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Oſt-Havelland.
Die Landſchaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg.
[][]
Wanderungen durch die Mark Brandenburg.

Dritter Theil.

Oſt-Havelland.
Die
Landſchaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg.


Berlin.:
Verlag von Wilhelm Hertz.
(Beſſerſche Buchhandlung.)

1873.

[][[I]]

Havelland.


Grüß Gott Dich, Heimath! … Nach langem Säumen

In Deinem Schatten wieder zu träumen,

Erfüllt in dieſer Maienluſt

Eine tiefe Sehnſucht mir die Bruſt.

Ade nun Bilder der letzten Jahre,

Ihr Ufer der Somme, der Seine, Loire,

Nach Krieges- und fremder Wäſſer Lauf

Nimm, heimiſche Havel, mich wieder auf.

Es ſpiegeln ſich in Deinem Strome

Wahrzeichen, Burgen, Schlöſſer, Dome:

Der Julius-Thurm, den Märchen und Sagen

Bis Römerzeiten rückwärts tragen,

Das Schildhorn, wo, bezwungen im Streite,

Fürſt Jazko dem Chriſtengott ſich weihte,

Der Harlunger Berg, deß oberſte Stelle

Weitſchauend trug unſre erſte Kapelle,

Das Plauer Schloß, wo fröſtelnd am Morgen

Hans Quitzow ſteckte, im Röhricht verborgen,

Die Pfaueninſel, in deren Dunkel

Rubinglas glühte Johannes Kunkel,

Schloß Babelsberg und „Schlößchen Tegel,“

Nymphäen, Schwäne, blinkende Segel, —

Ob rothe Ziegel, ob ſteinernes Grau,

Du verklärſt es, Havel, in Deinem Blau.

[[II]]
Und ſchöneſt Du alles, was alte Zeiten

Und neue an Deinem Bande reihten,

Wie ſchön erſt, was fürſorglich längſt

Mit liebendem Arme Du umfängſt.

Jetzt Waſſer, drauf Elſenbüſche ſchwanken,

Lücher, Brücher, Horſte, Lanken,

Nun kommt die Sonne, nun kommt der Mai,

Mit der Waſſer-Herrſchaft iſt es vorbei.

Wo Sumpf und Lache jüngſt gebrodelt,

Iſt alles in Teppich umgemodelt, —

Ein Rieſenteppich, blumengeziert,

Viele Meilen im Geviert.

Tauſendſchönchen, gelbe Ranunkel,

Zittergräſer, hell und dunkel,

Und mitteninne (wie das lacht!)

Des rothen Ampfers leuchtende Pracht.

Ziehbrunnen über die Wieſe zerſtreut,

Trog um Trog zu trinken beut,

Und zwiſchen den Trögen und den Halmen,

Unter nährendem Käuen und Zermalmen,

Die ſtille Heerde; … das Glöcklein klingt,

Ein Luftzug das Läuten herüberbringt.

Und an dieſes Teppichs blühendem Saum

Die lachenden Dörfer, ich zähle ſie kaum:

Linow, Lindow,

Rhinow, Glindow,

Beetz und Gatow,

Dreetz und Flatow,

Bamme, Damme, Kriele, Krielow,

Petzow, Retzow, Ferch am Schwilow,

[[III]]
Zachow, Wachow und Groß-Bähnitz,

Marquardt-Uetz an Wublitz-Schlänitz,

Senzke, Lenzke und Marzahne,

Lietzow, Tietzow und Rekahne,

Und zum Schluß in dem leuchtenden Kranz:

Ketzin, Ketzür und Vehlefanz.

Und an Deinen Ufern und an Deinen Seen,

Was, ſtille Havel, ſahſt all Du geſchehn?!

Aus der Tiefe herauf die Unken klingen, —

Hunderttauſend Wenden hier untergingen;

In Lüften ein Lärmen, ein Bellen, ein Jagen,

„Das iſt Waldemar“, ſie flüſtern und ſagen;

Im Torfmoor, neben dem Cremmer Damme,

(Wo Hohenloh fiel) was will die Flamme?

Iſt’s blos ein Irrlicht? … Nun klärt ſich das Wetter,

Sonnenſchein, Trompetengeſchmetter,

Derfflinger greift an, die Schweden fliehn,

Grüß Gott Dich Tag von Fehrbellin.

Grüß Gott Dich Tag, Du Preußen-Wiege,

Geburtstag und Ahnherr unſrer Siege,

Und Gruß Dir, wo die Wiege ſtand,

Geliebte Heimath, Havelland!

Potsdam im Mai 1872.


[[IV]][[V]]

Inhalt.


  • Seite
  • St. Nicolai zu Spandau 1
  • Die Wenden in der Mark 5
  • Geographiſch-Hiſtoriſches 5
  • Lebensweiſe. Sitten. Tracht 13
  • Charakter. Begabung. Cultus 19
  • Rhetra. Arkona. „Was ward aus den Wenden?“ 25
  • Der Brieſelang 35
  • Finkenkrug 37
  • Förſterei Brieſelang 46
  • Die Königseiche 51
  • Der Eibenbaum 55
  • Die Ciſtercienſer in der Mark 65
  • Kloſter Lehnin 73
  • Die Gründung des Kloſters 73
  • Die Aebte von Lehnin 76
  • Abt Siebold von 1180—1190 80
  • Abt Herrmann von 1330—1340 85
  • Abt Heinrich Stich (etwa von 1399—1430) 91
  • Abt Arnold. (Etwa von 1456—1467) 95
  • Abt Valentin. (Etwa von 1509—1542) 98
  • Kloſter Lehnin, wie es war und wie es iſt 104
  • Die Lehninſche Weiſſagung 110
  • Die Havelſchwäne 121
  • Die Seeſchlacht in der Malche 129
  • Das Belvedère 137
  • Die Pfaueninſel 144
  • Die Pfaueninſel bis 1685 144
  • Die Pfaueninſel von 1685—93. Johann Kunkel 145
  • Die Pfaueninſel unter Friedrich Wihlhelm III. 1797—1840 148
  • Die Pfaueninſel 15. Juli 1852 151
  • Frau Friedrich 155
  • Groß-Glinicke 160
  • Seite
  • Der Schwilow 163
  • Caput 169
  • Petzow 184
  • Baumgartenbrück 192
  • Alt-Geltow 197
  • Neu-Geltow 208
  • Werder 217
  • Die Inſel und ihre Bevölkerung. Stadt und Kirche. „Chriſtus
    als Apotheker.“ 217
  • Die Werderſchen 225
  • Glindow 237
  • Bornſtädt 247
  • Marquardt 256
  • Marquardt von 1795—1803 259
  • Marquardt von 1803—1833 277
  • Marquardt von 1833—1858 284
  • Marquardt ſeit 1858 288
  • Geheime Geſellſchaften im 18. Jahrhundert 292
  • Illuminaten und Roſenkreuzer 305
  • Uetz 318
  • Paretz 323
  • Etzin 342
  • Gütergotz 353
  • Saarmund und die Nutheburgen 363
  • Blankenſee 370
  • Trebbin 379
  • Friedrichsfelde 1 398
  • Friedrichsfelde bis 1698 399
  • Friedrichsfelde von 1700—1731 401
  • Friedrichsfelde von 1731—62 403
  • Friedrichsfelde von 1762—85 405
  • Friedrichsfelde von 1785—99 407
  • Friedrichsfelde von 1800—1810 412
  • Friedrichsfelde von 1812—16 415
  • Friedrichsfelde ſeit 1816 418
  • Friedrichsfelde 2.
  • Ernſt Gottlieb Woltersdorf 421
  • Anmerkungen.
  • St. Nicolai zu Spandau. Seite
  • Der Lynar’ſche Altar 430
  • Das Röbellſche Denkmal 431
  • Quaſt. Ribbeck. Noſtiz 432
  • Taufſtein. Schwarzenbergs Wappen 432
  • Die Wenden in der Mark.
  • Der Brieſelang.
  • Alte Eichen 433
  • Der Eibenbaum.
  • Eibenbäume 434
  • Die Ciſtercienſer in der Mark.
  • Lehnin.
  • Die Havelſchwäne.
  • Die Seeſchlacht in der Malche.
  • Die Pfaueninſel.
  • Caput.
  • Die Begegnung der drei Friedriche 436
  • Bornſtädt.
  • Marquardt.
  • Oberſt Maſſenbach und General v. Biſchofswerder.
  • Erſte Unterredung im Januar 1794 438
  • Zweite Unterredung im Februar 1795 438
  • Dritte Unterredung um dieſelbe Zeit .. Februar 1795 439
  • Ignaz Aurelius Feßler 440
  • Ueber Biſchofswerder und Wöllner 441
  • Die Marquiſe Luccheſini 441
  • Geheime Geſellſchaften.
  • Das Geiſterbeſchwören 441
  • Paretz.
  • Das Belvedère 444
  • Etzin.
  • Tagebuch des Paſtor Seegebart445
  • Gütergotz.
  • Seite
  • Saarmund und die Nutheburgen.
  • Die Nutheburgen 452
  • Blankenſee.
  • Trebbin.
  • W. Henſel.
  • Die Lalla-Rukh-Aufführung454
  • I. Der Feſtzug 454
  • II. Die lebenden Bilder 456
  • A. Der verſchleierte Prophet von Khoraſan 456
  • B. Das Paradies und die Peri 456
  • C. Die Gheber 456
  • D. Das Roſenfeſt in Kaſchmir 456
  • Die Henſelſchen Portrait-Mappen.
  • Henſels Gedichte.
  • Geiſtige Wacht 458
  • Friedrichsfelde.
  • Woltersdorfs geiſtliche Lieder 459
[[1]]

St. Nicolai zu Spandau.


Wie Spukgeſtalten die Nebel ſich drehn,
’s iſt ſchaurig über das Moor zu gehn,
Die Ranke häkelt am Strauche.

(Annette Droſte-Hülshof.)

Ein klarer Decembertag; die Erde gefroren, die Dächer bereift.
Aber ſchon miſcht ſich ein leiſes Grau in die heitere Himmels-
bläue, es weht leiſe herüber von Weſten her, und jenes Fröſteln
läuft über uns hin, das uns ankündigt: Schnee in der Luft.


Schnee in der Luft; vielleicht morgen ſchon, daß er in
Flocken niederfällt! So ſeien denn die Stunden genutzt, die
noch einen freien Blick in die Landſchaft geſtatten.


Das Spreethal hinunter, an dem Charlottenburger Schloß
vorbei (deſſen vergoldete Kuppel-Figuren nicht recht wiſſen, ob
ſie in dem ſpärlichen Tageslicht noch blitzen müſſen oder nicht),
über Brücken hin, zwiſchen Schwanen-Rudeln hindurch, geht
der Zug, bis die alte Havelveſte vor uns aufſteigt, mit Brücken
und Gräben, mit Thorwarten und Mauern, und über dem
allen: Sanct Nicolai, die erinnerungsreiche Kirche dieſer
Stadt.


Der Zug hält. Ohne Aufenthalt, mit den Minuten gei-
zend, ſteuern wir durch ein Gewirr immer enger werdender
Gaſſen auf den alten gothiſchen Bau zu, der ſich, auf engem
und kahlem Platze, über den Dächer-Kleinkram hinweg, in die
ſtahlfarbene Luft erhebt. Kein Bau erſten Ranges, aber doch
an dieſer Stelle.


Fontane, Wanderungen. III. 1
[2]

Das Innere, ein ſeltner Fall bei renovirten Kirchen, bietet
mehr als das Aeußere verſpricht. Emporen, wie Brückenbogen
geſchwungen, ziehen ſich zwiſchen den grauweißen Pfeilern hin
und wirken hier, in dem ſonſt ſchmuckloſen Gange faſt wie ein
Ornament (das einzige) des Mittelſchiffes.


Die Kirche ſelbſt, bei aller Schönheit, iſt kahl; im Chor
aber drängen ſich die Erinnerungsſtücke, die der Kirche noch
aus alter Zeit her geblieben ſind. Hier, an der Rundung des
Gemäuers hin, hängen die Wappenſchilde der Quaſte, Ribbeck
und Noſtitz, hier richtet ſich das prächtige Denkmal der Gebrüder
Röbel auf, hier begegnen wir dem berühmten Steinaltar, den
Rochus von Lynar der Kirche ſtiftete und hier endlich (in Front
des Altars) erhebt ſich das dreifußartige, ſchönſte Kunſtform
zeigende Taufbecken, das zugleich die Stelle angiebt, wo unter
dem Eſtrich die Ueberreſte Adam Schwarzenbergs ruhn. Zur
Rechten die eigene Wappentafel des Grafen: der Rabe mit dem
Türkenkopf.


Alle dieſe Dinge indeß ſind es nicht, die uns heute nach
Sanct Nicolai in Spandau geführt haben, unſer Beſuch gilt
vielmehr dem alten Thurme, zu deſſen Höhe ein Dutzend Trep-
penſtiegen hinanführen. Viele dieſer Stiegen liegen im Dunkel,
andre empfangen einen Schimmer durch eingeſchnittene Oeffnun-
gen, alle aber ſind bedrohlich durch ihre Steile und Gradlinig-
keit und machen einem die Weisheit der alten Baumeiſter wieder
gegenwärtig, die ihre Treppen ſpiralförmig durch die dicke Wan-
dung der Thürme zogen und dadurch die Gefahr beſeitigten,
funfzig Fuß und mehr erbarmungslos hinab zu ſtürzen.


Die Treppe frei und gradlinig; und doch iſt es ein Erſtei-
gen mit Hinderniſſen, die Schlüſſel verſagen den Dienſt in den
roſtigen Schlöſſern; man merkt, daß die Höhe von Sanct Nico-
lai zu Spandau keine täglichen Gäſte hat, wie St. Stephan
in Wien, oder St. Paul in London. Endlich ſind wir an Uhr
und Glockenwerken vorbei, haben das Schlüſſelbund, im Kampf
mit Großſchlöſſern und Vorlegeſchlöſſern, ſiegreich durchprobirt
und ſteigen nun durch eine letzte Klappenöffnung, in die luf-
[3] tige Laterne hinein, die den ſteinernen Thurmbau krönt. Keine
Fenſter und Blenden ſind zu öffnen, frei bläſt der Wind durch
das gebrechliche Holzwerk. Das iſt die Stelle, die wir ſuchten.
Ein Lug-ins-Land.


Zu Füßen uns, in ſcharfer Zeichnung, als läge eine Karte
vor uns ausgebreitet, die Zickzackwälle der Feſtung; oſtwärts
im grauen Dämmer die Thürme von Berlin; nördlich, ſüdlich
die bucht- und ſeenreiche Havel, inſelbetupfelt, mit Flößen und
Kähnen überdeckt; nach Weſten hin aber ein breites, kaum hier
und da von einer Hügelwelle unterbrochenes Flachland, das
Havelland.


Wer hier an einem Juni-Tage ſtände, der würde hinaus-
blicken in üppig grüne Wieſen, durchwirkt von Raps- und
Weizenfeldern, geſprenkelt mit Büſchen und rothen Dächern,
ein Bild moderner Cultur; an dieſem grauen Decembertage
aber liegt das ſchöne Havelland brachfeldartig vor uns ausge-
breitet, eine grau-braune, haideartige Fläche, durch welche ſich
in breiten blanken Spiegeln, wie Seeflächen, die Grundwaſſer
und übergetretenen Gräben dieſer Niederungen ziehen. Wir
haben dieſen Tag gewählt, um den flußumſpannten Streifen
Landes, der uns auf dieſen und den folgenden Seiten beſchäf-
tigen ſoll, in der Geſtalt zu ſehen, in der er ſich in alten,
faſt ein Jahrtauſend zurückliegenden Zeiten darſtellte. Ein grauer
Himmel über grauem Land, nur ein Krähenvolk aufſteigend aus
dem Weidenwege, der ſich an den Waſſerlachen entlang zieht,
ſo wie’s in dieſem Augenblick ſich zeigt, war das Land von
Anfang an: öde, ſtill, Waſſer, Weide, Wald.


Aber freilich, auch dieſes Decembertages winterliche Hand
hat das Leben nicht völlig abſtreifen können, das hier langſam,
aber ſiegreich nach Herrſchaft gerungen hat. Dort zwiſchen
Waſſer und Weiden hin läuft ein Damm, im erſten Augenblick
nur wie eine braune Linie von unſerem Thurme aus bemerk-
bar; aber jetzt gewinnt die Linie mehr und mehr Geſtalt; denn
ziſchend, brauſend, dampfend, dazwiſchen einen Funkenregen
ausſtreuend, raſſeln jetzt von zwei Seiten her die langen Wagen-
1*
[4] reihen zweier Züge heran und fliegen — an derſelben Stelle
vielleicht, wo einſt Jazko und Albrecht der Bär ſich trafen —
an einander vorüber. Das Ganze wie ein Blitz! —


Der Tag neigt ſich; der Sonnenball lugt nur noch blut-
roth aus dem Grau des Horizonts hervor. Ein rother Schein
läuft über die grauen Waſſerflächen hin. Nun iſt die Sonne
unter, die Nebel ſteigen auf und wälzen ſich von Weſten her
auf die Stadt und unſere Thurmſtelle zu. Noch ſehen wir,
wie aus dem nächſten Röhricht ein Volk Enten aufſteigt; aber
ehe es in die nächſte Lache niederfällt, iſt das ſchwarze Geflatter
in dem allgemeinen Grau verſchwunden.


Das Havelland träumt wieder von alter Zeit.


[[5]]

Die Wenden in der Mark.


1.
Geographiſch-Hiſtoriſches.


Lichthelle Götter,
Höret,
Höret unſer Flehen um Sieg!
Wir kämpfen für Leben und Freiheit,
Für Weib und Kind.
Nothſchirmer Radigaſt,
Krieghelfer Svantevit,
Leidwahrer Triglaw,
O, verleihet uns Sieg!

(Carl Seidel.)

Am Nordufer der Mittel-Havel, zugleich den Havelgau
und ſüdlich davon die „Zauche“ beherrſchend, lag die alte Wen-
denfeſte Brennibor. Ihre Eroberung durch Albrecht den
Bären (1157) entſchied über den Beſitz dieſes und der benach-
barten Landestheile, die von da ab ihrer Chriſtianiſirung und,
was inſonderheit die Havelgegenden angeht, auch ihrer Ger-
maniſirung
raſch entgegen gingen. Dieſe Germaniſirung,
ſoweit ſie durch die Klöſter erfolgte, ſoll uns in den nächſten
Capiteln beſchäftigen; unſre heutige Aufgabe aber wendet ſich
ausſchließlich der heidniſchen Epoche vor 1157 zu und verſucht
in dieſer Vorgeſchichte der Mark eine Geſchichte der mär-
kiſchen
Wenden zu geben. Dieſer Ausdruck iſt nicht völlig
correkt. Es ſoll heißen: Wenden, die, noch eh es eine
„Mark“ gab
, in demjenigen Landestheile wohnten, der ſpä-
ter Mark Brandenburg hieß.


[6]

Zuerſt ein Wort über die Wenden überhaupt. Sie
bildeten den am meiſten nach Weſten vorgeſchobenen Stamm
der großen ſlaviſchen Völkerfamilie; hinter ihnen nach Oſten
und Südoſten ſaßen die Polen, die Südſlaven, die Groß- und
Klein-Ruſſen.


Die Wenden rückten, etwa um 500, in die halb entvöl-
kerten Lande zwiſchen Oder und Elbe ein. Sie fanden hier noch
die zurückgebliebenen Reſte der alten Semnonen, jenes ger-
maniſchen
Stammes, der vor ihnen das Land zwiſchen Elbe
und Oder inne gehabt und es — entweder einem Drucke von
Oſten her nachgebend, oder aber durch Abenteuerdrang dazu
getrieben — im Laufe des 5. Jahrhunderts verlaſſen hatte.
Nicht alle indeß, ſo ſcheint es, hatten ſich dieſem Wanderzuge
angeſchloſſen; Greiſe, Weiber, Kinder, dazu alles, was wir
heute als „Invalide“ bezeichnen würden, war zurückgeblieben,
und alle dieſe Reſte ehemaligen germaniſchen Lebens kamen nun-
mehr in Abhängigkeit von den vordringenden Wenden. Dieſe
wurden der herrſchende Stamm und gaben dem Lande ſein
Gepräge, den Dingen und Ortſchaften ihre wendiſchen Namen.
Als nach drei-, vier- und fünfhundert Jahren die Deutſchen
zum erſten Mal wieder mit dieſem Lande „zwiſchen Elbe und
Oder“ in Berührung kamen, fanden ſie, wenige Spuren ehe-
maligen deutſchen Lebens abgerechnet, ein völlig ſlaviſches d. h.
wendiſches Land vor.


Das Land zwiſchen Elbe und Oder war wendiſch gewor-
den, ebenſo die Territorien zwiſchen Oder und Weichſel. Aber
das weſtliche Wendenland war doch die Hauptſache. Hier,
zwiſchen Oder und Elbe, ſtanden die berühmteſten Tempel, hier
wurden die Entſcheidungsſchlachten geſchlagen; hier endlich wohn-
ten die tapferſten und die mächtigſten Stämme.


Dieſer Stämme, wenn wir von kleineren Gemeinſchaften
vorläufig abſehn, waren drei: die Obotriten im heutigen
Mecklenburg, die Liutizen in Mark und Vorpommern, die
Sorben oder Serben im Meißniſchen und der Lauſitz.


[7]

Unter dieſen drei Hauptſtämmen der Weſtwenden, ja viel-
leicht der Wenden überhaupt, waren wiederum die Liutizen
(denen alſo die märkiſchen Wenden als weſentlicher Bruchtheil
zugehörten) die ausgedehnteſten und mächtigſten. Mit ihnen
ſtand und fiel die Vormauer des Slaventhums, und der beſte,
zuverläſſigſte und wichtigſte Theil der ganzen Wendengeſchichte iſt
die Geſchichte dieſes Stammes, die Geſchichte der Liutizen.
Schaffarick ſagt von ihnen: „Unter den polabiſchen d. h.
den an der Elbe wohnenden Slaven waren die Liutizen oder
Lutizer oder Weleten durch ihre Volksmenge und Streitbarkeit,
wie durch ihre Ausdauer bei alten Sitten und Gebräuchen, die
berühmteſten. Ihr Name wird in den deutſchen Annalen von
Karl dem Großen bis zu ihrer völligen Unterwerfung (1157)
öfter denn irgend ein andrer Volksname genannt; er herrſcht
ſogar in altdeutſchen Sagen und Märchen. In ruſſiſchen Volks-
ſagen wird er noch heutigentags vom Volke mit Schrecken
erwähnt.“ So weit Schaffarick. Eh wir indeſſen zu einer
kurzgefaßten Geſchichte der Liutizen überhaupt übergehn, ſchicke
ich den Verſuch einer politiſchen Geographie des Liutizier-Lan-
des vorauf.


Die Liutizen, wie ſchon angedeutet, hatten ihre Sitze nicht
blos in der Mark; einige ihrer hervorragendſten Stämme bewohn-
ten Neu-Vorpommern, noch andere (darunter die vielgenannten
Redarier) das heutige Mecklenburg-Strelitz. Sie lebten inner-
halb dieſer drei Landestheile: Mark, Strelitz, Vorpommern, in
einer nicht genau zu beſtimmenden Anzahl von Gauen, von
denen folgende die wichtigſten waren oder doch die bekannteſten
geweſen ſind.


In der Mark: die Brizaner in der Priegnitz; die
Morizaner in der Gegend von Leitzkau, Grabow, Nedlitz;
die Stodoraner und Heveller in Havelland und Zauche; die
Spriavaner im Teltow und Nieder-Barnim alſo zu beiden
Seiten der Spree; die Riezaner in der Nähe von Wriezen
(Ober-Barnim, Oderbruch); die Ukraner in der Nähe von
Paſewalk.


[8]

In Pommern und Mecklenburg-Strelitz: die
Kiſſiner in der Nähe von Güſtrow; die Circipaner um
Wolgaſt herum; die Dolenzer um Demmin und Stolp; die
Ratarer oder Retarier zwiſchen Ober-Havel, Peene und
Tolenſe (nach Raumer bis zur Doſſe); die Woliner auf
Wolin und Uſedom; die Rujanen oder Ranen auf Rügen.
Kleinere eingeſtreute Gaue waren: Sitna oder Ziethen (Groß-
und Klein-Zieten bei Korin); der Murizzi-Gau am Müritz-
See; der Doſſaner Gau an der Doſſe bei Wittſtock.


Unter allen dieſen Völkerſchaften, Stämmen und Stämm-
chen (man könnte ſie Clans nennen) waren wohl die Ranen
und die Retarier die wichtigſten, beide als Hüter der zwei hei-
ligſten Tempelſtätten Rhetra*) und Arkona; die Ranen außer-
dem noch ausgezeichnet als Seefahrer und ſiegreich über die
Dänen.


Keiner der einzelnen Stämme der märkiſchen Wenden
konnte nach dieſer Seite hin mit den zwei wendiſchen Hauptſtäm-
men in Pommern und Mecklenburg (den Ranen und Retariern)
wetteifern, aber anderſeits fiel den märkiſchen Wenden die Aufgabe
zu, in den jahrhundertlangen Kämpfen mit dem andringenden
Deutſchthum beſtändig auf der Vorhut zu ſtehn, und in dem
Muth, den die Spree- und Havelſtämme in dieſen Kämpfen
entwickelt haben, wurzelt ihre Bedeutung. Wenn die Ranen,
und namentlich auch die Retarier, wie ein Stamm Levi, kirch-
lich vorherrſchten, ſo prävalirten die märkiſchen Wenden poli-
tiſch. Brandenburg, das wir wohl nicht mit Unrecht als den
wichtigſten Punkt dieſes märkiſchen Wenden-Landes anſehn,
wurde neun mal erobert und wieder verloren, ſiebenmal durch
[9] Sturm, zweimal durch Verrath. Die Kämpfe drehten ſich mehr
oder weniger um dieſen Punkt.


Die erſten Berührungen mit der wendiſchen Welt, mit den
Volksſtämmen zwiſchen Elbe und Oder, fanden unter Carl dem
Großen ſtatt; ſie führten zu nichts Erheblichem. Erſt unter
dem erſten Sachſenkaiſer, Heinrich dem Finkler, wurde eine
Unterwerfung der Wenden verſucht und durchgeführt.


Dieſe Kämpfe begannen im Jahre 924 durch einen Ein-
fall Heinrich’s in das Land der Stodoraner und durch Weg-
nahme Brennibor’s. Dieſem Siege Heinrich’s folgten Aufſtände
(die Retarier, Stodoraner, Ukraner werden eigens genannt),
und den wendiſchen Aufſtänden folgten neue deutſche Siege.


Es war eine endlos ausgeſponnene Kette, in der jedes ein-
zelne Glied ſo Urſach wie Wirkung war. Die deutſche Grau-
ſamkeit ſchuf wendiſche Aufſtände, und den wendiſchen Auf-
ſtänden folgten neue Siege der Deutſchen, Siege, die wiederum
zur Grauſamkeit führten und ſo das alte Wechſelſpiel wieder-
holten. So war es unter Kaiſer Heinrich, und ſo war es unter
Otto dem Großen. Zweimal wurden die Wenden in blutigen
Schlachten niedergeworfen, 920 bei Lunkini (Lenzen)*) 935 am
[10] Doſa-Fluß (an der Doſſe), aber ihre Kraft war ungebrochen,
und der Tag kam heran, der beſtimmt war, den bis dahin ſtets
unterlegenen Aufſtänden zu einem Siege zu verhelfen. Dies
war die Schlacht am Tanger-Fluß 983. Da von dieſem
Siegestage der Wenden an, das nach ſo vielen Niederlagen ſchon
halb todt geglaubte Wendenthum einen neuen Aufſchwung nahm
und noch einmal in aller Macht und Furchtbarkeit aufblühte,
ſo mag es geſtattet ſein, bei den Vorgängen einen Augenblick
zu verweilen, die zu dieſer Schlacht und dem ihr voraufgehen-
den großen Wenden-Aufſtande führten.


Miſtiwoi war Obotritenfürſt und bereits Chriſt geworden.
Er hielt zum Herzog Bernhard, der damals Markgraf der Nord-
mark war, und fühlte ſich dem Markgrafen an Macht, Geburt
und Anſehen nah genug, um um deſſen Nichte anzuhalten. Der
Markgraf verſprach ſie ihm; Miſtiwoi aber, um ganz in die
Reihe chriſtlicher Fürſten einzutreten, zog zunächſt mit 1000
wendiſchen Edelleuten nach Italien und focht an Kaiſer Otto’s
Seite in der großen Schlacht bei Baſantello. Als er zurück-
gekehrt war, erſchien er vor Markgraf Bernhard und bat um
die Hand der Nichte. Dieſer ſchwankte einen Augenblick, und
ein andrer deutſcher Fürſt, der neben dem Markgrafen ſtand,
raunte dieſem zu: „Mit nichten; eines deutſchen Herzogs Bluts-
verwandte gehört nicht an die Seite eines wendiſchen Hun-
des
.“ Miſtiwoi hatte gehört, was der Nebenſtehende halblaut
vor ſich hin geſprochen hatte, und verließ die Halle. Bern-
hard, der ahnen mochte, was folgen werde, ſchickte ihm Boten
nach, aber umſonſt; der tödtlich verletzte Wendenfürſt ließ nur
antworten: „Der Tag kommt, wo die Hunde beißen.“ Er ging
nun nach Rhetra, wo der Haupttempel aller wendiſchen Stämme
ſtand, und rief — die Obotriten ſtanden ſelbſtverſtändlich zu
ihm — auch alle liutiziſchen Fürſten zuſammen und erzählte
ihnen die erlittene Schmach. Dann that er ſein Chriſtenthum
von ſich und bekannte ſich vor dem Bilde Radegaſt’s auf’s Neue
zu den alten Göttern. Darauf ließ er dem Sachſengrafen
ſagen: „Nun hab Acht, Miſtiwoi der Hund kommt, um zu
[11]bellen und wird bellen, daß ganz Sachſenland erſchrecken
ſoll.“ Der Markgraf aber antwortete: „Ich fürcht nicht das
Brummen eines Bären, geſchweige das Bellen eines Hundes.“
Am Tangerfluß kam es zur Schlacht, und die Sachſen wurden
geſchlagen. Das hatte Miſtiwoi der Hund gethan. Die
Unterwerfung, die
924 begonnen hatte, hatte 983
wieder ein Ende.


Der Dom zu Brandenburg wurde zerſtört, und auf dem
Harlunger Berge erhob ſich das Bild des Triglaff. Von dort
aus ſah es noch wieder 150 Jahre lang in wendiſche Lande
hinein. Die Liutizen waren frei.


Drei Generationen hindurch hielt ſich, nach dieſem großen
Siege, die Macht der Wenden unerſchüttert; Kämpfe fanden
ſtatt, ſie rüttelten an der wiedererſtandenen Wendenmacht, aber
ſie brachen ſie nicht. Erſt mit dem Eintritt des 12. Jahrhun-
derts gingen die Dinge einer Wandlung entgegen; die Wen-
denſtämme, untereinander in Eiferſüchteleien ſich aufreibend, zum
Theil auch uneins durch die raſtlos weiter wirkende Macht des
Chriſtenthums, waren endlich wie ein unterhöhlter Bau, der
bei dem erſten ernſteren Sturme fallen mußte. Die Spree-
und Havellandſchaften waren, ſo ſcheint es, die letzten Zufluchts-
ſtätten des alten Wendenthums; Brennibor, nachdem rundum
immer weiteres Terrain verloren gegangen war, war mehr
und mehr der Punkt geworden, an deſſen Beſitz ſich die
Frage knüpfte, wer Herrſcher ſein ſolle im Lande, Sachſe oder
Wende, Chriſtenthum oder Heidenthum. Das Jahr 1157,
wie Eingangs ſchon bemerkt, entſchied über dieſe Frage. Albrecht
der Bär erſtürmte Brennibor, die letzten Aufſtände der Bri-
zaner und Stodoraner wurden niedergeworfen, und mit der
Unterwerfung des Spree- und Havellandes empfing das Wen-
denland zwiſchen Elbe und Oder überhaupt den Todesſtoß.
(Rhetra war ſchon vorher gefallen, wenigſtens ſeiner höchſten
Macht entkleidet worden. Nur der Swantewittempel auf Arkona
hielt ſich um zwanzig Jahre länger, bis König „Waldemar
der Sieger“ auch dieſen zerſtörte.)


[12]

Soviel in kurzen Zügen von der Geſchichte des Wenden-
landes zwiſchen Elbe und Oder. Wir wenden uns jetzt einer
mehr culturhiſtoriſchen Unterſuchung zu und ſtellen zuſammen,
was wir über Charakter, über Sitte, Recht und Cultur des
alten Wendenthums wiſſen.


[[13]]

2.
Lebensweiſe. Sitten. Tracht.


Sie ſpinnen,

Haben Linnen,

Sie regeln

Den Fluß und das Wehr,

Und mit Schiffen und Segeln

Sind ſie zu Hauſe auf offnem Meer.

Die Frage iſt oft aufgeworfen worden, ob die Wenden wirk-
lich auf einer viel niedrigeren Stufe als die vordringenden
Deutſchen geſtanden hätten, und dieſe Frage iſt nicht immer
mit einem beſtimmten „Ja“ beantwortet worden. Sehr wahr-
ſcheinlich war die Superiorität der Deutſchen, die man ſchließ-
lich wird zugeben müſſen, weniger groß, als deutſcherſeits
vielfach behauptet worden iſt.


Die Wenden, um mit ihrer Wohnung zu beginnen, hauſten
keineswegs (wie ein mir vorliegender Stich ſie darſtellt) in ver-
palliſadirten Erdhöhlen, um ſich gleichzeitig gegen Wetter und
Wölfe zu ſchützen; ſie hatten Bauten mannigfacher Art, die
mehr oder weniger wirklichen Häuſern entſprachen. Daß von
ihren Gebäuden, öffentlichen und privaten, kein einziges beſtimmt
nachweisbar auf uns gekommen iſt, könnte dafür ſprechen, daß
dieſe Bauten von einer inferioren Beſchaffenheit geweſen wären;
wir dürfen aber nicht vergeſſen, daß die ſiegreichen Deutſchen
natürlich alle hervorragenden Gebäude (die ſämmtlich Tempel
oder Veſten waren), ſei es aus Rache oder ſei es zu eigner
Sicherheit, zerſtörten, während die ſchlichten Häuſer und Hütten
[14] im Laufe der Jahrhunderte ſich natürlich eben ſo wenig erhalten
konnten, wie deutſche Häuſer und Hütten aus jener Zeit.


Die Wenden, ſo viel ſteht feſt, hatten verhältnißmäßig
wohleingerichtete Häuſer, und die Frage bleibt zunächſt nur,
wie waren dieſe Häuſer. Wahrſcheinlich ſehr verſchiedener Art.
Wie wir noch jetzt, oft bunt durch einander, noch häufiger nach
Diſtrikten geſchieden, Lehmkathen, Fachwerk-, Feldſtein- und
Backſteinhäuſer finden (der Stroh-, Schilf-, Schindel- und
Ziegeldächer ganz zu geſchweigen), ſo war es gewiß auch in
alten Wendenzeiten, nur noch wechſelnder, nur noch abhängiger
von dem Material, das gerade zur Hand war. In den Fiſcher-
dörfern an der Spree und Havel hin, in den Sumpfgegenden,
die kein anderes Material kannten als Elſen und Eichen, waren
die Dörfer muthmaßlich Blockhäuſer, wie man ihnen noch jetzt
in den Spreewaldgegenden begegnet; auf dem Feldſtein-über-
ſäten Barnim-Plateau richteten ſich, wie noch jetzt vielfach in
den dortigen Dörfern geſchieht, die Wohnungen höchſt wahr-
ſcheinlich aus Feldſtein auf, in fruchtbaren Gegenden aber, wo
der Lehm zu Tage lag, wuchs das Lehm- und das Ziegelhaus
auf; — denn die Wenden verſtanden ſich ſehr wohl auf die
Nutzung des Lehms und ſehr wahrſcheinlich auch auf das Ziegel-
brennen. Daß ſie unter ihrem Geräth nachweisbar auch den
Mauerhammer hatten, deutet wenigſtens darauf hin. Ein-
zelne dieſer Dinge ſind nicht geradezu zu beweiſen, aber ſie
müſſen ſo geweſen ſein nach einem Naturgeſetz, das fortwirkt
bis auf dieſen Tag. Armes Volk (oder uncultivirtes) baut ſich
ſeine Wohnungen aus dem, was es zunächſt hat: am Veſuv
aus Lava, in Irland aus Torf, am Nil aus Nilſchlamm, an
den Pyramiden aus Trümmern vergangener Herrlichkeit. So
war es immer, wird es immer ſein; — ſo war es auch bei
den Wenden.


Die Wenden aber hatten nicht nur Häuſer, ſie wohn-
ten auch, wie ſchon angedeutet, in Dörfern und Städten.
Ihre Dörfer zogen ſich zu Hunderten und Tauſenden durch
das Land. Die wendiſchen Namen unſerer Ortſchaften beweiſen
[15] dies zur Genüge. Manche Gegenden haben nur wendiſche
Namen. Um ein Beiſpiel ſtatt vieler zu geben, die Dörfer
um Ruppin herum heißen: Carwe, Gnewkow, Gartz, Wuſtrau,
Bechlin, Steffin, Krentzlin, Metzeltin, Dabergotz, Gantzer,
Lentzke, Manker ꝛc., lauter wendiſche Namen. Aehnlich iſt es
überall in der Mark, in Lauſitz und Pommern; ſelbſt viele
deutſch klingende Namen wie Wuſtrau, Wuſterhauſen ꝛc. ſind
nur ein germaniſirtes Wendiſch.


Wie die Dörfer waren, ob groß ob klein, ob ſtark bevöl-
kert oder ſchwach, kann, da jegliche beſtimmte Angabe darüber
fehlt, nur durch Combination herausgerechnet, alſo nur hypo-
thetiſch feſtgeſtellt werden. Die große Zahl der Todtenurnen,
die man findet, außerdem die Mittheilungen Thietmar’s u. A.,
daß bei Lunkini 100,000 Wenden gefallen ſeien, ſcheinen darauf
hinzudeuten, daß das Land allerdings ſtark bevölkert war.
Unſicher, wie wir über Art und Größe der wendiſchen Dör-
fer
ſind, ſind wir’s auch über die Städte. Einzelne galten
für bedeutend genug, um mit den Schilderungen ihres Glanzes
und ihres Unterganges die Welt zu füllen, und wie geneigt
wir ſein mögen, der poetiſchen Darſtellung an dieſem Weltruhm
das beſte Theil zuzuſchreiben, ſo kann doch das Geſchilderte nicht
ganz Fiktion geweſen ſein, ſondern muß in irgend etwas Vor-
handenem ſeine reale Anlehnung gehabt haben. Beſonderes
Anſehen hatten die Handelsſtädte am baltiſchen Meere. Unter
dieſen war Jumne, wahrſcheinlich am Ausfluß der Swine
gelegen, eine der gefeiertſten. Adam von Bremen erzählt von
ihr: ſie ſei eine ſehr angeſehene Stadt und der größte Ort,
den das heidniſche Europa aufzuweiſen habe. „In ihr — ſo
fährt er fort — wohnen Slaven und andere Nationen, Grie-
chen und Barbaren. Denn auch den dort ankommenden Sachſen
iſt, unter gleichem Rechte mit den Uebrigen, zuſammen zu
wohnen verſtattet, freilich nur, ſo lange ſie ihr Chriſtenthum
nicht öffentlich kundgeben. Uebrigens wird, was Sitte und
Gaſtlichkeit anlangt, kein Volk zu finden ſein, das ſich
ehrenwerther und dienſtfertiger bewieſe. Jene Stadt beſitzt auch
[16] alle möglichen Annehmlichkeiten und Seltenheiten. Dort findet
ſich der Vulkanstopf, den die Eingeborenen das „griechiſche
Feuer“ nennen; dort zeigt ſich auch Neptun in dreifacher Art,
denn von drei Meeren wird jene Inſel beſpült, deren eines
von ganz grünem Ausſehn ſein ſoll, das zweite aber von weiß-
lichem; das dritte iſt durch ununterbrochene Stürme beſtändig
in wuthvoll brauſender Bewegung.“


Dieſe Beſchreibungen zeitgenöſſiſcher Schriftſteller, wie auch
die Beſchreibung von Vineta oder Julin (die beide daſſelbe ſind)
beziehen ſich auf wendiſche Handels- und Küſtenſtädte. Es
iſt indeſſen wahrſcheinlich, daß die märkiſch-wendiſchen Binnen-
ſtädte wenig davon verſchieden waren, wenn auch vielleicht um
etwas geringer. An Handel waren ſie gewiß unbedeutender,
aber dafür ſtanden ſie dem deutſchen Leben und
ſeinem Einfluß näher
.


Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, wie lebten die
Wenden in ihren Dörfern und Städten, wie kleideten, wie
beſchäftigten ſie ſich, ſo wird das Wenige, was wir bis hierher
über ihre Häuſer u. ſ. w. geſagt haben, auch ein gewiſſes Licht
auf dieſe Dinge werfen. Wie beſchäftigten ſie ſich? Neben der
Führung der Waffen, die Sache jedes Freien war, gab es ein
mannigfach gegliedertes, gewerbliches Leben. Die Ausſchmückung
der Tempel, Ausſchmückungen, wie man ihnen noch jetzt in alt-
ruſſiſchen Kirchen begegnet und wie ſie in den alten Schrift-
ſtellern der Wendenzeit vielfach beſchrieben werden, laſſen keinen
Zweifel darüber, daß die Wenden eine Art von Kunſt, wenig-
ſtens von Kunſthandwerk kannten und übten. Sie ſchnitzten
ihre Götzenbilder in Holz oder fertigten ſie aus Erz und Gold,
ſie bemalten ihre Tempel und färbten das Schnitzwerk, das
als groteskes Ornament die Tempel zierte. Den Schiffbau
kannten ſie (die kühnen Seeräuberzüge der Ranen beweiſen es
zur Genüge), und ihr Haus- und Kriegsgeräth war mannig-
fach. Sie kannten den Haken zur Beackerung und die Sichel
um das Korn zu ſchneiden. Die feineren Wollen-Zeuge (ſo
berichten die Chroniſten) kamen aus Sachſen; aber eben aus
[17] der ſpeciellen Anführung des Chroniſt en, daß die feineren
Zeuge aus Sachſen kamen, geht zur Genüge hervor, daß die
minder feinen im Lande ſelber bereitet wurden. Einheimiſche
Arbeit war auch die Leinewand, in welche die Nation ſich klei-
dete und wovon ſie zu Segeln und Zelten große Mengen
gebrauchte. Es iſt alſo wohl nicht zu bezweifeln, daß der
Webſtuhl im Wendenlande bekannt war wie im ganzen Norden
bis nach Island, und daß die Hände, welche den Flachs und
den Hanf dem Erdboden abgewannen, ihn auch zu verarbeiten
verſtanden. Die Hauptbeſchäftigungen blieben freilich Jagd und
Fiſcherei, daneben die Bienenzucht. Das Land wies darauf
hin; noch jetzt in den ſlaviſchen Flachlanden Oſteuropa’s, auf
den Strecken zwiſchen Wolga und Ural, wo weite Haiden mit
Lindenwäldern wechſeln, begegnen wir denſelben Erſcheinungen,
derſelben Beſchäftigung. Die Honigerträge waren reich und
wichtig, weil aus ihnen der Meth gewonnen wurde. Bier
wurde aus Gerſte gebraut. Die Fiſche wurden friſch oder ein-
geſalzen gegeſſen, denn man benutzte die Soolquellen und wußte
das Salz aus ihnen zu gewinnen. Vieles ſpricht dafür, daß
ſie ſelbſt Bergbau trieben und das Eiſen aus dem Erz zu ſchmel-
zen verſtanden.


Noch ein Wort über die nationale Kleidung der Wen-
den. Es liegen nur Andeutungen darüber vor. Daß ſie ſo
geweſen ſei, oder auch nur ähnlich, wie die Wenden ſie jetzt
noch tragen, iſt wohl falſch. Die wendiſche Tracht entwickelte
ſich in den wendiſch gebliebenen Gegenden unter dem Einfluß
wenn nicht der deutſchen Mode, ſo doch des deutſchen Stoffs
und Materials, und es bedarf wohl keiner Verſicherung, daß
die alten urſprünglichen Wenden weder Faltenröcke noch Zwickel-
ſtrümpfe, weder Mancheſtermieder noch Ueberfallkragen gekannt
haben. All dies iſt ein in ſpätern Culturzeiten Gewor-
denes, an dem die Wenden-Ueberreſte nolens volens theilneh-
men mußten. Gieſebrecht beſchreibt ihre Kleidung wie folgt:
„Zur nationalen Kleidung gehörte ein kleiner Hut, ein Ober-
gewand, Unterkleider und Schuhe oder Stiefeln; barfuß gehen
Fontane, Wanderungen. III. 2
[18] wurde als ein Zeichen der äußerſten Armuth betrachtet. Die
Unterkleider konnten gewaſchen werden; der Stoff, aus dem ſie
beſtanden, war alſo vermuthlich Leinewand. Das Oberkleid war
wollen.“ Ueber Schnitt der Kleidung und die bevorzugten
Farben wird nichts geſagt, doch dürfen wir wohl annehmen,
daß ſich eine Vorliebe für das Bunte (wie ſie die wendiſchen
Trachten und faſt alle Nationaltrachten zeigen) darin ausſprach.
Der kleine Hut und die leinenen Unterkleider: Rock, Weſte,
Beinkleid, finden ſich übrigens noch bis dieſen Tag bei den
Spreewalds-Wenden vor. Nur die Frauentrachten weichen
völlig davon ab.


[[19]]

3.
Charakter. Begabung. Cultus.


In trotzigem Muth,

Gaſtfrei und gut,

Haben für ihre Götter und Sitten

Sie wie die Märtyrer gelitten.

Nachdem wir bis hierher die äußere Erſcheinung betont
und die Frage zu beantworten geſucht haben: wie ſahen die alten
Wenden aus? wie wohnten ſie? wie beſchäftigten und wie
kleideten ſie ſich, wenden wir uns in Folgendem mehr ihrem
geiſtigen Leben zu, der Frage: wie war ihr Charakter, ihre
geiſtige Begabung, ihr Rechtsſinn, ihre Religioſität.


Die Wenden haben uns leider kein einziges Schriftſtück
(wahrſcheinlich hatten ſie nichts derart) hinterlaſſen, das uns als
Anhaltepunkt dienen könnte, um danach die Schilderungen, die
uns ihre bittern Feinde, die Deutſchen, von ihnen entworfen
haben, nöthigenfalls zu corrigiren. Wir hören eben nur eine
Partei ſprechen, dennoch ſind auch dieſe Schilderungen ihrer
Gegner nicht eigentlich dazu angethan, uns mit Abneigung gegen
den Charakter der Wenden zu erfüllen. Wir begegnen mehr
liebenswürdigen als häßlichen Zügen, und wo wir dieſe häß-
lichen Züge treffen, iſt es gemeinhin unſchwer zu erkennen,
woraus dieſe Häßlichkeiten hervorgingen. Meiſt waren es Re-
preſſalien, Regungen der Menſchennatur überhaupt, nicht einer
ſpezifiſch böſen Menſchennatur.


Zwei Tugenden werden den Wenden von allen deutſchen
Chronikenſchreibern jener Epoche (Widukin, Thietmar, Adam von
2*
[20] Bremen) zuerkannt: ſie waren tapfer und gaſtfrei. Ihre Tapfer-
keit ſpricht aus der ganzen Geſchichte jener Epoche, und der
Umſtand, daß ſie trotz Fehden und ſteter Zerſplitterung ihrer
Kräfte dennoch den Kampf gegen das übermächtige Deutſchthum
zwei Jahrhunderte lang fortſetzen konnten, läßt ihren Muth
in allerglänzendſtem Lichte erſcheinen. Sie waren ausgezeichnete
Krieger, zu deren angeborner Tapferkeit ſich noch andere krie-
geriſche Gaben, wie ſie den Slaven eigenthümlich ſind, geſell-
ten: Raſchheit, Schlauheit, Zähigkeit. Hierin ſind alle deutſchen
Chroniſten einig; eben ſo einig ſind ſie in Anerkennung der
wendiſchen Gaſtfreundſchaft. „Um Aufnahme zu bitten, hatte
der Fremde in der Regel nicht nöthig; ſie wurde ihm wett-
eifernd angeboten. Jedes Haus hatte ſeine Gaſtzimmer und
immer offne Tafel. Freigiebig wurde verthan, was durch Acker-
bau, Fiſchfang, Jagd, auch wohl durch Handel und Gewerbe
(in den größeren Städten) gewonnen worden war. Je frei-
gebiger der Wende war, für deſto vornehmer wurde er gehalten,
und für deſto vornehmer hielt er ſich ſelbſt. Wurde — was
übrigens äußerſt ſelten vorkam — von dieſem oder jenem ruch-
bar, daß er das Gaſtrecht verſagt habe, ſo verfiel er allgemei-
ner Verachtung, und ſein Haus und Hof durften in Brand
geſteckt werden.“


Sie waren tapfer und gaſtfrei, aber ſie waren falſch und
untreu, ſo berichten die alten Chroniſten weiter. Die alten
Chroniſten ſind indeſſen ehrlich genug hinzuzuſetzen: „untreu
gegen ihre Feinde.“ Dieſer Zuſatz legt einem ſofort die
Frage nahe: wie waren denn nun aber dieſe Feinde? waren
ſie, ganz von aller ehrlichen Feindſchaft, von offenem Kampfe
abgeſehen, waren dieſe Feinde ihrerſeits von einer Treue, einem
Worthalten, einer Zuverläſſigkeit, die den Wenden ein Sporn
hätten ſein können, Treue mit Treue zu vergelten?


Die Erzählungen der Chroniſten machen uns die Antwort
auf dieſe Frage leicht; in rühmlicher Unbefangenheit erzählen
ſie uns die endloſen Perfidieen der Deutſchen. Dies erklärt ſich
daraus, daß ſie, von Parteigeiſt erfüllt und blind im Dienſt
[21] einer großen Idee, die eigenen Perfidieen vorweg als gerechtfer-
tigt anſahen; wendiſcher Verrath aber war einfach Verrath und
ſtand da ohne allen Glorienſchein in nackter alltäglicher Häßlich-
keit. Der Wende war ein „Hund“, ehrlos, rechtlos, und
wenn er ſich unerwartet aufrichtete und ſeinen Gegner biß, ſo
war er untreu. Ein Hund darf nicht beißen, es geſchehe ihm
was da wolle. Die Geſchichte von Miſtewoi haben wir gehört,
ſie zeigt die ſchwindelnde Höhe deutſchen Undanks und deutſcher
Ueberhebung; in noch ſchlimmerem Lichte erſcheint das Deutſch-
thum in der Geſchichte von Markgraf Gero. Dieſer, wie in
Balladen oft erzählt, ließ 30 wendiſche Fürſten, alſo wahrſchein-
lich die Häupter faſt aller Stämme zwiſchen Elbe und Oder, zu
einem Gaſtmahl laden, machte die Erſchienenen trunken und ließ
ſie dann ermorden. Das war 939. Nicht genug damit. Im
ſelben Jahre vollführte er einen zweiten Liſt- und Gewaltſtreich.
Den Tugumir, einen flüchtigen Fürſten der Heveller, den er
durch Verſprechungen auf ſeine Seite zu ziehen gewußt hatte,
ließ er nach Brannibor zurückkehren, wo er Haß gegen die
Deutſchen heucheln und dadurch die alte Gunſt ſeines Stammes
ſich wieder erobern mußte. Aber kaum im Beſitz dieſer Gunſt,
tödtete er nunmehr ſeinen Neffen, der in wirklicher Treue und
Aufrichtigkeit an der Sache der Wenden hing, und öffnete dann
dem Gero die Thore, deſſen bloßes Werkzeug er geweſen war.
Das waren die Thaten, mit denen die Deutſchen — freilich
oft unter Hilfe und Zuthun der Wenden ſelbſt — voranſchritten.
Weder die Deutſchen noch ihre Chroniſten, zum Theil hochkirch-
liche Männer, ließen ſich dieſe Verfahrungsweiſe anfechten, klag-
ten aber mal auf mal über die „Falſchheit der götzendieneriſchen
Wenden.“


Die Wenden waren tapfer und gaſtfrei, und wie wir uns
überzeugt halten, um kein Haar falſcher und untreuer als
ihre Beſieger, die Deutſchen; aber in einem waren ſie ihnen
allerdings unebenbürtig, in jener geſtaltenden, große Ziele von
Generation zu Generation unerſchütterlich im Auge behaltenden
Kraft, die zu allen Zeiten der Grundzug der germaniſchen Race
[22] geweſen und noch jetzt die Garantie ihres Lebens, ihrer Dauer-
barkeit iſt. Die Wenden von damals waren wie die Polen
von heut
. Ausgerüſtet mit liebenswürdigen und blendenden
Eigenſchaften, an Ritterlichkeit ihren Gegnern mindeſtens gleich,
an Leidenſchaft, an Opfermuth ihnen vielleicht überlegen, gingen
ſie dennoch zu Grunde, weil ſie jener geſtaltenden Kraft ent-
behrten. Immer voll Neigung, der Peripherie zu ihre Kräfte
ſchweifen zu laſſen, ſtatt ſie im Centrum zu einen, fehlte ihnen
das Concentriſche, während ſie excentriſch waren in jedem Sinne.
Dazu die individuelle Freiheit höher achtend als die ſtaatliche
Feſtigung —, wer erkennte in dieſem allen nicht polniſchnatio-
nale Züge? Was die Polen jetzt ſind, das waren die Wenden
damals.


Wir ſprechen zuletzt von dem Cultus der Wenden. Weil
die religiöſe Seite der zu bekehrenden Heidenſtämme unſere chriſt-
lichen Miſſionare (darunter zum Theil auch unſere Chroniſten) mehr
intereſſiren mußte als irgend eine andere Seite wendiſchen
Lebens und Thuns, ſo iſt es begreiflich, daß wir über dieſen
Punkt unſerer liutiziſchen Vorbewohner am beſten unterrichtet
ſind. Die Nachrichten, die uns geworden, beziehen ſich in ihren
Details zwar überwiegend auf jene zwei Haupttempelſtätten des
Wendenlandes, die nicht innerhalb der Mark, ſondern die eine
(Rhetra) hart an unſerer Grenze, die andere (Arkona) auf
Rügen gelegen war; aber wir dürfen faſt mit Beſtimmtheit an-
nehmen, daß ſich alle dieſe Beſchreibungen auch auf die Tempel-
ſtätten unſerer märkiſchen Wenden beziehen, wenn gleich dieſe,
Brannibor nicht ausgeſchloſſen, nur zweiten Ranges waren.


Die wendiſche Religion kannte drei Arten der Anbetung:


  • Naturanbetung (Stein, Quelle, Baum, Hain).
  • Waffenanbetung (Fahne, Schild, Lanze).
  • Bilderanbetung (eigentlicher Götzendienſt).

Die Natur war der Boden, aus dem der wendiſche
Cultus
aufwuchs, wie die wendiſche Religion überhaupt
Die ſpätere Bilder-Anbetung war nur Natur-Anbetung in
anderer Geſtalt. Statt Stein, Quelle, Sonne ꝛc., die urſprüng-
[23] lich Gegenſtand der Anbetung geweſen waren, wurden nunmehr
Geſtalten angebetet, die Stein, Quelle, Sonne ꝛc. bildlich
darſtellten.


Die Wenden hatten in ihrer Religion einen Dualismus
ſchwarzer
und weißer Götter, einer lichten Welt auf der
Erde und eines unterirdiſchen Reiches der Finſterniß. Die
Einheit lag im Jenſeits, im Himmel.


An und in ſich ſelbſt unterſchied der Wende Leib und
Seele, doch ſcheint ihm die Menſchenſeele der Thierſeele ver-
wandt erſchienen zu ſein; wenigſtens glaubte er nicht an per-
ſönliche Unſterblichkeit. Die Seele ſaß im Blut, aber war doch
wieder getrennt davon. Strömte das Blut des Sterbenden zu
Boden, ſo flog die Seele aus dem Munde und flatterte zum
Schrecken aller Vögel, nur nicht der Eule, ſo lange von Baum
zu Baum, bis die Leiche verbrannt oder begraben war.


Die alten Chroniſten haben uns die Namen von vier-
zehn
wendiſchen Göttern überliefert. Unter dieſen waren die
folgenden fünf wohl die berühmteſten: Siwa (das Leben);
Gerowit (der Frühlingsſieger); Swatowit (der heilige oder
helle Sieger); Radigaſt (die Vernunft, die geiſtige Kraft);
Triglaff (der Dreiköpfige. Ohne beſtimmte Bedeutung).


Vom Siwa haben wir keine Beſchreibung. Gerowit,
der Frühlingsſieger, war mit kriegeriſchen Attributen geſchmückt,
mit Lanzen und Fahnen, auch mit einem großen kunſtvollen,
mit Goldblech beſchlagenen Schild. Radigaſt war reich ver-
goldet und hatte ein mit Purpur verziertes Bett. Noch im
15. Jahrhundert hing in einem Fenſter der Kirche zu Gadebuſch
eine aus Erz gegoſſene Krone, die angeblich von einem Bilde
dieſes Gottes herſtammte. Swatowit hatte vier Köpfe,
zwei nach vorne, zwei nach rückwärts gewandt, die wieder
abwechſelnd nach rechts und links blickten. Bart und Haupt-
haar war nach Landesſitte geſchoren. In der rechten Hand
hielt der Götze ein Horn, das mit verſchiedenen Arten Metall
verziert war und jährlich einmal mit Getränk angefüllt wurde;
der linke Arm war bogenförmig in die Seite geſetzt, die
[24] Kleidung, ein Rock, der bis an die Schienbeine reichte. Dieſe
waren von anderem Holz als die übrige Figur und ſo
künſtlich mit den Knieen verbunden, daß man nur bei
genauer Betrachtung die Fugen wahrnehmen konnte. Die Füße
ſtanden auf der Erde und hatten unter dem Boden ihr Fuß-
geſtell. Das Ganze war rieſenhaft, weit über menſchliche Größe
hinaus. Endlich Triglaff hatte drei Köpfe; er war von
Menſchengröße; ſeine drei Köpfe waren verſilbert und ein gol-
dener Bund verhüllte Augen und Lippen.


Dieſe Götter hatten überall im Lande ihre Tempel, nicht
nur in Städten und Dörfern, ſondern auch in unbewohnten
Veſten, ſogenannten „Burgwällen“, und zwar auf Hügeln und
Klippen, in Seen und Wäldern. Wahrſcheinlich hatte jeder
„Gau“, deren es im Lande zwiſchen Elbe und Oder etwa 45
gab (eine Anzahl derſelben habe ich Eingangs aufgezählt), einen
Haupttempel, ähnlich wie es in ſpäterer chriſtlicher Zeit in jedem
größeren Diſtrikt eine Biſchofskirche, einen Dom, ein Kloſter
gab. Dieſer Haupttempel konnte in einer Stadt ſein, aber auch
eben ſo gut in einem „Burgwall“, der dann nur den Tempel
umſchloß und etwa einem Berge mit einer berühmten Wallfahrts-
kirche entſprach. In Julin, Wolgaſt, Gützkow, Stettin, Mal-
chow, Ploen, Jüterbock und Brandenburg werden ſolche Städte-
Tempel eigens erwähnt; unzweifelhaft aber gab es deren an
weit mehr Orten als an den vorſtehend genannten.


[[25]]

4
Rhetra Arkona. „Was ward aus den Wenden?“


Hier dient der Wende ſeinen Götzenbildern,
Hier baut er ſeiner Städte feſtes Thor,
Und drüber blinkt der Tempel Dach hervor:
Julin, Vineta, Rhetra, Brennabor.

(Carl Seidel.)

Die zwei Haupttempelſtätten im ganzen Wendenland waren,
wie mehrfach hervorgehoben, Rhetra und Arkona. Stettin und
Brannibor, ihnen vielleicht am nächſten ſtehend, hatten doch über-
wiegend eine lokale Bedeutung.


Rhetra und Arkona repräſentirten auch die Orakel, bei
denen in den großen Landesfragen Raths geholt wurde, und
ihr Anſehn war ſo groß, daß der Beſitz dieſer Tempel dem
ganzen Stamme, dem ſie zugehörten, ein geſteigertes Anſehen
lieh; die Redarier und die Ranen nahmen eine bevorzugte
Stellung ein. Später entſpann ſich zwiſchen beiden eine Riva-
lität, wie zwiſchen Delphi und Dodona.


Rhetra war unter dieſen beiden Orakelſtätten die ältere,
und wir beginnen mit Wiedergabe deſſen, was Thietmar,
Biſchof von Merſeburg, über dieſe ſagt. Thietmar berichtet:


„So viele Kreiſe es im Lande der Liutizier giebt, ſo viele
Tempel giebt es auch und ſo viele einzelne Götzenbilder werden
verehrt; die Stadt Rhetra aber behauptet einen ausgezeichneten
Vorrang vor allen anderen. Nach Rhetra ſchicken die Wenden-
fürſten, ehe ſie in den Kampf eilen, und ſorgfältig wird hier
vermittelſt der Looſe und des Roſſes nachgeforſcht, welch’ ein
Opfer den Göttern darzubringen ſei.“


[26]

Stadt und Tempel von Rhetra ſchildert Thietmar nun
weiter: „Rhetra liegt im Gau der Rhedarier, ein Ort von
dreieckiger Geſtalt, den von allen Seiten ein großer, von den
Eingeborenen gepflegter und heilig gehaltener Hain umgiebt.
Der Ort hat drei Thore. Zwei dieſer Thore ſtehen Jedem
offen; das dritte Thor aber (das kleinſte, nach Oſten zu gelegen)
weiſt auf das Meer hin und gewährt einen furchtbaren Anblick.
An dieſem Thor ſteht nichts als ein künſtlich aus Holz gebau-
tes Heiligthum, deſſen Dach auf den Hörnern verſchiedener
Thiere ruht, die es wie Tragſteine emporhalten. Die Außen-
ſeiten dieſes Heiligthums ſind mit verſchiedenen Bildern von
Göttern und Göttinnen, die, ſo viel man ſehen kann, mit
bewundernswerther Kunſt in das Holz hineingemeißelt ſind, ver-
ziert; inwendig aber ſtehen von Menſchenhand gemachte Götzen-
bilder, mit ihren Namen am Fußgeſtell, furchtbar anzuſchauen.
Der vornehmſte derſelben heißt Zuaraſioi (Beiname des Radi-
gaſt) und wird von allen Heiden geehrt und angebetet. Hier
befinden ſich auch ihre Feldzeichen, welche nur, wenn es zum
Kampfe geht, von hier fortgenommen und dann von Fuß-
kämpfern getragen werden. Um dies alles ſorgfältig zu hüten,
ſind von den Eingeborenen beſondere Prieſter angeſtellt, welche,
wenn die Leute zuſammenkommen, um den Bildern zu opfern
und ihren Zorn zu ſühnen, allein ſitzen bleiben, während die
anderen ſtehen. Indem ſie dann heimlich untereinander mur-
meln, graben ſie voll Zornes in die Erde hinein, um vermit-
telſt geworfener Looſe nach Gewißheit über zweifelhafte Dinge
zu forſchen. Nachdem dies beendigt iſt, bedecken ſie die Looſe
mit grünem Raſen und führen ein Roß, das als heilig von
ihnen verehrt wird, mit demüthigem Flehen über die Spitzen
zweier ſich durchkreuzenden, in die Erde geſteckten Speere weg.
Dies iſt gleichſam der zweite Akt, zu dem man ſchreitet, um
die Zukunft zu erforſchen, und wenn beide Mittel (zuerſt das
Loos, dann das heilige Pferd) auf ein gleiches Vorzeichen hin-
deuten, ſo handelt man darnach; wo nicht, ſo wird von den
betrübten Eingeborenen die ganze Angelegenheit aufgegeben.“


[27]

Als Biſchof Thietmar dieſe Schilderung von Rhetra ent-
warf, ſtand daſſelbe noch in höchſtem Anſehen bei der Geſammt-
heit des Wendenvolkes, aber ſchon wenige Jahre ſpäter ging
ſein Ruhm als erſte Tempel- und Orakelſtätte des Wenden-
reiches unter; Arkona auf Rügen trat an ſeine Stelle. Nach
1066 hatten die Wenden, nach einem ſiegreichen Rachezuge, den
Biſchof Johann von Mecklenburg nach Rhetra geſchleppt und
dem Radigaſt das Haupt des Biſchofs geopfert; aber dies Ereig-
niß führte zugleich zu jener Niederlage Rhetra’s, von der es
ſich nicht mehr ganz erholte. Im Winter 1067 auf 68 erſchien
Biſchof Burkhard von Halberſtadt vor Rhetra, ſtürzte das
Götzenbild um und ritt auf dem weißen Roſſe des
Radigaſt heim
. Dieſer wohlberechnete Hohn blieb auf die
Wendenſtämme nicht ohne Einfluß, Eiferſucht gegen die Rhe-
darier kam hinzu, und ſo wendeten ſich die Wendenſtämme
von dem Radigaſt zu Rhetra, der ſich ſchwach erwieſen hatte,
ab und dem Swatowit-Tempel in Arkona zu. Hundert Jahre
lang, von jenem Tage der Niederlage ab, glänzte nun Arkona,
wie vorher Rhetra geglänzt hatte. Auch von Arkona und
ſeinem Swatowit-Tempel beſitzen wir eine Beſchreibung. Es
ſcheint, daß 4 mächtige Holzpfeiler, die auf Thierhörnern ruhten,
ihrerſeits ein Dach trugen, deſſen Inneres dunkelroth getüncht
war. Der Raum zwiſchen den 4 Pfeilern war durch Bretter-
wände ausgefüllt, die allerhand bunt bemaltes Schnitzwerk tru-
gen. Dies alles aber war nur die Außenhülle, und 4 mäch-
tige Innen-Pfeiler, durch Vorhänge geſchloſſen, theilten den
inneren Tempelraum wieder in zwei Hälften, in ein Heiligſtes
und Allerheiligſtes. In dem letzteren erſt ſtand das Bild Swa-
towit’s. Arkona hatte beſondere Tempeldiener, und mehr und
mehr bildete ſich hier eine Prieſterkaſte aus. Sie unterſchieden
ſich ſchon durch Tracht und Kleidung von dem Reſt der Nation
und trugen Bart und Haar lang herabwallend, während die
übrigen Ranen Bart und Haar geſchoren trugen. Sie gehörten
zu den Edlen des Landes; kriegeriſche und prieſterliche Thätig-
keit galt überhaupt den Wenden als wohl vereinbar.


[28]

Auch hier in Arkona diente das „weiße Pferd“ zur Zeichen-
deuterei. Alle Poeſie knüpfte ſich an daſſelbe. Nicht ſelten
fand man es des Morgens mit Schaum und Schmutz bedeckt in
ſeinem Stall: dann hieß es, Swatowit ſelber habe das Pferd
geritten und es im Streit gegen ſeine Feinde getummelt. Die
Formen, unter denen das Orakel ertheilt oder die Frage „Krieg
oder Friede“ entſchieden wurde, waren denen in Rhetra nah
verwandt, aber doch nicht voll dieſelben. Drei Paar gekreuzte
Lanzen wurden in den Boden geſteckt und das Pferd heran
geführt. Schritt es nun mit dem rechten Fuß zuerſt über die
Speere, ſo war das Zeichen glücklich, unglücklich, wenn das
Thier den linken Fuß zuerſt aufhob. Entſchiedenes Heil aber
verſprach das Orakel nur, wenn das weiße Pferd über alle
drei Lanzenpaare mit dem rechten Fuße hingeſchritten war.


Der Swatowit-Tempel auf Arkona war das letzte Boll-
werk des Heidenthums; es fiel endlich in den Dänenkämpfen,
im Kriege mit „Waldemar dem Sieger“, nachdem es nicht nur
den Radigaſt-Tempel Rhetra’s, wenigſtens den Ruhm deſſelben,
um ein Jahrhundert, ſondern auch den uns in gewiſſem Sinne
näher angehenden Triglaff-Tempel zu Brannibor um
zwanzig und einige Jahre überlebt hatte.


Dieſer Triglaff-Tempel zu Brannibor, wenn auch für die
Geſammtheit der Wenden nur ein Tempel zweiten Ranges,
ſtand doch, wie eben ſchon angedeutet, für die märkiſchen
Wenden in erſter Reihe, und dieſe ſeine lokale Bedeutung —
da uns die märkiſchen Wenden hier vorzugsweiſe beſchäftigen —
erheiſcht noch ein kurzes Verweilen bei ihm.


Der Triglaff, der in Brannibor verehrt wurde, war eine
urſprünglich pommerſche Gottheit und wurde, wie es ſcheint, erſt
in ſpäterer Zeit, ſei es aus Eiferſucht oder ſei es aus Miß-
trauen
gegen den Radigaſt (in Rhetra), von Pommern her
eingeführt. In Kürze haben wir ihn ſchon an anderer Stelle
beſchrieben. Er hatte drei Köpfe, weil er Herr im Himmel,
auf Erden und in der Unterwelt war, und ſein Geſicht war
verhüllt, zum Zeichen, daß er die Sünden der Menſchen
[29] überſah und verzieh. In ſeinen Händen hielt er einen gehörn-
ten Mond, ein Symbol, über deſſen Bedeutung nur Vermu-
thungen exiſtiren. Seinen Haupttempel hatte er in Stettin, der
den Schilderungen nach, die wir davon beſitzen, den aus Holz
aufgeführten, mit Bildwerk und Schnitzereien ausgeſchmückten
Tempeln in Rhetra und Arkona ſehr verwandt geweſen ſein
muß. Auch der Triglaff-Dienſt war dem Dienſt des Radi-
gaſt oder Swatowit mehr oder weniger verwandt. Die Zeichen
wurden in ähnlicher Weiſe gedeutet, das Roß ſchritt über die
gekreuzten Lanzenſpitzen hin, und das Berühren dieſer oder jener
Lanze, mit dem einen oder andern Fuß — alles hatte ſeine
Bedeutung zum Heil oder Unheil. Nur das Roß ſelbſt war
nicht weiß ſondern ſchwarz, vielleicht weil Triglaff ſelbſt mehr
den finſtern als den lichten Göttern zugehörte.


Um 982, unmittelbar nach dem großen Wendenaufſtande,
war es, daß nunmehr dieſem Triglaff zu Ehren auch in Bran-
nibor
(wo bereits 50 Jahre ein Biſchofsſitz beſtanden hatte)
ein Tempel errichtet wurde; derſelbe erhob ſich auf dem Harlun-
ger Berge und ſah triumphirend in das dem Heiden- und Wen-
denthum wieder zurückeroberte Land hinein. Es war höchſt
wahrſcheinlich kein Holzbau mehr, wie der Stettiner, ſondern
ein Steinbau, nach Art der chriſtlichen Steinkapellen,*) und
[30] M. W. Heffter in ſeiner trefflichen Geſchichte Brandenburgs
ſtellt ſogar die Hypotheſe auf, daß aus dieſem alten heidniſchen
Tempelbau, zunächſt ohne weſentliche Umgeſtaltung, die ſpäter
ſo berühmt gewordene Marienkirche auf dem Harlunger-Berge
hervorgegangen ſei. Wir halten dies für wahrſcheinlicher als nicht,
finden indeſſen den Beweis dafür weniger in der eigenthümlichen,
in allem Weſentlichen aber doch immer noch byzantiniſchen For-
mengebung dieſer Kirche, als in dem hiſtoriſch nachgewieſenen
Umſtande, daß ſich unter den märkiſchen Wenden der Uebergang
aus dem Heidenthum ins Chriſtenthum im Weſentlichen ruhig
vollzogen zu haben ſcheint, ſo ruhig etwa wie 400 Jahre ſpäter
der Uebergang aus dem Katholicismus in den Proteſtantismus.
Der Fürſt (Pribislaw) wurde Chriſt; das Volk folgte, theilwei-
ſe widerwillig, aber doch vielfach auch willig und zwanglos.
Man hatte ſich bereits mit und nebeneinander eingelebt, und
der bloße Umſtand, daß das geſtürzte Bild des Triglaff nicht
verbrannt oder zerſtört, vielmehr, allen bekannt und allen zu-
gänglich, bis 1526 in einer Seitenkapelle der Marienkirche auf-
bewahrt wurde (in welchem Jahre Chriſtian II. von Dänemark
es unter Zulaſſung Joachim’s I. mit fortnehmen durfte), deu-
tet darauf hin, daß die innere Wandlung der Gemüther ſich
friedfertig genug vollzogen und der Chriſtengott den Wenden-
gott ruhig bei Seite gedrängt hatte. Dieſe Umwandlung des
Triglaff-Tempels in eine Marienkirche erfolgte zwiſchen 1136
und 41; ſechshundert Jahre hat vom Harlunger-Berge aus die
berühmte Marienkirche in’s Land geſehen. Ihre Entſtehung
bezeichnete den endlichen Sieg des Chriſtenthums über das Hei-
denthum im Lande zwiſchen Elbe und Oder. Auf der Stätte
des Triglaff-Tempels ging ein neues Leben auf, und der drei-
einige Gott ſprach hinfort ſtatt des dreiköpfigen Gottes zu ſei-
nem Volke.



[31]

So, wie vorſtehend geſchildert, waren die Wenden zur
Zeit der (endgültigen) deutſchen Eroberung 1157 in dem Lande
zwiſchen Elbe und Oder.


Es bleibt uns noch die Beantwortung der Frage übrig:
was wurde aus den Wenden. Sie wurden keineswegs
mit Stumpf und Stiel ausgerottet, ſie wurden auch nicht (wie
die Indianerſtämme in Amerika) einfach zurückgedrängt bis zu
Gegenden, wo ſie Stammesgenoſſen vorfanden, — ſie blieben
vielmehr alle oder doch ſehr überwiegenden Theils im Lande und
haben in allen Provinzen jenſeit der Elbe unzweifelhaft jene
Miſch-Race hergeſtellt, die jetzt die preußiſchen Provinzen be-
wohnt.


Einzelne Hiſtoriker haben dies beſtreiten wollen, aber wie
wir glauben mit Unrecht. Einmal würde eine ſolche conſequent
durchgeführte Racen-Geſchiedenheit gegen die hiſtoriſche Ueber-
lieferung aller andern Staaten, bei denen ähnliche Verhältniſſe
obwalteten, ſprechen, (Polen und Deutſche haſſen ſich bis dieſen
Tag und heirathen ſich doch), andererſeits dürfte es, von allen
Analogien abgeſehen, nicht ſchwer halten, in aberhundert Einzel-
fällen ſolche Miſchung der beiden Racen nachzuweiſen. Es iſt
wahr, die Deutſchen brachten den Stolz des Siegers mit, ein
Race-Gefühl, das, auf geraume Zeit hin, eine Schranke ge-
zogen haben mag; wir halten uns aber nichts deſtoweniger über-
zeugt, daß, noch ehe die Hohenzollern in’s Land kamen, jeden-
falls aber noch vor Mitte des 15. Jahrhunderts dieſe Unter-
ſchiede ſo gut wie verwiſcht waren
. Sie mögen an ein-
zelnen Orten länger beſtanden haben, es mag Ortſchaften geben,
wo ſich bis dieſen Tag eine Excluſivität findet, die auf jene alte
Wenden-Abneigung zurückzuführen iſt, im Großen und Ganzen
liegt die Verſchmelzung aber weit zurück. Wir wollen dabei anderer-
ſeits gern zugeben, daß, wenn die Jahrhunderte ſeitdem in unge-
ſtörtem Frieden verfloſſen und die Generationen in den Dörfern,
ſäend und erndtend, in einem ewigen Wechſel und doch zugleich
in einem ewigen Gleichmaaß ſich gefolgt wären, dieſe Empfin-
dungen des Racen-Dünkels vielleicht dieſelben geblieben wären.
[32] Aber „die Noth giebt wunderliche Schlafgeſellen“, und die Con-
ſervirung von Race-Dünkel und Vorurtheil wurde durch die Ver-
hältniſſe, durch Brand und Krieg, durch die Gemeinſchaftlichkeit des
Unglücks unmöglich gemacht. Das Aufeinander-angewieſen-ſein
riß jene Schranken nieder, die in der Fülle ſelbſtbewußten Glücks
vielleicht geblieben wären. Mehrfach ging der ſchwarze Tod durch
das Land und entvölkerte die Dörfer; was der ſchwarze Tod nicht
that, das thaten, in nie raſtenden Kriegen, die Pommern und
Polen, und was die Pommern und Polen nicht thaten, das
thaten die Huſſiten. Im Barnim befinden ſich vielleicht 20 oder
30 Feldmarken (jetzt einfache Acker- oder Brachfelder), die
Namen wie Wüſte-Sieversdorf, Wüſte-Gielsdorf, Wüſte-Büſow
ꝛc. führen, Benennungen aus jener Epoche immer neuer Ver-
ödungen her. Die wüſt gewordenen Dörfer, namentlich ſolche,
wo einzelne bewohnte Häuſer und Hütten ſtehen geblieben waren,
wieder neu zu beſetzen, war die Aufgabe der Landesverwaltung,
die in Brandenburg von jeher den fridericianiſchen Satz ver-
folgte: „Menſchen; vor allem Menſchen“. Man freute ſich
jeden Zuzugs, ohne nach der Racen-Abſtammung zu fragen.


Das deutſche Dorf, in dem vielleicht ein Fritze, ein Han-
ſen, ein Dietrichs wohnte, war froh einen Kroll, einen Noack,
einen Poſedien die wüſt gewordenen Stätten einnehmen zu ſehn,
und ebenſo die wendiſchen Dörfer empfingen den deutſchen Zuzug
mit Freude. Die Namensverzeichniſſe im Landbuch von 1375,
wie die Urkunden überhaupt, laſſen keinen Zweifel darüber.


Alle dieſe Anführungen haben ſelbſtverſtändlich nur die
Regel, nur die Verhältniſſe in ihren großen Zügen ſchildern
ſollen, ganz beſonders aber die der Mittelmark. Die Mittel-
mark, im Gegenſatz zu den mehr Oder- und Elb-wärts gele-
genen Landestheilen, war der eigentliche Miſchungsbottich; die
Verhältniſſe forderten dazu auf. Auf dem platten Lande
war es die Noth, in den Städten war es die Gelegenheit,
die die Menſchen, deutſch oder wendiſch, zuſammenführte. Die
alten Bürgerfamilien freilich beharrten in ihrer Abgeſchloſſenheit
und betrachteten den Wenden-Kietz um kein Haar breit beſſer
[33] als ein jüdiſches Ghetto, aber dem „Zuzug“ gegenüber kamen
die alten, alles nach Zunft und Race ſondernden ſtädtiſchen
Traditionen wenig oder gar nicht in Betracht, und die „kleinen
Leute“ thaten ſich zuſammen, unbekümmert um die Frage: wen-
diſch oder deutſch. So lagen die Dinge in der Mittelmark,
d. h. alſo in Teltow und Barnim, im Ruppin’ſchen, in Bes-
kow-Storkow, in der Weſthälfte von Lebus, überhaupt in
allen Landestheilen, in denen ſich Deutſchthum und Wenden-
thum einigermaßen die Wage hielten. Anders freilich war es
in Weſt und Oſt. Je mehr nach der Elbe zu, je excluſiver
hielt ſich das Deutſchthum, weil es ihm leicht gemacht war, ſich
aus ſeinen Stammesgenoſſen jenſeits der Elbe zu rekrutiren;
umgekehrt, je näher der Oder und den eigentlichen ſlaviſchen
Landen zu, je länger blieb das Wendenthum in Kraft. Jetzt
indeſſen, wenige Stätten abgerechnet, iſt es, in Wirklichkeit,
im Leben unſres Volks verſchwunden. Es lebt noch fort in
der Mehrzahl unſerer Städte- und Dorfnamen, in dunklen
Erinnerungen, daß in einzelnen, den Namen eines Wenden-
gottes bis heute feſthaltenden Lokalitäten (in Jüterbog, in
Jütergotz) ein Tempel ſtand, vor allem in den Heidengräbern
und Wendenkirchhöfen, die ſich allerorten in der Mark ver-
breitet finden.


Aber es iſt charakteriſtiſch, daß eben das Einzige, was
aus der alten Wendenwelt noch zu uns ſpricht, ein Begra-
benes
iſt. Alles geiſtig Lebendige iſt hinüber; ſelbſt der Aber-
glaube und die in ihm wurzelnden Sitten, Gebräuche und
Volksweiſen, die wohl dann und wann für wendiſche Ueberreſte
gehalten worden ſind, laſſen ſich vielfach (und die neuſte Wiſſen-
ſchaft hat es mit Erfolg verſucht) auf etwas Urgermaniſches
zurückführen, das, auch vor den Wenden ſchon, hier heimiſch
war. Mit Sicherheit lebt noch Alt-Deutſches in den Gemü-
thern, und das Volk erzählt von Wodan und Fricke (Freia)
und dem Hackelberger Jäger; aber Radegaſt und Czernebog
ſind todt
. Das Wendiſche iſt weggewiſcht, untergegangen
in dem Stärkern, in dem germaniſchen Leben und Gemüth,
Fontane, Wanderungen. III. 3
[34] und nur noch am Rande der Oder hin, den polniſch ſla-
viſchen Landen zu, zeigt ſich dann und wann, neben ſlaviſcher
Heiterkeit, auch noch jener auf Hartnäckigkeit und Verſchloſſen-
heit deutende finſtere Zug, der an die alte Zeit und ihre Be-
wohner mahnt.


[[35]]

Der Brieſelang.


Balſamiſch wogten die Düfte
Ueber das feuchte Revier,
Die alten Störche bezogen
Freudig das alte Quartier.
In all den Luchen und Lanken
Waren die Waſſer erwacht,
Die Kiefern lauſchten und tauſchten
Ihre Grüße ſacht.

(G. Heſekiel.)

Eine der älteſten Waldpartien in der Mark iſt der Brieſe-
lang
, anderthalb Meilen weſtlich von Spandau. Die Ham-
burger Eiſenbahn ſchneidet an ſeinem Südrande hart vorbei
und bildet ſo zu ſagen den Fuß, auf dem er ſteht. Wer ihn
beſuchen will und die Jahre des Turner-Enthuſiasmus hinter
ſich hat, pflegt deshalb auch die genannte Bahn zu benutzen,
die ihn Wochentags bis an die öſtlichen Vorlande des Waldes
(Station Segefeld) oder Sonntags in Extrazügen direct bis
an ſeine Eingänge führt.


Der Brieſelang iſt nicht mehr, was er war. In alten
Tagen ging er über Quadratmeilen hin und füllte das ganze
Territorium, das man damals als Alt-Bredow-Land bezeich-
nen konnte. Das Nauen’ſche Luch, die Falkenhagen’ſchen
Wieſen, der Bredow’ſche Forſt, das Pauſin’ſche Bruch, alles
war Brieſelang, — ein Elsbruch im großen Stil; im Früh-
jahr ein Sumpf oder See, im Sommer eine Wieſe, eine Prai-
rie, zu allen Jahreszeiten aber von mächtigen Eichen, den
„Brieſelang-Eichen“ überragt, die um einen Schuh höher
3*
[36] waren, als alle anderen im Lande. Das iſt nun anders
geworden; in allen Theilen des alten Gebiets, zumal auch auf
jener Strecke, die noch den alten Namen führt, haben ſich die
Elemente geſchieden, aus weiten Sumpfſtrecken, denen man die
Elſen und Eichen nahm, ſind weite Wieſenſtrecken geworden,
und aus anderen, denen man Elſen und Eichen hinzuthat,
ſind regelrechte Waldreviere geworden. Nur da, wo Wald
und Wieſe mit einander grenzen und der Wald aus ſeinem
Heerlager einzelne Poſten in die weite Wieſe hinausſtellt, nur
an dieſen Stellen zeigt der Brieſelang noch ſeinen alten
Charakter, zumal im Frühjahr, wenn das Sumpfwaſſer ſteigt
und ſich wieder in Lachen und Lanken um die Elſenbüſche
ſammelt.


Der Brieſelang iſt eine ſchwindende Macht, an Terrain
verlierend wie an Charakter, aber auch noch im Schwinden
ehrwürdig, voll Zeichen alter Berühmtheit und alten Glanzes.
Er beſteht zur Zeit noch aus zwei Hälften, aus dem eigent-
lichen Brieſelang und aus der Buten-Haide, von denen jener,
mit dem Hauptpunkt „Finkenkrug“, die ſüdliche, dieſe, die
Buten-Haide, mit dem Hauptpunkt „Königs-Eiche“, die nörd-
liche Hälfte bildet, da aber wo beide Hälften zuſammentreffen,
inmitten einer Lichtung, erhebt ſich die „Förſterei Brieſelang“,
die als Centralpunkt mit Recht den Namen des ganzen Waldes
trägt.


In den Brieſelang alſo!


[[37]]

1.
Finkenkrug.


Es ſauſet und brauſet
Das Tamburin,
Es raſſeln und praſſeln
Die Schellen darin.

(Clemens Brentano.)

In Tagen ſommerlicher Luſt:

Mai, Juni, Juli und Auguſt

vergeht kein Sonntag, wo nicht Schaaren von Beſuchern den
Brieſelang umſchwärmten. Aber die Tauſende, die kommen und
gehn, begnügen ſich damit, den Zipfel ſeines Gewandes zu faſſen,
die Parole lautet nicht „Brieſelang“, ſondern „Finkenkrug.“
Und doch iſt der Finkenkrug, an der ſüdlichſten Stelle der Süd-
hälfte gelegen, ein bloßes Portal, durch das man hindurch
muß, um in die eigentliche Schönheit des Waldes einzutreten;
nicht dieſſeits liegt die Herrlichkeit, ſondern jenſeits, und alles,
was den Brieſelang ausmacht, ſeinen Charakter, ſeine Erinnerungen,
ſeine Schätze, alles liegt drüber hinaus. Der Finkenkrug iſt nur
erſte Etappe; wer den Brieſelang kennen will, der muß auch, rüſtigen
Fußes, die beiden andern Staffeln zu erreichen wiſſen: die För-
ſterei
und die Eiche. Nur erſt wer bei der „Königs-Eiche“
ſteht, der hat den Brieſelang hinter ſich und kann mitſprechen.


Wir thun’s. Der geneigte Leſer wolle uns folgen.


Es iſt Sonntag vor Pfingſten; wir haben den 11 Uhr-
Zug benutzt und die Sonne ſteht bereits in Mittag, als wir
landen. Wir ſind zu drei; mein Reiſegefährte, ein pommerſch
Blut; ich ſelbſt; der dritte (unſer Führer) ein Autochthone
dieſer Gegenden. Das Dreieck Spandau-Nauen-Cremmen
[38] umſchließt ſeine Welt. Er iſt hager und ausdauernd wie ein
Trapper, erfahren und lederfarben wie „Pfadfinder.“ Er ver-
ſteht auch zu ſprechen.


Können Sie’s glauben, ſo hebt er an, daß ich dieſe Straße
ſeit 20 Jahren nicht gekommen bin; ich faſſe den Brieſelang
immer von Norden her; hier unten bin ich ein Fremder. Ja,
vor 20 Jahren! Das war ein Tag, gerade ſo kalt, wie der
heutige warm iſt. Wir hatten Wahl in Finkenkrug.


Im Finkenkrug?


Ja, in Finkenkrug. Er mag dadurch poetiſch verlieren,
mehr verlieren als er politiſch gewinnt, aber ich kann es nicht
ändern. Es war in Finkenkrug und ich kam mit dem Falken-
hagener Oberförſter hier des Wegs. Die Pferde waren ganz
weiß, der Wald glitzerte; ich habe kein Rothkehlchen geſehn, ſo
todt war der Wald.


Und ſie kamen an und ſtießen auf’s leere Neſt. Jeder
war zu Hauſe geblieben.


Fehlgeſchoſſen. Viele Hunderte waren da, immer neue
Schlitten fuhren an, und ehe eine halbe Stunde um war, war
es nicht mehr möglich, die Ankommenden und Hereindrängenden
in den Stuben unterzubringen. Da rief Oberförſter Brandt:
„Wir machen ein Feuer und tagen draußen.“ Allgemeiner
Jubel. Er war Oberförſter, und die Paar Klafter
Holz, die nun bald lichterloh und mit Gepraſſel an zu brennen
fingen, wird er wohl nach oben hin verdefendiret haben. Es
war ein entzückendes Bild. Der glitzernde Wald, das verſchneite
Haus, auf deſſen weißes Dach die rothen Lichter fielen, und
um das Feuer herum, in Pelze gewickelt, all die havelländiſchen
Bredow’s, die Ribbeck’s, die Hünekes, Erxleben von Selbelang,
Riſſelmann von Schönwalde, dazwiſchen die Paſtoren in ihren
Filial-Reiſemänteln, endlich die Kutſcher und Knechte mit ihren
Pferdedecken. Jede Stimme galt. Der alte Landrath v. Hobe
präſidirte und verſicherte uns einmal über das andere, daß
v. Patow-Potsdam gewählt werden müſſe.


Und was wurde?


[39]

Nun, er wurde gewählt. Aber nicht ohne Zwiſchenfälle.
Es muß wahr ſein, nie habe ich ſolche Vertilgung von Grog
und Glühwein geſehen. In ſolchem Moment höchſter Hitze
ſprang der Oberprediger aus Cremmen, ein ſcharfer Liberaler,
auf die Tribüne und ſchrie: „Was wollt Ihr jungen Moſt in
alte Schläuche faſſen; weg mit Patow, ich ſtelle mich zur
Wahl.“ Sein Anhang (kein Drittel) rief Bravo; aber ein
Pächter aus Preſſentin, der ſchon völlig unter Grog ſtand,
ſchrie in die Verſammlung hinein: „’runter mit ihm, hinein
in’s Feuer.“ Allgemeines Gelächter; der Oberprediger indeß,
der klugerweiſe nicht abwarten wollte, wie viel hier Ernſt oder
Spaß war (denn einige faßten bereits zu) rettete ſich durch
einen Sprung und verſchwand im Unterholze des Brieſelang.
Er hat den Tag nicht vergeſſen können.


So ging das Geſpräch.


Es war inzwiſchen heiß geworden, ſo heiß, daß unſere
Phantaſie mit einem gewiſſen Neid an dem Winterbilde hing,
das unſer Führer eben vor uns entrollt hatte und ſchon däm-
merte die Frage herauf, ob nicht ein flüchtiges „Ausſpannen“,
eine Lagerung an ſchattiger Stelle geſtattet ſei, als wir deutlich
eine Art Janitſcharenmuſik vernahmen belebende Klänge, die,
immer lauter werdend, unſern Füßen ihre Elaſticität wieder
gaben. Wir waren am Ziel, wenigſtens an einem vorläufigen.
Der Finkenkrug blitzte durch’s Gezweig, und in guter Haltung
rückten wir auf einen kaſtanienumſchatteten Platz, zu dem ſich
der Waldweg hier verbreitert. Eine Alternative, vor die wir
uns plötzlich und gegen Erwarten geſtellt ſahen, gebot uns
mitten im Wege halt zu machen. Der Finkenkrug umfaßt
nämlich eine Doppelwirthſchaft: links iſt Kaffee und Kegelbahn,
rechts iſt Bier und Büchſenſtand; dies hielt ſich die Wage;
aber was zuletzt unſerem Schwanken ein Ende machte, war,
daß nach rechts hin, wo das verlockende Seidel blühte, zugleich
die minder verlockende Janitſcharenmuſik ihren Platz genommen
hatte, die, in die Waldesferne hinein unbedingt ſegensreich
wirkend, in nächſter Nähe ihr entſchieden Bedenkliches hatte.


[40]

Alſo links.


Da hatten wir’s denn wirklich mal getroffen. Es war auch
die Damenſeite, die Seite der jungen Paare, und ich kann
mich nicht entſinnen, von meinen Landsmänninen, honni soit
qui mal y pense,
jemals einen ſo ungeſtört guten Eindruck
empfangen zu haben. Schlank, hübſch, wohlgekleidet, munter
ohne Lärm, neckiſch ohne Frivolität, frei ohne „Freiheiten“,
ſchritten ſie paarweiſe auf und ab, ſpielten zwiſchen den Bäu-
men, oder flogen in der Schaukel durch die Luft. Fremde,
die ſich auf vergleichende Völkerkunde verſtehen, würden die
günſtigſten Urtheile von dieſer Stelle mit hinweg genommen
haben, wenn man ihnen, die Paare vorſtellend, hätte ſagen
können: dies iſt die Schweſter eines Steinmetzen, die Braut
eines Büchſenmachers, die junge Frau eines Schiffszimmermanns
oder Kahnbauers.


Eine kurze Raſt wurde genommen, das Seidel „von ge-
genüber,“ geprobt dann brachen wir wieder auf, mit einem Gruß
gegen das graciöſe Paar, das eben jetzt im Verſteckſpiel hinter den
Bäumen ſich neckte, und traten dann in jenen ſchon erwähnten,
an der Grenzlinie von Wald und Wieſe ſich hinſchlängelnden Weg
ein, der, zumal in Apriltagen, wenn Alles wieder See und Sumpf
iſt und jedes Elſengebüſch zu einer Inſel wird, die alten Brieſelang-
Zeiten herauf beſchwört. Heut bot die Scenerie nichts von den
Bildern jener Zeit. Links zwitſcherten die Vögel im Wald,
nach rechts hin dehnte ſich die Wieſe, mit Tauſendſchön, Ra-
nunkel und rothem Ampfer geſprenkelt. Alles war Heiterkeit
und Friede. Unſer „Pfadfinder“, der während unſers kurzen
Aufenthalts im Finkenkrug ſich mehr meinem Reiſegefährten als
mir zu attachiren gewußt hatte, brach hier die raſch angeknüpf-
ten Beziehungen ebenſo raſch wieder ab, geſellte ſich mir aufs
neue und antwortete eingehend und immer bereit auf meine
hundert Fragen, die alsbald kreuz und quer gingen wie der
Weg, den er uns führte.


Sie fragen nach Wildſtand und Wilddieben; nun, der
Wilddiebe hat der Brieſelang wohl nicht allzuviel, aber der
[41] Walddiebe deſto mehr. Sie glauben gar nicht, was in ſolchem
Walde alles ſteckt und wie viele Hunderte von Menſchen daraus
ihre Nahrung oder doch einen Theil ihres Erwerbes ziehen. Es
mag wohl 20 Arten von „Jägern“ geben, die hier im Brieſe-
lang zu Hauſe ſind; vielleicht noch viel mehr.


Und das wären?


Ich will Ihnen nur ein halbes Dutzend nennen. Da ſind
die Kräuterjäger, die Käfer-, Fliegen- und Inſekten-Jäger,
die Eier- und Vogeljäger, die Laubfroſchjäger, die Schlangen-
jäger, die Ameiſenjäger. Auf dem Schwanen-Kruge verſammeln
ſich im Juni allerlei Geſtalten, jung und alt, die Jagd auf
wilde Roſenſtämme, auf „Hagebutten-Sträucher“ machen,
während andere, etwas früher ſchon, aber mit derſelben Perti-
nacität dem jungen Faulbaum nachſtellen.


Dem Faulbaum?


Ja! das Faulbaumholz giebt eine allerbeſte Kohle für die
Pulverfabrikation. Selbſt Pappeln und Linden kommen
gegen den Faulbaum nicht an. Da iſt denn immer Nachfrage,
und ſo macht ſich der Handel. Nun werden Sie fragen: iſt
das legal? Gut. Aber wer will in der Kohle noch nach der
Legalität des Holzes ſpüren? Wer kauft Pottaſche und verlangt
Ausweis über den eingeäſcherten Wald?


Ich verſteh. Aber Sie ſprachen auch von Schlangen-
jägern. Das klingt ja bedenklich. Sind wir hier auf Reptilien-
Terrain?


Nicht gerade hier. Aber weiter rechts, nach dem Span-
dauer Forſt hinüber, da ſind die Schlangen zu Hauſe.


Blindſchleichen, Columbellen.


Nicht ſo harmlos. Die echte Kreuzotter. Es ſind dort
Stellen, wo ſie ſo dicht wie Regenwürmer liegen. Dieſe Stel-
len kennen die Schlangenjäger ganz genau. Ihre ganze Waffe
beſteht in einem Stock, der vorn gegabelt iſt. Nun lüften ſie
das halbverfaulte Gebälk, drunter die Kreuzotter liegt und im
nächſten Moment fahren ſie mit dem Stock derart in die Erde,
daß die Gabel ſich wie ein Halsring um die Schlange legt.
[42] Nun iſt ſie wehrlos und wird durch eine zweite Manipulation
in einem Behälter, meiſt einer Flaſche, untergebracht.


Iſt dies nun wiſſenſchaftliche Paſſion?


Unter Umſtänden ja; aber zumeiſt Erwerb. Solche Kreuz-
otter hat ihren Werth. Da ſind Händler, auf deren Preis-
couranten die Rubrik „Schlange“ eine halbe Spalte füllt.


Aber wer kauft dergleichen?


Hunderte von Perſonen. Da ſind zuerſt die Zoologen und
Toxikologen von Fach, da ſind die unerbittlichen Männer der
Viviſektion, die von dem harmloſen Kaninchen ’mal gern auf
ein kleineres Ungethüm mit Giftzahn und Giftblaſe überſpringen
(ein höherer Sport, weil gefährlich), da ſind endlich die chemiſch-
phyſikaliſchen Oberlehrer dieſes oder jenes Progymnaſiums, die
das Naturalien-Cabinet in Pritzwalk oder Paſewalk auf der
„Höhe der Wiſſenſchaft“ zu erhalten d. h. mit allerhand Rep-
tilien in Glasflaſchen auszuſtaffiren wünſchen.


Auch mit Kreuzottern?


Gewiß. Die Herren von der Feder glauben immer, daß
ſich die Welt blos aus Autographen- und wenn es hoch kommt
aus Kupferſtichſammlern zuſammenſetzt. Sie glauben gar nicht,
was alles geſammelt wird.


In dieſem Augenblick, als ob uns der Beweis „was alles
geſammelt würde“, auf der Stelle geführt werden ſollte, trat
aus einem wilden Elsbuſch-Bosquet eine ſonnenverbrannte Ge-
ſtalt hervor, deren Coſtüm (eine Art Jagdtaſche, aus der drei
oder vier aufrechtſtehende Cigarrenkiſten hervorragten; dazu ein
Stock mit flatterndem Gazebeutel) keinen Zweifel darüber laſſen
konnte, welcher Kategorie von Sammlern er zugehörte. Es war
ein Muſter-Exemplar.


Er trat mit raſcher Wendung an uns heran, machte mit
ſeinem Käſcherſtock eine Bewegung wie ein Tambour-Major,
wenn die Muſik aufhören oder wieder anfangen ſoll, und ſagte
dann im Berliner Dialekt: Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen
vorſtelle, mein Name iſt Lampe, Kalitten-Jäger.


[43]

Bei dieſem Schlußwort wiederholte er die Bewegung mit
dem Stocke. Im erſten Augenblick, als er ſo jäh und plötzlich,
wie die bekannten Drei auf der ſchottiſchen Haide, vor uns hin-
trat, erſchrak ich ein wenig. Und zunächſt mit Recht. Die
Klaſſe von Jägern nämlich, der er — auch eh’ er ſich ſelbſt
dazu bekannt hatte — ſo unverkennbar angehörte, zählt keines-
wegs zu den angenehmen, am allerwenigſten zu den harmloſen
Erſcheinungen, wie man, ihrem Namen nach, ohne weiteres
ſchließen ſollte. Sie vereinigen den Hochmuth des Turners,
des Dauerläufers und des Gelehrten in ſich; jeder „ſteht und
fällt mit der Wiſſenſchaft.“


Zu dieſer Gruppe gehörte Lampe nun glücklicherweiſe nicht.
Das Berlinerthum wirkte hier als Gegengift. Seine Selbſt-
ironie brachte wieder alles ins Gleichgewicht und ließ noch einen
gefälligen Ueberſchuß. Er bat, wie geſagt, ſich uns anſchließen
und „ſeine Fahne hochhalten zu dürfen.“ Unſere Herzen fielen
ihm gleich zu, und ſo ging es weiter.


Herr Lampe, Sie ſind gewiß auch Kräuterjäger.


Nicht doch. Wer ſeinen Käſcher mit Ehren tragen will,
muß die grüne Trommel zu Hauſe laſſen. Fauna apart und
Flora apart. Sie glauben gar nicht, welche profunde Wiſſen-
ſchaft die Käferei iſt; 120 Bockkäfer nur im Brieſelang. Das
will gemacht ſein.


Gewiß. Aber ich habe mir ſagen laſſen, daß die Dinge
doch Hand in Hand gehen und daß die „Käferei“, wie Sie
ſagen, ohne „Kräuterei“ gar nicht recht beſtehen kann. Bei-
ſpielsweiſe wenn Sie eine Weißdornhecke ſehen, ſo wiſſen Sie
auch ſchon, was in dieſer Hecke vorkommen kann, eben ſo gewiß
wir wiſſen, wo die Cretins und die Kröpfe zu ſuchen ſind.
Urſach und Wirkung. Theorie von der Ernährung. Bergwaſſer.


Ich danke Ihnen für Ihre Vergleiche. Aber Sie haben
Recht. Das Land und die Leute, die Kräuter und die Inſekten
ſtehen in allernächſter Beziehung zu einander und obwohl ich
für ſtrenge Scheidung bin und die Mengerei in der Wiſſenſchaft
nicht leiden kann, ſo kann man doch nicht käfern in abſoluter
[44] Ignorirung der grünen Trommel. Rund heraus, ich kenne
dies und das. Aber das iſt nicht Wiſſenſchaft.


Ich höre, daß der Brieſelang eine eigene Flora haben ſoll,
daß hier Dinge vorkommen, die ſonſt in der ganzen Mark nicht
mehr zu finden ſind. Hat das ſeine Richtigkeit?


Gewiß. Der Brieſelang hat ſeine eigenen Pflanzen und
ſeine eigenen Inſekten, er iſt unſer gelobtes Land und ſelbſt die
Rudower Wieſe, in „all dem Ruhm ihrer Orchideen“, muß ſich
gegen den Brieſelang verſtecken.


Was kommt denn wohl ſo vor? Ich meine zunächſt von
Pflanzen.


Da haben wir zunächſt das Wanzen-Knabenkraut; da haben
wir ferner Neottia Nidus avis, das Vogelneſt. Noch ſeltener
iſt Coptolanthera rubra, der rothe Rundbeutel; die Krone von
allem aber iſt vielleicht Dicranum montanum, der gebirgliebende
Gabelzahn. Wie der ſpeciell in den Brieſelang kommt, wo die
Maulwurfshügel für Alles, was Berglinie heißt, aufkommen
müſſen, iſt mir unerfindlich.


Und nun die Käfer.


Nun wiſſen Sie, da giebt’s kein Ende. Aber ich will es
gnädig machen. Da iſt der Widderkäfer, der Baſtkäfer, der
Feuerkäfer; dies ſind die leichten Truppen; dann kommt die
Garde: der Schwarzkäfer, der Panzerkäfer; aber das eigentlich
ſchwere Geſchütz, das den Ausſchlag giebt, das iſt doch Pro-
crustes coriaceus
und Saperda Seydlii. Beſonders Saperda.
Sie lächeln; aber glauben Sie mir, wie unſer einem zu Muthe
wird, wenn man blos das Wort Saperda ausſprechen hört,
davon können Sie ſich keine Vorſtellung machen. Ich hatte
einen legitimiſtiſch-hiſtoriſchen Freund, deſſen Geſicht ſich immer
verklärte, wenn er „Montmorency“ ſagte; ſehen Sie, ſo geht es
mir mit Saperda. Und ſagen Sie ſelbſt, klingt es nicht ſchön,
apart, dies Doppel a und das r in der Mitte! O, wir haben
auch ein Herz.


Iſt denn nun Saperda im ganzen Brieſelang verbreitet?


[45]

Verbreitet? Ich weiß nicht, was Sie verbreitet nennen.
Wenn eine Sache verbreitet iſt, nun, ſo iſt es mit ihr vorbei,
ſo iſt ſie entzaubert. Es giebt keine verbreitete Schönheit.
Schönheit iſt immer rar. Saperda findet ſich auf einem einzigen
Baum, an der Segefelder Straße.


Davon hab ich gehört.


Nicht mehr wie billig. Manche Meſſerklinge iſt da zer-
brochen worden. Der Baum ſieht aus wie ein Scheibenpfahl,
den hundert Kugeln geſtreift, durchbohrt, zerſplittert haben. Es
giebt keinen unter uns, der den Baum nicht kennt. Bei Sege-
feld liegt der Sand wie eine Sahara. Aber wir durchwaten
ihn mit Freudigkeit; — der Weg zu den großen Pilgerſtätten
hat noch immer durch die Wüſte geführt.


[[46]]

2.
Förſterei Brieſelang.


Leſen konnt’ ich in ſeinen feſten Zügen
Seinen lang und treu bewahrten Entſchluß:
Auch mit keinem Fingerdrucke zu lügen;
Sicher und wohl ward mir bei ſeinem Gruß.

(Nic. Lenau.)

Unter ſolchem Geplauder hatten wir eine Stelle erreicht, wo
der Weg, die bis dahin inne gehaltene Scheidelinie zwiſchen
Wald und Wieſe aufgebend, nach links hin ſcharf einbiegt. Hier
ſchlug ſich Lampe in die Tiefen des Waldes, während wir, den
Weg weiter verfolgend, alsbald auf eine große Lichtung mit
Gärten, Häuſern und Stallgebäuden hinaus traten. Wir hatten den
Centralpunkt dieſer Waldregionen erreicht: Förſterei Brieſe-
lang
. Daneben das „Remonte-Depot“ gleiches Namens.
Die Lichtung, die dieſe beiden Häuſercomplexe einſchließt, hat
den Charakter einer großen Waldwieſe. Ein Waſſerlauf, „der
neue Graben“, der in früheren Jahren das Sumpfland
entwäſſert hat und nun zum Holzflößen dient, zieht ſich quer
durch die ganze Breite; eine Brücke führt darüber hin. Jenſeits
des Waſſerlaufes aber ſteigt der Wald („die Buten-Haide“)
aufs Neue an und ſchließt gegen Norden hin das Bild. Am
jenſeitigen Rande des Waldes: die Königseiche und Dorf Pauſin.


Ein Hirſchgeweih über der Thür ließ uns nicht lange in
Zweifel, wo wir die Förſterei, für die wir einen Gruß mit-
brachten, zu ſuchen hätten. Wir traten ein. Es war um die
dritte Stunde. Der Förſter, ein Mann von nah an 70, fuhr
[47] aus ſeinem Nachmittagsſchlaf auf, ſtrich ſich die momentane
Runzel von der Stirn und ſtand grüßend vor uns. Wer in
ſolchen Momenten Haltung bewahrt, iſt allemal eine liebens-
würdige Natur.


Wenn dies je zutraf, ſo hier. Wir ſetzten uns zunächſt
in eine Geisblattlaube, die den Eingang umrankte, als aber
die Nachmittagsſchwüle zu drücken begann, rückten wir — ein
paar Forſteleven hatten ſich uns zugeſellt — weiter vor, ſtellten
die Bänke in’s Freie und nun die ganze Waldwieſe ſammt
Graben, Brücke und Remonte-Depot (das zur Hälfte eine
Brandſtelle war) vor uns, begann das Geplauder.


Der alte Förſter verſtand es. Ich darf wohl ſagen, ſo
hob er an, der liebe Gott hat es gut mit mir gemeint. Mein
Großvater war Förſter, mein Vater war Förſter, ich bin Förſter
und meine drei Jungens ſind auch Förſter, oder ſollen’s werden.
Wir haben Alle Waldblut in den Adern, Brieſelang-Blut.
Ein Jahr bin ich einmal in einer Kiefern-Haide geweſen, aber
mir wurde erſt wieder wohl, als ich Elſen und Eichen um
mich her hatte.


Iſt der Brieſelang ihre Heimath?


Nicht ſo ganz, aber doch beinah. Wir ſind auf dem Glin
zu Hauſe. Mein Vater war in Dienſten beim alten Blücher,
der dazumal Groß-Ziethen hatte. Ich habe oft auf des alten
Feldmarſchalls Knie geritten. „Willſt Du auch ein Förſter
werden?“ Das will ich. „Na, denn werd’ ein ſo braver
Kerl wie dein Vater.“ Das hab’ ich nicht vergeſſen. Es war
doch ein gnädiger, alter Herr. Als es Anno 15 wieder los
ging, ſagte er zu meinem Vater: „Grote, denk Dir, der Deu-
belskerl iſt wieder da; wir müſſen ihm noch ’mal eins geben;
aber diesmal ordentlich, daß er genug hat un nich wiederkommt.“
Und dabei ſah er ganz ernſthaft aus, garnicht ſo ſchabernackiſch
wie ſonſt wohl; es mocht’ ihm wohl ſchwanen, daß er am
Ende ſelber nicht wiederkommen könne. Und hören Sie, es
war auch dichte dran, als er da bei Ligny unter ſeinem
Schimmel lag!


[48]

Wir nickten Alle. Vom Wald her aber ſchmetterte Finken-
und Droſſelſchlag immer friſcher zu uns herüber und mit dem
Daumen rückwärts deutend, ſagte der alte Förſter: ja, das
klingt in’s Herz.


Das thut’s, erwiederte jetzt mein Reiſegefährte (den es
nach gerade wohl Zeit iſt aus ſeiner ſtummen Rolle zu erlöſen,
in der er bisher eigenſinnig beharrte), aber wollen Sie glauben
Herr Förſter, daß es Gegenden giebt, wo die Vögel denn doch
noch anders ſingen, ſo melodiſch, ſo tieferſchütternd, daß man
aufhorcht, als habe man den Klang einer Menſchenſtimme, die
erſten Töne einer wehmüthigen Volksweiſe gehört.


Der Tauſend auch, ſagte der Förſter, Sie machen mich
neugierig.


Und dieſe Vögel, von denen ich ſpreche, die ſingen da,
wo wir’s am wenigſten glauben möchten, in Auſtralien bei den
Antipoden. Ein Engländer iſt dort gereiſt, hat die Waldſtimmen
belauſcht, hat die Töne in Noten feſtgehalten und zuletzt eine
Art Melodien-Buch herausgegeben, aus dem wir nun genau
erfahren können, wie die auſtraliſchen Vögel ſingen.


Iſt es möglich!


Es iſt ſogar gewiß. Ich habe das Buch. Und unter all
dieſen Stimmen iſt eine, die es mir beſonders angethan hat,
das iſt die Stimme des Leather-head. Leather-head heißt
Ledervogel, ein Name den dieſer Vogel führt, weil er einen
völlig kahlen Kopf hat. Ich will Ihnen die Melodie pfeifen; ſie
geht leiſe; Sie müſſen ſcharf aufhorchen.


Unſer Reiſegefährte pfiff nun in langgezogenen Tönen die
Klagemelodie des Leather-head. Selbſt im Walde war es ſtill
geworden. Es war als ob die Vögel drinnen mit zu Rathe ſäßen.


Das iſt ſchön, ſagte der Förſter, aber Ihr Engländer kann
ſich die Melodie erfunden haben.


Ich geſtehe, fuhr unſer Reiſegefährte fort, daß ich dann
und wann denſelben Verdacht hatte. Aber denken Sie, wo mir
plötzlich die Gewißheit kam! Sie haben vom Aquarium gehört.
Nun, in dem Aquarium befindet ſich auch eine Vogelhecke, die
[49] mir das Liebſte vom Ganzen iſt. Jeder hat ſo ſeinen Geſchmack.
Und wie ich nun den Gang entlang komme und das Gezwitſcher
der anderen Vögel einen Augenblick ſchweigt, was höre ich da
plötzlich aus der Volière heraus? Die leiſen, langgezogenen
Töne meines Leather-head, einmal, zweimal, dreimal. Mir
war als ob ich einen alten Bekannten wiederſähe. Da ſaß er
und ſtarrte mich lange an, wie wenn er gefühlt hätte: der hat
dich verſtanden.


Alles ſchwieg. Der Erzähler pfiff die Melodie noch einmal.
Dann knipſte der Förſter mit den Fingern und ſagte: nichts
für ungut, aber ich bin doch für eine richtige Brieſelang-Droſſel;
ihr Leather-head hat mich ganz melancholiſch gemacht. Ich
bin für’s Fidele.


Ich auch, ich auch, riefen die anderen. Der Lederkopf
war abvotirt.


Inzwiſchen begann ſich Gewölk am Himmel zu ſammeln.
Dann brach die Sonne wieder durch, aber die Schwüle wuchs.
„Haben Sie viel Gewitter im Brieſelang?“ fragte ich.


Oft nicht, aber wenn ſie kommen, kommen ſie gut. Im
vorigen Juli ging’s hier eine Stunde toll her. Sehen Sie dort
die Brandſtelle (er zeigte nach rechts) da ſtand vor Jahresfriſt
noch das Remonte-Depot, 180 Pferde, alle ſchwarz.


Und es ſchlug ein?


Es ſchlug ein und es gab ein Wetter, wie ich’s hier nicht
wieder haben möchte, und doch war es zugleich eine Stunde,
daß mir das Herz im Leibe lacht, wenn ich daran denke. Da
habe ich geſehen, was ein preußiſcher Futtermeiſter iſt.


Ein Futtermeiſter?


Ja, ſolch Remonte-Depot, müſſen Sie wiſſen, hat einen
Wachtmeiſter von altem Schrot und Korn, der regiert das Ganze;
er iſt wie ein kleiner König. Und ich ſage Ihnen, dieſer Futter-
meiſter, … nun, der verſtand’s. Das Remonte-Depot
hatte 8 Thüren. Als nun das Wetter über uns ſtand und die
erſten Blitze herunter fuhren, ſtellte er ſeine acht Knechte an die
acht Eingänge, ſich ſelber aber mitten auf dieſen Platz da.


Fontane, Wanderungen. III. 4
[50]

Da ſtand er wie ein Feldherr, während das Feuer in
breiten Scheiben niederfiel. „Kerls“, ſchrie er, „wenn ich
rufe: Vorwärts, Thüren auf! dann iſt’s Zeit, dann hats ein-
geſchlagen.“ So vergingen wohl 10 Minuten; die Blitze ließen
nach, ein Hagelwetter kam, Körner wie die Tauben-Eier.
Mit einem Mal ſchwieg auch das; der Hagel war wie abge-
ſchnitten. Aber im nächſten Augenblick „Krach!“ und der Blitz
lief über den Firſt hin. „Vorwärts!“ alle Thüren flogen auf;
die Schloſſen fielen wieder wie ausgeſchüttet, und im nächſten
Moment jagten die 180 ſchwarzen Pferde an mir vorbei, hier
über die Brücke hin, in die Buten-Haide hinein, auf Pauſin
zu. Zwölf Minuten ſpäter hatten wir die Spritzen hier; denn
als die 180 ſchwarzen Pferde wie die wilde Jagd durch’s Dorf
jagten, da wußten die Pauſiner was los war. „Das Remonte-
Depot brennt“ und heidi ging’s in den Wald hinein, auf das
Depot zu. Solch Wettfahren hat die alte Buten-Haide ihr
Lebtag nicht geſehen. Ein ſchöner Tag war’s, aber ich mag
ihn nicht wieder erleben.


[[51]]

3.
Die Königseiche.


Man ſieht noch am zerhaunen Stumpf,
Wie mächtig war die Eiche.
Uhland.

Dieſe Erzählung konnte nicht umhin uns leiſe daran zu mahnen,
daß wir noch einen Theil unſerer Wanderung vor uns hätten,
ein letztes Drittel, einen Schlußabſchnitt, den es auf alle
Fälle gut ſei hinter ſich zu haben, um ſo mehr als das
ſich anſammelnde, grelldurchleuchtete Gewölk am Himmel das
Einbrechen eines Brieſelang-Gewitters nicht geradezu unwahr-
ſcheinlich machte.


Ein Wind machte ſich auf, das Gewölk zerſtreute ſich wie-
der, die Schwüle ließ nach; ſo ging es vorwärts. Als wir den
entgegengeſetzten Waldrand nahezu erreicht hatten, nahm unſer
Führer die Tete und brach mit dem Kommando „halb rechts“
in das Unterholz der Butenhaide ein. Es ſchien undurchdring-
liches Geſtrüpp, bald aber lichtete ſich’s wieder und in eine breite,
durch den Forſt gehauene Avenue tretend, hatten wir die Königs-
eiche auf etwa 300 Schritt vor uns. Wir ließen ſie zunächſt
als ein Ganzes auf uns wirken. Sie ſteht da, wie ein Rieſen-
Skelett, mit gen Himmel gehobenen Händen. Die Avenue hat
ganz den Charakter eines feierlichen Aufgangs, einer Trauer-
Allee, die zu einem Denkmal oder Mauſoleum führt. Erſt ein
Weißbuchen-, dann immer ſchmaler werdend ein Weißdorn-
Spalier, bis die Avenue in einen tannenumſtellten Kreis mün-
det, aus deſſen Mitte die „Königs-Eiche“ aufſteigt.


Sie führt ihren Namen mit Recht. Es iſt ein majeſtäti-
ſcher Baum, 8 Fuß Durchmeſſer, 80 bis 100 Fuß hoch; man
4*
[52] braucht 20 Schritt ihn zu umſchreiten. Sein Holzinhalt wird
auf 25 Klafter und ſein Alter auf 1000 Jahre berechnet. Bis
vor Kurzem lebte er noch; ſeit etwa drei Jahren indeß iſt er
völlig todt, nirgends ein grünes Blatt, die Rinde halb abge-
fallen. Aber noch im Tode iſt er geſund. Alles Kernholz.
Die Forſtleute ſagen: er ſteht noch 100 Jahr. Dem wird Jeder
zuſtimmen, der die „Königseiche“ ſieht. Auf einen Laien macht
ſie den Eindruck, als halte ſie nur einen langen Winterſchlaf,
als brauche ſie dazu mehr Zeit als junge Bäume und müſſe
deshalb ein paar Sommer überſchlagen, aber als ſei ihr Erwa-
chen unter allen Umſtänden gewiß und als würd’ es binnen
Kurzem im ganzen Brieſelang heißen: ſie lebt wieder.


Eine Welt von Gethier bewohnt die alte Eiche. Der
Bockkäfer in wahren Rieſenexemplaren hat ſich zu Hunderten
darin eingeniſtet; am erſten großen Aſt ſchwärmen Waldbienen
um ihren Stock, und im kahlen Geäſt, höher hinauf, haben
zahlloſe Spechte ihre Neſtlöcher.


In den Tagen ſich regenden deutſchen Geiſtes, in den
Tagen Jahn’s und der Turnerei, wurde die Eiche Wanderziel
und Symbol. Dies war ihre hiſtoriſche Zeit. Damals verei-
nigte man ſich hier, gelobte ſich Treue und Ausharren und
befeſtigte in Mittelhöhe des Stammes die Inſchrifttafel, die bis
dieſe Stunde dem Baum erhalten worden iſt. Die Inſchrift
ſelbſt aber, die um des Kaiſergedankens willen, den ſie
ausſpricht, in dieſem Augenblicke wieder ein beſonderes Intereſſe
gewährt, iſt die folgende:


Sinnbild alter deutſcher Treue,

Das des Reiches Glanz geſehn,

Eiche, hehre, ſtolze, freie,

Sieh, Dein Volk wird auferſtehn.

Brüder, alle die da wallen,

Her zn dieſem heilgen Baum,

Laßt ein deutſches Lied erſchallen

Auf dem altgeweihten Raum:

Wie in Sturmeswehn die Eiche

Stehet feſt bei Treu und Recht;

[53]
Einend ſchirme alle Zweige

Einer Krone Laubgeflecht.*)

Außer dieſen Turnerfahrten ſcheint die Eiche, vorher und
nachher, nicht allzu viel geſehen und erlebt zu haben. Sie lebte
wie ſo mancher Alte, ſtill und abgeſchieden. Ein beſtändiges
Gleichmaß in beſtändigem Wechſel. Auf Sommerdürre folgten
die Stürme, dann fiel Schnee, dann war Alles Sumpf und
Bruch, dann wieder Sommerdürre; — ſo kamen die Jahre,
ſo gingen ſie. Nichts geſchah. Es giebt Hollunderbäume in
Pfarrgärten, die in 50 Jahren mehr geſehen haben, als die
große Eiche in 500. Nur die letzten Jahrzehnte ſchufen einen
Wandel: Landpartien und Berliner kamen.


Es handelte ſich jetzt für uns darum, ihr ein beſondere
Zeichen unſerer Huldigung zu geben. Ein dreimaliges Hurrah
erſchien uns für unſere civilen Verhältniſſe theils zu prätenſiös,
theils unausreichend. Aus dieſer Verlegenheit indeß ſollten wir
alsbald geriſſen werden; — unſer Reiſegefährte hatte alles bereits
ſinnig erwogen. Er nahm ſeine umſponnene Flaſche, füllte ein
Glas mit rothgoldenem Cap Conſtantia-Wein, trat vor und
ſprach: „Eiche, tauſendjährige, ſei uns gegrüßt! Hier hat der
Wende gelagert und der Berliner, und allerlei Wein, fränkiſcher
und deutſcher, nicht minder die „gebrannten Wäſſer“ beider
Indien, Jamaica’s und Goa’s, ſind Dir zu Ehren an dieſer
[54] Stelle verſchüttet worden. Aber ob Süd-Afrika, ob Mohren-
land von jenſeit der Linie, Dir je gehuldigt, das iſt minde-
ſtens fraglich. Empfange denn die Gabe aus Gegenden, in
denen nur Freiligrath und der Kaffer „einſam ſchweift durch die
Karroo“, empfange dieſe Tropfen Cap Conſtancia; — die
Hänge des Tafelberges grüßen Dich und den Brieſelang!“
Damit goß er den Capwein ihr zu Füßen. Wir ſchwenkten
die Hüte, ſtimmten Lieder an von Arndt und Körner und
machten uns auf den Rückweg.


Im Fluge. Denn immer bedrohlicher zog ſich’s über uns
zuſammen und kein Wind machte ſich mehr auf, das Gewölk zu
zerſtreuen. So ging es an den alten Stätten vorbei, am Forſt-
haus, am Remonte-Depot, an dem Elsbuſch, aus dem uns
Lampe, der „Jäger“, ſo bedrohlich entgegen getreten war. Als
wir Finkenkrug erreichten, war es die höchſte Zeit, wenn uns
daran lag, mit den Extrazüglern, die eben in Sektionen for-
mirt aufbrachen, den Rettungshafen der Eiſenbahn zu gewinnen.
Muſik vorauf, ſo ging es durch die letzte Waldesſtrecke. Die
Pauke that wieder ihr Aeußerſtes, als plötzlich einer rief:
Pauke ſtill! Sie ſchwieg wirklich. Ueber das weite Himmels-
gewölbe hin rollte der erſte Donner. In den Wipfeln begann
ein unheimliches Wehen, die oberſten Spitzen brachen faſt.
„Raſch, raſch“ hieß es, „Laufſchritt“; alles drängte durch
einander, „sauve qui peut“ und der Zug der ſchon hielt,
wurde im Sturm genommen. In demſelben Augenblick brach
es los; die Blitze fuhren nieder, das Gekrach überdröhnte das
Geraſſel des Zuges; wie ein Wolkenbruch fiel der Regen.


Als wir eine Stunde ſpäter, im klapperigen Gefährt über
die Alſenbrücke fuhren, auf den Thiergarten zu, ſtand das
Waſſer in Lachen und Lanken. Wer um dieſe Stunde vom
Finkenkrug bis zur „Königseiche“ gewandert wäre, der hätte wohl
den Brieſelang geſehen wie vor tauſend Jahren!


[[55]]

Der Eibenbaum
im Parkgarten des Herrenhauſes.


Die Eibe

Schlägt an die Scheibe.

Ein Funkeln

Im Dunkeln.

Wie Götzenzeit, wie Heidentraum

Blickt ins Fenſter der Eibenbaum.

Nicht voll ſo alt wie die Brieſelang-Eiche, von der ich im
letzten Kapitel erzählt habe, aber doch auch ein alter, oder ſehr
alter Baum, iſt die Eibe, die in dem Parkgarten hinter dem
Herrenhauſe ſteht. Von ihr will ich, einſchaltend, an dieſer
Stelle erzählen.


Der Stamm dieſes Baumes — wie es ſeiner Art*) in
den Marken keinen zweiten giebt — iſt etwa mannsdick, und
die Spannung ſeiner faſt den Boden berührenden Zweige beträgt
30 Fuß. Die Höhe beträgt wenig mehr. Aus der Dicke des
Stammes hat man das Alter des Baumes berechnet. Man
kennt Taxusbäume, die nachweisbar 200 bis 300 Jahre alt ſind
— dieſe ſind weſentlich kleiner und ſchwächer als der Baum,
von dem ich hier ſpreche; man kennt fernen einen Taxusbaum
(bei Fürſtenſtein in Schleſien), der nachweisbar 1000 Jahr alt
iſt, und dieſer eine iſt um ein gut Theil höher und ſtärker als
[56] der unſrige. Das ließ für den letzteren auf ein Alter von
500 bis 700 Jahre ſchließen, und das wird wohl richtig
ſein.


Dieſer unſer Taxusbaum war vor 100 oder 120 Jahren
eine Zierde unſeres Thiergartens, der damals bis an die
Mauerſtraße ging. Als ſpäter die Stadt in den Thiergarten
hineinwuchs, ließ man in den Gartenſtücken der nach und nach
entſtehenden Häuſer einige der ſchönſten Bäume ſtehen, ganz in
derſelben Weiſe, wie man auch heute noch verfahren iſt, wo
man die alten Elſen und Eichen von „Kemperhof“ wenig-
ſtens theilweiſe den Villen und Gärten der Victoriaſtraße
belaſſen hat.


Unſer Taxusbaum, Jahrhunderte lang ein Thiergar-
tenb
aum, wurde, ohne daß er ſich vom Fleck gerührt hätte,
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Garten-
baum. Noch etwa 20 Jahre ſpäter tritt der Baum aus ſeiner
bis dahin dunklen Vergangenheit in die Geſchichte ein.


Zu Anfang dieſes Jahrhunderts gehörten Haus und Garten
dem General-Intendanten v. d. Recke, der öfters von den
Königlichen Kindern, zumal vom Kronprinzen, dem ſpäteren
König Friedrich Wilhelm IV., Beſuch empfing. Der Kronprinz
liebte dieſen v. d. Reckeſchen Garten ganz ungemein; es wurde
ein bevorzugter Spielplatz von ihm, und der alte Taxusbaum
mußte herhalten zu den erſten Kletterkünſten des bekanntlich bis
zur Ausgelaſſenheit heitern und lebhaften Knaben. Der Prinz
(der ſpätere König) vergaß das dem alten Eibenbaum nie. Wer
überhaupt dankbar iſt, iſt es gegen Alles, Menſch oder Baum.
Vielleicht regte ſich in dem phantaſtiſchen Gemüthe des Knaben
noch ein Anderes; vielleicht ſah er in dem ſchönen, fremdartigen
Baume einen Fremdling, der unter Märkiſchen Kiefern Wurzel
gefaßt; vielleicht war er mit den Hohenzollern ſelbſt ins Land
gekommen, und es wob ſich ein geheimnißvolles Lebensband
zwiſchen dieſem Baum und ſeinem eignen fränkiſchen Geſchlecht.
War es doch ſelbſt an dieſer Stelle erſchienen, wie eine hohe
Tanne unter den Kiefern.


[57]

Das v. d. Reckeſche Haus wurde verkauft (ich weiß nicht,
wann) und die Mendelsſohns kauften es. Sie beſaßen es erſt
kurze Zeit, da gab es eine hohe Feier hier: die Freiwilligen
zogen aus und ein Abſchiedsfeſt verſammelte ſie in dieſem Garten.
Eine lange Tafel war gedeckt und aus der Mitte der Tafel
wuchs der alte Eibenbaum auf, wie ein Weihnachtsbaum,
ungeſchmückt, — nur die Hoffnung ſah goldne Früchte in
ſeinem Grün.


Und die Hoffnung hatte nicht gelogen: der Friede kam mit
goldner Frucht, und die heitern Künſte ſchaarten ſich jetzt um
den Eibenbaum, der, ernſt wie immer, aber nicht unwirſch
dreinſchaute. Felix Mendelsſohn, halb ein Knabe noch, hörte
unter ſeinem mondlichtdurchglitzerten Dach die Muſik tanzender
Elfen.


Und wieder andere Zeiten kamen. Vieles war begraben,
Menſchen und Dinge; da zog ſich auch über dem Eibenbaum
ein ernſtes Wetter zuſammen. Wer weiß, was geſchehen wäre,
wenn nicht des Eibenbaums beſter Freund noch gelebt hätte —
der lenkte den Strahl ab.


1852 brannte die „Erſte Kammer“ nieder (damals in der
Oberwallſtraße); das Mendelsſohnſche Haus, ſammt Garten und
Eibenbaum, wurde gekauft und das Preußiſche Oberhaus hielt
ſeinen Einzug an neuer Stelle. Niemand ahnte Böſes; da
ergab ſich’s, daß die Räumlichkeiten nicht ausreichten, — es
mußte gebaut werden. Ein großes Hintergebäude ſollte den feh-
lenden Raum ſchaffen. So weit war Alles klipp und klar,
wenn nur der Eibenbaum nicht geweſen wäre. Der ſchuf die
Schwierigkeit, der „beherrſchte die Situation.“ Einige wollten
zwar kurzen Proceß mit ihm machen und ihm einfach den Kopf
vor die Füße legen; aber die hatten es ſehr verſehen. Sie
erfuhren bald zu ihrem Leidweſen, welch hohen Fürſprecher der
Baum an entſcheidender Stelle hatte.


Was war zu thun? Der Baum ſtand juſt da, wo das
neue Gebäude ſeinen Platz finden ſollte. 1851 in London hatte
man über zwei alte Hydeparkbäume die Kuppel des Glaspalaſtes
[58] ruhig weggeführt und die Einweihungsfeier unter grünem Dach
und zwitſchernden Vögeln gehalten; aber der alte Eibenbaum im
Sitzungsſaale des Herrenhauſes, — das ging doch nicht. Man
kam alſo auf die Idee einer Verpflanzung. Der König bot
Sansſouci, der Prinz von Preußen Babelsberg zu dieſem Be-
hufe an. Wer wäre nicht bereit geweſen, dem Alten eine Stätte
zu bereiten. Conſultationen wurden abgehalten und die Frage
aufgeworfen, „ob es wohl ginge“; aber ſelbſt die geſchickteſten
Operateure der Gartenkunſt mochten keine Garantie des Gelingens
übernehmen. So wurde denn der Plan einer „Verpflanzung
im Großen“ aufgegeben und ſtatt deſſen die Idee einer Ver-
ſchiebung
, einer Verpflanzung im Kleinen aufgenommen. Man
wollte den Baum loslöſen, den Garten abſchrägen und nun den
losgelöſten Baum, mit Hülfe der Schrägung, bis mitten in den
Garten hineinſchieben. Aber auch dieſe Procedur wurde, als
zu bedenklich, ad acta gelegt und endlich beſchloſſen, den Baum
am alten Platze zu laſſen. Da unſer Freund nicht in der Lage
war, ſich den Baumeiſtern zu bequemen, ſo blieb dieſen nichts
übrig, als ihrerſeits nachzugeben und die Mauer des zu bauen-
den Hauſes an dem Baume entlang zu ziehen. Man hat ihm
die Mauer empfindlich nahe gerückt, aber der Alte, über Aerger
und Rancune längſt weg, reicht ruhig ſeine Zweige zum Fenſter
hinein — ein Gruß, keine Drohung.


Seine Erlebniſſe indeß, auch ſeine Gefährdungen während
der Bauzeit ſind hiermit noch nicht zu Ende erzählt. Während
des Baues (ſo hatte es der hohe Fürſprecher gewollt) war der
Baum mit einem Brettergerüſt umkleidet worden, in dem er
ziemlich geborgen ſtand, eine Art Verſchlag, der die hübſche
Summe von 300 Thalern gekoſtet hatte. Der Freund in Sans-
ſouci gab es gern für ſeinen Freund im Reckeſchen Garten.
Der Vorſchlag war gut gemeint und that auch ſeine Dienſte;
aber er that ſie doch nicht ganz. Mauerſtaub und Berliner
Staub dringen überall hin; ſie finden den feinſten Spalt aus,
wie Luft und Licht. Als endlich das Haus ſtand und mit dem
Baugerüſt zugleich auch der Verſchlag des Baumes fiel, da ging
[59] ein Schrecken durch alle Herzen — der Eibenbaum war
weiß geworden
. Wie Puder lag der Mauerſtaub auf allen
Aeſten und Zweigen. Was war zu thun? Gefahr war im
Verzuge; der Beſuch des Königs ſtand nahe bevor; da trat ein
leuchtender Gedanke auf die Lippe des einen der Geängſtigten
und er ſprach: Feuerwehr! Sie kam (ſtill, ohne Geklingel)
und mit kunſtvoll gemäßigtem Strahl wuſch ſie jetzt den Staub
von dem ſchönen Baume ab, der nun bald ſchöner und friſcher
daſtand, als je zuvor. Er trieb neue Zweige, als ob er ſagen
wolle: „Wir leben noch.“


Friſch und grün, wie der jüngſten einer, ſo ſteht er wie-
der da, ſchön im Sommer, aber am ſchönſten in December-
nächten, wenn ſeine obere weiße Hälfte ſich unter dem Schnee
beugt, während unten die Zweige wie unter einem Dache weiter-
grünen. Dies Schneedach iſt ſein Schmuck und — ſein Schutz.
Das zeigte ſich vor einigen Jahren. Der Schnee lag ſo dicht
auf ihm, daß es ſchien, ſeine Oberzweige würden brechen. Miß-
verſtandene Sorgfalt fegte und kehrte den Schnee herunter; da
gingen im nächſten Sommer einige jener Zweige aus, denen
man mit dem Schneedach ihr warmes Winterkleid genommen
hatte.


Aber er hat’s überwunden und grünt in Friſche weiter,
und wenn ihm wieder Gefahren drohen, ſo oder ſo, möge unſer
Eibenbaum immer einen treuen Freund haben, wie in alter Zeit.


Dies Vorſtehende wurde im Herbſt 1862 geſchrieben; in
den zehn Jahren, die ſeitdem vergangen ſind, ſammelte ich Ma-
terial über allerhand „alte Bäume,“ inſonderheit auch über
Eibenbäume, und ich laſſe zunächſt folgen, was ich darüber
in Erfahrung brachte.


Die Eibe, ſo ſcheint es, ſteht auf dem Ausſterbe-Etat der
Schöpfung. Wie bekanntlich im Laufe der Jahrtauſende ganze
Thiergeſchlechter von der Erde vertilgt worden ſind, ſo werden
auch Baumarten ausgerottet, oder doch nahezu bis zum
[60] Erlöſchen gebracht. Unter dieſen ſteht die Eibe (Taxus bac-
cata
) mit in erſter Reihe. Einſt in den Wäldern von ganz
Europa, Nord und Süd, ſo häufig wie der Auerochs, das
Elennthier, begegnet man ihr in unſeren Tagen nur noch aus-
nahmsweiſe. In Hecken und Spalieren trifft man kleinere Exem-
plare allerdings noch häufig in Parkanlagen nach franzöſiſchem
Geſchmack, aber große, imponirende Exemplare ſind ſelten. Vor
der waldvernichtenden Axt älterer Anſiedler und neuer Indu-
ſtrieller haben ſich nur einzelne knorrige Taxusbäume retten
können, die jetzt, wo wir ihnen begegnen, ein ähnliches Gefühl
wecken wie die Ruinen auf unſeren Bergesgipfeln. Zeugen,
Ueberbleibſel einer längſt geſchwundenen Zeit.


In Mitteldeutſchland iſt dieſer Baum jetzt ſchon recht ſelten,
obwohl es bekannt iſt, daß er hier, wie in ganz Europa, noch
vor einem halben Jahrtauſend allgemein vorkam. Zu Cäſar’s
Zeiten war er, wie uns dieſer gelehrte Feldherr ſelbſt erzählt,
ſowohl in Gallien als in Germanien in großer Menge überall
anzutreffen. Man findet in Thüringen nur mehr einzelne ver-
krüppelte und verſtümmelte Bäume. An einem einzigen Orte
hat ſich der Taxus hier noch zahlreicher erhalten, nämlich am
Veronikaberge bei Martinroda unweit Ilmenau, wo noch 20
bis 30 Fuß hohe Individuen mit einem Stammdurchmeſſer von
1 bis 1¼ Fuß ſtehen. Daß die Eibe in Thüringen einſtens
einen weſentlichen Beſtandtheil der Wälder ausgemacht habe,
ergiebt ſich aus den Ortsnamen „Ibenhain“, „Taxberg“, „Eiba“
und anderen.


Die älteſten und ſchönſten Exemplare dieſes einſt auch in
Griechenland und Italien häufig geweſenen Nadelbaumes trifft
man heutzutage noch in England an, beſonders auf Fried-
höfen, wo einzelne auf mehr als 2000 Jahre geſchätzte Stücke
von prachtvollem Anſehen ſich finden.*) Der Taxus iſt in Eng-
[61] land der Baum der Trauer, wie die Cypreſſe in den Mittel-
meerländern und die Trauerweide in Deutſchland. „Albero
della morte“
nennen ihn übrigens auch die heutigen Ita-
liener.


Eine große, zum Theil noch nicht völlig aufgeklärte Rolle
ſpielte die Eibe in dem Mythus der germaniſchen und keltiſchen
Völker, von der ſich Nachklänge noch in manchen bis heute
üblichen Gebräuchen erhalten haben. Wie der deutſche Name
Eibe von dem gothiſchen aiw (ivi), ewig, herrührt, weil der
Baum immer grün iſt, und das keltiſche Wort yw (eiddew) die-
ſelbe Wurzel hat, ſo war dieſer während des langen und ſchnee-
reichen nordiſchen Winters im friſchen Blattſchmuck prangende
Baum in Britanien und Skandinavien den ewigen Göttern
geweiht. Die Druiden hatten bei ihren Heiligthümern ganze
Haine davon, und manche in Cäſar’s Zeiten hinaufragende alte
Eiben Englands mögen ehrwürdige Reſte aus ſolchen heiligen
Hainen ſein. In der Nähe des berühmten heidniſchen Tempels
bei Upſala in Schweden ſtand ebenfalls, wie A. Krantz erzählt,
„ein gewaltiger Baum mit dichtbelaubten Zweigen, ebenſo grün
im Winter wie im Sommer; Niemand kannte ſeine Art.“ Sehr
wahrſcheinlich war es eine Eibe.


Daß dieſer Baum in alter Zeit für heilig und geheim-
nißvoll gehalten wurde, ergiebt ſich aus gar vielen noch jetzt
fortlebenden Bräuchen. In den öſtlichen Scheeren Skandina-
viens wird die Eibe allgemein zu Maſchenbrettern beim Netz-
ſtricken benutzt, weil man glaubt, daß alle Netze, welche über
Bretter aus dieſem Holze geſtrickt worden ſind, Glück beim Fiſch-
fang bringen.



