-
bindung mit andern Diureticis, beim Verdacht seröser Ergüsse im
Schädel mit einigem Erfolge bedienen.
[361]Kühlende Mittel. Tonica etc. Diät.
Kühlende Mittel sind unter bekannten Umständen häufig indi-
cirt, also Nitrum, Elix. acid. H., Essig zum Getränk etc. Amara und
Tonica können bei lange gestörter Verdauung, bei Anämie nothwendig
werden. — Emenagoga werden namentlich beim Beginn des Irreseins,
wo Störung der Periode unter die Ursachen der Erkrankung gehört,
mit Vortheil angewandt; auch in den chronischen Fällen ist übrigens
die Menstruation sorgfältig zu reguliren. Oefters dürfte eine präcise
örtliche Behandlung der weiblichen Genitalienkrankheiten, des Ute-
rincatarrhs, der Krankheiten der Vaginalportion, welche so häufig als
Ursachen von Functionsstörungen der Nervencentra auftreten und
durch innere Mittel so schwer zu beseitigen sind, passend und
nothwendig, wenn gleich nicht bei allen Kranken gleich anwendbar
sein. — Selten kommen Fälle vor, wo antisyphilitische Kuren zur
Beseitigung der Gehirnkrankheit erforderlich sind (pag. 140). — Die
indicationslose Anwendung der Electricität ist ganz verwerflich; locale
nervöse Schmerzen können nach unserer eigenen Beobachtung wirksam
damit behandelt werden.
§. 173.
Was die Diät und zunächst die Nahrungsmittel betrifft, so könnte
auch hier zunächst die Thatsache, dass so häufig das Irresein auf
inflammatorischen Processen im Schädel beruht, zu der Meinung von
der Nothwendigkeit durchgeführter antiphlogistischer Massregeln füh-
ren. Nichts wäre dem Kranken verderblicher; die Beobachtung zeigt,
wie häufig das Irresein, mag es auf diesen inflammatorischen Processen
oder Irritation beruhen, mit allgemeiner Anämie und Herabsetzung
der Ernährung verbunden ist, wie häufig der Appetit des Kranken
verstärkt ist, wie eine karge Diät solche Kranke durchaus exasperirt
und verschlimmert, wie der oft bedeutende Aufwand an Muskelkraft
einen anhaltenden, kräftigen Ersatz erfordert und wie das Allgemein-
befinden der Kranken überhaupt meistens durch eine kräftige Diät
verbessert, durch genügende Speise Beruhigung, Schlaf und Wohl-
behagen herbeigeführt wird. Auch hierin natürlich Alles mit Mass
und Erwägung aller Umstände; bei acuter Meningitis, bei allen fieber-
haften Zuständen strengste Diät, bei geschwächter Verdauung sorg-
fältig gewählte Speisen, bei früherer Schwelgerei Gewöhnung an
einige Einfachheit, deren günstige Erfolge sich oft bald zeigen etc. —
Die Getränke müssen durchschnittlich aus Wasser und wässrigten
Flüssigkeiten bestehen (p. 359), und in den frischen acuten Fällen
reichlich sein. — Gemeinschaftliches Essen in den Irrenanstalten, wo
[362]Diätetisches Verhalten.
es sein kann, befördert die Lust am Essen, die Geselligkeit und übt
den Kranken und Genesenden wieder in jenen humanen Formen,
welche der äussere Träger gesunder Gefühle sind, und die er so oft
vergessen hatte.
Nächst der Ernährung ist vor Allem in frischen wie in alten
Fällen, auf den nöthigen Wechsel von Ruhe und Bewegung, auf
möglichsten Genuss einer frischen, reinen Luft, auf möglichste Bewe-
gung im Freien, zu Fusse, in einzelnen Fällen im Wagen, zu sehen;
alle Irrenanstalten sind mangelhaft, welche nicht für alle Abtheilungen
ihrer Kranken die nöthigen Räume zu längerem Aufenthalt im Freien,
in Gärten, Höfen etc. darbieten. Bei manchen Kranken können sich
hier passend gymnastische Uebungen mässigerer Art anschliessen;
erheiternde Spiele mit Bewegung, wo in der harmlosen Aufmerksam-
keit auf das Spiel der Kranke momentan seiner selbst und des Drucks
der Gedanken vergessen lernt. — Der Schlaf muss im Durchschnitt
durch Arbeit, Bewegung in der Luft, Ermüdung, auch durch Bäder,
durch Ruhe und Stille, nicht aber durch Narcotica herbeigeführt
werden; der Kranke muss, wo nicht besondere Ruhe nothwendig, an
frühes Aufstehen gewöhnt, und ein unmotivirtes Verweilen im Bette,
welches bei weiblichen Kranken so leicht zur Gewohnheit wird und zu
wahrer Schwäche aller Muskelactionen führen kann, nicht gestattet werden.
In Bezug auf Temperatur ist nur daran zu erinnern (p. 67),
dass Geisteskranke nicht, wie man früher glaubte, fast unempfindlich
für Wärme und Kälte seien. Alle Gelasse müssen im Winter wohl
geheizt sein, und namentlich die Kranken, welche gerne stille und
unbeweglich stehen oder sitzen, und deren Extremitäten oft eiskalt
sind, müssen in dieser Beziehung sorgfältig gepflegt werden. Dass
bei lebhafter Kopfcongestion eine kühle Temperatur namentlich des
Kopfs erzielt werden soll, versteht sich von selbst. —
Auf strenge Reinlichkeit des Körpers und Alles, was zu ihm
gehört, ist aufs sorgfältigste zu sehen. Die Mittel hiezu sind be-
kannt, und ihr Zweck ist nicht nur die Haut gesund und wohlfunctio-
nirend zu erhalten, bei Paralytischen den Decubitus zu verhüten etc.,
sondern das Wohlbehagen, das der äusseren Pflege des Körpers ent-
spricht, wird auch zur Grundlage eines psychischen Wohlgefühls und
die Gewöhnung an Sorgfalt auf die leibliche Individualität leitet auch
milde zur Aufmerksamkeit auf innerliche Ordnung und Bereinigung hin.
So werden alle diätetischen Massregeln, wenn sie mit Ordnung und Me-
thode durchgeführt werden, dem Kranken ein wohlthätiges Bedürfniss,
zuweilen ein wahres neues Interesse und so ein wichtiges Hülfsmittel
[363]Psychische Therapie.
psychischer Therapie, während alle äussere Unordnung und Salloperie
den Geist zerstreut und ihm Hülfen entzieht, sich bei sich selbst
zurechtzufinden.
Drittes Capitel.
Psychische Behandlung.
§. 174.
Die psychische Erregung selbst, wiewohl mittelst ihrer indirect
stets auch auf die organischen Processe gewirkt wird, wird hier zu
dem Zwecke einer directen Modification der psychischen Anomalieen
durch Hervorrufen von Bildern, Vorstellungen, Gefühlen und Bestre-
bungen benützt. Auch diess geschieht nur zum geringeren Theile
durch ein positives Einwirken des Arztes auf den Kranken, etwa
mittelst Zuspruch, Belehrung, oder gar mittelst Ueberraschungen,
Strafen etc.; auch hier ist schon sehr Vieles durch gewisse negative
Massregeln gewonnen. Sehr oft ist ja der Gang der Krankheit ein
solcher, der ihr baldiges spontanes Aufhören erwarten lässt; hier
reicht die Entfernung von allen psychisch irritirenden Momenten hin,
und eine richtige Ordnung aller äusseren Verhältnisse, besonders
wenn sie dem Kranken zugleich das Gefühl der Unterwerfung unter
eine wohlwollende, vernünftige Macht gibt und allmählige Angewöh-
nung an ein äusserlich vernünftiges Verhalten herbeiführt, ist hier
der mächtigste Hebel geistiger Genesung.
Das nähere psychische Einwirken zum Zwecke der Rückführung der
geistigen Gesundheit kann man wieder auf zwei Indicationen bringen,
welche sich ebensowohl aus einem tieferen Verständnisse des Irreseins,
als aus den vorliegenden Erfahrungen einer glücklichen Therapie entneh-
men lassen. Einmal nemlich sollen die krankhaften Stimmungen und
Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde psychische Indi-
vidualität zurückdrängen und bedecken, gehohen, entfernt werden;
andrerseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederher-
stellung und Stärkung des alten Ich selbst, welches ja lange Zeit im
Irresein nicht verloren gegangen, sondern nur oberflächlich zurück-
gedrängt oder in einen Sturm von Affecten hineingezogen ist, hinter
dem es aber, zur Reaction bereit, lange fort noch im Stande ist,
sich wieder zu erheben. Wenn zwischen der psychischen Behand-
lung der Irren und der Erziehungskunst in Bezug auf Zweck und
Mittel allerdings manche, schon oft besprochene Aehnlichkeit besteht,
[364]Behandlung der krankhaften
so unterscheiden sich beide doch wesentlich eben in der letzter-
wähnten Indication. Denn bei der psychischen Behandlung der Irren
handelt es sich nicht von einer Neubildung, sondern von einer Wie-
derherstellung; es handelt sich auch keineswegs davon, dass das her-
zustellende Ich gewissen Forderungen entspreche, deren Realisirung
sich eben die Erziehung zur Hauptaufgabe macht (z. B. dass es ein
moralisches sei), sondern der einzige Zweck ist die Wiederherstellung
des früheren, alten, gesunden Ich, mag dieses an Tugenden reich,
oder von mannigfachen Fehlern getrübt gewesen sein. Besserungs-
versuche, wenn solche überhaupt gemacht werden wollen, können
erst beim Genesenen einen Sinn haben. Wenn die Erziehungskunst
bei ihren Zwecken durch einen weichen und bildsamen Stoff begün-
stigt wird, so findet die psychische Irrenbehandlung den mächtigsten
Beistand in dem Wiederherzustellenden selbst, in den combinirten
Vorstellungsmassen des Ich, das als ein schon gebildetes, festes, jetzt
nur zurückgedrängtes, lange Zeit hindurch nur auf Gelegenheit wartet,
seinen alten Platz wiedereinzunehmen, ja zuweilen geraume Zeit mit
aller eigenen Macht gegen die Krankheit kämpft. Daher eben kommt
es, dass es oft nur einer negativen psychischen Cur, einer Beseiti-
gung alles Schädlichen bedarf. Wie stünde es sonst mit so manchen
Irren, die in ungeschickten, rauhen Händen doch ihre volle geistige
Genesung finden? —
§. 175.
Was die erste Indication, die Schwächung der krankhaften
Stimmungen, Gefühle und Vorstellungen betrifft, so ist durch
allseitigste Erfahrung festgestellt, dass ihr directes Bekämpfen sehr selten
zu einem günstigen Ziele führt. Die kranke Gemüthsverstimmung kann
eben als eine kranke nicht dem Zuspruch, der Aufmunterung, noch
weniger moralisirenden Vorstellungen, überhaupt nicht dem Verfahren
weichen, welches sonst der einfachen üblen Laune des Gesunden
entgegengesetzt wird. Jene Verstimmung geht aus der Erkrankung
des Gehirns mit Nothwendigkeit hervor, und der Kranke kann sie so
wenig mit Willkühr ablegen wie etwa die subjectiven Farbenbilder
bei Reizung seiner Retina. Vieles für die Beseitigung der Verstim-
mung ist eben von der körperlichen Behandlung, von der Befolgung
eines (vernünftig) exspectativen Verfahrens zu erwarten, womit in
verschiedenen Fällen theils auf eine Entäusserung der Stimmung, in-
dem dem Kranken, z. B. dem Maniacus eine Explosion gestattet wird,
theils auf Zurückdrängung ihrer Aeusserungen hingewirkt werden
[365]Stimmungen und Wahnideen.
kann, während immer die bald zu besprechende psychische Ableitung
die Hauptsache bleibt. Ebenso vergeblich ja noch schädlicher als
gegen die krankhaften Affecte die banale Aufforderung sich zu über-
winden, ist der Versuch, die Wahnvorstellungen des Kranken direct
durch logisches Raisonnement zu bekämpfen. Jede directe, am mei-
sten vollends jede leidenschaftliche Discussion bestärkt gewöhnlich
den Wahn, indem sie den Kranken zur Rechtfertigung desselben, zum
Aufsuchen von Gründen für ihn auffordert, und irritirt und erbittert
um so mehr, je dringlicher und schärfer die Dialectik des Opponenten
auftritt, je mehr noch durch zugemischten Spott solche „Vernunft-
gründe“ dem Kranken wehe thun. Nicht einmal durch Beweismittel
mittelst Augenscheins lassen sich die kranken Vorstellungen bezwin-
gen. Man breite vor dem Kranken, der sich gänzlich verarmt
wähnt, seine Gelder und Staatspapiere aus, man reisse vor einem
Andern die Wand nieder, in der er seine quälenden Feinde versteckt
glaubt; man wird zunächst beide irritiren und erst recht auf ihre
falschen Vorstellungen aufmerksam machen, man wird im günstigsten
Falle ein ganz äusserliches Zu- und Nachgeben erzielen, am ge-
wöhnlichsten aber bei den Kranken einen Wechsel mit einem oft
noch viel sehlimmeren Wahne bewirken. Alles dieses wird aus der
oben (pag. 58, 169 etc.) erörterten Art und Weise der Entstehung
der Wahnvorstellungen aus fix gewordenen Stimmungen, mit deren
Beseitigung allein dem Wahn die Axt an die Wurzel gelegt wird,
zur Genüge erhellen.
Einzelne Ausnahmen von der allgemeinen Regel, den Wahn
nicht durch directe äussere Beweismittel zu bekämpfen, finden statt
theils zuweilen bei Reconvalescenten, denen nach geschwundenem
Affect noch einzelne Bruchstücke irriger Vorstellungen übrig geblie-
ben, theils auch im ersten Anfang des Irreseins, wo die aufsteigen-
den Wahnideen dem Kranken noch als schwebende Bilder entgegen-
treten und wo das Ich im Kampfe gegen sie noch in der äusseren
Anschauung der wahren Sachlage Succurs finden kann. Allein auch
in diesen Fällen hoffe man Nichts von vielem Zureden und Ueberzeu-
genwollen; es ist hier weit besser den Kranken wie zufällig, so dass
er von selbst allein darauf zu kommen glaubt, auf das reale Verhal-
ten der Dinge aufmerksam zu machen; alles Polemisiren ermüdet und
quält, erregt Misstrauen und Abneigung.
Eine andere Art directer Bekämpfung des Wahns, nur für seltene
und verzweifelte Fälle aufzusparen, besteht in der gewaltsamen Re-
pression jeder Aeusserung der irrigen Vorstellungen, in einem gegen
[366]Behandlung der Wahnvorstellungen.
jede irrsinnige Rede oder That gerichteten Schreckenssysteme, dessen
Hauptmittel die Douche ist, während gleichzeitig der Kranke theils
auch durch Zwang, theils namentlich durch Vortheile, Freiheit, Ge-
nüsse, wohlthuende Eindrücke, welche an alle vernünftigen Handlun-
gen und Aeusserungen geknüpft werden, zu diesen gedrängt wird *).
Ein solches Verfahren offenen, concessionslosen Angriffs auf die
Wahnvorstellungen mit dem Zwecke einer heftigen psychischen Diversion
kann nur für einzelne Fälle chronischer, partialer Verrücktheit, bei
vollständig hergestelltem Allgemeinbefinden und Abwesenheit aller
sonstigen Störungen versucht werden; es ist ebenso anstrengend
für den Arzt selbst, als für den Kranken, dem in keinem Augenblicke
Ruhe zur Hingebung an seine Wahnvorstellungen gelassen werden soll;
eine Beseitigung von Hallucinationen, wie auch eine vollständige
Heilung der Kranken durch solche Mittel halten wir für illusorisch.