[62]

Aber nicht blos für glückbringend und heilig, auch für
geeignet zu geheimnißvollem Zauber und ſelbſt zu teufliſchem
Beginnen galt und gilt noch der Eibenbaum. Daher fehlen in
der Macbeth’ſchen Hexenküche neben dem Auge des Waſſermolchs,
dem Fledermaushaar, Eidechsbein und Käuzchenflügel und der
gegabelten Natterzunge auch nicht


„Eibenzweige, abgeriſſen,

In des Mondes Finſterniſſen.“

In Thüringen heißt es, daß die „Ife“ (Eibe) gegen
Viehbezauberung ſchütze. Die Hälfte der Bewohner des Dorfes
Angelrothe bei Arnſtadt, in deſſen Nähe Eibenſträuche noch ziem-
lich häufig ſind, zieht an einem beſtimmten Tage des Jahres
hinaus und bricht ſich Taxuszweige ab, um ſie in die Vieh-
ſtälle zu ſtecken. Im Speſſart meint man, daß ein Stück Eiben-
holz, am Körper getragen, allen Zauber vertreibe. Das Volk
ſagt dort: „Vor der Euwe, ka Zauber bleibe.“


Im Alterthume wurde die Eibe ihres elaſtiſchen und feſten
Holzes wegen vorzüglich zu Bogen verwendet. Ebenſo machte
man Pfeile aus deren zähem Kernholz. Während des ganzen
Mittelalters gab ſo der Eibenbaum den Stoff für die vorzüg-
lichſten Kriegswaffen ab, beſonders in England und Schweden.
Auch Uller, der nordiſche Jagdgott, hatte nach der Edda einen
Eibenbogen (altnordiſch ybogi). Heutzutage wird das rothe oder
purpurbraune Kernholz der Eibe zu viel friedlicheren und proſai-
ſcheren Gegenſtänden verarbeitet, namentlich zu Faßpipen. Beſon-
ders in Ungarn werden aus dem dort ſogenannten „Theißholz“
(„tisza-fa“, welcher Name aber nicht auf die Theiß bezogen
werden ſollte, ſondern ſlaviſchen Urſprungs iſt, da die Eibe
ſlaviſch tis heißt) viele Haus- und Wirthſchaftsgegenſtände ver-
fertigt und zahlreiche Pipen aus Eibenholz in den Handel
gebracht.


In modernem Engliſch heißt die Eibe yew, der Epheu
ivy; dieſes deutſch, jenes keltiſch. Beide Wörter (vergl. oben)
bedeuten „immergrün.“


[63]

Ich kehre, nach dieſer Excurſion in die Eibenwelt im All-
gemeinen, zu unſerer Eibe im Beſonderen, im Herrenhausgarten,
zurück.


Auch an ihr gingen dieſe „zehn Jahre preußiſcher Geſchichte“
nicht unbeachtet vorüber, ja einen der ſchönſten Tage feierte ſie
mit. Noch wichtiger, ſie bereitete der Feier die Stätte: unter
ihrem Dache gab am 20. September 1866 das Herrenhaus dem
ſiegreich heimkehrenden Heere ein Feſtmahl. Der König ſaß
unmittelbar rechts neben dem Eibenſtamm und ſah den Mittel-
gang des Gartens hinunter. Das Schrägdach des Leinwand-
zeltes war in geſchickten Verſchlingungen, ſtreifenweiſe, durch
das Gezweig der Eibe gezogen; rings umher brannte das Gas
in Sonnen und Sternen, ein Anblick, von dem der alte Baum
in ſeinen Jugendtagen ſchwerlich geträumt haben mochte. Als
das Feſt auf ſeiner Höhe war, erhob ſich Graf Eberhard Stol-
berg zu einer Anſprache, begrüßte den König und ſchloß dann
prophetiſch faſt: „und ſollten Euer Majeſtät noch einmal zu
den Waffen rufen, ſo wird Ihr Volk, wie es jetzt für ſeinen
König geblutet und geſiegt hat, neue Thaten mit eiſernem
Griffel in das Buch unſerer glorreichen Geſchichte ſchreiben.“
Der König antwortete: „.... Sie wiſſen nicht wie ſchwer es
einem Fürſten wird, das Wort „Krieg“ auszuſprechen. Es
war ein gewagter Krieg… Die Armee hat alle meine Erwar-
tungen übertroffen… Ich nehme gern die Gelegenheit wahr,
derſelben meinen Dank zu ſagen; zuerſt Meinem Sohne, hier
zu meiner Rechten, Meinem Neffen Friedrich Karl, den comman-
direnden Generalen, unter denen ich einen ſchmerzlich ver-
miſſe. (Wahrſcheinlich Hiller v. Gärtringen.) Auch Ihnen
Graf Stolberg.“


Das war im Herbſt 1866. Dem ſiegreichen Kriege, als
eigentlichſte Schöpfung deſſelben, folgte, das Jahr darauf, der
„norddeutſche Reichstag“, der, von 1867 bis 1870 in
den Räumen des Herrenhauſes tagend, nun auch ſeinerſeits in
Beziehungen zu unſerem alten Eibenbaume trat. In die heiter-
ſten. Die Debatten-Flüchtlinge, ſo oft es das Wetter erlaubte,
[64] pflegten hier zu tagen, und während drinnen im Saal der Redner
noch nach Beifall rang, unterlag er hier draußen bereits einer
zerſetzenden Kritik. Der Witz goß ſeine Lauge unter dem Eiben-
baume aus.


Aber er, der Alte, an dem ſo viele Zeiten ihre Eigenart
verſucht hatten, überdauerte auch das und eben jetzt (15. Mai
1872) haben alle ſeine Zweige neue Schößlinge getrieben, die,
hellgelblich ſchimmernd, faſt wie Hollunderdolden auf dem dunklen
Untergrund liegen und den ſchönen Baum ſchöner und friſcher
erſcheinen laſſen, denn je zuvor.


[[65]]

Die Ciſtercienſer in der Mark.


Der Morgen graut und lacht der Nacht entgegen,
Im Oſten leuchtet ſchon des Lichtes Segen;
Die Finſterniß entflieht.
Bruder Lorenzo (Romeo und Julia).

Die beiden Ereigniſſe, die über das Wendenthum an Havel
und Spree entſchieden, waren die Erſtürmung Brannibors am
11. Juni 1157 und unmittelbar darauf, wenn der halb ſagen-
haften Ueberlieferung Glauben zu ſchenken iſt, die „Havelſchlacht
gegenüber dem Schildhorn,“ in der Jazko, der Neffe Pribis-
law’s, und ſeine noch einmal zuſammengeraffte Wendenmacht
entſcheidend geſchlagen wurde.


Schon zweihundert Jahre früher, unter den erſten Sachſen-
kaiſern, waren die Deutſchen bis ebenfalls an die öſtliche Havel
vorgedrungen, und ſchon damals waren, in ihren erſten
Anfängen wenigſtens, der Havelberger und Brandenburger Dom
gegründet worden, aber Leichtſinn, Unklugheit, Grauſamkeit von
Seiten der Sieger hatten zunächſt zu Auflehnung der Beſiegten
und endlich zu völliger Abſchüttelung des Joch’s geführt. Das
alte Wendenthum war auf 150 Jahre hin wieder glänzend
aufgeblüht. Jetzt, nach der Niederwerfung Jazko’s, war es zum
zweiten Mal unterlegen, und es galt nunmehr, die Mittel und Wege
ausfindig zn machen, um einer abermaligen Auflehnung vorzu-
beugen. Albrecht der Bär, von dem es im Volksliede heißt:


Heinrich de Leuw und Albrecht de Bar,

Dartho Frederik mit den roden Haar,

Dat waren dree Heeren

De kunden de Welt verkehren —

Fontane, Wanderungen. III. 5
[66]

dieſer Albrecht der Bär war juſt dazu angethan, dieſe Mittel
ausfindig zu machen und das früher durch Schwäche und
Unklugheit Geſcheiterte, durch Muth und Ausdauer endgültig
ſiegreich hinauszuführen. Es iſt bekannt, daß er, nach Plan
und Syſtem, die Coloniſirung des Landes begann; zu den
Kirchen und Burgen aber, die ſchon einmal die Bekehrung
und Beherrſchung des Landes verſucht hatten, geſellte er, als
ein neues, drittes, die Vereinigung von Burg und
Kirche
— die Klöſter. Mönche wurden in’s Land gerufen,
vor allem die Ciſtercienſer, ein Orden, der eben damals auf
ſeinem europäiſchen Siegeszuge bis an die Saale und Unſtrut
vorgedrungen war.


Da dieſem überall hin pionirenden Orden die Aufgabe
zufiel, auch namentlich für die Cultur und geiſtige Eroberung
der Mark von hervorragender Bedeutung zu werden, ſo mag
es geſtattet ſein, bei ſeiner Entſtehungs- und Entwickelungs-
geſchichte einen Augenblick zu verweilen und das Fortſchreiten
deſſelben auf ſeinen großen Etappen von Weſt nach Oſt zu
begleiten.


Die erſten Klöſter, die zumal in Süd- und Weſt-Europa
in’s Leben gerufen wurden, waren Benediktiner-Klöſter,
d. h. Klöſter, in denen die Regeln des heiligen Benedikt:
Gehorſam, Armuth, Keuſchheit, die Fundamentalſätze alles
Kloſterlebens, Geltung hatten. Die Benediktiner übten dieſe
Tugenden Jahrhunderte lang, aber jene Epoche, die den Kreuz-
zügen unmittelbar vorausging, war eine Epoche des kirchlichen,
mindeſtens des klöſterlichen Verfalls, ganz in ähnlicher Weiſe,
wie derſelbe fünf Jahrhunderte ſpäter zum zweiten Mal in die
Geſchichte eintrat, und „ſittliche Reform,“ worauf zunächſt die
Reformation gerichtet war, war eine Parole, die, wie vielfach
während des Lebens der Kirche, ſo auch um die Zeit der erſten
Kreuzzüge gehört wurde.


Dies Ringen nach Reform, nach Wiederherſtellung jener
Kloſter-Heiligung, wie ſie die erſten Klöſter gekannt hatten,
gab Veranlaſſung zur Gründung eines neuen Ordens. Dieſer
[67] neue Orden war der der Ciſtercienſer. Sein nächſter Zweck
war nicht Abzweigung vom Benediktinerthum, aus dem er
hervorging, ſondern Wiederherſtellung deſſelben in ſei-
ner Urſprünglichkeit und Lauterkeit. Aber es ſcheint das Loos
ſolcher und ähnlicher Beſtrebungen — vielleicht nach jenem
Naturgeſetz, welches die volle Wiederherſtellung von etwas Ver-
ſchwundenem unmöglich macht — jedesmal zu einer Neu-
ſchöpfung
zu führen. Zu einer Neuſchöpfung, die anfänglich,
in aufrichtiger Demuth, ſich ſelbſt nicht als eine Neuſchöpfung
betrachtet ſehen will und doch ſich ſelbſt zum Trotz von Tag zu
Tag in etwas Neues hineinwächſt.


So gingen, gegen den Willen des Gründers, die Ciſter-
cienſer
aus den Benediktinern hervor.


Verfolgen wir, nach dieſen allgemeinen Bemerkungen, die
Entwickelung des neuen Ordens aus dem alten, auch an den
Trägern dieſer Entwickelung, an den Perſonen.


Robert (ſpäter der heilige Robert), Abt des Benediktiner-
kloſters zu Molesme an der Grenze von Champagne und Bur-
gund, gab, um der eingeriſſenen Verderbtheit willen, die er in
ſeinem eignen Kloſter wahrnahm, das Kloſter Molesme auf und
zog ſich in das unwirthliche, nur mit Dornen und Geſtrüpp
bewachſene, durch ein Flüßchen kümmerlich bewäſſerte Thal von
Citeaux (Cistercium) in der Nähe von Dijon zurück, um daſelbſt
mit 20 anderen Mönchen, die ihm gefolgt waren, getreu nach
der urſprünglichen Vorſchrift des heiligen Benedikt zu leben.
Seine Trennung war eine rein äußerliche und locale, er hatte
ſich von ſeinem Kloſter getrennt, nicht von der urſprünglichen
Kloſter regel, ja, er kehrte nach einjähriger Abweſenheit in
Citeaux, auf Befehl des Papſtes, in das Kloſter Molesme
zurück. Aber unwiſſentlich war ein neuer Keim gepflanzt, und
der beſcheidene Verſuch, der eine alte Schöpfung nur neu geſtal-
ten ſollte, ſchuf nicht in, ſondern neben dem Alten ein
Neues. In dem Thale von Ciſterz ging ein neues Kloſterleben
auf. Die Träger dieſes neuen Lebens aber waren nicht die
Benediktiner mehr, ſie waren Ciſterzienſer.


5*
[68]

Bald zeigte ſich die erfolgte Trennung auch in der änßeren
Erſcheinung, bald auch in den Zwecken und Zielen des Ordens,
in der Art, wie er ſeine Aufgabe faßte. Was die Tracht an-
geht, ſo änderte bereits der heilige Alberich, der zweite Abt
von Citeaux, die Kleidung ſeiner Mönche, und das Kleid,
das vorher ſchwarz geweſen war, wurde weiß mit einem
ſchwarzen Gürtel und ſchwarzem Skapulier. Nach der
ſchönen Sage des Ordens war ſeine, des Alberich ſchwarze
Kleidung unter der Berührung der heiligen Jungfrau weiß
geworden.*)


Wichtiger aber als dieſe äußeren Abzeichen war die Wand-
lung, die der neue Zweig der Benediktiner innerlich erfuhr.
Er wurde eine Specialität, er wurde der Orden der Colo-
niſation
.


Nie hat ein Orden einen gleich raſchen und gewaltigeren
Siegeszug über die Welt gehalten. Aus dem Mutterkloſter
[69] Ciſterz, gegründet 1098, waren nach 15 Jahren ſchon vier
mächtige Töchterklöſter (La Ferté, Pontigny, Morimad und
Clairvaux) hervorgegangen, den Töchtern folgten wieder Töchter
und Enkeltöchter, und eh ein halbes Jahrhundert um war, war
nicht nur ein Netz von Ciſtercienſer-Klöſtern über das ganze
chriſtliche Europa ausgebreitet, ſondern auch tief in heidniſche
Lande hinein, waren die Mönche von Ciſterz mit dem Kreuz in
der Linken, mit Axt und Spaten in der Rechten, lehrend und
Acker bauend, bildend und heiligend vorgedrungen. Es war ein
in jenen raſchen Proportionen ſich mehrendes Anwachſen, wie
man es auf alten Stammbäumen veranſchaulicht ſieht, wo, von
Generation zu Generation, aus jedem einzelnen Neuzweig wie-
der zahllos andere neue Zweige ſprießen, anwachſend zu Multi-
plicationen, wie bei der bekannten Verdoppelung der Schach-
brettfelder. 50 Jahre nach der Gründung des Ordens gab es
500, hundert Jahre nach der Gründung bereits 2000 Ciſter-
cienſer-Klöſter, und Caspar Jogelinus, ein Deutſcher, hat uns
allein die Beſchreibung von 791 Ciſtercienſer-Klöſtern hin-
terlaſſen. Von dieſen 791 Klöſtern waren 209 in Frankreich, 128
in England, Schottland und Irland und 109 in Deutſchland.


Die Frage drängt ſich auf, was dieſem Orden zu ſo
rapidem Wachsthum verhalf und ihm, zwei Jahrhunderte lang,
in allen Ländern und an allen Höfen ein alles überſtrahlendes
Anſehen lieh. Es waren wohl drei Urſachen, die zuſammen
wirkten: die gehobene Stimmung der ganzen chriſtlichen Welt
während der Epoche der erſten Kreuzzüge, die wunderbare, mit
unwiderſtehlicher Gewalt ausgerüſtete Erſcheinung des heiligen
Bernhard, der, aus dem Orden heraus, bald nach Entſtehung
deſſelben erwuchs und ihn dann durchleuchtete, und endlich drit-
tens die beſondere, ſchon in aller Kürze angedeutete coloniſa-
toriſche Eigenart dieſes Ordens, die ihn in einer Zeit, in der
geiſtig und phyſiſch überall auszuroden und urbar zu machen
war, als ein beſonders geeignetes Werkzeug ſowohl in der Hand
der Kirche wie auch des weltlichen Fürſtenthums erſcheinen
laſſen mußte.


[70]

1115 exiſtirten nur fünf Ciſtercienſer-Klöſter, 1119
bereits vierzehn, aber ſämmtlich noch innerhalb Frankreichs und
auf verhältnißmäßig engem Gebiet; zwanzig Jahre ſpäter ſehen
wir den Orden, in immer raſcherem Wachſen, von der Loire
an den Rhein, vom Rhein an die Weſer und endlich von der
Weſer bis an und über die Elbe vorgedrungen. 1180 erſchie-
nen ſeine erſten Mönche in der Mark.


An wenigen Orten mochten die Vorzüge ſpeciell dieſes
Ordens ſo in die Augen ſpringend ſein als in der Mark, und
zwar um deshalb, weil ſie an keinem andern Orte gleich benö-
thigt waren, nirgends ein ausgeſprocheneres Feld für ihre
Thätigkeit fanden. Wo die Unkultur zu Hauſe war, hatten die
Kulturbringer ihr natürlichſtes Feld. Rechnen wir die Nonnen-
klöſter deſſelben Ordens mit ein, die, wenigſtens was die
Bekehrung, Lehre und Unterweiſung angeht, die gleichen Ziele
wie die Mönchsklöſter verfolgten, ſo haben wir über 20
Ciſtercienſer-Klöſter in der Mark und Lauſitz zu ver-
zeichnen, von denen die große Mehrzahl vor Ablauf eines Jahr-
hunderts entſtand. Weder die Prämonſtratenſer und Karthäuſer
gleichzeitig mit ihnen, noch auch ſpäter die die Städte ſuchenden
Dominikaner und Franziskaner, ſind ihnen an Anſehn und
raſcher Verbreitung gleich gekommen.


Dem Zeitpunkt ihrer Entſtehung nach folgen dieſe märkiſch-
lauſitziſchen Ciſtercienſer-Klöſter wie folgt auf einander:


Zinna, Mönchskloſter, in der Nähe von Jüterbog, 1171.


Lehnin, Mönchskloſter, in der Nähe von Brandenburg,
1180.


Dobrilugk, Mönchskloſter, in der Lauſitz, 1180 — 90.


Neuzelle, Mönchskloſter, in der Lauſitz, 1230.


Marienfließ oder Stepnitz, Nonnenkloſter, in der Prieg-
nitz, 1230.


Dranſee, Mönchskloſter, in der Priegnitz, 1233.


Paradies, Mönchskloſter, im Poſenſchen (früher Neumark),
1234.


Marienthal, Nonnenkloſter, in der Lauſitz, 1234.


[71]

Zehdenick, Nonnenkloſter, in der Ukermark, 1249.


Friedland, Nonnenkloſter, im Ober-Barnim, um 1250.


Marienſee, Mönchskloſter, auf der Inſel Pelitz im Par-
ſteiner See, zwiſchen Oderberg und Angermünde (Uker-
mark), 1258.


Marienſtern, Nonnenkloſter, in der Lauſitz, 1264.


Chorin, Mönchskloſter, in der Ukermark, 1273.


Marienwalde, Mönchskloſter, in der Neumark, 1286.


Heiligengrabe, Nonnenkloſter, in der Priegnitz, 1289.


Zehden, Nonnenkloſter, in der Neumark, 1290.


Bernſtein, Nonnenkloſter, in der Neumark, 1290.


Reetz, Nonnenkloſter, in der Neumark, 1294.


Himmelpfort, Mönchskloſter, in der Ukermark, 1299.


Himmelſtädt, Mönchskloſter, in der Neumark, 1300.


Seehauſen, Nonnenkloſter, in der Ukermark, 1300.


Das wichtigſte unter den hier aufgezählten märkiſch-lauſitziſchen
Klöſtern war wohl das Kloſter Lehnin; — es wurde das
Mutterkloſter für dieſe Gegenden, aus dem Neuzelle, Paradies,
Marienſee, Chorin und Himmelspfort hervorgingen.


Alle dieſe Klöſter mit wenigen Ausnahmen wurden in der
Mitte des 16. Jahrhunderts unter Joachim II. ſäkulariſirt.
Viele ſind ſeitdem, namentlich während des 30 jährigen Krieges,
bis auf die Fundamente oder eine ſtehen gebliebene Giebelwand
zerſtört worden, andere exiſtiren noch, aber ſie dienen der
Kultur dieſer Lande nur noch in ſoweit, als ſie, oft in ziemlich
proſaiſcher Weiſe, der Agrikultur dienſtbar gemacht worden
ſind. Die Abtwohnungen ſind zu Amtshäuſern, die Refekto-
rien zu Maiſchräumen und Brennereien geworden. Es iſt
allen dieſen Klöſtern ergangen, wie ihrer großen, gemeinſchaft-
lichen mater, dem Kloſter zu Citeaux ſelber. Den Verfall,
den Niedergang, den hier zu Lande die Reformation ſtill und
allmälig einleitete, ſchuf dort die franzöſiſche Revolution auf
einen Schlag. „Auf den Trümmern der Abtei — ſo erzählt
der Abbé Ratisbonne, der eine Geſchichte des heiligen Bernhard
geſchrieben hat und Citeaux um 1839 beſuchte — erhob ſich
[72] in dem genannten Jahre eine Runkelrübenzucker-Fabrik, die
ſelber wieder in Trümmer zerfallen war, und ein elender
Schauſpielſaal ſtand an der Stelle der Mönchs-Bibliothek,
vielleicht an der Stelle der Kirche. Die Zelle des heiligen Bern-
hard, die vor ohngefähr 20 Jahren noch exiſtirte, hatte inzwiſchen
einem Schmelzofen Platz gemacht; — nur noch der Schutt
der Zelle war vorhanden. Alle ſonſtigen Bauwerke waren längſt
zerſtört, und aus ihren bloßen Trümmermaſſen waren drei
Dörfer erbaut worden.“


In dieſer kurzen Schilderung des Verfalls des Mutterkloſters
iſt zugleich die Geſchichte von überhundert Töchter-Klöſtern
erzählt — auch der unſerigen.


Die Klöſter ſelber ſind hin; viele von denen, die hierlands
in alten Kloſtermauern wohnen, wiſſen kaum, daß es Kloſter-
mauern ſind, ſicherlich nicht, daß es Ciſtercienſer waren, die vor
ihnen die Stätte inne hatten. Und hörten ſie je das Wort, ſo
wiſſen ſie nicht, was es meint und bedeutet. Und doch waren
es die Pionire, die hundert und tauſend andern Coloniſten, die
nach ihnen kamen, die Wege bahnten. Das Gedächtniß an ſie
und an das Schöne, Gute, Dauerbare, das ſie geſchaffen, iſt
geſchwunden; uns aber mag es geziemen, darauf hinzuweiſen, daß
noch an vielen hundert Orten ihre Thaten und Wohlthaten zu
uns ſprechen. Ueberall, wo in den Teltow- und Barnim-Dör-
fern, in der Ukermark und im Ruppinſchen, alte Feldſteinkirchen
aufragen mit kurzem Thurm und kleinen niedrigen Fenſtern, das
Ganze faſt mehr eine Burg als eine Kirche, überall, wo die
Oſtwand einen chorartigen Ausbau, ein ſauber gearbeitetes Sakri-
ſtei-Häuschen, oder das Dach in Folge ſpäteren Anbaues eine
rechtwinklige Biegung, einen Knick zeigt, überall da mögen wir
ſicher ſein, — hier waren Ciſtercienſer, hier haben Ciſter-
cienſer gebaut und der Kultur und dem Chriſtenthum die erſte
Stätte bereitet.


[[73]]

Kloſter Lehnin.


1.
Die Gründung des Kloſters.


Wo das Kloſter aus der Mitte
Düſtrer Linden ſah.
Mit des Jammers ſtummen Blicken
Fleht ſie zu dem harten Mann,
Fleht umſonſt, denn loszudrücken,
Legt er ſchon den Bogen an.

(Schiller.)

Die erſte Gründung der Ciſtercienſer in der Mark war Kloſter
Lehnin. Es liegt zwei Meilen ſüdlich von Brandenburg, in
dem alten Landestheil, der den Namen „die Zauche“ trägt.
Der Weg dahin, namentlich auf ſeiner zweiten Hälfte, führt
durch alte Kloſterdörfer mit prächtigen Baumalleen und pitto-
resken Häuſerfronten, die Landſchaft aber, die dieſe Dörfer
umgiebt, bietet wenig Beſonderes dar, und ſetzt ſich aus den
üblichen Requiſiten märkiſcher Landſchaft zuſammen: weite
Flächen, Hügelzüge am Horizont, ein See, verſtreute Acker-
felder, hier ein Stück Sumpfland, durch das ſich Erlenbüſche,
und dort ein Stück Sandland, durch das ſich Kiefern ziehn.
Erſt in unmittelbarer Nähe Lehnin’s, das jetzt ein [Städtchen]
geworden, verſchönert ſich das Bild, und wir treten in ein
Terrain ein, das einer flachen Schale gleicht, in deren Mitte
ſich das Kloſter ſelber erhebt. Der Anblick iſt gefällig, die
dichten Kronen einer Baumgruppe ſcheinen Thurm und Dach auf
ihrem Zweigwerk zu tragen, während Wieſen- und Gartenland
jene Baumgruppe und ein Höhenzug wiederum jenes Wieſen-
[74] und Gartenland umſpannt. Was jetzt Wieſe und Garten iſt,
das war vor 700 Jahren ein eichenbeſtandener Sumpf, und
inmitten dieſes Sumpfes wuchs Kloſter Lehnin auf, vielleicht im
Einklang mit jenem Ordensgeſetz aus der erſten ſtrengen Zeit:
daß die Klöſter von Ciſterz immer in Sümpfen und Niederungen,
d. h. in ungeſunden Gegenden gebaut werden ſollten, damit
die Brüder dieſes Ordens jederzeit den Tod vor Augen hätten.*)


Die Sage von der Erbauung Kloſter Lehnin’s nimmt jedoch
keine ſolche allgemeine Ordensregel in Ausſicht, ſondern führt
die Gründung deſſelben auf einen beſtimmten Vorgang zurück.
Dieſen Vorgang erzählt der böhmiſche Schriftſteller Pulcava
(wie er ausdrücklich beifügt, „nach einer brandenburgiſchen
Chronik“) wie folgt: OttoI., der Sohn Albrecht des
Bären, jagte einen Tag lang in den dichten Waldrevieren der
Zauche, und warf ſich endlich müd und matt an eben der Stelle
nieder, wo ſpäter Kloſter Lehnin erbaut wurde. Er ſchlief ein
und hatte eine Viſion. Er ſah im Traum eine Hirſchkuh, die
ihn ohne Unterlaß beläſtigte; endlich ergriff er Bogen und Pfeil
und ſchoß ſie nieder. Als er erwachte, und ſeinen Traum
erzählte, drangen die Seinen in ihn, daß er an dieſer Stelle
eine Burg gegen die heidniſchen Slaven errichten ſolle; — die
andrängende, immer läſtiger werdende Hirſchkuh erſchien ihnen
[75] als ein Sinnbild des Heidenthums, das in dieſen Wäldern und
Sümpfen allerdings noch eine Stätte hatte. — Der Markgraf
indeß erwiederte: „eine Burg werde ich gründen, aber eine Burg,
von der aus unſere teufliſchen Widerſacher durch die Stimmen
geiſtlicher Männer weit fortgeſcheucht werden ſollen, eine Burg,
in der ich ruhig den jüngſten Tag erwarten will.“ Und ſofort
ſchickte er zum Abt des Ciſterciencer-Kloſters Sitichenbach,
im Mansfeldſchen, und ließ ihn bitten, daß er Brüder aus
ſeinem Convente, zur Gründung eines neuen Kloſters, ſenden
möchte. Die Brüder kamen; Markgraf Otto aber gab dem
Kloſter den Namen Lehnin, denn Lehnije heißt Hirſchkuh im
Slaviſchen.“ So der böhmiſche Geſchichtsſchreiber.


Das Kloſter wurde gebaut, vor allem die Kloſter kirche.
Sie beſtand in ihrer urſprünglichen Form bis zum Jahre 1262.
In dieſem Jahre ließ die raſch wachſende Bedeutung des Kloſters
das, was da war, nicht länger als ausreichend erſcheinen, und
ein Anbau wurde beſchloſſen. Dieſer Anbau fiel in die erſte
Blüthezeit der Gothik, und mit der ganzen Unbefangenheit des
Mittelalters, das bekanntlich immer baute wie ihm gerade um’s
Herz war, und keine Rückſichtnahme auf den Bauſtyl zurücklie-
gender Epochen kannte, wurde nunmehr das romaniſche
Kurzſchiff der erſten Anlage durch ein gothiſches
Längsſchiff erweitert
. Dieſer Erweiterungsbau hat der
Zeit und ſonſtigem Wirrſal ſchlechter zu widerſtehen vermocht als
der ältere Theil der Kirche; — das Alte ſteht, der Anbau liegt in
Trümmern; unſere Schilderung führt uns ſpäter auf ihn zurück.
Unſere nächſten Unterſuchungen aber gehören der Geſchichte
des Kloſters. Wir knüpfen die Aufzählung ſeiner Schickſale an
eine Geſchichte ſeiner Aebte.


[[76]]

2.
Die Aebte von Lehnin.


Heut ſind es grade hundert Jahr,
Seit er gelegen auf der Bahr
Mit ſeinem Kreuz und Silberſtabe.
Die ewge Lamp’ an ſeinem Grabe
Hat heute hundert Jahr gebrannt.
Hier war zu Hauſe kluger Rath,
Hier hat der mächtige Prälat
Des Hauſes Chronik einſt geſchrieben.
Annette Droſte-Hülshof.

Eh’ wir dazu übergehen, von den einzelnen leitenden Perſönlich-
keiten des Kloſters, ſoweit dieſelben überhaupt eine Geſchichte
haben, eingehender zu ſprechen, mögen hier einige vorgängige
Bemerkungen über die Lehniner Aebte überhaupt eine
Stelle finden. Wenn dabei einzelne Dinge von mehr oder
weniger allgemeinem Charakter mit aufgeführt werden ſollten,
Dinge, die nicht blos in Lehnin, ſondern überall innerhalb der
klöſterlichen Welt ihre Gültigkeit hatten, ſo wolle man dabei in
Erwägung ziehen, daß wir eben noch, im Verlauf unſerer
„Wanderungen“ verſchiedene andere Klöſter zu beſprechen haben
werden, und daß das Allgemeingültige in Betreff der-
ſelben
doch an irgend einer Stelle wenigſtens andeutungsweiſe
geſagt werden muß.


Die Aebte von Lehnin ſtanden an der Spitze ihres
„Kloſter-Convents,“ d. h. ihrer Mönchsbrüderſchaft, aus der
ſie, ſobald die Vacanz eintrat, durch freie Wahl hervorgingen.
Ihnen zur Seite oder unter ihnen ſtanden der Prior, der Sub-
prior, ein Präceptor, ein Senior und ein Cellerarius (Keller-
[77] meiſter), der, wie es ſcheint, im Lehniner Kloſter die Stelle des
bursarius (Schatzmeiſter) vertrat. Daran ſchloſſen ſich 20 bis 30
fratres, theils Mönche, theils Novizen, theils Laienbrüder. Die
Tracht der Mönche war die übliche der Ciſtercienſer Mönche:
weißes Kleid und ſchwarzes Skapulier.


Das Anſehen und die Gewalt des Abtes waren außerhalb
und innerhalb des Kloſters von großem Belang. 1450 wurde
den Aebten zu Lehnin vom Papſte der biſchöfliche Ornat zuge-
ſtanden. Seitdem trugen ſie bei feierlichen Gelegenheiten die
biſchöfliche Mitra, das Pallium und den Krummſtab. Auf den
Landtagen ſaßen ſie auf der erſten Bank, unmittelbar nach den
Biſchöfen von Brandenburg und Havelberg. Innerhalb des
Kloſters war der Abt ſelbſtverſtändlich der oberſte Leiter des
Ganzen, kirchlich wie weltlich. Er ſah auf ſtrenge Ordnung in
dem täglichen Leben und Wandel der Mönche, er beaufſichtigte
den Gottesdienſt, er controllirte die Verwaltung des Kloſters,
des Vermögens, der Einkünfte deſſelben, er vertrat das Kloſter
geiſtlichen und weltlichen Mächten gegenüber. Er regierte; aber
dieſe Regierung war weit ab davon, eine abſolute, verantwor-
tungsloſe Herrſchaft zu ſein. Wie er über dem Convente ſtand,
ſo ſtand doch auch der Convent wieder über ihm, und Klagen
über den Abt, wenn ſie von draußen Stehenden erhoben wur-
den, kamen vor den Convent und wurden von dieſem entſchie-
den. Waren die zu erhebenden Klagen aber Klagen des Con-
vents ſelbſt, ſo konnte letzterer freilich in ſeiner eignen Ange-
legenheit nicht Recht ſprechen, und ein anderes Tribunal hatte
zu entſcheiden. Dies Tribunal, der Fälle zu geſchweigen, wo
es der Landesherr war, war entweder das Mutterkloſter, oder
das große Capitel in Citeaux, oder der Magdeburger Erzbiſchof
oder endlich der Papſt. Solche Auflehnungen und in Folge der
Auflehnung ſolche Appellationen an die obere Inſtanz zählten
keineswegs zu den Seltenheiten, wiewohl die Lehniner Verhält-
niſſe im Allgemeinen (wir glauben, nicht mit voll ſo großem
Recht, wie in der Regel angenommen wird) durch alle Zeit hin
als muſtergültige geſchildert werden. Der Abt Arnold, von dem
[78] wir ſpäter ausführlicher hören werden, wurde in Folge ſolcher
Auflehnung abgeſetzt. Dieſer Abt-Arnold-Fall, der durch
Beauftragte des Generalkapitels in Citeaux unterſucht und ent-
ſchieden wurde, führt zu der nicht unintereſſanten Frage: ob
ſolche Beziehungen zu Citeaux, zu dem eigentlichen, erſten und
älteſten Ausgangspunkt aller Ciſtercienſerklöſter, etwas Regel-
mäßiges, oder nur etwas Ausnahmsweiſes waren? Die
Ordensregel, die Charta charitatis, das Geſetzbuch der Ciſtercienſer
ſchrieb allerdings vor, daß einmal im Jahre alle Ciſtercienſer
Aebte in Citeaux zuſammenkommen und berathen ſollten, aber
dieſe Anordnung ſtammte noch aus einer Zeit, wo die räumliche
Ausdehnung, die expanſive Kraft des Ordens, die halb Europa
umfaßte, ebenſowenig mit Beſtimmtheit vorauszuſehen war, wie
ſein intenſives Wachsthum bis zur Höhe von 2000 Klöſtern.
Zu welcher Verſammlung, bei nur annähernd regelmäßiger und
allgemeiner Beſchickung wäre ein ſolches Generalkapitel noth-
wendig angewachſen! Freilich die Hinderniſſe, die die bloß
räumliche Entfernung ſchuf (und es waren Hinderniſſe), müſſen
wir uns hüten zu überſchätzen; die Kaiſerfahrten, die Kreuzzüge,
die Pilgerreiſen nach Rom und dem heiligen Grabe zeigen uns
genugſam, daß man damals, ſobald nur ein rechter Wille da
war, vor den Schrecken und Hinderniſſen, die der Raum als
ſolcher ſchafft, nicht erſchrak; aber Citeaux ſelbſt, ganz abgeſehen
von allen andern leichter oder ſchwerer zu überwindenden
Schwierigkeiten, hätte ſolche allgemeine Beſchickung kaum bewäl-
tigen können, wie groß wir auch die bauliche Anlage einerſeits,
und wie klein und beſcheiden die Anſprüche der eintreffenden
Aebte andererſeits annehmen mögen. Wir treffen alſo wohl
das Richtige, wenn wir die Anſicht ausſprechen, daß regel-
mäßige
Beſchickungen des Generalkapitels nicht ſtattfanden,
anderweitige Beziehungen aber, wenn auch nicht regelmäßig,
ſo doch vielfach unterhalten wurden. Mehrere Urkunden thun
ſolcher Beziehungen direkt Erwähnung, und auch anderes ſpricht
dafür, daß unſer märkiſches Kloſter in Citeaux einen guten
Klang hatte und mit Vorliebe am Bande auszeichnender
[79] Abhängigkeit geführt wurde. Schon die Lage Lehnin’s, an der
Grenze aller Cultur, kam ihm zu ſtatten. Die näher an
Citeaux gelegenen Klöſter waren Klöſter, wie andere mehr; wäh-
rend allen denjenigen eine geſteigerte Bedeutung beiwohnen mußte,
die, als vorgeſchobenſte Poſten, in die kaum bekehrte ſlaviſch-
heidniſche Welt hineinragten. Iſt doch die polniſche Abzweigung der
römiſchen Kirche bis dieſen Tag eine Lieblingstochter des Papſt-
thums geblieben. Die Analogien ergeben ſich von ſelbſt.


Die Lehniner Aebte hatten Biſchofs-Rang, und ſie wohn-
ten und lebten demgemäß. Das Lehniner Abthaus, das, an
der Weſtfront der Kirche gelegen, bis dieſen Augenblick ſteht,
zeigt zwar keine großen Verhältniſſe, aber dies darf uns nicht
zu falſchen Schlüſſen verleiten; es war überhaupt keine Zeit der
großen Häuſer. Außerdem hatten die Lehniner Aebte, ebenſo
wie die Biſchöfe von Havelberg und Lebus ihr „Stadthaus“
in Berlin, und es ſcheint, daß dies letztere von größeren Ver-
hältniſſen war. Urſprünglich ſtand es an einer jetzt ſchwer zu
beſtimmenden Stelle der Schloßfreiheit, höchſt wahrſcheinlich da,
wo ſich jetzt das große Schlüterſche Schloßportal erhebt; der
Schloßbau unter Kurfürſt Friedrich dem Eiſernen aber führte
zu einer tauſchweiſen Ablöſung dieſes Beſitzes, und das Stadt-
haus für die Lehniner Aebte ward in die Heilige Geiſt-Straße
verlegt (jetzt 10 und 11, wo die kleine Burgſtraße thorartig in
die Heilige Geiſt-Straße einmündet). Das Haus markirt ſich
noch jetzt als ein alter Bau.


Länger als viertehalb hundert Jahre gab es Aebte von
Lehnin, und wir können ihre Namen mit Hülfe zahlreicher
Urkunden auf und ab verfolgen. Dennoch hält es ſchwer, die
Zahl der Aebte, die Lehnin von 1180 bis 1542 hatte, mit
voller Beſtimmtheit feſtzuſtellen. Durch Jahrzehnte hin begegnen
wir vielfach einem und demſelben Namen, und die Frage ent-
ſteht, haben wir es hier mit ein und demſelben Abt, der zufäl-
lig ſehr alt wurde, oder mit einer ganzen Reihe von Aebten zu
thun, die zufällig denſelben Namen führten und durch I., II.,
III.
füglich hätten unterſchieden werden ſollen. Das Letztere iſt
[80] zwar in den meiſten Fällen nicht wahrſcheinlich, aber doch
immerhin möglich, und ſo bleiben Unſicherheiten. Nehmen wir
indeß das Wahrſcheinliche als Norm, ſo ergeben ſich für einen
Zeitraum von 362 Jahren 30 Aebte, wonach alſo jeder einzelne
12 Jahre regiert haben würde, was eine ſehr glaubliche Durch-
ſchnittszahl darſtellt. Von allen 30 hat es kein einziger zu
einer in Staat oder Kirche glänzend hervorragenden Stellung
gebracht; nur Mönch Kagelwit, der aber nie Abt von Leh-
nin war, wurde ſpäter Erzbiſchof von Magdeburg. Einige
indeſſen haben wenigſtens an der Geſchichte unſeres Landes, oft
freilich mehr paſſiv als aktiv, Theil genommen, und bei dieſen,
wie auch beim Abte Arnold, deſſen privates Schickſal uns ein
gewiſſes Intereſſe einflößt, werden wir in Nachſtehendem länger
oder kürzer zu verweilen haben. Wir beginnen mit Johann
Siebold, dem erſten Abt, von etwa 1180—1190.


Abt Siebold von 1180—1190.


Abt Siebold oder Sieboldus war der erſte Abt von
Lehnin, und in derſelben Weiſe, wie der älteſte Theil des Klo-
ſters, des nun halb in Trümmern liegenden Baues, am beſten
erhalten geblieben iſt, ſo wird auch von dem erſten und älteſten
Abt deſſelben am meiſten und am eingehendſten erzählt. Die
Erinnerung an ihn lebt noch im Volke fort. Freilich gehören
alle dieſe Erinnerungen der Sage und Legende an; hiſtoriſch
verbürgt iſt wenig oder nichts, — aber ob Sage oder Geſchichte,
darf gleichgültig für uns ſein, die wir der einen ſo gern nach-
forſchen wie der andern.


Abt Siebold, ſo erzählen ſich die Lehniner bis dieſen
Tag, wurde von den umwohnenden Wenden erſchlagen, und im
Einklang damit leſen wir auf einem alten, halb verwitterten
Bilde im Querſchiff der Kirche: „Seboldus, primus abbas in
Lenyn, a Slavica gente occisus.“


Abt Siebold wurde alſo erſchlagen; gewiß eine ſehr
ernſthafte Sache; die Geſchichte ſeines Todes indeſſen wiederzu-
[81] geben iſt nicht ohne eigenthümliche Schwierigkeiten, da ſich,
neben dem Ernſten und entſchieden Poetiſchen, auch Tragikomi-
ſches und ſelbſt Zweideutiges mit in dieſe Geſchichte hineinmiſcht.
Und doch iſt über dieſe bedenklichen Partien nicht hinwegzukom-
men, ſie gehören mit dazu; es ſei alſo gewagt.


Abt Siebold und ſeine Mönche gingen oft über Land,
um in den umliegenden Dörfern zu predigen und die wendiſchen
Fiſchersleute, die zäh und ſtörriſch an ihren alten Götzen feſt-
hielten, zum Chriſtenthum zu bekehren. Einſtmals, in Beglei-
tung eines einzigen Kloſterbruders, hatte Abt Siebold in dem
Kloſterdorfe Prützke gepredigt, und über Mittag, bei ſchwerer
Hitze heimkehrend, beſchloſſen Abt und Mönch, in dem nahe
beim Kloſter gelegenen Dorfe Nahmitz zu raſten, das ſie eben
matt und müde paſſirten. Der Abt trat in eines der ärmlichen
Häuſer ein; die Scheu aber, die hier ſein Erſcheinen einflößte,
machte, das alles auseinander ſtob; die Kinder verſteckten ſich
in Küche und Kammer, während die Frau, die ihren Mann
ſammt den andern Fiſchern am See beſchäftigt wußte, ängſtlich
unter den Backtrog kroch, der nach damaliger Sitte nichts als
ein ausgehöhlter Eichenſtamm war. Abt Siebold, nichts
Arges ahnend, ſetzte ſich auf den Trog, die Kinder aber, nach-
dem ſie aus ihren Schlupfwinkeln allmälig hervorgekommen
waren, liefen jetzt an den See und riefen dem Vater und den
übrigen Fiſchersleuten zu: „Der Abt iſt da,“ zugleich beſchrei-
bend, in welch eigenthümlicher Situation ſie die Mutter und
den Abt verlaſſen hatten. Die verſammelten Fiſchersleute gaben
dem Wort die ſchlimmſte Deutung, und der bittre Groll, den
das Wendenthum gegen die deutſchen Eindringlinge unterhielt,
brach jetzt in helle Flammen aus. Mit wildem Geſchrei ſtürzten
alle in’s Dorf, umſtellten das Haus und drangen auf den Abt
ein, der ſich, als er wahrnahm, daß ihm dieſer Angriff gelte,
ſammt ſeinem Begleiter durch die Flucht zu retten ſuchte. Der
nahe Wald bot vorläufig Schutz, aber die verfolgenden Dörfler
waren ausdauernder als der ältliche und wohlbeleibte Abt, der
es endlich vorzog, einen Baum zu erklettern, um, gedeckt durch
Fontane, Wanderungen. III. 6
[82] das dichte Laubgebüſch deſſelben, ſeinen Verfolgern zu entgehn.
Der Mönchsbruder eilte inzwiſchen vorauf, um Hülfe aus dem
Kloſter herbei zu holen. Abt Siebold ſchien gerettet, aber ein
Schlüſſelbund, das er beim Erklettern des Baumes verloren
hatte, verrieth ſeinen Verſteck und brachte ihn in’s Verderben.
Wohl kamen endlich die Mönche und beſchworen den tobenden
Volkshaufen, von ſeinem Vorhaben abzulaſſen. Der Säckel-
meiſter bot Geld, der Abt ſelbſt, aus ſeinem Verſteck heraus,
verſprach ihnen Erlaß des Zehnten, dazu Feld und Haide, —
aber die wilden Burſchen beſtanden auf ihrer Rache. Sie
hieben, da der Abt ſich weigerte herabzuſteigen, die Eiche um
und erſchlugen endlich den am Boden Liegenden. — Die
Mönche, die den Mord nicht hindern konnten, kehrten unter
Mißhandlungen von Seiten der Fiſchersleute in ihr Kloſter
zurück und ſtanden bereits auf dem Punkt, wenige Tage ſpäter
die Mauern deſſelben für immer zu verlaſſen, als ihnen, ſo
erzählt die Sage, die Jungfrau Maria erſchien und ihnen
zurief: Redeatis! Nihil deerit vobis (Kehret zurück; es ſoll
euch an nichts fehlen), Worte, die Allen ein neues Gottver-
trauen einflößten und ſie zu muthigem Ausharren vermochten.
So die Tradition, von der ich bekenne, daß ich ihr Anfangs
mißtraute. Sie ſchien mir nicht den Charakter des 12. Jahrhun-
derts zu tragen, indem das Mönchthum, gehoben und miterfüllt
von den großen Ideen jener Zeit, auch ſeinerſeits ideeller, gehei-
ligter, reiner daſtand, als zu irgend einer anderen Epoche kirch-
lichen Lebens. Abt und Mönche von Lehnin, ſo ſchloß ich wei-
ter, gaben damals, in der Blüthezeit des Ciſtercienſerthums,
ſchwerlich zu Eiferſuchtsausbrüchen der wendiſchen Bevölkerung
irgend welche Veranlaſſung, und ſo konnte auch damals, d. h.
alſo Ausgangs des 12. Jahrhunderts, keine Geſchichte entſtehen,
die namentlich in ihrer populärſten Faſſung (von der ich,
wie billig, Abſtand genommen habe), weit etwas anders als
ein bloßes Mißtrauen in die kirchlichen Abſichten des Abtes
Siebold durchblicken läßt. Auch jetzt noch ſetze ich Zweifel
in die volle Aechtheit und Glaubwürdigkeit der Ueberlieferung.
[83] Ich bin vielmehr der Anſicht, daß wir es hier mit einer
im Lauf der Zeit, je nach dem Bedürfniß der Erzähler und
Hörer, mannigfach gemodelten Sage zu thun haben, der,
namentlich im 15. Jahrhundert, wo der Verfall des Mönchsthums
längſt begonnen hatte, ein Liebes-Abenteuer, oder doch der Ver-
dacht eines ſolchen, ſtatt des urſprünglichen Motivs, nämlich
des Racenhaſſes, untergeſchoben wurde.


Soweit meine Zweifel. Auf der andern Seite deutet
freilich (von der Backtrog-Epiſode und andern nebenſächlichen
Zügen abgeſehn) alles auf ein Faktum hin, das in ſeinem
ganzen äußerlichen Verlauf, durch faſt 700 Jahre, mit
großer Treue überliefert worden iſt. Eine Menge kleiner
Züge vereinigen ſich, um es mindeſtens höchſt glaubhaft
zu machen, daß Sieboldus der erſte Abt war, daß er wirk-
lich von den Wenden erſchlagen wurde, daß ſein Eintritt
in ein Nahmitzer Fiſcherhaus das Signal zum Aufſtand gab,
und daß er, auf der Flucht einen Baum erkletternd, auf
dieſem Baum ſein Verſteck, dann unter demſelben ſeinen Tod
fand. Die Ueberlieferungen nun, ſachliche ſowohl wie Erzäh-
lungen im Volksmund, die ſich auf dieſe Punkte hin vereinigen,
ſind folgende:


Im Querſchiff der Lehniner Kirche hängt bis dieſen Tag
ein altes Bild von etwa 3 Fuß Höhe und 5 Fuß Länge, auf
dem wir in zwei Längsſchichten oben die Ermordung des Abtes,
unten den Auszug der Mönche und die Erſcheinung der Jung-
frau Maria dargeſtellt finden. Vor dem Munde der Maria
ſchwebt der bekannte weiße Zettel, auf dem wir die ſchon oben
citirten Worte leſen: Redeatis, nihil deerit vobis. Rechts in
der Ecke des Bildes bemerken wir eine zweite lateiniſche, längere
Inſchrift, die da lautet:


Anno milleno bis minus uno

Sub patre Roberto coepit Cistertius ordo.

Annus millenus centenus et octuagenus

Quando fuit Christi, Lenyn, fundata fuisti

Sub patre Seboldo, quam Marchio contulit Otto

6*
[84]
Brandenburgensis; Aprilis erat quoque mensis.

Hic jacet ille bonus marchravius Otto, patronus

Hujus ecclesiae. Sit, precor, in requie.

Hic jacet et occisus prior abbas, cui paradisus

Jure patet, Slavica quem stravit gens inimica.

Zu deutſch etwa:


Im Jahre 1098 begann, unter dem Pater Robert, der
Ciſtercienſer-Orden. Als das Jahr Chriſti 1180 war, biſt
du, Lehnin, gegründet worden unter dem Pater Seboldus,
welches der Markgraf Otto von Brandenburg dotirt hat;
es war auch der Monat April. Hier ruhet jener gute Mark-
graf Otto, der Schützer dieſer Kirche. Er möge in Frieden
ſchlafen. Hier ruht auch der erſte gemordete Abt, dem das
Paradies mit Recht offen ſteht, den das feindſelig geſinnte
Slavenvolk erwordet hat.


Dieſe Inſchrift iſt die Hauptſache, beſonders durch die Form
ihrer Buchſtaben. Das Bild ſelbſt nämlich iſt eine Pinſelei, wie
ſie von ungeſchickten Händen in jedem Jahrhundert (auch jetzt
noch) gemalt werden kann, die Inſchrift aber gehört einem ganz
beſtimmten Jahrhundert an. Der Form der Buchſtaben nach
iſt das Bild zu Anfang des 15. Jahrhunderts gemalt, und
ſo erſehen wir denn mit ziemlicher Gewißheit aus dieſem Bilde,
wie man ſich etwa um’s Jahr 1400, oder wenig ſpäter, im
Kloſter ſelbſt die Ermordung des Abtes Siebold vorſtellte. 200
Jahre nach ſeinem Tode konnte dieſe Tradition, zumal bei den
Mönchen ſelbſt, durchaus noch lebendig und zuverläſſig ſein.
Die Sagen unterſtützen den Inhalt dieſes Bildes bis die-
ſen Tag.


Ich ſprach Eingangs ſchon von einem Stücklein Poeſie,
das mehr oder weniger mit dem Tode des Abtes verknüpft ſei,
und dieſe poetiſche Seite iſt wirklich da. Aber ſie zeigt ſich viel
mehr in den geſpenſtigen Folgen der Unthat als in die-
ſer ſelbſt.


In dem mehrgenannten Dorfe Nahmitz bezeichnet die Ueber-
lieferung auch heut noch das Gehöft, in das damals der Abt ein-
[85] trat. — Das Haus hat längſt einem anderen Platz gemacht,
aber ein Unſegen haftet ſeit jenem Unglückstage an der Stelle.
Die Beſitzer wechſeln, und mit ihnen wechſelt die Geſtalt des
Mißgeſchicks, aber das Mißgeſchick ſelber bleibt. Das Feuer
verzehrt die vollſten Scheunen, böſe Leidenſchaften nehmen den
Frieden oder der Tod nimmt das liebſte Kind. So wechſeln
die Geſchicke des Hauſes. Jetzt iſt Siechthum heimiſch darin,
die Menſchen trocknen aus, und blut- und farblos, jeder Freude
bar, gehen ſie matt und müde ihrer Arbeit nach.


Und wie die Tradition im Dorfe ſelber das Haus bezeich-
net, ſo bezeichnet ſie auch in dem ſchönen Eichenwalde zwiſchen
Nahmitz und Lehnin die Stelle, wo der Baum ſtand, unter
dem die Unthat geſchah. Der Stumpf war Jahrhunderte lang
zu ſehen; daneben lag der abgehauene Stamm, über den keine
Verweſung kam und den Niemand berühren mochte, weder der
Förſter, noch die ärmſten Dorfleute, die Reiſig im Walde ſuch-
ten. Der Baum lag da wie ein herrenloſes Eigenthum, ſicher
durch die Scheu, die er einflößte. Erſt im vorigen Jahrhun-
dert kam ein Müller, der lud den Stamm auf und ſagte zu
den Umſtehenden: „Wind und Teufel mahlen gut.“ Aus
dem Stamm aber machte er eine neue Mühlenwelle und
ſetzte die vier Flügel daran. Es ſchien auch alles nach
Wunſch gehen zu ſollen und die Mühle drehte ſich luſtig
im Winde, aber der Wind wurde immer ſtärker und in der
Nacht, als der Müller feſt ſchlief, ſchlugen plötzlich die hellen
Flammen auf. Die Mühlwelle, in immer raſcherem Drehen,
hatte Feuer an ſich ſelber gelegt und alles brannte nieder.
„Wind und Teufel mahlen gut,“ raunten ſich anderen Tags die
Leute zu.


Abt Herrmann von 1330—1340.


Abt Siebold wurde etwa um 1190 oder etwas ſpäter
von den umwohnenden Wenden ermordet. Die Urkunden
[86] erwähnen dieſes Mordes nicht, wie denn überhaupt die ziemlich
zahlreichen Pergamente aus der askaniſchen Epoche lediglich
Schenkungsurkunden ſind. Es vergehen beinahe anderthalb hun-
dert Jahre, bevor wieder ein Lehniner Abt mit mehr als ſeinem
bloßen Namen vor uns hintritt; — dieſer Abt iſt Herrmann
von Pritzwalk
. Zwei Urkunden von 1335 und 1337
erwähnen ſeiner; erſt eine dritte indeß, vom Jahre 1339, giebt
uns ein beſtimmtes Bild des Mannes, freilich kein ſchmeichel-
haftes. Wie weit wir dieſer Schilderung zu trauen haben, das
wollen wir nach Mittheilung des Hauptinhalts der Urkunde (die
ein Erlaß des Papſtes Benedikt’sXII. an die Aebte von
Colbatz, Stolp und Neukampen iſt) feſtzuſtellen ſuchen.


Dieſer Urkunde nach, die alſo nichts anders iſt, als ein
päpſtliches Schreiben (Breve), erſchien der Mönch Dietrich
von Ruppin
, ein Mitglied des Lehniner Kloſters, im Jahre
1339 vor Papſt BenediktXII. in Avignon und theilte dem-
ſelben in Gegenwart des Conſiſtoriums mit, daß durch „An-
ſchürung des alten Feindes des Menſchengeſchlechts“ ſeit etwa
15 Jahren im Kloſter Lehnin eine Trennung und Scheidung
der Mönche ſtattgefunden habe, dergeſtalt, daß die mächtigere
Partei, die ſich die Loburgſche nenne, einen Terrorismus gegen
die ſchwächere übe und dieſelbe weder zu Wort, noch am wenig-
ſten zu ihrem Rechte kommen laſſe. An der Spitze dieſer ſtär-
keren Partei (der Loburgſchen) hätten, bei Bildung derſelben,
die drei Mönche Theodorich von Harſtorp, Nicolaus
von Lützow
und Herrmann von Pritzwalk geſtanden,
die denn auch, durch ihre und ihrer Partei Uebergriffe und
Machinationen, ohne den kanoniſch feſtgeſtellten Wahlmodus
irgend wie inne zu halten, ſich nach einander zu Aebten des
Kloſters aufgeworfen hätten.


Unter der Regierung dieſer drei Eindringlings-Aebte ſeien
alsdann, von den Anhängern der Loburgſchen Partei, ſowohl
innerhalb wie außerhalb des Kloſters, die größten Verbrechen
begangen worden. So ſei unter andern ein Adliger aus
der Nachbarſchaft, mit Namen Falco, der zur Zeit des Abtes
[87]Nicolaus von Lützow im Kloſter ein Nachtlager bezogen
habe, von verſchiedenen Laienbrüdern des Kloſters (darunter
namentlich der Anhang des damaligen Mönches, jetzigen
Abtes Herrmann) überfallen und ſammt ſeiner Begleitung
ermordet worden. Als am andern Morgen das Gerücht von
dieſem Morde die Kloſterzellen erreicht habe, ſei Herrmann
(genannt von Pritzwalk) mit ſeinem Anhang an den Ort
der That geeilt, und habe denn auch den Ritter Falco,
ſowie drei ſeiner Begleiter bereits erſchlagen, zwei andre Dienſt-
mannen aber ſchwer verwundet, im Bettſtroh verſteckt, vorgefun-
den. Mönch Herrmann habe nunmehr Befehl gegeben, auch
dieſe Verwundeten zu tödten; die Waffen Falco’s aber habe
er als Beute an ſich genommen und ſpäterhin vielfach gebraucht.


Dieſer Mord, ſo heißt es in der Urkunde weiter, habe
alsbald eine mehr als zehnjährige Fehde hervorgerufen, in der
durch die Anhänger des Ritters Falco nicht nur drei Laien-
brüder und viele Knechte und Schutzbefohlene des Kloſters getöd-
tet, ſondern auch die Güter deſſelben durch Raub, Brand und
Plünderei verwüſtet worden ſeien, ſo daß man den Schaden
auf über 60,000 Goldgulden geſchätzt habe. Während dieſer
Fehden und Kriegszüge hätten die Mönche zu Schutz und Trutz
beſtändig Waffen geführt, ſo daß ſie, ganz gegen die Ordens-
regel, im Schlafſaal und Refectorium immer gewaffnet erſchie-
nen wären. An den Kämpfen ſelbſt hätten viele der Fratres
Theil genommen, andre, namentlich von den Laienbrüdern,
hätten das Kloſter verlaſſen und ein anderes Obdach geſucht.


Auch von den Hinterſaſſen des Kloſters ſeien Mord und
Brand und Unthaten aller Art verübt worden, als deren mora-
liſche Urheber das umwohnende Volk längſt gewohnt ſei, die
Kloſterbrüder anzuſehen, weshalb denn auch all die Zeit über
der Nothſchrei zugenommen habe, daß die Lehninſchen Mönche
vertrieben und durch Ordensbrüder von beſſerem Lebenswandel
erſetzt werden möchten. Bei Gelegenheit dieſer Fehden und
Kämpfe ſeien übrigens die beweglichen und unbeweglichen Güter
des Kloſters vielfach veräußert und verpfändet worden.


[88]

Die Urkunde berichtet ferner, daß ein Laienbruder, der
bei der Ermordung Falco’s mit zugegen war und hinterher
den Muth hatte auszuſprechen: „daß dieſer Mord auf Befehl
des Abts und ſeiner Partei ſtattgefunden habe,“ in’s Gefäng-
niß geworfen und innerhalb zehn Tagen von den Mönchen der
Loburgſchen Partei ermordet worden ſei. Das päpſtliche Schrei-
ben meldet endlich, daß „Dietrich von Ruppin,“ auf deſ-
ſen Ausſagen ſich alles dieſes ſtützte, noch beſonders hinzugefügt
habe, daß der an der Ermordung Falco’s und der Seinen
vorzugsweiſe betheiligte Mönch Herrmann jetzt Abt des
Kloſters ſei, wobei die herrſchende Mönchspartei von dem vor-
geſchriebenen Wahlmodus abermals Umgang genommen und die
geſetzlich geregelte Einführung unterlaſſen habe. Abt Herr-
mann
, deſſen Wahl jeder Geſetzlichkeit und Gültigkeit entbehre,
habe, wie ſein Vorgänger, das Vermögen des Kloſters ver-
ſchleudert, die Ordensregeln mißachtet und ein diſſolutes Leben
geführt, und als beſagter Abt endlich Willens geweſen ſei, ihn,
den „Dietrich von Ruppin,“ wegen Dispenſes und wegen
Abſolution für die oben geſchilderten Verbrechen an die päpſtliche
Curie abzuſenden, habe er ihn, den Dietrich, — weil der-
ſelbe vorher noch Rückſprache in dieſer Angelegenheit mit dem
Abte eines anderen vorgeſetzten Kloſters genommen habe,
— durch einige Mönche und Converſen gefangen nehmen, in
Eiſen legen und neun Monate lang in den Kerker werfen laſ-
ſen, alles mit der ausgeſprochenen Abſicht, ihn durch ſchwere
Peinigungen vom Leben zum Tode zu bringen. Einen andern
Converſen des Kloſters aber, mit Namen Geraldus, habe Abt
Herrmann wirklich tödten laſſen.


Die Urkunde ſchließt dann mit einer Aufforderung an die
obengenannten Aebte von Colbatz, Stolp und Neukampen, den
Fall zu unterſuchen und darüber zu befinden, damit die Angeklagten,
wenn ihre Schuld ſich herausſtellen ſollte, vor dem päpſtlichen Stuhle
erſcheinen und daſelbſt ihren Urtheilsſpruch gewärtigen möchten.


Soweit der Inhalt der Urkunde von 1339. Ob die Aebte
ſich des mißlichen Auftrags entledigt und, wenn ſo geſchehen,
[89] welche Entſcheidung ſie getroffen oder welchen Bericht ſie an
Papſt Benedikt gerichtet haben, darüber erfahren wir nichts;
übrigens dürfen wir vermuthen, daß, gleichviel, ob die Unter-
ſuchung ſtattfand oder nicht, die Dinge unverändert ihren Fort-
gang genommen haben werden. Auch ſind wir geneigt hinzu-
zufügen, — mit Recht. Wir ſetzen nämlich in die Mitthei-
lungen des Mönches Dietrich von Ruppin keineswegs ein
unbedingtes Vertrauen und vermuthen darin vielmehr, ohne ihn
direkt der Lüge zeihen zu wollen, eine jener halbwahren Dar-
ſtellungen, die immer da Platz greifen, wo die Dinge von
einem gewiſſen Parteiſtandpunkte aus angeſehen, oder wie hier,
Anklagen in zum Theil eigner Angelegenheit erhoben werden.
Abt Herrmann ſcheint uns weit mehr ein leidenſchaft-
licher Parteimann
, als ein Verbrecher geweſen zu ſein.


Stellen wir alle Punkte von Belang zuſammen, die ſich
aus den Ausſagen Dietrichs von Ruppin ergeben ſo
finden wir


1) daß im Kloſter zwei Parteien waren, von denen die
ſtärkere die ſchwächere terroriſirte und die Aebte aus ihrer, der
Majorität, Mitte wählte;


2) daß Ritter Falco von der ſtärkeren oder Loburgſchen
Partei ermordet wurde;


3) daß das Kloſter nach Dispens und Abſolution von
Seiten des Papſtes verlangte, und


4) daß Dietrich von Ruppin abgeordnet wurde, um die
Abſolution einzuholen, wegen vorgängiger Plauderei aber ins
Gefängniß geworfen wurde.


Unter dieſen vier Punkten involvirt der zweite, die Ermor-
dung Falco’s, ein ſchweres und unbeſtreitbares Verbrechen.
Der Umſtand indeſſen, daß Abt Herrmann für ſich und ſein
Kloſter nach der Abſolution des Papſtes verlangte, deutet darauf
hin, daß das Geſchehene mehr den Charakter einer ſühnefähigen
Schuld, als den einer ſchamloſen Miſſethat hatte. Denn ſollte
die Gnade des Papſtes angerufen werden, ſo mußten nothwen-
dig Umſtände vorauf oder nebenher gegangen ſein, die im Stande
[90] waren, eine Brücke zu bauen und für die Schuld bei der Gnade
zu plaidiren. Solche entſchuldigenden Umſtände waren denn wohl
auch wirklich da und lagen, wie wir mehr oder weniger aus
der Anklage ſelbſt entnehmen können, in dem Parteihaß, der
eben damals (mehr denn je vorher oder nachher) die Mark in
zwei Theile theilte. Es war die baieriſche Zeit; dies ſagt
alles. Es waren die Tage, wo die Berliner den Propſt von
Bernau erſchlugen und die Frankfurter (mit gutem Grund) den
Biſchof von Lebus verjagten; es waren die Tage des Bannes
und des Interdikts, Tage, die dreißig Jahre währten, und
in denen ſich das Volk der Kirche ſo entfremdete, daß es ver-
wundert aufhorchte, als zum erſten Male wieder die Glocken
durch’s Land klangen. Der alte Kampfesruf „hie Welf, hie
Waibling!“ ſchallte wieder aller Orten, und „bairiſch oder
päpſtlich“ klang es vor allem auch in der Mark Brandenburg.
Lehnin, gehegt und gepflegt vom Kaiſer und ſeiner Partei, war
bairiſch, der märkiſche Adel (vielfach zurückgeſetzt) war anti-
bairiſch
. Aus dieſem Zuſtande ergaben ſich Conflikte zwiſchen
dem Kloſter und dem benachbarten Adel faſt wie von ſelbſt, und
die Ermordung Falco’s, die nach den Ausſagen Dietrichs
von Ruppin einfach wie ein brutaler Bruch der Gaſtfreundſchaft
erſcheint, war möglicherweiſe nur blutige Abwehr, nur ein
Rache-nehmen an einem Eindringling, der ſich ſtark genug
geglaubt hatte, den Kloſterfrieden brechen zu dürfen. Ritter
Falco und die Seinen, wenn ſie wirklich Gäſte des Kloſters
waren, waren vielleicht ſehr ungebetene Gäſte, Gäſte,
die ſich nach eigenem Dafürhalten im Kloſter einquartiert hatten,
vielleicht im Complott mit der Minorität, die höchſt wahr-
ſcheinlich (im Gegenſatz zur Loburgſchen Partei) zum Papſte
hielt. *)


[91]

Dies alles ſind freilich nur Hypotheſen; aber wenn ſie auch
nicht abſolut das Richtige treffen, ſo lehnen ſie ſich doch an Rich-
tiges an und ſchweifen wohl nicht völlig in die Irre.


Was immer aber auch das Motiv dieſes Mordes geweſen
ſein möge, entſchuldbarer Parteihaß oder niedrigſte Ruchloſigkeit,
ſo viel erhellt aus dieſer Ueberlieferung — ihre thatſächliche
Begründung immer vorausgeſetzt — daß die Tage in Kloſter
Lehnin nicht immer intereſſelos verliefen (wie gelegentlich geglaubt
worden iſt), und daß, wenn wir dennoch im Großen und Gan-
zen einer gewiſſen Farbloſigkeit begegnen, der Grund dafür nicht
darin zu ſuchen iſt, daß überhaupt nichts geſchah, ſondern ledig-
lich darin, daß das Geſchehene nicht aufgezeichnet, nicht überlie-
fert wurde.


Mönch Herrmann, der mit ſeinem Anhang an die
Stätte des Mordes vordringt, die Verwundeten in ihren Stroh-
verſtecken tödtet oder tödten läßt, dann ſelber, während zehnjäh-
riger Fehde, in Schlafſaal und Refectorium die Waffenrüſtung
Falco’s trägt, — das giebt ſchon ein Bild, dem es keineswegs
an Farbe fehlt, auch nicht an jenem Roth, das nun ’mal die
Haupt- und Grundfarbe aller Geſchichte iſt.


Ueber den Ausgang des Abtes Herrmann erfahren wir
nichts; ſehr wahrſcheinlich, daß er noch eine Reihe von Jahren
dem Kloſter vorſtand; — erſt 1352 finden wir den Namen eines
Nachfolgers verzeichnet.


Abt Heinrich Stich (etwa von 1399—1430).


Heinrich Stich, vor ſeiner Abtwahl Kellermeiſter (celle-
rarius)
des Kloſters, wurde ſehr wahrſcheinlich im Jahre 1399
zum Abt gewählt. Seine Regierung fällt in die ſogenannte
*)
[92]Quitzow-Zeit,“ und wir werden in Nachſtehendem zu berich-
ten haben, wie vielfach gefährdet Kloſter Lehnin damals war und
wie glücklich es, großentheils durch die umſichtige Leitung ſeines
Abtes, aus allen dieſen Gefahren hervorging. Die Geſchichte
jener Epoche, ſoweit ſie das Kloſter berührt, entnehmen wir den
Aufzeichnungen Heinrich Stich’s ſelber, der im Jahre 1419
ein Gedenkbuch anzulegen begann, in welchem er, zurückgehend
bis auf das Jahr 1401, über die Streitigkeiten des Kloſters
mit ſeinen Nachbarn berichtet. Einiges ergänzen wir aus einer
andern, ziemlich gleichzeitigen Chronik.


Das Kloſter hielt es all die Zeit über, ſeinen Traditionen
getreu, mit der Landesobrigkeit, d. h. alſo, Abt und
Mönche waren im Allgemeinen gegen die Quitzow’s. Da
indeſſen die Landesobrigkeit damals ſehr ſchwankend und eine
Zeit lang (halb angemaßt, halb zugeſtanden) bei den Quitzow’s
ſelber war, ſo entſtanden daraus ſehr verwickelte, zum Theil
widerſpruchsvolle Verhältniſſe, deren Gefahren und Schwierigkei-
ten nur durch große Klugheit zu überwinden waren. Die
ſchwankenden Verhältniſſe nöthigten auch zu einer ſchwankenden
Politik. Die Grundſtimmung des Kloſters blieb gegen die
Quitzow’s
gerichtet, wiewohl wir einer, indeß jedenfalls nur
kurzen Epoche zu erwähnen haben werden, wo das Kloſter mit
den Quitzow’s ging.


Zwiſchen 1401 und 1403, ſo ſcheint es, ſammelten die
Quitzow’s Material gegen das Kloſter. In wie weit ſie dabei
bona fide handelten, iſt ſchwer zu ſagen; doch macht ihr Vor-
gehen allerdings den Eindruck, als hätten ſie, voll übermüthigen
Machtbewußtſeins, die Dinge nur einfach darauf hin angeſehen,
wie ſie ihnen paßten, unbekümmert um den Wortlaut entgegen-
ſtehender Urkunden und Verträge. Sie ſtellten ſich zunächſt,
als machten ſie einen Unterſchied zwiſchen dem Abt des
Kloſters
und dem Kloſter ſelbſt, und ſich das Anſehen
gebend, als ſei die Perſönlichkeit oder der Eigenſinn des Abtes
an Allem Schuld, verklagten ſie ihn beim Convent ſeines eige-
nen Kloſters. Als dieſe Klage, wie ſich denken läßt, ohne
[93] Einfluß blieb, ſchritten ſie zu einer förmlichen Anklageſchrift,
in der ſie dem Kloſter all ſeine vorgeblichen Vergehen und Ein-
griffe entgegenhielten. Dieſe Anklageſchrift enthielt, unter vielen
andern Paragraphen, drei Hauptpunkte:


1) Das Kloſter habe ihnen, den Quitzow’s, zweimal den
Landſchoß verweigert, wiewohl ſie doch die „Statthalter in
Mark Brandenburg“ wären.


2) Das Kloſter habe den Quitzow’ſchen Knechten, auf
ſeinen, des Kloſters Gütern jedes Einlager verweigert und die
Zuwiderhandelnden mit Mord bedroht.


3) Endlich, das Kloſter habe dabei beharrt, die Havel bei
Schloß Plaue als ſein Eigenthum anzuſehn, während ſie doch
ihnen, den Quitzow’s, als den zeitigen Beſitzern von Schloß
Plaue gehöre, denn weil das Waſſer bei dem Schloſſe ſei,
ſo müßte es auch zu dem Schloſſe gehören, und führe das
Schloß nicht umſonſt den Namen „Schloß Plaue an der
Havel
.“


Abt Heinrich erwiederte auf alle Anklagepunkte in wür-
diger Weiſe, alle ſeine Ausſagen urkundlich belegend. Er
wies aus den Schenkungsurkunden und verbrieften Gerechtſamen
des Kloſters nach, daß ſie, Abt und Mönche, erſtens ihre Güter
„in aller Freiheit“ beſäßen und niemals Landſchoß zu zah-
len gehabt hätten, daß es zweitens zu ihren vielfach verbrieften
Gerechtſamen gehöre, keine Herren, keine Lehnsträger, Ritter
oder Knechte wider Willen aufnehmen zu müſſen, und daß ſie
drittens die Havel bei Plaue ſeit ſo langer Zeit als Eigenthum
beſäßen, „daß Niemand deſſen anders gedenken möge.“


Dieſer dritte Punkt, weil es ſich dabei um eine Eigen-
thumsfrage
handelte, die den praktiſchen Leuten des Mittel-
alters immer die Hauptſache war, bekümmerte den Abt nun
ganz beſonders. Da man ſich nicht einigen konnte, wurden
Schiedsrichter vorgeſchlagen, wobei Hennig von Stechow
und Henning von Groeben als Abgeſandte oder Man-
datare der Quitzow’s auftraten. Das Recht des Kloſters
indeſſen war zu klar, als daß die eigenen Vertrauensmänner
[94] (Stechow und Gröben) der Gegenpartei es hätten über-
ſehen oder umdeuten können, und ſo beſchworen ſie den Hans
von Quitzow, „daß er um Gottes und ſeiner eigenen Selig-
keit willen mit dem Abte nicht hadern und das Kloſter ſammt
ſeinen Gütern und Beſitzungen nicht anfechten möge.“ Aber
die Quitzow’s — die vielleicht aus politiſch-ſtrategiſchen Grün-
den in dieſer Frage beſonders hartnäckig waren — beharrten
auf ihrer Forderung und das Kloſter mußte ſchließlich nicht
nur auf ſein Flußrecht Verzicht leiſten, ſondern auch noch wei-
tere 100 Mark Silber zahlen, um ſich guter Nachbarſchaft und
der Wohlgewogenheit der mächtigen Familie zu verſichern.


Dieſe Nachgiebigkeit und die damit verknüpften Schädi-
gungen mögen dem Kloſter ſchwer genug angekommen ſein;
nachdem die Opfer aber einmal gebracht und mittelſt derſelben
die Freundſchaft und die guten Dienſte der alles vermögenden
Quitzow-Sippe gewonnen waren, lag es nun auch in der
Politik des Kloſters, dieſe Freundſchaft zu pflegen und dadurch
den eignen Vortheil nach Möglichkeit zu fördern.
Die Niederlage blieb unvergeſſen, aber ſo lange kein Stärkerer
da war, um dieſe Niederlage zu rächen, wurde das Joch in
Klugheit und Ergebenheit getragen.


Aber dieſer Stärkere kam endlich, und ob es
nun wieder nur die alte Kloſterklugheit war, die in dem Nürn-
berger Burggrafen ſofort den Stärkeren erkannte, oder ob
in dieſem Fall der heimliche Groll mitwirkte, der all die
Jahre über, unter der Maske guter Freundſchaft, gegen die
Quitzow’s unterhalten worden war, — gleichviel, kaum daß
der erſte Hohenzoller ernſtlich Miene machte, eine eigene Macht
zu etabliren und den Uebermuth ſeiner Widerſacher zu demüthi-
gen, ſo ſehen wir auch ſchon Kloſter Lehnin unter den Hülfs-
truppen des neuen Landesherrn, der anders eingreifend, als
wie all die Statthalter und Hauptleute vor ihm, in acht Tagen
die vier Quitzow-Burgen und mit ihren Burgen auch ihr
Anſehen brach. Die Kloſterleute von Lehnin lagen (ſammt
den Bürgern von Belitz, Jüterbog und Treuenbrietzen) vor
[95] Schloß Beuthen und warteten, wie berichtet wird, die Ankunft
„der großen Büchſe,“ der ſogenannten faulen Grete, ab. Ihr
kriegeriſches Verdienſt ſcheint alſo, dieſer Andeutung nach zu
ſchließen, kein beſonders hervorragendes geweſen zu ſein und
lediglich in einem geduldigen und möglichſt geſicherten Davor-
ſtehen beſtanden zu haben.


Schwerlich empfanden Abt und Convent einen Gram dar-
über; es lag ihnen nicht an Kriegsruhm, ſondern, wie immer,
lediglich an Mehrung und Förderung der Kloſterintereſſen, an
wachſendem Beſitz und — guter Nachbarſchaft. Dieſe
gute Nachbarſchaft hatte Lehnin, das mit den Rochow’s grenzte,
ein halbes Jahrhundert ſchmerzlich vermiſſen müſſen. Jetzt traf
es ſich, daß der Ausgang des Quitzow-Streits unſerem
Kloſter erwünſchte Gelegenheit bot, ſich auch dieſer „guten Nach-
barſchaft“ auf lange Zeit hin zu verſichern. In Burg Golzow
(dem alten Rochow-Sitz, in der Nähe Lehnin’s) war Wichard
von Rochow,
der treue Anhänger der Quitzow’s, gefangen
genommen worden. Durch Vermittelung des Abtes, der allen
Groll zu rechter Zeit zu vergeſſen wußte, ward ihm jetzt, dem
Wichard, (freilich erſt nach Abtretung Potsdams an den Kur-
fürſten) die Freiheit und — Schloß Golzow zurückgegeben.
Beide Theile, der Kurfürſt und die Rochow’s, wußten es
dem Vermittler Dank, und dem Kloſter waren zwei Freunde
gewonnen. —


Abt Heinrich Stich ſtarb wahrſcheinlich um 1430.


Abt Arnold. (Etwa von 1456—1467.)


Die Amtsführung des Abtes Heinrich von 1399 bis
etwa um 1430 war in eine unruhige Zeit gefallen, und wir
ſehen all die Zeit über das Kloſter in ſeinen Verwickelungen
nach außen; die Regierung des Abtes Arnold fällt in fried-
lichere Tage, und die Urkunden, aus jener Zeit her, gönnen
uns ausſchließlich wieder einen Einblick in innere Streitig-
keiten
. Sie berichten über Zerwürfniſſe, die an die Zuſtände
[96] unter Abt Herrmann erinnern, wie wir dieſelben (ohne weitre
Gewähr) nach den Ausſagen „Dietrich’s von Ruppin“ geſchil-
dert haben. Hier wie dort begegnen wir Parteiungen und
einem ſiegreichen Auftreten der Majorität, nur mit dem Unter-
ſchied, daß ſich Abt Herrmann, in ſeinem Terrorismus, auf
die Majorität des Conventes ſtützte, während Abt Arnold
gegen dieſe Majorität ankämpfte und in dieſem Kampfe unterlag.


Die Urkunden aus der etwa zehnjährigen Zeit ſeiner Ver-
waltung ſind ziemlich zahlreich (20) und ſprechen nicht gegen
den Abt. Streitigkeiten werden geſchlichtet, Vergleiche getroffen,
Ländereien empfangen oder ausgegeben — nirgends erhellt aus
ihnen ein Zerwürfniß zwiſchen Abt und Convent. So verlau-
fen die Dinge oder ſcheinen ſie doch zu verlaufen, bis wir,
gleich aus den erſten Urkunden, die in die Regierungszeit ſeines
Nachfolgers fallen, in Erfahrung bringen, daß Abt Arnold
„wegen unſtatthafter Veräußerung von Kloſtergütern“ abgeſetzt
und Prior Gallus an ſeiner Statt zum Abte gewählt wor-
den ſei. Wir erfahren ferner, daß inzwiſchen ein andres deut-
ſches Kloſter (Altenberg) den Arnoldus zu ſeinem Abte ernannt,
dieſer aber, von ſeinem jetzigen, dem Altenberger Kloſter aus,
eine heftige Schmähſchrift (libellum infamiae) gegen den Prior
und die Mönche von Kloſter Lehnin gerichtet, dieſe Schmäh-
ſchrift auch zugleich als Anklageſchrift beim Generalcapitel in
Citeaux eingereicht habe.


Dieſe Anklageſchrift nun, von dem ehemaligen Abte des
angeklagten Kloſters ausgehend, ſcheint, wie begreiflich, ihre
Wirkung auf das Generalcapitel nicht verfehlt zu haben, und
ſo ſehen wir denn im März 1469 die Aebte von Heils-
bronn
und Erbach als ernannte Unterſuchungs-Commiſſa-
rien in Lehnin eintreffen. Aber gleichzeitig mit ihnen treffen
auch, als Zeugen in der Sache zur Begutachtung vorgeladen,
die Aebte dreier märkiſcher Klöſter, von Zinna, Chorin und
Himmelpfort ein und bezeugen durch ihre Ausſage, daß Abt
Arnold in der That willkürlich das Kloſtergut veräußert und
ſomit die Abſetzung Seitens des Kloſterconvents (der ſich dabei
[97] lediglich innerhalb ſeiner Befugniſſe gehalten) durchaus verdient
habe. „Was ſeine Schmähungen aber gegen die ſittliche Füh-
rung des Kloſters angehe, dem er ſo lange vorgeſtanden, ſo
treffe ihn — ſelbſt wenn dieſe Schmähungen begründet ſein
ſollten — die Hauptverantwortlichkeit, da es in zehnjähriger
Führung ſeine Aufgabe geweſen ſein würde, dieſem Verfall der
Sitte zu ſteuern.“ Auch der Kurfürſt (Friedrich der Eiſerne),
in einem an die Comiſſarien gerichteten Briefe, nimmt Partei
für den Convent gegen den abgeſetzten Abt, und ſo ſehen
wir denn, ohne daß ein urkundliches Urtheil der Commiſſare
in dieſer Streitſache vorläge, den neuen Abt in ſeinem Amte
verbleiben, — eine Thatſache, die genugſam ſpricht. Ueber
den Inhalt der Schmähſchrift, des „libellum infamiae,“
erfahren wir nichts; es wird ein Verzeichniß der alten Kloſter-
ſünden geweſen ſein, wie ſie entweder überall vorkamen oder
doch überall berichtet wurden.


Wenn nun einerſeits dieſe Abſetzung Abt Arnolds und
ſeine als Antwort darauf geſchriebene Schmähſchrift abermals
darthun, daß die Tage Kloſter Lehnin’s durchaus nicht ſo ſtill-
idylliſch verliefen, wie wohl anderer Orten berichtet worden iſt,
ſo gewähren uns andrerſeits die betreffenden Urkunden noch ein
beſondres Intereſſe dadurch, daß ſie die Frage in uns anregen:
wer war dieſer Abt Arnold? welchen Charakters? war er im
Recht oder im Unrecht? Freilich nur wenige Anhaltepunkte
ſind uns gegeben, aber ſie rechtfertigen die Annahme, daß er
mindeſtens eben ſo ſehr ein Opfer ſeiner geiſtigen Ueber-
legenheit,
wie ſeiner Uebergriffe war. Wahrſcheinlich gingen
dieſe Uebergriffe zum Theil erſt aus dem Bewußtſein ſeiner
Ueberlegenheit hervor. Er war, ſo vermuthen wir aus einer
Reihe kleiner Züge, das, was wir heutzutage einen genialiſchen
aber querköpfigen Gelehrten nennen würden, ſehr geſcheidt, ſehr
ſelbſtbewußt, ſehr eigenſinnig, dabei lauteren Wandels, aber
launenhaft und despotiſch von Gemüth. Wem ſchwebten, aus
eigener Erfahrung, nicht Beiſpiele dabei vor! Die Gelehrten-
welt, in ihren beſten und energiſchſten Elementen, war immer
Fontane, Wanderungen. III. 7
[98] reich an Abt Arnold-Charakteren. Was ſpeziell unſren Abt
Arnold angeht, ſo ſcheint es, das Kloſter wollte ihn los ſein,
weil er geiſtig und moraliſch einen unbequemen Druck auf den
Convent ausübte. Daß er, um ſeines Wiſſens wie um ſeines Wan-
dels willen, eines nicht gewöhnlichen Anſehns genoß, dafür ſpricht
nicht nur der Umſtand, daß ihn die Urkunden einen professor
sacrae theologiae
nennen, ſondern mehr noch die Thatſache, daß
er unmittelbar nach ſeinem Austritt aus dem Lehniner Kloſter
zum Abt von Altenberg erwählt wurde. Altenberg, ſeiner Zeit
ein berühmtes Kloſter, liegt in der Rheinprovinz, in der
Nähe von Coblenz. Wir möchten daraus beinahe ſchließen, daß
er ein Rheinländer, jedenfalls ein Fremder war und an der
märkiſchen Art eben ſo Anſtoß nahm, als Anſtoß erregte.


Abt Valentin (Etwa von 1509—1542.)


Valentin war der letzte Abt des Kloſters. Die Erſcheinung,
die ſich ſo oft wiederholt, daß erſterbende Geſchlechter und Inſti-
tutionen vor ihrem völligen Erlöſchen noch einmal in altem
Glanze aufblühen, wiederholte ſich auch hier, und die mehr
denn 30jährige Regierung des Abtes Valentin bezeichnet ſehr
wahrſcheinlich den Höhenpunkt im Leben des Kloſters überhaupt.
Freilich haben wir dabei die glänzende 25jährige Epoche bis
1535 von der darauf folgenden kurzen Epoche bis 1542, die
ſchon den Niedergang bedeutet, zu trennen.


Wir ſprechen von der Glanz-Epoche zuerſt. Der Beſitz
— nach den kurzen Gefährdungen während der Quitzow-Zeit
— war von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachſen und umfaßte in
den Jahren, die der Reformation unmittelbar vorausgingen,
2 Marktflecken, 64 Dörfer, 54 Fiſchereien, 6 Waſſer- und
9 Windmühlen, 14 große Forſten, dazu weite Aecker, Wieſen
und Weinberge. Jeder Zweig des Betriebs ſtand in Blüthe;
die Wolle der reichen Schafheerden wurde im Kloſter ſelbſt ver-
arbeitet, und die treffliche Waſſerverbindung, mittelſt der See’n
[99] in die Havel und mittelſt der Havel in die Elbe, ſicherte dem
Kloſter Markt und Abſatzplätze.


Reich und angeſehen wie das Kloſter, ſo angeſehen und
verehrt war ſein Abt. Das Volk hing ihm an, und der Kur-
fürſt JoachimI., — der ihn ſeinen „Gevatter“ nannte, ſeit
Abt Valentin bei der Taufe des zweiten kurfürſtlichen Prin-
zen, des ſpäteren Markgrafen Johann von Küſtrin, als Tauf-
zeuge zugegen geweſen war — war dem Abt zu Willen in
vielen Stücken. 1509 ſprach Joachim die Befreiung des
Kloſters von kurfürſtlichem Jagd-Eingelage „auf Lebenszeit des
Abtes“ aus, und 1515 ging er weiter und machte aus der
zeitweiligen Befreiung eine Befreiung auf immer. Daß das
Kloſter ſelber den Tod Valentin’s nicht überleben würde, ent-
zog ſich damals, 1515, noch jeder Berechnung und Vorausſage.
Die Wirren und Kämpfe, die bald folgten, ketteten den Kur-
fürſten, ſo ſcheint es, nur feſter an unſeren Lehniner Abt, und
wir dürfen wohl annehmen, daß die Rathſchläge dieſes ſeines
„Rathes und Gevatters“ nicht ohne Einfluß auf die Ent-
ſchlüſſe waren, die ihn, der Strömung der Zeit und den
Beſchwörungen der Kurfürſtin gegenüber, bei der alten Lehre
beharren ließen. Dies einfach als Hartnäckigkeit zu deuten,
wäre Irrthum und Thorheit; es war der Ausdruck einer feſten
Ueberzeugung, was ihn das Schwerere wählen und — gegen
den Strom ſchwimmen ließ. Joachim, feſt wie er in ſeinem
Glauben war, war auch feſt in ſeiner Liebe zu Kloſter Lehnin,
und wiewohl er ſich mit keiner Idee lieber und herzlicher getra-
gen hatte, als mit der Gründung eines großen Domſtiftes zu
Cöln an der Spree (wie es ſpäter unter JoachimII. auch
wirklich in’s Leben trat), ſo wollte er doch in Lehnin begraben
ſein, an der Seite ſeines Vaters, in der Gruft, die ſchon die
alten Askanier ihrem Geſchlecht erbaut hatten.


Und unſer Lehniner Abt, wie er all die Zeit über der
Vertraute ſeines Fürſten war, ſo war er auch der Vertrauens-
mann der Geiſtlichkeit, und der zunächſt Auserwählte, als es
galt, den „moenchiſchen Lärmen“ zu beſchwichtigen, der in dem
7*
[100] benachbarten Wittenberg immer lauter zu werden drohte. Unſer
Abt, in der That, ſchien vor jedem andern berufen, durch die
Art ſeines Auftretens, durch Feſtigkeit und Milde, dem „Umſich-
greifen der Irrlehre,“ wie es damals hieß, zu ſteuern, und
als Beauftragter des Brandenburger Biſchofs (Hieronymus
Scultetus
) erſchien er in Wittenberg, um den Auguſtiner-
Mönch zu warnen. Sein Erſcheinen ſcheint nicht ohne Einfluß
auf Luther geblieben zu ſein, der nicht nur ſeinem Freund
Spalatinus bemerkte: wie er ganz beſchämt geweſen ſei, daß
ein ſo hoher Geiſtlicher (der Biſchof) einen ſo hohen Abt ſo
demüthig an ihn abgeſandt habe,“ ſondern auch am 22. Mai
1518 dem Biſchof von Brandenburg ſchrieb: „Ich erkläre
hiermit ausdrücklich und mit klaren Worten, daß ich in der
Sache des Ablaſſes nur disputire, aber nichts feſtſtelle.“


Abt Valentin, wie wir annehmen dürfen, ging viel zu
Hofe, aber wenn ſchon er häufiger in dem Abthauſe zu Ber-
lin
als in dem Abthauſe des Kloſters ſelber anweſend ſein
mochte, ſo war er doch nicht gewillt, um Hof und Politik willen
den unmittelbaren Obliegenheiten ſeines Amtes, der Fürſorge
für das Kloſter ſelber, aus dem Wege zu gehen. Wir ſehen
ihn, wie er ſich das Wachsthum, die Gerechtſame, vor allem
auch die Schönheit und die Ausſchmückung ſeines Kloſters ange-
legen ſein läßt; er ſchenkt Glocken, er errichtet Altäre, vor
allem zieht er die unter Dürer, Kranach, Holbein eben
erſt geborene deutſche Kunſt in ſeinen Dienſt und ziert die Kirche
mit jenem prächtigen Altarſchrein,*) der bis auf dieſen Tag,
[101] als ein Kunſtwerk erſten Ranges erhalten (im Brandenburger
Dom), damals der Stolz des Kloſters, die Bewundrung der
Fremden war. Die wohl erhaltene Unterſchrift: „anno dom.
1518 sub d. Valentino Abbate“
hat in aller Sichtlichkeit den
Namen Abt Valentin’s bewahrt.


Ueber 25 Jahre waren die Wirren der Zeit an Abt
Valentin vorübergegangen, das Ausharren ſeines kurfürſt-
lichen Herrn hatte ihn vor den ſchwerſten Kümmerniſſen bewahrt,
da kam, faſt unmittelbar nach dem Regierungsantritt Joa-
chims
II., die ſogenannte „Kirchenviſitation,“ und auch Lehnin
wurde ihr unterworfen. Man verfuhr nicht ohne Milde, nicht
ohne Rückſichten der Form, aber in Wahrheit erſchienen die
Viſitatoren zu keinem andern Behuf, als um dem Kloſter
den Todtenſchein zu ſchreiben. Draußenſtehende fingen
an es in ihre „Obhut“ zu nehmen, man ſtellte es unter
Curatel. Es ward dieſe „Obhut“ von Abt und Kloſter auch
durchaus als das empfunden, was ſie war, und ein ſchwacher
*)
[102] Verſuch der Auflehnung, ein paſſiver Widerſtand, wurde geübt.
Als es ſich darum handelte, einem der Kloſterdörfer einen neuen
Geiſtlichen zu geben, wurde der alte Abt Valentin aufgefor-
dert, die übliche Präſentation, die Einführung des Geiſtlichen
in die Gemeinde zu übernehmen. Abt Valentin lehnte dies
ab, weil er es verſchmähte, der Beauftragte, der Abgeſandte
proteſtantiſcher Kirchenviſitatoren zu ſein; aber bei dieſen bloßen
Anfängen eines Widerſtandes hatte es ſein Bewenden. Der
alte Abt, zu hofmänniſch geſchult, um dem Sohn und Nach-
folger ſeines heimgegangenen Kurfürſten eine ernſte Gegnerſchaft
zu bereiten, zu ſchwach für den Kampf ſelbſt, wenn er ihn hätte
kämpfen wollen, beugte ſich ergebungsvoll unter das neue Regi-
ment, und ſchon zu Neujahr 1542 bittet er den Kurfürſten
nicht nur: „ihm und ſeinem Kloſter auch bei veränderten
Zeitläuften allezeit ein gnädigſter Herre zu ſein,“ ſondern fügt
auch den Wunſch bei, „daß ſeine kurfürſtliche Durchlaucht ihm
und ſeinen Fratribus, wie bisher, etzliches Wildpret ver-
ehren möge.“


So verläuft der Widerſtreit faſt in Gemüthlichkeit, bis im
Laufe deſſelben Jahres der alte Abt das Zeitliche ſegnet. Sein
Tod macht den Strich unter die Rechnung des Kloſters; keine
Rückſichten auf den „alten Gevatter des Vaters“ hemmen län-
ger die Aktion des Sohnes, und der Befehl ergeht an die
Mönche: keinen neuen Abt zu wählen. Den Mönchen
ſelber wird freigeſtellt, ob ſie „bleiben oder wandern“ wollen,
und die Mehrzahl, alles was jung, geſcheidt oder thatkräftig iſt,
wählt das letztere und wandert aus.*)


[103]

Die Alten blieben. Ob ſie im Kloſter ſelber ruhig weiter
lebten, oder aber, wie andrerſeits verſichert wird, in dem
dritthalb Meilen entfernten, dicht bei Paretz gelegenen Kloſter-
dorfe Neu-Töplitz ſich häuslich niederließen, iſt nicht mehr
mit voller Gewißheit feſtzuſtellen geweſen. Gleichviel aber
auch, wo ſie den Reſt ihrer Tage beſchloſſen, ſie beſchloſſen ſie
ruhig, friedfertig, ergeben, ohne jede Spur von Märtyrerſchaft,
ohne den kleinſten Schimmer von jenem Goldglanz um ihr
Haupt, den zu allen Zeiten das Einſtehn für eine Idee ver-
liehen hat.


Die letzten Lehniner ſtanden für nichts ein, als für ſich
ſelbſt, und das letzte Lebenszeichen, das wir, überliefert von
ihnen, beſitzen, iſt eine Bitte des „Priors, Subpriors und
Seniors ſo zu Lehnin verharren,“ worin ſie ihren gnädigſten
Herrn und Kurfürſten erſuchen, unter vielen andern Dingen
jedem Einzelnen auch folgendes zu gewähren:


Mittageſſen: 4 Gerichte; Abendeſſen: 3 Gerichte; Bier:
1 Tonne wöchentlich; Wein: 8 Tonnen jährlich; Außerdem zu
Neujahr und zu Mitfaſten einen Pfefferkuchen.


So erloſch Lehnin. Das 400jährige Kloſterleben, das
mit der Ermordung Abt Siebolds begonnen hatte, ſchrieb zum
Schluß einen Bitt- und Speiſezettel, es den Räthen ihres gnä-
digſten Kurfürſten überlaſſend, „an den obgemeldeten Artikeln
zu reformiren nach ihrem Gefallen.“



[[104]]

3.
Kloſter Lehnin, wie es war und wie es iſt.


Kapellen
Das Schiff umſtellen;
In engen
Gängen
Die Lampen hängen,
Und werfen ihre düſtren Lichter
Auf grabſtein-geſchnittene Mönchsgeſichter.
Nach Waltham-Abtei hieher alsdann
Sollt ihr die Leiche bringen,
Damit wir chriſtlich beſtatten den Leib
Und für die Seele fingen.
H. Heine.

Lehnin war nicht nur das älteſte Kloſter in der Mark, es war
auch, wie ſchon hervorgehoben, das reichſte, das begütertſte,
und demgemäß war ſeine Erſcheinung. Nicht daß es ſich durch
architektoniſche Schönheit vor allen andern ausgezeichnet hätte
(nach dieſer Seite hin wurde es von Kloſter Chorin übertroffen),
aber die Fülle der Baulichkeiten, die ſich innerhalb ſeiner weit-
geſpannten Kloſtermauern vorfand, die Gaſt- und Empfangs-
und Wirthſchaftsgebäude, die Schulen, die Handwerks- und
Siechenhäuſer, die nach allen Seiten hin das eigentliche Kloſter
umſtanden, alle dieſe Baulichkeiten, eine gothiſche Stadt im
Kleinen, deuteten auf die Ausgedehntheit und Solidität des
Beſitzes.


Der ſtattliche Mittelpunkt des Ganzen, die zahlreichen
Giebel überragend, war und blieb die hohe Kloſterkirche, deren
mit Kupfer gedeckter Mittelthurm dunkel bronzefarben in der
[105] Sonne glänzte. Dieſe Kirche (das Weſentliche ihrer äußeren
Erſcheinung habe ich ſchon beſchrieben) war ihrer architektoniſchen
Anlage nach eher ſchlicht als ſchön, mehr geräumig als präch-
tig, aber das Leben und Sterben der Geſchlechter, Hoffnung
und Bangen, Dank und Reue hatten die weiten Räume im
Lauf der Jahrhunderte belebt, und die urſprünglich kahlen
Wände und Pfeiler waren unter der Buntheit der Decoration,
unter dem wachſenden Einfluß von Licht und Farbe, von Reich-
thum und Schmuck zu einem immer ſchöneren und immer impo-
ſanteren Ganzen geworden. Seitenaltäre mit Bildern und Cruci-
fixen, Niſchen mit Marienbildern und ewigen Lampen (oft
geſtiftet, um ſchwere Unthat zu ſühnen) zogen ſich an Wand
und Pfeiler hin, in den langen Seitenſchiffen aber lagen die
Leichenſteine der Aebte, ihr Bild mit Mütze und Krummſtab
tief in den Stein geſchnitten, während an der gewölbten Decke
hin, ſchlanken Leibs und lächelnden Geſichts, die reichvergolde-
ten Geſtalten der Heiligen und Märtyrer ſchwebten. In einer
der Seitenkapellen lag der Grabſtein Abt Siebolds, den die
Nahmitzer erſchlagen hatten.


Einem reichen Schmuck an Bildwerken, an Erinnerungs-
zeichen aller Art begegnete das Auge des Beſchauers, wenn es
vom Mittelpunkt der Kirche aus in die Kreuz- und Seitenſchiffe
niederblickte, aber die eigentliche Bedeutung von Kloſter Lehnin
erſchloß ſich ihm erſt, wenn er, den Blick nach Weſten hin auf-
gebend, ſich wandte, um, ſtatt in das Längsſchiff hernieder, in
den hohen Chor hinauf zu ſehn. Unmittelbar vor ihm,
in den Fußboden eingelaſſen, ſah er dann ſchlicht und unſchein-
bar den Stumpf der Eiche, unter der Markgraf Otto, der
Gründer des Kloſters, ſeinen Traum gehabt hatte; zwiſchen dem
Stumpf und dem Altar aber lagen die Grabſteine der Aska-
nier, elf an der Zahl, die hier innerhalb des Kloſters, das ihr
Ahnherr in’s Leben gerufen, ihre letzte Ruhſtatt geſucht und
gefunden hatten.


Elf Askanier lagen hier, und einträchtig neben ihnen drei
aus dem Hauſe der Hohenzollern, Friedrich mit dem Eiſen-
[106] zahn, Johann Cicero und JoachimI. Dieſer ſtand nur
ein einzig Jahr in der Gruft (von 1535—36), dann wurde
ſein Sarg wie der Sarg ſeines Vaters und Großoheims nach
Berlin hin übergeführt, wo ihnen im Dom eine Stätte bereitet
war. Jener Tag der Ueberführung der drei Särge von Lehnin
nach dem Dom in Cöln an der Spree war recht eigentlich
der Todestag Lehnin’s. Die Güter wurden eingezogen (wie
ich das im vorigen Kapitel erzählt), und innerhalb zwan-
zig Jahren war die Umwandlung vollzogen — der Kloſterhof
war ein Amtshof geworden. Der Krieg kam und begann ſein
Werk der Zerſtörung, aber ſchlimmer als die Hand der Schwe-
den und Kaiſerlichen, die hier abwechſelnd ihr Kriegsweſen trie-
ben, griffen in Zeiten tiefſten Friedens die Hände derer ein,
die am ehſten die Pflicht gehabt hätten, dieſe alte Stätte zu
ſchützen und zu wahren — die Um- und Anwohner ſelbſt.
Freilich waren dieſe Um- und Anwohner zumeiſt nur ſolche,
die weder ſelbſt, noch auch ihre Väter und Vorväter, das alte
Lehnin gekannt hatten. 1691 waren Landleute aus der Schweiz
nach Amt Lehnin berufen worden, um beſſere Viehzucht daſelbſt
einzuführen. Kloſter Lehnin ward nun ein Steinbruch für
Büdner und Koſſäthen, und Haue und Pickaxt ſchlugen Wände
und Pfeiler nieder. Die Regierungen ſelbſt (namentlich unter
Friedrich WilhelmI.) nahmen an dieſem Vandalismus
Theil; man wußte nicht was man that, und weil die ganze
Zeit dieſe Pietät nicht kannte, geziemt es ſich auch nicht, dem
Einzelnen einen Vorwurf daraus zu machen, daß er die An-
ſchauungsweiſe theilte, die damals die gültige war. Kloſter
Lehnin, wär es nach dem guten Willen ſeiner Schädiger gegan-
gen, würde nur noch eine Trümmerſtätte ſein, aber das alte
Mauerwerk erwies ſich als feſter und ausdauernder als alle
Zerſtörungsluſt, und ſo hat ſich ein Theil des Baues durch
ſeine eigene Macht und Widerſtandskraft bis in unſere Tage
hinein gerettet.


Werfen wir einen Blick auf das, was noch vorhanden iſt,
von der Kirche ſowohl wie von der ganzen Kloſter-Anlage
[107] überhaupt! Der älteſte Theil (der romaniſche) ſteht; der gothi-
ſche Theil liegt in Trümmer. Da wo dieſe Trümmer an den
noch intakt erhaltenen Theil der Kirche ſich lehnen, hat man
jetzt eine Quermauer gezogen und mit Hülfe dieſer das Zer-
fallene von dem noch Erhaltenen geſchieden. Das lange gothi-
ſche Schiff hat dadurch freilich aufgehört ein Längsſchiff zu ſein
und iſt ein Kurzſchiff geworden; die Seitenſchiffe fehlen ganz,
und die Pfeilerarkaden, die ſonſt aus dem Hauptſchiff in die
Nebenſchiffe führten, bilden jetzt (nachdem die offenen Rund-
bogen vermauert wurden) die Seitenwände des einen kurzen
Schiffs, das überhaupt noch vorhanden iſt. An die Stelle fri-
ſcher Farben iſt jetzt die lebloſe weiße Tünche getreten, und
Reparatur bedürftige Kirchenſtühle, über denen ſich an einer
Seite des Schiffs eine ebenfalls hinfällige Empore mit vergilb-
ten Brautkronen und Todtenkränzen entlang zieht, ſteigern eher
die Dürftigkeit des Anblicks, als daß ſie ihn minderten. Den
Fußboden des Schiffs entlang, abgetreten und ausgehöhlt, liegen
rothe Flieſen; die Grabſteine ſind fort, ebenſo die ſchwebenden
Heiligen mit rothen Bändern und Goldſchein hoch oben an der
Decke. Alles was einſt glänzte und leuchtete iſt hin; der Altar-
ſchrein mit Schnitzwerk und Bilderpracht hat ſeine Stelle gewech-
ſelt, und ſtatt des Purpurs und Brokats iſt die übliche ſchwarze
Decke (die mehr zu einem Trauer- als zu einem Freudenmahle
paßt) über den ſchlichten Altartiſch gebreitet. Nur der alte,
inzwiſchen halb zu Stein gewordene Eichenſtumpf, die lebendige
Wurzel, aus der einſt dies Kloſter erwuchs, iſt ihm geblieben
und hat alles überdauert, ſeinen Glanz und ſeinen Verfall. Nichts
mehr von Niſchen und Marienbildern, von Kapellen und askani-
ſchen Grabſteinen; nur OttoVI., auch Ottoken genannt,
Schwiegerſohn Kaiſer Rudolphs von Habsburg, der als
Akoluth des Kloſters verſtarb, behauptet — auch in künſtleriſcher
Beziehung ein intereſſantes Ueberbleibſel aus geſchwundener Zeit
— ſeinen Ehrenplatz an alter Stelle. Sein Grabſtein liegt mitten
im hohen Chor. Die Erinnerungszeichen an Abt Siebold ſind
zerſtört; ſeine Grabkammer, die noch im vorigen Jahrhundert
[108] exiſtirte, iſt niedergeriſſen, und ſtatt des Grabſteins des Er-
mordeten, der fünf Jahrhunderte lang ſeinen Namen und die
Daten ſeines Lebens bewahrt hatte, erzählen nur noch die bei-
den alten Bilder im Querſchiff die Geſchichte ſeines Todes.
Dieſe Bilder, wichtig wie ſie ſind, ſind alles andre eher als
ein Schmuck. Zu dem Grauen über die That geſellt ſich ein
Unbehagen über die Häßlichkeit der Darſtellung, die dieſe That
gefunden. Das urſprünglich beſſere Bild iſt kaum noch erkennbar.


Es iſt ein triſter Aufenthalt, dieſe Kloſterkirche von Lehnin,
aber ein Bild anheimelnder Schönheit thut ſich vor uns auf,
ſobald wir aus der öden freudloſen Kirche mit ihren hohen,
weißgetünchten Pfeilern in’s Freie treten und nun die Scenerie
der unmittelbaren Umgebung auf uns wirken laſſen: das Stehen-
gebliebene und das Zerfallene, Altes und Neues, Kunſt und
Natur. Innen hatten wir die nackte, nur kümmerlich bei Leben
erhaltene Exiſtenz, die immer triſter iſt als Tod und Zerſtörung,
draußen haben wir die ganze Poeſie des Verfalls, den alten
Zauber, der überall da waltet, wo die ewig junge Natur das
zerbröckelte Menſchenwerk liebevoll in ihren Arm nimmt. Hohe
Park- und Gartenbäume, Kaſtanien, Pappeln, Linden, haben
den ganzen Bau wie in eine grüne Rieſenlaube eingeſponnen,
und was die Bäume am Ganzen thun, das thun hundert
Sträucher an hundert einzelnen Theilen. Himbeerbüſche, von
Epheuranken wunderbar durchflochten, ſitzen wie ein grotesker
Kopfputz auf Säulen- und Pfeilerreſten, Weinſpaliere ziehn ſich
an der Südſeite des Hauptſchiffs entlang, und überall in die
zerbröckelten Fundamente neſtelt ſich jenes bunte, rankenziehende
Geſtrüpp ein, das die Mitte hält zwiſchen Unkraut und Blu-
men. So iſt es hier Sommer lang. Dann kommt der Herbſt,
der Spätherbſt, und das Bild wird farbenreicher denn zuvor.
Auf den hohen Pfeilertrümmern wachſen Ebreſchen und Berbe-
ritzenſträucher, jeder Zweig ſteht in Frucht, und die Schul-
jugend jagt und klettert umher und lacht mit rothen Geſichtern
aus den rothen Beeren heraus. Aber wenn die Sonne unter
iſt, geben ſie das Spiel in den Trümmern auf, und wer dann
[109] das Ohr an die Erde legt, der hört tief unten die Mönche ſin-
gen. Dabei wird es kalt und kälter; das Abendroth ſtreift die
Kirchenfenſter, und mitunter iſt es, als ſtünde eine weiße Geſtalt
inmitten der rothen Scheiben. Das iſt das weiße Fräulein, das
umgeht, treppauf, treppab, und den Mönch ſucht, den ſie
liebte. Um Mitternacht tritt ſie aus der Mauerwand, raſch,
als habe ſie ihn geſehn, und breitet die Arme nach ihm aus;
— dann ſetzt ſie ſich in den Pfeilerſchatten und weint.


Da iſt kein Alt-Lehniner, d. h. keiner, deſſen Vorfahren
noch unter dem Kloſter gelebt, der das weiße Fräulein nicht
geſehn hätte; nur die reformirten Schweizer und alle die, die
nach ihnen kamen, ſehen nichts und ſtarren in’s Leere. Die
Alt-Lehninſchen aber ſind ſtolz auf dieſe ihre Gabe des Geſichts,
und ſie haben ein Sprüchwort, das dieſem Stolz einen Ausdruck
giebt. Wenn ſie einen Fremden bezeichnen wollen, oder einen
ſpäter Zugezogenen, der nichts gemein hat mit Alt-Lehnin, ſo
ſagen ſie nicht: „er iſt ein Fremder oder ein Neuer,“ ſie ſagen
nur: „er kann das weiße Fräulein nicht ſehn.“


[[110]]

Die Lehninſche Meiſſagung.


Jetzo will ich, Lehnin, Dir
ſorgſam ſingen die Zukunft,
Die mir gewieſen der Herr, der
einſtens alles erſchaffen.
Vaticinium Lehninense.

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, während der Regie-
rungsjahre Friedrich WilhelmsI. erſchienen, an verſchied-
nen Druckorten, theils ſelbſtſtändig, theils umfangreicheren Ar-
beiten einverleibt, 100 gereimte lateiniſche Hexameter (ſogenannte
Leoniniſche Verſe), die in dunklem Prophetenton über die Schick-
ſale der Mark und ihrer Fürſten ſprachen und die Ueberſchrift
führten: „Weiſſagung des ſeligen Bruders Herrmann, wei-
land Lehniner Mönches, der ums Jahr 1300 lebte und blühte.“
Dieſe Verſe, die ſich gleich ſelbſt, in ihrer erſten Zeile, als eine
Weiſſagung ankündigen („Jetzt weiſſage ich Dir, Lehnin, Dein
künftiges Schickſal“) machten großes Aufſehen, da in denſelben
mit bemerkenswerthem Geſchick und jedenfalls mit ungewöhnlicher
poetiſcher Begabung das Ausſterben der Hohenzollern in der
elften Generation nach JoachimII. und die gleichzeitige Rück-
kehr der Mark in den Schooß der katholiſchen Kirche prophezeit
wurde. Eine ſolche Prophezeihung war durchaus dazu angethan,
Aufſehn zu erregen, da es auch damals (1721) in Deutſchland
nicht an Parteien fehlte, die freudig aufhorchten, wenn der
Untergang der Hohenzollern in nähere oder fernere Ausſicht
geſtellt wurde. In Berlin ſelbſt, wie ſich annehmen läßt, war
das Intereſſe nicht geringer, und man begann nachzuforſchen,
nach welchem Manuſcript die Veröffentlichung dieſer Weiſ-
[111] ſagung erfolgt ſein könne. Dieſe Nachforſchungen führten zuletzt
auf eine mehr oder weniger alte Handſchrift, die etwa um 1693
in der nachgelaſſenen Bibliothek des in dem genannten Jahre
verſtorbenen Kammergerichtsrath Seidel aufgefunden wor-
den war.


Dieſe älteſte Handſchrift, die übrigens nie die Prätenſion
erhob, das räthſelvolle Original aus dem Jahre 1300 ſein
zu wollen, exiſtirte bis 1796 im Staats-Archiv. In eben die-
ſem Jahre wurde ſie durch Friedrich WilhelmII. nach
Charlottenburg gefordert und von dort nicht wieder
remittirt
. Man muß annehmen, daß ſie verloren gegangen
iſt. Die vier älteſten Abſchriften, die jetzt noch in der König-
lichen Bibliothek vorhanden ſind, gehören, ihrer Schrift nach,
dem Anfang des vorigen Jahrhunderts an. Jedenfalls
alſo fehlt nicht nur das wirkliche Original,
ſondern
auch alles, was ſich als Original ausgeben könnte! Hiermit
fällt die Möglichkeit fort, aus allerlei äußerlichen Anzeichen,
wie Handſchrift, Initialen, Pergament ꝛc. irgend etwas für die
Aechtheit oder Unächtheit beweiſen zu wollen, und wir haben
die Beweiſe dafür wo anders zu ſuchen. Solche Unterſuchun-
gen ſind denn nun auch, gleich vom erſten Erſcheinen der
„Weiſſagung“ an, vielfach angeſtellt worden, und haben im
Lauf von anderthalb hundert Jahren zu einer ganzen Lite-
ratur geführt. Katholiſcher- und ſeit einem Vierteljahrhundert
auch demokratiſcherſeits hat man eben ſo beharrlich die Aechtheit
der Weiſſagung, wie proteſtantiſch-preußiſcherſeits die Unächtheit
zu beweiſen getrachtet. Nur wenige Ausnahmen von dieſer
Regel kommen vor. Die demokratiſchen Paraphraſen und Deu-
tungen, die an die Weiſſagung anknüpfen, ſind ſämmtlich ten-
denziöſer
Natur, bloße Pamphlete und haben keinen Anſpruch,
hier ernſtlicher in Erwägung gezogen zu werden; ſie rühren alle
aus den Jahren 1848 und 1849 her und ſind eigentlich nichts
andres als (damals gern geglaubte) Verſicherungen, der Stern
der Hohenzollern ſei im Erlöſchen. Was die katholiſchen Arbei-
ten angeht, die alle für die Aechtheit eintreten, ſo ſind ſicherlich
[112] viele derſelben bona fide geſchrieben, dennoch haben ſie ſammt
und ſonders wenig Werth für die Entſcheidung der Frage, da
ſie, ohne der Grundempfindung, aus der ſie hervorgingen, zu
nahe zu treten, doch ſchließlich aller eigentlichen Kritik ent-
behren.


Unter den proteſtantiſchen Gelehrten, die ſich mit dieſer
Frage beſchäftigt haben, begegnen wir ſehr bewährten, zum Theil
ſogar hervorragenden Namen.


Oberbibliothekar Wilckens,Dr. C. L. Gieſeler, Pro-
feſſor Gieſebrecht, Schulrath Otto Schulz, vor allem
Profeſſor Guhrauer in Breslau, meiſt Hiſtoriker, die mit
einem großen Aufwand von Studium, Gelehrſamkeit und Scharf-
ſinn die Unächtheit darzuthun getrachtet haben; ſie haben indeſ-
ſen, meinem Ermeſſen nach, den Fehler gemacht, daß ſie zu
viel und manches an der unrechten Stelle haben beweiſen
wollen. Anſtatt einen entſcheidenden Schlag zu thun, haben ſie
viele Schläge gethan, und wie es immer in ſolchen Fällen
geht, ſind die Schläge nicht nur vielfach nebenbei, ſondern
gelegentlich auch zurück gefallen. Man ſchadet einem einzigen,
aber ganzen Beweiſe jedesmal dadurch, daß man zur Anfügung
vieler Halbbeweiſe ſchreitet, namentlich dann aber, wenn man
bei der Anwendung unkünſtleriſch verfährt und ſtatt aus dem
Halben zum Ganzen fortzuſchreiten, aus dem Ganzen zum Hal-
ben hin die Dinge zurück entwickelt.


Ich ſagte ſchon, die Angreifer hätten vielfach an unrech-
ter
Stelle angegriffen; ich muß hinzuſetzen, nicht bloß an
unrechter Stelle, ſondern gelegentlich juſt an dem allerſtärkſten
Punkt der feindlichen Poſition; dieſer ſtärkſte Punkt der Leh-
niner Weiſſagung aber iſt meinem Dafürhalten nach ihr Inhalt,
ihr Geiſt, ihr Ton.


Sehen wir jetzt, in welcher Weiſe die Angreifer ſich gegen
dieſen Inhalt gewandt haben. Sie haben zunächſt als Verdacht
erweckende Punkte hervorgehoben, erſtens, daß der Prophet,
wenn er denn nun ’mal durchaus ein ſolcher ſein ſolle, vielfach
falſch prophezeiht, zweitens aber, daß er in Vor-Hohenzollern-
[113] ſcher Zeit bereits Anti-Hohenzollerſch geſprochen habe. Dies
deute auf ſpätere Zeit, wo es bereits Sympathien und Anti-
pathien in Betreff der Hohenzollern gegeben. Auf beide Ein-
wände iſt die Antwort leicht.


Was die Irrthümer des Propheten Herrmann angeht,
ſo hat es ſich ja niemals darum gehandelt, endgültig feſtzuſtellen,
ob Mönch Herrmann richtig prophezeiht habe oder falſch, es
hat ſich bei dieſer Controverſe immer nur darum gehandelt, ob
er überhaupt geweiſſagt habe
. Wenn nun aber einer-
ſeits die Prophetie keine Garantie übernimmt, daß alles Prophe-
zeihte zutreffen muß, ſo übernimmt ſie noch viel weniger —
und hiermit faſſen wir den zweiten Punkt in’s Auge — die
Verpflichtung, kommenden Herrſcher-Geſchlechtern gleichſam in
anticipirter Loyalität angenehme Dinge zu ſagen. Der Prophet
ſagt die Dinge ſo, wie er ſie ſieht, und kümmert ſich nicht
darum, wie kommende Zeiten ſich zu den Menſchen und Thaten
ſtellen werden, die er, lediglich kraft ſeiner Kraft, vorweg
hat in die Erſcheinung treten ſehn. Nehmen wir einen Augen-
blick an, die Prophezeihung ſei ächt, ſo liegt doch für einen
gläubigen Ciſtercienſer Mönch, der plötzlich, inmitten ſeiner
Viſionen, die Geſtalt JoachimsII. vor ſich hintreten ſieht,
nicht der geringſte Grund vor, warum er nicht gegen den
Schädiger ſeiner Kirche und ſeines Kloſters vorweg die heftigſten
Invectiven ſchleudern ſollte. Er weiß nicht, daß er Joachim
heißen, er weiß auch nicht, daß er einem beſtimmten Geſchlecht,
das den Namen der Hohenzollern führt, zugehören wird, er
ſieht ihn nur, ihn und die That, die er vor hat — das genügt,
ihn zu verwerfen. Dies ſagen wir nicht, wie ſchon angedeutet,
zur Rechtfertigung dieſer ſpeciellen Prophezeihung oder als Beweis
für ihre Aechtheit, ſondern nur zur Charakteriſirung aller Pro-
phetie überhaupt.


Wenn nun weder die Irrthümer, die mit drunter laufen,
noch der antihohenzollernſche Geiſt, der aus dieſer ſogenannten
Weiſſagung ſpricht, etwas irgendwie Erhebliches gegen die Aecht-
heit derſelben beibringen können, ſo iſt doch ein dritter Punkt
Fontane, Wanderungen. III. 8
[114] allerdings ernſter in Erwägung zu ziehn. Alle proteſtantiſchen
Angreifer der Weiſſagung (mit Ausnahme W. Meinholds) ſind
dahin übereingekommen, daß die ſogenannte Lehnin’ſche Weiſſagung
in erſichtlich 2 Theile zerfalle, in eine größere Hälfte, in der
es der, nach Annahme der Gegner, um 1690 lebende Verfaſſer
leicht gehabt habe, über die rückliegenden Ereigniſſe von 1290
bis 1690 zutreffend zu prophezeihen, und in eine kleinere Hälfte
von 1690 an, in der denn auch den vorgeblichen Mönch
Herrmann ſeine Prophetengabe durchaus im Stich gelaſſen
habe. Hätten die Angreifer hierin unbedingt Recht, ſo wäre
der Streit dadurch gewiſſermaßen entſchieden. Indeſſen exiſtirt
meiner Meinung nach eine ſolche Scheidelinie nicht. Es zieht
ſich vielmehr umgekehrt ein vieldeutig-orakelhafter Ton
durch das Ganze hindurch,
eine Sprache, die überall
der mannigfachſten Auslegungen fähig iſt und in der zweiten
Hälfte, in räthſelvoll anklingenden Worten, ebenſo das Richtige
trifft wie in der erſten Hälfte. Es iſt kein eſſentieller Unter-
ſchied zwiſchen Anfang und Ende: beide Theile treffen’s, und
beide Theile treffen es nicht; beide Theile ergehen ſich in Irr-
thümern und Dunkelheiten, und beide Theile blenden durch Licht-
blitze, die, hier wie dort, gelegentlich einen völlig viſionären
Charakter haben.


Beſchäftigen wir uns, unter Heranziehung einiger Beiſpiele,
zuerſt mit der erſten Hälfte. Wir bemerken hier eine Ver-
quickung jener drei Hauptelemente, die ſich durch das Ganze
ziehn: Falſches, Dunkles, Zutreffendes. Frappant zutreffend
vom katholiſchen Standpunkt aus ſind die 8 Zeilen in der
Mitte des Gedichts, die ſich auf JoachimI. und II. beziehen.
Sie lauten:


Seine (Johann Cicero’s) Söhne werden beglückt durch gleichmäßi-

ges Loos;

Allein dann wird ein Weib dem Vaterlande trauriges Verderben

bringen,

Ein Weib, angeſteckt vom Gift einer neuen Schlange,

Dieſes Gift wird auch währen bis in’s elfte Glied.

[115]

Und dann


Und nun kommt der, welcher Dich, Lehnin, nur allzu ſehr haßt,

Wie ein Meſſer Dich zertheilt, ein Gottesleugner, ein Ehebrecher,

Er macht wüſte die Kirche, verſchleudert die Kirchengüter.

Geh, mein Volk: Du haſt keinen Beſchützer mehr,

Bis die Stunde kommen wird, wo die Wiederherſtellung (restitutio)

kommt.

Die Vorgänge in der Mark in dem zweiten Viertel des
16. Jahrhunderts, der Uebertritt Eliſabeths zur neuen
Lehre und die Aufhebung der Klöſter durch JoachimII., der
die Axt an den Stamm legte, konnten, wir wiederholen von
katholiſchem Standpunkt aus, nicht zutreffender und nicht in beſſe-
rem Prophetenton geſchildert werden. Aber zugegeben nun,
daß — wie die Angreifer erwidern — der Verfaſſer im Jahre
1690 gut prophezeihen hatte in Betreff von Vorgängen, die
150 Jahre zurücklagen, warum, ſo fragen wir weiter, prophe-
zeihte er theils falſch, theils dunkel in Betreff ſo vieler anderen
Vorgänge, die, wenn 1690 die Scheidelinie ziehen ſoll, eben-
falls der Vergangenheit angehörten. Nehmen wir ein Beiſpiel
ſtatt vieler, — die Verſe, die ſich auf George Wilhelm, alſo
auf die Epoche während des 30jährigen Krieges beziehn. Es ſind
die folgenden:


Nach dem Vater iſt der Sohn Herr des Markgrafenthums.

Er läßt nicht viele leben nach ihrem Sinne, ohne ſie zu

ſtrafen.

Indem er zu ſtark vertrauet, frißt der Wolf das arme

Vieh,

Und es folgt in Kurzem der Diener dem Herrn im Tode.

Die vierte Zeile iſt auf den Tod Adam Schwarzen-
bergs
gedeutet worden, wogegen ſich nichts ſagen läßt. Der
Inhalt dieſer Zeile träfe alſo zu. Aber die zweite und dritte
geben, wenn man das auch hier vorhandene Dunkel durch-
dringt, eine Charakteriſtik der Zeit ſowohl wie des Mannes,
wie ſie nicht leicht falſcher gedacht werden kann. Wenn es um-
gekehrt hieße: „Er ließ alle leben nach ihrem Sinne, ohne ſie
zu ſtrafen,“ und „er vertraute (da er bekanntlich immer
8*
[116] ſchwankte) nicht ſtark genug“ — ſo würden dieſe in ihr
urſprüngliches Gegentheil verkehrten Sätze um vieles richtiger
ſein als das, was jetzt daſteht. Wo iſt da alſo das bequeme
Prophezeihen nach rückwärts?*)


Vergleichen wir nun damit die Prophezeihungen der zwei-
ten Hälfte
, der Epoche nach 1690, wo alſo der Dichter,
ſelbſt wenn er um 1690 ſchrieb, jedenfalls gezwungen war,
in die Zukunft zu blicken.


Ueber Friedrich den Großen**) heißt es (wie nicht
geleugnet werden ſoll mehr dunkel und anklingend als ſcharf
zutreffend):


[117]
In Kurzem toſet ein Jüngling daher, während die große Gebärerin

ſeufzt;

Aber wer wird vermögen, den zerrütteten Staat wieder herzuſtellen?

Er wird das Banner erfaſſen, allein grauſame Geſchicke zu beklagen

haben,

Er will beim Wehen der Südwinde ſein Leben von Feſtungen ver-

traun.

oder (nach anderer Ueberſetzung):


Weht es im Süden hinauf, will Leben er borgen den Klöſtern.

Dann (Friedrich WilhelmII.):


Welcher ihm folgt, ahmt nach die böſen Sitten der Väter,

Hat nicht Kraft im Gemüth, noch eine Gottheit im Volke.

Weſſen Hülf’ er begehrt, der wird entgegen ihm ſtehen,

Und er im Waſſer ſterben, das Oberſte kehrend zu unterſt.

Dann (Friedrich WilhelmIII.):


Der Sohn wird blühen; was er nicht gehofft, wird er beſitzen.

Allein das Volk wird in dieſen Zeiten traurig weinen;

Denn es ſcheinen Geſchicke zu kommen ſonderbarer Art,

Und der Fürſt ahnet nicht, daß eine neue Macht im Wach-

ſen iſt.

Niemand, der vorurtheilslos an dieſe Dinge herantritt,
wird in Abrede ſtellen können, daß ganz ſpeciell in den letzten
8 Zeilen Wendungen anzutreffen ſind, die von einer frappiren-
den Zutreffendheit ſind, ſo zutreffend, daß in der ganzen Weiſ-
ſagung nur eine einzige Stelle iſt, (jene 8 Zeilen, die ſich auf
**)
[118] Joachim I. und II. beziehen), die an Charakteriſirung von Zeit
und Perſonen damit verglichen werden können. Wenn aus-
weichend geantwortet iſt, es handle ſich in allen dreien um bloße
Allgemeinheiten, ſo iſt das theilweis nicht richtig, theilweis
bezeichnet es den Charakter der ganzen Dichtung überhaupt,
gleichviel, ob dieſelbe Nahes oder Zurückliegendes in Worte
faßt.


Es iſt nach dem allen nicht zu verwundern, daß der
Streit über die Aechtheit nach wie vor ſchwebt, und daß die
Weiſſagung, ſelbſt unter den Proteſtanten (die im
Allgemeinen in Verwerfung derſelben einig ſind), die verſchie-
denſten Urtheile erfahren hat. Küſter nennt das Vaticinium
einfach ein „Spiel des Witzes“ (lusus ingenii); Guhrauer
bezeichnet es als eine lakoniſch-orakelmäßige Darſtellung, die,
mit Rückſicht auf die einmal befolgte Tendenz, nicht
ohne Geſchick angelegt und durchgeführt worden ſei. Schulrath
Otto Schulz geht in ſeinem Unmuth ſchon weiter und iſt der
feſten Ueberzeugung, „daß der geſunde Sinn des preußiſchen
Volkes dieſe Weiſſagung als die Ausgeburt eines hämiſchen
Fanatikers zu würdigen wiſſen werde.“ Profeſſor Trahndorff
denkt noch ſchlimmer darüber, indem er ſie gradezu für Teu-
felswerk
ausgiebt; hält ſie aber andererſeits für eine wirkliche,
wenn auch diabo liſche Prophezeihung. „Dieſe 100 Verſe,“ ſo
ſagt er, „ſind als eine ächte Prophezeihung anzuſehn,
aber zugleich wegen des darin waltenden unevangeliſchen
Geiſtes
als das Werk des Lügengeiſtes zu verwerfen.“ Von
Trahndorff zu Meinhold, dem Verfaſſer der Bernſtein-
hexe, iſt nur noch ein Schritt. Wenn jener die wirkliche
Prophezeihung zugegeben hat, ſo fragt es ſich nur noch, ob
nicht der Lügengeiſt, den der eine darin findet, durch den
andern ohne viel Mühe in einen Geiſt der Wahrheit ver-
kehrt werden kann. Meinhold vollzieht denn auch, wenig-
ſtens für ſeine eigene Perſon, dieſe Umwandlung und verſichert,
„daß er beim Leſen dieſer Lehninſchen Weiſſagung die Schauer
der Ewigkeit gefühlt habe.“


[119]

So weichen ſelbſt proteſtantiſche Beurtheiler unter ein-
ander ab.


Es wird alſo ſchwerlich jemals glücken, aus dem Geiſt
und Inhalt
der Prophezeihung, wie ſo vielfach verſucht wor-
den iſt, ihre Unächtheit zu beweiſen. Dieſe Dinge appelliren an
das Gefühl, und bei dem poetiſchen Geſchick, das aus dem
Vaticinium unverkennbar ſpricht, giebt das Gefühl keine un-
günſtige Antwort. Es iſt nicht zu leugnen, daß, wenn man
Geiſt und Ton der Dichtung durchaus betonen will, beide mehr
für die Aechtheit als gegen dieſelbe ſprechen. Beiſpielsweiſe die
Schlußzeilen:


Endlich führet das Scepter, der der Letzte ſeines Stammes ſein wird,

Israel wagt eine unnennbare, nur durch den Tod zu ſühnende That,

Und der Hirt empfängt die Heerde, Deutſchland einen König wieder.

Die Mark vergißt gänzlich aller ihrer Leiden

Und wagt die Ihrigen allein zu hegen, und kein Fremdling darf mehr

frohlocken,

Und die alten Mauern von Lehnin und Chorin werden wieder

erſtehen,

Und die Geiſtlichkeit ſteht wieder da nach alter Weiſe in Ehren,

Und kein Wolf ſtellt mehr dem edlen Schafſtalle nach.

Selbſt dieſe matte Ueberſetzung der volltönenden Verſe des
Originals hat noch etwas von prophetiſchem Klang.


Die Frage wird nicht aus dem Inhalt, ſondern umgekehrt
einzig und allein aus der Form und aus äußerlich Einzelnem
heraus entſchieden werden.


Guhrauer hat zuerſt darauf aufmerkſam gemacht, daß
ſich in der Weiſſagung (Zeile 63) das Wort „Jehovah“ vor-
finde, und hat daran die Bemerkung geknüpft, daß dieſer Aus-
druck („Jehovah“) an Stelle des bis dahin üblichen „Adonai“
erſt zu Anfang des 16. Jahrhunderts gebräuchlich geworden
ſei; — bis dahin habe man den Ausdruck oder die Lesart
„Jehovah“ gar nicht gekannt. Iſt dieſe Bemerkung richtig, ſo
iſt ſie mehr werth als alle andern Halb-Beweiſe zuſammen-
genommen. Gleichviel indeß, ob richtig oder nicht, der Weg,
der in dieſer Guhrauer’ſchen Bemerkung vorgezeichnet liegt,
[120] iſt der einzige, der zum Ziele führen kann. Nur Sprachforſcher,
Philologen, die ausgerüſtet mit einer gründlichen Kenntniß aller
Nüancen mittelalterlichen Lateins, nachzuweiſen im Stande
ſind: „dies Wort, dieſe Wendung waren im 13. Jahrhun-
dert unmöglich,“ nur ſie allein werden den Streit endgültig
entſcheiden.


Das Reſultat einer ſolchen Unterſuchung, wenn ſie ſtatt-
fände, würde lauten: „unächt.“ Darüber unterhalte ich keinen
Zweifel. Aber auch der Beweis vom Gegentheile würde das
alte Intereſſe an dieſer Streitfrage nicht wiederbeleben können.
Die Ereigniſſe nämlich haben die Prophezeihung überholt; ſeit
der Thronbeſteigung Friedrich WilhelmsIV. iſt die Prophe-
zeihung einfach falſch geworden, gleichviel ob ſie ächt iſt oder
nicht. Dieſen Unterſchied zwiſchen „unächt“ und „falſch“ ziemt
es ſich durchaus zu betonen. Schon Guhrauer hat ſehr richtig
darauf aufmerkſam gemacht, daß der Text der Prophezeihung
ächt und die Prophezeihung ſelber doch eine falſche, d. h.
eine unerfüllt gebliebene ſein könne, „eine unerfüllt gebliebene
— ſo fügt er hinzu — gleich ſo vielen anderen falſchen Pro-
phezeihungen, deren Authenticität von niemand bezweifelt
worden iſt.“ Friedrich WilhelmIII. war bereits der elfte
Hohenzoller nach JoachimII.; der Zeiger an der Uhr
iſt über die verhängnißvolle Stunde ruhig hinweggegangen, die
Hohenzollern leben, und nur die Weiſſagung (ächt oder nicht)
iſt todt.


[[121]]

Die Havelſchwäne.


Da geht’s an ein Picken,
An ein Schlürfen, an ein Hacken;
Sie ſtürzen einander über die Nacken,
Schieben ſich, drängen ſich, reißen ſich,
Jagen ſich, ängſten ſich, beißen ſich,
Und das all’ um ein Stückchen Brod.
Lilis Park.)

Die Havel iſt ein aparter Fluß; man könnte ihn ſeiner Form
nach den norddeutſchen oder den Flachlands-Neckar nennen. Er
beſchreibt einen Halbkreis, kommt von Norden und geht ſchließ-
lich wieder gen Norden, und wer ſich aus Kindertagen jener
primitiven Schaukeln entſinnt, die aus einem Strick zwiſchen
zwei Aepfelbäumen beſtanden, der hat die geſchwungene Linie
vor ſich, in der ſich die Havel auf unſeren Karten präſentirt.
Das Blau ihres Waſſers und ihre zahlloſen Buchten (ſie iſt
thatſächlich eine Aneinanderreihung von Seen) machen ſie in
ihrer Art zu einem Unikum. Das Stückchen Erde, das ſie
umſpannt, eben unſer Havelland, iſt, wie ich in den vorauf-
gehenden Kapiteln gezeigt habe, die Stätte älteſter Kultur in
dieſen Landen. Hier entſtanden, hart am Ufer des Fluſſes
hin, die alten Bisthümer Brandenburg und Havelberg.
Und wie die älteſte Kultur hier geboren wurde, ſo auch die
neueſte. Von Potsdam aus wurde Preußen aufgebaut, von
Sansſouci aus durchleuchtet. Die Havel darf ſich einreihen in
die Zahl deutſcher Kulturſtröme.


Aber nicht von ihren Großthaten gedenke ich heute zu erzäh-
len, nur von einer ihrer Zierden, von den Schwänen.


[122]

Dieſe Schwäne ſind auf dem ganzen Mittellauf der Havel
zu Hauſe. Die zahlreichen großen Waſſerbecken, die ſich hier
finden: der Tegler-See, der Wann-See, der Schwilow, die
Schlänitz, die Wublitz, ſind ihre Lieblingsplätze. Ihre Geſammt-
zahl beträgt 2000. In früheren Jahren war es nicht möglich,
dieſe hohe Zahl zu erreichen. Während der Franzoſenzeit waren
ſie (ein bequemes Jagdobjekt) zu Hunderten getödtet worden;
ſpäter wurden die großſtädtiſchen Eierſammler ihrer Vermehrung
gefährlich. Erſt die Feſtſetzung ſtrenger Strafen machte dieſem
Uebelſtande ein Ende. Seitdem iſt ihre Zahl in einem ſteten
Wachſen begriffen. Wie mächtige weiße Blumen blühen ſie über
die blaue Fläche hin; ein Bild ſtolzer Freiheit.


Ein Bild der Freiheit. Und doch ſtehen ſie unter Kon-
trolle, in Sommertagen zu der Menſchen, in Wintertagen zu
ihrem eigenen Beſten. Im Sommer werden ſie eingefangen,
um gerupft, im Winter, um gefüttert zu werden. So bringt
die Kultur ihre ſommerliche Unthat im Winter wieder in
Balance. Auf die Procedur des Einfangens kommen wir
weiterhin zurück.


Die 2000 Schwäne zerfallen in Schwäne der Ober- und
Unter-Havel; das Gebiet der einen reicht von Tegel bis Pots-
dam, das der andern von Potsdam bis Brandenburg. Die
Glieniker Brücke zieht die Grenze. Die Schwäne der oberen
Havel ſtehen unter der Herrſchaft der ſpandauer, die Schwäne
der unteren Havel unter der der potsdamer Fiſcher. Man könnte
dieß die Eintheilung der „Provinz Havelſchwan“ in zwei Regie-
rungsbezirke nennen. Dieſe großen Bezirke aber zerfallen wieder
in eben ſo viele Kreiſe, als es Haveldörfer gibt, beſonders auf
der Strecke von Potsdam bis Brandenburg. Die Uetzer Fiſcher
beherrſchen die Wublitz, die Marquardter Fiſcher den Schlänitz-
See, die Fiſcher von Caput den Schwilow u. ſ. w. Auf der
Unterhavel allein befinden ſich gewiß zwanzig ſolcher Arrondiſſe-
ments, alle mit gewiſſen Rechten und Pflichten ausgerüſtet, aber
alle den beiden Hauptſtädten dienſtbar, alle in Abhängigkeit von
Potsdam und Spandau.


[123]

Wir wenden uns nun dem Sommerfang der Schwäne zu.
Er erfolgt zweimal und hat den doppelten Zweck: den Jung-
Schwan zu lähmen und den Alt-Schwan zu rupfen. Ueber die
Lähmung iſt nicht viel zu ſagen; ein Flügelglied wird weg-
geſchnitten, damit iſt es gethan. — Deſto komplizirter iſt der
Prozeß des Rupfens. Es geſchieht nicht nur zweimal (im Mai
und Auguſt), ſondern auch an zwei verſchiedenen Stellen. Die
Schwäne der Ober-Havel werden auf dem Pichelswerder, die
Schwäne der Unter-Havel auf dem „Depothof“ bei Potsdam
gerupft. Das Verfahren iſt an beiden Orten daſſelbe. Wir
geben es, wie wir es auf dem Depothof ſahen.


Der „Schwanenmeiſter,“ Geſammtbeherrſcher des ganzen
Volkes cygnus zwiſchen Tegel und Brandenburg, gibt die Ordre:
„Am 20. Mai (der Tag wechſelt) wird gerupft.“ Nun beginnt
das Einfangen. Die Fiſcher der verſchiedenen Haveldörfer machen
ſich auf, treiben die auf ihrem Revier ſchwimmenden Schwäne
in eine Bucht oder Ecke zuſammen, fahren dann mit einem zehn
Fuß langen Hakenſtock in die Schwanenmaſſe hinein, legen den
Haken, der wie bei dem Schäferſtock eine halboffene Oeſe bildet,
geſchickt um den Hals des Schwanes, ziehen ihn heran und in
ihr Fahrzeug hinein. Dieß geſchieht mit großer Schnelligkeit,
ſo daß binnen ganz kurzer Zeit das Boot mit dicht neben ein-
ander hockenden Schwänen beſetzt iſt und zwar derart, daß die
langen Hälſe der Schwäne, über die Bootkante fort, nach außen
blicken. Ein ſehr eigenthümlicher, grotesker Anblick.


In dieſer Ausrüſtung treffen nun die Boote aus wenig-
ſtens zwanzig Dörfern auf dem Depothof ein und liefern ihre
Schwanenfracht in die dort befindlichen Hürden ab, von wo ſie
nach und nach zur Rupfbank geſchleppt werden.


Dieſe Rupfbank iſt ein langer Tiſch, der in einem mäch-
tigen Schuppen ſteht. An der einen Seite des Tiſches entlang,
mit ſcharfem Auge und flinker Hand, ſitzen die Rupfweiber,
meiſt Kietzfiſcher-Frauen. Ein Schwanenknecht trägt nun Stück
auf Stück die Schwäne herein, reicht ſie über den Tiſch, die
Frauen packen zu und klemmen den Hals zwiſchen die Beine
[124] ein, während der Knecht den auf dem Tiſche liegenden Schwan
feſthält. Nun beginnt das Rupfen mit eben ſo viel Vorſicht
als Virtuoſität. Erſt die Federn, dann die Daunen; kein Fleck
von Fleiſch darf ſichtbar werden. Nach Beendigung der Pro-
zedur aber nimmt der Schwanenknecht den Schwan wieder in
ſeinen Arm, trägt ihn zurück und wirft ihn mit Macht in die
Havel. Der Schwan taucht nieder und ſegelt nun mit aller
Gewalt quer über den Fluß, um ſeinen Quälern zu entfliehen.
Bald aber friert ihn, und zunächſt ſonnige Ufer- und Inſel-
ſtellen aufſuchend, eilt er erſt den zweiten oder dritten Tag wie-
der ſeinen Heimatplätzen im Schwilow oder Schlänitz zu.


Einen ganz anderen Zweck, wie ſchon angedeutet, verfolgt
das Einfangen im Winter, wenn die Havel zugeht. Die ſchö-
nen Thiere würden im Eiſe umkommen. Sie werden alſo aber-
mals zuſammengetrieben und eingeſammelt, um an ſolche Havel-
ſtellen gebracht zu werden, die nie zufrieren, oder doch faſt nie
zufrieren. Der Prozeß des Einfangens iſt derſelbe, wie im
Sommer, aber nicht der Transport an dieſe eisfreien Stellen,
welche letzteren ſich glücklicherweiſe gerade bei Potsdam ſelbſt,
faſt mitten in der Stadt befinden. Die Ueberführung in Boote
iſt jetzt unmöglich, da ſchon ganze Partieen des Fluſſes durch
Eis geſchloſſen ſind; ſo treffen ſie denn in allerhand Gefährt,
in Bauer- und Möbelwagen, ſelbſt in Eiſenbahnwaggons in
ihrem potsdamer Winterhafen ein.


Sie haben nun wieder ſicheres Waſſer unter den Füßen,
die Gefahr des Erfrierens iſt beſeitigt, aber die Gefahr des Ver-
hungerns — 2000 Schwäne auf allerkleinſtem Terrain —
würde jetzt um ſo drohender an ſie herantreten, wenn nicht durch
Fütterung für ſie geſorgt würde. Dieſe erfolgt in den Winter-
monaten täglich zweimal, Morgens um 8 und Nachmittags um
3 Uhr, immer an derſelben Stelle und zwar in der Nähe des
Stadtſchloſſes.


Unmittelbar hinter der Eiſenbahnbrücke, am Ende des Luſt-
gartens, iſt eine Stelle, welche wegen des ſtarken Stromes nur
[125] ſelten zufriert. Dieſe iſt Rendezvous. Wir geben die 3-Uhr-
Fütterung.


Schon um Mittag ziehen ſich die Schwäne von allen noch
offenen Stellen der Havel und aus den Kanälen der Stadt in
der Nähe der Eiſenbahnbrücke zuſammen. Unruhig ziehen ſie
nicht einzeln, ſondern zu Hunderten neben und hintereinander
am Ufer hin und her, die alten und erfahreneren aber unter
dem letzten Bogen der Eiſenbahnbrücke hindurch, auf eine Stelle,
von wo ſie mit hochaufgerecktem Halſe über die Uferbrüſtung
hinweg den langen Wallweg hinunter ſehen können, auf dem
der Schwanenmeiſter mit ſeinem Kornkarren heranfahren muß.
Sie kennen ihn auch ſchon in weiteſter Entfernung, und kaum
taucht ſeine Mütze zwiſchen den Bäumen auf, ſo fährt eine ganz
beſondere Unruhe in das zahlreiche Rudel. In höchſter Anſtren-
gung rudern ſie ſofort unter der Eiſenbahnbrücke hindurch, nach
dem Futterplatze, und wenn ſie ihn dort noch nicht angekommen
ſehen, wieder zurück zu der Stelle, wo ſie ſeine Annäherung
beobachten können. Dieſe unruhige Wanderung wiederholt ſich
ſo lange, bis der Schwanenmeiſter mit Karre und Gerſtenſack
an der Brücke angekommen iſt. Nun entſteht ein wahrer Tumult
unter den Thieren. Alles ſtürzt über einander, neben einander
hin und reckt die Hälſe, um nur ja keine Bewegung ihres
Hüters zu überſehen und den erſten Schaufelwurf zu verſäumen.
Noch iſt es indeſſen nicht ſo weit. Der Schwanenmeiſter geht
erſt auf die Brücke, um in langgezogenen Tönen ſein „Hans!
Hans!“ zu rufen, auf welchen Ruf die etwa noch Verſpäteten
von allen Seiten herbei ſchwimmen. So lange dieß Rufen
dauert, halten ſich die Schwäne in der Nähe der Brücke. Hört
es aber auf, und wendet der Rufende ſich zu dem eigentlichen
Fütterungsplatze, ſo rauſcht das ganze Schwanenheer in einer
großen, blendend weißen Maſſe, drängend wie ein Keil und
gewaltſam wie die Räder eines Dampfſchiffs, im Waſſer neben
dem am Ufer gehenden Schwanenmeiſter her. Während der
Sack aufgebunden wird, ſchroten ſich einige der Gierigſten über
die Eisſchollen und Ränder am Ufer auf das feſte Land, wat-
[126] ſcheln unbehülflich zum Karren, um wo möglich die Erſten zu
ſein, die etwas erhalten. Ihre Berechnung wird aber jedesmal
getäuſcht, denn, wenn recht viele aus dem Waſſer heraus und
andere im Begriff ſind, ihnen zu folgen, wird der Gerſten-
karren raſch auf die entfernteſte Stelle des Futterplatzes geſcho-
ben. Kaum ſehen die auf’s Land gekommenen Schwäne, daß
ihnen ihre Eile nichts hilft, ſo ſtürzen ſie ſich ſo raſch als mög-
lich in das Waſſer zurück; aber es hält ſchwer, in der dicht-
gedrängten Maſſe der ſchwimmenden Schwäne ein Fleckchen zu
finden, wo ſie noch Platz hätten. Mit einer unglaublichen
Gewaltſamkeit drängen die Hinterſten gegen das Ufer. Nun
erfolgt der erſte Wurf weit in’s Waſſer hinein, und wo die
Gerſte das Waſſer berühren kann, verſchwinden im Nu alle
Hälſe, und man ſieht plötzlich Hunderte von Zuckerhüten auf
dem Waſſer ſchwimmen. Unmittelbar am Ufer aber gelangt die
Gerſte gar nicht in’s Waſſer, ſondern bleibt auf den dicht
aneinander gedrängten Rücken der Schwäne liegen. Um ſie auf-
zuleſen, verſchlingen die langen Hälſe ſich hin und wieder zu
Knoten, ſo daß es oft den Anſchein hat, als könnten ſie kaum
wieder auseinander kommen. So weit jeder Wurf reicht, tritt
für einige Augenblicke eine gewiſſe Ruhe ein; deſto unruhiger
und drängender geht es rings umher zu. Mit Biſſen und
Flügelſchlägen ſuchen ſich die Entfernteſten Bahn in den dichten
Haufen zu brechen; aber vergebens, denn es kann keines der
Thiere Platz machen, wenn es auch wollte, aber es will auch
nicht, ſondern beißt und ſchlägt abwehrend auf ſeinen Angrei-
fer los. Wieder kommt ein Wurf und wieder beruhigt ſich
eine Gruppe; ein dritter, ein vierter, — der letzte iſt
aber noch nicht geſchehen, ſo kommen die, welche zuerſt gefreſ-
ſen, ſchon wieder herbeigerauſcht und drängen die Freſſen-
den zu einem dichten Knäuel. Wild treibende Eisſchollen,
vom Föhn durcheinander gewälzte Schneemaſſen, können kein
ſeltſameres Bild geben, als dieſe blendend weißen, belebten
Körper auf dem dunklen Waſſer der Havel, rings von Eis
und Schnee umgeben, ſo daß man kaum unterſcheiden kann,
[127] wo das Eis des Ufers aufhört und der Schwanenknäuel
anfängt.


Täglich werden auf dieſe Weiſe drei Scheffel Gerſte ver-
füttert. Vergleicht man indeſſen das Volumen all’ dieſer her-
zudrängenden Schwäne mit den anderthalb Scheffeln, die ihnen
Morgens und eben ſo viel Nachmittags zugeworfen werden, ſo
begreift man, daß die Thiere beim Weggehen ihres Pflegers
noch ziemlich eben ſo lange Hälſe machen, als bei ſeinem Kom-
men. Eine Zeitlang verweilen ſie noch; erſt wenn ſie die Gewiß-
heit haben, daß alles Warten nichts mehr fruchtet, ſchwimmen
ſie langſam fort. Zurück bleiben nur noch die Kranken, die
jetzt einen Verſuch machen, eine kümmerliche Nachleſe zu halten
und die letzten Körnchen zu entdecken.


Zu der Havelſchönheit tragen die Schwäne ein ſehr Erheb-
liches bei. Sie geben dem Strom auf ſeiner breiten Fläche
eine königliche Pracht, und eine ſchönere Einfaſſung aller dieſer
Schlöſſer und Reſidenzen iſt kaum denkbar. In neuerer Zeit
hat man dieſen Zauber dadurch noch geſteigert, daß man, durch
Unterlaſſung der Flügellähmung, den Wildſchwan wieder her-
geſtellt hat. Man wurde dazu durch verſchiedene Rückſichten
beſtimmt. Das Nächſtbeſtimmende war die größere Schönheit
des wilden Schwans; er ziert die Fläche mehr, die er durch-
ſchwimmt und ſein Flug durch die Luft, den er wenigſtens
gelegentlich macht, gewährt einen impoſanten Anblick. Was
aber mehr als dieſe Schönheitsrückſicht den Ausſchlag gab, war
der Wunſch, einen neuen jagdbaren Vogel, einen neuen Sport
zu ſchaffen. Es werden jetzt von Zeit zu Zeit Wildſchwanen-
Jagden abgehalten.


Anfangs, wo man dieſe Jagden in unmittelbarer Nähe
Potsdams abhielt, ſcheiterten ſie. Die Thiere, zu den zahmen
Schwänen ſich haltend, waren zahm und vertraulich wie dieſe
und entzogen ſich kaum der Büchſe des Schützen, wenn auch
dieſer und jener ſchon dem Blei des letzteren erlegen war, —
das war keine Jagd, das war bloßes Todtſchießen, und man
ſtand auf dem Punkt, die Sache wieder aufzugeben. Da ent-
[128] deckte man indeſſen plötzlich, daß der Wildſchwan bei Potsdam
und der Wildſchwan flußabwärts auf den weiten, einſamen
Flächen des Schwilow, der Schlänitz und der Wublitz ein ander
Ding ſei, und eine erſte Jagd auf den großen Seen wurde
abgehalten. Sie ſchlug ein. Hier war der Schwan noch ſcheu,
und ſpeziell auf der ſtillen, abgelegenen Wublitz, auf der eben
bloß die gelben Mummeln und die weißen Schwäne zu Hauſe
ſind (wohl dreihundert und mehr) bot ein treffliches Jagdrevier.
So oft das Boot durch Schilf und Rohr heranſchlich, horchte
der Wildſchwan auf, hier hatte er noch den Inſtinkt der Gefahr,
und wenn der erſte Schuß fiel, erhoben ſich fünfzig der maje-
ſtätiſchen Vögel und rauſchten mit ſchwerem Flügelſchlage durch
die Luft.


Die Schönheit und Poeſie dieſes Thieres aber, vor allem
die mächtige Schußfläche, die es bietet, werden ſehr wahrſcheinlich
immer ein Hinderniß bleiben, die Schwanenjagd in Jägeraugen
zu etwas Anſehnlichem zu machen. Es unterbricht nur ’mal
den gewöhnlichen Lauf der Dinge. Ein Zwiſchengericht, das
willkommen iſt.


Die Schwäne der Havel bilden auch einen Verſandt-
Artikel; viele, von näher gelegenen Punkten zu ſchweigen, gehen
bis Petersburg und nach den großen Städten der Union.
Mannigfach ſind die Verſuche, ihn auch an andern Stellen
einzubürgern. Es mag indeſſen lange dauern, ehe der Havel-
Schwan übertroffen wird.


Der Limfjord, auf jenen weiten Waſſerbaſſins, wo Tau-
ſende von Möven wie weiße Nymphäen ſchwimmen, bietet ein
ähnliches Bild. Aber doch nur ein ähnliches. Die Möve iſt
eben kein Schwan.


Noch iſt die Havel mit ihren 2000 Schwänen unerreicht.


[[129]]

Die Seeſchlacht in der Malche.


Of Nelson and the North
Sing the glorious day’s renown.
Thomas Campbell.

Die Mittel-Havel, wie ſchon hervorgehoben, iſt eine lange Kette
von Buchten und Seen, die mit dem Tegelſchen See beginnt
und mit dem Plauenſchen ſchließt. Am dichteſten gruppiren ſie
ſich, dieſe großen havel-geſpeiſten Waſſerbecken, um Potsdam
herum, wo wir mehr als einem Dutzend derſelben begegnen,
dem Wann-See, der Crampnitz und dem Schwilow, dem
Glindower und dem Pleſſow’ſchen See, der Schlänitz, der Wub-
litz und vielen andren noch.


Eins dieſer Becken, aber weiter aufwärts, unmittelbar
nördlich von Spandau, iſt die „Malche,“ die ſo ziemlich den
ganzen Raum zwiſchen dem Eiswerder und der Citadelle füllt.
Eine prächtige Breite, die zunächſt einen Wieſenplan und daran
anſchließend, den „Saatwinkel“ und die Jungfernhaide in
Flanke und Rücken hat, während ſich die Baſtionen und der
alte Rundthurm der Feſtung in der blauen Tiefe ſpiegeln.


Dieſe Havelbuchtung nun, ſammt ihren Ufern war in der
Joachimiſchen Zeit, und zwar im Jahre 1567, der Schauplatz
eines Waſſer- und Landgefechts,“ über das Leutinger in
ſeiner Topographia marchica ausführlich berichtet. Dieſem Be-
richte entnehmen wir das Folgende:


Kurfürſt Joachim II., unſer allergnädigſter Herr, nachdem
er Abends ſpät mit ſeinem Hofſtaate auf der Feſtung Spandow
Fontane, Wanderungen. III. 9
[130] angekommen war, ſandte, um den Bewohnern einen Schrecken
zu bereiten, des Morgens ganz früh einige ſeiner Traban-
ten nach der Stadt Spandow, zum Hauſe des damaligen
Bürgermeiſters Bartholomäus Bier, welchen ſie,
da noch Alles ſchlief, mit ſtarkem Pochen an ſeiner Hausthür
erweckten. Da derſelbe beim Oeffnen der Thür die Trabanten
des Kurfürſten erblickte, und ſogleich den Befehl erhielt, ſich
anzukleiden und die Trabanten zum Kurfürſten nach der Feſtung
zu begleiten, erſchrak er ſehr und konnte ſich nicht darin finden,
wie er dazu käme, unter militäriſcher Gewalt nach der Veſte
abgeführt zu werden. Seine Frau, welche ebenfalls hinzu-
gekommen war, war noch mehr erſchrocken und fing ſchon ein
gewaltiges Klagen an. Zugleich gab ihm der Anführer der
Trabanten eine an die ganze Bürgerſchaft gerichtete kurfürſtliche
Ordre. Der Herr Bürgermeiſter ſandte eine Magd eiligſt nach
dem Stadtdiener Strohband. Dieſer, in gleicher Aufregung
wie ſein Herr, kam halb angekleidet und in Pantoffeln herbei.
Er erhielt den Auftrag, ſogleich zu allen Viertelmeiſtern zu
gehen, um ihnen den kurfürſtlichen Befehl, der ebenfalls auf
ein Erſcheinen vor dem hohen Herrn hinauslief, bekannt zu
machen.


Während nun Strohband lief, um die Bürger zu beſtellen,
und der Herr Bürgermeiſter ſich in aller Eile angekleidet hatte,
mäßigte ſich ſein Schrecken, weil ihm ſein gutes Gewiſſen ſagte,
daß der Kurfürſt ſo wenig mit ihm wie mit der Bürgerſchaft
etwas Schlimmes im Sinne haben könne, da ſeines Wiſſens
keine Sache vorlag, welche den Unwillen des hohen Herrn ver-
diente. Nachdem er ſeine Frau damit getröſtet und beruhigt
hatte, ging er getroſten Muthes mit den Trabanten ab. Einige
alte Frauen und Mägde, welche früh aufgeſtanden waren, um
die Kühe vor den Hirten zu treiben, als ſie ſahen, daß der
geſtrenge Herr Bürgermeiſter in der Mitte von Trabanten des
Kurfürſten zur Veſte geleitet wurde, kreuzten und ſegneten ſich
und liefen ſchnell, um die Neuigkeit zu hinterbringen. Jeder
zerbrach ſich den Kopf. Endlich kam denn auch der Krumm-
[131] ſtock, der allen Bürgern den uns ſchon bekannten Befehl brachte.
Die Neugierde wuchs und die Frauen vergaßen ihre Morgen-
ſuppe; aber ſchon um 6 Uhr Morgens zog die ganze löbliche
Bürgerſchaft, Viertelmeiſter und Rathmänner voran, zum Thore
hinaus der Feſtung zu.


Als der Herr Bürgermeiſter Bier auf der Feſtung ange-
kommen war, wurde er alsbald dem gnädigen Kurfürſten vor-
geſtellt, und als dieſer ihm freundlichſt entgegenkam, fiel ihm
ein ſchwerer Stein vom Herzen, und er vernahm nun vom
Kurfürſten, daß er ſich über den kleinen Schrecken, welchen ihm
ſein Spaß vielleicht verurſacht hätte, beruhigen möchte; indeſſen
wünſche er, daß die Bürgerſchaft zu dem Vergnügen, welches
er ſich heute vorgeſetzt habe, ihm willig die Hand bieten wöge;
er habe nämlich ebenfalls auch die Berliner und Cöllner Bür-
ger dazu beordert, daß ſie auf Schiffen mit den Span-
dauern ein Gefecht beſtehen möchten
, und ſelbige hät-
ten ſich dazu bereit erklärt und würden wohl bereits dazu unter-
wegs ſein; ein Gleiches wünſche er von ihnen; Waffen habe er
mitgebracht, Schiffe möchten ſie nehmen, wo ſie ſolche fänden;
die Anordnung überließe er dem Bürgermeiſter, und er mache
ihn heut zugleich zum Admiral der Flotte.


Der Zug der Bürger kam indeſſen auf der Feſtung an.
Der Kurfürſt trat ihnen mit ſeinem Gefolge, den Herrn Bürger-
meiſter in der Mitte, entgegen und ſagte ihnen:


„Lieben Kinder, Spandower! Ihr habt wohl wer
weiß was gedacht, daß ich Euren Bürgermeiſter entführt und
überhaupt Euch ſo in Allarm gebracht habe. Indeſſen iſt
es ſo ſchlimm nicht. Es iſt nichts weiter, als daß Ihr
Euch heute mit den Berlinern zu Waſſer und vielleicht auch
zu Lande ſchlagen ſollt. Waffen liegen dort, und Bruſt-
harniſche und Helmhauben auch; dieſe nehmt. Der Herr Bür-
germeiſter wird alles weiter anordnen, und wehrt Euch tapfer!“


Nun wurden ihnen hölzerne Spieße, alle von einerlei
Länge und Stärke, Helme und Harniſche zugetheilt, damit ſie
ſich zum Streit bewaffnen ſollten. Jetzt zurückgekehrt zur Stadt,
9*
[132] verwandelte ſich der Schrecken in Jubel und Alles beeiferte
ſich, das Seinige beizutragen, um den Spaß vollkommen zu
machen.


Da der neue Spandower Groß-Admiral wußte, daß die
feindliche Berliner Flotte aus 30 Segeln beſtehen würde, ſo
ſuchte er in der Eile aus den ſtets hier beiliegenden Strom-
ſchiffen ebenfalls einige 20 zuſammen zu bringen und ſolche zu
bemannen; geübte Steuerleute waren auch bald gefunden und
jedes Schiff wurde mit einigen 20 Streitern unter einem Anfüh-
rer beſetzt.


Auf das Admiralſchiff wurde der Stadtmuſicus beſtellt,
und ſo wohl gerüſtet und geordnet erwarteten ſie den Feind.


Die Flotte hatte ſich bei der Feſtung links, vor dem Platze
an der hieſigen Schleuſe, vor Anker gelegt. Auch hatte der
Herr Bürgermeiſter die Vorſicht gebraucht, die Fiſcher vom Kiez
zu beordern, daß ſie mit ihren Kähnen bei der Hand ſein
und, wenn einer der Schiffer und Streiter über Bord fiele,
denſelben ſogleich retten möchten.


Die Anführer auf den Schiffen waren folgendermaßen
vertheilt:


  • Bürgermeiſter Bartholomäus Bier.
    • Burghard Margert,
    • Otto Ruttnitz,
    • Baſtian Rucken,
    • Jacob Marzahn,
  • Jonas Backe, Viertelmeiſter.
  • Peter Schober, do.
  • Claus Strohband, do.
  • Hermann Doering, do.
  • Jürgen Wardenberg, do.

Die übrigen Anführer waren die Bürger: Martin Krokow,
Claus Marreligs, Peter Damitz, Andreas Raſchan, Matthis
Rürmundt, Sebaſtian Reinicke, Veit Wenzlow, Claus Schu-
mann, Jürgen Rohrſchneider, Kurt Kiepert, Traugott Kühnert,
[133] Gottfried Schönicke, Jonas Müller, Ignatz Raſenack, an der
Zahl 24.


Um 9 Uhr endlich ſah man die vereinte Berliner und
Cöllner Flotte, die ſich am Tegelſchen See armirt und formirt
hatte, die Havel herunter geſteuert kommen; ſie ſteuerten, den
Eiswerder rechts laſſend, nach der kleinen Malche, und legten
ſich dort vor Anker, um ſich zum Streit noch beſſer anzuſchicken
und dann das Signal zu erwarten. Voran lag das Admiral-
ſchiff mit dem Berliner Wappen, einem Bären im weißen Felde,
am Vordertheil. Alle Schiffe waren mit prächtigen Flaggen
und die Segelbäume und Stangen mit bunten Bändern geſchmückt,
die Steuerleute und Ruderer trugen runde Hüte mit rothen
Bändern umwunden und grüne Federbüſche.


Die meiſten Schiffe waren mit Zelten von buntbemalter
Leinwand überſpannt, doch ſo, das die Streiter, welche mit
denſelben Waffen wie die Spandower verſehen waren, ſich auf
den Schiffen vertheilt befanden. Alles gewährte einen präch-
tigen, impoſanten Anblick. Freude und Jubel waren unter
Begünſtigung des ſchönſten Wetters allgemein.


Endlich wurde von dem Baſtion der Feſtung, auf welchem
ſich der Kurfürſt mit ſeinem Hofſtaate eingefunden hatte und
von welchem aus er das Ganze überſehen konnte, das Zeichen
zum Angriff durch einen Kanonenſchuß und durch den Schall
der Trompeten gegeben. Im Nu war jetzt die ganze Waſſer-
fläche, welche den großen und den kleinen Malche-
See
zwiſchen der Feſtung und dem Eiswerder bildet, mit
Schiffen bedeckt. Unter dem Donner der Kanonen und dem
Schalle der Trompeten, welche unaufhörlich vom Walle der
Feſtung ertönten, bemühten ſich beide Parteien, einander ſo
viele Schläge und Stöße zu ertheilen, um wo möglich eine die
andere zum Weichen zu bringen. Und wie es denn gewöhnlich
zu gehen pflegt, ſo ging es auch hier, die Gemüther erhitzten
ſich zu ſehr, ſo, daß das Spandower Admiralſchiff zwei von
den Berliner Schiffen dergeſtalt überfuhr, daß deren Steuer-
männer ins Waſſer geſtoßen wurden und auch einige Streiter
[134] durch den Stoß über Bord fielen. Durch das Herbeieilen der
Fiſcher wurden dieſe glücklich wieder herausgefiſcht.


Nachdem das Gefecht 2 Stunden gedauert hatte und es,
trotz der Bruſtharniſche und der Helme, manchen blauen Fleck
und Beulen gegeben hatte, auch auf keiner Seite nur ein Haar
breit der Sieg gewichen war, wurde das Zeichen zum Abbruch
des Gefechts gegeben und die Schiffe zogen ſich unter gegen-
ſeitigen Drohungen und Neckereien (Leutinger: „Spottereien“)
der Mannſchaften in ihre vorigen Stellungen zurück. Zugleich
kam der Befehl, daß der Sieg auf dem Nachmittage zu Lande
entſchieden werden ſollte. Die Berliner verließen ihre Schiffe
und lagerten ſich dort auf dem Felde, „der Plan“ genannt;
die Spandower gingen, um ſich ihre Beulen zu beſehen, einſt-
weilen nach Hauſe, und die Anführer, um ſich zu berathen,
wie ſie den Nachmittagskampf mit Ehren beſtünden. Denn ſie
verhehlten ſich nicht, daß ſie, bei ihrer geringeren Zahl, es nur
der großen Geſchicklichkeit ihrer Steuerleute und Ruderer zu ver-
danken gehabt hätten, daß ſie nicht beſiegt worden wären. Auch
war gewiß, daß ſich die Zahl der Streiter ihrer Feinde aus
der Zahl der Schauluſtigen aus Berlin noch erheblich vermeh-
ren würde. Sie entſchloſſen ſich alſo, einen Succurs aus dem
ſtädtiſchen Kämmereidorfe Staaken nebſt den zur Stadt gehö-
rigen Weinbergen und was ſie ſonſt noch aufzutreiben wußten,
herbeiholen zu laſſen.


Die Anzahl der Berliner war, wie Leutinger verſichert,
über 1500 Mann. Die Spandower dagegen waren höchſtens
800 Mann.


Der Gottfried Schönicke wurde demnach in aller Stille
beordert, ein Pferd zu nehmen und damit nach Staaken zu
reiten, um dort die Bauern und Knechte, ſo viel wie anweſend
wären und einen guten Knüppel führen könnten, zuſammen zu
nehmen, ſolche quer übers Feld und nach der Gegend der
Valentins-Inſel zu führen, um von dort auf Kähnen nach
dem Saatwinkel geführt zu werden. Dann ſollte Schönicke
während des Gefechts, unter Begünſtigung der vielen Ge-
[135] büſche, durch die Haſelhorſt den Berlinern in den Rücken
fallen.


Der Schönicke führte ſeine Sache, da er die Kähne dort
richtig vorfand, ſo gut aus, daß er ſich ſchon Nachmittags um
3 Uhr an Ort und Stelle befand, ohne daß die Berliner etwas
davon ahnten. Nachmittags um 2 Uhr fing die Anordnung zur
Feldbataille an. Es wurden zwei Schlachtordnungen formirt;
die erſte hatte auf ihrem rechten Flügel die Bürger von Berlin,
auf dem linken Flügel ſtanden die Cöllniſchen, zum Hinterhalt
waren die übrigen Berliner aufgeſtellt. In der Mitte hielt der
Kurfürſt mit einem kleinen Theile ſeiner Trabanten; auf der
einen Seite hatten ſie die Feſtung und den Graben, auf dem
linken Flügel die Spree, hinter ſich aber den Wald.


Dieſe nun, welche ſo gut poſtirt waren, glaubten ſchon
den Sieg in Händen zu haben und triumphirten laut, forderten
dabei immer die Spandower auf, heraus zu kommen. Die
Spandower hingegen erkannten ihre Schwäche und das Unvor-
theilhafte ihrer Lage, doch munterten ſie ſich einander auf und
erwarteten nur die Zeit, von der ſie glaubten, daß ihr ange-
ordneter Hinterhalt angekommen ſein könnte. Sie zogen nun
getroſt, in kleinere Haufen getheilt, dem Feinde entgegen und
der Streit begann. Man hielt ſich wacker hüben und drüben.
Der Sieg ſchien nicht zu wiſſen, wohin er ſich neigen ſolle.
Dennoch würden die Spandower ſchließlich überwunden worden
ſein, wenn nicht Gottfried Schönicke mit ſeinen leichten
Truppen angekommen wäre. Dieſer kam plötzlich von der
Haſelhorſt den Berlinern in den Rücken, der Hinterhalt
derſelben war bald in die Flucht geſchlagen und nun ging’s über
die Hauptarmee los. Dieſe ſah ihre Gefahr, hielt ſich mit
Erbitterung noch eine Weile, aber die „Staakenſchen“ unter
Gottfried Schönicke gaben auch hier den Ausſchlag und trieben
endlich die vereinte Berlin-Cöllniſche Armee in die Flucht.


Der Streit war ſo heftig geworden, daß ſelbſt das Pferd
des Kurfürſten von einem Spieße getroffen wurde. Die Nacht
brach herein und der Kurfürſt ließ nun durch Herolde das Ende
[136] des Streites ausrufen. Dies war ein Glück; die Erbitterung
war groß und ohne dieſen Abbruch des Gefechts würde Blut
gefloſſen ſein.


Die Berliner zogen ſich darauf durch den Wald, die
Jungfernhaide, nach Berlin zurück und die Spandower hatten
die Freude, daß ihnen der Kurfürſt ſagte: Kinder, ihr
habt euch brav geſchlagen
!


[[137]]

Das Beloedère
im Schloßgarten zu Charlottenburg.


Verſchloſſene Fenſter,

Nichts ein noch aus,

Nur Spinnen und Geſpenſter

Sind hier zu Haus.

Es regnet. Auf den Plüſchbänken des Charlottenburger Omnibus
ſitzt ein halbes Dutzend fröſtelnde Geſtalten, gleichgiltig oder
verſtimmt, jeder einen abtröpfelnden Alpacca in Händen. Keiner
ſpricht. Ein Dunſt, wie wenn Wäſche trocknet, nebelt um uns
her, und ein Kautſchuk-Mantel neben mir iſt nicht angethan,
die klimatiſchen Verhältniſſe zu beſſern.


Es regnet, und am Ende mit Recht. Schreiben wir doch
den 19. November! Wer mag da Sonnenſchein fordern, wenn
es ihn lüſtet, den Charlottenburger Schloßgarten zu beſuchen.
Was von den Menſchen gilt, gilt auch von den Tagen; man
muß ſie nehmen, wie ſie ſind.


Da iſt das „Knie.“ Seine Rundung iſt heute völlig reiz-
los. Das „türkiſche Zelt“ ſieht noch untürkiſcher aus als
gewöhnlich, und bei Morellis hocken drei Sperlinge auf dem
ſchräg geſtellten Gartentiſch, ziehen die Köpfe ein und ſchütteln
die Federn. Nur die grüne Kuppel des Schloſſes hat gewon-
nen; ſie ſieht glau aus, friſcher als ſonſt.


An den leeren Gewehrpfoſten vorüber, tret’ ich an das halb-
offene Parkgitter; der Thürhüter ſchüttelt den Kopf. An ſol-
chem
Tage Beſuch! Er ſcheint die Frage ergründen zu wollen,
ob ich Unthat gegen mich oder gegen andere ſinne. Ein Unglück-
licher oder …


[138]

„Ich möchte nach dem Belvedère. Erſt durch die Orange-
rie, dann grad’ aus; nicht wahr?“ So Lokalkenntniß und
Unbefangenheit heuchelnd, ſchreit ich an dem Bedienſteten vorüber,
der ſich ſchließlich, ſeinem Mienenſpiele nach, damit beruhigt:
Freitag iſt Beſuchstag.


Aſternbeete, Balſaminen; dann vorüber an den Kübeln des
Gewächshauſes; noch ein Flieſengang und die Breite des eigent-
lichen Parkes liegt vor mir. An der Rückſeite des einen Schloß-
flügels hin ſtehen die Büſten römiſcher Kaiſer, Nero, Titus,
Trajan; mir zunächſt Tiberius. An ſeiner Naſe hängt ein
Regentropfen, fällt ab und erneut ſich wieder. Es ſieht ſo
gemüthlich, ſo einfach-menſchlich aus, daß man glauben könnte,
ſeine „Wiederherſteller“ hätten Recht.


Weithin ſichtbar laufen die Gänge des Schloßgartens bis
zum Fluſſe nieder, parallel mit ihnen ein Waſſerbecken, halb
Graben, halb Teich. Die Alleen ſind kahl. Nur einzelne Bäume,
die windgeſchützter ſtanden, halten noch das je nach der Art in
allen Herbſtesfarben ſpielende Laub feſt: die Eiche goldbraun,
die Birke orangefarben, der Ahorn gelb; aber die meiſten Blät-
ter fielen ab und liegen an tieferen Stellen zuſammengeweht,
oder ſchwimmen auf dem Waſſer, das uns bis in die Mitte des
Parks begleitet.


Hier biegt das Waſſer (der Teichgraben) plötzlich rechtwinklig
ab und durchſchneidet den Weg. Eine Brücke führt darüber hin
und unterhält den Verkehr zwiſchen den beiden Ufern. Dies-
ſeits ſtand ein Alter und harkte das Laub zuſammen.


Iſt dies die Brücke mit der Klingel?


Ja. Aber es kommt keiner mehr.


Ich weiß, Papa. Die alten Moosköpfe ſind todt.


Er nickte und harkte weiter.


In der That befand ich mich an der vielgenannten „Klin-
gelbrücke,“ einer ehemaligen Beſuchsſtation des Gartens, die
viele Jahre hindurch neben dem Mauſoleum ihren Platz behaup-
tet hatte. Der ernſten Erhebung gab man hier ein heitres
Nachſpiel. Alles drängte herzu; wurde dann die Klingel
[139] gezogen, ſo erſchienen langſam und gravitätiſch, aber immer
hungrig, die berühmten Mooskarpfen des Charlottenburger
Parkes an der Oberfläche. Uralte Burſche, wenn ich nicht irre,
durch König Friedrich Wilhelm I. eigenhändig an dieſer Stelle
eingeſetzt. Ein eigenthümlicher Sport, der darauf hinauslief,
Hellinge, Milchbrode, Kringel in die immer geöffneten Karpfen-
mäuler zu werfen, nahm dann ſeinen Anfang. Er erinnerte
an Aehnliches im zoologiſchen Garten, und man darf ſagen: wie
ſich die Schrippe zum Elephanten verhält, ſo verhielt ſich die
Semmel zum Karpfen. Alte Frauen, nicht viel jünger wie die
krokodilartigen Ungeheuer der Tiefe, ſaßen hier ſommerlang mit
ihrem Backwerk und ſahen aus als gehörten ſie mit dazu. Es
hatte etwas Spukhaftes dieſe Altersanhäufung und die Kinder-
welt dazwiſchen.


Dieſer Sport indeſſen ſollte plötzlich ein Ende haben. Der
Winter 64 kam, das Waſſer fror bis auf den Boden, die Kar-
pfen ſuchten zu retiriren, immer tiefer, aber das Eis kam ihnen
nach, und eingemauert in ihrem Moorgrund, waſſer- und luft-
los, mußten ſie erſticken. Als im April das Eis aufging, ſtie-
gen ſie wieder an die Oberfläche, aber todt. Noch am ſelben
Tage wurden ſie am Ufer begraben. Es waren 36 Stück, keiner
unter 150 Jahre, keiner unter 4 Fuß; alle trugen ſie die
Karpfenkrone. „Wir haben nun neue eingeſetzt,“ brummelte der
Alte, „aber was will das ſagen; ſie ſind wie Steckerlinge.“


Dieſer wohlgemeinte Satz hatte mir Muth gegeben. „Ich
will nach dem Belvedère, Papa.“


„Nach’s Belfedehr. Ja, ja, da müſſen Sie bis auf die
Inſel. Immer grad aus. Die Fähre geht nicht mehr. Aber
rechts weg, wo der rothe Werft ſteht, da is’n Steg. Nehmen’s
ſich in Acht; is alles friſch geſtrichen mit Theer. Da drüber weg.“


„Dank ſchön, Papa.“ Damit ſtapſte ich weiter, durch Laub
und aufgeweichte Gänge hin, dem Rande des Parkes zu, voll
wachſenden Dankes gegen den Erfinder der Gummiſchuhe. End-
lich ſtand ich an einem ſchmalen, von der Spree her abgezweig-
ten Waſſergraben; zwei Pfoſten hüben und drüben und ein Tau
[140] dazwiſchen zeigten mir, daß dies die Fährſtelle ſei. Nach rechts
hin alſo mußte die Brücke ſein. Richtig. Der friſche Theer-
geruch ließ keinen Zweifel. Ich ſchritt über die ſchmale Bohlen-
lage hin.


Der Regen ließ einen Augenblick nach und geſtattete einen
Umblick. Ich ſtand erſichtlich auf einer Inſel, der magre Boden
mit dünnem Gras überzogen, die Ufer von blutrothem Werft
eingefaßt. Nach Weſten hin Wieſenland, von Spree-Armen
und Eiſenbahnbrücken durchzogen; am Horizonte grau in grau
der Spandauer Thurm; unmittelbar vor mir aber ein ſeltſamer,
jalouſieenreicher Bau, rund, mit vier angeklebten flachen Balcon-
häuſern und einem kupfernen Dachhelm, auf deſſen Spitze drei
Genien mit Genhimmelhaltung eines goldenen Fruchtkorbes
beſchäftigt waren. Roccoco durch und durch. Im Grundriß ein
kurzes Kreuz, mit rundem Mittelſtück. Dies war das Belve-
dère
. Die drei Genien mit dem Blumenkorb unverkennbar an
das Marmorpalais erinnernd. Die Tage der Lichtenau ſtanden
wie auf einen Schlag vor mir: Sentimentalität und Sinnlich-
keit, Schäferſpiele und kurze Röckchen, Antonius und Cleopatra.
Nur alles trivialiſirt. Statt des Pharaonenkindes eine Stabs-
trompetertochter.


Ein Gartenarbeiter, wie ich bald wahrnahm, hatte in einem
der angeklebten Häuschen ein Unterkommen gefunden; es fand
ſich ein Schlüſſel, der eine der Hauptthüren öffnete. Das Erd-
geſchoß, einſt als Küchen- und Wirthſchaftsraum benutzt, war
intereſſelos; eine ſchlank gewundene, von einem ſauberen Eiſen-
gitter eingefaßte Treppe führte in den erſten und zweiten Stock.
Wir ſtiegen hinauf. Ich hatte dieſelbe Empfindung, als ging
es hinunter in eine Gruft. Abgeſtorbenes ringsum. Nur
mumienhaft erhalten.


Die Einrichtung beider Stockwerke iſt dieſelbe: ein einziges
ſaalartiges Rundzimmer.


Der Saal des erſten Stockwerkes iſt der reichere; der Fuß-
boden parkettirt, die Wände rhombiſch getäfelt von rothbraunem
Pflaumbaumholz. An der weißen Decke kryſtallne Leuchter.
[141] Reliefdarſtellungen aus dem Apollo- und Diana-Mythus um-
ziehen, halb fries-, halb ſupraportenartig, die obere Rundung,
während Ottomanen und Polſterſtühle, in ihren Lehnen ſelbſt
wieder geſchweift, dem Rund der unteren Boiſſirung folgen.
Zahlreiche Bilder, meiſt engliſche Stiche nach den Dramen
Shakeſpeare’s, ſtehen gruppenweis, die Rückſeite nach vorn, an
den Wänden umher. Die dunkle Täflung, dazu der blaue
Moiré, der alle Polſter überzieht, geben dem Zimmer einen feſt-
lichen, beinah ernſten Charakter.


Anders der Rundſaal des zweiten Stockes. Hier iſt dieſelbe
Art der Ausſchmückung, aber in’s Heitere übertragen. Wie
dort Braun und ein tieferes Blau den Ton angeben, ſo lacht
hier Alles in Weiß und Roth und Gold. Conſolen, mit Thon-
gefäßen in gefälliger Form, laufen guirlandenartig um die
Rundung her, und die ſcharlachnen Seidenüberzüge, als ſei es
an ihrer leuchtenden Pracht nicht genug, haben ihr Roth noch
mit bunten Malereien, mit Blumen und Bouquets geſchmückt.
Wie im Zimmer des erſten Stocks, ſo lehnen ſich auch hier zwei
Balkons und ein Cabinet an den Rundbau an; das Cabinet
marmorirt und mit Goldbroncen reich verziert.


In dieſem Cabinet, nur durch zwei halb zurückgeſchlagene
Gardinen von dem Rundſaal getrennt, ſaß König Friedrich Wil-
helm II. Es war in den erſten Jahren ſeiner Regierung.
Eine Aufführung ſchien ſich, mit einer Art von Feierlichkeit vor-
zubereiten. Und ſo war es. In den goldbroncenen Wand-
leuchtern brannten ein paar Kerzen, aber ihr Licht, durch die
ſchweren Gardinen zurückgehalten, fiel nur in einzelnen Streifen
nach vorn hin in den Saal.


In dieſem herrſchte Dämmer. Der König hatte den Wunſch
ausgeſprochen, die Geiſter Marc Aurel’s, des Großen Kurfürſten
und des Philoſophen Leibnitz erſcheinen zu ſehen. Und ſie
erſchienen. Wie man dabei verfuhr, darüber bericht’ ich an ande-
rer Stelle. Nur dies noch. Dem Könige war geſtattet worden,
Fragen an die Abgeſchiedenen zu richten; er machte den Verſuch,
aber umſonſt. Es gelang ihm nicht, auch nur einen Laut über
[142] die bebenden Lippen zu bringen. Dagegen vernahm er nun
ſeinerſeits von den heraufbeſchworenen Geiſtern ſtrenge Worte,
drohende Strafreden und die Ermahnung, auf den Pfad der
Tugend zurückzukehren. Er rief mit banger Stimme nach ſeinen
Freunden; er bat inſtändig, den Zauber zu löſen und ihn von
ſeiner Todesangſt zu befreien. Nach einigem Zögern trat
Biſchofswerder in das Cabinet und führte den zum Tode Er-
ſchöpften nach ſeinem Wagen. Er verlangte zur Lichtenau zurück-
gebracht zu werden, ein Wunſch, dem nicht nachgegeben wurde.
So kehrte er noch während derſelben Nacht nach Potsdam zurück.


Das war, wie ſchon angedeutet, muthmaßlich Anfang der
90er Jahre. Beſtimmte Zeitangaben fehlen.


Von jenem Abend an ſtand das Belvedère 50 Jahre
lang leer. Es war, als wäre es an dieſer Stelle nur aus der
Erde gewachſen, um als Roccoco-Schaubühne für eine Geiſter-
komödie, hinterher aber um als Wahrzeichen dafür zu dienen,
daß das alles einſtens wirklich war.


Durch ein halbes Jahrhundert hin waren alle dieſe Plätze
verfehmt. Marmorpalais, Belvedère, Marquardt, das Ekkardt-
ſteinſche Haus, auch andre noch, man mied ſie, man nannte ſie
kaum. Erſt Friedrich Wilhelm IV., innerlich freier, machte
einen Verſuch, den Bann der 90er Jahre zu durchbrechen. Das
Marmorpalais ſah wieder Gondeln an ſeiner Treppe; die
Miniatur-Büſte der Lichtenau, ein Chef d’oeuvre, wurde an
altem Platze aufgeſtellt; was einſt Abneigung erweckt hatte,
weckte nur noch Intereſſe. Auch das Belvedère ſchien wieder
zu Ehren kommen zu ſollen. Von ſeinem Balkone aus ſah der
heitere König, deſſen eigene ſittliche Integrität ihm die Milde
(auch nach dieſer Seite hin) zum Bedürfniß machte, in Däm-
merſtunden, beim Theegeplauder, das Spreethal hinunter, freute
ſich der Segelkähne, die kamen und gingen, der langen Züge,
die raſſelnd, dampfend, vorüberſauſten, der dunklen Flächen des
Grunewaldes hier, der Jungfernhaide dort, endlich des rothen
Spandauer Thurms, der die Zickzack-Feſtungswerke drüben am
weſtlichen Horizont hoch überragte.


[143]

Das waren die Rehabilitirungsverſuche für das Charlotten-
burger Belvedère. Aber ſie kamen und gingen wie bloße Träume.
Bald ſchlief der Bau mit ſeinen drei Roccoco-Genien weiter.
Er ſchläft noch.


Etwas Unheimliches iſt drum umher, das nicht abzuthun iſt.
Was iſt es? Iſt es, weil es ein Spukhaus war, weil Geſpenſter
hier umgingen?


Nein, denn man ſpielte hier nur Geſpenſt. Aber faſt
ſcheint es, als ob ein doppeltes Grauen eben daraus erwuchs,
daß die Geiſter ſelber, die hier auftraten, nur wieder ein Schein,
eine Lüge waren.


[[144]]

Die Pfaueninſel.


1.
Die Pfaueninſel bis 1685.


Pfaueninſel! Wie ein Märchen ſteigt ein Bild aus meinen
Kindertagen vor mir auf: ein Schloß, Palmen und Känguruhs;
Papageien kreiſchen; Pfauen ſitzen auf hoher Stange oder ſchla-
gen ein Rad; Volièren, Springbrunnen, überſchattete Wieſen;
Schlängelpfade, die überall hin führen und nirgends; ein räthſel-
volles Eiland, eine Oaſe, ein Blumenteppich inmitten der Mark.


Aber ſo war es nicht immer hier. All das zählt erſt nach
Jahrzehnten und noch zu Ende der 90er Jahre war dieſe Havel-
inſel (übrigens die größte, die die Havel beſitzt) eine bloße roman-
tiſche Wildniß, die ſich aus Eichen, Unterholz und allerhand
Schlinggewächs zuſammenſetzte. An manchen Stellen urwaldartig,
undurchdringlich. Um das ganze 2000 Schritt lange und über
500 Schritt breite Eiland zog ſich ein Gürtel von Uferſchilf,
darin wildes Geflügel zu Tauſenden niſtete. Dann und wann,
wenn im Grunewald die Jagd tobte, ſchwamm ein geängſteter
Hirſch über die Schmalung an der Südweſtſpitze und ſuchte
Schutz bei der Einſamkeit der Inſel.


So war es unter den Joachims, auch noch unter dem Gro-
ßen Kurfürſten. Wer nicht ein Jäger war, oder das Schilf
am Ufer ſchnitt, der wußte kaum von einer ſolchen Inſel im
Havelſtrom, die durch alle Jahrhunderte hin namenlos geblie-
ben war.


Erſt 1683, alſo während der letzten Jahre des Großen
Kurfürſten, trat die namenloſe Inſel, die inzwiſchen ein
[145] „Kaninchengehege“ empfangen hatte, als Kaninchenwerder
in die Geſchichte ein, freilich ohne dadurch irgend etwas anders,
als einen Namen gewonnen zu haben. Das Eiland blieb viel-
mehr bis zu der Eingangs erwähnten Epoche (90er Jahre des
vorigen Jahrhunderts) eine abſolute Wildniß, an deren Beſtand
auch ein der Kaninchenherrſchaft unmittelbar folgendes Prospero-
Zwiſchenſpiel nicht das geringſte zu ändern vermochte. Im
Gegentheil, zu dem Wilden geſellte ſich noch das Grusliche,
auch ohne daß von einem Caliban berichtet wird.


Der Prospero war Johann Kunkel, der Alchymiſt. Er
erhielt die Inſel 1685 aus der Hand des Kurfürſten. Bei die-
ſem Zeitabſchnitt verweilen wir zunächſt.


2.
Die Pfaueninſel von 1685—93.
Johann Kunkel
.


„He, Holla, halt,“ ſchreit’s hinter ihm, „wir kennen
euch, nicht von der Stelle!
Hoch euer Galgenmännlein, hoch der kleine rauchige
Geſelle!
Und wieder hoch! und dreimal hoch! Alräunchen, Hütchen
meinetwegen,
Mag’s ferner goldne Eier euch und Andern todte Bälge
legen.“
Annette Droſte-Hülshof.

Johann Kunkel, zu Hütten bei Rendsburg im erſten Viertel
des 17. Jahrhunderts geboren, hatte ſich von Jugend auf der
Alchymie befleißigt, den Stein der Weiſen geſucht, den Phos-
phor
entdeckt und war 1677 in churſächſiſche Dienſte getreten,
wo ihm das für damalige Zeit außerordentlich hohe Gehalt von
1000 Thalern, nebſt Vergütung für alle Materialien, Inſtru-
mente, Gläſer und Kohlen zugeſagt worden war. Er erhielt
aber ſchließlich dieſe Summe nicht ausgezahlt und auf ſeine des-
fallſige Beſchwerde einfach den Beſcheid: „kann Kunkel Gold
Fontane, Wanderungen. III. 10
[146] machen, ſo bedarf er kein Geld; kann er ſolches aber nicht,
warum ſollte man ihm Geld geben?“


Die Verlegenheiten, die ihm daraus erwuchſen, veranlaßten
ihn, einen Ruf an den brandenburgiſchen Hof anzunehmen, frei-
lich unter beſcheideneren Bedingungen, die aber das Gute hatten,
daß ſie gehalten wurden. Der große Kurfürſt ſagte ihm in einer
erſten Unterredung, in der dieſe Dinge zur Sprache kamen:
„Ich kann Euch 1000 Thlr. nicht geben, denn ich gebe mei-
nen Geheimen Räthen nicht mehr; um keine Jalousie zu machen,
ſo will ich Euch geben, was ich meinen Geheimen Kammerdie-
nern gebe.“ So erhielt Kunkel ein Jahresgehalt von 500 Thlr.
Er nahm erſt die Drewitzer Glashütte in Pacht, wurde dann
Compagnon der Glashütte auf dem Hakendamm bei Potsdam,
erfand hier das Rubinglas, das zu ſchönen Pokalen ver-
arbeitet wurde, und erhielt endlich, da es ihm um ein möglichſt
abgelegenes, ſchwer zugängliches Plätzchen für ſeine Arbeiten zu
thun war, in dem ſchon genannten Jahre 1685 den ganzen
Kaninchenwerder (Pfaueninſel) zum Geſchenk. Die Schenkungs-
urkunde beſagte, daß ihm, unter Befreiung von allen Abgaben,
die ganze Inſel erb- und eigenthümlich übereignet, das Recht
des freien Brauens, Backens und Branntweinbrennens zuerkannt
und der Bau einer Windmühle geſtattet werden ſolle, „damit
ſeine Leute nicht gezwungen ſeien, des Backens und Brauens,
des Mahlens und Schrotens halber, die Inſel zu verlaſſen.“
Gleichzeitig wurde er in ſeiner Rubinglas-Fabrikation durch ein
Privilegium geſchützt, wogegen er es übernahm „alljährlich für
50 Thaler Kryſtallgläſer an die Kurfürſtliche Kellerei abzuliefern
und ſeine Glaskorallen nur an die Guinea’ſche Compagnie zu
verkaufen.“


Die Errichtung der Glashütte erfolgte bald darauf an der
nordöſtlichen Seite der Inſel dicht am Ufer. Er erbaute beſon-
dere Oefen, um die beſte Art der Condenſirung des Feuers zu
ermitteln, kein Fremder durfte die Inſel betreten, nur der Kur-
fürſt beſuchte ihn wiederholt, um die Anlage des Ganzen, ſo
[147] wie den Kunſtbetrieb kennen zu lernen. Dabei wurde, über
die Glasfabrikation hinaus, viel experimentirt.


Worauf dieſe Bemühungen gerichtet waren, iſt nicht mit
Sicherheit feſtzuſtellen. Daß es ſich um Goldmachekunſt und
um Entdeckung des Steins der Weiſen gehandelt habe, iſt ſehr
unwahrſcheinlich. Nachweisbar verhielt ſich Kunkel gegen ſolche
Verſuche, wenigſtens wenn ſie von andern ausgingen, ſehr
ablehnend. So entzog ihm denn auch der große Kurfürſt nie
ſeine Gnade, wiewohl die Erfolgloſigkeit, auch die wiſſenſchaft-
liche, aller der damals unternommenen Experimente ſo ziemlich
feſtſteht. Friedrich Wilhelm rechnete (wie Kunkel ihn ſelbſt ſagen
läßt) die daran gewendeten Summen zu ſolchen, die er verſpielt
oder im Feuerwerk verpufft habe. Da er jetzt weniger ſpiele,
ſo dürfe er das dadurch Geſparte an Forſchungen in der Wiſſen-
ſchaft ſetzen.


Mit dem Hinſcheiden des Kurfürſten ſchied aber auch Kun-
kel’s Anſehen, wenigſtens innerhalb der Mark Brandenburg.
Man machte ihm den Prozeß auf Veruntreuung und Unterſchleif
und wenn auch nichts bewieſen werden konnte, eben weil nichts
zu beweiſen war,*) ſo mochte er dennoch von Glück ſagen,
durch eine Aufforderung König Karls XI. von Schweden ſeiner
alten Umgebung entriſſen zu werden. Dies war 1692. Er
ging nach Stockholm, wurde ſchwediſcher Bergrath und unter
10*
[148] dem Namen Kunkel v. Löwenſtern in den Adelsſtand erho-
ben. Er ſtarb wahrſcheinlich 1702.


Sein Laboratorium auf dem Kaninchenwerder hatte nur
allerkürzeſten Beſtand gehabt. Noch vor ſeiner Ueberſiedelung
nach Schweden brannten die Baulichkeiten nieder; — am öſtlichen
Ufer der Inſel finden ſich bis heute einzelne verſtreute Schlacken-
reſte, die ungefähr die Stelle angeben, wo die alchymiſtiſche
„Hütte“ ſtand. Mehr als ein Jahrhundert verging, bevor die
Zauberer-Inſel zu einer Zauber-Inſel wurde.


3.
Die Pfaueninſel unter Friedrich WilhelmIII.
1797—1840.


Mein Herr iſt König im Land,
Ich herrſch’ im Garten der Roſen.
Uhland.

Die Anfänge dazu (zur Zauber-Inſel) fallen bereits in die
Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. Der Schilfgürtel, der
die Inſel vor jedem Zutritt zu bergen ſchien, wurde mittelbar
die Urſach, daß ſich ihre Schönheit zu erſchließen begann. In
dieſem Schilf niſteten nämlich, wie ſchon angedeutet, Tauſende
von Schnepfen und Enten, die den jagdluſtigen König, als er
davon vernommen, erſt bis an den Rand der Inſel, dann auf
dieſe ſelber führten. Einmal bekannt geworden mit dieſer Wal-
desſtille, die ihm bald wohler that als die Aufregungen der
Jagd, lockte es ihn öfter, vom nahen Marmorpalais, zu Kahn
herüber. Aus dem Heiligen See in die Havel, an Sacrow vor-
über, ſteuerte er an heiteren Nachmittagen, umgeben von den
Damen ſeines Hofes, der ihm lieb gewordenen Inſel zu, auf
deren ſchönſter Waldwieſe die reichen orientaliſchen Zelte, die
ihm irgend ein Selim oder Mahmud geſchenkt hatte, bereits
vorher ausgeſpannt worden waren. Die Muſik ſchmetterte; Tänze
[149] und ländliche Spiele wechſelten ab; ſo vergingen die Stunden.
Erſt mit der ſinkenden Sonne kehrte man nach dem Marmor-
Palais zurück.


Solche Luſt gewährten dem Könige dieſe Fahrten nach der
ſtillen, nahe gelegenen Waldinſel, daß er ſich im Jahre 1793
entſchloß, dieſelbe vom Potsdamer Waiſenhauſe, dem ſie durch
eine Schenkung Friedrich Wilhelms I. zugefallen war, zu kaufen.
Dies geſchah und ſchon vor Ablauf von drei Jahren war das
Eiland zu einem gefälligen Park umgeſchaffen, mit Gartenhaus
und Meierei, mit Jagdſchirm und Federviehhaus und einem
Luſtſchloß an der Nordweſtſpitze. Die Zeichnung zu dieſem
Luſtſchloß, ſo wird erzählt, rührte von der Gräfin Lichtenau
her, die das Motiv dazu, während ihrer Reiſe in Italien,
einem verfallenen Schloß entnahm, das zwei, oben mit einer
Brücke verbundene Thürme, unten aber, zwiſchen den beiden
Thürmen, ein großes Bogenthor zeigte. Wir halten dieſe Erzäh-
lung für glaubhaft, trotzdem Kopiſch ſie bezweifelt. Die
Lichtenau dilettirte in Kunſtſachen und nicht ganz ohne Talent.
Esprit und Geſchmack zählen zu den Vorrechten aller Damen
aus der Schule der Laïs.


Der Bau des Schloſſes begann; aber noch eh’ dieſes und
anderes ſeinen Abſchluß gefunden hatte, ſtarb der König und
die Annahme lag nahe, daß auch die nun zurückliegenden zehn
Jahre unter Friedrich Wilhelm II., genau wie die neun Jahre
unter Kunkel, zu einer bloßen Epiſode im Leben der Pfauen-
inſel werden würden. Es kam indeſſen anders. Friedrich Wil-
helm III., in allem gegenſätzlich gegen ſeinen Vorgänger und
dieſen Gegenſatz betonend, machte doch mit Rückſicht auf die
Pfaueninſel eine Ausnahme und wandte ihr von Anfang an
eine Gunſt zu, die, bis zur Kataſtrophe von 1806, alles
daſelbſt Vorhandene liebevoll pflegte, nach dem Niedergange der
napoleoniſchen Herrſchaft aber dieſen Fleck Erde zu einem ganz
beſonders bevorzugten machte. Ohnehin zu einem contemplativen
Leben geneigt, fand der König, aus den Stürmen des Krieges
heimgekehrt, die Einſamkeit dieſer Inſel anziehender denn zuvor.
[150] Was ihm Paretz zu Anfang ſeiner Regierung geweſen war, das
wurde ihm die Pfaueninſel gegen den Schluß hin. Man ſchritt
zu neuen Anlagen und war bemüht, den Aufenthalt immer
behaglicher zu geſtalten. Viele Anpflanzungen von Geſträuchen
und Bäumen, darunter Rothtannen und Laubhölzer aller Art,
fanden ſtatt. Wildfliegende Faſanen machten ſich heimiſch auf
der Inſel; neue Bauten wurden aufgeführt. Eine mit Kupfer
beſchlagene „Fregatte“ traf ein, die der Prinz-Regent dem
Könige Friedrich Wilhelm III. zum Geſchenk gemacht hatte;*)
ein ruſſiſcher „Rollberg“ (Rutſchbahn) entſtand; ruſſiſche Schau-
keln ſetzten ſich in Bewegung. 1821 wurde ein Roſenſortiment
aus der Nachlaſſenſchaft des Dr. Böhm für eine erhebliche
Summe Geldes gekauft und in vier Spreekähnen von Berlin
aus nach der Pfaueninſel geſchafft. Die Ueberführung dieſer
Sammlung gab Anlaß zur Anlage eines Roſengartens, der
alsbald 140 Quadratruthen bedeckte und 3000 hoch- und halb-
ſtämmige Roſen, dazwiſchen ungezählte Sträucher von Centifo-
lien, Noiſetten und indiſchen Roſenarten umſchloß.


Ziemlich um dieſelbe Zeit wurde ein Waſſerwerk mit
einer Dampfmaſchine errichtet, lediglich um ein großes Reſervoir
zu ſpeiſen, aus dem nun der ſandige Theil der Inſel bewäſſert
werden konnte. Damit war Lebensblut für alle dar-
auf folgenden Verſchönerungen gegeben
.


1828, nachdem viele Geſchenke und Ankäufe voraus-
gegangen, ward auch eine reizende, alle Thierarten umfaſſende
„Menagerie“ erworben. Sie wurde hier, wenn auch noch
den Namen nicht führend, wie von ſelbſt zu einem zoologi-
ſchen Garten
, da Lenné, feinen Sinnes und verſtändniß-
voll, von Anfang an bemüht geweſen war, den einzelnen
Käfigen und Thiergruppen immer die paſſendſte landſchaftliche
[151] Umgebung zu geben. 1830 wurde auch das Palmenhaus
errichtet.


Das kleine Eiland ſtand damals auf ſeiner Höhe. „Eine
Fahrt nach der Pfaueninſel (ſo durfte Kopiſch wohl ſchreiben)
galt den Berlinern als das ſchönſte Familienfeſt des Jahres und
die Jugend fühlte ſich überaus glücklich, die munteren Sprünge
der Affen, die drollige Plumpheit der Bären, das ſeltſame
Hüpfen der Känguruhs hier zu ſehn. Die tropiſchen Gewächſe
wurden mit manchem Ach! des Entzückens bewundert. Man
träumte in Indien zu ſein und ſah mit einer Miſchung von
Luſt und Grauen die ſüdliche Thierwelt: Aligatoren und
Schlangen, ja das wunderbare Chamäleon, das opaliſirend oft
alle Farben der blühenden Umgebung wiederzuſpiegeln ſchien.“
Meine eigenen Kindheitserinnerungen, wie ich ſie Eingangs aus-
geſprochen, finden hier ihre Beſtätigung.


4.
Die Pfaueninſel 15. Juli 1852.


Und Stille, wie des Todes Schweigen

Liegt überm ganzen Hauſe ſchwer.

„Die Kraniche des Ibykus.“

Mit 1840 ſchied die Pfaueninſel aus der Reihe der herr-
ſchenden Lieblingsplätze aus; Friedrich Wilhelm IV. griff auf die
Fridericianiſche Zeit zurück und Sansſouci ſammt ſeinen Depen-
dencien belebte ſich wieder. Das Roccoco-Schloß, das der
Lichtenau ihre Entſtehung verdankte, zerfiel nicht, aber es kam
außer Mode und wie man die Jahrzehnte vorher gewallfahrtet
war, um den Roſengarten der Pfaueninſel zu ſehn, ſo führte
jetzt die Eiſenbahn viele Tauſende hinüber, um, zu Füßen von
Sansſouci, die Roſenblüthe in Charlottenhof zu bewundern.
Die Pfaueninſel kam außer Mode, ſo ſagt’ ich, aber wenn ſie
auch nicht Sommerreſidenz mehr war, ſo zählte ſie doch noch
[152] zu jenen Havelplätzen, wo Friedrich Wilhelm an Sommeraben-
den zu landen und in Stille, bei untergehender Sonne, ſeinen
Thee zu nehmen liebte. Ein ſolcher Sommerabend war auch
der 15. Juli 1852. Wir berichten näher über ihn.


Kaiſer Nicolaus war am preußiſchen Hofe zu Beſuch ein-
getroffen. Ein oder zwei Tage ſpäter erſchien Demoiſelle Rachel
in Berlin, um daſelbſt ihr ſchon 1850 begonnenes Gaſtſpiel zu
wiederholen. Friedrich Wilhelm IV., mit ſeinem kaiſerlichen
Gaſte in Potsdam verweilend, als er von dem Eintreffen der
berühmten Tragödin hörte, gab dem Hofrath Schneider Auftrag,
dieſelbe für eine Pfaueninſel-Vorſtellung zu engagiren. Ueber
dieſen allgemein gehaltenen Auftrag hinaus wurde nichts ange-
ordnet. Die nöthigen Schritte geſchahen; die Rachel, die natür-
lich ein Auftreten im Neuen Palais oder doch mindeſtens im
Stadttheater erwartete, ſagte zu.


Am Nachmittage des feſtgeſetzten Tages traf die Künſtlerin,
in Begleitung ihres Bruders Raphael, auf dem Bahnhofe zu
Potsdam ein. Hofrath Schneider empfing ſie.


Die Situation dieſes letzteren, der, trotz aller Bemühungen
nicht im Stande geweſen war, beſtimmtere Ordres, eine Art
Feſtprogramm, zu extrahiren, war inzwiſchen eine ziemlich pein-
liche geworden. Die Tragödin verlangte Auskunft über alles,
während ſolche über nichts zu geben war. Als ihr ſchließlich,
auf immer direkter geſtellte Fragen, geſagt werden mußte, daß
es an all und jeder Vorbereitung fehle, daß alles in die Macht
ihrer Erſcheinung und ihres Genius gegeben ſei
,
gerieth ſie in die höchſte Aufregung, faſt in Zorn, und drohte,
mit einem mehrfach wiederholten „jamais,“ die Unterhandlun-
gen abzubrechen. Ihr Bruder Raphael beſtärkte ſie in ihrem
Widerſtande. „Eine Bänkelſängerin, eine Seiltänzerin, nie,
nie!“ Sie ſchickte ſich an, mit dem nächſten Zuge nach Berlin
zurückzufahren.


Was thun? Eine Niederlage ohne Gleichen ſchien ſich
vorbereiten zu ſollen. Aber die diplomatiſche Beredtſamkeit des
Unterhändlers wußte ſie zu [vermeiden]. Er erinnerte die Tra-
[153] gödin zunächſt daran, daß Molière in ähnlicher Situation vor
dem Hofe Ludwigs XIV. geſpielt und ſeine größten Triumphe
gefeiert habe, was Eindruck zu machen ſchien; als aber die
Zuflüſterungen des „linken Reiters“ (Bruder Raphael) dennoch
wieder die Oberhand erlangen zu wollen ſchienen, als das Wort
„Bänkelſängerin“ immer von Neuem fiel, griff Hofrath Schnei-
der endlich zu einem letzten Mittel. Er wußte, daß der
berühmten Tragödin ungemein daran lag, in Petersburg — das
ihr, ſeit jenem Tage (1848), wo ſie, von der Bühne herab,
als „Göttin der Freiheit“ die Marſeillaiſe geſungen hatte, ver-
ſchloſſen war — wieder Zutritt zu gewinnen, und dieſer Köder
wurde jetzt nicht vergeblich an die Angel geſteckt. Der diploma-
tiſche Plenipotentiaire ſchilderte ihr mit lebhafteſten Farben,
welch einen Eindruck es auf den Kaiſer machen müſſe, wenn er,
heute Abend auf der Pfaueninſel landend, erfahren würde, „Demoi-
ſelle Rachel habe es abgelehnt zu erſcheinen,“ wie ſich ihr aber
umgekehrt eine glänzende, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit
biete, den Kaiſer zu verſöhnen, hinzureißen, wenn ſie ihrer Zuſage
getreu bleibe. Dies ſchlug durch. „Je jouerai.“


Bedenken, die auch jetzt noch von Viertelſtunde zu Viertel-
ſtunde auftauchten, waren nur wie Wetterleuchten nach dem
Gewitter und wurden mit verhältnißmäßiger Leichtigkeit beſeitigt.
Unter dieſen kleinen Bedenken war das erſte, das laut wurde,
die Coſtümfrage. Nichts war zur Hand, nichts zu beſchaffen.
Ihre eigne Geſellſchaftsrobe half indeſſen über dieſe Verlegenheit
am ehſten hinweg. Sie trug ein ſchwarzes Spitzenkleid. Dies
wurde ohne Mühe zu einem ſpaniſchen Coſtüm hergerichtet.
Ein Theil der koſtbaren Alençons zu einem aufrecht ſtehenden
Kopfputze arrangirt, barg eine blutrothe Roſe; ein ſchwarzer
Schleier, ein iriſcher Kragen, vollendeten die Toilette. So traf
man, nach kurzem Aufenthalte in der Stadt, auf der Pfauen-
inſel ein.


Die Sonne war eben im Untergehn. Noch einmal ein
flüchtiges Stutzen, als auf die Frage: „où jouerai je?“ ſtumm
auf den Raſenfleck hingedeutet wurde, der von rechts her bis
[154] dicht an das Schloß herantritt; — es war indeſſen die Möglich-
keit eines „nein,“ nachdem man bereits bis hierher gediehen
war, ſo gut wie abgeſchnitten, und zwar um ſo mehr, als eben
jetzt der Hof, in ſeiner Mitte der Kaiſer, erſchien und Kreis
ſchließend, links auf dem Kieswege, rechts auf dem Raſenplatze
Aufſtellung nahm. Nach rechts hin, unter den Miniſtern und
Generälen ſtand auch die Rachel.


Es war inzwiſchen dunkel geworden, ſo dunkel, daß ihr
Bruder ein in einer Glasglocke ſteckendes Licht ergriff und an
die Seite der Schweſter trat; ſpäterhin, inmitten der Deklama-
tion, reichte auch das nicht aus und die berühmte Tragödin nahm
dem Bruder das Windlicht aus der Hand, um ſich ſelber die
Beleuchtung zu geben. Ihr Mienenſpiel war ihre Größe. Sie
hatte eine Stelle aus der Athalie gewählt, jene, 5. Akt 5. Scene,
wo ſie dem hohen Prieſter das Kind abfordert:
Ce que tu m’as promis, songe à l’executer:
Cet enfant, ce trésor, qu’il faut qu’on me remette,
Où sont-ils?


Sie ſpielte groß, gewaltig; es war, als ob das Fehlen alles
Apparats die Wirkung ſteigere. Der Genius, ungehindert durch
Flitter und Dekorationen, wirkte ganz als er ſelbſt. Dabei brachen
die Schatten des Abends immer mehr herein; die Luft war lau,
und aus der Ferne her klang das Plätſchern der Fontainen.


Alles war hingeriſſen. Zumeiſt der König. Kaum minder
ſein Gaſt, der Kaiſer. Er trat an die Tragödin heran:
J’espère de vous voir à Petersbourg.
Mille remerciments; mais … Votre Majesté …
Je vous invite, moi.


Die kaiſerliche Einladung war ausgeſprochen, das Ziel
erreicht, der große Preis des Abends gewonnen.


Eine Viertelſtunde ſpäter, in lampiongeſchmückten Gondeln,
kehrte der Hof, der auf eine kurze Stunde die Pfaueninſelſtille belebt
hatte, wieder in die jenſeit der breiten Havelfläche gelegenen Schlöſ-
ſer zurück, nach Glienicke, nach Sansſouci, nach dem Neuen Palais.
An der Stelle aber, an der an jenem Abend die Rachel geſprochen
[155] und einen ihrer größten Triumphe gefeiert hatte, erhebt ſich jetzt,
auf ſchlankem Poſtament, eine Statuette der Künſtlerin, einfach
die Inſchrift tragend: den 15. Juli 1852.


5.
Frau Friedrich.


Herr Friedrich ſaß auf Sansſouci,

Den Krückſtock, den vergaß er nie;

Frau Friedrich findet’s à propos

Und ſagt: ich mach’ es ebenſo.

Demoiſelle Rachel iſt hinüber, Frau Friedrich lebt noch.
Ihre goldene Hochzeit liegt hinter ihr, ſie ſteht vor ihrer dia-
mantnen. Funfzig Jahre Inſelherrſchaft haben ihren Namen
an den Namen dieſes ſtillen Eilands gekettet. Und welche
Herrſchaft! Das abſoluteſte car tel est notre plaisir,hier
hatte es ſeine Stätte.


Aber wer iſt Frau Friedrich? In Potsdam kennt ſie
jeder; jeder hat ihr gehuldigt, jeder wenn er auf der Inſel
landete, hat ihr einen allerfreundlichſten Guten Tag geboten
und nach ihren Mienen geſehn, um zu wiſſen, ob gutes oder
ſchlechtes Wetter ſei. Das Schickſal ganzer Landpartien hing
an dem Zwinkern dieſer Augen; ein heitres Blinzeln bedeutete
den beſten Kaffee, eine einzige Krähenpfote ſtrich einen Nach-
mittag aus dem Leben harmloſer Mitmenſchen, und warf ſie
der Enttäuſchung, unter Umſtänden dem Hunger in die Arme.
Frau Friedrich war eine Macht. Sie iſt es noch. Aber noch
einmal, wer iſt Frau Friedrich?


Sie iſt die Frau des gleichnamigen Maſchinenmeiſters.
In einem früheren Abſchnitt dieſes Pfaueninſelkapitels haben
wir erzählt, daß um 1822 ein Waſſerwerk angelegt wurde,
das zunächſt ein großes Reſervoir ſpeiſend, mit Hülfe dieſes die
Aufgabe hatte, die ſandigen Stellen der Inſel zu bewäſſern und
fruchtbar zu machen. Dieſes Waſſerwerk nun bedurfte einer
[156] Maſchine und die Maſchine wiederum eines Maſchinenmeiſters,
wozu ein junger Straßburger Mechaniker, ein Düftelgenie, einer
aus der großen Familie der perpetuum-mobile-Erfinder, aus-
erſehen wurde. Er hieß Friedrich und bekleidete bis zu ſeiner
Ernennung zum Pfaueninſel-Maſchinenmeiſter, das Amt eines
Maſchiniſten und Verſenkungskünſtlers am Königſtädtſchen Thea-
ter. Wie er zu dieſem Amt gekommen, was ihn überhaupt an
Spree und Havel gekettet und ſeinem „o Straßburg“ ungetreu
gemacht hatte, darüber ſind nur noch Vermuthungen geſtattet,
die aber ſchwerlich weit vom Ziele treffen, wenn ſie die Löſung
des Räthſels in einer quicken, von Lenzen oder Havelberg nach
Berlin verzogenen Priegnitzerin ſuchen, die ſchon damals die
wenigſtens partielle Eroberung des Elſaß anſtrebte. Und, wie
ſich von ſelbſt verſteht, mit Erfolg. Die märkiſchen Mädchen
ſetzen durch, was ſie wollen, und halten feſt, was ſie haben.
Zumal die Fremden erliegen ihrer Zauberkunſt. Los iſt noch
keiner gekommen. Ein neues Kapitel für die Dämonologie.


Wenn es nun je einen Elſaſſer gab, der einer Priegnitzerin
von allem Anbeginn an rettungslos verfallen war, ſo war es
unſer Freund Friedrich; in kürzeſter Friſt waren die bindenden
Worte geſprochen, die Ringe getauſcht, und nachdem er noch
eine kurze Zeit lang am Königſtädtſchen Theater gedonnert und
geblitzt hatte, intervenirte plötzlich die mehrerwähnte Dampf-
maſchine und hob eines Tages nicht nur 6000 Tonnen Waſſer
in das Reſervoir hinein, ſondern auch noch unſern Theater-
maſchiniſten ſammt Frau in das Maſchinenmeiſterhaus auf der
Pfaueninſel. Da ſetzte ſie beide nieder und da ſitzen ſie noch.
Da ſitzen ſie in einem gelben Hauſe, am Hügelabhang unter
Pfeifenkraut und Gaisblattlauben, da ſitzen ſie ſeit nahezu
50 Jahren, erſt mit Kindern, dann mit Enkeln, zuletzt mit
Urenkeln geſegnet, und wiewohl als echte Inſelbewohner unbe-
kümmert um die Vorgänge des Continents, haben ſie doch die
Potentaten des Feſtlandes, die großen und die kleinen, ihrer-
ſeits
empfangen und in langer Reihe an ihrem Hauſe und
ihrer Gartenbank vorüberziehen ſehn. Gute, glückliche Leute,
[157] loyal und frei. Frei. Da liegt’s. Auf dieſer Freiheit, die zu
erheblichem Theile ſich auf dem wichtigen Paragraphen:
„Wirths- und Kaffeehäuſer ſind unzuläſſig an dieſer Stelle“
aufbaute, gründete Frau Friedrich ihre Pfaueninſel-Herrſchaft.
Alles, was hier landete, wenn es ſeinen Schloßgang hinter ſich
hatte, hatte das dem norddeutſchen Menſchen tief innewohnende
Bedürfniß des Nachmittagskaffee, und da kein Platz da war,
wo dies Bedürfniß regelrecht, nach den alten Traditionen von
Angebot und Nachfrage befriedigt werden konnte, ſo blieb den
Durſtigen nichts übrig, als um Dinge zu bitten, die nun
mal nach Lage der Sache nicht beordert und befohlen werden
konnten. So wurde das Maſchinenmeiſterhaus ein Kaffeehaus
von Frau Friedrichs Gnaden und aus dieſer eigenthüm-
lichen Machtſtellung entwickelte ſich ſchließlich jener Abſolutismus,
der wohl gelegentlich, wie alle unumſchränkte Herrſchergewalt,
ein wenig bedrücklich empfunden worden iſt. Um keinen Louis-
Quatorze
iſt 50 Jahre lang ſo andauernd geworben worden,
wie um dieſenl’état c’est moi. Die weibliche Trägerin dieſes
Satzes verkaufte nicht, ſie ſpendete nur. Ein kleinſter Verſtoß,
ein zu ſicheres Auftreten, eine zu früh gezeigte Börſe, eine
Cravatte, deren Farbe mißfiel, und — die Gnade konnte ent-
zogen werden. Man trank hier ſeinen Kaffee immer mit Augen
links, immer lächelnd, immer die Hand am Hut und vielleicht
ſchmeckte er nur deshalb ſo vorzüglich, weil er wirklich theuer
erkauft und errungen war.


Dies alles traf nun aber blos den Namenloſen, den
Unbekannten, der führerlos an dieſe Küſte verſchlagen, des Vor-
zugs entbehren mußte, der Frau Friedrich vorgeſtellt, oder
irgendwie empfohlen zu ſein. Ueber alle dieſe (Hazardeurs,
wiſſentlich oder nicht) brach es gelegentlich herein. Die Kugel
rollte; roth oder ſchwarz; wer wollte ſagen, wohin ſie fiel.
Aber die Billigkeit erzwingt doch gleicherzeit das Anerkenntniß,
daß das Geſetz des Introducirtſeins nicht mit Strenge gehand-
habt wurde und daß im Großen und Ganzen jeder ein
Empfohlener war, der ſich — nach den Traditionen des alten
[158] Preußens — durch Epaulette oder Orden beglaubigen konnte.
Waren es nun gar Perſonen, die dem Königshauſe „verwandt
oder zugethan“ waren, ſo brach die Loyalität in hellen Flam-
men ſiegreich durch. Die Liebenswürdigkeit der Frau Friedrich
wetteiferte an ſolchem Tage mit ihrer Kochkunſt, und ihr mär-
kiſch-ſchlagfertiger Witz that das Weitere, um das Maſchinen-
meiſterhaus bei den hohen Beſuchern in gutem Andenken zu
erhalten. Traditionell pflanzte ſich alsbald die Sitte fort, die-
ſem Andenken einen ganz beſtimmten Ausdruck zu leihn: ein
Milch- oder Sahnentopf wurde „zur Erinnerung an eine
froh verlebte Kaffeeſtunde“ bei Frau Friedrich abgegeben.
Daraus entſtand denn im Laufe eines Menſchenalters ein Por-
zellan-Cabinet, wie es die Welt wohl nicht zum zweiten Male
geſehen hat, eine Topf-Collection, neben der die berühmteſten
Pfeifenſammlungen verſchwinden. Das Aufſtellungs-Lokal war
und iſt natürlich die Küche (ein Schmuckkäſtchen an Sauberkeit)
und an allen Boden und Realen hin, in Schränken und
Ständern, als Garnirung von Wand und Rauchfang, hängen
an Nägeln und Häkchen an 200 Töpfe und Töpfchen. Alle
ein Souvenir
. Jede Form und Farbe, jedes denkbare
Material, jede Art der Verzierung iſt vertreten. Endlos wech-
ſeln weiß und blau, und grün und gold; Glas, Biscuit,
Chauſſeeſtaub geſellen ſich dem Gros des eigentlichen Porzellans,
das wiederum ſeinerſeits zwiſchen China und Frankreich, zwi-
ſchen Meißen und Sèvres hin- und herſchwankt. Hautrelief
und Basrelief, bemalt und gekratzt, ſo präſentiren ſich die
Ornamente. Zahlreich ſind die Portaits, noch zahlreicher
die Schlöſſer vertreten, und zwiſchen Prinzen und Prinzeſ-
ſinnen, zwiſchen Marmor- und Neuem Palais, erſcheinen
Vater Wrangel und Miniſter v. d. Heydt; der letztere ſogar
in Begleitung eines Pfauenpaares. Schon in den 50er Jah-
ren war die Zahl der Bildniſſe ſo groß, daß König Friedrich
Wilhelm IV., als er in neckiſchem Geplauder um einen Por-
traitkopf gebeten wurde, repliciren konnte: „Sie haben hier
meine Miniſter und Generale aufgehängt; nun ſoll mir daſſelbe
[159] paſſiren. Ich werde mich hüten.“ Aber die Ablehnung ſelbſt
involvirte bereits eine anderweite Zuſage und zwei Tage ſpäter
hatten zwei Souvenirs von Sansſouci die Sammlung vermehrt.


Dieſe Küche, wie wir nur wiederholen können, iſt einzig
in ihrer Art; es verlohnt (wenn es ſich überhaupt ermög-
licht
) in dieſer eigenthümlichſten aller barocken Por-
trait-Gallerien zu verweilen.


Aber ſo unterhaltlich ein Aufenthalt an dieſer Stelle iſt,
zumal wenn Frau Friedrich ſich herabläßt, aus der Fülle ihres
Erinnerungs- und Anekdotenſchatzes auszuſtreuen und die ganze
Stätte zu beleben, der eigentlichſte Zauber dieſes glücklichen
Fleckchens Erde liegt doch draußen, auf dem ſchmalen Garten-
ſtreifen zwiſchen Haus und Fluß. Ulmen und Linden ſtellen
ſich zu natürlichen Lauben zuſammen und zwiſchen Apfelbäumen
und Blumenbeeten hin führt ein ſchmaler Gang zu einer wein-
umlaubten Waſſertreppe. Hier ſitzt man, während der Wind
über die Levkojenbeete fährt, und genießt die Stunde des Son-
nenunterganges, deſſen reflektirtes Licht eben jetzt die Spitzen
der gegenübergelegenen Kiefern röthet. Das Haveltreiben zieht
beinah geräuſchlos an uns vorüber; Dampfſchiffe, unter glück-
verheißendem Namen (mindeſtens eine Fortuna, oft eine Vic-
toria) ſchießen auf und ab; Segelſchiffe ſchwer und langſam
dazwiſchen; nun Gondeln mit Muſik, und drüben ſchweigend
der Wald, aus dem die Hirſche treten.


Der Abend kommt, die Nebel ſteigen, die Kühle mahnt
zur Rückfahrt; unſer Boot ſchiebt ſich zwiſchen das Rohr und
wieder hinaus. Hinter uns, die verſchleierte Mondſichel über
den Bäumen, verſinkt das Eiland. Mehr eine Feen- als eine
Pfauen-Inſel jetzt!


[[160]]

Groß-Glinicke.


In dunkler Gruft

Das Gebein;

In Licht und Luft

Der aufgerichtete Marmelſtein.

Was ungemeſſen

Vielleicht geſtrebt,

Es iſt vergeſſen, —

Nur das Bild noch lebt.

Die Havelufer, links und rechts des Fluſſes, weiſen ſtrich-
weiſe einen guten Lehmboden (im Wendiſchen: Glin, der Lehm)
auf, weshalb wir in allen hier in Betracht kommenden Landes-
theilen, alſo in Havelland, Zauche, Teltow, vielfach den Orts-
bezeichnungen: Glin, Glindow, Glinicke begegnen. In un-
mittelbarer Nähe von Potsdam, zu Füßen von Babelsberg, liegt
Klein-Glinicke mit ſeinen Schlöſſern und ſeiner Brücke; weiter
nördlich, halben Wegs zwiſchen Potsdam und Spandau, treffen
wir Groß-Glinicke, Rittergut; Filiale von Cladow; 279
Einwohner. Darunter, wie die Nachſchlagebücher gewiſſenhaft
bemerken, zwei Katholiken. Dieſe werden es ſchwer haben, ſich
paritätiſch zu behaupten.


Groß-Glinicke wird 1300 zuerſt genannt; um die Mitte
des 15. Jahrhunderts finden wir die Bamme’s hier, eine
alte, weſthavelländiſche Familie. In Groß-Glinicke ſaßen ſie
nicht allzulange. Schon 1572 erſcheinen die Ribbecks, zuerſt
Oberhofmeiſter Jürgen v. Ribbeck; dann folgen zweihun-
dert Jahre ſpäter die Winnings. Seit 1846 (nach ande-
rer Angabe 1836) gehört das Gut der Familie Berger.


[161]

Es ſoll hier manches erlebt worden ſein, namentlich unter
den Winnings; die Kirche aber erzählt nur von den Rib-
becks
.


Beim Eintreten in dieſelbe überraſcht die verhältnißmäßig
große Zahl von Bildwerken, namentlich in Stein.


An der Wand uns gegenüber bemerken wir, dicht neben-
einander, die Epitaphien zweier Hans Georg v. Ribbeck, Vater
und Sohn. Der Vater, noch der Schwedenzeit angehörig, der
Sohn aus der höfiſchen, franzöſirten Zeit Friedrichs I. Eben
dieſen Unterſchied zeigen auch die hautrelief-artigen Steinbilder.
Der ältere Hans Georg, in Bruſtharniſch und Beinſchienen,
wie ein Derfflingerſcher Reiterführer; der jüngere in einem
Roquelaur mit mächtigen Aufſchlägen und Seitentaſchen, auf
dem Haupt eine Kappe von Scharlach-Sammt, faſt in Form
einer Biſchofsmütze. Das Ganze in einem beſtimmten, künſtlich
gegebenen Farbenton; die Kappe roth gemalt. Dieſer jüngere
Hans Georg war ein brandenburgiſcher Domherr, vielleicht auch
— wenn ich das Bild richtig interpretire — ein Mann der
Wiſſenſchaft. Er tritt, einen Vorhang zurückſchlagend, aus dieſem
hervor und legt ſeine Rechte auf einen Schädel. Das Ganze
eine vortreffliche Arbeit, und in Auffaſſung wie techniſcher
Durchführung an das berühmte Sparr-Denkmal in unſrer Ber-
liner Marien-Kirche erinnernd.


Beide Hans Georg v. Ribbeck finden wir auch in der
Gruft der Kirche wieder. Wie ſie im Schiff, in bildlicher Dar-
ſtellung, nebeneinander ſtehen, ſo liegen ſie hier nebeneinander.
Wohlerhalten, denn die Groß-Glinicker Gruft gehört zu den
vielen in der Mark, in denen die beigeſetzten Leichen zu Mumien
werden. Wir ſteigen hinab. Der Sargdeckel des zuvorderſt
ſtehenden Hans Georg (des Domherrn) ließ ſich ohne Mühe
aufheben. Da lag er, in Roquelaur und rother Sammtkappe,
in allem Aeußerlichen von beinahe geſpenſtiſcher Aehnlichkeit mit
dem Hautreliefbilde, das ich eben im Schiff der Kirche geſehen
hatte. Ganz erſichtlich hat man bei einer erſt kürzlich ſtatt-
gehabten Uebermalung die Gruft zu Rathe gezogen und das
Fontane, Wanderungen. III. 11
[162]Mumienbild, wenn dieſer Ausdruck geſtattet iſt, bei Reſtau-
rirung des Steinbildes benutzt.


Kirche und Gruft enthalten übrigens der Epitaphien und
Särge mehr, beiſpielsweiſe einer Frau v. Ribbeck, geb. Brand
v. Lindau, einer Frau v. Lattorff, geb. v. Grävenitz, die alle
dem vorigen Jahrhundert angehören, aber weder künſtleriſch noch
hiſtoriſch eine beſondere Aufmerkſamkeit verdienen.


Ein Intereſſe erweckt nur noch das Altarbild, richtiger die
Pedrelle deſſelben, die, wie ſo oft, ein Abendmahl darſtellt.
Chriſtus in der Mitte, Johannes neben ihm; neben dieſem aber,
ſtatt des Petrus, der große Kurfürſt. Er trägt Allongen-
perrücke, dunkles, enganſchließendes Sammtkleid, Spitzenman-
ſchetten und Feldbinde. Die wunderlichſte Art von Huldigung,
die mir der Art vorgekommen iſt. Was wollen die anbetenden
Donatoren auf den Madonnenbildern des Mittelalters daneben
ſagen! Sie knieen doch immer zu Füßen der Madonna, oder
verdrängen wenigſtens Niemand; hier wird Petrus,
wie eine Schildwacht, einfach abgelöſt, und der große Kurfürſt
zieht ſtatt Seiner auf.


[[163]]

Der Schwilow.


Mit der Waſſer Steigen ſteigt auch das
Gefühl ihm ſeiner Kraft,
Und der Damm, er iſt zertrümmert, und durch-
brochen iſt die Haft.
„Der Wenerſee.“
Sieh den Schwan,
Umringt von ſeiner frohen Brut,
Sich in den rothen Wiederſchein
Des Himmels tauchen! Sieh, er ſchifft,
Zieht rothe Furchen in die Fluth,
Und ſpannt des Fittigs Segel auf. (Irin.)
Ewald v. Kleiſt.

Der Schwilow iſt eine Havelbucht im großen Stil wie
der Tegler See, der Wann-See, der Plaueſche See. Alle-
ſammt ſind es Flußhaffe, denen man zu Ehre oder Unehre den
Namen „See“ gegeben hat. In etwaige Rangſtreitigkeiten treten
wir nicht ein; ſie mögen unentſchieden bleiben wie andere
mehr.


Unter allen Havelbuchten, welchen Namen ſie immer führen
mögen, iſt der Schwilow die größte und ſehr wahrſcheinlich auch
die neueſte. Vielleicht zählt dies weite Waſſerbecken noch keine
tauſend Jahre, keinenfalls geht es weit in die Vorgeſchichte
zurück. Mannichfachen Anzeichen nach ging in den erſten Jahr-
hunderten unſerer Zeitrechnung die ſüdliche Ausbuchtung der
Havel nur etwa eine Meile über Potsdam hinaus und ein Erd-
wall, über deſſen Ausdehnung und Beſchaffenheit es nutzlos wäre
zu conjecturiren, ſchob ſich etwa in die Höhe des Dorfes Caput
trennend zwiſchen die höher gelegene Havel im Norden und
ein tiefer gelegenes Moorland im Süden. Da, in einer Sturm-
nacht, ſtauete ein Südweſt die ihm entgegenfließenden Havel-
11*
[164] waſſer bis an die Potsdamer Enge zurück und plötzlich um-
ſchlagend in einen eiſigen Nord-Nord-Oſt ſtieß er die auf-
gethürmte Waſſermaſſe mit ſolcher Gewalt gegen den Erdwall,
daß dieſer zerbrach und die bis dahin abgedämmten Havel-
waſſer wie aus einem Schleuſenwerk ſich in das tiefer gelegene
Moorbecken ergoſſen. In jener Nacht wurde der Schwilow
geboren.


Im Einklange hiermit iſt es, daß die weite Waſſerfläche,
die jetzt dieſen Namen führt, mehr durch ihre Maſſe als durch
ihre Tiefe imponirt; der Schwilow hat ganze Striche, wo man
Grund fühlen, noch andere, wo man ihn durchwaten kann.
Unter allen unſren Seen kommt er dem Müggelſee am nächſten.
An Fläche und Ausdehnung dieſem Könige der märkiſchen Ge-
wäſſer nah verwandt, weicht er im Charakter doch völlig von
ihm ab. Die Müggel iſt tief, finſter, tückiſch, — die alten
Wendengötter brauen unten in der Tiefe; der Schwilow iſt
breit, behaglich, ſonnig und hat die Gutmüthigkeit aller breit
angelegten Naturen. Er hält es mit leben und leben laſſen;
er haßt weder die Menſchen noch das Gebild aus Menſchenhand;
er iſt das Kind einer andern Zeit und der Chriſtengott pochte
vielleicht ſchon an die Thore, als er in’s Daſein trat.


Der Schwilow iſt gutmüthig, ſo ſagten wir; aber wie alle
gutmüthigen Naturen kann er heftig werden, plötzlich, beinahe
unmotivirt, und dann iſt er unberechenbar. Eben noch lachend,
beginnt ein Kräuſeln und Drehen, nun ein Wirbel, ein Auf-
ſtäuben, ein Gewölk — es iſt, als führe eine Hand aus dem
Trichter, und was über ihm iſt, muß hinab in die Tiefe. In
ſolchen Augenblicken giebt er der Müggel nichts nach. Es giebt
ganze Linien, wo die geſcheiterten Schiffe liegen.


Ihn zu befahren in ſeiner ganzen Breite, war ſeit lange
mein Wunſch. Heute bot ſich die Gelegenheit. Der Wind war
gut, ein regelrechter Südoſt. An der Fährſtelle zu Caput lag
das Boot; grün und weiß die Planken und Ruder; das Segel
war noch an den Maſt gebunden. Wir ſtiegen ein zu Dritt,
mit uns die Söhne des Fährmannes, drei junge Caputer Mid-
[165] ſhipmen zwiſchen 10 und 14, die auf dem Schwilow für den
vaterländiſchen Dienſt ſich vorbereiten, wie einſt der Peipus die
hohe Schule war für die werdende ruſſiſche Flotte. Sie hatten
bereits die Ruhe des Seemanns; dazu blaue Mützen mit Gold-
ſtreif und den Anker daran. Der Aelteſte nahm den Platz am
Steuer; nun los die Bänder, der Wind fuhr in das flatternde
Segel und wie ein Pfeil glitten wir über die breite Fläche hin.
Der Fährmann, eine prächtige Geſtalt, ſtand am Ufer und
wünſchte gute Fahrt. Wir gaben Antwort mit Hohiho und
Mützenſchwenken.


Eine Weile ging das Geplauder, aber bald wurden wir
ſtill. Wir waren jetzt in der Mitte des Sees, die Sonne ſtand
hinter einem Gewölk, ſo daß alles Glitzern und Blenden auf-
hörte, und nach links hin lag jetzt in Meilentiefe der See. Ein
Waldkranz, hier und da von einzelnen Pappeln und Ziegeleſſen
überragt, faßte die weiten Ufer ein; vor uns, unter Parkbäumen,
Petzow und Baumgartenbrück, nach links hin, an der Südſpitze
des Sees, das einſame Ferch.


Dieſer einſame Punkt war mit unter den Lieblingsplätzen
Friedrich Wilhelms IV., der in Sommertagen, wenn er Abends
zu Schiff in die Havel-Seen hinausfuhr, gern hier anlegte und
ſeine Theeſtunde in engſtem Kreiſe verplauderte. Noch zeigt
eine umfriedete Stelle den Platz am Abhang, wo er zu ſitzen
und das ſchöne Bild zu überblicken liebte.


Jetzt lag die Breite des Sees hinter uns; noch durch
einen Schilfgürtel hindurch und wir glitten das ſchlammige
Ufer hinauf; nur der Stern des Kahns lag noch im Waſſer.
Hügel anſteigend ſuchten wir eine ſchattige Stelle unter dem
Dach zweier halbzuſammengewachſener Akazienbäume und ſahen
nun hinaus auf die blanke Fläche, auf das Spiel wechſelnder
Farben und auf das ſtille Leben, das darüber hinglitt. Blaue
Streifen zogen ſich durchs Grau, dann umgekehrt, und quer
durch dieſe Linien, über die das Licht hinglitzerte, kamen und
gingen die Schiffe. Die Segel ſtanden blendend weiß in der
Sonne.


[166]

Stunde und Stimmung waren günſtig zum Plaudern.
Unſer Schwilow-Führer nahm das Wort und an den Rand
des Schattens tretend, der unſern Platz umzirkelte, hob er jetzt
geſchäftig an: „Dort, wo Sie den grauen Streifen ſehen, faſt
in der Mitte, aber mehr nach Caput zu, dort liegen die Schiffe,
die der Schwilow hinabgeriſſen; was er hat, das hält er feſt;
er giebt ſie ſchwer wieder heraus. Und doch ſoll er’s, und
doch wird er darum angegangen. Die Verſicherungs-Geſell-
ſchaften ſetzen ihm ſcharf zu und fragen nicht lange, ob er will
oder nicht. Es iſt noch nicht lange, da haben ſie’s wieder ver-
ſucht. In Caput giebt das immer einen Freudentag; ob’s
glückt oder nicht, es bringt uns Geld ins Dorf.


Wie werden denn dieſe Hebungs-Verſuche gemacht?


Das iſt einfach genug. Eines Tages erſcheinen 20 Mann
oder mehr, und mit ihnen kommen zwei große, ſtarke Havel-
kähne, mit hohen Wänden, zugleich mit allerhand Maſchinen
und Hebevorrichtungen an Bord. Nun legen ſich die beiden
Havelkähne zu Seiten des untergegangenen Schiffes, von einem
Kahn zum anderen werden drei ſtarke Bohlenbrücken gelegt und
auf dieſe Brücken drei Drehbaſſen geſtellt. Ein Aſſecuranz-
Taucher, der immer mit zur Stelle iſt und zu den Haupt-
functionären zählt, tritt nun ſeine Niederfahrt an, und unter
dem Rumpf des geſunkenen Schiffes hinweg — an den Stellen,
die oben den drei Brückenlagen entſprechen — zieht er jetzt drei
eiſerne Ketten, die nunmehr jede einzeln zuſammengeknotet und
an dem Krahnhaken befeſtigt werden. Nun beginnen die Dreh-
baſſen ihr Werk. Geht Alles gut und denkt der Schwilow bei
ſich: „nun meinetwegen,“ ſo bringen ſie das Schiff heraus und
halten es zwiſchen den beiden geſunden Kähnen feſt, bis die
Ladung geborgen iſt; iſt aber der Schwilow ſchlechter Laune
und weiß er’s dahin einzurichten, daß der eine Krahn ſchärfer
anzieht als der andere, ſo iſt Alles verloren: das Schiff zer-
bricht, die Ladung geht in die Tiefe und die Trümmer treiben
umher. Wie es mit dem Strandrecht am Schwilow ſteht, kann
ich nicht ſagen.“


[167]

So ging die Rede. Noch manches Wort fiel, vom Ziegel-
betrieb, von Maulbeerbäumen und Seidenzucht, vom Kornhandel
nach Sachſen, vom Weinbau, der einſt an dieſen Hügelhängen
blühte, zuletzt von der Jagd und den Wilderern am Schwi-
low hin.


„Sie treiben’s arg,“ hob unſer Erzähler wieder an. „In
den kleinen Ortſchaften, da, ſüdlich über Ferch hinaus, da ſitzen
ſie; jeder kennt ſie, aber keiner kann es beweiſen. In Kittel
oder Joppe geht es zum Thor hinaus, tauſend Schritt weiter
hin, unter einem dichten Wachholderbuſch, hat er ſeine Büchſe
vergraben; nun holt er ſie aus Moos und Erde hervor und
— der Wilderer iſt fertig. Ja, Ihr Herren Berliner, — und
dabei hob er ſcherzhaft den Finger gegen mich — um Euren
Feſtbraten ſäh’ es ſchlecht aus, wenn die Wilderer nicht wären
und ihren Hals dran ſetzten. Wenn der Rehrücken erſt auf
der Tafel ſteht, ſchmeckt’s keiner mehr, weſſen Blei ihn getroffen.
Manch Einem mundet’s auch wohl um ſo beſſer, je mehr er
weiß, es iſt ſo was wie verbotene Frucht. Aber ſie zu
pflücken, iſt mühevoll; das muß wahr ſein. Der Förſter da
unten iſt ihnen zu hart auf der Spur, der verſteht keinen Spaß,
„du oder ich;“ zwei haben’s ſchon bezahlen müſſen und beide
Male haben ihn die Gerichte freigeſprochen. Es iſt ein eigen
Ding um Menſchenblut. Ich hätt’s nicht gern an meinen
Händen. Aber am Ende, wenn’s hieße: meins oder deins, ich
dächt’ auch lieber: deins.“


Unſer Auge hatte ſich unwillkürlich nach Ferch hinüber-
gerichtet; ein Schuß, der in den weiten Waldungen widerhallte,
durchzitterte uns leiſe. Die Sonne neigte ſich; in einer Viertel-
ſtunde mußte ſie unter ſein. Wir eilten zu unſerm Boot und
nahmen, uns rückwärts ſetzend, unſeren Blick gegen Weſten,
um vom Waſſer aus dem Schauſpiel folgen zu können.


Noch eh wir die Mitte des Sees erreicht, hing der rothe
Ball über dem Sparren- und Schattengerüſt der Zugbrücke von
Baumgartenbrück, während das glühende Spiegelbild der Sonne
nur drei Handbreit tiefer ſtand. Die eine Sonne dicht über
[168] dem Horizont, die andere dicht über dem Waſſer, und nur
der ſchwarze Streifen des Brückengebälks zwiſchen beiden!


Nun unter. Die Nebel fingen an leiſe zu brauen. Ein
Schleier über Waſſer und Wald; Ferch dämmerte immer unbe-
ſtimmter herauf; nur am Caputer Ufer war es noch hell.


Welch Bild jetzt! Da wo das „Gemünde,“ das tiefgehende
eigentliche Fahrwaſſer, das aus der Havel in den Schwilow
führt, ſich als ein blauer Streifen markirt, zogen in langen
Rudeln die Havel-Schwäne; zu beiden Seiten des „Gemün-
des“ aber, an den einfaſſenden ſeichten Stellen Spalier bildend,
blühten in dichten Guirlanden die weißen Teichroſen aus dem
Waſſer auf. In einiger Entfernung war es nicht zu unter-
ſcheiden, wo das Blühen aufhörte und das Ziehen und Schwim-
men begann. Und durch all das Weiß hin, das eben jetzt
einen leiſen Schimmer der ſcheidenden Abendröthe trug, ſchob
ſich unſer Kahn an die Caputer Fähre heran und der Fähr-
mann, am Ufer unſer harrend, hieß uns willkommen und
beglückwünſchte uns als „wieder zurück vom Schwilow.“


[[169]]

Caput.


Wer hat nicht von Caput (ſo heißt das Dorf) gehöret,
Das, in verwichner Zeit, die größte Zier beſaß,
Als Dorothea ſich, die Brandenburg noch ehret,
Das Schloß am Havelſtrom zum Wittwenſitz erlas.
Bellamintes: „das itzt-blühende Potsdam.“
Man hat bei dieſem Schiff das Schiff ſich vorzuſtellen,
Mit dem Cleopatra, in göttlicher Figur
So einer Venus glich, auf Cydnus blauen Wellen
Zu dem Antonius, als ihrem Bachus, fuhr.
Ebendaſelbſt.

Die Sonne war eine halbe Stunde unter, als wir wieder
dieſſeit des Schwilow ſtanden; es war keine Zeit mehr für
Caput; die ſchmale Mondesſichel reichte nicht aus; — die Stunde
war verpaßt. So ſahen wir uns denn vor die Alternative
geſtellt, ob wir, mit der Chance den letzten Zug zu verſäumen,
unſeren Rückweg antreten oder coute qu’il coute in Caput
übernachten wollten. Ich that die entſprechende Frage, meine
Bedenken hinſichtlich des Nachtlagers nicht verſchweigend.


Unſer Führer (der Leſer wird ſich freundlichſt ſeiner ent-
ſinnen) ſah mich leiſe vorwurfsvoll an und erwiderte dann
ruhig: Sie kennen Boßdorf nicht.


Nein.


Nun, es iſt Liebhaberei, daß er hier feſtſitzt. Er hat das
beſte Bier und die beſten Betten. Von allem Andern rede ich
gar nicht. Boßdorf iſt ein Name in dieſen Gegenden.


Gut denn. Alſo Boßdorf!


Dieſe Unterredung war zwiſchen Fährſtelle und Dorf ge-
führt worden; als wir eben ſchlüſſig geworden, hielten wir vor
[170] dem Gegenſtand unſeres Geſprächs. Er reichte vielleicht nicht
voll an die Höhe heran, die ihm der Local-Patriotimus unſeres
Freundes anzuweiſen trachtete, aber er hatte doch, wie ich auf
der Stelle wahrnehmen konnte, die unerläßlichſte aller Wirths-
eigenſchaften: er war freundlich. Sein Bier und ſeine Rede
lullten mich ein und ich ſchlief bis an den hellen Tag. Nur
einmal wacht’ ich auf; ich glaubte in einem Trichter zu liegen
(was auch zutraf) und hatte geträumt, der Schwilow habe mich
in ſeine Tiefe gezogen.


Unter einem Lindenbaum in Front des Hauſes wurde der
Kaffee genommen; die Spatzen muſicirten über mir; endlich,
als ſie ihren Mann durchſchaut, hüpften ſie vom Gezweige nie-
der auf den Tiſch und nahmen, nach dem Maß meiner Gutthat,
an meinem Frühſtück Theil. Ich konnt’ es ohne Opfer thun;
es waren Semmeln in großem Format. Jenſeit des Staketen-
zaunes ging das Leben des Dorfes ſtillgeſchäftig ſeinen Gang:
junges Volk, die Senſe auf der Schulter, eilte zur Maht hin-
aus; Kinder mit Erdbeeren kamen aus dem Walde; Schiffers-
leute, in weiten Theerjacken, ſchritten auf den See zu. Ein
anmuthiges Bild. Ich verſtand jetzt Boßdorf vollkommen und
warum er hier feſtſitzt.


Ein Wagen fuhr vor, ein vollgeſtopfter Kremſer. Vor-
mittagsgäſte; unverkennbar eine animirte Geſellſchaft. Aeltliche
Herren, junge Damen; aber nicht zu jung.


Boßdorf ſprang an den Wagen. Als er wieder an mir
vorbei wollte, ſuchte ich ihn zu faſſen und fragte leiſe: „Pots-
damer?“ Er aber — mit einer Handbewegung, in der ſich
eine Welt widerſtreitender Empfindungen: Dienſteifer und Ge-
ſchmeicheltſein, Verlegenheit und ironiſche Schelmerei ausſprach
— antwortete im Vorüberfliegen: Berliner.


Berliner. Es gereichte meiner Menſchenkenntniß wenig zur
Ehre, dieſe Thatſache auch nur einen Augenblick verkannt zu
haben. Es war Vollblut. Dabei unverkennbar auf einer ſo-
genannten „ernſten Partie“ begriffen.


[171]

Dieſer Ausdruck mag einzelne meiner Leſer überraſchen;
aber es hat ſeine Richtigkeit damit. Es giebt zwei Arten von
Landpartieen. Da ſind zunächſt die heiteren. Sie ſind weit-
hin kenntlich durch ihren ſtarken Procentſatz an Kindern; nie
weniger als die Hälfte. In dem Moment der Landung, wo
immer es ſei, ſcheint die Welt aus lauter weißgekleideten kleinen
Mädchen mit Roſa-Schleifen zu beſtehen. Die Väter beſtellen
den Kaffee; das Auge der Mütter gleitet befriedigt über die
glücklichen Gänſeblümchen hin, von denen immer drei auf den
Namen Anna und ſechs auf den Namen Martha hören. Nun
geht es in die Wieſe, den Wald. Die Parole iſt ausgegeben:
Erdbeeren ſuchen. Alles iſt Friede; die ganze Welt ein Idyll.
Aber ſchon beginnen die dunklen Wetter zu brauen. Mit dem
Eintritt in den Wald ſind die weißen Kleider ihrem Verhäng-
niß verfallen. Martha I. iſt an einem Wachholderſtrauch hängen
geblieben, Martha II. hat ſich in die Blaubeeren geſetzt — wie
Schneehühner gingen ſie hinein, wie Perlhühner kommen ſie
wieder heraus. Der Sturm bricht los. Wer je Berliner Mütter
in ſolchen Augenblicken geſehen, wird die kriegeriſche Haltung
der geſammten Nation begreiflich finden. Die Väter ſuchen zu
interveniren. Unglückliche! Jetzt ergießt ſich der Strom in ſein
natürliches Bett.


Und doch find dies die heitren Landpartieen, denen wir
die ernſten entgegen ſtellen. An dieſen letzteren nehmen Kinder
nie Theil. Es giebt auch rothe Schleifen, aber das Roſa iſt
Ponceau geworden. Man ſpricht in Pikanterieen, in einer Art
Geheimſprache, für die nur der Kreis der Eingeweihten den
Schlüſſel hat. Bowle und Jeu löſen ſich unter einander ab;
unglaubliche Toaſte werden ausgebracht und längſt begrabene
Gottheiten ſteigen triumphirend wieder auf. Sonderbar. Auf
den heitren Landpartieen wird immer geweint, auf den ernſten
Landpartieen wird immer nur gelacht.


Vor mir, am Staket, hielt eine ernſte Landpartie. Zwei
Herren, Fünfziger, mit großen melirten Backenbärten, Lebemän-
ner aus der Schicht der allerneuſten Torf- und Ziegel-Ariſto-
[172] kratie, ſprangen mit berechneter Leichtfüßigkeit vom Wagen und
gaben dadurch Gelegenheit, das im Wagen verbliebene Reſiduum
der Geſellſchaft beſſer überfliegen zu können. Das Meiſte war
Staffage, bloße Najaden und Tritonen, die als Beiwerk, auch
wohl als Folie nothwendig da ſein müſſen, wenn Venus aus
den Wellen ſteigt. Wem die Rolle der letztern oblag, darüber
konnte kein Zweifel ſein. Sie war 30, überthronte das Ganze,
trug das Haar kurz geſchnitten à la Roſa Bonheur und hielt
eine große italieniſche Laute auf ihren Knieen. Uebrigens war
ſie wirklich hübſch; alles im Brunhilden-Styl; dieſelbe weiße
Hand, die jetzt auf der Laute ruhte, hätte auch jeden beliebigen
Stein 50 Ellen weit geſchleudert.


In dieſem Moment, ehe ich noch den Kremſer völlig durch-
muſtert hatte, erſchien Boßdorf mit einem großen Tablet. Es
war ein Morgenimbiß, der für den Reſt des Tages einige Per-
ſpectiven eröffnete: vier Culmbacher, vier Werderſche, mehrere
Cognacs und eine Pyramide von Butterbroten. Alle Macht
iſt ein Magnet; — Boßdorf präſentirte der Lautenſchlägerin
zuerſt. Dieſe, ohne Weiteres, machte eine halbe Schwenkung,
glitt, nicht ohne einen Anflug von Entſagung, über die kleinen
Gläſer hin, nahm eine Culmbacher, prüfte das Verhältniß von
Schaum und Saft, und trank aus. Ohne abzuſetzen. Als ihr
Boßdorf die Butterbrot-Seite des Tablets zudrehte, nickte ſie
abwehrend.


In kürzeſter Friſt war übrigens das Tablet leer (nicht
Alle waren wähleriſch); die Entrepreneurs eilten zu ihren Plätzen;
die Pferde zogen an. Ein Lindenzweig ſtreifte noch huldigend
die Stirn der Primadonna; im nächſten Augenblick verſchwand
der Kremſer in einer Querſtraße des Dorfes. Ich horchte ihnen
nach. Es war mir, als trüge der Wind herüber: „Im Wald,
im ſchönen, grünen Wald“ und dazwiſchen verlorene Lauten-
klänge.


Ich war nun wieder allein und wollte bereits — was
immer einen äußerſten Grad von Verlegenheit ausdrückt — zu
den „Territorien der Mark Brandenburg,“ einer Art märkiſchem
[173] Baedeker, meine Zuflucht nehmen, als das Erſcheinen unſeres
freundlichen Führers vom Tage vorher meiner Verlegenheit ein
Ende machte und mich aus der todten Aufzeichnung in das friſch
pulſirende Leben ſtellte. Wir ſchlenderten am See hin, das
Dorf entlang, an Schloß und Park vorbei; es war eine an-
muthige Vormittagsſtunde, anregend, lebendig, lehrreich.


Caput iſt eines der größten Dörfer der Mark, eines
der längſten gewiß; es mißt wohl eine halbe Meile. Daß es
wendiſch war, beſagt ſein Name. Was dieſer bedeutet, darüber
exiſtiren zu viele Hypotheſen, als daß die eine oder andere viel
für ſich haben könnte. So zweifelhaft indeß die Bedeutung
ſeines Namens, ſo unzweifelhaft war in alten Zeiten die Armuth
ſeiner Bewohner. Caput beſaß keinen Acker, und die große
Waſſerfläche, Havel ſammt Schwilow, die ihm vor der Thür
lag, wurde von den Potsdamer Kiezfiſchern, deren alte Gerecht-
ſame ſich über die ganze Mittel-Havel bis Brandenburg hin
erſtreckten, eiferſüchtig gehütet und ausgenutzt. So ſtand es
ſchlimm um die Caputer; Ackerbau und Fiſcherei waren ihnen
gleichmäßig verſchloſſen. Aber die Noth macht erfinderiſch, und
ſo wußten ſich denn ſchließlich auch die Bewohner dieſes ſchmalen
Uferſtreifens zu helfen. Ein doppeltes Auskunftsmittel wurde
gefunden; Mann und Frau theilten ſich, um von zwei Seiten
her anfaſſen zu können. Die Männer wurden Schiffer, die
Frauen verlegten ſich auf Gartenbau.


Die Nachbarſchaft Potsdams, vor Allem das rapide Wachs-
thum Berlins, waren dieſer Umwandlung, die aus dem Caputer
Tagelöhner einen Schiffer oder Schiffsbauer machte, günſtig, rief
ſie vielleicht hervor. Ueberall an Havel und Schwilow hin ent-
ſtanden Ziegeleien, und die Millionen Steine, die Jahr aus,
Jahr ein am Ufer dieſer Seen und Buchten gebrannt wurden,
erforderten alsbald Hunderte von Kähnen, um ſie auf den Ber-
liner Markt zu ſchaffen. Dazu boten die Caputer die Hand.
Es entſtand eine völlige Kahnflotte, und mehr als 60 Schiffe,
alle auf den Werſten des Dorfes gebaut, befahren in dieſem
Augenblicke den Schwilow, die Havel, die Spree. Das gewöhn-
[174] liche Ziel, wie ſchon angedeutet, iſt die Hauptſtadt. Aber ein
Bruchtheil geht auch havelabwärts in die Elbe und unterhält
einen Verkehr mit Hamburg.


Caput — das Chicago des Schwilow-See’s — iſt aber
nicht bloß die große Handels-Empore dieſer Gegenden, nicht
bloß End- und Ausgangspunkt der Zauche-Havelländiſchen
Ziegel-Diſtricte, nein, es iſt auch Stationspunkt, an dem
der ganze Havelverkehr vorüber muß. Der Umweg durch
den Schwilow iſt unvermeidlich; es giebt vorläufig nur dieſe
eine fahrbare Straße. Eine Abkürzung des Weges (durch
einen Nordcanal) iſt geplant, aber noch nicht ausgeführt. So
wird denn das aus eigenen Mitteln eine Kahnflotte hinaus-
ſendende Caput, das, wenn es ſein müßte, ſich ſelbſt genügen
würde, zugleich zu einem allgemeinen See- und Handelsplatz,
zu einem Hafen für die Schiffe anderer Gegenden, und die
Flottillen von Rathenow, Plaue, Brandenburg, wenn eine Hava-
rie ſie trifft oder ein Orkan im Anzuge iſt, laufen hier an und
werfen Anker. Am lebendigſten aber iſt es auf der Caputer
Rhede, wenn irgend ein großer Feſttag einfällt und alte gute
Sitte die Weiterfahrt verbietet. Das iſt zumal um Pfingſten.
Dann drängt Alles hier zuſammen; zu beiden Seiten des „Ge-
mündes“ liegen 100 Schiffe oder mehr, die Wimpel flattern,
und hoch oben vom Maſt, ein entzückender Anblick, grüßen
hundert Maienbüſche weit in die Ferne.


Das iſt die große Seite des Caputer Lebens; daneben
giebt es eine kleine. Die Männer haben den Seefahrer-Leicht-
ſinn; das in Monaten Erworbene geht in Stunden wieder hin,
und den Frauen fällt nun die Aufgabe zu, durch Bienenfleiß
und Verdienſt im Kleinen die Rechnung wieder ins Gleiche
zu bringen.


Wie wir ſchon ſagten, es ſind Gärtnerinnen; die Pflege,
die der Boden findet, iſt die ſorglichſte, und einzelne Culturen
werden hier mit einer Meiſterſchaft getrieben, daß die „Caput-
ſchen“ im Stande ſind, ihren Nachbarn, den „Werderſchen,“
Concurrenz zu machen. Unter dieſen Culturen ſteht die Erd-
[175] beerzucht obenan. Auch ihr kommt die Nähe der beiden Haupt-
ſtädte zu Statten, und es giebt kleine Leute hier, mit einem
halben Morgen Gartenland, die in 3 bis 4 Wochen 120 Thaler
für Ananas-Erdbeeren einnehmen. Dennoch bleiben es kleine
Leute, und man kann auch in Caput wieder die Wahrnehmung
machen, daß die feineren Culturen es nicht zwingen, und daß
50 Morgen Weizacker nach wie vor das Einfachſte und das
Beſte bleiben. —


Unter Geſprächen, deren Inhalt ich in Vorſtehendem zu-
ſammenzufaſſen ſuchte, hatten wir das Dorf nach Norden hin
paſſirt, und hielten jetzt an einer Havelſtelle, von wo aus wir
über einen parkartigen, grüngemuſterten Garten hinweg auf das
Herrenhaus ſehen konnten, einen Hochparterrebau, mit Souter-
rain und zweiarmiger Freitreppe.


Dies Herrenhaus führt den Namen „Schloß,“ und trotz
beſcheidener Dimenſionen immer noch mit einem gewiſſen Recht,
wenigſtens ſeiner inneren Einrichtung nach. Man geht in der
Mark etwas verſchwenderiſch mit dieſem Namen um und hilft
ſich nöthigenfalls (wie beiſpielsweiſe in Tegel) durch das Dimi-
nutivum: Schlößchen.


Schloß Caput war in alten Zeiten Rochowiſch. Im dreißig-
jährigen Kriege zerfiel es oder wurde zerſtört, und erſt von
1662 an erſtand hier ein neues Leben. In dieſem Jahre ging
Caput, Dorf wie Schloß, in den Beſitz des großen Kurfürſten
über und verblieb, ein kurzes Vorſpiel abgerechnet, auf das
wir des Weiteren zurückkommen (wir meinen die Zeit de Chiezes),
150 Jahre lang bei der Krone. Eine lange Zeit. Aber die
Zeit ſeines Glanzes war um ſo kürzer und ging wenig über
ein Menſchenalter hinaus. Mit dieſer Glanzepoche, unter Weg-
laſſung alles deſſen, was vorausging und was folgte, werden
wir uns in Nachſtehendem zu beſchäftigen haben. Auch dieſe
vorübergehende Glanzes-Aera gliedert ſich in verſchiedene Zeit-
abſchnitte, und zwar in die Zeit des Generals de Chieze bis
1671, die Zeit der Kurfürſtin Dorothea bis 1689 und
[176] die Zeit Sophie Charlottens und König FriedrichsI.
bis 1713.


General de Chieze von 1662 bis 1671.


Der große Kurfürſt, nachdem er 1662 Schloß und Gut
Caput erſtanden, entäußerte ſich, wie in der Kürze bereits an-
gedeutet, deſſelben wieder und ſchenkte es „mit allen Weinbergen,
Schäfereien und Karpfenteichen“ ſeinem Kammerjunker und
Generalquartiermeiſter de la Chieze. Philipp de la Chieze, deſſen
Familie aus Piemont ſtammte, war 1660 aus ſchwediſchem in
brandenburgiſchen Dienſt getreten. Er war Ober-Ingenieur, ein
bedeutender Baumeiſter und hatte für den großen Kurfürſten
eine ähnliche Bedeutung wie ſie Rochus v. Lynar, hundert Jahre
früher, für Joachim II. gehabt hatte. Er beherrſchte den Schön-
bau wie den Feſtungsbau, führte das Hauptgebäude des Pots-
damer Stadtſchloſſes auf, leitete den Berliner Schloßbau, be-
theiligte ſich an der Ausführung des Friedrich-Wilhelms-Canals,
beſſerte und erweiterte die Feſtungen des Landes.


Dies war der Mann, dem die Gnade des Kurfürſten das
nur in leiſen Zügen noch an alte Culturtage erinnernde Caput
übergab. Er konnte es in keine beſſeren Hände geben. Das
in Trümmern liegende Schloß — muthmaßlich ein ſpät gothi-
ſcher Bau — wurde in modernem Stile wieder aufgeführt, und
dem ganzen Gebäude im Weſentlichen das Gepräge gegeben, das
es noch aufweiſt. Namentlich der „große Saal“ erhielt bereits
ſeine gegenwärtige Geſtalt, wie wir aus einer alten Notiz
erſehen, in der es heißt: „im Obergeſchoß (Hochparterre) befand
ſich zu Seiten des Flurs ein großer Saal durchs ganze Schloß
hin, mit zwei Fenſtern nach Süden und zweien nach Norden.“
— Der Kurfürſt war hier oft zu Beſuch, namentlich wenn ihn
die Jagden nach dem Kunersdorfer Forſte führten. Auch den
jungen Prinzen wurde zuweilen geſtattet, der Einladung des
alten de Chieze zu folgen und einen halben Tag, frei von der
ſtrengen Aufſicht ihres Hofmeiſters, in Caput herum zu ſchwär-
men. Die Parkanlagen waren damals noch unbedeutend; der
Garten nur mit Obſtbäumen beſetzt.


[177]

Kurfürſt in Dorothea von 1671 bis 1689.


Der alte de la Chieze ſtarb 1671 oder 73; Caput fiel an
den Kurfürſten zurück und er verſchrieb es nunmehr ſeiner
Gemahlin Dorothea, die es — inſonderheit nach dem Tode
ihres Gemahls (1688) — zu ihrem bevorzugten Wohnſitz
machte. —


Das Schloß, um ſeinem neuen Zwecke zu dienen, mußte
eine erhebliche Umgeſtaltung erfahren. Was für den in Kriegs-
zeiten hart gewordenen de Chieze gepaßt hatte, reichte nicht aus
für eine Fürſtin; außerdem wuchſen damals — unter dem un-
mittelbaren Einfluſſe niederländiſcher Meiſter — raſch die Kunſt-
anſprüche in märkiſchen Landen. Erſt funfzig Jahre ſpäter,
unter Friedrich Wilhelm I., — obwohl er ſich rühmte, ein
„treu-holländiſch Herz“ zu haben — hörten dieſe Einflüſſe wie-
der auf und wir verfielen, auf geraume Zeit hin, in die alte
Nacht.


Schloß Caput rüſtete ſich alſo zum Empfang einer neuen
Herrin. Die Grundform blieb, aber Erweiterungen fanden ſtatt;
zwei kleine Eckflügel entſtanden, vor Allem wurde die innere
Einrichtung eine andere. Eine Halle im Souterrain, wo man
den Jagdimbiß zu nehmen pflegte, wurde an Wand und Decke
mit blaugrünen holländiſchen Flieſen ausgelegt, die Zimmer des
Obergeſchoſſes mit Tapeten behängt und mehrere mit Plafond-
Schildereien geziert. Beſonders bemerkenswerth war die Aus-
ſchmückung des „großen Saales,“ ein Deckengemälde, das ſeinem
Gedankengange nach, an ſpätere Arbeiten Antoine Pèsnes er-
innert. Minerva mit Helm, Schild und Speer führt die Künſte:
Baukunſt, Sculptur und Malerei, in die brandenburgiſchen
Lande ein; ein gehörntes Ungethüm, halb Lucifer halb Cali-
ban, entweder den Krieg oder die Rohheit, oder beides
zugleich darſtellend, entweicht in Dunkel vor dem aufgehenden
Licht. Aehnlich wohlerhalten präſentirt ſich ein zweites Bild,
im ſogenannten „Grünen Zimmer.“ Zwei geflügelte Genien
halten die umkränzten Bilder von Kurfürſt und Kurfürſtin in
Fontane, Wanderungen. III. 12
[178] Händen; die Fama bläſt mit einer Doppeltuba den Ruhm
beider in die Welt hinaus; eine andere geflügelte Geſtalt zeigt
auf die Chronik ihrer Thaten. In einem dritten Gemach, das
den Namen des Schlafzimmers der Kurfürſtin führt, begegnen
wir einem Deckenſchmuck aus wahrſcheinlich eben dieſer Zeit.
Außer einem Mittelbilde zeigt er zwei weibliche Figuren: die
Nacht ein Fackellicht tragend und den Morgen Roſen ſtreuend
in leicht angehauchtem Gewölk.


Sophie Charlotte und König Friedrich I. bis 1713.


Kurfürſtin Dorothea ſtarb 1689; beinahe unmittelbar nach
ihrem Hinſcheiden wurde Schloß Caput von Kurfürſt Fried-
rich III. erworben, der es nunmehr ſeiner Gemahlin, der
gefeierten Sophie Charlotte, zum Geſchenke machte. Es geſchah
nun Aehnliches wie nach dem Tode von de la Chieze. Die
Anſprüche an Glanz und Luxus waren innerhalb der letzten
zwanzig Jahre abermals gewachſen, nirgends mehr als am Hofe
des prachtliebenden Friedrichs III. Wie das Schloß de Chiezes
nicht reich genug geweſen war für Kurfürſtin Dorothea, ſo
waren die Einrichtungen dieſer wiederum nicht reich genug für
die jetzt einziehende Sophie Charlotte. Auch jetzt, wie während
der 70er Jahre, berührten die Ummodelungen, die vorgenommen
wurden, weniger die Struktur als das Ornamentale und wieder
waren es in erſter Reihe die Deckenbilder (diesmal in allen
Räumen), die den ohnehin reichgeſchmückten Bau auf eine höchſte
Stufe zu heben trachteten. Dies Betonen des Coloriſtiſchen lag
ja im Weſen der Renaiſſance, die, ſelbſt maleriſch in ihren
Formen wie kein anderer Bauſtil, es liebt, die Farbe ſich dienſt-
bar zu machen.


Ob Kurfürſtin Sophie Charlotte noch Zeuge dieſer letzten
Neugeſtaltung wurde, die das Schloß in ſeiner inneren Ein-
richtung erfuhr, iſt mindeſtens fraglich. Bis 1694 — wo der
Stern Charlottenburgs aufging, der zugleich den Niedergang
Caputs bedeutet — konnte die Fülle dieſer Deckenbilder nicht
vollendet ſein; die kurze Zeitdauer verbot es. Aber auch der
[179] Inhalt deſſen, was gemalt wurde, wenigſtens jenes hervor-
ragendſten Bildes, das ſich in der „großen Porzellankammer“
befindet, ſcheint dagegen zu ſprechen. Es ſtellt dar: wie
Afrika der Boruſſia huldigt
. Dieſe, auf Wolken thro-
nend, trägt eine Königskrone und neigt ſich einer Mohren-
königin, zugleich einer Schaar heranſchwebender ſchwarzer Genien
zu, die mit Gefliſſentlichkeit die Schätze Indiens und Chinas:
Theebüchſen und Ingwerkrüge, ſogar ein Theeſervice mit Taſſen
und Kanne, der auf Wolken thronenden Boruſſia entgegentragen.


Die Königskrone der Boruſſia (falls es die Boruſſia iſt)
deutet unverkennbar auf einen Zeitpunkt nach 1701. Anderer-
ſeits iſt es nicht ganz leicht, in dieſer, mit einer gewiſſen ſouve-
ränen Verachtung der Länder- und Völkerkunde auftretenden
Symbolik, die nichts ſo ſehr haßt, als Logik und Conſequenz,
ſich zurecht zu finden. Denn nicht bloß, daß ſchwer abzuſehen
iſt, weshalb ſchwarze Genien dazu auserkoren wurden, den
Thee zu ſerviren oder porzellanene Vaſen durch die Lüfte zu
tragen, ſo ſcheinen auch aufgeſpeicherte Chronikenbündel, auf
denen der Kurhut liegt, ſo lange nicht Geſchichte ein leerer
Wahn iſt, nothwendig auf Kurfürſtliche Zeiten zurückzudeuten.
Man darf es aber freilich mit dieſen Dingen nicht allzu genau
nehmen. Gedankliche oder hiſtoriſche Correctheit war niemals
das, worin die großen Coloriſten ſich gefielen. Es lag ihnen
an der ſinnlichen Geſammtwirkung. Bis auf Weiteres iſt die
Königskrone der Boruſſia das Entſcheidende, die das Bild,
als ob es eine Jahreszahl trüge, in den Anfang des 18. Jahr-
hunderts verweiſt.


Kurfürſtin Sophie Charlotte verließ ſchon 1694 Caput;
aber bis zu ihrem Tode (1705) und noch darüber hinaus, bis
zum Tode ihres Gemahls, blieb Caput ein bevorzugtes Schloß,
eine Sehenswürdigkeit von Ruf. Man ſetzte Summen an ſeine
Inſtandhaltung, ſei es nun, um vorübergehend hier eine Villeg-
giatur zu nehmen, oder ſei es — inſonderheit nachdem ſeine Aus-
ſchmückung vollendet war — um es etwaigem, bei Hofe eintreffen-
dem Beſuche als ein kleines märkiſches Juwel zeigen zu können.


12*
[180]

Eine ſolche Gelegenheit bot ſich 1709. Wir finden dar-
über Folgendes. Als in den erſten Julitagen eben genannten
Jahres König Friedrich IV. von Dänemark und Friedrich Auguſt
von Polen auf Einladung Friedrichs I. von Preußen in Pots-
dam eine perſönliche Zuſammenkunft hielten (ein großes Staats-
bild im Charlottenburger Schloſſe ſtellt dieſe Begegnung der
„drei Friedriche“ dar), war der prachtliebende Friedrich, an
deſſen Hofe dieſe Vereinigung ſtattfand, bemüht, ſeinen Gäſten
eine Reihe von Feſten zu geben. Unter andern ward am 8. Juli
auf der prächtigen Yacht, welche im Baſſin des Luſtgartens lag
und mit 22 Kanonen ausgerüſtet war, eine Luſtfahrt nach
Caput unternommen. Dieſes überaus prächtige Schiff, das
mit allem nur erdenklichen Luxus ausgeſtattet war, und in der
That an die Prachtſchiffe der alten Phönicier und Syrakuſer
erinnerte, war in Holland nach Angaben des Königlichen Bau-
meiſters und Malers Maderſteg erbaut worden. Man ſchätzte
allein die goldenen und ſilbernen Geräthe, die ſich in ſeinem
Innern aufgeſtellt befanden, auf 100,000 Thaler. Auf dieſem
Schiffe, das eigens dazu gebaut war, die Havel zu befahren,
glitten die drei Könige ſtromabwärts nach dem Luſtſchloſſe von
Caput. Man erging ſich in dem inzwiſchen zu einer baumreichen
und ſchattigen Anlage gewordenen Parkgarten und kehrte gegen
Abend zu Tafel und Ball nach Schloß Potsdam zurück.


Wenn dieſer Tag in dem hiſtoriſchen Leben Caputs der
glänzendſte war, ſo war er auch der letzte. Der König, früh
alternd, ſchloß ſich mehr und mehr in ſeine Gemächer ein; der
Sinn für Feſtlichkeiten erloſch, er begann zu kränkeln; am
25. Februar 1713 ſtarb er. Alle Schlöſſer ſtanden leer; ſie
ſollten bald noch leerer werden.


Dem prachtliebenden König folgte ein Sparſamkeits-König.
Die holländiſche Yacht im Potsdamer Baſſin wurde gegen einige
Rieſen vertauſcht und ging nach Rußland zum Czaren Peter;
die großen Schlöſſer zu Cöpenick und Oranienburg (beides
Schöpfungen des eben verſtorbenen Fürſten) wurden vom Etat
geſtrichen; was verkaufbar war wurde verkauft, — konnte man
[181] ſich wundern, daß bei ſo veränderten Verhältniſſen das wenig-
ſtens ſeiner Größe und äußeren Erſcheinung nach ungleich be-
ſcheidenere Caput mit auf die Liſte der Proſcribirten geſetzt
wurde! Es ſank zu einem bloßen Jagdhauſe herab, an dem
alsbald der mit holländiſchen Flieſen ausgelegte Souterrain-
Saal, weil ſichs drin wie in einem Weinkeller poculiren ließ,
das Beſte war. Von ſeinem alten Beſtande über der Erde
blieben dem Schloſſe nur der Kaſtellan und die Bilder, wahr-
ſcheinlich weil mit beiden nichts anzufangen war. Der Kaſtellan
war ein alter Türke, das rettete ihn; die Deckengemälde aber
— — in den Schlöſſern waren ihrer ohnehin mehr denn zu-
viel, und wenn die Schlöſſer ſie nicht aufnehmen konnten,
wer damals in brandenburgiſchen Landen hätte ſein Geld an
die ſinnbildliche Verherrlichung der Künſte, an Minerva und
Caliban, an Boruſſia und die Mohrenkönigin geſetzt! Auch
heute noch ſind ihrer nicht viele.


So viel über die hiſtoriſchen 40 Jahre; wir ſchicken uns
jetzt an, in das Schloß ſelbſt einzutreten.


Die doppelarmige Freitreppe, wir erwähnten ihrer bereits
(ſchon Sophie Charlotte ſchritt über dieſe Stufen hin) iſt von
Epheuſenkern des Hauſes derartig umrankt und eingeſponnen,
daß jeden Tragſtein ein zierlich-phantaſtiſcher Rahmen von hell-
grünen Blättern ſchmückt. Die Wirkung dieſes Bildes iſt ſehr
eigenthümlich. Eine Treppe im Arabeskenſchmuck! Natur nahm
der Kunſt den Griffel aus der Hand und übertraf ſie.


Die Thür des Gartenſalons öffnet ſich. Freundliche Worte
begrüßen uns; wir ſind willkommen.


Von einem kleinen zeltartigen Raume aus, der unmittel-
bar hinter der Freitreppe liegt, treten wir nunmehr unſeren
Rundgang an. Die Zimmer führen noch zum Theil die Be-
zeichnungen aus der Kurfürſtlichen Zeit her: Vorgemach, Schlaf-
zimmer, Cabinet des Kurfürſten, auf dem andern Flügel
ebenſo der Kurfürſtin; dazu Saal, Porzellankammer, Thee-
[182] zimmer. Die meiſten Räume quadratiſch und groß. Alle haben
ſie jene Patina, die alten Schlöſſern ſo wohl kleidet und An-
geſichts welcher es gleichgültig iſt, ob Raum und Inhalt ſich in
Epoche und Jahreszahlen einander decken. Nicht wie alt die
Dinge ſind, ſondern ob alt überhaupt, das iſt es, was die
Entſcheidung giebt. So auch hier. Die verblaßten oder auch
verdunkelten Tapeten, die Geräthſchaften und Nippſachen, — es
ſind nicht Erinnerungsſtücke genau aus jener Zeit Caputiſchen
Glanzes, aber ſie haben doch auch ihr Alter und wir nehmen
ſie hin wie etwa einen gothiſchen Pfeiler an einem romaniſchen
Bau. Beide haben ihr Alter überhaupt, das genügt; und
unſere Empfindung überſieht es gern, daß zwei Jahrhunderte
zwiſchen dem einen und dem anderen liegen.


Die Tapeten, das Mobiliar, die hundert kleinen Gegen-
ſtände häuslicher Einrichtung, ſie ſind weder aus den Tagen
der ſtrengen, noch aus den Tagen der heitern Kurfürſtin, die
damals hier einander ablöſten; die Hand der Zerſtörung hat
mitleidlos aufgeräumt an dieſer Stelle. Aber wohin die Hand
der Zerſtörung buchſtäblich nicht reichen konnte, — die hohen
Deckengemälde, ſie ſind geblieben und ſprechen zu uns von jener
Morgenzeit brandenburgiſcher Macht und brandenburgiſcher Kunſt.
Die großen Staatsbilder haben wir bereits in dem kurzen hiſto-
riſchen Abriß, den wir gaben, beſchrieben, aber viel reizvoller
ſind die kleinen. Ich ſchwelgte im Anblick dieſer wonnigen
Nichtigkeiten. Kaum ein Inhalt und gewiß keine Idee, und
doch, bei ſo wenigem, ſo viel! Ein bequemes Symboliſiren
nach der Tradition; in gewiſſem Sinne fabrikmäßig; alles
aus der Werkſtatt, in der die Dinge einfach gemacht wurden
ohne beſondere Anſtrengung. Aber wie gemacht! welche Tech-
nik, welche Sicherheit und Grazie. Wie wohlthuend das Ganze,
wie erheiternd. Jetzt ſetzen die Künſtler ihre Kraft an eine
Idee und bleiben dann, neun Mal von zehn, hinter dieſer
und oft auch hinter ſich ſelbſt zurück. Wie anders damals.
Die Maler konnten malen und gingen ans Werk. Kam ihnen
nichts, nun, ſo war es immer noch eine hübſche Tapete; erwies
[183] ſich aber die Stunde günſtig, ſo war es wie ein Geſchenk der
Götter.


So Großes fehlt hier; aber auch das Kleine genügt.
Genien und wieder Genien, blonde und braune, geflügelte und
ungeflügelte, umſchweben und umſchwirren uns und die Guir-
landen, die ſich zwiſchen den Fingerſpitzen der lachenden Amo-
retten hinziehen, ſie haben eine Pracht und Wahrheit der Farbe,
daß es iſt, als fielen noch jetzt die Roſen in vollen rothen
Flocken auf uns nieder. Im Theezimmer bringt eine dieſer
geflügelten Kleinen ein Tablet mit blaugerändertem Theezeug, —
ſelbſt Boßdorf, als er ſein Rieſen-Tablet der Lautenſchlägerin
präſentirte, hätte von dieſem Liebling der Grazien lernen
können.


Dieſe Zeit ſinnlich blühender Renaiſſance, ſie iſt dahin.
Was wir jetzt haben, mit allen unſren Prätenſionen, wird
nach zweihundert Jahren ſchwerlich gleiche Freude und Zuſtim-
mung wecken.


Es war Mittag, als wir wieder auf die Freitreppe hin-
austraten. Der Himmel hatte ſich bezogen und geſtattete jetzt
einen unbehinderten Blick auf das weite Waſſer-Panorama.


Die holländiſche Yacht mit drei Königen und einem ganzen
Silber-Treſor an Bord, ſteuerte nicht mehr Havel-abwärts;
aber ſtatt ihrer ſchwamm eine ganze Flottille von Havelkähnen
heran und am Horizonte ſtand in ſcharfen Linien ſteif-grenadier-
haft die Garniſonkirche von Potsdam: das Symbol des Jüngſt-
geborenen im alten Europa, des Militärſtaats Preußen.


[[184]]

Petzow.


Auf der Fortuna ihrem Schiff
Iſt er zu ſegeln im Begriff;
Will einer in der Welt was erjagen,
Mag er ſich rühren und mag ſich plagen.
Schiller.

Wie Buda-Peſt, oder wie Köln und Deutz ein Doppel-
geſtirn bilden, ſo auch Caput und Petzow. Sie gehören zu-
ſammen. Zwar iſt die Waſſerfläche, die die beiden letzteren
von einander trennt, um ein Erhebliches breiter als Rhein und
Donau zuſammengenommen, aber nichtsdeſtoweniger bilden auch
dieſe beiden „Reſidenzen dieſſeit und jenſeit des Schwilow“ eine
höhere Einheit. Eine Einheit, ſo verſchieden ſie unter einander
ſind. Sie ergänzen ſich. Caput iſt ganz Handel, Petzow iſt
ganz Induſtrie. Dort eine Waſſerſtraße, eine Werft, ein Hafen-
verkehr; hier die Tag und Nacht dampfende Eſſe, das nie er-
löſchende Feuer des Ziegelofens. Schönheit der Lage iſt beiden
gemeinſam; doch iſt Petzow hierin weit überlegen, ſowohl ſeiner
eigenen unmittelbaren Erſcheinung, als dem landſchaftlichen
Rundblick nach, den es geſtattet.


Die etwas unregelmäßig über einen Hügelrücken ſich hin-
ziehende Dorfſtraße folgt im Weſentlichen dem Schwilow-Ufer;
zwiſchen Dorf und See aber iſt ein ziemlich breites, ſchräg ab-
fallendes Stück Land verblieben, in das Schloß und Park
ſich theilen.


Beide ſind Schöpfungen dieſes Jahrhunderts; Vater und
Großvater des gegenwärtigen Beſitzers (des Amtsraths v. Kaehne)
riefen ſie ins Leben. Die genannte Familie ſitzt nachweisbar
[185] ſeit 1630 an dieſer Stelle; vielleicht viel länger. Die Kaehnes
waren damals ſchlichte Bauern. In genanntem Jahre, alſo
während des 30jährigen Krieges, erwarben ſie das Lehnſchulzen-
gut und hielten es nicht nur feſt, ſondern wußten auch ihren
Beſitz derart zu erweitern, daß im Jahre 1840 der damalige
Träger des Namens in den Adelsſtand und fünf Jahre ſpäter
(1845) der Geſammtbeſitz zu einem kreistagsfähigen Rittergute
erhoben wurde.


Ein Beiſpiel derartigen Aufdienens „von der Pike,“ wie
es die Familie Kaehne giebt, iſt ſehr ſelten; viel ſeltener, als
man glaubt. Ein Blick auf die Geſchichte der Rittergüter belehrt
uns darüber. Was in den altadeligen Grundbeſitz als Neu-
Element einrückt oder gar durch Zuſammenlegung von Bauer-
gütern (und ſelbſtverſtändlich unter ſchließlicher Ernennung ſeitens
des Landesherrn) neue Rittergüter creirt, das ſind entweder
ſelbſt wieder prosperirende, ihren Beſitz erweiternde Adelige, die
für jüngere Söhne einen ebenbürtigen Neubeſitz ſtiften, oder
aber — und das iſt das Häufigere — es ſind Geldleute,
Städter
, Repräſentanten einer modernen Zeit, die den Han-
dels- und Induſtriegeiſt in die Landwirthſchaft hineintragen.
Der Bauer folgt ſelten dieſem Beiſpiel; er iſt ſtabil, er bleibt
was er iſt. Wenn er nichts deſto weniger zu ſpeculiren beginnt,
ſo thut ers auf ſeine Weiſe. Es reizt ihn dann weit mehr
das Geld, als das Wachſen der Ackerfläche. Er erweitert ſich
nicht innerhalb ſeiner eigenen Sphäre; er wird eben einfach ein
Anderer.


Die Familie Kaehne bezeichnet einen Ausnahmefall.


Schloß und Park, ſo ſagten wir, ſind Schöpfungen dieſes
Jahrhunderts.