Dasselbe gilt von den verschiedenen, mehr oder minder sinnreichen
Kunstgriffen und Ueberraschungen, welche man schon angewandt hat,
um den Kranken von der Nichtigkeit seiner Ideen zu überzeugen;
sie verschlimmern ihn positiv, wenn sie misslingen und der Kranke
die Absicht oder gar die Täuschung merkt; gelingen sie auch, so
hat man meist nur einen Wechsel der Wahnvorstellungen herbeigeführt.
§. 176.
Fast noch verwerflicher als eine so directe Bekämpfung, erweist
sich das sogenannte Eingehen auf den Wahn des Kranken, die Zu-
stimmung zu demselben, geschehe sie in der Absicht momentaner
Beruhigung oder etwa, um auf dem Zugegebenen neue dialectische
Hebel anzusetzen. Durch solche Bestätigung wird der Kranke in
seinem Wahne befestigt, er beruft sich später auf ein solches Zeug-
niss und man sieht oft, namentlich in tiefer melancholischen Zu-
ständen von solchem in den besten Absichten eingeschlagenem Ver-
fahren die allertraurigsten Folgen, indem sich rasch und bleibend
Wahnvorstellungen fixiren, denen bis daher der Kranke wenigstens
innerlich noch entgegentrat.
Statt des logischen Discutirens und statt des bestätigenden Ein-
gehens auf die fixen Ideen werde denselben vielmehr, wenn die
Umstände eine directe Aeusserung erheischen, ein einfacher Wider-
spruch ohne allen Streit, eine schonende Verweisung an die Zukunft,
[367]Psychische Ableitung. Stärkung des Ich.
wo sich der Kranke über solche Irrthümer sehr wundern werde, eine
Erinnerung an die Vergangenheit, wo er doch solches niemals für
möglich gehalten hätte etc. entgegengesetzt. Am besten aber und
am allgemeinsten anwendbar ist das System, den Wahn möglichst
unberührt zu lassen und seine Schwächung dadurch hauptsächlich
herbeizuführen, dass er in keiner Weise Nahrung erhält, indem der
Kranke in anderer, mit den kranken Vorstellungen durchaus nicht
congruenter Weise geistig in Anspruch genommen wird. Diese psy-
chische Ableitung, eine Hauptgrundlage aller psychischen Behand-
lung, geschieht in verschiedenen Fällen durch sehr verschiedene
Mittel, welche dem Kranken um so besser bekommen und denen er
um so weniger widersteht, je weniger er dabei den Heilzweck selbst
merkt. Unter ihnen steht oben an alle Arbeit gesunder Art (siehe
pag. 368), dann alle Zerstreuungsmittel, alle Unterhaltungen und Ge-
spräche, welche mit genauer Berücksichtigung des individuellen Ge-
schmacks nur Gesundes, Vernünftiges zum Gegenstande baben sollen,
wo Allem, was auf den Wahn des Kranken führen kann, ausgewichen
und er möglichst anhaltend in der Richtung des gesunden Gesprächs-
gegenstands erhalten wird. Es ist also nothwendig, nicht nur die Be-
rührung des Wahns, der Ereignisse, welche zur Erkrankung beitrugen,
sondern überhaupt vieles directes Sprechen über den Zustand des
Kranken zu vermeiden. Es ist nothwendig, dass der Kranke so we-
nig als möglich allein und müssig bleibe; so lange er mit Dingen
beschäftigt ist, welche der Krankheit fremd sind, ist er zur Hälfte
von dieser frei und durch Abziehen der Aufmerksamkeit von den
Wahnvorstellungen werden diese am besten geschwächt und zum
Versinken gebracht.
§. 177.
Dabei soll nun das Gesunde im Kranken, das alte Ich gestärkt
und gekräftigt, vor Unterdrückung und Zerfall bewahrt werden.
Diess geschieht durch Alles, was eben die, dieser bestimmten Individua-
lität im gesunden Leben angehörigen Vorstellungs- und Empfindungs-
kreise fördert und erhält, und es geht eben hieraus die Regel her-
vor, den Kranken nur oder doch ganz vorzüglich in der Richtung
seiner eigenen früheren Interessen anzuregen. Eines schickt sich nicht
für Alle und jeder Kranke ist wieder an einer andern Seite zu fassen.
Hier muss sich die practische Menschenkenntniss des Arztes bewäh-
ren im Durchschauen einer Persönlichkeit, in dem verschiedenen An-
fassen der Individualitäten nach der Differenz der Charactere, Nei-
[368]Psychische Mittel. Arbeit.
gungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der
Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Beim Weibe
sind andere Interessen rege zu erhalten als beim Manne; bei Ein-
zelnen ist alles gesunde Denken und Streben unzertrennlich mit den
äusseren Beschäftigungen ihres Lebensberufes verbunden; mancher
Handwerker kann nur in seinem Geschäfte, mancher Musikfreund in
den Tönen seines Instruments u. dgl. den ganzen Umfang und die
ganze Einheit seiner alten Individualität wieder finden. Ebenso ver-
schieden sind die Gemüthsinteressen; immer aber misslingt es, dem
Kranken solche aufzwingen zu wollen, welche keine Basis, keine
Stützen und Hülfen in den Vorstellungen und Bestrebungen seines
gesunden Lebens haben; dem Frivolen z. B. würde jetzt während
der Krankheit religiöser Zuspruch so wenig taugen, als dem Unmu-
sikalischen eine zwangsweise Beschäftigung mit Musik. Nur da ist
von diesem Grundsatze der sorgfältigsten Erhaltung und Stärkung der
ganzen früheren Persönlichkeit abzugehen, wo eben entschiedene
Characterfehler, welche längst das Ich beherrschten, wesentlich zur
Entstehung der Krankheit beitrugen. In solchen hie und da vorkom-
menden Fällen, wo das Irresein als endliche Consequenz eines in
Schlechtigkeit missbrauchten oder in Thorheit vergeudeten Lebens sich
darstellt, könnte freilich nur von einer völligen Umänderung, von
dem Anfange einer ganz neuen geistigen Persönlichkeit Heil erwartet
werden; allein Jeder weiss, wie knapp hiezu unsere Mittel sind, wie
schwer eine solche Restitutio in integrum ist, und wie schlimm und
im besten Falle, wie sehr einem frühen Rückfalle ausgesetzt solche
Fälle sind. — Alles, was die Anhänglichkeit an das gesunde vergan-
gene Leben, seien es Familienbande, die alten Beschäftigungsweisen
u. dergl. erhält, dient zur Kräftigung des Ich, und die unzähligen
Modificationen in den Mitteln zur Förderung der gesunden Vorstel-
lungskreise (Correspondenz, Besuche etc.) müssen eben der Einsicht
und dem Tacte des Arztes überlassen werden.
§. 178.
Unter den einzelnen psychischen Mitteln scheint uns die Arbeit
das erste und wichtigste zu sein. In gesunder Thätigkeit findet der einge-
borene Drang nach Aeusserung und Entäusserung des Geistes in der ob-
jectiven Welt seine beste Befriedigung; indem sich Denken und Streben
in die Gestaltung eines Stoffes versenken, wird der Geist von leerer
Sehnsucht zurückgeführt und von den Illusionen der Phantasie abge-
zogen; das Gefühl des Gelingens öffnet wieder den Zugang zu
[369]Arbeit. Unterricht.
expansiven Empfindungen und mit ihm kehren Selbstachtung und Ver-
trauen in die eigenen Kräfte zurück. So gilt mit Recht eine stetige
Beschäftigung des Kranken, besonders aber sein eigenes Verlangen
nach Arbeit für ein Zeichen entschiedener Besserung und bildet oft
den Anfang der Genesung. — Diejenigen Beschäftigungen sind die
besten, welche mit körperlicher Bewegung, mit stetem Aufenthalte
in freier Luft verbunden sind, wie alle Garten- und Feldgeschäfte,
welche nicht nur bei den unteren Ständen, deren gewohntes Tagewerk
sie früher ausmachten, sondern auch bei den Verfeinerten durch ihre
friedlichen und beruhigenden Eindrücke und ihren unmittelbaren Na-
turverkehr sich höchst wohlthuend erweisen. Wo solche nicht auszu-
führen sind, müssen andere häusliche oder handwerksmässige, der
künstlerischen Thätigkeit sich nähernde Beschäftigungsweisen an ihre
Stelle treten und nur wenige Kranke, und auch diese nur im Wech-
sel mit körperlicher Uebung und Muskelanstrengung sind vorwiegend
sitzend und geistig zu beschäftigen; bei chronisch Kranken wird zuwei-
len durch das Erlernen eines neuen Métiers, an dem sie Freude ha-
ben, die Aufmerksamkeit auf die wohlthätigste Weise neu gefesselt. —
Den dürftigen Kranken erfreut ein kleiner Lohn seiner Arbeit und
gibt ihm oft bei seiner Genesung den ersten Schutz gegen Mangel;
die Kräfte des Reichen werden zum Besten der Anstalt und seiner
ärmeren Genossen in Anspruch genommen. Die Arbeit soll, wo im-
mer es der Gesundheitszustand gestattet, etwas Methodisches haben;
wenn aber einerseits die Kranken von einem unsteten Durchprobiren
aller möglichen Beschäftigungsarten abzuhalten sind, so ist noch mehr
jeder Character eines fabrikmässigen oder gar eines blos die pe-
cuniären Vortheile der Anstalt berücksichtigenden Geschäftsbetriebs
ferne zu halten. Die Genesung oder Besserung der Kranken muss
die einzige Rücksicht der Arbeit sein; Jedem ist nur das für ihn
Passende, und auch nur im rechten Zeitpuncte zuzumuthen und nur
der Müssiggang ist strenge fern zu halten.
§. 178.
An die Arbeit schliesst sich eine gesunde Uebung der Geistes-
kräfte auf ihrem eigenen Gebiete an und ein Hauptmittel hiezu ist
bei vielen Kranken der Unterricht. Er wird nicht gegeben, um
die Wahnvorstellungen des Kranken zu bekämpfen, etwa um ihm in
der Physik zu zeigen, wie unausführbar seine Projecte sind, sondern
gleichfalls um die Aufmerksamkeit von dem Krankhaften ab und auf
würdige, interessante und dem Kranken nützliche Dinge hinzuleiten.
Griesinger, psych. Krankhtn. 24
[370]Musik. Zerstreuungen. Besuche.
Er ist ein ernsteres Zerstreuungsmittel, durch welches ganz vernach-
lässigten Kranken allerdings auch die Elemente geistiger Bildung bei-
gebracht werden können. Wie alles, was das Gehirn erregt, darf
solche Beschäftigung nur eine verhältnissmässig kurze Zeit in An-
spruch nehmen; die Lehrobjecte sind nach Alter, Geschlecht und
Bildung verschieden, Elementar-Unterricht, Musik, Geschichte etc.
Solcher Unterricht kann mit Auswendiglernen verbunden, er kann als
ein wechselseitiger, indem sich der gebildetere Kranke des ungebil-
deten annimmt, mit Vortheil betrieben, und immer muss er durch
Gegenstand, Lehrer und Methode den Kranken anziehend gemacht
werden.
Von den Einwirkungen der Musik hat man sich manchmal zu
vieles versprochen; die durch sie erregten Stimmungen sind zu flüch
tig, um auf die Dauer der krankhaften Stimmung entgegenzutreten,
und die Musik hat nur dann eine die sonstigen Zerstreuungsmittel
übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken selbst mit Nei-
gung ausgeübt wird; gemeinsame Gesangübungen sind den Irrenan-
stalten höchlich zu empfehlen.
Ausserdem dienen zur Zerstreuung und Ableitung des Kranken
Gespräche, Lectüre, Spaziergänge, Spiele, Gesellschaft und heitere
Zusammenkünfte, Alles in höchst verschiedenen Modificationen nach
den Individualitäten.
Die Besuche bei den Kranken bedürfen — abgesehen von
jedem Ausschluss Neugieriger — immer einer besonderen Erwägung.
In den ersten Perioden und bei noch zunehmender Krankheit sind
Besuche der Angehörigen gewöhnlich schädlich, theils indem sie der
so häufigen Abneigung des Kranken gegen die Seinigen wieder
Nahrung geben und manche ihn irritirende Erinnerungen wieder
heraufziehen, theils indem sie die so höchst nothwendige Angewöh-
nung und Ergebung des Kranken an den Aufenthalt in der Irrenanstalt
hindern und ihm Heimweh erregen. Dagegen tragen in ruhigen Zei-
ten, bei wieder erwachenden gesunden Neigungen die Besuche vie-
les zur Aufklärung und Kräftigung des Kranken, noch mehr des be-
ginnenden Reconvalescenten bei; oft findet ein solcher durch einen
einzigen Besuch schnell die richtige Ansicht über sich selbst, seine
Krankheit und seine Stellung zur Welt wieder.
§. 180.
Die Hülfe der Religion bei der Irrenbehandlung ist nicht ge-
ring zu schätzen; die Handhabung dieses Mittels bedarf aber grosser
[371]Religion.
Vorsicht. Religiöse Erbauung darf keinem Kranken fehlen, der Ver-
langen und Bedürfniss darnach hat; es würde aber gegen einen er-
sten Grundsatz der psychischen Behandlung streiten, wenn man solche
Erbauung dem Kranken aufdringen und damit Interessen bei ihm in
Bewegung setzen wollte, die keine Grundlagen in seinem Herzen
haben; von völliger Unkenntniss mit dem Wesen und den Hergängen
dieser Krankheiten würde vollends die Idee zeugen, auf dem Wege
der religiösen Bearbeitung, der Besserung und Bekehrung das Irre-
sein direct heilen zu wollen. Alle solche Einwirkung kann nur den
Zweck haben, dem Kranken Beruhigung, Trost und Hoffnung zu ge-
ben, seine Aufmerksamkeit von den krankhaften Vorstellungen ab und
auf ein ernstes und bedeutendes Thema hinzurichten, die Denk- und
Empfindungsweise seines gesunden Daseins wieder zu beleben. Wie
weit der Versuch gehen soll, solche Zwecke durch diese Art psy-
chischer Einwirkung zu erreichen, darüber hat nur der Arzt zu ur-
theilen. Dieser wird niemals die grausame und ganz vergebliche Zu-
muthung dulden, dass dem Melancholischen zu seinem selbstquäle-
rischen Jammer hin noch das ernste Geschäft der Busse auferlegt
werde, oder dass verschüchterte und verzweifelnde Kranke auch noch
durch Drohungen mit der Hölle geschreckt werden. Schwermüthige,
Maniaci, wenn an ihnen nicht alle derartige Erregung gänzlich ab-
gleitet, und Verrückte bemächtigen sich zur Nährung ihrer Delirien
allzugerne der ihnen auf diesem Wege dargebotenen Vorstellungen.
Wird indessen bei der religiösen Einwirkung mit der nöthigen Vor-
sicht verfahren, werden nur diejenigen Seiten der Religion benützt,
die auf passende Weise zum Gefühle sprechen, und ist der Geist-
liche einsichtig genug, um den einzigen Zweck der Krankenheilung
im Auge zu haben, so sind regelmässige kirchliche Erbauungen für
beide Confessionen in den Anstalten höchst passend, und man sieht
sehr häufig, wie deren Besuch, ganz abgesehen vom Inhalte, dem
Kranken durch die Nothwendigkeit, sich eine Zeit lang äusserlich zu
sammeln, höchst wohlthätig wird.