Das Schloß, in ſeiner gegenwärtigen Geſtalt, wurde
nach einem Schinkelſchen Plane ausgeführt. Es zeigt eine
Miſchung von italieniſchem Caſtell- und engliſchem Tudorſtil,
denen beiden die gothiſche Grundlage gemeinſam iſt. Der Bau,
wie er ſich unter Epheu und Linden darſtellt, wirkt pittoresk
genug, ohne daß er im Uebrigen beſonders zu loben wäre. Es
[186] iſt bemerkenswerth, daß alles Gothiſche oder aus der Gothik
Hergeleitete auf unſerm märkiſchen Boden ſeit Wiederbelebung
dieſes Stils (eine Epoche, die kaum zwei Menſchenalter zurück-
liegt) nicht gelingen wollte. Im Beginn dieſes Jahrhunderts
hatten wir uns zu entſcheiden, nach welcher Seite hin die Ent-
wickelung gehen ſollte; irgend eine „Renaiſſance“ war dem
herrſchenden Ungeſchmack gegenüber geboten, es konnte ſich nur
darum handeln, ob das Vorbild bei der Antike, oder beim
Mittelalter zu ſuchen ſei. Schinkel ſelbſt — was jetzt ſo oft
vergeſſen wird — ſchwankte; der einzuſchlagende Weg war ihm
keineswegs von Anfang an klar. Auch er hatte eine Epoche,
wo das Maleriſche des Gewölbebaues, wo Strebepfeiler und
Spitzbogenfenſter ihn reizten. Hätte er ſich damals, wie das
bei den rheiniſchen Baumeiſtern der Fall war, für Gothik ent-
ſchieden, ſo würde die bauliche Phyſiognomie unſerer alten Pro-
vinzen, Berlins ganz zu geſchweigen, überhaupt eine andere
geworden ſein. Wir würden die Gothik, nach einzelnen geſchei-
terten Verſuchen, aufs Neue gelernt haben, wie die Rheinländer
und Engländer ſie wieder lernten und, beim Kirchenbau (zu
dem es uns an Gelegenheit nicht gefehlt haben würde) uns
wieder vertraut machend mit der alten Technik, den zerriſſenen
Faden der Tradition wieder auffindend, würden wir alsbald
auch verſtanden haben, unſern Privat-Bau danach zu modeln
und unſere Schlöſſer und Landhäuſer im Caſtell- oder Tudor-
ſtile aufzuführen. Dies wurde verſäumt, weil — ſo wollen
wir, halb aus Courtoiſie, halb aus Ueberzeugung annehmen —
ein Beſſeres an die Stelle trat. Wie die Dinge liegen, wird
zwar auch jetzt noch gelegentlich der Verſuch gemacht, es mit
der Gothik und ihren Dependencien zu wagen; aber dieſe Ver-
ſuche ſcheitern jedesmal, wenigſtens für das Auge deſſen, der
die Originale oder auch nur das kennt, was mit immer wach-
ſendem Verſtändniß unſere weſtdeutſchen Neu-Gothiker danach
bildeten.


Auch das Herrenhaus zu Petzow iſt ein ſolcher geſcheiterter
Verſuch. Was daran anmuthend wirkt, iſt, wie ſchon angedeutet,
[187] das maleriſche Element, nicht ſeine Architektur. Dieſe, ſo
weit man überhaupt von einer Architektur ſprechen kann, datirt
aus dem Anfang der 20er Jahre, iſt alſo kaum 50 Jahre alt.
Dies gilt auch beſonders von den angebauten Flügeln. Und
doch, als wir dieſe näher beſichtigten, nahmen wir an den Fen-
ſtern des Erdgeſchoſſes kunſtvoll geſchmiedete Eiſengitter wahr,
die ſich unſchwer auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück-
führen ließen. Dies verwirrte uns. Das Räthſel ſollte ſich
indeß in Kürze löſen. Dieſe Gitterfenſter wurden nämlich in
Potsdam bei einem Häuſer-Abbruch erſtanden und hierher ver-
pflanzt
. Hier prangen nun die 150jährigen an einer erſt
50jährigen Front. Wir erzählen das lediglich zu dem Behuf,
um zu zeigen, wie man durch Beurtheilung von Einzeldingen,
von denen man dann Schlüſſe aufs Ganze zieht, erheblich irre
geleitet werden kann. Nichts war verzeihlicher hier als ein
Rechenfehler von hundert Jahren.


Der Park iſt eine Schöpfung Lennés. An einem Hügel-
abhang gelegen wie Sansſouci, hat er mit dieſem den Terraſſen-
Charakter gemein. In großen Stufen geht es abwärts. Wenn
aber Sansſouci bei all ſeiner Schönheit einfach eine große
Wald-Terraſſe mit Garten und Wieſengründen bietet, ſo er-
blickt man von dem Hügelrücken des Petzower Parkes aus eine
impoſante Waſſer-Terraſſe, und unſer Auge, zunächſt aus-
ruhend auf dem in Mittelhöhe gelegenen, erlenumſtandenen
Park-See, ſteigt nunmehr erſt, weiter abwärts, auf die unterſte
Treppenſtufe nieder — auf die breite Waſſerfläche des
Schwilow.


Der Park umſchloß früher auch die Kirche des Dorfes.
Alt, baufällig, unſchön wie ſie war, gab man ſie auf und auf
einem weiter zurückgelegenen Hügel wurde 1841 eine neue Kirche
aufgeführt. König Friedrich Wilhelm IV. (das Patronat iſt bei
der Landesherrſchaft) ordnete an, daß der Neubau im romani-
ſchen Stile erfolgen ſolle. Stüler entwarf die Zeichnungen;
die Ausführung folgte raſch. So reihte ſich denn die Petzower
Kirche in den Kreis jener neuen ſchönen Gotteshäuſer ein, mit
[188] denen der kirchliche und zugleich der ſeine landſchaftliche Sinn
des verſtorbenen Königs Potsdam und die Havelufer umſtellte.
Wir nennen nur: Bornſtädt, Sacrow, Caput, Werder, Glindow.
Ihre Zahl iſt um vieles größer.


Der Gottesdienſt, die Gemeinde, vor allem die Scenerie,
gewannen durch dieſe Neubauten; aber die Localgeſchichte erlitt
erhebliche Einbuße, weil alles Hiſtoriſche, was ſich in den alten
Kirchen vorfand, meiſt als Gerümpel beſeitigt und faſt nie in
den Neubau mit hinübergenommen wurde.


Unter allen Künſtlern — dieſe Bemerkung mag hier ge-
ſtattet ſein — ſind die Architekten die pietätsloſeſten, zum Theil
weil ſie nicht anders können. Maler, Sculptoren treffen mit
ihrem Vorgänger meiſt wie auf breiter Straße zuſammen; ſie
haben Raum neben einander; die Lebenden und die Todten,
ſie können ſich dulden, wenn ſie wollen. Nicht ſo der Bau-
meiſter. In den meiſten Fällen ſoll das neue Haus, die
neue Kirche an der Stelle der alten ſtehen. Er hat keine Wahl.
Und es ſei. Wir rechten zudem mit keiner Zeit darüber, daß ſie
ſich für die klügſte und beſte hält. Aber darin geht die jedesmalig
modernſte (die unſrige kennt wenigſtens Ausnahmen) zu
weit, daß ſie auch das zerſtört, was unbeſchadet des eignen
Lebens weiter leben könnte, daß ſie ſo zu ſagen unſchuldigen
Exiſtenzen, von denen ſie perſönlich nichts zu befahren hätte,
ein Ende macht. Der moderne Baſilika-Erbauer mag ein gothi-
ſches Gewölbe niederreißen, das nun ’mal ſchlechterdings in die
geſtellte Aufgabe nicht paßt; aber das halbverblaßte Frescobild,
die Inſchrift-Tafel, der Grabſtein mit der Platten-Rüſtung, —
ihnen hätte er auch in dem Neubau ein Plätzchen gönnen
können. Er verſagt dies Plätzchen ohne Noth, er verſagt es
(und daran knüpfen wir unſern Vorwurf), weil die hiſtoriſche
Pietät faſt noch ſeltener iſt als die künſtleriſche. So entſtehen
denn entzauberte Kirchen, die helle Fenſter und gute Plätze haben,
die aber den Sinn kalt laſſen, weil mit der Vergangenheit
gebrochen wurde. Ein „gefälliger Punkt in der Landſchaft“ iſt
[189] gewonnen, eine vielverſprechende Schale, aber, in den meiſten
Fällen, eine Schale ohne Kern.


Zu dieſen in hiſtoriſcher Beziehung „tauben Nüſſen“ gehört
auch die Petzower Kirche. Aber ſo leer und kahl ſie iſt, und
ſo verſtimmend dieſe Kahlheit wirkt, ſo gewiß iſt es doch auch,
daß man im Hinaustreten auf das Flachdach des Thurmes dieſe
Verſtimmung plötzlich und wie auf Zauberſchlag von ſich ab-
fallen fühlt. Sie geht unter in dem Panorama, das ſich hier
bietet. Die „Grelle,“ eine tiefe Flußbucht, liegt uns zu Füßen;
unmittelbar neben ihr der Glindower See. Die Havel und
der Schwilow, durch Landzungen und Verſchiebungen in zahl-
reiche blaue Flächen zerſchnitten, tauchen in Nähe und Ferne
auf, und dehnen ſich bis an den Horizont, wo ſie mit dem
Blau des Himmels zuſammenfließen. Dazwiſchen Kirchen, Dör-
fer, Brücken, — Alles, nach zwei Seiten hin, umrahmt von
den Höhenzügen des Havellandes und der Zauche. Das Ganze
ein Landſchaftsbild im großen Stil; nicht von relativer Schön-
heit, ſondern abſolut. Man darf hier getroſt hinaustreten,
ohne ſich des Vergleichs-Sinnes zu entſchlagen. —


Eine Viertelſtunde ſpäter, und wir ſchritten dorfanwärts,
um der „Grelle“ und ihren Anwohnern (wir kommen darauf
zurück) einen Beſuch zu machen. Der Weg dahin führt durch
eine Akazien-Allee und demnächſt an einer ganzen Plantage von
Akazien vorbei. Schon vorher war mir der beſondere Reichthum
des Dorfes an dieſer Baumart aufgefallen. Man begegnet der
Akazie überhaupt häufig in den Havelgegenden, aber vielleicht
nirgends häufiger als hier. Es iſt ein dankbarer Baum, mit
jedem Boden zufrieden, und in ſeiner arabiſchen Heimath nicht
verwöhnt, ſcheint er ſich auf märkiſchem Sande mit einer Art
Vorliebe eingelebt zu haben. Alle Akazien in Spree- und
Havelland rühren mittelbar von Sansſouci her, wo der Ur-
Akazienbaum, der Stammvater vieler tauſend Enkel und Urenkel
an der Bornſtädter Straße, gegenüber dem Triumphbogen ſteht.
Die Akazie, urſprünglich als Zier- und Parkbaum gehegt, hat
übrigens längſt aufgehört eine exceptionelle Stelle einzunehmen;
[190] ſie iſt, wie das ihrer anſpruchsloſen Natur entſpricht, Nutzholz
geworden und bildet einen nicht unerheblichen Handels-Artikel
dieſer Gegenden. Ich erfuhr darüber Folgendes:


Zu beſtimmten Zeiten kommen Händler aus den Nordſee-
häfen, aus Hamburg, Stade, Bremerhafen, auch von der Jade
her, bereiſen die Akaziengegenden, kaufen an und markiren die
Bäume, die zunächſt gefällt werden ſollen. Ein Hauptpunkt für
dieſe Händler iſt Petzow. Einige Wochen ſpäter erſcheint ein
Elbkahn von Hamburg oder den andern genannten Plätzen und
hat eine kleine Armee von Holzfällern und Holzſpaltern an
Bord. Es ſind Geſchwiſterkinder der Schindelmacher. Wie dieſe
haben ſie es zu einer Virtuoſität gebracht; ſie fällen, zerſägen,
ſpalten; während der Schindler aber ein Flachholz herſtellt, ſtellt
dieſer nordiſche Holzſpalter ein cylinderförmiges Langſtück her,
das ſpäter, als beſte Sorte Schiffsnägel, auf den Werften
der Seeſtädte eine Rolle ſpielt. Wenn der Kahn mit dieſen
Schiffsnägeln gefüllt iſt, wird die Rückfahrt angetreten und die
Petzower Akazien ſchwimmen ein Jahr ſpäter auf allen Meeren
und halten die Planken der deutſchen Flotte zuſammen. —


Wir hatten inzwiſchen die „Grelle“ und damit zugleich
den großen Ziegelofen erreicht, der ſich hier am Ufer der tief
einſchneidenden Havelbucht erhebt. Dieſer Ziegelofen iſt weit
bekannt in Havelland und Zauche; er iſt der älteſten einer, und
ſchon im vorigen Jahrhundert umgab ihn eine Colonie von
Ziegelſtreichern und Ziegelbrennern, die ſich hier in Hütten und
Häuſern angeſiedelt hatten. Dieſe übertrugen den Namen, den
ſie hier vorfanden, alsbald auf die ganze Anlage, ſo daß mit
dem Worte „Grelle“ nunmehr eben ſo oft das Etabliſſement
wie die ſeeartige Einbuchtung bezeichnet wird. Der alte hiſto-
riſche Ziegelofen moderniſirte ſich im Lauf der Jahre, vielleicht
auch die Häuſer, die ihn umſtanden, aber ſie blieben doch immer-
hin kümmerlich genug.


Auf eins derſelben, dem man erſichtlich vor Kurzem erſt
ein neues Stockwerk aufgeſetzt hatte, ſchritten wir jetzt zu. Der
Eingang war vom Hofe her.


[191]

Ein alter knorriger Birnbaum, der ziemlich unwirſch aus-
ſah, legte ſein Gezweig nach links hin auf das niedrige Haus-
dach, nach rechts hin über ein Conglomerat unſagbarer Oert-
lichkeiten: Verſchläge, Ställe, Kofen. Zwiſchen ihnen das
gemeinſchaftliche Geſtade eines Sumpfes. Alles ärmlich, un-
ſauber; ſelbſt das Weinlaub, dem man dürftig und kunſtlos ein
Spalier zuſammengenagelt hatte, ſpann ſich verdrießlich an der
Hinterwand des Hauſes aus. Ein unpoetiſcher, ſelbſt ein un-
maleriſcher Ort! Aber aus dem Weinlaub hervor ſchimmerte
eine weiße Tafel mit der Inſchrift: „Hier ward Zelter
geboren am 11. Dec
. 1758.“


Beuth, wenn mir recht berichtet, hat ſeinem Freunde Zelter
dieſe Tafel errichten laſſen. Der Schüler und zweite Nachfolger
des berühmten „Sohnes der Grelle“ aber war — Grell.
Auch der Zufall liebt es, gelegentlich mit Wort und Namen zu
ſpielen.


[[192]]

Baumgartenbrück.


And thus an acry point he won,
Where, gleaming with the setting sun,
One burnished sheet of living gold,
Loch-Katrine lay beneath him roll’d.
Lady of the Lake.

Die Havel, als ſie nach Süden hin den Schwilow-See bildete,
um ſich innerhalb dieſes weiten Baſſins zu ergehen, mußte doch
ſchließlich aus dieſer Sackgaſſe wieder heraus, und die Frage
war nur: wo? In der Regel behalten die durchbrechenden
Wogen die einmal eingeſchlagene Richtung bei und ruhen nicht
eher, als bis ſie, dem Durchbrechungspunkte gegenüber, einen
Ausgang gefunden oder gewühlt und gebohrt haben. Nicht ſo
hier. Die Havel ſchoß eben nicht wie ein Pfeil von Nord
nach Süd durch das Moor- und Sumpfbecken hindurch, in
welchem ſie während dieſer Stunden den Schwilow ſchuf; ſie
erging ſich vielmehr innerhalb deſſelben, entſchlug ſich jeder
vorgefaßten Richtung und nahm endlich ihren Abfluß halb-
rückwärts
, keine 2000 Schritt von der Stelle entfernt, wo
ſie kurz vorher den Damm durchbrochen hatte. An dieſer Ab-
flußſtelle, wo alſo die Havel nach ihrer Schwilow-Promenade
ſich wieder verengt, um nordweſtwärts weiter zu fließen, liegt
Baumgartenbrück.


Dies Baumgartenbrück wird ſchon frühe genannt und bereits
im 13. Jahrhundert findet ſich eine Burg Bomgarde oder Bom-
gard verzeichnet, ein ſonderbares Wort, in dem unſere Slawo-
philen, nach Analogie von Stargard, Belgard, eine halbwen-
diſche Bezeichnung haben erkennen wollen. Was es nun aber
[193] auch mit dieſer Bomgarde auf ſich haben möge, ob ſie wendiſch
oder deutſch, ſo viel verbleibt ihr, daß ſie ſeit hiſtoriſchen Tagen
und namentlich ſeitdem ein Bomgarden-Brück daraus geworden,
immer ein Punkt von Bedeutung war, ein Punkt, deſſen Wich-
tigkeit gleichen Schritt hielt mit dem induſtriellen Aufblühen der
Schwilow- und Havel-Ufer. Die Einnahmen verzehnfachten
ſich und wenn früher hier ein einfacher, altmodiſcher Zoll gezahlt
worden war, um die Landreiſenden trocken von einem Ufer zum
andern zu bringen, ſo kamen nun die viel einträglicheren Tage,
wo neben dem Brückenzoll für Pferd und Wagen vor Allem
auch ein Brücken-Aufzugzoll für alle durchpaſſirenden Schiffe
gezahlt werden mußte. Der Culturſtaat etablirte hier eine ſeiner
Doppelpreſſen; zu Land oder zu Waſſer — gezahlt mußte
werden, und Baumgartenbrück wurde für Brückengeld-Ein-
nehmer allmählich das, was die Charlottenburger Chauſſeehäuſer
für Chauſſeegeld-Einnehmer ſind. So iſt es noch.


Aber die lachenden Tage von Baumgartenbrück brachen doch
erſt an, als, vor etwa 40 Jahren, aus dem hier ſtehenden
Brückenwärterhaus ein Gaſthaus wurde, ein Vergnügungsort
für die Potsdamer ſchöne Welt, die mehr und mehr anfing,
ihren Brauhausberg und ihren Pfingſtberg den Berlinern abzu-
treten und ſich eine ſtille Stelle für ſich ſelber zu ſuchen. Sie
verfuhren dabei kurz und ſinnig wie die Schweizer, die ihre
Allerwelts-Schönheitspunkte: den Genfer und den Vierwald-
ſtätterſee den Fremden überlaſſen, um an irgend einer abgele-
genen Stelle der Glarner Alpen „ihre Schweiz für ſich“ zu
haben. Die Potsdamer wählten zu dieſem Behufe Baumgarten-
brück.


Und es war eine vorzügliche Wahl! Es vereinigt ſich hier
Alles, was einem Beſuchsorte zu Zierde und Empfehlung
gereichen kann: Stille und Leben, Abgeſchloſſenheit und Weit-
blick, ein landſchaftliches Bild erſten Ranges und eine vorzüg-
liche Verpflegung. Hier unter den Laubgängen zu ſitzen, nach
einem tüchtigen Marſch oder einer Fahrt über den See, iſt ein
Genuß, der alle Sinne gefangen nimmt; nur muß man freilich
Fontane, Wanderungen. III. 13
[194] die Eigenart des Platzes kennen und beiſpielsweiſe wiſſen, daß
hier nur eines getrunken werden darf: eine Werderſche.


Mit der Werderſchen — und wir treten damit in eine
bukoliſche Betrachtung ein — iſt es nämlich ein eigen Ding.
Sie iſt entweder zu jung, oder zu alt, entweder ſo phlegmatiſch,
daß ſie ſich nicht rührt, oder ſo hitzig, daß ſie an die Decke
fährt; — in Baumgartenbrück aber ſteht ſie im glücklichen
Mittelpunkt ihres Lebens; gereift und durchgeiſtigt, iſt ſie gleich
weit entfernt von ſchaler Jugend, wie von überſchäumendem
Alter. Die Werderſche hier hat einen feſten, drei Finger brei-
ten Schaum; feinfarbig, leicht gebräunt, liegt er auf der dun-
keln und doch klaren Fluth. Der erſte Brauer von Werder iſt
Stammgaſt in Baumgartenbrück; er trinkt die Werderſche, die
er ſelber ins Leben rief, am beſten an dieſer Stelle. Er iſt
wie ein Vater, der ſeinen früh aus dem Hauſe gegebenen Sohn
am Tiſch eines Pädagogen wohlerzogen wiederfindet.


Baumgartenbrück, trotz des Verkehrs, der an ihm vorüber
gleitet, iſt ganz ausgeſprochen ein ſtiller, lauſchiger Platz; vor
Allem kein Platz prätentiöſer Concerte. Kein Podium mit Spitz-
bogen-Façade und japaniſchem Dach ſtellt ſich hier, wie eine
beſtändige Drohung, in die Mitte der Verſammlung hinein und
keine Rieſenplakate erzählen dem arglos Eingetretenen, daß er
gezwungen ſei, zu Nutz und Frommen eines Abgebrannten oder
Ueberſchwemmten zwei Stunden lang ſich ruhig zu verhalten;
— dieſe Ungemüthlichkeiten haben keine Stätte unter den
Bäumen von Baumgartenbrück.


Hier iſt nur der böhmiſche Muſikant zu Hauſe, der des
Weges zieht und mit dem Notenblatt ſammelt. Eben treten
wieder ihrer ſieben ein, ſtellen ſich ſchüchtern ſeitwärts, und
wohl wiſſend, wie gefährlich jedes Zaudern für ſie iſt, beginnen
ſie ſofort. Il Baccio eröffnet den Reigen. Wohl iſt es hart.
Die Poſaune, mit beinah künſtleriſchem Feſthalten eines Tones,
erinnert an das Nachtwächterhorn alter Tage; die Trompete
kreiſcht, der Triangel bimmelt erbärmlich. Wie immer auch,
ſeid mir gegrüßt! —


[195]

Wenn ich dieſer alten Geſtalten mit den ſchadhaften Bär-
ten und den verbogenen Käppis anſichtig werde, lacht mir immer
das Herz. Nicht aus Sentimentalität, nicht weil ſie mich an
Jugendtage erinnern, ſondern weil ſie ſo bequem, ſo harmlos
ſind, während der moderne Künſtler, nach eigner Neigung und
vor allem auch durch die feierliche Gutheißung des Publicums,
ſich mehr und mehr zu einem Tyrannen der Geſellſchaft auf-
geſchwungen hat. Du biſt irgendwo in ein Geſpräch verwickelt,
nehmen wir an in das unbedeutendſte der Welt, über Draini-
rung, oder Spargelzucht, oder luftdichte Ofenthüren; Niemand
verliert etwas, der von dieſem Geſpräche nichts hört, aber Dir
und Deinem Nachbar gefällt es, euch beiden iſt es lieb und
werth, und ihr treibt behaglich auf der Woge der Unterhaltung.
In dieſem Augenblick ſtillen harmloſen Glücks giebt irgend ein
dicker oder dünner primus inter pares mit ſeiner ſilbernen
Klapptrompete ein Zeichen und verurtheilt Dich ohne Weiteres
zum Schweigen. Willſt Du nicht darauf achten, ſo wirſt Du
geſellſchaftlich in den Bann gethan: Du mußt zuhören, Du
mußt die „luſtigen Weiber von Windſor“ ſich zum zehnten
Male zanken, oder gar die Prinzeſſin Iſabella zum hundertſten
Male um „Gnade“ rufen hören. Nichts hilft dagegen. Wie
anders dieſe ächten und unächten Bergmanns-Virtuoſen! Sie
blaſen drauf los, alle Kinder ſind entzückt, Du ſelber folgſt
lachend den ſtolpernden Diſſonanzen und haſt dabei das ſüße
Gefühl bewahrter perſönlicher Freiheit. Die allgemein aner-
kannte künſtleriſche Unvollkommenheit wird zum rettenden Engel.


Baumgartenbrück iſt noch ein Platz dieſer Freiheit.


Aber was dauernd hier feſſelt, weit über das beſte Bier
und die beſcheidenſte Muſik hinaus, das ſind doch die Gaben
der Natur, das iſt — wir deuteten es ſchon an — die ſeltene
Schönheit des Platzes. Es iſt eine „Brühlſche Terraſſe“ am
Schwilow-See. Baſtionartig ſpringt ein mit Linden und Kaſta-
nien dicht beſtandener Uferwall in den See hinein, und ſo viele
Bäume, ſo viele Umrahmungen eines von Baum zu Baum
wechſelnden Panoramas. Welche Reihenfolge entzückender Bilder!
13*
[196] Man ſitzt wie auf dem Balcon eines Hauſes, das an der
Schmalſeite eines langen Squares gelegen iſt, und während
das Auge über die weite Fläche des oblongen Platzes hin-
gleitet, zieht unmittelbar unter dem Balcon das Treiben einer
belebten Straße fort. Der Platz iſt der Schwilow-See, die
belebte Straße iſt die Havel, deren Fahrwaſſer an dem Quai
vorüber und durch die unmittelbar zur Rechten gelegene Brücke
führt.


Iſt es hier ſchön zu allen Tageszeiten, ſo waltet hier ein
beſonderer Zauber um die ſechste Stande; dann ſchwimmen,
kommend und gehend, aus dem Schwilow hinaus und in den
Schwilow hinein, aber alle von der Abendſonne beſchienen, die
Havelkähne in ganzen Geſchwadern heran und zwiſchen ihnen
hindurch gleitet von Werder her der obſtbeladene Dampfer.
Die Zugbrücke ſteigt und fällt in beſtändigem Wechſel, bis mit
dem Niedergehen der Sonne auch der Verkehr zu Ende geht.


Nun dunkelt es. In den Lindenlauben werden die Lichter
angezündet und ſpiegeln ſich im See. Noch hallt dann und
wann ein Ruf herüber, oder ein Büchſenſchuß aus dem Fercher
Forſt her rollt im Echo über den See; — dann Alles ſtill.
Die Lichter löſchen aus, wie die Glühpunkte in einem nieder-
gebrannten Papier. Ein Huſchen noch hier hin dort hin; nun
verblitzt das letzte.


Nacht liegt über Baumgartenbrück und dem Schwilow.


[[197]]

Alt-Geltow.


I do not set my life at a pin’s fee;
By heaven, I’ll make a ghost of him that hinders me:
I say, away!
Hamlet.

Etwa tauſend Schritt hinter Baumgartenbrück, und zwar land-
einwärts, liegt Alt-Geltow.


Wenn es auch bezweifelt werden mag, daß die „alte
Boomgarde,“ die dem heutigen Baumgartenbrück den Namen
gab, wenigſtens ſo weit das Sprachliche in Betracht kommt,
bis in die ſlaviſche Zeit hinauf zu verfolgen iſt, ſo haben wir
dagegen in Alt-Geltow ein unbeſtritten wendiſches Dorf. Die
älteſten Urkunden thun ſeiner bereits Erwähnung und es nimmt
ſeinen Platz ein unter den ſieben alten Wendendörfern der
Inſel Potsdam: Bornim, Bornſtädt, Eiche, Golm, Grube,
Nedelitz und Gelte. Dieſe letztere Schreibweiſe (urſprünglich
Geliti) iſt die richtigere; Geltow indeß iſt der übliche Name
geworden.


Die Geſchichte des Dorfes geht weit zurück; aber die ſchon
erwähnten Urkunden, von denen die älteſte aus dem Jahre 933
ſtammt, ſind dürftigen Inhalts und laſſen uns, von kleinen
Streitigkeiten abgeſehen, nur das eine erkennen, daß erſt die
Familie Hellings v. Gelt, dann die Gröbens, dann die
Hakes ihren Beſitz hier hatten. 1660 gingen Dorf und Haide
an den großen Kurfürſten über und gehörten ſeitdem zu den
vielen Beſitzungen des kurfürſtlichen, beziehungsweiſe Königlichen
Hauſes in der Umgegend von Potsdam. 1842 wurde die
Haide zur Erweiterung des Wildparks benutzt.


[198]

Geltow war immer arm; dieſer Charakter verblieb ihm
durch alle Zeiten hin, und die ſchlichten Wände ſeiner Kirche,
deren wir eben anſichtig werden, mahnen nur zu deutlich daran,
daß die Pfarre, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts,
200 Thaler trug.


Wir ſchreiten zunächſt über einen Grabacker hin, der ſeit
20 oder 30 Jahren brach liegt und eben wieder anfängt, aufs
Neue beſtellt zu werden. Zwiſchen den eingeſunkenen Hügeln
wachſen friſche auf; dieſe ſtehen in Blumen, während wilde
Gerſte über die alten wächſt.


Es iſt ſpät Nachmittag; der Hollunder blüht; kleine blaue
Schmetterlinge fliegen um die Gräber; ein leiſes Bienenſummen
iſt in der Luft; aber man ſieht nicht, woher es kommt.


Die Kirchthür iſt angelehnt; wir treten ein und halten
Umſchau in dem ſchlichten Raume: weiße Wände, eine mit
Holz verſchlagene Decke und hart an der Giebelwand eine
ängſtlich hohe Kanzel, zu der eine ſteile, gradlinige Seiten-
ſtiege führt.


Und doch das Ganze nicht ohne ſtillen Reiz. Krone neben
Krone; geſtickte Bänder, deren Farben halb oder auch ganz
verblaßten; dazwiſchen Myrthen- und Immortellenkränze im
bunten Gemiſch. Das Ganze ein getreues Abbild ſtillen
dörflichen Lebens; er ward geboren, nahm ein Weib und
ſtarb.


Es iſt jetzt Sitte geworden, die Kirchen dieſes Schmuckes
zu berauben. „Es ſind Staubfänger,“ ſo heißt es, „es ſtört
die Sauberkeit.“ Richtig vielleicht und doch grundfalſch. Man
nimmt den Dorfkirchen oft das Beſte damit, was ſie haben,
vielfach auch ihr — Letztes. Die buntbemalten Fenſter, die
großen Steincrucifixe, die Grabſteine, die vor dem Altar lagen,
die Schildereien, mit denen Liebe und Pietät die Wandpfeiler
ſchmückte, — ſie ſind alle längſt hinweg gethan; „ſie nahmen
das Licht,“ oder „ſie waren zu katholiſch,“ oder „die Fruen
und Kinner verfierten ſich.“ Nur die Braut- und Todten-
kronen blieben noch. Sollen nun auch dieſe hinaus? Soll
[199] Alles fort, was dieſen Stätten Poeſie und Leben lieh? Was
hat man denn dafür zu bieten? Dieſe Todtenkronen, zur
Erinnerung an Heimgegangene, waren namentlich dem auf’s
Saubere und Ordentliche geſtellten Sinn Friedrich Wilhelm’s III.
nicht recht. In den Dorfkirchen, wo er Sonntags zum Gottes-
dienſte erſchien, duldete er ſie nicht. Er geſtattete aber Aus-
nahmen. Paſtor Lehnert in Falkenrehde erzählt: Eine alte
Coloniſten-Wittwe in meiner Gemeinde verlor ihren Enkel, den
ſie zu ſich genommen und erzogen hatte, und der ihr ein und
alles war. Sie ließ eine reich mit Bändern verzierte Todten-
krone anfertigen und begehrte, ſolche neben ihrem Sitze in der
Kirche aufhängen zu dürfen, „weil ſie ſonſt keine Ruhe und
keine Andacht mehr habe.“ Paſtor Lehnert gab nach. Der
König, bei ſeinem nächſten Kirchenbeſuch (von Paretz aus),
bemerkte die Krone und äußerte ſich mißfällig; als ihm aber
der Hergang mitgetheilt wurde, fügte er hinzu: „Will der
Frau ihre Ruhe und Andacht nicht nehmen
.“ —
Solche Fälle, wo „Ruhe und Andacht“ eines treuen und liebe-
vollen Herzens an einem derartigen, noch dazu höchſt maleriſchen
Gegenſtande hängen, ſind viel häufiger, als nüchterne Verord-
nungen Unbetheiligter vorausſetzen mögen.


Die Alt-Geltower ſcheinen ſo empfunden zu haben und
haben ihren beſten Schmuck zu bewahren gewußt. Die Giebel-
wand, an der ſich Kanzel und Kanzeltreppe befinden, iſt ganz
in Kronen und Kränze gekleidet (im Ganzen zählte ich ſieben-
zig), und dazwiſchen hängen jene bekannten, ſchwarz und weißen
Tafeln, an deren Häkchen die Kriegsdenkmünzen aus der
Gemeinde ihre letzte Stätte finden. Die eine Tafel erzählte von
1813; auf der andern las ich Folgendes: „Aus dieſem Kirch-
ſpiel ſtarben im Befreiungskriege für ihre deutſchen Brüder
in Schleswig-Holſtein:


F. W. Kupfer, gef. vor Düppel am 17. März 1864;


Carl Wilh. Lüdeke, geſtorben an ſeinen Wunden im
Lazareth zu Rinkenis am 22. März 1864.


Vergiß die treuen Todten nicht.“


[200]

Das Jahr 1866 ſchien ohne Opferforderung an Alt-Geltow
vorüber gegangen zu ſein. Aber jetzt! Manch neuer Name
wird ſich zu den alten geſellen.


In der Kirche hatte ſich ein Mann aus dem Dorfe, ich
weiß nicht, ob Lehrer oder Küſter zu uns gefunden. „Nun
müſſen Sie noch die Meuſebachſche Begräbnißſtätte ſehen,“
ſo ſagte er. Wir horchten auf, da wir von einer ſolchen
Begräbnißſtätte nie gehört hatten, folgten dann aber unſerem
neu gewonnenen Führer, bis wir draußen an einen Vorſprung
gelangten, eine Art Baſtion, wo der Kirchhofshügel ſteil abfällt.
Hier, an höchſter Stelle, die einen Ueberblick über das Dorf
und ſeine Gärten geſtattet, bemerkten wir nunmehr einen ein-
gefriedigten, mit Eſchen und Cypreſſen umſtellten Platz, deſſen
ſchlichtes, mit Convolvulus und wildem Wein umranktes Gitter
drei Epheugräber einſchloß. In ihnen ruhten Vater, Mutter,
Sohn. Die letzten ihres Namens. Das Ganze wirkte durch
ſeine große Einfachheit.


Der Vater, Karl Hartwig Gregor Freih. v. Meuſebach,
lange Zeit Präſident des Rheiniſchen Caſſations- und Reviſions-
hofes, war ein Kenner der deutſchen Literatur, zugleich ein
Sammler ihrer Schätze, wie kaum ein zweiter. Wir finden
über ihn Folgendes: „Seine bibliographiſchen Beſtrebungen
umfaßten das ganze Gebiet von Erfindung der Buchdruckerkunſt
bis auf die Gegenwart, doch ſo, daß er dem Volks- und
geiſtlichen Liede, den Schriften Luther’s, vor Allen aber
Fiſchart’s, ſo wie den nach ſeiner Meinung zu ſehr verach-
teten und vergeſſenen Schriftſtellern des 17. Jahrhunderts einen
gewiſſen Vorrang zugeſtand. Alle erheblich ſcheinenden Bücher,
welche ſeine ſcharfſinnigen Unterſuchungen ihn kennen gelehrt
hatten, ſuchte er zu erwerben. So gedieh ſeine Bibliothek zu
einer ſeltenen Vollſtändigkeit und zu einem fein gegliederten
inneren Zuſammenhange.“


Von 1819 an lebte er in Berlin, wenn ich nicht irre in
einem der Häuſer, die bei dem Neuen-Muſeums-Bau ver-
ſchwunden ſind. Hier beſuchte ihn Anfangs der 20er Jahre
[201] Hoffmann v. Fallersleben, der über dieſen Beſuch in ſeinen
„Aufzeichnungen und Erinnerungen“ berichtet.


„Schon in Coblenz hatte ich viel gehört von einem Herrn
v. Meuſebach, der von dort aus als Geheimer Rath an den
Rheiniſchen Caſſationshof in Berlin verſetzt worden ſei.


Er beſitze, ſo hieß es, eine große Bibliothek, reich an
altdeutſchen Werken, ſei ein großer Kenner und immer noch ein
eifriger Sammler. Ich erfuhr bald ſeine Wohnung: er wohnte
in dem Hauſe der Frau Friedländer hinter der kleinen Brücke,
die über den Kupfergraben auf den Muſeumsplatz und die Neue
Friedrichsſtraße zuführte. Ich ging eines Morgens zwiſchen 9
und 10 hin, ließ mich anmelden, wurde aber abgewieſen. Ich
wiederholte noch zweimal meinen Beſuch; immer aber hieß es:
„der Herr Geheime Rath ſchläft noch.“ Ich ließ mich nicht
abſchrecken und verſuchte es zum vierten Male, aber erſt um
11 Uhr. Diesmal hatte ich ſagen laſſen, der Herr v. Arnim
habe mich ja ſchon angemeldet. Nach einiger Zeit kehrte der
Bediente zurück: ich möchte eintreten.


Herr v. Meuſebach war in eifrigem Geſpräch begriffen mit
Frau v. Savigny, begrüßte mich, ließ mich ſtehen und ſetzte
ſein Geſpräch fort. Frau v. Savigny war ſo geſprächig, daß
ſich gar kein Ende abſehen ließ. Endlich nach einer Viertel-
ſtunde war der Born ihrer Beredtſamkeit verſiegt und ſie
empfahl ſich.


Meuſebach wendete ſich nun an mich. Ich ſprach einfach
aus, was ich von ihm wünſchte, nämlich ſeine Bücher zu ſehen.
Das gefiel ihm. Ehe er mir aber etwas zeigte, öffnete er die
Thür zur Bibliothek und holte links aus der Ecke zwei geſtopfte
Pfeifen und bot mir die eine an. Als wir ſo recht damit im
Zuge waren, ſchloß er eine Tapetenthür auf; in dieſem unbe-
merkten Wandſchrank wurden die Lieblingsbücher und koſtbarſten
und ſeltenſten aufbewahrt. Zuerſt zeigte er mir das Lutherſche
Geſangbuch von 1545. „Was ſagen Sie dazu?“ Ich freute
mich, ſtaunte, bewunderte. Es folgte nun eine ganze Reihe
derartiger Bücher, die ich alle noch nie geſehen hatte. Die
[202] Bücherſchau dauerte bereits über anderthalb Stunden, da trat
Friedrich der Bediente ein: „Herr Geh. Rath, es iſt angerichtet.“
Das ſtörte uns nicht, wir fuhren in unſerem angenehmen Ge-
ſchäfte fort. Friedrich kam wieder: „Herr Geh. Rath, das Eſſen
ſteht ſchon längſt auf dem Tiſche.“ „Gut. Nun kommen Sie
mit.“ Ich hatte früher nie Sauerkraut eſſen können, heute
ſchmeckte es mir vortrefflich, ſowie der leichte Moſelwein (einen
andern führte der Herr Geheime Rath nicht). Frau v. Meuſe-
bach lachte, daß ich es heute ſo ſchön getroffen hätte. Die
Unterhaltung war ſehr heiter. Ich erzählte allerlei hübſche Ge-
ſchichten ſo unbefangen, als ob ich in einem Kreiſe alter lieber
Freunde mich befände.


Nach Tiſche begaben wir uns wieder an unſern Wand-
ſchrank. Als der Kaffee kam, holte ich mir ſelbſt eine friſch
geſtopfte Pfeife, — Friedrich mußte immer an die dreißig wohl-
gereinigt und geſtopft im Gange erhalten. Meuſebach ergötzte
ſich ſehr, daß ich ſchon ſo gut Beſcheid wußte.


Wir begannen von Neuem die Bücherſchau. Es wurde
Licht angezündet, wir ſetzten uns. Jetzt kamen die Liederbücher
und die Fiſchartiana an die Reihe. Meine Freude ſteigerte
ſich. Der Thee wurde gebracht. Frau v. Meuſebach kam mit
ihren Kindern. Das ſtörte uns weiter nicht. Wir unterhielten
uns und beſahen Bücher; Thee und Eſſen war Nebenſache. Die
Kinder gingen wieder fort, Frau v. Meuſebach folgte bald nach,
wir waren wieder allein. Eine friſche Pfeife wurde angebrannt.
Es war bereits ſpät. Ich wollte nach Haus, mußte aber
bleiben. Es wurde zwölf, es wurde eins. Immer noch kein
Ende. Da kam Meuſelbach auf meine „Liederhandſchrift,“ die
ich das Glück gehabt hatte auf einem Trödel in Bonn zu ent-
decken, zu ſprechen und meinte, es wäre hübſch, wenn er das
Buch mal ſehen könnte. Das „Sehen“ verſtand ich recht gut und
beſchloß bei mir, es ihm zu Weihnachten zu verehren. Endlich
um halb 2 ſchieden wir und waren nach funfzehntehalb
Stunden erſter Bekanntſchaft beide recht friſch und vergnügt.
Ich mußte verſprechen, meinen Beſuch bald zu wiederholen, und
[203] es fiel mir denn auch nicht im Geringſten ſchwer, recht bald
Wort zu halten.“


Gegen Ende ſeines Lebens hin, empfand Meuſebach immer
tiefer das Bedürfniß, ungeſtört ſeinen Studien leben zu können.
Er gab ſeine hohe richterliche Stellung auf (1842) und zog
ſich nun nach Alt-Geltow zurück. Mit ihm ging ſeine
Bibliothek. Aber nicht lange mehr hatte er ſich dieſer Muße zu
freuen. Er ſtarb am 22. Auguſt 1847. Seine Bibliothek,
ein Schatz, wurde 1849 ſeitens der preußiſchen Regierung
erſtanden und der Berliner Bibliothek einverleibt.


Hatte der Vater der ſtillen Welt ſeiner Bücher angehört,
ſo gehörte der Sohn (ſeiner äußeren Stellung nach ebenfalls
Juriſt) um ſo voller der Außenwelt, dem Markt des Lebens
an. Er war in eminentem Sinne ein „Lebemann,“ geiſtreich,
ſchlagfertig, eine feine und ſpitze Zunge zugleich. Die März-
Ereigniſſe zogen ihn in die Politik; ſein berühmter Ausſpruch:
„ich rieche Leichen,“ womit er in den Octobertagen deſſelben
Jahres auf die Tribüne trat, iſt unvergeſſen geblieben und ein
geflügeltes Wort geworden. Die 50 er Jahre ſahen ihn im
diplomatiſchen Dienſt, erſt als Generalconſul in den Donau-
fürſtenthümern, dann als Geſandten in Braſilien. Seine Wunder-
lichkeiten wuchſen. 1854 in Giurgewo war er im türkiſchen
Kugelregen nicht nur ſpazieren gegangen, ſondern hatte ſeinen
Rattenfänger auf das Apportiren von Sprengſtücken abgerichtet;
acht Jahre ſpäter in Rio verfiel er dem Wahnſinn. Seine
Lebensweiſe hatte die angeborene Excentricität unterſtützt. „Cham-
pagner in Eis“ war ſein ſteter Begleiter und ſeine oft abge-
gebene Verſicherung, „daß er ſeines Vaters Bibliothek in den
Keller getragen habe,“ war nur allzu richtig. So konnte die
Kataſtrophe kaum ausbleiben. Eine reich angelegte Natur ging
in ihm zu Grunde.


Daß ich Gräbern wie dieſen auf dem Geltower Kirchhofe
begegnen würde, der Gedanke hatte mir fern gelegen. Ich las
die einfachen Inſchriften, nahm ein Epheublatt vom Grabe des
Vaters und ſtand noch immer wie im Bann dieſer Stätte.


[204]

Unſer Führer endlich löſte ihn. „Da drüben iſt noch ein
Grab, das Sie ſehen müſſen.“ — Zugleich brach er auf und
gab uns dadurch das Zeichen, ihm zu folgen.


Ein dichtes Fliedergeſtrüpp hatte uns wie eine Couliſſe
von dem eigentlichen Kirchhof, der jetzt, wie erwähnt, ſeine
zweite Beſtellzeit hat, getrennt, und wir ſtanden nunmehr,
nachdem wir das Geſtrüpp glücklich durchbrochen, vor einer
kleinen Gräberreihe, die das ſo lange brach gelegene Feld neu
zu durchziehen begann. Eines der Gräber war beſonders gehegt
und gepflegt: ein Gartenbeet mit Roſen und Nelken, mit Lev-
kojen und Heliotrop dicht überwachſen. Zu Häupten des Grabes
ſtand ein Kreuz, dahinter hohe Malven. Die Inſchrift lautete:
„Hier ruhet in Gott Johann Schupke, geb. d. 1. Feb. 1822,
geſt. d. 30. Novbr, 1865. Jeſaias Cap. 57 V. 2: „Und
die richtig vor ſich gewandelt haben, kommen zum Frieden und
ruhen in ihren Kammern.“


Die Sonne war am Untergehen; die ſchönſte Zeit des
Tages, zumal für eine märkiſche Landſchaft. Wir ließen deshalb
die Gräber, unterbrachen unſer Geſpräch und ſtiegen die Kirch-
thurmtreppe hinauf, um uns, nachdem wir die Luken geöffnet,
der im Golde daliegenden Schwilow-Ufer zu freuen. Wie
ſchön! Hier oben erſt erneute ſich das Geſpräch. „Ja von
unſerm Schupke wollt’ ich erzählen,“ ſo hob unſer Führer an.
Ich nickte zuſtimmend.


Gott hab’ ihn ſelig, das war ein Mann und durch ſchwere
Schulen war er gegangen! Wen Gott lieb hat, den züchtigt er.
Und das muß ich ſagen, wenn der Himmel je einen preußiſchen
Förſter lieb gehabt hat, dann hat er Schupken lieb gehabt.


War er ein Alt-Geltower? fragte ich, um wenigſtens etwas
von Theilnahme auszudrücken.


Da ſeh ich, daß Sie ihn nicht gekannt haben. Er war
ein Schleſier, aus dem Rieſengebirge oder ſo herum, und ſprach
das Rübezahl-Deutſch bis an ſein ſeliges Ende. Nie iſt ein
reines a über ſeine Lippen gekommen.


Wie kam er denn in dieſe Gegenden?


[205]

Wie ſo viele andre hierher kommen. Er wurde nicht lange
gefragt. Sie hoben ihn aus, und ein ſchmucker Junge, wie er
war, nahmen ſie ihn zur Garde. Er ſtand bei den Jägern.


Und durch ſchwere Schulen iſt er gegangen, ſagten Sie?


Das will ich meinen! Laſſen Sie ſich erzählen. Der
grüne Jägerrock ſticht in die Augen; grün geht noch über blau;
kurz und gut, Schupke wurde ein glücklicher Liebhaber. Der
Himmel hing ihm voller Geigen. Ob er das Mädchen heirathen
wollte, weiß ich nicht, aber ſie hielt zu ihm, und eines Tages,
(der Böſe hatte ſein Spiel,) ſchenkte ſie ihm Uhr und Kette.
Eine goldene Uhr. Es ſei ein Erbſtück; ein Onkel von ihr ſei
geſtorben.


Das hätte nun unſern Schupke wohl ſtutzig machen ſollen;
aber der Menſch iſt eitel, und wenn er hübſch iſt und erſt
22 Jahr, dann iſt er’s doppelt, kurzum Schupke nahm die
Uhr und freute ſich dran; die kleine goldene Kette paradirte
zwiſchen dem dritten und ſechsten Knopf, und wenn ihm ein
Gedanke durch den Kopf ging, ſo dachte er: „es ſterben ſo
Viele; warum ſoll er nicht geſtorben ſein?“


Es ſterben ſo viele Onkel, aber ihr Onkel, des Mädchens
Onkel war nicht geſtorben und ſchon am andern Tage hieß es:
des alten Wolffenſtein goldene Uhr wird vermißt, Uhr und
Kette; und eine Stunde ſpäter hieß es: man weiß wer ſie hat;
ſie hat es geſtanden.


Das ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt; es kam auch
in die Jäger-Kaſerne. Schupke wurde leichenblaß. Ein
unbeſcholtener Mann, makellos, aller Leute Liebling, — und
nun entehrt. „Ich hab es nicht gewußt;“ aber wer hätt’ es
geglaubt? Der Schein war gegen ihn. Es ſchüttelte ihn am
ganzen Leibe; er riß das Fenſter auf, um wieder frei zu
athmen; es half nichts; ein furchtbares Anklagewort gellte ihm
vor den Ohren; er hörte das Ticken der unglückſeligen Uhr auf
ſeiner Bruſt; er that ſie weg — es tickte noch.


Es mußte ſein; er nahm ſeine Büchſe und ging hinaus.


Aber das Leben iſt ſüß. Er irrte draußen umher, erſt an
[206] der Havel hin, dann links in den Forſt hinein. „Jetzt!“ Er
riß ſeinen Rock auf. Nein, noch nicht. So vergingen Stunden.


Wo iſt Schupke? hieß es derweilen in der Kaſerne. Man
öffnete ſeinen Schrank. Da lagen Uhr und Kette. Man ſah
auf den Büchſenſtand. Eine Büchſe fehlte; Schupkes. Alles
war klar.


Der Hauptmann ſeiner Compagnie, Graf Schlieffen, warf
ſich auf’s Pferd. Der Weg war wie vorgeſchrieben. Er ſagte
ſich: ein Jäger iſt in den Wald gegangen. 500 Schritt
hinterm Schützenhauſe begegnete ihm ein Mann, der Reiſig auf
ſeiner Karre heimkarrte. „Guten Tag, Papa, habt Ihr nicht
einen Gardejäger hier herum geſehen?“


„Woll, den hebb ick ſehn. Reitens man to, Herr Haupt-
mann. Mit den Jäger is et nich richtig. Ick kaek durch dat
Kirchhof-Door. Do läg he an een von de Gräber up ſine
Knie, un ick hürte, wie he liſe beden und ſpreeken deih. Un
denn legt he ſinen Kopp up det Grab, immer deeper int Gras.
Mit den Jäger is et nich richtig. Reitens man to, Herr
Hauptmann.“


Alſo doch. Graf Schlieffen jagte vor. In einer Minute
hielt er an dem halb angelehnten Thorflügel. Da lag der
Gardejäger noch auf ſeinen Knieen, wie der Reiſigſammler erzählt
hatte, und betete. Schupke! rief der Graf.


Schupke ſprang auf und griff nach ſeiner Büchſe. Er ſah
wie geſtört aus; dann winkte er mit der Hand, wie um an-
zudeuten: der Graf ſolle ihn nicht ſtören.


Der aber ritt näher. Schupke winkte noch einmal. Als
der Graf auch jetzt noch weiter vorritt, griff Schupke nach der
neben ihm liegenden Büchſe: Zurück, Herr Hauptmann, oder
ich ſchieße!


Der Graf hielt; — ein Gardejäger trifft ſeinen Mann.
So war Zeit gewonnen. Im nächſten Augenblick aber fiel ein
Schuß. Schupke hatte ſich durch die Bruſt geſchoſſen.


Auf einer Bahre trugen ſie ihn hinein. Er ſchien ein
Sterbender. Aber die Jugend war ſtärker als der Tod. Drei
[207] Jahre lang lag er im Lazareth (die Kugel hatte ihm ein Stück
Tragband mit in die Lunge gejagt); dann ſtand er auf und
war ein geneſener Mann. Kein Menſch in Potsdam ſprach
von dem, was vorher gegangen war; in Mitleid war jede
andere Betrachtung untergegangen; jeder hatte ein tiefes Mit-
gefühl für den Mann von Ehre, der die leiſe Schuld, die ihn
traf, mit ſeinem Blute bezahlt hatte. Er verließ das Lazareth
und wurde Förſter in der Pirſchhaide. Hier, wo die Lichtung
iſt, dort ſtand ſein Haus.


Das Trauerſpiel war aus; das Idyll begann. Er ſchloß
eine glückliche Ehe, und ehe zehn Jahre in’s Land gegangen
waren, war er eine „Figur“ in Havelland und Zauche. Er
trat wie ein Sonnenſchein in jeden Kreis; jedes Geſicht wurde
heiterer, die Kinder liefen ihm entgegen und reichten ihm die
Hand. Er hatte die glücklichſte Miſchung: einen feſten Sinn
und ein freundliches Herz.


So lebte er in unſerer Mitte, unſeres Dorfes Stolz, ſich
und Anderen zur Freude. Aber er ſollte nicht zu hohen Jahren
kommen. Eines Morgens — alle Dächer lagen in Reif und
die Sonne ſtand wie eine rothe Kugel über den Bäumen, —
da lief es von Haus zu Haus: Schupke iſt todt. Es war nur
allzu wahr.


Er hatte einen eigenen Tod gehabt. Einen etwas engen
Stiefel mit Gewalt anziehend, war eines der vernarbten Blut-
gefäße wieder geplatzt und der Erguß in die Lunge hatte ſeinem
Leben ein Ziel geſetzt.


Drei Tage ſpäter haben wir ihn begraben. Keiner fehlte.
Es waren herzliche Thränen, die auf ſein Grab fielen. Die
Pirſchhaide hatte keinen beſſern Mann geſehen.


So erzählte unſer Führer. Die Sonne war inzwiſchen
untergegangen; wir gaben unſern Lukenplatz auf und ſtiegen
hinunter. Ein weißer, kaum fußhoher Nebel zog über den
Kirchhof hin und hüllte die Gräber ein; aber die Kreuze [...]agte [...]
hell darüber hinaus und auf der goldenen Inſchrift des einen
lag es wie ein letzter Schimmer.


[[208]]

Neu-Geltow.


Seit drei Menſchenaltern ſchöpft ihr
Aus dem Meere dieſer Weisheit;
Habt ihr keinen Tropfen, laßt mich
Wiſſen trinken, denn mich dürſtet.
Scherenberg. (Der letzte Maurenkönig.)

Es dämmerte und die erſten Sterne zogen blaß herauf,
als wir unſern Heimweg antraten. Unſer Specialführer auf
dem Alt-Geltower Kirchhof blieb zurück. Welche Gegenſätze
hatten eben zu uns geſprochen! Ein gelehrter, bienenfleißiger
Sammler; ein Lebemann, „der die Bibliothek ſeines Vaters in
den Keller trug,“ und als Dritter ein Parkhüter, der in den
Bäumen ſeines Wildparks ſo gut Beſcheid wußte, wie ſein
Nachbar in ſeinen Büchern. Ein ſchlichtes Daſein, dieſe Park-
hüter-Exiſtenz, und doch war der blutige Ernſt des Lebens
erſchütternder an ſie herangetreten, als an das Leben deſſen,
der im Granatregen von Giurgewo ſpazieren gegangen war und
13 Duelle als Geſandter in Rio auf einmal contrahirt hatte.


So plauderten mein Gefährte und ich, bis die wechſelnde
Scenerie unſerem Geſpräch eine andere Richtung gab. Wir
hielten immer noch die Dorfſtraße inne; aber das Dorf ſelbſt
ſchien ein anderes geworden, und in der That waren wir aus
Alt-Geltow in Neu-Geltow hineingenrathen. Der Unterſchied
war ſo groß, daß er ſich uns aufdrängen mußte. Der dörfiſche
Charakter hatte aufgehört, Sommerhäuſer waren an ſeine Stelle
getreten; klein, einſtöckig, aber von großer Sauberkeit, und
üb [...]all da, wo ein Vorgarten war oder wo ſich Caprifolium-
und Roſenbüſche um Thür und Fenſter zogen, voll Anmuth
und maleriſchem Reiz. In Front der Häuschen ſtanden gedeckte
[209] Tiſche: Cabarets, Fruchtſchalen mit Erd- und Himbeeren gefüllt,
Milchſatten und geriebenes Schwarzbrod, während in der Mitte
der dichtbeſetzten Tafel ein Thee-Apparat und eine Milchglas-
Lampe aufragte, deren Flamme ohne jegliches Flackern brannte;
denn kein Luftzug ging. Dies Bild wiederholte ſich von Haus
zu Haus, und ihre Geſammtheit erinnerte mich lebhaft an kleine
Oſtſee-Badeörter, wo an Juli-Abenden die Binnenländiſchen
von Spree und Havel in Front der Schiffer- und Lootſen-
Häuſer ſitzen und ſich an Blaubeeren mit Milch erlaben, wäh-
rend irgend eine Flagge oder ein rother Wimpel von dem
Frontgiebel des Hauſes niederhängt.


Die Scenerie dieſelbe, aber nicht die Menſchen. Während
in jenen Badeörtern das Weibliche prävalirt und die ſcharf
accentuirten Laute, die jetzt Agathen und Eliſen, jetzt Helenen
und Clementinen zur Ordnung rufen, ſchon auf dreißig Schritt
keinen Zweifel darüber laſſen, daß hier eine Reſidenzmutter ſich
niedergelaſſen hat, — wir ſagen: während das Weibliche, die
Glucke mit den Küchlein, die Signatur jener baltiſchen Bade-
plätze iſt, herrſcht hier das Männliche bis zu einem Grade
vor, daß man Neu-Geltow als ein ausgebautes Mönchskloſter
bezeichnen könnte, als eine Benedictiner-Genoſſenſchaft, deren
Zellen in Geſtalt kleiner Häuschen neben einander geſtellt wor-
den ſind.


Ich habe dieſe Auswahl unter den Mönchsorden mit
gutem Vorſatz getroffen, denn die Benedictiner ſind die Studir-
Mönche und was hier in dieſen Neu-Geltower Zellen hauſt
und wohnt, daß ſind in der That Wiſſenſchafts-Befliſſene, das
ſind junge Männer, die ſich an dieſer ſtillen, abgelegenen Stelle
„Studirens halber“ aufhalten.


Es hat damit folgende Bewandtniß.


In Preußen (wie in China) iſt nichts ohne Examen! Alle
Examina ſind Klippengrund, beſonders die juriſtiſchen. Aber
wenn ſchon das Examen des Gerichts-Aſſeſſors den gefürch-
teten „Needles“ entſpricht, in deren Umkreis die Schiffe zu
Hunderten liegen, ſo entſpricht das Examen des Regierungs-
Fontane, Wanderungen. III. 14
[210] Aſſeſſors den Goodwin-Sands, wo die Maſtſpitzen der Ver-
lorengegangenen ſo dicht aufragen, wie die Kreuze auf einem
großſtädtiſchen Kirchhof.


Solche und ähnliche Betrachtungen mochten es ſein, die
vor etwa 20 Jahren einen Dr. Foerſtermann anſpornten, der
bedrängten Menſchheit zu Hilfe zu eilen. Dem Plan folgte die
Ausführung. In das ſchöne, beinah ſchloßartig gelegene Haus
des alten Meuſebach zog der junge Doktor ein; die Bibliothek-
zimmer wurden zu Klaſſen und Auditorien, und ein Inſtitut
entſtand, das ſich, „einem tiefgefühlten Bedürfniß entſprechend,“
raſch emporarbeitete und die Zahlen und Tabellen der Schiff-
bruch-Statiſtik erheblich reducirte, während Neu-Geltow mehr
und mehr jenen Kloſtercharakter annahm, den wir vorſtehend
bezeichnet haben. Auch ein Gelübde hatten die Eintretenden zu
leiſten; keins der drei großen (am wenigſten das der Armuth),
wohl aber das eine: jede der beim Examen an ſie gerichteten
Fragen gewiſſenhaft zu notiren und mitzutheilen. Dieſe Fragen,
nunmehr Eigenthum des Inſtituts, wurden in das goldene Buch
des Hauſes eingetragen und was in Upſala der Codex argenteus,
oder in London die Tiſchendorfſche Bibel iſt, das wurde im
Foerſtermannſchen Inſtitut dieſer Codex aureus. An ihm hing
alles; er wog alles andere auf. Es war der Koran des Omar.
„Wenn in anderen Büchern daſſelbe ſteht, ſo ſind ſie überflüſſig;
wenn in ihnen etwas anderes ſteht, ſo ſind ſie unbrauchbar,
gefährlich.“ Wie die Welt auf der Schildkröte ruht, ſo ruhte
das Inſtitut auf dieſem Buch. Und doch kam es anders, als
Dr. Foerſtermann gedacht hatte.


Die Zeit ſchritt vorwärts, Preußen mit, und mit ihm —
ſeine Steuern. Ruhm war nie billig. An Dr. Foerſtermanns
Thür klopfte die „Einſchätzungscommiſſion,“ klopfte häufiger
und immer ſtärker, und müde der drohenden Schraube ohne Ende,
ſchloß er daß Inſtitut. Die Studirmönche von Neu-Geltow waren
haupt- und führerlos; der Orden ſchien ſeiner Auflöſung nahe.


Aber er ſchien es nur. Ein junger begnadeter Referenda-
rius, der noch nicht lange genug da war, um den Wald vor
[211] Bäumen nicht zu ſehen, trat in den Kreis der bemooſten Häupter
und ſprach wie folgt: „Brüder! Ein Blitz aus heiterm Himmel
hat unſern Orden getroffen. Wir ſind wie gelähmt. Aber
verloren iſt nur, was ſich ſelber verloren giebt. Ich ſchlage vor:
geben wir uns nicht verloren. (Beifall. Ironiſches Lächeln.)
Ich wiederhole: geben wir uns nicht verloren. Commilitonen,
wir haben das goldene Buch. (Nein, nein! ja, ja!) Wir
haben das goldene Buch. Wir haben nicht den todten Ein-
band, (gut, gut!) aber wir haben Alles, was lebendig an dieſem
Buche iſt, wir haben — die Fragen. Wir kennen ſie, ſie
ſind uns gegenwärtig. Was ſoll uns die Aufzeichnung? Was
ſoll uns das Geſchriebene? Wir haben die Tradition. Wir
ſind führerlos, führen wir uns ſelbſt. Der Staat, unſer
Staat über Alles. „L’état c’est nous!“


Eine außerordentliche Bewegung hatte ſich Aller bemächtigt.
„Das Ei des Columbus!“ riefen einige der Bemooſten. Man
ſchüttelte ſich die Hände, es war eine Scene wie auf der Rütli-
Wieſe; alte Gelübde wurden erneuert und was mehr iſt, man
hielt ſie. Neu-Geltow blieb. Die villenartigen Häuschen, die,
wenn der Exodus Referendariorum eine Wirklichkeit geworden
wäre, längſt ihr zierliches Blüthengerank mit Kürbis und
Stangenbohnen vertauſcht haben würden, verblieben in ihrem
Roſen- und Geisblatt-Schmuck, und nichts war geſchehen als
— die Verfaſſung war geändert. Die monarchiſche Spitze war
abgebrochen, — errungen war eine freie Schweiz.


Während wir über Dies und Aehnliches ſprachen, hatten
wir die letzten Häuſer von Neu-Geltow erreicht, und müde vom
Marſchiren, dazu trocken in der Kehle, ſetzten wir uns auf eine
am Ackerrand liegende Walze, um hier aus freier Hand ein
etwas verſpätetes Vesperbrot einzunehmen. Ich richtete dabei
allerhand Fragen an meinen Gefährten, der, wie ſich der Leſer
aus früheren Capiteln freundlich erinnern wird, dieſe Territorien
zwiſchen Havel und Schwilow-See wie ſeine zweite Heimath
kannte, und ließ mir, unter immer wachſendem Intereſſe, von
den ſocialen Zuſtänden dieſer Colonie erzählen, von Parteien
14*
[212] und Gegenſätzen, von Krieg und Frieden, von Reunions und
Feſtlichkeiten und von den delicaten Beziehungen zwiſchen Wirthen
und Miethern.


„Dieſe Beziehungen,“ ſo nahm der Gefährte eingehender
das Wort, „ſind ſehr gut, wie Sie ſich denken können; es wird
hier ſtudirt, aber es wird doch auch gelebt, und überraſchlich iſt
mir immer nur das Eine erſchienen, daß, bei aller perſönlichen
Hinneigung zu der unter ihnen weilenden jungen Rechts- und
Regierungs-Welt, die Hauswirthe und Villenbeſitzer, die Autoch-
thonen von Neu-Geltow, eine entſchiedene Vorliebe für höchſt
unjuriſtiſche Aushilfen an den Tag legen. Ob die in den
Zimmern ihrer Miether aufgehäuften Wälzer und Pandektenſtöße
die Frage in ihnen angeregt haben: „wer ſoll da Recht finden?“
— gleichviel, es iſt eine Thatſache, daß ſie eine Art Paſſion
für das aide toi même und für ein „abgekürztes Gerichts-
verfahren“ haben.


„Sehen Sie hier drüben das Haus neben dem Eiskeller?“
fuhr mein Reiſegefährte fort. Ich nickte. „Nun gut; in dem
zweiten Hauſe dahinter, mit den Jalouſieen und der kleinen
Veranda, wohnen zwei Brüder, Kaufleute ihres Zeichens, die ſich
aus den Geſchäften wohl oder übel zurückgezogen haben und als
Zimmervermiether und Hoteliers kleineren Styls in der friſchen
Luft von Neu-Geltow das Nützliche mit dem Angenehmen zu
verbinden trachten. Sie heißen Robertſon, erzählen von einem
räthſelhaften Urgroßvater, der aus Schottland hierher verſchlagen
wurde, und haben ihre Sophas mit Tartan in den Clan-
Farben der Robertſons überzogen. Ihre Vornamen ſind Wil-
helm und Robert, wobei jener, wenn es ſich darum handelt „to
do the honors for all Scotland“
im Vortheil iſt, indem er ſich
beliebig aus einem Wilhelm in einen William umwandeln kann,
während der jüngere durch eine Art Sprachtücke unter allen
Umſtänden ein Robert bleibt. Er hat dafür den Vorzug der
Alliteration und eines gewiſſen Scandinavismus: Robert Robertſon.


Sie müſſen dieſe Abſchweifung meiner Erzählung verzeihen.
Aber die beiden Brüder ſind eben die Helden meiner Geſchichte,
[213] und wenn es auch eine bekannte Sache iſt, daß man ſeine
Lieblingsfiguren am beſten durch Thatſachen ſchildert, ſo werden
Sie doch eine kurze Charakteriſirung gelten laſſen.


Robert, zu der Zeit, wo meine Geſchichte ſpielt, hatte die
linke, Wilhelm die rechte Seite des Hauſes inne. Sie können
deutlich die Giebelfenſter des Letzteren ſehen. Es war an einem
friſchen Octobermorgen, die Sonne war noch nicht heraus, als
Robert an die Jalouſieen von ſeines Bruders Schlafzimmer
pochte. Dieſer ließ nicht lange auf ſich warten und öffnete:
„Wilhelm, ſie ſind bei Dir eingebrochen.“ Das war ein Don-
nerwort.


Aber über Wilhelm kam jetzt der alte Geiſt ſeiner Heimath;
die Schotten ſind ſcharf in Mein- und Dein-Fragen; er ſprang
in die Kleider, dann in den Hof. Wer ihn geſehn hätte, hätte
ausrufen müſſen: jeder Zoll ein William. Der Einbruch war
raſch conſtatirt; der Dieb war mit Hilfe einer Feuerleiter in das
oberſte Giebelfenſter, (wo Sie jetzt das Licht ſehen) eingeſtiegen,
hatte dem nachbarlichen Rauchfang drei Schinken und ſieben
Würſte, einer auf dem Boden ſtehenden Truhe ein Bettenbündel
entführt und war dann auf demſelben Wege verſchwunden, auf
dem er gekommen war. Die Feuerleiter wieder an ihren Platz
zu bringen, hatte er nicht für nöthig befunden.


Einen Augenblick ſchien guter Rath theuer, als Robert,
ohne eine Ahnung von der Wichtigkeit ſeiner Bemerkung zu
haben, vor ſich hinmurmelte: „und der Kinderwagen iſt
auch weg.“


Der ältere Bruder richtete ſein Auge nach der Schuppen-
Ecke, wo ſonſt der Wagen zu ſtehen pflegte; die Stelle war leer;
er ſtieß die linke Fauſt triumphirend in die Höh und ſchrie:
„Jetzt kriegen wir ihn.“ Es war erſichtlich, daß der Dieb ſich
des Wagens bemächtigt hatte, um ſeine Beute raſcher und
bequemer fortſchaffen zu können; dem Beſtohlenen aber ſtand es
auf einen Schlag vor der Seele, daß er an der Apartheit der
Räderſpur eines Kinderwagens
, die Spur des Feindes
und endlich ihn ſelber finden würde.


[214]

Sollen wir Anzeige machen? unterbrach Robert.


„Ei, was, Anzeige. Das wiſſen wir in Neu-Geltow
beſſer.“ Damit ſprang er ins Haus zurück, ſtülpte ſich eine
Filzkappe auf und ſtand im nächſten Moment mit zwei Dorn-
ſtöcken wieder auf dem Hof. „Da nimm.“


Willſt Du nicht lieber die Piſtolen …


Nein, ein Knittel geht immer los. Damit trat er auf die
nach Potsdam führende Chauſſee. Der Bruder folgte.


Nun begann ein Suchen, wie es ſeit den Tagen des
„letzten Mohikaners“ nicht mehr erlebt worden iſt. Alle Künſte,
die Falkenauge in ſeinen beſten Momenten geübt, alle Inſtincte,
die den Uncas und Chingachgook jemals ſiegreich geleitet, wenn
ſie aus einem abgebrochenen Tannenzweig oder aus dem Tritt
der Mocaſſins die Spur zu entdecken und die ſchon verlorene
wieder aufzufinden wußten, alle dieſe Künſte und Inſtincte ſie
wurden überboten von dem, was jetzt William Robertſon in
dieſer frühen Octoberſtunde leiſtete. Das Terrain war das
ſchwierigſte von der Welt. Es hatte in der Nacht geregnet,
und der Staub, der ſonſt auf der Chauſſee liegt, war weggeſpült
worden. Aber wenn die harte Steinſtraße keine Spur heraus-
gab, ſo zeigte ſie ſich dafür allemal da, wo der Kinderwagen
momentan in den ſogenannten Sommerweg eingebogen war, wie
in eine Form gegoſſen. Die Brüder ſprachen kein Wort, aber
in ſolchem Augenblick begrüßten ſich ihre Blicke.


So hatten ſie die Spur bis zum Thore verfolgt; hier
mußte ſichs entſcheiden. War er ein Potsdamer und hier in
die Stadt hineingefahren, ſo waren alle Mühen umſonſt
geweſen; war er aber ein Berliner (und allerhand Zeichen
hatten ſchon dafür geſprochen), war er ſtatt in die Stadt, um
dieſe herum und auf die Berliner Chauſſee gebogen, ſo mußte
er eingeholt werden. Richtig; da war die Spur. Der
Sieg geſtaltete ſich muthmaßlich nur noch zu einer Frage der
Zeit.


Alſo weiter. Es war jetzt ſchon um die neunte Stunde.
Als ſie eben die große Glinicker Brücke paſſirt hatten, ſahen ſie
[215] eine Schwadron Garde-Huſaren des Weges kommen. „Habt
ihr nicht einen Mann und einen Kinderwagen geſehn?“ Ja
wohl; er muß jetzt hinter Drei-Linden ſein, auf Neu-Zehlen-
dorf zu.


Die Hoffnung ſank wieder. Der Vorſprung war zu groß.
Die Kräfte ließen nach. In dieſem kritiſchen Moment indeſſen
kam von einem der Etabliſſements her eine Morgendroſchke
gefahren, die nach Potsdam zurück wollte. „Halt! 20 Sgr.
bis Neu-Zehlendorf.“ Der Kutſcher rührte ſich nicht. „Einen
Thaler.“ Er nickte. „Noch ein Trinkgeld Kutſcher, aber nun
laßt euren Wettrenner laufen.“


Was ſoll ich die Kataſtrophe länger hinausſchieben! Sie
errathen ohnehin den Ausgang. In einem Chauſſeegraben
zwiſchen Drei-Linden und Zehlendorf, hart zur Linken des
Weges, ſaß der Gegenſtand dieſer energiſchen Suche und früh-
ſtückte, eine der geraubten Speckſeiten neben ſich, mit der ganzen
Ruhe eines guten Gewiſſens, während der Kinderwagen mit
ſeinem Bettenbündel wie das Junge eines Frachtwagens mitten
auf der Chauſſee ſtand. Dieſer letztere Umſtand ſollte dem
argloſen Frühſtücker beſonders verhängnißvoll werden, denn die
geſtörte Straßen-Communication ließ nunmehr ein Ausbiegen
nach links hin (ein „Gewinnen der inneren Linie“ wie die
Strategen ſagen würden), völlig unverfänglich erſcheinen. So
gelang ein totaler Ueberfall. Im Moment des Vorbeifahrens
ſtürzten ſich die beiden Brüder aus der ſchon vorher leiſe
geöffneten Droſchkenthür auf ihr Opfer, entriſſen ihm, unter
Geltendmachung ihrer „immer los gehenden Waffe,“ das Klapp-
meſſer, das der Ueberraſchte einen Augenblick Miene machte
à deux mains zu gebrauchen, und luden ihn dann ein, den
Mittelplatz in ihrer Droſchke einzunehmen. „Er werde wohl
müde ſein.“ Der Kinderwagen wurde angehakt; ſo ging es
im Triumph rückwärts, über die Glienicker Brücke. „Jetzt
wollen wir Anzeige machen,“ rief William ſeinem Bruder
zu. „Wer die Doctors kennt, kurirt ſich erſt
ſelber.“


[216]

Da haben Sie meine Geſchichte. Sie mag Ihnen den
Satz illuſtriren, womit ich anfing, die Neigung zum „abgekürzten
Verfahren.“


Unſer Vesperbrot war längſt beendet; wir erhoben uns
von unſrer Walze und ſchritten munter in den Forſt hinein.
Es dunkelte ſtark, trotzdem die Sterne jetzt heller ſchienen. Wo
eine Lichtung war und ein mäßig heller Schein auf den Weg
fiel, muſterte ich unwillkürlich die Gleiſe, ob nicht eine Kinder-
wagen-Spur ſie durchſchnitt oder begleitete.


[[217]]

Werder.


Die Inſel und ihre Bevölkerung. Stadt und Kirche.
„Chriſtus als Apotheker.“


Es möchte ſich niederneigen
In die ſpiegelklare Fluth,
Es möchte ſtreben und ſteigen
In der Abendwolken Gluth.
Uhland.

I do remember an apothecary
And here about he dwells; … green earthen pots
Where thinly scatter’d to make up a show.
Shakespeare.

Der Reiſende, den von Berlin aus ſein Weg nach Weſten
führt, ſei es um angeſichts des Kölner oder auch ſchon des
Magdeburger Domes zu landen, hat — wie immer ablehnend
er ſich gegen die Schönheiten von Mark Brandenburg verhalten
möge — wenigſtens zu Beginn ſeiner Fahrt, ſo lange die grünen
Hänge von Potsdam ihm zur Seite bleiben, einige Partien zu
durchfliegen, die er nicht Anſtand nehmen wird, als Oaſen
gelten zu laſſen. Wenn aber all’ die lachenden Bilder zwiſchen
Schloß Babelsberg und dem Pfingſtberg, zwiſchen der Pirſch-
haide und dem Golmer Bruch ihn unbekehrt gelaſſen hätten, ſo
würde doch das prächtige See- und Fluß-Panorama ihn
entzücken müſſen, das die große Havelbrücke eine Meile weſt-
wärts
von Potsdam vor ihm aufthut, und das ihm nach rechts
hin eine meilenbreite, ſegelbedeckte Fläche, nach links hin eine
giebelreiche, roth und weiß gemuſterte, in dem klaren Havelwaſſer
ſich ſpiegelnde gothiſche Kirche zeigt. Um ſie herum ein dichter
Häuſerkranz: Stadt Werder.


[218]

Stadt Werder, wie ihr Chroniſt Ferdinand Ludwig Schöne-
mann in einem 1784 erſchienenen Buche erzählt, liegt auf einer
„gänzlichen Inſel.“ Dieſe umfaßt 46 Morgen. „Zur Som-
merzeit, wenn das Waſſer zurückgetreten iſt, kann man die Inſel
in einer Stunde umſchreiten; ſie aber zu umfahren, ſei es in
einem Kahn oder einer Schute, dazu ſind zwei Stunden er-
forderlich. Ein ſolches Umfahren der Inſel an ſchönen Som-
merabenden gewährt ein beſonderes Vergnügen, zumal wenn des
Echos halber die Fahrt von einem Waldhorniſten begleitet
wird.“ Der Chroniſt hat hier eine romantiſche Anwandlung,
die wir hervorgehoben haben wollen, weil ſie in ſeinem Buche
die einzige iſt.


Der Boden der Inſel iſt fruchtbar, größtentheils fett und
ſchwarz; nur ein geringer Strich, von ſehr unpoetiſchem Namen,
iſt moraſtig. Was die Entſtehung der Stadt angeht, ſo heißt
es, daß ſich die Bewohner eines benachbarten Wendendorfes,
nach deſſen Zerſtörung durch die Deutſchen, vom Feſtlande auf
die Inſel zurückgezogen und hier eine Fiſchercolonie gegründet
hätten. „Doch beruht — wie Schönemann ſinnig hervorhebt
— die Gewißheit dieſer Meinung blos auf einer unſicheren
Ueberlieferung.“


Unſicher vielleicht, aber nicht unwahrſcheinlich. Das um-
liegende Land wurde deutſch, die Havelinſel blieb wendiſch. Die
Gunſt der Lage machte aus dem urſprünglichen Fiſcherdorfe als-
bald einen Flecken (als ſolchen nennt es bereits eine Urkunde
aus dem Jahre 1317) und abermals hundert Jahre ſpäter war
aus dem Flecken ein Städtchen geworden, dem Kurfürſt Fried-
rich II. bereits zwei Jahrmärkte bewilligte. So blieb es in
allmäligem Wachſen und ſeine Inſellage wurde Urſach, daß keine
Rückſchläge erfolgten und Stadt Werder durch allen Zeitenwirr-
warr hindurchgehen konnte, ohne die Kriegsruthe zu empfinden,
die für das umliegende Land, wie für alle übrigen Theile von
Mark Brandenburg oft ſo hart gebunden war. Der 30jährige
Krieg zog wie ein Gewitter, „das nicht über den Fluß kann,“
am Werder vorüber; die Brücke war weislich abgebrochen, jedes
[219] Fahrzeug geborgen und verſteckt, und wenn der ſcharf eintretende
Winterfroſt die im Sommer gewahrte Sicherheit zu gefährden
drohte, ſo ließen ſichs die Werderaner nicht verdrießen, durch
beſtändiges Aufeiſen der Havel ihre inſulare Lage wieder her-
zuſtellen. So brachen nicht Schweden, nicht Kaiſerliche in ihren
Frieden ein und es iſt ſelbſt fraglich, ob der „ſchwarze Tod,“
der damals über das märkiſche Land ging, einen Kahn fand,
um vom Feſtland nach der Inſel überzuſetzen.


Das war der Segen, den die Inſellage ſchuf, aber ſie hatte
auch Nachtheile im Geleit und ließ den von Anfang an vor-
handen geweſenen Hang, ſich abzuſchließen, in bedenklichem Grade
wachſen. Man wurde eng, hart, ſelbſtſüchtig; Werder geſtaltete
ſich zu einer Welt für ſich, und der Zug wurde immer größer,
ſich um die Menſchheit draußen nur in ſo weit zu kümmern,
als man Nutzen aus ihr ziehen konnte. Dieſe Excluſivität
hatte ſchon in den Jahren, die dem 30jährigen Kriege voraus-
gingen oder mit ihm zuſammenfielen, einen hohen Grad erreicht.
In Aufzeichnungen aus jener Zeit finden wir Folgendes. „Die
Menſchen hier ſind zum Umgange wenig geſchickt und gar nicht
aufgelegt, vertrauliche Freundſchaften zu unterhalten. Sie haſſen
alle Fremden, die ſich unter ihnen niederlaſſen, und ſuchen ſie
gern zu verdrängen. Vor den Augen ſtellen ſie ſich treuherzig,
hinterm Rücken ſind ſie hinterliſtig und falſch. Von außen
gleißen ſie zwar, aber von inwendig ſind ſie reißende Wölfe.
Sie ſind ſehr abergläubiſch, im Geſpenſterſehen beſonders erfahren,
haben eine kauderwelſche Sprache, üble Kinderzucht, ſchlechte Sitten
und halten nicht viel auf Künſte und Wiſſenſchaften. Arbeit-
ſamkeit und ſparſames Leben
aber iſt ihnen nicht ab-
zuſprechen. Sie werden ſelten krank und bei ihrer Lebensart
ſehr alt.“


War dies das Zeugniß, das ihnen um 1620 oder 30 ein
unter ihnen lebender „Stadtrichter,“ alſo eine beglaubigte
Perſon, ausſtellen mußte, ſo konnten 150 Jahre weiterer Ex-
cluſivität in Gutem wie Böſem keinen weſentlichen Wandel
ſchaffen, und in der That, unſer mehr citirter Chroniſt beſtätigt
[220] um 1784 nur einfach alles das, was Stadtrichter Irmiſch (dies
war der Name des 1620 zu Gericht ſitzenden) ſo lange Zeit
vor ihm bereits niedergeſchrieben hatte. Die Uebereinſtimmung
iſt ſo groß, daß darin ein eigenthümliches Intereſſe liegt.


„Die Bewohner von Werder,“ ſo beſtätigt Schönemann,
„ſuchen ſich durch Verbindungen unter einander zu vermehren
und nehmen Fremde nur ungern unter ſich auf. Sie
ſind ſtark, nervig, abgehärtet, ſehr beweglich. Sie ſtehen bei
früher Tageszeit auf und gehen im Sommer ſchon um 2 Uhr
an die Arbeit; ſie erreichen 70, 80 und mehrere Jahre und
bleiben bei guten Kräften. Ihre Kinder gewöhnen ſie zu harter
Lebensart; im früheſten Alter werden ſie mit in die Weinberge
genommen, um ihnen die Liebe zur Arbeit mit der Mutter-
milch einzuflößen. Die Kinder werden bis zum 8. oder 9. Jahre
in die Schule geſchickt, lernen etwas leſen, wenig ſchreiben und
noch weniger rechnen. Die meiſten bleiben ungeſittet; das kommt
aber nicht in Betracht, weil ihnen an dem zeitlichen Gewinn
gelegen iſt. Viele natürliche Fähigkeiten ſind bei
ihnen nicht anzutreffen
und ſie halten feſt am Alten.
Sie lieben einen ſpringenden Tanz, und machen Aufwand bei
ihren Gaſtmählern. Im Uebrigen aber leben ſie kärglich
und ſparſam und ſuchen ſich durch Fleiß und Mühe
ein Vermögen zu erwerben
.“


Welche Stabilität durch anderthalb Jahrhunderte! Im
Uebrigen, wenn man feſthält, wie tief der Egoismus in aller
Menſchennatur überhaupt ſteckt und daß es zu alledem zwei
„Fremde,“ zwei „Zugezogene“ waren, die den Werderanern die
vorſtehenden, gewiß nicht allzu günſtig gefärbten Zeugniſſe aus-
ſtellten, ſo kann man kaum behaupten, daß die Schilderung ein
beſonders ſchlechtes Licht auf die Inſelbewohner würfe. Hart,
zäh, fleißig, ſparſam, abgeſchloſſen, allem Fremden und Neuen
abgeneigt, das Irdiſche über das Ueberirdiſche ſetzend — das
giebt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen
Stammes, und das ſind ſie auch durchaus und unverändert bis
dieſen Tag.


[221]

Wir haben uns bis hieher ausſchließlich mit den Be-
wohnern
beſchäftigt; es erübrigt uns noch in die Stadt ſelbſt
einzutreten, und ſo weit wir es vermögen, ein Bild ihres Wachs-
thums, dann ihrer gegenwärtigen Erſcheinung zu geben.


Der nur auf das Praktiſche gerichtete Sinn, der nichts
Höheres als den Erwerb kannte, dazu eine Abgeſchloſſenheit, die alles
Lernen faſt mit Gefliſſentlichkeit vermied, all’ dieſe Züge, wie
wir ſie aus doppelter Schilderung kennen gelernt haben, waren
begreiflicherweiſe nicht im Stande, aus Werder einen Prachtbau
zu ſchaffen. Es hatte ſeine Lage und ſeine Kirche, beide
ſchön, aber die Lage hatte ihnen Gott und die Kirche hatten
ihnen die Lehniner Mönche gegeben. An beiden waren die
Werderſchen unſchuldig. Was aus ihnen ſelbſt heraus entſtanden,
was ihr eigenſtes war, das ließ allen Bürgerſinn vermiſſen,
und erinnerte an den Lehmkathen-Bau der umliegenden
Dörfer.


Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts beſtanden die
Häuſer aus Holz, Lehm und geſtackten Wänden, die hölzernen
Schornſteine zeigten einen rieſigen Umfang und die Giebel-
fronten waren derart, daß immer eine Etage vorſpringend über
die andere hing. Die Häuſer waren groß, aber ſetzten ſich zu
weſentlichſtem Theile aus Winkeln, Kammern und großen Böden,
ſelbſt aus unausgebauten Stockwerken zuſammen, ſo daß die
Familie meiſt in einer einzigen Stube hauſte, die freilich groß
genug war, um 30 Perſonen bequem zu faſſen. Im Einklang
damit war alles Uebrige: die Brücke baufällig, die Straßen
ungepflaſtert, ſo daß, in den Regenwochen des Herbſtes und
Frühjahrs, die Stadt unpaſſirbar war und der Verkehr von
Haus zu Haus auf Stelzen oder noch allgemeiner auf Kähnen
unterhalten werden mußte.


In allem dieſem ſchaffte endlich das Jahr 1736 Wandel.
— Dieſelben beiden Faktoren: „das Königthum und die Armee,“
die überall hier zu Lande aus dem kümmerlich Gegebenen erſt
etwas machten, waren es auch hier, die das Alte abthaten und
etwas Neues an die Stelle ſetzten. Die Armee, wie un-
[222] bequem ſie dem Einen oder Andern ſein mochte, damals wie
heute, ſie ſicherte, ſie bildete, ſie baute auf. So auch in
Werder.


Es war im Spätſommer genannten Jahres (1736), als
das eben damals in Brandenburg garniſonirende 3. Bataillon
Leibgarde Befehl erhielt, zur Revue nach Potsdam zu marſchiren,
und zwar über Werder. Der Befehl lautete ſo beſtimmt wie
möglich; ſo blieb nichts anders übrig, als dem Könige rund und
nett zu erklären, daß die Brücke zu Werder unfähig ſei, das
3. Bataillon Leibgarde zu tragen. Die Gardemänner aber,
etwa im Gänſemarſch, einzeln in die Stadt einrücken zu laſſen,
dieſer Vorſchlag wurde gar nicht gewagt; Friedrich Wilhelm I.
würde ihn als einen Affront geahndet haben. So gab es denn
nur einen Ausweg, eine — neue Brücke. Der König ließ
ſie aus Chatoullen-Geldern in kürzeſter Friſt herſtellen.


Eine neue Brücke war nun da; aber auch in der Stadt
ſelber ſollte es anders werden. Ein Kommando des Leib-
Regiments, aus Gründen, die nicht erſichtlich, war in Werder
geblieben und im Spätherbſt erſchien Se. Majeſtät in der Inſel-
ſtadt, um über ſeine 150 Blauen eine Spezial-Revue abzuhalten.
Es war die unglücklichſte Jahreszeit: die Karoſſe des Königs
blieb mitten auf dem Markt im Moraſte ſtecken, ein Parademarſch
wurde zu einem Unding und die Ungnade des Königs, wenn
dergleichen nicht wieder vorkommen ſollte, wandelte ſich von ſelbſt
in eine Gnade um: Werder wurde gepflaſtert.


Die Kirche „zum heiligen Geiſt,“ auf der höchſten Stelle
der Inſel maleriſch gelegen, war ſchon 2 Jahre vorher einem
Neubau unterzogen worden; ob ſie ſchönheitlich dadurch gewon-
nen hatte, wird zu bezweifeln ſein; die Lehniner Mönche ver-
ſtanden ſich beſſer auf Kirchenbau als der Soldatenkönig.
Jedenfalls verbietet ſich jetzt noch eine Entſcheidung in dieſer
Frage, da die Renovation von 1734 längſt wieder einem
neuen Umbau gewichen iſt, einer wiederhergeſtellten, ſpitzen-
reichen Gothik, die, in der Nähe vielleicht mannigfach zu
beanſtanden, als Landſchafts-Decoration aber, wie eingangs
[223] dieſes Kapitels bereits hervorgehoben wurde, von ſeltener
Schönheit iſt.


Dieſer letzte Umbau, und wir treten damit in die Gegen-
wart ein, hat die Kirche erweitert, gelichtet, geſchmückt; jene
Königliche Munificenz Friedrich Wilhelms IV., die hier überall,
an der Havel und den Havelſeen hin, neue Kirchen entſtehen,
die alten wiederherſtellen ließ, hat auch für Werder ein Man-
nigfaches gethan. Dennoch, wie immer in ſolchen Fällen, hat
das geſchichtliche Leben Einbuße erfahren, und Bilder, Grabſteine,
Erinnerungsſtücke haben das Feld räumen müſſen, um viel
ſauberern, aber viel unintereſſanteren Dingen Platz zu machen.
Zum Glück hat man für das „hiſtoriſche Gerümpel,“ als das
man es angeſehen zu haben ſcheint, wenigſtens eine „Rumpel-
kammer“ übrig gelaſſen, wenn es geſtattet iſt, eine Sakriſtei-
Parzelle mit dieſem wenig ehrerbietigen Namen zu bezeichnen.


Hier befindet ſich unter andern auch ein ehemaliges Altar-
Gemälde
, das in Werder den überraſchenden, aber ſehr be-
zeichnenden Namen führt: „Chriſtus als Apotheker.“ Es iſt
ſo abnorm, ſo einzig in ſeiner Art, daß eine kurze Beſchreibung
deſſelben hier am Schluſſe unſers Kapitels geſtattet ſein möge.
Chriſtus, in rothem Gewande, wenn wir nicht irren, ſteht an
einem Dispenſir-Tiſch, eine Apotheker Wage in der Hand.
Vor ihm, wohlgeordnet, ſtehen acht Büchſen, die auf ihren
Schildern folgende Inſchriften tragen: Gnade, Hilfe, Liebe,
Geduld, Friede, Beſtändigkeit, Hoffnung, Glauben. Die Büchſe
mit dem Glauben iſt die weitaus größte; in jeder einzelnen
ſteckt ein Löffel. In Front der Büchſen, als die eigentliche
Hauptſache, liegt ein geöffneter Sack mit Kreuz-Wurtz. Aus
ihm hat Chriſtus ſoeben eine Handvoll genommen, um die
Wage, in deren einer Schale die Schuld liegt, wieder in
Balance zu bringen. Ein zu Häupten des Heilands angebrachtes
Spruchband aber führt die Worte: „Die Starken bedürfen
des Arztes nicht, ſondern die Kranken. Ich bin kommen, die
Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Frommen. (Mat-
thäi 9. V. 12.)“


[224]

Die Werderaner, wohl auf Schönemann geſtützt, haben
dies Bild bis in die katholiſche Zeit zurückdatiren wollen. Sehr
mit Unrecht. Die katholiſche Zeit hat ſolche Geſchmackloſigkeiten
nicht gekannt. In dieſen Spielereien erging man ſich, unter
dem nachwirkenden Einfluß der zweiten ſchleſiſchen Dichterſchule,
der Lohenſtein’s und Hofmannswaldau’s, zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts, wo es Mode wurde, einen Gedanken, ein Bild
in unerbittlich-conſequenter Durchführung zu Tode zu hetzen.
Könnte übrigens inhaltlich darüber noch ein Zweifel ſein, ſo
würde die maleriſche Technik auch dieſen beſeitigen.


1734, in demſelben Jahre, in dem die alte Ciſterzienſer-
Kirche renovirt wurde, erhielt Werder auch eine Apotheke.
Es iſt höchſt wahrſcheinlich, daß der glückliche Beſitzer derſelben
ſich zum Donator machte und das Bild-Curioſum, das wir
geſchildert, dankbar und — hoffnungsvoll ſtiftete.


Im nächſten Kapitel einiges über die „Werderſchen.“


[[225]]

Die Werderſchen.


Blaue Havel, gelber Sand,

Schwarzer Hut und braune Hand,

Herzen friſch und Luft geſund

Und Kirſchen wie ein Mädchenmund.

Was uns nun aber heute nach Werder führt, das iſt weder
die Kirche noch deren fragwürdiger Bilderſchatz, das iſt einfach
eine Pietät gegen die beſten Freundinnen unſerer Jugend, gegen
die „Werderſchen.“ Jeden Morgen, auf unſerem Schulwege,
hatten wir ihren Stand zwiſchen Herkules- und Friedrichsbrücke
zu paſſiren, und wir können uns nicht entſinnen, je anders als
mit „Augen rechts“ an ihrer langen Front vorübergegangen zu
ſein. Mitunter traf es ſich auch wohl, daß wir das verſpätete
„zweite Treffen“ der Werderſchen, vom Unterbaume her, heran-
ſchwimmen ſahen: große Schuten dicht mit Tienen beſetzt,
während auf den Ruderbänken 20 Werderanerinnen ſaßen und
ihre Ruder und die Köpfe mit den Kiepenhüten gleich energiſch
bewegten. Das war ein idealer Genuß, ein Schauſpiel, aber
ach, „ein Schauſpiel nur,“ und ſiehe da, dem erſten Treffen,
das in allem Schimmer Pomonens ſich bereits faßbar vor uns
präſentirte, verblieb doch immer der Sieg über unſere Sinne
und unſer Herz. Welche Pfirſiche in Weinblatt! Die Luft
ſchwamm in einem erfriſchenden Duft, und der Kuppelbau der
umgeſtülpten und übereinander gethürmten Holztienen intereſſirte
uns mehr als der Kommodenbau von Monbijou und (traurig
zu ſagen) auch als der Säulenwald des Schinkelſchen Neuen
Muſeums.


Das ſind nun 35 Jahre, das „Neue Muſeum“ von da-
mals iſt ſchon wieder zu einem alten geworden, die Bilder jener
Tage aber ſind nicht verblaßt, und als unſere Havelwanderungen
vor lang oder kurz begannen, und unſer Auge, von den Kuppen
und Berglehnen am Schwilow aus, immer wieder der Spitz-
thurm-Kirche von Werder gewahr wurde, da gemahnte es
Fontane, Wanderungen. III. 15
[226] uns wie alte Schuld und alte Liebe, und die Jugendſehnſucht
nach den Werderſchen ſtieg wieder auf: hin nach der Havel-
Inſel und ihrem grünen Kranz „wo tief im Laub die Knupper-
kirſchen glühn.“


Und wie alle echte Sehnſucht ſchließlich in Erfüllung geht,
ſo auch hier, und ehe noch der Juli um war, brauſte der Zug
wieder über die große Havelbrücke, erſt raſch, dann ſeinen Eil-
flug hemmend, bis er zu Füßen eines Kirſchberges hielt:
„Station Werder!“


Noch eine drittel Meile bis zur Stadt; eine volle drittel
Meile, die einem um 3 Uhr Nachmittags, bei 27 Grad im
Schatten und abſoluter Windſtille ſchon die Frage vorlegen kann:
ob nicht doch vielleicht ein auf hohen Rädern ruhendes, ſarg-
artiges Ungethüm, das hier unter dem Namen „Omnibus“
den Verkehr zwiſchen Station und Stadt unterhält, vor Spazier-
gangsverſuchen zu bevorzugen ſei. Aber es handelt ſich für
uns nicht um die Frage „bequem oder unbequem,“ ſondern um
Umſchau, um den Beginn unſerer Studien, da die großen
Kirſchplantagen, die den Reichthum Werders bilden, vorzugs-
weiſe zu beiden Seiten eben dieſer Wegſtrecke gelegen ſind, und
ſo laſſen wir denn dem Omnibus einen Vorſprung, gönnen
dem Staube 10 Minuten Zeit ſich wieder zu ſetzen und folgen
nun zu Fuß auf der großen Straße.


Gärten und Obſtbaum-Plantagen zu beiden Seiten; links
bis zur Havel hinunter, rechts bis zu den Kuppen der Berge hinauf.
Keine Spur von Unkraut; alles rein geharkt; der weiße Sand
des Bodens liegt oben auf. Große Beete mit Erdbeeren und
ganze Kirſchbaum-Wälder breiten ſich aus. Wo noch vor wenig
Jahren der Wind über Thymian und Hauhechel ſtrich, da hat
der Spaten die ſchwache Raſennarbe umgewühlt, und in wohl-
gerichteten Reihen neigen die Bäume ihre fruchtbeladenen Zweige.


Je näher zur Stadt, um ſo ſchattiger werden rechts und
links die Gärten; denn hier ſind die Anlagen älter, ſomit auch
die Bäume. Viele der letzteren ſind mit edleren Sorten gepfropft,
[227] und Leinwandbänder legen ſich um den amputirten Aſt, wie
die Bandage um das verletzte Glied. Hier mehren ſich auch die
Villen und Wohnhäuſer, die großentheils zwiſchen Fluß und
Straße, alſo zur Linken der letzteren, ſich hinziehen. Einge-
ſponnen in Roſenbüſche, umſtellt von Malven und Georginen,
entziehen ſich viele dem Auge; andere wieder wählen die lichteſte
Stelle und grüßen durch die weitgeſtellten Bäume mit ihren
Balkonen und Fahnenſtangen, mit Veranden und Jalouſien.


Eine reiche, immer wachſende Cultur! Wann ſie ihren
Anfang nahm, iſt bei der Mangelhaftigkeit der Aufzeichnungen
nicht mehr feſtzuſtellen. Es ſcheint aber faſt, daß Werder als
ein Fiſcherort ins 17. Jahrhundert ein- und als ein Obſt- und
Gartenort aus ihm heraustrat. Das würde dann darauf hin-
deuten, daß ſich die Umwandlung unter dem Großen Kurfürſten
vollzogen habe, und dafür ſprechen auch die mannigfachſten
Anzeigen. Die Zeit nach dem 30jährigen Kriege war wieder
eine Zeit großartiger Einwanderung in die entvölkerte Mark
und mit den gartenkundigen Franzoſen, mit den Bouchés
und Matthieus, die bis auf dieſen Tag in ganzen Quartieren
der Hauptſtadt blühen, kamen ziemlich gleichzeitig die agricul-
turk
undigen Holländer ins Land. Unter dem, was ſie
pflegten, war auch der Obſtbau. Sie waren von den Tagen
Henriette Marie’s, von der Gründung Oranienburgs und dem
Auftreten der Cleve’ſchen Familie Hertefeld an, die eigentlichen
landwirthſchaftlichen Lehrmeiſter für die Mark, ſpeziell für das
Havelland, und wir möchten vermuthen, daß der eine oder
andere von ihnen, angelockt durch den ächt-holländiſchen Charak-
ter dieſer Havel-Inſel, ſeinen Aufenthalt hier genommen und
die große Umwandlung vorbereitet habe. Vielleicht wäre aus
den Namen der noch lebenden Werderſchen Geſchlechter feſtzu-
ſtellen, ob ein ſolcher holländiſcher Fremdling jemals unter ihnen
auftauchte. Bemerkenswerth iſt es mir immer erſchienen, daß
die Werderaner in „Schuten“ fahren, ein niederländiſches Wort,
das in den wendiſchen Fiſcherdörfern, ſo viel ich weiß, nie ange-
troffen wird.


15*
[228]

Gleichviel indeß was die Umwandlung brachte, ſie kam;
die Flußausbeute verlor mehr und mehr ihre Bedeutung; die
Gärtnerzunft begann die Fiſcherzunft aus dem Felde zu ſchlagen,
und das ſich namentlich unter König Friedrich Wilhelm I., auch
nach der Seite der „guten Küche“ hin, ſchnell entwickelnde
Potsdam, begann ſeinen Einfluß auf die Umwandlung Werders
zu üben. Der König, ſelber ein Feinſchmecker, mochte unter
den erſten ſein, die anfingen eine Werderſche Kirſche von den
üblichen Landesprodukten gleiches Namens zu unterſcheiden.
Außer den Kirſchen aber war es zumeiſt das Strauchobſt, das
die Aufmerkſamkeit des Kenners auf Werder hinlenkte. Statt
der bekannten Bauern-Himbeere, wie man ihr noch jetzt begegnet,
(die Schattenſeite hart, die Sonnenſeite madig) gedieh hier eine
Species, die in Farbe, Größe und ſtrotzender Fülle prunkend,
aus Gegenden hierhergetragen ſchien, wo Sonne und Waſſer
eine ſüdliche Brutkraft üben.


Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte ſich die
Umwandlung völlig vollzogen: Werder war eine Garten-
Inſel geworden; ſeinem Charakter nach war es daſſelbe wie
heut, aber freilich nicht ſeiner Bedeutung nach. Sein Ruhm,
ſein Glück begannen erſt mit jenem Tage, wo der erſte Wer-
deraner (ihm würden Bildſäulen zu errichten ſein) mit ſeinem Kahne
an Potsdam vorüber- und Berlin entgegenſchwamm. Damit
brach die Großzeit an. In Wirklichkeit ließ ſie noch ein halbes
Jahrhundert auf ſich warten; in der Idee war ſie geboren.
Mit dem rapide wachſenden Berlin wuchs auch Werder und
verdreifachte in 50 Jahren ſeine Einwohnerzahl, genau wie die
Hauptſtadt. Der Dampf kam hinzu, um den Triumph zu ver-
vollſtändigen. Bis 1850 hielt ſich die Schute, dann wurde ſie
als altehrwürdiges Inſtitut bei Seite gelegt und ein „auf Gegen-
ſeitigkeit“ gebauter Dampfer, der bald gezwungen war, einen
großen Havelkahn ins Schlepptau zu nehmen, leitete die neue
Aera der Werderaner ein. Von 1853 bis 1860 fuhr die
„Marie Luiſe;“ ſeitdem fährt der „König Wilhelm“ zwiſchen
Werder und Berlin.


[229]

Noch einiges Statiſtiſches. Auch Zahlen haben eine gewiſſe
Romantik. Wie viele Menſchen erdrückt oder todtgeſchoſſen
wurden, hat zu allen Zeiten einen geheimnißvollen Zauber
ausgeübt; an Intereſſe ſteht dem vielleicht am nächſten, wie viel
gegeſſen worden iſt. So ſei es denn auch uns vergönnt, erſt
mit kurzen Notizen zu debütiren, und dann eine halbe Seite
lang in Zahlen zu ſchwelgen.


Mit dem erſten Juni beginnt die Saiſon. Sie beginnt
von Raritäten abgeſehen, mit Erdbeeren. Dann folgen die
ſüßen Kirſchen aller Grade und Farben; Johannisbeeren, Stachel-
beeren, Himbeeren ſchließen ſich an. Ende Juli iſt die Saiſon
auf ihrer Höhe. Der Verkehr läßt nach, aber nur, um Mitte
Auguſt einen neuen Aufſchwung zu nehmen. Die ſauren Kirſchen
eröffnen den Zug; Aprikoſen und Pfirſich folgen; zur Pflaumen-
zeit wird noch einmal die ſchwindelnde Höhe der letzten Juli-
Wochen erreicht. Mit der Traube ſchließt die Saiſon. Man
kann von einer Sommer- und Herbſt-Campagne ſprechen. Der
Höhenpunkt jener fällt in die Mitte Juli, der Höhenpunkt dieſer
in die Mitte September. Die Knupperkirſche einerſeits, die blaue
Pflaume andererſeits, — ſie ſind es, die über die Saiſon ent-
ſcheiden.


Der Verſandt iſt enorm. Er beginnt mit 1000 Tienen,
ſteigt in rapider Schnelligkeit auf 3-, auf 5000, hält ſich,
ſinkt, ſteigt wieder und tritt mit 1000 Tienen, ganz wie er
begonnen, ſchließlich vom Schauplatz ab. Als Durchſchnitts-
Minimum wird man 3000, als Maximum 4000 Tienen täg-
lich (die Tiene zu drei Metzen) annehmen dürfen. Der Preis
einer Tiene iſt 15 Sgr. Dies würde, bei Zugrundelegung des
Minimalſatzes, in 4 Monaten oder 120 Tagen einen Geſammt-
abſatz von 120 mal 3000, alſo von 360,000 Tienen*) ergeben.
[230] Dies iſt aber zu niedrig gerechnet, da 360,000 Tienen, die
Tiene zu 15 Sgr., nur einer Geſammt-Einnahme von
180,000 Thalern entſprechen würden, während dieſe auf
280,000 Thaler angegeben wird. Gleichviel indeß; dem Ber-
liner wird unter allen Umſtänden der Ruhm verbleiben, als
Minimalſatz alljährlich 1 Million Metzen Werderſches Obſt zu
conſumiren. Solche Zahlen ſind ſchmeichelhaft und richten auf.


Sie richten auf — in erſter Reihe natürlich die Werder-
ſchen ſelbſt, die die entſprechende Summe einzuheimſen haben,
und in der That, auf dem Werder und ſeinen Dependenzien iſt
ein ſolider Durchſchnitts-Wohlſtand zu Hauſe. Aber man
würde doch ſehr irre gehn, wenn man hier, in modernem Sinne,
großes Vermögen, aufgeſpeicherte Schätze ſuchen wollte. Wer
perſönlich anfaßt und fleißig arbeitet, wird ſelten reich; reich
wird der, der mit der Arbeit hundert Anderer Handel treibt,
ſie als kluger Rechner ſich zu Nutze macht. An ſolche Moder-
nität iſt hier nicht zu denken. Dazu kommen die bedeutenden
Koſten, Lohnzahlungen und Ausfälle. Eine Tiene Obſt, wir
gaben es ſchon an, bringt im Durchſchnitt 15 Sgr.; davon
kommen ſofort in Wegfall: 1½ Sgr. für Pflückerlohn und
ebenfalls 1½ Sgr. für Transport. Aber die eigentlichen Aus-
lagen liegen ſchon weit vorher. Die Führung großer Land-
wirthſchaften iſt aus den mannigfachſten Gründen, aus Mangel
an Wieſen und vielleicht nicht minder aus Mangel an Zeit und
Kräften, auf dem Werder ſo gut wie unmöglich; ſo fehlt es
denn an Dung und dieſe Unerläßlichkeit muß aus der Nachbar-
ſchaft, meiſt aus Potsdam, mühſam herbeigeſchafft werden. Eine
Fuhre Dung koſtet 7 Thaler. Dies allein bedingt die ſtärkſten
Abzüge. Was aber vor allem einen eigentlichen Reichthum
nicht aufkommen läßt, das ſind die Ausfall-Jahre, wo die
Anſtrengungen (um noch größerem Unheil vorzubeugen) ver-
doppelt werden müſſen, und wo dennoch mit einem Defizit
abgeſchloſſen wird. Die Ueberſchüſſe früherer Jahre müſſen dann
aushelfen. Derartige Ausfalljahre ſind ſolche, wo entweder
ſtarke Fröſte die großen Obſtplantagen zerſtören oder wo im
[231] Frühjahr die Schaben und Blatthöhler das junge Laub tödten, die
Ernte reduciren und oft die Bäume dazu. So giebt es denn
unter den Werderſchen eine Anzahl wohlhabender Leute, aber
wenig reiche. Es iſt auch hier dafür geſorgt, daß die Bäume
nicht in den Himmel wachſen.


Die Werderſche.“
Ein Intermezzo.


All Großes, wie bekannt, wirft ſeinen Schatten;

Und ehe dich, o Bairiſche, wir hatten,

Erſchien, ankündigend, in braunem Schaum,

Die Werderſche. Ihr Leben war ein Traum.

Unter einem Geplauder, das im Weſentlichen uns die Notizen
an die Hand gab, die wir vorſtehend wiedererzählt, waren wir
bis an eine Stelle gekommen, wo die große Straße nach links
hin abbiegt und in ihrer Verlängerung auf die Brücke und dem-
nächſt auf die Inſel führt. Genau an dem Kniepunkt erhob
ſich ein ausgedehntes Etabliſſement mit Betriebs-Gebäuden,
hohen Schornſteinen und Kellerräumen, und der eben herüber-
wehende Malzduft ließ keinen Zweifel darüber, daß wir vor
einer der großen Brauereien ſtänden, die der Stadt Werder auch
nach dieſer Seite hin eine Bedeutung gegeben haben. Es
ſind eben zwei Größen, die wir an dieſer Stelle zu verzeichnen
haben: in erſter Reihe die „Werderſchen,“ in zweiter Reihe
„die Werderſche.“ Eine Welt von Unterſchied legt ſich in
dieſen einen Buchſtaben n. Wie Waſſer und Feuer im Schooße
der Erde friedlich nebeneinander wohnen, ſo lange ihr Wohnen
eben ein Nebeneinander iſt, aber in Erdbeben und Exploſionen
unerbittlich ſich Luft machen, ſobald ihr Nebeneinander ein
Durcheinander wird, ſo auch hier. Den Erfahrenen ſchaudert.


Die Einheitlichkeit unſerer Darſtellung zu wahren, hätten
wir vielleicht die Pflicht gehabt, die „Werderſche“ zu unter-
ſchlagen und den „Werderſchen“ allein das Feld und den Sieg
zu laſſen, aber das Wort: die „Werderſche“ iſt einmal gefallen
und ſo verbietet ſich ein Rückzug. Ein Bierkapitel ſchiebt ſich
verlegen in das Obſtkapitel ein.


[232]

Die Zeiten liegen noch nicht weit zurück, wo die „Weiße,“
oder um ihr Symbol zu nennen die „Stange“, unſere geſell-
ſchaftlichen Zuſtände wie ein Dynaſtengeſchlecht beherrſchte. Es
war eine weit verzweigte Sippe, die, in den verſchiedenen Stadt-
theilen, beſſerer Unterſcheidung halber, unter verſchiedenen Namen
ſich geltend machte: die Weiße von Volpi, die Weiße von Clau-
ſing, oder (vielleicht die ſtolzeſte Abzweigung) einfach das Bier
von Bier. Ihre Beziehungen untereinander ließen zu Zeiten
viel zu wünſchen übrig, aber alle hatten ſie denſelben Familien-
ſtolz und nach außen hin waren ſie einig. Sie waren das
herrſchende Geſchlecht.


So gingen die Dinge ſeit unvordenklichen Zeiten; das alte
Europa brach zuſammen, Throne ſchwankten, die „Weiße“ blieb.
Sie blieb während der Franzoſenzeit, ſie blieb während der
Befreiungsjahre, ſie ſchien feſter als irgend eine etablirte Macht.
Aber ſchon lauerte das Verderben.


In jenen ſtillen Jahren, die der großen Aufregung folgten,
wo man’s gehen ließ, wo die Wachſamkeit lullte, da geſchah’s.
Eines Tages, wie aus dem Boden aufgeſtiegen, waren zwei,
Concurrenzmächte da: die Grünthaler und die Joſty’ſche.


Jetzt wo ſich ein freierer Ueberblick über ein halbes Jahr-
hundert ermöglicht, iſt die Gelegenheit gegeben auch ihnen gerecht
zu werden. Es iſt jetzt die Möglichkeit da, die Dinge aus dem
Zuſammenhange zu erklären, das Zurückliegende aus dem Gegen-
wärtigen zu verſtehn. Beide Neu-Getränke hatten einen aus-
geſprochenen Heroldscharakter, ſie waren Vorläufer, ſie kündigten
an. Man kann ſagen: Berlin war für die Baierſche noch nicht
reif, aber das Seidel wurde bereits geahnt. Das Grünthaler,
die Joſtyſche, ſie waren eine Culmbacher von der milderen
Obſervanz; die Joſtyſche (in ihrem Hange nach Milde) bis zum
Coriander niederſteigend. Beide waren, was ſie ſein konnten.
Darin lag ihr Verdienſt, aber doch auch ihre Schwäche. Ihr
Weſen war und blieb — die Halbheit. Und die Halbheit hat
noch nie die Welt erobert, am wenigſten Berlin.


[233]

So herrſchten denn die alten Mächte vorläufig weiter.
Aber nicht auf lange. Die Nothwendigkeit einer Wandlung hatte
ſich zu fühlbar herausgeſtellt, als daß es hätte bleiben können
wie es war. Die Welt, wenn auch nach weiter nichts, ſehnte
ſich wenigſtens nach Durchbrechung des Monopols, und ſiehe
da, was den beiden Vorläufern des Seidels nicht hatte glücken
wollen, das glückte nunmehr, in eben dieſen Interregnums-
tagen, einer dritten Macht, die, an das Alte ſich klug und weiſe an-
lehnend, ziemlich gleichzeitig mit jenen beiden ins Daſein ſprang.


Dieſe dritte Macht (der Leſer ahnt bereits, welche) hatte
von vornherein den Vorzug, alles Fremdartigen entkleidet, auf
unſerem Boden aufzutreten; — märkiſch national, ein Ding für
ſich, ſo erſchien die Werderſche. Sie war dem Landesgeſchmack
geſchickt adaptirt, ſie ſtellte ſich einerſeits in Gegenſatz gegen die
Weiße und hatte doch wiederum ſo viel von ihr an ſich, daß
ſie wie zwei Schweſtern waren, daſſelbe Temperament, daſſelbe
prickelnde Weſen, im Uebrigen reine Geſchmacksſache: blond oder
braun. In Kruken auftretend, und über dreimal gebrauchten
Korken eine blaſſe, längſt ausgelaugte Strippe zu leichtem Knoten
ſchürzend, war ſie, die Werderſche, in ihrer äußerlichen Erſchei-
nung ſchon, der ausgeſprochene und bald auch der glückliche Con-
current der älteren Schweſter, und die bekannten Kellerſchilder, dieſe
glücklich-realiſtiſche Miſchung von Stillleben und Genre, bequem-
ten ſich mehr und mehr neben der blonden Weißen die braune Wer-
derſche ebenbürtig einzurangiren. Die Verhältniſſe, ohne daß ein Plan
dahin geleitet hätte, führten über Nacht zu einer Theilung der Herr-
ſchaft. Die Werderſche hielt mehr und mehr ihren Einzug über die
Hintertreppe; in den Regionen der Küche und Kinderſtube erwuchs
ihr das ſüße Gefühl eine Miſſion gefunden und erfüllt zu haben; ſie
wurde Nahr-Bier in des Wortes verwegenſter Bedeutung und
das gegenwärtige Geſchlecht, wenn auch aus zweiter Hand
erſt
, hat Kraft und Leben geſogen aus der „Werderſchen.“


Deſſen ſeien wir gedenk. Das Leben mag uns losreißen
von unſerer Amme; aber ein Undankbarer, der ſie nicht kennen
will, oder bei ihrem Anblick ſich ſchämt. —


[234]
Sieh nur, ſieh, wie behend ſich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerſchlägt,
Wie der Fluß, in Breit’ und Länge,
So manchen luſtigen Nachen trägt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt ſich dieſer letzte Kahn.
Fauſt.

So viel über die „Werderſche.“ Wir kehren zu den
„Werderſchen“ zurück.


Vom Knie bis zur Stadt iſt nur noch eine kurze Strecke.
Wir ſchritten auf die Brücke zu, die zugleich die Werft, der
Hafen- und Stapelplatz von Werder iſt. Hier wird aus- und
eingeladen, und die Bilder, die dieſen Doppelverkehr begleiten,
geben dieſer Stelle ihren Werth und ihre Eigenthümlichkeit.
Der geſammte Hafenverkehr beſchränkt ſich auf die Nachmittags-
ſtunden; zwiſchen 5 und 6, in einer Art Kreislauf-Thätigkeit, leeren
ſich die Räume des aus der Hauptſtadt zurückkehrenden Dampfers
und ſeines Bei-Kahns wie im Fluge, aber ſie leeren ſich nur,
um ſich unverzüglich wieder mit Töpfen und Tienen zu füllen.


Es iſt jetzt 5 Uhr. Der Dampfer legt an; die Entfrach-
tung nimmt ihren Anfang. Ueber das Laufbrett hin, auf und
zurück, in immer ſchnellerem Tempo, bewegen ſich die Bootsleute,
magere, aber nervige Figuren, deren Beſchäftigung zwiſchen
Land-Dienſt und See-Dienſt eine glückliche Mitte hält. Wenn
ich ihnen eine gewiſſe Matroſen-Grazie zuſchriebe, ſo wäre das
nicht genug. Sie nähern ſich vielmehr dem Akrobatenthum,
den Vorſtadt-Rappos, die 6 Stühle übereinander thürmen und,
den ganzen Thurmbau auf’s Kinn oder die flache Hand geſtellt,
über ein Seil hin ihre doppelte Balancirkunſt üben: der Bau
darf nicht fallen und ſie ſelber auch nicht. So hier. Einen
Thurmbau in Händen, der ſich aus lauter in einander geſtülp-
ten Tienen zuſammenſetzt und halbmannshoch über ihren eigenen
Kopf hinauswächſt, ſo laufen ſie über das ſchwanke Brett und
ſtellen die Tienen-Thürme in langen Reihen am Ufer auf.
Im erſten Augenblick ſcheint dabei eine Willkür oder ein Zufall
zu walten; ein ſchärferes Aufmerken aber läßt uns in dem
ſcheinbaren Chaos bald die minutiöſeſte Ordnung erkennen und
[235] die Tienen ſtehen da, militairiſch gruppirt und geordnet, für den
Laien eine große, unterſchiedsloſe Maſſe, aber für den Einge-
weihten ein Bataillon, ein Regiment, an Achſelklappe, Knopf
und Troddel auf’s Beſtimmteſte erkennbar. So viele Gärtner
nnd Obſtpächter, ſo viele Compagnien. Zunächſt unterſcheiden
ſich die Tienen nach der Farbe und zwar derart, daß die
untere Hälfte au naturel auftritt, während die obere, mehr
ſichtbare Hälfte, in roth oder grün, in blau oder weiß ſich prä-
ſentirt. Aber nicht genug damit. Auf dieſem breiten Farben-
rande befinden ſich, zu weiterer Unterſcheidung, entweder die
Namen der Beſitzer, oder noch häufiger ihre Wappenzeichen:
Kreuze, ſtehend und liegend, Sterne, Kreiſe, Sonnen, einge-
graben und eingebrannt. Man kann hier von einer völligen
Heraldik ſprechen. Die alten „Geſchlechter“ aber, die dieſe
Wappen tragen und pflegen, ſind die Lendels, die Mays, die
Kühls, die Schnetters, und unmittelbar nach ihnen die Rietz,
die Kuhlmeys, die Dehnickes. Als altwendiſch gelten die Lendels
und die Rietz, vielleicht auch die Kuhlmeys.


Iſt nun aber das Landen der leeren Tienen, wie wir es
eben geſchildert haben, eine heitere und maleriſche Scene, ſo
kann dieſe doch nicht beſtehen neben dem concurrirenden Schau-
ſpiel des Einladens, des an Bord Schaffens, das ſchon
beginnt, bevor das Ausladen zur Hälfte beendet iſt.


Etwa von 5½ Uhr ab, und nun rapide wachſend bis
zum Moment der Abfahrt, kommen die Obſtwagen der Wer-
deraner heran, kleine, grüngeſtrichene Fuhrwerke, mit Tienen
hochbepackt und mit zwei Zughunden am Deichſel, während die
Beſitzer, durch Stoß von hinten, die Lokomotion unterſtützen.
Ein Wettfahren beginnt, alle Kräfte concentriren ſich, von links
her rollt es und donnert es über die Brückenbohlen, von rechts
her, auf der chauſſirten Vorſtadt-Straße, wirbelt der Staub,
und im Näherkommen an das erſehnte Ziel heulen die Hunde
immer toller in die Luft hinein, wie verſtimmte Poſthörner beim
Einfahren in die Stadt. Immer mächtiger wird die Wagen-
burg, immer lauter das Gebläff, immer quicker der Laufſchritt
[236] derer, die die Tienen über das Brett hin in den am Landungs-
damm liegenden Kahn hineintragen. Jetzt ſetzt der Zeiger ein,
von der Werderſchen Kirche herüber tönen langſam die 6 Schläge,
deren letzter in einem Signalſchuß verklingt. Weithin an den
hohen Ufern des Schwilow weckt er das Echo. Im ſelben
Augenblick folgt Stille der allgemeinen Bewegung und nur
noch das Schaufeln des Raddampfers wird vernommen, der
eine Curve beſchreibend, das lange Schlepptau dem Havelkahne
zuwirft, und raſch flußaufwärts ſeinen Curs nehmend, das
eigentliche Frachtboot vom Ufer löſt, um es geräuſchlos in das
eigene Fahrwaſſer hinein zu zwingen.


Von der Brücke aus giebt dies ein reizendes Bild. Auf
dem großen Havelkahn, wie die wilden Männer im Wappen,
ſtehen zwei Bootsleute mit ihren mächtigen Rudern im Arm,
während auf dem Dampfer in langer Reihe die „Werderſchen“
ſitzen, ein Nähzeug oder ein Strickzeug in Händen, und nichts
vor ſich als den Schornſtein und ſeinen Eiſenkaſten, auf deſſen
heißer Platte einige dreißig Bunzlauer Kaffeekannen ſtehen.
Denn die Nächte ſind kühl und der Weg iſt weit.


Eine Viertelſtunde noch und Dampfer und Havelkahn
verſchwinden in dem Defilé bei Baumgartenbrück; der Schwi-
low nimmt ſie auf und durch das „Gemünde“ hin, an dem
ſchönen und langgeſtreckten Caput vorbei, geht die Fahrt auf
Potsdam zu, an den Schwänen vorüber, die ſchon die Köpfe
eingezogen hatten und nun unmuthig hinblicken auf den Schnaufer,
der ihren Waſſerſchlaf geſtört.


Bei Dunkelwerden Potsdam, um Mitternacht Spandau,
bei Dämmerung Berlin.


Und eh’ der erſte Sonnenſchein um den Marienkirchthurm
blitzt, lachen in langer Reihe, zwiſchen den Brücken hin, die
rothen Knupper der Werderſchen.


[[237]]

Glindow.


Hier nährten früh und ſpat den Brand
Die Knechte mit geſchäft’ger Hand;
Der Funke ſprüht, die Bälge blaſen,
Als gält’ es Felſen zu verglaſen.
Schiller.

Was Werder für den Obſt-Conſum der Hauptſtadt iſt, das
iſt Glindow für den Ziegel-Conſum. In Werder wird
gegraben, gepflanzt, gepflückt, — in Glindow wird gegraben,
geformt, gebrannt; an dem einen Ort eine wachſende Cultur,
am andern eine wachſende Induſtrie, an beiden (in Glindow
freilich auch mit dem Revers der Medaille) ein wachſender
Wohlſtand. Dazu ſteht das eine wie das andere nicht blos für
ſich ſelber da, ſondern iſt ſeinerſeits wiederum eine „Metropole,“
ein Mittelpunkt gleichgearteter und zugleich widerſtrebender
Diſtrikte, die es faſt geboten erſcheinen laſſen, nach Analogie
einiger Schweizer Cantone, von Werder-Stadt und Werder-
Land, oder von Glindow-Dorf und Glindow-Bezirk zu
ſprechen.


Bei Werder haben wir dieſen Unterſchied übergangen; bei
Glindow wird es dann und wann unvermeidlich ſein, auf ihn
Bezug zu nehmen. Deshalb an dieſer Stelle ſchon Folgendes.
Diſtrikt Glindow iſt etwa 2 Quadrat-Meilen groß (4 Meilen
lang und eine halbe Meile breit) und zerfällt in ein Innen-
und Außen-Revier, in einen Bezirk dieſſeit und jenſeit der
Havel. Das Innen-Revier „dieſſeit der Havel“ iſt alles
Lehm- und Thonland und umfaßt die geſammten Territorien
am Schwilow-, am Glindow- und Pleſſow-See; das Außen-
Revier oder das Revier „jenſeit der Havel“ iſt neu-entdecktes
[238] Land und dehnt ſich vorzugsweiſe auf der Strecke zwiſchen Ketzin
und Tremmen aus. Dies Außenland, abweichend und eigenartig,
behauptet zugleich eine gewiſſe Selbſtſtändigkeit und zeigt eine
unverkennbare Tendenz ſich loszureißen und Ketzin zu einer
eigenen Hauptſtadt zu machen. Vielleicht daß es glückt. Vor-
läufig aber iſt die Einheit noch da und ob der Tag ſiegreicher
Seceſſion näher oder ferner ſein möge, noch iſt Glindow*)
Metropole und herrſcht über Innen- und Außen-Revier.


Die Bodenbeſchaffenheit, das Auftreten des Lehms iſt dies-
ſeit und jenſeit der Havel grundverſchieden. Im Innen-
Revier
tritt der Lehm in Bergen auf, als Berglehm, und
wenn wir uns ſpeziell auf die wichtige Feldmark Glindow be-
ſchränken, ſo unterſcheiden wir hier folgende Lehmberge: den
Köllniſchen, zwei Brandenburgiſche (Altſtadt, Neuſtadt), den
Caputſchen, den Schönebeckſchen, den Invalidenberg, den Schloß-
bauberg, zwei Kurfürſtenberge (den großen und den kleinen),
den Plaueſchen, den Moeſenſchen, den Potsdamſchen. Die drei
letztgenannten liegen wüſt, ſind todt. Die andern ſind noch
in Betrieb. Ihre Namen deuten auf ihre früheren Beſitzer.
[239] Berlin-Kölln, Brandenburg, Potsdam, Caput, Schönebeck
hatten ihre Lehmberge, der Invalidenberg gehörte dem Invaliden-
hauſe u. ſ. w. Dieſe Beſitzverhältniſſe exiſtiren nicht mehr.
Jene Ortſchaften haben ſich längſt ihres Eigenthums entäußert,
das inzwiſchen in die Hände einiger Ziegel-Lords übergegangen
iſt. Die meiſten ſind in Händen der Familie Fritze.


Der Lehm in dieſen Bergen iſt ſehr mächtig. Nach Wegräu-
mung einer Oberſchicht, „Abraum“ genannt, von etwa 30 Fuß
Höhe, ſtößt man auf das Lehmlager, das oft eine Tiefe von 80
bis 100 Fuß hat. Der Lehm iſt ſchön und liefert einen guten
Stein, aber doch keinen Stein erſten Ranges. Die Hauptbedeutung
dieſer Lager iſt ihre Mächtigkeit, annährend ihre Unerſchöpflich-
keit. Dabei mag als etwas Abſonderliches hervorgehoben werden,
daß ſich in dieſen Lehmlagern Bernſtein findet und zwar in
erheblicher Menge. Die meiſten Stücke ſind haſelnußgroß und
ſomit ohne beſonderen Werth, es finden ſich aber auch Stücke
von der Größe einer Fauſt, dabei ſehr ſchön, die bis zu
25 Thlr. verkauft werden. Wer ſolch Stück findet, hat einen
Feſttag.


Soviel über die Lehmberge des Innen-Reviers. Ganz
anders iſt das Auftreten der Lager im Außen-Revier jenſeit
der Havel. Der dort vorkommende Lehm iſt ſogenannter Wieſen-
Lehm, der nur 6 Fuß unter der Raſen-Oberfläche liegt, aber
auch ſelber nur in einer Schicht von 6 bis 8 Fuß auftritt.
Er iſt wegen des geringen „Abraums,“ der fortzuſchaffen iſt,
leichter zugänglich; all dieſe Lager ſind aber verhältnißmäßig
leicht erſchöpft, auch iſt das Material nicht voll ſo gut.


Dieſer Unterſchied im Material — wie mir alte Ziegelbrenner
verſicherten — iſt übrigens viel bedeutungsloſer als gewöhnlich
angenommen wird. Wie bei ſo vielem in Kunſt und Leben
kommt es darauf an, was Fleiß und Geſchick aus dem Roh-
material machen. Das Beſte kann unvollkommen entwickelt,
das Schwächſte zu einer Art Vollkommenheit gehoben werden.
So auch beim Ziegelbrennen. Die berühmteſten Steine, die
hier zu Lande gebrannt werden, ſind die „rothen Rathenower“
[240] und die „gelben Birkenwerderſchen.“ Aber was ihnen ihre
Vorzüglichkeit leiht, iſt nicht das Material, ſondern die Sorg-
lichkeit, die Kunſt, mit der ſie hergeſtellt werden. Jedem ein-
zelnen Stein wird eine gewiſſe Liebe zugewandt. Das macht’s.
Der Birkenwerderſche Thon beiſpielsweiſe iſt unſcheinbar, aber
geſchlemmt, geſäubert, gemahlen, wird er zu einem allerdings
feinen Materiale entwickelt, und die Art des Streichens und
Brennens macht ihn ſchließlich zu etwas in ſeiner Art Voll-
endetem. Man geht dabei ſo weit, daß die Meſſer beim Formen
des Steines jedesmal geölt werden, um dem Ziegel dadurch die
Glätte, Ebenheit und Schärfe zu geben, die ihn auszeichnet.


Auch in Glindow und ſeinen Dependenzien wird ein vor-
züglicher Stein gebrannt, aber dennoch nicht ein Stein, der den
Rathenowern und Birkenwerderſchen gleichkäme. Die Herſtellung
(im Dorfe Glindow ſelbſt) erfolgt durch etwa 500 Arbeiter
aller Art. Wir unterſcheiden dabei: fremde Ziegelſtreicher,
einheimiſche Ziegelſtreicher und Tagelöhner. Ueber alle
drei Kategorien ein Wort.


Fremde Ziegelſtreicher werden hier ſeit lange verwandt.
Die einheimiſchen Kräfte reichten eben nicht aus. Früher waren
es „Eichsfelder,“ die kamen, und hier ähnlich wie die Warthe-
bruch-Schnitter oder Linumer Torfgräber eine Sommer-Campagne
durchmachten. Aber die „Eichsfelder“ blieben ſchließlich aus
oder wurden abgeſchafft, und an ihre Stelle traten die „Lipper.“
Dieſe behaupten noch jetzt das Feld.


Die Lipper (nur Männer) kommen im April und bleiben
bis Mitte Oktober. Sie ziehen in ein maſſives Haus, das unten
Küche, im 1. Stock Eßſaal, im 2. Stock Schlafraum hat. Sie
erheben gewiſſe Anſprüche. So muß jedem ein Handtuch ge-
liefert werden. An ihrer Spitze ſteht ein Meiſter, der nur
Direktion und Verwaltung hat. Er ſchließt die Contracte,
empfängt die Gelder und vertheilt ſie. Die Arbeit iſt Accord-
Arbeit, das Brennmaterial und die Geräthſchaften werden
ſämmtlich geliefert; der Lehm wird ihnen bis an die „Sümpfe“
gefahren; der Ofen iſt zu ihrer Dispoſition. Alles andere iſt
[241] ihre Sache. Am Schluſſe der Campagne erhalten ſie für je
1000 fertig-gebrannte Steine 1⅔ bis 2 Thaler. Die Geſammt-
ſumme bei 8 bis 10 Millionen Steine pflegt bis 15,000 Thaler
zu betragen. Dieſe Summe wird aber ſchwer verdient. Die
Leute ſind von einem beſonderen Fleiß. Sie arbeiten von 3 Uhr
früh bis 8 oder ſelbſt 9 Uhr Abends, alſo nach Abzug einer
Eßſtunde immer noch nah an 17 Stunden. Sie verpflegen ſich
nach Lipper Landesſitte, d. h. im Weſentlichen weſtfäliſch.
Man darf ſagen, ſie leben von Erbſen und Speck, die beide
durch den „Meiſter“ aus der lippeſchen Heimath bezogen werden,
wo ſie dieſe Artikel beſſer und billiger erhalten. Mitte Oktober
treten ſie, jeder mit einer Ueberſchußſumme von nahezu 100 Tha-
lern, den Rückweg an und überlaſſen nun das Feld den ein-
heimiſchen
Ziegelſtreichern.


Die Einheimiſchen arbeiten ebenfalls auf Accord, aber
unter ganz andern Bedingungen. Sie erhalten nicht die ganze
Arbeit, ſondern die Einzelarbeit bezahlt und ſtehen ſich dabei
nicht erheblich ſchlechter als die Lipper. Während der Sommer-
monate theilen ſie den Arbeitsplatz mit den Letzteren derart, daß
die Lipper zur Rechten, die Einheimiſchen zur Linken ihre Ziegel
ſtreichen. So weit ſind ſie den Lippern ebenbürtig. Darin
aber ſtehen ſie hinter dieſen zurück, daß dieſe das Recht haben,
ihre Ziegel zuerſt zu brennen. Mit andern Worten, ſo lange
die Sommercampagne dauert, gehört der Ofen ausſchließlich den
Lippern und erſt wenn dieſe fort ſind, ziehen die Einheimiſchen
mit den vielen Millionen Ziegeln, die ſie inzwiſchen geſtrichen
und getrocknet haben, auch ihrerſeits in den Ofen ein.


Die dritte Gruppe von Beſchäftigten ſind die Tagelöhner.
Sie arbeiten auf Tagelohn, erhalten täglich 8 Sgr. der Mann
(6 Sgr. die Frau) und bilden die Unter ſchicht einer Geſell-
ſchaft, in der die Ziegelſtreicher, wie eine mittelalterliche Hand-
werkszunft, die Oberſchicht bilden. Sie ſind bloße Handlanger,
Aushilfen für den groben Dienſt, der keine „Kunſt“ verlangt,
und erheben ſich nach Erſcheinung und allgemeiner Schätzung
Fontane, Wanderungen. III. 16
[242] wenig über ein dörfliches Proletariat, das denn auch meiſtens
in Familienhäuſern untergebracht zu werden pflegt.


Dies führt mich auf die Geſundheitsverhältniſſe dieſer
Ziegelbrenner-Diſtrikte. Die Berichte darüber gehen ſehr aus-
einander und während von einer Seite her — beiſpielsweiſe von
Potsdamer Hoſpitalärzten — verſichert wird, daß dieſer ſtete
Wechſel von Naßkälte und Glühofenhitze die Geſundheit früh
zerſtöre, verſichern die Glindower Herren, daß nichts abhärtender
und nichts geſunder ſei, als der Ziegeldienſt in Glindow.
Perſonen zwiſchen 70 und 80 Jahren ſollen ſehr häufig ſein.
Die Streitfrage mag übrigens auf ſich beruhen. Sie ſcheint
uns ſo zu liegen, daß dieſer Dienſt eine angeborene gute Ge-
ſundheit und gute Verpflegung verlangt, — ſind dieſe Bedingungen
erfüllt, ſo geht es; die kümmerliche Tagelöhner-Bevölkerung
aber, die „nichts drin, nichts draußen“ hat und zum Theil
von einem elenden Elternpaar geboren und großgezogen wurde,
geht allerdings früh zu Grunde.


Der Geſammt-Ziegel-Betrieb iſt, ſoweit Glindow ſelbſt in
Betracht kommt, in Händen weniger Familien: Fritze, Hintze,
Fiedler; etwa 9 große Oefen ſind im Gange. Die Geſammt-
maſſe producirter Steine geht bis 16 Millionen, früher ging es
über dieſe Zahl noch hinaus. Die Summen, die dadurch in
Umlauf kommen, ſind enorm. 1000 Steine = 8 Thaler, alſo
16 Millionen (1000 mal 8 mal 16) = 128,000 Thaler. Dies
auf wenige Familien vertheilt, muß natürlich einen Reichthum
erwarten laſſen und in der That iſt er da. Aber wie in
Werder, ſo iſt doch auch hier in Glindow dafür geſorgt, daß
Rückſchläge nicht ausbleiben, und es giebt Zeitläufte, wo die
Fabriken hier mit Schaden arbeiten. Ueberall im Lande wachſen
die Ziegelöfen wie über Nacht aus der Erde und die Concurrenz
drückt die Preiſe. Die Zeiten, wo 1000 Steine 15 Thaler
einbrachten, ſind vorläufig dahin, man muß ſich, wie ſchon
angedeutet, mit 8 und ſelbſt mit 7½ begnügen. Nun berechne
man die Zinſen des Erwerbs- und Betriebs-Kapitals, das
Brennmaterial, den Lohn an die Erdarbeiter, die Ziegelſtreicher
[243] (2 Thaler) und die Tagelöhner, endlich die Kahnfracht (ebenfalls
1½ Thaler) ſo wird ſich ergeben, daß von dieſen 8 Thalern
für je tauſend Steine nicht viel zu erübrigen iſt. Die Haupt-
ſorge machen immer die Schiffer. Sie bilden überhaupt, wie jeder
weiß, der mit ihnen zu thun hatte, eine der merkantil gefährlichſten
Menſchenklaſſen. Mit erſtaunlicher Liſt und Aushorchekunſt wiſſen
ſie in Erfahrung zu bringen, welche Contracte die Ziegelbrenner
mit dieſem oder jenem Bauunternehmer der Hauptſtadt abgeſchloſſen
haben. Lautet der Contract nun etwa dahin: „Die Steine
müſſen bis Mitte Oktober abgeliefert ſein,“ ſo hat der Schiffer
den Ziegelbrenner in der Hand; er verdoppelt ſeine Forderungen,
weil er weiß, er kann es wagen, der Ziegelbrenner muß zahlen,
wenn er nicht der ganzen Einnahme verluſtig gehen will.


Die glänzende Zeit dieſes Betriebes iſt vorüber*), genau ſeit
jener Epoche, wo die Ziegelbrennerei einen neuen Aufſchwung zu
nehmen ſchien, ſeit Einführung der Ringöfen. Der Ringofen
verbilligte die Herſtellung des Steins; die erſten, die ſich ſeiner
bedienten, hatten enorme Verdienſte; jetzt, wo ihn jeder hat,
hat er die Produktion zwar gefördert, aber der Wohlhabenheit
nur mäßig genützt.


Der Ringofen hat den alten Ziegelofen (wenige Ausnahmen
abgerechnet) total verdrängt, und in Erwägung, daß dieſe Kapitel
nicht blos auf dem Lande, ſondern auch von Städtern geleſen
werden, die nur allzu ſelten Gelegenheit haben, Einblick in
ſolche Dinge zu gewinnen, mag es mir geſtattet ſein, einen
Ringofen, ſeine Eigenthümlichkeiten und ſeine Vortheile zu be-
ſchreiben.


Der Ringofen hat ſeinen Namen von ſeiner Form; er iſt
ein Rundbau. Seiner Einrichtung nach könnte man ihn einen
Kammer- oder Kapellen-Ofen nennen; ſeiner Haupteigenſchaft
nach aber iſt er ein Spar-Ofen. Er ſpart Feuerung. Wir
kommen darauf zurück.


16*
[244]

Zunächſt ſeine Form und Einrichtung. Um beide zu
ſchildern, greifen wir nach einem Bilde, das vor einigen Jahren,
als es galt das Pariſer Ausſtellungsgebäude anſchaulich zu
beſchreiben, vielfach gebraucht wurde. Wir modificiren es nur.
Denken wir uns alſo eine gewöhnliche runde Torte, aus der wir
das Mittel- oder Nußſtück herausgeſchnitten und durch eine
ſchlanke Weinflaſche erſetzt haben, ſo haben wir das getreue
Abbild eines Ringofens. Denken wir uns dazu die Torte in
zwölf gleich große Stücke zerſchnitten, ſo haben wir auch die
Einrichtung des Ofens: ſein Zwölfkammer-Syſtem. Die in
der Mitte aufragende Weinflaſche iſt natürlich der Schornſtein.


Das Verfahren iſt nun folgendes. In vier oder fünf der
vorhandenen, durch Seitenöffnungen mit einander verbundenen
Kammern werden die getrockneten Steine eingekarrt, in jede
Kammer 12,000. Iſt dies geſchehen, ſo wird die Geſammtheit der
erwähnten vier oder fünf Kammern durch zwei große Eiſenſchieber,
der eine links, der andere rechts, von dem Reſte der Kammern
abgeſperrt. Nun beginnt man in Kammer 1. ein Feuer zu
machen, nährt es, indem man von oben her durch runde Löcher
ein beſtimmtes Quantum von Brennmaterial niederſchüttet*)
und hat nach 24 Stunden die 12,000 Steine der erſten Kammer
völlig gebrannt. Aber (und darin liegt das Sparſyſtem) während
man in Kammer 1. eine für 12,000 Steine ausreichende Roth-
gluth unterhielt, wurden die Nachbarſteine in Kammer 2. halb,
in Kammer 3. ein Drittel fertig gebrannt und die Steine in
[245] Kammer 4. und 5. wurden wenigſtens „angeſchmoocht,“ wie der
techniſche Ausdruck lautet. Die Steine in Kammer 2., die nun
am zweiten Tage unter Feuer kommen, brauchen natürlich, halb
fertig, wie ſie bereits ſind, ein geringeres Brennmaterial, um
zur Perfektion zu kommen, und ſo geht es weiter; wohin immer
das Feuer kommt, findet es 12,000 Steine vor, die bereits drei
Tage lang und zwar in wachſender Progreſſion durch eine Feuer-
behandlung gegangen ſind. Der eine (vorderſte) Eiſen-Schieber
rückt jeden Tag um eine Kammer weiter, der andere Eiſenſchieber,
vom entgegengeſetzten Flügel her, folgt und giebt dadurch die
Kammer frei, in der am Tage zuvor gebrannt wurde. So
vollzieht ſich ein Kreislauf. In die leeren Kammern, bevor der
Schieber ſie in den Feuer-Rayon hineinzwingt, wird eingekarrt,
aus den im Feuer geweſenen, vom Schieber freigegebenen
Kammern wird ausgekarrt. Der Prozeß, ſo lange die Brenn-
Campagne dauert, iſt ohne Ende; das Feuer rückt von Kammer
zu Kammer, bis es herum iſt und beginnt dann ſeinen Kreis-
lauf von neuem. Der Vortheil liegt auf der Hand. Er ſteigt
aber inſonderheit auch noch dadurch, daß der Ringofen in ſeinen
Feueranſprüchen nicht wähleriſch iſt. Er frißt Alles. Jedes
Material dient ihm: Holz, Torf, Braunkohle, Alles hat einen
gleichen oder doch einen verwandten Werth und das billigſte
Material behauptet ſich neben dem theuerſten. Die Ziegelbren-
nerei iſt dadurch in eine ganz neue Phaſe getreten, zum Vortheil
der Bauunternehmer, die ſeitdem die Steine für den halben
Preis erſtehen, aber wenig zum Vortheil der alten Ziegel-
Brennerfirmen, die, ehe die Dinge dieſe modern-induſtrielle
Behandlung und Ausnutzung erfuhren, ſich beſſer ſtanden.
Wobei übrigens auch noch bemerkt ſein mag, daß die beſten
Steine, beiſpielsweiſe die Rathenower und Birkenwerderſchen,
nach wie vor in den Ziegelöfen alter Conſtruction gebrannt
werden. Der Ringofen hat keine andern Vorzüge, als daß er
ein Sparofen iſt.


Solcher Ringöfen hat Glindow ſelbſt, wie wir ſchon
hervorgehoben, etwa 9, der Diſtrikt Glindow aber, mit
[246] ſeinem Innen- und Außen-Revier, wohl mehr denn 50. Daß
ſie der Landſchaft zu beſonderer Zierde gereichten, läßt ſich nicht
behaupten. Der Fabrikſchornſtein mag alles ſein, nur ein Ver-
ſchönerungsmittel iſt er nicht, am wenigſten wenn er ſchön
thut, wenn er möchte. Und wie dieſer reiche Betrieb, der
unbeſtreibar, trotz Stillſtände und Rückſchläge ein ſich ſteigerndes
Prosperiren Einzelner oder ſelbſt Vieler geſchaffen hat, die Land-
ſchaft nicht ſchmückt, ſo ſchmückt er auch nicht die Dörfer, in
denen er ſich niedergelaſſen hat. Er nimmt ihnen ihren eigent-
lichen Charakter, in richtigem unſentimentalen Verſtande ihre
Unſchuld und giebt ihnen ein Element, deſſen Abweſenheit
bisher, und wenn ſie noch ſo arm waren, ihr Zauber und
ihre Zierde war, — er giebt ihnen ein Proletariat. Ob daſſelbe
ſtädtiſch oder dörfiſch auftritt, ob es mehr verbittert oder mehr
elend iſt, ſind Unterſchiede, die an dem Traurigen der Erſcheinung
nicht viel zu ändern vermögen.


Auch Dorf Glindow hat von dieſem allem ſein geſchüttelt
Maß. An und für ſich ausgeſtattet mit dem vollen Reiz eines
havelländiſchen Dorfes, hingeſtreckt zwiſchen See und Hügel,
ſchieben ſich doch überall in das alt-dörfliche Leben die Bilder
allermodernſten, frohndienſthaften Induſtrialismus hinein und
die ſchönen alten Bäume, die mit ihren mächtigen Kronen ſo
vieles maleriſch zu überſchatten und zu verdecken verſtehen, ſie
mühen ſich hier umſonſt, dieſen trübſeligen Anblick dem Auge zu
entziehen.


Am See hin, um die Veranden der Ziegel-Lords rankt
ſich der wilde Wein, Laubengänge, Clematis hier und Aristo-
lochia
dort, ziehen ſich durch den Parkgarten, Tauben ſtolziren
auf dem Dachfirſt oder umflattern ihr japaniſches Haus, —
aber dieſe lachenden Bilder laſſen die Kehrſeite nur um ſo dunkler
erſcheinen: die Lehmſtube mit dem verklebten Fenſter, die ab-
gehärmte Frau mit dem Säugling in Loden, die hageren Kinder,
die läſſig durch den Enten-Tümpel gehn.


Es ſcheint, ſie ſpielen; aber ſie lachen nicht; ihre Sinne
ſind trübe wie das Waſſer, worin ſie waten und plätſchern.


[[247]]

Bornstädt.


Nun weiß ich auf der Erde
Ein einzig Plätzchen nur,
Wo, jegliche Beſchwerde,
Im Schooße der Natur,
Wo jeder eitle Kummer
Dir wie ein Traum zerfließt,
Und dich der letzte Schlummer
Im Bienenton begrüßt.
Waiblinger.

Bornſtädt und ſeine Feldmark bilden die Rückwand von Sans-
ſouci. Beiden gemeinſam iſt der Höhenzug, der zugleich ſie trennt:
ein langgeſtreckter Hügel, der in alten Topographieen den Namen
„der Galberg“ führt. Am Südabhange dieſes Höhenzuges
entſtanden die Terraſſen von Sansſouci; am Nordabhange liegt
Bornſtädt. Die neuen Orangeriehäuſer, die auf dem Kamme
des Hügels in langer Linie ſich ausdehnen, geſtatten einen
Ueberblick über beide, hier über die Baum- und Villenpracht
der königlichen Gärten, dort über die rohrgedeckten Hütten des
märkiſchen Dorfes; links ſteigt der Springbrunnen auf und
glitzert ſiebenfarbig in der Sonne, rechts liegt ein See im
Schilfgürtel und ſpiegelt das darüber hinziehende weiße Gewölk.


Dieſer Gegenſatz von Kunſt und Natur unterſtützt beide
in ihrer Wirkung. Wer hätte nicht an ſich ſelbſt erfahren, wie
frei man aufathmet, wenn man aus der kunſtgezogenen Linie
auch des friſcheſten und natürlichſten Parkes endlich über Graben
und Birkenbrücke hinweg in die weitgeſpannte Wieſenlandſchaft
eintritt, die ihn einſchloß! Mit dieſem Reiz des Einfachen und
Natürlichen berührt uns auch Bornſtädt. Wie in einem grünen
Korbe liegt es da.


[248]

Aber das anmuthige Bild, das es bietet, iſt nicht bloß
ein Produkt des Kontraſtes; zu gutem Theile iſt es eine Wir-
kung der pittoresken Kirche, die in allen ihren Theilen deutlich
erkennbar, mit Säulengang, Langſchiff und Etagenthurm, aus
dem bunten Gemiſch von Dächern und Obſtbäumen emporwächſt.
Dieſe Kirche iſt eine aus jener reichen Zahl von Gotteshäuſern,
womit König Friedrich Wilhelm IV. Potsdam gleichſam um-
ſtellte, dabei von dem in ſeiner Natur begründeten Doppelmotiv
geleitet: den Gemeinden ein chriſtliches Haus, ſich ſelber einen
künſtleriſchen Anblick zu gewähren. Auch für Bornſtädt wählte
er die Baſilika-Form.


Ueber die Zuläſſigkeit dieſer Form, ſpeziell für unſer
märkiſches Flachland, iſt viel hin und her geſtritten worden, und
es mag zugeſtanden werden, daß ſie, ſammt dem Campanile,
das ſie zu begleiten pflegt, vorzugsweiſe ein coupirtes Terrain
und nicht die Ebene zur Vorausſetzung hat. Deßhalb wirken
dieſe Kirchen in den flachen und geradlinigen Straßen unſerer
Reſidenzen nicht eben allzu vortheilhaft, und der unvermittelt
aufſteigende, weder durch Baumgruppen noch ſich vorſchiebende
Bergcouliſſen in ſeiner Linie durchſchnittene Etagenthurm tritt
faſt — an die Porzellanthürme Chinas erinnernd, — in einen
gewiſſen Widerſpruch mit unſerem chriſtlichen Gefühl. Mit unſeren
baulichen Traditionen gewiß! Aber ſo unzweifelhaft dies zu-
zugeſtehen iſt, ſo unzweifelhaft ſind doch auch Ausnahmen, und
eine ſolche bietet Bornſtädt. Es wird hier ein ſo maleriſcher
Effekt erzielt, daß wir nicht wiſſen, wie derſelbe überboten werden
ſollte. Der grüne Korb des Dorfes ſchafft eine glückliche Staffage,
und während das Hochaufragende des Etagent hurms etwas von dem
Poetiſch-Symboliſchen der alten Spitzthürme bewahrt, wird
doch zugleich dem feineren Sinn eine Form geboten, die mehr
iſt als die Zuckerhut-Formation unſerer alten Schindelſpitzen.
Der Ruf dieſer hat ſich nur, faute de mieux, im Zeitalter der
Laternen- und Butterglocken-Thürme entwickeln können.


Die bornſtädter Baſilika ſammt Säulengang und Etagen-
thurm iſt ein Schmuck des Dorfes und der Landſchaft; aber
[249] was doch weit über die Kirche hinausgeht, das iſt ihr Kirch-
hof
, dem ſich an Zahl berühmter Gräber vielleicht kein anderer
Dorfkirchhof vergleichen kann. Wir haben viele Dorfkirchhöfe
geſehen, die um ihres landſchaftlichen oder überhaupt ihres
poetiſchen Zaubers willen einen viel tieferen Eindruck auf uns
gemacht haben; wir haben andere beſucht, die hiſtoriſch den
bornſtädter Kirchhof inſoweit in Schatten ſtellen, als ſie ein
Grab haben, das mehr wiegt als alle bornſtädter Gräber zu-
ſammengenommen; aber wir ſind nirgends einem Dorfkirchhof
begegnet, der ſolche Fülle von Namen aufzuweiſen hätte.


Es hat dies einfach ſeinen Grund in der unmittelbaren
Nähe von Sansſouci und ſeinen Dependenzien. Alle dieſe
Schlöſſer und Villen ſind hier eingepfarrt, und was in Sans-
ſouci ſtirbt, das wird in Bornſtädt begraben, — in den meiſten
Fällen königliche Diener aller Grade, näher und ferner ſtehende,
ſolche, deren Dienſt ſie entweder direkt an Sansſouci band,
oder ſolche, denen eine beſondere Auszeichnung es geſtattete,
ein zurückliegendes Leben voll Thätigkeit an dieſer Stätte voll
Ruhe beſchließen zu dürfen. So finden wir denn auf dem
bornſtädter Kirchhofe Generale und Offiziere, Kammerherren und
Kammerdiener, Geheime-Räthe und Geheime-Kämmeriere, Hof-
ärzte und Hofbaumeiſter, vor Allem — Hofgärtner in Bataillonen.


Der Kirchhof theilt ſich in zwei Hälften, in einen alten
und einen neuen. Jener liegt hoch, dieſer tief. Der letztere
(der neue) bietet kein beſonderes Intereſſe.


Der alte Kirchhof hat den freundlichen Charakter einer
Obſtbaumplantage. Die vom Winde abgwehten Früchte, reif
und unreif, liegen in den geharkten Gängen oder zwiſchen den
Gräbern der Dörfler, die in unmittelbarer Nähe der Kirche
ihre letzte Raſt gefunden haben. Erſt im weiteren Umkreiſe beginnt
der Fremdenzuzug, gewinnen die Gäſte von Sansſouci her
die Oberhand, bis wir am Rande des Gemäuers den Erb-
begräbniſſen begegnen. Wir haben alſo drei Zirkel zu verzeichnen:
den Bornſtädter-, den Sansſouci- und den Erbbegräbniß-
Zirkel.


[250]

An einige Grabſteine des mittleren, alſo des Sansſouci-
Zirkels, treten wir heran; nicht an ſolche, die berühmte Namen
tragen (obſchon ihrer kein Mangel iſt), ſondern an ſolche, die
uns zeigen, wie wunderbar gemiſcht die Todten hier ruhen. Da
ruht zu Füßen eines Säulenſtumpfes Demoiſelle Maria Thereſia
Calefice. Wer war ſie? Die Inſchrift gibt keinen Anhalt:
„Gott und Menſchen lieben, Gutes ohne Selbſtſucht thun, den
Freund ehren, dem Dürftigen helfen — war ihres Lebens
Geſchäft.“ Ein beneidenswerthes Loos. Dazu war ſie in
der bevorzugten Lage, dieſem „Geſchäft“ 82 Jahre lang obliegen
zu können. Geb. 1713, geſt. 1795. Wir vermuthen eine
reponirte Sängerin.


Nicht weit davon leſen wir: „Hier ruht in Gott Pro-
feſſor Samuel Röſel, geb. in Breslau 1769, geſt. 1843.
„Tretet leiſe an ſein Grab, ihr Männer von edlem Herzen, denn
er war euch nahe verwandt.“ Wer war er? Ein gußeiſernes
Gitter, einfach und doch zugleich abweichend von allem Her-
kömmlichen, ſchließt die Ruheſtätte ein; um die roſtbraunen
Stäbe winden ſich Vergißmeinnicht-Ranken und zu Häupten
ſteht eine Hageroſe.*)


[251]

Noch ein dritter Fremder an dieſer Stelle: Heinrich Wil-
helm Wagenführer, geb. zu Neuwied 1690. Er wurde
vom Rhein an die Havel verſchlagen, wie es ſcheint zu ſeinem
Glück. Der Grabſtein nennt ihn mit Unbefangenheit „einen
vornehmen Kauf- und Handelsmann zu Potsdam.“ Dieſe
Inſchrift, mit den Daten, die ſie begleiten, iſt nicht leicht zu
entziffern, denn ein alter Ulmenbaum, der zur Seite ſteht, hat
ſein Wurzelgeäſt derart über den Grabſtein hingezogen, daß es
ausſieht, als läge eine Rieſenhand über dem Stein und mühe
ſich, dieſen an ſeiner Grabesſtelle feſtzuhalten. Geſpenſtiſch am
hellen, lichten Tag!


Wir gehen vorbei an Allem, was unter Marmor und
hochtönender Inſchrift an dieſer Stelle ruht, ebenſo an den
Erbbegräbniſſen des dritten Zirkels und treten in eine nach
links hin abgezweigte Parzelle dieſes Todtenackers ein, die den
Namen des „Sello’ſchen Friedhofs“ führt. Die Sellos ſind
Sansſouci-Gärtner ſeit über hundert Jahren. Ihre Begräb-
nißſtätte bildet eine Art vorſpringendes Baſtion; ein niedriges
Gitter trennt ſie von dem Reſt des Kirchhofs. Hier ruhen,
außer der „Dynaſtie Sello“, mit ihnen verſchwägerte oder be-
freundete Sansſoucimänner, die „Eigentlichſten“:


Karl Timm, Geh. Kämmerier, geſt. 1839.


Emil Illaire, Geh. Kabinetsrath, geſt. 1866.


Peter Joſeph Lenné, Generaldirektor der K. Gärten,
geſt. 1866.


Friedrich Ludwig Perſius, Architekt des Königs,
geſt. 1845.


Ferdinand v. Arnim, Hofbaurath, geſt. 1866.


Denkmal an Denkmal hat dieſe Begräbnißſtätte der
Sello’s zugleich zu einer Kunſtſtätte umgeſchaffen: Marmorreliefs,
in der Sprache griechiſcher und chriſtlicher Symbolik, ſprechen zu
*)
[252] uns; hier weiſt der Engel des Friedens nach oben; dort, aus
dem weißen Marmorkreuz hervor, blickt das Dornenantlitz zu
uns nieder, das zuerſt auf dem Schweißtuche der heiligen
Veronika ſtand. Nur die Sellos, die eigentlichen Herren des
Platzes, haben den künſtleriſchen Schmuck verſchmäht: einfache
Feldſteinblöcke tragen ihre Namen und die Daten von Geburt
und Tod.


Sie haben den künſtleriſchen Schmuck verſchmäht, nur nicht
den, der ihnen zuſtand. Die alten Gärtner wollten in einem
Garten ſchlafen. So viele Gräber, ſo viele Beete, — das
Ganze verandaartig von Pfeilern und Balkenlagen umſtellt.
Die Pfeiler wieder hüllen ſich in Epheu und wilden Wein,
Linden und Nußbäume ſtrecken von Außen her ihre Zweige
weit über die Balkenlagen fort, zwiſchen den Gräbern
ſelbſt aber ſtehen Taxus und Cypreſſen, und die brennende
Liebe der Verbenen ſpinnt ihr Roth in das dunkelgrüne Ge-
zweig.


Aus der Sello’ſchen Begräbnißparzelle ſind wir auf den
eigentlichen Kirchhof zurückgeſchritten; noch ein Denkmal verbleibt
uns, an das wir heranzutreten haben: ein wunderliches Gebilde,
das, in übermüthigem Widerſpruch mit Marmorkreuz und
Friedensengel, den Ernſt dieſer Stunde wie ein groteskes Satyr-
ſpiel beſchließt. Es iſt dies das Grabdenkmal des bekannten
Freiherrn Paul Jakob v. Gundling, der Witz und Wüſtheit,
Wein- und Wiſſensdurſt, niedere Geſinnung und ſtupende Ge-
lehrſamkeit in ſich vereinigte, und der, in ſeiner Doppeleigenſchaft
als Trinker und Hofnarr, in einem Weinfaß begraben wurde.
In der bornſtädter Kirche ſelbſt, in der Nähe des Altars. Ueber
ſeinem Grabe ließ König Friedrich Wilhelm I. einen Stein
errichten, der trotz des zwiefachen Neubaus, den die Kirche ſeit-
dem erfuhr, derſelben erhalten blieb. Dieß Epitaphium (ein
Kurioſum erſten Ranges) bildet immer noch die Hauptſehens-
würdigkeit der Kirche. Hübſche Baſiliken giebt es viele; ein ſolches
Denkmal giebt es nur einmal. Ehe wir eine Beſchreibung deſſelben
verſuchen, begleiten wir den Freiherrn durch ſeine letzten Tage,
[253] auf ſeinem letzten Gange. Wir benutzen dabei, mit geringen
Abweichungen, einen zeitgenöſſiſchen Bericht:


„v. Gundling wurde vor Oſtern des Jahres 1731 krank
und ſtarb den 11. April auf ſeiner Stube im K. Schloſſe zu
Potsdam. Sein Körper ward ſogleich auf einem Brette nach
dem Wittwenhauſe der Lakaienfrauen getragen und hier von den
Wundärzten geöffnet. In ſeinem Magen fand man ein Loch.


„Sein Leichenbegängniß war äußerſt luſtig und ſeinem
geführten Lebenswandel völlig angemeſſen. Schon vor zehn
Jahren hatte ihm der König ſeinen Sarg in Form eines
Weinfaſſes verfertigen laſſen. Es war ſchwarz angeſtrichen
und auf dem obern Theile mit einem weißen Kreuze geſchmückt,
welches nach allen vier Seiten herunterging. Es wird erzählt,
daß Gundling ſich ſchon bei Lebzeiten öfters in dieſen Sarg
gelegt und zur Ergötzung des Hofes ein Glas Wein darin ge-
trunken habe. Nachdem er todt war, legte man ihn in ſeinem
rothſammtenen, mit blauen Aufſchlägen beſetzten Kleide, desgleichen
mit rothen ſeidenen Strümpfen und einer großen Staatsperrücke,
in daſſelbe hinein. Umher ſtellte man zwölf Gueridons mit
brennenden weißen Wachskerzen. In dieſer Parade ward er
Jedermann öffentlich gezeigt. Beſonders kamen viele Fremde
nach Potsdam, um ihn zu ſehen.


„Nachdem der Kaſtellan des Schloſſes vom Könige den
Befehl erhalten hatte, alles zum Begräbniß Erforderliche zu
beſorgen, ward dem Verſtorbenen die Kirche zu Bornſtädt als
Ruheſtätte beſtimmt. Zur Leichenbegleitung wurden mehr als
fünfzig Offiziere, Generale, Oberſten und andere angeſehene
Kriegsbediente, die Geiſtlichen, die potsdamer Schule, die K. Ka-
binetsſekretäre, Kammerdiener, Küchen- und Kellerei-Bediente
eingeladen. Hiezu kam noch der Rath und die Bürgerſchaft der
Stadt, welche ſich ſämmtlich, mit ſchwarzen Mänteln angethan,
bei dieſer Handlung einfinden mußten. Alle dieſe Begleiter
waren bereit und willig, Gundlingen die letzte Ehre zu erweiſen,
bis auf die lutheriſchen und reformirten Geiſtlichen, die zu er-
ſcheinen ſich weigerten. Da ſie um die Urſache befragt wurden,
[254] ſchützten ſie die Geſtalt des Sarges vor, welche nicht erlaube,
daß ſie dabei ohne Anſtoß erſcheinen könnten. Man fand nicht
für gut, ſie weiter zu nöthigen, und ließ ſie weg.


„Nun ſtellte ſich aber ein zweiter Umſtand dar, welcher
neue Schwierigkeiten hervorbrachte. Da die Geiſtlichkeit, von der
ein lutheriſches Mitglied die Parentation halten ſollte, nicht
erſchien, ſo war man verlegen, wer dieß Geſchäft nun übernehmen
würde. Nachdem man hin und her geſonnen hatte, verfiel man
endlich auf des Verſtorbenen Erzfeind, auf David Faßmann.
Dieſer übernahm es und hielt wirklich die Leichenrede.


„Nach Schluß derſelben wurden Lieder geſungen und alle
Glocken geläutet. Der bis dahin offen geſtandene Sarg ward
zugemacht, ein Bahrtuch darüber geworfen, und ſo ging es in
beſter Ordnung und unter fortgeſetztem Läuten bis vor den
Schlagbaum von Potsdam hinaus. Hier blieb die Prozeſſion
zurück, und nur Wenige folgten der Leiche, die auf einen Wagen
geſetzt und nach Bornſtädt gefahren wurde. Hier wurde ſie
abgeladen und inmitten der Kirche eingeſenkt. — Ein großer,
zierlich ausgehauener Leichenſtein erhielt folgende Inſchrift:


Allhier liegt begraben der weyland Hoch- und Wohlgeborne

Herr,

Herr Jakob Paul Freiherr v. Gundling,

Sr. K. Majeſtät in Preußen Hochbeſtallt geweſener Ober-Cere-

monienmeiſter, Kammerherr, Geh. Ober-Appellations-, Kriegs-,

Hof-, Kammer-Rath, Präſident der K. Societät der Wiſſen-

ſchaften, Hof- und Kammergerichtsrath, auch Hiſtoriographus ꝛc.,

welcher von Allen, die ihn gekannt haben,

wegen ſeiner Gelehrſamkeit bewundert,

wegen ſeiner Redlichkeit geprieſen,

wegen ſeines Umgangs geliebt und

wegen ſeines Todes beklagt worden.

Anno 1731.

„Darunter befindet ſich groß und in ſauberer Ausführung
das freiherrliche Wappen.“


So etwa der zeitgenöſſiſche Bericht.


[255]

Des Wappens auf dem Leichenſteine wird nur in aller
Kürze Erwähnung gethan, und doch iſt daſſelbe von beſonderem
Intereſſe. Es zeigt, daß des Königs Geneigtheit, an Gundling
ſeinen Spott zu üben, auch über den Tod des Letztern fortdauerte.
Hatte er ſchon früher durch Ertheilung eines freiherrlichen
Wappens, auf dem die angebrachten drei Pfauenfedern die
Eitelkeit des Freiherrn geißeln ſollten, ſeinem Humor die Zügel
ſchießen laſſen, ſo ging er jetzt, wo es ſich um die Ausmeißelung
eines Grabſteins für Gundling handelte, noch über den früheren
Sarkasmus hinaus, und das Grabſtein-Wappen (im Gegenſatz
zu dem früher ertheilten Wappen) erhielt zwei neue Schildhalter:
eine Minerva und einen aufrecht ſtehenden Haſen. Die
Hieroglyphenſprache des Grabſteins ſollte ausdrücken: er war
klug, eitel, feige.


Dieſer intereſſante Stein lag urſprünglich im Kirchenſchiff;
jetzt iſt er ſenkrecht in die Frontwand eingemauert und wirkt
völlig wie ein errichtetes Denkmal. Er zählt über 130 Jahre.


Wenn der weiße Marmor ſo vieler Gräber draußen längſt
zerfallen ſein und kein roth-dunkles Verbenen-Beet den Veranda-
Begräbnißplatz der Sellos mehr ſchmücken wird, wird dieß
wunderliche Wappen-Denkmal, mit den Pfauenfedern und dem
aufrechtſtehenden Haſen, noch immer zu unſern Enkeln ſprechen,
und das Märchen von „Gundling und dem Weinfaß-Sarge“
wird dann wunderſam klingen wie ein grotesk-heiteres Gegen-
ſtück zu den Geſchichten vom Oger.


[[256]]

Marquardt.


Des Hofes Glanz und Schimmer
Blinkt nur wie faules Holz,
Die Kirche lebt vom Flimmer
Und wird vor Demuth ſtolz;
Arm ſind des Lebens Feſte,
Rings abgeſtandner Wein,
Das Höchſte und das Beſte,
Wie niedrig und wie klein.
Walter Raleigh.

Eine Meile hinter Bornſtädt, über deſſen monumentenreichen
Kirchhof wir im vorigen Kapitel berichtet, liegt Marquardt,
ein altwendiſches Dorf, eben ſo anziehend durch ſeine Lage, wie
ſeine Geſchichte. Wir paſſiren Bornim, durchſchneiden den
„Königsdamm“ und münden unmerklich aus der Chauſſee in
die Dorfſtraße ein, zu deren Linken ein prächtiger Park (in
ſeiner Mitte das Herrenhaus) bis an die Wublitz und die breiten
Flächen des Schlänitz-Sees ſich ausdehnt.


Die gegenwärtige Geſtalt von Marquardt, ebenſo wie ſein
Name, iſt noch jung; in alten Zeiten hieß es Schorin. Im
15. Jahrhundert, und weiter zurück, war es im Beſitz zweier
Familien; die eine davon nannte ſich nach dem Dorfe ſelbſt
(Zabel v. Schorin 1375), die andere waren die Bammes.
Der Beſitz wechſelte oft; die Bröſickes, Hellenbrechts und War-
tenbergs löſten einander ab, bis 1704 der Etatsminiſter und
Schloßhauptmann Marquardt Ludwig von Printzen das
reizende Schorin vom Könige zum Geſchenk, und das Ge-
ſchenk ſelber, dem Miniſter zu Ehren, den Namen Marquardt
erhielt.


[257]

An v. Printzen, der ſieben hohe Staatsämter bekleidete
und eben ſo viele Titel führte, läßt ſich die Phraſe vom „un-
ſterblichen Namen“ muſtergültig ſtudiren. Wer kennt ihn
noch
? Und doch war der Ruhm, den er ſeiner Zeit genoß,
ein ſo allgemeiner und wohlverdienter, daß ſelbſt der mediſante
Herr v. Poellnitz nicht umhin konnte, in ſeinen Memoiren zu
ſchreiben: „Um 1710 wurde v. Printzen zum Oberhof-
marſchall
ernannt. Seine Verdienſte machten ihn dieſer
Stelle vollkommen würdig. Der Hof, bei welchem er ſchon
ſehr jung angeſtellt worden war, hatte weder ſeine Sitten noch
ſein Herz verdorben. Treue und Redlichkeit waren die Trieb-
federn aller ſeiner Handlungen, und man kann mit Wahrheit
ſagen, daß unter allen Miniſtern des Königs er derjenige war,
der den Meinders und Fuchs, welche Deutſchland unter ſeine
größten Männer rechnete, am meiſten gleichkam. Seine Auf-
richtigkeit hatte ihm Jedermanns Liebe zugezogen. Selbſt der
Kronprinz, der ein geborener Feind aller Miniſter war, konnte
ihm ſeine Hochachtung nicht verſagen, ſo daß er, als der
Prinz zur Regierung kam, der Einzige war, der ſeine Stelle
behielt.“


So Poellnitz über v. Printzen. Ein Glück, daß ſieben
Hof- und Staatsämter ihn bei Lebzeiten ſchadlos hielten
für die Undankbarkeit der Nachwelt. Er bezog 40,000 Thlr.
jährlich. Unter ſeinen vielen Aemtern war auch das eines
„Direktors des Lehnsweſens,“ was die Anhäufung von Lehns-
briefen des geſammten Havellandes im Marquardter Archive
erklären mag.


v. Printzen ſtarb 1725; ſchon ſechs Jahre früher (1719)
war das anmuthige Schorin, nunmehr Marquardt, in die Hände
der Familie v. Wykerslot übergegangen, die, zu Anfang des
Jahrhunderts, vom Niederrhein, dem Jülichſchen und Cleveſchen
her, ins Land gekommen war. Vater und Sohn folgten
einander im Beſitz, jagten und proceſſirten ein halbes Jahr-
hundert lang und erwarben ſich das im engſten Zuſammenhang
damit ſtehende fragwürdige Verdienſt, das Gutsarchiv mit den
Fontane, Wanderungen. III. 17
[258] meiſten Actenbündeln, diesmal nicht Lehnsbriefe, vermehrt zu
haben. Es war eine calviniſtiſche Familie und das Intereſſan-
teſte aus ihrer Beſitzzeit bleibt wohl, daß, obſchon ſie die Kirche
aus eigenen Mitteln erbaut hatten, ihnen (wenigſtens ſo lange
Friedrich Wilhelm I. regierte) nicht geſtattet wurde, das heilige
Abendmahl in dieſer ihrer Kirche aus der Hand eines reformir-
ten Geiſtlichen zu empfangen. Die Wykerslot mußten ſich, an
ihrem eigenen Gotteshauſe vorbei, nach Nattwerder begeben,
einer benachbarten Schweizercolonie, wo das Abendmahl nach
calviniſtiſchem Ritus ertheilt wurde.


1781 ſtarb der jüngere v. Wykerslot. War der Beſitz
bis zu dieſem Zeitpunkte kein conſtanter geweſen, ſo wurde er
von jetzt ab, in der Unruhe ſich ſteigernd, ein beſtändig wech-
ſelnder, ſo daß wir in dem kurzen Zeitraum von 1781 bis
1795 das nunmehrige Marquardt in Händen von vier ver-
ſchiedenen Familien ſehn. Die Nähe Potsdams — wie bei
vielen ähnlichen Punkten — ſpielte dabei eine Rolle. Wer
dem Hofe nahe ſtand, oder, wenn außer Dienſt, es ſchwer fand,
ſich ganz aus der Sonne zurückzuziehen, wählte mit Vorliebe
die nahegelegenen Dorfſchaften. Unter dieſen auch Marquardt.
Hofleute erſtanden es, nahmen hier ihre Villeggiatur und ver-
kauften es wieder. Die Beſitzreihe war die folgende:


  • Oberſtlieutenant von Münchow von 1781—1789,
  • Hofmarſchall von Dorville von 1789—1793,
  • Kammerherr und Domherr Baron v. Dörenberg von
    1793—1795.
  • General v. Biſchofswerder von 1795—1803.

Ueber die Beſitzzeiten der erſtgenannten drei iſt wenig zu
ſagen. v. Münchow errichtete ſeiner verſtorbenen Frau ein
Roccoco-Denkmal mit der Inſchrift: „Friede ſei über ihrer
würdigen Aſche;“ Dorville und Dörenberg gingen ſpurlos
vorüber. Erſt mit General von Biſchofswerder begann eine
neue Zeit. Marquardt trat in die Reihe der hiſtoriſchen
Punkte ein.


[259]

Marquardt von 1795—1803.


General v. Biſchofswerder.


Die Zeit der Heerlager war vorüber, der Baſeler Friede
geſchloſſen; in demſelben Jahre war es, 1795, daß der General
v. Biſchofswerder Marquardt käuflich an ſich brachte, nach
einigen aus dem Vermögen ſeiner zweiten Frau, nach andern
aus Mitteln, die ihm der König gewährt hatte. Das letztere iſt
das wahrſcheinlichere. Gleichviel, er erſtand es und gab dem
Herrenhauſe, dem Park, dem Dorfe ſelbſt, im Weſentlichen den
Charakter, den ſie ſammt und ſonders bis dieſen Augenblick zeigen.
So wenig Jahre er es beſaß, ſo war dieſer Beſitz doch epochemachend.
Ehe wir darzuſtellen verſuchen, was Marquardt damals ſah
und erlebte, verſuchen wir eine Schilderung des einflußreichen
und merkwürdigen Mannes ſelbſt.


Hans Rudolph v. Biſchofswerder wurde am 11. Novem-
ber 1740 zu Oſtramünde im ſächſiſch-thüringiſchen Amte Eckarts-
berge geboren.*) Die Angabe von Tag und Jahr iſt zuverläſſig,
die Ortsangabe fraglich. Sein Vater, (die Mutter war eine
geborne v. Bünau) war Adjutant bei dem Marſchall von
Sachſen, warb für Frankreich das Regiment Chaumontet und
ſtarb als Oberſt im Dienſt der Generalſtaaten.


Hans Rudolph v. Biſchofswerder ſtudirte von 1756 an zu
17*
[260] Halle, nahm dann Kriegsdienſte und trat 1760 in das preußiſche
Regiment Carabiniers, deſſen Commandeur ihn zu ſeinem Ad-
jutanten machte. In dieſer Eigenſchaft wohnte er den letzten
Kämpfen des ſiebenjährigen Krieges bei. Noch während der
Campagne ſtürzte er mit dem Pferde, erlitt einen Rippenbruch
und zunächſt wenigſtens ſich außer Stande ſehend, die militäriſche
Laufbahn fortzuſetzen, begab er ſich auf ein Landgut in der
ſächſiſchen Lauſitz, wo er ſich 1764 mit einer Tochter des kur-
ſächſiſchen Kammerherrn v. Wilke vermählte. Er lebte hier
mehrere Jahre in glücklicher Zurückgezogenheit und „übte (wie
es in einer der zeitgenöſſiſchen Schriften heißt) all die geſell-
ſchaftlichen und häuslichen Tugenden, die ihm die Hochachtung
derer, die ihn kannten, erwarben.“


Sein guter Ruf verſchaffte ihm die Ehre, als Cavalier an
den ſächſiſchen Hof gerufen zu werden. Von hier aus machte
er mit dem Prinzen Xaver eine Reiſe nach Frankreich. Bald
nach ſeiner Rückkehr wurde er Kammerherr des Kurfürſten, hier-
nächſt Stallmeiſter des Prinzen Karl, Herzogs von Kurland.


Herzog Karl von Kurland, Sohn Friedrich Auguſts II.,
lebte damals zumeiſt in Dresden und gehörte in erſter Reihe
zu jener nicht kleinen Zahl von Fürſtlichkeiten, die für das
epidemiſch auftretende Ordensweſen, für Goldmachekunſt und
Geiſter-Erſcheinungen ein lebhaftes Intereſſe zeigten.


So konnte es denn kaum ausbleiben, daß auch Biſchofs-
werder, wie alle übrigen Perſonen des Hofes, zu jenen Alchymiſten
und Wunderleuten in nähere Beziehungen trat, die damals beim
Herzoge aus- und eingingen. Unter dieſen war Johann Georg
Schrepfer der bemerkenswertheſte. Er beſaß einen „Apparat,“
der ſo ziemlich das Beſte leiſtete, was nach dieſer Seite hin
damals geleiſtet werden konnte; dazu war er kühn und von
einem gewiſſen ehrlichen Glauben an ſich ſelbſt. Es ſcheint,
daß er, inmitten aller ſeiner Betrügereien, doch ganz aufrichtig
die Meinung unterhielt: jeder Tag bringt Wunder; warum
ſollte am Ende mir zu Liebe nicht auch ein Wunder ge-
ſchehen? Als trotz dieſes Glaubens die eingeſiegelten Papier-
[261] ſchnitzel nicht zu Golde werden wollten, erſchoß er ſich im Leipziger
Roſenthal (1774). Biſchofswerder war unter den Freunden,
die ihn auf dieſem Gange begleiteten und denen er eine „wun-
derbare Erſcheinung“ zugeſagt hatte.


Die ganze Schrepfer-Epiſode hatte als Schwindel-Comödie
geendet; aber ſo ſehr ſie für Unbefangene dieſen Stempel trug,
ſo wenig waren die Adepten geneigt, ihren Meiſter und ſeine
Kunſt aufzugeben; man trat die Schrepferſche Erbſchaft an und
citirte weiter. Friedrich Förſter erzählt: „Biſchofswerder, in einem
Vorgefühl, daß hier ein Schatz, eine Brücke zu Glück und Macht
gefunden ſei, wußte den Schrepferſchen Apparat zu erwerben;“
doch iſt dies nicht allzu wahrſcheinlich. Wenn Biſchofswerder
ſpäter ſehr ähnlich operirte, ſo konnte er es, weil ein längerer
intimerer Verkehr mit dem „Meiſter“ ihn in alle Geheimniſſe
deſſelben eingeführt hatte.


Das proſaiſche Ende Schrepfers — proſaiſch, trotzdem es
mit einem Piſtolenſchuß endete — hatte unſeren Biſchofswerder
nicht umgeſtimmt, aber verſtimmt; er gab Dresden auf, oder
mußte es aufgeben, da der ganze Hergang doch viel von ſich
reden machte und nicht gerade zu Gunſten der Betheiligten. Er
ging nach Schleſien und lebte einige Zeit (1774—75) in der
Nähe von Grüneberg, auf den Gütern des Generals v. Franken-
berg. Biſchofswerders äußere Lage war damals eine ſehr be-
drückte.


Dieſer Aufenthalt vermittelte auch wohl den Wiedereintritt
B.’s in den preußiſchen Dienſt, der nach einigen Angaben 1775
oder 76, nach anderen erſt bei Ausbruch des bairiſchen Erbfolge-
kriegs 1778 erfolgte. Prinz Heinrich verlangte ihn zum Ad-
jutanten; als ſich dieſem Verlangen indeß Hinderniſſe in den
Weg ſtellten, errichtete v. B., inzwiſchen zum Major avancirt,
ein ſächſiſches Jägercorps, das der Armee des „Rheinsberger
Prinzen“ zugetheilt wurde.


Beim Frieden hatte dieſe Jägertruppe das Schickſal, das
ähnliche Corps immer zu haben pflegen: es wurde aufgelöſt;
König Friedrich II. indeß, „der die Menſchen kannte,“ nahm
[262] den nunmehrigen Major v. Biſchofswerder in ſeine Suite auf,
worauf ſich dieſer in Potsdam niederließ. Die ſchon citirte
Schrift ſchreibt über die ſich unmittelbar anſchließende Epoche
(von 1780—86) das Folgende:


„Um dieſe Zeit war es auch, daß der damalige Prinz von
Preußen, der ſpätere König Friedrich Wilhelm II., ihn kennen
lernte und ſeines beſonderen Zutrauens würdig fand. Wobei
übrigens eigens bemerkt ſein mag, daß v. Biſchofswerder der
einzige aus der Umgebung des Prinzen war, welchen König
Friedrich hochzuachten und auszuzeichnen fortfuhr, ſo groß war
die gute Meinung des Königs von Herrn v. B., ſo feſt hielt er
ſich überzeugt, daß er nicht im Stande wäre, dem Prinzen böſe
Rathſchläge zu ertheilen. Noch mehr. Der Prinz brauchte
Biſchofswerder, um ſich bei den Miniſtern nach dem Gange der
Staatsgeſchäfte zu erkundigen, und der König, obwohl er dies
wußte, zeigte keinen Argwohn.“


Wir laſſen dahingeſtellt ſein, in wie weit eine der Familie
Biſchofswerder wohlwollende Feder (deren es nicht allzu viele
gab) hier die Dinge günſtiger ſchilderte, als ſie in Wahrheit
lagen; gewiß iſt nur, daß die Abneigung des großen Königs
ſich mehr gegen Wöllner und die Enke (die ſpätere Rietz-Lich-
tenau) als gegen Biſchofswerder richtete, und daß, was immer
es mit dieſer Abneigung auf ſich haben mochte, ſie jedenfalls
die Vertrauens-Stellung zum Prinzen von Preußen, die er
einnahm, nicht tangirte. In dieſer befeſtigte er ſich vielmehr ſo,
daß, als ſich im Auguſt 1786 die „großen Alten-Fritzen-
Augen“ endlich ſchloſſen, der Eintritt Biſchofswerders in die
Stellung eines allvermögenden Günſtlings Niemanden mehr
überraſchte. Dabei ſuchte er durch Friedensſchlüſſe mit ſeinen
Gegnern, beiſpielsweiſe mit der Rietz, namentlich aber auch durch
Beſetzung einflußreicher Stellen mit Mitgliedern ſeiner Familie
ſeine eigene Machtſtellung mehr und mehr zu befeſtigen.


Seine beiden Töchter erſter Ehe wurden zu Dames d’atour
bei der Königin (die in Monbijou ihren Hofſtaat hatte) ernannt;
ſeine Gemahlin aber (nach dem Tode der Frau v. Reith, Ober-
[263] hofmeiſterin der Königin) war er bemüht in dieſe Stellung ein-
rücken zu laſſen. So war er denn allmächtiger Miniſter, war
es und blieb es durch alle Wechſelfälle einer elfjährigen Regierung
hindurch und die Frage mag ſchon hier in Kürze angeregt und
beantwortet werden: wodurch wurde dieſe Machtſtellung
gewonnen und behauptet
? Die gewöhnliche Antwort
lautet: durch ſervile Complaiſance, durch Unterſtützen oder
Gewährenlaſſen jeder Schwäche, durch Schweigen, wo ſich Reden
geziemte, durch feige Unterordnung, die kein anderes Ziel kannte,
als Feſthalten des Gewonnenen, durch jedes Mittel, nöthigen-
falls auch durch „Diavolini“ und Geiſterſeherei. Wir halten
dieſe Auffaſſung für falſch. Der damalige Hof, König und
Umgebung, hatte ſeine weltkundigen Gebrechen; aber das
Schlimmſte nach dieſer Seite hin lag weit zurück; das „Mar-
morpalais“ repräſentirte nicht jene elende Verſchmelzung von
Luſt und Trägheit, von Geiſtloſigkeit und Aberglauben, als
welche man nicht müde geworden iſt, es darzuſtellen; man
hatte auch Charakter, auch Principien (wahrer Herzensgüte
ganz zu geſchweigen), und ein wie ſtarkes Reſiduum von Erregt-
heit und Erſchlaffung, von großem Wollen und kleinem Können
verbleiben mag, niemals iſt eine ganze Epoche ſo über Gebühr
gebrandmarkt worden, als die Tage Friedrich Wilhelms II. und
ſeines Miniſters. Wir kommen, wenn wir am Schluß eine
Charakteriſirung Biſchofswerders verſuchen, ausführlicher auf
dieſen Punkt zurück.


Die Campagnen und auswärtigen Verwicklungen, die faſt
die ganze Regierungszeit des Königs, wenigſtens bis 1795, aus-
füllten, riefen, wie dieſen ſelbſt, ſo auch ſeinen Miniſter vielfach
ins Feld. Diplomatiſche Miſſionen ſchoben ſich ein. v. B. nahm
Theil an dem Congreſſe zu Sziſtowe, brachte mit Lord Elgin
die Pillnitzer Convention (Ergreifung von Maßregeln gegen
die franzöſiſche Revolution) zu Stande, begleitete den Kö-
nig 1792 während des Champagne - Feldzugs und ging
bald darauf als Geſandter nach Paris, von wo er 1794 zurück-
kehrte.


[264]

Das nächſte Jahr brachte den Frieden. Mit dem Friedens-
ſchluß zuſammen fiel der Erwerb von Marquardt. Schon einige
Jahre früher, 1790 oder vielleicht ſchon 1789, hatte er ſich zum
zweiten Male verheirathet.


Die hohe Politik, die Zeit der Strebungen, lag zurück.
Das Idyll nahm ſeinen Anfang.


Wir begleiten nun den Günſtling-General durch die letzten
8 Jahre ſeines Lebens. Es ſind Jahre in Marquardt.


Das neue Leben wurde durch das denkbar froheſte Ereigniß
inaugurirt: durch die Geburt eines Sohnes, eines Erben. Das
alte Haus Biſchofswerder, das bis dahin nur auf zwei Augen
geſtanden hatte, ſtand wieder auf vier. Die Taufe des Sohnes
war ein Glanz- und Ehrentag. Der König hatte Pathenſtelle
angenommen und erſchien mit ſeinen beiden Generaladjutanten
v. Rodich und v. Reder. Die feierliche Handlung erfolgte im
Schloß. Als Paſtor Stiebritz (ein Name, dem wir im Verlauf
unſres Aufſatzes noch öfters begegnen werden) die Taufformel
ſprechen wollte und bis an die Worte gekommen war: „ich taufe
dich“ ſtockte er, — die Namen waren ihm abhanden gekommen,
der Zettel fehlte. Aber die Verwirrung war nur eine momentane.
v. Biſchofswerder ſelbſt trat vor, ſprach die Namen, und der
Paſtor, raſch ſich wiederfindend, beendete den Act.


Der Taufe folgte die Tafel und im Lauf des Nachmittags
ein ländliches Feſt. Der König blieb; die ſchöne Jahreszeit lud
dazu ein. Noch leben Leute im Dorfe, achtzigjährige, die ſich
dieſes Tages entſinnen. Ein Erinnerungsbaum wurde gepflanzt,
ein Ringelreihen getanzt; der König, in weißer Uniform, leuch-
tete aus dem Kreiſe der Tanzenden hervor. Am Abend brann-
ten Lampions in allen Gängen des Parks, und die Lichter,
ſammt den dunklen Schatten der Eichen- und Ahornbäume,
ſpiegelten ſich im Schlänitzſee. Sehr ſpät erſt kehrte der König
nach Potsdam zurück. Er hatte dem Täufling eine Domherrn-
Präbende als Pathengeſchenk in das Taufkiſſen geſteckt. Von
Jahr zu Jahr wachſend, ſteigerte ſich der Werth derſelben bis
zu einer Jahres-Einnahme von 4500 Thalern.


[265]

Zwiſchen dieſem 17. Juli und dem 16. November 1797
lagen noch zwei Sommer, während welcher der König ſeine
Beſuche mehrfach erneuerte. Ob er eintraf, lediglich um ſich
des ſchönen Landſchaftsbildes und der loyalen Gaſtlichkeit des
Hauſes zu freuen, oder ob er erſchien, um „Geiſterſtimmen“
zu hören, wird wohl für alle Zeiten unaufgeklärt bleiben. Die
Dorftradition ſagt, er kam in Begleitung weniger Eingeweihter
meiſt in der Dämmerſtunde (der ſchon erwähnte General-Ad-
jutant v. Reder und der Geheimrath Dr. Eisfeld vom Militär-
Waiſenhauſe in Potsdam werden eigens genannt), paſſirte nie
die Dorfſtraße, ſondern fuhr über den „Königsdamm“ direct
in den Park, hielt vor dem Schloſſe und nahm nun an den
Sitzungen Theil, die ſich vorbereiteten. Man begab ſich nach
der „Grotte,“ einem dunklen Steinbau, der im Park in einem
mit Akazien bepflanzten Hügel (dies entſprach dem roſen-
kreuzeriſchen Ritual) angelegt worden war. Der Eingang,
niedrig und kaum mannsbreit, barg ſich hinter Geſträuch. Das
Innere der Grotte war mit blauem Laſurſtein moſaikartig aus-
gelegt und von der Decke herab hing ein Kronleuchter. In
dieſe „blaue Grotte,“ deren Licht- und Farben-Effect ein
wunderbarer geweſen ſein ſoll, trat man ein; der König nahm
Platz. Alsbald wurden Stimmen laut; leiſer Geſang, wie von
Harfentönen begleitet. Dann ſtellte der König Fragen und die
Geiſter antworteten. Jedes Mal tief ergriffen, kehrte Friedrich
Wilhelm ins Schloß und bald darauf nach Potsdam zurück.


So die Tradition. Es wird hinzugeſetzt, die Grotte ſei
doppelwandig geweſen, und eine Vertrauensperſon des Ordens
habe von dieſem Verſteck aus die „muſikaliſche Aufführung“
geleitet und die Antworten ertheilt. Daß die Grotte eine
doppelte Wandung hatte, iſt ſeitdem und zwar durch den
jetzigen Beſitzer, der den Bau öffnete, um ſich von ſeiner Con-
ſtruction zu überzeugen, über jeden Zweifel hinaus erwieſen
worden. Die Laſurſteine exiſtiren noch, ebenſo der Akazienhügel.
Dennoch giebt es Perſonen, die den ganzen Schatz Marquardter
Volksſage einfach für Fabel erklären. Ich kann dieſen Perſonen
[266] nicht beiſtimmen. Es iſt eine nicht wegzuleugnende Thatſache,
daß Biſchofswerder ein Roſenkreuzer war, daß er mehr als
einmal in Berlin im Palais der Lichtenau, in Sansſouci in
einem am Fuß der Terraſſe gelegenen Hauſe, endlich im Bel-
vedere zu Charlottenburg wirklich „Geiſter“ erſcheinen ließ und
daß er bis zuletzt in ſeinem Glauben an alchymiſtiſche und
kabbaliſtiſche Vorgänge aushielt. Es iſt höchſt wahrſcheinlich,
daß die Grotte ähnlichen Zwecken diente und nur darüber kann
ein Zweifel ſein, ob der König, der im Ganzen vielleicht nur
vier, fünf Mal in Marquardt war, an dieſen roſenkreuzeriſchen
Reunions theilnahm.


Am 16. November 1797 ſtarb der König. Noch einmal,
auf wenige Tage, wurde Biſchofswerder aus der Stille von
Marquardt herausgeriſſen und mitten in die Tagesereigniſſe
hineingeſtellt, aber nur um dann ganz und für immer in die
ihm liebgewordene Stille zurückzukehren.


Während des Hinſcheidens Friedrich Wilhelms II. befand
ſich Biſchofswerder im Vorzimmer. Er traf raſch und mit Um-
ſicht alle Vorkehrungen, die der Moment erheiſchte, ließ die
Eingänge zum neuen Garten, bez. zum Marmorpalais beſetzen,
warf ſich dann aufs Pferd und eilte nach Berlin, um, als
Erſter, den Kronprinzen als König zu begrüßen. Er empfing
den Stern des ſchwarzen Adlerordens. Ob dieſe Auszeichnung
ihn einen Augenblick glauben machte, er werde ſich auch unter
dem neuen Regime behaupten können, laſſen wir dahin geſtellt
ſein. Es iſt nicht wahrſcheinlich. Beim Begräbniß des Königs
trat er zum letzten Mal in den Vordergrund.


Es war im Dom; das officielle Preußen war verſammelt,
Lichter brannten, Uniform an Uniform, nur vor dem Altar ein
leerer Platz: auf der Verſenkung, die in die Gruft führt, ſtand
der Sarg. Jetzt wurde das Zeichen gegeben. In demſelben
Augenblick trat Biſchofswerder, eine Fackel in der Hand, neben
den Sarg und der Todte und der Lebende ſtiegen gleichzeitig
in die Tiefe. Es machte auf Alle, auch auf die Gegner
des Mannes, einen mächtigen Eindruck. Es war das letzte
[267] Geleit. Zugleich ſymboliſch ausdrückend: ich laſſe nun die
Welt.


Und er ließ die Welt. Sein Dorf, ſein Haus, ſein Park
füllten von nun an ſeine Seele. Mit ſeinen Bauern ſtand er
gut; die Auseinanderlegung der Aecker, die ſogenannte „Sepa-
ration,“ die geſetzlich erſt zehn Jahre ſpäter ins Leben trat,
führte er durch freie Vereinbarung durch; er erweiterte und
ſchmückte das Schloß, den Park; dem letztern, durch Ankauf
von Bauerhöfen (die alten Brunnenſtellen laſſen ſich noch er-
kennen), wie durch Anpflanzung werthvoller Bäume, gab er ſeine
gegenwärtige Geſtalt. Alle Wege, die durch die Gutsäcker führ-
ten, ließ er mit Obſtbäumen, die er für bedeutende Summen
aus dem Deſſauiſchen bezog, bepflanzen und ſchuf dadurch eine
Cultur, die noch jetzt eine nicht unerhebliche jährliche Rente
abwirft. Er hatte ganz die Ackerbau-Paſſion, den tiefen Zug
für Natur und einfache Verhältniſſe, den man bei allen
Perſonen beobachten kann, die ſich aus der Hofſphäre
oder aus hohen Berufsſtellungen in einfache Verhältniſſe, aus
dem glänzenden Schein in die Wirklichkeit des Lebens zurück-
ziehen.


Der Verkehr im Hauſe war ein ziemlich reger. Die ſtarr-
katholiſchen und noch mehr faſt die ſtarr-ökonomiſchen Grund-
ſätze ſeiner zweiten Frau griffen gelegentlich ſtörend ein; ſeine
Bonhommie wußte aber alles wieder auszugleichen. Mit dem
benachbarten Adel ſtand er auf gutem Fuß; die Beziehungen
zur Potsdamer Geſellſchaft waren wenigſtens nicht abgebrochen;
nur die eigentlichen Hofkreiſe, die der an oberſter Stelle herr-
ſchenden Empfindung Folge geben mußten, hielten ſich zurück.
Friedrich Wilhelm III., ſo oft er auch auf dem Wege nach
Paretz das Marquardter Herrenhaus zu paſſiren hatte, hielt nie
vor demſelben an; die Jahre, die nun mal die Signatur: Rietz,
Wöllner, Biſchofswerder trugen (trotzdem er zu dem letzteren
nie in einem directen Gegenſatze ſtand) lebten zu unliebſam in
der Erinnerung fort, um eine Annäherung wünſchenswerth er-
ſcheinen zu laſſen.


[268]

So kam der Herbſt 1803 und mit ihm das Scheiden.
Die Arcana und Panaceen konnten’s nicht abwenden; das
„Lebenselixir“ (von dem er täglich einen Tropfen nahm) und
das rothſeidene Kiſſen, das er als Amulett auf der Bruſt trug,
ſie mußten weichen vor einer ſtärkeren Macht, die ſich mehr und
mehr ankündigte. Der Erbring mit dem weißen Milchſtein
dunkelte raſch auf dem Zeigefinger, an dem er ihn trug, und
ſo wußte er denn, daß ſeine letzte Stunde nahe ſei. Er las
im Swedenborg, als der Tod ihn antrat. Nach kurzem Kampfe
verſchied er in ſeinem Stadthauſe zu Potsdam. Es war am
30. October.


Er war in Potsdam geſtorben, aber nach letztwilliger Ver-
fügung wollte er in Marquardt begraben ſein. Nicht in der
Kirche, auch nicht auf dem Kirchhofe, ſondern im Park zwiſchen
Schloß und Grotte. In wenig Tagen galt es alſo ein Erb-
begräbniß herzuſtellen.


Eine runde Gruft wurde gegraben, etwa von Tiefe und
Durchmeſſer eines Wohnzimmers, und die Maurer arbeiteten
emſig, um dem großen Raum eine maſſive Wandung zu geben.
Als der vierte Tag zu Ende ging (der Tag vor dem feſtgeſetz-
ten Begräbniß), ward auch, um’s fertig zu ſchaffen, die Nacht
mit zu Hilfe genommen, und bei Fackelſchein, während der erſte
Schnee auf den kahlen Parkbäumen lag, wurde das Werk
beendet.


Am 4. November früh erſchien von Potsdam her der mit
ſechs Pferden beſpannte Wagen, der den Sarg trug; die Bei-
ſetzung erfolgte und zum erſten Male ſchloß ſich die runde
Gartengruft. Nur noch zwei Mal wurde ſie geöffnet. Ein
Aſchenkrug ohne Namen und Inſchrift wurde auf das Grab
geſtellt.


Epheu wuchs darüber hin wie über ein Gartenbeet.


Wir verſuchen, nachdem wir in Vorſtehendem alles zuſam-
mengetragen, was wir über den Lebensgang von Biſchofswerder
in Erfahrung bringen konnten, nunmehr eine Schilderung ſei-
ner Perſon und ſeines Charakters.


[269]

Er war ein ſtattlicher Mann, von regelmäßigen und an-
ſprechenden Geſichtszügen, in allen Leibesübungen und ritter-
lichen Künſten wohl erfahren, ein Meiſter im Fahren und
Fechten, im Schießen und Schwimmen, von gefälligen Formen
und bei den Frauen wohlgelitten. Er blieb bis zuletzt ein
„ſchöner Mann.“ Seltſamerweiſe haben ihm Neid und Uebel-
wollen auch dieſe Vorzüge der äußern Erſcheinung abſprechen
wollen. In den franzöſiſch geſchriebenen Anmerkungen zu den
„Geheimen Briefen“ wird er einfach als eine „traurige Figur“
(figure triste) bezeichnet. Der Schreiber jener Zeilen kann ihn
nie geſehen haben. Der erſt 1858 geſtorbene Sohn Biſchofs-
werders, eine ächte Garde du Corps-Erſcheinung (eine Truppe,
in der er auch ſeine militäriſche Laufbahn begann) war das Ab-
bild des Vaters und übernahm noch nachträglich eine Art Be-
weisführung für die Stattlichkeit des „Günſtling-Generals.“


Der oft verſuchten Schilderung ſeines Charakters ſind im
Großen und Ganzen die Urtheile der „Vertrauten Briefe,“
der „Geheimen Briefe,“ der „Anmerkungen“ zu den Geheimen
Briefen und die Briefe Mirabeau’s zu Grunde gelegt worden.
Es ſteht aber wohl nach gerade feſt, daß alle dieſe Briefe unend-
lich wenig Werth als hiſtoriſche Documente haben und daß ſie
durch Uebelwollen, Parteiverblendung oder bare Unkenntniß
dictirt wurden; in letzterem Falle bloß das Tagesgeſchwätz
wiedergebend, das kritikloſe Geplauder einer ſcandalſüchtigen und
mediſanten Geſellſchaft. So heißt es in den „Vertrauten Brie-
fen“ des Herrn v. Cöllen: „Biſchofswerder war ein ganz
gewöhnlicher Kopf. Sein Gemüth war den äußeren Eindrücken
zu ſehr offen, woraus eine große Schwäche des Willens ent-
ſtand. Ganz gemein aber war er nicht.“ Dieſe letzte halbe
Zeile, in ihrem Anlauf zu einer Ehrenrettung, iſt beſonders
bösartig, weil ſie ſich das Anſehen einer gewiſſen Unparteilich-
keit giebt. Weit hinaus aber über das Uebelwollen der „Ver-
trauten
Briefe,“ die an einzelnen Stellen immerhin das Rich-
tige treffen mögen, gehen die „Anmerkungen“ zu den Ge-
heimen
Briefen, in denen wir folgendem Paſſus begegnen:


[270]

„La fortune a quelquefois employé des hommes sans
grande capacité dans l’administration des Etats; mais rare-
ment elle a choisi un si triste sujet que ce Bischofs-
werder
: naissance ordinaire, figure triste, physionomie per-
fide, élocution embarrassée; ne connoissant ni le pays qu’il
a quitté, ni celui qui l’a recueilli, ni ceux qui intéressent
la Prusse. N’étant ni militaire, ni financier, ni politique,
ni économiste. Un de ces hommes enfin que la nature a
condamné à l’obscurité et à végéter dans la foule. Voilà
l’homme qui règne en Prusse.“


Wir verweilen bei dieſen Auslaſſungen nicht, eben weil
ſie zu ſehr den Stempel des Pasquills tragen, und wenden
uns lieber der Darſtellung zu, die ein anerkannter Hiſtoriker
von dem Charakter B.’s gegeben hat, um dann an dieſes maß-
volle Urtheil anzuknüpfen.


J. C. F. Manſo in ſeiner „Geſchichte des Preußiſchen
Staates vom Frieden zur Hubertsburg bis zur zweiten Pariſer
Abkunft“ ſagt über Biſchofswerder:


„In den Feſſeln der Roſenkreuzerei verlor er früh die
unbefangene Anſicht des Lebens. … Selten übte ein Menſch
die Kunſt, andere zu erforſchen und ſich zu verbergen,
glücklicher und geſchickter als er. Ihm war es nicht
gleichgültig, wem er ſein Haus am Tage und wem er es in
der Dunkelheit öffne. Sein ganzes Weſen trug das Gepräge
der Umſichtigkeit, und wenn er reden mußte, wo er lieber
geſchwiegen hätte, bewahrte er ſich ſorgfältig genug, um nichts
von ſeinem Innern zu enthüllen. Rath gab er nie ungefragt,
und den er gab, hielt er für ſicherer oder verdienſtlicher, dem
Fragenden unterzuſchieben; auch des Ruhms, der ihm aus dem
gegebenen zuwachſen konnte, entäußerte er ſich mit ſeltener
Willfährigkeit. … Friedrich Wilhelm ward nie durch ihn in
der Ueberzeugung geſtört, er wäge, wähle und beſchließe
allein. … Das Vorurtheil uneigennütziger Anhänglichkeit, das
er für ſich hatte, reichte hin, Verdächtige zu entfernen und
Geprüftere zu empfehlen. So gelang ihm, wonach er ſtrebte.
[271] Er ward reich durch die Huld des Monarchen, ohne Vor-
wurf, und der erſte im Staate, ohne Verantwortlichkeit. …
Anmaßungen, nicht Vergünſtigungen gefährden.“


Dies Urtheil Manſo’s, wenn wir von dem Irrthum ab-
ſehen, daß er v. B. als „reich“ bezeichnet, wird im Weſent-
lichen zutreffen. Aber was enthält es, um den Mann oder
ſeinen Namen mit einem Makel zu behaften? Was andres
tritt einem entgegen, als ein lebenskluger, mit Gaben zweiten
Ranges ausgerüſteter Mann, der ſcharf beobachtete, wenig
ſprach, keinerlei Anſprüche erhob, auf die glänzende Außenſeite
des Ruhmes verzichtete und ſich begnügte, in aller Stille ein-
flußreich
zu ſein. Wir bekennen offen, daß uns derartig
angelegte Naturen nicht gerade ſonderlich ſympathiſch berühren,
und daß uns ſolche, die, zumal in hohen Stellungen, mehr
aus dem Vollen zu arbeiten verſtehen, mächtiger und wohl-
thuender zu erfaſſen wiſſen; aber, wohlthuend oder nicht, was
liegt hier vor, das, an und für ſich ſchon, einen beſonderen
Tadel herausforderte? Zu einem ſolchen würde erſt Grund
vorhanden ſein, wenn Biſchofswerder ſeinen Einfluß, den er
unbeſtritten hatte, zu böſen Dingen geltend gemacht hätte.
Aber wo ſind dieſe böſen Dinge? Wenn die ganze damalige
auswärtige Politik Preußens — was übrigens doch noch frag-
lich bleibt — auf ihn zurückgeführt werden muß, wenn alſo
der Zug gegen Holland, der Zug in die Champagne, der Zug
gegen Polen und ſchließlich wiederum der Baſeler Frieden ſein
Werk ſind, ſo nehmen wir nicht Anſtand zu erklären, daß er
in allem das Richtige getroffen hat. Die drei Kriegszüge
erwuchſen aus einem und demſelben Princip, das man nicht
umhin können wird, in einem königlichen Staate, in einer
abſoluten Monarchie, als das Richtige anzuſehen. Ob die
Kriegsleiſtungen ſelbſt, beſonders der Feldzug in der Cham-
pagne, auf beſonderer Höhe ſtanden, das iſt eine zweite Frage,
die, wie die Antwort auch ausfallen möge, keinesfalls eine
Schuld involvirt, für die Biſchofswerder verantwortlich
[272] gemacht werden kann. Er hatte gewiß den Ehrgeiz, einfluß-
reich und Günſtling ſeines königlichen Herrn zu ſein, aber er
eroberte ſich dieſe Stellung weder durch ſchnöde Mittel, noch
that er Schnödes, ſo lang er im Beſitz dieſer Stellung war.
Er diente dem Könige und dem Lande nach ſeiner beſten Ueber-
zeugung, die, wie wir ausgeführt, nicht bloß eine individuell
berechtigte, ſondern eine abſolut zuläſſige war. Er war klug,
umſichtig, thätig und ſteht frei da von dem Vorwurf, ſich berei-
chert oder Andere verdrängt und geſchädigt zu haben. Was
ihn dem Könige werth machte (darin ſtimmen wir einer Kritik
bei, die ſich gegen die oben citirten franzöſiſchen „Anmerkun-
gen“ richtet), waren: des moeurs pures, beaucoup d’honnêteté
dans le sentiment, um désinteressement parfait, un grand
amour pour le travail.


In dieſer Kritik vermiſſen wir nur eines noch, was uns
den Mann ganz beſonders zu charakteriſiren ſcheint, ſeinen bon
sens
in allen praktiſchen Dingen (wohin wir in erſter Reihe
auch die Politik rechnen), das klare Erkennen von dem, was
ſtatthaft und unſtatthaft, was möglich und unmöglich iſt. Ueber
dieſe glänzendſte Seite Biſchofswerders giebt uns Maſſenbach
in ſeinen „Memoiren zur Geſchichte des preußiſchen Staates“
Aufſchluß. Dieſer (Maſſenbach) verfolgte damals, 1795 bis
1797, zwei Lieblings-Ideen: „Bündniß mit Frankreich“ und
„Neu-Organiſation des General-Quartiermeiſterſtabes,“ —
wohl daſſelbe, was wir jetzt Generalſtab nennen.


In den Memoiren heißt es wörtlich: „Ich ſuchte den
General v. Biſchofswerder für meine Anſichten zu gewinnen.
Es hielt ſchwer, dieſen Mann in ſeinem Zimmer zu ſprechen.
Deſto öfter traf ich ihn auf Spazierritten. Er liebte den Weg,
der ſich vor dem Nauenſchen Thore auf der ſogenannten Pots-
damer Inſel, längs der Weinberge hinzieht. Da paßte ich ihm
auf, kam wie von ungefähr um die Ecke herum, und bat um
die Erlaubniß ihn begleiten zu dürfen. Das Geſpräch fing
gewöhnlich mit dem Lobe ſeines Pferdes an; nach und nach
kamen wir auf die Materie, die ich zur Sprache bringen wollte.
[273] Ich gebe hier eines dieſer Geſpräche, worin ich ihm, wie ſchon
bei einer früheren Gelegenheit, ein Bündniß mit Frankreich
empfahl.


Ich. (Maſſenbach.) Preußen muß ſich feſt mit Frankreich
verbinden, wenn es ſich nicht unter das ruſſiſche Joch beu-
gen ſoll.


Biſchofswerder. Aber bedenken Sie doch, daß der
König mit der Directorial-Regierung kein Freundſchaftsbündniß
errichten kann. Unter den Directoren befinden ſich einige,
die für den Tod ihres Königs geſtimmt haben. Mit Königs-
mördern kann kein König tractiren.


Ich. Tractiren? Wir haben ja in Baſel tractirt. Und
gab der ſtaatskluge Mazarin ſeinem Zögling nicht den Rath,
den Königsmörder Cromwell ſeinen „lieben Bruder“ zu nen-
nen? Das Intereſſe des Staates entſcheidet hier allein.


Biſchofswerder. Man hat keine Garantie. Morgen
werden die „fünf Männer“ von ihren Thronen gejagt und nach
Südamerika geſchickt. Es iſt eine revolutionäre Regierung.


Ich. Die engliſche Regierung iſt es auch. Georg III.
iſt nicht nur ein ſchwacher Mann, er iſt weniger als nichts;
er iſt wahnſinnig. … Heute negociiren wir mit Pitt, morgen
iſt ein Bute an der Spitze der Angelegenheiten. Die engliſche
Regierung giebt uns auch keine Sicherheit. Wir haben mit
der franzöſiſchen Regierung unterhandelt; wir haben ſie aner-
kannt; wir haben ihr eine diplomatiſche Exiſtenz gegeben und
uns dadurch den Haß aller Mächte zugezogen. Einmal mit
dieſem Haſſe beladen, gehe man noch einen Schritt weiter. . .


Biſchofswerder. Sie gehen zu weit, Maſſenbach.
Eine ſolche Idee dem Könige vorzutragen, kann ich nicht wagen.
Auch kann ich Ihrer Meinung nicht beipflichten. Allianz mit
Frankreich! Das iſt zu früh. Die Dinge in Frankreich haben
noch keine Conſiſtenz.


Dies war im Frühjahr 1796.


Die zweite, noch weit eingehendere Unterredung (ſo fährt
Maſſenbach fort), die ich mit Biſchofswerder um dieſe Zeit
Fontane, Wanderungen. III. 18
[274] hatte, bezog ſich auf die Neu-Organiſation des Generalquartier-
meiſterſtabes. Ich bat um die Erlaubniß, ihm meinen Aufſatz
über die Nothwendigkeit einer „Verbindung der Kriegs-
und Staats-Kunde
“ vorleſen zu dürfen. Dies geſchah
dann auch an zwei Abenden, die ich bei Biſchofswerder unter
vier Augen zubrachte. Er machte, als ich geendet hatte, einige
treffende Bemerkungen. Unter andern ſagte er Folgendes:
„Selbſt angenommen, daß dies alles nur politiſch-mili-
täriſche Romane
wären, ſo würde doch die Lectüre derſel-
ben den Prinzen des königlichen Hauſes ungemein nützlich ſein,
nützlicher als die Lectüre von Grandiſon und Lovelace. Die
jungen Herren würden dadurch die militäriſche Statiſtik unſeres
Staates und der benachbarten Staaten kennen lernen.“


Das Ende meines Aufſatzes (ſo ſchließt Maſſenbach) ließ
er ſich zweimal vorleſen. Er lächelte. Als ich in ihn drang,
mir dies Lächeln zu erklären, ſagte er: „Der Generalſtab wird,
wenn Ihre Idee zur Ausführung kommt, eine geſchloſſene
Geſellſchaft
, die einen entſcheidenden Einfluß auf die Regie-
rung des Staates haben wird. Ihr General-Quartiermeiſter
greift in alle Staatsverhältniſſe ein. Sein Einfluß wird grö-
ßer, als der des jetzigen General-Adjutanten. So lange Zaſtrow
der vortragende General-Adjutant iſt, wird Ihre Idee nicht
ausgeführt werden. Jetzt müſſen Sie dieſe Idee gar nicht zur
Sprache bringen. Theilen Sie ſolche Niemandem mit. Die
Sache ſpricht ſich herum, und Sie haben dann große Schwie-
rigkeiten zu bekämpfen. … Ihren Antrag wegen der Reiſen
der Offiziere des Generalquartiermeiſter-Stabes will ich gern
beim Könige unterſtützen.“ (Dies geſchah.)


Maſſenbach, der immer Gerechtigkeit gegen Biſchofswerder
geübt und nur ſeine Geheimthuerei, ſein ſich verläugnen-laſſen
und ſein diplomatiſch-undeutliches Sprechen, das er „Bauch-
rednerei“ nannte, gelegentlich perſiflirt hatte, war nach dieſen
Unterredungen ſo entzückt, daß er ihre Aufzeichnung mit den
Worten begleitet: „Ich gewann den Mann lieb; er erſchien
[275] mir einſichtsvoll und ich konnte mich nicht enthalten, ihn zu
embraſſiren.“


Wenn nun auch einzuräumen iſt, daß der immer
Pläne habende Maſſenbach durch ein ſolches Eingehen auf ſeine
Ideen beſtochen ſein mußte, ſo muß doch auch die nüchternſte
Kritik, die an dieſe Dialoge herantritt, eingeſtehn, daß ſich
überall ein Princip, und doch nirgends eine principielle Ver-
ranntheit, daß ſich Feinheit, Wohlwollen, Verſtändigkeit und
ſelbſt Offenheit darin ausſprechen. Ein Mann, wie Biſchofs-
werder gewöhnlich geſchildert zu werden pflegt, hätte eher eine
Fluchtreiſe nach Berlin oder nach Marquardt gemacht, als daß er
ſich dazu verſtanden hätte, ſich einen langen Aufſatz über die
Neu-Organiſation des Generalſtabes an zwei Abenden vor-
leſen zu laſſen. In dieſer einen Thatſache liegt ausgeſprochen,
daß er ein fleißiger, gewiſſenhafter, geiſtigen Dingen ſehr wohl
zugeneigter Mann war.*)


Wir haben dieſe Citate gegeben, um unſere Anſicht über
den geſunden Sinn Biſchofswerders, über ſeine Urtheilskraft
und ſeine politiſche Befähigung zu unterſtützen; es bleibt uns
noch die wichtige Frage zur Erwägung übrig: war er ein
18*
[276]Roſenkreuzeriſcher Charlatan? Was wir zu ſagen
haben, iſt das Folgende: Ein Roſenkreuzer war er gewiß, ein
Charlatan war er nicht. Er glaubte eben an dieſe Dinge.
Daß er, wie bei Aufführung einer Shakeſpeareſchen Tragödie,
mit allerhand Theaterapparat Geiſter citirte (eine Sache, die
zugegeben werden muß), ſcheint dagegen zu ſprechen; aber es
ſcheint nur; dieſe Gegenſätze, ſo meinen wir, vertragen ſich
ſehr wohl mit einander.


Es iſt bei Beurtheilung dieſer Dinge durchaus nöthig,
ſich in das Weſen des vorigen Jahrhunderts, inſonderheit des
letzten Viertels, zurückzuverſetzen. Die Welt hatte vielfach die
Aufklärung ſatt. Man ſehnte ſich wieder nach dem Dunkel,
dem Räthſelhaften, dem Wunder. In dieſe Zeit fiel v. Bi-
ſchofswerders Jugend. Wenn man die Berichte über Schrepfer
lieſt, ſo muß jeder Unbefangene den Eindruck haben: Biſchofs-
werder glaubte daran. Selbſt als Schrepfer zu einer höchſt
fragwürdigen Geſtalt geworden war, blieb v. B. unerſchüttert;
er unterſchied Perſon und Sache. Es iſt, nach allem, was
wir von ihm wiſſen, für uns feſtſtehend, daß er an das Herein-
ragen einer überirdiſchen Welt in die irdiſche ſo aufrichtig
glaubte, wie nur jemals von irgend Jemand daran geglaubt
worden iſt. Der gelegentliche Zweifel, ja, was mehr ſagen
will, das gelegentliche Spielen mit der Sache ändert daran
nichts. Wenn irgendwer, groß oder klein, gebildet oder unge-
bildet, mit umgeſchlagenem weißen Laken den Geiſt ſpielt und
auf dem dritten Hausboden unerwartet einem andern „Geſpenſt“
begegnet, ſo ſind wir ſicher, daß ihm in ſeiner „Geiſtähnlich-
keit“ ſehr bange werden wird. Ein ſolches Spiel, weitab
davon, ein Beweis freigeiſtigen Drüberſtehns zu ſein, ſchiebt
ſich nur wie ein gewagtes Intermezzo in die allgemeine myſtiſche
Lebensanſchauung ein.


So war es mit Biſchofswerder. Was ihn bewog, den
Aberglauben, dem er dienſtbar war, ſich je zuweilen auch dienſt-
bar zu machen, wird muthmaßlich unaufgeklärt bleiben; ein
von Parteiſtreit unverwirrter Einblick in ſein Leben ſpricht aber
[277] entſchieden dafür, daß es nicht zu ſelbſtiſchen Zwecken
geſchah
. Und das iſt der Punkt, auf den es ankommt, wo
ſich Ehre und Unehre ſcheiden. Der Umſtand, daß die ganze
Familie, weit über die letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts
hinaus, in dieſer Empfindungswelt beharrte, iſt bei Beurthei-
lung der ganzen Frage nicht zu überſehen und mag allerdings
als ein weiterer Beweis dafür dienen, daß hier ſeit lange ein
Etwas im Blute lag, das einer myſtiſch-ſpiritualiſtiſchen An-
ſchauung günſtig war.


Wir kommen in der Folge darauf zurück und wenden uns
zunächſt einem neuen Abſchnitt des Marquardter Lebens zu.


Marquardt von 1803—1833.


Frau v. Biſchofswerder, geb. v. Tarrach,
verw. Gräfin Pinto
.


Beim Tode Biſchofswerders war ſein Sohn und Erbe erſt
8 Jahr alt; es trat alſo eine Vormundſchaft ein. Dieſe Vor-
mundſchaft führte die Mutter und blieb, weit über die Mino-
rennitätsjahre ihres Sohnes hinaus (den der Dienſt in Berlin
und Potsdam feſſelte), nicht de jure aber doch de facto, die
Regentin von Marquardt bis zu ihrem Tode. Auf dieſe 30 Jahre
richten wir jetzt unſere Aufmerkſamkeit. Zunächſt auf die
Dame ſelbſt.


Frau Generalin v. Biſchofswerder war eine geborene
v. Tarrach. Ihr Vater war der Geheime Finanzrath v. Tar-
rach zu Tilſit, deſſen Kinder es alle zu hohen Stellungen in
Staat und Geſellſchaft brachten. Sein Sohn (Friedrich Franz)
war in den zwanziger Jahren preußiſcher Geſandter in Stock-
holm, eine jüngere Tochter vermählte ſich mit dem Marquis
von Luccheſini, die älteſte (Wilhelmine Catharine) wurde die
Frau des Günſtling-Generals und Miniſters v. Biſchofswerder.


Aber ſie wurde es erſt in zweiter Ehe. Ihre erſte Ehe
ſchloß ſie mit dem Grafen Ignaz Pinto, den Friedrich der
[278] Große um 1770 aus ſardiniſchen Dienſten (die Familie ſtammte
urſprünglich aus Portugal) nach Preußen berufen, zum
Flügeladjutanten gemacht und zum Mitgründer des unter ihm
gebildeten Generalſtabes, zum General-Feldbaumeiſter, zum
Maréchal de logis de l’armée und zum Generaladjutanten
ernannt hatte. Gleichzeitig hatte er ihm verſchiedene Güter in
Schleſien, darunter Mettkau im Neumarkter Kreiſe, ſo wie das
Incolat als ſchleſiſchen Grafen verliehen. Man ſieht, es war
dem Fräulein v. Tarrach das ſeltene Glück beſchieden, den
Günſtlingen zweier Könige die Hand reichen zu können.


Graf Pinto ſtarb 1788. Seine Wittwe, die Gräfin (geb.
1757), war damals 31 Jahr alt. Sie trat ſehr bald zu
Biſchofswerder, der etwa um eben dieſe Zeit Wittwer geworden
war, in nähere Beziehungen, und klug und ſchön wie ſie war,
(ſie „ſchoß“ ein wenig mit den Augen, und die mediſirenden
Hofleute ſagten: elle est belle, mais ses yeux „ne marchent
pas bien“
), nahm das Verhältniß einen Zärtlichkeitston an,
der wenigſtens damals zwiſchen Leuten von Welt zu den Aus-
nahmen zählte. Es ſcheint, dieſer Ton überdauerte ſelbſt die
Flitterwochen, die ſehr wahrſcheinlich in den Sommer 1789
oder 90 fielen. 1792 während des Champagne-Feldzuges
wurde von franzöſiſchen Truppen eine eben eingetroffene preu-
ßiſche Feldpoſt erbeutet und acht Tage ſpäter las irgend ein
Montagnard in der National-Verſammlung die Zeilen vor,
die Frau v. Biſchofswerder an ihren Gemahl ins Feldlager
gerichtet hatte. Der entſchieden lyriſche Grundton dieſes Brie-
fes erweckte die Heiterkeit der Verſammlung.


Das war in den erſten Jahren. Aber die Intimität blieb.
Ein Sohn und drei Töchter wurden aus dieſer zweiten Ehe
geboren, ſo daß damals im Marquardter Herrenhauſe alle Arten
von Stiefgeſchwiſtern anzutreffen waren: Kinder aus der erſten
Ehe des Herrn v. Biſchofswerder, Kinder aus der erſten Ehe
der Frau v. Biſchofswerder (mit dem Grafen Pinto) und Kin-
der aus der zweiten Ehe beider. Die gräflich Pinto’ſchen Kin-
der ſcheinen übrigens nur ausnahmsweiſe in Marquardt gewe-
[279] ſen zu ſein, während die Biſchofswerderſchen Kinder aus ſeiner
erſten Ehe mit Frl. v. Wilke, bis zuletzt die freundlichſten Be-
ziehungen zum Marquardter Herrenhauſe unterhielten.*)


1803 ſtarb der General. Wir haben ſeine Beiſetzung
geſchildert. Seine Ehe, wie ſchon hervorgehoben, war eine
glückliche geweſen und die Wahrnehmung, daß auch ein all-
mächtiger Miniſter irgendwo die Grenzen ſeiner Allmacht finden
müſſe, hatte weder ſeinen Frieden noch ſeine Heiterkeit getrübt.
Die „Gräfin,“ eine Benennung, die ihr vielfach blieb, hatte
ihr Leben nach dem Satze eingerichtet, daß, „wer der herrſche-
fähigſte ſei, auch die Herrſchaft zu führen habe“ und dies
ſcheint uns der Ort, ehe wir in der Vorführung biographiſchen
Materials fortfahren, eine Charakterſchilderung der Frau einzu-
ſchalten. Ihren Mann, trotz aller Herrſchſucht, liebte ſie übri-
gens wirklich und noch in den letzten Lebensjahren pflegte ſie
halb ſcherzhaft zu ſagen: „wenn ich im Himmel meinem erſten
[280] Mann begegnen werde, ſo weiß ich nicht, wie er mich begrü-
ßen wird, aber vor meinem Biſchofswerder iſt mir nicht
bange.“


Die „Gräfin,“ auch wenn uns nichts anderes vorläge,
als was ihre Neider und Tadler über ſie ausgeſagt haben, war
jedenfalls eine „diſtinguirte“ Frau. Es mußte ſeinen Grund
haben, daß zwei Günſtlinge ſich um ihre Gunſt bewarben. Ein
Enkel von ihr mochte mit Fug und Recht ſchreiben: „Die in
meinen Händen befindlichen Papiere, leider nur Bruchſtücke,
geben ganz neue Aufſchlüſſe. Reichen ſie auch zu einer klaren
geſchichtlichen Darſtellung nicht aus, ſo haben ſie mir doch einen
genügenden Anhalt geboten, die für Preußens Größe
begeiſterte
, die kühnſten Wünſche und Pläne hegende Frau
verſtehen zu lernen und die Bitterkeit zu begreifen, als ſie mehr
und mehr einſah, daß nicht die Macht der Verhältniſſe, ſon-
dern die Schwäche der Menſchen Alles vereitelte und häufig in
das Gegentheil verkehrte.“ Wir haben nicht ſelbſt Einblick in
die Papiere, die hier erwähnt werden, nehmen dürfen, aber
nach Allem, was uns ſonſt vorliegt, ſind wir geneigt, dieſe
Schilderung für richtig zu halten. Sie war keine liebenswür-
dige, aber eine bedeutende Frau, ein ausgeſprochener Charakter.


In den zahlreichen mehr oder weniger libellartigen Schrif-
ten jener Zeit, wie auch im Gedächtniß der Marquardter Dorf-
bewohner, von denen ſie noch viele gekannt haben, lebt ſie
allerdings nur in zwei Eigenſchaften fort, als habſüchtig-geizig
und bigott-katholiſch. In den mehrfach ſchon citirten „Ver-
trauten Briefen“ finden wir zunächſt: „Herrn v. Biſchofswer-
ders Ehehälfte läßt ſich jedes gnädige Lächeln mit Geld auf-
wiegen“ und an anderer Stelle heißt es: Die in Südpreußen
veranſtalteten Güterverſchleuderungen waren ihr Werk, indem
ſie ihrem Manne beſtändig ſagte: „Sie werden wie ein Bettler
ſterben, wenn Sie nicht noch die letzten Tage des Königs
benutzen, um etwas für Ihre Familie zu thun.“


Das Fundament dieſer Habſucht war muthmaßlich mehr
Ehrgeiz als irgend etwas andres. Sie wußte: „Beſitz iſt Macht“
[281] und die Jahre, ſo ſcheint es, ſteigerten dieſe Anſchauung eher,
als daß ſie ſie mäßigten. Ein Mann, der ſie in ihren alten
Tagen kannte, ſchreibt: „Sie war herb und hart, ertragbar
nur im Verkehr mit kleinen Leuten und ausgiebig nur in Auf-
legung von Schminke.“


Ihr Katholicismus war von der ausgeſprochenſten Art,
aber die Art, wie ſie ihn übte, die Entſchiedenheit im Bekennt-
niß auf der einen Seite und andererſeits wieder die Toleranz
gegen alle diejenigen, die nun mal auf anderem Boden ſtan-
den, gereichte ihr zu hoher Ehre. Ignaz Feßler, früher Mönch,
der zum Proteſtantismus übergetreten war, kam 1796 nach
Berlin und — an Biſchofswerder empfohlen — auch nach Mar-
quardt. „Biſchofswerder wollte mir wohl, ſo ſchreibt er, aber
Alles ſcheiterte an der Frau. Sie ſah in mir nichts als den
Abtrünnigen von der römiſchen Kirche. Sie beherrſchte
ihren Gemahl vollſtändig, und um des lieben Hausfriedens
willen durfte er mich nicht mehr ſehen.“ Dieſe Strenge zeigte
ſie aber nur dem Convertiten. In Marquardt griff ſie nie
ſtörend oder eigenmächtig in das proteſtantiſche Leben der Ge-
meinde ein, hatte vielmehr eine Freude daran, die evangeliſche
Kirche des Dorfes mit allem Kirchengeräth und Kirchenſchmuck,
mit Altardecke und Abendmahlskelch zu beſchenken.


Wir kehren nach dieſem Verſuch einer Charakterſchilderung
in das Jahr 1803 zurück. „Ihren Gemahl (ſo entnahmen wir
eben aus Feßler) hatte ſie vollſtändig beherrſcht;“ aber wenn
ſie nach der Seite des Herrſchens hin, bis zum Tode Biſchofs-
werders, des Guten zu viel gethan haben mochte, ſo begannen
doch nun alsbald die Jahre, wo die „Gewohnheit des Herr-
ſchens“ zu einem Segen wurde. Dieſer Zeitpunkt trat nament-
lich ein, als die Franzoſen in’s Land kamen und auch die Ha-
velgegenden überſchwemmten. Der „Gräfin“ Klugheit führte
Alles glücklich durch. Sie wußte, wo ein Riegel vorzuſchieben
war, aber ſie ließ auch gewähren. Eine räthſelvolle Geſchichte
ereignete ſich in jenen Jahren. Franzöſiſche Chaſſeurs zechten
im Saal; einer ſtieg in den Keller hinab, um eine Kanne
[282] „friſch vom Faß“ zu zapfen. Nun trifft es ſich, daß das
Marquardter Herrenhaus einen doppelten Keller hat, den einen
unter dem andern. Wahrſcheinlich erloſch das Licht, oder der
Trunk ſchläferte den Chaſſeur ein, kurzum er kam nicht wieder
herauf; ſein Hilferuf verhallte, der Trupp, in halbem Rauſche,
verließ Schloß und Dorf, und des Franzoſen wurde erſt wie-
der gedacht, als es im Hauſe zu rumoren begann. Nun forſchte
man nach. An einer dunkelſten Stelle des Kellers lag der
Unglückliche, unkenntlich ſchon, neben ihm ein halbniedergebrann-
tes Licht. Die „Gräfin“ gab ihm ein ehrlich Begräbniß; da
wurd’ es ſtill. Sie ahnte damals nicht, daß ſie im Glauben
des Volkes, im Geplauder der Spinnſtuben, dieſen Spuk einſt
ablöſen würde.


Die Franzoſenzeit war vorüber, der Siegeswagen ſtand
wieder auf dem Brandenburger Thor, die Kinder des Mar-
quardter Herrenhauſes blühten auf; die „Gräfin,“ noch immer
eine ſtattliche Frau, war nun 60. Die Jugend der Kinder
gab dem Hauſe neuen Reiz; es waren ſeit lange wieder Tage
glücklichen Familienlebens, und dies Glück wuchs mit der Ver-
heirathung der Töchter. Die älteſte, Luitgarde, vermählté
ſich mit einem Hauptmann v. Witzleben (ſpäter General), der
damals eine Compagnie vom Kaiſer-Franz-Regiment führte.
Die zweite, Blanka, geb. 1797, von der die „Gräfin“ mit
mütterlichem Stolz zu ſagen pflegte:


Meine Blanka, blink und blank,

Iſt die Schönſt’ im ganzen Land,

wurde die Gattin eines Herrn v. Maltzahn; die jüngſte,
Bertha, geb. 1799, gab ihre Hand einem Herrn v. Oſtau,
damals Rittmeiſter im Regiment Garde du Corps. Tage unge-
trübten Glückes ſchienen angebrochen zu ſein, aber nicht auf
lange. Die beiden jüngeren Töchter ſtarben bald nach ihrer
Verheirathung, innerhalb Jahresfriſt. Dem Tode der ſchönen
Blanka ging ein poetiſch-rührender Zug vorauf. Sie lag krank
auf ihrem Lager. Da meldete der Diener, daß das „Kreuz“
vus Potsdam angekommen ſei. Die junge ſchöne Frau hatte
[283] wenige Tage zuvor ein Kreuz, das ſie auf der Bruſt zu tra-
gen pflegte, einer Reparatur halber nach Potsdam hinein
geſchickt und ſie bat jetzt, ihr das Andenken, das ihr ſchon
gefehlt hatte, zu zeigen. Da trug man ihr ein Grabkreuz an’s
Bett, das von der alten Gräfin, an Stelle der Urne, für die
große Gartengruft beſtellt worden war. Sie wußte nun, daß
ſie ſterben würde. Schon ein Jahr vorher war die jüngere
Schweſter, Frau v. Oſtau*) geſtorben. Beide wurden in der
Marquardter Kirche beigeſetzt.


Die Jahre des Entſagens, der Erkenntniß von den Eitel-
keiten der Welt, waren nun auch für das ſtolze Herz der „Grä-
fin“ angebrochen. Sie zog ſich mehr und mehr aus dem Leben
zurück; nur die Intereſſen der kleinen Leute um ſie her und
die großen Intereſſen der Kirche kümmerten ſie noch; im All-
gemeinen verharrte ſie in Herbheit und Habſucht. So kam ihr
Ende. Sie ſtarb, 76 Jahre alt, am 3. November 1833, im
Hauſe der einzigen ſie überlebenden Tochter, der (damaligen)
Frau Oberſt v. Witzleben zu Potsdam und wurde am 6. No-
vember zu Marquardt, an der Seite ihres Gemahles beigeſetzt.
Die Rundgruft im Park ſchloß ſich zum zweiten Mal.


Die Rundgruft im Park ſchloß ſich zum zweiten Mal;
aber die „Gräfin,“ wie man ſich im Dorfe erzählt, kann nicht
Ruhe finden. Oft in Nächten iſt ſie auf. Sie kann von Haus
[284] und Beſitz nicht laſſen. Sie geht um. Aber es iſt, als ob
ihr Schatten allmählich ſchwände. Noch vor 20 Jahren wurde
ſie geſehen, in ſchwarzer Robe, das Geſicht abgewandt; jetzt
hören die Bewohner des Hauſes ſie nur noch. Wie auf gro-
ßen Socken ſchlurrt es durch alle unteren Räume; man hört
die Thüren gehn; dann alles ſtill. Einige ſagen, es bedeute
Trauer im Hauſe; aber das Haus iſt nicht Biſchofswerderſch
mehr und ſo mögen die Recht haben, die da ſagen: ſie „revi-
dirt,“ ſie kann nicht los.


Marquardt von 1833—1858.


General v. BiſchofswerderII.


Es folgte nun der Sohn. Dem Rechte und dem Namen
nach, wie bereits angedeutet, war er Beſitzer von Marquardt
ſeit 1819, aber in Wahrheit ward er es erſt, nachdem der
Mutter die Zügel aus der Hand gefallen waren. Die „Grä-
fin“ war keine Frau, die ſich mit Halbem begnügte.


Dem Sohne war dies Entſagen, wenn es überhaupt ein
ſolches war, ziemlich leicht gefallen; der „Dienſt“ und die
„Geſellſchaft,“ die ihn beide in der Reſidenz hielten, waren
ihm mehr als die Herrſchaft über Marquardt. Die Paſſion für
die Stille und Zurückgezogenheit des Landlebens (eine der letz-
ten, die in unſer Herz einzieht), dieſe zu empfinden, dazu
war er noch zu jung, dazu lag noch zu wenig hinter ihm,
dazu nahm er den Schein noch zu voll für das Sein. Im
Uebrigen war er in Erſcheinung und Charakter ganz der Sohn
ſeines Vaters, ganz ein Biſchofswerder: groß, ritterlich, dem
Dienſt des Königs und der Frauen in gleicher Weiſe hingege-
ben, eine „Perſönlichkeit,“ mit Leidenſchaft Soldat. Dabei,
als bemerkenswertheſtes Erbtheil, ganz im Myſticismus und
Aberglauben ſtehend. Er trug das rothſeidene Kiſſen auf der
Bruſt, das der Vater, bis zu ſeinem Tode, als Amulet getra-
gen hatte.


[285]

Der jüngere Biſchofswerder machte ſeine Laufbahn in der
Garde. 1833, bei dem Tode der Mutter, war er Major im
Regiment Garde du Corps. Seine Familie (er war mit einer
Schlabrendorf vermählt) pflegte meiſtens die Sommermonate in
Marquardt zu verbringen; er ſelbſt erſchien nur auf Stunden
und Tage, wenn der Dienſt es geſtattete oder die Wirthſchafts-
Controle es forderte.


1842 bereitete ſich eine eigenthümliche Feier in Marquardt
vor, ein letzter Schimmer aus Tagen her, wo der Name Biſchofs-
werder Macht, Gunſt und Glück bedeutete. Es war am 20. April
genannten Jahres, bei hellem Mittagsſchein, als die Rundgruft
im Park wieder geöffnet wurde. Ein dritter ſtiller Bewohner
ſollte einziehn. Bon Berlin her kam ein langer Zug von Kut-
ſchen und Wagen, auf dem vorderſten Wagen aber, katafalk-
artig aufgebaut, ſtand ein blumengeſchmückter Sarg. In dem
Sarge ruhte Caroline Erdmuthe Chriſtiane v. Biſchofswer-
der
, dame d’atour der Gemahlin Friedrich Wilhelms II., ſpä-
ter Hof- und Staatsdame der Königin Luiſe. Sie war,
76 Jahre alt, in den ſtillen Oberzimmern des Berliner Schloſ-
ſes geſtorben. Wenige nur hatten ſie noch gekannt; aber unter
dieſen wenigen waren die Prinzen des Königlichen Hauſes, vor
Allen der König ſelbſt. Dieſer folgte jetzt ihrem Sarge. Als
der Park erreicht, der Sarg in die Gruft hinabgelaſſen und
das Einſegnungsgebet durch den Paſtor Stiebritz geſprochen war,
trat König Friedrich Wilhelm IV. an die Gruft und rief ihr
bewegt die Worte nach: „Hier begrabe ich meine zweite Mut-
ter; ſie hat mich genährt und erzogen.“ Dann ſchloß ſich die
Gruft zum dritten, wohl auch zum letzten Male. Die
Biſchofswerders ſind hinüber; wer wird ſich eindrängen wollen
in ihren ſtillen Kreis?


Der Paſtor Stiebritz feierte an jenem Tage ſeinen 80. Ge-
burtstag. Auf welchen Wechſel der Dinge blickte er zurück!
In demſelben Jahre (1795), in dem Marquardt von den
Biſchofswerders erworben und der Sohn und Erbe, der nun
mit am Grabe ſtand, geboren war, war er ins Amt getreten.
[286] Wie Vieles war ſeitdem an ihm vorbeigegangen: Die Beſuche
des Königs, der Park voll chineſiſcher Lampen, die blaue Grotte
und ihre Stimmen. Wie ein Traum lag es hinter ihm.


Um dieſe Zeit (1842) war der jüngere Biſchofswerder
Oberſtlieutenant; ſechs Jahre ſpäter war er Oberſt und Com-
mandeur der Garde-Küraſſiere. Als ſolcher hielt er, am
18. März, mit ſeinem Regiment auf dem Schloßplatz. Wäh-
rend des mittägigen Tumults, in dem Moment, als die hiſto-
riſchen drei Schüſſe fielen, ließ er einhauen. Er that, was ihn
Rechtens dünkte. Die Wochen aber, die jenem Tage folgten,
waren ſolcher Anſchauung nicht günſtig, die Verhältniſſe erheiſch-
ten eine Remedur, ein Desaveu, und die Verſetzung Biſchofs-
werders nach Breslau wurde ausgeſprochen. Er erhielt bald
darauf, unter Verbleib in der ſchleſiſchen Hauptſtadt, eine
Brigade.


Aber auch hier in Breslau zog bald eine Trübung her-
auf; unglücklich-glückliche Tage brachen an. Seine Huldigun-
gen, die er ritterlich-galant einer ſchönen Frau darbrachte,
führten zu Conflicten, und da Namen und Familien hinein-
ſpielten, die dem Herzen Friedrich Wilhelms IV. theuer waren,
ſo bereitete ſich ein Allerſchmerzlichſtes für ihn vor: er mußte
den Aſchied nehmen. Aufs Höchſte verſtimmt, gedemüthigt, zog
er ſich 1853 nach Marquardt zurück. Das Bild der Frau, die
er gefeiert, begleitete ihn in ſeine Einſamkeit.


Sehr bald nach dieſen Vorgängen war es, daß ihn die
Herausgabe einer Biographie ſeines Vaters beſchäftigte. Das
vielfach verkannte Andenken des letztern ſchien eine ſolche Wie-
derherſtellung von ihm zu fordern. Wie dabei vorzugehen ſei,
darüber hatte er zunächſt nur unbeſtimmte Ideen. Er ſelber fühlte
ſich der Aufgabe nicht gewachſen, auch nicht unbefangen genug;
aber Eines wenigſtens lag innerhalb des Bereichs ſeiner Kräfte:
er begann das im ganzen Hauſe zerſtreute Material zu ſam-
meln
. Es war im höchſten Maße umfangreich und beſtand
im bunten Durcheinander aus Cabinetsordres aller Könige ſeit
Friedrich Wilhelm I. und aus unzähligen Briefen (meiſt in
[287] franzöſiſcher Sprache), die zum Theil ſtaatlich-politiſche Ver-
hältniſſe, zum Theil Verhältniſſe von privater und ſehr intimer
Natur berührten — wahrſcheinlich der Briefwechſel zwiſchen dem
Günſtling-General und der „Gräfin“ aus den Jahren her,
die ihrer Vermählung unmittelbar vorausgingen. Die mit Wöll-
ner gewechſelten Briefe waren deutſch geſchrieben und bezogen
ſich zumeiſt auf das Preß- und das Religions-Edict. Selt-
ſamer Weiſe machte man eine Tonne zum Archiv; in dieſe
wurde Alles, vorläufig ungeordnet, hineingethan.


Dies reiche Material ſollte aber nie zur Bearbeitung kom-
men. Die Verſtimmung des Generals wuchs, dazu beſchlich
ihn die Vorahnung ſeines herannahenden Todes. Wir finden
darüber unter den Aufzeichnungen eines Mannes, der ihm wäh-
rend der letzten Lebensjahre nahe ſtand, das Folgende:


„1857 feierte Biſchofswerder ſeinen 62. Geburtstag. Meine
Frau und ich waren geladen. Gegen Ende des Mahls, als
wir ſeine Geſundheit in gutem „Cliquot veuve“ getrunken hat-
ten, nahm er mich bei Seite, küßte mich, bedankte ſich für alle
Liebe, die ich ihm und ſeiner Familie ſo viele Jahre lang
bewieſen hätte, und ſagte dann: „Sie haben heute mit mir
das letzte Glas Champagner getrunken; ich werde in dieſer Welt
keinen Geburtstag mehr feiern. Mein Großvater iſt im 63. Jahre
geſtorben, mein Vater auch, und ich werde ebenfalls im 63. Jahre
ſterben. Gehen Sie über’s Jahr auf unſern Kirchhof und beten
Sie an meinem Grabe für meine arme Seele.“


Und ſo geſchah es. Als ſein 63. Geburtstag kam, war
er hinüber. Nicht in der Gartengruft, auch nicht in der Gruft
unterm Altar, ſondern auf dem kleinen Friedhofe, der die Kirche
einfaßt, ward er begraben. Zu Häupten des epheu-umzoge-
nen, von einer Eſche beſchatteten Hügels wurde ein Kreuz errich-
tet, das die Inſchrift trägt: „Hier ruht in Gott der Königl.
Generallieutenant Hans Rudolf Wilhelm Ferdinand v. Biſchofs-
werder, geb. am 9. Juli 1795, geſt. am 24. Mai 1858;“
auf der Rückſeite des Kreuzes aber ſtehen die Worte:


Der Letzte ſeines Namens.“


[288]

Marquardt ſeit 1858.


Der letzte Biſchofswerder hatte ſeine Ruheſtatt gefunden.
Nur zwei Töchter verblieben. Die ältere, Pauline v. Biſchofs-
werder, der Liebling des Vaters, vermählte ſich mit Herrn
v. Damnitz, der nun, ſei es durch Kauf, ſei es durch Erb-
ſchaft, auf kurze Zeit in den Beſitz von Marquardt gelangte.
Im Ganzen nur auf zwei Jahre. Aber dieſe zwei Jahre ſchnit-
ten tief ein Herr v. Damnitz, ſo wird erzählt, voll Anhäng-
lichkeit gegen das blau-bordirte und blau-gepaspelte Küraſſier-
Regiment, bei dem er Jahre hindurch geſtanden hatte, benutzte
eine Neuweißung der Kirche, um den Wänden, den Kirchen-
ſtühlen, den Thür- und Kanzelfeldern einen blauen Einfaſ-
ſungsſtreifen zu geben. Die oben erwähnte Tonne aber, auf
der vielleicht einzig und allein die Möglichkeit einer exacten
Geſchichtſchreibung der Epoche von 1786—97 beruhte, wurde
zum Feuertode verurtheilt. Zwei Tage lang wurde mit ihrem
Inhalt der Backofen geheizt. Omar war über Marquardt
gekommen.


Keine Frage, daß Herr v. Damnitz, aus einer gewiſſen
Pietät heraus, in dieſer Weiſe handeln zu müſſen glaubte;
„wozu der alte Scandal, wozu die erneute Controverſe!“
Viele alte Familien denken ebenſo: „der Gewinn iſt precair,
der Schaden iſt ſicher“ — und ſo verlieren ſich unerſetzliche
Aufzeichnungen in Ruß und Rauch. Wir begreifen die Empfin-
dung, aber wir beklagen ſie; es iſt der Triumph des Familien-
ſinns über den hiſtoriſchen Sinn. Und der letztere iſt doch das
Weitergehende, das Idealere.


Herr v. Damnitz blieb nur bis 1860. Herr Tholuck, ein
Neffe des berühmten Hallenſer Theologen, folgte. In ihm war
dem devaſtirten Gute endlich wieder ein Wirth gegeben, eine
feſte und eine geſchickte Hand. Die erſte ſeit dem Tode des
älteren Biſchofswerder (1803). Ein Geiſt der Ordnung zog
wieder ein. Der Park klärte ſich auf, das alte Schloß gewann
wieder wohnlichere Geſtalt und an die Stelle verfallender oder
[289] wirklich ſchon zerbröckelter Wirthſchafts-Gebäude, erhoben ſich
wieder Ställe und Scheunen, Alles ſauber, glau, feſt. Mar-
quardt war wieder ein ſchöner Beſitz geworden.


Wir treten jetzt in ihn ein.


Der prächtige, 20 Morgen große Park nimmt uns auf.
Er iſt, in ſeiner gegenwärtigen Geſtalt, im Weſentlichen eine
Schöpfung des Günſtling-Generals. Seine Lage iſt prächtig;
in mehreren Terraſſen, wie ſchon zu Eingang dieſes Capitels
angedeutet, ſteigt er zu dem breiten, ſonnenbeſchienenen Schlä-
nitz-See nieder, an deſſen Ufern, nach Süden und Südweſten
hin, die Kirchthürme benachbarter Dörfer ſichtbar werden. Mit
der Schönheit ſeiner Lage wetteifert die Schönheit der alten
Bäume: Akazien und Linden, Platanen und Ahorn, zwiſchen
die ſich grüne Raſenflächen und Gruppen von Tannen und
Weymuths-Kiefern einſchieben.


In der Nähe des Herrenhauſes ſteht eine mächtige Kaſta-
nie in vollem Blüthenflor. Sie iſt wie ein Rieſenbouquet; die
weitausgeſtreckten Zweige neigen ſich bis zur Erde. Es iſt dies
der Baum, der am Tauftage des Sohnes und Erben, in Ge-
genwart des Königs, gepflanzt wurde. Die Familie erloſch,
der Baum gedieh.*) An ihm vorbei treten wir in das Her-
renhaus.


Fontane, Wanderungen. III. 19
[290]

Es iſt ein relativ neuer Bau. 1791 legte ein raſch um
ſich greifendes Feuer das halbe Dorf in Aſche; auch das „Schloß“
brannte aus; nur die Umfaſſungsmauern blieben ſtehen. Das
Herrenhaus, wie es ſich jetzt präſentirt, iſt alſo nur 80 Jahre
alt. Es macht indeſſen einen viel älteren Eindruck, zum Theil
wohl weil ganze Wandflächen mit Epheu überwachſen ſind. Aber
das iſt es nicht allein. Auch da, wo der moderne Mörtel
unverkennbar ſichtbar wird, iſt es, als blickten die alten Mauern,
die 1791 ihre Feuerprobe beſtanden, durch das neue Kleid
hindurch.


Die innere Einrichtung bietet nichts Beſonderes; hier und
dort begegnet man noch einem zurückgebliebenen Stück aus der
„hiſtoriſchen Zeit“: Möbel aus den Tagen des erſten Empire,
Büſten, Bilder, engliſche und franzöſiſche Stiche. Das bau-
lich Intereſſanteſte iſt die doppelte Keller-Anlage, die dem fran-
zöſiſchen Chaſſeur ſo verderblich wurde; man blickt die Stufen
hinunter wie in einen Schacht. In den oberen Geſchoſſen ſchie-
ben ſich Treppen und Verſchläge, Schrägbalken und Rauch-
fänge bunt durcheinander und ſchaffen eine Localität, wie ſie
nicht beſſer gedacht werden kann für ein Herrenhaus „drin es
umgeht.“


Die Sonne geht nieder; zwiſchen den Platanen des Par-
kes ſchimmert es wie Gold; das iſt die beſte Zeit zu einem
Gange am „Schlänitz“ hin. Unſer Weg, in Schlängellinien,
führt uns zunächſt an der Gruft, dann an der Geiſter-
grotte
, an den beiden hiſtoriſchen Punkten des Parkes vor-
bei. Die Gruft iſt wie ein großes Gartenbeet, ein mit Epheu
und Verbenen überwachſenes Rondel; nur das griechiſche Kreuz
in der Mitte, das die urſprüngliche Urne ablöſte, deutet auf
die Beſtimmung des Platzes.


Weiterhin liegt die Grotte. Der Aufgang zu ihr iſt
mit den blauen Schlacken eingefaßt, die einſt moſaikartig das
ganze Innere des Baues ausfüllten. Jetzt iſt dieſer, weil er
den Einſturz drohte, offengelegt. Durch ein Verſehen (der
Beſitzer war abweſend) wurde bei dieſer Gelegenheit die Innen-
[291] wand niedergeriſſen und dadurch der ſichtbare Beweis zerſtört,
daß dieſe Grotte eine doppelte Wand und zwiſchen den Wän-
den einen mannsbreiten Gang hatte. Nur die äußeren Mauern,
mit Ausnahme der Frontwand, ſind ſtehen geblieben und ſchie-
ben ſich in den Akazien-Hügel ein. Strauchwerk zieht ſich jetzt
drüber hin.


Nun ſtehen wir am Schlänitz-See, über der Kirche von
Phöben hängt der Sonnenball; ein rother Streifen ſchießt über
die leis gekräuſelte Fläche. Der Abendwind wird wach; ein
leiſes Fröſteln überläuft uns; an Grotte und Gruft vorbei,
kehren wir in das alte Herrenhaus zurück.


Hier iſt Dämmrung ſchon. Es iſt die Minute, wo das
Licht des Tages erloſchen und das Licht des Hauſes noch nicht
gezündet iſt. Wir ſtehen allein; dort ſind die Stufen, die in
Souterrain und Keller führen; wie Dunkel ſteigt es draus her-
auf. Im Hauſe alles ſtill. In der Ferne klappt eine Thür,
eine zweite, eine dritte; jetzt iſt es, als würd’ es dunkler;
es rauſcht vorbei, es ſchlurrt vorüber. Die alte „Gräfin“
geht um.



[[292]]

Geheime Geſellſchaften im 18. Jahrhundert.


1.


Was ſagt ſie uns für Unſinn vor?
Es wird mir gleich den Kopf zerbrechen.
Mich dünkt, ich hör’ ein ganzes Chor
Von hunderttauſend Narren ſprechen.
„Fauſt.“

Das vorige Jahrhundert war ein Jahrhundert der Geheimen
Geſellſchaften. Der Abſolutismus behinderte jede Kraftentwicke-
lung, die Miene machte, ſelbſtſtändige Wege einſchlagen zu
wollen; die Kirche war ſtarr; was Wunder, wenn der indivi-
duelle Ehrgeiz, der kein legitimes Feld fand, ſich geltend zu
machen, auf Abwege gerieth und im Dunkeln und Geheimen
nach Macht ſuchte.


Wie im 12. Jahrhundert Alles nach dem heiligen Grabe,
im 16. nach Wittenberg oder nach der neuen Welt drängte,
ſo im 18. Jahrhundert nach Geheimbündelei. Alchymie
und Geiſtererſcheinungen, Dinge, die ſich ihnen vielfach geſell-
ten, oft in den Vordergrund traten, waren nur Zugaben,
Hilfsmittel, ſtarke Doſen, zu denen man griff; das Weſen
der Sache lag darin: Macht zu äußern in einer Zeit, wo das
Individuum machtlos war.


Zwei Strömungen wurden alsbald erkennbar, die, neben
einem ſtarken Beiſatz von Egoismus und Menſchlichkeit, einen
principiellen Gehalt und einen principiellen Gegenſatz repräſentirten.
Alle dieſe Geſellſchaften indeß, die einen derartig ideellen Kern
andauernd in Wahrheit und nicht nur dem Namen nach hat-
ten, bildeten weitaus die Minorität, — das meiſte lief auf
Herrſchſucht und Eitelkeit, auf Täuſchung und unmittelbaren Be-
[293] trug hinaus. Mit dieſer letztern Gruppe der Geheimen Ge-
ſellſchaften, die trotz ihres quantitativen Uebergewichts, kamen
und gingen, ohne eine Spur zu hinterlaſſen, die nichts waren,
als Modethorheit oder Modekrankheit, beſchäftigen wir uns
zuerſt.


Die Zahl dieſer Geſellſchaften, unglaublich zu ſagen, ging
vielleicht über Hundert hinaus. Die meiſten befanden ſich in
Baiern und am Rhein; Regensburg, die alte Reichstagsſtadt,
war Mittelpunkt, und einer Anzahl von Aufſätzen, die in dem
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in der Reichstags-
Zeitung veröffentlicht wurden, verdanken wir, mehr als irgend
einer andern Quelle, Material, das uns Einblick gönnt in das
Verbindungs- und Ordensweſen jener Zeit. Die genannte
Zeitung ſchrieb in den 80er Jahren: „Nie hat ſich der Secten-
geiſt thätiger gezeigt als in unſern Tagen, welche man die auf-
geklärten nennt. .. Der immer allgemeiner werdende Hang
zum Aberglauben, der uns in die Zeiten des Mittelalters zurück-
wirft, wird durch den alle Kräfte der Erwerbung überſteigen-
den Luxus und durch das geſchwächte Nervenſyſtem
der jetzigen Generation (alſo auch ſchon 1785!) ungemein
befördert. Unſre Großen ſuchen den Stein der Weiſen, um
unſterblich zu werden, und erhoffen von den Geheimniſſen der
Alchymie die Mittel zur Befriedigung ihrer Neigungen.“


Die Reichstags-Zeitung fährt dann fort: „An keinem
Orte der Welt ſind mehr Verehrer ſolcher neuen Wiſſenſchaften
anzutreffen, als an dem Wohnſitze des Reichstages (Regens-
burg). Hier befinden ſich: Loyoliſten im geſtickten Kleid, im
Chorgewand und im einfachen Kittel; Gasnerianer und Mes-
merianer; Kabbaliſten und Somnambuliſten; Magier der ver-
ſchiedenſten Stufen und Namen; Caglioſtro-Anhänger, die den
Stein der Weiſen ſuchen, und „Lammsbrüder, die ſich vom
inneren Stolze nähren“ — Vereinigungen, die ſammt und
ſonders ſchwarze und weiße Magie treiben, aus Zahlen, Buch-
ſtaben und Worten die Geheimniſſe der Natur und der Staaten
prophezeihen, die ewige Jugend ſuchen, vor allem aber den
[294] ächteſten Grundſatz aller Schwärmer üben, — ſich untereinan-
der zu verfolgen.“


So die Reichstagszeitung. Die Orden, die wir vorſtehend
aufgeführt, wie ſie nur einen ganz kleinen Theil der in Regens-
burg vertretenen, geſchweige denn der in ganz Deutſchland
damals verbreiteten Ordensgeſellſchaften bildeten, waren ande-
rerſeits auch immer noch Grenznachbarn, oft wirkliche Abzwei-
gungen jener zwei großen Körperſchaften, der „Aufklärer
und der „Dunkelmänner,“ die ihren Kern in der Idee
hatten und auf die wir zurückkommen. Es gab aber andere,
die ſich abſolut von jedem ideellen Gehalt entfernt hatten, oder
das Ideelle doch bloß als ein nervenanregendes Komödienſpiel
trieben.


Aus der Reihe dieſer greifen wir einige Muſterbeiſpiele
heraus.


Da war vorerſt die „Dukaten-Societät.“ Sie war
ſchon um 1746 durch den Grafen Carl Ludwig von Wied-
Neuwied geſtiftet worden. Die Geſellſchaft ging aufs Prak-
tiſche
und war deshalb auch in der glücklichen Lage, in
Betreff aller kirchlichen Dinge, das Wort „Toleranz“ auf ihre
Fahne ſchreiben zu können.


„Religionsvorurtheile können unmöglich bei einer Inſtitu-
tion Einfluß haben, die ſich auf Tugend und Geſellig-
keit
gründet und die wahre Menſchenliebe zu ihrem Weg-
weiſer hat.“


Die „wahre Menſchenliebe“ lernen wir nun aus § 7
der Statuten kennen. Es heißt daſelbſt: „Da jeder monatlich
gerne einen Dukaten zur Societätskaſſe zahlen wird, wenn
er hoffen darf, nicht nur dieſer Bezahlung bald entledigt zu
werden, ſondern ſogar viele Dukaten monatlich zu empfan-
gen
, ſo wird er für das erſte anderweite Mitglied, das er
ſeinerſeits zum Eintritt engagirt, von der Zahlung befreiet; der
Zweite, den er engagirt, zahlt gleichfalls zur Societätskaſſe;
für den Dritten aber empfängt er monatlich einen Dukaten
für ſich; der Vierte zahlet ebenmäßig zur Societätskaſſe; für
[295] den Fünften hingegen empfängt er wiederum einen Dukaten
monatlich für ſich; ferner auch für den 7., 9., 11., 13. und
ſo fort für jede ungerade Zahl monatlich einen Dukaten. Wer
alſo die Gelegenheit hat, ein Halbhundert Mitglieder zu dieſer
Societät zu engagiren, der bekommt monatlich eine Revenue
von 24 Dukaten.“ Dies leuchtete vielen ſofort ein. Vor Ab-
lauf eines Jahres hatte der Orden bereits 416 Mitglieder,
darunter 1 Protector, 7 Seniores, 1 Kaſſirer, 1 Secretär,
1 Archivar. Die erſten Mitglieder waren faſt lauter Offiziere
der Garniſon Weſel, daran ſchloſſen ſich Civilperſonen aus
Neuwied. In kürzeſter Friſt hatte ſich der Orden über ganz
Deutſchland ausgebreitet. Er beſtand aber nicht lange. Die
Regierungen ſchritten ein, warnten vor dieſer „gefährlichen
Societät“ und verboten dieſelbe. In Betreff von Vergeſell-
ſchaftungen, die auf Geld und Geldeswerth ausgingen, waren
die Regierungen immer am wachſamſten.


Ein anderer Orden, bei deſſen Ceremonien die „Harmo-
nika“ eine große Rolle ſpielte und den wir deshalb den „Har-
monika-Orden“ nennen wollen, hatte im Gegenſatz zur
„Dukaten-Societät“ etwas ſinnbeſtrickend Theatraliſches und
operirte mit dem ganzen Apparat einer romantiſchen Oper.
Dieſen ſeltſamen Orden lernt man, in ſeinem Ritual (im
Gegenſatz zu den Statuten) aus einer kleinen Broſchüre ken-
nen, die 1787 in Berlin erſchien und aus der wir Folgendes
entnehmen.


„Sie verſchafften mir, ſo ſchreibt der Held und Har-
monika-Virtuoſe,*) durch Ihre Adreſſe an Herrn N. eine ſehr
[296] intereſſante Bekanntſchaft … Die Harmonika erhielt ſeinen
ganzen Beifall; auch ſprach er von verſchiedenen beſon-
deren Verſuchen
, was ich anfänglich nicht recht faßte. Nur
erſt ſeit geſtern iſt mir Vieles natürlich.


Geſtern gegen Abend fuhren wir nach ſeinem Landgute,
deſſen Einrichtung, beſonders aber die des Gartens, außer-
ordentlich ſchön getroffen iſt. Verſchiedene Tempel, Grotten,
Waſſerfälle, labyrinthiſche Gänge und unterirdiſche Gewölbe
u. ſ. w. verſchaffen dem Auge ſo viel Mannichfaltigkeit und
Abwechslung, daß man davon ganz bezaubert wird. Nur will
mir die hohe, dies alles umſchließende Mauer nicht gefallen;
denn ſie raubt dem Auge die herrliche Ausſicht. — Ich hatte
die Harmonika mit hinaus nehmen und Herrn N. — z. —
verſprechen müſſen, auf ſeinen Wink an einem beſtimmten Orte
nur wenige Augenblicke zu ſpielen. Um dieſen zu erwarten,
führte er mich, da ich alles geſehen, in ein Zimmer im Vor-
dertheil des Hauſes und verließ mich, wie er ſagte, der Anord-
nung eines Balls und einer Illumination wegen, die beide
ſeine Gegenwart nothwendig erforderten. Es war ſchon ſpät
und der Schlaf ſchien mich zu überraſchen, als mich die An-
kunft einiger Kutſchen ſtörte. Ich öffnete das Fenſter, erkannte
aber nichts Deutliches, noch weniger verſtand ich das leiſe und
geheimnißvolle Geflüſter der Angekommenen. — Kurz nachher
bemeiſterte ſich meiner der Schlaf von Neuem; und ich ſchlief
wirklich ein. Etwa eine Stunde mochte ich geſchlafen haben,
als ich geweckt und von einem Diener, der ſich zugleich mein
Inſtrument zu tragen erbot, erſucht ward, ihm zu folgen. Da
er ſehr eilte, ich ihm aber nur langſam folgte, ſo entſtand
daraus die Gelegenheit, daß ich, durch Neugierde getrieben, dem
dumpfen Tone einiger Poſaunen nachging, der — aus der
Tiefe des Kellers zu kommen ſchien.


Denken Sie Sich aber mein Erſtaunen, als ich die Treppe
des Kellers etwa halb hinunter geſtiegen war und nunmehr
eine Todtengruft erblickte, in der man unter Trauermuſik einen
Leichnam in den Sarg legte und zur Seite einem weißgeklei-
[297] deten aber ganz mit Blut beſpritzten Menſchen die Ader am
Arme verband. Außer den hilfeleiſtenden Perſonen waren die
übrigen in langen ſchwarzen Mänteln vermummt und mit blo-
ßen Degen. Am Eingang der Gruft lagen über einander
geworfene Todtengerippe, und die Erleuchtung geſchah durch
Lichter, deren Flamme brennendem Weingeiſt ähnlich kam,
wodurch der Anblick deſto ſchauriger wurde. Um meinen Füh-
rer nicht zu verlieren, eilte ich zurück. Dieſer trat ſo eben
aus dem Garten wieder herein, als ich bei der Thüre deſſelben
ankam. Er ergriff mich ungeduldig bei der Hand und zog mich
gleichſam mit ſich fort.


Sah ich je etwas Feenmärchen-ähnliches, ſo war’s im
Augenblick des Eintritts in den Garten. Alles in grünem
Feuer; unzählig flammende Lampen; Gemurmel entfernter
Waſſerfälle. Nachtigallengeſang, Blüthenduft, kurz, alles ſchien
überirdiſch, und die Natur in Zauber aufgelöſt zu ſein. Man
wies mir meinen Platz hinter einer Laube an, deren Inneres
reich geſchmückt war und wo hinein man kurz darauf einen
Ohnmächtigen führte, vermuthlich den, dem man in der Todten-
gruft die Ader geöffnet hatte. Doch gewiß weiß ich es nicht,
weil die Gewänder aller Handelnden jetzt prächtig und reizend
von Form und Farbe, und mir dadurch wieder ganz neu
waren. Sogleich erhielt ich das Zeichen zum Spiele.


Da ich nunmehr genöthigt war, mehr auf mich als auf
Andere Acht zu geben, ſo ging allerdings Vieles für mich ver-
loren. So viel aber nahm ich deutlich wahr, daß ſich der Ohn-
mächtige kaum nach einer Minute des Spielens erholte und
mit äußerſter Verwunderung fragte: Wo bin ich? weſſen
Stimme höre ich? — Frohlockender Jubel und Trompeten und
Pauken war die Antwort. Alles griff zugleich nach den Degen
und eilte tiefer in den Garten, wo das Fernere für mich wie
verſchwunden war.


Ich ſchreibe Ihnen dieſes nach einem kurzen und unruhi-
gen Schlaf. Gewiß, hätte ich nicht noch geſtern, ehe ich mich
zu Bette legte, dieſe Scene in meine Schreibtafel aufgezeichnet,
[298] ich wäre ſehr geneigt, dies Alles für einen Traum zu halten.
Leben Sie wohl.“


Die vorſtehende Schilderung hat uns bereits in eine Gruppe
von Ordensverbindungen oder doch bis an die Grenze der-
ſelben geführt, in denen „Erſcheinungen“ als Nerven-Sti-
mulus und dieſer wieder als „Mittel zum Zweck“ die Haupt-
ſache waren.


Wir wenden uns nunmehr dieſen Magiern und ihren
Verbindungen zu. Zuvor aber noch eine Bemerkung.


Auch jene Orden, die, was immer ihre Schwächen und
Gebrechen ſein mochten, doch in erſter Reihe immer das Prin-
cip
wollten und in Wahrheit ernſt und aufrichtig einen gei-
ſtigen Kern hatten, auch dieſe bedeutſameren, nicht ephemeren,
wirklich zu politiſcher und ſocialer Bedeutung gelangenden Orden
glaubten, wohl oder übel, eines gelegentlichen Operirens mit
„Erſcheinungen“ nicht entbehren zu können. Wir werden
darauf ausführlicher zurückkommen und feſtzuſtellen ſuchen, wie
viel davon zuläſſig oder unzuläſſig, oder richtiger, wie groß
oder wie gering das Maß der Verſchuldung war.


Mit dieſen ernſteren Beſtrebungen, die ſich gelegentlich
im Mittel irrten, haben aber, trotz einer gewiſſen äußeren
Aehnlichkeit, jene zu Neunzehntel auf Lug und Trug geſtell-
ten Vergeſellſchaftungen nichts gemein, die nicht einmal das
ohnehin gefährliche und fragwürdige: „Der Zweck heiligt die
Mittel“ für ſich geltend machen konnten, ſondern einfach, unter
prätenſiöſen Phraſen, ihrem Gewinn oder irdiſchem Vortheil
nachjagten. Es waren Speculanten und Komödianten. Geiſter
erſcheinen laſſen war ihr Geſchäft und nur ihr Geſchäft.
Wir machen uns zunächſt damit vertraut, wie ſie dies Metier
betrieben.


Es gab, ſo weit wir im Stande geweſen ſind, uns aus
den verſchiedenſten Schriften zu informiren, vier Arten des
Betriebes. Kleinere Abweichungen kommen nicht in Betracht.
Es waren:


[299]

1) Das Schattenbild auf weißer durchſichtiger Fläche.
Eine Art Laterna magica. Dies war die plumpeſte Art.


2) Das Hohlſpiegelbild auf weißer Wandfläche. Ein
Verfahren, das, bei Geiſterſcenen auf der Bühne, auch jetzt
noch zu gelegentlicher Anwendung kommt.


3) Das Hohlſpiegelbild auf Rauch und Qualm.


4) Bloße Benebelung und Einwirkung auf die Ima-
gination, ſo daß man Dinge ſieht, die gar nicht da ſind.


Ueber dieſe letztere Art des Verfahrens, die die unglaub-
lichſte ſcheint und, richtig gehandhabt, doch vielleicht die ſicherſte
war, entnehmen wir zeitgenöſſiſchen Memoiren das Folgende:


Friedrich II. erfuhr, daß in Halle ein Profeſſor ſei, der
Geiſter citiren könne. Der König ließ ihn kommen. Der Be-
treffende erſchien auch, lehnte es aber ab, Geiſter erſcheinen
zu laſſen, erklärte vielmehr dem Könige ganz einfach, wie er
dabei zu operiren pflege. Er ſagte: „Ich benutze dazu ein
Räucherwerk. Dies Räucherwerk — wovon hier das Recept
iſt — hat zwei Eigenſchaften: 1) den „Patienten“ in einen
Halbſchlaf zu verſetzen, welcher leicht genug iſt, ihn alles ver-
ſtehen zu laſſen, was man ihm ſagt, und tief genug, ihn am
Nachdenken zu verhindern; 2) ihm das Gehirn dergeſtalt zu
erhitzen, daß ſeine Einbildungskraft ihm lebhaft das Bild der
Worte, die er hört, abmalt. Er iſt in dem Zuſtande eines
Menſchen, der nach den leichten Eindrücken, die er im Schlaf
empfängt, einen Traum zuſammenſetzt. Nachdem ich in der
Unterredung mit meinem Neugierigen möglichſt viele Einzel-
heiten über die Perſon, die ihm erſcheinen ſoll, kennen gelernt
und ihn nach der Form und den Kleidern gefragt habe, in
denen er die zu citirende Perſon ſehen will, laſſe ich ihn in
das dunkle, mit dem Dunſt des Räucherwerks angefüllte Zim-
mer treten. Dann — nach einiger Zeit — ſpreche ich zu ihm:
„Sie ſehen den und den, ſo und ſo geſtaltet und gekleidet,“
worauf ſich ſofort ſeiner erregten Phantaſie die Geſtalt abmalt.
Hierauf frage ich ihn mit rauher Stimme: „Was willſt Du?“
Er iſt überzeugt, daß der Geiſt zu ihm ſpricht; er antwortet.
[300] Ich erwiedere; und wenn er Muth hat, ſo ſetzt ſich die Unter-
redung fort und ſchließt mit einer Ohnmacht. Dieſe letzte
Wirkung des Räucherwerks wirft einen myſteriöſen Schleier
über das, was er zu ſehen und zu hören geglaubt hat und
verwiſcht die kleinen Mängel, deren er ſich etwa erinnern
könnte.“ —


So weit die Enthüllungen des Profeſſors. Ueber die ver-
bleibenden drei Arten der „Geiſtercitirung“ berichten wir an
anderer Stelle, theils im Text, theils in den Anmerkungen.


Das dritte Verfahren: „Das Hohlſpiegelbild auf einer
Rauchſäule“ wurde, wenn den betreffenden Ueberlieferungen
Glauben zu ſchenken iſt, vorzugsweiſe durch Johann Georg
Schrepfer geübt. Dieſer in ſeiner Art merkwürdige Mann
bildete die Incarnation jenes Lug- und Trug-Syſtems, jener
Geheimbündelei, die, unter großen räthſelvollen Phraſen, das
Wunderthun, die Geiſtercitation, den Rapport mit der geiſtigen
Welt in den Vordergrund ſtellte und ohne ſich viel mit fort-
ſchrittlichen oder rückſchrittlichen Ideen aufzuhalten, von der
Leichtgläubigkeit der Menſchen lebte. In der Kürze haben wir
Schrepfers ſchon bei Marquardt erwähnt. Wir müſſen auch
hier wiederholen, daß er höchſt wahrſcheinlich nicht bloß ein
Betrüger war, ſondern durch Leſen myſtiſcher und alchymiſti-
ſcher Schriften, dazu durch eigene Eitelkeit und fremde Huldi-
gungen, ſchließlich, ohne geradezu wahnſinnig zu ſein, in einen
verworrenen Geiſteszuſtand gerathen war, der ihn in der That
an ſich glauben machte und ihn namentlich Alles für
möglich halten
ließ. Es iſt nicht abſolut unwahrſcheinlich,
daß er wirklich dachte, ein Packet Papierſchnitzel werde ſich ihm
zu Liebe über Nacht in vollgültige Banknoten verwandeln. Wir
geben eine kurze Lebensſkizze dieſes Mannes, deſſen Leben und
Tod charakteriſtiſch iſt für eine ſpecielle Krankheits-Erſcheinung
jener Zeit.


Johann Georg Schrepfer, 1730 geboren, war anfangs
Kellner in einem Leipziger Gaſthauſe (nach andern Huſar) und
war unter die dienenden Brüder einer dortigen Freimaurerloge
[301] aufgenommen worden. Später hatte er eine Frau mit einigem
Vermögen geheirathet und hielt ſeitdem eine eigne Schenkwirth-
ſchaft in der Kloſtergaſſe. Anfang der 70er Jahre, vielleicht
ſchon etwas früher, begann er auszuſprengen, daß er die Gabe
der Geiſterbeſchwörung habe. Sein Anhang wuchs,
darunter Perſonen von hoher geſellſchaftlicher Stellung. Der
Herzog von Kurland, Herzog Ferdinand von Braunſchweig, die
Miniſter Graf Hohenthal und v. Wurmb, der Kammerherr
v. Heynitz, Oberſt v. Fröden, der Geh. Kriegsrath v. Hopf-
garten und der Kammerherr v. Biſchofswerder pflogen Umgang
mit ihm und beſuchten ihn in ſeiner Wohnung im Hotel de
Pologne. Daß er, mit Hilfe des nach ihm genannten Schre-
pferſchen Apparats, wirklich ſchemenhafte Geſtalten erſcheinen
ließ, iſt gewiß, noch gewiſſer, daß er in beſtändigen Geldver-
legenheiten war und die reicheren der vorher genannten Herren
benutzte, um auf ihre Koſten zu leben. Sie mußten Geld
geben, auf daß der Schatz gehoben werden könne.


Vielleicht daß ihr Vertrauen oder ihre Geduld eher erſchöpft
worden wäre, wenn er es nicht verſtanden hätte, zum Theil
auf gefälſchte Empfehlungen hin, mit den hervorragendſten
Häuptern anderer geheimer Geſellſchaften ſich in Verbindung zu
ſetzen, was ihm dann, in ſeiner nächſten Umgebung, immer
auf’s Neue einen Nimbus lieh. Aus dieſer Ordens-Geheim-
Correſpondenz, die er nach den verſchiedenſten Seiten hin führte,
iſt ein Briefwechſel zwiſchen ihm und dem Profeſſor der Theo-
logie Dr.Stark in Königsberg (ſpäter General-Superinten-
dent in einem der thüringiſchen Staaten) aufbewahrt worden,
der merkwürdige Einblicke gönnt.


Dr. Stark, ein Theologe von gründlichſter Bildung, eröff-
nete die Correſpondenz und ſchrieb unterm 30. Juni 1773 aus
Königsberg: „Mein ſehr werther Freund und Bruder. Nach
dem Wenigen, was mir von Ihnen bekannt worden iſt,
müßte mich mein Geiſt ſehr trügen, und die Siegel, die unſer
Orden ſeinen Geweihten aufgedrückt hat, verwiſcht ſein: oder
ich muß in Ihnen einen Mann finden, der Eines Urſprun-
[302] ges mit mir iſt
und mit mir zu Einem Zwecke geht.
Und deren ſind nicht viele unter den Maurern.
Trüge ich mich, ſo falle Nacht und Finſterniß auf das, was
ich ſagen werde. Sind Sie es aber, ſo grüße ich Sie in der
heiligen Zahl von Drei, Sieben und Zehn und durch die ſieben
Geiſter Gottes.


Sind Sie tiefer als ich ins Heiligthum geführet, ſo
nehmen Sie mich als einen lehrbegierigen Schüler an …
Sonſt laſſen Sie uns Beide auf dem vor der Welt und ſo
viel Tauſend Maurern verdeckten Wege gehen. Die wahre
Weisheit liebt das Verborgene. Nur in der Dunkelheit iſt das
unzerſtörliche Licht. Ich kenne, mein Bruder, Florenz
Sie können zu mir reden … An einem grünen Flecken im
rothen Lack des Wappens können Sie es erkennen, daß mein
Brief nicht geöffnet geweſen.


Aber laſſen Sie mich noch eine Bitte thun: Zerſtören
Sie noch nicht eine Art von Maurerei
in Deutſch-
land, unter deren Maske Brüder verborgen lie-
gen
, die dieſen Brüdern ſelbſt unbekannt ſind, die Sie aber
gewiß ſchätzen und lieben würden, wenn Sie ſie näher kennen
ſollten. Unſere Macht und Gewalt iſt lieblich, ein Feuer, das
nähret und nicht zerſtöret.


Ihr aufrichtiger Freund und Bruder
der „Verfaſſer der Apologie“ (Stark).“


Hierauf antwortete Schrepfer, der bei aller Begabung den
Cafetier doch nie verläugnen konnte, unterm 29. Juli folgen-
den Bombaſt: „Mein werther Freund und Bruder. Dero an
mich abgelaſſenes Schreiben habe richtig zu erhalten die Ehre
gehabt. Der große Baumeiſter der Gottheit der Allmacht gehe
vor uns über mit ſeiner Gnade! So thue ich denn als Schotte
der Erkenntniß und Gewalt aus Schottland in den Thurm
den erſten Schritt, denſelben die Wahrheit zu melden. Zer-
brechen Sie Ihr † aus Florenz, lernen Sie dafür erkennen
5. 7., daß ich wirklich bin S. W. O. V.


[303]

Iſt Wismar nicht ſträflich, daß ſie auf mein wiederholtes
freundſchaftliches Betragen nicht mehr Aufmerkſamkeit bezeiget?


Was ich vor jetzt ſchreibe, ſchreibe ich auf Ihre Pflicht.
Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, denn der Ort der wahren ME
iſt heilig für den Buſch. Fünf ſtarben, der 6te ging in Feuer
über, ſtehet die Säule ſo (unleſerliches Wort) im Morgen, die
7 Siegel thun ſich auf, und erkennen die Wahrheit der Gott-
heit. Verflucht ſei, der den Namen ſeines Gottes mißbraucht!
Der Herr iſt heilig und gerecht. Mein Bruder, wenn Sie
wirklich der ſind, der die 11 in der Wahrheit kennet, da doch
durch 12 gerichtet wird, warum kennen Sie nicht S. W.?
War England nicht gerecht, ließ es Ihnen nicht ihre Freiheit;
warum ſuchten Sie aber von dem einen Wege in den anderen
zu fallen? Sind nicht Warnungen genug an die ſtrikte Ob-
ſervanz ergangen? Wenn ich meine Brüder bei der Vernunft
überführe, und ſelbigen die Unſterblichkeit der Seele beweiſe, ſo
folge ich den wahren Pflichten B. I. I. Soll Gewalt dem
Schwachen weichen, wenn der Schwache nur Bosheit in ſeiner
Seele beſitzt, wurde das Schwert nicht eingeſteckt, da es ſchon
geſiegt hatte?


Glauben Sie, mein Bruder, wenn ich gleich nach Dres-
den gegangen, ſo wäre jetzo Alles ruhig und zufrieden; aber
Leipzig, da wo nur Tugend und Wiſſenſchaften blühen ſollen,
iſt eine in Schleier gehüllte Buhlerin. Kennen Sie wirklich
die Off. I.?


Ich kenne Purpur ganz roth, das innerſte der Sonne
gelb, blau, heilig
und gerecht, unter dem Namen des
Lammes
. I. V. N. D. I. K.


Um mich noch mehr zu erklären, erwarte Dero Antwort,
und empfehle Sie dem Schutz des Unerſchaffenen.


N. S. Mein Bruder. Sie haben es mit E—land und
Sch—land richtig getroffen; [nur] den Sitz des Thurmes haben
Sie mir nicht gemeldet. Erhalte ich einen Brief von Ihrer
Hand und Namen, ſo thue mir der Herr dies und das, ſo ich
ihn nicht unter meiner eigenen Hand beantworten will.


[304]

Nehmen Sie den Spiegel und ſehen nach dem Licht. Wenn
der Blitz fähret, ſo blendet er, aber dem Weiſen iſt er klar wie
tauſend Jahr.


Joh. Geo. Sch—r,
S. d. E. u. G.
(Schotte der Erkenntniß und Gewalt).


Daß ein Mann wie Stark durch ſolchen mit Effronterie
vorgetragenen Galimathias geblendet werden konnte, iſt nicht
anzunehmen, auch kam die Correſpondenz über dieſen einmaligen
Briefaustauſch nicht hinaus. Aber Schrepfer hatte doch das
Eine Gute davon, daß er auf das Handſchreiben eines, in
beſonderem Ordens-Anſehen ſtehenden, die höchſten Ordens-
Ehren in ſich vereinigenden Mannes hinweiſen konnte. Und
das genügte ihm. Er ſuchte neue Mittel nach, „um den Schatz
zu heben,“ und Leipzig, das er ſo undankbar als „Buhlerin“
bezeichnete, gewährte ſie immer auf’s Neue.


Endlich indeß, ſo ſcheint es, war die Geduld erſchöpft,
die „Erſcheinungen“ kamen, während der Schatz beharrlich
ausblieb und Schrepfer empfand zuletzt, daß ſeine Situation
unhaltbar geworden ſei. Aber wenigſtens mit einem Knalleffect
wollte er ſcheiden.


An einem der letzten Meßtage, am 7. October 1774 lud
er Biſchofswerder und Hopfgarten, nebſt noch zwei anderen,
zum Abendeſſen ein. Als ſie beiſammen waren, ſagte er:
„Dieſe Nacht legen wir uns nicht zu Bett, denn morgen mit
dem Früheſten, noch vor Sonnenaufgang, ſollen Sie ein ganz
neues Schauſpiel zu ſehen bekommen. Bis jetzt hab ich Ihnen
Verſtorbene gezeigt, die ins Leben zurückgerufen wurden; mor-
gen aber ſollen Sie einen Lebenden ſehen, den Sie für todt
halten werden.“ Nach dieſen Worten legte er ſich aufs Sopha
und ſchlief feſt. Als der Tag anbrach, ſtand er auf mit den
Worten: „Nun, meine Herren, iſt es Zeit, daß wir gehen;“
und alle begaben ſich nach dem Roſenthal. Schrepfer, der auf
dem Wege die vollkommenſte Gemüthsruhe zeigte, wies ſeinen
Begleitern, als ſie an einer beſtimmten Stelle angelangt waren,
[305] ihre Plätze an, indem er zu ihnen ſagte: „Rühren Sie ſich
nicht von der Stelle, bis ich Sie rufen werde; ich gehe jetzt in
dieſes Gebüſch, wo Sie bald eine wunderbare Erſchei-
nung
ſehen ſollen.“ Er entfernte ſich und bald darauf fiel
ein Schuß; im Dickicht fanden die Herren ihren Propheten todt.
Er hatte ſich mit einem Taſchenpiſtol erſchoſſen.


So viel über Schrepfer, in dem ſich die Lug- und Trug-
Geheimbündelei, die ideenloſe und karrikirte Entartung des
Ordensweſens verkörperte. Wir haben in den kurzen Lebens-
abriß, den wir von ihm gegeben, den Briefwechſel zwiſchen ihm
und Dr. Stark mit beſonderem Vorbedacht eingeſchoben, um
einen Gegenſatz und dadurch zugleich einen Uebergang zu ſchaffen
zu jenen ernſteren Beſtrebungen, die, wie befangen auch in
Menſchlichkeiten, doch ein Princip vertraten und zugleich
jene Sache ſelbſt waren, von der Schrepfer nur die Carri-
katur bildete.


Von dieſen ernſteren Beſtrebungen in dem folgenden
Capitel.