Einzelne Irrenärzte haben verlangt, dass die ganze Psychiatrie eine speci-
fisch christliche sein soll. Allein es nehmen auch Juden die Hülfe des Irren-
arztes und seiner Wissenschaft in Anspruch, und da es kein abstractes, nur ein
confessionelles Christenthum gibt, so müsste es begreiflich eine eigene protestan-
tische, catholische etc. und wieder eine jüdische, heidnische Psychiatrie geben.
Es ist wohl möglich, dass auch Solches noch verlangt wird.
24 *
[372]Zwangmittel.
§. 181.
Die äusseren Beschränkungsmittel haben den Zweck, den
Kranken vor Schaden, den er sich selbst oder Andern zufügen könnte,
zu bewahren, ihm das laute Rasen und Toben, überhaupt solche
Aeusserungen seiner irren Triebe, in welchen diese selbst wieder
neue Nahrung finden können, unmöglich zu machen und so seiner
Selbstbeherrschung zu Hülfe zu kommen. Sie dienen ausserdem
überhaupt dazu, ihm eine äussere Gewalt, gegen welche sein eige-
nes Thun unmächtig ist, fühlbar zu machen, seinen Willen zu beu-
gen und Starrsinn und Widersetzlichkeit zu brechen. Die Mittel,
deren man sich hiezu bedient, dürfen nicht nur Nichts das Ehrge-
fühl des Kranken Verletzendes, nichts Zuchthausartiges (wie Ketten
und Schläge), sie dürfen auch Nichts die Phantasie Schreckendes ha-
ben, wie jene mannigfaltigen Zwangsapparate und Maschinerieen, deren
man sich früher, zum Theil bis in die letzten Jahre noch bediente *).
Man kann in den meisten Fällen mit der Zwangsweste, einem leine-
nen Camisol, das dem Kranken keinen oder nur einen sehr beschränk-
ten Gebrauch der Arme und Hände gestattet, ausreichen; für einzelne
Fälle mögen noch der Zwangsstuhl, ein gepolsterter Lehnsessel, auf
welchem der Kranke befestigt wird, oder weiche Sprungriemen, welche
ihm das schnelle Gehen und Laufen unmöglich machen, auch einige
Gürtel, um ihn im Nothfalle im Bette zu befestigen, dienen.
Ohne Zweifel war es der Missbrauch, welcher bis vor Kurzem
mit der Anwendung körperlichen Zwangs bei Irren getrieben wurde,
wodurch in den letzten Jahren in England das entgegengesetze Ex-
trem, die totale Verbannung aller mechanischen Beschränkungsmittel
aus der Irrenbehandlung, hervorgerufen wurde. Dieses Verfahren,
als System des No-Restraint bekannt, zuerst (1838) in der Anstalt
von Lincoln, später in Northampton, in Hanwell, in Lancaster, Suf-
folk, Gloucester u. a. O. ein- und durchgeführt, wird von der
einen Seite eben so sehr gepriesen, als von der andern seine Vor-
theile in Frage gestellt werden. An die Spitze der Gründe dafür
wird die grössere Humanität dieses Verfahrens und die leichtere Beruhi-
gung des Kranken, der durch mechanischen Zwang oft stärker irritirt
werde, gestellt; es wird behauptet, dass der Kranke dadurch mehr an
eigene Selbstbeherrschung gewöhnt und in seiner Selbstachtung ge-
hoben werde, dass dabei eigenmächtige Gewaltthätigkeiten der Wärter
[373]System des No-Restraint.
unmöglich seien; die Kranken jener Anstalten sollen seit der Ein-
führung des Systems ruhiger, geordneter und heiterer, die Heilungen
sollen dauerhafter geworden sein, und im Nothfalle, wird gesagt,
könne der Kranke ja eben so gut, als durch mechanische Mittel,
durch das Einschreiten von Wärtern beschränkt werden.
Es ist klar, wie diese Gründe zwar gegen den Missbrauch der
Zwangsmittel, aber noch nicht für ihre Verwerfung in allen Fällen spre-
chen. Mit Recht wurde auch schon in England gegen das System gel-
tend gemacht, dass die Beschränkungsmittel zwar immer für seltenere
Fälle aufzusparen, dann aber oft allein im Stande seien, einzelne
Kranke der Autorität des Arztes zu unterwerfen, und sie für sich
selbst und andere unschädlich zu machen. Mit Recht wurde darauf
hingewiesen, dass man eben bei Anwendung dieser Mittel den Kran-
ken selbst weit mehr Freiheit, namentlich Bewegung in frischer Luft,
gestatten kann, dass man ohne sie einer unverhältnissmässigen Wärterzahl
für einzelne Kranke bedarf, dass eine persönliche Bemeisterung durch
Menschenhand weit irritirender wirkt, als ein mechanisches Mittel,
dass eben hier Gewaltthätigkeiten von Seiten der Wärter, als ein-
gehaltene oder leicht überschrittene Nothwehr, kaum zu vermeiden
sind; endlich dass die Einsperrung in eine einsame Zelle, deren sich
das System des No-Restraint bedient, eben so gut ein mechanischer
Zwang, nur unter einer anderen, keineswegs besseren Form sei.
Es bedarf längerer, umfassenderer Erfahrungen, um diese Frage
definitiv zu entscheiden. Jedenfalls wird man es für einen Excess
der Philantropie (s. p. 342) halten dürfen, wenn in der Bekleidung
des Kranken mit dem Camisole etwas an sich Inhumanes gesehen
wird. Zieht man noch in Betracht, wie manche Kranke im Vorge-
fühl tobsüchtiger Anfälle selbst um äussere Beschränkung bitten, wie
man zuweilen von Anderen hören kann, der Tobanfall wäre leichter
und schneller vorübergegangen, wenn ihm mit ernsterer Beschrän-
kung entgegengetreten worden wäre, wie wenig von sonstigen, wirk-
lich ausführbaren Mitteln uns bei einzelnen zuchtlosen und gefähr-
lichen Kranken, ganz besonders aber bei einzelnen Fällen von Selbst-
mordtrieb zu Gebote stehen, so wird man die wichtigsten, practischen
Bedenken gegen das System nicht unterdrücken können. Und es
werden solche Zweifel wesentlich verstärkt durch den Bericht, wel-
chen (a. 1843) die mit der Untersuchung der englischen Irrenanstalten
beauftragte Commission dem Parlament erstattete, indem dort die un-
erfreulichsten Scenen grober Ruhestörung und Gewaltthat aus den
[374]Strafmittel.
Häusern, wo das No-Restraint eingeführt war, berichtet werden *), indem
ferner (nach Julius) die Zahl der Heilungen entschieden in keiner dieser
Anstalten vermehrt wurde. So können wir uns bis jetzt dem Urtheile
bedeutender vaterländischer Autoritäten im Anstaltswesen anschliessen,
welche sich ebensowohl im Interesse der Kranken selbst, als im
Interesse der Aufrechterhaltung von Ordnung, Ruhe und Zucht in
den Anstalten nachdrücklich gegen die vollständige Abschaffung der
mechanischen Beschränkungsmittel erklärt haben.
Es versteht sich, dass immer nur der Arzt, niemals der Wärter
auf eigene Autorität mechanische Repression über den Kranken ver-
hängen darf, dass sie immer auf’s Genaueste überwacht werden muss,
und dass diese Mittel nur für Nothfälle, wenn das mildere Verfahren
erschöpft ist, aufzusparen sind. Ihre Anwendung darf auch nicht den
Character einer Strafe, sondern immer den einer therapeutischen Mass-
regel haben. Als eigentliche Strafmittel dagegen, deren man bei ein-
zelnen widerspenstigen Kranken je und je bedarf, dient die Entziehung
gewohnter Genüsse, die Versetzung auf eine andere Abtheilung des
Hauses, und beim Bedürfniss einer noch stärkeren Einwirkung mit
bestem Erfolg die kalte Douche, wenn sie in dem sonstigen Gesund-
heitszustande durchaus keine Contraindication findet, als ein das Ehr-
gefühl des Kranken durchaus nicht verletzendes, und doch höchst
empfindliches und sehr gefürchtetes Mittel. —
Viertes Capitel.
Einzelne Modificationen der Therapie.
§. 182.
Die Anwendung der bisher erörterten Mittel und Methoden wird
zwar durch die verschiedene Form des Irreseins, an welcher der
Kranke leidet, zum Theil wesentlich modificirt; doch hat sich sowohl
die psychische als die somatische Behandlung ebensosehr, als nach
diesen Formen, nach der verschiedenen Individualität der Kranken,
nach den aufgefundenen sonstigen leiblichen Erkrankungen, die bei
allen Formen dieselben sein können, und wieder besonders nach der
Verschiedenheit der Stände, Charactere und geistigen Eigenthümlich-
keiten zu richten. — Für letzteres lassen sich kaum allgemeine Re-
geln aufstellen; was aber die Behandlung der verschiedenen Stadien
[375]Behandlung der Anfangsstadien.
des Irreseins, und namentlich zuerst der Periode der beginnen-
den Erkrankung betrifft, so ist hier vor Allem noch einmal an
die Nothwendigkeit eines möglichst frühen Einschreitens zu erinnern.
Zuerst freilich ist durch eine genaue Beobachtung des Kranken die
Diagnose sicher zu stellen. Bei noch sehr mässigen Symptomen ist
im ersten Anfang begreiflich oft nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
möglich, welche übrigens durch vorhandene erbliche Anlage, durch
gewisse vorausgegangene Ursachen u. dgl. wesentlich unterstützt wer-
den kann. Abgesehen von groben Missgriffen, z. B. der schon vor-
gekommenen Verwechslung eines typhösen Fiebers mit selbstständigem
Irresein, gebietet es kluge Sorgfalt für den Kranken, ihn bei dring-
lichem Verdachte auch gleich als Irre-Werdenden zu behandeln, da
ihm hieraus keinerlei Nachtheil, wohl aber unter allen Umständen
ein wesentlicher Vortheil entspringen kann. Denn in diesem Zeit-
raume besteht das Hauptverfahren in einer vollständigen Beseitigung
aller Krankheitsursachen und in genau individualisirten und sorgsam
durchzuführenden diätetischen Massregeln.
Hier hat die somatische Therapie ihre ausgedehnteste Anwen-
dung; von psychischer Seite hüte man sich bei leidenschaftlicher
Beschäftigung des Kranken mit widrigen Vorfällen und bei überhand-
nehmender Verstimmung vor allem tiefer eingehenden Raisonnement
darüber, vor allen dringlichen Ermahnungen, religiösen Bearbeitungen
u. dergl.; man versuche dagegen, seinen Schmerz durch Ablenkung
auf Anderes, sei es noch auf gesunde Thätigkeit, auf den Kreis ge-
wohnter Pflichten, oder auf milde erheiternde äussere Eindrücke zu
mässigen und seine sinkende Hoffnung durch mässigen, wohlwollen-
den Zuspruch zu stärken. Man muss dem Kranken weder die Zwei-
fel, die man über seine geistige Gesundheit hegt, noch eine directe
Beaufsichtigung zeigen, auch nicht neugierig nach den Gründen sei-
ner Veränderung in ihn dringen, weil er sonst misstrauisch und ge-
neigt zur Verstellung wird; er soll auch wenig allein bleiben, doch
ist es zuweilen gut, ihn auch allein und unbemerkt zu beobachten,
wo er sich oft in Selbstgespräch und Geberde frei gehen lässt. Wo
immer das Allgemeinbefinden es erlaubt, soll er nicht ganz müssig
sein, sondern einige vorsichtig gewählte Beschäftigung haben; nur ist
jede geistige Anstrengung auf’s Strengste zu vermeiden und demge-
mäss ist ein schleuniges Aufgeben des gewohnten Geschäfts oft die
erste Bedingung der Therapie.
In vielen Fällen aber bedarf man einer durchgreifenden Umänderung
aller Aussenverhältnisse; Ortsveränderung, Reisen, namentlich Fuss-
[376]Behandlung des ersten Stadiums.
und Badereisen, wenn die äussern Verhältnisse solche gestatten, sind
hier oft vom besten Erfolge. Nur bedenke man, dass alle rauschenden
Zerstreuungen dem Erkrankenden, der noch weniger als den gewohnten
Antheil an der Welt mehr nehmen kann, nur wehe thun, und dass er vor
Allem der Abhaltung aller heftigeren Eindrücke und aller Menschen,
welche nicht mit der Art seines Leidens vertraut sind, und der Ruhe
und Stille bedarf. Sehr vieles beim Gelingen oder Misslingen solcher
Massregeln hängt hier von der Geduld und Beharrlichkeit, mit der
sie ausgeführt werden, von den Aussenverhältnissen des Kranken und
von seiner Umgebung ab, in welcher namentlich verständige weib-
liche Hülfe oft von grossem Werthe ist. Der Arzt muss hier beson-
ders den so häufigen Irrthum der Angehörigen, als ob die psychische
Anomalie auf Eigensinn und Verstellung beruhe, beseitigen, er muss
ihnen über die Gefahr, in welcher der Kranke schwebt, und die Noth-
wendigkeit ungesäumten Einschreitens schonend, aber entschieden,
die Augen öffnen.
Daneben ist nun für eine zweckmässige Diät, für Vermeidung
aller Spirituosa, für reichliche Bewegung in freier Luft, für ruhigen
Schlaf, für die Offenerhaltung aller Secretionen zu sorgen. Alle
Symptome acuter oder chronischer anderweitiger Erkrankung (Men-
struation, Herz-, Darmkrankheiten etc.) müssen sorgfältig gewürdigt
und diese mit besonderer Berücksichtigung alles dessen, was Gehirn-
hyperämie erzeugen und unterhalten kann, unverdrossen und beharr-
lich behandelt werden. Wenn dabei zwar ein Excess schwächender
Behandlung strenge zu vermeiden ist, so ist doch auch gerade dieses
Anfangsstadium die Zeit, wo namentlich bei acuterem Verlaufe wohl
angebrachte Blutentziehungen den besten Erfolg haben können.
§. 183.
Auch bei einem stürmischeren Beginn und schnellem heftigem
Ausbruch der Krankheit lasse man sich nicht durch die blose Rück-
sicht auf momentane Beschwichtigung der auffallendsten Symptome
zu einem wenig überlegten Gebrauche von Mitteln verleiten, welche
für das Ganze der Krankheit von schädlichem Einflusse sein können
(z. B. profuse Aderlässe, Narcotica). Zu dem vorhin erwähnten Ver-
fahren muss hier nur eine vollständige Isolirung des Kranken, der
nun gar nicht mehr in der Welt leben kann, hinzukommen.