2.
Illuminaten und Roſenkreuzer.


Ei, Poſſen, das iſt nur zum Lachen;
Sei nur nicht ein ſo ſtrenger Mann!
Sie muß als Arzt ein Hokuspokus machen.
„Fauſt.“

Der Hang nach Macht, der im abſoluten Staate (außer
im Dienſte deſſelben) keine Befriedigung fand, ſchuf, ſo ſagten
wir, die Geheimbündelei überhaupt; der Hang nach Freiheit,
der im abſoluten Staate begreiflicher Weiſe nicht beſſer fuhr,
als jener, ſchuf eine beſondere Abzweigung, eine ideale Blüthe
der Geheimbündelei: den Illuminaten-Orden. Dieſer
Orden, ſeinen gedanklichen Kern angeſehen, war kaum etwas
Fontane, Wanderungen. III. 20
[306] Anderes als ein modificirter, vielleicht ein potenzirter Freimau-
rer-Orden, hätte alſo allen Anſpruch darauf gehabt, neben
dieſem zu leben und zu wirken (in der That wurde auch um
1780 eine Vereinigung beider erſtrebt); die beſonderen Umſtände
aber, unter denen der neue Orden ins Leben trat, ſeine Rüh-
rigkeit, ſeine Aggreſſion, ſeine Uebergriffe führten raſch zu ſei-
nem Untergange, nachdem er, etwa ein Jahrzehnt lang, eine
hervorragende politiſche Rolle geſpielt und ſich als ein ächter
Repräſentant jener Freiheitsſtrömung gezeigt hatte, die damals
durch Europa ging.


Der Stifter des Ordens war Adam Weishaupt, der, 1748
zu Ingolſtadt geboren, an der Univerſität ſeiner Vaterſtadt
ſtudirt und 1775 ebendaſelbſt die Profeſſur des Natur- und
kanoniſchen Rechts erhalten hatte. Schon als Student — es
lag eben in der Zeit — hatte ihn die Stiftung eines Ordens
beſchäftigt; jetzt, gereifter, entwarf er die Statuten für den
Orden der „Perfectibiliſten,“ die dann ſpäter den mehr bezeich-
nenden und beſſer ſprechbaren Namen der Illuminaten
annahmen. Die Gründung des Ordens erfolgte 1776. Weis-
haupt ſelbſt bezeichnete als Aufgabe deſſelben: „Selbſtdenkende
Menſchen aus allen Welttheilen, von allen Ständen und aus
allen Religionen, durch ein gegebenes höheres Intereſſe in ein
einziges Band dauerhaft zu vereinigen und ſie dahin zu leiten,
aus wahrer Ueberzeugung und von ſelbſt zu thun, was kein
öffentlicher Zwang, ſeit Welt und Menſchen ſind, je bewirken
konnte.“ In einem Briefe gab er ſich noch deutlicher und
zuverſichtlicher: „Der Endzweck des Ordens iſt, daß es Licht
werde und wir ſind die Streiter gegen die Finſterniß.
In fünf Jahren ſollen ſie erſtaunen, was wir gethan haben.
Merken Sie ſich’s, der Endzweck des Ordens iſt, frei zu ſein.
Wenn ſich Alles ſo fortentwickelt, wie ſeit einiger Zeit, ſo gehört
in Kurzem unſer Vaterland uns. Habe ich einmal den Grund
des Baues feſtgeſtellt, ſo mag geſchehen was wolle. Man wird
dann, auch wenn man wollte, nicht mehr im Stande ſein, die
Sache zu Grunde zu richten.“


[307]

Die erſten Erfolge des Ordens entſprachen dieſer Zuver-
ſicht; viele vornehme, gelehrte und rechtſchaffene Männer traten
ihm bei, darunter Knigge (1780), der alsbald eine beſonders
umſichtige und energiſche Thätigkeit zu entfalten begann. Aber
dieſe Blüthe, ſo raſch ſie gezeitigt war, ſo raſch ging ſie vor-
über. Knigge und Weishaupt, von verſchiedenen Anſichten gelei-
tet, entzweiten ſich; der erſtere trat zurück, mit ihm eine An-
zahl Mitglieder, und ſo in ſich geſchädigt und zerfallen, erlag
der Orden dem Sturme, der jetzt von außen her ihn traf.
Alles Illuminatenthum wurde in Baiern (das den Hauptſitz
bildete) verboten und Weishaupt 1785 ſeines Amtes entſetzt.
Er fand bei dem Herzoge Ernſt von Gotha Aufnahme; aber
der Orden ſelbſt erlag der ſtaatlichen Obergewalt, die ihn, mit
Proceſſen und Strafverfügungen energiſch vorgehend, wie einen
Brand austrat.


So viel über die Illuminaten. Ein kurzes Leben. Sehr
wahrſcheinlich, daß dieſer Orden, wie ſo viele andere Verbin-
dungen jener Zeit, ohne Sang und Klang und ohne ein Blatt
in der Geſchichte vom Schauplatz abgetreten wäre, wenn er nicht
während der kurzen Dauer ſeiner Exiſtenz eine Gegenſtrö-
mung
hervorgerufen hätte, die, berühmter werdend als der
Illuminatenorden ſelbſt, dieſem alsbald einen Reflex der eigenen
Berühmtheit lieh. Mit anderen Worten, das Illumina-
tenthum
wäre vielleicht vergeſſen, wenn nicht der geheimbünd-
leriſche Drang ſofort einen feindlichen Bruder geboren hätte.
Dies waren die Roſenkreuzer; ein alter Name, aber eine
neue Sache.


Wir beginnen mit einem hiſtoriſchen Rückblick.


Die Roſenkreuzer waren eine alte alchymiſtiſche Verbrüde-
rung, die weit in die Geſchichte zurückgeht. Ihr Stifter war
Frater Roſenkreuz, ein Deutſcher, wie ſein Name bezeugt. Daß
ein ſolcher Mönch wirklich gelebt und mit ſeinen Adepten die
Goldmachekunſt getrieben habe, ſcheint unzweifelhaft; über dieſe
einfache Thatſache hinaus aber hüllt ſich alles in Nebel und die
Geſchichte vom Tode und von der Wiederauffindung des alten
20*
[308] Roſenkreuz giebt ſich nicht einmal die Mühe, ihren Fabel-Cha-
rakter zu verbergen. Dieſe Geſchichte lautet wie folgt:


Frater Roſenkreutz, nachdem er ſeiner Reiſen durch
Arabien und Afrika und ſeines vieljährigen Verkehrs mit den
„afrikaniſchen Weltweiſen“ müde geworden war, begab ſich nach
England und wohnte nicht weit von London, woſelbſt er eine
unterirdiſche Höhle errichtete und ein Buch ſchrieb, worauf er
G. L. ſtatt des Titels ſetzte. Sein Vetter Benedict Roſenkreutz
war gemeiniglich um ihn. Dieſem befahl er, bei Ablegung
eines großen Schwurs, daß er nach ſeinem Tode ſogleich das
Gewölbe zuſchließen und eine beſtimmte große Tafel davor
ſetzen ſollte, worauf die Namen ſeiner Schüler ſtanden; den
Zugang ſelbſt ſollte er mit Erde verſchütten. Alles dies geſchah
mit der größten Genauigkeit, ſo daß man von Roſenkreutz
nichts weiter hörte. Ueber dieſer Höhle ſtand aber ein ſehr
alter Akazienbaum, unter deſſen Schatten Roſenkreutz öfters
ſeinen Gedanken nachgehangen. Nach 120 Jahren fiel einem
Bauern ein, dieſen Baum umzuhauen und ſeine Wurzeln aus-
zugraben. Er kam an Steinplatten, nahm eine nach der andern
fort und eh er ſichs verſah, fiel er in eine Höhle 15 Fuß
tief
in die Erde hinein. Kaum hatte er ſich von ſeinem Fall
und Schrecken erholt, ſo wurde er gewahr, daß dieſe unter-
irdiſche Gruft erleuchtet war, und ein alter, ehrwürdiger
Mann vor einem Tiſche ſaß und in einem Buche las. Als er
(der Bauer) ſich nun einen Schritt näherte, erhob ſich der Alte,
der einen Stab in Händen hielt. Bei dem zweiten Schritt
hob er ſeinen Stab in die Höhe, bei dem dritten ſchlug
er ſo gewaltig auf die Lampe, daß ſolche zerbrach und erloſch.
Der Bauer ſtürzte vor Schreck nieder; ſo fand man ihn und
hörte ſeinen Bericht. Zugleich fand man eine Leiche, die ein
Buch in Händen hielt. Dies letztere war das Buch Roſen-
kreutzers
, das alle Weisheit, die Ausbeute ſeines Lebens,
ſeiner Studien enthielt.“


So die Erzählung von Frater Roſenkreutz und ſeinem
Weisheits-Buch. Dies Weisheits-Buch, auf das es ankam,
[309] gaben nun die modernen Roſenkreuzer, die wir gleich näher
charakteriſiren werden, als ihren Beſitz aus; es ſei ihnen auf
räthſelhafte Weiſe zu Händen gekommen und um den Verdacht
oder den Vorwurf der Modernität von ſich abzuſtreifen, nann-
ten ſie ſich, eben auf die vorgeblich alte Weisheit geſtützt, die
Roſenkreuzer alten Styls. Ihr Spruch war: Lux in Cruce et
Crux in Luce
. Die Welt erkannte ſehr bald (und ſie ſollte
es auch erkennen), daß die ſich ſo nennenden Roſenkreuzer
alten Styls mit den wirklichen Roſenkreuzern alten Styls
nichts gemein hatten und mit Fug und Recht durfte Dr.Sem-
ler
, der „Vater des Rationalismus,“ von Halle aus ſchrei-
ben: „Seit einiger Zeit haben wir von einer jetzt fort-
dauernden
Roſenkreuzerei ſo manche wichtige Nachrichten, Nach-
richten, aus denen wir erkennen können, daß eine große Partei
mit gewiß weit ausſehenden Abſichten, die Magie und Alchemie.
nur als Maske benutzt. Ein „Hirtenbrief“ dieſer Roſenkreu-
zer, der mir vorliegt, iſt ein auffallender Beweis von der drei-
ſten und entſchloſſenen Denkungsart dieſer geheimen Partei,
welche ganz merklich es auf eine öffentliche Revolution
im Sinne des Rückſchritts abſieht. … Die Hiſtorie kann es
am gewiſſeſten darthun, daß dieſe jüngeren Roſenkreuzer ganz
andere Leute ſind als die alten, die kein papiſtiſches
Mitglied unter ſich duldeten
.“


Im Weſentlichen hatte es der alte Rationaliſt hier richtig ge-
troffen; ob Papismus und Jeſuitismus dahinter ſteckten, war damals
fraglich und iſt fraglich geblieben, aber um Reaction, um einen
Kampf gegen die Neologen und Ideologen, gegen die Aufklärer
und Freimaurer, gegen die Demokraten und Illuminaten han-
delte es ſich allerdings; die alten Elemente in Staat und
Kirche, ganz wie in unſern Tagen, nahmen einen organiſirten
Kampf gegen den Liberalismus in allen ſeinen Geſtalten und
Verzweigungen auf. Nur die Organiſation war verſchieden,
heute öffentlich in Kammer, Lehrſtuhl, Preſſe, damals
geheim in Orden und Brüderſchaften. Jede Zeit hat ihre
Kampfesformen; der Kampf bleibt derſelbe.


[310]

Wie recht der alte Semler hatte, darüber gaben die trotz
aller Vorſicht und Geheimthuerei nach und nach in die Oeffent-
lichkeit dringenden Schriften des modernen Roſenkreuzerthums
die beſte Auskunft. Umkehr, Abſolutismus, Orthodoxie — das
war ihr Inhalt. Wir geben einige Belagſtellen zunächſt aus
der „Original-Inſtruction für die Oberen der untern Klaſſen.“


pag. 27.


Der hohe Orden, der die Sache Chriſti mit Macht
und Eifer betreibt
, weil ſie ſeine eigene iſt, hat die Größe
des Menſchengeſchlechtes ſehr am Herzen.


pag. 30.


„Der Zirkel-Director ſoll den Brüdern tiefe Ehrfurcht
gegen den Befehl Gottes einprägen, daß wir hier glauben und
dort erſt ſchauen. Er ſoll ihnen auch die gewiſſe und freudige
Hoffnung machen, daß, bei zunehmendem Wachsthum im Orden,
ihr Glaube viele ſtarke Stützen erhalten und ſie manches, ihnen
jetzt noch Unbegreifliche in den Geheimniſſen unſerer allerheilig-
ſten Religion mit mathematiſcher Gewißheit einſehen werden.“


pag. 88.


Der Orden kettet den Himmel an die Erde und öffnet den
verſperrten Weg zum Paradieſe wiederum. Seine höchſten Vor-
ſteher ſind, im allergenaueſten Verſtande, Freunde Gottes,
wahre Jünger Chriſti, weit über den Reſt der Sterblichen
erhaben, Meiſter über die ganze Natur, die mit der einen Hand
auf das ſiegreiche Kreuz der Verſöhnung gelehnt,
mit der andern die lange Ordenskette feſthalten.


So weit die Auszüge aus der „Inſtruction.“


Energiſcher noch traten die Grundgedanken des Ordens,
die man vielleicht am beſten mit „Umkehr zur Strenggläubigkeit
und Myſticismus“ bezeichnen kann, in einem 1782 zu Berlin
erſchienenen Buche hervor, das den Titel führte: „Die Pflich-
ten der Gold- und Roſenkreuzer alten Syſtems; von Chry-
ſophiron
.“ Dies Buch wurde bloß für die Junioren des
Ordens gedruckt und ſehr geheim gehalten. Ein Exemplar beſaß
der ruſſiſche Major Kutuſow, der (wie man glaubt eben dieſer
[311] Verbindung halber) mehrere Jahre in Berlin lebte und daſelbſt
ſtarb. Dies Exemplar wurde bei der ſtattfindenden Auction
öffentlich verſteigert, und kam dadurch in fremde Hände. In
der Vorrede zu dieſem Buche fanden ſich folgende Stellen:


pag. XIII.


Gottes Barmherzigkeit über Deutſchland hat noch kein Ende,
ſondern ſie iſt alle Morgen neu, und ſeine Treue iſt groß.
Der ewige Erbarmer hat ſich durch das Gebet unſerer gütigen
Oberen endlich erweichen laſſen. Was unſere Väter von
ſich ſtießen
, das iſt nach hundert Jahren ihren glücklichen
Kindern, iſt Uns, zu Theil geworden.


pag. XXXIX.


Gott hat Sie, hat mich, hat alle Mitglieder unſres hohen
Ordens vor Millionen Menſchen werthgeachtet, an dem para-
dieſiſchen Segen Antheil zu nehmen, den er nach ſeiner grund-
loſen Barmherzigkeit bei dem Falle Adams nicht aus der Welt
hinausnahm, ſondern ihn nur verbarg, damit diejenigen unter
den Menſchen, welche in allen Jahrhunderten der Welt es werth
würden, dieſen Segen finden und genießen könnten.


pag. XL.


Nur der iſt dieſes Segens im Orden werth, der Jeſum
Chriſtum
, den Schlangentreter, recht kennt, ſein tinkturali-
ſches Verſöhnungsblut ganz auffaſſet, und durch ſeinen ſtarken
Glauben mit ihm innigſt vereinigt iſt. Nur ſolchen gab er
Macht
, nur dieſen dreimal glücklichen Ordensbrüdern gab er
Macht, Gottes Kinder zu heißen, die an ſeinen Namen glau-
ben. Joh. 1, 12.


Und an eben dieſer Stelle (pag. XL.):


„Ich habe Ihnen hiermit genug geſagt, und ſchließe mit
den Worten Pauli 1. Korinther 16 V. 22. Wer unſern Herrn
Jeſum Chriſtum nicht lieb hat, der ſei verflucht oder Ana-
thema maharam Motha
. Das heißt: durch den großen Bann
der göttlichen Strafgerechtigkeit ausgeſetzt. Amen! Amen!
Amen!


[312]

Dieſe Schriften riefen im gegneriſchen Lager, alſo unter
Freimaurern und Rationaliſten, einen Zorn hervor, den wir in
unſren Tagen, wo dergleichen in offener Befehdung der Gegen-
ſätze jeden Tag gedruckt wird, einfach nicht faſſen können, wenn
wir nicht gegenwärtig haben, wer jene Schriften ſchrieb, wer
Chryſophiron war und welche ſtaatliche Gewalt ſchützend hinter
dieſem Orden der Gold- und Roſenkreuzer ſtand. Dies Alles
waren nicht Blaſen, die ein beliebiger Sektengeiſt warf, ſon-
dern dieſe Anſchauungen herrſchten an oberſter Stelle, drohten
in Edicten und Geſetzen beſtimmend, maßgebend für Millionen
Andersdenkender zu werden und traten ſchließlich wirklich als
Landesgeſetze in Kraft. Hinter dieſer Roſenkreuzerei ſtanden
auf länger denn 10 Jahre hin die Machthaber Preußens: der
König, Wöllner, Biſchofswerder. Chryſophiron war Pſeudo-
nym für Wöllner.


Dies wird genügen, die oben erwähnte bittere Feindſchaft
zu erklären, die durch die liberale Welt ging. In Frankreich
der Sieg des Voltairianismus bis in ſeine letzten Conſequenzen
und — in Preußen, an deſſen Spitze beinah 50 Jahre lang
der Philoſoph von Sansſouci geſtanden und der Aufklärung
eine Stätte bereitet hatte, in dieſem Preußen: Umkehr, Ge-
wiſſensdruck, Roſenkreuzerei. So lange hinter dieſer letztern
die ſtaatliche Macht ſtand, ſo lange ſie mit dieſer identiſch war,
war ein Kampf dagegen unmöglich, aber kaum daß der Sarg
Friedrich Wilhelms II. in die Gruft des Domes niedergelaſſen
war, ſo brach es hervor. An der Spitze der alte Nicolai. In
der Vorrede zum 56. Bande der „Neuen Allgemeinen deut-
ſchen Bibliothek“ führte er nunmehr über die Roſenkreuzer (die
nun freilich ein todter Percy waren) folgende Sprache:


„Sehr bald nach dem Tode Friedrichs des Großen fan-
den bei ſeinem Nachfolger Männer Gehör, welche zu mehreren
nachtheiligen Maßregeln Anlaß gaben. Dieſelben waren gro-
ßentheils durch eine geheime Macht, durch den Gold-
und Roſenkreuzer-Orden
und durch den Einfluß der
unbekannten Väter“ geleitet, welche dieſen Orden unge-
[313] fähr ſeit 1778, noch zu Lebzeiten des großen Königs, unglaub-
lich weit in Deutſchland auszubreiten wußten. Wo die „unbe-
kannten Väter“ ſich aufhielten, wußten die Ordensgenoſſen
nicht; aber wenn dunkle Winke hin und wieder gegeben wur-
den, ſo ward allemal auf katholiſche Orte gedeutet. Alle
dieſe Innern Orden verlangten blindes Vertrauen auf die
unbekannten Oberen; … der tollen Geiſterſeherei wurde
nach und nach Thür und Thor geöffnet, damit der freie Ge-
brauch der Vernunft gehemmt und nach und nach der Herrſch-
ſucht der Hierarchie und ihrer eigenen Herrſchſucht ein aus-
gedehnterer Wirkungskreis bereitet würde.


„Es iſt auch ſelbſt dem allgemeinen Publikum nicht ganz
unbekannt geblieben, welche wichtige Folgen von 1786 bis 1797
in den preußiſchen Staaten durch die Anhänglichkeit an die
Roſenkreuzer bewirkt worden ſind. Wenngleich dieſelben keines-
wegs all ihre ſchädlichen Pläne haben durchſetzen können, ſo
kann doch derjenige, der einigermaßen die Umſtände kennt, kaum
zweifeln, daß die Roſenkreuzerei auf die in die Augen
fallende Veränderung der Verfügungen in Abſicht auf die Reli-
gion (das Wöllnerſche Religions-Edict iſt gemeint) einen wich-
tigen Einfluß gehabt habe. Dank ſei es den menſchenfreund-
lichen Privatgeſinnungen König Friedrich Wilhelms II., daß
die Abſicht der Obſcuranten, alle Aufklärung auszurotten, nicht
bis zur Abſetzung der Aufklärer von ihren Aemtern, bis zu
ihrer Einſchließung in Gefängniſſe oder ihrer Verjagung aus
dem Lande fortgeſetzt ward. Es gab Leute, denen es an Wil-
len
hierzu nicht fehlte und noch weniger an Drohungen.“


Zu dieſer Sprache, mit Bezeichnungen wie „bübiſch,“
„ſchmutzig,“ „betrügeriſch“ reichlich verbrämt, war Nicolai als
Parteimann, als ausgeſprochener Widerpart, dazu als Mann,
der perſönliche Kränkungen und Schädigungen erfahren hatte,
zu gutem Theile berechtigt, — wir nachträglich haben die
Pflicht, unparteiiſcher auf das Getriebe dieſes Ordens und der
beiden einflußreichen, den Staat lenkenden Männer zu blicken,
die entweder an der Spitze des Ordens ſtanden oder doch ſeine
[314] wichtigſten, ja überhaupt die einzig wichtigen Mitglieder
waren. Ohne die Namen Biſchofswerder und Wöllner wären
die Roſenkreuzer wie ſo viele andere Orden jener Zeit ohne
Sang und Klang vom Schauplatz abgetreten.


Was wollte der Orden? wie entſtand er? Er war, ſei-
nem Kern und Weſen nach, eine Unausbleiblichkeit, weil ein
naturgemäßer Rückſchlag. Wir gedenken hier keineswegs in eine
Polemik gegen den Rationalismus einzutreten (er iſt lange der
„Uebel größtes nicht“), wir conſtatiren nur einfach eine That-
ſache, wenn wir hervorheben, daß dieſe Dinge einem beſtändi-
gen Wechſel unterliegen und daß man in den letzten Regie-
rungsjahren Friedrichs des Großen in vielen Kreiſen anfing,
der Aufklärung wenig froh zu werden. Gegenſätze, die ſich
befehden, die beide in der Natur des Menſchen ihre Wurzel
und ihre Berechtigung finden, pflegen ſich unter einander in
Herrſchaft und Obmacht abzulöſen. Dem Puritanismus folgte
Libertinage, der ſtarren Orthodoxie Friedrich Wilhelms I. folgte
der Voltairianismus der Fridericianiſchen Zeit, dem Kosmopo-
litismus folgte eine nationale Bewegung und dem Illuminaten-
thum, das überall ein Licht anzünden wollte, mußte naturge-
mäß irgend ein Roſenkreuzerthum folgen, das davon ausging:
alles Tiefe liegt nicht im Licht, ſondern im Dunkel. Das
Empfinden der Zeiten und der Individuen wird in Bezug auf
dieſe Frage immer aus einander gehen und jene Enthuſiaſten,
die überall ein Räthſel, ein Wunder, ein directes Eingreifen
Gottes ſehen, wo der Nüchternheitsmenſch einfach das Verhält-
niß von Urſache und Wirkung zu erkennen glaubt, dieſe phan-
[t]aſiereicheren, unſerer beſten Ueberzeugung nach höher angeleg-
ten Naturen dürfen mindeſtens eins verlangen: Gleichſtellung
in bürgerlicher Ehre. Es iſt nichts damit gethan, ihnen ein-
fach den Zettel „Dunkelmänner“ aufzukleben und ſie damit,
zu beliebiger Verhöhnung, auf den Markt zu ſtellen. Seinem
Kern und Weſen nach (man vergleiche oben, was wir aus Chry-
ſophirons Schriften mitgetheilt haben) war das moderne Roſen-
kreuzerthum nichts als eine Vereinigung von Männern, die,
[315] ob katholiſirend oder nicht, an den dreieinigen Gott glaubten
und dieſen Glauben dem Deismus, dem Pantheismus und
Atheismus gegenüberſtellten.


Wer will in dieſer Reactionsbewegung, die den Glaubens-
inhalt vergangener Jahrhunderte zurückverlangt, ein- für alle-
mal einen geiſtigen Rückſchritt, eine Einbuße an ideellen Gütern
erkennen? Wer hat den Muth, die Glaubenskraft des Men-
ſchen unter die Verſtandeskraft zu ſtellen? Glaube und wiſſen-
ſchaftliche Erkenntniß ſchließen einander nicht aus, und mit höch-
ſter Geiſteskraft iſt höchſte Glaubenskraft durch ganze Epochen
hin vereinigt geweſen. Das Roſenkreuzerthum hat dadurch keine
Sünde auf ſich geladen, daß es das Gegentheil von dem
wollte, was der alte Nicolai wollte.*)


[316]

Wenn wir dennoch das Auftreten des Roſenkreuzerthums
zu beklagen und ſein Erlöſchen, nach kurzer Allmacht, als ein
Glück für das Land zu bezeichnen haben, ſo liegt das in Neben-
dingen, in begleitenden Zufälligkeiten, die theils irrthümlicher-
weiſe, von den Feinden aber in wohlüberlegter Abſicht in den
Vordergrund geſtellt worden ſind, um das moraliſche Anſehen
des Gegners zu discreditiren. Wir meinen hier die Geiſter-
erſcheinungen
, den ganzen Apparat, der von den Roſen-
kreuzern in Bewegung geſetzt wurde, um einen trägen Glauben
künſtlich zu beleben.


Wegzuläugnen ſind dieſe trüben Dinge nicht, wiewohl ſie
höchſt wahrſcheinlich eine viel geringere Rolle geſpielt haben, als
man gewöhnlich annimmt. Gleichviel: man hat zu dieſen Hilfs-
mitteln gegriffen und wir perhorresciren es, daß es geſchehen.
Es war unwürdig, bei dem betrügeriſchen Schrepfer ſo zu ſagen
auf Borg zu gehen, ſeine im Dienſt der Lüge klugverwandten
Künſte in den Dienſt einer Sache zu ſtellen, die (für unſere
Ueberzeugung wenigſtens) ganz unbeſtritten einen idealen Kern
hatte. Es war ein Unrecht. Aber betonen wir dies Unrecht
nicht ſtärker als nöthig. Beurtheilen wir die Dinge aus der
Zeit heraus. Auch das ſittliche Empfinden ſtellt ſich in ver-
ſchiedenen Jahrhunderten verſchieden. Eine Politik, wie ſie der
große Kurfürſt (ein frommer, ſtrenggläubiger Mann) gegen
Polen und Schweden übte, würde heute verabſcheut werden;
damals nahm Niemand Anſtoß daran; man bewunderte nur
den klugen, patriotiſchen Fürſten; — und zu allen Zeiten ſind
Wunder gemacht worden, nicht von Betrügern (von dieſen
ſprechen wir nicht), ſondern von Prieſtern, die an einen ewi-
gen, allmächtigen und wunderthätigen Gott in aller Auf-
richtigkeit glaubten. Wie wir ſchon an früherer Stelle ſagten:
das kleine Mit-Eingreifen, das Mit-Spielen, iſt kein
Beweis für ein frivoles Sich drüber ſtellen über die transcen-
dentale Welt.



[317]

Der Hocuspocus bleibt ein Fleck an jener intereſſanten
Geheimen Vergeſellſchaftung, die durch eine ſeltſame Verkettung
von Umſtänden in die Lage kam, Preußen auf 12 Jahre hin
zu regieren, aber ein billiges Urtheil über den moraliſchen
Werth derjenigen, die damals an der Spitze dieſes Ordens ſtan-
den, wird doch nur derjenige haben, der ſich die Frage nach
dem „guten Glauben“ der Betreffenden vorlegt und gewiſſen-
haft beantwortet. Daß Biſchofswerder dieſen „guten Glauben“
hatte, haben wir in dem Capitel Marquardt darzulegen
getrachtet; in Betreff Wöllners ſteht uns das unverfänglichſte
Zeugniß zur Seite, das Zeugniß ſeines Antagoniſten Nicolai
ſelbſt. Dieſer ſchreibt über ihn: „Eine Menge kabbaliſtiſcher
und magiſcher Worte verdunkelte nach und nach ſeinen ſonſt
hellen Kopf, und ſeine irregeleitete Einbildungskraft ließ ihn
allenthalben Geheimniſſe und Wunder ſehen. Im
Jahre 1778 war er bereits ſo weit, daß er die geheime Lehre
der roſenkreuzeriſchen Philoſophie für das einzig wahre Wiſſen
hielt, für ein Wiſſen, das bald ganz allgemein werden und
alle andere Philoſophie verdrängen würde.“


So Nicolai. Die Verurtheilung der Richtung Wöllners
wird hier, unbeabſichtigt, zur Anerkennung ſeiner perſönlichen
Aufrichtigkeit. Und dies genügt uns. Wie wenig Nicolai
fähig war der Richtung gerecht zu werden, glauben wir im
Vorgehenden gezeigt zu haben.


1800 ſtarb Wöllner zu Groß-Rietz, 1803 Biſchofswerder
zu Potsdam. Das Roſenkreuzerthum ging mit ihnen zu Grabe.


[[318]]

Uetz.


Wie reizend ſind, du ſchönes Dörfchen Uetz,

Heut’ deiner Gärten Aepfelblütenreiſer,

Dein gothiſch Kirchlein, deiner Fiſcher Kietz,

Dein Pfarrgehöfte, deine Bauerhäuſer …

Die Pferde ſind zur Rückfahrt angeſpannt,

Vom Felde treibt der Kuhhirt durch die Gaſſen, ‒

Du ſchönſter Ort im ganzen Havelland,

Wer könnte je dich ungerührt verlaſſen!

Du ſchönſter Ort im ganzen Havelland,“ unter dieſem Anruf
nimmt unſer märkiſcher Poet par excellence, unſer vielbeſpöt-
telter Schmidt von Werneuchen, von jenem ſtillen Haveldorfe
Abſchied, deſſen etwas ſeltſam klingenden Namen wir an die
Spitze dieſes Kapitels geſtellt haben.


„Du ſchönſter Ort“ — wir wollen es, auf die Autorität
unſeres Freundes hin, glauben; aber ob der ſchönſte oder nicht,
der ſtillſte gewiß. Die Natur hat es ſo gewollt.


Die Havel, die auf ihrem Mittellaufe überall Seen und
Buchten bildet, ſtreckt an dieſer Stelle eine ſackgaſſenartige Ab-
zweigung, die „Wublitz,“ tief in’s Land hinein und bildet
dadurch eine Waſſergabel, die das von drei Seiten her umſchloſ-
ſene Stück Land zu einer Halbinſel macht. Auf dieſer Halb-
inſel, tief innerhalb der Gabel, liegt unſer Uetz, das, um eben
dieſer Lage willen, nur mit Hülfe einer Fähre, oder aber auf
weiten Umwegen erreicht werden kann. Beides ein Hinderniß
im Verkehr.


Eine kurze Zeit hindurch ſchien es, als ſollte das ſtille
Dorf mit in die Welt, von der es ſonſt abgeſchloſſen liegt,
hinein gezogen werden. Das war zu Ende des vorigen und
zu Anfang dieſes Jahrhunderts, wo das eine halbe Meile von
[319] Uetz gelegene Paretz, die Hauptſtadt dieſer Halbinſel, in den
Beſitz König Friedrich Wilhelm’s III. überging. Um dieſe Zeit
— der König wählte immer den Waſſerweg — wurde Uetz zu
einer vielgenannten Fährſtelle; der Fiſcher, der den Dienſt ver-
ſah, hatte ſeine goldnen Tage; an die Stelle der alten Fähr-
mannshütte trat ein reizendes Haus im Schweizerſtyl, betreßte
Röcke ſpiegelten ſich im dunklen Wublitzwaſſer, und die Dorf-
ſtraße entlang, in der bis dahin bei Regenwetter die Dung-
wagen ſtecken geblieben waren, ſchaukelten ſich nunmehr die
königlichen Kutſchen. Das war bis 1810. In den 20er und
30er Jahren flackerte es noch einmal auf, dann erloſch es ganz.
Uetz war wieder das „ſtillſte Dorf im ganzen Havelland.“


Solchem ſtillſten Platze zuzuſchreiten, wie wir jetzt thun,
hat immer einen beſonderen Reiz. Die nauener Chauſſee, die
wir halten, läuft parallel mit der Wublitz, und je nach den
Sattlungen des Weges ſchwindet Uetz und erſcheint wieder;
immer neue Verſchiebungen treten ein, und bald hinter hohen
Pappeln, bald hinter Weiden hervor ſchimmert das goldene
Kreuz ſeiner Kirche. Unſer Weg hat uns endlich bis in die
Höhe des Dorfes geführt, und nach links hin einbiegend, ſtehen
wir nach einem kurzen Marſch am Ufer des mehrgenannten
Havelarms, der ſich ſelbſt und ſeinen Zauber bis dahin vor
uns verbarg. Drüben liegt das Fährhaus. Aber der Blick
nimmt uns ſo gefangen, daß wir unſer „Hol über!“ unterlaſ-
ſen und zwiſchen ausgeſpannten Netzen auf einem umgeſtülpten
Kahne Platz nehmen, um das Bild auf uns wirken zu laſſen.


In Terraſſen baut es ſich auf: zuunterſt der Fluß, tief
und ſtill und mit den breiten Blättern der Teichroſe überdeckt;
dahinter ein Schilfgürtel, dann Obſtgärten, dann über dieſe
hoch hinaus die alten Ulmen der Dorfgaſſe, und wieder hinter
den Ulmen, am Abhang aufſteigend, die weißen Häuschen des
Dorfes, das Ganze gekrönt von zwei altmodiſchen Windmühlen,
die von dem baſtionartigen, gründoſſirten Mühlenberge aus, den
Vordergrund überblicken und ihre Flügel ſo luſtig drehen, als
freuten ſie ſich der Umſchau, die ſie halten.


[320]

Die Längslinie des Bildes folgt dem Uferrande drüben,
der zugleich der Hauptgaſſe des Dorfes entſpricht. Das Trei-
ben dieſer von Buſch- und Baumwerk dicht eingefaßten Gaſſe
entzieht ſich unſerem Auge; überall da aber, wo breite Quer-
linien die Längslinie durchbrechen, entſteht ein heller Fleck im
Dunkel und das ganze ſich fortbewegende Treiben drüben
erſcheint in dieſer Lichtung und ſchwindet wieder. Die Entfer-
nung iſt groß genug, um jeden Lärm zu verſchlingen, und ſo
kommen die Bilder und gehen wieder wie auf der glatten Fläche
einer Camera obscura. Jetzt Schnitter, die Harke und Senſe
über die Schulter gelegt, vom Felde heimwärts kehrend, jetzt
kiepentragende Frauen, jetzt hochbeladene Heuwagen, deren hel-
leres Grün in dem Dunkelgrün der Baumkronen ſchwerfällig
hin und her ſchwankt.


Die Sonne, die eben noch wie ein Glutball über dem
Windmühlenberge geſtanden hatte, ſank jetzt tiefer und ließ die
Wandfläche der Mühle wie einen dunklen Schatten erſcheinen,
den ein rothgoldener Schimmer nach allen Seiten hin umgab.
Und dieſer Schimmer, ſich bahnbrechend durch die Baumwelt
des Vordergrunds, fiel jetzt auch auf die breite Fläche der Wub-
litz, und wo ein Schwan durch dieſen glühenden Streifen hin-
durchfuhr, da überzog es ſein Gefieder wie flüchtige Röthe, die
der nächſte Augenblick wieder von ihm ſtreifte. Wohl mochten
hier die Mummeln blühen, als wäre die Wublitz ein Blumen-
beet, denn es war ein Bild wie hergeliehen aus einem Feen-
garten.


Minutenlang ſah ich ſtill in dieſen Zauber hinein, dann
richtete ich mich auf und rief mein „Hol über!“ über die Waſ-
ſerfläche hin. Aber der Ruf ſchien in dieſer Stille zu verklin-
gen. Nichts regte ſich drüben und ſchon war meine ganze
Naturbewunderung in Gefahr, im Aerger über den Fährmann
unterzugehen, als es drüben lebendig zu werden begann. Eine
hagere, mittelgroße, nach Wendenart in graue Leinwand geklei-
dete Geſtalt trat aus dem Fährhaus, machte eine Handbewe-
gung, die unverkennbar ausdrücken ſollte, „ich möchte mich
[321] ruhig verhalten,“ und löste dann langſam und mürriſch (ſoweit
ſich das aus ſeiner Haltung erkennen ließ) einen Kahn vom
Ufer und ſchob ihn, ohne Ruder, an einem zwiſchen beiden
Ufern ausgeſpannten Taue von drüben zu mir herüber.


Als der Kahn auflief, blieb ſein Inſaſſe ſtehen und ſah
mich an. Ich ihn auch. Endlich gewann er’s über ſich und
bot mir „guten Abend.“ Nach dieſer Konzeſſion von ſeiner
Seite (denn ſo ſchien er es aufzufaſſen) glaubte auch ich ein
Uebriges thun zu müſſen. Es entſpann ſich, während der Kahn
langſam wieder zurückglitt, folgende Unterhaltung:


„Guten Abend, Fährmann. Geht’s Geſchäft?“


„J, wie wird’s denn gehn?“


„Na, ich ſollte doch meinen. Da ſind erſt die Uetzer …“


„Die fahren umſonſt.“


„Und dann all’ die Dörfer, die hier hinten liegen …“


Er ſchüttelte griesgrämig den Kopf, beſchrieb mit der Hand
nach Norden hin eine Kurve und brummte: „Alles ’rum,
immer ’rum!“


„Aber die Phöbener und Paretzer werden doch nicht über
Falkenrehde fahren? Das iſt ja die Meile ſieben Viertel!“


„Das iſt es. Aber was ein richtiger Bauer is, der geht
nich über’s Waſſer.“


„Weil’s ihm zu unſicher iſt?“


„Nich doch. Es is ihm bloß ſicher, daß der Fährmann
ſein Fährgeld kriegt. Das zahlt kein Bauer, wenn er nich
muß. Und er muß nich. Eine Meile oder zwei, ihm iſt’s
all’ eins. Er braucht ſie nich zu laufen. Er nimmt ſeine
Peitſche, knipst und ruft ſeinen Gäulen zu: ‚Der Hafer is
theuer heut’; verdient ihn euch!‘ Und der uetzer Fährmann —
der mag ſehen, wo er ſeine Pacht hernimmt.“


Die Spitze des Kahns war jetzt auf dem Trockenen; ich
ſprang hinaus und fragte nach meiner Schuldigkeit. Die Taxe
war niedrig; ich gab ihm ein Stück Geld, etwa das Fünffache.
Er nahm es, ſagte nichts und erwiederte meinen „guten Abend“
durch ein Geknurr, das über ſeine Enttäuſchung keinen Zwei-
Fontane, Wanderungen. III. 21
[322] fel ließ. Die Fährleute ſind ein eigen Geſchlecht und haben
ihren eigenen Artigkeitskodex.


Ich ſchritt die Querallee hinauf, kreuzte die Dorfſtraße
und erſtieg den Mühlenberg, hinter deſſen Kamm, bereits erblaſ-
ſend, die Abendröthe ſtand. Ein ſchwacher röthlicher Schimmer
ſäumte nur noch den Himmel gegenüber. Das Dorf, die Wub-
litz waren ſtill; im Fährhaus ſchimmerte ein Licht, die Schwäne
ſammelten ſich am Schilf, die Abendglocke klang in langſamen
Schlägen über Uetz hin.


Du ſchönſter Ort im ganzen Havelland,

Wer könnte je dich ungerührt verlaſſen!

[[323]]

Paretz.


1.


Die Stätte, die ein guter Menſch betrat,
Iſt eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und ſeine That dem Enkel wieder.
Taſſo.

Von Uetz nach Paretz iſt noch eine gute halbe Meile. An
einem Sommernachmittag ein entzückender Spaziergang. Der
Weg führt durch Wieſen rechts und links; der Heuduft dringt
von den Feldern herüber und vor uns ein dünner, ſonnen-
durchleuchteter Nebel zeigt die Stelle, wo die breite, buchten-
und ſeenreiche Havel fließt. Paretz ſelbſt verbirgt ſich bis zuletzt.
Nun endlich wird der Weg ein aufgeſchütteter Damm, an die
Stelle der Obſtbäume, die uns bisher begleiteten, treten hohe
Pappeln (überall die ſpalierbildende Garde, die zu Schlöſſern
führt), und alsbald über eine zierliche Brücke hinweg, die den
Namen „Infantenbrücke“ trägt, beſchreiten wir die Dorfſtraße.
Dieſe führt mitten durch den Park, macht eine Biegung, ver-
breitert ſich, und — wir ſind am Ziel: links das Schloß, ein
langgeſtreckter, ſchmuckloſer Parterre-Bau mit aufgeſetztem nie-
drigem Stock, rechts eine Gruppe alter Eichen, und ihnen zur
Seite die gothiſche Kirche des Dorfs. Ueber die Straße hin
grüßen ſich beide, in ihrer Erſcheinung und in ihrem Eindruck
ſo verſchieden, wie die Zeiten, denen ſie angehören. Die Poeſie
fällt der älteren Hälfte zu.


Es iſt um die fünfte Stunde. Eine Schwüle liegt in der
Luft; ſelbſt das Pappellaub, das immer plaudert, iſt ſtill; das
21*
[324] Schloß blickt uns an, wie verwunſchen; ſeine Läden ſind
geſchloſſen. Nur der Vorgarten, mit kleinen gezirkelten Beeten,
hier mit Aurikeln, dort mit Reſeda eingefaßt, liegt offen da.
Wir treten ein. Der ſeltene Beſuch hat Neugierige herbeigelockt,
der Schloßdiener kommt, zuletzt er, der dieſen ſtillen Platz zu
hüten hat, — der Hofgärtner. Er begrüßt uns. Erhitzt vom
Marſch, ſprechen wir den Wunſch aus, uns erſt wieder friſch
machen zu dürfen, ehe wir in die dumpfe Kühle des Schloſſes
eintreten. So nehmen wir denn Platz auf einer Sommerbank
und plaudern.


Paretz iſt alt-wendiſch. Die Nachrichten ſind ſehr lücken-
haft. Es gehörte urſprünglich zur Kirche von Ketzin, kam dann
in den Beſitz der Arnims und Dirikes, welch’ letztere es 1658
an die Familie Blumenthal veräußerten. Die Blumenthals,
ſpäter freiherrlich und gräflich, ſaßen hier in drei Generationen,
bis Obriſtlieutenant Hans Auguſt v. Blumenthal es 1795 an
den damaligen Kronprinzen (ſpätren König Friedrich Wilhelm III.)
verkaufte. Es entſprach ganz den geſtellten Bedingungen und
Wünſchen.


Paretz von 1796 — 1806.


Dieſe Wünſche gingen vor Allem auf Stille, Abgeſchieden-
heit. Sehr bald nach ſeiner Vermählung hatte ſich der Kron-
prinz Schloß Oranienburg zum Aufenthalt auserſehen, deſſen
landſchaftlicher Charakter, beiläufig bemerkt, eine große Ver-
wandtſchaft mit dem von Paretz zeigt. Aber das Schloß daſelbſt
— damals noch viel von der Pracht aufweiſend, die ihm Kur-
fürſt Friedrich III. gegeben hatte — war ihm viel zu groß und
glänzend, und ſo kam ihm die Nachricht überaus erwünſcht,
daß das ſtille Paretz, das er zufällig aus ſeinen Kindertagen
her kannte (Obriſtlieutenant v. Blumenthal war damals Prin-
zen-Gouverneur geweſen), zu verkaufen ſei. General v. Biſchofs-
werder, von dem benachbarten Marquardt aus, machte den
Vermittler, das Geſchäftliche wurde ſchnell erledigt, und unter
des Hofmarſchalls v. Maſſow Aufſicht begann der Abbruch des
[325] alten Wohnhauſes und der Aufbau des neuen Schloſſes. Die-
ſer erfolgte, nach einem Plane des Oberbauraths Gilly, in
„ländlichem Style.“ „Nur immer denken, daß Sie für einen
armen Gutsherrn bauen,“ ſagte der Kronprinz, dem im Uebri-
gen die Vollendung des Baues ſehr am Herzen lag. Alles
wurde denn auch dergeſtalt beſchleunigt, daß der neue Gutsherr
mit ſeiner Gemahlin ſchon im Jahre 1796 einige Tage in Paretz
zubringen konnte. Um dieſelbe Zeit waren Parkanlagen in
Angriff genommen worden, und zwar durch den neu angeſtellten
Hofgärtner David Garmatter, einen Erbpächterſohn der nahen
Schweizerkolonie Neu-Töplitz, der ſeine Aufgabe mit ziemlichem
Geſchick löſte, und Natur und Kunſt vereinend in den drei
durch Landſtraßen umſchloſſenen Parkanlagen eine beſcheidene
Nachahmung der Gärten von Klein-Trianon verſuchte.


Wohl angebrachte Durchblicke ließen die landſchaftliche Fern-
ſicht frei über die üppigen Havelwieſen und Seen nach den
bewaldeten Höhen von Phöben und Töplitz. An einer anderen
Stelle ſchweifte der Blick nach dem romantiſch gelegenen Uetz,
bis weiter hinaus zu den Höhen von Potsdam. Von anderen
Standpunkten aus blickte man über die ſich ſchlängelnde Havel
nach der Stadt Werder und dem Wildpark, und zur Rechten,
tief in die flache Zauche hinein, bis an die Wälder des Klo-
ſters Lehnin. Dazu überraſchten an geeigneten Punkten kleine
bauliche Anlagen: Tempel und Pavillons, Moos- und Muſchel-
grotten. Auch die Dorfſchmiede an einer Durchſicht erbaut,
täuſchte durch eine gothiſche Façade mit Spitzbogen-Fenſtern.
Außerdem wurde ein Faſanerie-Wäldchen angelegt, und vor
und hinter dem Landhauſe ein bowling-green mit Blumen-
bouquets.


So war ein Sommerſchloß gewonnen, anmuthig, hell,
geräumig; aber in allem Uebrigen von einer Ausſchmückung,
die heutzutage kaum noch den Anſprüchen eines Torf-Lords
genügen würde. 1797 erfolgte die Renovirung der Kirche, drei
Jahre ſpäter der Neubau des Dorfes, wobei zugleich feſtgeſetzt
wurde, daß die im Giebel jedes Hauſes befindliche Stube jeder-
[326] zeit für die königliche Dienerſchaft, ebenſo ein auf jedem Gehöft
erbauter Pferdeſtall für die herrſchaftlichen Pferde reſervirt
bleiben müſſe. Seit 1797 war der Kronprinz König.


In dieſem alſo umgeſchaffenen Paretz, das bei Freunden
und Eingeweihten alsbald den ſchönen Namen „Schloß Still-
im-Land“ empfing, erblühten dem Königspaare Tage glücklich-
ſten Familienlebens. Die Familie und die Stille waren der
Zauber von Paretz.


Dieſen Zauber empfand die Königin, die wir gewohnt
ſind uns neben dem einſylbigen Gemahl als das geſprächigere,
den Zerſtreuungen zugeneigtere Element zu denken, faſt noch
lebhafter als dieſer. Sie ſelbſt äußerte ſich darüber: „Ich muß
den Saiten meines Gemüths jeden Tag einige Stunden Ruhe
gönnen, um ſie gleichſam wieder aufzuziehen, damit ſie den
rechten Ton und Anklang behalten. Am beſten gelingt mir dies
in der Einſamkeit; aber nicht im Zimmer, ſondern in den ſtil-
len Schatten der Natur. Unterlaß ich das, ſo fühl’ ich mich
verſtimmt. O welch’ ein Segen liegt doch im abgeſchloſſenen
Umgange mit uns ſelbſt!“


Zu dieſem „Umgange mit ſich ſelbſt“ war nun „Schloß
Still-im-Land“ der geeignetſte Platz, keine Straße führte
vorüber, die Ruhe, wenn man ſie haben wollte, war beinahe
unbedingt; aber man ließ ſie gern durch die Heiterkeit des
Dorfes unterbrechen.


So wurde das Erntefeſt von Seiten des Hofes alljährlich
mitgefeiert. Wir finden darüber folgende Aufzeichnungen. „Das
Feſt begann am frühen Nachmittag. Sobald die Herrſchaften
ſich von der Tafel erhoben hatten, ſetzten ſich die feſtlich ange-
thanen Schnitter und Schnitterinnen vom Amte aus in Be-
wegung. Geſchaart um ihr Feldbanner, den reichbebänderten
Kranz von Aehren und Blumen, marſchirten ſie nach dem
Takte der Dorfmuſik auf’s Schloß. Dort auf dem freien Platze
hielt der Zug und ſtellte ſich im Halbkreis auf. Der königliche
Gutsherr trat heraus, hörte die an ihn gerichtete Rede der
Großmagd an und ſchickte die Sprecherin ſodann mit der Ernte-
[327] krone hinein in’s Schloß. Nun zeigte ſich auch die Königin,
und mit dem Erſcheinen der „gnädigen Frau von Paretz“ be-
gann der Tanz. Das königliche Paar miſchte ſich in die Reihen
der Landleute, die Herren und Damen folgten und ſogar die
Frau Oberhofmeiſterin (Frau v. Voß) konnte nicht umhin, auf
dieſem bal champêtre mitzuwirken.


„Den erſten Tanz ſpielten die Dorfmuſikanten, den zwei-
ten die Garde-Hautboiſten aus Potsdam; Burſche und Mäd-
chen tanzten ſich außer Athem; dann gliederte ſich der Zug von
Neuem und bewegte ſich dahin zurück, von wo er gekommen
war — nach dem Amte. Im Dorfe mittlerweile wimmelte es
von Käufern und Verkäufern; innerhalb der eigentlichen Straße
zog ſich noch eine Budenſtraße, und inmitten dieſes Gedränges,
Einkäufe und Geſchenke machend, gewahrte man die hohen Ge-
ſtalten des königlichen Paares.“


Dieſe Erntefeſte, die bald einen Ruf gewannen, machten
das ſtille Paretz zu einem Wallfahrtsort für Nah und Fern.
Jeder Beſucher hatte Zutritt, König und Königin ließen ſich die
Fremden vorſtellen, äußerten ihre Freude über zahlreichen Zu-
ſpruch und baten: „über’s Jahr wieder unter den Gäſten zu
ſein.“ Es waren wirkliche Volksfeſte, und wohl mochte der
General v. Köckritz damals ſchreiben: „Ich habe in Paretz wie-
der allerfroheſte Tage verlebt. Wir haben uns ungemein diver-
tirt und alles Angenehme des Landlebens in ganzer Fülle
genoſſen, wobei die Jagd und Waſſerfahrt die Hauptbeluſtigung
waren. Ein beſonderer Feſttag aber war das Erntefeſt. Die
Königin miſchte ſich in die luſtigen Tänze. Hier war Freiheit
und Gleichheit; ich ſelbſt, trotz meiner 55 Jahre, tanzte mit.“*)


[328]

Im Sommer 1805 hielten ſich der König und die Köni-
gin länger in Paretz auf als gewöhnlich. Wie in einem Vor-
gefühl kommender Stürme, genoſſen ſie das Glück, das dieſer
ſtille Hafen bot, noch einmal in vollen Zügen. Man blieb bis
zum 15. October, dem Geburtstage des nunmehr zehnjährigen
Kronprinzen. Er empfing, nach der Sitte des königlichen Hau-
ſes, den Degen und die Offiziers-Uniform, und trat in die
Armee. Die Königin ſprach ermahnende Worte. Dann ſchied
ſie von ihrem lieben Paretz, das ſie nur noch einmal auf wenige
Stunden wiederſehen ſollte.


Paretz 20. Mai 1810.


Im Spätſommer des nächſten Jahres (1806) ſtanden be-
reits die großen Wetter über Thron und Land; am 14. Oktober
wurde das alte Preußen begraben; der folgende Tag war der
Geburtstag des Kronprinzen, — keinen unglücklicheren hat er
erlebt. Der Hof ging nach Königsberg; erſt im Jahre 1809
kehrte das durch Jahre der Prüfung gegangene Königspaar nach
Berlin zurück.


Der Winter verging, der ſchöne Frühling des Jahres 1810
kam; die Königin empfand eine tiefe Sehnſucht, ihr geliebtes
*)
[329] Paretz wieder zu ſehen. Wir finden darüber Folgendes: „Am
20. Mai fuhr ſie allein mit ihrem Gemahl dorthin — es ſollte
nach Gottes Rathſchluß das letzte Mal ſein! Erinnerungsvoll
begrüßten ſie die alten, traulichen Stätten, die ſie ſo oft in
glücklichen Tagen mit Freud und Wonne geſehen; nicht trennen
konnte und wollte ſie ſich von jener Anhöhe im Park, die das
Rohrhaus trägt, und die an jenem Tage eine weite Fernſicht
über den mit ſchwellenden Segeln und zahlloſen Schwanen
belebten Havelſtrom mit ſeinen Buchten und Seen, ſowie auf
die im ſchönſten Maiengrün prangenden Wieſen und Aecker bot.
Zu ihren Füßen lag das friedſame Paretz, im Grün der Bäume
halb verſteckt die Kirche. Die Sonne neigte ſich; tiefer und
länger dehnten ſich die Schatten über die Landſchaft und mahn-
ten zum Aufbruch. Aber die Königin wollte ſo lange als
möglich an dieſem ihrem Lieblingsorte verbleiben; ſie wartete
bis zum Niedergang der Sonne und ſprach dann vor ſich hin:


„Die Sonne eines Tages geht dahin;

Wer weiß

Wie bald die Sonne unſres Lebens ſcheidet.“

Auf den Wunſch der Königin, den Wagen nicht an dem ent-
fernter liegenden Schloſſe, ſondern hier an der Landſtraße be-
ſteigen zu dürfen, wodurch der Aufenthalt verlängert wurde,
war das Gefährt beim Rohrhauſe angelangt. Die Königin ſchritt
am Arm ihres Gemahls den kurzen Gang zu Füßen der Anhöhe
hinab und durch die Parkthür nach der Landſtraße.“ Das war
am 20. Mai. Am 19. Juli ſtarb ſie.


Unvergeßlich blieb dem Könige die Stätte, unvergeßlich das
Wort, das ſie hier geſprochen. Er beſuchte oft dieſe Stelle,
doch ſtets allein, ohne jede Begleitung. Zum Andenken ließ er
hier, wo ſie den Park verlaſſen und den Wagen beſtiegen, wo
ihr Fuß zum letzten Mal die Erde von Paretz berührt hatte,
eine gußeiſerne gothiſche Pforte aufſtellen.


Dieſe Pforte, wie es für ſolchen Platz ſich ziemt, entzieht
ſich faſt dem Auge. Abgelegen an ſich, an dunkelſter Stelle
des Parks, birgt ſich das Gitterthor in dichtem Akaziengebüſch;
[330] nur der Spitzbogen ragt in die Helle auf und trägt ein L. und
die Inſchrift: „den 20. Mai 1810.“


Paretz von 1815—40.


Die Stürme waren verweht; das gedemüthigte Preußen
war zweimal, unter den Klängen des „Pariſer Einzugsmarſches,“
in die feindliche Hauptſtadt eingezogen; Friede war wieder, und
die paretzer Tage brachen wieder an. Nicht mehr Tage unge-
trübten Glücks; ſie, die dieſe Tage verklärt, dieſe Tage erſt zu
Tagen des Glücks gemacht hatte, ſie war nicht mehr; aber Tage
der Erinnerung. Die Zeit heilt Alles; nur ein leiſes Weh
bleibt, das in ſich ſelber ein Glück iſt; ein klarer Spätſommer-
tag, mit einem durchleuchteten Gewölk am Himmel, ſo erſchien
jetzt Paretz.


Nach wie vor wurde das Erntefeſt gefeiert; ein Jahrzehnt
verging, ein zweites begann. Die Heiterkeit der Dörfler war
dieſelbe geblieben, auch ihre Unbefangenheit im Verkehr mit der
„Herrſchaft.“ Eine Alte, der der König im Vorübergehen
verſicherte, mit Nächſtem würden alle ſeine Kinder zu Beſuch
eintreffen, antwortete ohne Weiteres: „Die Ruſſen ooch?“
Dieſe vertrauliche Ausdrucksweiſe mußte ſich, hinter ſeinem
Rücken wenigſtens, der allmächtige Zar gefallen laſſen! Der
König hatte herzliche Freude an ſolcher Unbefangenheit und
nährte ſie durch hundert kleine Dinge, die zuletzt auch die Scheu
des Allerbefangenſten beſiegen mußten. Bei einer der Feſtlich-
keiten, die den „Ruſſen“ zu Ehren gegeben wurden, drängte
ſich des Schäfers Sohn herzu, ein unglückliches Kind, das an
beiden Füßen gelähmt war, und ſtrengte ſich an, über den
dichten Kreis der Umſtehenden hinwegzuſehen. Niemand ſah es,
nur der König. Er ließ ihn zu ſich führen, ſprach freundlich
zu ihm und gab ihm einen Platz an ſeiner Seite.


Ueberhaupt die junge Welt hatte es vor Allem gut.*)
Der König, im großen Verkehr beinahe menſchenſcheu, war ein
[331] ausgeſprochener Kinderfreund. So begegnete er einſtmals, wäh-
rend er im Schloßpark aus einem mit Pflaumen und Wein-
trauben gefüllten Körbchen aß, einem Jungen und fragte ihn,
ob er wohl eine Pflaume haben wollte. Der Junge, ein echter
Märker, ſchielte über das Körbchen hin und bemerkte: „Nee;
Plummen hebben wi alleen to Huus; wenn’t noch eene Wien-
druv’ wär.“ Der König lachte und gab. — Einen andern
hübſchen Zug erzählt Eylert. „Haſt Du ſchon mal Ananas
gegeſſen?“ fragte der König. „Nee, Majeſtät.“ — „Na,
dann iß, aber mit Bedacht. Was ſchmeckſt Du heraus?“ Der
Junge, an den die Frage gerichtet war, kaute, beſann ſich
und ſagte dann: „Wurſt.“ Alles lachte. Der König aber
bemerkte ruhig: „So trägt Jeder ſeinen Maßſtab in ſich.
Dem Einen ſchmeckt die Ananas wie Melone, dem Andern
wie Birne oder Pflaume, dieſem wie Wurſt. Er bleibt in
ſeinem Gefühlskreiſe.“ In den Speiſeſaal zurücktretend, wo
ſich ein Fenſter mit vielfarbigem Glaſe befand, fuhr er
fort: „Wer die Gegenſtände draußen durch dieſe violettfar-
bige Scheibe anſchaut, hält Alles, was er ſieht, für vio-
lett; ſo ein Anderer Alles für grün oder gelb, je nach dem
Glas, durch das er blickt. Jeder behauptet Recht zu haben,
und doch haben Alle Unrecht und des Widerſpruchs und Dis-
*)
[332] putirens iſt kein Ende. So geht’s vor Allem den Herren Theo-
logen. Jeder hat da ſein Glas.“


Derſelbe Erzähler, an anderer Stelle das paretzer Leben
während der 20er und 30er Jahre zuſammenfaſſend, giebt fol-
gende Schilderung: „Die ruhigſten und glücklichſten Stunden,
die dem Könige noch beſchieden waren, hat er in dieſem ſtillen
Haveldorfe verlebt. Alle Singvögel ſchienen im paretzer Park
ihren Lieblingsaufenthalt zu haben; über der Landſchaft lag ein
Duft, die Wieſen immer friſch, und über das Sumpfland hin
ſchritten die Störche. Der König hatte ein Auge für ſolche
Bilder. Wenn er allein ſein wollte, hier fand er, was er
ſuchte. Viele wichtige Verfügungen ſind von dieſem abgelegenen
Punkte ausgegangen. Hier ſenkten ſich tiefer und feſter in ſein
Gemüth die Lebensanſichten und Grundſätze, die den [innern]
Frieden bewahren. Sein patriarchaliſcher Sinn, hier fand er
Genüge.“


Wann er zuletzt an dieſer Stelle war, iſt nicht verzeichnet;
wahrſcheinlich im Herbſt 1839. Im Mai des folgenden Jah-
res, als mit dem Frühling draußen ein friſches Leben nicht
wiederkommen wollte, ſprach er mehr als einmal: „Wenn ich
nur nach Paretz könnte!“ Hoffte er Geneſung, oder wollte er
Abſchied nehmen von der Stätte ſtillen Glücks! Gingen ſeine
Gedanken zurück bis an den 20. Mai 1810?


Wer ſagt es? Als das nächſte Erntefeſt kam, war Alles
vorüber. Eine ſtillere Stätte hatte ihn aufgenommen, als ſelbſt
Paretz.


Paretz ſeit 1840.


Am 7. Juni 1840 war Friedrich Wilhelm III. aus dieſer
Zeitlichkeit geſchieden; Paretz, ſammt den zwei angrenzenden
Chatoulle-Gütern Uetz und Falkenrehde, fiel dem Thronfolger,
Friedrich Wilhelm IV., zu; 1862, nachdem auch dieſer aus der
Unruhe in die Ruhe gegangen war, kam der ſchöne, erinne-
rungsreiche Beſitz an den jetzigen Kronprinzen.


Die Glanztage von Paretz ſind nicht wiedergekehrt und ſie
werden kaum wiederkehren. Es bedurfte des eigenartig-ſcheuen
[333] Charakters Friedrich Wilhelm’s III., um dieſen Platz über ſich
ſelbſt zu erheben. Ein rechter „out of the way-place,“ hindert
ihn jetzt ſeine Abgeſchiedenheit eben ſo ſehr, wie ihn dieſelbe
einſt zu ungeahnten Ehren führte. Was ihn jetzt noch hält,
iſt Pietät, Haustradition; — nur das Wohlwollen der „neuen
Herrſchaft“ iſt ihm geblieben. Alle zwei Jahre, am Geburts-
tage des Kronprinzen, werden die Dorfkinder neu eingekleidet:
die Knaben erhalten des „Königs Rock“ (der Uniform des
24. Landwehrregiments nachgebildet), während die Mädchen in
ruſſiſch-grünen Tibetkleidern ihren Umzug halten.


Das Wohlwollen gegen die Paretzer iſt das alte geblieben;
aber Paretz ſelbſt iſt nicht mehr was es war. Kein Sehn-
ſuchtspunkt mehr, nur noch ein Punkt für Erinnerung und
ſtille Betrachtung.


2.


Wo nun Gras und Staude beben,
Hat in froher Kraft geblüht,
Iſt zu Aſche bald verglüht
Manches reiche Menſchenleben.
Die der Tod hinweg genommen,
Die hier einſt ſo glücklich war:
Der geſchiednen Seelen Schaar,
Nachtigall, Du hörſt ſie kommen.
Lenau.

Das Schloß in Paretz.


So ging das Geplauder. Die wachſende Schwüle des
Julinachmittags, wir empfanden ſie nicht; ein leiſer Luftſtrom
zog von der Havel her herauf und trug uns die Kühle des
Wieſengrundes und den Duft der Reſedabeete zu. Es war eine
halbe Stunde, wie ſie nur an dieſer Stelle erlebt werden
kann, hier, wo ſich Stille und Erinnerung die Hand reichen.


Wir hingen noch den letzten Worten nach, der Schloß-
diener öffnete die Läden und lüftete die Zimmer, in die wir
einzutreten hatten, als die Szene ſich plötzlich änderte. Ein
Windſtoß, jäh und heftig, fuhr durch den Park, die uns zu-
[334] nächſt ſtehenden hohen Pappeln beugten ſich, Blätter, wie
Flocken, fielen auf uns nieder, die Chauſſee herauf kam eine
Wolke von Kies und Staub und über den ganzen Himmel hin
rollte die erſte Ankündigung des Gewitters. Es war, als ob
wir erleben ſollten, daß auch dieſe Stille täuſche. Ueber-
all rollen die Donner Gottes und künden, daß kein ewiger
Friede ſei.


Einen Augenblick ſchwankten wir, ob wir von der Poeſie
des Gegenſatzes Nutzen ziehen und die ſich öffnenden Schloß-
räume, die verblaßten Zeichen ſtillen Familienglücks, bei Ge-
witterſchein in Augenſchein nehmen ſollten, aber das mahnende
Wort: „das kommt ſchwer herauf“ gab uns doch zu denken,
und nachdem erſt einmal gezweifelt und der „angebornen Farbe
der Entſchließung“ die bekannte Gedankenbläſſe angekränkelt
war, gaben wir’s auf und nahmen die Einladung an, die uns
in die Wohnung des Hofgärtners führte. Es war die höchſte
Zeit; noch trafen uns die erſten großen Tropfen; kaum unter
Dach und das Schauſpiel begann: Regen und Feuer fielen
vom Himmel nieder. Als es vorüber war, war es zu ſpät,
den Rückweg anzutreten; die Wege waren grundlos, die tiefen
Stellen unter Waſſer; wir blieben zu Nacht. Wer einregnet
und eingewittert, mög’ es immer ſo gaſtlich treffen, wie wir
im Gärtnerhauſe zu Paretz.


Ein Morgen kam, wie er nur nach ſolchem Abend kommt.
Die Sonne funkelte wie gebadet, und als die Läden des
Schloſſes ſich wieder öffneten, ſchoß das Licht hinein und lief
wie ein Blitz durch alle Räume. Das Dunſtige und Trüb-
ſelige, das ſonſt in ſolchen Räumen zu Hauſe iſt, es war wie
ausgefegt; Licht macht wohnlich, Alles ſchien bereit; es war,
als ſolle das ſchöne königliche Paar, das hier vor ſiebenzig
Jahren lebte und lachte, jeden Augenblick wieder ſeinen Einzug
halten.


Und wenn es ſo wäre, ſie würden die Stätte ihres
Glücks wenig verändert finden. Da ſind noch dieſelben Tape-
ten und Wandgemälde, dieſelben kiſſenreichen, mit Zitz über-
[335] zogenen Sophas und Ottomanen, dieſelben gemalten Papageien
und Faſanen, dieſelben Büſten und Bilder. Bilder wohl tau-
ſend an der Zahl, engliſche Stiche in Nußbaum- und Eben-
holzumrahmung, wie ſie Jeder von uns aus dem Hauſe der
Großeltern oder aus den Gaſt- und Logirſtuben der Landedel-
leute kennt. Wie dieſe Gaſtſtuben gemeinhin neben der Rum-
pelkammer liegen, ſo ſind ſie auch, in Allem, was Kunſt an-
geht, die Vorbereitung, die Etappe zu ihr. Ein junges Mäd-
chen mit Kaninchen ſpielend, ein junges Mädchen mit einem
Taubenkorb, die Grotte der Egeria, die Kaskaden von Tivoli,
ſo folgen die Blätter auf einander, abwechſelnd in Schwarz-
und in Buntfarbendruck, und alle einer Lordship oder Royal
Highness respectfully devoted
.


Tauſend Blätter, aber keines von Bedeutung, mit Aus-
nahme eines einzigen, das durch ſeinen Gegenſtand und ſeine
Schickſale ein gewiſſes Intereſſe einflößt. Es iſt dieß „die
Zuſammenkunft des preußiſchen Königspaares und des Kaiſers
von Rußland in Memel, 1802.“ Der Stich nach dieſem
Bilde iſt allgemein bekannt; hier befindet ſich das Original,
eine Arbeit Dähling’s, in Gouache ſauber ausgeführt. Schloß
Paretz iſt genau der Punkt, wo dieſes Bild ſeine Stelle finden
mußte, denn die Perſonen, die es darſtellt, ſind recht eigentlich
paretzer Perſonen, Geſtalten, die dem Schloß „Still-im-Land“
in der Epoche von 1795—1805 angehörten. Es ſind, außer
dem Kaiſer auf der einen und dem König und der Königin auf
der andern Seite, die folgenden: Prinz Wilhelm, Prinz Hein-
rich, Feldmarſchall v. Kalckreuth, Hofmarſchall v. Maſſow,
Gräfin v. Voß, General v. Köckritz, die Kammerherren v. Schil-
den und v. Buch, die Kammerdame v. Moltke und der Major
v. Jagow. Dieß Gouachebild Dähling’s, das auf der Rück-
ſeite mit drei verſchiedenen Zetteln oder Briefen beklebt iſt,
denen wir auch dieſe Notizen entnehmen, war wohl, wenn nicht
direkt im Auftrage des Hofes, ſo doch wenigſtens in der Hoff-
nung angefertigt worden, daß der Hof es erſtehen würde; die
Kataſtrophe von Jena fuhr aber dazwiſchen und ſo ging dieß
[336] Bild, das ſeinem Gegenſtande nach in das Boudoir einer Für-
ſtin oder Oberhofmeiſterin gehörte, in kleinbürgerliche Hände
über und wechſelte mehrfach ſeine Eigenthümer. Bis 1821
beſaß es Herr Asner in Berlin, dann kam es nach Schleſien,
und der letzte der drei aufgeklebten Briefzettel, womit dann
(1850) die Irrfahrten dieſes Bildes ſchließen, lautet wie folgt:
„Der gegenwärtige Eigenthümer dieſes Bildes iſt der königl.
Kreisgerichtsſekretär und Kanzleidirektor Wilhelm Heinrich aus
Glatz, zur Zeit in Breslau, bis 17. Auguſt in Berlin. Beim
Doktor Stoll in der Charité zu erfragen.“ Das Weitere ergiebt
ſich leicht. Der Kanzleidirektor, in richtiger Erkenntniß deſſen,
was er beſaß, bot ein Gemälde, das recht eigentlich ein hohen-
zollern’ſches Haus- und Familienbild war, dem König Friedrich
Wilhelm IV. zum Kauf an und hatte richtig gerechnet. Der
König gab dem Bilde ſeinen Platz: Paretz.


Die Räume des Schloſſes erlitten geringe Umwandlungen
ſeit 1805; ein Zimmer blieb völlig intakt, das Schlafzimmer.
Die Himmelbetten ſtehen noch wie damals; die Tiſche und Toi-
letten, das kleine Klavier, das die Königin ſelbſt benutzte, die
Kommoden in den Formen des erſten Kaiſerreichs, — Alles
behauptet noch die alte Stelle; auch die „Supraporten“ blieben,
die Genien und Amoretten über der Thür. Noch flattern ihre
Bänder, noch ſtreuen ſie Roſen, aber die Bänder ſind vergilbt
und die Roſen ſind verwelkt. Selbſt das Bild des Glückes
konnte die Jugend nicht wahren.


Wir treten zurück in den Park. Alles Leben und Licht.
Das Einzelne fällt, das Ganze bleibt.


Die Kirche.


Dem Schloß gegenüber, hinter einem uralten Maulbeer-
baum halb verſteckt, liegt die Kirche, ein weit zurückgehender
Bau, deſſen Alter bei den vielen Wandlungen, die er durchzu-
machen hatte, ſchwer zu beſtimmen iſt. Dabei ſtellen wir die
letzten Renovirungen, weil dieſe ſeinen Styl wenigſtens unver-
ändert ließen, nicht einmal mit in Rechnung. Eine letzte gründ-
[337] liche Wandlung erfuhr die Kirche wahrſcheinlich verhältnißmäßig
ſpät, in Jahren, da der Proteſtantismus ſchon die Oberhand
im Lande hatte; — einige Glasbilder tragen die Zahl 1539.
Um eben dieſe Zeit, ſo ſchließen wir, oder doch nicht viel
früher, erfolgte die Gothiſirung des Baues, der vorher längſt
vorhanden und, wie alle die zahlreichen Feldſteinkirchen in der
Mark, romaniſch war.


Wie jetzt das Kirchlein ſich präſentirt, ſticht es jedenfalls
ſehr vortheilhaft von dem gegenüber gelegenen Schloßbau ab,
mit dem es nur das Alleräußerlichſte und Gleichgültigſte, die
gelbe Tünche, gemein hat. Wie viel Anheimelndes in dieſer
gothiſchen Formenfülle, in dieſem Reichthum von Details, und
wie viel Erkältendes in dieſer bloß durchfenſterten Fläche, die
ſich nirgends zu einem Ornament erhebt! Eine indifferente
Alltagsſchönheit, die den Dünkel hat, keinen Schmuck tragen
zu wollen. Erſt die Phantaſie, die geſchichtskundig das Schloß
mit Leben und Geſtalten füllt, macht es uns lieb und werth,
hebt über den erſten Eindruck der Nüchternheit hinweg.


An dem Maulbeerbaum vorbei treten wir jetzt in die
Kirche ein. Wir wählen das Weſtportal. Der Eindruck beſon-
derer Gefälligkeit, den ſchon das Aeußere übt, er wiederholt
ſich hier; die Reſtaurirung iſt pietätvoll zu Wege gegangen.
Alles Anmuthige und Zierliche, Alles, was in Form oder
Farbe auch das Laienauge angenehm berühren konnte, man
ließ es der Kirche und ſorgte nur, wie es ſein ſoll, für Luft
und Licht, für Raum und Bequemlichkeit. Die nördliche Hälfte
des Querſchiffs wurde zum „Königsſtuhl,“ der Raum hinter
dem Altar, alſo der hohe Chor, zu einer Art Kunſtkammer
hergerichtet.


Um dieſe beiden Punkte dreht ſich das Intereſſe der Kirche.
Zuerſt der Chor. Mannigfach ſind die Geſchenke, womit
königliche Munifizenz ihn bedachte. Auf engem Raum drängen
ſich hier die Bilder, meiſt Jugendarbeiten des trefflichen Wach:
„Johannes der Täufer,“ „Chriſtus mit Johannes und Mat-
thäus,“ „Chriſtus auf Gethſemaneh.“ Das größte und bedeu-
Fontane, Wanderungen. III. 22
[338] tendſte aber, das ſich hier findet, iſt eine „Grablegung“ von
Schumann; die ohnmächtig niederſinkende Maria gilt als vor-
zugsweiſe gelungen. — Reich geſchmückt, wie dieſer Raum
hinter dem Altar, iſt vor Allem auch der Altar ſelbſt; eine
ſchwere, grüne Damaſtdecke, mit eingeſtickten goldenen Kreuzen,
deckt den Abendmahlstiſch; Kruzifix und Altarleuchter, größer
und reicher, als ſie ſonſt in Dorfkirchen heimiſch ſind, deuten
auf den königlichen Geber; zu Füßen des Kruzifixes aber liegt
die ſogenannte Kurfürſtenbibel, mit vielen Stichen und Bildern,
prächtig gebunden. Der breite Goldſchnitt zeigt oben und
unten, wie auch in Front, drei zierliche Aquarellbilder: die
Taufe, das Abendmahl, die Himmelfahrt, — eine Art der
Ornamentirung, der wir hier zum erſten Male begegneten. Es
ſind Arbeiten (ihrem Kunſtwerth nach unſern Porzellanmalereien
verwandt), wie ſie damals in Dresden nach berühmten Pouſ-
ſins und Caraccis gut und mannigfach ausgeführt wurden.


Durch eine Baluſtrade vom Kirchenſchiff getrennt iſt der
„Königsſtuhl.“ Er hat die Dimenſionen eines kleinen Zimmers;
die Herrichtung iſt einfach; an der Weſtwand erhebt ſich, in
das Mauerwerk eingelaſſen, eine durch den Stich mannigfach
bekannt gewordene Arbeit Schadow’s: „Die Apotheoſe der
Königin Louiſe.“ Mehr eigenthümlich, als ſchön. In ihrer
Miſchung von chriſtlicher und heidniſcher Symbolik iſt uns die
Arbeit kaum noch verſtändlich, jedenfalls unſerem Sinne nicht
mehr adäquat. Sie gehört, ihrer Grundanſchauung nach,
jener wirren Kunſtepoche an, wo der große Fritz in Gefahr
war, unter die Heiligen verſetzt zu werden, wo er im Elyſium,
mit Sternenkranz und Krückſtock angethan, die der Zeitlichkeit
entrückten preußiſchen Helden wie zur Parade empfing. Eine
Art Sansſouci auch dort oben.


Schadow, ſonſt von ſo gutem Geſchmack, vergriff ſich in
dieſem Falle, wie uns ſcheinen will, und die Inſchrift eines
von einem Engel gehaltenen Schildes gibt Auskunft darüber,
wie er ſich vergriff. Dieſe Inſchrift lautet: „Hohenzieritz, den
19. Juli 1810, vertauſchte Sie die irdiſche Krone mit der
[339] himmliſchen, umgeben von Hoffnung, Liebe, Glaube und
Treue, und in tiefe Trauer verſinken Brennus und Boruſſia.“
Wir haben hier Kunſtmengerei und Religionsmengerei,
Alles beieinander. Die Verdienſte der Arbeit ſind nichtsdeſto-
weniger bedeutend, aber ſie ſind mehr techniſcher Natur und
greifen zum Theil auf das Gebiet der Kunſtinduſtrie hinüber.


Die anderweitigen Schätze, die die paretzer Kirche, weit
über dieſe großen Schildereien hinaus, in ihrer Mitte birgt,
ſind zwei Erinnerungsſtücke, alt und neu, das eine aus der
Zeit der kirchlichen, das andere aus der Zeit der politiſchen
Umgeſtaltung, die dieſes Land erfuhr, — beinahe dreihundert
Jahre liegen dazwiſchen. Aus dem Jahre 1539 (wie die ein-
gebrannte Jahreszahl zeigt) ſtammt das Bildniß des heiligen
Mauritius, das aus dem Spitzbogen des Chorfenſters in die
Kirche hinein grüßt; zu Füßen des alten Schutzpatrons dieſer
Lande aber ſteht ein zierlicher, mit Tapiſſeriebildern verſehener
Kaſten, in dem ein blauſeidenes, ſilbergeſticktes Tuch zuſammen-
gefaltet liegt. Es iſt das Tuch, das Königin Louiſe bei ihrem
letzten Beſuch an dieſer Stelle trug. Der König, nach ihrem
Tode, breitete es, als das Liebſte, was er hatte, über den
Altartiſch, bis es, halb zerfallend in ſeinem leichten Gewebe,
durch den Damaſt abgelöſt wurde, der, mit goldenen griechi-
ſchen Kreuzen geſchmückt, jetzt dieſelbe Stelle ziert.


Aber in dem Käſtchen liegen doch, wie verkörpert, die
Erinnerungen dieſer Stätte.


Der „Tempel.“


Die Kirche von Paretz iſt ein Platz reicher Erinnerungen,
aber Paretz hat der Erinnerungsplätze mehr. Speziell der Er-
innerung geweiht iſt der „Tempel.“ Er befindet ſich in einer
verſchwiegenen Ecke des Parks, wo dieſer die Havel berührt,
und bildet einen Theil des an dieſer Stelle künſtlich aufgewor-
fenen Ausſichtshügels, der auf ſeiner Spitze einen japaniſchen
Tempel, an ſeiner weſtlichen Seite eine Rokokogrotte und nach
Süden hin eben dieſen „Tempel“ trägt.


22*
[340]

Dieſer Tempel, eine bloße Façade, die auf halbverſun-
kenen doriſchen Säulen ruht und zunächſt keinem anderen Zwecke
gedient haben mochte, als Schutz gegen Regen und Sonne zu
gewähren, ſcheint von Anfang an ein bevorzugter Platz gewe-
ſen zu ſein, wie es auch in dem laubenreichſten Garten immer
noch eine Lieblingslaube gibt, woran ſich Leid und Freud des
Hauſes knüpft: der erſte Kuß, die ſtille Verlobung, Abſchied
und Wiederſehen.


Zu ſolchem Platze wuchs der Tempel heran, und der
ziemlich nichtsſagende Bau, der bei ſeiner Anlage nichts geweſen
war, als eine Gärtnerlaune, ein Schnörkelornament, wurde zu
einer Familienſtätte, zu einem der Erinnerung geweihten Platz.


Dieß geſchah zuerſt im Sommer 1797. Im Winter vor-
her, am 28. Dezember, war Prinz Ludwig geſtorben, der
Bruder, zugleich der Schwager Friedrich Wilhelm’s (damals
noch Kronprinz), und an der bevorzugten Plauderſtelle wurde
in den Stein geſchrieben: „Er iſt nicht mehr.“


Die Jahre gingen; ſo kam der Juli 1810. In die Park-
gruft zu Charlottenburg ſenkte ſich der Sarg der Königin; in
die Tempelwand zu Paretz wurde eine graue Marmortafel ein-
gelaſſen, die nunmehr die Inſchrift empfing: „Gedenke der
Abgeſchiedenen.“ Mehr und mehr erhob ſich der Tempel zu
einer Stätte des Familienkultus; in ſeiner Front, an eben der
Stelle, wo die heimgegangene Königin ſo oft geruht hatte,
wurde ein Friedensengel mit Kranz und Palmenzweig errichtet;
der Tempel von Paretz war zu einem Vereinigungspunkt, faſt
zu einem Symbol geworden, das jedem Familiengliede das
Beſte bedeutete, was der Menſch hat: Liebe, Treue, Pietät.
In dieſem Sinne ſchrieb König Friedrich Wilhelm III. in ſeinem
Teſtament: „Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott …
Wenn dieſer mein letzter Wille meinen innigſt geliebten Kindern
zu Geſicht kommen wird, bin ich nicht mehr unter ihnen und
gehöre zu den Abgeſchiedenen. Mögen ſie dann bei dem An-
blick der ihnen wohlbekannten Inſchrift: ‚Gedenke der Abgeſchie-
denen!‘ auch meiner liebevoll gedenken.“


[341]

Und ſie gedenken ſeiner. Der 7. Juni, der Sterbetag
des Königs, iſt zu einem Gedächtnißtag geworden, und kein
Sohn oder Enkel betritt Paretz, ohne an die graue Marmor-
tafel zu treten und freiwillig zu thun, woran ihn die Inſchrift
mahnt.


Der „todte Kirchhof.“


„Gedenke der Abgeſchiedenen!“ ſo klingt es überall in
Paretz, auch über den Kreis des Schloſſes hinaus. Erinne-
rung und Pietät, die hier ihre Stätte haben, ſie haben ſie
auch in den Herzen der Paretzer; ſtill und unbemerkt üben ſie
ihren Todtendienſt; „Gedenke der Abgeſchiedenen“ durchklingt
es auch ſie.


Um die Kirche herum liegt ein Kirchhof, ein ſogenannter
„todter Kirchhof;“ der „lebende,“ die Stätte, wo begraben
wird, liegt draußen, am Rande des Dorfes.


Die alte Stätte iſt nur ein Grasplatz noch, niedergetreten,
ohne Kreuz und Stein, aber wer ſcharf zuſieht, der nimmt
bald wahr, daß hinter dieſer Verwahrloſung noch immer eine
Liebe lebt. Hier und dort wächſt eine Schwertlilie, ein Hage-
buttenſtrauch unvermittelt aus dem niedergetretenen Graſe auf,
und alle dieſe Stellen kennen die Dörfler wohl, es ſind die
Gräber ihrer Theuren, die ſie verſtohlen hegen und pflegen,
in heimlicher Liebe. Denn der Kirchhof ſoll todt ſein, der
offizielle Platz für Blumen und Thränen liegt draußen.


Aber welchem Herzen ließe ſich gebieten!


Paretz iſt eine Stätte der Erinnerung und Pietät — auch
der „todte Kirchhof.“


[[342]]

Etzin.


Es haben alle Stände
So ihren Degen werth
Der alte Derfflinger.

Sei brav,

Sei gut,

Haſt Schlaf

Und Muth.

Eine halbe Stunde von Paretz, wie dieſes hart an der
Havel, liegt Ketzin, ſchon ein Städtchen; wieder eine halbe
Meile weiter (aber nun landeinwärts) Dorf Etzin. Es von
Paretz aus zu beſuchen, verbot ſich mir; ich hatte alſo eine
eigne Fahrt, eine kleine Special-Reiſe dafür anzuſetzen. Dieſe,
per Bahn, ging zunächſt weſtlich über Spandau, Segefeld, Nauen,
von hier aus zu Fuß, ſüdlich, an den alten Bredow-Gütern:
Markée und Markau vorüber, ins eigentliche Havelland, den
breiten Streifen am rechten Flußufer, hinein. Der Leſer wolle
mich freundlich begleiten.


Mit dem Glockenſchlage 12 ſind wir auf dem Nauener
Bahnhof eingetroffen und das Straßenpflaſter mit gebotener
Vorſicht paſſirend, marſchiren wir nach 10 Minuten ſchon, an
Gruppen rother Huſaren und gelbklappiger Ulanen vorüber,
zum andern Stadtende wieder hinaus. Das weitgeſpannte
Plateau, (ein guter Lehmboden) iſt flach und hart wie eine
Tenne und wäre nicht ein fichtenbeſtandener Höhenzug, der wie
eine Couliſſe ſich vor uns aufrichtet, ſo würden wir beim Her-
austreten aus dem Nauener Thore, ſchon die ſpitzen Thürme
von Ketzin und Etzin vor uns erblicken. So aber theilt der
Höhenzug das Bild in zwei Theile und gönnt uns zunächſt
nur den Ueberblick über die nördlich gelegene Hälfte.


[343]

Die Mühlen ſtehen ſo ſteif und leblos da, als hätten ſie
ſich nie im Klappertakte gedreht. Sonntags- und Mittagsſtille
vereinigen ſich zu einem Bilde abſoluter Ruhe, und wäre nicht
der Wind, der oft umſchlagend, bald wie ein Gefährte plau-
dernd neben uns hergeht, bald wie ein junger Burſche uns
entgegen ſpringt, ſo wäre die Einſamkeit vollkommen. Die
Sonne brennt heiß und nach verhältnißmäßig kurzem Marſche
ſchon, machen wir Halt in einem der vielen Gräben, die ſich
neben der Straße hinziehen. Wie uns die kurze Raſt erquickt!
der Weidenſtamm gönnt eine bequeme Rückenlehne und die
herabhängenden Zweige ſchützen gegen den Anprall der Sonne.
Auch für Unterhaltung iſt geſorgt; das Stillleben der Natur
thut ſich auf, die Goldkäfer huſchen durch das abgefallene Blatt-
werk und die Feldmäuſe, vorſichtig und neugierig wie auf
Recognoscirung, ſtecken die Köpfchen aus den Löchern hervor,
die ſich zahllos zu beiden Seiten des Grabens befinden. In
dem Sumpfwaſſer zu unſerer Linken beginnen inzwiſchen die
Unken ihre Mittagsmelodien. Wie das ferne Schellenläuten
weidender Heerden klingt es, und zum erſten Mal verſtehn wir
die Sage von den untergegangenen Städten und Dörfern, deren
Glocken um die Mittagsſtunde leiſe nach oben klingen. Wir
lauſchen auf, aber es bangt uns mehr und mehr vor dem
unheimlich einſchmeichelnden Getöne, und raſch aufſpringend,
marſchiren wir rüſtig weiter in die brennende Mittagsſtille hin-
ein, dankbar gegen den entgegenkommenden Wind, der uns
das Geſicht kühlt und die verfolgenden Unkenſtimmen mit in
unſern Rücken nimmt. So erreichen wir bald den mit Nadel-
und Laubholz beſtandenen Sandrücken, der, als wir die Nauener
Mühlen paſſirten, wie eine Couliſſe vor uns ſtand, waten
geduldig durch den heißen mahlenden Sand des Fahrwegs hin-
durch und treten endlich aufathmend in die ſüdliche Hälfte des
Havellandes ein. Aufathmend; — denn kaum die Tannen im
Rücken, iſt es uns, als wehe uns eine feuchte Kühle an, wie
von der Nachbarſchaft eines breiten Strom’s, und doch iſt es
noch eine volle Meile bis an die Buchtung der ſchönen Havel.


[344]

Noch eine volle Meile bis an die Havel, aber nur eine
halbe Stunde noch bis nach Etzin, dem unſere heutige Wande-
rung gilt. Seine ſchindelgedeckte Kirchthurmſpitze liegt ſchon wie
greifbar vor uns, und dem Ziele unſerer Reiſe uns näher
wiſſend, ſpannen ſich jetzt die Kräfte wie von ſelber an, Friſche
kehrt zurück und noch ehe der Vorrath unſrer Wanderlieder
dreimal durchgeſungen, marſchieren wir fröhlich und guter Dinge
in das alte maleriſche Dorf hinein.


Alles verräth Wohlhabenheit, aber zugleich jenen beſcheid-
nen Sinn, der ſich in Treue und Anhänglichkeit an das Ueber-
lieferte äußert. Das Dorf iſt noch ein Dorf; nirgends das
Beſtreben in’s Städtiſche hineinzuwachſen und aus der ſchmalen
Bank unterm Fenſter eine Verande zu machen. Der Hahn
auf dem Hofe und die Schwalbe am Dache ſind noch die eigent-
lichen Hausmuſikanten und die Bauerntöchter, die eben ihr Ge-
plauder unterbrechen und mit ruhiger, nirgends von Gefallſucht
zeugender Neugier dem Schritt des Fremden folgen, haben noch
nichts von jener dünnen Penſions-Tünche, die ſo leicht wieder
abfällt von der urſprünglichen Stroh- und Lehmwand.


Die Kirche des Dorf’s (am entgegengeſetzten Ende) ent-
zieht ſich unſrem Auge, ſeitdem wir in die Dorfgaſſe eingetreten,
aber die Bilder und Scenen um uns her, laſſen uns auf
Augenblicke vergeſſen, daß es eben die Etziner Kirche und
nichts anderes war, was uns hierher führte. Die Bilder wech-
ſeln von Schritt zu Schritt. Hier ſtellt ſich ein alter Fach-
werkbau, von einem ſchmalen Gartenſtreifen maleriſch eingefaßt,
wie ein Familienhaus mitten in die Dorfgaſſe hinein und theilt
den Fahrweg in zwei Hälften, wie eine Inſel im Strom; dort
an den Zäunen entlang liegt allerhand Bau- und Bretterholz,
und die Kinder beim Anſchlagſpiel lugen mit halbem Kopf über
die Stämme hinweg. Die Arbeit ruht, die lichten Kronen der
Lindenbäume werfen ihren Nachmittagsſchatten voll und breit
auf die Dorfgaſſe, und wir ſchreiten friſch und aller Müdigkeit
baar darüber hin, als lägen Binſenmatten vor uns ausgebrei-
tet. So haben wir das Dorf paſſirt, und auf leis anſteigendem
[345] Hügel, erblicken wir jetzt wieder die Kirche zu unſerer Linken,
in die der eben herzukommende Küſter freundlich willfährig uns
einführt.


Das Innere der Kirche iſt wie das Dorf ſelbſt: ſchlicht
und einfach, wohlhabend, ſauber, eine wahre Bauerndorf-
Kirche, aber doch anders wie ſonſt ſolche Kirchen zu ſein pfle-
gen. Denn die Gotteshäuſer alter Bauerndörfer zeichnen ſich
im Gegenſatz zu den Patronats-Kirchen gemeinhin durch nichts
als durch eine äußerſte Kahlheit aus, durch die Abweſenheit
alles Maleriſchen und Hiſtoriſchen; die Generationen kamen und
gingen, kein Unterſchied zwiſchen dem Dorf und ſeinem Felde,
ein ewiger Wechſel zwiſchen Saat und Maht. Leben aber keine
Geſchichte. So ſind die Bauerndörfer und ſo ſind ihre Kirchen.
Nicht ſo Etzin. Hier war zu allen Zeiten ein hiſtoriſcher Sinn
lebendig, und ſo hat hier die Gemeinde Bildniſſe derer auf-
geſtellt, die dem Dorfe mit Rath und That voran gingen, ſein
„Wort und Hort“ waren — die Bildniſſe ſeiner Geiſtlichen.
Wenn ſich ſolcher Bildniſſe nur vier — und wenn wir von
einer Art Medaillon-Portrait neben der Sakriſtei abſehen, nur
drei — in der Etziner Kirche vorfinden, ſo liegt es nicht daran,
daß die Etziner ſeit 150 Jahren ſich jemals ihrer Pflicht ent-
ſchlagen und ihre alte Pietät verſäumt hätten, ſondern einfach
daran, daß die Etziner Luft geſund und die Etziner Feldmark
fruchtbar iſt. Die Etziner Geiſtlichen bringen es zu hohen
Jahren, und wenn wir die Inſchriften und Zahlen, die ſich
auf den betreffenden Bildern und Grabſteinen in und außer-
halb der Kirche vorfinden, richtig geleſen haben, ſo füllen die
Namen dreier Prediger den ganzen weiten Raum des vorigen
Jahrhunderts aus. Die Bilder dieſer drei Geiſtlichen, von
denen übrigens der mittlere, der Held dieſer Geſchichte, nur
ein kurzes Jahrzehnt der Etziner Gemeinde angehörte, hängen
von Bändern und Brautkronen heiter eingefaßt, links vom
Altar an einem der breiten Mauerpfeiler, und das helle
Sonnenlicht, das durch die geöffneten Kirchenfenſter von allen
Seiten eindringt, macht es uns leicht die Namen zu leſen, die mit
[346] dünnen weißen Schriftlinien auf ſchwarze Täfelchen geſchrieben
ſind. Die Namen ſind: Andreas Lentz, Auguſt Wilhelm Geel-
haar und Joachim Friedrich Seegebart. Andreas Lentz, ein
würdevoller Kopf, mit dunklem, lang herabhängendem Haar,
gehört augenſcheinlich der Zeit der erſten beiden Könige, Auguſt
Wilhelm Geelhaar aber der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts an. Er trägt eine hohe Stehkrauſe, iſt blond, roth-
backig, martialiſch, und blickt aus ſeinem Rahmen heraus wie
die Biſchöfe des erſten Mittelalters, die lieber zum Streitkolben
wie zum Meßbuch griffen. Sein Blick iſt kriegeriſch genug,
aber die Welt hat nie von ſeinen Kriegsthaten erfahren und
den Ruhm in den Gang einer Schlacht eingegriffen, und die
drohende Niederlage in Sieg gewandelt zu haben, muß er
ſeinem Amtsbruder und unmittelbaren Vorgänger an der Etziner
Pfarre überlaſſen, deſſen Bildniß jetzt neben ihm am Wand-
pfeiler hängt, und deſſen milde, faſt weiche Geſichtszüge auf
alles andre eher ſchließen laſſen ſollten, als auf den „Geiſt
Davids,“ der ihn zum Siege fortriß. Und doch war es ſo.
Joachim Friedrich Seegebart iſt es, der uns nach Etzin und in
dieſe Kirche geführt hat, Joachim Friedrich Seegebart der Sieger
von Chotuſitz. Hören wir, wie es damit zuſammen hängt.


Joachim Friedrich Seegebart, geboren den 14. April 1714
im Magdeburgiſchen (wahrſcheinlich zu Wolmirſtedt) war Feld-
prediger beim Prinz Leopold’ſchen Regiment, das vor Ausbruch
des erſten ſchleſiſchen Krieges (und auch ſpäter wohl) zu Sten-
dal in Garniſon ſtand. Er war ein Anhänger der Spenerſchen
Lehre, demüthig, voll Liebe, nur ſtreng gegen ſich ſelbſt, ein
Mann von dem man ſich einer gewiſſenhaften Wartung ſeines
Amtes, der Feſtigkeit in Wort und Glauben, aber keiner kriege-
riſchen That verſehen konnte, er ſelbſt vielleicht am wenigſten.


Die raſche Beſitzergreifung Schleſiens war Ausgang 1740
beſchloſſene Sache. Die Regimenter erhielten Marſchorder und
den 8. December brach das Regiment Prinz Leopold von Sten-
dal auf, mit ihm Seegebart. Ueber dieſen Marſch durch die
Kurmark und ſpäter durch Schleſien beſitzen wir intereſſante
[347] Aufzeichnungen von Seegebarts eigener Hand. Am 11. März,
nach längerem Aufenthalt in Berlin betrat das Regiment ſchle-
ſiſchen Boden, zeichnete ſich bei der Erſtürmung von Glogau
aus, focht bei Molwitz und bezog im October das Winter-
quartier in Böhmen. Hier blieb es in Reſerve, während der
König in Mähren einrückte. Erſt im Frühjahr 1742 vereinigte
ſich das Regiment wieder mit der aus Mähren zurückgehenden
Haupt-Armee und war mit unter den Truppen, die am
17. Mai 1742 der öſterreichiſchen Armee unter dem Prinzen
Karl von Lothringen bei Chotuſitz eine Viertelmeile von Czas-
lau gegenüber ſtanden.


Dieſer Tag von Czaslau oder Chotuſitz iſt der Kriegs- und
Ehrentag unſres Seegebart. Gegen 8 Uhr Morgens begann
die Schlacht, die öſtreichiſche Infanterie eröffnete den Angriff,
und warf ſich auf den rechten preußiſchen Flügel, litt aber,
durch Kanonen und Klein-Gewehr-Feuer ſo ſtark, daß einzelne
Regimenter den Rücken kehrten, und, trotzdem ſie von ihren
eigenen Officieren in kaum glaubhafter Anzahl niedergeſtochen
wurden, nicht wieder zum Stehen zu bringen waren. Jetzt
ſollten Kavallerie-Chargen die Scharte auswetzen. Mit großem
Ungeſtüm ſchritt man zur Attacke; aber vergeblich. Mal auf
mal wurden die Chargen abgeſchlagen und die rückgehenden
Regimenter ſchließlich mit ſolcher Vehemenz verfolgt, daß die
dahinter aufgeſtellte Infanterie mit in die Flucht verwickelt und
zum Theil niedergemacht, zum Theil über das Feld hin zer-
ſtreut wurde.


So ſtanden die Dinge am rechten Flügel, zum Theil
auch im Centrum. Alles ließ ſich glücklich an und ſchien einen
raſchen Sieg zu verſprechen; aber völlig entgegengeſetzt ſah es
am linken Flügel aus, wo unſer Seegebart auf einer kleinen
Fuchsſtute im Rücken ſeines Regiments hielt. Hier ſtanden
6 Bataillone in Colonne und zwar in Front 2 Bataillone
Prinz Leopold, dahinter einzelne Bataillone der Regimenter La
Motte, Schwerin, von Holſtein und Prinz Ferdinand. Das
Unglück wollte, daß der Angriff der Oeſtreicher eher erfolgte,
[348] als die Aufſtellung der Preußen, inſonderheit ihrer Cavallerie
beendigt und geordnet war, und ſo wiederholte ſich hier zu
Ungunſten der Preußen dieſelbe Scene, die ſie am entgegen-
geſetzten Flügel, ihrerſeits ſiegreich durchgeführt hatten. Die
preußiſchen Dragoner wurden geworfen, die Infanterie-Colonnen,
zumal die in Front ſtehenden Bataillone Prinz Leopold mit in
den Wirrwarr hineingeriſſen und endlich alles in wildem Durch-
einander durch das brennende Dorf Chotuſitz hindurch gejagt.
Reſerven rückten vor und nahmen den Kampf wieder auf, aber
im ſelben Augenblick ſtoben, wie durch ein böſes Ohngefähr,
vom entgegengeſetzten Flügel her, die flüchtigen Reitermaſſen
heran, die dort dem Vordringen der Preußen hatten weichen
müſſen, und nun eben rechtzeitig genug erſchienen, um dem
ohnehin ſiegreichen Stoß der Ihrigen eine geſteigerte Wucht zu
geben. In dieſem Augenblick äußerſter Gefahr war es, wo
der kriegeriſche Geiſt in unſerem Seegebart plötzlich lebendig
wurde und zunächſt den Kampf wiederherſtellend, endlich alles
zu Heil und Sieg hinaus führte. Seegebart ſelbſt hat dies
ſein Eingreifen in den Gang der Schlacht mit ſo viel Anſchau-
lichkeit und Beſcheidenheit geſchildert, daß es wie geboten
erſcheint, ihn an dieſer Stelle mit ſeinen eigenen Worten ein-
zuführen:


„Als unſer Regiment nun retirirte und zum Theil mit
feindlicher Cavallerie und Grenadiers vermiſcht war, jug ich
ſpohrenſtreichs hin und wieder durch daſſelbe und redete den
Burſchen und Offiziers beweglich und N. B. recht ernſtlich zu,
daß ſie ſich widerſetzen und faſſen ſollten. Einige ſchrieen mich
gleich an mit einem lauten: Ja! und waren bereit und willig,
wurden aber von der andringenden Macht verhindert, kamen
aber doch wieder zu ſtehen. Als ich dieſes that, flogen mir die
Kugeln ſo dick um den Kopf als wenn man in einem Schwarm
ſauſender Mücken ſtehet, doch hat Gottlob mich keine, auch
nicht einmal den Roquelour verletzt. Ein Burſch hat mein
Pferd in dieſem Lärm mit dem Bajonette erſtechen wollen; aber
ein anderer hat es ihm weggeſchlagen. Bis hierher hatte ich
[349] nur zu den Leuten unſres Regiments geſprochen, ich ſammelte
jetzt aber einige Escadrons Cavallerie, die in Confuſionen
waren, vom linken Flügel, brachte ſie in Ordnung, und ſie
attaquirten in meiner Gegenwart die feindliche Cavallerie und
repouſſirten ſie. Ich war ſo dreiſt, daß ich mich an General
und Obriſten machte, ſie bei der Hand faßte, und im Namen
Gottes und des Königs bat, ihre Leute wieder zu ſammeln.
Wenn dies geſchehen, ſo jug ich hin und wieder durch und
trieb die Leute dahin, wo ſie ſich wieder zu ſetzen anfin-
gen. Ich brauchte allerley Beredſamkeit und man folgte mir
in allen Dingen. Ich wundere mich, daß die ſchweren Pferde
meinen kleinen Fuchs nicht zertreten haben, aber es ſchien, als
wenn alles vor mir auswiche und mir Platz machte. Ich that
und redete als ein Feldmarſchall und bemerkte augenblicklich die
Impreſſion von meinem Zureden und Vorſtellungen an der
Leute Gebehrden und Gehorſam. Mein Gemüth war Gott
ergeben, und in einer guten Faſſung, und ich habe in eigener
Erfahrung damahlß gelernet, daß das Chriſtenthum reſolut und
muthig macht auch in den verworrenſten Begebenheiten. Auch
den Feind zu verfolgen war mir ſchließlich geſtattet. Ich
ſammelte noch einmahl einen großen Haufen fliehender Caval-
lerie, zum Theil von unſern linken und rechten Flügel, wohl
eine Viertel-Meile vom Champ de Bataille, welches mir wohl
große Mühe machte, aber doch endlich gelungen, und führte ſie
zurück bis an den gedachten Champ, wo ſie auch ſogleich, weil
ſich die Bataille indes geendet, dem Feinde nachging und ihn
verfolgte. Die Cavallerie ſo ich geſammelt und die ſogleicht
auf meine Vorſtellung wieder zu agiren anfing iſt über 20 Es-
quadrons geweſen. Gott ſei gelobet der mir Davids Muth
und Sinn gegeben.“


Soweit die Darſtellung Seegebart’s ſelbſt. Der Vorgang
machte Aufſehen bei Freund und Feind und wurde, ausgeſchmückt,
und oft bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, in Zeitungen und
fliegenden Blättern erzählt. Jordan ſchrieb ſchon, zehn Tage
nach der Schlacht, von Berlin aus an den König: „Hier
[350] möchte alle Welt wiſſen, wer der Unbekannte geweſen ſei, der
ſich mit ſo viel Bravour an die Spitze einiger Escadrons ſetzte
und durch raſches Eingreifen zum Siege mitwirkte. Es heißt,
Ew. Majeſtät hätten nach ſeinem Namen gefragt, der Ange-
redete habe ſich aber geweigert ſein Incognito aufzugeben. Der
große König (der damals noch mehr jung als groß war und
Anſtand nehmen mochte einem einfachen Feldprediger einen
weſentlichen Antheil am Siege zuzuſprechen) fand es angemeſſen,
in ſeinem Antwortſchreiben die ganze Angelegenheit als eine
Fabel zu bezeichnen, und wir würden uns vielleicht in der
Lage befinden, den ganzen poetiſch und pſychologiſch intereſſan-
ten Vorgang, in Wirklichkeit als eine Fabel anſehen zu müſſen,
wenn wir nicht das Seegebart’ſche Tagebuch und jenen Brief
(an Profeſſor Michaelis in Halle) beſäßen, aus dem wir ſchon
die obige Schlachtſcene citirt haben. Das Tagebuch weiſt in
ſeinem Tone und ſeiner Schreibweiſe für jeden, der ſich auf den
Klang von Wahrheit und Unwahrheit verſteht, unwiderleglich
nach, daß Paſtor Seegebart eine eben ſo demüthige, wie hoch-
herzige Natur war, ein Mann in deſſen Herzen keine Lüge
beſtehen konnte. So glauben wir denn ihm und keinem andern
wenn er am 24. Mai in aller Beſcheidenheit aber auch in nicht
mißzuverſtehender Klarheit ſchreibt:
„Die Sache iſt beim König, der Generalität, ja der ganzen
Armee bekannt geworden, und man redete in den erſten
Tagen ſelten von dem Siege, den uns Gott gegeben, ohne
daß man meiner gedacht hätte. Wenn ich ein Narr wäre,
ſo hätte ich die beſte Gelegenheit mich aufzublaſen gehabt.
Der König hat mir durch unſern Prinzen (Erbprinz Leopold
von Anhalt-Deſſau) ein ſehr gnädiges Compliment machen
und mich verſichern laſſen, „ich ſollte die beſte Pfarrſtelle in
allen ſeinen Landen haben,“ wozu der Prinz hinzuſetzt:
„Wenn das nicht geſchähe, ſo wollte er mir die beſte in
ſeinem eignen Fürſtenthum geben, denn ich hätte in der
Bataille nicht nur wie ein Prediger, ſondern auch wie ein
braver Mann gethan.“


[351]

Prinz Leopold, der gewiß Wort gehalten hätte, wurde nicht
beim Wort genommen; Seegebart erhielt eine Pfarre, freilich
keine beſte, kaum eine gute, (die Etziner Pfarrſtelle iſt jetzt eine
ſehr gute, war es aber damals nicht) indeſſen doch immerhin eine
Pfarre, und im Auguſt 1742, alſo kaum 3 Monate nach der
Schlacht, ward er in die Etziner Kirche eingeführt. Mit unge-
wöhnlicher Thätigkeit — ſo erzählt der 80 jährige Paſtor Duchſtein,
der als er ſein Etziner Pfarramt zu Anfang dieſes Jahrhunderts
antrat, noch Leute vorfand, die ſeinen kriegeriſchen Amts-Vor-
gänger gekannt hatten — hat dieſer hier als Seelſorger und Land-
wirth gewirkt. An Wochentagen hielt er im Pfarrhauſe Erbau-
ungsſtunden, ſowohl für Kinder wie für Erwachſene, und nahm
ſich überhaupt ſeiner beiden Gemeinden (Etzin und das nah
gelegene Knobloch) mit Eifer und Liebe an. Nebenbei aber
führte er die weitläuftige Pfarrwirthſchaft ſelbſt, verbeſſerte
mancherlei in derſelben und nutzte ſie durch ſeine Betriebſamkeit,
wie die von ihm geführten Regiſter beweiſen, ungemein hoch.
Den Pfarrgarten hatte er ganz verwildert übernommen; er
pflanzte die beſten Obſtſorten an und hatte die Freude, ſchon
im zweiten Jahre einige Früchte davon zu ernten. So oft er
ein ſo günſtiges Ergebniß ſeines Fleißes in ſeinen noch vor-
handenen Rechnungen zu vermerken hatte, verſäumte er nicht
in einfachen Worten einen kurzen Dank an Gott auszuſprechen.
Ueber ſeine Kriegs- und Siegesthat bei Chotuſitz ſprach er nur
ſelten und nur gezwungen, theils weil er eine natürliche Scheu
hatte ſich vorzudrängen, theils weil er zu der Anſicht gekommen
ſein mochte, „er habe bei Chotuſitz für einen Geiſtlichen wirk-
lich etwas zu viel gethan.“ Aber eben deshalb, weil der Tag
von Chotuſitz auf der Etziner Pfarre nur ſo ſelten genannt
werden durfte, eben deshalb iſt auch jener Familien-Tradi-
tion, die ſich bis in unſre Tage hinein erhalten hat, ein ganz
beſondrer Werth bei zulegen, jener Tradition nämlich, (die auch
in Andeutungen des Jordan’ſchen Briefes ihre Beſtätigung
findet,) daß der König ſeinem Feldprediger in der That eine
Hauptmannsſtelle habe anbieten laſſen. Daß dies Anerbieten
[352] abgelehnt wurde, verſteht ſich von ſelbſt. Seegebart wäre nicht
er ſelbſt geweſen, wenn er den Roquelour mit dem bunten Rock
des Königs vertauſcht hätte. Die angeſtrengte Thätigkeit des
Predigens vor zwei Gemeinden, ſcheint ſeiner wohl an ſich nicht
ſehr feſten Geſundheit geſchadet und ſeinen frühzeitigen Tod
herbeigeführt zu haben. Auch ſein Bild zeigt jene klare, durch-
ſichtige Hautfarbe und jene mildleuchtenden Augen, denen man
bei Bruſtkranken ſo oft begegnet.


Er hinterließ eine Wittwe, Chriſtiane Eliſabeth geborene
Sukro und vier Kinder. Außer ſeinem Bilde, das ihn unver-
kennbar als eine poetiſche, dem Idealen zugewandte Natur dar-
ſtellt, befindet ſich an einer Außenwand der Etziner Kirche,
noch der Grabſtein des früh Geſchiedenen, der unter einem
wenig geſchmackvollen Ornament folgende Inſchrift trägt:
„Hier ruhen in Hoffnung die dem Tode getroſt anvertrauten
Gebeine des weiland Hochwürdigen und Hochgelehrten Herrn
Joachim Friedrich Seegebarth. Das Prinz Leopold’ſche Re-
giment, und die Etzinſche und Knoblauch’ſche Gemeinde
rühmen noch ſeine wahre Gottesfurcht und ſeltene Redlichkeit.
Daher war er freudig vor Gott, liebreich vor Menſchen,
ſorgfältig im Amt, demüthig bei ſeiner Gelehrſamkeit. Von
ſeinem geiſtigen Amt zeugen viel lebendige Briefe, von ſeinem
Chriſtenthum, die durch das Leben bethätigte Lehre. Er betrat
dieſen mühſeligen Schauplatz 1712 den 14. April. Er bezog
die ſtolzen Wohnungen der Ewigkeit 1752 den 26. Mai.
Leſer! ſchaue ſein Leben an und denke an ſeinen Tod. Be-
trachte ſeinen Glauben und ahme ihm nach. Sein freudiger
Hingang mache Dir die Ewigkeit ſüß.“


[[353]]

Gütergotz.


Und ſie tragen den leuchtenden Juthrie-Gott

Hinaus an den See und den Hain,

Und ſie opfern ihm ihre Garben

Am Garben-Opferſtein.

Lieben lerne!

Und zur Fremde wird die Heimath,

Und zur Nähe wird die Ferne.

Unſer Weg führte uns heute, von Marſchquartier Potsdam
aus, ſüdlich, um den Nuthe-Ufern, dieſem alten Grenzſtreifen
zwiſchen der Zauche und dem Lande Teltow, einen erſten Be-
ſuch zu machen.


Wie auch ſonſt ſchon gehen wir im Zickzack vor und zunächſt
uns oſtwärts haltend — links ein Ackerſtreifen, rechts eine dünne
Schonung — erreichen wir, plötzlich aufathmend in dieſer Wüſte,
eine von Fluß und See umſpannte Oaſe: Kohlhaſenbrück.


1.


Ein niedriges Gehöft, nach der Straße hin umzäunt, in
Front von einer mächtigen Eiche, im Rücken von einer alten
weitverzweigten Linde überſchattet — das iſt das jetzige Kohl-
haſenbrück; ein Platz voll moderner Zuthat und Wandlung, der
alten Krug- und Fährſtelle vergangener Jahrhunderte muth-
maßlich wenig ähnlich, aber doch zugleich voll jener hiſtoriſchen
Färbung, die um alle Oertlichkeiten her iſt, die viel erlebt und
viel geſehen haben.


Neueſte Forſchung hat nun freilich von den Erlebniſſen,
die man dieſem Orte anzurechnen gewohnt war, erhebliche Ab-
züge gemacht und hat feſtgeſtellt, daß der trotzige märkiſche Roß-
Fontane, Wanderungen. III. 23
[354] kamm, der an Sachſen Fehde erklärte und ſeinen Abſagebrief
auf einer Pique-Zehn (die noch dieſen Augenblick im Weimarer
Muſeum zu ſehen iſt) ins Meißniſche Land hineinſchickte, nie
und nimmer dieſe Krugſtelle ſein eigen nannte, vielmehr ledig-
lich die Silberbarren hier vergrub, die er, übelberathen, dem
kurfürſtlichen Factor Conrad Drahtzieher abgenommen hatte;
aber lange vor Michael Kohlhaas,*) der hier alſo ein Gaſt
war wie andere mehr, ja, lange bevor es einen Kurfürſten von
Sachſen gab, den er befehden konnte, war hier an dem alten
Grenzlande wer will ſagen eine Opfer-, eine Grabes- oder
eine Kampfesſtätte. Jeder Fuß breit Acker giebt die Zeichen
heraus: hier war altes Leben, alte Cultur.


Ein ganzes Alterthums-Muſeum iſt bereits aus dem ſchma-
len Ackerſtreifen, der an Fluß und See ſich hinzieht, heraus-
gepflügt, herausgegraben worden und wie eine unerſchöpfliche
Erzader im Geſtein läuft hier eine unerſchöpfliche Schicht von
Reliquien und Funden unter der Erde fort. Alle Zeitalter
werden dabei durcheinander gewürfelt und neben dem Stein-
hammer, dem wir ſchlecht gerechnet ſeine tauſend Jahre geben,
liegen zahlloſe Geräthſchaften in Erz und Eiſen, die ſich mit
dem halben Altersmaß begnügen müſſen.


Der zeitige Beſitzer von Kohlhaſenbrück, ein breiter Weſt-
phale, den die Fügungen des Lebens von der rothen Erde auf
den gelben Sand verſchlagen haben, treibt hier Alterthums-
kunde auf eigene Hand. Er beſtellt ſeinen Acker doppelt und
neben dem Pfluge, der die Erde nur ritzt, geht der Forſcher-
[355] vielleicht auch der Schatzgräber-Spaten beſtändig in die Tiefe.
Denn die verſenkten Silberbarren bei Kohlhaſenbrück ſcheuchen
den Schlaf und machen unruhige Nächte.


Die Linde, die vom Hofe aus ihre Zweige über das Dach
ſtreckt, die Eiche, die in Front des Hauſes ſteht, ſie ſind die
Wächter dieſer Stelle, zugleich ſeine Zierde. Und zugleich ein
Schatz, ein wirklicher, der keiner Wünſchelruthe bedarf, um
gehoben zu werden. Beſonders die Eiche. Sie iſt das Stau-
nen und Begehr aller Metzgermeiſter, die hier des Weges kom-
men und des mächtigen kerngeſunden Baumes nie anſichtig
werden, ohne ihn ſich in geſchäftsmäßiger Fleiſcherfantaſie in
fünf oder ſieben Haublöcke zerlegt zu denken. Sie halten dann
an, treten ein und bieten. Aber der breite Sohn der rothen
Erde da drinnen iſt kein bloßer Rechner und Feilſcher, er iſt
der Verwalter hiſtoriſcher Reminiscenzen, und ſo lange ſein
Spaten hier in die Erde ſticht, iſt das Häuschen ſicher, im
Schatten von Linde und Eiche zu ſtehen.


2.


Von Kohlhaſenbrück aus ſchlagen wir eine ſüdliche Rich-
tung ein, ſchlängeln uns auf Fußpfaden durch ein wohlgepfleg-
tes Gehölz und treten dann in eine Lichtung, von der aus wir
ſtrahlenförmig die Geſtelle ſich durch den Wald ziehen ſehen.
Dieſe Lichtung heißt der Stern; inmitten deſſelben, von eini-
gen Akazien umſtanden, ein Jagdſchloß gleiches Namens.


Auch hier hiſtoriſcher Grund und Boden, aber jüngeren
Datums und ohne jeden Anflug von jenem Sagen-Dämmer,
der über der alten Kohlhaasſtätte ruht. Hier iſt Alles licht,
faßbar, real, mit jenem Proſa-Beigeſchmack, den Alles hat,
was unter den vielgeſchäftigen, raſtlos-geſtaltenden Händen des
Soldaten-Königs entſtand. Aber noch eines charakteriſirte ſeine
Art: die propreté, und Jagdſchloß Stern hat bis dieſe Stunde
jenes Sauberkeits-Gepräge, das Friedrich Wilhelm I. allen ſei-
nen Schöpfungen zu geben liebte.


23*
[356]

Jagdſchloß Stern iſt ein holländiſcher Bau, quadratiſch in
rothem Backſtein aufgeführt, mit einem Giebel in Front, einem
Jagdhorn über der Thür und einem eingeätzten Stern im
Mittelfenſter. Es beſteht nur aus einem Eßſaal, einer Küche
und einem Schlafzimmer, drei Räume, die ihre Einrichtung
und ihren Charakter bis auf dieſe Stunde beibehalten haben.
Der Eßſaal mit den abgeſtoßenen Geweihen des „großen Hans“
(der es bis zum Achtundzwanzig-Ender brachte), iſt panelirt
und über den Panelen der einen Längswand hin mit den
Jagdſtücken irgend eines Leygrebe oder ſonſtigen Hofkünſtlers
geſchmückt, — eine Hirſchhetze, eine Eber- und Entenjagd.


Welch tiefer und plötzlicher Verfall der Kunſt ſpricht aus
dieſen Blättern, wenn man ſie mit jenen hunderten von Tableaux
und Deckengemälden vergleicht, wie ſie 30 und ſelbſt noch 20
Jahre früher unter dem erſten Könige und während der letzten
Regierungsjahre des großen Kurfürſten in den brandenburgiſchen
Schlöſſern gemalt wurden! Damals, wie äußerlich die Dinge
auch bleiben mochten, brachte jede zwiſchen Amoretten ausge-
ſpannte Roſen-Guirlande, jede ſymboliſche Figur, ob ſie ſich
Europa oder Boruſſia nannte, die brillante Technik der nieder-
ländiſchen Schule zur Erſcheinung, und nun, von jener Epoche
virtuoſenhafter Technik, gefälliger Form, ſinnlicher Farbe war
man wie durch eine Kluft geſchieden, ohne daß irgend etwas
Anderes ſich ereignet hätte als ein Thronwechſel. Jenſeits lag
die Kunſt, dieſſeits die Barbarei.


Aus dem Eßſaal, nach kurzem Verweilen, traten wir in
die Küche, aus dieſer in das Schlafzimmer des Königs, deſſen
eine Seite ein rieſiger Wandſchrank einzunehmen ſchien. Aber
nur die beiden Flanken dieſes Holzbaues waren wirkliche Schränke,
das Mittelſtück, eine überwölbte Bettlade, ein dunkler, nach
vorne zu geöffneter Kaſten, erinnerte an die Lagerſtätten einer
alten Schiffskajüte. War dieſe Höhle an und für ſich unheim-
lich genug, ſo wurde ſie’s in jedem Augenblicke mehr durch zwei
große, feurige Augen, die uns daraus anſahen. Endlich löſte
ſich der Spuk; unmittelbar an unſeren Häuptern vorbei mit
[357] ſchwerem Flügelſchlag flog eine Eule, die der Förſter vom Jagd-
ſchloß „Stern“ in der Bettſponde des Königs einlogirt hatte.


Dieſer ſelber hätte uns nicht großäugiger und nicht bedroh-
licher anſehen können als der Gaſt, der hier an ſeiner Stelle
eingezogen war.


3.


Vom Stern bis nach Gütergotz iſt nur noch eine halbe
Stunde. Wir erreichten es mit Sonnenuntergang; im Staub
der letzten heimkehrenden Heerde hielten wir vor dem Gaſthaus
von „Unverworfen.“ Ein überraſchender Name, aber Ver-
trauen erweckend. Wir beſtellten ein Zimmer, ſchüttelten den
Staub aus Rock und Hut und traten wieder in die Dorfgaſſe
hinaus, um Gütergotz im Dämmer zu ſehen. Eine ſchmale
Mondſichel ſtand am Himmel, hell genug, um uns Form und
Farben ausreichend erkennen zu laſſen. Nach kurzem Gange
ſtanden wir inmitten eines Platzes, der das Herz von Güter-
gotz und zugleich ſeine Zierde bildet. Häuſer- und Baumreihen
faſſen die Längsſeiten ein, an den Schmalſeiten aber, einander
gegenüber, erheben ſich links die Kirche und rechts das Schloß.
Das Ganze eine gefällige und eine ſtattliche Anlage zugleich.


Wir umſchritten den Platz, in den Gehöften war es ſtill
geworden, nur hier und da fuhr ein Hund bellend aus ſeiner
Hütte. Als wir an das Kirchhofsthor kamen, traten wir ein;
der Mondſchimmer lag jetzt auf Thurm und Dach; an den
ſauber behauenen Feldſteinquadern, an der Form der Apſis,
an der geknickten Dachfirſt-Linie erkannten wir leicht den Ci-
ſtercienſer-Bau des 13. Jahrhunderts. In der That, Güter-
gotz war Kloſtergut und gehörte durch drei Jahrhunderte hin
zu Kloſter Lehnin.


Es ziemte ſich wohl (und die Mönche wählten gern ſolche
Plätze) an dieſer Stätte eine Kloſter-Filiale zu errichten, denn
der alte Heidenſpuk mochte an dieſer Stelle feſter ſitzen als
anderswo; war es doch die Stelle, an der die Wenden ihrem
Morgengott, dem Juthrie-Götzen (Jütergotz) ein Bild und eine
[358] Opferſtätte errichtet hatten. Am Rande des Dorfes, wo noch
jetzt ein Gehölz von Tannen und Birken ſich um den See legt,
hart an der Straße, war die Opferſtätte. So heißt es. Andere
Anhaltepunkte als Name und Tradition ſind nicht da; der
Boden hat bisher wenig herausgegeben, das beſtimmter ſpräche.


Ein Sprung über das niedrige Mauerwerk des Kirchhofes,
und — nur der breite Fahrdamm trennte uns noch von dem
gegenüber gelegenen Pfarrhaus.


Still lag es da, aber alle Thüren und Fenſter auf; hier
war noch Leben, wenn es ſich auch noch verbarg. Eine Laube
vor dem Hauſe, Blumenbeete, an der einen Ecke ein blühender
Akazienbaum. Wenn wir die Blüthen nicht ſahen, ſo verkün-
dete ſie der Duft. Auf der Treppe lag eine Katze und ſpann.
Hier iſt’s gut ſein. Hier iſt Friede.


Unſere Vorempfindung hatte uns nicht getäuſcht. Nichts
von Störung. Wir wurden freundlich empfangen; eh eine
halbe Stunde um war, dampfte der Keſſel auf dem Tiſch; die
Hausfrau nach Theelands-Sitte, miſchte den ſtarken Abſud mit
dem brodelndem Waſſer; die Katze, auf meinem Schooß jetzt,
ſtriegelte ihren Kopf an meiner gekrümmten Hand, während der
Akazienduft immer voller durch die offenen Fenſter zog.


Die Unterhaltung drehte ſich um Gütergotz. Wir waren
gekommen, um zu hören und zu lernen. Der Herr Pfarrer
nahm das Wort.


„Sie wiſſen, daß es ein Wendendorf war, daß der Juthrie-
Gott eine Stätte hier hatte; der Name ſagt es Ihnen. Dann
kamen die Mönche, und Gütergotz, wie das benachbarte Zehlen-
dorf, wurde Kloſtergut und zählte mit unter dem reichen Beſitz
von Kloſter Lehnin. Nach der Säculariſirung kam es an den
Kurfürſten, der 1567 den Bürgermeiſter Valtin Döring damit
belehnte, bei deſſen Familie es bis zum Jahre 1700 blieb.
Gütergotz hatte alſo in 500 Jahren nur zwei Beſitzer gehabt:
die Aebte zu Lehnin und die Dörings.


Wenn aber bis dahin, ſo fuhr der Pfarrer fort, die Be-
ſitzverhältniſſe ſtabil geweſen waren, ſo wurden ſie von 1700
[359] an um ſo wechſelnder. Der nächſte Beſitzer war Biſchof Urſinus
(nach ſeinem vollen Namen: Benjamin Urſinus v. Bär), der
am 18. Januar des Jahres 1701 den Kurfürſten Friedrich III.
als erſten König von Preußen in Königsberg krönte. Mit dem
geiſtlichen Würdenträger, der wenigſtens zeitweilig hier weilte,
kam ein reicheres Leben an dieſe bis dahin ſchlichte Stätte: der
Biſchof baute ein Luſthaus am See, Kammerdiener, Gärtner,
Koch und Küfer gingen aus und ein, aber die Gemeinde wurde
dieſes reichen Lebens nicht froh und alte Kammergerichts-Acten
erzählen von Klagen des Biſchofs gegen die Gemeinde und von
Klagen der Gemeinde gegen den Biſchof. 1715 trat es dieſer
an ſeinen Sohn, den Stallmeiſter Johann Wilhelm v. Bär ab,
der es ebenfalls nur kurze Zeit beſaß (bis 1721) und beim
Verkaufe ſich nichts reſervirte als eine Begräbnißſtätte. Die
wurde ihm. 1750 wurde er im Kirchengewölbe beigeſetzt; bei-
nah 30 Jahre, nachdem er den Beſitz des Gutes aufgegeben
hatte.


Bis 1804 war Gütergotz Königlich. In dieſem Jahre
kaufte es der General-Lotterie-Director und Geheime Finanz-
rath Grothe, der aber freilich ähnlich wie der ältere Urſinus,
dieſes Beſitzes wenig froh werden ſollte. Wie dieſer fing er
an zu reformiren, ſeparirte den gutsherrlichen von dem bäuer-
lichen Acker, brach ein paar Bauergehöfte, die ihm unbequem
lagen, ab und baute ſie an anderer Stelle wieder auf, zog das
gewonnene Terrain mit in ſeine Park- und Gartenanlagen
hinein, erbaute auf ſolidem Feldſtein-Unterbau — auf einer
ſogenannten Ruſtica — das jetzige Schloß und gab ihm einen
ſtumpfen Thurm, deſſen Plattform einen weiten Blick ins Land
geſtattete. Dieſelbe Rührigkeit, die dieſen emporgekommenen
Mann (er hatte als Privatſecretär des damaligen Generalpäch-
ters der Lotterie ſeine Laufbahn begonnen und ſie durch Gewinn
des großen Looſes gekrönt) von jeher ausgezeichnet hatte, zeigte
ſich auch jetzt in der Raſchheit und Umſicht, mit der er Gütergotz
in einen anmuthigen Platz umzuſchaffen verſtand. Aber noch
ehe er mit ſeinen Plänen zu Ende war, brach der October
[360] 1806 herein und der General-Lotterie-Director mußte flüchtig
werden. Er ging nach Warſchau. Was dieſe Flucht veran-
laßte, iſt unaufgeklärt geblieben; nach Einigen waren es Un-
regelmäßigkeiten in der Verwaltung, die nun plötzlich zu Tage
traten; nach Andern war er in die Politik Haugwitz-Lombard
enfilirt und hatte alle Urſache, ſich dem Volksunwillen zu ent-
ziehen. Alle, die das große Loos nicht gewonnen hatten,
waren, wie immer in ſolchen Fällen, nur allzu ſehr geneigt,
ihrem beleidigten Patriotismus Ausdruck zu geben. Geh. Rath
Grothe ſtarb 1812 in Warſchau, nach Andern erſt 1815.
Sein Vermögen war bedeutend. Auch das ſchöne Haus in der
Mauerſtraße, das ſogenannte Königsmarckſche Palais, gehörte
ihm. Das Schloß in Gütergotz erinnerte übrigens bis ganz
vor Kurzem an den „General-Lotterie-Director.“ Einzelne
Zimmer, die, bei der Kürze der Zeit, in ihrer Herrichtung nicht
fertig geworden waren, zeigten ſich mit vielen Tauſenden von
Lotterielooſen beklebt, die man den Wänden als Unter-
grund für die Tapete gegeben hatte. Ehe aber noch die Tapete
kam, kam die Kataſtrophe. Die Nachbeſitzer ſchloſſen die Zim-
mer ab und überlieferten die Lotterieloos-Wände wie ein
Curioſum.


Gütergotz trat nach dieſer zweiten, kurzen Glanzepoche auf
weitere 20 Jahre hin in wechſel- und ſelbſt in unheilvolle Tage
ein (1813 plünderten es die Ruſſen), bis, mit dem zweiten
Drittel des Jahrhunderts, ſtabilere und glücklichere Verhältniſſe
wiederkehrten. 1830 kaufte es der Landrath v. Albrecht; 1868
der Kriegsminiſter v. Roon, der es zu einer Familienſtiftung
beſtimmte.


So die Daten von Gütergotz; die Geſchichte eines mär-
kiſchen Dorfes ſeit 700 Jahren. Aber er, der dies Stück ſpe-
cieller Heimathsgeſchichte vor uns entrollte, war nicht ſelber
heimiſch an dieſer Stelle; wenn das fein geſchnittene Profil
noch einen Zweifel darüber gelaſſen hätte, ſo hätte die beſtimmte
und bewußte Ruhe des Vortrags, vor Allem das niederſächſiſche
„ſt“ dieſen Zweifel beſeitigt. Paſtor Broderſen, nach einem
[361] bewegten Leben, war hierher verſchlagen worden. Die firme,
unwandelbare Treue, die ſonſt auch äußerlich zu feſtigen pflegt
und den Menſchen da feſthält, wohin Gott ihn ſtellte, dieſelbe
feſthaltende Treue war für ihn die bewegende Kraft geworden,
— er hatte ſeine holſteiniſche Erde aufgegeben, als das Innerſte
aufgegeben werden ſollte: Vaterlandsliebe, Rechtsgefühl, deutſche
Geſinnung.


Ueber Paſtor Broderſen, wie über ſo viele ſeiner Lands-
leute, entſchied der Tag von Idſtedt. Er ließ das Pfarrhaus
am Ploener See, er ließ die Heimath, die ihm geiſtig keine
Heimath mehr war, und ſuchte eine andere Stätte, wo er in
Treue gegen ſich ſelbſt, weiter wirken konnte. Und er fand
ſolche Stätte, und eine ſo ſchöne und bezaubernde dazu, daß
er den Ploener See hätte vergeſſen können, wenn Heimath nicht
eben Heimath wäre. Eine kleine Pfarre bei Neuwied nahm ihn
auf; der Rhein und die Lahn lagen vor ihm. Hier wirkte er
10 Jahre lang in Segen, bis aus dieſem ſtillen, allem Welt-
verkehr entrückten Gütergotz die Anfrage an ihn kam: ob er
den Tauſch wohl wolle. Die Nachbarſchaft der Nuthe für die
Ufer des Rheins! Er ſchwieg.


Als aber die Frage ſich wiederholte, als der Brief betonte:
wir ſehen ab von jeder Probepredigt, von Präſentation und
jeder formellen Empfehlung, da empfand Paſtor Broderſen die-
ſes Vertrauen wie einen Ruf, dem er zu folgen habe. „Und
da bin ich nun.“


Und Sie bedauern es nicht?


Nein. Aller Anfang iſt ſchwer. Das märkiſche Weſen
war uns anfangs fremd. Aber wir anerkennen gern den tüch-
tigen Kern.


Es lag kein Klageton in dieſen Worten, aber all das
was uns fehlt, und von dem ich empfinde, daß es uns fehlt,
es ſtand wieder vor meiner Seele und die Worte, die ein
märkiſcher Landsmann bei ähnlicher Gelegenheit einſt gegen mich
geäußert hatte, ſie klangen mir wieder im Ohr: „es muß
ſchwer ſein,“ ſo etwa ſprach er, „ſich unter märkiſchen Naturen
[362] einzuleben. Alles nüchtern und unideal; der Menſch karg wie
ſeine Scholle. Der Geiſtliche iſt ihm ein Mann der tauft und
traut. Das Leben dreht ſich um Beſitz und Soldatenthum.
Man muß hier geboren ſein, um dieſe Leute zu faſſen und zu
verſtehen und ſich, durch die harte Schale hindurch, in den
Reſpect für einen Volksſtamm hineinzuleben, „der keinen Ketzer
verbrannt, aber auch freilich keinen Heiligen geboren hat.“


Es war ſpät, als wir uns trennten. Die freundlichſten
Wünſche geleiteten uns durch die Nacht. In „Unverworfen’s“
Putzſtube waren inzwiſchen unſere Betten aufgeſchlagen worden,
und zu Füßen von „Rigolette mit dem Vogelbauer“ ſchliefen
wir ungewiegt, bis die durch das Fenſterladen-Herz ſcharf ein-
fallende Sonne uns weckte.


Unſere Reiſetoilette war ſchnell beendigt, noch ſchneller das
Frühſtück; ein Wagen fuhr vor und alsbald mahlten die Räder
im Sande. Wir fuhren zwiſchen Dorf und See; eine brütende
Schwüle herrſchte, trotzdem wir kaum die zehnte Stunde hatten.
Am Ufer lagerten Hirt und Heerde. Tiefe Sonntagsſtille.
Selbſt der Kukuck drüben im Walde ſchwieg. Inmitten des
Sees, halb im Schatten des Röhrichts, ſtand ein Dörfler und
angelte; das Waſſer ging ihm bis übers Knie. Kein Laut,
außer wenn er die Angelſchnur emporſchnellte.


Es war, als läg es noch wie Wendenſpuk über der Land-
ſchaft, als wolle der alte Juthrie-Gott wenigſtens ſeine Mor-
genſtunde halten. Aber da klangen die Glocken aus dem Dorf
und mahnten ihn, daß ſeine Zeit vorbei.


Und wie ein friſcher Luftzug zog es durch die Schwüle.


[[363]]

Saarmund und die Nutheburgen.


Noch einmal hob er ſeinen Blick, dann ſagt er dumpf: „die Spiegelung!
Ein Blendwerk, ärger als der Smum, bösartiger Geiſter Zeitvertreib;“
Er ſchwieg, das Meteor verſchwand.
Freiligrath (Mirage).

Unſer Ausflug nach Gütergotz hatte uns in den „Teltow“
geführt, wir kehren heute in das eigentliche Gebiet unſerer
Wanderungen, in Havelland-Zauche zurück. Nach etwa halb-
ſtündiger Fahrt mündet der über ein Plateau führende Weg in
ein breites, von Nord nach Süd ſich hinziehendes Thal ein,
und durchſchneidet es quer, in der Richtung von Oſt nach
Weſt. Dies Thal iſt das Nuthethal.


Der Waſſerlauf (die Nuthe), der dieſem Thal den Namen
giebt, entſpringt auf dem hohen Vläming bei Jüterbog in Nähe
des hiſtoriſchen Dorfes Dennewitz, wendet ſich nordwärts, bil-
det die Grenze zwiſchen Teltow und Zauche und fließt bei Pots-
dam in die Havel. Beinahe unbemerkt, unter Sumpf und
Wieſen verſteckt. Wer tagelang an Rhin oder Finow, an
Stobber und Löcknitz, an Notte und Nieplitz entlang gezogen,
der blickt, wenn die Spree oder gar die Havel ſich plötzlich wie-
der vor ihm aufthut, auf ihre blaue, ſeenreiche Fläche, als zöge
die Wolga an ihm vorüber. Der Maßſtab iſt Alles.


Zu dieſen Kleinſten, denen die Aufgabe zufällt, die Klei-
nen zu heben oder groß zu machen, gehört alſo auch die Nuthe;
aber ſie hat nebenher dies und das vor ihres Gleichen voraus,
manches, das ſie, — als genöſſe ſie alle Vorzüge einer höheren
Geburt — ohne Weiteres in die „Geſellſchaft,“ in den Kreis
[364] der Eigentlichen einreiht. Dies, was ſie voraus hat, iſt ihr
hiſtoriſches Gepräge, iſt der Umſtand, daß ſie, bis in aller-
frühſte Zeiten zurück (ja damals mehr denn ſpäter) ein Grenz-
fluß war, und es dadurch, weit über Löcknitz und Stobber
hinaus, zu einer politiſchen Bedeutung brachte. Man könnte
die Nuthe nach dieſer Seite hin mit der Königsau vergleichen,
die, auch nur ein Wäſſerchen von kaum Nuthe-Bedeutung,
doch als Grenzlinie zwiſchen deutſcher und ſkandinaviſcher Welt
zu einem Anſehn kam, um das ſie mancher Groß-Strom be-
neiden könnte.


Die zwei Welten, zwiſchen die ſich die Nuthe trennend
ſchob, hießen zwar nur Zauche und Teltow und werden in
den großen Büchern nicht verzeichnet ſtehen, aber es traf ſich
durch ein ganzes Jahrhundert hin, daß dieſe zwei kleinen Namen
in der That zwei Welten ſchieden: die germaniſche und die ſla-
viſche. Die Zauche, durch Albrecht den Bären unterworfen,
war chriſtlich und deutſch, der Teltow, den alten Göttern
treu verblieben, ſtak noch in Heiden- und Wendenthum. Das
war die Zeit, als die Nuthe ihre großen hiſtoriſchen Tage
zählte; das war das Jahrhundert der „Nutheburgen.“


Dieſe (die Nutheburgen) wuchſen auf, als aus Brennibor
ein Brandenburg wurde. Sie waren Mittelpunkte und Zeu-
gen des Kampfes, der damals das chriſtliche Vorland zwiſchen
Elbe und Oder bewegte. Ob ſie, in den Jahrzehnten ihres
Entſtehens, Aggreſſiv- oder Defenſiv-Punkte waren, ob ſie die
Deutſchen bauten, um von der Zauche aus den Teltow zu
erobern, oder ob ſie die Wenden bauten, um der vordrin-
genden Eroberung einen Damm entgegenzuſetzen, — dieſe Fra-
gen werden nie mehr gelöſt werden; alle Aufzeichnungen fehlen
und die Schlüſſe, die man aus dieſem und jenem gezogen hat,
werden es nie mehr über die vagſte Hypotheſe hinausbringen.
Die Nutheburgen jener erſten chriſtlichen Epoche ſind todt, und
vielleicht eben deshalb zählen ſie zu den Lieblingen märkiſch-
archäologiſcher Forſchung. Man kennt wenig mehr als ihre
[365] Namen. Es waren die Burgen zu Potsdam und Trebbin (als
Flügelpunkte); im Centrum Beuthen und Saarmund. *)


Saarmund, dem wir uns jetzt zuwenden, unter den ge-
nannten 4 Burgen vielleicht die verſchollenſte, genoß dafür den
Vorzug eines poetiſchen Namens. Daß er an dieſer Stelle
überhaupt entſtehen konnte, erwuchs aus einer Großthat, einem
Opfer. Die Nuthe brachte es. Arm aber edel, und vielleicht
das ſtädtiſche Idyll vorahnend, das hier einſtens aus dem Wie-
ſengrunde aufblühen werde, zweigte ſie ſchon in älteſten Zeiten
einen Waſſerſtreifen von ſich ab und wohl wiſſend (vielleicht
aus eigner ſchmerzlicher Erfahrung), was eines Namens Wohl-
klang bedeutet, gab ſie dem abgezweigten Arm den Namen
Saare mit auf den Lebensweg. Und ſiehe da, die innere
Stimme hatte nicht getrogen. Da, wo ins alte Nuthebett die
kaum geborene Saare wieder einmündet, erwuchs Saarmund.
Im Rücken der Stadt aber (um ein Ereigniß ſpäterer Jahr-
hunderte vorweg zu nehmen) an den Südhängen der Zauche-
Hügel hin, entſtanden Weinberge über Weinberge, ſo daß
Deutſchland damals, zu den Zeiten des großen Kurfürſten, des
Vorzuges genoß, einen doppelten Saarwein zu produciren, den
einen bei Trier, den andern bei Saarmund. Tempi passati.
Einen ſichreren Gewinn, auch für den unverwöhnten Geſchmack
jener Zeiten, bot wohl die Saare ſelbſt, deren Krebſe die alten
[366] Chroniſten nicht müde werden zu rühmen, „inſonderheit auch
die großen Alande, die noch angenehmer ſind als Zander.“


Um Saarmund und ſeine Saare ſchwebt es anheimelnd
wie ein gefällig-romantiſcher Klang, aber die eigentliche Poe-
ſie dieſer Gegenden, die eben höher ſteht als der bloße Kling-
klang eines Namens, iſt doch ächte alte Nuthen-Poeſie. An
dieſen alten Nuthewieſen, gleichviel nun ob im Sommer der
rothe Ampfer ſie überblüht, oder ob im November die Krähen
über den graubraunen Raſen ziehen, haftet der tiefere Zauber
dieſes Thals. Hier, in den Kolken am Fluſſe hin, war bis
vor Kurzem noch die Otter zu Hauſe und der Fiſchadler that
reichen Fang. Sagenhafte Geſtalten, groß und hager, und an
Jahren weit über das Gedächtniß der älteſten Leute hinaus-
ragend, zogen mit ihrer Büchſe über die tiefen Moore, wie
Schatten ſchritten ſie im Nebel, der Regenvogel pfiff in langen
Pauſen und das dumpfe Gurgeln der Rohrdommel klang vom
Fluſſe her.