Die Melancholischen verschone man mit Zumuthungen, ihren
Schmerz zu unterdrücken, mit Bitten und vielen Vorstellungen; man
rede so wenig als möglich mit ihnen von ihrem eigenen Zustand und
[377]Behandlung der Melancholie, der Manie.
gar nichts von den Objecten ihres Deliriums, man lasse sie auch
nicht viel klagen und mehr als viel tröstendes Zusprechen nützt
hier ein kurzes, etwas strenges Verfahren, das zuweilen sogar den
Anschein einiger Härte haben darf. Man sehe dabei auf äussere
Ordnung, lasse den Kranken regelmässig aufstehen, etwas arbeiten,
spazieren gehen etc.; seine harmlosen Wünsche erfüllt man mit
Aufmerksamkeit, jedem gesunden Interesse, das sich zeigt, kömmt
man entgegen, und nur dem Krankhaften in ihm leistet man Wider-
stand. Bei Anfällen von grosser Angst und Unruhe ist eine active
Repression nicht passend; man wartet solche am besten unter vieler,
genau beaufsichtigter Bewegung im Freien, unter der Anwendung von
Bädern etc. ab. Dabei finden aus der somatischen Therapie oft die
Mittel gegen Darmcatarrhe, zuweilen Emetica, öfter die mässigen La-
xanzen, mit oder ohne bittere Mittel, eine passende Anwendung, in
andern Fällen sind Digitalis, Elix. acid. H., Tonica, Chinin, die Local-
behandlung der schmerzhaften Wirbelsäule u. dergl., bei den stupid
Melancholischen Drastica und starke äussere Hautreize, Vesicatore,
Brechweinstein-Salbe indicirt.
In der Manie ist vollends eine totale Entfernung aus der frü-
heren Umgebung unerlässlich. Der Tobsüchtige, welcher alle Rück-
sichten des geordneten Lebens vergessen hat und die widrigsten und
gefährlichsten Auftritte veranlassen kann, der Wahnsinnige, der durch
den Widerstand, den seine ausschweifenden Unternehmungen und
Forderungen finden, bald erbittert wird, können nur in einer Irren-
anstalt ertragen und vor allem nur dort geheilt werden. Auch in
den Anstalten bedürfen diese sehr aufgeregten Kranken im Durch-
schnitt einer strengen Isolirung, Einzelne bedürfen vollständiger äus-
serer Ruhe und Stille, sogar vollständiger Abhaltung des Lichtes, an-
dere beruhigen sich eher, wenn man sie in grösseren überwachten
Räumen, am besten im Freien der Explosion ihrer Stimmungen über-
lässt. Uebrigens muss man der äusseren Aufregung nicht alsbald
mit Zwangsmitteln, noch weniger mit Ermahnen und Predigen ent-
gegen treten. Am besten ist es, das Reden und Schreien solcher
Kranken unbeachtet zu lassen und die Ausbrüche der Stimmung, nur
wo sie gefährlicher Art sind, oder wo sie rückwärts zu einer neuen
Quelle stürmischer innerer Erregung werden, durch Zwangsmittel zu
beschränken, die dann aber kurz und schnell ohne vieles Reden und
Streiten applicirt werden. — Man muss den Kranken das Zulässige ge-
statten, aber den ausschweifenden Forderungen nicht nachgeben und
sich den kranken Wünschen nicht in der Art der Laien, welche sich
[378]Behandlung der chronischen Formen.
von solcher Befriedigung oft sehr viel für die Genesung versprechen,
allzugefällig zeigen. In einzelnen Fällen allerdings, namentlich, wenn
man von früheren Anfällen her vermuthen darf, dass solche begehrliche
Stimmungen nur kurz dauern, ist es oft besser, auch unnöthige
Forderungen zu befriedigen. Sehr zänkische, widersetzliche Kranke
müssen, wenn auch schonend, um jeden Preis unterworfen werden;
Nachgiebigkeit erhöht ihre Ansprüche und erweckt den Glauben, dass
sie dem Arzte imponiren. Bei noch grösserer äusserer Besonnenheit
kann man dem Kranken sagen, dass er krank sei, und kann ihn auf
das Anomale seines Thuns und Treibens aufmerksam machen; wo es
der Kranke vermag, muss er zu geordnetem Verhalten und später zu
einiger Beschäftigung angehalten werden. — Man lässt solche Kranke
viel trinken, Bäder in oben angegebener Weise gebrauchen; man ver-
ordnet je nach Umständen Blutegel, Schröpfköpfe, innerlich Digitalis,
kleine Gaben Tartarus emeticus, Abführmittel, selten (ausgenommen
beim Delirium tremens) Narcotica. Die Hautreize thun den exaltirten
Kranken selten gut, und man hat sich hier im Allgemeinen vor einem
zu viel geschäftigen Eingreifen, als ob nur die äussere Beruhigung
der Zweck der Behandlung wäre, wohl zu hüten.
Schwierig sind alle näheren Bestimmungen über das Verhalten
bei den verschleppten chronischen Formen von Manie und Me-
lancholie, welche in Verrücktheit übergehen; jeder Fall muss wieder
anders behandelt und die somatische und die psychische Therapie
nie zu frühe aufgegeben werden. Durchgreifende Umänderungen des
ganzen körperlichen Befindens, welche das Irresein zuweilen noch
günstig modificiren, sind sorgfältig zu überwachen. Die Hauptsache
aber ist, die Spontaneität des Kranken wieder zu erregen; diesen Er-
folg hat zuweilen noch eine neue völlige Umänderung aller Aussenver-
hältnisse, z. B. die Versetzung in eine andere Anstalt, sogar eine
versuchsweise Entlassung nach Hause. In andern Fällen kann solches
durch jene (p. 366) zwangsweise Zurückdrängung aller kranken Aeusse-
rungen mit gewaltsamer Hinleitung auf gesunde Handlungen und
Neigungen erreicht werden.
Bei ausgebreiteter Verrücktheit und bei Blödsinn handelt
es sich nur davon, den Kranken durch Arbeit, strenge Ordnung,
Zucht und Reinlichkeit vor tieferem leiblichem und geistigem Ver-
sinken zu bewahren und seine Existenz durch wohlwollende freund-
liche Behandlung, durch Gestattung alles des Lebensgenusses, dessen
er vermöge seiner Krankheit noch fähig ist, so günstig als möglich
zu gestalten.
[379]Behandlung einzelner Symptome.
Für den paralytischen Blödsinn gibt es keine Therapie.
Einzelne Beobachter wollen vom Glüheisen, andere von der metho-
disch und lange fortgesetzten Anwendung trockener oder nur ein
Minimum von Blut entleerender Schröpfköpfe im Nacken einzelne
spärliche Erfolge gesehen haben. Strengste Reinlichkeit (übrigens
mit Ausschluss aller Bäder), gewählte kräftige Diät, am Ende nur aus
weichen und halbflüssigen Speisen bestehend, vor Allem reine Luft
und möglichster Aufenthalt im Freien, im Uebrigen alle Sorgfalt, die
dem zarten Kindesalter nothwendig ist, sind das Einzige, was das
Leben dieser Unglücklichen noch verlängern und erträglicher ma-
chen kann.
§. 184.
Bei auffallenden Hallucinationen werde das betreffende Sinnes-
organ genau untersucht, unter Umständen das Ohr durch Injectionen
gereinigt, und man kann hier einzelne Versuche mit Abhaltung der
Sinnesreize, mit Blutegeln, Ableitungen auf die Haut, Datura etc.
machen.
Auch bei Nahrungsverweigerung muss zuerst die Mundhöhle
untersucht werden, da jene zuweilen durch Entzündung der Schleim-
haut, durch Angina und dergl. veranlasst werden kann; ist nichts solches
aufzufinden, so suche man den Kranken gleichfalls nicht durch vieles
Zureden, sondern durch Vorsetzen gewählter Speisen, die man ihm
einsam überlässt und stillschweigend wieder wegnimmt, manchmal
auch durch Beispiel von seinem Entschluss abzubringen. Gelingt es
nicht bald, so schreite man nach einer kurzen Aufforderung ganz
ruhig zur Anwendung von Zwangsmassregeln, indem man ihm anfangs
die Speisen, nöthigenfalls mit Zuhalten der Nase einfach aufnöthigt,
bei noch grösserer Hartnäckigkeit die Schlundsonde anwendet. Bei
lange dauernder Speiseverweigerung nehme man übrigens zuerst keine
reizenden Flüssigkeiten, wie Wein und dergl., sondern milde Sub-
stanzen, Milch, Bouillon etc.
Der Hang zur Masturbation ist höchst schwierig radical zu
beseitigen, und doch gelingt kaum eine Heilung während seiner Fort-
dauer. Die mechanischen Vorrichtungen erreichen ihren Zweck sel-
ten vollständig; die Hauptsache ist die genaueste Aufsicht auf den
Kranken, der keinen Augenblick allein sein darf, Arbeit oder
Spaziergänge bis zur Ermüdung, etwas knappe Kost, kühle Bäder, ein
hartes Lager, bei Einzelnen die consequenteste Strenge. Die Ursachen
dieser Gewohnheiten bedürfen oft einer arzneilichen Behandlung;
[380]Behandlung einzelner Zufälle.
Ascariden sind wohl zu berücksichtigen; die Jodmittel, von denen
man einzelne Erfolge gesehen hat, dürften da am Platze sein, wo
der sexuelle Reiz durch chronische Irritation und Entzündung der
Urethra gesteigert wird; die von Ellis empfohlenen Canthariden halten
wir für gefährlich.
Die geschärfteste Aufmerksamkeit erfordert die Neigung zum
Selbstmord. Höchst selten (p. 196) kann ihm eine medicinische
Behandlung begegnen; gewöhnlich muss man sich auf stete Ueberwa-
chung, auf Entfernung aller Werkzeuge, Stricke, Bänder etc. be-
schränken, und diese Beaufsichtigung muss um so strenger sein, je
listiger solche Kranke oft ihr Vorhaben in einem einzigen unbewachten
Augenblick, ja sogar in Gegenwart von Wärtern, z. B. durch Stran-
gulation im Bette, auszuführen wissen.
Gefährlichen, besonders bewaffneten Kranken zeige man eine
ungetrübte Besonnenheit; die häufig hinter dem lauten Toben ver-
steckte Aengstlichkeit und der Rest von Bewusstsein des Rechts und
Unrechts kommen hier dem Muthigen zu Hülfe. Die Entwaffnung
gelingt meist besser mit List als mit offener Gewalt, und man er-
zählt sich manche Fälle, wo weibliche Schlauheit dem Wüthenden
das Messer spielend aus der Hand rang.
Ein junger Mensch, der mehre Monate ruhig gewesen war, ward plötzlich
von einem Anfall seiner Raserei befallen. Er schlich sich in die Küche und
nahm das Instrument zum Hacken der Kräuter weg. Den Leuten, die ihn an-
greifen wollten, widersetzte er sich, sprang auf einen Tisch und drohte jedem
den Kopf einzuschlagen, der sich ihm nähern würde. Die Frau des Oberaufsehers
Pussin schalt die Leute, dass sie den Kranken hindern wollten, mit ihr zu ar-
beiten, redete ihm sanft zu, nur zu ihr zu kommen und zeigte ihm, wie er sein
Instrument gebrauchen müsste. In diesem Augenblick griffen die Leute zu, ent-
waffneten ihn und brachten ihn in Verwahrung (Reil Fieberlehre. IV. p. 588).
Einige Kranke geriethen im Garten in Streit, einer fasste ein Messer und
drohte, seinen Gefährten umzubringen. Madame Ellis kam hinzu und sagte zu
ihm, sie müsse sich sehr wundern, wie ein Mann von seinem Verstand und sei-
ner Stärke sich so weit vergessen könne, dass er sich mit einem Kranken zanke,
der doch bekanntlich schon mehre Jahre geistesverwirrt sei. Diese Worte
schmeichelten der Eigenliebe des Wüthenden, er erwiederte: „Sie haben Recht,
ich werde diesen Menschen nicht weiter beachten,“ und wurde alsbald völlig ru-
hig. (Ellis, traité p. Archambault. p. 311.)
Ein sehr starker und heftiger Kranker hatte Gelegenheit gefunden, sich eines
3 Fuss langen eisernen Hebels zu bemächtigen, und drohte jeden, der ihm nahe
komme, zu ermorden. Wärter und Kranke zogen sich zurück, er blieb allein
in der Gallerie, wo sich ihm Niemand zu nähern wagte. Nach einer Weile trat
ich allein hinein; ich liess den Thürschlüssel auf dem Händerücken balanciren,
trat ihm ganz langsam näher, und sah ihn aufmerksam an, was seine Aufmerk-
samkeit erregte. Er kam auf mich zu und fragte, was ich mache. Ich erwie-
[381]Behandlung in der Reconvalescenz.
derte ihm, ich versuchte den Schlüssel zu balanciren, und bemerkte dabei, er
würde dasselbe mit dem Hebel nicht thun können. Er versuchte es sogleich,
streckte die Hand aus und stellte den Hebel darauf; ich nahm diesen nun ganz
sanft herunter, ohne ihm etwas Weiteres zu bemerken. Wiewohl es ihm unan-
genehm schien, sich entwaffnet zu sehen, machte er doch keinen Versuch, seine
Waffe zurückzunehmen, und wenige Augenblicke nachher war jede Spur von Auf-
regung verschwunden. (Ellis, traité p. 311.)
§. 185.
Die Periode der Reconvalescenz bedarf noch vieler Schonung
und Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst
weichen und reizbaren Gemüthsverfassung, die letzten Reste falscher
Vorstellungen verschwinden oft erst spät und es bedarf oft noch einer
längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er soll
daher erst nach möglichst consolidirter, geistiger und leiblicher Ge-
sundheit, meist erst einige Monate nach dem Eintritt der Reconva-
lescenz, aus dem Irrenhause entlassen werden, und es sollte diese
Entlassung, wie diess in einzelnen Musteranstalten auch eingeführt
ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der Kranke
bei drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der
Anstalt wieder übergeben werden kann.
Stellt sich in der Reconvalescenz grosse Abspannung und Ermü-
dung ein, so darf solche nicht mit Reizmitteln bekämpft werden; man
sorge für Ruhe, passende Diät, viele Bewegung im Freien, für all-
mählige Selbstthätigkeit. Im Uebrigen aber gestatte man dem Gene-
senen grössere Freiheit und zunehmenden Verkehr mit der Welt, in
dem Masse, als Lust und Fähigkeit dazu sich wieder einstellen. Er
muss an eine passende Beschäftigung gewöhnt, in heitere Umgebung
gebracht werden; alle Gemüthsbewegungen müssen von ihm ferne ge-
halten oder doch schonend geleitet, durch verständigen Zuspruch, der
hier am Platze ist, muss ihm eine klare Erkenntniss seiner Krankheit
verschafft, durch Uebung seiner Kräfte, durch das Beispiel Anderer,
auch durch den Trost der Religion, Muth und Selbstvertrauen in ihm
gehoben werden. Rathschläge für die Zukunft zu einfacher Lebens-
weise, geeigneter Thätigkeit, zu Allem, was ihn vor Rückfällen be-
wahren kann, sind hier am Platze. Für manche Fälle passen dann
Zerstreuungen, Reisen oder Badekuren; andere finden nur in baldiger
Rückkehr in den engeren Kreis ihres Berufs und ihrer Familie die
vollständige Genesung wieder. Mancher kehrt vernünftiger, als er je
gewesen, aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich von dem
oft so innerlich gekräftigten, so dankbaren und frohen Genesenen
[382]Die Irren-Anstalten.
immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die Kälte seiner Um-
gebung oder gar den Spott niedrigdenkender Menschen für immer
ferne zu halten!
Fünftes Capitel.
Die Irren-Anstalten.
§. 186.
Den früheren Zeiten war der im Grossen durchgeführte Zweck
der Irrenheilung unbekannt. In der einzigen Rücksicht, die Gefahren
zu beseitigen, welche das freie Umhertreiben der Geisteskranken für
die Gesunden und für die öffentliche Ordnung hatte, wurde ein Theil
von ihnen theils in Hospitälern, theils in Zucht- und Arbeitshäusern,
meist in den schlechtesten und verborgensten Räumen, zusammen-
gesperrt. An ihre Behandlung als Kranke dachte man nicht, und
den Zweck, sie unschädlich zu machen, führte man meist, veranlasst
durch das Vorurtheil ihrer unmässigen Körperkraft, mit den rohesten
Mitteln aus. Hinter dicken Balken und Eisenstangen, oft noch mit
Ketten beladen, liess man die Unglücklichen in Jammer und Schmutz
verkommen; unter Martern und Schlägen musste das Menschliche in
ihnen selbst untergehen; wer einmal den Fuss über die Schwelle
jener Tollhäuser gesetzt hatte, war als ein für immer Verlorener zu
betrachten. Diese Schicksale trafen die Irren an manchen Orten
noch bis in die neueste Zeit; noch im Jahr 1833 klagte Ferrus, dass
man in einigen französischen Provinzialstädten die Irren noch in
Käfige eingesperrt finde, und noch sieht man an einzelnen Orten
solche massive Elephantenställe, vor denen die stupide Neugier
steht, um den Narren zu reizen und seine Flüche zu verspotten.
In die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt die Errichtung der
ersten Anstalt, welche ausdrücklich und ausschliesslich den Heilzweck
verfolgen sollte, St. Lucas in London, lange das einzige Beispiel des
erwachenden menschlicheren Sinnes für die Irren. Ihr folgte später
die Errichtung der Anstalt für geisteskranke Quäcker bei York; auf
dem Continent war erst Pinels Wirken für die Verbesserung des
Looses der Irren entscheidend. Angeregt von den grossen huma-
nistischen Ideen seiner Zeit, setzte er, eben während der stürmischen
Tage der Revolution und Anfangs nicht ohne Gefahr für seine eigene
Existenz, dicht vor den Thoren von Paris, in Bicêtre, seine grossen
[383]Historisches.
friedlichen Reformen durch, die er damit begann, den Irren die Ket-
ten abzunehmen *). Pinels Bestrebungen wurden zum Beispiel und
Anstoss für die Umgestaltung der ganzen Irrenbehandlung. Das Ver-
dienst derselben in Deutschland hat vorzüglich Langermann, und der
Umschwung der Ansichten war schon ein so bedeutender, die Aner-
kennung der Heilbarkeit und Heilbedürftigkeit des Irreseins war schon
so weit, dass Langermann zuerst practisch und nachdrücklich auf
Errichtung eigener Heilanstalten und deren gänzliche Geschiedenheit
von den Anstalten für Unheilbare dringen konnte. Die erste deutsche
Heilanstalt, in welcher die neuen Ideen durchgeführt und in der Aus-
übung vervollkommnet wurden, war der Sonnenstein in Sachsen unter
der Leitung von Pienitz, welcher als Pflegeanstalten Anfangs Wald-
heim, später Colditz zur Seite standen. Diesen ersten, durchaus ge-
lungenen Versuchen im Anstaltswesen folgte allmählig in Deutschland
die neue Errichtung oder völlige Umgestaltung der öffentlichen An-
stalten von Schleswig (1820), Siegburg (1825), Heidelberg (1826),
Prag (1826), Hildesheim (1827), Leubus in Schlesien (1830), Hall in
Tyrol (1830), Sachsenberg in Mecklenburg-Schwerin (1830), Winnen-
thal und Zwiefalten in Würtemberg (1834), Marsberg in Westphalen
(1835), Illenau in Baden (1840), denen sich noch viele andere,
kleinere oder weniger bekannte und mehrere zum Theil noch nicht
vollendete Anstalten (Eberbach, Halle, Erlangen) aus der neuesten
Zeit anschliessen.
Mit der Einrichtung solcher zweckmässiger Anstalten ist in den letzten
30 Jahren in den meisten Ländern wirklich Ausserordentliches für die Irren-
therapie geleistet worden. Namentlich in Deutschland waren, während sich die
theoretische Psychiatrie fast ganz abstrusen Discussionen hingegeben hatte, (ob
[384]Heil- und Pflege-Anstalten.
das Irresein auf Sündhaftigkeit beruhe! ob bei den Irren der Körper oder die
Seele erkrankt sei! etc.) die practischen Bestrebungen fast ganz und mit den
besten Erfolgen auf das Anstaltswesen gerichtet. Die literarische Behandlung
dieser practischen Fragen ist freilich durch die ungemeine Pedanterie, mit wel-
cher alle Kleinigkeiten des Anstalts-Wesens, als ob es die ersten Principien-
fragen gälte, debattirt werden, eine höchst verdriessliche geworden, und das
Interesse ward durch die Richtung auf diese Bagatellen zum Theil von den
wichtigsten Punkten der Psychiatrie abgelenkt; indessen wird man hier Manches
mit der Neuheit der Sache entschuldigen und immer ehrend und dankbar die Be-
mühungen anerkennen müssen, durch welche in so kurzer Zeit so bedeutende
Resultate herbeigeführt wurden.
§. 187.
Vom Beginn der Reformen an fasste besonders in Deutschland
die Ueberzeugung Wurzel, dass die erste Bedingung des Gelingens
der Curzwecke die Trennung der heilbaren von den unheil-
baren Irren sei. In der That erweist sich eine Durcheinander-
mischung der frischen Fälle mit den unheilbaren, ganz verkommenen,
vollends gar mit epileptischen Irren oder mit Cretinen nicht nur durch
den höchst üblen Einfluss nachtheilig, den schon der Anblick dieser
Versunkenen auf die Neuerkrankten macht; es bedürfen beide Classen
von Irren auch in Manchem verschiedener Einrichtungen zu ihrer
Pflege, und es wird natürlich hei solcher Vermischung der Raum der
Anstalt von den Unheilbaren allmählig ganz ausgefüllt, so dass es
bald gar nicht mehr zur Aufnahme frischer, eben recht heilbarer Fälle
kommen kann. Während man in einzelnen ausländischen Anstalten,
z. B. der Salpetrière, aus solchen Gründen verschiedene Abtheilungen
einer Anstalt für die zu activer Behandlung geeigneten und für die
ganz chronischen Fälle bestimmte, nahm man Anfangs in Deutsch-
land, wie auch mehrfach in England, das Princip der Errichtung
ganz getrennter, besonderer Anstalten für heilbare und unheilbare
Fälle an (Sonnenstein, Siegburg, Leubus, Winnenthal). Man fand sich
zu dieser Einrichtung besonderer Heil- und Pflege-Anstalten
durch mehrfache Gründe veranlasst. Man wollte oder konnte die
neuen, mit beträchtlichen Kosten verbundenen Reformversuche im
Anstaltswesen zuerst vorzugsweise für einen Theil der Irren, für die
Heilbaren, in Anwendung bringen; man richtete desswegen für die-
selben ganz neue Anstalten ein, während man die alten, bestehenden
Irrenhäuser, welche sich als ganz ungenügend zur Verfolgung von
Heilzwecken auswiesen, doch noch mit passenden Veränderungen zu
blossen Bewahranstalten brauchen konnte. Man gewann die Einsicht,
[385]Relativ-verbundene Anstalten.
dass die Einrichtungen für Aufnahme Unheilbarer zum Theil wesent-
lich andere sein müssen, als die für die Heilung frischer Fälle, in-
dem dort Alles für einen Aufenthalt auf Lebensdauer, hier nur für
ein vorübergehendes Verweilen der Kranken berechnet sein muss;
es war auch — ein wichtiger Punct bei den allgemein verbreiteten
Vorurtheilen — weit eher eine Anerkennung der Heilbarkeit des Irre-
seins in der öffentlichen Meinung durchzusetzen, wenn eigene Heil-
Anstalten mit verhältnissmässig häufigen und schnellen Genesungen
errichtet wurden.
Man hatte bisher Ursache, mit den Resultaten dieses Systems
überall da zufrieden zu sein, wo zwischen der Heil- und der Pflege-
Anstalt ein richtiges Verhältniss der Bewohnerzahl bestand, wo beide
in der Fürsorge des Staats eine gleich hohe Stelle einnahmen, und
für beide eine gewisse Einheit in der obersten Leitung bestand; unsers
Wissens waren es auch nicht wirklich gemachte Erfahrungen von be-
trächtlichen Mängeln dieses Systems in Bezug auf Heilung und Ver-
pflegung der Irren, was in den neuesten Zeiten dazu führte, seine
Zweckmässigkeit wieder in Frage zu stellen und Heilbare und Unheil-
bare wieder auf demselben Boden zu vereinigen; äusserliche Gründe
scheinen uns hauptsächlich zur theoretischen Vertheidigung und mehr-
fachen practischen Ausführung dieser Wiedervereinigung geführt zu haben.
§. 188.
Als man nämlich in neuester Zeit anfing, für die Irrenanstalten
nur noch eigene Neubauten für passend zu halten, erschrak man in
vielen Ländern vor der kostspieligen Aussicht auf mehre grosse,
gleichzeitige Bauwesen, mehrfache Einrichtung und ein mehrfaches
irrenärztliches Personal. Da man aber doch nicht zur Vermischung
aller Irren zurückkehren konnte, die Irrenärzte vielmehr auf dem
Grundsatz vollständiger Trennung der Heilbaren und Unheilbaren be-
standen, so kam man auf die Idee und an einigen Orten zu der Aus-
führung zweier selbständiger und vollkommen in sich abgeschlossener
Anstalten, welche aber auf demselben Gebiete beisammen liegen,
unter derselben ärztlichen Leitung stehen und viele öconomische Ein-
richtungen und Baugelasse (Kirche, Oeconomiegebäude, Küche, Bä-
der etc.) gemeinsam haben. Für dieses System der grossen soge-
nannten relativ verbundenen Anstalten sollte nicht nur, wie in
Berlin bewiesen wurde, Hegels Logik sprechen, sondern es wurden
ihm viele, zum Theil wirkliche und sehr beachtenswerthe Vortheile
vindicirt.
Griesinger, psych. Krankhtn. 25
[386]Gründe für und gegen Trennung
Es ist, wo Neubauten errichtet werden sollen, ohne Zweifel das
minder kostspielige, indem, wie bemerkt, hier manche Gebäude und
Einrichtungen für beide Anstalten gemeinsam sind, also nur einmal
da zu sein brauchen, indem viele Kranke unter Einer Verwaltung
vereinigt sind, und weniger Personal an Aerzten und Beamten erfordert
wird, indem ferner eine solche Anstalt sich eher durch ihre eigene
Production und Arbeit, welche hauptsächlich von den Bewohnern der
Pflegeanstalt geschieht, also mit geringerem Staatszuschuss erhalten
kann. Als weitere Gründe für solche Vereinigung werden angeführt,
dass die Bestimmungen über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit höchst
schwankend und unsicher seien *), dass in der relativ verbundenen
Anstalt der Kranke in allen Stadien seines Irreseins von demselben
Arzte beobachtet und seine Krankheit bis an ihr Ende verfolgt werden
könne, dass dabei die Aufnahmen, ungestört durch Verhandlungen über
die Wahl der passenden Anstalt, die sich sonst auf die Prognose stützen
muss, beschleunigt werden, dass solche Anstalten einen leichten
Ueberblick über die ganze Irrenanzahl eines Landes oder einer Pro-
vinz gewähren, dass die für unheilbar Gehaltenen nöthigenfalls sehr
leicht wieder in die Heilanstalt zurückversetzt werden können, wäh-
rend dagegen die Versetzung der Kranken aus der Heil- in die Pfleg-
Anstalt nicht nur umständlich und kostspielig, sondern auch für den
Kranken und seine Angehörigen sehr hart und niederschlagend, und
eine Rückversetzung in die Heilanstalt beim etwaigen Wiedereintritt
günstigerer Aussichten kaum mehr thunlich sei.
Allein die Pflegeanstalten dürfen keine Orte sein, denen das
„Lasciate ogni speranza“ an die Stirne geschrieben ist; sie müssen,
wiewohl durchaus für veraltete, chronische Fälle eingerichtet, doch
in der Persönlichkeit des Arztes und in ihren äusseren Verhältnissen
immer noch die Mittel bieten, welche die in einzelnen, seltenen
Fällen wiederkehrende Hoffnung auf Genesung erfordert. In der That
genesen auch in den Pflegeanstalten von Zeit zu Zeit noch einzelne
Kranke, und zwar ohne Démenti für die Heilanstalt, welche mit der
Uebergabe solcher einzelner Kranken nur sagen wollte, dass eben
sie dem Kranken nichts mehr zu gewähren vermöge, wohl aber viel-
[387]oder Vereinigung der Anstalten.
leicht andere ganz neue Verhältnisse (S. p. 380) ihm noch nützlich
werden hönnen. Mit Zeller halten wir den Vortheil einer solchen
Versetzung der Kranken in eine ganz andere Anstalt für nicht gering,
und es wird diese Ansicht durch die günstigen Erfahrungen, die man
neuerlich in Frankreich bei den im Grossen vorgenommenen Kranken-
Translocationen gemacht hat, durchaus bestätigt *). Derselbe Arzt
führt noch als wichtige Gründe gegen diese Vereinigung an: den
Mangel an einer vollkommenen Uebersicht und einer individuellen
Behandlung bei einer so grossen Menge von Kranken unter Einer
ärztlichen Oberaufsicht, die Ueberhäufung des ärztlichen Vorstands
mit einer Masse amtlicher, aber zunächst nicht zum Krankendienst
gehöriger Geschäfte, die grössere Störbarkeit einer so complicirten,
vieler Hülfsorgane bedürfenden Einrichtung, die Gefahr einer Ver-
nachlässigung der unheilbaren Kranken über den für das ärztliche
Geschäft weit dankbareren heilbaren, endlich den üblen Einfluss, den
der Anblick vieler abgestorbener und hoffnungsloser Kranken, ja schon
das Bewusstsein der Nähe so vieler Unheilbaren auf die Neuerkrank-
ten haben kann.
Man muss die Vorzüge des einen und des andern Systems nicht
mit apriorischen Gründen ins Allgemeine beweisen; bei der Einrich-
tung des Irrenwesens in einem Staate oder in einer Provinz kommt
sehr viel auf die Bewohnerzahl des Landes, auf die Zahl der vor-
handenen Irren, auf die Möglichkeit, schon vorhandene Gebäude zu
benützen, auf die Geldmittel, über die man disponiren kann, auf be-
sondere Zwecke, die man etwa mit der Anstalt verbinden will
(z. B. clinischen Unterricht) an, und das meiste hängt am Ende doch
von der Art der Ausführung und von dem Geiste ab, den das Ganze
durch die leitenden Persönlichkeiten gewinnt. Neben den grossen,
relativ verbundenen Anstalten braucht man immer noch besondere
Pflegehäuser für Cretins, Epileptische u. dgl.; bei der Trennung bei-
der Anstalten muss die Pflegeanstalt wenigstens die dreifache Be-
wohnerzahl der Heilanstalt fassen (3 — 400: 100). Ueberhaupt
können und müssen die Pflegeanstalten gross sein; für die Heilan-
stalten ist die Möglichkeit eines schnellen Abflusses aller als unheilbar
Erkannten ein Haupterforderniss. Wo aber diesem genügt ist, wo
die Heilanstalt wirklich lauter in activer Behandlung befindliche Kranke
25*
[388]Allgemeine Erfordernisse
enthält, da kann deren Zahl höchstens 80—100 betragen, indem
von Einem Arzte kaum noch diese Zahl genau beobachtet und streng
individuell behandelt werden kann. Desshalb würden wir uns, wo
der Staat freigebig die Geldmittel gewährte, für das in neuerer Zeit
vorgeschlagene System grosser, centralisirter Pflegeanstalten, aber
kleiner, in verschiedenen Provinzen eines Landes zerstreuter Heil-
anstalten entscheiden, durch welche von verschiedenen Puncten aus
das Vertrauen zur Irrentherapie verbreitet, die Aufnahme sehr er-
leichtert und daher die Uebergabe namentlich der frischen Fälle,
welche vom allergrössten Werthe ist, gefördert wird.