So war das Nuthe-Thal, ſo iſt es noch.


Zwei, drei Brücken haben wir zu paſſiren. Von der erſten
aus, deren hochgewölbte Balkenlage einen Blick nach rechts und
links geſtattet, ſchweift unſer Auge das Thal hinauf und hin-
unter. Tiefe Stille; nur Wieſe und Waſſer; kein Floß, kein
Kahn; nichts als das weiße Gewölk, das langſam ziehend, dem
langſamen Zuge des Waſſers folgt.


Nichts Lebendes, — und es kann nicht anders ſein.
Wenn es wahr iſt, daß man große Städte auf Meilen hin,
in beinah räthſelvoller Weiſe vorausfühlt, ſo muß die Wirkung,
die Saarmund in die Ferne hinein übt, eben die der Oede und
Einſamkeit ſein; denn man kann nur mittheilen, was man hat.
Und nichts Stilleres als Saarmund. Ueber eine zweite Brücke
hin raſſelt unſer Gefährt in die Stadt hinein: beſchnittne Lin-
den vor den Thüren; über die Hof- und Gartenzäune ſtrecken
Hollunderbäume die weißen Dolden; wenn dann und wann
eine Hausthür ſich öffnet und der eigenthümliche Klapperton
[367] einer ſchadhaften Klingel durch die Straße klingt, ſo erhorcht
es die ganze Straße!


Unſer Wagen war ein Ereigniß. Einer ſtürzte halbraſirt
ans Fenſter; der rückwärts gewandte Gruß, den wir ihm zu-
ſchickten, traf noch ſeine ſeifenſchaumene Hälfte. Weiter. End-
lich mündeten wir auf eine platzartig erweiterte, lindenumſtellte
Straße ein, die den Namen „Freiheit“ führt. Wir nahmen
es als ſelbſtverſtändlich hin. Warum ſollte hier nicht Frei-
heit ſein?


Der Eindruck des Stillen und Oeden, den die ganze
Stadt macht, an dieſer Stelle ſteigert er ſich, denn hier war
’mal Leben, ein Leben, das nun abgeſtorben iſt.


Unter den Fenſtern des erſten Stockes hin, ziehen ſich
lange Wirthshausſchilder „Stadt Halle,“ „Stadt Leipzig,“ —
ſie leſen ſich faſt wie Epitaphien, Grabſchriften über einer Zeit,
die nicht mehr iſt. Hier führte einſt die große Straße von
Sachſen vorüber, hier war ein Hauptzollamt, und Saarmund
hatte damals eine Bedeutung, wie etwa Wittenberge heut, oder
irgend ſonſt ein Platz, an dem jeder Koffer unterſucht und die
Sprache des deutſchen Biedermannes in der Mauth- und Zoll-
Nüance geſprochen wird. Das iſt nun alles dahin. Die
Fenſter ſind zu und zeigen Rouleaux, deren in der Schräge
ſchwebende Landſchaften (immer Alpen) auf ein völlig geſtörtes
Räderwerk deuten; die Krippen ſtehen leer; müde vom Warten
haben ſie ſich an die Wand gelehnt. Die Hühner picken drum
herum. Wo ſie’s hernehmen, Gott weiß.


Ein eignes Geſchick iſt um gewiſſe Punkte, wie um gewiſſe
Menſchen her. Sie ſind anmuthig, alles ſcheint für ſie zu
ſprechen und ſie können es zu nichts bringen. So Saarmund.
Einer der vielen Orte, die nicht leben, nicht ſterben können;
nur dazu da, im Herzen eines Vorüberfahrenden ein ſentimen-
tales Gefühl zu wecken.


An einem der Prellſteine von „Stadt Leipzig,“ wo der
Weg nach rechts hin abbiegt, ſtand ein mittelalterlicher Mann
mit einem guten, zuverläſſigen Geſicht. Seine Kappe hatte den
[368] Schnitt einer alten Landwehrmütze, ſein Rock einen Stehkragen
von dunkler Farbe. Eine Art Nachtwächterblau. Mir lagen
immer noch die „Nutheburgen“ im Kopf; ich wollte die Suche
nach ihnen nicht ſo ohne Weiteres aufgeben. Das iſt dein
Mann, dacht’ ich, und ließ halten.


„Sind Sie von hier?“


„Ja.“


„Das iſt ſchön. Da kennen Sie gewiß die Nutheburgen?“


Der Ausdruck ſeines Geſichts ließ keinen Zweifel darüber,
daß dieſer dunkel-romantiſche Klang zum erſten Male ſein Ohr
traf; in ſeiner Antwort ſtolperte er zwiſchen allerhand Locali-
täts-Bezeichnungen wie Burgwall und Nuthebrücke hin und
her, die auf alles Mögliche Rückſicht nahmen, nur nicht auf
den Gegenſtand meiner Sehnſucht. Ich ſah bald, daß der
älteren märkiſch-wendiſchen Heimathskunde hier keine Quelle
floß und war raſch entſchloſſen, durch eine Diverſion jeder wei-
teren Verwirrung vorzubeugen.


„Iſt ſonſt nichts da, das ſich verlohnte?“


„Nichts als der Galgenberg ...., da haben Sie die beſte
Ausſicht; das ganze Nuthethal, links Potsdam, rechts Trebbin;
es ſoll auch ein Schatz …“


„Gut, gut.“ Ich gab dem Kutſcher einen leiſen Schlag
auf die Schulter, grüßte und im nächſten Moment ging es weiter,
vom Straßendamm hinunter, in den mahlenden Sand hinein.


Es war kaum 10 Minuten Wegs. Da ſtieg der Berg
mit dem ominöſen Namen vor uns auf. Wir hielten. Es
war Mittagsſtunde und ein heißer Tag. Die Sonne glühte
am Abhang, den wir hinauf mußten. Vor uns weidete eine
Heerde magerer Schafe; ſie hatte ſich ihrer Magerkeit an die-
ſer
Stelle nicht zu ſchämen; nur halbverbranntes, moosartig
kurzes Gras zog ſich über den Sand hin; nichts grünte als die
Wolfsmilch. Endlich oben.


Es lohnte ſich ſchon. Wie um dem Miſſethäter das Schei-
den doppelt ſchwer zu machen, ſtellte das Mittelalter ſeinen
Dreibaum auf die höchſten und ſchönſten Punkte.


[369]

Wieder ſtand eine Art Dreibaum dort oben, aber das Kind
einer anderen Zeit; ein Vermeſſungsinſtrument ſpreizte ſeine
drei mageren Beine in der Sonne.


Das helle Licht hinderte den Blick; nur mitunter kam eine
leiſe Trübung und das Auge konnte nun das Bild umfaſſen.
Zu Füßen Saarmund; rothe Dächer und rother Thurm; dahin-
ter die Nuthe und ihre Wieſen; jenſeits die ſtillen Dörfer des
Teltow, dieſſeits die ſtilleren Berge der Zauche.


Wer nach uns an dieſe Stelle tritt, der freue ſich des
Bildes und der ganz allgemeinen Vorſtellung: das iſt das
Terrain; hier unten lagen die Nutheburgen! Er
nehme dies Bild und dieſe Vorſtellung mit heim; aber er hüte
ſich (wir ſprechen aus Erfahrung) auf weitere Forſchungen und
Entdeckungen ausziehen zu wollen. Die Nutheburgen necken
ihn; ſie ſind die Fatamorgana dieſer Wüſte. Wenn er ſie zu
haben glaubt, ſo hört er den Mittagsgeiſt lachen, das Bild
zerrinnt und — die Nutheburgen ſind ferner denn zuvor.


FontaneIII.
[[370]]

Blankensee.


Da ſagte die Mark: Eh bien, wohlan,

Ich kann daſſelbe wie Canaan,

Und will ſich’s ſeiner Sarah berühmen,

So hab’ ich meine Frau von Thümen.

Eine halbe Stunde ſüdlich von Saarmund, zwiſchen zwei
Seen hindurch, fahren wir in einen ſchmalen, ſpitz auslaufen-
den Landestheil ein, den wir am beſten als den „Thümenſchen
Winkel“ bezeichnen. Dieſer Thümenſche Winkel, in Zeiten,
die nicht allzufern zurückliegen, hatte eine gewiſſe politiſche Be-
deutung, denn er war ſächſiſches Land, das ſich an dieſer
Stelle weit ins Brandenburgiſche hineinſchob, ſo weit, daß die
Entfernung bis Potsdam nicht voll 2 Meilen betrug. Das
war in den Tagen Friedrich Wilhelms I., in den Tagen der
Deſertionen und Lärmkanonen, eine Sache von „Importance,“
und ſo unbequem der Thümenſche Winkel für den König lag,
ſo bequem lag er für den Flüchtling.


Von dieſer „Importance“ iſt dem Thümenſchen Winkel
natürlich nichts geblieben und er muß ſich mit dem begnügen,
was er ſonſt noch aufzuweiſen hat, meiſt Dinge, die viel weiter
in unſere Geſchichte zurückgehen, als die „großen Blauen“ von
Potsdam.


Die Reſidenz und der Mittelpunkt dieſes Zipfels, der auch
jetzt noch eine Art Zwiſchenland iſt, aber nur ein Streifen
zwiſchen zwei brandenburgiſchen Kreiſen, iſt Blankenſee.
Hier haben die Thümens ihr Herrenhaus, hier ihre Kirche, ihre
Gruft. Auch an Sagen fehlt es nicht, in denen irgend ein
alter Kreishauptmann, aber immer ein Thümen, ſeine ſpuk-
hafte Rolle ſpielt. Wir werden noch davon zu erzählen haben.


[371]

Es war Mittagsſtunde, als wir vor dem Gaſthauſe hielten.
Der Wagen fuhr in den breiten Schatten einer Linde, während
wir uns rüſteten und mit den Augen umher fragten. Unſer
Erſtes war ein Gang durch das Dorf, das eine gewiſſe pitto-
reske Bauanlage, Schlängellinien und ſchöne Baumgruppen vor
manchem anderen voraus hat. Am ſchönſten gelegen iſt das
Herrenhaus. In Front ein Elſenbruch, an den Flügeln
zwei breite Seeſpiegel, und zwiſchen Schloß und Park ein
Waſſerlauf, der dieſe beiden Seeflächen verbindet, — das iſt
in großen Zügen die Scenerie. Das Geſträuch des Parkes
wuchs weit über das Wäſſerchen hin und ſchuf einen Lauben-
gang, unter dem die Enten, alte und junge, auf und ab
fuhren und ſich’s wohl ſein ließen.


Es war inzwiſchen heiß geworden, die Schatten dieſes
Parkes luden zu einem Beſuche ein, aber es war doch ein
anderes, was uns an dieſe Stelle geführt hatte und, den locken-
den Parkſchatten aufgebend, ſuchten wir uns zunächſt eines
ſagen- und landeskundigen Blankenſeeers zu verſichern, der
wohl geeignet und geneigt ſein möchte, die Dienſte eines Führers
bei uns zu übernehmen.


Der Zufall wollte uns wohl. Am Rande des Dorfes
umher tappend wurden wir alsbald eines Mannes anſichtig, der,
in einem offenen Thorweg ſtehend, unſeren unſicheren Bewe-
gungen ſchon ſeit länger gefolgt zu ſein ſchien; — als er uns
auf ſich zuſchreiten ſah, ſchritt er uns ſeinerſeits entgegen und
kam unſerm Gruß zuvor. Es war ein großer, ſchöner Mann,
von militäriſcher Haltung, und zugleich voll jener ruhigen
Sicherheit, wie ſie die bibelfeſten Leute, beſonders die Sektirer
zu haben pflegen. Es entſpann ſich folgendes Geſpräch.


„Wir wollen auf den Kapellenberg. Können Sie
uns den Weg zeigen?“


„Ich kenne ihn nicht,“ antwortete der Angeredete; „aber
wie ich erſt geſtern gehört habe, — der Weg iſt nicht zu fehlen.“


„So ſind Sie nicht von Blankenſee?“


24*
[372]

„Nein. Ich bin erſt ſeit 8 Tagen hier.“ (Er zeigte auf
das Gehöft).


„In der Schäferei?“


„Ja.“


„Sie ſind der Schafmeiſter?“


„Nein. Ich bin ſein Knecht.“


Mein Begleiter und ich ſahen einander an. Eine unwill-
kürliche Pauſe trat ein. Der unumwundenen Erklärung „ich
bin dieſes oder jenes Mannes Knecht“ begegnet man in Städten
niemals, auf dem Lande nicht allzuhäufig. Man ſucht ſich zu
helfen, ſo gut es geht. „Ick bin bi Schulze Borchardten ſine
Pärd,“ ſo oder ähnlich wird das Wort umgangen. Was uns
aber in dieſem ſpeciellen Fall ganz beſonders frappirte, war
das correcte Deutſch und der männliche und zugleich beſcheidene
Freimuth, in dem die Antwort gegeben wurde. Dieſe immer
ſeltener werdende Demuth und Wahrheitsliebe (jeder will über
ſich hinaus), machte einen tiefen Eindruck auf uns und wir
hatten eine Freude, als der Sprechende uns bat, uns begleiten
zu dürfen. Er war, wie ſich bald ergab, aus der Provinz
Sachſen (die in Schulbildung und gutem Deutſch immer einen
Schritt voraus hat), hatte in der Garde gedient und war dann
ſechs oder ſieben Jahre lang der Diener in einem altlutheriſchen
Hauſe, der Pfleger eines einzigen gichtbrüchigen Sohnes gewe-
ſen. So war denn vieles erklärt. Was ihn aus der großen
Stadt in dieſe einfache Stellung geführt hatte, erfuhren wir nicht.


Erſt über ein breites Brachfeld hin, dann einen Waldweg
hinauf, erreichten wir die Kuppe des Berges, um den es ſich
zunächſt für uns handelte, und traten dann in die Trümmer
des alten Baues ein, der dieſem Berge den Namen gegeben
hat. Zwei Wände ſind eingeſtürzt, zwei ſtehen noch, ſo daß
es auch für einen Laien ein Leichtes iſt, ſich den Bau wieder
in aller Vollſtändigkeit vorzuſtellen. Es war eine gothiſche
Kapelle, zehn Schritt im Quadrat, nach allen vier Seiten hin
offen, genau nach Art jener Baldachine, denen man in alten
Domen ſo oft über dem Altar begegnet.


[373]

Ob die Kapelle eine Station oder ein Wallfahrtsort war,
ob ſie weit ins Land hinein ſichtbar, zugleich auch ein Weg-
weiſer, ein Markpunkt ſein ſollte, darüber wird es unfruchtbar
ſein, ſich in Hypotheſen zu ergehen. Nur, daß es ein Bau
war, der, verhältnißmäßig ſpät entſtanden, in erſter Reihe
immer kirchlichen Zwecken diente, darüber kann kein Zweifel
ſein (die Conſol-Niſche, die einſt das Muttergottesbild trug,
iſt noch wohl erhalten) und ſo hat es denn für Jeden, der
jemals an dieſer Stelle geſtanden und mit Augen geſehen hat,
etwas allerdings Verwunderliches, in guten Büchern folgender
Verſicherung zu begegnen: „Dieſe Ruine verräth durchaus nicht,
daß das Gebäude jemals zu kirchlichen Zwecken gedient
habe
, wohl aber zu militäriſchen, als Burgwarte. Das
Gemäuer zeugt von hohem Alterthum, und es iſt nicht unmög-
lich, daß es, wenn auch nicht aus der Slavenzeit, ſo doch gewiß
aus der Zeit der deutſchen Eroberung ſtammt. Es diente wohl
als Zwiſchenſtation für die Burgen Trebbin und Sarmund.“
So viele Zeilen, ſo viele Fehler.*) Der ganze Bau war nie
etwas anderes, als eine rechtwinkelige Zuſammenſtellung von
vier offenſtehenden Portalen, genau das Gegentheil
[374] von Feſtung, Warte, Burg. Es iſt ein Bau aus dem 14. Jahr-
hundert, ſo daß etwa ein Rechenfehler von dreihundert Jahren
zu verzeichnen bleibt.


An dieſen Kapellenberg knüpfen ſich zahlreiche Sagen, die
aber, wie verſchieden auch in ihrer Einkleidung, ſämmtlich auf
das alte, namentlich in unſerer Mark beliebte Thema hinaus-
laufen, „daß daſelbſt ein Schatz vergraben ſei.“ Und wie
glaublich oder unglaublich es ſich im Uebrigen mit dieſem Spuk
verhalten möge, ſo viel iſt gewiß, daß der Schatz ſelber in
den Köpfen aller Blankenſeeer eine Rolle ſpielt. Noch in dieſem
Jahrhundert, ſo heißt es, kam ein Herr v. Thümen ventre à
terre
von Berlin geritten, ließ Bauern und Tagelöhner wecken,
und zog in langer Colonne auf den Berg, um unter dem alten
„Bocksdornſtrauch,“ der die eine Kapellenecke mit ſeinem Ge-
zweige füllt, bohren und graben zu laſſen. Denn unter dem
Bocksdornſtrauch, aber brunnentief, liegt der Schatz. Aber der
Schatz kam nicht und der tolle v. Thümen mußt’ es ſchließlich
aufgeben, wie es 100 Jahre früher, noch in der ſächſiſchen
Zeit, ſein Ahnherr, der alte Kreisdirector v. Thümen, auch
hatte aufgeben müſſen, „der doch ſchon ganz nahe daran gewe-
ſen war.“ Die Sage aber vom Kreisdirector, die noch von
Mund zu Munde geht, iſt die folgende: Es war wohl ſchon
den dritten Tag und ſie gruben immer noch. Da kamen ſie
endlich an eine eiſerne Thür mit einem Schlüſſelloch, und durch
das Schlüſſelloch konnten ſie hineinkucken und haben eine Brau-
pfanne geſehen bis über den Rand voll Geld, und auf dem
Gelde der Böſe, der darüber gewacht hat. Der alte Kreis-
director hat aber doch nicht ablaſſen wollen und hat angefan-
gen zu parlamentiren und an den Böſen zu ſchreiben. Vor-
erſt hat ſich Keiner finden wollen, um die Briefe zu beſtellen,
zuletzt hat ſich aber Einer richtig gefunden, der hieß Ebel, und
alle Nacht hat er einen Brief vom alten Kreisdirector auf den
Kapellenberg getragen. Immer wenn er an die rechte Stelle
gekommen iſt, um den Brief hinzulegen, hat ſchon ein Brief
vom Böſen dagelegen und ein Münzgroſchen dabei als Boten-
[375] lohn. So haben ſie ſich geſchrieben hin und her, der Böſe
und der Herr Kreisdirector, und immer um die zwölfte Stunde
war Ebel auf dem Kapellenberg. Und der Böſe ſchrieb zuletzt:
Der Herr Kreisdirector ſolle Alles haben, aber den Briefträger
müſſe er ihm geben und den Arm vom See, der die „Lancke“
heißt. Das aber hat der Kreisdirector nicht gewollt, weil es
Ebeln ſein Leben und auch noch andere Menſchenleben gekoſtet
hätt’. Denn wenn der Böſe erſt den See-Arm gehabt hätt’,
ſo wäre Mancher mit’m Kahn verunglückt, oder im Winter
auf’m Eis und hätte ertrinken müſſen. Alle Jahr hätt’ wenig-
ſtens Einer ’ran gemußt. So iſt denn die Braupfanne voll
Geld nicht gehoben worden und liegt heute noch.


So die Sage. Wir kannten ſie noch nicht, als wir oben
waren, wir würden ſonſt den Bocksdornſtrauch, den Schatzhüter
über der Erde (den Vorpoſten, den der Schatzhüter da unten
als Schildwacht ausgeſtellt hat) mit mehr Reſpect behandelt und
minder rückſichtslos in ſeinem Gezweige umher geſtampft haben.
Neben dem Strauch, inmitten der Kapelle, war ein Ameiſen-
haufe und im Sonnenſchein, der von oben hereinfiel, haſteten
die Betriebſamen auf und nieder, in ſprichwörtlichem Ameiſen-
fleiß. Es erſchien uns wie ein Avis an alle müßigen Schatz-
gräber, den Schatz da zu ſuchen, wo er liegt.


Als wir noch plauderten und nach einem Ausſichtspunkt
ſuchten, zogen Kirchgänger über den Berg. Sie kamen von
Blankenſee und gingen nach Hauſe. Der Gottesdienſt war alſo
aus und wir ſchritten wieder dem Dorfe zu, um nunmehr in
die Kirche einzutreten. Unſer freundlicher Begleiter verabſchie-
dete ſich am Kirchhofsthor, muthmaßlich um uns nicht länger
zu behindern, vielleicht auch aus ſektireriſchem Geiſt.


Das Innere des Gotteshauſes ſchien im erſten Augenblick
nichts zu bieten, das ſich über den Durchſchnitts-Inhalt alter
Dorfkirchen erhoben hätte; bei näherer Betrachtung aber zeigte
ſich mancherlei von Intereſſe: ein Epitaphium, Grabſteine, Bil-
der und Schildereien. Das Epitaphium galt einem alten „Kreis-
hauptmann im ſächſiſchen Kurkreiſe,“ Herrn Chriſtian Wilhelm
[376] v. Thümen, deſſen Portrait von zwei Engeln gehalten wird,
während ſich weiter unterwärts eine Schlange in den Schwanz
beißt. Der Inſchrift entnehmen wir nichts Anderes, als daß
ſeine Ehe mit Sabine Hedwig v. Schlieben durch 18 Kinder
geſegnet war.


Wenn nun hier ein Segen vorlag, von dem wir übrigens
nicht wiſſen, ob er ſelbſt damals als ein ſolcher empfunden
wurde, ſo knüpften beinahe alle anderen Denkmäler der Kirche
(und zwar die beſten) an eine andere v. Thümenſche Ehe an,
die in derſelben Weiſe an die Tage Abraham’s, wie jene an
die Jacob’s erinnerte. Wir werden gleich zeigen wie. Es war
dies eine Ehe zwiſchen Kuno v. Thümen und Anna v. Schlabren-
dorff. Von dieſer letzteren finden wir Grabſtein, Bildniß und
Schildereien, die ihrem Begräbniß gewidmet ſind.


Der Stein ſteht hinter dem Altar, in eine der Ecken ein-
gemauert und trägt folgende Inſchrift: „Anno 1567, den
1. Januar, gegen Abend iſt die edle und vieltugendſame Anna
v. Schlabrendorff
, Kuno v. Thümens eheliche Hausfrau,
mit und in Kindesgeburt gottſelig entſchlafen. Derſelben Gott
gnädig ſei.“ Ihr in Lebensgröße und in flachem Relief auf
dem Stein ausgemeißeltes Bildniß, zeigt eine breite Binde um
die Unterhälfte des Geſichts, was der ganzen Erſcheinung auf
den erſten Blick das Anſehen giebt, als trüge ſie einen Ritter-
helm mit herabgelaſſenem Viſir. Ich ſah dies, ſo viele Dorf-
kirchen ich auch beſucht habe, hier zum erſten Male. Der Geiſt-
liche des Dorfs, der ſich uns inzwiſchen zugeſellt hatte, erklärte
mir: Das weiße Tuch um den Mund ſei nach altteſtamentari-
ſcher Weiſung das gebotene Abzeichen der Sechswöchnerin. Er
fügte hinzu, daß dieſe Sitte bis den heutigen Tag in ſeiner
Gemeinde beſtehe.


So viel über den Grabſtein. Aber erſt einem Oelbilde
von mittleren Dimenſionen, das an der einen Längswand der
Kirche ſeine Stelle gefunden hat, entnehmen wir, was es mit
„Kuno v. Thümens ehelichem Gemahl“ auf ſich hatte und warum
ihr ſeinerſeits durch Grabſtein, Portrait-Bild und Erinnerungs-
[377] Tableau eine ſo beſondere Aufmerkſamkeit gewidmet wurde. Zu
Füßen des Bildes heißt es:


Hier liegt begraben ohne Qual

Kuno v. Thümens ehlich Gemahl,

Die tugendſame Frau Anna gut

v. Schlabrendorff das edle Blut

Welche gegeben war von Gott

Dem Kuno v. Thümen bis an den Tod.

Nun folgen Details, die wir inſonderheit unſeren Leſerin-
nen lieber vorenthalten und aus denen wir nur erſehen, daß
Frau Anna, wie eine zweite Sarah, in ihrem 67. Jahre eines
Töchterleins genas.


Am erſten Jännertag es war,

Sie zählte 67 Jahr

Sei ihr gnädig Herr und Gott

Und helf auch uns aus aller Noth.

So wenig befriedigend dieſe Reime ſein mögen, ſo treff-
lich iſt das Bild, unter dem ſie ſtehen. Es iſt gute Lucas
Cranach’ſche Schule. Nach Sitte der Zeit Sündenfall, Geſetz-
gebung, eherne Schlange, Kreuzigung und Auferſtehung dicht
neben einander ſtellend, giebt es auf engem Raum den Haupt-
inhalt der chriſtlichen Heilslehre.


Dies Bild, zum Gedächtniß Anna’s v. Schlabrendorff, iſt
wie das künſtleriſch beſte, ſo das intereſſanteſte, was die Kirche
bietet; keineswegs aber iſt die Reihe ihrer Sehenswürdigkeiten
und Erinnerungsſtücke damit abgeſchloſſen. In einer Ecke, bei-
nahe unmittelbar über dem weiter oben von uns beſchriebenen
Grabſtein, hängen Schwert und Sporen*) eines längſt heim-
[378] gegangenen v. Thümen, und in der Höhe des neuerbauten
Thurmes befinden ſich die im Thümenſchen Winkel bei Alt und
Jung bekannten „Glocken von Blankenſee.“ Allerlei Sagen
knüpfen an dieſelben an.


Es war um die vierte Stunde, als wir aus dem Kirch-
hofsthor wieder in die Dorfgaſſe hinaustraten. Hier hatte ſich
inzwiſchen das Bild verändert; die Stille des Sonntag-Vor-
mittags war hin, die Heiterkeit des Nachmittags hatte begonnen.
Um die Dorf-Linde (ein Anblick, den ich lange nicht gehabt)
drehte ſich das junge Volk im Ringelreihen, und die Dirnen,
wie immer tanzluſtiger als das männliche Element, deckten jedes
Deficit durch Anleihen bei ſich ſelbſt. Wir ſahen dem fröh-
lichen Treiben zu; hätt’ uns Jemand die Ehre angethan, wir
hätten, auf jede Gefahr hin, es gewagt. Aber die Verſuchung
blieb aus.


Unſer Wagen mahlte durch den Sand; ſo oft wir uns
umſahen, ſahen wir noch die ſpringende Bewegung und die
rothen Tücher. Dann kam eine Biegung des Weges und das
Bild war hin. Nur der Baßton der Poſaune begleitete uns
noch. Jetzt ſetzte er aus. Eine Weile noch horchten wir auf,
ob er’s war oder nicht. Bis endlich Alles ſtill.



[[379]]

Trebbin.


Und ein Haus mit Giebelſpitzen
Hat uns gaſtlich aufgenommen,
Läßt uns freundlich niederſitzen
Auf der Bank, der blanken, alten,
Die, mitſammt dem ſchmalen Tiſche,
Dem Jahrhundert Stand gehalten
Hier in dieſer Fenſterniſche.
G. Heſekiel.

Trebbin, trotz 14 Züge die kommen und 14 Züge die gehen,
iſt immer noch Trebbin, das heißt ein Stück Erde, auf dem
nur leben kann, was darauf geboren iſt. Die Zahl ſeiner
Gaſthäuſer hat ſich verdreifacht, aber der Ton, der über dem
Ganzen liegt, iſt unverändert derſelbe geblieben, wie in den
Ein-Gaſthaus-Tagen der Vor-Eiſenbahn-Epoche. Aus dieſen
Ein-Gaſthaus-Tagen wird folgendes berichtet.


Ein junger Juriſt war nach Trebbin verſchlagen worden,
ein Berliner Kind, ein ſogenannter Garde-Aſſeſſor. Was ihn
hierher geführt, ob Schuld, ob Liebe, iſt gleichgültig; wahr-
ſcheinlich war es die lockende Nähe der Hauptſtadt, die ihm zu-
geredet hatte, es an dieſer Stelle zu verſuchen. Er hatte aber
dafür zu büßen. Tag um Tag ſaß er an der „Table d’hôte“
des einen Gaſthauſes; die Verhältniſſe geſtatteten weder Wech-
ſel noch Wahl. So vergingen Monde endlos.


Einſt, an einem ſtillen Sommer-Sonntage (ach, ſie waren
alle ſtill) ſetzte man ſich wieder zu Tiſch. Die Fenſter ſtanden
offen, man hörte nichts als den Staarmatz, der in ſeinem
Käfig auf- und abſprang und das Zuſammenſchlagen der Bälle
aus dem dritten Zimmer her, wo zwei Trebbiner Commis ſich
im Billard und — im Franzöſiſchen übten. Es gab Kalbs-
[380] braten und Salat. Dem Aſſeſſor gegenüber ſaß die Hotelfrau,
eine blaſſe Dame von 33, mit Korkzieherlocken, eine jener
Schlankaufgeſchoſſenen, die ihren unbefriedigten Empfindungen
durch Schärfe der Stimme Ausdruck geben. An dem Aſſeſſor
war bisher Alles geſcheitert. Das war ſein Unglück. Längſt
lauerte die Rache. Er ſchob heute eine Gartenſchnecke, die ſich,
als er Salat genommen, durch Klappern auf dem Teller ſofort
bemerkbar gemacht hatte, leiſe-verlegen auf den Tellerrand und
ſtellte, Vorahnung im Gemüthe, die Waſſerkaraffe wie einen
Schirm zwiſchen ſich und die Wirthin. Aber was er vermeiden
wollte, beſchwor er nur herauf; die Schnecke, mit Hilfe eben
dieſer Waſſerkaraffe, nahm für ſein vis-à-vis wahre Rieſen-
Dimenſionen an; ſie ſollte es (ſo flüſterte ihr der Verdacht zu),
der Affront alſo unverkennbar. Alle 33 Locken, ſie gingen mit
der Jahreszahl, begannen zu zittern und über den Tiſch hin
klang es: „Herr Aſſeſſor, wenn es Ihnen bei mir nicht ſchmeckt,
ſo muß ich Sie bitten, anderswo zu eſſen.“ Man muß in
Trebbin geweſen ſein, um den ſchneidenden Hohn, die ganze
Tragweite dieſes „anderswo“ zu begreifen.


Der Vorgang ſelbſt aber erſchien mir immer als die Sig-
natur der Stadt von damals; auch von heute noch, trotz Zug-
Geraſſel und Lokomotiven-Pfiff.


Wir durchgingen die Straßen, überall daſſelbe Bild der
Oede; die Kirche ſo triſt wie die Stadt, die Stadt ſo triſt wie
die Kirche. Hier und dort ſpreizte ſich eine Toilette, das ein-
zige, woran ſich die Nähe der Hauptſtadt erkennen ließ, aber
dieſer bunte Flitter ließ die Stadt nur um ſo farbloſer, und
die farbloſe Stadt wiederum den Flitter nur um ſo prahleriſcher
und ſchreiender erſcheinen.


Menſchen, Häuſer, Kirche, ſie gaben nichts heraus; in
dieſer Noth griff ich zu einem letzten Mittel, — ich ging hinaus
zu jenem ſtillen Garten vorm Thor, wo ich ſo oft ſchon ſtille
Städte, Städte, „die nichts ſagen wollten,“ unvergeßlich lieb-
gewonnen hatte. Das Beſte, was ein Ort hat, verbirgt er
oft am tiefſten, und der flüchtig Reiſende kann nicht erwarten,
[381] daß, im Momente ſeines Eintritts, ſich ihm dies Beſte auf
offenem Platze erſchließen ſoll.


Aber eine Stelle hat auch der ſtillſte, der verſchwiegenſte
Ort, wo er zu dem Fremden ſprechen muß, und wenn auch
hier Alles ſchweigt, ſo darf man, mit einiger Gewißheit, auch
von dem Tode der Lebendigen ſprechen.


Ich ging alſo hinaus. Links vom Thore dehnt ſich der
Friedhof, ein ummauertes Feld. Es war ein Begräbnißplatz
vor 50 Jahren und länger; dann zog man aus und ließ die
Stätte brach liegen, die Hügel verfallen; endlich, als Alles zu
einem Grasplatz geworden war, zog ein neues Geſchlecht hier
wieder ein. So iſt der Friedhof ein ganz alter und ein ganz
neuer. Der Interims-Friedhof liegt an anderer Stelle.


Nachmittags-Sonnenſchein flimmerte um die Gräber; auf
den friſch aufgeſchütteten Hügeln lagen halbverwelkte Kränze;
die Blumen, die vorherrſchten, waren Schwertlilien; Akazien-
duft von umherſtehenden Bäumen ging drüber hin. Aber
nüchtern lagen die Steine, deutungslos ſtanden die Kreuze;
Name an Name, Spruch an Spruch, nichts was zu Herzen
ging oder die Phantaſie bewegte. Todt die Gräber wie drinnen
die Häuſer.


Ich wandte mich in die Stadt zurück. Wir wolltens unter
den Menſchen noch einmal verſuchen.


Aber wohin? Man wies mir einen Metzgerladen ſchräg
gegenüber; „dort ſei es am beſten.“ Wohlan denn! Es war
ohnehin die geſegnete Kaffeeſtunde. Wenn man gar nichts mehr
anzufangen weiß, iſt das Klappern mit der Taſſe noch immer
das Beſte. Manche eſſen in ſolchen Stunden belegte Butter-
brote; aber dies ſetzt Jugend oder eine ſtarke Conſtitution
voraus.


Die Environs ließen zu wünſchen übrig. Links hing ein
Kalb, rechts ein Hammel, ein ſehr entfernter Vetter jener
Southdowns, an denen einſt in „bygone days“ meine Seele
hing. Zu beiden Seiten der Thür ſtand eine Bank; wir (mein
Reiſegefährte und ich) nahmen auf der Kalb-Seite Platz und
[382] beſtellten alſo Kaffee. Er kam gut genug. Vor uns ſtand eine
beſchattende Linde; daneben der Beſitzer von Haus und Hof.
Ein gewiſſes Unterhaltungsbedürfniß machte ſich fühlbar; die
Initiative lag wie billig bei uns. Aber das war nicht ſo leicht.
Ich konnte über die Frage nicht hinweg, ob ich ihn Wirth
oder Meiſter anreden ſollte. Es war mir damals noch ein
Geheimniß, daß er auch „Major“ war; zu meinem Glück;
entgegengeſetzten Falls wäre ich über die Etiquettenfrage nie
hinweg gekommen. Ich entſchied mich endlich für Wirth.


Eine ſchöne reine Luft Herr Wirth.


Dies war nun eigentlich nicht wahr, denn der Hammel
hing zu nah, um unſrerſeis mit Unbefangenheit eine ſolche Ver-
ſicherung abgeben zu können. Der Angeredete aber, vielleicht,
von Metier wegen, der einzige, der dieſer Verſicherung aufrich-
tig Glauben ſchenken konnte, erwiederte freundlich:


Eine ſchöne, reine Luft. Trebbin hat eine gute Luft.


Dieſer Lokalpatriotismus, was ſich auch gegen den That-
beſtand ſagen laſſen mochte, that mir wohl und um ſo wohler,
als ich in Betreff der „Nutheburgen“ (nach denen ich damals
immer noch ſuchte) die Hoffnung an dieſen Ausſpruch knüpfte:
„das iſt Dein Mann.“ Was in Saarmund mißglückt war,
hier möglicherweiſe konnte es gelingen. Ich fuhr alſo fort:


Sie haben ja wohl eine alte Burg hier? Burg Trebbin;
die vierte der Nutheburgen.


Nicht daß ich wüßte. Das muß vor meiner Zeit gewe-
ſen ſein.


Gewiß. 700 Jahre. Kein Burgwall? kein unterirdiſcher
Gang? Keine Stelle, die hohl klingt?


Nicht daß ich wüßte. Außer der Schützengilde von
1577 ....


Kein Denkmal? keine Mumie?


Außer der Schützengilde, die ſeit 1577 ....


Es wurde mir immer klarer, worauf er mit Beharrlich-
keit, die jederzeit ſiegreich bleibt, hinaus wollte; ich ließ alſo
den Strom ſeiner Rede fließen, horchte auf, lernte dies und
[383] das (die Büchſenſchüſſe aus dem nahen Schützenhauſe accom-
pagnirten) und raffte mich erſt, nach halbſtündigem Martyrium,
zu der Frage auf, ob er jemals von dem Maler Wilhelm
Henſel
, oder doch von deſſen Vater, dem alten Paſtor
Henſel gehört habe.


Ein Kopfſchütteln war die Antwort und nur mit Mühe
wurde feſtgeſtellt, daß der alte Paſtor Henſel höchſt wahrſchein-
lich vor ſeiner, des Wirths und Meiſters Geburt verzogen ſein
müſſe, eine Sache, über die ich nie den geringſten Zweifel
unterhalten hatte.


Das Vorfahren des Wagens und der Peitſchenknips des
Kutſchers ſchnitten weitere Unterſuchungen ab, wobei mir der
Troſt bleibt, ſchwerlich anderes als die chronologiſche Reihen-
folge der Trebbiner Schützenkönige eingebüßt zu haben. Noch
ein grüßendes Hutlüpfen unſererſeits, noch eine leichte Hand-
bewegung des „Majors,“ in der ſich die angeborne militairiſche
Natur mit den Allüren bürgerlicher Hantirung glücklich ver-
ſchwiſterte — und unſer Jagdwagen klapperte über das Pfla-
ſter hin.


Die Kirchhofsthür ſtand noch offen, die Schwertlilien blüh-
ten noch.


Ueber „Burg Trebbin“ bin ich auch nachträglich ohne
Mittheilung geblieben, aber von Wilhelm Henſel will ich
erzählen.


Wenn zwei Looſe vor uns legt ein Beſchluß der Zeit,
Schwer iſt’s, wirklichem Ruf folgen und falſchen fliehn!…
Sieh, dich lockten indeß heimiſche Triebe bald
Fernhin (wo in des Nords Winter ein edler Fürſt
Ausſät ein Athen des Geiſtes)
An die ſchthiſche, kalte Spree. Platen.

Wilhelm Henſel wurde am 6. Juli 1794 zu Trebbin
geboren, wo ſein Vater an der dortigen Marien-Kirche Geiſt-
licher war. Schon einige Monate ſpäter, nach erfolgter Voca-
[384] tien, überſiedelte der letztere nach Linum, in deſſen Pfarrhauſe
wir denn auch unſern Wilhelm Henſel während ſeiner Knaben-
zeit zu ſuchen haben. Den Unterricht ertheilte der Vater ſelbſt;
1809, gut vorbereitet, bezog der Sohn die Bergakademie.
Seinem ſchon damals lebhaft geäußerten Wunſche, ſich der Kunſt
widmen zu dürfen, hatte der Vater nicht nachgeben wollen.


Das Talent war aber zu ausgeſprochen, als daß die Lauf-
bahn, der er ſeiner Natur nach angehörte, ihm hätte verſchloſ-
ſen bleiben können. Seine eigenen Vorgeſetzten ermunterten
ihn, in ſeiner Beſchäftigung mit den Künſten auszuharren und
als er bei einer beſtimmten Gelegenheit ein Blatt in Waſſer-
farben ausführte, das innerhalb weniger Stunden eine ganze
tropiſche Landſchaft vor aller Augen entſtehen ließ, drang der
Direktor des Inſtituts in ihn, das Bergfach aufzugeben und
Maler zu werden. *)


Den Widerſtand des Vaters, der auch jetzt noch fort-
dauerte, brach endlich der Tod. Paſtor Henſel ſtarb 1811;
unſer Wilhelm Henſel war nun Maler. Er ſtudirte Anatomie
und Perſpektive, zeichnete nach der Antike und dem lebenden
Modell und bewährte ſich als ſo tüchtig, daß er ſchon 1812 die
Kunſtausſtellung (die erſte, die in Berlin überhaupt ſtattfand)
beſchicken konnte.


Der Frühling 1813 unterbrach die kaum begonnene Lauf-
bahn. Von Jugend auf voll patriotiſchen Eifers, folgte er
dem „Aufruf“ und trat in das eben damals errichtete Garde-
[385] Koſaken-Regiment ein. Ein kleines Gouachebild, im Beſitz der
Familie, ſtellt ihn, blondlockig unter einem ſchwarzen Barett,
in dieſer phantaſtiſchen Uniform dar. Er machte in dem genann-
ten Truppentheil, der ſehr bald in Namen und Erſcheinung ſich
boruſſificirte, die Schlachten bei Lützen und Bautzen mit, trat
dann zu den freiwilligen Jägern über, nahm Theil an den
Kämpfen des York’ſchen Corps und war unter denen, die zwei
Mal in Paris einzogen. 1815 als Offizier. Hier war es,
wo er in den Bilderſälen des Louvre die Bekanntſchaft des
Grafen Blankenſee machte und den Grund zu einem Freund-
ſchaftsverhältniß legte, das bis zum Tode fortbeſtand.


Nach dem Friedensſchluſſe kehrte unſer W. Henſel zu ſei-
ner Kunſt zurück, freilich auch zu ſeinen Bedrängniſſen. Seit
dem Tode des Vaters hatte er es als eine Ehrenpflicht empfun-
den, für Mutter und Geſchwiſter zu ſchaffen und zu ſorgen;
in dieſe Pflicht trat er jetzt wieder ein. Er malte Bildniſſe,
radirte Blätter, fertigte Zeichnungen für Almanache und Kalen-
der, und ſah ſich durch Arbeiten dieſer und ähnlicher Art in
ſeinem Studium allerdings gehemmt, aber ſein Fleiß, ſein
Vertrauen, ſein gutes Herz halfen über alles hinweg. So ver-
gingen Jahre, bis der Winter 1821 plötzlich Wandel ſchaffte.


Um die genannte Zeit (Januar 1821) war das ruſſiſche
Thronfolgerpaar, der ſpätere Kaiſer Nicolaus und ſeine Gemah-
lin, zum Beſuch am preußiſchen Hofe eingetroffen. Ein großes
Feſt ſollte ihre Gegenwart feiern; man beſchloß den Inhalt
deſſelben dem eben damals erſchienenen, von aller Welt bewun-
derten Gedichte Thomas Moore’s: „Lallah Rukh“ zu entneh-
men. Es war eine gute Wahl; der Gegenſtand neu, die
Situationen feſſelnd, die Coſtüme voll orientaliſcher Pracht. Man
ſchritt ſofort zur Ausführung.


Bei dem Intereſſe, das der Gegenſtand damals erregte,
mag es geſtattet ſein, bei dieſer Lallah-Rukh-Feier rückblickend
noch einmal zu verweilen. Was zunächſt die Dichtung ſelber
angeht, die bereits wieder vom Schauplatze abgetreten iſt (jede
Zeit hat ihre Lieblinge) ſo iſt der Rahmen derſelben der folgende.


Fontane, Wanderungen. III. 25
[386]

Abdallah, König der kleinen Bucharei, kommt auf einer
Pilgerreiſe, die er nach dem Grabe des Propheten unternimmt,
auch nach Delhi in Indien. Hier nimmt ihn Aurengzeb,
Beherrſcher von Delhi, mit großer Gaſtfreundſchaft auf. Die
Vermählung ihrer älteſten Kinder: des buchariſchen Prinzen
Aliris und der indiſchen Prinzeſſin Lallah Rukh wird beſchloſ-
ſen, und ſoll demnächſt in Kaſchmir, wo Prinz Aliris zurück-
geblieben iſt, vollzogen werden. Lallah Rukh verläßt deshalb
Delhi und begiebt ſich mit großem Gefolge nach Kaſchmir.
Unterwegs wird ſie durch die poetiſchen Erzählungen eines jun-
gen Dichters Namens Feramors unterhalten, der ſich unter den
Perſonen befindet, die Prinz Aliris, von Kaſchmir aus, zu
ihrem Empfange entgegengeſandt hat. Vier Erzählungen ſind
es nun, die ganz beſonders die Theilnahme der Prinzeſſin
wecken: „Der verſchleierte Prophet von Khoraſan;“ „Para-
dies und Peri;“ die Geſchichte „von den Ghebern“ und
„Nurmahal und Dſchehangir.“ Zuletzt fällt die Maske und
Feramors erweiſt ſich als Prinz Aliris ſelbſt.


So der Rahmen. Es iſt bekannt, daß die vier poeti-
ſchen Erzählungen, die wir eben nannten, den eigentlichen
Inhalt der Dichtung bilden. Es wurde nun beſchloſſen die
Aufführung dahin zu regeln, daß das Erſcheinen Abdallahs
am Hofe Aurengzebs durch einen großen, aus Bucharen und
Indern beſtehenden Feſtzug, der Inhalt der vier Erzählungen
aber durch lebende Bilder, unter Vortrag eines angepaß-
ten muſikaliſchen Textes dargeſtellt werden ſolle. Und ſo ge-
ſchah es.


Unter den Klängen eines eigens für dieſe Feier kompo-
nirten Marſches ſetzte ſich der aus 168 Perſonen beſtehende
Feſtzug in Bewegung, durchſchritt die bekannten Paradekammern
des Schloſſes, trat in den weißen Saal ein und nahm hier
vor der errichteten Bühne Platz. Nun ging der Vorhang auf
und in raſcher Reihenfolge folgte Bild auf Bild, im Ganzen
zwölf. Der Erfolg war der glänzendſte, wie bei den Kräften,
die mitgewirkt hatten, nicht anders zu erwarten ſtand. Die
[387] Dekorationen waren das Werk Schinkel’s, die Muſikſtücke
waren von Spontini componirt; bei Feſtſtellung der Coſtüme
waren die großen Werke von Forbes und Elphinſtone benutzt
worden. Alles was Berlin an bekannten Perſönlichkeiten, oder
gar an glänzenden Namen aufzuweiſen hatte, war geladen;
4000 Gäſte nahmen am Feſte Theil.


Wir kehren nun zu unſerem W. Henſel zurück. Ihm war
die Aufgabe zugefallen, die lebenden Bilder zu ſtellen,
und die Umſicht, die er dabei an den Tag legte, die Virtuo-
ſität vor Allem, mit der er die Hauptmomente, über die Dauer
des Feſtes hinaus, in Aquarellbildern feſtzuhalten wußte, ver-
ſchafften ihm ſo viel Huld und Wohlwollen, daß man, von
jenem Lallah-Rukh-Feſte an, einen Wendepunkt in ſeinem
äußern Leben datiren muß. Der König (dadurch ſeinen Dank
bethätigend) ſetzte ihn in den Stand, eine auf mehrere Jahre
berechnete Reiſe nach Italien unternehmen zu können, was aber
mehr, als alles Andere, entſcheidend für ihn wurde, war, daß
Fanny Mendelsſohn im Kreiſe der Ihrigen der Aufführung
des Feſtes beigewohnt und dadurch unſerem Henſel Gelegenheit
zu einer erſten Bekanntſchaft mit dem Mendelsſohn’ſchen Hauſe
geboten hatte. Henſel, alsbald eingeführt und mit dem Bruder
(Felix) befreundet, glaubte ſchon im Sommer 1822 um die
Hand Fanny M.’s anhalten zu dürfen; die Familie indeß, mit
Rückſicht auf die bereits feſtſtehende Reiſe Henſel’s nach Italien,
hielt es für beſſer, beide Theile vorläufig nicht zu binden, und
vertagte die Entſcheidung. Die Neigung des Paares überdauerte
die Trennung; 1828 kehrte Henſel nach fünfjähriger Abweſen-
heit zurück; das Jahr darauf vermählte er ſich mit ſeiner von
ihm gefeierten Fanny.


Die nun folgenden 18 Jahre ſeiner Ehe, einſchließlich der
ihnen voraufgegangenen fünf Jahre in Rom, wie es die Tage
ſeines Glückes waren, ſo auch die Tage ſeiner künſtleriſchen
Production. Alles Vorhergehende war Vorbereitung, alles Fol-
gende Nachklang, halb virtuoſes, halb geſelliges Spiel. Alle
25*
[388] ſeine größeren Arbeiten gehören der eben erwähnten Epoche
ſeines Lebens an. Es ſind die folgenden:


Transfiguration. Copie nach Raphael. In Rom 1824—28
gemalt. Befindet ſich im Raphaelſaal in Sansſouci.


Chriſtus und die Samariterin. Rom, 1827. Im Be-
ſitz des Königs; wahrſcheinlich in Schloß Bellevue.


Vittoria von Albano. Berlin, 1829—30.


Die Genzaneſerin. Berlin, 1829—30.


Chriſtus vor Pilatus. Berlin, 1832—38. Altarbild in
der Berliner Garniſonkirche.


Mirjam. Berlin, 1836. Im Beſitz der Königin Victoria
von England.


Chriſtus in der Wüſte. Berlin, 1837—38. Im Beſitz
des Königs.


Der Herzog von Braunſchweig auf dem Balle in Brüſſel
(vor dem Treffen bei Quatrebras). Berlin. Im Beſitze des
Lord Egerton.


Hirtin im Lande Goſen, Motiv einer Figur aus der Mirjam.
Berlin, 1839. Im Beſitze der Herzogin von Sutherland.


Lebensgroßes Portrait des Prinzen von Wales. 1843.
Zweimal gemalt. Das eine im Beſitze des Königs, das andere
im Beſitze der Königin Victoria.


König Wenzel. Berlin, 1844. Befindet ſich im Kaiſer-
ſaale des Römer, Frankfurt a. M.


Römiſche Frauen am [Brunnen]. Rom, 1845. Für den
Berliner Kunſtverein gemalt.


Betende Römerinnen. Rom, 1845. Im Beſitze von Paul
Mendelsſohn-Bartholdy.


Felix Mendelsſohn. Berlin, 1845. Lebensgroßes Knie-
ſtück. Im Beſitze von Sebaſtian Henſel. Oefter copirt.


Bivouac des Herzogs von Braunſchweig auf ſeinem berühm-
ten Zuge nach der Nordſee, vor dem von den Franzoſen beſetz-
ten Braunſchweig. Die Bürger huldigen ihm. — Koloſſalbild,
für den Thronſaal in Braunſchweig beſtimmt geweſen. Un-
vollendet.


[389]

Des Näheren auf dieſe Bilder einzugehen, müſſen wir
uns verſagen. Nur wenige Worte. „Chriſtus vor Pilatus“
pflegt als ſeine beſte Arbeit angeſehen zu werden, und wird in
der That, in Styl und Compoſition, von keinem andern ſeiner
Bilder übertroffen; wir dürften indeſſen kaum fehlgreifen, wenn
wir, unter voller Würdigung jenes Aneignungstalentes,
das er beſaß (dies Wort im beſten Sinne genommen), dennoch
zugleich die Anſicht ausſprechen, daß ſeine eigentliche Begabung
nach einer andern Seite hin lag. In eine ſpätere Zeit geſtellt,
die, wenigſtens in vielen ihrer beſten Schöpfungen, idealiſirend
an das reale Leben herantrat, würde er ein geeigneteres Feld
für ſeine Thätigkeit gefunden haben. Wir kommen in der Kürze
auf dieſen Punkt zurück.


Den 14. Mai 1847 ſtarb ihm die geliebte Frau, an der
er, von dem erſten Tage ihrer Bekanntſchaft an, in ſchwärme-
riſcher, immer wachſender Neigung gehangen hatte; hiermit war
ein neuer Wendepunkt in ſeinem Leben gegeben. Er nahm nun
Abſchied von jenem heiteren Reiche der Kunſt in das die Lallah-
Rukh-Tage ihn eingeführt, worin die römiſchen Tage ihn
befeſtigt, die dreißiger Jahre zu Ruhm und Anſehn erhoben
hatten, er nahm Abſchied von dieſem heiteren Reiche, wobei
nur einzufügen bleibt, daß dieſes Scheiden ein durch die unmit-
telbar voraufgehenden Jahre allmälig vorbereitetes Ereigniß war.
Das Erſcheinen von Peter v. Cornelius in Berlin, die gewal-
tige Thätigkeit, die derſelbe zu entfalten begann, die großartigen
Entwürfe zum Campo Santo, die Carton um Carton eben
damals entſtanden, hatten ihn bereits um die Mitte der vier-
ziger Jahre empfinden laſſen, daß es vergeblich ſei, auf ver-
wandtem Gebiete neben dieſem Rieſen zu ringen. Ein andres
Gebiet ſich unterthan zu machen, dazu war es nun zu ſpät.
Den Zeichenſtift (wir kommen darauf zurück) behielt er in der
Hand, die Palette that er bei Seite.


Die bald eintretenden Vorgänge des Jahres 1848, erſchüt-
ternd wie ſie für ſein loyales, ganz an dem alten Preußen
hängendes Herz waren, erleichterten ihm doch, eben in der
[390] Aufregung die ſie ſchufen, den Uebergang aus einem Lebens-
abſchnitt in den andern, aus ſeinem künſtleriſchen Schaffen in
ein künſtleriſches far niente. Die Märztage ſahen ihn in
Waffen, der alte Jäger-Offizier lebte wieder auf, und als
Kommandirender ſtand er an der Spitze des „Berliner Künſt-
ler-Corps.“


Keiner war dazu berufener als er, Royaliſt und alter
Militair auf der einen Seite, kannte er doch andererſeits auch
die Künſtlernatur genau genug, um mit dieſem Faktor zu rechnen.
So gelang es ihm, dem ganzen Corps, das ſich aus disparaten
und zum Theil auch wohl aus desperaten Elementen zuſammen-
ſetzte, einen preußiſch-loyalen Charakter zu geben, und eine
Truppe heran zu bilden, die wenigſtens ſo zuverläſſig war,
wie es ein ſolches Freicorps, es heiße nun, wie es wolle,
überhaupt zu ſein vermag.


Die politiſche Erregung Henſel’s überdauerte den Sommer
48, ja ſie ſteigerte ſich während des Reactionsfiebers das nun
folgte, und deſſen akutes Stadium erſt vorüber war, als Hans
v. Rochow’s Kugel den eigentlichen Plenipotentiaire jener Tage
niedergeſtreckt hatte. Von da ab, wie für alle Welt, kehrten
auch für Henſel ruhigere Tage zurück; er wie andere waren
müde geworden, und an dieſelbe Wand, an der die Büchſe des
freiwilligen Jägers und die Palette des Malers bereits hingen,
hing er nun auch das Rüſtzeug des Parteikämpfers; die politi-
ſche Brochüre, den Aufruf und das Wahlprogramm. Er war
jetzt über 60 und die Zeit war da, wo man nicht mehr vor-
wärts
und kaum noch um ſich, ſondern nur noch rück-
wärts
blickt.


Nur in einem blieb er ganz und gar der Alte: in ſeinen
geſelligen Beziehungen. Nicht mehr die Kämpfe der großen
Stadt, kaum noch ihre Beſtrebungen bewegten ihn, aber dem
Leben und Geplauder der mannigfachſten ihm befreundeten
Kreiſe blieb er mit Vorliebe zugewandt. Er war nun ganz
das geworden, was man eine „Figur“ nennt; Jeder kannte
ihn; Jeder wußte Dies und Das von ihm zu erzählen, Gut-
[391] thaten und Schwänke, Bonmots und Impromptus. Er war
bis zu einem gewiſſen Grade „der alte Wrangel in Civil.“
Dies Gefühl der Zugehörigkeit zur Hauptſtadt, in der er ein
volles halbes Jahrhundert gelebt hatte, beherrſchte ihn mit
immer ſteigender Gewalt und nahm ſchließlich faſt die Form
einer Krankheit an. Der Aufenthalt bei den liebſten Perſonen,
wenn dieſe nicht dem hauptſtädtiſchen Verbande angehörten,
begann nach wenig Tagen ſchon ihm peinlich zu werden, und
durch all ſeine Heiterkeit hindurch, die er, wie immer ihm ums
Herz ſein mochte, im vertrauten Kreiſe zu bewahren wußte,
zeigte ſich eine Unruhe, die nichts Anderes war als Heimweh
nach Berlin. Ein Gefühl, das Manchem ein Lächeln abnöthi-
gen wird; aber es war ſo. Der Gedanke von einem Provin-
zial-Arzt behandelt oder wohl gar auf einem oſtpreußiſchem
Dorfkirchhof begraben zu werden, hatte etwas Troſtloſes für
ihn und ſein alter, unerkünſtelter Frohſinn kam ihm erſt wieder,
wenn er die beiden Gensd’armen-Thürme und die Schloßkuppel
am Horizont auftauchen ſah.


So erſchien der Spätherbſt 1861. Henſel ſollte ihn nicht
überdauern. Schön, wie er gelebt, ſo ſtarb er. Eine men-
ſchenfreundliche Handlung wurde die mittelbare Urſache ſeines
Todes. Ein Kind aufraffend, das in Gefahr war, von einem
Omnibus überfahren zu werden, verletzte er ſich ſelbſt am
Knie; von da ab lag er danieder. Am 26. November ſchloß
ſich ſein Auge. Sein Tod weckte Trauer bei Vielen, Theil-
nahme bei Allen.


So viel über den Gang ſeines Lebens. Wir werfen noch,
Manches dabei rekapitulirend, einen Blick auf ſeinen Charakter,
ſeine Begabung, ſeine Arbeiten, nur bei dem Bemerkenswerthe-
ſten verweilend.


Wilhelm Henſel gehörte ganz zu jener Gruppe märkiſcher
Männer, an deren Spitze, als ausgeprägteſte Type, der alte
Schadow ſtand. Naturen, die man als doppellebig, als eine
Verquickung von Derbheit und Schönheit, von Gamaſche und
[392] Toga, von preußiſchem Militarismus und klaſſiſchem Idealis-
mus anſehen kann. Die Seele griechiſch, der Geiſt altenfritzig,
der Charakter märkiſch; — dem Charakter entſprach dann meiſt
auch die äußere Erſcheinung. Das Eigenthümliche dieſer Schadow-
Typen (ſie ſterben aus) war, daß ſich die Züge und Gegenſätze
ihres Charakters nebeneinander in Gleichkraft erhielten,
während beiſpielsweiſe bei Schinkel und Winkelmann das Grie-
chiſche über das Märkiſche beinah vollſtändig ſiegte. Bei Henſel
blieb alles in Balance, keines dieſer heterogenen Elemente
drückte oder beherrſchte das andere, und die Neu-Uniformirung
eines Garde-Regiments, oder ein Witzwort des Profeſſor Gans
intereſſirten ihn ebenſo lebhaft wie der Ankauf eines Raphael.


Seine Begabung, wir ſprachen es ſchon aus, war eine
eminent geſellſchaftliche, auch auf Gebieten, die zunächſt
ohne allen Zuſammenhang mit dem geſellſchaftlichen Leben zu
ſein ſchienen. Er excellirte am Feſttiſch, war ein immer gern-
geſehener Gaſt, heiter, geſprächig, jedem Scherze zugeneigt,
dabei voll jenes feinen Ehrgefühls, das, indem es ſelber die
Grenzlinie wahrt, die Linie des Schicklichen ſtillſchweigend auch
von anderen gewahrt zu wiſſen verlangt. So ſchrieb er, als
er bei einer beſtimmten Gelegenheit ſich verletzt glaubte, folgende
ſchöne Worte an Graf B.:


„Geſellige Demüthigungen ſind das verletzendſte, was es
giebt! Du weißt, daß ich Standes-Unterſchiede ehre und
liebe, ihnen auch gern die äußere Anerkennung zolle, allein
der Höhere, der mich durch Annäherung ehrt, muß auch die
Ueberzeugung fühlen, daß ich meine eigene unantaſtbare Ehre
habe. Nur dieſem feſten Gang meiner Lebens, nie andringend
aber auch nie ſchmiegſam zurückweichend, habe ich wohl das
reiche Maß von Huld und Güte zu danken, welches mir bisher
geworden iſt. Und wie ich war, werde ich bleiben.“


Er war heiter und geſprächig, ſo ſagten wir; die Anek-
dote, der Toaſt, der Verſebrief, das Gelegenheitsgedicht, —
alles war ihm unterthan. Seine eigentlichſte Meiſterſchaft aber,
zugleich ſeine vollſte Eigenart, zeigte er auf dem Gebiete des
[393]Impromptu. Hier feierte er ſeine größten Triumphe. Das
geſchickte Operiren mit einem Reim-Einfall, einem epigramma-
tiſch zugeſpitzten Calembourg, verſtand er beſſer als einer. Er
war kein Dichter, aber man hätte ihn „Wilhelm den Reimer“
nennen können. Eine Sammlung dieſer „geflügelten Worte,“
wenn es möglich wäre, eine ſolche noch nachträglich zu veran-
ſtalten, würde ein Witz- und Anekdotenbuch, zugleich eine Per-
ſonen- und Charakterſchilderung aus dem zweiten Viertel dieſes
Jahrhunderts ſein. Eine Auswahl zu treffen iſt ſchwer.


Von geſellſchaftlicher Bedeutung, ja von geſellſchaft-
lichem Fundament war auch die Art wie er die Kunſt
übte, zumal wenn wir von der Epoche abſehen, wo er noch
unmittelbar unter dem Einfluß Italiens und der großen Meiſter
ſtand. Was er in der Geſellſchaft und für die Geſellſchaft
ſchuf, das wird unter allem, was er geſchaffen, das Dauerndſte
bleiben, nicht weil es an künſtleriſcher Kraft ſich über anderes
erhöbe, ſondern lediglich deshalb weil Situation und geſell-
ſchaftlicher Charakter des Mannes eben dieſen Arbeiten einen
aparten Stempel aufdrückten.


Die Arbeiten Henſel’s, die wir hierbei im Sinne haben,
ſind ſeine, während eines Zeitraums von 40 Jahren entſtan-
denen Portraits, die eine in ihrer Art berühmte Sammlung
bilden. Wir gehen zum Schluß unſerer Arbeit näher darauf ein.


Dieſe Sammlung, in Händen ſeines Sohnes befindlich,
beſteht aus 47 Jahres-Mappen, die in einem alten Schildpat-
oder Boule-Schranke aufbewahrt werden und die ganze obere
Hälfte deſſelben füllen. Schon die bloßen Mappen-Deckel bil-
den eine Sehenswürdigkeit. Bekanntlich gab es in früheren
Jahrhunderten, weit über das hinaus was jetzt geleiſtet wird,
auch eine Buchbinde-Kunſt, und ſolcher untergegangenen Kunſt-
Epoche ſcheinen dieſe Mappen, von denen übrigens keine älter
iſt als 50 Jahr, anzugehören. Sie ſind alle verſchieden, in
Farbe wie Stoff; Sammt, Seide, Maroquin wechſeln ab; das
Vergilbte und Verſchoſſene kleidet ihnen gut; die Goldverzierun-
gen ſind ſchön erhalten; einzelne (die Lieblingsmappen) tragen
[394] auf dem oberen Deckel eine Gemme, ein Moſaikbild. Ein
geſchnittener Onyx, von der Größe einer Damenuhr, die
Entführung der Europa darſtellend, iſt ebenſo ſchön wie
werthvoll.


Dieſe 47 Mappen nun, die von 1815 bis 1861 reichen
und je nach der Jahresausbeute dünn oder voluminös ſind,
enthalten nicht weniger als 1027 Portraitköpfe. Man darf
ſagen, alles oder doch faſt alles, was in dieſem langen Zeit-
abſchnitte in ganz Mittel-Europa zu Ruhm und Anſehn gelangte,
das giebt ſich hier ein Rendezvous. Wir werden unſern Leſern
an andrem Orte Gelegenheit geben, ſelbſt zu controliren. Einige
Daten mögen ſchon hier eine Stelle finden. Gruppiren wir
den Geſammtinhalt nach den Nationalitäten, ſo finden wir,
außer ungezählten Deutſchen, 52 Engländer, 43 Italiener,
31 Franzoſen, 17 Ruſſen und Polen; in Einzel-Exemplaren
geſellen ſich ihnen zu: Griechen, Fanarioten, Rumänier, Mon-
tenegriner, ſelbſt ein indiſcher Fürſt und ein Mexikaner. Laſſen
wir die Scheidung nach Nationalitäten fallen und gruppiren
ſtatt deſſen nach Beruf und Lebensſtellung, ſo ergeben die
Mappen, unter Ausſchluß der Fürſtlichkeiten, die das ſtärkſte
Contingent ſtellen, folgendes: Dichter, Gelehrte, Schriftſteller 89;
Architekten, Maler, Bildhauer, Componiſten 62; Generale und
Staatsmänner 51; Schauſpieler und Sänger 21.


Wir geben an beſagter Stelle alles dieſes ausführlicher;
können es uns aber ſchon hier nicht verſagen, wenigſtens aus
der erſtgenannten Gruppe (Dichter, Gelehrte, Schriftſteller)
etwa die Hälfte der Namen zu citiren. Es ſind: Bettina v. Ar-
nim; Maxe, Armgard, Giſela v. Arnim; Boeckh; Clemens
Brentano; Geh. Rath Bunſen; Michel Beer; Dr. Carl Blum;
Prof Droyſen; Ehrenberg; La Motte Fouqué; Prof. Gans;
Goethe; Jacob Grimm; Paul Heyſe; Henriette Hertz; J. T. A.
Hoffmann; Alexander v. Humboldt; Klingemann; Th. Körner;
Adam Müller; Wilhelm Müller; Müllner; Frau v. Paalzow;
Fürſt Pückler; Leopold v. Ranke; Oskar v. Redwitz; Ernſt
Schulze (Dichter der bezauberten Roſe); Steffens; Tieck; Tiedge;
[395] Varnhagen und die Rahel. Wer unſer Berliner Leben ſeit
40 Jahren verfolgt hat, wird hier ſo ziemlich jeden Namen
wiederfinden, der, auf ſchönwiſſenſchaftlichem Gebiet, das Wort
im beſten und weiteſten Sinne genommen, auf längere oder
kürzere Zeit in den Vordergrund getreten iſt. Man beachte
nur ’mal: Fouqué, Müllner, Hoffmann, Pückler, Frau von
Paalzow, Redwitz, Paul Heyſe.


Dies mag genügen. Noch einige kurze Bemerkungen.
Henſel hatte keine Feinde, aber er hatte, gerade was dieſe Por-
traits anging, Zweifler. Dieſe haben durch Witzworte und
Schelmereien (der alte Humboldt, hieß es, ſei für den ſchönen
Karlowa gehalten worden) die Bedeutung dieſer Sammlung hin-
wegſpötteln wollen. Aber ſehr mit Unrecht. Alle dieſe Portrait-
köpfe ſind nicht Phantaſieſchöpfungen, ſie laufen nicht auf ein
bequemes „corriger la nature“ hinaus, ſie verrathen, abge-
ſehen von einer meiſterhaften, unſerem Henſel ganz eigenthüm-
lichen Technik, vor Allem auch eine eminente Begabung, das
Charakteriſtiſche zu treffen. Sonderbarerweiſe haben wir uns
neuerdings daran gewöhnt, das Charakteriſtiſche immer nur im
Häßlichen zu ſuchen, anſtatt uns zuzugeſtehen, daß das Ueber-
treiben nach der einen Seite hin, das Carrikiren und Trans-
poniren en laid, doch mindeſtens ebenſo verwerflich iſt, als ein
Zuviel en beau. Richtig geübt iſt dies eben nichts anderes als
der ideale Zug in der Kunſt, der doch immer der ſiegreiche
bleiben wird.


Die neueſte Kunſt- und Weltepoche, die „lichtbildneriſche,“
iſt dem Ruhme der Henſelſchen 47 Mappen allerdings nicht allzu
günſtig geworden; die Sonne und die Glaslinſe des Photo-
graphen ſchlagen ihn aus dem Felde. Aber, wie immer dem
ſein möge, der größte Theil dieſer Sammlung giebt doch Auf-
ſchluß über eine vor- lichtbildliche Epoche und wird über kurz
oder lang einen Werth repräſentiren, wie die Initialenbücher
des Mittelalters, aus denen berühmte Städte und Perſönlich-
keiten allein noch zu uns ſprechen. Die 47 Mappen Wilhelm
Henſel’s werden dann ein Bibliothekenſchatz ſein, trotz einem, eine
[396] hiſtoriſche Quelle, und der Name des Predigerſohns aus Trebbin
wird zu neuen Ehren erblühen.


Am 26. November 1861 (wir gaben dies Datum ſchon)
war W. Henſel geſtorben, am 30. trugen ihn ſeine Freunde
hinaus. Auf dem alten Dreifaltigkeits-Kirchhofe (unmittelbar
links vorm Halleſchen Thore) war ihm an der Seite Fanny
Mendelsſohn’s, deren Andenken er faſt einen Kultus gewidmet
hatte, die letzte Ruheſtätte bereitet worden.


Sein Grab zu beſuchen, zugleich auch über die Daten ſeiner
Geburt und ſeines Todes volle Gewißheit zu erlangen, bog ich,
in dieſen letzten Maitagen, in den dunklen, kaſtanienüber-
ſchatteten Gang ein, der bis an das Thor des alten Kirchhofs
führt.


Iſt hier der Mendelsſohn’ſche Begräbnißplatz?


„Gewiß,“ ſagte ein 12jähriges, klug ausſehendes Kind,
ſetzte das Schweſterchen, das ſie zu warten hatte, ins Gras und
lief vor mir her, den Gang hinunter, ſich dann und wann
umſehend, ob ich auch folge. Es ging durch verſchiedene Thüren
und Thore, denn drei, vier Kirchhöfe wachſen hier ſo eng und
dicht durcheinander wie die Finger gefalteter Hände. Ohne
Führer und Spezialkarte iſt hier nicht durchzukommen.


Endlich hielten wir vor einer umgitterten Stelle von mäßi-
ger Größe.


„Hier das Mittelgrab iſt das Grab von Felix Mendels-
ſohn-Bartholdy;“ ſie gab ihm ſeinen vollen Namen. Daß
ich Wilhelm Henſel’s wegen gekommen, dieſer Gedanke lag ihr
fern. Dann knixte ſie und lief wieder im Zickzack bis zu der
Stelle, wo ich ſie gefunden.


Die Mendelsſohn’ſche Begräbnißſtätte bildet einen „Staat
im Staat,“ einen Kirchhof auf dem Kirchhof. Es ſind fünf
Gräber, alle gleichmäßig von Epheu überwachſen. Darunter
ruhen, neben andern Mitgliedern der Familie, Felix Men-
delsſohn, Fanny
Mendelsſohn, die Gattin Wilhelm Henſel’s,
[397] und endlich Wilhelm Henſel ſelbſt. Dem Hauſe, dem er im
Leben anhing, iſt er auch im Tode treu geblieben.


Alle Arten von Immergrün, Bäume mit Strauchwerk,
faſſen das Gitter ein: Epheu, Buchsbaum, Taxus, Lebens-
baum und Edeltanne. Eine hohe Cypreſſe überragt das Ganze.
Die Gräber tragen Marmorkreuze; nur zu Häupten Fanny
Henſel’s ſteht ein zugeſchrägter, ſchön polirter Granit, der,
außer Namen und Datum, noch die Worte trägt:


Gedanken gehn und Lieder

Fort bis ins Himmelreich,

Fort bis ins Himmelreich.

Auch die Noten der Liedeskompoſition ſind in Goldſchrift
beigefügt, was einen ſehr eigenthümlichen Eindruck macht. Worin
kein Tadel liegen ſoll. Im Gegentheil. Ich ſeh nicht ein,
weshalb nur Fahnen und Kanonen das Vorrecht genießen ſollen,
Denkmal- oder Grabſtein-berechtigt zu ſein. Je öfter und
conſequenter dieſe langweilige Tradition durchbrochen wird,
deſto beſſer.


Wilhelm Henſel’s Grabſchrift lautet: Profeſſor, Hofmaler;
geb. zu Linum d. 6. Juli 1794, geſt. zu Berlin d. 26. No-
vember 1861.


Geboren zu Linum! Da lag es alſo. Ich bat meinem
Trebbiner Schützen-Major, mit dem ich dies Kapitel einleitete,
im Geiſte ab, über den großen Sohn ſeiner Stadt, der ſich
nun ſchließlich als ein Linumer Kind herausſtellte, ſo ſchlecht
unterrichtet geweſen zu ſein.


Aber auch dieſe reumüthige Stimmung hatte keine Dauer,
durfte ſie nicht haben. Er war doch ein Trebbiner. Eine
ſich entſpinnende Zeitungs-Controverſe ließ, nach Austauſch
einiger Für und Wider darüber keinen Zweifel… Der Grab-
ſtein, in Geltendmachtung traditioneller Vorrechte, hatte ſich
geirrt.


Alſo noch einmal: W. Henſel geb. zu Trebbin u. ſ. w.!


[[398]]

Friedrichsfelde.


1.


Und nahe hör’ ich, wie ein rauſchend Wehr,
Die Stadt, die völkerwimmelnde, ertoſen.
Braut von Meſſina.

Gegrüßet ſeid mir, edle Herrn,
Gegrüßt ihr, ſchöne Damen!
Göthe.

Wen ein Sommer-Nachmittag ſtatt in die Parkgänge des
Thiergartens ausnahmsweiſe vor die Thore der öſtlichen Stadt-
theile, beiſpielsweiſe nach Friedrichsfelde führt, dem werden ſich
daſelbſt in Landſchaft und Genre die freundlichſten, manchem
wohl auch die unerwartetſten Bilder bieten. Friedrichsfelde iſt
das Charlottenburg des Oſtends. Alte Eichen und friſcher
Raſen, im Styl einer großen engliſchen Parkwieſe, legen ſich,
wie ſchützend, um die eine Seite des Dorfes herum, und all-
ſonntäglich wandern die Reſidenzler hinaus, um ſich unter den
„Eichen von Friedrichsfelde“ zu divertiren. Es ſind Vorſtadt-
Berliner, jener Schicht entſproſſen, wo die Steifheit aufhört
und der Cynismus noch nicht anfängt, ein leichtlebiges Völkchen,
das Alles gelten läßt, nur nicht die Spielverderberei, ein wenig
eitel, ein wenig kokett, ein wenig ſich zur Schau tragend, aber
heiter und harmlos. Wie das lacht und glücklich iſt im Schweiße
ſeines Angeſichts! Jetzt „Bäumchen, Bäumchen verwechſelt
euch,“ jetzt Anſchlag, jetzt Zeck, nun geht der Plumpſack um,
nun ſchließt ſich Alles zu einem Ringelreihen und ſingt vom
Gänſedieb, bis ſchließlich unter den weitſchattigen Bäumen des
Parks, zu dem der gegenwärtige Beſitzer Niemandem den
Zutritt weigert, ſich Alles lagert und auf umgeſtülpten Körben
und Kobern das Mahl nimmt.


[399]

Die Fahrt nach Friedrichsfelde, wenn man zu den „Weſt-
endern“ zählt, erfordert freilich einen Entſchluß. Es iſt eine
Reiſe, und nicht eben die angenehmſte. Durch dieſe ganze
Steinmaſſe des alten und neuen Berlins ſich muthig hindurch-
zuſchlagen, um dann ſchließlich in einem fuchsrothen Omnibus
mit Hauderer-Traditionen die Fahrt zu Ende zu führen, iſt
nicht Jedem gegeben. Wer es aber an einem grauen Tage
wagen will, wo die Sonne nicht ſticht und der Staub nicht
wirbelt, der wird ſeine Mühe reichlich belohnt finden. Er wird
überraſcht ſein durch das reiche Stück Geſchichte, das ihm an
dieſer Stelle entgegentritt.


Wir erzählen davon.


Friedrichsfelde bis 1698.


Friedrichsfelde bis 1698, und noch einige Jahre darüber
hinaus, war gar kein Friedrichsfelde; es führte bis dahin den
poetiſchen, an Idyll und Schäferſpiele mahnenden Namen Ro-
ſenfelde
. Und doch griff dieſer Name in Zeiten zurück
(erſtes Vorkommen 1288), wo in der Mark an alles Andere
eher gedacht wurde, als an Schäferſpiele. Kaum Schäfer mocht’
es damals geben.


1319, im letzten Regierungsjahre des Markgrafen Walde-
mar, wurden die Rathmannen von Berlin und Cölln die
Herren des ſchon damals anſehnlichen Beſitzes und beinahe drei
Jahrhunderte lang trug es die alte Patrizierfamilie der Rykes
von den Rathmannen zu Lehn. 1590, ſo ſcheint es, wurde
das Gut zu großem Theile landesherrlich, bis es unter dem
Großen Kurfürſten in den Beſitz Joachim Ernſt von Grumb-
kow’s
*) und 1695 in den Beſitz Raule’s kam.


[400]

Benjamin Raule — ein Holländer von Geburt, General-
director des Seeweſens, deſſen Name in „Raule’s Hof,“
wo ſich die Admiralität damals befand, bis auf den heutigen
Tag fortlebt — verblieb nur wenige Jahre im Beſitz von
Roſenfelde. So kurz dieſe Zeit war, ſo reichte ſie für ihn doch
aus, um dem herrſchaftlichen Gute im Weſentlichen die Aus-
dehnung und Anlage zu geben, die daſſelbe noch heute zeigt.
Bis dahin hatte Roſenfelde ein Jagdſchloß gehabt, wahrſchein-
lich aus der Joachimſchen Zeit. Dies überließ Raule ſeinem
Schickſale; er baute ſtatt deſſen ein Luſthaus, einen Sommer-
Pavillon, an derſelben Stelle, wo jetzt das Schloß ſteht, und
ließ durch holländiſche Gartenkünſtler den jetzigen Park*)
*)
[401] wenigſtens in ſeinen Grundzügen — anlegen. Raule war ſehr
reich. Er bewirthete verſchiedentlich den Kurfürſten ſammt ſeinem
ganzen Hofe im Roſenfelder Luſtſchloſſe, und der Poet v. Ca-
nitz konnte damals ſingen:


Der Churfürſt und was fürſtlich heißt,

Haben jüngſt beim Raule geſpeiſt

Mittags zu Roſenfelde.

Aber Glück und Ehre waren von kurzer Dauer. Raule,
wie ſo viele Perſonen aus der Regierungszeit Friedrichs III.,
wurde der Unterſchlagung bezichtigt und fiel in Ungnade,
während ſein ganzer Beſitz confiscirt wurde.


Roſenfelde war nun landesherrlich. Zwei Jahre ſpäter
(1700) wechſelte es den Namen und wurde Friedrichsfelde.


Friedrichsfelde von 1700—1731.


Markgraf Albrecht.


Friedrichsfelde war nun alſo landesherrlich und blieb es
bis zum 25. November 1717, unter welchem Datum König
Friedrich Wilhelm I. ſeinem Stiefonkel, dem Markgrafen
Albrecht von Schwedt das Schloßgut zum Geſchenk machte.


Markgraf Albrecht, der damalige Herrenmeiſter des Jo-
hanniter-Ordens, ſcheint aber ſchon vorher unter Gutheißung
des Königs ſeinen gelegentlichen Sommeraufenthalt daſelbſt
genommen zu haben; denn die Ordensbücher ſprechen von einem
Capitel, das bereits am 10. September 1717 in Friedrichs-
felde abgehalten wurde.



Fontane, Wanderungen. III. 26
[402]

Der Markgraf ließ ſich die Verſchönerung ſeines Beſitzes
angelegen ſein. Schon 1719 wurde durch Böhme ein neues
Schloß an Stelle des alten aufgeführt, deſſen Grundmauern,
trotz vielfacher ſonſtiger Veränderungen, ſeitdem dieſelben geblie-
ben ſind. Er legte auch die ſogenannte „Prinzen-Allee“ an,
die, von einer beſtimmten Stelle der Friedrichsfelder Chauſſee*)
abzweigend, auf einem näheren Wege unmittelbar vor das
Schloß führt.


Markgraf Albrecht ſcheint mit Vorliebe in Friedrichsfelde
reſidirt zu haben; vielleicht war es auch ſein einziger Beſitz.
Nur die Hoffeſte und die Inſpectionen riefen ihn ab. Die
Kriegs-Epoche lag vor 1717. In dieſen Kämpfen, nament-
lich während des ſpaniſchen Erbfolgekrieges, hatte er ſich aus-
gezeichnet und dem Könige ein neues Infanterie-Regiment
errichtet, das zu Ehren ſeines Chefs (er war damals ſchon
Herrenmeiſter) auf den Fahnen, Trommeln und Borten der
Spielleute das Johanniterkreuz trug. Ob das Regiment Mark-
graf Albrecht dieſe Abzeichen beibehielt, als es ſpäter zu Sol-
din und Königsberg i. d. Neum. garniſonirte, habe ich nicht
in Erfahrung bringen können.


Markgraf Albrecht ſtarb am 21. Juni 1731 zu Friedrichs-
felde. Er war ſeines edlen Charakters halber in der Haupt-
ſtadt ſehr geliebt, und ſo weckte ſein Hinſcheiden allgemeine
Trauer. Sein Leichenbegängniß erfolgte ohne allen Pomp, da
er nicht in den beſten Vermögensumſtänden gelebt hatte und der
König, ſein Stiefneffe, ſich weigerte die Koſten dazu
herzugeben
.


[403]

In Beckmann’s Geſchichte des Johanniter-Ordens (Frank-
furt a. O., 1726) findet ſich als Titelkupfer ein Bild des
Markgrafen. Es macht einen guten Eindruck. Er ſieht ſtatt-
lich, wohlwollend aus, aber nicht klug; ein des Geiſtigen ent-
kleidetes Großes-Kurfürſten-Geſicht. (Der große Kurfürſt war
ſein Vater.)


Friedrichsfelde von 1731—62.


Markgraf Karl.


Markgraf Albrecht hinterließ drei Söhne, von denen der
älteſte, Markgraf Karl, ſuccedirte. Er erbte Friedrichsfelde,
erhielt das Regiment des Vaters (nunmehr Regiment Markgraf
Karl) und wurde ſeitens des Johanniter-Ordens zum Herren-
meiſter gewählt. Die beiden jüngeren Brüder fielen in den
Kämpfen der ſchleſiſchen Kriege, der eine 1741 bei Mollwitz,
der andere 1744 vor Prag.


Markgraf Karl lebte viel in Friedrichsfelde und begann
das 1719 durch Böhme aufgeführte Schloß, namentlich in ſei-
nem Innern, auszubauen und zu ſchmücken. Dies geſchah
1735. Die Stuckarbeiten in den Zimmern des erſten Stocks
datiren aus dieſer Zeit; ſie ſind, beſonders die Frieſe und
Wandreliefs, von bemerkenswerther Schönheit und zeigen, wie
glänzend die Schule war, die Schlüter herangebildet hatte. Auch
mit Bildern ſchmückten ſich die Räume des Schloſſes und began-
nen mehr und mehr zu einer Collection zu werden. Dieſe führte
den Namen: Gallerie des Markgrafen Karl. Er ſammelte mit
Neigung und Verſtändniß, aber eben ſo ſehr aus gutem Her-
zen. Daher war nicht Alles erſten Ranges, aber das Gute
überwog.


Einen Theil ſeiner Bilder mochte er nicht in Friedrichs-
felde, ſondern im Johanniter-Ordenspalais haben, das, in den
letzten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I., nur dieſem
zu Liebe und gewiß ganz gegen die Wünſche des Ordens, am
Wilhelmsplatze errichtet worden war. Es war ein völliger
26*
[404]Zwangsbau. Der General-Major v. Truchſeß hatte eben
damals die Aufführung eines anſehnlichen Hauſes begonnen,
an deſſen Vollendung ihn der Tod hinderte. Die Erben ſcheu-
ten den Weiterbau. Da ſchlug ſich der König, der die Fried-
richsſtadt mit ſchönen Häuſern verziert haben wollte, ohne Wei-
teres ins Mittel und befahl dem Herrenmeiſter, Markgraf Karl,
die Vollendung des Baus aus Ordensmitteln zu übernehmen.
Dies geſchah. König Friedrich Wilhelm I. war nicht gewohnt
auf Widerſpruch zu ſtoßen.


In dieſem Palais, das Markgraf Karl zeitweilig bewohnte,
befand ſich, wie ſchon angedeutet, wohl ein Theil ſeiner Gal-
lerie, vielleicht ſogar der größere Theil. Nach ſeinem Tode
wurde die Sammlung verſteigert und die Bilder zerſtreuten ſich
überall hin. Einige, die ſich auf den alten Zieten beziehen,
ſah ich in Wuſtrau. Im Friedrichsfelder Schloß befinden ſich
noch jetzt einige Rudera der Collection, die beim Verkauf ledig-
lich aus Indifferenz oder Bequemlichkeit zurückgelaſſen wurden.
Vielleicht kaufte ſie auch der Prinz Ferdinand, der nach dem
Markgrafen Karl in Friedrichsfelde einzog. Es ſind: 2 alte
Köpfe, höchſt vorzüglich, im Styl von Gerard Dow; außerdem
ein anderer Niederländer: Chriſtus als Knabe predigt im
Tempel.


Markgraf Karl ſtarb am 22. Juni 1762 zu Breslau.
Er war, wie ſein Vater Markgraf Albrecht, um ſeiner Her-
zensgüte, wie um der Pflege willen, die er der heimiſchen
Kunſt bezeigt hatte, eine in Berlin ſehr beliebte Perſönlichkeit
geweſen. Für viele war ſein Hinſcheiden ein herber Verluſt.
Er hinterließ keine männliche Deſcendenz.


Friedrichsfelde fiel an ſeine Tochter, die Herzogin von
Anhalt-Bernburg, deren Bevollmächtigter ſchon im Novem-
ber deſſelben Jahres Schloß, Park und Pertinenzien an den
Prinzen Ferdinand von Preußen verkaufte.


[405]

Friedrichsfelde von 1762—85.


Prinz Ferdinand.


Prinz Ferdinand, der jüngſte Bruder des großen Königs,
hatte von 1744 an in Ruppin reſidirt, wo das Regiment, das
ſeinen Namen führte, in Garniſon lag; von 1756—63 war
er mit den andern Prinzen im Kriegslager geweſen. Der
Hubertsburger Friede und der Erwerb von Friedrichsfelde fielen
faſt zuſammen und mit einer Art von Ausſchließlichkeit gehörte
der Prinz von 1763—85 dieſem anmuthigen Sommerſchloſſe
an, das nun ſchon zweien Herrenmeiſtern des Johanniter-
Ordens als Reſidenz gedient hatte. Er war der dritte. Von
1785 an, was gleich hier bemerkt ſein möge, wurde Schloß
Bellevue, im Berliner Thiergarten, der Aufenthalt des Prin-
zen, bis von 1802 ab (nach dem Tode des Prinzen Hein-
rich) Rheinsberg
an die Stelle von Bellevue trat.


Wir haben alſo, von dem 7jährigen Kriegsinterregnum
abgeſehen, vier Epochen im Leben des Prinzen Ferdinand zu
unterſcheiden, Ruppin, Friedrichsfelde, Bellevue, Rheinsberg,
von denen die Friedrichsfelder Epoche die wichtigſte und die
längſte iſt. Sie umfaßt 22 Jahre und zeigt, nach dem beſchei-
denen Maße von Originalität, das ſpeciell dieſem Prinzen zu
Theil geworden war, wenigſtens Farbe und Gepräge, wenn
auch nicht Selbſtſtändigkeit.


Gerade hieran gebrach es. Man darf ſagen, daß er in
allem ſeinen Bruder Heinrich copirte; der Friedrichsfelder
Hof war Seitenſtück und Nachahmung des Rheinsberger. Zu-
nächſt wurde die Hofhaltung im weiteſten Sinne ganz nach
dem dortigen Muſter eingerichtet. Cavalierhäuſer, Stall- und
Wachtgebäude, Tempel und Grotten wurden aufgeführt, alles
wie in Rheinsberg. Wie Prinz Heinrich einige 40 Kammer-
huſaren hielt, die die Garniſon von Rheinsberg bildeten und
den Wachtdienſt im Schloſſe hatten, ſo hatte Prinz Ferdinand
eine Art Invaliden-Colonie in Friedrichsfelde, die ihren Zuzug
aus ſeinem Ruppiner Regiment erhielt. Dieſe alten Soldaten
[406] beſtellten nun ihr Stück Garten- und Ackerland; einige aber
mußten täglich auf Wache ziehen und den Dienſt verſehn. Kam
dann mal ein hoher Beſuch, Prinz Heinrich oder gar der König
ſelbſt, ſo mußten ſie alle heran, um die militäriſchen Verhält-
niſſe von Friedrichsfelde in möglichſt günſtigem Lichte erſcheinen
zu laſſen. Das Wachtlocal iſt noch da, und erinnert mit ſei-
nen Holzſäulchen, die das obere Stockwerk tragen, zumeiſt an
die Wachthäuſer am Halleſchen Thor, die, beiläufig, nun auch
ihren Dienſt eingeſtellt haben.


Natürlich war auch das Friedrichsfelder Leben dem
Rheinsberger verwandt, nur blaſſer, inſipider. Wir müſſen
hinzuſetzen, zu ſeinem Glück. Es hatte auch ſeine „Chronique,“
ſeine Flüſterungen, ſeine Geheimniſſe, aber es fehlte doch das
Parfum, das in dem ſtillen, abgelegenen Schloß am Grineritz-
See alle Dinge durchdrang. In Friedrichsfelde gab es Frauen,
das ſagt Alles; ihre Gegenwart bedingt nicht immer Tugend,
aber ſie bedingt wenigſtens Natur. Und davon hatte der
Friedrichsfelder Hof ſein volles Maaß. Die durchlauchtige Dame,
die ihm vorſtand, war eine Prinzeſſin von Schwedt, gehörte
alſo einem Frauenkreiſe an, von dem man ſagen kann, daß er
der Natur noch um einen Schritt näher ſtand, als die Frauen
im Allgemeinen. Es iſt eine Freude, in alten Gallerieen, bei-
ſpielsweiſe in Schwedt ſelbſt, ihren Bildern und Büſten zu
begegnen; welche Fülle von Leben, welche Geſundheit in Formen
und Farben! Ihre Ehen waren nicht immer normal, nicht
immer das, was Ehen ſein ſollen; aber es waren gute
Frauen, und — die Männer waren glücklich.


Ueberraſchend zu ſagen, die Hauptfeſte in Friedrichsfelde
waren Taufen! Namentlich um jene Zeit herum, wo die
geſammte hohenzollernſche Deſcendenz auf zwei Augen ſtand.
Das war um 1770. Am 11. November 1771 wurde ein
Prinz geboren; bei der damaligen Sachlage ein „Ereigniß.“
Der Prinz erhielt die Namen Friedrich Chriſtian Heinrich
Ludwig. Der König, die Königin, Prinz Heinrich, wohnten
der Tauffeierlichkeit bei; von auswärtigen Mitgliedern der Fa-
[407] milie war die verwittwete Königin von Schweden, Louiſe Ul-
rike, geladen. Im Kirchenbuche finden ſich von der Hand des
Paſtors Damerow, der die Taufe vollzog, folgende Bemer-
kungen eingetragen:


„Dieſe glückliche Entbindung war um ſo viel freudiger,
weil der theuerſte Vater ſeit einigen Wochen an einer ſehr gefähr-
lichen Krankheit darnieder lag, ſo daß man verſchiedene Tage
ſein Ableben befürchtete; Umſtände, welche bei der nahen Ent-
bindung die geliebte Gemahlin äußerſt geängſtigt und elend
gemacht hatten, ſo daß man wegen ihres Lebens beſorget
war. … Es war auch, bei der äußerſten Gefahr des Prin-
zen, von Seiner Fürſtlichen Gemahlin, und zwar vor Ihrer
Entbindung, dem Prediger aufgetragen worden, eine Betſtunde
in dero Zimmer zu halten, welches dann in aller Stille, in
Gegenwart der Prinzeſſin, der Prinzeſſin Philippine und zween
Dames geſchahe. Es war rührend, dabei ſo viel An-
dacht
und Wehmuth an ſo hohen Perſonen wahrzunehmen.“


Ueber die anderweiten Aufzeichnungen des Kirchenbuches
gehen wir ſchneller hinfort, trotzdem ſie an zwei Namen
anknüpfen, die es in der Geſchichte unſeres Vaterlandes, in
Glück und Unglück, zu hohem Anſehen gebracht haben. Am
18. November 1772 wurde Prinz Louis Ferdinand, der
„Saalfelder,“ am 19. September 1779 Prinz Auguſt, der
Reorganiſator der preußiſchen Artillerie, geboren.


Sechs Jahre ſpäter verließ der Ferdinandſche Hof Fried-
richsfelde. Es ſcheint nicht, daß er in der Einrichtung des
Schloſſes Erhebliches zu ändern vorfand. Am 21. Juni 1785
wurden Schloß und Park an den Herzog von Kurland verkauft.


Friedrichsfelde von 1785—99.


Herzogin Dorothea von Kurland.


Am 21. Juni 1785 wurden Schloß und Park von
Friedrichsfelde für den Herzog von Kurland gekauft; er ſelbſt
[408] befand ſich um dieſe Zeit noch in Italien, wohin er das Jahr
zuvor eine Reiſe angetreten hatte. Im Herbſt 1785 traf er
in Begleitung ſeiner Gemahlin, der vielgefeierten Herzogin
Dorothea, geb. Reichsgräfin von Medem, wieder in Berlin
ein und bezog auch Friedrichsfelde.


Dieſer erſte Aufenthalt war höchſt wahrſcheinlich nur ein
gelegentlicher, oft unterbrochener (auch in der Stadt hatte man
eine Wohnung) und umfaßte im Ganzen einen Zeitraum von etwa
6 Monaten. Daran reihte ſich 1786 ein zweiter, 1791 und
93 ein dritter und vierter Aufenthalt, von denen nur der letz-
tere eine längere Zeit, etwa ein Jahr, umfaßte. Die anderen
Anweſenheiten waren bloße Beſuche und zählten nur nach
Wochen.


Wir betonen dies, weil man mannichfach der Anſicht
begegnet, Friedrichsfelde ſei während ſeiner „kurländiſchen
Epoche“ abermals zu einer Stätte der Kunſt, zu einem Sam-
melplatz ſchöngeiſtigen Lebens geworden, etwa wie zur Zeit des
Markgrafen Karl. Um das zu werden, dazu fehlte es 1785,
86 und 91 an Zeit, 1793 bis 94 an Stimmung.


Ein Blick in die Briefe und Tagebücher, die aus jener
Zeit her erhalten ſind, zeigt außerdem genugſam, daß es ſich all
dieſe Zeit über um high life und politiſch-diplomatiſche Actio-
nen, viel weniger aber um Kunſt und Wiſſenſchaft handelte.
Nicht, als ob der Sinn dafür gefehlt hätte. Im Gegentheil.
Aber die Zeiten waren nicht dazu angethan, ſich einer muße-
vollen Kunſtbetrachtung hinzugeben; man entfloh dem heimiſchen
Wirrſal, aber dies Wirrſal drängte nach und geſtattete keinen
unbedingt heiteren Genuß. Ueberall hin warf es ſeine Schat-
ten. Einige Citate aus dem Tiedge’ſchen Buche: „Doro-
thea, letzte Herzogin von Kurland,“ dem ſelbſt wieder jene vor-
erwähnten Briefe und Tagebücher zu Grunde liegen, werden
am beſten die Beweisführung übernehmen. Wir laſſen die
betreffenden Angaben des Buches in chronologiſcher Ordnung
folgen.


[409]

1785. Es waren des großen Friedrich letzte Tage. Die
ſanfte fürſtliche Frau hatte den Beifall des Königs gewonnen;
er ſandte ihr wiederholentlich niedliche Körbchen mit den fein-
ſten und ſeltenſten Früchten gefüllt, mit den erleſenſten Blumen
geſchmückt und jedesmal von einigen freundlichen Zeilen beglei-
tet. Bei Gelegenheit der erſten dieſer Sendungen beklagt er
ſich, daß ſeine Krankheit ihn des Vergnügens beraube, ſie ſelbſt
zu bewirthen; er müſſe es ſeinem Neffen überlaſſen, ihren und
ihres Gemahls Aufenthalt in Potsdam und Berlin ſo ange-
nehm als möglich zu machen … Im Herbſt fanden Truppen-
verſammlungen ſtatt, Paraden und kriegeriſche Uebungen zu
Ehren des Fürſtenpaares … Auch von den übrigen Höfen
der königlichen Familie (Prinz Heinrich, Prinz Ferdinand)
wurde dem Herzog und ſeiner Gemahlin ein Empfang zu Theil,
der ſich zu einer herzlichen Verbindung entwickelte. Mit der
Prinzeſſin Luiſe, der Tochter des Prinzen Ferdinand, knüpfte
die Herzogin eine Freundſchaft an, die ſich in einem ununter-
brochenen Briefwechſel durch das ganze Leben fortſetzte.


1786. Im Herbſte, nach beinah halbjähriger Abweſenheit,
trafen der Herzog und ſeine Gemahlin wieder in Friedrichsfelde
ein. Der große König war inzwiſchen geſtorben. Friedrich Wil-
helm II. erwies dem herzoglichen Paare eine beſondere Aus-
zeichnung, ſo daß allgemein die Sage ging, es ſeien bereits
Verabredungen für die künftige Vermählung der Töchter des
Herzogs mit den Prinzen des königlichen Hauſes getroffen.
Dieſe Tage waren kurz, ſchon im December trat die Herzogin
ihre Rückreiſe nach Kurland an.


1791. Während ihres Aufenhaltes in Warſchau (wohin
ſie ſich im April begeben hatte) erhielt ſie von der preußiſchen
Prinzeſſin Friederike eine ſchmeichelhafte Einladung zur Ver-
mählung dieſer Prinzeſſin mit dem Herzog von York, wie auch
zu der ihrer Schweſter mit dem älteſten Prinzen des Erbſtatt-
halters in Holland, welche beide Vermählungen im September
gleichzeitig in Berlin vollzogen werden ſollten. Sie nahm
die Einladung an … Der Empfang von Seiten der könig-
[410] lichen Familie war ein auszeichnender … Bei der Anordnung
der Vermählungsfeierlichkeiten befahl der König, daß der Her-
zogin ihr Platz an der Tafel der königlichen Familie ange-
wieſen werden ſolle. Der Oberkammerherr remonſtrirte; die
Hausgeſetze würden es nicht zulaſſen, die Herzogin von Kur-
land bei einer ſo feierlichen Gelegenheit an die königliche Fami-
lientafel zu ziehen und an dem Fackeltanz Theil nehmen zu
laſſen. Friedrich Wilhelm antwortete: „Laſſen wir es bei
der erſten Anordnung; ich hoffe es beim Könige und bei
den Hausgeſetzen verantworten zu können.“ … Bei Gelegen-
heit dieſer Feierlichkeiten gab auch die Erbſtatthalterin ihrem
lebhaften Wunſche Ausdruck, ihren zweiten Prinzen mit der
älteſten Tochter der Herzogin, der Prinzeſſin Wilhelmine,
die damals 10 Jahre alt war, dereinſt vermählt zu ſehen.
Der König unterſtützte dieſen Wunſch und bot ſogar ſeine Ver-
wendung an, um, wenn der Herzog ohne männliche Nachkom-
men ſterben ſollte, die Erbfolge in Kurland und Semgallen für
den künftigen Gemahl der Prinzeſſin zu vermitteln … Dieſer
Plan wurde geraume Zeit hindurch feſtgehalten … Vierzehn
Tage nach Vollziehung der vorerwähnten Vermählungsfeierlich-
keiten verließ die Herzogin Berlin (es iſt fraglich, ob ſie wäh-
rend dieſer Beſuchstage überhaupt in Friedrichsfelde war)
und kehrte über Warſchau nach Kurland zurück.


1793. Im April dieſes Jahres trat die Herzogin ihre
Reiſe nach Berlin an; die Dinge in Kurland hatten bereits
einen ſolchen Charakter angenommen, daß es gut war, einen
Zufluchtsort zu haben. … In ſtiller Zurückgezogenheit
lebte ſie in Friedrichsfelde, wo ſie den 21. Auguſt 1793
ihren Gemahl mit einer Tochter beſchenkte, die den Namen
Dorothea erhielt. . .


In Kurland rückte inzwiſchen das Ende der herzoglichen
Herrſchaft immer näher.


Die Herzogin verblieb in Berlin und Friedrichsfelde bis
in das nächſte Jahr hinein; dann ging ſie nach Leipzig (wo ſie
ſich noch ſtiller einrichete als in Berlin) und 1795 nach Sagan,
[411] wo ſie mit ihrem Gemahl zuſammentraf… Kurland war
inzwiſchen eine ruſſiſche Provinz geworden; der Herzog hatte
reſignirt.


So etwa die Aufzeichnungen, die wir, wie vorerwähnt,
zu größerem Theil dem Tiedgeſchen Buche (Dorothea, letzte
Herzogin von Kurland), zu kleinerem Theile dem Werke
Cruſes „Kurland unter den Herzögen“ entnommen haben.
Nirgends iſt davon die Rede, daß in Friedrichsfelde ein beſon-
deres Kunſtleben ſich aufgethan hätte, ein Schweigen, das um
ſo bemerkenswerther iſt, als der alte Tiedge gerade dieſe
Seite in dem Leben der Herzogin beſonders hervorhebt und
jedesmal genau verzeichnet, wenn in Königsberg mit Kant,
Hamann, Hippel, in Neapel mit Hackert, in Herrenhuth mit
dem alten Spangenberg ꝛc. ein lebhafterer Verkehr angeknüpft
wurde. Man darf füglich daraus den Schluß ziehen, daß das
Friedrichsfelder Leben, während ſeiner kurländiſchen Zeit, wenig
Hervorragendes auf dem Gebiete von Kunſt und Wiſſenſchaft
geboten haben muß und daß es ſich, wie wir Eingangs bereits
ſagten, bei den verſchiedenen Anweſenheiten in Berlin-Fried-
richsfelde, immer nur um Prinzen und Prinzeſſinnen, um
„Geſellſchaft“ und Politik, um Güterkäufe und Eheſchließungen
handelte. Gewiß ging ein gelegentlicher Verkehr mit den Grö-
ßen jener Zeit (Nicolai, Ramler, Engel, Mendelsſohn werden
eigens genannt) nebenher, aber doch eben nur nebenher.*)
Geiſtig hoch beanlagt, konnte namentlich die Herzogin auf einen
Umgang, der ihrer äſthetiſchen Natur Bedürfniß war, nie ganz
[412] verzichten, aber es ſcheint nach den Citaten, die wir gegeben,
feſtzuſtehen, das der ohnehin nur nach Monaten zählende
Friedrichsfelder Aufenthalt von dieſer Seite her nicht ſeinen
Charakter und ſeine Signatur empfing.


Friedrichsfelde von 1800—1810.


Prinzeſſin von Holſtein-Beck.


1799 kam Friedrichsfelde an den Geheimen Ober-Hof-
Buchdrucker George Jacob Decker, der es aber ſchon, vor
Ablauf eines Jahres, am 29. März 1800, an die Herzogin
Catharina von Holſtein-Beck wieder verkaufte. Dieſe bewohnte
es bis zu ihrem Tode, der etwa um 1810 oder 11 erfolgte.


Prinzeſſin Catharina von Holſtein-Beck wurde am 23. Fe-
bruar 1750 geboren. Ihre Mutter war eine Gräfin oder
Fürſtin Golowin; ihr Vater war Peter Auguſt, Herzog von
Holſtein-Beck, ruſſiſcher General-Feldmarſchall und Gouver-
neur von Eſthland. Prinzeſſin Catharina vermählte ſich am
8. Januar 1767 zu Reval mit dem Fürſten Iwan Baria-
tinski
, der damals ruſſiſcher Oberſt war. Ihre Ehe wurde
geſchieden, oder man lebte wenigſtens getrennt. Die Kinder
verblieben in Rußland; doch begegnen wir 1802 einem Fürſten
Iwan von Bariatinski als Taufzeugen in Friedrichsfelde. Es
ſcheint alſo, daß der älteſte Sohn zur Mutter ſtand. Dieſe
war 50 Jahr, eine kluge, heitere, noch hübſche Frau, als ſie
in Schloß Friedrichsfelde einzog. Es leben noch Perſonen, die
ſie gekannt haben. Den Mittheilungen dieſer verdanke ich das
Nachſtehende.


Die Prinzeſſin von Holſtein-Beck kam 1800 oder vielleicht
auch erſt 1801 zu uns. Was zu einer Trennung vom Für-
ſten Bariatinski geführt hatte, war nie in Erfahrung zu brin-
gen. Sie war aber voll ſo tiefer Abneigung gegen ihn, daß
ſie ſeinen Namen nicht tragen wollte und in Preußen, unter
[413] Gutheißung des Königs, ihren Geburtsnamen Holſtein-
Beck
wieder angenommen hatte.


Sie lebte ganz auf großem Fuß und unterhielt intime
Beziehungen zum preußiſchen Hofe, beſonders nachdem dieſer
1809 von Königsberg und Memel wieder in Berlin eingetrof-
fen war. Leicht erklärlich. Friedrich Wilhelm III. und Köni-
gin Luiſe waren in Petersburg geweſen und hatten angenehme
Eindrücke von dorther heimgebracht; Kaiſer Alexander ſtand
den Herzen Beider nahe, Freundſchafts-Gelübde waren gelei-
ſtet worden; alles Heil konnte, der allgemeinen Annahme nach,
nur von Rußland kommen. Unter dieſen Verhältniſſen moch-
ten die Beziehungen zur Prinzeſſin einen doppelten Werth
haben; vielleicht daß ſie ein Glied in der Kette damaliger
politiſcher Verbindungen war.


Gleichviel; der Hof war mannichfach bei der Prinzeſſin in
Friedrichsfelde zu Beſuch, auch ſchon in der Epoche von 1801 bis 6.
Königin Luiſe erſchien dann mit Pagen und Hofdamen, der
geſammte Adel ſchloß ſich an und über hundert Equipagen hiel-
ten in langer Reihe vor dem Schloſſe. Mit Fackeln ging es
ſpät Abends heim.


Sie ſelbſt (die Prinzeſſin), wenn ſie nach Berlin fuhr,
fuhr immer mit ſechſen; da ſie aber keinen Marſtall unter-
hielt, ſo wurden drei Paar der beſten Bauerpferde genommen
und die Bauern ſelbſt ritten das Leinepferd. Später (aus
gleich zu erzählenden Gründen) wurde das anders. Ihr Ver-
trauter nämlich, ein Franzoſe niederen Standes, deſſen Erhe-
bung zum „Chevalier“ ſie durchzuſetzen gewußt hatte, machte
Unterſchleife, floh und wurde verfolgt. Man ward ſeiner hab-
haft, brachte ihn vor die Gerichte, und eine ſtrenge Strafe
war bereits verhängt, als ein Fußfall der Prinzeſſin, deren
alte Neigung wieder wach geworden war, intervenirte. Die
Strafe wurde nun niedergeſchlagen, der „Chevalier,“ als wäre
nichts vorgefallen, zog wieder in allen Ehren in Friedrichsfelde
ein, und nur eine Sühne blieb zu leiſten: die Prinzeſſin
ſelbſt mußte verſprechen, von nun ab ſtatt mit ſechſen nur noch
[414] mit vieren zu fahren. Es geſchah, und alle Theile hatten
ihren Frieden.


Das Leben in Friedrichsfelde war um dieſe Zeit das hei-
terſte. Eine ernſtere Pflege der Kunſt fiel Niemandem ein,
aber man divertirte ſich ſo oft und ſo viel wie möglich. Es
gab Schau- und Schäferſpiele theils in geſchloſſenen Räumen,
theils im Freien. Das „Theater im Grünen,“ ähnlich dem
Rheinsberger, iſt noch deutlich zu erkennen, trotzdem das Strauch-
werk jener Jahre inzwiſchen zu ſtattlichen Weißbuchen auf-
gewachſen iſt. Das Ganze eine wieder freigewordene, aus
Zwang und Feſſeln erlöſte Natur!


Die Dorfbevölkerung nahm theils zuſchauend, theils activ
an dieſen Scenen Theil, was auf den erſten Blick viel An-
heimelndes und Beſtechendes hatte. Aber ſehr bald ſtellte ſich’s
heraus, daß Sitte und Arbeitsluſt zurückgingen und daß dem
Dorfe kein Segen daraus aufwuchs, als Landſchafts-Staffage
oder Vehikel für das Vergnügen vornehmer Leute gedient zu
haben.


Harmloſer war der alljährlich wiederkehrende „Ernte-
kranz
.“ Dann wurde ein Jahrmarkt abgehalten, unter den
Bäumen des Parks gegeſſen und getanzt, und an den Buden,
natürlich ohne Einſatz, gewürfelt und gewonnen.


Ein kleines, ſehr hübſches Mädchen aus dem Dorfe (es
lebt noch als 70jährige Frau) war das Pathchen und der Lieb-
ling der Prinzeſſin. Es war die Puppe, mit der ſie ſpielte.
War die Prinzeſſin bei Tafel allein, ſo wurde an einem klei-
nen Tiſche daneben für das Pathchen gedeckt; kam Beſuch, ſo
war „Pathchen“ — wie der Kakadu oder der Bologneſer —
der nie überſehene Gegenſtand, an den ſich alle Zärtlichkeiten
der Gäſte adreſſirten.


Die Prinzeſſin galt für ſehr reich; es hieß, daß ſie täg-
lich 1500 Thlr. verausgabe. War dem wirklich ſo, ſo war es
Bariatinskiſches Vermögen. Außer Friedrichsfelde beſaß ſie, in
Berlin ſelbſt, ein Haus am Pariſer Platz, das jetzige franzö-
ſiſche Geſandtſchafts-Hotel.


[415]

Sie ſtarb im Winter 1811 oder 12, und ihre Leiche
ſollte nach Rußland, entweder auf die Bariatinskiſchen oder
die Holſtein-Beckſchen Güter geſchafft werden. Die Friedrichs-
felder waren zum Transport der Leiche gern bereit, da für die
Fahrt bis Memel (dort wartete ruſſiſches Fuhrwerk) 400 Thlr.
geboten wurden. Es zerſchlug ſich aber wieder, und es kam
nunmehr zu einem Pact mit jener moskau-aſtrachaniſchen
Karawane, die damals alljährlich, in den erſten Winter-
Monaten, Caviar nach Berlin zu bringen pflegte. Es waren
dies in der Regel 50 Schlitten, jeder mit einem Pferd und
am Hals jedes Pferdes ein Glöckchen. Auf den vorderſten
dieſer Schlitten wurde der Sarg geſtellt, und im Schritt, die
lange Karawane hinter ſich, ging es bis an die ruſſiſche Grenze,
— die Stille der Schnee-Landſchaft nur durch den Ton der
Glöckchen unterbrochen.


Friedrichsfelde von 1812—16.


König Friedrich Auguſt von Sachſen.


Nach dem Tode der Prinzeſſin v. Holſtein-Beck wurde
Friedrichsfelde durch einen Bevollmächtigten der Bariatinskiſchen
Familie, die als Erbe eintrat, adminiſtrirt. In dieſe Admini-
ſtrationszeit fällt der Aufenthalt, bez. die Staatsgefangenſchaft
des Königs von Sachſen an dieſer Stelle.


Wir finden darüber Folgendes:


Der König von Sachſen, nach der Einnahme Leipzigs durch
die Verbündeten, war deren Gefangener. Am 23. October
1813 erfolgte ſeine Abreiſe nach Berlin; am 26., Morgens
4 Uhr, traf er in der preußiſchen Hauptſtadt ein und wurde
daſelbſt mit „vielen Ehren“ (ſo ſagt das Tagebuch eines
ſächſiſchen Cavaliers) empfangen. Von Leipzig aus hatten
100 Koſaken mit 3 Offizieren
den Wagen des Königs
umgeben. Außerdem begleiteten ihn Fürſt Galizin und Baron
Anſtetten.


[416]

Der König bezog Wohnung im Berliner Schloß und ver-
blieb daſelbſt bis zum Sommer 1814. Um dieſe Zeit wurde
ihm die preußiſche Hauptſtadt unbequem; das „Berliner Volk“
zeigte ſich wenig reſpectvoll; die Tage von Großbeeren und
Dennewitz ſtimmten es zum Groll und die altfränkiſche Art
des ſächſiſchen Hofes zum Spott. Beidem wünſchte er zu ent-
gehen. Er ſuchte daher nach, Schloß Friedrichsfelde,
das dem ruſſiſchen Fürſten Bariatinski gehörig war (ſelbſt-
verſtändlich gegen eine Mieths- oder Entſchädigungsſumme an
den Fürſten) beziehen zu dürfen.


Dies wurde gewährt.


Am 26. Juli 1814 erfolgte der Umzug, wobei 1 Unter-
offizier und 10 Mann preußiſcher Garde als Ehrenwache dien-
ten. Dieſe blieben in Friedrichsfelde und wurden aus der ſäch-
ſiſchen Hofküche beköſtigt. Bis zum 24. März 1814 hatten
Berliner Bürgergardiſten die Wache beim Könige gehabt.


In den „Denkwürdigkeiten aus dem kriegeri-
ſchen und politiſchen Leben eines alten Offiziers

(Dresden und Leipzig 1848) wird erzählt, der König Friedrich
Auguſt habe von Friedrichsfelde aus fliehen wollen, ſei
aber eingeholt und zurückgebracht worden. Dieſe Mittheilung
iſt mindeſtens unwahrſcheinlich. An Ort und Stelle wird nichts
derart berichtet.


Der König, während ſeines Friedrichsfelder Aufenthaltes,
empfing viele Beſuche und Deputationen aus ſeinem Lande,
darunter den jungen Grafen Hohenthal, den Baron v. Hou-
wald (Vater des Dichters) und eine Deputation des Freiberger
Bergbaues.


Unter den Perſonen von Rang, die ihn dauernd um-
gaben, haben wir in erſter Reihe Generalmajor v. Watzdorf zu
nennen; doch war derſelbe oft monatelang auf Special-Miſ-
ſionen (z. B. in London) abweſend. Am 13. October 1814
trat Generallieutenant Sahrer v. Sahr an Watzdorfs Stelle
und blieb beim Könige, bis dieſer Friedrichsfelde verließ. Es
[417] war die Sahrſche Diviſion, die bei Großbeeren vorzugsweiſe
tapfer gefochten hatte.


Der nicht unerhebliche Aufwand, den der König in Fried-
richsfelde
machte, wurde theils aus den Geldern ſeiner
Chatouille, theils durch eine Anleihe bei dem Berliner Ban-
quierhauſe Benecke beſtritten.


Am 9. Februar 1815 endlich war (in Wien) das Proto-
koll unterzeichnet worden, das über das Schickſal Sachſens ent-
ſchied; — am 22. Februar verließ der ſächſiſche Hof Friedrichs-
felde und begab ſich, auf Einladung des Kaiſers von Oeſter-
reich: „doch in der Nähe von Wien Reſidenz nehmen zu wol-
len,“ durch Schleſien über Wien nach Preßburg, wo der König
den Palaſt des Primas bezog.


So viel hab ich aus Aufzeichnungen, die damals
gemacht wurden, zu entnehmen vermocht; in Friedrichsfelde
ſelbſt wird noch Folgendes erzählt:


Der König lebte ganz als König. Sehr viel Dienerſchaft,
altfränkiſch gekleidet, blau und gelb, war um ihn her; die
Kutſcher immer in Kanonenſtiefeln. Vormittags zwiſchen 11
und 12 pflegte er im Park zu promeniren; Nachmittags wurde
ausgefahren auf die benachbarten Dörfer, namentlich auf ſolche,
wo ein Park oder ein Fluß war, alſo nach Stralau, Lichten-
berg, Biesdorf und vorzugsweiſe nach Schönhauſen. Er war
bei den Friedrichsfeldern ſehr populär, weil er herablaſſend und
wohlwollend war und (die Hauptſache) ihnen viel zu verdienen
gab. Der zahlreiche Beſuch, der untergebracht werden mußte,
ſchaffte den Bauern eine gute Einnahme; dazu die Berliner,
die Sonntags, aus purer Neugier, in Schaaren herbeiſtrömten.


Den Hauptvortheil aber hatten die Bauern von den vielen
Holz-Fuhren, die ſie leiſteten, und von der Stallung, die ſie
vermietheten. Tag um Tag wurde ein Haufen Holz im Schloß
verbrannt, und der königliche Marſtall befand ſich, Geſpann-
weiſe, auf den einzelnen Bauerhöfen.


Fontane, Wanderungen. III. 27
[418]

Friedrichsfelde ſeit 1816.


Am 22. Februar 1815 verließ der ſächſiſche Hof Friedrichs-
felde; ein Jahr ſpäter gingen Schloß und Gut in den Beſitz
von Carl Sigismund v. Treskow über. Eine ganz neue Zeit
brach jetzt für Friedrichsfelde an: aus dem Luſtſchloß, das es
bis dahin geweſen war, wurde ein Gut. Es handelte ſich
nicht mehr um ein dolce far niente, das hier ein Jahrhundert
lang ſeine Stätte gehabt hatte, ſondern um Arbeit, nicht
mehr um Stille und Zurückgezogenheit, ſondern um Heraus-
treten, um Verkehr und Concurrenz. Von Jahrzehnt zu Jahr-
zehnt, inſonderheit unter dem gegenwärtigen Beſitzer (Carl
v. Treskow) wuchs dieſe Aufgabe. Ankäufe und beſtändige
Meliorationen ſteigerten den Werth, was aber vor allem das
Gut auf ſeine Höhe und ſeine Erträge hob, das war die Er-
kenntniß, daß mit Rückſicht einerſeits auf die Bedürfniſſe
der Hauptſtadt, andererſeits auf die Betriebs-Erleichte-
rungen
, die ſie gewährt, eine ganz aparte Art der Wirth-
ſchaftsführung eingeleitet werden müſſe. Hier galt es nicht,
Lehrbücher befragen, Regeln befolgen, ſondern der beſtändig
wechſelnden Situation ein neues Syſtem immer neu anzupaſſen.
In die Details an dieſer Stelle einzugehen, würde weit über
unſere Aufgabe hinausführen; nur ſo viel, daß Milchwirthſchaft
und Gartenculturen mehr und mehr die alte Felderbeſtel-
lung zurückdrängten. Der Sieg des Spargelbeets über das
Roggen- und Kartoffelfeld!


So haben Eifer, Wiſſen, Intelligenz, aus dem Sommer-
ſitze Raules einen großen und noch mehr einen werthvollen
Beſitz geſchaffen; aus dem Zehrer iſt ein Nährer geworden, aus
der Drohne die Biene.


Aber dieſe Umwandelung hat ſich vollzogen, ohne dem
Friedrichsfelder Schloß, das ſo vieles ſterben und geboren-
werden ſah, das Geringſte von ſeinem hiſtoriſchen Zauber zu
nehmen. Dieſelbe Pflege, die draußen waltete, ſie waltete
[419] auch drinnen; im Felde erneuerte ſie praktiſch, im Hauſe con-
ſervirte ſie pietätvoll; nichts iſt verloren gegangen von dem
geſchichtlichen Material, in deſſen Beſitz der gegenwärtige Beſitzer
eintrat. Das eichengeſchnitzte Treppengeländer, der Stuckſaal,
den Markgraf Karl baute, die Büſten und Bilder, von denen
beinahe jeder der Vorbeſitzer ein einzelnes, wie ein Erinnerungs-
ſtück, zurückgelaſſen hat, — ſie befinden ſich an alter Stelle und
nur erweitert, hinzugefügt wurde auch hier.


Unter dieſen Hinzufügungen nennen wir in erſter Reihe
fünf Arbeiten von Schinkel, von denen drei ſeiner aller-
frühſten Epoche, zwei muthmaßlich dem Jahre 1814 angehören.
Es ſind die folgenden:


  • Schloß Owinsk (Architekturbild in Tuſchfarben ausge-
    führt),
  • Schloß Owinsk, von der Tiefe aus geſehen,
  • Schloß Owinsk, von der Höhe aus geſehen,
  • Ein See in Tirol, von hohen Bergen umgeben; ein
    Fiſchzug im Vordergrund (Morgenbeleuchtung);
  • Ein See von hohen Gebirgen umgeben, Gondeln im
    Vordergrund (Abendbeleuchtung) *).

Das letztgenannte Bild zählt zu Schinkels gelungenſten
Arbeiten. In der Mitte — wir erweitern die kurze Beſchrei-
27*
[420] bung, die wir oben gegeben — eine Inſel mit einem weitläu-
figen Schloß; eine Bogenbrücke führt zu dem zunächſt liegenden
Felſenufer hinüber. Rechts ein ländliches Feſt. Der See iſt
mit Barken erfüllt, denen Muſikchöre folgen. Eine rothe Abend-
beleuchtung liegt auf dem See.


Ein ſtimmungsreiches Bild! Aber das Bild, das ſich eben
jetzt, von der Gartenthür des Schloſſes eingerahmt, vor unſeren
Blicken aufthut, thut es ihm gleich. Eine Parkwieſe voll
blühender Linden; zwiſchen den Kronen der blaue Himmel;
und an dem Himmelsſtreifen ein Volk weißer Tauben, das,
die letzten Sonnenſtrahlen einſaugend, ſich oben in den Lüften
wiegt.


Die nahe Hauptſtadt ſammt ihrem Lärm, wir empfinden
ſie wie hundert Meilen weit. Hier iſt Friede!



[[421]]

2.


Ernſt Gottlieb Woltersdorf.


Verfolgt, verlaſſen und verflucht,
Doch von dem Herrn hervorgeſucht;
Ein Narr vor aller klugen Welt,
Bei dem die Weisheit Lager hält;
Verdrängt, verjagt, beſiegt und ausgefegt,
Und doch ein Held, der Palmen trägt.
E. G. Woltersdorf.

Prinz Louis Ferdinand, Prinz Auguſt — ſie waren
Schloß-Kinder aus Friedrichsfelde; auch die Pfarre ſtellte
ihren Mann: am 31. Mai 1725 wurde Ernſt Gottlieb
Woltersdorf
in ihr geboren. Auch ein Streiter, auch
gefallen (wie der Saalfelder Prinz) auf dem Felde der Ehren.
Ein Weltkind der eine, ein Gotteskind der andre.


Ernſt Gottliebs Vater war Gabriel Lucas Woltersdorf.
Dieſer konnte, wie ein alter Edelmann, den Namen und Stand
ſeiner Familie bis ins ſiebente Glied hinauf verfolgen. Es
waren ſämmtlich Priegnitz-Ruppiner. Und zwar:


Anton Woltersdorf (damals noch Woltersdorp), geboren
1430.


Johann Woltersdorf, Potinken- oder Pantinenmacher,
geboren 1460.


Joachim Woltersdorf, Goldſchmied in Ruppin, geboren
1496.


Joachim Woltersdorf II., Tuchmacher, Gildemeiſter und
Vorſteher der Kloſterkirche zu Ruppin, geboren 1530.


Gabriel Woltersdorf, Paſtor und Inſpector zu Ruppin.


Gabriel Woltersdorf II., Paſtor und Inſpector zu
Zehdenick.


[422]

Gabriel Woltersdorf III., Paſtor zu Kyritz.


Dieſes letztren Sohn war der ſchon genannte Gabriel
Lucas, geboren 1687, der Vater Ernſt Gottliebs.


Er, der Vater, hatte von 1711 in Halle ſtudirt, in Halle,
das um jene Zeit „das Herz war, deſſen Schläge man weit
und breit fühlte.“ Auguſt Hermann Francke ſtand eben damals
in der Blüthe ſeines Wirkens, „dieſer Mann der Demuth und
Wahrhaftigkeit, der ſich rühmen durfte, daß von den 6000
Studenten, die in den erſten Jahrzehnten in Halle ſtudirt
hatten, Tauſende von erweckten Predigern ins deutſche
Vaterland ausgegangen ſeien.“ Unter dieſen erweckten Predi-
gern war auch Gabriel Lucas Woltersdorf. Er blieb bis
zuletzt eine Leuchte für ſeine Gemeinde und ſeine Kinder. So
viel über den Vater.


Der Sohn, unſer Ernſt Gottlieb, empfing ſeinen
erſten Unterricht im elterlichen Hauſe; von 1735 ab, wo der
Vater Friedrichsfelde aufgab und nach Berlin überſiedelte (er
wurde Prediger an der St. Georgen-Kirche), beſuchte er das
Graue Kloſter; eben 17 Jahr alt ging er nach Halle. „Es
war dort eben noch — ſo ſchreibt Paſtor Beſſer — das letzte
der ſieben fetten Jahre. Man konnte den Samen reiner Lehre
noch ziemlich reichlich einſammeln. Die Hungerzeit des Rationa-
lismus meldete ſich eben erſt durch ihre vorderſten Poſten.“
Beſonders war es Baumgarten (Kirchengeſchichte), der das Herz
unſeres jungen Theologen mit Liebe und Verehrung füllte;
Unterricht, den er in den unteren Schulen des Franckeſchen
Waiſenhauſes ertheilte, ſicherte ihm den Unterhalt. Sein Chriſten-
thum, nach ſeinem eigenen Bekenntniß, blieb aber damals ein
rein äußerliches. „Ich hatte noch keinen Geſchmack an der
Erlöſung durchs Blut Chriſti; … aber Gott kam mir zu
Hilfe und warf mich in ein ſehr tiefes Gefühl meines uner-
gründlichen Seelenverderbens. Da ſaß ich an den Waſſern zu
Babel und weinete, wenn ich an Zion gedachte.“


1744 im Frühjahr, erſt neunzehn Jahr alt, hatte er
ſeine Studien beendigt; er trat — durch viele Arbeit körperlich
[423] erſchüttert — eine Reiſe an, ſuchte chriſtliche Prediger und
Gottesmänner auf und zeigte damals eine große Neigung, zur
Brüdergemeinde überzutreten. Dies unterblieb jedoch. 1744
im Spätherbſt wurde er Vikar in Zerrenthin bei Prenzlau,
wo er empfinden lernte, „wie ſchwer ſichs predigt, wenn nie-
mand hören will;“ zwei Jahre ſpäter (1746) kam er als
Hauslehrer des jungen Grafen von Promnitz nach Drehna in
der Niederlauſitz, wo er gleichzeitig mit großem Erfolge zu
predigen begann. Sein Prediger-Eifer und die ihm daraus
entſpringende Kraft waren ſo groß, daß er in verhältnißmäßig
kurzer Zeit die wendiſche Sprache lernte, um auch den
Wenden (die im Spreewald und anderen Gegenden der Lauſitz
zum Theil bis heute noch kein Deutſch verſtehen) das Evange-
lium predigen zu können.


1748 erhielt er einen Ruf nach Bunzlau. Es hieß an-
fänglich: er ſei zu jung. Am 20. Sonntage nach Trinitatis
aber predigte er über den Text: „Der Herr ſprach zu mir,
ſage nicht, ich bin zu jung; ſondern Du ſollſt gehen, wohin
ich Dich ſende, und predigen, was ich Dir heiße,“ mit ſolcher
Gewalt, daß er die ganze Gemeinde mit ſich fort riß. Immer
neue Erbauungsverſammlungen mußten abgehalten werden; die
Kirche hatte nicht Raum genug; unter freiem Himmel, im Bunz-
auer Stadtwald mußte er predigen; „es ſchien, als ob das
Feuer Chriſti die ganze Stadt anzünden wollte.“ Dabei blieb
er voll körperlicher und geiſtiger Friſche. 1749 verlobte er ſich
mit Johanna Sabina, Tochter des Paſtors Zietelmann zu
Flieth bei Prenzlau; im Mai trafen ſich die jungen Brautleute
in Berlin, wo neun Söhne (darunter bereits drei Paſtoren),
eine Tochter und drei Schwiegertöchter des alten Paſtors
Woltersdorf, ſich zur Hochzeitsfeier verſammelt hatten. Der
Vater ſegnete das Paar ein, das bald darauf in die Bunz-
lauer Pfarrwohnung einzog.


Die junge Frau brachte Glück und empfing es; aber die
Flitterwochen müſſen andere geweſen ſein als die unſrigen;
alles junge Glück der Liebe ſchloß eine immer wachſende geiſt-
[424] liche und geiſtige Thätigkeit ſo wenig aus, daß im Jahre 1751
bereits zwei ſtarke Bände „Evangeliſche Pſalmen“ vorlagen,
die Zeugniß ablegten von dem ſchöpferiſchen Drang des jungen
Geiſtlichen. Sie waren, beinah 200 an der Zahl, mit weni-
gen Ausnahmen ein Product der letzten drei Jahre. Ueber
die Art, wie ſie entſtanden, über ſeine Dichtungsweiſe über-
haupt, laſſen wir ihn ſelber ſprechen:


„Was den Urſprung dieſer Lieder betrifft, ſo kann ich
wohl mit Wahrheit ſagen: ich habe ſie von dem Herrn
empfangen
. Sonſt würde ich auch in meinem Gewiſſen keine
Freiheit haben ſie drucken zu laſſen … Gott hat mir von
Natur eine Neigung zur Poeſie gegeben. Schon in meiner
Kindheit fing ich an Verſe zu machen. Aber erſt als ich des
ſeligen Lehr und nach einiger Zeit auch des ſeligen Lau
Leben und letzte Stunden in die Hände bekam, ging etwas in
mir vor. Von dieſer Zeit an iſt der Trieb, dem Herrn Lieder
zu dichten, in mir recht aufgewachet. Ja er iſt von Zeit
zu Zeit immer ſtärker worden, daß er ſich auch beſonders in
meinem Amte, da ihn die ohnedem überhäuften Geſchäfte hätten
erſticken mögen, ſo vermehret hat, daß ich oft ſelbſt nicht gewußt,
wie es zugegangen. Ich kann nichts anders ſagen, als daß
ich’s für eine augenſcheinliche Erhöhung meines Gebets
anſehn muß.


„Oft habe ich an nichts weniger gedacht, als Verſe zu
machen. Aber es fiel mir plötzlich ins Gemüth, und regte ſich
ein Trieb, daß ich die Feder ergreifen mußte. Ein andermal
hatte ich keine Luſt; aber es war, als müßte ich wider Willen
ſchreiben. Zuweilen war ich von vieler Arbeit ganz entkräftet,
allein es wurde mir eine Materie ſo lebendig und floß ſo unge-
zwungen und ohne Mühe in die Feder, daß es ſchien, ich könnte
das Schreiben nicht laſſen. Ja ich muß geſtehen, daß mir’s
oft wie ein Brand im Herzen geweſen, und mehrmalen mußte
ich mich mit Gewalt zurückziehen, damit ich mich nicht über-
nähme oder meine Natur zu ſehr ſchwächete. Wollte ich zu-
weilen 3 Verſe ſchreiben, ſo wurden gleich 12, 15 oder gar
[425] 30 daraus. Manchesmal konnte die Feder dem ſchnellen Zu-
fluſſe nicht einmal folgen. Oft mußte ich’s, wenn ich ſo hinter-
einander geſchrieben, erſt überleſen, wo ich wiſſen wollte, was
es wäre, und mich ſelbſt wundern, daß das da ſtund, was ich
wirklich fand. Und ſo ſind dieſe langen Lieder der erſten
Sammlung entſtanden. Ich nahm mir vor, ein Lied in
gewöhnlicher Größe zu ſchreiben; aber da ich hineinkam, ſind
40, 50, 100, 200 und mehr Verſe fertig worden.“


Er fährt dann fort:


„Was ich in ſo großer Geſchwindigkeit niedergeſchrieben,
ich hab es hinterher vielmal durchgeleſen, einiges oft umge-
ſchmolzen, anderes lange liegen laſſen; aber das iſt wahr, daß
ich anderes, das ſo recht aus dem Herzen gequollen, nie geän-
dert habe. Die Urſach iſt, weil das am erſten und natür-
lichſten wieder in die Herzen hineinfließet, was ohne Zwang
heraus geſtrömet iſt .... Fraget nur die Dichter dieſer Welt,
ob ſich nicht Aehnliches bei ihnen findet, wenn ſich ein poeti-
tiſches Feuer bei ihnen reget. Was ſoll dann nicht der herr-
liche Geiſt des lebendigen Gottes thun, wenn er die natürlichen
Triebe zur Dichtkunſt mit ſeinen Kräften anfeuert!


„Es bleibt mir eine unumſtößliche Wahrheit, daß alle ver-
nünftigen Regeln der Dichtkunſt ſehr gut ſind und von einem
Dichter nach ſeiner Gelegenheit mit großem Nutzen gebraucht
werden können, daß aber dennoch das Göttliche in der Dicht-
kunſt nicht anders als auf den Knieen gelernt werden kann.
Denn wenn der Geiſt aller Geiſter das Herz des Poeten nicht
entflammt, ſo weiß ich nicht, ob ich die erhabenſte Poeſie über-
haupt noch eine göttliche nennen kann .... Die Heiden haben
von ihren todten Götzen treulich geſungen. Aber ſo viele
Dichter unter den Chriſten wiſſen von ihrem lebendigen Gott,
von dem Gott aller Götter, ja von ihrem menſchgewordenen
Gott, der am Kreuz in ſeinem Blute für ſie geſtorben, nichts
zu ſagen. Sie holen lieber vermoderte Stücke von den ver-
faulten Götzen der Heiden und ſchmücken ſie dem Gott Iſraels
zum Hohn.... Ein berühmter Günther will lieber der
[426] Venus zu Ehren, als zum Ruhm des Kreuzes ſingen; aber
die Reime Hans Sachſens machen alle Werke Günthers zu
Schanden, weil doch ſo manche Seele daran ſeelig glauben kann.“


So weit er ſelbſt. Man muß es ihm laſſen, daß er ſeine
Sache gut zu führen weiß; beſcheiden und bewußt — jedes an
rechter Stelle. Einem aufmerkſamen Leſer kann übrigens nicht
entgehen, wie dieſe Rechenſchaftsablegung zugleich alle Punkte
in den Vordergrund ſtellt, über die die Anſichten auseinander
gehen können. Er war ein chriſtlicher „Improviſator,“ ja, in
allen Ehren ſei es geſagt, eine Art von Pſychographendichter;
er ließ die Feder laufen. Wir kommen an anderer Stelle
darauf zurück.


Alles, was wir aus ihm citirt haben, iſt einer Vorrede
entnommen, die er im Jahre 1750 ſchrieb. Er war damals
25 Jahre alt, predigte ſeit ſechs Jahren, war im Amte ſeit
drei, hatte Frau und Kind und konnte auf eine literariſche
Thätigkeit blicken, die bereits damals über 200 Lieder umfaßte,
einzelne dieſer Lieder über 200 Strophen lang. Eine Pro-
ductionskraft, die auf dieſem Gebiete kein anderer deutſcher
Dichter aufzuweiſen hat; auch nicht die Meiſterſänger, an deren
Dichtungsart die didaktiſche Weiſe Woltersdorf’s am meiſten
erinnert.


Seine poetiſche Thätigkeit war übrigens im Großen und
Ganzen mit 1750 abgeſchloſſen. Es waren ihm noch 11 Lebens-
jahre beſchieden; aber die Mühen des Lebens, die Sorgen des
Amtes wurden doch ſo übermächtig, daß ſelbſt ſein lebendiger
Strom verſiegte. Er trat 1755 an die Spitze des nach dem
Halleſchen Vorbilde errichteten Bunzlauer Waiſenhauſes und
wirkte an demſelben in Segen. Aber ſein ſchwacher Körper
brach endlich unter der Laſt zuſammen. Sein Biograph ſchreibt:
„Man darf ſagen, er hatte ſich im Dienſt des Herrn ver
zehrt.“


Der 17. December 1761 war ſein letzter Tag. Die
Schmerzen nahmen zu, ſeine Klagen ab. Als ſeine Frau mit
einem ſeiner Kinder weinend am Bette ſtand, ſagte er mit
[427] Glaubensfreudigkeit: „Wenn Du ſonſt keinen anderen Kummer
haſt, als dieſen!“ Dann lag er ſtill. Abends aber redete er
viel, jedoch ſo leiſe, daß man nur einzelne Liedesworte ver-
ſtehen konnte. Um die ſechste Stunde war er todt. Er war
ſanft eingeſchlafen.


Das Waiſenhaus verlor viel und der Jammer der eben
zum Confirmanden-Unterricht verſammelten Kinder erfüllte das
Pfarrhaus. In allen Häuſern der Stadt war Wehklagen. Am
22. December hielt ihm ſein Herzensfreund, David Gottlieb
Seidel, die Leichenpredigt und ſprach „von der gegründeten
Hoffnung eines Lehrers, der einen lautern Sinn beweiſet,
wenn er auch über Macht beſchweret iſt.“


„Über Macht“ war Woltersdorf beſchweret geweſen; nun
war er frei. Seine Hoffnung erfüllte ſich. Für ſeine Wittwe
und ſeine ſechs Kinder ſorgte der Herr, indem er Seelen
erweckte, die ſich ihrer Dürftigkeit annahmen. So wurde ſeine
Zuverſicht erfüllet, die er oft ausſprach, wenn er ſein
letztes Stück Brot mit den Armen theilte
.


So ſtarb Woltersdorf, erſt 36 Jahr alt. Er hatte ein
äußerlich armes, innerlich deſto reicheres Leben geführt. Wie
in vielem war er auch in der Stille und Anſpruchsloſigkeit
ſeines Lebensganges, in dem Fehlen alles deſſen, was man
als romantiſch-frappant bezeichnen kann, den Herrenhutern
verwandt. Er ſelber proteſtirt zwar gegen dieſe Gemeinſchaft:
„allen Dingen, die in Lehre und Leben dem Worte Gottes
zuwider ſind, bin ich von Herzen feind, weshalb ich den Plan
der herrnhutiſchen Gemeine, wie er jetzt iſt, nimmermehr
werde billigen können,“ aber trotz dieſes Proteſtes, der gewiß
aufrichtig gemeint und wohlbegründet iſt, iſt doch unverkenn-
bar, daß ſeine Dichtung unter Zinzendorfſchem Einfluß her-
angewachſen iſt. Er gebraucht wie dieſer die ſtarkſinnlichen
Reden von Turteltauben und Nachtigallen, von dem ſüßen
Blut des Erlöſers und von der Herrlichkeit ſeiner Blut-
rubinen. Er vertheidigt auch dieſe Ausdrucksweiſe: „Die
Herzen ſollen durch die Sinne bewegt werden, und nur das
[428] eine iſt zu fordern, daß kein ſchwulſtiges, unanſtändiges
oder gar lächerliches Weſen zu Tage komme.“ Im Uebri-
gen ſcheint er ſich ſelber nur eine Durchſchnitts-Begabung
zugeſchrieben zu haben. „Ich habe, ſo ſchreibt er, nicht eine
große Zierlichkeit und Pracht, ſondern eine fließende und
bewegliche Deutlichkeit
erwählet, damit mich Jeder-
mann, auch zur Noth ein Kind, verſtehen möchte. Das macht
zwar kein ſonderliches Anſehen, iſt aber deſto nutzbarer. Wir
ſollen unſerm Erlöſer nicht allein die Gelehrten und Großen
zuführen, ſondern unter den Geringen und Einfältigen wuchert
ſein Evangelium am meiſten. Allzu hohe Lieder aber nutzen
Niemandem, oder doch nur wenigen.“


So er ſelbſt. Die Urtheile Neurer über den Werth ſeiner
Dichtungen weichen erheblich von einander ab. Koch ſchreibt:
„Woltersdorf iſt ein lebendiges Zeugniß der dichtenden Kraft
des heiligen Geiſtes in der lutheriſchen Kirche,“ wogegen Hagen-
bach nicht nur an der Weitſchweifigkeit dieſer Lieder, die wegen
ihrer Länge nie geſungen werden können, Anſtoß nimmt, ſon-
dern auch „Fluß und Guß, mit einem Wort die rechte Run-
dung und Vollendung in ihnen vermißt.“ Selbſt R. Beſſer,
in ſeinem „Leben E. G. Woltersdorfs“ kann nicht umhin
auf eine gewiſſe Unſelbſtſtändigkeit Woltersdorfs hinzuweiſen und
ſagt in ſeiner anſchaulichen Ausdrucksweiſe: „er ſuchte wie
eine Hopfenrebe ſtets gern einen tragenden Halt für ſeine
Dichtungen.“


Wir ſelbſt haben die beſten ſeiner Dichtungen, aus
denen wir einzelne Strophen in den Anmerkungen mittheilen,
mit Freudigkeit und nicht ohne Erhebung geleſen. Unſre
Laienſchaft kommt uns dabei zu Statten. Je lebendiger
Jemand die großen Originale, die Kraft- und Kern-
lieder deutſcher Nation, gegenwärtig hat, deſto nüchterner wird
er ſich gegen Lieder verhalten, die gerade für ſein geübtes
Ohr nur ein Wiederklang ſind. Wer weniger feſt darin ſteht,
wird leichter befriedigt ſein. In der weltlichen Dichtung ſehen
wir ſehr Aehnliches. Wer den Heine nicht kennt, erfreut ſich
[429] auch an den Nachbildungen, wer ihn kennt, verhält ſich ab-
lehnend gegen Alles, was heiniſirt.