§. 189.
Denn, wenn es sich weiter von den allgemeinen Erforder-
nissen für eine Irrenanstalt handelt, so möchten wir in erster Linie
ihre leichte Benützbarkeit für die Kranken und die Beförderung
der Aufnahme frischer Fälle nennen. Dieser Zweck wird eines Theils
durch medicinal-polizeiliche Vorschriften, durch Erlassung aller un-
nöthigen und zeitraubenden Formalitäten, durch mässige Verpflegungs-
kosten oder völlig freie Verpflegung armer Kranken, durch das Ver-
trauen, das sich die Anstalten selbst erwerben, erreicht; anderntheils
wird er dadurch gefördert, dass in grösseren Ländern die Anstalten
mehr in verschiedenen Landestheilen zerstreut sind. Uebrigens
müssen sich die Irrenanstalten selbst durch ihre Einrichtungen und
durch den in ihnen herrschenden Geist empfehlen. Diese Einrich-
tungen und dieser Geist müssen nicht nur im Allgemeinen den
humanen Ideen der neueren Zeit entsprechen, sie müssen auch —
und hierauf ist vor allem zu dringen — durchaus ärztliche sein.
Jede Anstalt ist nichts Anderes, als ein Hospital für Gehirnkranke;
jede, ganz besonders aber die Heilanstalten, müssen durchaus den
Charakter eines Krankenhauses, und nicht etwa den eines Besserungs-
Instituts, einer Fabrik, oder gar eines Gefängnisses darbieten. Hie-
mit ist zugleich gesagt, dass die Anstalt durchaus unter ärztlicher
Leitung stehe, dass also die Direction in den Händen des ersten
Arztes sein muss, der mit einer gewissen Unumschränktheit alle son-
stigen Kräfte zum Besten des Ganzen verwendet, aber auch, dass
die Irrenärzte wirkliche Aerzte, und nicht etwa Moralisten, welche
sich zugleich etwas mit Medicin beschäftigen, aber zu jeder Unter-
suchung ihrer Kranken der Beihülfe eines weiteren Arztes bedürfen,
sein sollen.
Die Eigenthümlichkeit der in der Irrenanstalt behandelten Krank-
[389]der Irren-Anstalten.
heiten bringt es nun mit sich, dass derselben eben nicht nur alle
Mittel der gewöhnlichen Medicin (Pharmaceutisches, Bäder etc.) zu
Gebote stehen müssen, sondern dass sie zugleich alle Einrichtungen
besitzen muss, nicht nur um den Kranken vor Beschädigung seiner
selbst oder Anderer abzuhalten, und ihn, nöthigenfalls durch äussere
Gewalt, der ärztlichen Behandlung zu unterwerfen, sondern auch um
ihm in Bezug auf Verpflegung, Bewegung in freier Luft, Arbeit, Auf-
heiterung und Unterhaltung alles Nöthige darzubieten. Desshalb muss
jede Anstalt nicht nur das nöthige Personal zur Beaufsichtigung und
Bedienung der Kranken, die nöthigen Räumlichkeiten zur Isolirung
Einzelner und die noch gebräuchlichen Beschränkungsmittel besitzen,
sie muss auch mit Grundstücken zu Feldarbeit, mit Gärten und An-
lagen zu Spaziergängen, mit Arbeitsmaterial und mit vielfachen Mitteln
zur Unterhaltung der Kranken versehen sein.
Ein weiteres Haupterforderniss im Innern der Irrenanstalt ist eine
gehörige Scheidung der Kranken von einander, zuerst nach den Ge-
schlechtern (meist auf verschiedene Flügel vertheilt), dann nach der
Art des Irreseins, doch nicht nach nosologischer Classification, sondern
nach dem äusseren, ruhigeren oder turbulenteren, aufgeregten Zustande,
endlich bei den ruhig zusammenlebenden Kranken nach Stand und
Bildungsstufe (bei den Tobsüchtigen, Isolirten fällt dieser Unterschied
weg). — Die nosologische Form kann nicht zum Scheidungsprincip
genommen werden, weil überhaupt die einzelnen Formen gemischt
und in vielfachen Uebergängen vorkommen, weil es sogar für einzelne
Zustände (z. B. für die Kranken mit Hang zum Selbstmord) sehr ge-
fährlich wäre, sie zusammenwohnen und viel unter sich verkehren zu
lassen, endlich weil die äusserlich ruhigen Schwermüthigen, Maniaci,
Verrückten, laut der Ergebnisse täglicher Beobachtung, ohne gegen-
seitige Störung und nachtheilige Folgen wohl zusammenwohnen können;
nur die Blödsinnigen, namentlich die Paralytischen, müssen ganz ab-
gesondert und in eigens für sie bestimmten Räumen verpflegt werden.
Bei der Scheidung der Kranken nach ihrem äusseren Verhalten muss
man sich hüten, durch zu viele Abtheilungen den Dienst zu zersplittern
und die Uebersicht zu erschweren, und es dürften auf der Männer-
und der Weiberseite 4—5 Abtheilungen, eine für die einzeln zu
isolirenden (tobsüchtigen, lärmenden, unreinlichen, gefährlichen), eine
(besonders in der Pflegeanstalt) für die paralytischen, epileptischen,
tief blödsinnigen, zwei für ruhige Kranke (eine für die höheren, die
andere für die niederen Stände), eine Abtheilung besonderer Wohn-
orte für Reconvalescenten oder einzelne Kranke, welche man strenger
[390]Bauliche Einrichtungen
isoliren, aber nicht auf die Abtheilung der unruhigen bringen will,
genügen; in manchen Anstalten bestehen noch besondere Abtheilungen
für bettlägerige Kranke und ganz abgesonderte Gebäude für die Re-
convalescenten, welch letztere Einrichtung sich nicht als zweckmässig
bewährt hat.
§. 190.
In den verschiedenen Ländern, welche das Irrenwesen cultivirten,
hat man versucht, diesen Erfordernissen durch sehr verschiedene
bauliche Einrichtungen zu genügen. Während die englischen
Anstalten *) meistens grosse, hohe, mehrstöckige, zusammenhängende
Gebäude mit seitlich auslaufenden, geneigten, auch sternförmigen
Flügeln darstellen, in deren Innerem bei höchster Vollkommenheit
der häuslichen Einrichtungen (Heizung, Beleuchtung, Reinigung, Küchen-
einrichtung u. dgl.) eine geordnete Uniformität, ein fast gefängniss-
artiges Zellensystem hergestellt ist, welchem auch der etwas mecha-
nische Character der Beaufsichtigung und Behandlung zu entsprechen
scheint, so ging man bei der Construction und innern Einrichtung
der französischen Anstalten von ganz anderen Principien aus. Be-
sonders die nach Esquirols Ideen gemachten Plane und Ausführungen
bestehen in lauter getrennten, viereckigen, bloss ein Erdgeschoss
enthaltenden Häusern, die eine Anzahl Einzelzellen oder Zimmer, ein
gemeinschaftliches Sprechzimmer (Chauffoir), Arbeitszimmer etc. und
rings herum einen Säulengang enthalten, und in der Mitte einen
Rasenplatz einschliessen. Mehre parallele Reihen solcher einstöckiger
Carrés werden durch Colonnaden unter einander verbunden, und es
schliessen sich daran noch Oeconomiegebäude, Capelle, Werkstätte,
Badehäuser etc. Diese Menge vertheilter Gebäude, welche einen
ungemeinen Flächenraum einnehmen, ist nicht nur höchst kostspielig
auszuführen, sondern erschwert auch sehr die Uebersicht, die Leich-
tigkeit des Besuchs entfernter Theile der Anstalt und die höhere
Beaufsichtigung, wie sich denn auch bis in die neueste Zeit, wo in
die französischen Anstalten durch Einführung von Arbeit und Unter-
richt ein anderer Geist gekommen ist, diese Anstalten durch Unge-
bundenheit, freies Herumschwärmen und Zügellosigkeit der Kranken
auszeichneten.
In Deutschland hat man versucht, das Gute beider Systeme an-
zunehmen; im Ganzen nähern sich aber die deutschen Anstalten in
[391]der Irren-Anstalten.
ihrer Bauart weit mehr den englischen, als den Esquirol’schen. Die
neueren Anstalten werden meist so eingerichtet, dass in einem oder
einigen 2—3stöckigen Mittelgebäuden die gemeinschaftlichen Räume,
die Kanzlei, die Capelle, die Küche, die Waschanstalten, die Vorraths-
räume, die Wohnungen der Beamten beisammen sind, und dass von
hier nach beiden Seiten je ein, oder bei relativ verbundenen An-
stalten zwei zweistöckige Seitenflügel, gerade oder gebrochen, aus-
laufen, welche die verschiedenen Abtheilungen der Reconvalescenten,
Pensionäre, ruhigen Kranken der mittlern und untern Stände, nebst
Gelassen für ihr Wartpersonal, für Bäder etc. enthalten; an diese
schliessen sich endlich, möglichst weit vom Centrum entfernt, kleinere
einstöckige Gebäude, welche die Zellen für unruhige, überhaupt zu
isolirende Kranke enthalten, an. Jede Abtheilung des Hauses muss
einen eigenen Garten oder Spazierplatz für ihre Kranken haben; an
allen Treppen, Fenstern, Thüren ist nicht nur auf gehörige Solidität,
sondern auch auf möglichst einfache Mechanismen und genügende
Garantieen zum Schutze des Kranken zu sehen; die innere Einrich-
tung der Wohn- und Schlafräume ist auf der Abtheilung der Unru-
higen und Tobsüchtigen die einfachste und zugleich festeste; überall
sonst je nach Stand und Bedürfnissen der Kranken einfacher oder
reichlicher ausgestattet.
Ein Hauptgrundsatz des Baues und der ganzen inneren Einrich-
tung, gegen welchen freilich am meisten gefehlt wird, sollte immer
sein, dass die ganze häusliche Einrichtung sich, soweit es sich mit
seiner eigenthümlichen Bestimmung verträgt, möglichst wenig von
der jedes anderen grossen Privathauses unterscheide, sich möglichst
wenig von der der Wohnung und Einrichtung der Geistesgesunden
entferne. Desshalb sind alle Bauplane verwerflich, welche schon in
bizarren, ganz aussergewöhnlichen (thurm-sternförmigen etc.) äusseren
Formen gleichsam auf etwas Närrisches in der Bestimmung des Ge-
bäudes hindeuten, es ist auch ebenso alles gefängnissartige Zellen-
wesen, und wiederum wäre ein zu grosser Luxus mit hohen Hallen,
Säulengängen etc. verwerflich. Das Ganze muss den Eindruck eines
ärztlichen Zwecken, der Gesundheitspflege gewidmeten Bauwesens,
den Eindruck der Wohnlichkeit, Behaglichkeit, Solidität machen und
nicht genug kann auf Geschmack und Freundlichkeit in der Erschei-
nung, wiewohl ohne luxuriösen Schmuck, besonders aber auf die
scrupulöseste Sauberkeit, welche hier wahrhaft ängstlich betrieben
werden muss, gesehen werden.
Die Anstalt muss dabei in einer gesunden, und wo möglich an
[392]Personal der Irren-Anstalten.
Naturschönheiten reichen Gegend liegen, vielleicht am besten in un-
mittelbarer Nähe eines kleinen Städtchens, aus welchem sie ihre
Bedürfnisse bequem beziehen, mit dessen Bewohnern sie leicht eini-
gen Verkehr unterhalten kann; sehr grosse Städte brauchen indessen
gleichfalls Anstalten in ihrer Nähe, und solche haben den Vortheil,
viele frische Fälle zu bekommen; unter keinen Umständen aber soll
eine Anstalt innerhalb der Mauern einer Stadt errichtet werden. Die
Anstalt muss rings von Grundstücken, die ihr Eigenthum sind, um-
geben sein; ihr näheres Gebiet wird gewöhnlich mit einer Mauer
umgeben, und es ist vortheilhaft, wenn ihr Boden über deren Niveau
erhaben liegt; sie sollte wo möglich fliessendes Wasser besitzen, um
Bäder und Waschanstalten reichlich zu speisen, und noch Gelegenheit
zu kalten Bädern zu erhalten. Die Gärten müssen geräumig und
freundlich sein, gerne bringt man in ihnen einen Turnplatz, Kegel-
bahn, Spielplätze u. dgl. an.
Wo besondere Pflegeanstalten bestehen, bedarf man in ihnen
weiter grössere Werkstätten, in denen die Kranken besonders Win-
ters mit verschiedenen Handwerken beschäftigt, und wo viele Be-
dürfnisse der Anstalt selbst producirt werden. Im Uebrigen muss
die Pflegeanstalt gleichfalls die genannten Abtheilungen, für Unruhige,
Stille, Gesittete, für die verschiedenen Stände haben, kann aber im
Ganzen einfacher gehalten sein, und es ist zweckmässig, wegen der
grösseren Menge Unreinlicher, Paralytischer etc. mehr Erdgeschoss-
wohnungen einzurichten.
§. 191.
An der Spitze des Personals der Irrenanstalt steht, unter der
höheren Aufsichtsbehörde des Staats, der dirigirende Arzt, von dessen
wissenschaftlichen und persönlichen Eigenschaften zum grössten Theil
der in der Anstalt herrschende Geist abhängt. Neben dem ersten,
Allem Uebrigem vorangehenden Bedürfnisse gründlicher ärztlicher
Kenntnisse wird von dem Irrenarzt mit Recht noch ein Complex
besonderer geistiger Eigenschaften gefordert, wohlwollender Sinn,
grosse Geduld, Selbstbeherrschung, eine besondere Freiheit von allen
Vorurtheilen, ein aus einer reicheren Weltkenntniss geschöpftes Ver-
ständniss der Menschen, Gewandtheit der Conversation und eine
besondere Neigung zu seinem Beruf, die ihn allein über dessen
vielfache Mühen und Anstrengungen hinwegsetzt. Ein oder mehre
Hülfsärzte unterstützen den Director in der Krankenbehandlung, in
der Führung der Journale und Correspondenz, besorgen die Leichen-
[393]Aerzte, Geistliche, Wärter etc.
öffnungen, die höheren chirurgischen Geschäfte u. dergl. — Die meisten
Anstalten besitzen ausserdem eigene Geistliche, welche den periodischen
Gottesdienst besorgen und die Kranken regelmässig besuchen, meist
in der Absicht, mit religiösen Mitteln die Genesung der Kranken zu
befördern. Es ist schon bemerkt (p. 371), bei wie wenigen Kranken
ein solches Vorhaben statthaft sein kann. Immer und überall dürfen
solche Versuche nur unter steter Beaufsichtigung und mit vorheriger
Instruction von Seiten der Aerzte gemacht werden, und es wäre
einer der bedeutendsten Missgriffe, auch nur einige Selbstständigkeit
in der Behandlung Gehirnkranker Laien zu überlassen, deren Auf-
fassung solcher Zustände ganz nothwendig eine einseitige sein muss.
Mit Recht haben desshalb auch in neuester Zeit Einige der ver-
dienstvollsten Irrenärzte (Nasse, Jessen u. A.) die Unterstützung der
psychischen Therapie durch Theologen noch mehr als bisher be-
schränkt wissen wollen. Sehr passend dagegen finden wir die An-
stellung eines Lehrers, der, ohne die Prätention heilsamer psycho-
logischer Einwirkungen, zum Unterrichte der Kranken, überhaupt zu
ihrer geistigen Beschäftigung und Zerstreuung verwendet wird.
Ein Oberwärter und eine Oberwärterin stehen dem niederen
Dienstpersonale vor. Zu Wärtern selbst können nur körperlich kräftige,
verständige und gutmüthige Menschen gebraucht werden, und es ist
oft schwer, die genügende Anzahl brauchbarer Leute zu bekommen.
Man rechnet im Durchschnitt auf 6—10 Kranke einen Wärter;
einzelne Kranke bedürfen eines eigenen, nur für ihre Person be-
stimmten Wärters. In manchen Anstalten wird der Wärterdienst von
den Brüdern oder Schwestern geistlicher Orden versehen, welcher
Einrichtung man im Ganzen mehr Nachtheile als Vortheile zuschreibt. —
Ausserdem ist in den Anstalten ein besonderes Verwaltungs-
Personal für die Oeconomie nothwendig.
§. 192.
Dazu, dass sich dieser, durch so viele Menschen und Bedürf-
nisse immer sehr complicirte Mechanismus einer Anstalt mit Ordnung
und ohne Geräusch bewege, dienen nicht nur geschriebene Statuten
für alles Personal, in denen die wohl umgränzten Pflichten jedes
Einzelnen klar und bündig ausgesprochen sind, in denen das ganze
äussere Thun und Lassen pünktlich regulirt und die Ordnung aller
Dinge vorgeschrieben ist. Die vernünftige Regel muss auch in Sitte
und Gewohnheit übergegangen sein, und das Beispiel der Oberen
muss den rechten Geist bis herab zum Untersten verbreiten. Es
[394]Geistiges Leben in der Anstalt.
muss in den Irrenanstalten ein etwas straffer, angezogener Geist,
nicht das Laisser-aller der falschen Gemüthlichkeit herrschen; es muss
auf pünktliche Zeiteintheilung, strengste Ordnung und treue Pflicht-
erfüllung genau gesehen werden. Dem Eintretenden, Gesunden oder
Kranken, muss der wohlthuende Eindruck entgegen kommen, dass
hier die Vernunft, nicht die Unvernunft herrsche; ein Character von
Frieden und Ruhe muss durch das Ganze gehen, und die consequente
Energie in allem Heilsamen muss in geräuschlosen, milden Formen
auftreten, wie die einschliessende Ringmauer von Innen dem Kranken
durch freundliches Gebüsch zugedeckt wird. — Der Umgang unter den
Kranken selbst muss nicht zu strenge abgesperrt sein; man muss
vielmehr durchaus auf Erhaltung einer gewissen Socialität sehen, in
welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und
Alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Ent-
fremdung gegen die Welt bewahrt. Hiezu dienen gemeinsame
Vergnügungen, Gesellschaften, Spaziergänge etc., und in dem Masse,
als der Kranke wieder fähiger dazu wird, auch eine zunehmende
Berührung mit Gesunden. Dass man sich durchaus bei dem mög-
lichst humanen, liberalen Systeme der Krankenbehandlung besser be-
findet, als bei einem sehr strengen, ist schon oben berührt; es darf
daher die Beschränkung des Kranken nicht weiter gehen, als sein
Zustand es erfordert; jeder finstere, ascetische, ebenso wieder jeder
casernenmässige Geist ist zu vermeiden, und es soll der Ernst der
Zwecke durch heitere, sinnige Formen nicht nur verdeckt, sondern
gerade zu rechtem Eingang gebracht werden. —
§. 193.
Der Aufnahme der Kranken in die öffentlichen Anstalten muss
ein genauer ärztlicher Bericht über seinen Krankheitszustand und über
dessen Entwicklung vorausgehen, der in vielen Fällen noch durch
Mittheilungen der Angehörigen vervollständigt werden muss; in diesen
muss die unumschränkteste Offenheit herrschen, da die Kenntniss
aller persönlichen Verhältnisse und wichtigen Erlebnisse für den Arzt
von höchster Wichtigkeit ist. Der ärztliche Bericht muss alle Fragen,
welche irgend einen Bezug auf die Entstehung des Irreseins haben
können, berühren, namentlich alle ätiologischen, Erblichkeit, leibliche
und geistige Dispositionen, vorausgegangene Krankheiten, namentlich
solche des Nervensystems, er muss die Symptome des allmähligeren
oder schnelleren Ausbruchs und den gegenwärtigen Complex krank-
hafter Erscheinungen genau schildern, das bisher eingeschlagene Ver-
[395]Aufnahmen und Entlassungen.
fahren angeben etc., Erfordernisse, welche bei dem Arzte eine zum
Wenigstens encyclopädische Kenntniss des Irreseins ganz nothwendig
voraussetzen. Soll nun der Kranke in die Anstalt gebracht werden, so
werde diess ihm selbst mitgetheilt; vielfache Beobachtung hat gezeigt,
dass es unendlich viel vortheilhafter ist, ihn, wenn er sich hartnäckig
sträuben sollte, mit äusserem Zwang in die Anstalt zu bringen, als
ihn durch List (unter dem Vorwande einer Vergnügungsreise etc.)
derselben zuzuführen. Ein solcher Betrug erbittert die Kranken mei-
stens ungemein, und hindert auf lange Zeit das so nothwendige Ver-
trauen zu der Anstalt.
Die Aufnahme der einzelnen Kranken in die Staatsanstalten be-
darf meistens, dringende Fälle ausgenommen, einer vorausgehenden
Genehmigung der vorgesetzten Staatsbehörde, welche sich auf einen
Bericht des Directors über die Zulässigkeit dieser Aufnahme stützt;
es ist im Interesse der möglichst häufigen Aufnahme frischer Fälle
nothwendig, dass die Formen dieser Geschäfte die einfachsten und
expeditesten seien. — Die Entlassungen aus den Anstalten geschehen
meist allein auf Verfügung des Directors; sie sollten immer zunächst ver-
suchsweise, provisorische sein, damit der Kranke beim ersten Zeichen
eines Rückfalls ohne das mindeste Zögern wieder der Anstalt über-
geben weden kann. Während dieser Zeit provisorischer Entlassung
kann dann von seinem Hausarzte hie und da über den Genesenen
an die Anstalt berichtet werden. Zeigt die Genesung entschiedene
Dauer und Bestand, wozu eine ungetrübte geistige Gesundheit von
wenigstens 1—2 Jahren gehört, so wird der frühere Pflegling erst
definitiv aus dem Verbande mit der Anstalt entlassen. Freie Vereine
zur Unterstützung bedürftiger Genesenen bestehen an manchen Orten
mit gesegnetem Erfolge.
§. 194.
Ausser den öffentlichen Irrenhäusern möge noch der Privat-
anstalten gedacht werden, welche für Länder, in denen das öffent-
liche Irrenwesen noch nicht geordnet ist, wo die Staatsanstalten der
Irrenzahl nicht genügen, oder wo für einen Kranken Ansprüche des
Luxus und der Eleganz erhoben werden, wie sie in den Staatsanstal-
ten nicht zu befriedigen sind, dem Bedürfnisse abhelfen. Der Staat
sollte übrigens solche Anstalten nur wissenschaftlichen Aerzten, nie-
mals Laien, Chirurgen u. dgl. concessioniren, und von dem Vorsteher
vollständige Garantieen seiner Befähigung zur Irrentherapie, nament-
lich eine practische Ausbildung für diese Specialität fordern und eine
[396]Privat-Anstalten. Irren-Colonie.
Controlle über ihre Wirksamkeit ausüben. Missbräuche und Schänd-
lichkeiten, wie sie in einzelnen englischen Privatanstalten vorfielen,
sollten, wiewohl sich nirgends in Deutschland etwas ähnliches hefürch-
ten lässt, doch auf alle Fälle unmöglich gemacht werden.
Auch noch auf andere Weise, als durch Anstalten, hat man an
einzelnen Orten für Bewahrung und Beschäftigung der Irren gesorgt.
Eine Irrencolonie bildet das merkwürdige belgische Dorf Gheel,
in welchem seit vielen Jahrhunderten Geisteskranke aller Art mit den
Einwohnern und ihren Familien zusammen leben. Früher suchte
man daselbst Hülfe für sie bei der heiligen Dymphne, der Patronin
der Irren, zu deren Wundern man gegenwärtig nur noch selten Zu-
flucht nimmt. Dagegen suchte man in neuerer Zeit Regelmässigkeit
und Ordnung in diesem, mehr als 700 Kranke enthaltenden Irren-
depot einzuführen; die Kranken wurden unter vier Aerzte vertheilt,
der ganzen Sache wurde ein dirigirendes Comité vorgesetzt und eine
bessere Polizei und Aufsicht eingeführt. Die Irren geniessen hier
immer noch ein Mass von Genüssen und Freiheit, wie ihnen in
keiner Anstalt zu Theil werden kann; alle dazu Fähigen nehmen An-
theil an den Arbeiten der Gesunden, namentlich Hand- und Feldarbeit
ist allgemein eingeführt. Die Behandlung ist im Ganzen eine sehr
milde; die Anwendung von Zwangsmitteln darf nicht ohne vorherige
Anfrage bei dem Arzte geschehen. Selbstmorde sind sehr selten,
und der physische Gesundheitszustand ist im allgemeinen so gut, dass
man im Jahr 1838 zwei hundertjährige Irren dort fand. Das Ent-
weichen der Kranken wird durch die eigenthümliche Lage von Gheel,
das, von Heidegründen umgeben, mehre Stunden von andern Dörfern
entfernt liegt, sehr erschwert. Bei allen diesen Vortheilen haben
sich immer auch die bedeutendsten Uebelstände gezeigt, und erst
neulich kam es vor, dass der Bürgermeister von Gheel von einem Irren
in einem Wuthanfall erschlagen wurde. (Froriep’s Notizen. 1845.
Nro. 720.) Eine Nachahmung von Gheel in andern Ländern würden
wir nicht für zweckmässig, besonders aber nicht für möglich halten.
Appendix A Zusatz und Verbesserungen.
Appendix A.1 I.
Dem in der Schrift ausgesprochenen Desiderate, dass die Chemie der Secre-
tionen bei den Geisteskranken mehr bearbeitet werden möchte, ist theilweise
durch eine kürzlich erschienene denkenswerthe Arbeit von Herrn Dr. Heinrich
in Bonn genügt worden, welche mir erst nach fast beendigtem Drucke zukam,
und welche ich mit Vergnügen noch citire (Microscop. und Chem. Untersuchun-
gen bei Geisteskranken. Häser’s Archiv. Bd. VII. Heft 2.). Der Verf. und ein
anderer Arzt, Erlenmayer, fanden den Harn Geisteskranker, namentlich Tobsüch-
tiger, ungemein häufig alcalisch oder doch phosphatische Sedimente in anomaler
Menge liefernd; zuweilen ward auch Fett im Urin gefunden. — Jene Beobach-
tungen schliessen sich dem S. 147 niedergelegten Resultate einiger Harn-Unter-
suchungen an, welche ich schon im Jahre 1841 angestellt habe. Eben in den
letzten Tagen fand ich wieder bei einem epileptischen Kranken (mit schmerzhaf-
ter Wirbelsäule), nachdem häufige Anfälle in der jüngsten Zeit schnell auf ein-
ander gefolgt waren, den Urin stark alcalisch und mehre Tage fort reichlich
phosphorsaures Magnesia-Ammoniak in Prismen sedimentirend. Nachdem die
Anfälle eine Woche lang aufgehört, ist der Urin neutral und sedimentlos ge-
worden. —
Appendix A.2 II.
P. 72. ist durch Verschen beim Druck eine Bemerkung weggeblieben, welche
die Richtigkeit der dort angeführten Beobachtung von Patterson über das Dop-
peltsehen einer Hallucination sehr in Zweifel zog. Es möge dieser Zweifel hier
noch ausgesprochen werden.
Appendix A.3 III.
Seite 281 sollte die Ueberschrift Vierter Abschnitt — statt Dritter Ab-
schnitt — heissen.
[][][][]
f. physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 69.
Zürich. 1838. Valentin, Hirn- und Nervenlehre. Leipzig. 1841. Foville, anatomie
du système nerveux cerebro-spinal. Par. 1844. Longet, anat. et physiol. d. syst.
nerv. 1842.
Méd. VIII. 1840. p. 172 seqq. Remak, in Müller’s Archiv, 1841.
wechsel s. im 3ten Band der Med. Chirurg. Transactions.
dicate, das Beifall oder Tadel ausdrückt, sondern lässt. Herbart.
Heilkunde. II. 1843. p. 95.
im vorigen Abschnitte Gesagtes beziehen, was hier nicht wiederholt werden kann.
Bei einer desshalb mehr cursorischen Erwähnung einzelner Punkte möge der
Leser die §§. 15—31. zu Hülfe nehmen; sehr Vieles aber kann seine eigent-
liche Auseinandersetzung erst in der Schilderung der verschiedenen Formen des
Irreseins finden.
Guislains Phrenopathieen. Stuttg. 1838. p. 440—591.
physiolog. Heilkunde. III. 1. 1844. p. 95.
Jahrb. 1843. Octbr. p. 64.
Jeglichem Staub sein Herz erschlossen!“
vollständigen Mittheilung werth. „Ich behandelte einen alten Kaufmann, der nach
einem sehr thätigen Leben im 44sten Jahre vom schwarzen Staar befallen wurde.
Einige Jahre nachher verfiel er in Manie; er war sehr bewegt, sprach laut mit
Personen, die er zu sehen und zu hören glaubte. Er sah die wunderlichsten
Dinge und wurde oft durch seine Visionen sehr entzückt. — Im J. 1816 war in
der Salpetrière eine 38jährige Jüdin, die von Manie befallen und blind war.
fand bei der Section die nervi optici in ihrem ganzen Verlaufe atrophisch.
In diesem Fall konnten gewiss keine äusseren Eindrücke stattfinden. Ebenso
geht es mit den Tauben; sie glauben sprechen zu hören. Wir haben in diesem
Augenblick in der Salpetrière zwei gänzlich taube Frauen, deren einziges Delirium
darin besteht, dass sie Tag und Nacht verschiedene Personen hören, mit denen
sie sich zanken; oft werden sie selbst dadurch wüthend.“ Die Geisteskrankheiten
von Bernhard. I. p. 116—17.
erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden
war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er
hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben.
Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen
vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts-
hallucinationen.
stets einen Abgrund vor sich.
einer Gesichtshallucination; seither erfuhr er nichts mehr dergleichen, bis —
Gespenst sehe, erwiedern: Im Auge meines Geistes.
Male eine Gehörshallucination, nur aus einem einzigen Worte bestehend, aber
mit höchster Deutlichkeit, auftrat. Der Eindruck war kaum verschieden von dem,
den die Worte bei einer Unterredung machen — nur dem Ohre näher schien die
Stimme zu sein.
Auch wir haben erst neuerlich einen solchen Fall gesehen. Der Kranke hörte
mehre Menschen in seinem Kopfe mit einander sprechen; er glaubte auch
mehrmals in der Gegend seiner Herzgrube sitze ein ganzer Tisch voll Personen
am Essen.
p. 713) kamen dio Gehörshallucinationen aus der Herzgegend.
schlafen, Traum, Schlaf etc. in Friedreichs Magazin. 1830. III. p. 87.