Gewiß — und damit ſchließen wir — iſt Wolters-
dorf nicht den großen Geſtalten zuzuzählen, dazu war er
zu wenig eine eigentliche Kraftnatur, im Gegentheil etwas
Krankhaftes zieht ſich durch ſein Leben und ſpiegelt ſich in
ſeiner dichteriſchen Hyperproduction. Aber zweierlei wird ihm
verbleiben, und während er einerſeits, modern zu ſprechen,
immer als ein Muſterbeiſpiel für den wunderbaren Einfluß
„des geiſtigen Fluidums über die träge Maſſe“ daſtehen
wird, wird er andrerſeits, provinziell und local, eine
hervorragende Bedeutung als Kirchenlied-Dichter beanſpruchen
dürfen. Mark Brandenburg hat keinen beſſeren,
hat keinen Zweiten, der ſich neben ihm behaupten könnte.


Schloß Friedrichsfelde ſteht noch, wie es 1719 und 1735
aufgeführt wurde; das alte Pfarrhaus aber, abgelöſt durch
einen unmittelbar neben ihm entſtandenen Neubau, iſt längſt
hinüber. Ein Garten füllt jetzt den Platz, wo das alte ſtand,
und ein Birnbaum blüht jeden 31. Mai an derſelben Stelle,
wo Woltersdorf der Dichter geboren wurde.


[[430]]

Anmerkungen.


St. Nicolai zu Spandau.


  • Benutzt: Schloß und Nikolai-Kirche zu Spandau. (Aufſatz von
    Oskar Schwebel, Kreuz-Ztg. 1869, Nr. 219, Beilage.)

Die Kirche iſt reich an intereſſanten Denkmalen.


Der reiche Altar

aus bemaltem Sandſtein iſt ein Geſchenk des
Grafen Rochus von Lynar; er und ſeine erſte Gemahlin, Freiin
Anna v. Montott, ſchenkten ihn im Jahre 1582 der Kirche. Die
Hauptdarſtellung in halb erhabener Arbeit zeigt ein Abendmahl, die
Einwirkungen der italieniſchen Kunſtformen ſind unverkennbar. Höchſt
intereſſant ſind die Figuren der Donatoren, links die Gräfin in wei-
ßem Damaſtkleide mit ſchwerem, dunkelblauem Obergewande, vor ihr
drei Töchter in weißer Seide, rechts der Graf in prachtvoller Rüſtung
mit zwei Söhnen; goldene Ketten in Menge legen ein Zeugniß von dem
Reichthum des Hauſes ab. Beſonders ſchön ſind die Köpfe gearbeitet;
das Ganze bildet mit dem Aufſatze, der ein jüngſtes Gericht und die
Schlangen- und Thurmſchilde der Lynars, die Löwen und den Schach
der Montotts enthält, ein Familien-Denkmal von frommem Sinn und
wahrhaft ariſtokratiſcher Pracht. Unter dem Altar iſt die Familiengruft
der Lynars; in dem großen ſchönen Zinnſarge ſchläft der alte „Kur-
fürſtlich Brandenburgiſche Rath, beſtallter oberſter Artolorei-Munitions-
Baumeiſter“ von ſeines Lebens weiten Zügen und ſeinem reichen, ange-
ſtrengten Tagewerke aus. Außerdem tragen die ſchönen Leuchter des
Altars ſein und ſeiner Gattin Wappen und Namen; der ritterliche Herr
hat eine offene Hand gegen das Gotteshaus gehabt, und heut noch
vergeſſen es ſeine Nachkommen nicht, den Altar von Spandau in ſchö-
[431] ner Pietät zu ſchmücken; die neue, ſchöne Sammetbekleidung trägt den
Namen: Hermann Rochus Graf zu Lynar.


Das Röbellſche Denkmal.


Zur Rechten des Altars trifft unſer Auge ein prächtiges Denkmal
Märkiſcher Tapferkeit; ein alter Feldmarſchall iſt’s mit ſeinem Bruder.
Von ſeinen Thaten laſſen wir die alten, treuherzigen Reime der Inſchrift
ſelber ſprechen:


Der edel und viel kühne Held,

Joachim von Röbell, ich dir meld’,

Von Jugend auf mit gutem Rath

Gar manche Schlacht beſuchet hat.

In Holſtein, Fühnen, Koppenhagen,

In Ungarn, Frankreich that er’s wagen,

Der Graf von Oldenburg ſein’ Muth

Geſpürt; der Sachſ’ ihm auch war gut:

Zum Wacht- und Rittmeiſter ihn macht,

Feldmarſchall ihn vor Magd’burg bracht.

Clauß *) er auch half nehmen ein,

In Ungarn Feldmarſchall ſollt’ ſein.

Feldmarſchall im Braunſchweiger Land

War er, braucht ritterlich ſein’ Hand;

Da Herzog Moritz fiel der Held

Feldmarſchall er war kühn im Feld.

Feldmarſchall er vor Gotha kam

Kurfürſt Auguſt ihn mit ſich nahm.

Von Fühnen bis nach Ungarn! Ein Vorläufer der ſpäteren
Brandenburger Siegeszüge, und, man muß geſtehen, ein würdiger Vor-
läufer dieſer Held von Magdeburg und Sievershauſen, dieſer
Begleiter des Herzogs Moritz auf ſeinem kühnen Zuge gegen das Tri-
dentiner Concil, der Kämpfer der Schlachten Dänemarks gegen den
großen Lübecker Bürgermeiſter Jürgen Wullenweber und Sach-
ſens
gegen den wilden Markgrafen und den allmächtigen Kaiſer!
Drüben im Barnim, am Rande des Oberbruchs, in dem ehemaligen
Nonnenkloſter Friedland, das die Röbell erwarben, ſtand die Wiege
dieſes Helden, der dem Märkiſchen, Sächſiſchen und endlich dem Kaiſer-
lichen Heere angehörte, in beiden letzteren ſogar die höchſten Ehren
erwarb. Noch war er ein kräftiger Mann, da zog’s ihn hin in die
Heimath; er machte dem Bruder in Spandau einen Beſuch, auf dem
ihn ſein Stündlein überraſchte. Das Denkmal zeigt uns die Brüder,
Joachim, † 1572, und Zacharias v. Röbell, † 1575, beide
[432] gleich gewaffnet, obwohl der Letztere nur Hauptmann zu Spandau war,
in Plattenrüſtung, Schwert und Morgenſtern in der Hand, Löwen
ihnen als Fußſchemel dienend.


Quaſt. Ribbeck. Noſtiz.

Eben ſo wie die Herren von Röbell
können zwei andere Märkiſche Geſchlechter die Spandauer Kirche als die
Aufbewahrerin des Ruhmes ihrer Vorfahren anſehen. Eine prächtige
Trophäe im Chor der Kirche erinnert an den Brandenburgiſchen General-
feldwachtmeiſter Albrecht Chriſtoph v. Quaſt, der 1669 an den
Wunden, die er in der durch ſeine Tapferkeit gewonnenen Schlacht auf
Fühnen erhalten hatte, verſtarb. In einer reichen Umgebung von
Waffenſchmuck aller Art erſcheint ſein Wappen, die fünf Lichter im
Andreaskreuz. Die beiden folgenden Wappenſchilder zeigen den Rumpf
und den Hirſch der Herren von Ribbeck; ſie ſind dem Andenken zweier
aus dem Geſchlecht, Johann Georg, Vater und Sohn, gewidmet,
die 1610—1666 Oberhauptleute zu Spandau waren. Die Quadrirung
des einen Schildes mit dem Johanniter-Kreuz bezieht ſich auf Johann
Georg von Ribbeck
, den Sohn, der Comthur zu Nemerow und
Werben geweſen iſt. Ein viertes Wappen, die roth und weiß geſchachten
Hörner in blauem Felde zeigend, erinnert an den 1689 verſtorbenen
Oberſt George Rudolf von Noſtiz. Voller aber noch als die
Namen dieſer Ober-Hauptleute zu Spandau klingen die ihrer nächſten
Amtsnachfolger; in einer Reihe geht es fort: Adam v. Götze, Hans
Adam v. Schöning, Johann Albrecht v. Barfuß, Philipp
v. Lottum, Johann George v. Tettow
und an jeden dieſer
Namen ſchließt ſich ein ruhmvolles Stück unſerer Heeresgeſchichte an.


Tauſſtein. Schwarzenbergs Wappen.

Außer einem überlebens-
großen, ſchönen Crucifix und den dazu gehörigen Figuren der Maria
und des Johannes iſt der eherne Taufſtein ein ſchätzenswerthes Denkmal
des Alterthums, er trägt die Inſchrift: Anno M. C. C. C. XC. VIII.
in festo nativitatis gloriose marie virginis.
Der Taufſtein ſteht auf
einem Grabgewölbe, dem Grabgewölbe Graf Adam Schwarzenbergs.
In einer Niſche des Chors hängt ein Wappen in Erz, eine vorzügliche
Arbeit, — es zeigt die Balken des uralten Hauſes Seinsheim, das
bis auf die Schwäbiſchen Herzöge aus dem Geſchlecht der Burchardinger
zurückgeht, Raben und Mongolenkopf des Hauſes Schwarzenberg
und den Johanniterſchild, darum die Kette des Franzöſiſchen Ordens
vom h. Michael. Dies Wappen iſt des Grafen Adam von Schwarzen-
berg einziges Denkmal; die Inſchrift dazu iſt beſeitigt.


[433]

Die Wenden in der Mark.


  • Benutzt: L. Gieſebrecht’s Wendiſche Geſchichten. Schafarik’s
    Geſchichte der ſlawiſchen Stämme. Fidicin: die ſlawiſchen
    Ortsnamen der Inſel Potsdam. Heffter: Geſchichte der
    Stadt Brandenburg. L. Schneider: Mittheilungen des
    Vereins für die Geſchichte Potsdams.

Der Brieſelang.


  • Benutzt: Berghaus Mark Brandenburg. Mündliche und briefliche
    Mittheilungen, beſonders des Garniſonſchullehrers Wagener
    in Potsdam und des Lehrers Krüger in Schönwalde.

Alte Eichen von ähnlicher Berühmtheit wie die Königseiche im
Brieſelang, ſtehen eine Meile ſüdlich von Liegnitz, auf dem Theile des
Katzbacher Schlachtfeldes, wo ſich am 26. Auguſt 1813 der Kampf ent-
ſchied. Wo das Plateau zur wilden Neiße hin ſteil abfällt, liegen die
Dörfer Ober- und Nieder-Weinberg, Ober- und Nieder-Crayn. Bei
Nieder-Crayn befindet ſich die einzige Brücke über den Fluß; dieſe
Brücke ſuchten die flüchtigen Franzoſen zu gewinnen, verfehlten ſie aber
und ſtürzten ſich in das hochangeſchwollene Waſſer. An eben dieſer
Stelle, nur 500 Schritt von der Nieder-Crayner Brücke entfernt, ragen,
auf prächtigem Wieſengrund, die erwähnten alten Eichen auf, von denen
fünf (die jüngeren) ſich durch beſondere Schönheit und Friſche auszeich-
nen. Sie ſind noch völlig geſund, kein Zweig abgeſtorben, dabei voll
Ebenmaß. Die ſchönſte unter dieſen fünf trägt folgende Inſchrift:


O ſeid gegrüßt der Gottheit ſtille Zeugen,

Ein Meiſterſtück der herrlichen Natur;

Hier unter euren majeſtätſchen Zweigen,

Im kühlen Schatten auf der prächtgen Flur,

Hier ſchlägt das bange Herz in freud’gem Beben,

Ein heilger Schauer dringt durch meine Bruſt,

Wie lange ſehet ihr des Menſchen Leben

Mit ſeinem Leiden wie mit ſeiner Luſt.

Das eigentliche Prachtſtück und die große Sehenswürdigkeit dieſer
Gegenden — wenigſtens was Bäume angeht — iſt aber doch die ſechste
Eiche, die in einiger Entfernung von den fünf andern ſteht. Sie iſt
nicht voll ſo ſchön, hat durch das Abſterben einzelner Partien das Eben-
maß ihrer Formen eingebüßt, iſt aber um vieles ſtärker und wahrſchein-
lich auch älter als die übrigen fünf. Ihr Umfang iſt 31 Fuß, über-
trifft alſo noch den der Königseiche im Brieſelang um ein Erhebliches.
Fontane, Wanderungen. III. 28
[434] Auch dieſe ſechste und größte der „Eichen an der wilden Neiße“ hat
natürlich ihre Tafel und ihre Inſchrift. Dieſe lautet:


Wohl mehr als 1000 Jahre zähl’ ich ſchon;

Ich ſah dereinſt das alte deutſche Reich entſtehen,

Ich ſah im Jahre 6 es wiederum vergehen.

Seitdem ich jüngſt geſehn ſein friſches kräftges Auferſtehn,

Möcht ich um keinen Preis es nochmals ſehn im Untergehn.

Das walte Gott auf ſeinem ewgen Thron!

Schönau, im Auguſt 1871.


Die älteſte der alten Sechs.


Man mag über dieſe Dichtungen denken wie man will (es giebt
jedenfalls ſchlimmere), unter allen Umſtänden zeigen ſie die Liebe, mit
der die ganze Umgegend an dieſen ſchönen Bäumen hängt. Eine Fahrt
zu den „ſechs Eichen“ zählt zu den Lieblingspartieen der Liegnitzer, die
dann jedesmal mit einem Beſuche des Katzbach-Schlachtfeldes — das
übrigens außerdem noch ſeine Denkmäler hat — identiſch iſt.


Der Eibenbaum
im Parkgarten des Herrenhauſes.


  • Benutzt: „Ueber Eibenbäume“ ein Aufſatz in der Neuen freien Preſſe.
    Mündliche Mittheilungen, beſonders des Geh. Rath Metzel.

Eibenbäume.

In Niederöſterreich findet man vereinzelte Eiben bei
Buchberg, in der Prein und Ramſau, bei Lilienfeld, im Kremsthale,
im Horner Walde und beſonders alte Bäume im Gurhofgraben bei
Aggſtein. Einzelne tauſendjährige Eiben kommen noch in Steiermark
vor, und einen ſehr alten Baum beſitzt die Gegend von Brünn in Mäh-
ren; er ſteht nicht gar weit von dem berühmten Erdfall „Macocha“
(„Stiefmutter“). Krone und oberer Stammtheil ſind abgebrochen, der
hohle untere Stamm iſt aber noch 3 Klafter hoch und benadelt und hat
einen Umfang von beiläufig 8 Fuß (2.55 Pariſer Metres). Das Alter
dieſes ſehr merkwürdigen Exemplares wird auf nicht viel unter 2000
Jahre geſchätzt. Zu den Palmſonntags-Sträußen, zu denen in Wien
außer den Blüthenzweigen der Sahlweide — den ſogenannten Palmkätz-
chen — gewöhnlich auch Buxbaum- und Sebenbaum-Zweiglein ihres
immergrünen Laubes wegen verwendet werden, während in den eigent-
lichen Alpen-Gegenden die Stechpalme (Ilex aquifolium) hiezu dienen
muß, benutzt man in England und Irland allgemein blühende Weiden-
und grüne Eibenzweige. Und merkwürdigerweiſe begegnet man genau
demſelben Palmſonntagsſchmuck wieder in Mähren. In der Gegend
[435] von Olmütz iſt die Eibe ein äußerſt ſeltener Baum, und die Bauern
von Mittel- und Nordweſt-Mähren machen daher vor der Charwoche
oft 8 bis 10 Meilen weite Reiſen zu Fuß, nur um von einem verein-
zelt daſtehenden Eiben-Strauch oder Baum Zweige für den Palmſonn-
tag abreißen zu können. Auch in Niederöſterreich ſcheint die Eibe hie
und da noch zu dieſem Zwecke verwendet zu werden. So iſt es uns
bekannt, daß bei Traismauer ein alter Eibenbaum, der beiläufig einen
Fuß Durchmeſſer hat, zur Oſterzeit vom dortigen forſtlichen Aufſichts-
Perſonale förmlich bewacht werden muß, damit er nicht ſeiner Aeſte zu
den „Palmbuſchen“ beraubt werde.


Bei den Alten war er den Göttern der Unterwelt geweiht, wohl
aus dem Grunde, weil die Nadeln dieſes Baumes giftig ſind und ſchon
die Ausdünſtung ſeiner Krone zarteren Naturen Unwohlſein verurſacht.
Der alte Plinius erzählt gar, daß die Ausdünſtung des Taxus zur
Blüthezeit den Tod bringe, was eine ungeheure Uebertreibung iſt. In
unſeren Gegenden beißen Hirſche, Rehe und auch Schafe und Kühe
nicht ſelten die Spitzen der Eiben ab, wahrſcheinlich um ſie in kleinen
Mengen als eine Art Gewürz zu verzehren. Größere Mengen von
Eibenzweigen, mit denen Hausthiere abſichtlich gefüttert wurden, brach-
ten denſelben aber in wenigen Stunden den Tod, obwohl Ziegen z. B.
ſich die auch für ſie giftigen Zweige recht gut ſchmecken ließen. Die
rothen Beeren, welche von ſüßlichem Geſchmacke ſind, werden in Deutſch-
land häufig von Kindern ohne Schaden verzehrt.


Ueber den Eibenbaum-Club, deſſen ich im Text Erwähnung
gethan habe, ſind mir noch folgende Zeilen zugegangen: „Was die Ver-
ſöhnung der Parteien angeht, die ſich mehr als einmal unter dem Eiben-
baume vollzog, ſo würde ein bekannter märkiſcher Schriftſteller, zugleich
Reichstagsmitglied, mit ſeiner in hohem Alter bewahrten Friſche, viel-
leicht am beſten im Stande ſein, Ihnen eine launige Erzählung zu
liefern; andrerſeits — da von ihm perſönlich die meiſten Schlagwörter,
Einfälle, Scherze ausgegangen ſind, — wird er ſich ſelbſt nicht in Scene
ſetzen, am wenigſten aber die gebotene Diskretion und Rückſicht gegen
ſeine Collegen außer Acht laſſen wollen. Nie hat eine Zeitung über den
heitern Club etwas gebracht und eben deshalb konnte man ſo vertrau-
lich gegen einander ſein. Sie wiſſen, wie Herr Hans Blum wegen
ſeiner Plaudereien, die allerdings in ſich viel Unſchickliches enthielten,
angeſehn wurde und daß auch, was den Eibenbaum-Club angeht, jede
Indiskretion wieder ſchlecht machen könnte, was bis dahin unter
den Zweigen des Baumes Gutes geſchehen iſt.“


28*
[436]

Die Ciſtercienſer in der Mark.


  • Benutzt: Fehr über katholiſche Orden. Winter über Prämonſtra-
    tenſer und Ciſtercienſer. Ratisbonne das Leben des hei-
    ligen Bernhard. Encyclopädie der katholiſchen Theologie.
    Ein Aufſatz (anonym) über Klöſter in der Mark.

Lehnin.


  • Benutzt: RiedelsCodex diplomat. Brandenburgensis.Berghaus
    Mark Brandenburg. Klöden Geſchichte Waldemars. Heff-
    ter
    Geſchichte des Kloſters Lehnin.

Die Havelſchwäne.


  • Benutzt: L. Schneider die Schwanenfütterung bei Potsdam. (Siehe
    Mittheilungen des Vereins für die Geſchichte Potsdams.
    Band I.) Mündliche und briefliche Mittheilungen des Gar-
    niſonſchullehrers Wagener in Potsdam.

Die Seeſchlacht in der Malche.


  • Benutzt: Krüger Geſchichte der Stadt Spandau.

Die Pfaneninſel.


  • Benutzt: Kopiſch die Königlichen Schlöſſer. L. Schneider Kunkel
    v. Löwenſtern. Mündlicher Vortrag L. Schneiders über
    das Gaſtſpiel der Rachel auf der Pfaueninſel.

Caput.


  • Benutzt: „Caput“ Aufſatz vom Garniſonſchullehrer Wagener in
    Band IV. der Mittheilungen des Bereins für die Geſchichte
    Potsdams.

Die Begegnung der drei Friedriche,

nämlich Friedrichs IV. von
Dänemark, Friedrich Auguſts von Sachſen und Friedrichs I. von Preu-
ßen (vgl. S. 180) iſt auf einem großen Staatsbilde im Charlottenbur-
[437] ger Schloſſe dargeſtellt. Alle drei ſind in rothe Königsmäntel gekleidet,
tragen mächtige Allongeperücken und reichen ſich die Hand zur Beſieglung
ihres Bündniſſes gegen Frankreich. Dies Bündniß wurde zu Berlin
geſchloſſen, wohin ſich die däniſche und die ſächſiſche Majeſtät begeben
hatten und gab Veranlaſſung zu einer der blasphemiſtiſchſten Schmei-
cheleien die jemals vorgekommen ſind. Um dieſelbe Zeit nämlich wurde
dem Berliner Hofe ein Prinz geboren, der nun — in einer Dichtung
jener Epoche — unter glücklicher Ausnutzung der Situation, ohne Wei-
tres mit dem Chriſtuskinde und die anweſenden drei Könige mit den
3 Königen aus Morgenland verglichen wurden. Der König Friedrich I.
war ſo entzückt von dieſem Vergleiche, daß er 10,000 Thaler an den
talentvollen Dichter auszuzahlen befahl. Was will die „Wacht am
Rhein“ und Max Schneckenburger daneben ſagen!


Bornſtädt.


  • Benutzt: L. Schneider „Iſt Gundling in einem Weinfaſſe begraben?“
    (Verein für die Geſchichte Potsdams.)

Marquardt.


  • Benutzt: Fidicin Oſthavelland. Pöllnitz Lebens- und Regierungs-
    geſchichte der vier letzten Regenten. Maſſenbach Memoi-
    ren zur Geſchichte des preußiſchen Staats unter den Regie-
    rungen F. W.’s II. und III.Feßler Rückblicke auf meine
    70jährige Pilgerſchaft. Mündliche und briefliche Mitthei-
    lungen des Herrn Tholuck in Marquardt und des Herrn
    Prediger Müller in Fürſtenwalde. (Die andern benutzten
    Schriften ſind im Texte ſelbſt genannt worden.)

Oberſt Maſſenbach und General v. Biſchofswerder.


Wir haben ſchon im Text, pag. 272 und die folgenden Seiten,
hervorgehoben, wie alle Unterredungen, die Biſchofswerder mit Maſſen-
bach führte, ſich keineswegs durch Reſervirtheit, Dunkelheit oder Zwei-
deutigkeit, ſondern umgekehrt durch Offenheit, Entgegenkommen und
vielen bon sens auszeichneten, in welcher letztren Eigenſchaft er dem
phantaſievollen, immer neue Pläne gebärenden Maſſenbach gewiß
[438] überlegen war. Aus den Unterredungen, die der letztere aufgezeichnet
hat, geben wir hier drei.


Erſte Unterredung im Januar 1794.

Der Herzog von Braun-
ſchweig, aufs höchſte degoutirt, hatte ſeine Abberufung von der Armee
am Rhein verlangt. Möllendorf ſollte ihm im Oberkommando folgen,
folgte ihm auch wirklich. Maſſenbach, der den Herzog für fähiger hielt,
war bemüht ihn der Armee zu erhalten. Er reiſte vom Hauptquartier
nach Berlin, ſuchte Biſchofswerder auf und drang in ihn, der vom
Herzog eingereichten Demiſſion nicht Folge zu geben.


Maſſenbach. … Der Herzog wird das allein Richtige thun;
Möllendorf nicht.


Biſchofswerder. Haben Sie den Auftrag vom Herzog, wegen
ſeines Verbleibens offiziell zu ſprechen?


Maſſenbach. Nein.


Biſchofswerder. Was Sie mir über den Krieg und ſeine nach-
drucksvolle Fortſetzung geſagt haben, will ich dem Könige vortragen.
Hätte Ihnen der Herzog einen Wink gegeben, nur den Wunſch geäußert …


Maſſenbach. Den Wunſch hat er nicht mit Worten geäußert,
aber ich gebe meinen Kopf zum Pfande: le Duc ne demande pas mieux.


Biſchofswerder. Können Sie mir dafür gut ſagen?


Maſſenbach. Ja, Herr General! Der Herzog bereut es ſchon,
ſeine Zurückberufung verlangt zu haben. Geſagt hat er das nicht mit
Worten, aber ſeine Phyſiognomie ſagt es.


Biſchofswerder. Wären Sie einen Tag früher gekommen.
Möllendorf iſt ernannt. Doch ich will einen Verſuch machen.


So die Unterredung. Der Verſuch wurde wirklich gemacht, aber
er glückte nicht.


Zweite Unterredung im Februar 1795.

Sie betraf denſelben
Gegenſtand: den Herzog. Die Dinge am Rhein waren ſchlecht gegan-
gen, Holland war verloren. Maſſenbach war der Anſicht, nur der
Herzog könne den Krieg zu einem glücklichen Ende führen. Er trug
dies Biſchofswerdern vor.


Maſſenbach. . . Ich ſehe wohl die Scheidewand zwiſchen dem
Könige und dem Herzog; aber iſt es nicht möglich dieſe beiden Herren
wieder einander näher zu bringen?


Biſchofswerder. Nein. Der König hält den Herzog für zu
bedenklich, für zu unentſchloſſen.


Maſſenbach. Beim Entwurfe der Operationen, ja, da iſt der
Herzog bedenklich; aber im entſcheidenden Moment, im Gefecht, wer
hätte da den Herzog je bedenklich und unentſchloſſen geſehn?


Biſchofswerder. Maſſenbach, ſind Sie aufrichtig?


[439]

Maſſenbach. Ich lege die Talente des Herzogs in die eine, die
Talente Anderer in die andere Wagſchale und die Schale des Herzogs
ſinkt. Der Herzog beſitzt keine abſolute Größe, aber in Vergleichung
mit vielen ſeiner Zeitgenoſſen, iſt er doch ein großer Mann. Man geb’
ihm Spielraum; Manſtein iſt entfernt; mit Zaſtrow wird ſich der Her-
zog verſtehen.


Biſchofswerder. Glauben Sie? Sie irren ſich in Zaſtrow,
wenn Sie glauben: er laſſe ſich leiten. Er will leiten. Der Herzog
wird alſo auch bei Zaſtrow auf Schwierigkeiten ſtoßen, die ihn bald
wieder abſchrecken werden. Der Herzog, bei all ſeinem Verſtande und
bei allen ſeinen großen Einſichten, iſt doch ein ſchwacher Mann.


Dritte Unterredung um dieſelbe Zeit … Februar 1795.

Sie
betraf dieſelben Gedanken, die wir ſchon im Text, S. 273 mitgetheilt
haben: Bündniß mit Frankreich. Noch war man im Kriege mit
der Republik, ſtand aber dicht vor dem Friedensſchluß (Basler Frieden),
was Maſſenbach nicht wußte. In dem Augenblick, wo letztrer dies
durchſchimmern ſah, gab er ſeinen Plan: Energiſche Fortſetzung
des Krieges gegen Frankreich, auf, und proponirte, die neue Situation
ſchnell erfaſſend: Bündniß mit Frankreich. Ein bloßer Friedensſchluß
war ihm etwas Halbes, entweder zu viel oder zu wenig. Biſchofswer-
der befand ſich dieſem rapiden Andringen gegenüber, das von zwei ver-
ſchiedenen Seiten her ihn faßte, in einer üblen Lage. Er zog ſich
diplomatiſch-taktvoll und doch ohne alle Ausflüchte und Geheimniß-
krämerei aus der Situation heraus.


Maſſenbach. Das einzige Mittel, einen dauerhaften und ruhm-
vollen Frieden zu erlangen, beſteht darin: den Krieg mit Nachdruck
fortzuſetzen und Holland wieder zu erobern.


Biſchofswerder. Wir haben keine Mittel den Krieg gegen
Frankreich fortzuſetzen; der böſe Wille der Oeſtreicher iſt offenbar; wir
müſſen Frieden machen.


Maſſenbach. Ein partieller Friede mit Frankreich ſetzt uns großer
Gefahr aus. Wir werden uns mit Rußland entzweien.


Biſchofswerder. Rußland iſt ohnedies unſer Freund nicht.
Die polniſche Campagne hat es ſattſam bewieſen. Sie ſollten Suwa-
rows Brief an den König ſehn: „Praga raucht, Warſchau zittert! Auf
den Wällen von Praga. Suwarow.“ Was denken Sie von dieſer
Sprache?


Maſſenbach (nach kurzem Schweigen). Liegen die Dinge ſo, iſt
Rußland unſer Freund nicht, ſo mache man mit Frankreich nicht nur
Frieden, ſondern ſchließe eine Offenſiv- und Defenſiv-Allianz mit den
Fünf-Männern.


Biſchofswerder. Das iſt zu früh.


[440]

Maſſenbach. Der Schritt vom Frieden zum Schutz- und Trutz-
bündniß iſt in Wahrheit ein kleiner Schritt. Ich bin nicht für halbe
Maßregeln. Entweder die nachdrucksvollſte Fortſetzung des Krieges gegen
Frankreich, oder Allianz mit dem Direktorium. Der Frieden iſt eine
halbe Maßregel.


Biſchofswerder. Eine Allianz verbietet ſich. Jedenfalls iſt es
zu früh. Man kann nicht wiſſen, welche Geſtalt die Dinge in Frank-
reich annehmen werden.


So ſchloß dieſe Unterhaltung. Am 5. April 1795 erfolgte der Bas-
ler Frieden. Aus allen dieſen Geſprächen aber, wie man auch politiſch
zu den in ihnen angeregten Fragen ſtehen mag, geht wenigſtens ſoviel
hervor, daß Biſchofswerder nicht der Mann war, der weiter nichts that
„als geheimnißvoll ſchweigen und wenn er ein Geſpräch nicht vermei-
den konnte, in unartikulirten Tönen zu ſprechen.“


Ignaz Aurelius Feßler,

katholiſcher Geiſtlicher, dann Freimaurer,
dann proteſtantiſcher Conſiſtorialpräſident in Rußland, gründete in den
90er Jahren in Carolath (Schleſien) den Evergeten-Bund. Dieſe Ver-
bindung erſtrebte urſprünglich nur gegenſeitige ſittliche und wiſſenſchaft-
liche Ausbildung; ſpäter aber, nachdem Feßler bereits ausgetreten war,
erhielt der Bund auch einen politiſchen Charakter und drei unzufriedene
Evergeten griffen den Grafen Hoym, Miniſter für Schleſien, heftig an.
Nun erfolgten Nachforſchungen, Verhaftungen, Beſchlagnahmen; man
fand auch Briefe von Feßler und ſetzte nunmehr dieſen oben an auf
die Liſte der Conſpiratoren. (Der König — wie S. 275 erzählt —
ſtrich eigenhändig Feßlers Namen von der Liſte.) 1796 lebte F. in
Berlin. Er befand ſich damals in bedrückter Lage und in dieſer Lage
nahm ihn Biſchofswerder, der ihm wohl wollte, mit nach Marquardt
hinaus. Feßler ſelbſt ſchreibt: „der General that das Mögliche; er
nahm mich treuherzig auf, gab mir Gelegenheit, den rechtſchaffenen
Staatsmann (ſo weit es unter den verworrenſten Umſtänden möglich
war) in ihm zu verehren, den uneigennützigen Vater ſeiner Unterthanen
in ihm zu lieben. Er ſchien Vertrauen zu mir gefaßt zu haben.“
Woran die Bemühungen Biſchofswerders ſcheiterten, habe ich im Text
S. 281 erzählt. 1798 wurde Feßler Rechtskonſulent in geiſtlichen und
Schul-Angelegenheiten für Neu-Oſt- und Südpreußen. Später, von
1803—7, lebte er auf dem Freigut Kleinwall an dem „mäandriſchen
Flüßchen Lökenitz,“ dann ein Jahr lang, bis 1808, in Nieder-
ſchönhauſen
, dann etwa 1 oder 1½ Jahre in Bukow bei Beeskow,
an allen drei Orten literariſch thätig. — Seine oben citirte Selbſt-
biographie: „Rückblicke auf meine 70jährige Pilgerſchaft“ bringt über
[441] ſeinen Aufenthalt an dieſen kleinen märkiſchen Ortſchaften intereſſante
Mittheilungen.


Ueber Biſchofswerder und Wöllner

ſchrieb W. Alexis ſehr rich-
tig: Die Herrſchaft gedankenloſer Roués, zu Ende der 80er Jahre,
konnte nur dahin führen, den Boden zur Aufnahme einer andren Saat
bereit zu machen. Ein Ekel mußte ſchließlich jede beſſere Natur über-
kommen … Die Verſuche der Wöllner und Biſchofswerder, die
jenen Verfall ſehr wohl erkannten, kamen nur zu früh, zu unge-
ſchickt
.


Die Marquiſe Luccheſini,

ſo ſchreibt W. Alexis an andrer Stelle,
haßte ihre Schweſter, die Biſchofswerder, auf Tod und Blut. Sie
erklärte ihrem Gemahl (damals Geſandter in Paris), wenn ſie mit
ihr unter dem Himmel einer Stadt leben müßte, verginge ſie an
Krämpfen.


Geheime Geſellſchaften.


Das Geiſterbeſchwören

war, in den erſten Jahren der Regierung
Friedrich Wilhelms II., in Berlin an der Tagesordnung. Die Ver-
ſtändigen lachten und deckten mal auf mal den Betrug auf, der oft von
der gröbſten Art war; die Dinge hielten ſich aber bis zum Thronwech-
ſel. So erſchien 1789 der Geiſterbeſchwörer Mr. St. Philidor, der,
am 30. März, eine Geſellſchaft von 14 Männern, natürlich gegen
Erlegung ebenſo vieler Friedrichsd’ore, zu einer „Vorſtellung“ einlud.
Der 13. Band der „Berliniſchen Monatsſchrift,“ herausgegeben von
F. Gedike und F. E. Bieſter, bringt darüber folgendes:


„Vor der Thüre mußten die Geladenenen Mäntel (namentlich
Pelze) und Stöcke ablegen, welch letztere Entwaffnung in nur allzu
begründeter Vorſicht ihren Grund haben mochte. Die Geladenen wur-
den darauf im zweiten Stockwerk in ein länglich-viereckiges Zimmer
mit geweißten Mauern und mit zwei Fenſtern und einer Thür, und
in demſelben auf einen mit Latten abgeſonderten engen Platz geführt,
auf welchen an beiden Ecken eine metallne Hand hervorſtand. Nahe
an der Thür ſtand ein Gehülfe des Geiſterbeſchwörers. Im Zimmer
war ſonſt nichts als innerhalb einer auf dem Fußboden mit Kreide
gezogenen Ellipſe, ein zuſammengeſchlagenes ſchwarzes Tuch, eine bren-
nende Lampe und ein Rauchfaß befindlich. Der Zauberer hielt über-
dem im Anfange ein brennendes Wachslicht in der Hand und war ohne
irgend eine Auszeichnung ſchwarz gekleidet. Er fragte ſeine Geſellſchaft
im pathetiſchen Tone: „ob ſie feſt entſchloſſen wären, Geiſter zu ſehen“
was allerſeits bejaht wurde. Er erinnerte ſie nunmehr, daß er nicht
[442] wie Schröpfer eine 14tägige Vorbereitung in der Diät zur Einweihung
in dieſe Myſterien erfordert habe; daß er auch des ſonſt gewöhnlichen
Hülfsmittels nicht bedürfe, zufolge deſſen man ſonſt nur zwei oder drei
Perſonen zuzulaſſen unv ſolche den ganzen Tag über in demſelben Zim-
mer einzuſperren pflege. Er ſeinerſeits verlange nur, daß Niemand ſich
von der Stelle bewege, Niemand etwas angreife, Keiner während der
Operation ſpreche, noch weniger einem Andern ſeine Gedanken über
das Geſehene mittheile
. Sobald eines von dieſen Geſetzen über-
treten werde, ſtehe er nicht mehr für die überaus große Gefahr,
welcher ſie ſämmtlich dadurch ausgeſetzt ſein würden.


Er legte nunmehr das ſchwarze Tuch, als zu der Feierlichkeit
weſentlich nöthig, auseinander, und bedeckte damit den Fußboden längs
der Zauberwand. Licht und Lampe wurden ausgelöſcht und in der völ-
ligen Dunkelheit, die jetzt herrſchte, benutzte er noch dazu das Rauchfaß
auf eine für die Augen ſeiner Zuſchauer ſehr empfindliche Art. Mit
väterlicher Sorgfalt erinnerte er ſie nochmals in jeder Pauſe an die
große Gefahr in welcher ſie ſich befänden, empfahl ihnen ſich die Hände
zu geben und denen beiden, welche an den Ecken ſtanden, die metallne
Hand
anzufaſſen, welche er in der Dunkelheit für eine abgeſtorbene
Hand (main morte) ausgab. Die hierbei von einem der Zuſchauer mit
Nachdruck gegebene Verſicherung „daß der Zauberer, durch etwaige
Anwendung eines zu empfindlichen elektriſchen Schlages, ſich einer
unangenehmen Erwiderung ausſetzen würde,“ verſtimmte zuerſt
den feierlichen myſteriöſen Ernſt, bei welchem allein eine Täuſchung
gedeihen kann.


Die Beſchwörung nahm nun mit gebieteriſcher aber dumpfer und
unverſtändlicher Stimme, nach einem Hin- und Herſchreiten im Kreiſe,
mit dem Zauberſtabe den Anfang. Es waren faſt dieſelben heiligen
Worte („Helion, Melion, Tetragrammaton“) denen Caglioſtro über-
natürliche Kräfte beimißte, mit „Jehovah“ und einigen franzöſiſchen
Formeln: „Parois, esprit terrible! Esprit terrible epargne moi“ ver-
miſcht. Ueber dem Zimmer ertönte ein Donner und das Lämpchen
warf einige Funken von ſich. Nach einigem Hin- und Herbewegen des
Rauchfaſſes, und nach einigen in Extaſe auf die Zuſchauer geworfenen
Blicken, erſchien auf ein lautes: Esprit, parois! an der von den
Zuſchauern etwa 12 Fuß entfernten weißen Wand der Geiſt Vol-
taires
, in weißem, langem Gewande, mit rundem Haar, faſt in
natürlicher Größe. Der Zauberer fragte, ſeines Verbots vom Still-
ſchweigen ſelbſt uneingedenk, die Geſellſchaft: „ob ſie den Geiſt erkenn-
ten“ und als man ihm antwortete, daß man die faſt unkennbaren
Geſichtszüge deutlicher zu ſehen wünſchte, entſchuldigte er ſich damit: daß
er ſich nicht anheiſchig gemacht habe Körper zu zeigen. Das Phantom
[443] ſchien ſich im Profil etwas rechts zu bewegen, und würde ohne den
dicken Rauch, wie ein Schattenſpiel ohne Farben, oder wie eine ver-
größerte, jedoch weiße ombre chinoise geſchienen haben. Es verſchwand,
nachdem, der mitleidige Zauberer durch klägliche Beſchwörungen und faſt
epileptiſche Verdrehungen, die Beſtrafung der ungläubigen Zuſchauer
glücklich abgewandt hatte.


Der Geiſterbeſchwörer brachte hierauf Friedrich den Großen in
Vorſchlag, der auch ſofort genehmigt wurde. Er erſchien denn auch
alsbald in Uniform, mit einem Federhut und völlig en face.


Nach kurzem Verweilen hieß es wie im Hamlet: „Exit ghost“
und Herr Philidor zeigte ſich nunmehr bereit, den ſchon am Abend
vorher verabredeten Geiſt des Vaters eines in der Geſellſchaft befind-
lichen Engländers erſcheinen zu laſſen. Der Geiſt erſchien auch wirklich,
in engliſcher Offiziers-Uniform, etwas unter Lebensgröße und mit ſehr
irdiſchen Fehlern im Bau und in der Proportion des Körpers ausge-
ſtattet. Da der Magier die Perſon des Verſtorbenen nie geſehen, auch
ſein Bildniß weder vor den Oeuvres de Voltaire noch vor den Oeuvres
posthumes de Fredéric II.
gefunden hatte, ſo waren, wie ſich denken
läßt, die Geſichtszüge völlig unkennbar. Auch verrieth es wenig Fein-
heit, daß er nicht einmal den Vornamen des Verſtorbenen vorher
erforſcht hatte, ſo daß man ſich nicht hätte verwundern dürfen, wenn
beim Aufrufen des Familien-Namens, das ganze Geſchlecht mit
allen Vettern und Namensverwandten erſchienen wäre.


Das Augenſcheinliche der Täuſchung und die unangenehme Wirkung
des immer dicker werdenden Rauches auf die Nerven, hatten der
Geſellſchaft die Luſt benommen länger auszuhalten; einige forderten
noch den Teufel zu ſehn, worauf Herr Philidor jedoch aufs beſtimm-
teſte erklärte, daß ſeine Macht ſich blos auf gute Geiſter beſchränke.


Es war ein totales Fiasco. Wahrſcheinlich hatte er die Bilder
aus der Laterna Magica auf die Wand fallen laſſen, welche wohl aus
Pergament oder aus einem in Oel getränkten ſtarken Papier beſtand.
Man fand nachher große Schnitzel von ſchwarzgefärbtem Papiere,
woraus vermuthlich die Hauptfiguren geſchnitten waren. Das ſchwarze
Tuch hatte zu beſſerer Zurückwerfung der Lichtſtrahlen gedient; und
zur Anbringung des optiſchen Werkzeuges war eine Thüre ausgehoben,
welche in eine an das Zimmer ſtoßende Kammer führte, wo ein Licht
war. Bei einem bequemeren Lokal, bei genauerer Beobachtung des
Rituals und bei Hiwegräumung alles deſſen, was Verdacht erwecken
mußte, würde die Täuſchung erträglicher geweſen ſein.“


Einen ſehr ähnlichen Bericht über die „Vorſtellung“ faßte Freiherr
v. d. Reck, Kammerherr und damals Generaldirector der K. Schau-
ſpiele ab.


[444]

Paretz.


  • Benutzt: Adami Königin Luiſe. Eylert Charakterzüge aus dem
    Leben Friedrich Wilhelms III.Lehnerdt, Paſtor zu Fal-
    kenrehde, „Erinnerungen.“ Fritz Schultz Paretz, eine
    hiſtoriſche Skizze. Schadow Kunſtwerke und Kunſt-Anſich-
    ten. Mündliche und briefliche Mittheilungen des Hofgärt-
    ners Wilken.

Das Belvedère.


Eine Viertelmeile von Paretz entfernt befindet ſich das „Belvedère,“
das, als Ausſichtspunkt, ſchon 1803 angelegt wurde. Es iſt ein als
gothiſche Ruine gedachter viereckiger Thurm, der zunächſt aus einem
Erdgeſchoß und darüber aus einem großen gewölbten Zimmer mit vier
Spitzbogen-Fenſtern beſteht. Das Zimmer ſelbſt einfach geweißt. Es
gewährt einen freien Blick über die übrigens ziemlich monotone Land-
ſchaft. Inmitten des Zimmers ſteht ein großer runder Kaffeetiſch; um
dieſen herum 12 Stühle. Friedrich Wilhelm III. liebte es, bei gutem
Wetter, hier die Kaffee- oder Theeſtunde zu verplaudern.


Die einzige Sehenswürdigkeit dieſes Orts, richtiger ein Curioſum,
bilden 30 größere und kleinere Theater- und Circus-Zettel aus
allen Ländern Europas, die, bis zu erheblicher Höhe, die Wände
bedecken. Die größere Hälfte davon hatte der König von ſeinen gele-
gentlichen Reiſen mit heimgebracht; ſie wirken deshalb wie Tagebuch-
blätter aus einem Reiſe-Journal.


Die franzöſiſchen Theaterzettel ſind aus den Jahren 15, 17
und 25. Ein Zettel aus dem Jahre 15 lautet:


Odeon, Theatre Royal. Les Comediens français du Roi don-
neront, aujourd’hui lundi 2. Octobre 1815, la première representa-
tion de: „Passons les Ponts ou le Voyage au Faubourg St. Ger-
main; A-propos en un acte en vers et en prose; precédé „d’un
Trait de Frédéric le Grand, ou la Journée des Dupes“ comedie en
cinq actes et en vers de Mr. Armand Charlemagne.


Daran reihen ſich Zettel aus dem Theatre du Vaudeville, de la
Gaité, des Variétés, de la Porte St. Martin, Royal Italien, Cirque
Olympique
und andre mehr.


Unter den engliſchen Theater- und Concert-Zetteln iſt der fol-
gende der intereſſanteſte. „Argyll-Rooms. Mademoiselle Sontag
respectfully announces that in consequence of letters she has had the
honor to receive from many distinguished Personages in Prussia, in
conformity with their suggestions, she is induced to give a Morning
Concert on Monday, 13th July 1829, at the above Rooms for the benefit
of the numerous sufferers from the recent destructive Inundations in
[445] Silesia. Mademoiselle Sontag most respectfully solicits the aid of the
British Public on this charitable Occasion.
(Folgen die Prinzeſſin-
nen der Patronage, dann die „Vocal performers“, dann die Principal
instrumental performers: Messrs. Moscheles and Felix Mendelssohn.
— Tickets, half a guinea each, can be had of Mademoiselle Sontag,
30, Margret Street.


Die Berliner Theaterzettel, aus einer Epoche die nun 35 bis 40
Jahre zurückliegt, werden, um vieler Namen willen, die damals einen
guten Klang hatten, einzelne unſrer Leſer intereſſiren:


1. Dramatiſche Abendunterhaltung im Königlichen Schloſſe zu Char-
lottenburg, 2. Juni 1837, „Ich bleibe ledig“. Mitſpielende: die
Herren Weiß, Stawinsky, Crüſemann, Grua, Rüthling, Wiehl; ferner
Demoiſelle Clara Stich.


2. Dramatiſche Abend-Unterhaltung im Palais der Königl. Prin-
zeſſinnen, 5. April 1838. „Der Gemahl an der Wand“ (Crüſemann,
Rüthling, Gern; Bertha und Clara Stich). „La femme raisonnable“
(Mr. Francisque, Dlle. Lancestre, Dlle. Clozel).
Dann Tanz: Sici-
lienne und Pas de Diane Chaſſereſſe.


3. Königliche Schauſpiele, 24. April 1838. „Vor hundert Jah-
ren
“ (Stawinsky, Wauer, Gern, Schneider, Wiehl; Fräulein Clara
Stich). Darauf: „Der Polterabend, Ballet.“ Nachrichten: Fräu-
lein Charlotte v. Hagn iſt unpäßlich. Nächſten Donnerstag: Herr
Seydelmann Karl XII. als viertes Debüt.


4. Königſtädtſches Theater, 8. Juni 1839. „Die Reiſe auf
gemeinſchaftliche Koſten
“ (Herr Beckmann als Liborius, Herr
Plock als Brennicke, Mad. Urbaneck — Kommerzienräthin Baldini).
Zum Schluß Vorſtellung der Bajaderen aus Indien.


Etzin.


  • Benutzt: Das Tagebuch des Feldpredigers J. F. Seegebart, heraus-
    gegeben von Dr. K. R. Fickert. Briefliche Mittheilungen
    des älteren Paſtor Duchſtein in Etzin.

Tagebuch des Paſtor Seegebart,


Predigers beim Erbprinz-Leopoldſchen Regiment, vom 14—28. Februar 1741.


Dorf Werder bei Rüdersdorff. Den 14. Februar marſchirte das
Regiment vor 9 Uhr aus Berlin auf Landsberg; allwo ich dito um
1 Uhr anlangte und mein Quartier bekam bey einem Schuſter Namens
Steinhorſt. Auf dem Wege war ein kranker Burſch von des Obriſt-
lieutenant v. Schulenburg Compagnie Namens Thoren geſtorben, der
daſelbſt auf dem Kirchofe begraben wurde. Unterwegs traf ich ein Com-
mando Bürger an, die 300 weniger 1 Recruten nach Berlin gebracht
[446] hatten von kaiſerlichen Deſerteurs, wie mir denn auch kurz nachher noch
ein dergleichen Commando begegnete, das 25 Mann dergleichen Recru-
ten dorthin begleitete.


Ich ſprach zu Alten Landsberg den Oberprediger Herrn Martini,
und fand den Diaconum Herrn Kampen bey ihm, der erſte ſchien ein
conduiſirter feiner Mann zu ſeyn.


Aus Berlin fuhr ich mit einem in Gottes Willen gelaßenem Gemüthe.
Der Herr gebe mir eine gläubige in ihm getroſte und freudige Seele!


Den 15. um 7 Uhr marſchirte das Regiment aus Landsberg, das
zu den Zeiter, da es noch den Herrn von Schwerin zugehört, ein Sitz
der Socinianer geweſen, und wurde in 5 Dörffern unterm Amte Rüder-
ſtorf einquartiert. Ich bekam mit den Obriſt Wachtmeiſtern von Götz
und Oſten mein Quartier im Dorfe Werder, vor dem Ende bey einem
Manne namens Fleiſchhauer, ſo ein klein Freiguth beſaß, wo man mir
alle Willfährigkeit erwieß. Der Prediger dieſes Orts von Einem, ein
Edelmann der Geburth nach, ſtund bei den Leuten in geringem Credit,
weil er Narrentheidinge auf der Cantzel und andere Poſſen auf der
Cantzel vorbringe, darüber nicht nur Zuhörer, ſondern auch er ſelbſt
lachen müße. Des Abends ging ich zu ihm, und blieb bey ihm zum
eſſen, wozu er mich auch den folgenden Tag bitten ließ. Er iſt ein
freier Mann, der doch vieles vom Glauben und Buße ſaget. Weil er
ein hannöveriſch-Göttingiſcher patricius, ſo nennet er die Bauer, denen
er durchaus gram iſt, nur den Pöbel und die Canaille. Mein hospes
mag wol ein privat-Haß wider ihn haben, weil er ſeine Frau, die
von einem Grenadier geſchwächt 10 Wochen nach ihrer Hochzeit entbun-
den worden, zwar als Jungfer aufgeboten, aber es auch hernach öffent-
lich gerüget hat.


Herr Jeſu ſey Du meine Weisheit auch in der Führung meines Amts!


Den 16. ward vom Major v. d. Oſten zum eſſen gebeten, weil es
aber ſchon dem Prediger zugeſaget, ſo refusirte es bey dieſem, und zu
jenem nahm Mr. Warnicke mit. Nachmittags ritte auf eine Viertheil-
Meile von meinem Quartier nach Zindorff zum Prediger Hrn. Scheibler,
einem Sohn des ehemaligen Inspectoris zu Lindo bey Ruppin. Die
Frau iſt ein kluges conduisirtes Weib, Er ſelbſt nicht ohne wahre
Gottesfurcht und gründliche Erkenntniß vieler Wahrheiten. Sein ante-
cessor
Kohlhart iſt vor 14 Jahren ausgetreten mit etlichen 100 Thlrn.
Kirchen-Geldern, weil er ſammt ſeinem Vater mit ſeiner gehabten
Magd in Unreinigkeit gelebt, und auch ſonſt nicht nur unanſtändige
Handthierung getrieben, ſondern auf alle mögliche Weiſe ein höchſt
ärgerliches Leben geführt. Der Hr Scheibler hat vielen Verdruß aus-
ſtehen müſſen, weil er die Unordnung abgeſtellt wiſſen und unter das
unbändig rohe Volk Erkenntniß des Heils bringen wollen.


[447]

NB. Hier habe 3 rationes bekommen, da mir in dem erſten
Nacht-Quartier nur 2 gereichet worden.


Fürſtenwalde 17. Februar. Morgens um 7 Uhr reiſete von Werder
ab und kam um 11 Uhr in Fürſtenwalde an, allwo ich mein Quartier
bey einer Kunſt-Pfeiffer-Wittwe, die Hörnichin genanndt, bekam. Sie
hat 2 mannbare Töchter, die bey ihrer großen vorgeblichen und ſchein-
baren Dürfftigkeit der Galanterie ergeben zu ſein mir vorkamen. Der
Herr gebe, daß ich mich irre. Auf dem Marsch ſtießen mir manche
kleine widrige Zufälle auf, welche mir Gelegenheit gaben, die Nothwen-
digkeit der Wachſamkeit auch dabey zu erkennen.


Nachmittags machte Visite beym Archidiacono Herrn Baumann.
Herr Baumann hat eine Lieberkühnia aus Berlin. Es gefiel mir
nicht übel im Hauſe bey ihnen, wie ſie denn auch nebſt einem vorge-
ſetzten Caffee auch das Abendeſſen mich bey ihnen einnehmen ließen.


Der Mann ſcheint ein gutes Gemüth zu haben. Sie iſt ziemlich chole-
risch.
Er hat zuerſt unter dem (ni fallor) Dewitziſchen Regiment cavallerie
in Preußen geſtanden, nachdem er 2 Jahr zuvor beym vorigen Feld-Probſt
Gädicken im Hauſe geweſen. Hernach iſt er Prediger zu Bernäuchen
unter der Bernauiſchen Inspection geworden. Darauf zu Charlottenburg
bey Berlin; von wo er auf Vorſchlag des Feld-Probſts Carstedt nach
Fürſtenwalde gekommen. Multum in discordiis versatus est et apud
Carolinaburgenses et ita esse dicitur apud Fürstenwaldenses.


Frankfurt. Am 18. ging ich nach Frankfurt, wo ich abends gegen
8 Uhr arrivirte. Ich fand daſelbſt beym Pastore der Unterkirche Herrn
Hitzwedel den Herrn Feldprobſt nebſt einem Fähnrich Glaſenapſchen
Regiments von Hart, welcher bekehret ſeyn ſoll. Man empfing mich mit
complaisance. Ich nahm mein quartier ſamt dem Feld-Probſt bey einem
Kamm-Macher Herrn Wieſiger einem guten Freunde des Hrn. Hitzwedels.


d. 19. Weil es ein Sonntag war, ſo hörte 3 Predigten:
Vormittags in der Oberkirche einen alten Candidaten nahmens Hort-
leder, ſo zur Probe predigte zur Pfarre in Kunersdorff, einem Dorfe
ſo dem Magiſtrate in Frankfurt zugehörig. Eine ſo ſchlechte und magere
Predigt habe lange nicht gehöret. Denn es war der Vortrag ſo indis-
cret,
daß er nur lauter bekehrten Chriſten, deren er wol wenige vor
ſich haben mogte, predigte.


Die ganze Predigt war ein ausgedörrtes Sceleton, deſſen Theile
kaum aneinanderhingen. Er wollte das ganze Evangelium erklären,
vergaß aber die Hauptſache und blieb bei den magern Umſtänden des
Orts, der Zeit ꝛc. ohne es durch porismata zu appliciren; begieng auch
das falsum, daß Chriſtus nachher niemals mehr vom Teufel verſucht
worden, da gleichwol einer der Evangeliſten ausdrücklich meldet, daß
der Teufel nur NB. eine Zeitlang von ihm abgelaſſen. Um die Mit-
[448] tagszeit hörte in der Unter-Kirche den Hrn. Ellinger, Archidiaco-
num
daſelbſt. Der Mann mag nicht ohne Gnade ſeyn, ſteht aber in
einer gar zu heftigen Gemüthsfaßung. Theilet aber ſonſt das Wort
recht. Die Bitterkeit, ſo er gegen das auditorium zu haben ſcheint,
mag vielen Segen hindern. Nachinittags hörete in der Oberkirchen (bey
jetziger vacantz des diaconats, wozu Herr Hitzwedel gelangen wird)
dieſen Hrn. Hitzwedel. Er predigt noch ſo wie ſonſt zu Berlin i. e.
bibliſch, aber ohne ſpecielle application an die herkömmlichen Bräuche,
die Zuhörer zum Herrn Jeſu zu ziehen. Der Herr lehre und beßere
uns und gebe mir Gnade, die an euch bemerkten Fehler zu meiner
Beſſerung anzuwenden.


In Frankfurt giebt es viel ſchöne Leute.


Die Univerſität war ſehr ſchwach, ſo daß nach der Ausſage Mr.
Colbergs stud. theol. Luther.
die Anzahl der Studenten nicht über
120 belaufen mögte.


In der Oberkirche war eine ſchöne Musique, weil ein Dankfeſt,
daß Gott vor etwa 200 Jahren (anno 1565) die contagion und
Waſſers-Noth abgewandt, gefeiert wurde. 2 Paar Pauken, die Trom-
peten und ſchöne Orgel machten ein gewaltiges Gethöne. Die Leute
haben unter der Music die Gewohnheit, daß ſie ins geſammt ein Gebet
oder ſonſt etwas leſen, weil, wie einer ſagte, ſie doch vom Text der
music nichts verſtänden. Die Schule ſoll unter dem Rectorat des Hrn.
Chriſtgau mehr ab- als zunehmen. In prima classe ſollen etwan 20 ſein.
Daß ſeine Frau ſich in Schulſachen miſcht, ſoll Schuld daran ſeyn.


Vormittags beſuchte Hrn. Hitzwedel und Ellinger, der mir man-
ches von dem irregulären Verhalten des Predigers Colberg’s erzählte,
item von ſeines Collegen Frauen, die auf einer Hochzeit in Mariti
Gegenwart brav mitgetanzet, zuletzt auch mit den gemeinſten Bürgern;
item ein andermal nicht nur dieſes, ſondern ſich auch von mehrern
Anweſenden, auch Studenten öffentlich küſſen laſſen. Er referirte mir
auch manchen falſchen Streich, den er ihm geſpielt, item von ſo vielen
Leiden, die er ausgeſtanden um des angelegten Waiſenhauſes willen,
da er auch von den hospitaliten einmal ſey geprügelt worden.


Reppen. Den 21. ging der Marſch auf Reppen. Ich fuhr aus
morgens um 9 Uhr und langte mit dem Regiment um 1 Uhr daſelbſt
an. Das quartier bekam beym Ober-Pfarrer Herr Klewer obgleich
das billet auf den Diaconum gerichtet war. Denn aus Irrthum und
vielleicht beſonderer göttlicher direction wieß man uns dorthin. Reppen
iſt ein ebener Flecken, oder, weil es drei Bürgermeiſter hat, eine
mäßige, aber pauvre Stadt. Herr pastor primarius Klewer iſt 14
Tage lang unter dem jetzigen Glaſenapſchen, ehemals Wartensleben-
ſchen Regiment musquetier geweſen. Auf Vorſtellung der jetzt ver-
[449] wittweten Königlichen Frau Mutter aber wieder losgegeben worden;
hernach auf recommendation höchſt derſelben in ſeinen jetzigen posten
gekommen, der immer jährlich bis 600 Thlr. und darüber einträgt,
aber auch mit vieler Arbeit verknüpft iſt. Er iſt ein anſehnlicher
Mann. Schade daß er nicht fromm iſt. Wenn ſein natürliches Ehr-
gefühl und hospitalitas geheiliget wäre, würde er nutzbar und ange-
nehm ſeyn. Er dünkt ſich ein ſtarker Wolffianer zu ſeyn. Da ihm
aber auf die Zähne fühlte mit einem Paar dubiis, ſo ſahe wohl, daß
er etwas, aber nicht viel von der Philosophie wußte.


Hätte ſein Weib Anleitung zur Gottſeligkeit, ſie würde Gott ſehr
treu ſeyn, da ſie bey einem natürlichen Weſen ſo ſehr viel artiges und
gutes an ſich finden läſſet. Der Herr helfe ihr, und ſey gelobt, daß
er meine Seele nicht ohne Gnade in dieſer Wüſte gelaſſen.


Den 22. Febr. war Ruhetag, doch nicht für mich; denn ich reiſete
mit meinem Hrn. hospite und hospita, ich zu Pferde und ſie im Wagen,
nach Drentzig zum Hrn. Büttner Past. 1., weil er uns invitirte. Die-
ſes Dorf liegt nach Frankfurt zu ½ Meile von Reppen. Wir trafen daſelbſt
den Amtmann von Neuendorf Hrn. Baier, der Hrn. Büttner die Kirchen-
Rechnung abnahm. Meine Seele fand daſelbſt keine Ruhe und gefiel mir
nichts, als daß Herr Büttner zu einem weggehenden Kirchen-Vater ſagte:
fürchtet Gott und betet fleißig. Gott lehre es euch recht!


Sternberg. Den 23. ging der Marſch nach Sternberg, einem
etwas kleinern und geringern Ort als Reppen, und umliegende Dörfer.
Ich ſprach unterwegs zu Botſcho beym Prediger Hrn. Pirſcher ein, weil
ich einen Brief von Hrn. Klewer an ihn zu beſtellen bekommen. Dieſer,
ein ehrlicher, und wo nicht wahrhaft frommer, doch vom Reich Gottes
nicht weit entfernter Mann, gab mir, meinen Leuten und Pferden zu
eſſen und Futter und bewieß ſich ſonſt in allen Stücken cordat. Er
dimittirte mich mit vieler tendresse und Freundſchaftsbezeugung, und
ich kam in Sternberg um 4 Uhr an, da ich des Morgens ¾ auf 10 Uhr
aus Reppen gereiſet. Mein Quartier daſelbſt ward mir angewieſen
bey dem Prediger Herrn Landvoigt, einem Manne der den Schein
eines gottſeligen Weſens, oder wenn dieſes nicht, doch den Namen
davon haben wollte: aber nichts von der Kraft der Gottſeligkeit an ſich
hatte. Indes that er mir und den meinigen Gutes.


Das Land Sternberg heißt das Knödel-Land, weil viel Knödel-
Bäume*) auf dem Felde ſowie bey mir die Eichbäume ſtehen. Und
iſt der Adel darin gleichſam geſäet. Allein in dem kleinen Flecken ſollen
nach Ausſage des Herrn Landvoigts an die 60 adeliche Perſonen ſeyn.
Zum Spaß, ſagte mir Hr. Klewer zu Reppen nach ſeinem aufgeweckten
Naturell, hat man daſelbſt das Sprüchwort: „die Adelichen wären
Fontane, Wanderungen. III. 29
[450] vom Teufel geſäet und als er über Sternberg gekommen, ſey ihm der
Sack aufgegangen.“


Züllichau. Den 24. Februar marſchirten wir in die Herrſchaft
des Grafen von Rottenburg. Ich wurde zur Compagnie des Major
v. Rintorf und des Capitain v. Nekern geſellt und bekam auch Quar-
tier
in Driebitz, einem kleinen Dorfe. Ich bey dem Dorf-Schulmeiſter
nahmens Elias Broſe. Der Prediger dieſes Orts wohnt zu Beutnitz,
einem kleinen Städtchen: er heißet Schultze. Er hat 6 Dörffer, die zu
ihm in die Kirche kommen müſſen. In der Neumark haben die Prediger
zum Theil ſchon viel Dörffer und müſſen mehrere 3 mal, der Sternber-
giſche 4 mal an einem Sonntage predigen. Die Leute reden hier ſchon
ſehr unverſtändlich, ob es gleich noch 4 Meilen dießeit Züllichau lieget.


NB. Gedachter Herr Graf iſt ein Bruder des in franzöſiſchen
Dienſten bisher geſtandenen von unſerm König zurückberufenen
und zum Obriſten über ein Regiment Cavallerie ernannten
Grafen von Rottenburg.
*)


Den 25. Febr. war Ruhe-Tag zu Driebitz. Ich ließ mein Zelt
aufſchlagen und ſpeiſete des Mittags mit den Lieutenants von Heine
und Katte beym Capitain von Nekern.


Den 26. Februar marchirten um 7 Uhr die 2 vorher in Driebitz
geſtandenen Compagnieen nach Blumberg, wo auch die vom Capitaine
von Bandemer zu uns ſtieß. Dieſes Dorff gehört der verwittweten
Baronesse (oder vielmehr ihren noch unmündigen Kindern v. Schmettau.
Es iſt außer 4 Häuſern vor beynah 4 Jahren gantz abgebrannt und
nun neu mit regulairen Straßen auf einem andern Orte aufgebauet.
Es war beſchloſſen, daß ich ſammt den Officiers auf dem Schloſſe ſpei-
ſen ſollte. Weil man aber aus vorgegebener Unwiſſenheit meines
quartiers, mich nicht formellement invitirte, ſo blieb zurück und aß
ſchon bey meinem Wirthe, als mir mein Knecht die von dem Amts-
Schreiber committirte invitation brachte. Mein hospes war ein
Schneider wie der zu Driebitz Nahmens Wotſcheski; die Einwohner
dieſes Orts müſſen nach Pommertzig, ¼ Meile davon nach Züllichau
zu, in die Kirche gehen. Woſelbſt der Prediger Hr. Samuel Borchart
etwa auf die 8 Jahr geſtanden.


Eine ſtarke Meile hinter Blumberg kam der Major von Goetz uns
entgegen aus der blocquade von Glogau, der daſelbſt hart kranck
gelegen, auf ausdrücklichen Befehl des Königs, der ſich noch geſtern bey
ſeiner Abreiſe dort befunden. Glogau iſt noch nicht an die unſrigen
übergegangen geweſen. Auch ſind damals eben noch nicht Anſtalten
gemacht worden, die Feſtung mit Gewalt anzugreiffen.


[451]

Den 27. ging das ganze Regiment nach Züllichau, wo wir um
11 Uhr anlangten. Mir wurde Quartier gegeben beym Bürgermeiſter
Segenitz, deſſen Ehefrau eine Schweſter von dem unglücklichen zu Berlin
ausgeſtäupten Geheimen Rath Wilken war.


NB. Zu Blumberg vernahm auch, daß der Prediger in Pom-
merzig
Hr. Samuel Borchart ein redlicher Mann wär. Die
Leute, bey denen mein Quartier bekam waren ungemein red-
lich, dienſtfertig und gottesfürchtig.


In Züllichau verhielt ſich der Lieutenant von Klöden und der Hr.
Capitain ſehr grob gegen mich und ließ mir ſagen künftig noch gröber
zu ſeyn, doch dieſes mir nicht unmittelbar, ſondern durch andere. Er
praetendirte mein quartier, das mir durch ein billet, da ich noch
eine Stunde eher ankam als er, war zugetheilet worden. Ich ſprach
des Abends Hrn. Cantor Kannengießer daſelbſt, der mich des Abends
mit ſich zum eſſen nahm wo ich Hrn. Diaconum Kampe nebſt ſeiner
Frau antraff. Ich wurde nicht wenig erquicket.


Den 28. war Ruhetag. Ich beſuchte das Waiſenhaus und deſſen
Buchladen. Hr. pastor Steinbart an demſelben bewieß mir viel Liebe.
Gott hat ihn reichlich begnadigt.


Am 1. März marſchirte das Prinz Leopoldſche Regiment, ſammt
ſeinem Prediger Seegebart, in Schleſien hinein. Seegebart ſetzte das
Tagebuch bis zum Beginn der Winterquartiere (18. November 1741)
fort. Dann giebt er uns noch — in einem Briefe an den Profeſſor
Michaelis in Halle — eine Beſchreibung ſeiner Betheiligung an der
Bataille von Chotuſitz, aus der wir im Text die Hauptſtelle bereits
citirt haben.


Das Tagebuch macht in dem Ernſt und der Milde ſeiner chriſtli-
chen Geſinnung einen außerordentlich günſtigen Eindruck. Muth und
Frömmigkeit, Selbſtbeherrſchung und vornehmes Empfinden, vor allem
Demuth, Wachſamkeit und Strenge gegen ſich ſelbſt, treten einem faſt
auf jeder Seite entgegen. Zugleich iſt es ein vorzügliches Zeit- und
Sittenbild, wie wir deren — in Bezug auf dieſe Schicht der Geſell-
ſchaft — nicht allzu viele haben.


Dorf Etzin ſelbſt, was noch hinzuzufügen bleibt, iſt inzwiſchen zu
großem Theile niedergebrannt. Ich ſchrieb den Aufſatz 1862; wenige
Jahre ſpäter zerſtörte ein großes Feuer die nördliche Hälfte des Dorfs,
darunter einige der am maleriſchſten gelegenen Häuſer. Die hochgelegene
Kirche und das alte Pfarrhaus (ſo ich recht berichtet bin) blieben ver-
ſchont.


29*
[452]

Gütergotz.


  • Benutzt: Hans Kohlhaſe, Aufſatz von Baron v. Ahlefeldt. Das
    Plateau von Kohlhaſenbrück, Aufſatz vom Garniſonſchul-
    lehrer Wagener. Die Alterthumsfunde bei Kohlhaſenbrück,
    Aufſatz von Freiherr v. Ledebuer. Die Geſchichte von
    Gütergotz, Aufſatz (Mſpt.) von Paſtor Broderſen. Brief-
    liche Mittheilungen von Landrath v. Albrecht.

Saarmund und die Nutheburgen.


  • Benutzt: Berghaus Mark Brandenburg. Fidicin die Zauche.
    v. Reinhardt Sagen aus der Umgegend von Potsdam.

Die Nutheburgen.


Es gab ihrer vier, wie ſchon im Text hervorgehoben. Dieſe vier
waren, von der Mündung der Nuthe, am Flußufer aufwärts gerechnet:
Potsdam, Saarmund, Beuthen, Trebbin. Alle vier ſind
verſchwunden, denn was von Burg Beuthen noch ſteht, gehört einer
viel ſpätern Epoche an.


Burg Potsdam ſtand auf einem Inſelvorſprung, der der Ein-
mündung der Nuthe in die Havel gerade gegenüberliegt. Nach allgemei-
ner freilich ſagenhafter Annahme iſt die jetzige Heilige Geiſtkirche
auf eben dieſer Stelle errichtet worden. Das Beſtehen der alten Burg
ſcheint von kürzeſter Dauer geweſen zu ſein. Schon 1228 trat die
ſogenannte Neue-Burg (Novum Castrum oder „de Nüve Huns“) zwiſchen
Potsdam und Saarmund an ihre Stelle, bis auch dieſe Neue-Burg
verſchwand. Schon mit Beginn des 14. Jahrhunderts, wo muthmaß-
lich das „Nüve Huns“ wie das alte hinüber und Schloß Potsdam,
das, als gothiſch mittelalterlicher Bau, in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts an die Stelle trat, hatte bereits jede Verwandtſchaft, in
Zweck wie Erſcheinung, mit der Nutheburg gleiches Namens abgeſtreift;
— es ſtand nicht mehr, als Wächter gegen die Wenden Landſchaft,
der Nuthemündung gegenüber, ſondern bereits an ſelber Stelle, wo
das gegenwärtige Schloß Potsdam ſich erhebt.


Saarmund und Trebbin traten gleichzeitig ab vom Schauplatz
Ohne Sang und Klang, ja ohne daß auch nur die Stelle mit Beſtimmt-
heit anzugeben wäre, wo ſie geſtanden. Burg Saarmund erhob
ſich vielleicht da, wo viel viel ſpäter das Amtsgebäude errichtet wurde;
über Burg Trebbin gingen mir folgende Angaben zu: „Nach Mei-
nung des Oberamtmanns Reyne, der, während der Kriegsjahre und
ſpäter, die Domaine Trebbin in Pacht hatte, ſtand die alte Burg auf
dem ſogenannten Amtsberge. Man findet dort noch Mauerwerk und
[453] einen Keller unter dem Berg, die auf ein altes Gebäude von größerm
Umfang hindeuten. Der Sage nach, ſoll von eben dieſem Amtsberg
ein unterirdiſcher Gang nach dem etwa 10 Minuten entfernten Burg-
wall
geführt haben, der an der Nuthe liegt und bei hohem Waſſer zu
einer Inſel wird.“ Dies iſt alles, was man an Ort und Stelle von
den Burgen Saarmund und Trebbin anzugeben weiß; alles Hypotheſe.


Die Burg Beuthen iſt die einzige, die noch exiſtirt. Ihre Trüm-
mer ragen noch übermannshoch auf und laſſen den Grundriß des alten
Baues ohne Mühe erkennen. Freilich war dieſer alte Bau das Schloß
Beuthen des 15.*), nicht die Burg Beuthen des 12. Jahrhunderts;
es iſt aber mindeſtens wahrſcheinlich, daß das Schloß der Waldemar-
und Quitzow-Zeit an ebenderſelben Stelle errichtet wurde, an der
vorher die Burg geſtanden hatte. Die Natur wies hier beiden ein und
denſelben Platz an. Dieſer Platz iſt eine kleine Inſel in der Nuthe,
etwa eine Viertelmeile vom Dorfe Groß-Beuthen entfernt. Der frühere
Beſitzer des letztgenannten Dorfes, Major von Goertzke, ſchrieb mir
Folgendes über das Schloß:


Ich habe das alte Schloß Beuthen noch als eine ſtattliche Ruine
gekannt. Nicht nur die 5 Fuß dicken, aus Feldſtein aufgeführten, etwa
20 Ellen hohen Umfaſſungsmauern, ſondern auch die inneren Wände
und der Raum, welchen die Kapelle einnahm, waren noch kenntlich und
gut erhalten. Meine Vorfahren und namentlich der Domherr v. Goertzke,
welcher 1598 das Schloß von den Minorennen von Götze kaufte, hat
noch dort gewohnt, und wahrſcheinlich auch noch ſeine Nachfolger, bis
zur Zeit, wo das jetzige Wohnhaus in Groß-Beuthen erbaut worden
iſt. Es ſind wohl hierbei die wirthſchaftlichen Intereſſen maßgebend
geweſen. So viel ſteht feſt, daß noch 1687 Schloß Beuthen bewohnt
worden iſt. In dem mir vorliegenden Erbreceß von Beuthen und den
zugehörigen Dörfern, aufgenommen durch den Notar und Bürgermeiſter
zu Beelitz, Johannes Lilo, Actum Gr. Beuthen den 30. November
1687, heißt es: „Klein Beuthen; Chriſtoff Görtzke (ein Hauptmann)
ſitzt auf dem Schloſſe; giebt jetzt jährlich — 2 Thlr.“ Auch fand ich
[454] vor einigen Jahren in einem andern Actenſtücke Notizen über ein altes
Fräulein, welches noch in ſpäterer Zeit auf dem Schloſſe Beuthen gewohnt
hat. Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts wurden Trauungen und
Taufen in der Schloßkapelle zu Beuthen vollzogen. Die Gröbenſchen
Kirchenbücher werden dies auch nachweiſen.


„Wie bemerkt, war die alte Burg (Schloß) Beuthen bis zum Jahre
1813 noch eine ſtattliche Ruine, wo ich in meiner Jugend unzählige
Male geweſen bin, da es von Gr. Beuthen ein hübſcher Spatziergang
dahin war. Erſt im Jahre 1813 wurde durch die Truppen des Bülow’-
ſchen Corps die Ruine demolirt und Trebbiner Arbeiter dazu verwandt,
die unſägliche Mühe hatten, da der Kalk feſt wie Stein war. Auf den
Trümmern des Schloſſes wurde eine Schanze gebaut, um den Damm,
der hier durch das Nuthethal führt, zu beherrſchen. Weitere Schanzen
wurden zur Sicherung der Uebergänge über die Nuthe bei Trebbin,
Kerzendorf und Wittſtock gebaut. Von den Ruinen des alten Schloſſes
iſt jetzt nichts mehr ſichtbar als die Fundamente, welche noch zu Tage
treten und den Umfang des Schloſſes zeigen; auch die Wallgräben des
Schloſſes ſind noch ſehr kenntlich.“


Blankenſee.


  • Benutzt: Der Volksmund in der Mark Brandenburg; Sagen und
    Märchen, herausgegeben von A. Engelien u. W. Lahn.

Trebbin.


  • Benutzt: Die lebenden Bilder bei dem Feſtſpiele Lalla-Rûkh, nach
    der Natur gezeichnet von W. Henſel (Berlin 1823 bei
    L. W. Wittich). Mündliche und briefliche Mittheilungen von
    Minna Henſel, Sebaſtian Henſel, Maler Löffler.

Die Laſſa-Rukh-Aufführung.


I. Der Feſtzug.

Bucharen.
Aliris, Prinz der Bucharei,
Großfürſt Nicolaus
(ſpäter Kaiſer v. Rußl.)

Drei buchariſche Prinzen:
Morad . . . . . S. K. H. Prinz Karl
Zingis . . . . . „ „ „ „ Auguſt
Inder.
Aurengzeb, der Großmogul,
Prinz Wilhelm,
Bruder Sr. Maj.

Lallah Rookh . . die Großfürſtin
(fr. Prinzeſſin Charlotte
von Preußen.)

[455]
Bucharen.
Walli . . Erbgroßh. v. Mecklenburg
Abdallah, Vater des Aliris,
S. K. H. Herz. v. Cumberland
Die Königin, ſeine Gemahlin.
J. K. H. Pr. Luiſe Radziwill.
Herren in buchariſchem Koſtüm.
Fürſt Putbus. Graf Noſtitz.
Graf Hardenberg. Graf Meerfeldt.
v. Adlerberg. v. Poten.
v. Knobloch. v. Stapleton.
v. Knobelsdorff. Graf Pückler.
v. Maſſow. Graf Wartensleben.
v. Bock. Graf Lynar.
v. Geuſau. Graf Blumenthal.
Damen.
Gräfin Schuwaloff. Miß Roſe I.
Frl. v. Jagow. Frl. v. Brockhauſen I.
Gräfin Moltke. Miß Roſe II. Frl.
v. Brockhauſen II. Frl. v. Kamptz.
Fürſtin Lynar. Frau v. Hedemann.
Frau v. Aſſeburg. Fr. v. Bülow.
Fr. v. Witzleben. Gräfin Schlieffen.
Frau v. Clauſewitz. Fr. v. Fouqué.
Frau v. Buddenbrock. Gräf. Haack.
Fräulein v. Maſſow.
Herren aus Kaſchmir.
Graf Brandenburg. v. Germann.
v. Perowsky. v. Prittwitz. v. Bülow.
Graf Gröben. v. Fouqué. v. Bud-
denbrock. Grf. Gneiſenau. Grf. Po-
ninsky.
Damen aus Kaſchmir.
Frau v. Buch. Frau v. Rochow.
Frau v. Ompteda. Frl. v. Viereck.
Gräfin Hardenberg. Gräfin Gröben.
Grf. Pappenheim. Fr. v. Tronchin.
Gräfin Neale. Fräul. v. Schuckmann.
Gräfin Haeſeler.
Inder.
Die Schweſtern des Aurengzeb.

Dſchehanara (die Zierde der Welt)
J. K. H. Herz. v. Cumberland
Roſchinara (das Licht des Verſtan-
des) J. K. H. Prinz. Wilhelm
Suria Banu (die Glänzende)
J. K. H. Prinz. Alexandrine
Die Kinder des Aurengzeb.
Bahadur Schah S. K. H. d. Kronpr.
Dſchehander Schah S. K. H. Prinz
Wilhelm, Sohn Sr. Maj.
Dara . . J. K. H. Prinzeſſin Luiſe.
Herren in indiſchem Koſtüm.
Fürſt Lynar. Grf. Modène. v. Witz-
leben. v. Röder. v. Tümpling.
v. Tronchin. v. L’Eſtocq. v. Thun.
Grf. Arnim. v. Lucadou. v. Kahlden.
v. Rochow. v. Hopfgarten. v. Thilau.
Grf. Hompeſch. v. Studnitz. v. Möllen-
dorf. Graf Schlieffen. Graf Moltke.
v. Alvensleben. v. Heiſter. v. Jordan.
v. Kaphengſt. v. Thümen. v. Pour-
tales. v. Meuron. Prinz v. Rudol-
ſtadt. Prinz Solms. v. Rauchhaupt.
Graf Walderſee. Graf Blücher I.
Graf Blücher II. Graf Bethuſy.
v. Schöler. Grf. Lynar. v. Maſſow.
v. Oſtau. v. Heiſter.
Damen.
Fürſtin Putbus. Fürſtin Partana,
Lady Roſe. Fürſtin Carolath. Frau
v. Senden. Gräfin Brandenburg.
Frl. v. Zeuner. Frau v. Tümpling.
Gräfin Voß. Gräfin Schlippenbach.
Frl. v. Arnſtedt I. Frl. v. Bergh.
Fräul. v. Kleiſt. Gräf. Haack. Frl.
v. Knobelsdoff. Frl. v. Hünerbein.
Gräf. v. Lottum. Frl. v. Stegemann.
Frl. v. Boguslawsky. Frl. v. Schuck-

[456]

Inder.


mann II. Frl. v. Röder. Frl. v. Fou-
qué. Fräul. v. Arnſtedt II. Fräul.
v. Heiſter I. Gräfin Kalkreuth.
Frl. v. Wiedenbruch. Fr. v. Martens.
Frl. v. Miaskowska. Gräf. Harden-
berg I. Frl. v. Maltzahn I. Gräfin
Hardenberg II. Fräulein v. Senden.
Frl. v. Maltzahn II. Frl. v. Adeleps.

II. Die lebenden Bilder.

A.Der verſchleierte Prophet von Khoraſan.

(Romanze.)


  • 1. Bild. Zelika . . Gräfin Haack, geb. Marſchall.
    Azim . . Prinz Wilhelm Radziwill.
    Der Prophet von Khoraſan Graf Gröben.
  • 2. Bild. Dieſelben; und
    Der Khalif Mahadi Prinz von Heſſen.

B.Das Paradies und die Peri.

(Romanze.)


  • 1. Bild. Die Peri . . Prinzeſſin Eliſe Radziwill;
    Der Engel des Lichts . Gräfin Math. Voß.
  • 2. Bild. Dieſelben.
    Mahmud von Ghizni . Herr v. Podewils.
    Der getödtete Krieger . Graf Pückler.
  • 3. Bild. Dieſelben.

C.Die Gheber.

(Romanze.)


  • 1. Bild. Hafed . . . Herr v. Bojanowski.
    Hinda . . . Frau Gräfin Brühl.
  • 2. Bild. Dieſelben.
  • 3. Bild. Dieſelben.
    Der Emir . . Fürſt Radziwill.

D.Das Roſenfeſt in Kaſchmir.

(Romanze.)


  • 1. Bild. Nurmahal . . Frau v. Perponcher.
    Dſchehangir . . Herzog Carl v. Mecklenburg.
  • 2. Bild. Namuna . . Frau v. Maltzahn.
    Nurmahal . . Frau v. Perponcher.
  • 3. Bild. Nurmahal . . Frau v. Perponcher.
    Ein Genius . . Prinzeſſin Auguſte Solms.
  • 4. Bild. Nurmahal . . Frau v. Perponcher.
    Dſchehangir . . Herzog Carl v. Mecklenburg.

[457]

Sie ſind entzweit. Namuna ſetzt ihr den Zauberkranz auf; ſie
entſchläft. Im Traum ſagt ihr ein Genius: der Zauber der Har-
monie würde ihr den Gatten wieder zuführen. Nurmahal, in der Klei-
dung einer Araberin, ſingt ein Lied: Dſchehangir entzückt. Sie ent-
puppt ſich. Verſöhnung.


(Die Romanzen, nach Th. Moores großem Gedicht, beſtanden aus
wenigen von Spiker gedichteten, von Spontini komponirten Strophen.)


Die Henſelſchen Portrait-Mappen.


Die Zahl der Portraits iſt über 1000. Wir haben im Text die
Mehrzahl der Dichter, Gelehrten, Schriftſteller, die ſich in den Mappen
vorfinden, namhaft gemacht; wir laſſen hier nur noch eine Gruppe
folgen: die Künſtler, Schauſpieler und Sänger. Es ſind die folgenden:


Bendemann, de Biefve, Cornelius, David d’Angers, Genelli,
Ingres, Kaulbach, de Keyſer, Kiß, Kopiſch, F. Mendelsſohn-Bartholdy,
Fr. Tieck, Horac. Vernet, Beethoven, Profeſſor Wach, Carl Maria
v. Weber, Zelter, Franz Lißzt, Löwe, Magnus, Moſcheles, Paganini,
Chr. Rauch, der alte Schadow, Wilhelm Schadow, Schinkel (3 mal),
Schnorr, Jul. Schrader, Schwind, Thorwaldſen, Eduard Devrient,
Viardot Garcia, Griſi, Lablache, Lind-Goldſchmidt, Milder, Clara
Novello, Paſta, Rachel, Rebenſtein, Pius Alex. Wolff, Schröder-
Devrient, Seydelmann, Wilh. u. Aug. Stich (Crelinger.)


Henſels Gedichte,


die er in einem langen Leben hat ausfliegen laſſen, ſind zahllos. Ihr
poetiſcher Werth iſt gering; er war ausſchließlich der Mann des gereim-
ten Impromptu; dennoch iſt manches nicht übel. Ich gebe zunächſt
einige Sprüche, die er, bei verſchiedenen Gelegenheiten, an Maler
Löffler richtete.


1.


Keinen Eindruck laß entſchwinden,

Fürchtend daß die Zeit entwiche, —

An den flüchtigſten der Striche

Läßt ſich die Erinnrung binden.

2.


Sei, wo ſich die Menge weiſt,

Wähle kurz und bilde dreiſt.

3.


Durch das Volk ſollſt du dich winden,

Finden hilft dir zum Erfinden.

[458]

4.


Vor des Künſtlerblickes Tiefe

Bleibt Natur nicht Hieroglyphe;

Und was ſein wird und geweſen,

Weiß er aus dem Jetzt zu leſen.

Er liebte es, in Verſen zu correſpondiren, oder ſeinen Briefen kleine
Strophen beizuſchließen. Derart war beiſpielsweiſe ſein brieflicher Ver-
kehr mit Graf Blankenſee und ſeiner Schweſter Minna. Aus Vielem
geb ich nur eins, drei Strophen, die er, von Italien aus, mit einem
Oelblatt an ſeine Schweſter ſandte, als Erwiedrung auf einen Veil-
chenſtrauß.


Für die holde Veilchengabe,

Schweſter, nimm dies Friedensgrün.

Hoffnungsfarbe die ich habe

Daß auch mir einſt Blumen blühn.

Dir ſchon gab ſie frommer Glaube,

Und du ſpendeſt mild dein Gut;

Doch bei mir ſchwebt noch die Taube

Mit dem Zweige ob der Fluth.

Du biſt friedlich ſchon gelandet

Wo der Bundesbogen ſteht.

Daß nicht meine Arche ſtrandet

Schweſter! wirke Dein Gebet.

Beſonders anſprechend iſt das folgende, das ſich in ſeinem Nach-
laſſe vorfand.


Geiſtige Wacht.
Ich ſage die Todtenklage,

Ich ſage ſie alle Tage,

Ich ſage ſie jede Nacht

Am Königs-Sarkophage

In geiſtiger Ritterwacht.

Hab’ ja in ernſten Tagen

Die Wehr der Wacht getragen

An meines Königs Thron;

Da hab’ ich Recht, zu klagen

In alter Treue Ton.

O, würd’ ich nun gerufen

Hinan die Himmelsſtufen,

Wo ſeine Krone flammt,

Daß Gottes Gnaden ſchufen (ſchaffen möchten)

Mein höchſtes Wächteramt.

Dieſe „Geiſtige Wacht“ — jedenfalls poetiſcher als die Wacht
am Rhein
— iſt ganz aus einer beſtimmten politiſchen Situation
[459] heraus gedichtet und deshalb für den Nicht-Eingeweihten beinah unver-
ſtändlich. Ihre Strophen fallen in die Zeit der ſogenannten „neuen
Aera,“ die mit der Regentſchaft König Wilhelms begann. Henſel, ſcharf
conſervativ und aus politiſchen wie perſönlichen Gründen ganz ein
Anhänger Friedrich Wilhelms IV., zählte 1860 und 61 zu den Mal-
kontenten, die alles ſchwarz ſahen und die Epoche unvermeidlichen Unter-
gangs nicht mehr zu erleben wünſchten. Dieſer Stimmung giebt das
Gedicht Ausdruck. Er klagt über die Gegenwart; mit Fr. W. IV. iſt
das alte Preußen begraben; wie er einſt (in den Märztagen 48) bei
dem geliebten Könige Wacht gehalten, ſo hält er jetzt im Geiſte an ſei-
nem Grabe Wacht, und wünſcht, daß es ihm vergönnt ſein möge, bald
wieder dort oben ſeines Königs Wächter zu ſein.


Das Gedicht hat viele Mängel; auch die Stimmung, aus der es
erwuchs, wird vielen ein Lächeln abnöthigen; dennoch iſt eine gewiſſe
poetiſche Atmoſphäre um daſſelbe her, die es anziehend macht, und die
durch ein begleitendes myſtiſches Element nur noch gewinnt.


Friedrichsfelde.


  • Benutzt: Fidicin Nieder-Barnim. v. Winterfeldt Geſchichte des
    Johanniter-Ordens. Tiedge Dorothea, Herzogin von
    Kurland. Cruſe Kurland unter den Herzögen. Bülau
    Geheime Geſchichten und räthſelhafte Menſchen. Koch
    Geſchichte des Kirchenlieds. Dr.Beſſer über Woltersdorf.
    v. Wolzogen „Aus Schinkels Nachlaß.“ Mündliche und
    briefliche Mittheilungen, beſonders des Herrn v. Treskow,
    Hofrath Herrlich und Hofrath Heſekiel.

Woltersdorfs geiſtliche Lieder


erſchienen unter folgendem Titel:


  • Ernſt Gottlieb Woltersdorfs ſämmtliche Neue Lieder oder Evangeli-
    ſche Pſalmen. 3. Auflage. Berlin, im Verlag der Realſchul-
    Buchhandlung. 1777.

Den Liedern vorauf gehen drei Vorreden: 1. Vorrede des Ver-
faſſers
zur erſten Sammlung, Bunzlau 27. Auguſt 1750. 2. Vorrede
des Verfaſſers zur zweiten Sammlung, Bunzlau 18. November 1751.
3. Vorrede des Herausgebers aus dem Jahre 1767.


Alle dieſe Lieder bilden 26 Abtheilungen; die drei letzten Abthei-
lungen umfaſſen Catechismuslieder, Kinderlieder, Hirtenlieder; die
Kinderlieder beſonders zahlreich.


[460]

Die beſten ſeiner Lieder überhaupt ſind die folgenden:


S. 140.

Sünder, freue dich von Herzen

Ueber deines Jeſu Schmerzen ꝛc.

Vers 2 und 3 lauten:

Ach wie groß iſt dein Verderben!

Ohne Jeſum mußt du ſterben.

Blind und todt ſind deine Kräfte,

Sünde, das iſt dein Geſchäfte.

Dein Verdienſt iſt Zorn und Rache,

Es iſt aus mit deiner Sache,

Ja, im Himmel und auf Erden

Kann dir nicht geholfen werden.

Des erzürnten Richters Ruthen

Fragen nur nach Jeſu Bluten;

Den der Dornenkranz gekrönet,

Gott im Fleiſch hat dich verſöhnet;

Seine Thränen, Schweiß und Wunden

Haben Rath für dich gefunden,

Und ihm bleibt allein die Ehre

Daß er deinen Tod zerſtöre.

S. 237.

Komm mein Herz, in Jeſu Leiden

Deinen Hunger ſatt zu weiden, ꝛc.

S. 334. V. 1. 4. u. 7.

Wer iſt der Braut des Lammes gleich?

Wer iſt ſo arm? und wer ſo reich?

Wer iſt ſo häßlich und ſo ſchön?

Wem kanns ſo wohl und übel gehn?

Lamm Gottes, du und deine ſeelge Schaar

Sind Menſch’ und Engeln wunderbar.

Verfolgt, verlaſſen und verflucht,

Doch von dem Herrn hervorgeſucht;

Ein Narr vor aller klugen Welt

Bei dem die Weisheit Lager hält;

Verdrängt, verjagt, beſiegt und ausgefegt,

Und doch ein Held, der Palmen trägt.

Das iſt der Gottheit Wunderwerk

Und ſeines Herzens Augenmerk:

Ein Meiſterſtück aus nichts gemacht,

So weit hat’s Chriſti Blut gebracht;

Hier forſcht und betet an ihr Seraphim,

Bewundert uns und danket ihm.

Koch ſtellt ihn in den pietiſtiſchen Dichterkreis und zwar in
die beſondere Gruppe der Hallenſer.


Sein beſonderes Vorbild war Lehr, Diaconus zu Cöthen.

Appendix A

Halle, Buchdruckerei des Waiſenhauſes.


[][][]
Notes
*)
Darüber wo Rhetra oder Ratare ſtand, ſchwebt noch immer
der Streit. Mann nennt folgende Orte: Stargard (Mecklenburg), Mal-
chin, Röbel (am Müritz-See), Rheſa, Strelitz, Prilwitz, Kuſchwanz.
Der letztere Ort, unpoetiſchen Klanges, hat zur Zeit die größten Chan-
cen, als „Rhetra“ anerkannt zu werden.
*)
Von dieſer Schlacht bei Lunkini (Lenzen) findet ſich in „Widu-
kinds ſächſiſchen Geſchichten“ eine ausführliche Beſchreibung. Die Chri-
ſten belagerten Lunkini, als die Nachricht eintraf, daß ein großes Wen-
denheer zum Entſatz der bedrängten Feſtung heranrücke und während der
Nacht das Lager der Chriſten überfallen wolle. Ein furchtbares Unwetter
indeß, heftige Regengüſſe hinderten den Angriff des Feindes. So kam
der Morgen, und die Chriſten ſchickten ſich nun ihrerſeits zum Angriff
an. Die Zahl der Wenden war ſo groß, daß, als die Sonne jetzt hell
auf die durchnäßten Kleider der hunderttauſend Wenden ſchien, ein
Dampf zum Himmel aufſtieg, der ſie wie in eine Nebelwolke hüllte,
während die Chriſten in hellem Sonnenlicht heranzogen und ob dieſer
Erſcheinung voll Hoffnung und Zuverſicht waren. Nach hartem Kampfe
flohen die Wenden; da ihnen aber eine Abtheilung den Weg verlegt
hatte, ſo ſtürzten ſie einem See zu, in dem Unzählige ertranken. Die
Chroniſten geben das Wendenheer auf 200,000 Mann an. „Die Ge-
fangenen wurden alle, wie ihnen verheißen, an einem Tage geköpft.“
*)
Daß die Wenden, in ſpäterer Zeit, ſolche aus Stein aufgeführte
Tempel gehabt haben, dafür ſpricht manches, namentlich auch manche
örtliche Tradition. So finden wir in einer 1619 zu Wittenberg gedruck-
ten Jubelpredigt eines Jüterbocker Geiſtlichen folgendes: „Das uralte
Templein allhier, welches ungefähr nur vor vierzig und etlichen Jahren
iſt eingeriſſen worden, darinnen der heidniſche Götzendienſt
der Wendiſchen Morgengöttin ſoll ſein geleiſtet worden
,
dies Templein iſt in der Länge, Breite und Höhe bis an das Dach
recht viereckigt von Mauerſteinen aufgeführt geweſen, hat oben ein Kreuz-
gewölbe und darüber ein viereckigt zugeſpitztes Dach von hellen Steinen
gehabt. Die Thür oder Eingang von abendwärts iſt niedrig geweſen,
alſo daß man im Eingehen ſich etwas bücken müſſen. Es hat auch
keine Fenſter gehabt, ſondern nur ein rundes Loch ꝛc. — — alſo habe
ich’s von mehreren Perſonen, die noch am Leben ſind,
*)
beſchreiben hören. (Allerdings iſt dieſe Angabe kein Beweis, daß
das „Templein“ wirklich heidniſch geweſen ſei. Das Kreuzgewölbe
ſpricht ſehr dagegen. Als man hier Landes Kreuzgewölbe baute, war
es mit dem Wendenthum ſchon vorbei.)
*)
Dieſe Verſe, wie ich nachträglich erfahre, rühren nicht aus der
Jahn’ſchen Zeit her, ſondern ſind erſt, vor kaum zehn Jahren, nieder-
geſchrieben und an der Brieſelang-Eiche befeſtigt worden. Das geſchah
an einem heißen Auguſt-Nachmittage 1862 durch zwei Mitglieder des
kurz zuvor gegründeten Nauener Turnvereins. Der eine dieſer beiden
Turner hatte die Verſe verfaßt, der andere die techniſche Niederſchrift
geliefert. Beide Turner blieben ſeitdem vereint; ſie dienten in demſelben
Truppentheil (der Garde); ſie fochten am 3. Juli bei Königgrätz; und
abermals an einem heißen Auguſttage, heißer als jener Wandertag, der
ſie 8 Jahre vorher zur Königs-Eiche geführt hatte, ſtürmten ſie ge-
meinſchaftlich gegen St. Privat
. Beide fielen ſchwerverwundet,
der eine durch den Schenkel, der andere durch die Bruſt geſchoſſen;
beide ſind geneſen.
*)
Die ſchönſte Ceder (eigentlich ein Taxodium) ſteht im Schloß-
park zu Guſow, der größte Birnbaum im Predigergarten zu Wer-
neuchen
.
*)
England, wie bekannt, iſt überhaupt das Land ſchöner alter
Bäume und einer entſprechenden ſorglichen Cultur. So befindet ſich bei-
ſpielsweiſe in der Nähe von Cumberlandlodge im Windſor-Parke ein
*)
Leviathan-Weinſtock, welcher ein einzelnes Haus von 138 Fuß Länge
und 20 Fuß Breite gänzlich ausfüllt. Er bedeckt gegen 2870 Quadrat-
fuß Glas und bringt jedes Jahr durchſchnittlich 2000 Trauben her-
vor. Der mehr bekannte Weinſtock in Hampton Court trug vor eini-
gen Jahren 1400 Trauben, deren Werth man auf mehr als 100 Lſtr.
veranſchlagte.
*)
Dies weiße Kleid der Eiſtercienſer war ihr beſonderer Stolz,
und unter den zahlreichen Legenden †) dieſes Ordens bezogen ſich viele
auf die beſondere Gunſt, in der, bei Gott und Menſchen, das „weiße
Kleid“ ſtand. Im Jahre 1215 ſtarb ein Ciſtercienſer Mönch zu Cher
in Frankreich und wurde ohne ſein Chorkleid begraben. Er kam zurück,
um ſein Kleid zu holen, weil der heilige Benedikt ihm nicht anders den
Himmel aufſchließen wollte. Der Prior gab es ihm, und er hatte nun
Ruhe und kam nicht wieder.
†)
Unter den anderweiten Legenden des Ordens iſt mir keine ſchöner erſchienen
als die folgende: Im Jahre 1167 dachte Mönch Heron in Gallizien in der Frühmette
über die Worte nach: „Tauſend Jahre ſind vor Dir, Herr, wie der Tag, der geſtern
vergangen iſt.“ Er fand dies unbegreiflich und zweifelte. Als er aus der Kirche kam,
flatterte ein bunter Vogel über ihm und ſang ſehr lieblich. Heron, von der Schönheit
und dem Geſang des Vogels bezaubert, folgte ihm, wohin er flog, aus dem Kloſter in
einem benachbarten Wald, der Vogel hüpfte von Zweig zu Zweig und ſang immerfort
dreihundert Jahr lang. Als nun Heron dreihundert Jahr lang weder gehungert, noch
gedürſtet, ſondern allein von dem lieblichen Vogelgeſang gelebt hatte, flog der Zauber-
vogel davon, und die Entzückung hörte auf. Heron kam nun wieder zu ſich ſelbſt und
beſann ſich, daß er ſo eben aus der Frühmette gekommen ſei. Er kehrte zurück zum
Kloſter und klopfte an die Kloſterpforte, aber da waren weder Pförtner, noch Abt, noch
Brüder mehr, die ihn kannten. Sie waren alle längſt todt; dreihundert Jahre waren
verfloſſen. „Tauſend Jahre ſind wie ein Tag.“
*)
Der Orden, ohne geradezu in Asceſe zu verfallen, war doch in
den erſten 50 Jahren ſeines Beſtehens überall rigorös, und unterſchied
ſich auch dadurch von den Benediktinern, die, geſtützt auf die Unterwei-
ſungen des heiligen Benedikt ſelber, dieſen Rigorismus vermieden.
Schon im 10. Jahrhundert hieß es deshalb ſpöttiſch: „die Regel des
heiligen Benedikt ſcheine für ſchwächliche Leute geſchrieben.“ Die
Gründer des Ciſtercienſer-Ordens gingen von einer verwandten An-
ſchauung aus, und aus der erſten Zeit des Ordens her finden ſich fol-
gende Vorſchriften:
  • 1) Die Unterlage des Bettes iſt Stroh. Polſter ſind unterſagt.
  • 2) Als Speiſe dienen gekochte Gemüſe, darunter Buchenblätter.
    Kein Fleiſch.
  • 3) In der Kirche ſoll ſich ein offenes Grab befinden, um an die Hin-
    fälligkeit des Daſeins zu mahnen.
*)
Daß die Majorität des Kloſters und dadurch das Kloſter ſelbſt
entſchieden bairiſch war, ergiebt ſich unter anderm daraus, daß Papſt
Clemens in ſeiner Bannbulle vom 14. Mai 1350 eigens Veranlaſſung
nahm, dem Kloſter ſeine Hinneigung zur Sache des bairi-
ſchen Hauſes vorzuwerfen
. Auch das Erſcheinen des Klage führen-
*)
den Mönches vor dem Papſt, während ihm doch andere Tribunale,
weltliche wie geiſtliche, ſo viel näher gelegen hätten, ſpricht dafür, daß
der zu verklagende Abt Herrmann, ſammt der Majorität des Kloſters,
(der Loburg-Partei) antipäpſtlich, d. h. alſo bairiſch waren.
*)
Dieſer Altarſchrein, der jetzt eine Zierde und Sehenswürdigkeit
des ſchönen Brandenburger Domes bildet, hat eine Höhe von etwa
9 Fuß bei circa 12 Fuß Breite. Die Einrichtung iſt die herkömmliche:
ein Mittelſtück mit zwei Flügel- oder Klappthüren, die je nach Gefallen
geöffnet oder geſchloſſen werden können. Das Mittelſtück zeigt in ſeiner
ſchreinartigen Vertiefung die Geſtalt der heiligen Jungfrau; rechts neben
ihr Paulus mit dem Schwert, zur Linken Petrus mit dem Schlüſſel.
Dieſe drei Figuren ſind Holzſchnitzwerk, buntbemalt, mehr derb charac-
teriſtiſch als ſchön. Der hohe Kunſtwerth des Schreins beſteht lediglich
*)
in der Schönheit der Malereien, die ſich auf beiden Flügeln und zwar
auf der Vorder- wie auf der Rückſeite derſelben befinden. Sind dieſe
Flügel (wie gewöhnlich) geöffnet, ſo erblicken wir die beiden beſonderen
Schutzheiligen der Ciſtercienſer, den heiligen Benedikt, aus deſſen
Orden ſie hervorgingen, und den heiligen Bernhard, der den Orden
zu höchſtem Glanz und Anſehen führte. (Die Ciſtercienſer werden des-
halb auch oft Bernhardiner genannt.) Neben den beiden Heiligen
ſtehen die Geſtalten der Maria Magdalena und der heiligen Urſula.
Auf der Rückſeite befinden ſich: der heilige Gregorius, St. Ambro-
ſius, St. Auguſtinus
und der heilige Hieronymus, lauter Kir-
chenväter, die zu dem Kloſterleben der katholiſchen Kirche in beſonderer
Beziehung ſtehn. Die Köpfe aller dieſer Geſtalten, beſonders der des
St. Benedikt und des heiligen Bernhard (die Frauenköpfe ſind
weniger vollendet) haben immer für Meiſterwerke gegolten und man hat
ſie ebenſo um ihrer Ausführung wie um ihrer Charakteriſtik willen,
abwechſelnd dem Albrecht Dürer, dem Lucas Kranach und endlich
dem Grunewaldt, einem der beſten Schüler Dürers, zugeſchrieben.
Der letzteren Anſicht iſt Ernſt Förſter in München. Grunewaldt
war allerdings ſpeziell durch ſeine Charakteriſirung der Köpfe ausge-
zeichnet.
*)
Eine Urkunde vom 8. Dezember 1542 hat uns die Namen von
zehn Kloſterbrüdern aufbewahrt, die mit Geld und Kleidung („mehr als
wir verhofft“) ausgerüſtet, Lehnin verließen und in die Welt gingen.
Es waren: Caspar Welle, Chriſtoph Brun, Martin Uchten-
hagen, Joachim Kerſten, Joachim Sandmann, Gregorius
Kock, Wipertus Schulte, Heinrich Forten, Maternus Meier,
Valentin Viſſow
. Dazu kamen ſpäter: Steffen Lindſtedt und
Johannes Nagel, beide aus Stendal, ferner Gerhard Berch-
*)
ſow und Hieronymus Teuffel. Einige von dieſen Namen: Uchten-
hagen, Lindſtedt, Teuffel,
waren Adelsnamen, doch iſt nicht zu
erſehn, ob die obengenannten Drei von adliger oder bürgerlicher Abkunft
waren. Im Allgemeinen traten hierlands faſt nur Bürgerliche in den
Ciſtercienſer-Orden ein, während ſich in den Nonnen klöſtern deſſelben
Ordens faſt nur die Töchter adeliger Familien befanden.
*)
Aus der Epoche von vor 1690 ſind auch (aus einem andern
Grunde noch, als aus dem eben bei George Wilhelm angeführten)
die vier Zeilen merkwürdig, die ſich auf Kurfürſt FriedrichI., den
erſten Hohenzoller, beziehn. Sie lauten:
Wahrheit ſprech ich: Dein Stamm, der zu langem Alter beſtimmt iſt,

Wird einſt mit ſchwacher Gewalt die heimiſchen Gauen beherrſchen,

Bis zu Boden geſtreckt, die einſt in Ehre gewandelt,

Städte verwüſtet und frech beſchränkt die Herrſchaft der Fürſten.

In dieſen vier Zeilen, wenn wir eine post fact Prophezeihung
annehmen wollen (was wir, ſchon hier ſei es geſagt, wirklich thun,)
erſchwert ſich der Dichter ſeine Aufgabe freiwillig, und anſtatt im
Prophetenton Dinge über die Regierungszeit FriedrichsI. zu ſagen, die
er 1690 allerdings wiſſen konnte, ohne ein Prophet zu ſein, verſchmäht
er dieſe bequeme Aushülfe völlig und knüpft vielmehr Betrachtungen an
die Erſcheinung des erſten Hohenzollern, die, ſelbſt von 1690 ab gerech-
net, noch in der Zukunft lagen. Er machte ſich’s alſo nicht leicht, hatte
vielmehr immer das Ganze im Auge und prophezeihte auch da noch
wirklich und aus eigenſtem Antrieb, (man könnte ſagen: „ſeine Mittel
erlaubten es ihm“), wo das Prophezeihen post fact einem Stümper
in der Prophetie das bequemere und ſichrere Auskunftsmittel geweſen
ſein würde.
**)
Die Prophezeihung geht von König FriedrichI. gleich auf
FriedrichII. über und überſpringt alſo Friedrich WilhelmI.
Man hat daraus einen Beweis für die Unächtheit herleiten wollen, aber
ganz mit Unrecht
. Der Prophet (ſo nehmen wir zunächſt an) blickte
in die Zukunft, er ſah wechſelnde Geſtalten, und den Soldatenkönig ſah
**)
er nicht. Das geiſtige Auge, — dies müſſen wir feſthalten, — kann
Gegenſtände eben ſo gut überſehen wie das leibliche. Ja, es läßt ſich
aus dem Fehlen König Friedrich WilhelmsI. viel eher, wenigſtens
mittelbar, ein Beweis für den wirklich prophetiſchen Gehalt der
Weiſſagung herleiten. Verſucht man nämlich (wie einige gethan haben)
das, was ſich auf Friedrich den Großen bezieht, auf Friedrich
Wilhelm
I. zu deuten, ſo entſteht ein völliger Nonſens, und werden
dadurch alle diejenigen ſchlagend widerlegt, die beweiſen möchten, daß
dieſe Sätze überhaupt dunkle Allgemeinheiten ſeien, die ſchließlich, bei
einiger Interpretationskunſt, auf jeden paßten. Man kann aber leicht
die Probe machen, daß dies durchaus nicht zutrifft, und daß beſtimmte
Verſe auch nur auf beſtimmte Perſonen paſſen.
*)
Der Prozeß lief im Weſentlichen auf bloße Chikanen hinaus
und kann einem keine beſonders hohe Meinung von der Rechtspflege
jener Epoche beibringen. Der Beklagte ſollte eingeſchüchtert, abgeſchreckt
werden. Als ihm Unterſchleife nicht nachgewieſen werden konnten, rich-
tete man ſchließlich die Frage an ihn: was denn bei all dem Laboriren
und Experimentiren in mehr als 9 Jahren herausgekommen ſei? Das
iſt nun in der That eine Frage, die ſchließlich jeden Menſchen in Ver-
legenheit ſetzen kann, und Kunkel gab die beſte Antwort, die er unter
ſo bewandten Umſtänden geben konnte. Er ſagte: „Der hochſelige Herr
Kurfürſt war ein Liebhaber von ſeltenen und kurioſen Dingen und
freute ſich, wenn etwas zu Stande gebracht wurde, was ſchön und
zierlich
war. Was dies genutzt hat, dieſe Frage kann ich nicht
beantworten.“
*)
Sie zerfiel bald. 1832 wurde deshalb eine zweite, als Erſatz,
durch Lord Fitz Clarence überbracht. Dieſe exiſtirt noch, iſt aber auch
ſchon wieder defect.
*)
Ein ſehr bedeutender Theil des Werderſchen Obſtes, namentlich
aus den an der Eiſenbahn gelegenen Obſtbergen, geht nicht zu Schiff,
ſondern vermittelſt Bahn nach Berlin. Auch dieſer Verkehr iſt außer-
ordentlich bedeutend. Ob er in den Zahlen, die wir vorſtehend verzeich-
net haben, mit einbegriffen iſt oder nicht, vermögen wir nicht mit
Beſtimmtheit zu ſagen.
*)
Es iſt oft geſagt worden, daß der Stadt Berlin das Material
zu raſchem Emporblühen beinah unmittelbar vor die Thore gelegt worden
ſei. Das iſt richtig. Da ſind Feldſteinblöcke für Fundament- und
Straßenbau, Rüdersdorfer Kalk zum Mörtel, Holz in Fülle, Torf- und
Salzlager in unerſchöpflicher Mächtigkeit. Ohne dieſen Reichthum, der
in dem Grade, wie er jetzt vorliegt, lange ein Geheimniß war, wäre
das rieſige Wachsthum der Stadt, bei der urſprünglich geringen Frucht-
barkeit ihres Bodens, bei ihrer Binnenlage und ihrer immerhin beſchränkten
Waſſerverbindung nahezu eine Unmöglichkeit geweſen. Daran, daß es
möglich wurde, hat Glindow ſeinen Antheil: der große Ziegelofen
der Reſidenz. Das ſogenannte „Geheimerathsviertel“ iſt großentheils aus
Glindower Steinen aufgeführt und ein ganzes „Berlin der Zukunft“
ſteckt noch in den Glindower Bergen. (Glindow heißt übrigens Lehm-
dorf, von dem wendiſchen Worte Glin der Lehm. Kaum irgend ein
Wort, wie ſchon Seite 160 hervorgehoben, kommt häufiger vor in der
Mark. Außer dem Landestheile „der Glin“ mit der Hauptſtadt
Cremmen, giebt es zahlreiche Dörfer dieſes Namens. (Vergleiche das
Kapitel Groß-Glinicke.)
*)
Dieſer Aufſatz wurde 1870 geſchrieben. Seitdem haben ſich
die Dinge wieder ſehr zu Gunſten der Ziegelei-Beſitzer geändert.
*)
Die Feuerung geſchieht von oben her durch eine runde Oeffnung;
ein eiſerner Stülpdeckel von der Form eines Cylinderhuts (deſſen Krämpe
übergreift) ſchließt die Oeffnung und wird abgenommen, ſo oft ein Nach-
ſchütten nöthig iſt. Man ſieht dann, wie durch eine ſchmale Eſſe, in die
Kammer hinein und hat die aufgethürmten, rothglühenden Steine unter
ſich. Der Anblick, den man ſich nur verſchaffen kann, indem man auf
die Gewölbedecke der Kammer tritt, hat etwas im höchſten Grade Un-
heimliches und Beängſtigendes. Man ſteht über einer Hölle und blickt
in ſie hinab. Eine Schicht Steine, vielleicht kaum einen Fuß dick, trennt
den Obenſtehenden von dieſer Unterwelt und der Gedanke hat etwas
Grauſiges: wenn jetzt dies Gewölbe —
*)
Dies einfache „wer war er?“ hat mir eine Reprimande „von
jenſeit des großen Waſſers“ zugezogen, die zu eigenthümlich iſt, als daß
ich ſie dem Leſer vorenthalten ſollte. Dies Bornſtädt-Kapitel war vor
ſeinem Erſcheinen in dieſem Buch in „Ueber Land und Meer“ abgedruckt
und die betreffende Nummer auch in Quincy am Miſſiſippi, Illinois, geleſen
worden; wie es ſcheint auch von einem Röſel-Freund. Dieſer ſchrieb
unterm 17. Oktober 1871 (Poſtſtempel St. Louis 21. Oktober) „… Oh,
mein lieber Herr F., röthen ſich nicht ihre Wangen über ſolche Unwiſſen-
heit! Profeſſor R. war ein hervorragender Mann der Berliner Akademie,
eine wohlbekannte ſehr beliebte Perſönlichkeit Anfang der 30 er Jahre, und
beſonders in den Familien Schadow, Spener, Link, gern geſehen, wo er
durch Satyre, Komik und ausgezeichnete Geſelligkeit alles zu erheitern
wußte. Und nun fragen Sie „wer war er?“ Sie haben ſich durch
dieſe Frage eine arge Blöße gegeben und wenn ich nicht um Ihrer im
letzten Kriege bewieſenen Vaterlandsliebe willen Sie ſchätzte, würden Sie
ſich eine öffentliche Rüge zugezogen haben. Nehmen Sie das nicht
*)
übel. Ihr Sie hochſchätzender Hinterwäldler.“ So der Brief. Es iſt
traurig; aber ich kenne den Profeſſor Röſel (der gewiß ein vortrefflicher
Herr war) immer noch nicht.
*)
Dies Geburtsdatum feſtzuſtellen, war ſchwierig. Die Geſchichts-
und Nachſchlagebücher geben abwechſelnd 1737, 1738 und 1741 an.
Monat und Tag werden gar nicht genannt. In dieſer Verlegenheit
half endlich das Marquardter Kirchenbuch. Es heißt in demſelben:
Hans Rudolph v. Biſchofswerder ſtarb am 30. October 1803, in einem
„ruhmvollen Alter“ von 62 Jahren 11 Monaten und 19 Tagen. Dies
ergiebt das oben im Text angegebene Geburtsdatum. — Eine verwandte
Mühe (was gleich hier bemerkt ſein mag) haben alle andern Namen-,
Zahlen- und Verwandtſchafts-Angaben gemacht und nicht immer iſt das
Reſultat ein gleich befriedigendes geweſen. Vieles war abſolut nicht in
Erfahrung zu bringen. Ich habe das Vermählungsjahr Biſchofswerders
mit ſeiner zweiten Gemahlin, Gräfin Pinto, nicht mit Sicherheit feſt-
ſtellen können. Beſtimmte Angaben hierüber würden mit Dank entgegen-
genommen werden.
*)
Auch dies iſt beſtritten worden. Man gefiel ſich darin, den
König, ſeinen Günſtling, den ganzen Hof als abſolut unliterariſch, als
todt gegen alles Geiſtige darzuſtellen. Sehr mit Unrecht. Ignaz Feß-
ler
, in ſeinem Buche „Rückblicke auf meine 70jährige Pilgerfahrt“
(Breslau, W. G. Korn 1824) ſchreibt: Ich ſtand mit auf der Liſte, die
der Miniſter für Schleſien, Graf Hoym, als eine Art Conſpirato-
ren-Verzeichniß
beim Könige eingereicht hatte. Es traf ſich aber,
daß General v. Biſchofswerder, wenige Tage zuvor, einiges aus
meinem „Marc Aurel“ dem Könige vorgeleſen hatte, der nunmehr ohne
Weiteres den Namen Feßler durchſtrich, dabei bemerkend: „Der iſt kein
Schwindelkopf, er iſt monarchiſch geſinnt, wie ſein Marc Aurel zeigt.“
So geringfügig dieſer Hergang iſt, ſo lehrreich iſt er doch auch. Er zeigt,
ebenſo wie das oben aus Maſſenbachs Memoiren Mitgetheilte, daß ſich
der Hof Friedrich Wilhelms II. (und in erſter Reihe ſein Generaladju-
tant) ſehr wohl um literariſche Dinge kümmerte, ſcharf aufpaßte und ſich
danach ein Bild von den Perſonen machte.
*)
Es waren dies zwei Töchter. Die eine, Caroline Erdmuthe
Chriſtiane, blieb unverheirathet und ſtarb 1842. Ueber ihr Begräbniß
in Marquardt berichten wir an anderer Stelle ausführlich. Die andere
vermählte ſich ſchon 1794 oder 95 mit dem jungen Grafen Gurowski,
dem Beſitzer der Staroſtei Kolo. Die „vertrauten Briefe“ ſagen von
ihm: „Er war ein junger Krüppel mit einem kurzen Beine, ſonſt ein
Ungethüm und unter den jungen Polen der verdorbenſte. Ein Libertin,
auf der unterſten Stufe des Cynismus. Wenige Wochen nach der Hei-
rath kam es zur Scheidung; er nahm dann Theil an der Inſurrection,
und trat ſpäter das ſchöne Gut Murowanna Goßlin an ſeine geſchie-
dene Frau ab.“ Ueber die weiteren Schickſale dieſer verlautet nichts. —
Beide Fräulein v. Biſchofswerder waren übrigens ſehr liebenswürdig,
von feiner Bildung und Sitte. Nichts war unwahrer und bösartiger
als eine Schilderung derſelben in den mehrgenannten „Anmerkungen“
zu den Geheimen-Briefen, worin es heißt: Les Demoiselles Bischofs-
werder sont deux petites filles mal élevées. L’ainée a dans ses
yeux le flambeau de l’hymen. On les dit intriguantes. A propos
jaloux. Au reste il faut distinguer les ridicules des vices et dire
que jusqu’ici la conduite de ces Demoiselles est intacte.“

So die „Anmerkungen.“ Die „Vertrauten-Briefe,“ „Geheimen-
Briefe“ ꝛc. jener Epoche ſind nie impertinenter, wie wenn ſie ſich zu
einer halben Huldigung oder Anerkennung herablaſſen.
*)
Auch hieran knüpft ſich ein eigenthümlicher Zwiſchenfall, frei-
lich aus viel ſpäterer Zeit. Herr v. Oſtau hatte ſich wieder vermählt,
die Kinder dieſer zweiten Ehe waren herangewachſen und hatten nur
eine ganz allgemeine Kenntniß davon, daß ihr Vater einmal in erſter
Ehe mit einem Fräulein v. Biſchofswerder vermählt geweſen ſei. Ein Sohn
aus dieſer zweiten Ehe kam, während der Manövertage, nach Marquardt
in Quartier. Er beſichtigte Schloß, Park, Kirche und ſtieg auch in die
Gruft. Ein Lichtſtümpfchen gab die Beleuchtung; alles Staub und Aſche;
ein ſolcher Beſuch hat immer ſeine Schauer. Der junge Offizier mühte
ſich, die Inſchriften der einzelnen Särge zu entziffern; da las er plötz-
lich auf einem Bleitäfelchen: „Bertha v. Oſtau, geſtorben 1824.“ Die
Begegnung mit dieſem Namen an dieſer Stelle machte einen tiefen Ein-
druck auf ihn.
*)
In der Nähe dieſes Baumes, auf einem Gras-Rondel, ſteht
ein leichtes öſterreichiſches Feldgeſchütz, wie jedes Bataillon in alten
Tagen eins aufzuweiſen hatte. Es wurde in einer der Schlachten des
7jährigen Krieges von den Preußen genommen. Friedrich II. ſchenkte
es dem Grafen Pinto auf Mettkau; durch deſſen Wittwe, „die Gräfin,“
kam es nach Marquardt. An gewiſſen Tagen wird ein Schuß daraus
abgefeuert. Jedesmal vorm Laden ſchüttet der Gärtner Pulver ins
Zündloch und zündet es an, um das Geſchütz auszubrennen. Als es das
letzte Mal geſchah, flogen, zu heiterer Ueberraſchung aller Umſtehenden,
nicht nur Eierſchalen aus der Mündung heraus, ſondern mit den Eier-
ſchalen zugleich ein halbverbrannter Wieſel, der in dem Kanonenrohr
Quartier genommen und von hier aus den Hühnerſtall geplündert
hatte.
*)
Der betr. Brief giebt ſich das Anſehen, als ſei er aus Wien
datirt und als habe die ganze Scene auf einem Landgut in der Nähe
Wiens geſpielt. Wer aber je in Marquardt war, und den dortigen
Park, den See, die Grotte, das Schloß und ſeine tiefen Doppelkeller
kennen gelernt hat, dem wird ſichs zunächſt aufdrängen, daß hier durch-
aus Marquardt gemeint ſein müſſe. Es iſt aber trotz alledem nicht
der Fall, kann nicht ſein, da Marquardt erſt 1795 in die Hände
Biſchofswerders kam.
*)
Wie wenig der alte Nicolai, mit all ſeinen Meriten, im Stande
war, einer Erſcheinung wie der des Roſenkreuzer-Ordens gerecht zu wer-
den, geht aus ſeinen eigenen Aufzeichnungen am beſten hervor. Er ſah
in Allem, was damals, in Dichtung und Philoſophie, den Vorhang
zu lüften gedachte, nur Eitelkeit, Anmaßung, Phantaſterei und Geiſter-
ſchwindel, und ſtand gegen die ganze junge Literatur, wenigſtens ſo
weit ſie romantiſch war, ebenſo feindſelig, wie gegen Wöllner und die
Roſenkreuzerei. „Die Herren Fichte, Schelling, Hegel, Schle-
gel, Tieck
und wie die ſich wichtig dünkenden Männer und Männchen
weiter heißen, preiſen ſich zwar fleißigſt Einer den Andern und ſprechen
von allen Philoſophen und Dichtern, welche nicht zu ihrer geheiligten
Kirche gehören, ſo wie auch von der geſunden Vernunft und Auf-
klärung aufs Verächtlichſte. Aber auch das Verachten will nicht gelin-
gen .... Sie verſichern daher die Entdeckung gemacht zu haben, daß
Fichte und Schelling — ob ſie gleich, leider! ſchon anfangen von einan-
der zu differiren (wie uns Hr. Hegel, ein neulichſt berühmt werden-
wollender Philoſoph, in einer beſondern Schrift des Breiteren ausein-
anderſetzt) — dennoch die einzigen Philoſophen ſind, denen, auch wenn
ſie nicht übereinſtimmen, allein das wahre Wiſſen vom Subject-
Objecte
gebührt. Ferner noch haben dieſe Herren durch ihre intellec-
tuelle Anſchauung deutlich erkannt, daß Wieland und Klopſtock keine
Dichter ſind, hingegen Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck
Dichter vom größten Genie!“ — So eifert Nicolai über viele Seiten
hin. An einer anderen Stelle zieht er direct Parallelen zwiſchen den
Roſenkreuzern einerſeits und Fichte-Schelling andererſeits und findet,
*)
daß die Philoſopheme Beider ſich als „gleich ungereimt“ erweiſen. All
das ging ihm eben über Kraft und Verſtändniß.
*)
General v. Köckritz mochte wohl ſo ſchreiben. Dieſer liebens-
würdige Mann (den Stein wohl zu hart beurtheilt hat, denn „Niemand
iſt verpflichtet, ein großer Mann zu ſein“) ſtand damals auf der Höhe
ſeiner Gunſt und ſeines Anſehens. Es war ſo recht eigentlich die
Köckritz-Epoche. In dieſe Epoche fällt auch die ſeinerzeit vielbewunderte
Geſchichte vom „Pfeifchen und dem Fidibus,“ die beide dem überraſchten
*)
General, einem leidenſchaftlichen Raucher, von der Königin präſentirt
wurden. Wir übergehen dieſe Anekdote nicht nur deshalb, weil ſie
oft erzählt worden iſt, ſondern viel mehr noch aus äſthetiſchen Beden-
ken, weil ſie einen Hergang feſtzuhalten trachtet, der als Erlebniß rei-
zend, als Plauder-Anekdote, über den Tiſch hin, annehmbar, aber als
gedruckte Geſchichte mindeſtens entbehrlich iſt. Schwarz auf weiß macht
ſchwerfällig und entzaubert Manches. Man kann dreiſt behaupten, die
Helden, die durch ſolche oder ähnliche Anekdoten glorifizirt werden ſollen,
haben unter ihnen zu leiden, wie unter einer Jugendthorheit. Es gilt
hier fein zu unterſcheiden. Dieſelbe Geſchichte, die, auf einem jungen
Damen-Kaffee vorgetragen, ein ungetheiltes und berechtigtes Entzücken
weckt, wird ſich in einem Zeitungsblatt etwas inſipide ausnehmen, und
die bejubeltſte, als unbedingt „beſter Witz der Neuzeit“ proklamirte
Jagd- und Portwein-Anekdote wird am beſten thun, auf Darſtellung
in Typen ganz zu verzichten.
*)
Allerhand Spiele: Turnen, Wettlaufen, waren an der Tages-
ordnung; die Sieger wurden beſchenkt. Unter Anleitung der jungen
*)
Prinzen Karl und Albrecht kam die Bildung einer Art „Paretzer Legion“
zu Stande, die im Feuer exerzirte und manövrirte, wobei ſieben kleine
Kanonen benutzt wurden, von denen eine, mit dem Greif und der Jah-
reszahl 1588, bis dieſen Tag unter den Dörflern exiſtirt. Bei einer
beſtimmten Gelegenheit, — es mochte um 1820 ſein, als die „Ruſſen“
einen ihrer Sommerbeſuche machten, — kam es zu einem vollſtändigen
Gefecht zwiſchen der paretzer Legion und den Zöglingen des potsdamer
Militär-Waiſenhauſes, die nach Paretz hinaus befohlen und mit ihren
Waffen erſchienen waren. Die Legionäre nahmen ihnen, in einem unbe-
wachten Augenblick, die Waffen fort, bezogen unter Führung und An-
feuerung des Großfürſten eine Art Waldpoſition und behaupteten ſich
im Beſitz ihrer Beuteſtücke. Der König folgte der Bataille mit dem
lebhafteſten Intereſſe und meinte ſchließlich: „Die Dorfluft ſcheine doch
derber zu machen.“
*)
Kohlhaſe, wie bereits im Text bemerkt, hat niemals dieſes
Terrain beſeſſen, iſt niemals an dieſem Orte wohnhaft geweſen. Er
bewohnte in Berlin das Haus Fiſcherſtraße 27, das noch im Jahre
1866 in ſeiner alten Geſtalt exiſtirte und Stallung für 40 Pferde auf-
wies. Erſt 1867, nachdem es noch im Jahre zuvor als Lazareth für
die vielen Verwundeten benutzt worden war, erfuhr es einen totalen
Umbau und iſt ein Gaſthaus modernen Styls geworden. Beim Umbau
wurden einzelne Münzen aus der Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts
gefunden.
*)
Alle vier Nutheburgen gingen in veränderter Geſtalt (in
der ſie allerdings, mit Ausnahme einer, auch nicht mehr exiſtiren) in
ſpätere Jahrhunderte über. Doch waren dies eben in Zweck wie Er-
ſcheinung, die alten Nutheburgen nicht mehr. Sie modelten ſich, ſie
wurden andere, und aus den markgräflichen Voigteien, die eine allge-
meine politiſche Bedeutung, wenn man ſo will, eine Miſſion gehabt
hatten, wurden Landes- und Ritterburgen, wie andere mehr. Ueber
ſie berichten wir an anderer Stelle. Der Umſtand, daß die Nuthe ein
natürliches Defilee von Sachſen nach der Mark war, lieh auch in die-
ſen ſpäteren Zeiten noch, in denen der Coloniſationskampf längſt aus-
gelärmt hatte, dem ganzen Flußthale eine gewiſſe „importance,“ aber
mit Ausnahme verhältnißmäßig neuer Zeit (1813) ſcheint man die Be-
deutung deſſelben doch nie ernſthaft betont zu haben.
*)
Solche Urtheile datiren noch aus einer Zeit her, wo die Kennt-
niß über künſtleriſche, ſpeciell über architektoniſche Dinge gleich Null war.
Kugler, Schnaaſe, Lübke haben eine völlig „neue Aera“ geſchaffen.
Während jetzt jeder Laie aus Rund- oder Spitzbogen, aus Tonnen-
oder Kreuzgewölbe, zahlreicher anderer Zeichen ganz zu geſchweigen, den
Styl und damit ohngefähr das Alter jeder Kirche beſtimmen, beides
von den Steinen ableſen kann, ſtand man noch vor 50 Jahren vor
dieſen Dingen wie vor einem Räthſel und unterſchied das Alter zweier
Gebäude oft rein nach dem Grade äußerlichen Verfalls, dabei zur
Architektur eine ähnlich wiſſenſchaftliche Stellung einnehmend, wie die
Kinder zur Pflanzenkunde, wenn ſie alle Blumen in blaue, rothe und
gelbe theilen. Dies muß man immer gegenwärtig haben. In jenen
Zeiten abſoluter Unkenntniß ſind durch im Uebrigen grundgeſcheidte Leute
unglaubliche Urtheile zu Papier gebracht worden, die nun, ausgerüſtet
mit der Autorität eines Namens, von Buch zu Buch unſterblich weiter
wandern.
*)
Schwert und Sporen hingen früher dem herrſchaftlichen
Chore gegenüber
, zu dem eine Treppe von außen hinaufführt.
Dieſe beiden Zufälligkeiten waren genug, um folgende Sage entſtehen
zu laſſen. „Da war mal ein Edelmann, der kümmerte ſich nicht um
Gott und Menſchen. Er dachte, er ſei Herr über Alles. In ſeinem
Uebermuth ritt er in die Kirche, gleich die Treppe hinauf, die zu dem
Chor führt. Hier aber bäumte das Pferd und überſchlug ſich, ſo daß
*)
beide in das Schiff der Kirche ſtürzten und Hals und Beine brachen.
Zum Zeichen deß und zugleich zur Warnung ſind Degen, Schwert und
Sporen dem Chore gegenüber aufgehängt worden.“ — So die Sage.
Ich habe ſchon bei früheren Gelegenheiten ausgeführt, wie die „mythen-
bildende Kraft“ des Volkes mit Vorliebe, oder vielleicht immer, an ſolche
rein äußerlich gegebenen Dinge anknüpft, vorausgeſetzt, daß dieſe Dinge
zugleich unklar und räthſelvoll genug ſind, um die Phantaſie in Bewe-
gung zu ſetzen und die freieſte und ſelbſt willkürlichſte Auslegung zuzu-
laſſen. Aber ſo willkürlich die Auslegung ſein mag, ſie ſchwebt nie
in der Luft, ſie haftet an etwas Gegebenem. Die ganze Gruppe von
Sagen, um die es ſich hier handelt, könnte man als poetiſche Mißver-
ſtändniſſe bezeichnen.
*)
Dies Blatt befindet ſich noch in den zahlreichen Mappen, die
Sebaſtian Henſel, aus dem reichen Nachlaſſe ſeines Vaters aufbewahrt.
Wir kommen auf dieſen Nachlaß am Schluß des Aufſatzes zurück. Was
dies aquarellirte Blatt angeht, ſo iſt es eine Felſenpartie; Palmen und
Bautrümmer faſſen ein Gewäſſer ein, in dem Mädchen baden. Es
nimmt ſich aus wie eine Farbenſkizze zu einem großen Tapetenbilde.
Als Arbeit eines in künſtleriſchen Dingen ohne alle Schule aufgewach-
ſenen jungen Mannes, mußte dieſelbe allerdings überraſchen. Heutzu-
tage, wo jeder zeichnen und ſeinen Baumſchlag machen kann, würde
man dergleichen ruhig hinnehmen.
*)
Joachim Ernſt v. Grumbkow ſtarb in der Nähe von Weſel
(im Reiſewagen) auf einer Reiſe des Hofes nach Cleve, am zweiten
Weihnachtsfeiertage 1690. Der Hofpoet Beſſer ſprach in ſeinem an die
Wittwe gerichteten Trauergedicht „von dem zwar nicht ſeligen, aber
doch ſanften Tod“ des Hingeſchiedenen. Grumbkow hatte nämlich am
Abend vorher zu viel getrunken. Pöllnitz in ſeinen Memoiren ſagt von
*)
In ſeinen Anfängen ſoll derſelbe ſchon 15 Jahre früher vor-
handen geweſen ſein. — 1672, was hier eine Stelle finden mag, gab
es nur elf Parks in der Mark Brandenburg, die nach Beiſpiel und
Vorbild des großen Kurfürſten und vielleicht auch auf Wunſch deſſelben
*)
ihm: „Er liebte die großen Unternehmungen und war kühn in ihrer
Ausführung. Man würde ſeinen Charakter großartig haben nennen
können, wenn ihm die Beförderung ſeiner Familie weniger am Herzen
gelegen hätte, für die er große Schätze mit Leichtigkeit zuſammenhäufte.
Man fand ihn eines Tages todt in ſeinem Wagen, als er von einem
Feſt (in der Nähe von Weſel) zurückkehrte, wo der Wein nicht geſpart
worden war.“ — Wohin man ſeine Leiche ſchaffte, oder ob er in Weſel
ſelbſt beigeſetzt wurde, habe ich nicht erfahren können. In dem inten-
dirten
Erbbegräbniß der Grumbkow’s zu Blankenfelde, anderthalb
Meilen von Berlin, ſteht er nicht. In der Kirche letztgenannten Dorfes,
die, wie eine lateiniſche Inſchrift über der Kirchthür angiebt, von
v. Grumbkow erbaut wurde, befindet ſich auch ein großer Grabſtein,
der die Gruft überdeckt, die hier als „Erbbegräbniß“ gegraben und
ausgemauert wurde. Die Inſchrift dieſes Grabſteines lautet: Erbbegräb-
niß des Wohlgebornen H. H. Joachim Ernſt’s v. Grumbkow,
Sr. churfürſtlichen Durchlaucht zu Brandenburg, höchſt anſehnlichen,
wirklichen Geheimen Etats- und Kriegs-Raths, Oberhof-Marſchalls,
General-Kriegscommiſſarii und Schloßhauptmann, Erbherr auf Grumb-
kow, Runo, Cuno, Darlin, Nieder-Schönhauſen, Blankenfelde und
Charo.“ Hiermit ſchließt die Inſchrift. Der freigelaſſene Raum zeigt,
daß die Daten von Geburt und Tod hier angegeben werden ſollten.
Dies geſchah aber nicht, weil der Bewohner ausblieb.
*)
angelegt waren. Es waren die folgenden: 1) der Sparr’ſche zu Pren-
den, 2) der Dohna’ſche zu Schönhauſen, 3) der Otto v. Schwerin’ſche
zu Alt-Landsberg, 4) der Löben’ſche zu Schenkendorf, 5) der Raban
v. Canſtein’ſche zu Lindenberg, 6) der B. v. Pöllnitz’ſche zu Buch,
7) der Caspar v. Blumenthal’ſche zu Stavenau, 8) der v. Götz’ſche zu
Roſenthal, 9) der v. Börſtell’ſche zu Hohen-Finow, 10) der Heydekamp’-
ſche zu Rüdow (Rudow?), 11) der Franz v. Meinders’ſche zu Berlin,
vor dem (damaligen) Stralauer Thore.
*)
„Dieſe Prinzen-Allee“ iſt nicht mit der großen gradlinigen Allee
zu verwechſeln, die als Hauptverkehrs-Straße von Berlin nach Friedrichs-
felde führt. Dieſe letztere iſt erheblich älter und ſoll als eine Pön, die
dem Schlächtergewerk auferlegt wurde, von dieſem gebaut und bepflanzt
worden ſein. Die Veranlaſſung iſt nicht bekannt. Die Allee beſtand
urſprünglich aus ſechs Reihen Lindenbäume. Bei Anlegung der Chauſſee,
vor etwa 60 Jahren, wurde der Mittelweg verbreitert, die betref-
fenden zwei Reihen Linden fielen und wurden durch Pappeln erſetzt.
*)
Unter dieſen Beſuchern werden natürlich auch Maler geweſen
ſein und das eine oder andere Bild (ganz abgeſehen von den Kunſt-
ſchätzen, die man aus Italien mitgebracht hatte) wird damals ſeine
Stätte in Friedrichsfelde gefunden haben. Eins, aus jener Zeit her,
iſt dem Schloſſe verblieben, ein Aquarellbild „Vue de Friedrichsfelde“
mit den Widmungsworten: Dedié à Son Altesse Serenissime Madame
la Duchesse de Curlande et de Semigalles.
Das Bild iſt aus dem
Jahre 1787 (Schwarz fecit) und zeigt das Schloß in ſeiner damaligen,
von der gegenwärtigen nur wenig verſchiedenen Geſtalt.
*)
Von keinem dieſer 5 Bilder, mit Ausnahme des Architektur-
bildes, läßt ſich behaupten, daß es nachweisbar von Schinkel herrühre;
doch iſt es von allen in hohem Maße wahrſcheinlich. Schinkel war bei
Aufführung des Schloſſes Owinsk, Provinz Poſen, als Bauführer thätig.
Es war dies 1801. Die Vereinigung von Architekt und Landſchafts-
maler, die ſonſt in hundert Fällen kaum einmal vorkommt, war eben bei
Schinkel charakteriſtiſch und es iſt höchſt unwahrſcheinlich, daß ſich damals
— und noch dazu in Owinsk — ein anderer Architekt an ſeiner Seite
befunden habe, der dies alles auch vermocht hätte. — Was die beiden
andern Bilder (Gebirgsſeen, Morgen- und Abendbeleuchtung, Pendants)
angeht, ſo ſtellen ſie genau daſſelbe dar, wie die betreffenden beiden
Bilder auf der Wagnerſchen Gallerie, die die Bezeichnung tragen: nach
Schinkelſchen Originalen von Ahlborn
1823 copirt. Die
Frage entſteht, ſind nun dieſe beiden Friedrichsfelder die Originale?
*)
Wolzogen in ſeinem „Leben Schinkels“ ſchreibt: Der Beſitzer des einen
Bildes (Abendbeleuchtung) iſt Banquier Broſe, der Beſitzer des andern
(Morgenbeleuchtung) unbekannt. — Das eine ſcheint alſo die Annahme
zu rechtfertigen, das andere ſie zu verbieten. Eine Entſcheidung in dieſer
Frage, die ohne exacte techniſche Kenntniß nicht zu geben iſt, liegt außer-
halb unſerer Kraft; wir geben deshalb einfach die Thatſache, daß ſich
zwei ſolche Bilder in Friedrichsfelde befinden und überlaſſen Andern den
Beweis der Aechtheit, oder — des Gegentheils.
*)
Eine Bergfeſte in Tirol, um deren Beſitz ſich auf Moritz Zuge nach Innsbruck
ein heftiger Kampf entſpann.
*)
wilde Obſtbäume.
*)
Rothenburg. F.
*)
Es war, wie bekannt, eines jener 4 Schlöſſer: Frieſack, Plaue, Golzow, Beu-
then, die, den Quitzows angehörig oder mit ihnen verbündet, Widerſtand gegen die
Hohenzollern verſuchten. Sie erlagen binnen Kurzem. Am 6. Februar 1414 begann
die Belagerung durch Hans von Torgau. Goswin von Brederlow vertheidigte ſie. Als
ihm angezeigt wurde, daß Frieſack und Plaue gefallen und Johann v. Quitzow gefangen
ſei, gab er (am 24. Febr.) die Antwort: „daß er ſich die Sache noch einige Jahre über-
legen wolle.“
Am 26. früh erſchien, von 36 Pferden durch den tiefen Sand gezogen, die etwas
ſagenhafte „faule Grete“ vor Beuthen und ſchleuderte eine ihrer ungeheuren Stein-
kugeln. Die Wirkung war derart, daß von Brederlow keinen zweiten Schuß abwartete,
ſondern die weiße Fahne aufſteckte.

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TextGrid Repository (2025). Fontane, Theodor. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj6b.0