— — — Es ist nichts da,
Es is der blutge Vorsatz, der mein Auge
So täuscht.
Sinogowitz.
beschreibung eines Visionärs von seinen Erscheinungen. Nasses Zeitschr. für
Anthropol. 1832. Heft 1.
Gesunden auf eine Art, die als Beispiel dienen kann, geschildert.
Häuten gefunden zu haben. Vgl. die Arbeiten von Bergmann.
halten,“ sagte sie zuweilen, „wann wird endlich Friede in der Kirche sein!“ —
Ein Kranker in Winnenthal schrie Monate lang fort: „Hör’ auf und lass mich
gehen!“ Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauche sitze, gequält,
bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestossen zu werden.
Lebens ist bereits zur Sprache gekommen; die Aehnlichkeit vieler geisteskranker
Zustände mit dem Rausch wird an mehren Stellen unten (bei der Manie und der
allgemeinen Paralyse) besprochen.
gegen uns.
niacis — 8mal, unter 45 Melancholischen — 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen
Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traité de la folie. Docum. necrosc.
Par. 1841. p. 1—4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie.
Dissert. Tüb. 1840.
p. 65. Brierre de Boismont. ibid. p. 134.
Julius, Beitræge z. britt. Irrenheilkunde. Berlin 1844. Battelle, rapport etc. Annal.
med. psych. nov. 1844. p. 393.
quirol ist das Verhältniss durch ein Rechnungsversehen viel zu nieder (1 : 5,057)
angegeben.
l’Italie. Gand. 1840. p. 90. Mittermaier, italien. Zustände. 1844. p. 184.
für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73.
Jahrbücher. 1842. p. 73.
Medic. Correspondenzblatt. 1840. p. 143.
Gesundheit der Sträflinge mehr oder weniger gefährden, diess zu entscheiden
fühlen wir uns derzeit nicht berechtigt. Jedenfalls aber hat sich diese Besorgniss
in Bezug auf das pensylvanische System der Einzelnhaft als höchst
übertrieben erwiesen. Vgl. Würth, die neuesten Fortschritte des Gefängniss-
Wesens. Wien 1844. Moreau-Christophe in Annal. med. psych. 1843. Tom. II.
6monatlichen Bestehen, und 150 schon länger dauernde auf. Zeller, medic.
Correspbl. Juli 1840. p. 143.
p. 330. seqq.
trie. I. 1. p. 44. Der letztere Beobachter erwähnt dabei auch den Habitus apo-
plecticus; mit welchem Rechte, s. bei Rokitansky, Handb. d. path. Anatomie.
II. p. 801.
seinen Kranken nur in 1/10 der Fälle phtisische Eltern. Louis, recherches sur la
phtisie. 2me édit. Par. 1843. p. 582.
séminales.) Man erstaunt, wie fast ohne Ausnahme die Kranken eine Aenderung
ihres psychischen Verhaltens in der erwähnten Richtung angeben.
den Tod durch Kälte und über Gehirncongestionen; in Nasses Sammlung für Ge-
hirnkrankheiten. I. 1837. p. 21. Burrows, in Lond. Med. Gaz. 1843. Merz. April.
für allemal berufen.
Verlangsamung, als die Angst der Thiere ist häufig von uns selbst beobachtet worden.
neuester Zeit die von Parchappe und Brierre de Boismont den Berechnungen Mor-
eaus entgegengestellten Angaben (Comptes rendus. XVII. 1843. p. 134. p. 279.)
Wir halten aber eine rein statistische Lösung der Frage für ganz unmöglich
aus den §. 63. 64. angegebenen Gründen.
Ellis, traité etc. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 108. 109. Ellis schreibt hier
auch die Wirkung der veränderten Herzthäthigkeit zu.
auf Erzeugung epileptischer Anfälle. Ebenso plötzlich kann der Zorn wirken.
Anthropologie. 1824. p. 224. seqq.
ler, der dieses Thema auf eine dieser ernsten Sache würdige Weise besprochen hat.
psych. Behandlung der Trunksüchtigen. Nasses Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1820.
Marc-Ideler II. l. c.
schreibt dieser Ursache die Mehrzahl aller in den öffentlichen Anstalten behandelten
Fälle zu. Andere, wie Guislain und Parchappe, führen sie nur mit geringen
Zahlen in ihren ätiologischen Tabellen auf. Vgl. den Aufsatz von Flemming
über das Causalverhältniss der Selbstbefleckung zur Geistesverwirrung, in Jakobi
und Nasse, Zeitschrift I. 1835. p. 205.
„Irritation excessive“ mit einer grossen Zahl.
der körperlichen Ursachen (!) der Geisteskrankheiten auf.
längere Zeit nach der Beeinträchtigung auftreten. Jakubowsky (Choreae St. Viti
traumaticae exemplum. Krak. 1838. Gratulationsschrift.) erzählt einen solchen Fall
von Veitstanz, der mehre Monate nach einem Stoss auf die Rückengegend auf-
trat, übrigens geheilt wurde.
lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte.
ten Fälle.
krankheiten der Wechselfieber. Hufel. Journal 1823. LVI. p. 3 seqq. Mongellaz,
Monographie des irritations intermittentes. Par. 1839. I. p. 638 seqq. Lippich,
Beiträge zur Psychiatrie. Oestr. Jahrbücher. Juni 1842. p. 282. seqq. Baillarger,
sur la Folie à la suite des fièvres intermittentes. Annal. med. psychol. 1843. II.
p. 372.
Fall, der sehr grosse Aehnlichkeit mit der Beschreibung der leichteren Grade des
Pellagra hatte (tiefe Melancholie mit hartnäckigem, sehr schmerzhaftem Erythem
der Extremitäten; Entstehung in grossem Elend und höchster physischer Vernach-
lässigung unter Mitwirkung psychischer Ursachen) entschieden als Pellagra zu
betrachten. Bekanntlich hat man in neuerer Zeit auch ausserhalb Oberitaliens,
namentlich in Paris, zuverlässige, sporadische Fälle von Pellagra beobachtet.
psych. Beziehung des Herzens; in seiner Zeitschrift für psych. Aerzte. 1811 I.
p. 49) hat zuerst diesen Punkt gehörig berücksichtigt. Von dort an finden sich
allenthalben Angaben, die neueste von Lippich (Oestr. Jahrb. 1842. Juli. p. 32),
namentlich in Bezug auf Italien, wo die Herzkrankheiten besonders häufig sein
sollen. Vgl. auch die interessante Arbeit von Burrows über Gehirn- und Rücken-
marks-Erkrankung während acuter Herzleiden. Gazette médic. 1843. Nro. 50.
in unserem Clima zu den ursächlichen Momenten, aus denen sich am häufigsten
organische Störungen im Gehirn und darans psychsische Störungen herleiten lassen.“
Riedel (Oester. Jahrb. Mai 1842. p. 173) fand unter 14 Melancholischen, die im J.
1841 starben, 10mal Tuberculose, und nimmt gleichfalls ein Causalverhältniss zum
Irresein an.
des aliénés. Ann. med. psych. Mai. 1844. p. 359 seqq. Auch in hiesiger Clinik
wurde ein solcher Fall beobachtet.
heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer-
verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen-
der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers
stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei
höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen,
die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc.
Jakobi l. c. p. 667.
malad. de reins. III. 1841. p. 153 seqq.
eine ungeheure Menge von Prostatasteinen entleert wurde. Diese Steine hatten
nicht nur Schmerz, sondern auch eine anhaltende, an Wahnsinn grenzende Auf-
regung des Gemüths zur Folge gehabt.
cinationen überhaupt. Vgl. p. 69, 73.
Leuret, Fragmens. p. 382 seqq.
chol. I. 1843. p. 440 seqq. Esquirol, übers. v. Bernhard. I. p. 280 seqq.
der Naivetät dieser Erzählungen. Vgl. dazu das unten über den psychischen Zu-
stand in epileptischen Anfällen [bemerkte].
dité. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.
nur dann sein Leben verkürzen will, wenn er delirirt, und dass die Selbstmör-
der geisteskrank sind.“ Falret, de l’hypoch. et du suicide. 1822. p. 137. —
Esquirol drückt sich übrigens an andern Stellen seiner Schrift minder absolut aus.
den Fall des Matthieu Lovat, der sich selbst kreuzigte etc.
rückte Mordangriffe auf ihre Aerzte machten. Vrgl. Marc, übers. v. Ideler. II.
p. 9. — Ueberhaupt wollen wir auf die reichliche Sammlung von Fällen, die
diese Schrift enthält, für dieses ganze Capitel verweisen.
Marc.
der, Henke, Meckel, Masius, Flemming, Mayer, Hettich etc.
figsten, die Absicht, durch Zerstörung einer Wohnung ein widerwillig ertragenes
Dienstverhältniss aufzulösen und wieder nach Hause zu kommen.
selbst haben dergleichen Fälle beobachtet.
Thierähnlickeiten menschlicher Physionomieen treffend hervorhob.
Bergmann, Nasses Zeitschr. 1823. II. p. 419. Jacobi, Hauptformen, p. 540.
und 19ten Krankheitsgeschichte.
1826. p. 328.
l’épilépsie. Annales medico-psychol. 1843. II. p. 407.
den Fall von noch erinnerten [Phantasieen] aus dem epileptischen Anfall in Nasse
Zeitschr. f. Anthropologie. 1825. I. p. 190.
unterscheidend.
lytischen.
croy, die beide melancholisch starben.
p. 1 seqq.
II. p. 55, 201.
sultate im 2ten Mémoire. 1838.
gängig im russischen Feldzuge gemacht, wo die Kranken noch an der heftigen
Kälte und an Entbehrungen aller Art litten. Es fand sich noch dabei Blutüber-
füllung der Lungen und des Herzens.
VIII. 1840. p. 172 seqq.
p. 19, 50.
(allgemeine Anämie und Collapsus des Gehirns, sehr kleine sandlose Zirbel, das
Gewicht des grossen Gehirns im Verhältniss zum kleinen etwas verringert) mit-
getheilt worden. Ueber den Bau des Gehirns und Rückenmarks. Zür. 1838.
p. 205.
4 Sectionen).
Arnold und vom Verf.
Bergmann in Nasse’s Zeitschr. f. Anthropologie. 1825. I. p. 173, und in Holscher’s
Annalen. III. 1838. p. 516. Ebenso sind damit die Sectionsergebnisse bei Idioten
zu vergleichen, welche ein völliges Fehlen der Hinterhörner erwiesen. Hasting’s,
Nasse’s Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1818. p. 600.
c. p. 510, 523, 529 etc.
assez grand nombre de fois depuis deux ans, un état pathologique de cet organe
consistant en adhérences intimes de sa couche corticale avec les parties corre-
spondantes de la pie-mère et de l’arachnoide. C’est quelquefois la seule altéra-
tion qu’on rencontre dans l’encéphale de ceux dont le délire avait pour base unique
des hallucinations. J’ajouterai que dans bien de cas la maladie du cervelet á
laquelle je fais allusion a succédé à l’altération préalable de parthies périphériques
des nerfs auditif et trijumeau, comparable à la maladie d’un ganglion lymphatique
déterminée par la phlegmasie de quelq’un des vaisseaux qui se rendent à ce
ganglion.“ L’Institut. 16 Janv. 1843. S. oben p. 137.
Gehirnabscesse etc. findet sich gewöhnlich ein so tiefer Blödsinn, wie man ihn
nicht beim stumpfsten Idioten sieht. Diese Kranken verhalten sich dann wie Thiere,
denen man die grossen Hemisphären weggenommen hat. Die Angabe, dass ein
Schnupfen das Seelenleben tiefer zu stören vermöge, als ein Gehirnabscess, ist auf
die Beobachtung am Krankenbette im späteren Zeitraum der Abscesse zu verweisen.
Zehetmayer’s Zeitschrift) versprechen ein reichliches Material für die pathologi-
ptome während des Lebens mitgetheilt.
auch Bertolini und Bottex überein. —
Gehirns von Meckel (Histoire de l’acad. roy. des sciences. Berl. 1764. Vol. 20.)
und Leuret und Mitivié (de la fréquence du pouls chez les aliénés. Par. 1832.)
sind ohne Werth.
weichung der Rindensubstanz jedesmal. l. c. p. 249.
etc. Engel, Zeitschr. d. k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien. I. 9. p. 227.
Arbeit von Thore.
Fall eines Kranken, der verhungern zu müssen glaubte, und über etwas Leben-
diges in der Magengegend klagte, das von da in den Schlund heraufstiege. Man
fand in den Gallengängen der Leber 7 todte Spulwürmer, einen achten
der Geisteskrankheiten. Ulm. 1824.
im Duodenum selbst. In einem andern Falle von schnell entstandener Tobsucht
fand man einen Spulwurm im Ductus choledochus und einige andere im Duodenum.
zuverlässige — S. bei Damerow, Irren-, Heil- und Pflege-Anstalten 1840. pag.
151 seqq.
krankungen vermehren, in Betracht zu ziehen sind.
Was thun wir mit denen, die wir im Irrthum befangen glauben? — Setzen wir
ihnen Blutegel, Purganzen, oder Einwürfe entgegen? — Natürlich Einwürfe!! —
Blätter für Psychiatrie, I., Nasse, in Jacobi und Nasse, Zeitschrift I., p. 216 seqq.
petrière bedeutende Abmagerung, einen Zustand von Marasmus darauf erfolgen
sehen.
Arbeiten seiner Schüler; dagegen Blanche de l’Etat actuel etc.
Krkhtn. Tüb. 1824.
seiner Sorgfalt übergebenen Irren zuerst an die öffentlichen Behörden: man be-
handelte ihn darüber als Moderirten und Aristokraten, Namen, die damals fast
einem Todesurtheil gleich kamen. Dadurch nicht geschreckt, trat er vor den
Pariser Gemeinderath und forderte mit neuer Wärme die Autorisation zu seinen
Reformen. „Bürger,“ sagte da Couthon zu ihm, „ich werde dich morgen in
Bicètre besuchen; und wehe dir, wenn du uns getäuscht hast, wenn du unter
deinen Narren Feinde des Volks verbirgst.“ Couthon kam wirklich; das Ge-
schrei und Geheul der Irren, die er anfangs einzeln ausfragen wollte, war ihm
bald zuwider und er sagte zu Pinel: „Ach, Bürger, bist du selbst ein Narr, dass
du solches Vieh Ioslassen willst? Mach mit ihnen, was du willst; aber ich fürchte
sehr, du wirst das Opfer deiner Vorurtheile werden.“ — Noch denselben Tag
begann Pinel sein Unternehmen und nahm einer Anzahl Kranken die Ketten ab.
S. d. Erzählung, welche nach Pinel’s eigenem Tagebuch sein Sohn gegeben hat.
Mémoires de l’acad. roy. de médecine. Tom. V. Par. 1836.
sie heilbar oder unheilbar seien. S. das Capitel von der Prognose. Für die grosse
Mehrzahl der Fälle ist die Entscheidung über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit
für einen geübten Irrenarzt nach mehrmonatlicher Beobachtung nicht nur möglich,
sondern sogar leicht, und ebenso sicher, als das prognostische Urtheil über jede
andere Krankheit.
von Irren aus den überfüllten Pariser Anstalten in zum Theil sehr entfernte
Provincial-Anstalten, von Trélat, Annal. med. psychol. Tom. IV. 1844. p. 230, 366.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende. Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bj6x.0